Arthur Seyß-Inquart und die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden (1940-1945) 9783205796602, 3205796608

Arthur Seyß-Inquart steht für eine außergewöhnliche Karriere: Innerhalb kurzer Zeit stieg der Wiener Rechtsanwalt zu ein

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German Pages 691 [692] Year 2015

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Arthur Seyß-Inquart und die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden (1940-1945)
 9783205796602, 3205796608

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Johannes Koll

Arthur Seyß-Inquart und die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden (1940–1945)

2015 BÖHLAU VERLAG · WIEN · KÖLN · WEIMAR



Gedruckt mit Unterstützung durch die Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf das Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

© 2015 by Böhlau Verlag GesmbH & Co.KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Korrektorat: Michael Suppanz, Klagenfurt Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79660-2



Meinen Eltern, die mich als Zeitzeugen durch Erzählungen aus ihrer Kindheit und Jugend unter dem Hakenkreuz frühzeitig für die Geschichte der NS-Zeit interessiert haben.





Inhalt

Kapitel 1: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

Zielsetzung und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Textgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 18 21 24 26 27

Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940 . . . . . . . . . . . . . . . 29

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soldat und Rechtsanwalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der ‚Befriedung‘ zum ‚Anschluss Österreichs‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . Bundeskanzler und Reichsstatthalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chef der Zivilverwaltung in Krakau und Stellvertretender Generalgouverneur in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29 33 37 53 61

Kapitel 3: Die Niederlande unter deutscher Besatzung. Phaseneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

3.1 Erste Phase: Werben für den Nationalsozialismus (Mai 1940 bis Februar 1941) . . . . . . . . . 71 3.2 Zweite Phase: Verhärtung (Februar 1941 bis März 1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.3 Dritte Phase: Weitere Radikalisierung (März 1943 bis September 1944) . . . . . . . . . . . . . 91 3.4 Vierte Phase: Verfall der deutschen Herrschaft (September 1944 bis Mai 1945) . . . . . . . . . 102 Kapitel 4: Ernennung zum Reichskommissar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .109

8

Inhalt

Kapitel 5: Nationalsozialistische Zivilverwaltung. Grundlagen und Grenzen von Seyß-Inquarts Machtstellung . . . . . . . . . . . . . . . .121

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Rechtlich-politische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Der Reichskommissar im polymorphen Machtgefüge des NS-Systems . . . . . . . 127 Das Verhältnis zu SS und Reichsinstitutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Der Reichskommissar in seiner Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Justizwesen und Gnadenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

Kapitel 6: Politische Ziele der ‚Aufsichtsverwaltung‘: Nazifizierung und Gleichschaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .193

6.1 Seyß-Inquart und das „eng verwandte germanische Volk“: Zwischen „Reichsinteressen“ und ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ . . . . . . . . 195 6.2 Deutsche Aufsichtsverwaltung, niederländische Behörden und parlamentarische Vertretungskörperschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 6.3 Gleichschaltung von Parteien, Medien und gesellschaftlichen Organisationen . . . 234 6.3.1 Das Experiment der ‚Niederländischen Union‘ im Kontext der Gleichschaltungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .235 6.3.2 Die Gleichschaltung des Parteiwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .239 6.3.3 Die faschistischen Parteien: Von wohlwollender Förderung zum Verbot . . . . . .242 6.3.4 Die Gleichschaltung der Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .245 6.3.5 Einbindung und Gleichschaltung der niederländischen Wirtschaft . . . . . . . .248 6.3.6 Die Gleichschaltung der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .249

6.4 Grenzen der Gleichschaltung: Die Kirchen und der Ärzteprotest . . . . . . . . . 256 Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘ (NSB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

7.1 7.2 7.3 7.4

Ambivalente Grundhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Die Frage einer NSB-Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Auseinandersetzungen um niederländische SS-Freiwillige . . . . . . . . . . . . . 303 Reichskommissariat, SS und die ‚Säuberungen‘ in der NSB 1944/45 . . . . . . . 312

Kapitel 8: Judenverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .321

8.1 8.2 8.3 8.4

Schaffung rechtlicher Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Anspruch auf politische Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Persönliches Engagement – Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Diskrepanz zwischen Wissen und Reden über den Genozid . . . . . . . . . . . . 359

Inhalt

9

8.5 ‚Arisierung‘ zwischen deutschen und niederländischen Nationalsozialisten . . . . 366 8.6 Seyß-Inquart und die Judenverfolgung – eine Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Kapitel 9: Die Verfolgung von Sinti und Roma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .377 Kapitel 10: Geiselpolitik und Bekämpfung von Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .383

10.1 Zwischen Prävention und Repressivmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 10.2 Die ‚indonesischen‘ Geiseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 10.3 Internierung und Freilassung von Johan Huizinga . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Kapitel 11: Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .411

11.1 Phasen und Zielsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 11.2 Die Niederlande in der nationalsozialistischen Großraumwirtschaft . . . . . . . . 419 11.3 Gelenkte Wirtschaft. Instrumentalisierung, Ausbeutung und Raubpolitik . . . . . 427 11.4 Arbeitsdienst und Zwangsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Kapitel 12: Nationalsozialistische Kultur- und Wissenschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . .487

12.1  Konzeptionelle Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 12.2 Instrumente nationalsozialistischer Kultur- und Wissenschaftspolitik . . . . . . . 497 12.3 Zugriff auf Schulen und Hochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 12.4 Seyß-Inquart und die reichsdeutsche Kulturpolitik – die Deutsche Akademie . . . 514 Kapitel 13: Exkurs: ‚Europa‘, ‚Abendland‘ und reichspolitische Ambitionen . . . . . . . . . . . . . .521 Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .535

14.1 Zivilverwaltung unter Kriegsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 14.2 Überflutungen und Politik der ‚verbrannten Erde‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 14.3 Verhandlungen mit der Gegenseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 14.4 Durchhalteparolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 14.5 Designierter Außenminister im Kabinett Dönitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 14.6 Festnahme und Internierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 Kapitel 15: Der Nürnberger Prozess. Verteidigung – Urteil – Hinrichtung . . . . . . . . . . . . . . .577

10

Inhalt

Kapitel 16: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .631 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .634 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .636 Arthur Seyß-Inquart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 1.2 Veröffentlichte Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .636

1.

1.2 Unveröffentlichte Manuskripte und Typoskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Andere Manuskripte und Typoskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 Sonstige unveröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 Periodika und Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 Sonstige gedruckte Quellen, Quelleneditionen und Memoiren . . . . . . . . . . 645 Interviews und Korrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 Internetportale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681



Vorwort

Die vorliegende Studie stellt die leicht überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift dar, die ich im Sommersemester 2013 bei der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien eingereicht habe. Die Arbeit entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts, das zwischen September 2007 und Juni 2011 vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Wien) getragen wurde. Weitere Unterstützung erfuhr ich durch das Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences (Wassenaar), an dem ich zwischen September 2009 und Juni 2010 als Fellow-in-Residence meinen Forschungen nachgehen durfte. Außerdem wurde das Projekt zeitweilig durch ein Forschungsstipendium und eine Reisebeihilfe der Gerda Henkel Stiftung (Düsseldorf ) gefördert. Dieser Stiftung danke ich ebenso wie dem Institut für Wirschafts- und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien für die großzügige Unterstützung der Drucklegung. Zum Entstehen dieses Buches, das gegenüber der Habilitationsschrift um das Kapitel zum Nürnberger Prozess erweitert wurde, haben viele Kolleginnen und Kollegen, Freunde und Angestellte von Bibliotheken und Archiven beigetragen. An erster Stelle ist Prof. Dr. Peter Berger zu nennen, der mich als Projektleiter am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien in jeder Hinsicht in vorbildlicher Weise unterstützt und gefördert hat. Prof. Dr. Dr. Oliver Rathkolb hat das Projekt von Anfang an mit Wohlwollen und weiterführender Kritik begleitet und als Mentor mit großem Engagement das Habilitationsverfahren an der Universität Wien koordiniert. Die ProfessorInnen Dr. Catherine Epstein, Dr. Peter Romijn und Dr. Margit Szöllösi-Janze haben im Zuge des Begutachtungsverfahrens wichtige Impulse zur Verbesserung der Arbeit gegeben. Weitere Anregungen zu einzelnen Kapiteln oder zum gesamten Manuskript erhielt ich von Drs. David Barnouw, Prof. Dr. Laurence Cole, Prof. Dr. Otto Dann (†), Dr. Katja Happe und Prof. Dr. Andreas Resch. Der Mühe des Korrekturlesens haben sich auch Michael Supanz und Dr. Tessel Pollmann unterzogen. Letztere erwies sich überdies als unermüdliche Gesprächspartnerin und war gelegentlich bei der Beschaffung von Quellenmaterial behilflich. Meine Forschungsaufenthalte in den Niederlanden wurden durch die Unterstützung von Victor Laurentius, Brita C. Röhl und Prof. Dr. Michiel Leezenberg erleichtert. Unter den Archiven ist das NIOD als exzellentes Dokumentations- und Forschungszentrum hervorzuheben; die ebenso freundliche wie kompetente Unterstützung, die ich an der Amsterdamer Herengracht 380 immer wieder durch Hubert Berkhout und seine Kolleginnen und Kollegen erfahren durfte, war für meine Recherchen ungemein wertvoll. Bei der Erstellung der Druckvorlage war die Hilfestellung von Ursula Németh unentbehrlich. Allen, die mich bei den Forschungen zu der vorliegenden Arbeit unterstützt haben, danke ich ganz herzlich. Schließlich ist es mir ein Anliegen, mich bei Verena für die Geduld zu bedanken, mit der sie all meine Forschungsreisen in Kauf genommen hat. Sie hat maßgeblich zur Entspannung vom langen Aufenthalt in Archiven und Bibliotheken, an Schreibtisch und Computer beigetragen. Wien, 9. Februar 2015

Johannes Koll

Kapitel 1:

Einleitung

Unter den Politikern des NS-Regimes ragt Arthur Seyß-Inquart in mehrfacher Hinsicht heraus. Kein anderer österreichischer Nationalsozialist hat in einem ähnlichen Maße das Vertrauen von Adolf Hitler gehabt, kein anderer Politiker aus der ‚Ostmark‘ hat eine vergleichbare Karriere zu verzeichnen und ähnlich hohe Positionen bekleidet. So wurde Seyß-Inquart mit Ämtern betraut, die ihn innerhalb kurzer Zeit von einem politischen ‚Nobody‘ zu einem prominenten Vertreter jener ‚Zwischeninstanzen‘ oder ‚Zwischengewalten‘ machten, die unterhalb der Reichsführung auf einflussreichen Positionen im Machtbereich des ‚Großdeutschen Reiches‘ für die Umsetzung nationalsozialistischer Politik Verantwortung trugen. Besonders die Funktionen des Reichsstatthalters im ‚angeschlossenen‘ Österreich (1938/39), des Stellvertretenden Generalgouverneurs in Polen (1939/40) und des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete (1940–1945) waren entscheidend – für seine eigene Karriere, für die Geschichte des Großdeutschen Reiches, für die betroffenen Länder und ihre Gesellschaften und für die europäische Geschichte im Zeitalter von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Seine Bedeutung für den NS-Staat wird auch dadurch unterstrichen, dass Seyß-Inquart Ende April 1945 kurz vor der Kapitulation Deutschlands von Hitler zum Außenminister des kollabierenden Reiches bestimmt wurde. 1.1 Zielsetzung und Fragestellungen

Der Höhepunkt dieser Blitzkarriere war die Tätigkeit als Reichskommissar in den Niederlanden, sie steht im Mittelpunkt der vorliegenden Studie. In ihr soll untersucht werden, welches Selbstverständnis Seyß-Inquart von seinem Amt hatte, wie er seine Funktionen ausübte und welche Bedeutung er für die Geschichte der Niederlande unter deutscher Besatzung und für die Geschichte des NS-Regimes seit dem Westfeldzug besessen hat. Was zeichnete Reichskommissar Seyß-Inquart unter nationalsozialistischen Politikern aus? Schon die Tatsache, dass Seyß-Inquart während des Zweiten Weltkriegs eine der Besatzungsverwaltungen im deutsch beherrschten Teil Europas leitete, verweist auf seine herausgehobene Position im Machtbereich des Großdeutschen Reiches. Als Reichskommissar war er der einzige Leiter einer Zivilverwaltung, der das Deutsche Reich in einem besetzten westeuropäischen Land vertrat. Im Vergleich zu anderen nationalsozialistischen ‚Zwischeninstanzen‘

14

Kapitel 1: Einleitung

ist seine Karriere auch bemerkenswert, weil sie sich vor dem Hintergrund von gravierenden strukturellen Defiziten entwickelte. Denn Seyß-Inquart gehörte nicht zu den ‚alten Kämpfern‘, denen in Parteikreisen eine wichtige, geradezu mythische Bedeutung beigemessen wurde. Obwohl er seit Beginn der Dreißigerjahre die NSDAP unterstützt hatte, trat er erst nach dem ‚Anschluss Österreichs‘ offiziell der Partei bei.1 Deshalb mangelte es ihm von Anfang an an einer gewachsenen ‚Hausmacht‘ innerhalb der NSDAP; im Unterschied zu Politikern aus dem Altreich konnte er sich als ‚Newcomer‘ aus der Ostmark zeit seines Lebens nicht auf tragfähige innerparteiliche Netzwerke stützen. Auch die Schutzstaffel bot Seyß-Inquart allenfalls in beschränktem Maße institutionellen Rückhalt. Unmittelbar nach dem ‚Anschluss‘ wurde er zwar von Hitler „auf Vorschlag des Reichsführers SS.“, wie es im Völkischen Beobachter hieß, zum Gruppenführer der SS ernannt; am 52. Geburtstag des ‚Führers‘ rückte er gar zum Obergruppenführer auf.2 Trotz seines generalsäquivalenten Rangs war seine Autorität in SS-Kreisen aber begrenzt. Ihm fehlte der ‚Stallgeruch‘ eines kampfbewährten SS-Führers, nicht einmal an einem der Freikorps’ hatte sich der distinguierte Doktor der Rechtswissenschaften nach dem Ersten Weltkrieg beteiligt. Und in den Niederlanden war es nicht der Reichskommissar, der die unmittelbare Befehlsgewalt über die SS- und Polizeikräfte innehatte, sondern der Höhere SS- und Polizeiführer Nordwest Hanns Albin Rauter. Dass Seyß-Inquart trotz seiner positionellen Schwäche bis in die allerletzten Tage des Zweiten Weltkriegs hinein im polykratischen Machtgefüge des NS-Systems auf relativ hohem Niveau politisch ‚überleben‘ konnte und zu einem Zeitpunkt, an dem hochrangige ‚alte Kämpfer‘ wie Hermann Göring und Heinrich Himmler aus der NSDAP und ihren Ämtern gestoßen worden waren, nominell zum Außenminister im Kabinett von Großadmiral Karl Dönitz aufsteigen konnte, weisen ihn und seine Laufbahn als bemerkenswert aus. Er ist der einzige Leiter einer Besatzungsverwaltung, dem – wenn auch in einer historisch aussichtslosen historischen Situation – aufgrund seiner Amtsführung in einem der besetzten Länder der Sprung von der ‚zweiten Reihe‘ in die Führungsebene des Deutschen Reiches gelungen ist. Für die Beschäftigung mit der Geschichte des NS-Regimes und des Zweiten Weltkriegs ist Seyß-Inquart auch insoweit von Interesse, als seine Laufbahn in mehrfacher Hinsicht eine europäische Dimension hatte. Erstens begründete schon die Tatsache, dass er Posten in Wien, Krakau und Den Haag wahrnahm, eine transnationale Karriere innerhalb des deutsch beherrschten Machtbereichs. Diese Stellen boten ihm Gelegenheit zu einer politischen Profilierung in Hitlers Imperium, und diese Chance hat er ausgiebig genutzt, um seinen Beitrag zur Machtsteigerung des Großdeutschen Reiches und zum Aufbau einer genuin nationalsozialistischen ‚Neuen Ordnung‘ in Kontinentaleuropa zu leisten.3 Zweitens hat Seyß-Inquart besonders während seiner Tätigkeit in den Niederlanden in etlichen Reden und Schriften 1 2

3

Siehe hierzu unten, S. 34. VB vom 16. März 1938. Zu seiner Ernennung zum Gruppenführer siehe BArch (ehem. BDC), SSO Arthur Seyß-Inquart, Bl. 33, zur Beförderung zum Obergruppenführer Himmler an Seyß-Inquart vom 15. April 1941, ebd., Bl. 59. Seyß-Inquarts Mitgliedsnummer in der SS lautete 292.771 (WStLA, Personalakten des Gaues Wien 31.205: Arthur Seyß-Inquart). Vgl. hierzu allgemein Mazower, Hitler’s Empire.

1.1 Zielsetzung und Fragestellungen

15

programmatische Beiträge zum nationalsozialistischen Europadiskurs geliefert.4 Vor diesem Hintergrund bietet die Beschäftigung mit Seyß-Inquart die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen einer konzeptionellen, ideologisch fundierten Orientierung einerseits und praktischer Politik und Verwaltungsarbeit andererseits anhand eines renommierten NS-Funktionärs zu analysieren. Angesichts seiner besonderen Position und Laufbahn ist eine systematische Beschäftigung mit Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart unter biografischen und historiografischen Gesichtspunkten gerechtfertigt. Mehr noch als seine ‚österreichische‘ und ‚polnische‘ Periode verspricht die ‚niederländische Periode‘ seiner Laufbahn Aufschlüsse über einen nationalsozialistischen Schreibtischtäter, der aus ideologischer Überzeugung, mit einem feinen Gespür für Machtpolitik und einem ausgeprägten persönlichen Ehrgeiz führend an einem Besatzungsregime mitgewirkt hat, das durch eine zunehmende Radikalisierung und Brutalisierung gekennzeichnet war. Der Zeitraum seiner Tätigkeit in Den Haag umfasst den überwiegenden Teil des Zweiten Weltkriegs und erstreckt sich somit über mehrere Phasen und Zäsuren, die von einem Funktionsträger des Regimes stets von neuem Anpassungen erforderten: von der Euphorie des ‚Blitzkriegs‘ im Westen über die militärische Wende zu Ungunsten des Großdeutschen Reiches 1942/43 bis zur Kapitulation der Wehrmacht und der Zerstörung von NS-Herrschaft und Deutschem Reich. Für die Niederlande war die Zeit der deutschen Besatzung die erste Fremdherrschaft seit der napoleonischen Ära, für Seyß-Inquart stellte der Zeitraum zwischen Mai 1940 und Mai 1945 den Gipfelpunkt der Laufbahn dar. Im Unterschied zu seinen Posten in Wien und Krakau war er in Den Haag führerunmittelbar und hatte weder gleichgestellte Konkurrenten noch einen Stellvertreter. Obendrein stellten die parlamentarisch-demokratische Struktur und der ausgeprägte Konstitutionalismus des Königreichs der Niederlande sowie die pluralistische politische Kultur der dortigen Gesellschaft eine neuartige Herausforderung dar: Einerseits musste Seyß-Inquart als höchster Repräsentant des Großdeutschen Reiches mit Nachdruck die Interessen der Besatzungsmacht wahren. Andererseits hatte er den expliziten Auftrag, nach der Kapitulation der niederländischen Streitkräfte die als ‚germanisch‘ angesehene Bevölkerung der Niederlande zum Nationalsozialismus zu führen. Hier hatte eine Politik von Nazifizierung und Gleichschaltung, die letztlich zum Aufbau der ‚Neuen Ordnung‘ zu führen hatte, eine andere Ausgangsposition als in Österreich oder Polen. Gleichwohl schien Seyß-Inquart der Reichsführung für die Bewältigung dieser Aufgaben der ideale Kandidat zu sein. Denn schon in Österreich und im Generalgouvernement hatte er uneingeschränkt Loyalität gegenüber dem NS-Staat und seinem ‚Führer‘ sowie die bedingungslose Bereitschaft zur Mitwirkung an den Verfolgungsmaßnahmen des Regimes unter Beweis gestellt. Zum Zeitpunkt seiner Ernennung zum Reichskommissar lagen die formativen Jahre seiner politischen Sozialisation hinter ihm, Hitler konnte im Mai 1940 in seinem Landsmann zu Recht einen ‚konsolidierten‘ Nationalsozialisten sehen. Wie hat Seyß-Inquart unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden nationalsozialistische Politik konzipiert und umgesetzt? 4

Vgl. hierzu Kap. 13.

16

Kapitel 1: Einleitung

Dieser Frage will die vorliegende Studie aus einer biografischen Perspektive heraus nachgehen. Sie geht von der Beobachtung aus, dass das Amt des Reichskommissars Seyß-Inquart eine singuläre Karriere innerhalb des Machtbereichs des Großdeutschen Reiches ermöglichte. Leitend ist die These, dass der Chef der nationalsozialistischen Zivilverwaltung in Den Haag als politische und administrative ‚Zwischengewalt‘ zwischen Reichsführung, Reichszentral­ instanzen, deutschen Dienststellen in den Niederlanden und einheimischen Kollaborateuren nicht nur nominell, sondern auch faktisch in hohem Maße die Politik der deutschen Besatzungsverwaltung bestimmt hat. Fest verankert in der NS-Ideologie und eingebunden in Vorgaben und Erwartungen der Reichsführung, in eine Gemengelage von Konvergenzen, Kooperationen und offenen oder auch verdeckten Rivalitäten zwischen Ämtern und Personen sowie in komplexe arbeitsteilige Verfahrensweisen auf allen Feldern der Politik verstand es der Reichskommissar, weitreichende Entscheidungs- und Handlungsspielräume geschickt zu nutzen. Letztlich verweist eine Figur wie Seyß-Inquart darauf, dass ein hochkomplexes politisches System wie das NS-Regime in nicht zu unterschätzendem Maße von individuellen Funktionsträgern mitgeprägt wurde, und zwar nicht nur von Angehörigen von Reichs-, Partei-, SS- und Wehrmachtsführung, sondern auch von ‚Zwischengewalten‘. Im Gegensatz zu einer engen Auslegung der funktionalistischen Geschichtsauffassung, der zufolge NS-Täter „durchweg als Kollektive, jedenfalls stets in bürokratischen oder kameradenhaften Zusammenhängen handeln, hinter denen die individuellen Charaktere zurücktreten“,5 wird in dieser Studie der biografische Zugriff genutzt, um Interdependenzen zwischen strukturellen und persönlichen Momenten aufzuzeigen. Soweit es die Quellen- und Literaturlage zulässt, werden Interaktionen zwischen ‚Person‘ und ‚Struktur‘ offengelegt und die Stellung eines anpassungsbereiten und -fähigen Individuums in systemischen Kontexten analysiert. Mit Seyß-Inquart geschieht dies anhand eines Angehörigen der ‚zweiten Reihe‘, der sich durch einen starken Ehrgeiz auszeichnete, in die ‚erste Reihe‘ des nationalsozialistischen Establishments aufzusteigen. Um nun Seyß-Inquarts Tätigkeit als Reichskommissar analysieren und bewerten zu können, soll seine politische ‚Handschrift‘ entschlüsselt werden. Dabei ist davon auszugehen, dass die Begriffe ‚Amtsführung‘ und ‚Politik‘ bei einer ‚Zwischeninstanz‘ wie Seyß-Inquart analytisch nicht klar voneinander getrennt werden können. Es war in das Amt des Reichskommissars geradezu eingeschrieben, dass Seyß-Inquart gleichermaßen administrativ-exekutive Tätigkeiten zu bewältigen wie politische Kreativität zu entfalten hatte: Ein Reichskommissar war per definitionem Funktionär und Politiker in einem. Bei solch einem ausgesprochen politischen Funktionär stellt sich die Frage, welche Schwerpunkte sich in Seyß-Inquarts Amtsführung ausmachen lassen, inwieweit sich Aussagen über sein politisches Selbstverständnis und sein Amtsverständnis als Reichskommissar formulieren lassen und welche Spielräume er bei der Bestimmung von Arbeitsschwerpunkten und der Durchsetzung politischer Entscheidungen hatte. Hatte er die Möglichkeit, Vorgaben ‚von oben‘ durch eigene Initiativen zu beeinflussen, zu modifizieren oder zu umgehen? Im Hinblick auf seine Karriere ist auch von Interesse, auf welche Weise er während seiner Tätigkeit 5 Mommsen, Forschungskontroversen zum Nationalsozialismus, 17.

1.1 Zielsetzung und Fragestellungen

17

in den Niederlanden seine Position im polykratischen Machtgefüge des NS-Systems halten und seine Laufbahn bis zum designierten Außenminister befördern konnte. Wie agierte ein ambitionierter Quereinsteiger aus der Ostmark ohne langjährige Verwurzelung in SS und NSDAP in einem politischen System, das in präzedenzloser Radikalität totalitäre Ansprüche erhob und nach außen als einheitlicher, monolithischer, konsequent hierarchisch aufgebauter Block erscheinen mochte, sich aber in seiner Binnenstruktur in permanenter Mutation befand und dadurch geschickten Funktionsträgern beinahe kontinuierlich Neupositionierungen ermöglichte und Aufstiegschancen bot? In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt herauszuarbeiten, in welchem Maße Seyß-Inquart zwischen 1940 und 1945 an jener Radikalisierung teilgenommen hat, die für die innere Entwicklung des Dritten bzw. Großdeutschen Reiches insgesamt charakteristisch gewesen ist. Versuchte er, durch Radikalität und Brutalisierung der Besatzungspolitik der Reichsführung im Sinne von Ian Kershaw entgegen zu arbeiten und sich somit wie manch anderer Politiker der ‚zweiten Reihe‘ zugunsten der eigenen Karriere als Vorzeige-Nazi zu profilieren?6 Gerierte er sich in den Niederlanden durchgängig als fanatischer Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie, oder war er ein Funktionär, der prinzipiell oder zumindest phasenweise im Vergleich zu anderen NS-Politikern moderat auftrat und bemüht war, Belastungen für die Bevölkerung der besetzten Niederlande abzufedern? In diesem Sinne ist letztlich zu klären, wie sich Seyß-Inquart aus Sicht der Täterforschung typologisch fassen lässt. Inwieweit gehörte er zu jenen gebildeten, aber hochgradig fanatisierten und gewaltorientierten Nationalsozialisten, die unter dem Begriff „Generation des Unbedingten“ (Michael Wildt) zusammengefasst werden? Die Beantwortung dieser Fragen und Aufgabenstellungen ermöglicht nicht nur einen Beitrag zur überfälligen Biografie Seyß-Inquarts für die Jahre zwischen 1940 und 1945. Sie erlaubt auch zu eruieren, welche Bedeutung eine politisch versierte ‚Zwischeninstanz‘ für das ‚Funktionieren‘ des NS-Systems unter den spezifischen Bedingungen der Kriegssituation hatte. Welche Chancen boten sich einem geschickten, machtbewussten und überzeugten Nationalsozialisten in jenem ‚prekären Staat‘,7 der sich unterhalb der auf Hitler zulaufenden monokratischen Spitze durch ein diffuses Mit-, Neben- und Gegeneinanderarbeiten von traditionellen staatlichen Instanzen und nationalsozialistischen Sonderinstanzen auszeichnete? Und welche Grenzen waren einem Politiker der ‚zweiten Reihe‘ in solch einem hybriden politischen System gesetzt? Schließlich lässt die Fokussierung auf den Statthalter Hitlers in Den Haag zu, die zentralen Aspekte der deutschen Besatzungspolitik in den Niederlanden aus einer dezidierten ‚Top-down‘-Perspektive zu analysieren. En passant können auch jenseits der deutschen Besatzungsgeschichte der Niederlande kleinere historiografische Lücken zur Geschichte des NS-Staates aufgefüllt werden, etwa im Kontext der ungeklärten Vorgeschichte der Ersetzung von Dr. Wilhelm Frick als Reichsinnenminister durch Heinrich Himmler im 6 7

Vgl. etwa Epstein, Model Nazi zu Arthur Greiser, dem Reichsstatthalter und Gauleiter des Warthegaus. Zum Konzept des ‚Dem-Führer-Entgegenarbeitens‘ für die Analyse des Dritten Reiches vgl. Kershaw, „Working towards the Führer“ mit McElligott/Kirk (Hrsg.), Working towards the Führer. Vgl. hierzu Reichardt/Seibel (Hrsg.), Der prekäre Staat. Siehe auch Kuller, „Kämpfende Verwaltung“, besonders 231–234.

18

Kapitel 1: Einleitung

Jahr 1943.8 Auf diese Weise greift die vorliegende Arbeit Fragen und Themenstellungen zeithistorischer Forschungen auf, die über die Biografie Seyß-Inquarts weit hinausreichen. Umgekehrt können ihre Ergebnisse in biografischer und historiografischer Hinsicht anschlussfähig für künftige Forschungen zum NS-Regime sein. So bietet sich beispielsweise die Frage an, ob Nationalsozialisten aus Ländern, die vom Deutschen Reich ‚heimgeholt‘ oder besetzt wurden, in einer anderen Form und Intensität agierten als NS-Funktionäre aus dem Altreich. Empfanden Nationalsozialisten aus ‚angeschlossenen‘ oder besetzten Gebieten eine Notwendigkeit, sich besonders nachdrücklich zu profilieren? War bei ihnen die Bereitschaft zu vorauseilendem Gehorsam und einer aktiven Beteiligung am inhärenten Radikalisierungsprozess des NS-Systems stärker ausgeprägt als bei Parteigenossen aus dem Altreich? Darüber hinaus lädt ein Politiker wie Seyß-Inquart, der dem NS-Regime während des Krieges sowohl in Polen als auch in den Niederlanden gedient hat, dazu ein, nationalsozialistische Besatzungspolitik in Ost- und in Westeuropa zueinander in Beziehung zu setzen. Welche substanziellen Unterschiede, aber auch welche Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten legte das Personal von deutschen Besatzungsverwaltungen im Osten und im Westen von Hitlers Imperium unter Berücksichtigung der verschiedenen Phasen des Kriegsverlaufs an den Tag? 1.2 Forschungslage

Mit der Konzentration auf Seyß-Inquarts Tätigkeit als Reichskommissar schließt die Untersuchung an die Erforschung von ‚Zwischeninstanzen‘ an, die seit den Neunzigerjahren in der geschichtswissenschaftlichen Beschäftigung mit dem ‚Dritten Reich‘ an Bedeutung zugenommen hat.9 Nachdem zunächst lange Zeit die Spitzen der politischen und militärischen Führung des Dritten Reiches im Mittelpunkt biografisch orientierter NS-Forschung gestanden hatten, sind in den letzten Jahren auch verstärkt Funktionsträger der mittleren und der unteren Verwaltungsebenen von Staat, SS, NSDAP oder bewaffneten Verbänden in den Fokus der Täterforschung gerückt. Wichtige Studien in diesem Zusammenhang sind die Individualbiografie über Dr. Werner Best und Kollektivbiografien über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamts oder das Personal des Rasse- und Siedlungshauptamts der SS.10 Solche und zahlreiche weitere Untersuchungen haben nicht zuletzt zu einer Revision der traditionellen – und heute noch im populären Geschichtsverständnis durchaus verbreiteten – Ansicht beigetragen, Entscheidungsprozesse hätten sich im Sinne des nationalsozialistischen

8 9

Siehe hierzu unten, S. 142 ff. Vgl. zum Folgenden Koll, Biographik und NS-Forschung, 74–100. Zur Täterforschung siehe auch Paul/ Mallmann, Sozialisation, Milieu und Gewalt sowie – mit Bezug auf den Holocaust – den anregenden Essay von Longerich, Tendenzen und Perspektiven der Täterforschung. Zur Relevanz des biografischen Ansatzes für zeithistorische Forschung vgl. Gallus, Biographik und Zeitgeschichte. Allgemein zur Biografik als wissenschaftlicher Teildisziplin, zu ihrer Geschichte und ihrer aktuellen Relevanz in der geisteswissenschaftlichen Forschung sei verwiesen auf Klein (Hrsg.), Handbuch Biographie, Runge, Wissenschaftliche Biographik, Bödeker, Biographie und Lässig, Die historische Biographie auf neuen Wegen? 10 Siehe Herbert, Best, Wildt, Generation des Unbedingten und Heinemann, „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“.

1.2 Forschungslage

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‚Führerprinzips‘ relativ strikt von ‚oben‘ nach ‚unten‘ vollzogen. Demgegenüber hat sich in der jüngeren NS-Forschung die Einsicht durchgesetzt, dass die Geschichte des Dritten Reiches und ihre erschreckende innere Dynamik bis hin zu Vernichtungskrieg und Holocaust in hohem Maße aus dem Zusammenwirken von unterschiedlichen Prozessen resultierten, die zwar nicht in jeder Hinsicht kompatibel waren, sich letztlich aber ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit gegenseitig ergänzten. Demnach machte das Zusammenspiel von expliziten Vorgaben und Befehlen oder impliziten Erwartungen ‚von oben‘, Impulsen oder Aktionen vorauseilenden Gehorsams ‚von unten‘ und Initiativen, mit deren Hilfe NS-Funktionäre der mittleren oder unteren Verwaltungsebenen unabhängig von konkreten Vorgaben ihrer Vorgesetzten eigene politische Schwerpunkte verfolgten, das spezifische Radikalisierungspotenzial des NS-Regimes aus. Die Biografik konnte jedenfalls substanziell zu der Erkenntnis beitragen, dass die permanente Radikalisierung, die für das Regime charakteristisch war, aus komplexen Interaktionen hervorging, bei denen ‚Zwischeninstanzen‘ eine nicht zu unterschätzende systemstabilisierende Bedeutung hatten.11 In diesem Sinn stellt die Beschäftigung mit ‚Zwischeninstanzen‘ eine wichtige Ergänzung zu Forschungen über die Spitzenfiguren und zur Erforschung der Massenbasis des Dritten Reiches dar, um die politisch-gesellschaftliche Totalität des nationalsozialistischen Systems erfassen zu können. Trotz seiner bemerkenswerten Karriere ist Seyß-Inquart in diesem Kontext bisher kaum berücksichtigt worden, die Forschungslage zu diesem österreichischen Nationalsozialisten ist unbefriedigend. Abgesehen von vereinzelten Aufsätzen12 sowie von Einträgen in biografischen Nachschlagewerken13 und Kurzbiografien in Gesamtdarstellungen zur deutschen Besatzungszeit in den Niederlanden14 sind bisher drei Bücher unterschiedlicher Qualität erschienen, in denen Seyß-Inquart aus biografischer Perspektive behandelt worden ist. Der erste Überblick über Seyß-Inquarts Lebensverlauf von der Geburt (22. Juli 1892) bis zur Hinrichtung am 16. Oktober 1946 wurde 1967 von dem niederländischen Journalisten Johannes Hendricus (Henk) Neuman vorgelegt.15 Der Vorzug dieser populärwissenschaftlichen Monografie liegt darin, dass in ihr die Ergebnisse von Interviews mit Zeitzeugen wie Seyß-Inquarts Witwe Gertrud oder dessen Verteidiger in Nürnberg, Dr. Gustav Steinbauer, berücksichtigt wurden.

11 Vgl. Paul/Mallmann, Sozialisation, Milieu und Gewalt, 23. 12 Biografischer Gesamtüberblick bei Koll, From the Habsburg Empire to the Third Reich. Nicht frei von sachlichen Fehlern und ohne Berücksichtigung der Forschungsliteratur zu den Niederlanden unter deutscher Besatzung ist die biografische Skizze bei Pätzold, Arthur Seyss-Inquart. Detailaspekte zu verschiedenen Phasen von Seyß-Inquarts Biografie finden sich bei Leopold, Seyss-Inquart and the Austrian Anschluss, Pohanka, Das Trojanische Pferd, Laurentius, De residentie van Seyss-Inquart sowie in meinen Aufsätzen Profilierung im prekären Staat und Aufbau der „Volksgemeinschaft“. Aus biografischer Sicht keine neuen Erkenntnisse bietet Graf, Österreichische SS-Generäle, 93–100 und 193–198. 13 Siehe die Artikel von Dieter A. Binder im Österreichischen Biographischen Lexikon und in der Neuen Deutschen Biographie sowie Lilla, Statisten in Uniform, Nr. 1065, 615 f. 14 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/1, 51–65; In ’t Veld, Inleiding, 78–87; Van der Heijden, Grijs verleden, Kap. 7. 15 Neuman, Arthur Seyss-Inquart; hier wird die deutsche Übersetzung von 1970 zugrunde gelegt. Von der niederländischen Ausgabe erschien 1989 eine zweite Auflage, in der auch einzelne der Briefe abgedruckt wurden, die Seyß-Inquart im Nürnberger Gefängnis (1945/46) verfasst hatte.

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Kapitel 1: Einleitung

Gerade im Hinblick auf die Authentizität, die solche Gespräche angesichts des allmählichen Aussterbens jener Generationen besitzen, die die NS-Zeit bewusst miterlebt haben, ist aus heutiger Sicht mehr denn je bedauerlich, dass Neumans Buch hinter den Standards geschichtswissenschaftlicher Arbeitstechnik und Quellenkritik zurückbleibt. Die zweite Monografie über Seyß-Inquart ist demgegenüber zwar wissenschaftlich fundiert. Sie beschränkt sich jedoch auf die Zeit bis 1939 und ist deshalb für die vorliegende Studie nur von begrenztem Wert. 16 Der jüngsten Seyß-Inquart-Biografie schließlich, die 2011 von einem niederländischen Amateurhistoriker publiziert wurde, fehlt in formaler und inhaltlicher Hinsicht wissenschaftliche Relevanz: Sie präsentiert keinerlei neue Untersuchungsergebnisse, entbehrt umfassender Quellenrecherche, bietet der NS-Forschung keine weiterführenden Analysen und berücksichtigt nur marginal die überbordende zeithistorische Literatur.17 Vor diesem Hintergrund ist Seyß-Inquarts Bedeutung für die europäische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf wissenschaftlicher Grundlage bis jetzt nicht hinreichend analysiert worden. Dieses Defizit gilt insbesondere für seine Funktion als Reichskommissar in den Niederlanden.18 Während biografisch ausgerichtete Studien zu Seyß-Inquart somit noch sieben Jahrzehnte nach seiner Hinrichtung Mangelware sind, zählen Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg im Allgemeinen zu den am intensivsten erforschten Arbeitsfeldern neuzeitlicher Geschichte.19 Intensiv erforscht wurde und wird auch die niederländische Geschichte in den Kriegsjahren.20 Hierfür unentbehrlich sind nach wie vor Handbücher wie das vierzehnbändige Standardwerk Het Koninkrijk der Nederlanden in de Tweede Wereldoorlog [Das Königreich der Niederlande im Zweiten Weltkrieg] von Louis de Jong (1969–1994) sowie die Studien Reichskommissariat Niederlande von Konrad Kwiet (1968) und Fremdherrschaft und Kollaboration von Gerhard Hirschfeld (1984). Dazu kommen unzählige Spezialstudien zu bestimmten Regionen des Landes, Politikfeldern, historischen Ereignissen, gesellschaftlichen Gruppierungen oder Schichten und Personen. Hier ist nicht der Ort, die Forschungsliteratur im Einzelnen zu evaluieren; die Werke, die für die vorliegende Untersuchung relevant sind, werden je nach Bedarf in den betreffenden Kapiteln berücksichtigt. Zusammenfassend aber lässt sich festhalten, dass für die Geschichte der Besatzungsmacht, der Gesellschaft des besetzten Landes sowie des Verhältnisses und der freiwilligen oder unfreiwilligen Interaktion zwischen Besatzer und Besetzten eine ausreichende Literaturlage existiert. Sie erleichtert es, Seyß-Inquarts Tätigkeiten als Reichskommissar zu kontextualisieren.

16 Rosar, Deutsche Gemeinschaft. Die Publikation baut auf Rosars unveröffentlichter Fassung der Dissertation Arthur Seyss-Inquart in der österreichischen Anschlußbewegung auf. Leider erhielt ich nicht die Möglichkeit, Materialien einzusehen, die zu diesen Forschungen geführt haben (Telefonat mit Dr. Wolfgang Rosar vom 25. September 2009). 17 Gieling, Seyss-Inquart. 18 Eine wissenschaftlich fundierte Gesamtbiografie von mir über Seyß-Inquart ist in Vorbereitung. 19 Vgl. die Forschungsüberblicke bei Hildebrand, Das Dritte Reich, Kap. II, Brechtken, Geschichte des Nationalsozialismus und Ders., Geschichte der nationalsozialistischen Herrschaft. 20 Zur Geschichte der niederländischen Zeitgeschichtsforschung siehe Strupp, „Nieuwste geschiedenis“, „Contemporaine geschiedenis“ oder „Historia hodierna“? Überblicke über die Forschungen zur Zeit der deutschen Besatzung bieten Blom, Die Besatzungszeit und Thijs, Niederlande – Schwarz, Weiß, Grau.

1.3 Quellenlage

21

1.3 Quellenlage

Für die Analyse von Seyß-Inquarts Selbstverständnis und Amtsführung als Reichskommissar wird in diesem Buch eine Fülle von veröffentlichten und unveröffentlichten Quellen verarbeitet. Wichtige Aktenbestände zu Reichsführung und Reichszentralverwaltung sind im Bundesarchiv Berlin und im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts vorhanden. In beiden Archiven finden sich zahlreiche Korrespondenzen, Berichte oder Denkschriften von, an oder über Seyß-Inquart. Im Bundesarchiv haben sich bei den Recherchen vor allem die Bestände der Reichskanzlei (R 43 II), des Persönlichen Stabes des Reichsführers-SS (NS 19) und Seyß-Inquarts SS-Akte aus der Sammlung „Research“ des ehemaligen Berlin Document Center als ergiebig erwiesen, im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes besonders die Berichte, die der deutsche Gesandte und SS-Offizier Otto Bene ans Auswärtige Amt geschickt hat.21 Ein Großteil der Akten des Reichskommissariats ist im ‚Niederländischen Institut für Kriegs-, Holocaust und Genozid-Studien‘ (NIOD) in Amsterdam verfügbar; vereinzelt konnten hier auch Dokumente aus dem Sonderarchiv Moskau eingesehen werden, die sich auf die deutsche Besatzung der Niederlande beziehen (Best. 206). Ergänzend werden Unterlagen insbesondere aus dem Nationalarchiv zu Den Haag und dem Utrechter Archiv herangezogen. Unerlässlich sind darüber hinaus Quellen, die im Umfeld des Nürnberger Prozesses entstanden bzw. zusammengetragen worden sind. In diesem Kontext wurden für die vorliegende Untersuchung die publizierten Protokolle und Dokumente herangezogen, die der Internationale Militärgerichtshof zwischen 1947 und 1949 herausgegeben hat. Dazu kommen zahlreiche unveröffentlichte Dokumente aus der Mikrofiche-Sammlung des Münchener Instituts für Zeitgeschichte. Das Archiv der Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte (ÖGZ) in Wien schließlich bewahrt zwei Bestände auf, die für die vorliegende Arbeit wichtig sind: zum einen den Nachlass von Seyß-Inquarts Strafverteidiger (NL-61). In ihm befinden sich zahlreiche hand- oder maschinenschriftliche Notizen und Abhandlungen von Seyß-Inquart oder Mitteilungen von und an Steinbauer, die hier erstmals ausgewertet werden. Diese Unterlagen geben interessante Einblicke in Seyß-Inquarts Verteidigungs- und Rechtfertigungsstrategien in der Zeit zwischen Festnahme und Hinrichtung; mit ihrem beachtlichen Umfang und in der Intensität retrospektiver Selbstreflexion stellen sie einen einzigartigen Quellenfundus für Seyß-Inquarts Biografie wie auch für die Geschichte des Nürnberger Prozesses dar. Zum anderen beherbergt das ÖGZ-Archiv den Nachlass des niederländischen Journalisten Jules Huf (NL-96), der in den Sechzigerjahren eine – letztlich nie veröffentlichte – Biografie über Seyß-Inquart geplant und hierfür umfangreiches Quellenmaterial zusammengetragen hat.22 21 Korrespondenz mit Bezug auf die Niederlande zur Zeit der deutschen Besatzung ist teilweise abgedruckt in der zweibändigen Quellenedition von In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland. Seyß-Inquarts Nachlass im Bundesarchiv Koblenz hingegen (N 1180) ist weder im Hinblick auf seine Tätigkeit als Reichskommissar noch auf seine Funktion als Gruppen- bzw. Obergruppenführer der SS von Relevanz. Nach Aussage von Tochter Dorothea Seyß-Inquart ist kein privater Nachlass ihres Vaters vorhanden (Telefonat am 28. August 2009). 22 Siehe Korrespondenz [zum] Buch über Seyss-Inquart von Jules Huf, ÖGZ-A, NL-96, DO 1113, Mappe 30.

22

Kapitel 1: Einleitung

Neben Archivalien wurden gedruckte und bildliche Quellen durchforstet. Die zeitgenössische Publizistik habe ich durch die Lektüre von Zeitungen, Zeitschriften und Flugschriften sowie durch die Auswertung von Presseausschnittsammlungen in Archiven erschlossen.23 Über die deutsche und niederländische Tages- und Wochenpresse lassen sich nicht zuletzt Inhalt oder gar Wortlaut zahlreicher Reden oder Vorträge Seyß-Inquarts ermitteln. Einige seiner Ansprachen sind – zum Teil in gekürzter Form – in einem Sammelband erschienen, den Seyß-Inquart selber 1944 im ‚Volk und Reich Verlag‘ herausgegeben hat.24 Schließlich dokumentieren zeitgenössische Editionen von Gesetzen, Verordnungen und Kundmachungen Seyß-Inquarts Wirken im Bereich der Rechtsetzung.25 In Verbindung mit archivalischen Akten und der Publizistik lassen auch sie Rückschlüsse auf Politik und Amtsführung des Reichskommissars zu. Schließlich wird selektiv auf zeitgenössisches Bildmaterial verwiesen, das über diverse Fotosammlungen und Internetdatenbanken zugänglich ist.26 Erschwert wird die Beschäftigung mit Seyß-Inquart dadurch, dass nur selten von ihm verfasste oder autorisierte Protokolle über Gespräche überliefert sind. Oft muss der Inhalt von Dienstbesprechungen über Briefe oder Berichte erschlossen werden, die Mitarbeiter wie Bene oder Rauter aus den Niederlanden an das Auswärtige Amt bzw. den Reichsführer-SS oder andere Personen oder Instanzen des NS-Regimes geschickt haben. Ihre Auswertung liefert unverzichtbare Einsichten in Seyß-Inquarts Selbstverständnis und Amtsführung. Sie müssen aber insoweit mit quellenkritischer Vorsicht angegangen werden, als sie in der Regel erkennbar die Sichtweisen oder Erwartungen der jeweiligen Absender zum Ausdruck bringen und von diesen – oft ebenso erkennbar – im Hinblick auf die Erwartungen oder Einstellungen der jeweiligen Vorgesetzten formuliert wurden. Da solches Schriftgut mitunter das Ergebnis eigener strategischer Überlegungen war, ist es nur bedingt als vertrauenswürdige Darstellung der konzeptionellen oder strategischen Überlegungen des Reichskommissars zu betrachten. Zu bedenken ist ferner, dass dadurch wertvolle Quellen verloren gegangen sind, dass 23 Niederländische Presseorgane können teilweise über das Internetportal Delpher Kranten konsultiert werden (http://kranten.delpher.nl/). 24 Seyß-Inquart, Vier Jahre in den Niederlanden. Ein Exemplar mit einer handschriftlichen Widmung für den niederländischen Nationalsozialisten Meinoud Marinus Rost van Tonningen befindet sich in der Athe­ naeumbibliotheek Deventer, Sign. 34 B 42. 25 Hier sind das zweisprachige Verordnungsblatt für die besetzten niederländischen Gebiete – Verordeningenblad voor het bezette Nederlandsche gebied und das Reichsgesetzblatt zu nennen. Letzteres kann über die Internetadresse http://alex.onb.ac.at/alex.htm eingesehen werden. 26 Für meine Forschungen zu Seyß-Inquart haben sich besonders die niederländische Fotosammlung unter http://www.beeldbankwo2.nl/index.jsp sowie die Sammlungen der folgenden Institutionen als ergiebig erwiesen: Bayerische Staatsbibliothek (http://www.bsb-muenchen.de/Bilder.591.0.html), namentlich das Fotoarchiv von Hitlers Leibfotografen Heinrich Hoffmann; Österreichische Nationalbibliothek (http:// www.bildarchiv.at); Bundesarchiv (http://www.bild.bundesarchiv.de); Nationaal Archief (http://www.gahetna.nl/collectie/afbeeldingen/fotocollectie); Centre d’études et de documentation Guerre et Sociétés contemporaines – Studie- en documentatiecentrum Oorlog en hedendaagse Maatschappij (http://www.cegesoma. be/cms/images_sons_nl.php); Yad Vashem (http://collections.yadvashem.org/photosarchive/en-us/photos. html). Hilfreich ist auch die polnische Sammlung Narodowe Archiwum cyfrowe (http://www.audiovis.nac. gov.pl) [Zugriffe: 23. Dezember 2014].

1.3 Quellenlage

23

Seyß-Inquart im Frühjahr 1943 den Auftrag erteilte, „Geheimmaterial zu überprüfen und Vorgänge, deren Lagerung nicht mehr erforderlich ist, zu vernichten.“27 Dies tat er, nachdem sich im Gefolge der Kapitulation der VI. Armee in Stalingrad und dem Vormarsch der alliierten Truppen in Nordafrika die Wende im Zweiten Weltkrieg abgezeichnet hatte. Und an jenem 5. Mai 1945, an dem in den Niederlanden der Waffenstillstand in Kraft trat, wurden Bücher und Unterlagen aus Seyß-Inquarts Residenz Clingendael in Abwesenheit des Hausherrn verbrannt.28 Bezeichnend für Seyß-Inquarts Neigung, belastendes Material vorsorglich vernichten zu lassen, ist nicht zuletzt, dass von seinem eigenen Stab in Den Haag nur wenige Dokumente überliefert sind. Erfreulicherweise kann der Verlust von unzähligen Akten der Präsidialabteilung des Reichskommissariats in begrenztem Maße durch die Bestände der sogenannten Generalkommissariate ausgeglichen werden, die innerhalb des Reichskommissariats für bestimmte Politikbereiche zuständig waren. Insbesondere im Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz, dessen Leitung Seyß-Inquart mit Dr. Dr. Friedrich Wimmer einem seiner engsten Freunde anvertraute, finden sich zahlreiche Originalunterlagen, die Aufschlüsse über Seyß-Inquarts Amtsführung geben, bisher jedoch im Hinblick auf die Gesamtpolitik der deutschen Besatzung des Landes nicht hinreichend ausgewertet worden sind.29 Der persönliche Einfluss des Reichskommissars bei behördeninternen Abstimmungs- und politischen Entscheidungsprozessen lässt sich aus diesen Beständen allerdings nur bedingt ablesen. Dokumente über Seyß-Inquarts Privatleben sind Mangelware. Persönlich gehaltene Briefe und Aufzeichnungen sind nur aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg und – wie oben erwähnt – aus der Haft im Nürnberger Gefängnis vorhanden,30 nicht jedoch aus seiner ‚niederländischen Periode‘. Und im Unterschied zu anderen NS-Politikern wie beispielsweise Dr. Hans Frank, Dr. Joseph Goebbels oder Heinrich Himmler sind von Seyß-Inquart keine Tagebücher überliefert. Deshalb müssen seine Termine, Aufenthaltsorte und Reiserouten durch andere Quellen wie Presseartikel und die Berichte und Korrespondenzen von Rauter, Bene oder Vertretern von Reichszentralinstanzen erschlossen werden. Das Fehlen eines Tagebuchs als Ort 27 Rundschreiben von Dr. Hans H. Piesbergen (Leiter der Präsidialabteilung des Reichskommissariats) an die Generalkommissare und die Beauftragten des Reichskommissars für die Provinzen und die Städte Amsterdam und Rotterdam vom 26. Juni 1943 unter ausdrücklicher Berufung auf entsprechende Verfügungen Seyß-Inquarts. Nachdem sich jedoch der Leiter der Abteilung Archivwesen des Reichskommissariats, Dr. Bernhard Vollmer, dafür ausgesprochen hatte, „aufschlussreiche, für eine künftige Darstellung der Geschichte des Reichskommissariats in Betracht kommende Geheimakten nicht zu vernichten“ (Vollmer an Piesbergen vom 13. Juli 1943), ordnete Piesbergen am 17. Juli 1943 in einem neuerlichen Rundschreiben an, dass derartige Materialien ans Reichsarchiv in Potsdam abgegeben werden sollten. Ob, wann und in welchem Ausmaß welche Dienststellen des Reichskommissariats dieser Aufforderung nachkamen, ist nicht bekannt. Alle genannten Quellen befinden sich als Fotokopien in: NIOD, 20/1048. Schon am 9. April 1941 hatte Seyß-Inquart angeordnet, dass alle Abteilungen des Reichskommissariats alle zwei Wochen Akten, die als ‚geheim‘ oder ‚vertraulich‘ kategorisiert waren, „überprüfen“ und gegebenenfalls an einen sicheren Ort überführen lassen mussten; siehe Rundschreiben Piesbergens vom 17. März 1942, NIOD, 14/114. 28 Neuman, Arthur Seyss-Inquart, 339. 29 NIOD, 20. 30 ÖNB-HAN, Autogr. 1019 und ÖGZ-A, NL-61.

24

Kapitel 1: Einleitung

der (Selbst-)Reflexion erschwert auch die Analyse von Seyß-Inquarts persönlicher und welt­ anschaulicher Entwicklung und benimmt der Nachwelt über weite Strecken die Möglichkeit, sozusagen aus erster Hand Einblicke in Gedankengänge, Überlegungen und Überzeugungen, allgemeine Beurteilungsmaßstäbe und Bewertungen von konkreten Einzelfällen oder Situationen zu gewinnen. Dazu kommt, dass Seyß-Inquart schon von den Zeitgenossen als eine schwer zu durchschauende, rational beherrschte, ausgesprochen intelligente, jedoch introvertierte und in der Regel zurückhaltend bis emotionslos auftretende Persönlichkeit wahrgenommen wurde. In diesem Sinn hat ihn Wimmer 1947 im Rückblick als „einen grossen Schweiger“ bezeichnet, der „selten rund heraus seine Meinung“ gesagt habe,31 und schon 1938 hatte der Wiener Journalist und namhafte österreichische Freimaurer Eugen Lennhoff Seyß-Inquart als einen jener Österreicher charakterisiert, „who conceal their true selves behind a mask of friendliness.“32 Wie die Politik aussah, die unter dieser Maske in den besetzten Niederlanden verfolgt wurde, soll anhand von ausgewählten Einzelthemen herausgearbeitet werden. 1.4 Gliederung

Die Auswahl an Einzelthemen richtet sich zum einen danach, inwieweit aussagekräftiges Quellenmaterial überliefert ist. Zum anderen sind allgemeinere Fragestellungen zeithistorischer Forschung für die Gliederung ausschlaggebend, etwa zum Aufbau einer zivilen Besatzungsverwaltung; zu Zielen, Mitteln und Wegen der Nazifizierung und Gleichschaltung eines eroberten Landes; zum Umgang mit kollaborationsbereiten Kräften der einheimischen Gesellschaft; zu machtpolitischen Implikationen von Prozessen der Entscheidungsfindung und -durchsetzung; zur Verfolgung von Juden, Sinti und Roma; zu wirtschaftlicher Ausbeutung und zur Bekämpfung von Widerstand sowie zur nationalsozialistischen Europapolitik. Der Aufbau der Arbeit verbindet chronologische mit systematischen Gliederungsaspekten. Zunächst ist in geraffter Form Seyß-Inquarts biografische Entwicklung bis zu seiner Ernennung zum Reichskommissar zu referieren. Besondere Aufmerksamkeit wird hierbei seinem Weg zum Nationalsozialismus und der Frage gewidmet, wie er in Österreich und Polen mit politischen Herausforderungen umgegangen ist (Kapitel 2). Daran schließt sich eine Periodisierung der niederländischen Geschichte für die Zeit vom Westfeldzug bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs an (Kapitel 3). Für die Analyse einzelner Politikfelder ist die Einteilung der Besatzungszeit in Phasen unentbehrlich – werden hierdurch doch Zäsuren und wichtige Momente angegeben, die für die Geschichte der nationalsozialistischen Besatzungspolitik prägend waren und für die folgenden Kapitel vorausgesetzt werden. Warum und unter welchen Umständen aber wurde Seyß-Inquart überhaupt im Mai 1940 zum Reichskommissar bestellt? Diese Frage wird im vierten Kapitel erörtert. Daran schließen sich Kapitel an, in denen unter systematischen Gesichtspunkten Seyß-Inquarts Stellung, Selbstverständnis und Politik 31 Zit. nach: Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 345. Die gleiche Bezeichnung verwendete Edmund Glaise von Horstenau in seinen Memoiren (siehe die Edition Broucek [Hrsg.], Ein General im Zwielicht, Bd. 2, 75). 32 Lennhoff, The last five Hours of Austria, 84.

1.4 Gliederung

25

analysiert werden. Im Mittelpunkt stehen folgende Themen: die Grundlagen, aber auch die Grenzen der Machtstellung des Reichskommissars innerhalb der deutschen Zivilverwaltung sowie sein Verhältnis zu Reichszentralinstanzen (Kapitel 5); der Versuch, das gesamte politisch-gesellschaftliche Leben der besetzten Niederlande einer Politik von Nazifizierung und Gleichschaltung zu unterwerfen (Kapitel 6); das komplizierte und wechselhafte Verhältnis der Besatzungsmacht zur Kollaborationspartei Nationaal-Socialistische Beweging (NSB), der im Zusammenhang mit den Nazifizierungsbestrebungen besondere Bedeutung zukam (Kapitel 7); die Politik der Verfolgung von Juden, Sinti und Roma und des organisierten Widerstands (Kapitel 8 bis 10), die der Besatzungszeit in ihrer Gesamtheit einen unerhört brutalen Charakter gab und Seyß-Inquarts Mitwirkung an Holocaust und ethnischen ‚Säuberungen‘ des NS-Regimes dokumentiert; die Wirtschaftspolitik, die ebenso wie andere Politikfelder im Laufe der fünf Besatzungsjahre eine merkliche Radikalisierung erfuhr (Kapitel 11); und die Kultur- und Wissenschaftspolitik, deren Ausrichtung am nationalsozialistischen Deutschland für den seit jeher kulturbeflissenen Reichskommissar ein persönliches Anliegen war (Kapitel 12). Dass Kulturpolitik nicht nur zur Nazifizierung der niederländischen Bevölkerung eingesetzt wurde, sondern von Seyß-Inquart auch für eine Profilierung auf reichspolitischer Ebene genutzt wurde, wird in den Kapiteln 12 und 13 thematisiert. Doch auch jenseits der Kultur- und Wissenschaftspolitik beteiligte sich Seyß-Inquart während des Krieges mit strategischen Überlegungen und der Propagierung von europapolitischen Vorstellungen an einem Diskurs, der über die Niederlande hinausreichte und ihm erkennbar die Fortsetzung der Karriere im Deutschen Reich einbringen sollte. Seine Bestimmung zum Reichsaußenminister sowie die Frage, nach welchen Maßgaben und unter welchen Umständen Seyß-Inquart die Zivilverwaltung in den Niederlanden in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs führte, wird in Kapitel 14 untersucht. Anschließend wird Seyß-Inquarts Weg von der Internierung durch die Alliierten über den Nürnberger Prozess bis zur Hinrichtung nachgezeichnet. Im Zentrum des Interesses von Kapitel 15 stehen seine Verteidigungsstrategie und die Frage, ob ihn der Zusammenbruch des Deutschen Reiches zu einer Revision seiner politischen Auffassungen bewegt hat. Wie hat Seyß-Inquart unter dem Eindruck des Zusammenbruchs all dessen, wofür er sich bis Mai 1945 eingesetzt hatte, rückblickend sich selbst gesehen und seine eigenen Tätigkeiten dargestellt? Das letzte Kapitel bietet nicht nur eine Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Studie. Hier wird abschließend auch der Versuch unternommen, Seyß-Inquart unter besonderer Berücksichtigung seiner Aktivitäten als Reichskommissar im Kontext der Täterforschung zu verorten. Mit der vorgestellten Auswahl an Einzelthemen ist nicht der Anspruch verbunden, alle Aspekte der deutschen Besatzungspolitik in den Niederlanden zu behandeln. Die ausgewählten Themen spiegeln jedoch die wichtigsten Felder der Tätigkeiten des Reichskommissariats in Den Haag wider. Sie geben Aufschluss über Seyß-Inquarts Streben nach Machterhalt und -ausweitung, und sie lassen den großen persönlichen Einfluss erkennen, den der Reichskommissar auf die deutsche Besatzungspolitik ausgeübt hat. Letztlich kann auf diese Weise die Bedeutung einer nationalsozialistischen ‚Zwischeninstanz‘ für das ‚Funktionieren‘ des NS-Systems in einem der besetzten europäischen Länder eruiert werden.

26

Kapitel 1: Einleitung

1.5 Methodische Aspekte

Mit dem vorgestellten Aufbau wird der Arbeit in den Kernteilen eine Politikfeldanalyse zugrunde gelegt.33 Dieser politikwissenschaftliche Ansatz erlaubt es, Seyß-Inquarts politisches Wirken problemorientiert anhand von konkreten Arbeitsbereichen zu untersuchen. Er stellt freilich nicht mehr als ein Arbeitsinstrument dar. Bei seiner Anwendung ist zu bedenken, dass in der Praxis ebenso wie im Selbstverständnis eines überzeugten Nationalsozialisten wie Seyß-Inquart die einzelnen Politikfelder ineinander griffen und eng aufeinander bezogen waren. Beispielsweise hingen die ‚Arisierung‘ des Wirtschaftslebens, die Segregation und Deportation der Juden, die Rekrutierung einheimischer Arbeitskräfte für die deutsche Landwirtschaft und Industrie sowie die rigorose Ausrichtung der niederländischen Volkswirtschaft auf die Bedürfnisse der deutschen Rüstungsproduktion eng zusammen, und wenn Kunstwerke oder wertvolle Bibliotheksbestände requiriert oder konfisziert wurden, hatte die nationalsozialistische Kulturpolitik unmittelbar wirtschaftliche Konsequenzen. Auch waren aus ideologischer Sicht alle Politikfelder nicht zuletzt dadurch miteinander verbunden, dass sie auf ein einheitliches Ziel ausgerichtet waren: die Errichtung der ‚Neuen Ordnung‘. Vor diesem Hintergrund dienen Verweise zwischen den einzelnen Kapiteln oder Abschnitten nicht nur dazu, die Anzahl an Wiederholungen zu beschränken, die aufgrund der Berücksichtigung von systematischen Gesichtspunkten in der Strukturierung der Arbeit unvermeidlich sind. Sie deuten auch den systemischen Charakter der deutschen Besatzungspolitik an. Dass für Seyß-Inquarts Wirken in den Niederlanden eine ideologisch und praktisch begründbare Kohärenz politischer Maßnahmen unterstellt werden muss, spricht keineswegs gegen die Anwendung einer Politikfeldanalyse. Sie ist zu heuristischen Zwecken legitim und zweckmäßig, weil sie es möglich macht, Seyß-Inquarts politische Initiativen und seine Amtsführung durch eine Konzentration auf einzelne Arbeitsfelder konzise zu analysieren und darzustellen. Sofern die Quellenlage es zulässt, werden bei einzelnen seiner Tätigkeitsfelder gelegentlich auch politische Anliegen und berufliche Ambitionen, die nicht in formelle Zuständigkeiten mündeten oder nicht einmal realisiert worden sind, unter systematischen Gesichtspunkten untersucht – stellten doch Potenzialität, Optionalität und eine prinzipielle Offenheit historischer Situationen neben der feststellbaren Faktizität Kategorien dar, die Seyß-Inquarts Denken und Handeln nachweisbar beeinflusst haben. Bei der Analyse der verschiedenen Politikfelder wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich die Biografik in methodischer Hinsicht prinzipiell durch Offenheit auszeichnet; eine klar definierte, genuin biografische Methode hat sich in der Geschichtswissenschaft nicht etabliert.34 Die methodische Offenheit kommt der Beschäftigung mit Seyß-Inquart zugute, weil sich dessen Tätigkeit als Reichskommissar auf unterschiedliche Arbeitsfelder erstreckte wie die Verwaltungsarbeit innerhalb der Besatzungsbehörden, die (Mit-)Gestaltung politischer Pro33 Vgl. Blum/Schubert, Politikfeldanalyse. 34 In diesem Sinn hält Wolfram Pyta einen „multiperspektivischen Zugang“ geradezu für ein konstitutives Merkmal geschichtswissenschaftlicher Biografik (Geschichtswissenschaft, 332).

1.6 Zur Textgestaltung

27

zesse in den Niederlanden und im Reich sowie programmatische Beiträge zur Zukunft der Niederlande, Deutschlands und des europäischen Kontinents. In diesem Sinn kommen in den Kapiteln dieser Arbeit verschiedene Methoden zur Anwendung: Ansätze der Rechts-, Verfassungs- und Institutionengeschichte werden ebenso zur Geltung gebracht wie die Analyse von Netzwerken und machtpolitischen Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Niederlande; konzeptionelle oder programmatische Aussagen werden nach hermeneutischen Gesichtspunkten analysiert und mithilfe von Ideologiekritik mit der Realität der deutschen Besatzungspolitik in Beziehung gesetzt; Aussagen aus der Nachkriegszeit werden kritisch mit Befunden abgeglichen, die sich aus den Akten der Kriegszeit ergeben; Ergebnisse von Forschungen zur Politik-, Wirtschafts-, Kultur- und Militärgeschichte des Zweiten Weltkriegs werden genutzt, um die Entwicklung von Seyß-Inquarts Politik zwischen 1940 und 1945 zu untersuchen. In ihrer Gesamtheit verspricht die Anwendung dieser geschichtswissenschaftlichen Methoden ein empirisch abgesichertes Profil von Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart. 1.6 Zur Textgestaltung

Bei der Textgestaltung werden folgende Richtlinien zugrunde gelegt: In Quellen und Literatur wird der Name des Protagonisten sowohl als ‚Seyß-Inquart‘ als auch als ‚Seyss-Inquart‘ wiedergegeben. Er selber unterschrieb mit ss, und in dieser Form wurde sein Name auch in etlichen archivalischen Quellen wiedergegeben. In gedruckter Form hingegen wurde sein Name zu seinen Lebzeiten wie auch in der Historiografie meistens mit ß geschrieben. Ich folge der letztgenannten Schreibweise, übernehme aber aus Quellen und Literatur stets die dort jeweils verwendete Schreibweise. Ideologisch kodierte Bezeichnungen wie ‚Drittes Reich‘, ‚Machtergreifung‘, ‚Volksgemeinschaft‘ oder ‚Anschluss Österreichs‘, die aufgrund ihrer spezifisch nationalsozialistischen Konnotationen nicht umstandslos in die Darstellung von Ergebnissen kritischer historischer Forschung übernommen werden können, werden bei ihrer ersten Erwähnung in einfache Anführungszeichen gesetzt. Damit soll einerseits eine Historisierung des zeitgenössischen Vokabulars und seines Gebrauchs zum Ausdruck gebracht werden. Andererseits soll durch den Verzicht auf die Verwendung von Anführungszeichen ab der zweiten Erwähnung die Lesbarkeit des Textes erleichtert werden. Lediglich ‚Führer‘ als selbstgewählte Bezeichnung von und für Adolf Hitler, ‚Endlösung‘ als Chiffre für die umfassende Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung sowie Begriffe wie ‚Anschluss‘ und ‚Ahnenerbe‘ als Kurzbezeichnungen für den Anschluss Österreichs bzw. für die zum SS-Komplex gehörende ‚Lehr- und Forschungsgemeinschaft Das Ahnenerbe‘ werden im Fließtext durchgehend in Anführungszeichen gesetzt. Außerdem werden einfache Anführungszeichen bei der deutschen Übersetzung von niederländischen Begriffen verwendet, für die es kein offiziell anerkanntes zeitgenössisches Äquivalent gab. Reine Funktions- oder Amtsbezeichnungen wie ‚Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete‘ oder ‚Entscheidungsstelle über die Meldepflicht aus der Verordnung Nr. 6/41‘ werden in der Regel ohne Anführungszeichen genannt. Doppelte Anführungszeichen sind Zitaten vorbehalten.

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Kapitel 1: Einleitung

Ist eine Quelle in mehreren Archiven überliefert, wird in der Regel nur ein Fundort angegeben. Sofern ein Original ermittelt werden konnte, erhält der betreffende Bestand den Vorrang gegenüber Parallelüberlieferungen, in denen sich lediglich Ab- oder Durchschriften befinden. Auf die Angabe von Geheimhaltungsstufen in amtlichen Schreiben wie „geheim“, „geheime Reichssache“, „geheime Kommandosache“ oder „vertraulich“ wird in der Regel aus Platzgründen verzichtet. Archivbestände werden unter den Bezeichnungen angegeben, die zum Zeitpunkt der Recherchen maßgeblich waren. Zitate aus dem Niederländischen werden, sofern nicht anders angegeben, in meiner Übersetzung wiedergegeben, während wörtliche Übernahmen aus anderen Sprachen im Original übernommen werden. Fernschreiben, die im Original in der Regel zur Gänze in Großbuchstaben oder komplett in Kleinschreibung gehalten sind, werden der besseren Lesbarkeit willen in der gewöhnlichen Unterscheidung von Groß- und Kleinschreibung zitiert. Aus demselben Grund werden Umlaute bei Zitaten aus Fernschreiben als ä, ö und ü wiedergegeben. Es wird darauf verzichtet, an allen Stellen konsequent männliche und weibliche Formen zu verwenden. Erneut zugunsten der Lesbarkeit wird oftmals das generische Maskulinum zugrunde gelegt.

Kapitel 2:

Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

Als Arthur Seyß-Inquart bald nach der Kapitulation der niederländischen Armee zum Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete bestellt wurde, hatte er sich bereits im Sinne des NS-Regimes bewährt: In Österreich hatte er hinter den Kulissen intensiv den ‚Anschluss‘ an das Deutsche Reich vorbereitet und seit März 1938 als Reichsstatthalter und Leiter der österreichischen Landesregierung an der Umwandlung Österreichs in die Ostmark mitgewirkt. Und in Polen hatte er nach Beginn des Zweiten Weltkriegs als Chef der Zivilverwaltung im Militärbezirk Krakau sowie als Stellvertretender Generalgouverneur einen Beitrag zur deutschen Politik von Beraubung, Versklavung und teilweiser Ermordung der dortigen jüdischen und nicht-jüdischen Bevölkerung geliefert.1 Wie ist Seyß-Inquart zum Nationalsozialismus gekommen? Wie lässt sich aus biografischer Perspektive seine weltanschauliche und politische Entwicklung bis zu seiner Ernennung zum Reichskommissar beschreiben? Durch welchen politischen Stil, durch welche Techniken und Taktiken zeichnete er sich bis zum Westfeldzug aus? 2.1 Kindheit und Jugend

Geboren wurde Arthur Rudolf, wie sein Taufname lautet,2 am 22. Juli 1892 in Stannern/ Stonařov. Dieses kleine Dorf lag nicht weit entfernt von Iglau/Jihlava, dem Hauptort einer deutschen Sprachinsel im zweisprachigen Kronland Mähren. Hier hatte der Vater Emil einige Jahre als Lehrer für Latein, Griechisch und Deutsch an einem Gymnasium gearbeitet, ehe er 1889 zum Direktor des Deutschen Staatsgymnasiums in der mährischen Stadt Olmütz/

1 2

Sofern nicht anders angegeben, stützen sich die folgenden Ausführungen auf Koll, From the Habsburg Empire to the Third Reich, Rosar, Deutsche Gemeinschaft und Neuman, Arthur Seyss-Inquart, passim. Siehe auch meinen Aufsatz Profilierung im prekären Staat. Geburts- und Taufschein Arthur Rudolf Seyss – Rodní a křestný list Arthur Rudolf Seyss, ausgestellt am 12. September 1898, Fotografie in: ÖGZ-A, NL-96, DO 1102, Mappe 2 (ohne Provenienzangabe). Die Familie nannte sich damals Seyß. Den Doppelnamen Seyß-Inquart übernahmen Emil und seine Familienangehörigen erst 1906. Dazu waren sie berechtigt, nachdem Johann Heinrich Ritter von Inquart, ein Onkel von Arthurs Mutter Auguste, ohne männliche Erben verstorben war. Siehe hierzu Rosar, Deutsche Gemeinschaft, 14.

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

Olomouc bestellt wurde.3 Während Arthurs Schwestern Hedwig, Irene und Henriette entsprechend dem Augsburgischen Bekenntnis der Mutter Auguste evangelisch getauft wurden, wurden Arthur und sein Bruder Richard nach dem Religionsbekenntnis des Vaters katholisch erzogen.4 Zwischen 1898 und 1902 besuchte Arthur die Volksschule zu Olmütz, wo sich die Zeugnisnoten ausnahmslos zwischen „gut“ und „sehr gut“ bewegten.5 In derselben Stadt war er anschließend Schüler am Deutschen Staatsgymnasium, das sein Vater leitete. Auch hier erreichte er fast ausnahmslos gute Zeugnisnoten. Alle Schuljahre schloss er „mit Vorzug“ ab und gehörte damit durchgängig zu den besten Schülern seiner Klasse.6 Als die Familie nach der Pensionierung des Vaters 1908 in das südlich von Wien gelegene Städtchen Baden umzog, wechselte Arthur auf das dortige Kaiser-Franz-Joseph-Landes-Real- und Obergymnasium. Hier legte er im Juli 1910 die Reifeprüfung ab.7 Welche Erziehung er und seine Geschwister im Elternhaus vermittelt bekommen haben, lässt sich aufgrund der defizitären Quellenlage nicht befriedigend eruieren. Insbesondere zur Mutter, der wegen der Berufstätigkeit ihres Gatten der größte Teil der Kindererziehung zugefallen sein wird, liegen so gut wie keine aussagekräftigen Dokumente vor. Günstiger ist die Quellenlage zu Arthurs Vater. Emil kann als ein freiheitlich-liberaler Beamter beschrieben werden, der Loyalität gegenüber dem Haus Habsburg und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie mit klassischem Bildungsgut und einem deutschen Kulturbewusstsein zu verbinden trachtete. Emils politische Sympathien galten der Deutsch-Fortschrittlichen Partei Mährens, für die er zwischen 1902 und 1904 der Olmützer Stadtverordnetenversammlung angehörte.8 Diese bürgerliche Honoratiorenpartei stand nicht nur in einer Frontstellung gegenüber den tschechischen Parteien, sondern auch in Abgrenzung zu Sozialdemokraten und Christlich-Sozialen sowie in einer Rivalität mit deutschvölkischen Parteien in Mähren. Schon dies deutet darauf hin, dass Emil politischer Radikalismus fernlag. Dass seine nationale Orientierung im Vergleich zu anderen bürgerlichen Parteien moderat war, lässt sich auch daran ablesen, dass er sich bemühte, Patriotismus mit humanistischen und kosmopolitischen Traditionen in Übereinstimmung zu bringen. In diesem Sinn ließ er 1885 in Friedrich Schiller jenen Dichter hochleben, der „seinem Volke ein theures Vermächtnis deutscher Humanität und deutschen Weltbürgertums hinterlassen“ habe.9 Franz Grillparzer wiederum galt ihm sechs 3 4

Siehe die Selbstdarstellung in: Seyss, Bericht 1888–9, 24. Zu Arthurs Geschwistern gehörte gewissermaßen auch Robert, der allerdings neun Monate nach der Geburt (Juli 1891) – und damit vor Arthurs Geburt – verstorben war. 5 Siehe das jeweilige Classenbuch in: SOkAO, Všeobecná pětitřidní chlapecká obecná škola německá v Olomouci, M 5-15/3. 6 Siehe die Haupt-Kataloge des Deutschen Staatsgymnasiums in Olmütz für die Schuljahre 1902 bis 1908, SOkAO, Německé státní gymnazium, M 5-34/85 ff. 7 Zeiner, Bericht über das Schuljahr [1910/1911], 41 f. 8 Statistische Kommission des Gemeinderates (Bearb.), Der Statistischen Jahrbücher der königlichen Hauptstadt Olmütz IV. Band, 218 und 223. Zu dieser Partei siehe Malíř, Die Parteien in Mähren und Schlesien, 746 f. 9 Zit. nach: Mährischer Grenzbote vom 15. November 1885. Zur Geschichte der Schiller-Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert siehe den Überblick bei Dann, Schiller.

2.1 Kindheit und Jugend

31

Jahre später als „der große Patriot, der mit seiner ganzen Kraft in seinem Oesterreicherthume wurzelte“ und die männlichen Angehörigen der jungen Generation motivieren könne, „als wackere Söhne Oesterreichs dereinst [zu] wirken zur Ehre des Vaterlandes, zum Heile der Menschheit!“10 Schließlich befürwortete Emil die Konstitutionalisierung Österreichs, die seit Beginn der Sechzigerjahre des 19. Jahrhunderts im Anschluss an die postrevolutionäre, neoabsolutistische Ära allmählich durchgeführt worden war. Es war Ausdruck eines relativ progressiven, josephinischen Politikverständnisses, wenn er 1898 aus Anlass des Goldenen Thronjubiläums von Kaiser Franz Joseph I. „das Naturrecht der individuellen Freiheit“ als obersten Grundsatz und „die volle Gleichberechtigung aller Menschen, aller Stände und Confessionen“ als „das letzte Ziel“ von Staatsreformen bezeichnete.11 Vor diesem Hintergrund gibt es keinen Grund zur Annahme, Emil habe seinen Kindern übersteigerten Nationalismus, xenophoben Rassismus und Antisemitismus vermittelt. Im September 1910 lehnte der damals frisch maturierte Arthur denn auch jede Form von Nationalismus ab, „welche die Daseinsberechtigung einer anderen Nation geradezu ableugnet“. Zwar gab er schon damals zu erkennen, dass er von einer staatlichen Vereinigung von Deutschland und Österreich in einem „Alldeutschen Reich“ träumte und Bereitschaft zum „Kampfe unseres Volkes um seine Existenz“ an den Tag legte. Aus pragmatischen Gründen riet er aber davon ab, jene Ereignisse rückgängig machen zu wollen, die nach der Schlacht von Königgrätz (3. Juli 1866) zum Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund geführt hatten. Er war überzeugt, dass dies in allen anderen europäischen Staaten auf erbitterten Widerstand stoßen und zu einem verheerenden Krieg führen würde.12 Auch für die Entwicklung einer antisemitischen Einstellung gibt es für Arthurs Kindheit und Adoleszenz keine Beweise. Einige seiner früheren Klassenkameraden am Olmützer Gymnasium haben nach dem Zweiten Weltkrieg sogar übereinstimmend hervorgehoben, dass Arthur ebenso wie sein Vater seinerzeit gegenüber Juden eine freundliche Haltung eingenommen habe. Bei den ehemaligen Mitschülern, die als Juden Vertreibung und Verfolgung der NS-Zeit überlebt haben, hat ein solches Zeugnis besonderes Gewicht.13 Andererseits ist so gut wie ausgeschlossen, dass Arthur in Olmütz nicht dem Alltagsantisemitismus begegnet sein könnte, der in deutschnationalen Kreisen zum ‚guten Ton‘ gehörte. Auch können ihm die nationalen Spannungen nicht entgangen sein, die sich seit mehreren Jahrzehnten in Mähren zwischen deutsch- und tschechischsprachiger Bevölkerung aufgebaut hatten. In späteren Jahren jedenfalls hat er öfters hervorgehoben, dass er aus einer Grenzre-

10 Zit. nach: K.k. Deutsches Staatsgymnasium Olmütz: Chronik der Anstalt, SOkAO, Německé státní gymnazium, M 5-34. 11 Zit. nach: Seyss, Bericht 1897–8, 64–66, Eintrag zum 14. Juli 1898. 12 Seyß-Inquart, Nationale Arbeit der Hochschüler, Bl. 9 und 13. Der Brief war an seinen Olmützer Schulfreund Egon Kornauth gerichtet, dem er sein Leben lang verbunden blieb. 13 Siehe die Schreiben an Jules Huf von Max Zweig (Tel Aviv) vom 18. Januar 1968, von Nathan Lateiner (Haifa) vom 20. Januar 1968, von Leonhard Schlesinger (Oxford) vom 22. August 1966 und von Herman Freund (San Francisco) vom 25. August 1966, ÖGZ-A, NL-96, DO 1113, Mappe 30 bzw. DO 1102, Mappen 2 und 3.

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

gion stamme, und seinem Verteidiger Steinbauer vertraute er bei der Vorbereitung auf den Nürnberger Prozess einmal an, dass er als zwölfjähriger Junge von Tschechen „mißhandelt“ worden sei, weil er ein Band mit den deutschen Farben Schwarz–Rot–Gold getragen habe.14 Aus solchen Erfahrungen scheint Seyß-Inquart allerdings weder als Kind noch als Jugendlicher eine radikale Abneigung gegen jüdische oder slawische Bevölkerungen abgeleitet zu haben. Während für einen großdeutschen Nationalismus aus seinen ersten beiden Lebensjahrzehnten vereinzelt Belege überliefert sind, liegen keine Quellen vor, die für die Jahre bis 1908 auf eine antislawische oder antisemitische Grundhaltung schließen lassen. Eine politische Radikalisierung scheint mit dem Umzug nach Baden einhergegangen zu sein. Hier trat Arthur einem Gesangverein bei, der sich nicht nur zu Fremdenfeindlichkeit und einem großdeutschen Nationalismus bekannte, sondern 1909 einen Arierparagrafen in seine Statuten aufgenommen hatte.15 Auch nahm der junge Seyß-Inquart in Baden am Faschingskränzchen des Vereins Südmark teil, der sich als „deutscher Schutzverein zur Erhaltung und Förderung des Deutschtums“ definierte und „alle deutschen Männer und Frauen (arischer Abkunft)“ aufrief, sich gegen das „Überhandnehmen“ von Tschechen und Juden zur Wehr zu setzen.16 Zur selben Zeit bekannte sich Seyß-Inquart zwar als „Anhänger des Sozialismus“. Doch damit dachte er keineswegs an klassische Postulate eines orthodoxen Sozialismus wie Verstaatlichung, Klassenkampf, internationale Solidarität der Arbeiterschaft und eine Diktatur des Proletariats. Seine Vorstellung von Sozialismus zielte vielmehr auf einen innergesellschaftlichen Ausgleich zwischen Arbeiterschaft und Kapitalisten. In diesem Sinn wollte er „der Masse ebensowenig die Ausnützung der geistigen Fähigkeiten des Einzelnen gestatten […] als diesem die Ausnützung der Massenkraft nur zum eigenen Verdienst.“17 Der Sozialismus, zu dem er sich als junger Mann bekannte, war ein nationaler Sozialismus, der es erlaubte, ‚Volk‘ und Individuum so zueinander in Beziehung zu setzen, dass die Angehörigen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten zusammen zum Wohl eines Gemeinwesens beitrugen und ihren Staat verteidigten. In diesem Sinn konnte man Seyß-Inquart zufolge von einem nationalen Engagement sprechen, „wenn man die eigenen Fähigkeiten nicht vernachlässigt [,] sondern ausbildet und wenn man sein Scherflein zum Wehrschatz beiträgt […].“18 Auf der einen Seite musste ein solches Politikverständnis nicht notwendigerweise zu einem totalitären Nationalsozialismus führen. Auf der anderen Seite war der nationale Sozialismus des jungen Seyß-Inquart nicht auf ein demokratisches Politikmodell festgelegt. Es war grundsätzlich offen für alle politischen Regime, die versprachen, eine Gesellschaftsform zu realisieren, in

14 Steinbauer, Ich war Verteidiger in Nürnberg, 60. 15 Walter, Festschrift, 53 und 50. 16 Was will der Verein Südmark?, 1 f. und 4. Bei dem Faschingskränzchen vom Februar 1911 war Seyß-Inquart als Soldat kostümiert; siehe die Abbildung in ÖGZ-A, NL-96, DO 1102, Mappe 2. Einem zeitgenössischen Zeitungsartikel zufolge (ebd.) war Seyß-Inquart damals Schatzmeister der betreffenden Ortsgruppe. 17 Zitate aus Seyß-Inquarts handschriftlichem Kommentar von Oktober 1913 zu dem Schauspiel Stützen der Gesellschaft von Henrik Ibsen, ÖNB-HAN, Autogr. 1019/1-6. 18 Seyß-Inquart, Nationale Arbeit der Hochschüler, Bl. 6.

2.2 Soldat und Rechtsanwalt

33

der aus der Interdependenz von ‚Volk‘ und Individuen so etwas wie eine ‚Volksgemeinschaft‘ entstand. 2.2 Soldat und Rechtsanwalt

Wie Zigtausende andere seiner Altersgenossen erhielt Seyß-Inquart im Jahr 1914 Gelegenheit, „sein Scherflein zum Wehrschatz“ des Habsburgerreiches beizutragen. Schon einige Monate vor Auslösung des Ersten Weltkriegs hatte er die Entscheidung gefällt, sich freiwillig zum Dienst in der österreichisch-ungarischen Armee zu melden.19 Bei den traditionsreichen Kaiserjägern absolvierte er zunächst in Innsbruck eine militärische Ausbildung. Anschließend wurde er als Fähnrich, später als Leutnant und schließlich als Oberleutnant an der östlichen und an der südlichen Front eingesetzt. Bei einem Angriff auf die russischen Linien wurde Seyß-Inquart im Mai 1915 in der Nähe des galizischen Dorfes Gorlice durch einen Schuss in den Oberarm verwundet.20 Zur Genesung musste er über einen Monat in einem Spital in Wien verbringen, ehe er wieder zu den Kaiserjägern zurückkehren konnte. Mehrmals wurde er für „tapferes Verhalten vor dem Feinde“ mit Medaillen ausgezeichnet. Der Waffendienst hinderte Seyß-Inquart nicht daran, in seinem Privatleben und im Hinblick auf seine berufliche Entwicklung Weichen für die Zukunft zu stellen. Im Dezember 1916 heiratete er Gertrud Maschka, deren Vater als hochrangiger Militärjustizbeamter im österreichisch-ungarischen Kriegsministerium tätig war. Die Trauungszeremonie in einer Kirche in Wien-Speising vollzog Arthurs Bruder Richard, der 1910 zum Priester geweiht worden war und während des Krieges als Militärgeistlicher (Feldkurat) in Armeespitälern eingesetzt war.21 Außerdem schloss Arthur sein Studium der Rechtswissenschaften, das er gleich nach der Matura im Herbst 1910 an der Universität Wien aufgenommen hatte, mit dem Doktorat ab. Nach Ablegung der Staatsprüfungen und der Rigorosen wurde er am 25. Mai 1917 zum Doktor der Jurisprudenz promoviert.22 Für die Prüfungen, die er zum Teil in Wien, zum Teil kriegsbedingt in Innsbruck ablegte, wurde er vom Militärdienst freigestellt. Was Seyß-Inquart während des Krieges über Fragen von Politik und Kriegsführung dachte, lässt sich aus Mangel an aussagekräftigen Quellen nur bedingt rekonstruieren. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, insbesondere nach seinem Anschluss an die NS-Bewegung, hat er sich kritisch über das Haus Habsburg geäußert – im Oktober 1938 beispielsweise warf er der kaiserlichen Dynastie vor, die „Reichsaufgaben“ gegenüber der Vergrößerung ihrer „Hausmacht“ hintangestellt zu haben und dadurch „tragische Entwicklungen für das deutsche Volk“ verursacht zu haben.23 Und den Anschluss Österreichs begründete er im selben 19 Vgl. seinen Brief an seine Verlobte Gertrud Maschka vom 4. März 1914, ÖNB-HAN, Autogr. 1019/2-7. Zu seinem Militärdienst siehe seine Karteikarte zum 1. Tiroler Jägerregiment im Tiroler Landesarchiv sowie Unterlagen in ÖGZ-A, NL-96, DO 1102, Mappe 4. 20 Raschin Edler von Raschinfels, Die Einser-Kaiserjäger im Feldzug gegen Rußland, 179. 21 Vgl. Rosar, Deutsche Gemeinschaft, 19 und Mannhard, Seyss-Inquart, Richard, 214. 22 Universitätsarchiv Wien, Promotionsprotokoll der Juridischen Fakultät, M 32.8, Nr. 342. 23 Seyß-Inquart, Oesterreich – Ostmark, Bl. 2 f.

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

Jahr mit der Erinnerung „an die Waffenbrüderschaft von 1914/18“.24 Waren solche Vorstellungen schon im Ersten Weltkrieg maßgeblich für ihn? Oder handelte es sich bei derartigen Äußerungen um Interpretationen, die der NS-Politiker nach dem ‚Anschluss‘ auf die Jahre zwischen 1914 und 1918 zurückprojizierte? Jedenfalls hat Seyß-Inquart an keiner Stelle dem Kaisertum, das im Herbst 1918 untergegangen war, eine Träne nachgeweint. Aus den Quellen, die aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg überliefert sind, geht eindeutig hervor, dass sich Seyß-Inquart nicht an traditionellen Kategorien wie ‚Dynastie‘ und ‚Staat‘ orientierte. Für ihn war bis ans Lebensende ein ‚völkisches‘ Politikverständnis maßgeblich. Die Ansätze, die hierzu durch den großdeutschen Nationalismus seiner jungen Jahre gelegt worden waren, wurden durch die Verträge von Versailles und Saint-Germain-en-Laye enorm verstärkt. In deutschnationalen Organisationen wie dem Österreichisch-Deutschen Volksbund, der Deutschen Gemeinschaft und dem Deutschen Klub trat Seyß-Inquart die gesamte Zwischenkriegszeit hindurch gegen das Verbot einer staatlichen Vereinigung von Deutschland und Österreich auf, das 1919 in diesen Verträgen festgelegt worden war. Bei dem Protest gegen das sogenannte Anschlussverbot berief er sich nicht zuletzt auf die Vierzehn Punkte, in denen der amerikanische Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 das Recht auf nationale Selbstbestimmung als Grundlage für eine Nachkriegsordnung in Europa proklamiert hatte. Dass dieses Recht von den Siegermächten, von Tschechen, Polen oder Italienern, nicht jedoch von den Verlierern des Ersten Weltkriegs in Anspruch genommen werden durfte, empfand Seyß-Inquart in Übereinstimmung mit der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerungen dieser beiden Länder als ungerecht.25 Der Kampf gegen das Anschlussverbot führte Seyß-Inquart spätestens zu Beginn der Dreißigerjahre an den extremen rechten Rand des politischen Spektrums der Ersten österreichischen Republik. Seit Dezember 1931 führte er an den Gau Wien der NSDAP Mitgliedsbeiträge ab. Wie er später einmal feststellte, geschah dies in der Überzeugung, „in der Partei die Grundlage für die Lösung der österreichischen Frage“ gesehen zu haben. Seitdem habe er sich „als Parteigenosse gefühlt und als der Partei zugehörig angesehen“.26 Ebenfalls zu Beginn der Dreißigerjahre trat er dem paramilitärischen Steirischen Heimatschutz bei, und zwar nachdem dieser radikale, deutschnational und antisemitisch eingestellte Teil der österreichischen Heimwehrbewegung im September 1931 unter Dr. Walter Pfrimer den Versuch unternommen hatte, durch einen Putsch Parlament und Regierung zu entmachten und ein autoritäres 24 Rebitsch, Tirol – Land in Waffen, 208. 25 Zur Geschichte des Anschlussgedankens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe Schausberger, Der Griff nach Österreich und Steininger, 12. November 1918 bis 13. März 1938. 26 Seyß-Inquart an Himmler vom 19. August 1939, BArch, N 1180/3, im Schreiben Bl. 17 f. Eine Mitgliedskarte und ein Mitgliedsbuch sind allerdings nicht überliefert. Nach dem ‚Anschluss‘ beantragte Seyß-Inquart Anfang Juni 1938 eine vorläufige Mitgliedskarte (BArch [ehem. BDC], PK, L 258, Bl. 2843-2846). Ungeachtet seiner politischen Prominenz erhielt er sein Mitgliedsbuch wie normale Parteigenossen erst nach einer längeren ‚Bewährungsphase‘, nämlich Mitte Januar 1943 (ebd., Bl. 28482850). Bereits im Juni 1939 war die Betreuung seiner Mitgliedschaft von der Gauleitung Wien auf die Reichsleitung München übertragen worden (ÖStA/AdR, Gauakte Arthur Seyß-Inquart, Nr. 15547, Bl. 14). Seine NSDAP-Mitgliedsnummer lautete 6.270.392.

2.2 Soldat und Rechtsanwalt

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Regime zu etablieren.27 Seitdem unternahm Seyß-Inquart Versuche, die fragmentierte politische Rechte in Österreich organisatorisch und programmatisch zusammenzuführen, um die antidemokratischen Kräfte des Landes für den Anschluss an Deutschland zu bündeln. Im Herbst 1931 beispielsweise setzte er sich in einem Vortrag vor dem Deutschen Klub für eine Zusammenarbeit zwischen NSDAP und Heimwehrbewegung ein. In der Bildung eines „österreichischen Harzburg“ sah er eine Möglichkeit, „das Gesamtdeutsche Gebiet in eine staatliche Einheit zusammenzufassen [,] um sich im europäischen Raume durchzusetzen“; dabei bekannte er sich ausdrücklich zu einem „unerschütterlichen Glauben an das Dritte Reich für den deutschen Lebenswillen.“28 Bei seinen Bestrebungen, in Österreich eine starke Rechtsbewegung aufzubauen, kam ihm zweifellos sein Beruf als Anwalt zugute. Die Kanzlei, die sich in der Wiener Innenstadt in einer sehr guten Lage befand und auf die Vertretung von Industriefirmen spezialisiert war, war nicht nur die Grundlage für ein gesichertes Einkommen für eine Familie, die bis 1928 auf drei Kinder anwuchs.29 Sie bot Seyß-Inquart auch ausgezeichnete Möglichkeiten, unter Gleichgesinnten ein Netzwerk aufzubauen, das für seine politischen Ambitionen hilfreich war. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte Seyß-Inquart zwar an, zu seinen Klienten hätten auch Juden gehört.30 Wichtiger und bezeichnender für ihn aber waren zwei andere Aspekte: Erstens unterstützte Seyß-Inquart über seine Kanzlei das Hilfswerk Langoth, das österreichischen Nationalsozialisten mit Geldzahlungen half.31 Zweitens übernahm er in den Dreißigerjahren die Verteidigung von Personen des rechten Lagers wie des früheren Obmanns des Österreichisch-Deutschen Volksbundes, des mit ihm seit langem befreundeten Dr. Hermann Neubacher.32 Auch für Dr. Albrecht Alberti von Enno, der als Führer der Heimwehr in Niederösterreich eine Annäherung an die NSDAP suchte, fungierte Seyß-Inquart als Rechtsbeistand.33 Und nach dem gescheiterten Juliputsch, der im Jahr 1934 unter der politischen Verantwortung des Hitler-Vertrauten Theodor Habicht ein nationalsozialistisches System 27 Laut seinem NSDAP-Personal-Fragebogen (BArch [ehem. BDC], PK, L 258) war Seyß-Inquart dem Steirischen Heimatschutz Mitte Dezember 1931 beigetreten, seinen Angaben vor dem IMG nach im Herbst 1932 (Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 93). 28 Arthur Seyß-Inquart, Ist ein österreichisches Harzburg möglich? [1931], IfZ, IMG-Dok. PS-3630, Bl. 3 und 10; Hervorhebung im Original. Zur Heimwehrbewegung siehe Lauridsen, Nazism and the Radical Right in Austria. 29 Aus der Ehe mit Gertrud sind folgende Kinder hervorgegangen: Ingeborg Caroline Auguste (Inge, geb. 1917), Richard (Dick, geb. 1921) und Dorothea (Dorli, geb. 1928). Angaben nach: WStLA, Personalakten des Gaues Wien 31.205: Arthur Seyß-Inquart. 30 Siehe seine Aussagen nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 32, Dok. PS-3423, 273; mit Unterschrift auch in: ÖGZ-A, NL-61, DO 716, Mappe 349. Die Akten seiner Kanzlei sind zum größten Teil vernichtet. In Seyß-Inquarts Nachlass (BArch, N 1180) finden sich vereinzelt Schriftstücke zu seiner anwaltlichen Tätigkeit. 31 Siehe den Schriftverkehr in BAK, N 1180/26. 32 Ihn verteidigte Seyß-Inquart 1932 gegen den Schriftsteller und Journalisten János Békessy (alias Hans Habe), der aus einer jüdischen Familie stammte. Zu dem Prozess und seinen politischen Implikationen siehe Rosar, Deutsche Gemeinschaft, 49-51. 33 Siehe Kriechbaumer (Hrsg.), Österreich!, 156 f., Anm. 22 und Jagschitz, Der Putsch, 63.

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

in Österreich einführen und den Anschluss ans Dritte Reich erzwingen wollte, verteidigte Seyß-Inquart Persönlichkeiten, denen Nähe zum Nationalsozialismus vorgeworfen wurde. Hierzu gehörten der Historiker Dr. Ernst Klebel, dem im Zusammenhang mit dem Juliputsch die Lehrbefugnis an der Universität Wien entzogen worden war, und der Bibliothekar am Institut für Österreichische Geschichtsforschung Dr. Paul Heigel, der wegen nationalsozialistischer Umtriebe zu einer Haftstrafe verurteilt und seines Amtes enthoben worden war.34 Seyß-Inquart nutzte seinen Beruf auch, um als Anwaltsfunktionär politische Vorstellungen umzusetzen. Seit 1931 gehörte er dem sogenannten Ausschuss der Wiener Rechtsanwaltskammer an, der zusammen mit dem Präsidenten und dessen Stellvertreter den geschäftsführenden Vorstand der Kammer bildete. Leider sind weder Protokolle noch Korrespondenzen dieses Gremiums überliefert.35 In welchem Sinne Seyß-Inquart in den monatlichen Sitzungen aktiv geworden ist, lässt sich aber erahnen, wenn man bedenkt, dass er im Laufe der Dreißigerjahre in zwei Organisationen Mitglied wurde, die eine genuin nationalsozialistische Ausrichtung hatten. So gehörte er der Gesellschaft für Rechtswissenschaft an, die es sich nach Aussage des deutschen Botschafters in Wien, Franz von Papen, unter dem „maßgeblichen Einfluss“ von Seyß-Inquart zur Aufgabe machte, „den hiesigen Juristen und Hochschülern die neue deutsche Rechtsgebung systematisch zu erläutern.“36 Bezeichnend ist auch sein Beitritt zum Verband deutsch-arischer Rechtsanwälte Österreichs. Diese radikal antisemitische, ‚völkische‘ Organisation wurde im Sommer 1933 aus Protest gegen die Wahl des jüdischen Anwalts Dr. Siegfried Kantor zum Präsidenten der Wiener Rechtsanwaltskammer im vorangegangenen Jahr gegründet. Unter dem Vorsitz des glühenden Antisemiten Dr. Viktor Tschadesch forderte der Verband, dass die jüdischen Advokaten aus der bestehenden Kammer auszuscheiden seien und sich in einer separaten Kammer zusammenschließen sollten. Außerdem rief man das Justizministerium auf, die Zulassung jüdischer Anwälte drastisch zu beschränken. Und schließlich sollten jüdische Anwälte darauf beschränkt werden, ausschließlich jüdische Mandanten zu vertreten.37 Solche Forderungen waren umso bemerkenswerter, als der weitaus überwiegende Teil der Anwälte, die in Wien der Kammer angehörten, jüdisch waren: 1936 galten gut 62 Prozent als Juden.38 Bis zum Anschluss Österreichs sind die Pläne von Tschadeschs Verband zwar nicht in die Praxis umgesetzt worden. Sie lassen aber die antisemitische Aggressivität des deutschnationalen Teils der österreichischen Anwaltschaft erkennen, 34 Zu Klebel siehe Ziegler, Ernst Klebel, 506–509, zu Heigel Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung, 109–112. Als Reichsstatthalter erwirkte Seyß-Inquart nach dem Anschluss Österreichs, dass Heigel Direktor der Österreichischen Nationalbibliothek wurde, wo dieser eine „oft skrupellose Erwerbungspolitik“ führte (Hall/Köstner, „… allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern …“, 45–48 und 498). 35 E-Mail von Dr. Manfred Stimmler (Wiener Rechtsanwaltskammer) vom 31. Oktober 2008. 36 Von Papen an Hitler vom 14. Juli 1937, zit. nach: ADAP, Serie D, Bd. 1, Dok. 242, 368. 37 Reiter-Zatloukal, Die österreichische Rechtsanwaltschaft, 19. Zur Zielsetzung des Verbandes siehe auch Tschadesch, Zum Geleite, zu seiner Forderung nach Zulassungsbeschränkung die Mitteilungen des Verbandes deutsch-arischer Rechtsanwälte Österreichs (Folge 2 vom April 1934, 2) sowie ÖStA/AVA, Justizministerium I, Fundbuch 134, Bogen 26a, Bl. 1. Seyß-Inquarts Mitgliedschaft wird in den Mitteilungen des Verbandes vom 25. Juni 1935 vermeldet (Folge 12, 13). 38 Reiter-Zatloukal, Die österreichische Rechtsanwaltschaft, 14.

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und es ist davon auszugehen, dass Seyß-Inquart im Ausschuss der Wiener Rechtsanwaltskammer die radikale Programmatik der „deutsch-arischen“ Anwälte vertreten hat. Ab März 1938 jedenfalls setzte die unter seiner Führung stehende österreichische Landesregierung die Kernforderungen des Verbandes hemmungslos um: In Wien wurden gleich nach dem ‚Anschluss‘ unter der politischen Verantwortung von Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart 69,7 Prozent aus der Anwaltsliste gelöscht und damit aus der Kammer ausgeschlossen!39 Als Rechtsanwalt und Anwaltsfunktionär hatte Seyß-Inquart vorher schon durch seine Mitgliedschaften in der Gesellschaft für Rechtswissenschaft und im Verband deutsch-arischer Rechtsanwälte Österreichs die Eckpfeiler seiner politischen Orientierung zu erkennen gegeben: Für ihn zählten Antisemitismus, großdeutscher Nationalismus und das nationalsozialistische Rechtssystem, wie es im Dritten Reich seit der ‚Machtergreifung‘ durchgesetzt wurde. 2.3 Von der ‚Befriedung‘ zum ‚Anschluss Österreichs‘

Bezeichnend für Seyß-Inquart ist aber auch, dass er strikt für einen Legalitätskurs eintrat. Bis zum März 1938 stand er für einen evolutionären Weg zum Anschluss ans Deutsche Reich, einer politischen Lösung gab er den Vorzug gegenüber terroristischen und militärischen Methoden. In diesem Sinn lässt sich eine unmittelbare Verbindung zu dem nationalsozialistischen Putschversuch, dem am 25. Juli 1934 Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß zum Opfer fiel, nicht nachweisen. Immerhin gibt es eine Reihe von Spuren, die ihn mit den Putschisten und ihrem Anschlag auf den austrofaschistischen Staat verbanden: In Seyß-Inquarts Handakten befanden sich etliche Dokumente, die mit dem Juliputsch zusammenhingen, etwa ein Schulungsbrief mit „Verhaltungsmassregeln für den illegalen Kampf“ sowie eine Rechtfertigung aus der Sicht von „uns Nationalsozialisten“;40 Familie Seyß-Inquart beschäftigte die Witwe des Dollfuß-Mörders Otto Planetta in ihrem Haushalt, nachdem deren Mann hingerichtet worden war;41 und spätestens durch seine „Hilfestellung bei der Julierhebung“ stand Arthur Seyß-Inquart in enger Verbindung mit Dr. Otto Gustav Wächter, einem weiteren, führenden Putschisten von 1934.42 All diese Facetten geben jedoch keinen stichhaltigen Hinweis, dass Seyß-Inquart in die Vorbereitungen und die Durchführung des Juliputsches involviert war. Er selber hat jede Verwicklung von sich gewiesen und sich ausdrücklich vom Putschversuch distanziert. So erklärte er beispielsweise 1936: „Ich bin kein Nationalsozialist und der Kreis um mich besteht auch nicht aus Nationalsozialisten. Ich möchte uns selbst als volksdeutsch empfindende Österreicher bezeichnen. Was die Nationalsozialisten in Österreich angestellt haben, verabscheuen wir gerade von diesem volksdeutschen Standpunkt aus, denn die Metho39 Wrabetz, Österreichs Rechtsanwälte in Vergangenheit und Gegenwart, 131 f.; dort auch Zahlen zu den ‚Säuberungen‘ in anderen Bundesländern bzw. Gauen. Zu dieser Thematik siehe auch Reiter-Zatloukal/Sauer, Advokaten 1938. 40 BArch, N 1180/1. 41 Neuman, Arthur Seyss-Inquart, 115 und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/1, 53. 42 So die Darstellung des Kärntner Nationalsozialisten Dr. Friedrich Rainer vom 6. Juli 1939, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 26, Dok. PS-812, 351.

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den dieses Verbrechers Habicht und seine plumpe, brutale Politik haben dem Deutschtum in Österreich schwer geschadet.“43 Statt auf eine gewaltorientierte Lösung zu setzen, positionierte sich Seyß-Inquart in den nicht einmal vier Jahren zwischen Juliputsch und ‚Anschluss‘ in zweifacher Hinsicht als ‚Brückenbauer‘: Zum einen beteiligte er sich an politischen Initiativen, die darauf zielten, unter dem Stichwort der ‚Befriedung‘ innerhalb Österreichs eine Einigung aller deutschnationalen Kräfte zuwege zu bringen und damit die konservativen, katholischen Kreise des austrofaschistischen Systems sowie die Heimwehr und ihre Nachfolgeorganisation, die Frontmiliz, mit den einheimischen Nationalsozialisten auszusöhnen, denen seit Juni 1933 nach einer Terrorwelle jegliche Betätigung im Land untersagt worden war. Zum zweiten setzte Seyß-Inquart sich verstärkt für eine Vermittlung zwischen dem austrofaschistischen Regime unter Bundeskanzler Dr. Kurt Schuschnigg und dem Dritten Reich ein. Mit dieser doppelten Zielsetzung knüpfte Seyß-Inquart im Prinzip an seine früheren Bemühungen an. Gegenüber der ersten Hälfte der Dreißigerjahre verschob sich der Schwerpunkt nach dem Juliputsch aber von anwaltlichen auf politische Aktivitäten. Bis zur Jahreswende 1937/38 lag der Akzent auf der innenpolitischen Befriedung. Schon wenige Wochen nach dem Juliputsch nahm Seyß-Inquart an Gesprächen mit Vertretern der Bundesregierung teil, bei denen über eine Einbindung der „betont nationalen Kreise“ – wie die zeitgenössische Bezeichnung für das Spektrum zwischen konservativ-großdeutsch und nationalsozialistisch orientierten Kräften lautete – in die Strukturen des austrofaschistischen Regimes verhandelt wurde. Die Gespräche scheiterten jedoch daran, dass die Mehrheit der Betont-Nationalen der Forderung der Bundesregierung nach einem „bedingungslosen Bekenntnis und Eintreten für den österreichischen Gedanken, für die innere und äußere Freiheit und Unabhängigkeit Oesterreichs und daher loyale Unterstützung der Bestrebungen der Regierung“ nicht zustimmen wollten. Auf Ablehnung stieß bei ihnen auch die Forderung nach einer obligatorischen Eingliederung aller „nationalen Kreise“ in die Vaterländische Front, die im Austrofaschismus als Einheitspartei aufgebaut wurde.44 Hier prallten gegensätzliche Erwartungen aufeinander: Bundesregierung und Vaterländische Front wollten die Nationalsozialisten durch die Einbindung in den Austrofaschismus politisch neutralisieren, während das Verhandlungsziel von Betont-Nationalen unter Einschluss der Nationalsozialisten in der Aufhebung des Betätigungsverbots und einer Rehabilitierung und Legalisierung der NSDAP und ihrer Vorfeldorganisationen bestand. Schließlich wurden alle Befriedungsversuche der Dreißigerjahre dadurch erschwert, dass auf beiden Seiten Sand ins Getriebe gestreut wurde: Auf christlich-sozialer bzw. austrofaschistischer Seite war es vor allem die Führung von Heimwehr und Frontmiliz, die sich gegen einen innenpolitischen Ausgleich wehrte. Unter 43 Starhemberg, Memoiren, 280. Auch wenn diese Quelle nicht in jeder Hinsicht vertrauenswürdig ist, gab Starhemberg hier Seyß-Inquarts Ablehnung einer revolutionären Strategie zutreffend wieder. Erst nach dem ‚Anschluss‘ rechtfertigte Seyß-Inquart den Juliputsch als ein „unerhörtes Blutopfer der nationalsozialistischen Erhebung“ (Der Weg zum 11. März). 44 Reichspost. Unabhängiges Tagblatt für das christliche Volk vom 28. Oktober 1934. Zur austrofaschistischen Einheitspartei siehe Bärnthaler, Die Vaterländische Front.

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den Betont-Nationalen wiederum taten sich radikale Nationalsozialisten, die auch nach dem gescheiterten Juliputsch latent gewaltbereit und prinzipiell aktionistisch eingestellt blieben, mit Verhandlungen mit dem austrofaschistischen System schwer. Vor diesem Hintergrund führte keines der Befriedungsprojekte zu einem konkreten Ergebnis. Damit wiederum blieb der NSDAP die erstrebte Legalisierung versagt. Deren Schlagkraft war längere Zeit durch mehrere Umstände geschwächt: Erstens erfuhren die Nationalsozialisten in Österreich nach dem Scheitern des Juliputsches zunächst nur in sehr eingeschränktem Maße Unterstützung durch die deutsche Reichsregierung – wollte sich das Hitler-Regime doch nach dem Mord an Dollfuß aus außenpolitischen Gründen keine neuerliche Aufregung um seine Österreichpolitik leisten, um die Saar-Abstimmung (1935), die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht (1935) und die Remilitarisierung des Rheinlandes (1936) durchzuführen. Zweitens war Benito Mussolini, der seinerzeit durch den demons­ trativen Aufmarsch italienischer Truppen am Brenner einen besonderen Anteil am Scheitern des Juliputsches gehabt hatte, bis zum Abessinienkrieg ein Garant für die Unabhängigkeit des österreichischen Staates. Drittens waren die „nationalen Kreise“ in Österreich in der Frage gespalten, inwieweit man der Regierung entgegenkommen dürfe. Auf einer grundsätzlichen Ebene stellte sich die Frage, ob das Ziel einer Legalisierung der Partei eine Einbindung in die Vaterländische Front wert war. Konnte eine nationalsozialistisch gesteuerte Unterwanderung und Aushöhlung des austrofaschistischen Systems von innen überhaupt zur Vereinigung mit Deutschland führen? Oder forderte das Festhalten am Ziel eines ‚Anschlusses‘ eine gewaltbereite Opposition gegenüber dem österreichischen Staat?45 Seyß-Inquart gehörte zweifellos zu jenen vergleichsweise moderaten „nationalen Kreisen“, die die staatliche Vereinigung mit Deutschland ausschließlich auf legalem Wege und über Verhandlungen mit dem austrofaschistischen Regime erreichen wollten. Der ‚Anschluss‘ und eine Umwandlung Österreichs nach nationalsozialistischen Vorstellungen sollten nicht durch Terrorakte und eine revolutionäre Erhebung, sondern durch eine beharrliche Orientierung an realpolitischen Möglichkeiten erreicht werden. Eine wichtige Etappe auf diesem Ziel stellte das sogenannte Juliabkommen dar, das die deutsche und die österreichische Regierung am 11. Juli 1936 miteinander abschlossen.46 Hierzu sah sich Schuschnigg nicht nur durch die katastrophalen Folgen gezwungen, die die sogenannte Tausend-Mark-Sperre für die österreichische Wirtschaft mit sich gebracht hatte – besonders der Tourismus als einer der Leitsektoren der österreichischen Volkswirtschaft hatte darunter zu leiden, dass Deutsche seit dem Frühjahr 1933 beim Grenzübertritt nach Österreich die exorbitant hohe Gebühr von 1.000 Reichsmark zu zahlen hatten. Dazu kam, dass Österreich ab 1935 immer stärker in außenpolitische Isolation geraten war: Nachdem Mussolini sich im Gefolge des Abessinienkriegs auf die Seite des Dritten Reiches geschlagen, mit Berlin die ‚Achse‘ gebildet und Schuschnigg gedrängt hatte, sich mit dem Dritten Reich sowie mit den Nationalsozialisten im eigenen 45 Zur inneren Entwicklung der österreichischen NSDAP nach dem Juliputsch vgl. Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik, 700–708. 46 Siehe hierzu Volsansky, Pakt auf Zeit und Schausberger, Der Griff nach Österreich, 349–360.

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Land zu arrangieren, fiel eine der maßgeblichen Regionalmächte weg, die deutsche Ansprüche auf Österreich bisher abgeblockt hatte. Zudem hatten das deutsch-britische Flottenabkommen vom 18. Juni 1935 sowie die schwache Reaktion der Westmächte auf die Einführung der Wehrpflicht in Deutschland und die Besetzung des Rheinlandes in Österreich Grund zu der Befürchtung gegeben, dass Frankreich und Großbritannien der aggressiven Außenpolitik des Dritten Reiches nicht genügend Widerstand entgegensetzen würden; dies alles nährte den Verdacht, dass die Westmächte nicht in der Lage oder bereit sein würden, die staatliche Unabhängigkeit Österreichs im Bedarfsfall effektiv zu schützen. Ein multilaterales Sicherheitskonzept schien trotz aller Bemühungen der österreichischen Regierung unerreichbar, ein bilaterales Arrangement mit dem Deutschen Reich war somit unausweichlich.47 Was beinhaltete das Juliabkommen?48 In dessen offiziellem Teil erkannte die Reichsregierung vollmundig „die volle Souveränität des Bundesstaates Österreich“ an und versprach, auf der Grundlage von Gegenseitigkeit die innenpolitische Gestaltung einschließlich des Umgangs mit den Nationalsozialisten in Österreich als eine „innere Angelegenheit des anderen Landes“ zu betrachten, auf die man weder unmittelbar noch mittelbar einwirken werde. Im Gegenzug aber musste sich Schuschnigg in einem geheimen Zusatzprotokoll, dem Gentlemen-Agreement, zu einer Reihe von Konzessionen bereit erklären, die letztlich dem Nationalsozialismus in Österreich größere Aktionsfreiheit gaben – und damit die Grundlagen für eine innere Destabilisierung des Landes legten. Dazu gehörte unter anderem die Gewährung einer „weitreichenden politischen Amnestie“, die so gut wie ausschließlich inhaftierten Nationalsozialisten zugutekommen sollte, die Berücksichtigung der angeblich „friedlichen Bestrebungen“ der deutschen Regierung in der Außenpolitik, eine Intensivierung der bilateralen Beziehungen in kulturellen und wirtschaftlichen Fragen sowie die Zulassung deutscher Zeitungen in Österreich. Das Land musste sich auch bereit erklären, das Tragen von „Hoheitszeichen“ wie dem Hakenkreuz und das Absingen der deutschen Nationalhymne durch deutsche Staatsbürger, die sich in Österreich aufhielten, zu dulden. Und schließlich verpflichtete sich Schuschnigg, so bald wie möglich die österreichischen Nationalsozialisten wieder ins Land zu lassen, die nach dem Juliputsch nach Deutschland geflüchtet waren oder ausgewiesen worden waren. Folgenreich war auch Schuschniggs Erklärung, im Sinne einer „wirklichen Befriedung“ Vertreter der „bisherigen sogenannten nationalen Opposition“ zur „Mitwirkung an der politischen Verantwortung“ heranzuziehen.49 Seyß-Inquart wurde zwar zunächst nicht ins Kabinett aufgenommen, obwohl er im Vorfeld der Vertragsverhandlungen in Regierungskreisen als einer der ministrablen Kandidaten der „nationalen Opposition“ gehandelt worden war.50 47 Lassner, The Foreign Policy of the Schuschnigg Government, 163–176. 48 Die folgenden Zitate stammen aus ADAP, Serie D, Bd. 1, Dok. 152 und Dok. 153, 231–234. 49 Zit. nach: ebd., Dok. 152, 233. 50 Laut Bericht von Papen an Hitler vom 24. April 1936, in: ADAP, Serie C, Bd. 5/1, Dok. 294, 437. Nach Aussage von Glaise-Horstenau, der nach dem Juliabkommen zum Minister in Österreich ernannt wurde, hatten im Sommer 1936 „die Emigranten“ in Berlin gegen Seyß-Inquart intrigiert (Broucek [Hrsg.], Ein General im Zwielicht, Bd. 2, 115); dabei handelte es sich um österreichische Nationalsozialisten, die sich nach dem gescheiterten Juliputsch nach Deutschland abgesetzt hatten. Details sind nicht bekannt.

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Er wirkte aber aktiv an der Errichtung des sogenannten Volkspolitischen Referats mit.51 Mit dieser Initiative verband Schuschnigg ab 1937 mehrere Ziele zugleich: Erstens wollte er all jene Betont-Nationalen zusammenfassen, die zu einer Befriedung innerhalb der Strukturen des austrofaschistischen Regimes bereit waren. Dadurch wiederum wollte er – zweitens – einen Keil zwischen die kooperationsbereiten Kräfte und die Hardliner des rechten politischen Spektrums treiben, um letztlich die intransigenten Nationalsozialisten zu isolieren und den Nationalsozialismus in Österreich insgesamt zu domestizieren. Unabdingbare Voraussetzung war, dass das Volkspolitische Referat nur als Teil der Vaterländischen Front tätig werden durfte. Formell übernahm der ehemalige Innsbrucker Vizebürgermeister Dr. Walter Pembaur die Leitung des Gremiums. Wichtiger aber war Seyß-Inquart: Er wurde am 17. Juni 1937 von Schuschnigg beauftragt, „die Frage der Heranziehung bisher abseitsstehender Kreise zur Mitarbeit an der politischen Willensbildung in der Vaterländischen Front im Einvernehmen mit dem Generalsekretär der Vaterländischen Front zu prüfen und geeignete Vorschläge zu machen,“52 und hierzu diente das Volkspolitische Referat. Am selben Tag wurde Seyß-Inquart von Bundespräsident Wilhelm Miklas auf Vorschlag von Schuschnigg in den Staatsrat berufen, der als eines der sogenannten vorberatenden Gremien Gesetzesentwürfe zu beraten hatte. Damit hatte Seyß-Inquart zum ersten Mal ein staatliches Amt inne. Wie Helmut Wohnout zutreffend festgestellt hat, beabsichtigte Seyß-Inquart jedoch in keiner Weise, sich ernsthaft an den legislatorischen Arbeiten dieses ständestaatlichen Organs zu beteiligen. Vielmehr ging es ihm darum, „daß er durch das Faktum seiner Ernennung in den Staatsrat in das offizielle Establishment des autoritären Österreich aufgerückt war, sodaß man nicht ohne weiteres an ihm vorbeigehen oder ihn totschweigen konnte.“53 An der Ausrichtung und den Intentionen seiner Arbeit als Staatsrat ließ Seyß-Inquart keinen Zweifel. Noch vor seiner Ernennung definierte er in einem Brief an Schuschnigg als Ziel seiner Befriedungstätigkeit, jenen Nationalsozialisten freie politische Betätigung in Österreich zu ermöglichen, die im Sinne des Juliabkommens die Unabhängigkeit des Landes nicht in Frage stellten. Im selben Atemzug forderte er – wiederum im Sinne des Juliabkommens – von Deutschland eine „aktive Nichteinmischung“; zugleich wandte er sich gegen jene Nationalsozialisten in Österreich, „die in subalterner Abhängigkeit von den politischen Erscheinungen im Reich zugleich Quelle und Einbruchsgebiet der Einmischung“ von außen seien. Weit über das Juliabkommen hinaus aber ging seine Forderung, „dass Oesterreichs Kräfte und Möglichkeiten für das deutsche Reich und mittelbar für den Nationalsozialismus der reichsdeutschen Art eingesetzt werden.“ Aus der Berufung auf eine Zugehörigkeit der österreichischen Bevölkerung zu einer „gesamtdeutschen Schicksalsgemeinschaft“ glaubte er ableiten zu dürfen, „dass Oesterreich an der Seite des Reiches steht in den Bemühungen des Gesamtdeutschtums 51 Siehe hierzu Volsansky, Pakt auf Zeit, 91–101. 52 Wiener Zeitung vom 18. Juni 1937. Acht Monate später erst übernahm Seyß-Inquart auch formell die Leitung des Volkspolitischen Referats (Kriechbaumer [Hrsg.], Österreich!, 114). 53 Wohnout, Regierungsdiktatur oder Ständeparlament?, 408. Allgemein zum Staatsrat vgl. Wohnout, A Chancellorial Dictatorship with a „Corporative“ Pretext, 146, zu den vorberatenden Gremien und ihren begrenzten Kompetenzen Tálos/Manoschek, Aspekte der politischen Struktur des Austrofaschismus, 133.

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um seinen Lebensraum.“ Obgleich er über den Staatsrat und das Volkspolitische Referat formell dem österreichischen Staat verpflichtet war, machte er auf diese Weise von Anfang an keinen Hehl daraus, dass er sich stark am Dritten Reich orientierte.54 In demselben Sinn bezog er sich auf den Begriff des „Lebensraums“, den Hitler in Mein Kampf zu einer Schlüsselkategorie nationalsozialistischer Politik gemacht hatte. Und dass Seyß-Inquart der „gesamtdeutschen Schicksalsgemeinschaft“ unter Einschluss der „Ostmarkdeutschen“ die Aufgabe zuwies, „die Ordnung des Donauraumes im Frieden des Volkstums“ in Angriff zu nehmen,55 war zwar anschlussfähig an Traditionen des Habsburgerreiches und durchaus vereinbar mit Vorstellungen, die in katholischen Kreisen Österreichs der Zwischenkriegszeit verbreitet waren.56 Es entsprach aber in der gegebenen Situation mehr den Zielen deutscher Expansionspolitik unter Hitler als den realen Möglichkeiten der österreichischen Außenpolitik. Die Ausrichtung am Nationalsozialismus „der reichsdeutschen Art“ machte Seyß-Inquart auch dadurch deutlich, dass er bald nach seiner Ernennung zum Staatsrat in einem Gespräch mit Schuschnigg Hitler einmal als „Führer der Gesamtnation“ bezeichnete, der sich diese Position „nach seiner geschichtlichen Leistung“ erworben habe.57 Und Ende Oktober rief er in Anwesenheit des Bundeskanzlers, des Wiener Polizeipräsidenten Dr. Michael Skubl und des Generalsekretärs der Vaterländischen Front Guido Zernatto die versammelten Landesführer der Vaterländischen Front dazu auf, sich „unter allen Umständen für das Gesamtdeutschtum und daher in erster Linie für das Deutsche Reich“ einzusetzen. Dabei sei in Kauf zu nehmen, „dass wir auf diese Weise mittelbar den Nationalsozialismus unterstützen, also eine Bewegung, die uns zur Gänze erfassen und das selbständige Oesterreich im Deutschen Reich aufgehen lassen will.“ Dem Regierungschef und den Spitzen des Austrofaschismus war also bekannt, dass sich Seyß-Inquart in seiner Befriedungsaufgabe nicht um „die älteren Herren“ der „‚besonnenen‘ nationalen Kreise oder um ehemalige Grossdeutsche“ kümmerte, sondern sich primär an die Nationalsozialisten in Österreich und Deutschland und insbesondere die junge Generation richtete, „die von dem Gedanken des Volkstums ausgehend auch Verständnis besitzen für die österreichische Aufgabe im gesamtdeutschen Raum.“58 Trotz dieser unzweifelhaften Positionierung versicherte Seyß-Inquart Schuschnigg immer wieder seine Loyalität und unterstrich die Bindung an das Juliabkommen. Dies schien für den Bundeskanzler eine ausreichende Grundlage, um Seyß-Inquart bis in die Tage des ‚Anschlusses‘ hinein Vertrauen entgegenzubringen. Dabei wird auch eine Rolle gespielt haben, dass sich die beiden Männer persönlich schätzten. Sie verband die Tatsache, dass beide im Ersten Weltkrieg den Kaiserjägern angehört hatten, den Beruf des Rechtsanwalts ausgeübt hatten, den 54 Seyß-Inquart an Schuschnigg vom 21. Juni 1937, BArch, N 1180/1. 55 Seyß-Inquart, Weg und Ziel. 56 Vgl. Kluge, Der österreichische Ständestaat, 126–136 und Staudinger, Austrofaschistische „Österreich“-Ideologie, 32-39. 57 Von Papen an Hitler vom 14. Juli 1937, zit. nach: ADAP, Serie D, Bd. 1, Dok. 242, 368. 58 BArch, N 1180/58. In der austrofaschistischen Presse wurden Seyß-Inquarts Teilnahme als auch sein Redebeitrag totgeschwiegen. Siehe die Mitteilungen über die ,Führertagung‘ der Vaterländischen Front vom 29. Oktober 1937 in der Wiener Zeitung und der Reichspost, beide vom Folgetag.

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Einsatz von Straßengewalt und Terror ablehnten und einem großdeutschen Nationalismus frönten. Ein wichtiges verbindendes Element dürfte für Schuschnigg auch gewesen sein, dass Seyß-Inquart praktizierender Katholik war, in den Dreißigerjahren in seiner Pfarrgemeinde in Wien-Dornbach Rechtsberatung anbot und seit 1935 dem dortigen Pfarrbeirat angehörte, der als Gremium der Laien im Rahmen der ,Katholischen Aktion‘ dem Pfarrer beratend zur Seite stand.59 Offenbar überwogen in Schuschniggs Wahrnehmung die Gemeinsamkeiten mit dem neuen Staatsrat. Sie schienen dessen Forderung nach einer weitreichenden und grundsätzlichen Orientierung am Dritten Reich zu überdecken. Erst im März 1938 wurde Schuschnigg bewusst, dass das Vertrauen in Seyß-Inquart einer seiner größten politischen Fehler war. Die Ausrichtung am Dritten Reich wurde für alle politischen Initiativen leitend, die Seyß-Inquart 1937/38 im Rahmen seines Befriedungsprojekts unternahm. Er bewegte sich stets im Rahmen der Österreichpolitik, die die deutsche Regierung seit dem gescheiterten Juliputsch von 1934 verfolgte. Mit ihr teilte er einen evolutionären Legalitätskurs, und wie Hitler das Juliabkommen von 1936 nutzte, um Österreich von innen zur Erosion zu bringen und allmählich für den ‚Anschluss‘ zu präparieren, setzte auch Seyß-Inquart darauf, die einheimische Bevölkerung, Bundesregierung und Vaterländische Front so weit zu bringen, dass der ‚Anschluss‘ möglichst gewaltfrei zustande kam und als Ergebnis der Haltung der Bevölkerung dargestellt werden konnte. Dass eine staatliche Vereinigung Österreichs mit Deutschland auf legalem Wege auch für Seyß-Inquart das zentrale politische Ziel war, machte er deutlich, als er im Dezember 1937 öffentlich seiner Zuversicht Ausdruck verlieh, dass im Laufe des nächsten Jahres unter Berücksichtigung „der unverzichtbaren Ansprüche“ des deutschen Volkes „ein [sic] Staat der nationalen Ehre“ errichtet werde, und zwar so, „daß nie mehr deutsches Blut zu deutschem Leid fliesst.“60 Dass er immer wieder einen eigenständigen österreichischen Staat anerkannte, stand dem Streben nach einem ‚Anschluss‘ also keinesfalls im Wege. Indem er sich auf der Grundlage des Juliabkommens für die Legalisierung der österreichischen NSDAP einsetzte, ebnete er der allmählichen Unterminierung von Austrofaschismus und österreichischer Selbstständigkeit den Weg. Wenn es gelang, über das Volkspolitische Referat den Nationalsozialisten freie Betätigung zu ermöglichen, konnte man davon ausgehen, dass die Kombination des Drucks durch österreichische Nationalsozialisten und durch das Deutsche Reich den ersehnten ‚Anschluss‘ herbeiführen würde.61 Der Weg dorthin war allerdings kompliziert. Seit drei Jahren waren in Österreich mehrere Befriedungsversuche gescheitert, an den meisten hatte Seyß-Inquart – wenn auch nie an führender Stelle – mitgewirkt. Zuletzt waren im Frühjahr 1937 der Plan eines Deutsch-Sozialen Volksbunds und das sogenannte Siebenerkomitee gescheitert, weil Schuschnigg mit guten 59 Siehe die Materialien in ÖGZ-A, NL-96, DO 1102, Mappe 5. 60 Seyß-Inquart zit. nach: Auswirkungen des 11. Juli, in: Die Warte. Deutsche Blätter aus Österreich für Geschichte, Literatur und Wirtschaft 3 (1937), Folge 1, 6. 61 In diesem Sinn definieren Tálos und Manoschek das Volkspolitische Referat zutreffend als „einen wichtigen Faktor der Desintegration“ innerhalb von Vaterländischer Front und Austrofaschismus, ohne allerdings auf Seyß-Inquarts Bedeutung hinzuweisen (Aspekte der politischen Struktur des Austrofaschismus, 150).

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

Gründen eine Unterwanderung der Vaterländischen Front durch Nationalsozialisten befürchtete.62 Welche Aussicht also hatte Staatsrat Seyß-Inquart, großdeutsche Konservative und Nationalsozialisten für die „Mitarbeit an der politischen Willensbildung in der Vaterländischen Front“ zu gewinnen und an der Realisierung eines Anschlusses Österreichs an Deutschland mitzuwirken? Als Staatsrat und Mitglied der Vaterländischen Front, der er als Spiritus rector des Volkspolitischen Referats beitreten musste,63 bemühte Seyß-Inquart sich zunächst in wochenlangen Sondierungen darum, Mitarbeiter für die Referatszentrale in Wien und Landesreferenten für die Bundesländer zu rekrutieren. Außerdem konzipierte er Statuten, die die Grundlage für vertragliche Vereinbarungen mit der Bundesregierung über Aufgaben und Arbeitsweise des Volkspolitischen Referats bilden sollten und Perspektiven für eine Vertiefung der Verzahnung mit Deutschland entwarfen.64 Schließlich intervenierte Seyß-Inquart mehrmals bei Regierungsstellen in Wien zugunsten von deutschnationalen Personen, Organisationen wie dem Deutschen Turnerbund oder Publikationen wie Schule im Volk, die von der österreichischen Presse angegriffen oder mit den Sicherheitsorganen des austrofaschistischen Systems in Konflikt geraten waren.65 Bei all diesen Tätigkeiten war Seyß-Inquart in ein multipolares Kräftefeld eingespannt, in dem ihm zwei Gruppierungen mit ausgeprägter Distanz begegneten. Bei Sympathisanten des Austrofaschismus stand er trotz seiner vielfältigen Verbindungen zu katholischen Politikern und ungeachtet großdeutscher Neigungen konservativer Kreise im Verdacht, im Auftrag der deutschen und österreichischen Nationalsozialisten die Selbstständigkeit Österreichs zu untergraben. Zugleich war nicht zu übersehen, dass ihm radikale Nationalsozialisten von Anfang an mit Skepsis begegneten. Wie ein Bericht der Generaldirektion für öffentliche Sicherheit im August 1937 festhielt, fand die Betrauung von Pembaur und Seyß-Inquart mit der Errichtung des Volkspolitischen Referats bei „der überwiegenden Masse der Anhängerschaft der NS-Bewegung eine sehr kühle Aufnahme, vielfach sogar strikte Ablehnung“.66 Insbesondere der Landesleiter der NSDAP in Österreich, der der SA nahestehende ehemalige Hauptmann Josef Leopold, brachte Seyß-Inquart und dessen Legalitätskurs monatelang erheblichen Widerstand entgegen und versuchte, den Staatsrat bei den Parteigenossen zu diskreditieren.67 62 Vgl. hierzu Wohnout, Regierungsdiktatur oder Ständeparlament?, 403–405, Volsansky, Pakt auf Zeit, 87–91 und Rosar, Deutsche Gemeinschaft, 108-117. 63 Siehe Schuschnigg an Seyß-Inquart vom 16. Juni und Seyß-Inquart an Schuschnigg vom 17. Juni 1937, beide in BArch, N 1180/1. 64 Siehe insbesondere die Anregungen und Vorschläge, die Seyß-Inquart am 18. Dezember 1937 Schuschnigg überreichte (BArch, N 1180/58). 65 Siehe die Unterlagen in BArch, N 1180/56 (Schule im Volk) und N 1180/25 (Turnvereine). 66 Lagebericht über den Monat Juni 1937 vom 11. August 1937, hier zit. nach einer Abschrift in PA AA, R 101338. Die Generaldirektion für öffentliche Sicherheit war dem österreichischen Bundeskanzleramt unterstellt. Zur NSDAP nach dem Juliputsch siehe Jagschitz, Die österreichischen Nationalsozialisten, 242 ff. 67 Etwa durch gezielt gestreute Gerüchte, Seyß-Inquart sei mit Schuschnigg auf das Jesuitenkolleg Stella Matutina in Feldkirch gegangen. Außerdem verbot Leopold allen Parteigenossen, mit Seyß-Inquart Be-

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Indirekt attackierte Leopold Seyß-Inquart, als er dessen engen Mitarbeiter Dr. Friedrich Rainer Mitte September 1937 aus der Leitung der österreichischen NSDAP ausschloss und ihm „jede politische Betätigung“ untersagen ließ.68 Leopold schreckte nicht einmal davor zurück, Seyß-Inquart bei Hitler in einem 18 Seiten langen Brief als einen der „sogenannten intellektuellen nationalen Einzelgänger“ in Misskredit zu bringen, „die sich nie und nirgends einfügen können und wollen“.69 Umso wichtiger war für Seyß-Inquart, sich nach verschiedenen Seiten abzusichern. Unter keinen Umständen durfte er das Vertrauen Schuschniggs aufs Spiel setzen; es stellte die Grundvoraussetzung für ein Gelingen seines Befriedungsprojekts dar. Außerdem stützte sich Seyß-Inquart auf katholische Betont-Nationale, deren großdeutsche Einstellung einen gleitenden Übergang zum Nationalsozialismus ermöglichte. Hierzu sind Dr. Edmund Glaise von Horstenau, Feldmarschall-Leutnant d. R. Dr. Carl Freiherr von Bardolff oder der frühere Rektor der Universität Wien Prof. Dr. Oswald Menghin zu zählen. Zu seinem Netzwerk gehörten auch gemäßigte Mitglieder der NSDAP wie Anton Reinthaller, Franz Langoth und Neubacher. Die engsten Mitarbeiter in Österreich schließlich fand er in den Kärntner Nationalsozialisten Friedrich Rainer, Odilo Globocnik und Gauleiter Hubert Klausner, die der SS nahestanden oder angehörten. Von zentraler Bedeutung war für den ‚Brückenbauer‘ Seyß-Inquart Rückendeckung durch das Dritte Reich, das beim Weg zum ‚Anschluss‘ in steigender Intensität die Regie führte. In Berlin war Seyß-Inquart schon im Februar 1937 als der einzige Österreicher bezeichnet worden, der „angesichts seiner genauen Kenntnis der Wiener politischen Verhältnisse und seiner vielfältigen Beziehungen“ aus Verhandlungen mit der Regierung Schuschnigg „im Interesse der nationalen Sache etwas machen kann“.70 Da Seyß-Inquart sowohl von der österreichischen als auch von der deutschen Regierung als seriöser Verhandlungspartner anerkannt wurde, hatte er die Möglichkeit, sich zu einer Schlüsselfigur im bilateralen Verhältnis zwischen beiden Ländern zu entwickeln, und tatsächlich avancierte er bei der Vorbereitung des ‚Anschlusses‘ zum wichtigsten Politiker in Österreich. Schon bald nach seiner Ernennung zum Staatsrat reiste er nach Berlin, wo er von Göring, dem Stellvertreter des ‚Führers‘ Rudolf Heß, Außenminister Konstantin von Neurath und Kriegsminister Werner von Blomberg empfangen wurde. Wie er nach dem Zweiten Weltkrieg erläuterte, legte er bei dieser Gelegenheit sein Ziel dar, für die österreichischen Nationalsozialisten ohne Einmischung durch die deutsche NSDAP eine „legale Betätigungsmöglichkeit“ zu erwirken,71 und Schuschnigg hatte er be-

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sprechungen abzuhalten, und mit Odilo Globocnik schloss er einen der engsten Mitarbeiter Seyß-Inquarts ohne geregeltes Verfahren aus der NSDAP aus. Siehe die Aktennotiz vom 4. Oktober 1937, PA AA, R 27510 und Seyß-Inquart an Keppler vom 1. Oktober 1937, IfZ, IMG-Dok. PS-3393. Zu Leopolds Kleinkrieg gegen Seyß-Inquart siehe auch Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik, 715 f. Schreiben von Hardt (Landesleitung der NSDAP [Hitlerbewegung] Österreich) an Rainer vom 17. September 1937, BArch, N 1180/56. Leopold an Hitler vom 22. August 1937, ÖGZ-A, NL-96, DO 1103, Mappe 14. Aktennotiz vom 23. Februar 1937, PA AA, R 27510. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 32, Dok. PS-3425, 275.

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reits unmittelbar nach seiner Rückkehr mit der Behauptung beruhigt, er habe lediglich seine Absicht einer „restlosen Durchführung des [Abkommens vom] 11. Juli [1936] sowie der aktiven Nichteinmischung“ vorgetragen.72 Die Umsetzung des Juliabkommens stand auch im Mittelpunkt von Gesprächen mit Vertretern der Reichsregierung, an denen sich Seyß-Inquart zusammen mit Zernatto und zwei Politikern beteiligte, die nach dem Juliabkommen aus dem Kreis der Betont-Nationalen in die österreichische Regierung aufgenommen worden waren: Glaise-Horstenau als Minister ohne Portefeuille und Dr. Guido Schmidt als Staatssekretär im Außenamt. Bei dieser Gelegenheit erläuterte Seyß-Inquart Papen, dem Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker und SS-Gruppenführer Dr. Wilhelm Keppler, einem Wirtschaftsfachmann in Görings Vierjahresplanbehörde und seit kurzem Hitlers Verbindungsmann zur österreichischen NSDAP, seine Vorstellungen von einer „Hereinnahme der nationalen Opposition“ in die österreichische Politik.73 Dank dieser Begegnungen verfügte er schon bald nach der Ernennung zum Staatsrat über exzellente Kontakte in die Partei- und Staatsführung des Dritten Reiches. Obendrein gewann er über Ernst Kaltenbrunner, damals Führer des SS-Abschnitts VIII, das Vertrauen von Heinrich Himmler.74 Als ‚Brückenbauer‘ musste er vor dem ‚Anschluss‘ freilich den Anschein vermeiden, er agiere im Auftrag der deutschen Regierung. In diesem Sinn lehnte er Anfang Oktober 1937 entschieden Hitlers Absicht ab, ihm eine „Beglaubigung“ seiner Tätigkeiten auszustellen. Zutreffend erkannte er, dass hierdurch seine Stellung in Wien untragbar geworden wäre.75 Auf jeden Fall hatte er seit Sommer 1937 die Unterstützung der Reichsführung. Er durfte sich auch sicher sein, dass die deutsche Führung ihn gegenüber Leopold und den aktivistischen Kreisen der österreichischen Nationalsozialisten abschirmen würde.76 Trotz des breit aufgestellten Netzwerks erwiesen sich Seyß-Inquarts Bemühungen um die Konstituierung und Aktivierung des Volkspolitischen Referats als zäh. Die Verhandlungen mit Bundesregierung und Vaterländischer Front zogen sich hin, und die Aufnahmesperre, die Schuschnigg für die Zeit ab 1. November 1937 über Beitritte zur Vaterländischen Front verhängte, ließ ohnehin fraglich werden, ob Seyß-Inquart seinen Auftrag der „Heranziehung bisher abseitsstehender Kreise zur Mitarbeit an der politischen Willensbildung in der Vaterländischen Front“ erfolgreich würde abschließen können.77 Zermürbend wirkte auch die fortwährende Ablehnung durch zahlreiche illegale NSDAP-Mitglieder. Zwar wurden Leopold, SA und andere radikale Nationalsozialisten mit ausdrücklicher Billigung Hitlers von Berlin aus und durch Papen in Schach gehalten. Doch die Ungeduld der Parteibasis zwang Seyß-Inquart zu einem Erfolg 72 Seyß-Inquart an Schuschnigg vom 3. Juli 1937, BArch, N 1180/56. 73 Siehe die Protokollnotiz von Weizsäckers, PA AA, R 103801. Zu Kepplers Bedeutung für den ‚Anschluss‘ siehe Schausberger, Der Griff nach Österreich, 410. 74 Black, Ernst Kaltenbrunner, Vasall Himmlers, 107 f. 75 Seyß-Inquart an Keppler vom 4. Oktober 1937, BArch, N 1180/50. 76 Um diesem Ziel Nachdruck zu verleihen, drohte er, sein Staatsratsmandat zurückzulegen. Siehe sein Schreiben an Glaise-Horstenau vom 4. Oktober 1937, BArch, N 1180/53. 77 Vgl. hierzu Volsansky, Pakt auf Zeit, 98 f. Seinen Protest gegen die Aufnahmesperre hat Seyß-Inquart im Schreiben an Zernatto vom 27. Oktober 1937 formuliert (ÖStA/AdR, Gauakte Arthur Seyß-Inquart, Nr. 15547, Bl. 43-47).

2.3 Von der ‚Befriedung‘ zum ‚Anschluss Österreichs‘

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seines Befriedungsversuchs. Bei einem Scheitern wäre seine politische Karriere rasch zu Ende gewesen. Selbst Mitarbeiter des Volkspolitischen Referats wollten nur schwer Seyß-Inquarts Taktik akzeptieren, „wie die Katze um den heissen Brei“ zu gehen.78 Erschwert wurden Seyß-Inquarts Befriedungsbemühungen auch dadurch, dass die Reichsführung seit Herbst 1937 allmählich vom Legalitätskurs auf eine gewaltsame Annexion Österreichs umschaltete. So hatte Hitler im November vor Blomberg, Neurath und den Oberbefehlshabern von Heer, Kriegsmarine und Luftwaffe eine deutliche Verschärfung der deutschen Außenpolitik angekündigt und klargestellt: „Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben […].“79 Ob Seyß-Inquart über diese Besprechung in der Reichskanzlei informiert war, ist durch Akten nicht bewiesen, jedoch sehr wahrscheinlich. Auf jeden Fall ließen die Signale, die er in Korrespondenz und Gesprächen mit Keppler und Papen empfing, nicht den geringsten Zweifel, dass für die Reichsregierung der Anschluss Österreichs auf der Tagesordnung stand. Zu Beginn des neuen Jahres geriet Seyß-Inquart durch weitere Umstände stark unter Druck. Zunächst erschien am 4. Januar 1938 im Völkischen Beobachter ein Artikel, in dem „eine wachsende Ungeduld“ unter Nationalsozialisten konstatiert wurde, weil die bisher unternommenen Befriedungsbemühungen den Parteigenossen nichts eingebracht hätten – ein Hinweis, dass sich die Parteibasis auf dem Weg der Radikalisierung befand und nur noch mit Mühe auf dem Legalitätskurs zu halten war.80 Einen Tag später wurden Seyß-Inquart und das Volkspolitische Referat von der Gegenseite unter Druck gesetzt: Am 5. Januar veröffentlichte der Daily Telegraph ein Interview, in dem Schuschnigg die Aufnahme von Nationalsozialisten in die österreichische Regierung kategorisch ablehnte. Auch wenn die Bundesregierung anschließend erklärte, das Interview sei vor dem Juliabkommen geführt worden, waren die Auslassungen des Bundeskanzlers ein Hinweis, dass für die Führung des austrofaschistischen Regimes die Toleranzgrenze gegenüber der „nationalen Opposition“ erreicht war.81 Die Ergebnislosigkeit seiner Befriedungsbemühungen, das Drängen aus Deutschland und die Widerstände in Österreich ließen Seyß-Inquart an der Jahreswende befürchten, sich ergebnislos abzunutzen. Vor diesem Hintergrund teilte er Göring über Keppler die Absicht mit, sich aus Staatsrat und Volkspolitischem Referat zurückziehen zu wollen.82 Um das Juliabkom-

78 Seyß-Inquart an den Landesreferenten des Volkspolitischen Referats für Salzburg, Dr. Albert Reitter, vom 18. November 1937, BArch, N 1180/56. 79 Aus der sogenannten ‚Hoßbach-Niederschrift‘ zit. nach: ADAP, Serie D, Bd. 1, Dok. 19, 29. Die Annexion Österreichs wurde vom Reichskanzler in einem Atemzug mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei genannt. Allgemein zur Intensivierung der deutschen Anschlusspolitik siehe Schausberger, Der Griff nach Österreich, Kap. VI und VII. 80 Oesterreich an der Jahreswende, in: VB vom 4. Januar 1938 (ÖStA/AdR, BKA 16/3742). Der Artikel stammte von dem Wiener Vertreter des VB, Dr. Walter Lohmann. 81 Siehe die Wiedergabe durch das Prager Tagblatt vom 6. Januar 1938 in: Von Hartlieb, Parole: Das Reich, 468. 82 Keppler an Göring vom 6. Januar 1938, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 32, Dok. PS-3473, 332 f. Vorher hatte Seyß-Inquart die Rücktrittsdrohung angewandt, um die österreichische NSDAP zu Zurückhaltung zu zwingen. Siehe Seyß-Inquart an Glaise-Horstenau vom 4. Oktober 1937, BArch, N 1180/53.

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

men und die Vorbereitungen des Reiches für eine militärische Besetzung Österreichs (‚Sonderfall Otto‘) nicht zu gefährden, ersuchte der Beauftragte für den Vierjahresplan Seyß-Inquart jedoch dringend, nicht ohne Rücksprache mit ihm das Handtuch zu werfen83 – war doch Seyß-Inquarts Rücktritt aus Görings Sicht zu diesem Zeitpunkt weder aus Frustration noch als Druckmittel gegen Austrofaschismus und aktivistische Nationalsozialisten hinnehmbar. Für die Vorbereitung des Anschlusses Österreichs war Seyß-Inquart unentbehrlich. Umgekehrt erhöhte das Reich in den ersten Wochen des neuen Jahres den Druck auf die österreichische Regierung; unter Görings Federführung wurden in zunehmendem Tempo alle Weichen für den ‚Anschluss‘ gestellt. Eine Zuspitzung erfuhr die deutsche Politik, nachdem die Polizei in Wien einen spektakulären Schlag gegen die Leitung der österreichischen NSDAP durchgeführt hatte: In der Nacht vom 25. auf den 26. Januar hatte sie bei einer Hausdurchsuchung am Sitz des erwähnten Siebenerkomitees in der Teinfaltstraße zu Wien Unterlagen sichergestellt, in denen der Rücktritt der Regierung Schuschnigg sowie eine rasche und umfassende Legalisierung der NSDAP und deren Einbeziehung in eine neu zu bildende Regierung gefordert wurde; außerdem enthielten sie die Drohung, Deutschland werde Wehrmachtseinheiten im süddeutschen Raum konzentrieren, wenn sich die Bundesregierung den Forderungen der „nationalen Opposition“ weiterhin verweigere.84 Vermutlich bestärkten die Polizeiaktion in der Teinfaltstraße sowie die anschließende Verhaftung Leopolds die Reichsführung in der Entschlossenheit, den ‚Anschluss‘ nun durchzuführen. An der Verschärfung ihrer Österreichpolitik änderten auch weitreichende Zugeständnisse gegenüber der „nationalen Opposition“ nichts, zu denen sich Schuschnigg Anfang Februar in Verhandlungen mit Seyß-Inquart bereitfand.85 Dasselbe galt für die Punktation, in der der Bundeskanzler am 11. Februar Seyß-Inquart und dem Volkspolitischen Referat eine zentrale Position innerhalb des austrofaschistischen Staates sowie im Verkehr mit dem Dritten Reich einräumte.86 Für das Deutsche Reich waren die Zeiten des Legalitätskurses vorüber. Auch in Berlin übrigens wurden in diesem Zeitraum Voraussetzungen für eine aggressive Außenpolitik geschaffen: Neurath wurde durch Ribbentrop ersetzt, Blomberg und der Oberbefehlshaber des Heeres Werner von Fritsch durch eine Intrige von den Schalthebeln der Wehrmacht entfernt. In der Folge übernahm Hitler die Führung der Wehrmacht und unterstellte die Oberkommandos von Wehrmacht und Heer den servilen Generälen Wilhelm Keitel bzw. Walther von Brauchitsch. Von Bedeutung war auch, dass wichtige Botschafterposten des Reiches neu besetzt wurden: Neben Rom und Tokio war auch Wien betroffen. Die Ablösung

83 Keppler an Seyß-Inquart vom 8. Januar 1938, BArch, N 1180/50. Siehe auch die Aufzeichnung von Legationsrat Günther Altenburg (Auswärtiges Amt) vom selben Tag, PA AA, R 103450, Bl. 116. Zu den militärischen Vorbereitungen dieser Monate vgl. Schmidl, Der „Anschluß“ Österreichs, 32 f. und Schausberger, Der Griff nach Österreich, 398–402. 84 Das sichergestellte Aktionsprogramm 1938 des Siebenerausschusses, das nach dem Wiener Gauleiter Dr. Leopold Tavs gelegentlich als Tavs-Plan bezeichnet wird, ist abgedruckt in: Rot-Weiss-Rot-Buch, 61. 85 Siehe Keppler an Hitler vom 2. Februar 1938, BArch, NS 10/65, Bl. 228. 86 Die Punktation war von Seyß-Inquart und Zernatto ausgearbeitet worden. Sie ist abgedruckt in: Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt, 557–559.

2.3 Von der ‚Befriedung‘ zum ‚Anschluss Österreichs‘

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Papens, des ‚Vaters‘ des Juliabkommens und Symbol des Legalitätskurses gegenüber Österreich, war ein Fanal. Der sichtbarste Ausdruck der neuen deutschen Österreichpolitik war das Treffen zwischen Schuschnigg und Hitler in Berchtesgaden am 12. Februar 1938, das Seyß-Inquart im engen Zusammenwirken mit Papen und Keppler intensiv vorbereitet hatte. Unter demütigenden Umständen wurde der österreichische Bundeskanzler auf dem Obersalzberg mit dem Vorwurf konfrontiert, das Juliabkommen nicht hinreichend umgesetzt zu haben. Unter Androhung militärischer Gewalt zwang Hitler den Bundeskanzler zu einem Abkommen, das weit über das Juliabkommen hinausging und nichts anderes als ein deutsches Diktat an Österreich war.87 So musste sich Schuschnigg auf dem Berghof zu einer Reihe von Zugeständnissen bereit erklären, die in ihrer Gesamtheit das Ende der Unabhängigkeit Österreichs und des austrofaschistischen Systems einläuteten. Die österreichischen Nationalsozialisten durften fortan ohne jede Beschränkung legal in Österreich tätig werden. Alle Personen, die wegen nationalsozialistischer Betätigung inhaftiert waren, wurden durch eine „sofortige und allgemeine Amnestie“ freigelassen. Gestärkt wurde die NSDAP auch durch die Selbstverpflichtung des österreichischen Staates, wirtschaftliche und soziale „Diskriminierungen“ gegenüber Nationalsozialisten zu beseitigen. Außerdem wurde das Land verpflichtet, den Wirtschaftsverkehr mit dem Deutschen Reich zu intensivieren; mit Dr. Hans Fischböck wurde für diese Aufgabe im Abkommen ein Nationalsozialist benannt, der Seyß-Inquart später in den Niederlanden als Wirtschaftsfachmann zur Seite stehen sollte.88 Schließlich musste Österreich erklären, seine Außenpolitik weitgehend an Deutschland anzupassen und das Bundesheer mit der deutschen Wehrmacht zu verzahnen. Eine mögliche militärische Verteidigung gegen das hochgerüstete Dritte Reich wurde auch durch die Bestimmung erschwert, dass Nationalsozialisten ungehinderten Zugang zum Dienst in der Armee erhielten und der Chef des Generalstabs Alfred Jansa, dessen Hauptverdienst in Planungen zur Abwehr eines deutschen Angriffs auf Österreich gelegen hatte, durch Generalmajor Franz Böhme zu ersetzen war – einen willigen Offizier, der während des Zweiten Weltkriegs für kriegs- und völkerrechtswidrige Befehle verantwortlich zeichnen sollte. Da dieses ganze Programm in nicht einmal einer Woche umzusetzen war, stellte das Berchtesgadener Abkommen ein brutales Ultimatum dar. Besonders wichtig für den Weg zum ‚Anschluss‘ war auch Punkt 2 des Abkommens. In ihm erklärte sich Schuschnigg bereit, „Herrn Staatsrat Dr. Seyß-Inquart in die Regierung zu berufen und ihm das Sicherheitswesen zu übertragen.“ Durch die Betrauung mit diesem sensiblen Ressort war ein nationalsozialistisch denkender Politiker an den Schalthebeln der Macht, der das volle Vertrauen der Reichsregierung besaß und im Unterschied zum bisherigen Amtsinhaber Glaise-Horstenau Bereitschaft signalisierte, den ‚Anschluss‘ mit allen Mitteln herbeizuführen. Als Innen- und Sicherheitsminister verfügte Seyß-Inquart jedenfalls seit dem 16. Februar 1938 über den Polizei- und Gendarmerieapparat des Landes, und er legte 87 Zum Folgenden siehe die Edition in: ADAP, Serie D, Bd. 1, Dok. 295, 423 f. 88 Am 24. Februar 1938 wurde Fischböcks Ernennung zum Staatsrat bekannt gegeben. Siehe Grazer Volksblatt vom 26. Februar 1938.

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

fest, was unter ‚Recht und Ordnung‘ zu verstehen war.89 Gegenüber seinen Vorgängern wurde der Kompetenzbereich für Seyß-Inquart sogar ausgeweitet: War das Sicherheitswesen bisher unmittelbar dem Bundeskanzler zugeordnet gewesen, wurde der zuständige Staatssekretär Michael Skubl im Gefolge des Berchtesgadener Abkommens Seyß-Inquart unterstellt.90 Lediglich die Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit verblieb beim Bundeskanzleramt. Dass aber weder die Generaldirektion noch die Sicherheitsdirektoren der Bundesländer gegen den Innenminister arbeiten konnten, wurde beispielsweise deutlich, als Seyß-Inquart die Absicht des Salzburger Sicherheitsdirektors Dr. Ludwig Bechinie vereitelte, den Salzburger Gauleiter Anton Wintersteiger festzunehmen.91 Zu all dem kam, dass Seyß-Inquart für die Überwachung der Umsetzung des Berchtesgadener Abkommens in Österreich zuständig war. Und nicht der Bundeskanzler, sondern der neue Innenminister wurde als zentrale Instanz bei Meinungsverschiedenheiten benannt. Auf diese Weise gewannen die Betont-Nationalen bei politischen Streitfällen zwischen ihnen und dem Austrofaschismus auch auf diesem Gebiet die Deutungshoheit. Schließlich übernahm Seyß-Inquart am 17. Februar offiziell die Leitung des Volkspolitischen Referats.92 Damit konnte Seyß-Inquart in Österreich Staat und Einheitspartei gleichermaßen zugunsten des Nationalsozialismus aufbrechen. Tatsächlich war er durch das Berchtesgadener Abkommen in eine Position gekommen, die ihn in Wien geradezu zum Manager des ‚Anschlusses‘ werden ließ. Bezeichnend für die politische Ausrichtung von Innenminister Seyß-Inquart war, dass er unmittelbar nach seiner Ernennung für anderthalb Tage nach Berlin reiste. Hier traf er unter anderem mit Himmler, Göring, Heß, Frick und Ribbentrop zusammen. Noch wichtiger für ihn war, dass er gleich am 17. Februar von Hitler zu einer etwa zweistündigen Unterredung empfangen wurde. Dies verschaffte ihm „die richtige Legitimation in den Augen der Nationalsozialisten.“93 Wenn sein eigener Bericht über diese erste persönliche Begegnung mit dem Reichskanzler zutrifft, nutzte Seyß-Inquart die Gelegenheit, um sein Konzept des evolutionären Legalitätskurses darzulegen. Demnach unterstrich er die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit Österreichs und sprach sich dezidiert gegen einen gewaltsamen Weg zum ‚Anschluss‘ aus. Selbst wenn die Erreichung dieses Zieles längere Zeit in Anspruch nehmen würde, gehe es darum, unter Respektierung der „Willensbildung“ der österreichischen Bevölkerung „vom gesamtdeutschen und volksdeutschen zum nationalsozialistischen Gedankeninhalt“ zu kommen. Deshalb könne es in Österreich vorläufig keine „Totalität der [nationalsozialistischen] Partei und Bewegung“ geben, als Innenminister werde er gegen „staatsfeindliche Bestrebungen“ vorgehen. Denn er sei es, der die Politik bestimme; die Nationalsozialisten hätten sich nach ihm zu richten.94 Diese Darstellung des Gesprächs steht in einem Spannungsverhältnis 89 Siehe im Detail BGBl. 48/1938, 215. 90 Aussage Skubls vom 13. Juni 1946, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 196. 91 Siehe die Aktennotiz über die Konferenz der Sicherheitsdirektoren vom 2. März 1938, BArch, N 1180/51. 92 Neue Freie Presse, Morgenblatt vom 17. Februar 1938. 93 So Rainers Aussage vom 12. Juni 1946 in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 142. 94 Ebd., Bd. 41, Dok. Seyß-Inquart-107, 382.

2.3 Von der ‚Befriedung‘ zum ‚Anschluss Österreichs‘

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zu den intensiven Vorbereitungen des Dritten Reiches zu einer raschen Vereinigung Österreichs mit Deutschland, und sie lässt sich nur schwer vereinbaren mit Seyß-Inquarts Aussage aus dem Jahr 1939, er habe die Besprechung verlassen „mit dem nicht auszudrückenden Glücksgefühl, ein Werkzeug des Führers sein zu dürfen.“95 Insgesamt war Seyß-Inquarts Berlinreise denn auch ein Beleg dafür, dass es jetzt „um die Wurst“ ging (Goebbels),96 und nicht nur für eine amerikanische Zeitung lag ihre Bedeutung darin, „to more quickly turn Austria into a thoroughly Nazified adjunct of the Third Reich.“97 Tatsächlich sah Seyß-Inquart seine Aufgabe darin, in enger Tuchfühlung mit der Reichsregierung den Prozess zu moderieren, der schon bald zum ‚Anschluss‘ führen sollte. Dies implizierte, den von der Parteibasis ausgehenden revolutionären Druck zu kanalisieren, ohne ihn abzuwürgen. Erleichtert wurde diese Gratwanderung dadurch, dass Hitler Leopold für den 21. Februar nach Berlin beorderte und ihn dort als Landesleiter der österreichischen NSDAP kurzerhand absetzte. Zu dessen Nachfolger ernannte der deutsche Reichskanzler am selben Tag Klausner, mit dem Seyß-Inquart in den zurückliegenden Monaten zusammengearbeitet hatte. Klausner erhielt den Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Partei den Innenminister bei seiner „sehr schweren Aufgabe“ in jeder Weise unterstütze. „Insbesondere müssen die Radikalen abgebremst werden, um die Situation von Dr. Seyss-Inquart, der auch hie und da Nazis einsperren müsse, nicht unmöglich zu machen.“98 Die Politik des Innenministers zeichnete sich in der Tat durch Ambivalenzen aus. Dies kam besonders in zwei Weisungen zum Ausdruck, die Seyß-Inquart wenige Tage nach Amtsantritt als Antwort auf Demonstrationen von Nationalsozialisten und Gegendemonstrationen von Anhängern des Austrofaschismus erließ.99 Einerseits forderte der Minister ein Bekenntnis zur Vaterländischen Front und zur Verfassung des „christlichen, deutschen Bundesstaates auf ständischer Grundlage“ vom 1. Mai 1934,100 und ganz im Sinne des Legalitätskurses verbot er den Nationalsozialisten „parteimäßige Betätigung“ und „alle illegalen Aktionen“. Zugleich aber forderte er die Mitglieder der Vaterländischen Front auf, „allfällige Demonstrationen der Nationalsozialisten […] ruhig hinzunehmen“ und auf Gegendemonstrationen zu verzichten; für die Einstellung nationalsozialistischer Demonstrationen seien ausschließlich die

95 Seyß-Inquart an Himmler vom 19. August 1939, Bl. 15, BArch, N 1180/3. 96 Zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 5, 161 (17. Februar 1938). 97 New York Herald Tribune vom 18. Februar 1938 (BArch, R 901/58953, Bl. 16). Die Zeitung kam zu dem Ergebnis, dass durch Seyß-Inquart „Austria is virtually at the Fuehrer’s feet without to dare firing a single shot“. 98 Aktennotiz Kepplers vom 22. Februar 1938, PA AA, R 27510. Die Verbringung von Leopold und Tavs ins Reich hatte Seyß-Inquart Hitler gegenüber zu einer Voraussetzung für die Übernahme des Innenministeriums gemacht; siehe Papen ans Auswärtige Amt vom 14. Februar 1938, in: ADAP, Serie D, Bd. 1, Dok. 297, 426. 99 Sie datieren vom 20. Februar 1938 und sind abgedruckt in: Kriechbaumer (Hrsg.), Österreich!, 415–417. Vgl. auch Seyß-Inquarts Rundfunkansprache vom 22. Februar, wiedergegeben in: Wiener Neueste Nachrichten vom 23. Februar 1938 (BArch, R 4902/1499). Zu den Demonstrationen in verschiedenen Landesteilen siehe zusammenfassend Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik, 725 f. 100 So lautete die Formulierung in der Verfassung vom 1. Mai 1934, zit. nach: BGBl. 1/1934, 1.

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

Abb. 1: Seyß-Inquart am 5. März 1938 bei seiner Linzer Rede vor 500 Anhängern des Nationalsozialismus. Sitzend: Karl Breitenthaler, Ernst Kaltenbrunner und Franz Langoth (v.l.n.r.).

Sicherheitsorgane zuständig – die natürlich ihm als Innenminister unterstanden. Das Verbot des Hitlergrußes, das er anfangs ausgesprochen hatte, hob er wenige Tage später auf, und das Verbot, die Hakenkreuzfahne zu hissen, wurde von ihm Ende Februar stark gelockert.101 Mehr noch: Am 1. März 1938 nahm Seyß-Inquart in Graz, einer Hochburg nationalsozialistischer Agitation, ein Defilee von 20.000 SA- und SS-Männern ab, die ihn mit ‚Heil Hitler‘- und ‚Heil Seyß-Inquart‘-Rufen grüßten. Obwohl diese Demonstration nicht genehmigt war und das nicht legalisierte Horst-Wessel-Lied gesungen wurde, unterließ es Seyß-Inquart, der Polizei den Auftrag zur Auflösung der illegalen Veranstaltung zu erteilen. Im Gegenteil: Der österreichische Innenminister entbot den Nationalsozialisten seinerseits den Deutschen Gruß und bestimmte ohne Absprache mit Bundeskanzler und Bundesregierung, „daß das Tragen von Hakenkreuzen und der Gruß ‚Heil Hitler!‘ im privaten Leben jedem einzelnen freigegeben ist.“102 Das Doppelspiel bestimmte auch in den folgenden Tagen Seyß-Inquarts Arbeit: Er rief die Nationalsozialisten zur Ruhe auf, gestand aber Kundgebungen zu, „die durch ihre Größe und Diszipliniertheit Eindruck erwecken.“103 Dazu gehörte seine Fahrt nach Linz, wo er am 101 Seyß-Inquart an die Sicherheitsdirektoren (mit Ausnahme Wiens) und die Leiter sämtlicher Bundespolizeibehörden vom 1. März 1938, DÖW, 21065/71. 102 Grazer Volksblatt vom 3. März 1938. Zu den Vorgängen in Graz siehe auch Lennhoff, The last five Hours of Austria, 115 und Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik, 727 f. 103 Dr. Otto von Stein (Deutsche Gesandtschaft Wien) ans Auswärtige Amt vom 4. März 1938, PA AA,

2.4 Bundeskanzler und Reichsstatthalter

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5. März nach Angabe des Völkischen Beobachters von 40.000 Menschen „jubelnd begrüßt“ wurde und vor etwa 500 Mitgliedern von Volkspolitischem Referat und NSDAP eine vom Rundfunk übertragene Rede hielt.104 Hierin wies Seyß-Inquart die Nationalsozialisten erneut auf das Verbot illegaler Aktionen hin und rief sie stattdessen auf, in die Vaterländische Front und andere zugelassene gesellschaftliche Vereinigungen und staatliche Organisationen unter Einschluss des Bundesheeres einzutreten. Auch Gemeinde- und Landtage, die Landesregierungen und andere öffentliche Körperschaften des austrofaschistischen Regimes würden nun verstärkt mit Personen besetzt, die das Vertrauen des Volkspolitischen Referats besäßen. Mit solchen Versprechungen und der strikten Verpflichtung auf den Legalitätskurs versuchte Seyß-Inquart, die gärende Basis der NSDAP zu beruhigen. Im gleichen Augenblick aber appellierte er an „das tatbereite Bewusstsein der Zugehörigkeit zum Gesamtvolk“ und motivierte die Parteigenossen somit zur Mitarbeit an der Realisierung der Anschlussidee. Durch seine öffentlichen Auftritte und mit seinen Weisungen versuchte Seyß-Inquart, die revolutionäre Dynamik der Parteibasis aufzufangen und zu nutzen, um Bundesregierung und Vaterländische Front immer mehr unter Druck zu setzen, den Austrofaschismus – durchaus im Rahmen der in Österreich geltenden Gesetze – zu unterwandern und im Sinne eines evolutionären Weges allmählich zum ‚Anschluss‘ an das nationalsozialistische Deutschland zu zwingen. Zugleich bemühte er sich, die politische Kontrolle über die Parteigenossen zu gewinnen, denn insbesondere die Presse der Nationalsozialisten müsse sich ihm – wie er in seiner Linzer Rede forderte – „in verbindlicher Weise in sachlicher und persönlicher Richtung unterstellen.“105 Die Ambivalenz seiner Stellungnahmen ermöglichte es sowohl Anhängern des austrofaschistischen Regimes als auch Nationalsozialisten, seiner Amtsführung Positives abzugewinnen. Das katholische Grazer Volksblatt etwa hob hervor, „daß der Nationalsozialist Seyß-Inquart vor engeren Gesinnungsgenossen eine Sprache fand, die nach Meritum und Form auf weite Strecken auch uns tief aus dem Herzen gesprochen war“, während für die Wiener Neuesten Nachrichten Seyß-Inquarts Linzer Rede den Weg zum ‚Anschluss‘ freigemacht habe: „Jeder Oesterreicher weiß nun um die Möglichkeiten und Grenzen der politischen Betätigung. Er weiß aber auch, was auf dem Spiel steht und daß die Verantwortung unserer Generation für das Schicksal dieses deutschen Landes riesengroß ist.“106 2.4 Bundeskanzler und Reichsstatthalter

Wie bekannt, sollte sich wenige Tage später die letztgenannte Einschätzung als zutreffend erweisen. Der „ehrliche Makler“, als den Steinbauer seinen Mandanten nach dem Zweiten R 103450, Bl. 278 f. Ähnlich die Erklärung des steirischen Gauleiters Sigfried Uiberreuther vom 1. April 1946, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 41, Dok. Seyß-Inquart-59, 350. 104 VB vom 16. März 1938 (Wiener Ausgabe). Siehe auch die Linzer Tages-Post vom 7. März 1938 (BArch, R 8034/III-443, Bl. 75). Das Manuskript der Rede befindet sich in IfZ, ED 116, Bd. 2, Bl. 63–80, Zitat Bl. 67. 105 IfZ, ED 116, Bd. 2, Bl. 74. 106 Grazer Volkszeitung vom 8. März, Wiener Neueste Nachrichten vom 6. März 1938 (BArch, R 4902/1499).

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

Weltkrieg darstellen wollte,107 war schon lange kein neutraler ‚Brückenbauer‘ mehr. Als Innenminister, zum Teil schon als Staatsrat, agierte er als ‚Trojanisches Pferd‘,108 das dem Dritten Reich den Weg zum ‚Anschluss‘ ebnete. Nicht einmal die Ankündigung Schuschniggs, am 13. März 1938 eine Volksbefragung für „ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, christliches und einiges Österreich“109 durchführen zu wollen, konnte zu diesem Zeitpunkt den ‚Anschluss‘ verhindern. Seyß-Inquart nutzte die Gelegenheit, dem Bundeskanzler als Gegenleistung zu einer Zustimmung zur Volksbefragung die Aufnahme von Nationalsozialisten ins Kabinett abzuringen.110 Die Initiative aber übernahm jetzt Göring: Unter seinem Druck wurde Schuschnigg am 11. März zunächst zur Absage der Volksbefragung und anschließend zum Rücktritt gezwungen. An seine Stelle trat Seyß-Inquart, der kurz danach auch noch die verfassungsmäßigen Befugnisse des Bundespräsidenten übernahm. Dazwischen erteilte Hitler der Wehrmacht den Befehl zum Einmarsch in Österreich. Wie in den Monaten zuvor war Seyß-Inquart auch jetzt gegen eine gewaltsame Lösung: Er weigerte sich, Görings mehrfacher Aufforderung nachzukommen, von sich aus ein vorformuliertes Fernschreiben abzusenden, mit dem er im Namen einer österreichischen Übergangsregierung das Deutsche Reich um „baldmöglichste Entsendung deutscher Truppen“ hätte bitten sollen.111 Und in der Nacht vom 11. auf den 12. März ließ er Hitler – wenn auch vergeblich – telefonisch bitten, den Einmarsch zu stoppen.112 Auch als Bundeskanzler favorisierte Seyß-Inquart einen legalitätskonformen Weg zum ‚Anschluss‘. Diese Vorgänge sind intensiv erforscht worden, sie brauchen hier nicht im Detail dargestellt zu werden.113 Es drängt sich aber die Frage auf, welche Vorstellungen Seyß-Inquart bis zum Einmarsch der Wehrmacht vom ‚Anschluss‘ hatte. Träumte er von einer – zumindest befristeten – Personalunion, bei der Hitler neben der Funktion eines deutschen Staatsoberhaupts gleichzeitig als Oberhaupt einer Ostmark oder eines deutsch-österreichischen Doppelstaates aufgetreten wäre und er selber als Bundeskanzler formell auf gleicher Augenhöhe mit dem Reichskanzler hätte agieren können?114 Auffallend ist, dass Seyß-Inquart in den zurückliegenden Monaten immer wieder die Unabhängigkeit Österreichs betont hatte. Dies war nicht nur der Tatsache geschuldet, dass er bis zum 11. März 1938 bei seinen Äußerungen nicht das Vertrauen Schuschniggs aufs Spiel setzen oder das Ausland beunruhigen durfte; eine gewisse österreichische Eigenständigkeit entsprach auch seiner inneren Einstellung. Folgt man seiner eigenen Darstellung, hatte der frisch ernannte Innenminister sogar Hitler 107 Steinbauer, Ich war Verteidiger in Nürnberg, 159. 108 Pohanka, Das Trojanische Pferd. 109 Zit. nach: Von Schuschnigg, Im Kampf gegen Hitler, 15. 110 Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik, 730. Siehe auch Seyß-Inquarts Nachkriegsaussagen gegenüber dem IMG (Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 32, Dok. PS-3425) und dem Wiener Landesgericht (Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt, 336–339). 111 ADAP, Serie D, Bd. 1, Dok. 358, 474. 112 Siehe den Aktenvermerk Altenburgs vom 12. März 1938, in: ebd., Dok. 364, 477 f. 113 Siehe etwa Rosar, Deutsche Gemeinschaft, 262–298. 114 Auf solch ein Szenario spielte Göring 1946 verächtlich vor dem Nürnberger Gerichtshof an (Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 9, 334). Siehe auch Botz, Nationalsozialismus in Wien, 72.

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am 17. Februar 1938 auf die Unabhängigkeit Österreichs hingewiesen. Aus seiner Überzeugung, die dortige Bevölkerung müsse aus „freier Entschliessung“ und aus „eigener Kraft“ zu einer Vereinigung mit Deutschland gelangen, dürfte jedenfalls abzuleiten sein, dass er der Ostmark in einem „Volksdeutschen Reich“ eine relativ eigenständige Rolle zugewiesen wissen wollte.115 Auch nach dem Krieg legte er Wert auf die Feststellung, dass er bis zum März 1938 „überhaupt nicht“ an einen Einmarsch der Wehrmacht gedacht habe. Es sei ihm lediglich um eine Rückkehr der Nationalsozialisten gegangen, die nach dem Juliputsch ins Reich geflüchtet waren – und selbst dies erst, nachdem eine Volksabstimmung in Österreich grünes Licht gegeben hätte.116 Und vor dem Internationalen Militärgerichtshof führte er aus, dass es ihm seinerzeit nicht um „einen sofortigen Anschluss“ gegangen sei, sondern darum, nach entsprechenden Wahlen und Abstimmungen „eine Wirtschafts- und allenfalls Militärunion mit dem Deutschen Reich“ herbeizuführen.117 Auch wenn eine solche Formulierung in der Situation des Jahres 1946 dazu diente, ihn vom Anklagepunkt des Gemeinsamen Plans oder der Verschwörung118 zu entlasten, ist davon auszugehen, dass Seyß-Inquart den Anschluss grundsätzlich als einen beiderseits gewollten Zusammenschluss von zwei souveränen Staaten in einem gemeinsamen Reich verstand, das der Ostmark mit ihrer spezifischen historischen Entwicklung eine besondere Stellung ermöglichen sollte. Schon bald stellte sich heraus, dass Hitler Österreich in keiner Weise Eigenständigkeit belassen wollte. Das Bundesgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 13. März119 führte zu einer Gleichschaltung des angeschlossenen Landes, eine politische oder staatsrechtliche Eigenständigkeit war nicht vorgesehen. Die rechtsverbindliche Interpretation lieferte Staatssekretär Dr. Wilhelm Stuckart, der das ‚Anschlussgesetz‘ ausgearbeitet hatte: „Österreich hat […] dadurch, daß es zu einem Land des Deutschen Reiches erklärt worden ist, aufgehört, ein selbständiger Staat zu sein. Die Souveränität Österreichs ist erloschen.“120 Dies musste auch Konsequenzen für Seyß-Inquarts Position haben: Er blieb nicht Bundeskanzler eines zumindest bedingt eigenständigen Landes, sondern wurde am 15. März von Hitler zum Reichsstatthalter ausgerufen121 – und dadurch schon in der Titulatur in die Reichsstrukturen integriert. Zugleich wurde er zum Leiter der österreichischen Regierung bestellt, die nicht mehr Bundesregierung hieß, sondern zu einer Landesregierung herabgestuft wurde und kein Gesetzgebungsrecht hatte.122 Wie Österreich in seiner Gesamtheit wurde auch dessen Bundeskanzler von der Reichsführung sozusagen mediatisiert.123

115 Die Zitate stammen aus seiner Linzer Rede vom 5. März 1938, zit. nach: IfZ, ED 116, Bd. 2, Bl. 65 f. 116 Handschriftliche Notiz für Steinbauer vom 23. Februar 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 715, Mappe 338. 117 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 688. 118 Siehe hierzu unten, Kap. 15. 119 Original in: ÖStA/AdR, BKA, Präsidium, MG, 150789-I/1938. Das Gesetz wurde veröffentlicht in: BGBl. 75/1938, 259, das analoge Reichsgesetz in: RGBl. 1938/I, 237 f. 120 Stuckart, Die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, 161. 121 BArch, R 43 II/140, Bl. 17. 122 RGBl. 1938/I, 249. 123 Ähnlich Botz, Nationalsozialismus in Wien, 111.

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Abb. 2: Das ‚Anschlusskabinett‘ vom 12. März 1938. V.l.n.r.: Skubl, Dr. Wilhelm Wolf, Dr. Rudolf Neumayer, Dr. Franz Hueber, Seyß-Inquart, Menghin, Reinthaller, Glaise-Horstenau, Dr. Hugo Jury und Fischböck.

Dazu kam, dass sich Seyß-Inquart in seinem Dienstsitz im früheren Bundeskanzleramt am Wiener Ballhausplatz zu keinem Zeitpunkt in einer Monopolposition, sondern von Anfang an in einer strukturellen Konkurrenzsituation befand. Denn zum einen ließen sich mit dem ‚Anschluss‘ diverse Reichszentralinstanzen in Österreich nieder, unter denen dem Reichs­ innenministerium als der sogenannten Zentralstelle für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich eine besondere Bedeutung zukam. Zum anderen setzte Hitler durch die Ernennung von Keppler als Reichsbeauftragten für Österreich und des Saarpfälzer Gauleiters Joseph Bürckel zum Beauftragten für die Volksabstimmung weitere Nationalsozialisten auf Spitzenposten in Wien. Nachdem dann die Volksabstimmung am 10. April 1938 eine überwältigende Mehrheit von fast 100 Prozent für die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich ergeben hatte,124 galt Bürckel als der starke Mann im angeschlossenen Land. Seyß-Inquart blieb zwar nach der Volksabstimmung Reichsstatthalter und Leiter der österreichischen Landesregierung, und mit Keppler kehrte im Frühjahr 1938 einer von Seyß-Inquarts Konkurrenten um Einfluss auf die österreichische Politik nach Berlin zurück. Bürckel aber konnte seine Position in Wien festigen: Er wurde am 23. April zum Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich ernannt. Seitdem gab es zwischen Reichsstatthalter und Reichskommissar eine Aufgabenverteilung, die zu Ungunsten Seyß-Inquarts ausfallen musste: Während Bürckel für den Aufbau einer nationalsozialistischen 124 Vgl. Bukey, Hitlers Österreich, 58–66.

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Ostmark und die Neuaufstellung der dortigen NSDAP zuständig war, hatte Seyß-Inquart im Kern für den Abbau des einst selbstständigen österreichischen Bundesstaates zu sorgen. In dieser Konstellation besaß der führerunmittelbare Reichskommissar den Primat: Erstens konnte Bürckel unmittelbar mit Hitler und allen relevanten Behörden in Kontakt treten, während Reichsstatthalter und Landesregierung verpflichtet waren, ihren amtlichen Schriftverkehr zunächst über Keppler, später über Bürckel zu leiten. Zweitens hatte der Reichskommissar ein Weisungsrecht gegenüber allen Dienststellen in Österreich und war „sämtlichen Behörden im Lande Österreich, insbesondere auch der österreichischen Landesregierung, vorgesetzt“.125 Obwohl Hitler Seyß-Inquart im April 1938 aufforderte, konstruktiv mit Bürckel zusammenzuarbeiten,126 waren durch die Implementierung polykratischer Strukturen politische und persönliche Konflikte vorprogrammiert. Besondere Schärfe erhielten sie durch Bürckels selbstherrlichen Politikstil und dessen Bestreben, sich in allen Fragen zur zentralen Instanz in der entstehenden Ostmark zu machen. Zwar gab es durchaus Gemeinsamkeiten zwischen Bürckel und Seyß-Inquart – konnten beide NS-Politiker doch für sich in Anspruch nehmen, jeweils ein ‚deutsches‘ Grenzgebiet ins Reich ‚heimgeholt‘ zu haben, und beide mussten zunächst davon ausgehen, dass ihre Funktionen mit dem Inkrafttreten des Ostmarkgesetzes zum 1. Mai 1939 auslaufen würden.127 Strukturelle Unterschiede aber waren von Anfang an vorhanden und wuchsen sich zu einer Rivalität aus, die im Laufe der Zeit immer stärker an Kontur gewann. Während Bürckel als ‚alter Kämpfer‘ in NS-Kreisen weithin anerkannt war und über eine tiefe Verankerung in der Partei verfügte, war die Position des ‚Newcomers‘ Seyß-Inquart denkbar schwach. Und während Bürckels Tätigkeit in der Ostmark verlängert wurde, erloschen Seyß-Inquarts Ämter tatsächlich mit dem Ostmarkgesetz; seine Befugnisse gingen zum 1. Mai 1939 auf den Reichskommissar über.128 Tiefgreifende Divergenzen zwischen Reichsstatthalter und Reichskommissar gab es nicht zuletzt in der grundsätzlichen Ausrichtung der nationalsozialistischen Österreichpolitik. Bürckel verfolgte das ehrgeizige Ziel, die Ostmark im Zuge einer durchgreifenden Reform zu einem Modell für eine umfassende Reichsreform zu machen, bei der die Verwaltungen des Staates und der Partei zur Deckung gebracht werden sollten. Dabei interessierten ihn aus­ triakische Spezifika nur insoweit, als die in Österreich einzuführende administrative Struktur Vorbildcharakter für andere Gaue des Großdeutschen Reichs haben und nicht zuletzt seiner eigenen Position in der Saarpfalz dienlich sein konnte, wo er ungeachtet seiner Tätigkeit in Wien als Gauleiter tätig blieb.129 125 Frick, Entwicklung und Aufbau der öffentlichen Verwaltung, 323 und Führererlass vom 23. April 1938, in: RGBl. 1938/I, 407 f. 126 Hitler an Seyß-Inquart vom 23. April 1938, ÖStA/AdR, BKA, Ministerkorrespondenz Seyß-Inquart, 84b. 127 Hitler an Seyß-Inquart vom 23. April 1938 (ebd.) und Führererlass vom selben Tag (RGBl. 1938/I, 407). 128 Gesetz über den Aufbau der Verwaltung in der Ostmark (Ostmarkgesetz) vom 14. April 1939, § 17, in: RGBl. 1939/I, 780. Später sollten die Befugnisse des Reichsstatthalters in Österreich (Österreichische Landesregierung) je nach sachlicher Zuständigkeit auf die einzelnen Reichsstatthalter bzw. auf die Obersten Reichsbehörden verteilt werden (ebd., § 16). 129 In diesem Zusammenhang weist Luža darauf hin, dass Bürckel nach der Saarabstimmung von 1935 zwar für die gesamte Saarpfalz zum Gauleiter ernannt wurde, sein Amt des Reichsstatthalters aber auf das Saar-

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Seyß-Inquart hingegen bemühte sich 1938/39 auf verschiedenen Gebieten, Österreich ungeachtet des Gleichschaltungsprozesses auch ohne staatliche Eigenständigkeit in bestimmten Punkten eine besondere Stellung innerhalb des Großdeutschen Reiches zu sichern – und zugleich sich selbst für eine politische Verwendung nach dem absehbaren Auslaufen seiner Tätigkeit als Reichsstatthalter zu empfehlen.130 In erster Linie sind hier seine Beiträge zur sukzessiven Zerstörung der Tschechoslowakei zu nennen, zu der der gebürtige Sudetendeutsche Seyß-Inquart von Hitler ermächtigt worden war.131 Auch die Bemühungen, Österreich und insbesondere Wien für die Konzipierung und Realisierung der deutschen Politik in Südosteuropa in eine privilegierte Stellung zu bringen, gehören in diesen Zusammenhang. Das Gleiche gilt für Seyß-Inquarts vergeblichen Plan, innerhalb der Reichsregierung ein Ostmarkministerium ins Leben zu rufen, dessen Leitung er für sich selber erhoffte. Schließlich trat der Reichsstatthalter dafür ein, die Kulturverwaltung der Ostmark weitgehend vom Einfluss der Reichsregierung frei zu halten und dem angeschlossenen Land zu überlassen. Sogar sein Plädoyer für die Beibehaltung des Verwaltungsgerichtshofs in Wien lässt sich als Teil der Bemühungen verstehen, in einem gewissen Maße Österreich gegen eine „mechanische Gleichschaltung“ in Schutz zu nehmen.132 Mit seinen Initiativen, Wien nicht nur vor einer politischen Abwertung zu bewahren, sondern der Stadt an der Donau im Hinblick auf die weitere expansive Außenpolitik des NS-Staates sogar neue Perspektiven zu erschließen, wandte er sich zugleich gegen die – nicht zuletzt von Hitler ausgehenden – Bestrebungen zur „Provinzialisierung einer Metropole“ (Gerhard Botz).133 Dass die Rivalität zwischen Seyß-Inquart und Bürckel nach dem Inkrafttreten des Ostmarkgesetzes in einer heftigen Kontroverse eskalierte, die nicht einmal Himmler beilegen konnte,134 darf nicht den Blick dafür verstellen, dass sich der Reichsstatthalter den Anforderungen seines Amtes höchst bereitwillig und engagiert gestellt und sich allen Wendungen der Reichspolitik geschmeidig angepasst hat. Im März 1938 bestand er nicht auf Widerstand gegen den Einmarsch der Wehrmacht, und er akzeptierte, vom Bundeskanzler zum Leiter einer Landesregierung herabgestuft zu werden. In beiden Punkten war ihm bewusst, dass Widerstand zwecklos war. Wollte er seine politische Karriere weiterverfolgen, musste er Hitlers Politik zum Ausgangs- und zum Referenzpunkt seiner eigenen Aktivitäten und Zielsetzungen machen. Er selber hat nach dem Krieg treffend beschrieben, inwieweit die Ereignisse vom März 1938 für ihn eine Zäsur bedeuteten. Demnach empfand er den Anschluss Österreichs als „den Durchbruch in mir. Ich sah tatsaechlich einen Spruch des Schicksals darin [,] und von da ab folgte ich Hitler, teils aus einem Dankesgefuehl [,] teils in der Ueberzeugung, sein land beschränkt war. Seine Pläne für die Ostmark zu einer Personalunion von staatlicher und Parteiverwaltung könnten somit durch das Bestreben motiviert gewesen sein, auch in der bayerischen Pfalz Reichsstatthalter zu werden (Österreich und die großdeutsche Idee, 57 f.). 130 Zum Folgenden siehe Koll, Profilierung im prekären Staat, 266–300. 131 Vgl. hierzu auch Schriffl, Die Rolle Wiens im Prozess der Staatswerdung der Slowakei, passim. 132 So Seyß-Inquarts Formulierung in einem undatierten Text nach IfZ, IMG-Dok. PS-3649. 133 Botz, Nationalsozialismus in Wien, 651. 134 Vgl. hierzu Koll, Profilierung im prekären Staat, 300–304.

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Weg sei richtig, wenn er mir auch nicht immer nach meiner bisherigen Ansicht schien. Und es war ja schliesslich der Weg um die Behauptung Grossdeutschlands.“135 Zweifellos hatte er auch vorher schon ein ‚völkisches‘ Weltbild, Antisemitismus, Antikommunismus sowie die Ablehnung von Demokratie, Parlamentarismus und Liberalismus mit der NSDAP geteilt. Die Vereinigung Österreichs mit Deutschland aber machte ihn zu einem vorbehaltlosen Anhänger des NS-Systems, von dem er seine weitere Laufbahn bedingungslos abhängig machte. Mag der Nationalsozialismus, wie er von Hitler geprägt worden war, für Seyß-Inquart bis zum ‚Anschluss‘ primär ein Vehikel gewesen sein, von dem er sich eine erfolgreiche Realisierung seines großdeutschen Traums erhofft hatte; und mag das Verhältnis zwischen ihm und der Reichsführung bis dahin von wechselseitiger Instrumentalisierung geprägt gewesen sein – spätestens seit dem 11. März 1938 bildete der Nationalsozialismus den zentralen Bezugspunkt seines gesamten politischen Denkens und Handelns. Als bekennender Nationalsozialist, der sich im neuen Regime bewähren wollte, ist Seyß-Inquart in den folgenden sieben Jahren allen Entwicklungen und Wendungen des Regimes willig gefolgt und hat seinen Beitrag zur Nazifizierung und Expansion des Großdeutschen Reiches geleistet. Und wie in dieser Arbeit noch gezeigt wird, hat er in den Niederlanden gelegentlich Impulse zur Radikalisierung der deutschen Politik gegeben, die auf Reichsebene aufmerksam zur Kenntnis genommen wurden. Als Reichsstatthalter beteiligte sich Seyß-Inquart zunächst in Österreich wie im Reich an der propagandistischen Vorbereitung der Volksabstimmung. So hielt er beispielsweise am 6. April 1938 im Berliner Sportpalast eine Rede,136 während Hitler zum selben Zeitpunkt durch Österreich tourte, und zusammen mit dem Reichskanzler und zahlreichen führenden NS-Politikern aus Österreich und dem Altreich nahm er am Vorabend der Abstimmung an der großen Abschlussveranstaltung vor Zehntausenden von Menschen in der großen Halle des Wiener Nordbahnhofs teil. 137 Namens der Bundesregierung trug Seyß-Inquart auch die Verantwortung für die rechtlichen Modalitäten dieser Abstimmung, die den Ausschluss von Jüdinnen und Juden implizierten.138 Das Gesetzblatt für das Land Österreich dokumentiert, dass der Reichsstatthalter Führererlasse, Reichsgesetze und Verordnungen promulgierte, mit denen sukzessive Reichsrecht auf Österreich übertragen und das Rechtssystem nach nationalsozialistischen Vorstellungen umgewandelt wurde. Darüber hinaus rechtfertigte und propagierte er mit publizistischen Mitteln die neue Rechtslage, die beispielsweise durch die Einführung des Gesetzes über den Neuaufbau des Reiches von 1934 und der Deutschen Gemeindeordnung von 1935 auch dem angeschlossenen Land eine profunde nationalsozialistische Signatur gab.139 Überhaupt nahm Seyß-Inquart intensiv an der Nazifizierung und ‚Arisierung‘ Österreichs teil, und trotz der erwähnten Rivalität zu Bürckel zog seine Behörde in vielen Bereichen an einem Strang mit dem Reichskommissariat sowie mit den Reichszentralinstanzen. So war 135 Seyß-Inquart, Ein Nachwort, Bl. 30 f. 136 Manuskript in BArch, N 1180/21. 137 Grazer Volksblatt vom 10. April 1938. 138 Siehe die Verordnung vom 15. März 1938, § 2, in: Pfeifer (Hrsg.), Die Ostmark, 73. 139 Siehe Seyß-Inquart, Selbstverwaltung in der Ostmark.

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

Seyß-Inquart beispielsweise an der Gründung und Arbeit der Vermögensverkehrsstelle und der Zentralstelle für jüdische Auswanderung beteiligt – Institutionen, die die ‚wilden‘ Arisierungen aus den ersten Wochen nach dem ‚Anschluss‘ durch eine gesetzlich fundierte Enteignung und durch eine erzwungene Emigration der jüdischen Bevölkerung des Landes ersetzen sollten.140 Schon das Gesetz über die Bestellung von kommissarischen Verwaltern und kommissarischen Überwachungspersonen vom 13. April 1938 hatte dem Reichsstatthalter geradezu eine Schlüsselstellung bei der Arisierung jüdischen Vermögens eingeräumt, und in Folge der Verordnung vom 26. April, mit der Göring und Frick alle Juden verpflichteten, Vermögenswerte über 5.000 Reichsmark bei der Vermögensverkehrsstelle anzumelden, übernahm das Amt des Reichsstatthalters eine zentrale Rolle bei der staatlichen Beraubung der jüdischen Bevölkerung in Österreich.141 Auch im Zusammenhang mit der Judenverfolgung war der gelernte Rechtsanwalt Seyß-Inquart für eine legistische Regelung, die das nationalsozialistische Unrechtsregime hinter einer Fassade von Rechtmäßigkeit verbarg und die ‚geordnete‘ Beraubung der jüdischen Bevölkerung systematischer und effizienter vonstatten gehen ließ als ‚wilde‘ Arisierungen. Bei der Vorbereitung und Umsetzung der antisemitischen Gesetze und Verordnungen waren Seyß-Inquart und die Behörden, deren Leitung ihm oblag, denn auch besonders engagiert. Hierbei standen ihm insbesondere zwei Freunde zur Seite, die später in den Niederlanden eine unentbehrliche Stütze seiner Tätigkeit als Reichskommissar sein sollten: Staatssekretär Friedrich Wimmer war für die legistische Vorbereitung von Rechtstexten verantwortlich, und Hans Fischböck leitete das Ministerium für Finanzen sowie das Ministerium für Arbeit und Wirtschaft, dem die Vermögensverkehrsstelle eingegliedert wurde. Die Politik von Nazifizierung und Judenverfolgung in der Ostmark kann hier nicht im Einzelnen untersucht werden.142 An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass Seyß-Inquart mit dem Anschluss Österreichs sein weiteres Schicksal unauflöslich an das NS-Regime gebunden hatte. Allerdings gelang es ihm nicht, mit dem Inkrafttreten des Ostmarkgesetzes mit einer neuen einflussreichen Position betraut zu werden. Als politisches ‚Trostpflaster‘ wurde Seyß-Inquart nach dem Auslaufen seiner Funktion als Reichsstatthalter von Hitler zwar zum Reichsminister ernannt und in das Reichskabinett aufgenommen.143 Aber da dem Ministerium kein Geschäftsbereich zugewiesen wurde und das Reichskabinett gar nicht mehr zusammentrat, war dieser Akt eher symbolischer als realpolitischer Natur. Seit Mai 1939 verfügte Seyß-Inquart nur in begrenztem Maße über politische Gestaltungsmöglichkeiten und Finanzmittel aus dem Reichshaushalt. Seine politische Laufbahn schien stillzustehen. Eine neue Bewährungschance innerhalb des NS-Regimes erhielt Seyß-Inquart erst, als die Wehrmacht vier Monate später Polen überfiel.

140 Anderl/Rupnow, Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung, 113 f. und 125 und Venus/Wenck, Die Entziehung jüdischen Vermögens im Rahmen der Aktion Gildemeester, 99. 141 GBl. Ö, 80/1938, 141 und 102/1938, 249-251. 142 Vgl. Rosar, Deutsche Gemeinschaft, 299 ff. 143 Ernennungsurkunde in BArch, R 43 II/140, Bl. 13.

2.5 Chef der Zivilverwaltung in Krakau und Stellvertretender Generalgouverneur in Polen

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2.5 Chef der Zivilverwaltung in Krakau und Stellvertretender Generalgouverneur in Polen

Gut eine Woche nach Kriegsbeginn tauchte Seyß-Inquarts Name erstmals im Zusammenhang mit der zukünftigen Verwaltung Polens auf: In einem Aktenvermerk des Reichsinnenministeriums vom 9. September 1939 wurde er als Kandidat für die Leitung der Zivilverwaltung im Militärbezirk Krakau benannt, dem südlichsten Grenzabschnitt.144 Er trat damit neben Albert Forster, Arthur Greiser und Hans Frank, die von Hitler für die anderen, nördlicher gelegenen Militärbezirke vorgesehen waren. Unter diesen Politikern war Seyß-Inquart der Einzige, der nicht aus dem Altreich stammte und keine gewachsene Verankerung in der NSDAP besaß. Allerdings war die zukünftige Aufteilung des besetzten Landes einigen Wandlungen unterworfen, solange die Kämpfe gegen die polnische Armee nicht beendet waren. In diesem Kontext wurde Seyß-Inquart für andere Verwendungen ins Spiel gebracht: 1) als Leiter eines „fremdsprachigen Gaus“, in den Juden und ‚Zigeuner‘ aus Deutschland und Polen abgeschoben werden sollten und der die übrige polnische Bevölkerung hätte aufnehmen müssen, die sukzessive aus den ins Reich einzugliedernden Gebieten von Westpreußen und Posen vertrieben worden wäre;145 2) als Leiter eines „Reichsgaus Beskidenland“, den Hitler dann dem Deutschen Reich angeschlossen hätte, wenn sich England, Frankreich und die polnische Exilregierung mit einem polnischen Reststaat zufriedengegeben, zugleich aber Deutschland jene Gebiete überlassen hätten, die das NS-Regime als ‚deutsch‘ betrachtete;146 3) als Höherer SSund Polizeiführer im Militärbezirk Krakau.147 In keiner dieser angedachten Funktionen aber ist Seyß-Inquart tätig geworden. Dafür wurde er am 25. September 1939 entsprechend der ursprünglichen Planung per Führerer­lass zum Chef der Zivilverwaltung im Militärbezirk Krakau ernannt.148 Am 12. Oktober folgte der nächste Schritt: Auf der Grundlage eines neuerlichen Führererlasses avancierte Seyß-Inquart zum Stellvertreter von Hans Frank im neu zu errichtenden Generalgouvernement.149 Eine Woche später legte Hitler den 25. Oktober als den Tag fest, an dem die Wehrmacht die Verwaltung der polnischen Gebiete an die zivilen Verwaltungsstäbe zu übergeben hatte.150 144 Umbreit, Deutsche Militärverwaltungen 1938/39, 94 f. mit Anm. 55. 145 Siehe Heydrichs Ausführungen am 21. September 1939 nach dem Protokoll über das ‚Unternehmen Tannenberg‘ in: Mallmann/Böhler/Matthäus, Einsatzgruppen in Polen, Dok. 43, 144. 146 Eisenblätter, Grundlinien der Politik des Reichs gegenüber dem Generalgouvernement, 14 und 25, Anm. 3. Zum Projekt eines Beskidengaus siehe auch Umbreit, Deutsche Militärverwaltungen 1938/39, 93 und 113 mit Anm. 146 sowie Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen, 54 ff. 147 Schnellbrief Himmlers vom 5. Oktober 1939 in: BArch (ehem. BDC), SSO Arthur Seyß-Inquart, Bl. 12. 148 BArch, R 43 II/647, Bl. 26–30. 149 RGBl. 1939/I, Bd. 2, 2077 f. 150 BArch, R 43 II/1340, Bl. 35 f. Zu diesem Führererlass, der nicht öffentlich gemacht wurde, und zum Übergang von der Militär- zur Zivilverwaltung siehe Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, 29 ff. Ergänzend hierzu Hitlers Anordnung vom 21. Oktober 1939, in: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 15, 105. Zur Errichtung des Generalgouvernements vgl. auch Umbreit, Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft, 28–50.

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

Abb. 3: Einteilung Polens in deutsche Militärbezirke ab September 1939.

2.5 Chef der Zivilverwaltung in Krakau und Stellvertretender Generalgouverneur in Polen

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Im Gefolge der Bestellung zum Chef der Zivilverwaltung in Krakau sowie zum Stellvertretenden Generalgouverneur musste Seyß-Inquart zum ersten Mal seine administrativen und politischen Fähigkeiten unter Kriegsbedingungen unter Beweis stellen. So beteiligte er sich entsprechend der Vorgaben, die Hitler am 17. Oktober 1939 für die deutsche Politik im Generalgouvernement verbindlich gemacht hatte,151 aktiv am Aufbau einer extrem brutalen, repressiven Besatzungsverwaltung und war in die wirtschaftliche Ausbeutung eines besetzten Landes, in die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, in die Organisierung umfassender ethnischer ‚Säuberungen‘, in den Versuch der Eliminierung der polnischen Führungsschicht sowie in die Helotisierung der einheimischen Bevölkerung für Sklavenarbeit involviert. Über die Einzel- und Massenhinrichtungen sowie die Massaker, die Wehrmachtssoldaten, SS- und Polizeikräfte sowie der von der SS kontrollierte Volksdeutsche Selbstschutz durchführten,152 wird er als SS-Gruppenführer gut informiert gewesen sein. Leider lässt die defizitäre Quellenlage zur Geschichte des Generalgouvernements kaum zu, seine Aktivitäten in historiografischer Dichte nachzuzeichnen. Dazu kommt, dass Seyß-Inquart als Stellvertretender Generalgouverneur kein klar umrissenes Aufgabenfeld besaß. Sehr unspezifisch bestimmte Frank, sein Stellvertreter habe die Aufgabe, „dem Generalgouverneur einen großen Teil der Arbeit abzunehmen“.153 Konkret bedeutete dies zum einen, dass Seyß-Inquart entweder zusammen mit oder anstelle von Frank repräsentative Funktionen wahrnahm. Zum anderen wurde er mit Einzelaufgaben betraut, die er seinem Vorgesetzten für eine Entschlussfassung vorzubereiten hatte. Dazu gehörte etwa der Entwurf des Verwaltungsaufbaus für das Generalgouvernement, den Seyß-Inquart am 2. Dezember 1939 auf einer Sitzung der Abteilungsleiter des Amtes des Generalgouvernements vorstellte.154 Darüber hinaus wurde der Stellvertretende Generalgouverneur beauftragt, mit den zuständigen Reichszentralstellen und den benachbarten Reichsgauen die Festlegung der Grenzen des Generalgouvernements zu klären; dabei spielte auch eine Rolle, wie mit Flüchtlingen einschließlich der Juden umzugehen sei, die ebenso verzweifelt wie schutzlos zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Interessengebiet pendelten.155 Zugleich war Seyß-Inquart in die Aufnahme von ‚Volksdeutschen‘ aus Wolhynien und Galizien eingespannt: Mindestens zwei Mal inspizierte er Przemyśl an der deutsch-sow151 Siehe Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 26, Dok. PS-864, 378 f. 152 Siehe hierzu unter anderem Umbreit, Deutsche Militärverwaltungen 1938/39, Kap. 3–5 des 3. Teils sowie Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Zur Bindung des Volksdeutschen Selbstschutzes an den SS-Komplex siehe Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen, 14 und Bömelburg, Die deutsche Besatzungspolitik in Polen, 60, Anm. 33. 153 Frank auf der Abteilungsleitersitzung vom 2. Dezember 1939, zit. nach: Präg/Jacobmeyer (Hrsg.), Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen, 73. 154 Ebd., 74. Zum Verwaltungssystem des Generalgouvernements vgl. den Überblick bei Bömelburg/Musial, Die deutsche Besatzungspolitik in Polen, 73–77. 155 Siehe Frank, Tagebuch 1940, BArch, R 52 II/174, besonders Bl. 22, 29 und 34, Frank, Tagebuch 1940, Abteilungsleitersitzungen, BArch, R 52 II/225, Bl. 50 sowie die Unterlagen zur Besprechung im Reichs­ innenministerium vom 24. Februar 1940, BArch, R 43 II/647b. Zu dieser Frage siehe auch Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, 36–41.

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

Abb. 4: Seyß-Inquart und Himmler beim Besuch von ‚Volksdeutschen‘ im Lager Przemyśl Ende Januar 1940.

jetischen Grenze, wo das NS-Regime auf der deutschen Seite des Flusses San ein Auffanglager für deutschstämmige ‚Umsiedler‘ eingerichtet hatte.156 Seine Einbindung in die ethnischen ‚Säuberungen‘ kommt auch darin zum Ausdruck, dass er am 30. Januar 1940 zusammen mit dem Höheren SS- und Polizeiführer Ost, SS-Obergruppenführer Friedrich-Wilhelm Krüger, auf einer Konferenz in Berlin die Haltung des Generalgouvernements zu den gigantischen Umsiedlungen darlegte, die im polnischen Raum unter Himmlers Federführung nach ethnischen Kriterien durchgeführt wurden. Reinhard Heydrich zufolge erhob Seyß-Inquart bei dieser Gelegenheit „keine grundsätzlichen Einwendungen“ gegen die ‚Umsiedlung‘ von 87.000 Juden und nichtjüdischen Polen. Er gab lediglich zu bedenken, dass die ins Auge gefasste ‚Umsiedlung‘ von insgesamt 190.000 Menschen ins Generalgouvernement auf erhebliche Transportschwierigkeiten stoßen werde, und angesichts der schlechten Ernährungslage im Generalgouvernement forderte er vom Reich weiterhin Zuschüsse.157 Seyß-Inquart interessierte in diesem Zusammenhang nicht einmal ansatzweise das Schicksal der betroffenen Personen. Ihm ging es ausschließlich um die technisch-organisatorische Realisierbarkeit von menschenverachtenden Maßnahmen, deren Le156 Siehe Krakauer Zeitung vom 13., 26. und 27. Januar 1940. 157 Aktenvermerk von SS-Sturmbannführer Hans Ehlich in IfZ, IMG-Dok. NO-5322. Siehe hierzu auch Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, 92–94.

2.5 Chef der Zivilverwaltung in Krakau und Stellvertretender Generalgouverneur in Polen

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gitimität, Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit für ihn angesichts „des großen Entscheidungskampfes, in dem wir uns zur Zeit befinden“,158 außer Frage stand. Im Zuge des vom Regime herbeigeführten „großen Entscheidungskampfes“ zögerte Seyß-Inquart nicht, als Rache für die Ermordung einer fünfköpfigen ‚volksdeutschen‘ Familie im Distrikt Lublin Globocnik, der dort als SS- und Polizeiführer eingesetzt war, den Auftrag zu erteilen, mit „schärfsten Massregeln“ eine „Sühneaktion“ an der einheimischen Bevölkerung durchzuführen.159 Globocnik, der für unerbittliches Vorgehen gegen die polnische Zivilbevölkerung bekannt war, ließ sich nicht zweimal bitten: Als Vergeltungsmaßnahme ließ er Mitte April 1940 vermutlich weit über 160 Bewohner des polnischen Dorfes Józefow durch SS und Volksdeutschen Selbstschutz erschießen.160 Ebenso unerbittlich war der Stellvertretende Generalgouverneur gegenüber der Intelligenzschicht des besetzten Landes. Seyß-Inquart gehörte beispielsweise jenem kleinen Kreis von NS-Funktionären an, der Ende Oktober 1939 mit Himmler die ‚Sonderaktion Krakau‘ besprach, die eine Woche später in die überfallartige Verhaftung von 183 Professoren und Assistenten der Jagiellonen-Universität durch die Sicherheitspolizei mündete.161 Der Stellvertretende Generalgouverneur nahm auch an jener Besprechung teil, auf der am 16. Mai 1940 die sogenannte AB-Aktion beschlossen wurde. Er trug dadurch Mitverantwortung für jene ‚Außerordentliche Befriedungsaktion‘, in deren Gefolge 4.000 bis 6.500 Angehörige der geistig-politischen Elite des besetzten Landes ums Leben kamen und die für ca. 20.000 Menschen mit der Einweisung in ein Konzentrationslager endete.162 Auf einer Inspektionsreise durch das Generalgouvernement nahm Seyß-Inquart im November 1939 unwidersprochen zur Kenntnis, dass das sumpfige Gebiet um den südostpolnischen Ort Nisko als „Judenreservat“ dienen könne, welche Massnahme womöglich eine starke Dezimierung der Juden herbeiführen könnte.“163 Auf Zustimmung stieß bei ihm auch – wie er nach dem Krieg selber konstatierte – die Rekrutierung von polnischen Zwangsarbeitern. In einer handschriftlichen Notiz für seinen Verteidiger in Nürnberg gab er zu, „daß ich die Arbeitseinsatzaktionen grundsätzlich kannte und billigte!“164 Und schließlich unterstützte er mit der Aussage, „es dürfe im Generalgouvernement keine Organisationsform geben, die 158 Seyß-Inquart bei einem ‚Betriebsappell‘ vor den Angestellten des Generalgouvernements am 30. April 1940 nach: Krakauer Zeitung vom 1./2. Mai 1940. 159 Seyß-Inquart an Himmler vom 7. Mai 1940, BArch (ehem. BDC), SSO Arthur Seyß-Inquart, Bl. 138 f. 160 Zu dem Massaker siehe Brewing, Eine Geschichte der Gewalt, besonders 323–328 und Black, Odilo Globocnik, 104 f. Zur Zahl der Opfer werden in der Literatur unterschiedliche Angaben gemacht: Brewing geht von mindestens 161 Opfern aus, Musial von 180 Opfern (Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement, 26), Madajczyk von 189 (Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen, 188), Jansen und Weckbecker von mindestens 191 (Der „Volksdeutsche Selbstschutz“ in Polen, 229). 161 Pierzchała, Den Fängen des SS-Staates entrissen, 161 f. Etwa zur selben Zeit wurden auch in anderen Landesteilen Razzien gegen die Intelligenzschicht des Landes durchgeführt. Vgl. Bömelburg/Musial, Die deutsche Besatzungspolitik in Polen, 94. 162 Frank, Tagebuch 1940, Bd. 2/2, BArch, R 52 II/177, Bl. 53 f. Zur AB-Aktion siehe Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, 162 f. und Bömelburg, Die deutsche Besatzungspolitik in Polen, 76 mit Anm. 79. 163 Distriktgouverneur Friedrich Schmidt in Anwesenheit von Seyß-Inquart am 20. November 1939, zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 30, Dok. PS-2278, 95. Siehe auch Goshen, Nisko. 164 Undatierte Notiz für Steinbauer, ÖGZ-A, NL-61, DO 715, Mappe 338.

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

nicht dem Generalgouverneur unterstehe“,165 Franks Bestrebungen, den Einfluss von Reichszentralinstanzen im Generalgouvernement so weit wie möglich zu begrenzen. Mit solchen Aktionen und Stellungnahmen brachte Seyß-Inquart zum Ausdruck, dass er loyal hinter den politischen Zielen des Reiches und des Generalgouverneurs stand. In diesem Sinn verkündete er am 17. November 1939 im Rahmen der erwähnten Inspektionsreise, „dass oberste Richtschnur bei der Durchführung der deutschen Verwaltung im Generalgouvernement lediglich das Interesse des Deutschen Reiches sein müsse. Es müsse eine harte und einwandfreie Verwaltung das Gebiet der deutschen Wirtschaft nutzbar machen“; dabei habe man sich gegenüber „dem Polentum“ vor „übergrosser Milde zu bewahren“. Und zwei Tage später ergänzte er, dass den Polen unter deutscher Herrschaft die Entwicklung „eines eigenen politischen Gedankens“ nicht mehr möglich sein dürfe.166 Die feindliche Haltung gegenüber „dem Polentum“ kam auch auf dem Gebiet der Kulturpolitik zum Ausdruck. Sie verfolgte zum einen das Ziel, das Kultur- und Bildungsniveau der polnischen Bevölkerung auf ein geringes Niveau herabzudrücken. Zum zweiten sollte sie im Bereich der Hochkultur dem besetzten Land einen ‚deutschen‘ Stempel aufdrücken. Letzteres kam besonders in dem Institut für Deutsche Ostarbeit zum Ausdruck, das Frank an Hitlers 51. Geburtstag feierlich in der Universität Krakau eröffnete.167 Der offiziellen Sprachregelung zufolge hatte es die Aufgabe, „alle grundlegenden Fragen des Ostraums, soweit sie das Generalgouvernement betreffen, wissenschaftlich zu klären sowie die Forschungsergebnisse zu veröffentlichen und zu verbreiten.“168 In einer offiziösen Darstellung wurde zusätzlich der kolonisierende Anspruch nationalsozialistischer Germanisierungpolitik durch den Hinweis unterstrichen, dass die Unterbringung des Instituts in den Räumlichkeiten einer früher polnischen Universität ein „Signal für die geistige Durchdringung des deutschen Ostraumes“ sei; durch das Institut werde „der deutsche Geist und deutsche Kulturarbeit die deutsche Zukunft in diesem Gebiete auf alle Zeiten sicherstellen“.169 An dieser Aufgabenstellung wirkte Seyß-Inquart an prominenter Stelle mit: Während Frank sich selbst zum Präsidenten des Instituts für Deutsche Ostarbeit kürte, ernannte er seinen Stellvertreter zum Vorsitzenden des Kuratoriums. Ob Seyß-Inquart in dieser Funktion viel bewirkt hat, ist zweifelhaft. Er wurde zwar von Frank beauftragt, für das Institut einen Haushaltsplan aufzustellen.170 Bis zu seiner bald darauf folgenden Bestellung zum Reichskommissar in den Niederlanden jedoch sind keine konkreten Tätigkeiten des Kuratoriums und seines Vorsitzenden belegt. Umso besser dokumentiert ist Seyß-Inquarts Vermittlungstätigkeit in dem Verteilungskampf, der im Herbst um den berühmten Marienaltar des spätgotischen Kunstschnitzers Veit

165 Zit. nach: Frank, Tagebuch 1940, Bd. 1, BArch, R 52 II/175, Bl. 94 (Besprechung vom 7. März 1940). 166 Alle Zitate nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 30, Dok. PS-2278, 84 und 92. 167 Frank, Tagebuch 1940, Bd. 2/1, BArch, R 52 II/176, Bl. 52 (20. April 1940). 168 Verordnung des Generalgouverneurs vom 19. April 1940, § 3, in: VOBl. PL 1940, Teil I, 149 f. 169 Das Institut für Deutsche Ostarbeit, 308. 170 Frank, Tagebuch 1940, Bd. 2/2, BArch, R 52 II/177, Bl. 48 (16. Mai 1940).

2.5 Chef der Zivilverwaltung in Krakau und Stellvertretender Generalgouverneur in Polen

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Stoß entbrannt war.171 Auf der einen Seite stand SS-Untersturmführer Prof. Dr. Peter Paulsen, der im Auftrag Himmlers und unter der Aufsicht von Heydrich den kostbaren Altar und andere wertvolle Kulturgüter ins Reich ‚überführen‘ sollte. Ihm stand der österreichische Nationalsozialist Dr. Kajetan Mühlmann gegenüber, der nicht nur seit Jahren ein Weggefährte von Seyß-Inquart war, sondern im Generalgouvernement als von Göring ernannter Sonderbeauftragter für die Sicherung der Kunst- und Kulturschätze fungierte und sich selber und dem Generalgouvernement die Verfügungsgewalt über Kunstwerke sichern wollte. Um eine Lösung zu finden, handelte Seyß-Inquart Ende Oktober 1939 mit SS-Standartenführer Dr. Franz Alfred Six, dem Chef von Amt II (‚Gegnererforschung‘) des Reichssicherheitshauptamts, die Grundlinien eines Kompromisses aus, die anschließend von Paulsen und Mühlmann verfeinert wurden. Demnach hatten das ‚Sonderkommando Paulsen‘ und die der SS angegliederte Forschungsgemeinschaft Ahnenerbe den ersten Zugriff auf Bestände von wissenschaftlichen Institutionen, auf vorgeschichtliche Relikte und auf Gegenstände des Kunstgewerbes, während der promovierte Kunsthistoriker Mühlmann mit seinen Mitarbeitern bei Artefakten von kunstgeschichtlichem Wert den Vortritt hatte. Bald darauf erübrigte sich dieser Kompromiss, weil der Abtransport von Kunst- und Kulturgütern Ende November von der Genehmigung durch den Generalgouverneur abhängig gemacht wurde. Der Veit-Stoß-Altar gehörte zu jenen Kunstwerken, die nach Deutschland verbracht wurden, und zwar ins Germanische Nationalmuseum zu Nürnberg. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte der prachtvolle Hochaltar nach Polen zurück. All diese Aktivitäten strafen Steinbauers Aussage vom Juli 1946 Lügen, Seyß-Inquart sei in Polen „in der kurzen Zeit seines Aufenthalts überhaupt nicht in Erscheinung getreten“. 172 Auch die wenigen Quellen, die zu dessen Aufenthalt im Generalgouvernement überliefert sind, lassen erkennen, dass Seyß-Inquart in den sechseinhalb Monaten, die er auf dem Krakauer Wawel residierte, auf verschiedenen Arbeitsfeldern voller Überzeugung an einem Besatzungsregime teilgenommen hat, das mit ungewohnter Brutalität einen Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg eröffnet hatte. Bei aller fühlbaren Loyalität gegenüber dem NS-Regime aber hatte Seyß-Inquart letztlich kaum Grund, mit seiner Position in Krakau zufrieden zu sein. Er verfügte nicht über ein originäres Aufgabengebiet, und sogar das Verordnungsrecht blieb ihm vorenthalten; diese wichtige Kompetenz band der Generalgouverneur nämlich nicht an sein Amt, sondern an seine Person.173 Insgesamt gesehen hatte Seyß-Inquart kaum die Möglichkeit, eigene politische Initiativen zu entfalten und eigene Vorstellungen umzusetzen. Er ähnelte eher einem Beamten als einem Politiker. Obwohl er den Titel eines Reichsministers trug, wurde er von Frank als ein subalterner Erfüllungsgehilfe eingesetzt, der dem Generalgouverneur zuzuarbeiten hatte und völlig in dessen Schatten stand. Frank, der sich durch ein ausgesprochen autoritäres Gehabe auszeichnete, wollte seinen Stellvertreter nicht neben, sondern unter sich wissen. Stärker als die Rivalität mit Bürckel in Österreich drohte die noto171 Zum Folgenden siehe Mężyński, Kommando Paulsen sowie Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS, 148. Zu Mühlmanns Interessen in Polen siehe Petropoulos, The Importance of the Second Rank, 191–197. 172 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 19, 81. 173 Frank, Tagebuch, BArch, R 52 II/174, Bl. 44 (2. Dezember 1939).

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Kapitel 2: Arthur Seyß-Inquart: Biografische Entwicklung bis Mai 1940

rische Deplatzierung durch den Generalgouverneur Seyß-Inquart mit seinen politischen Ambitionen an den Rand zu drängen. Vor diesem Hintergrund schien die Berufung in den ‚Osten‘, die nach der beruflichen Stagnation zwischen Mai und September 1939 Seyß-Inquarts Biografie gekennzeichnet hatte, weniger zu einem Befreiungsschlag als zu einer Behinderung für den weiteren Aufstieg innerhalb des NS-Regimes zu werden. So mag Wimmer durchaus Recht gehabt haben, als er nach dem Krieg erklärte, Seyß-Inquart habe immer versucht, aus Krakau wegzukommen.174

174 Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 338. Möglicherweise stieß sich Seyß-Inquart auch an dem pompösen Lebenswandel, den Frank demonstrativ zelebrierte. Siehe hierzu Schenk, Hans Frank, 165 ff.

Kapitel 3:

Die Niederlande unter deutscher Besatzung. Phaseneinteilung

Der Westfeldzug bot Seyß-Inquart die ersehnte Chance, aus der Abhängigkeit von Hans Frank loszukommen. Die Bestellung zum Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete bedeutete einen Aufstieg und eine Befreiung von den engen Grenzen, die ihm im Generalgouvernement gesetzt waren. Für die Niederlande erhielt Seyß-Inquart von Hitler den Auftrag, „in Wahrung der Interessen des Reiches die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben sicherzustellen“ und das besetzte Land „wirtschaftlich möglichst an das Reich zu binden.“1 Nach außen hin sollte zwar die staatliche Unabhängigkeit der Niederlande gewahrt werden. Gleichzeitig aber hatte das Reichskommissariat daran zu arbeiten, die Bevölkerung im Laufe der Zeit in ideologischer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht immer stärker auf das Reich hin zu orientieren. Diesem Ziel diente nicht zuletzt, dass die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln auf einem möglichst hohen Niveau gehalten werden sollte, insoweit dies die Kriegslage zuließ. Letztendlich sollten die Niederländerinnen und Niederländer durch ein relativ entgegenkommendes Auftreten für den Nationalsozialismus gewonnen werden. Hinter all diesen Maßgaben stand die ideologisch motivierte Annahme, dass die Niederländer zu den ‚germanischen Völkern‘ gehörten, die besser behandelt werden sollten als ‚romanische‘ oder ‚slawische‘ Völker und für eine Übernahme des Nationalsozialismus und eine freiwilligen Bindung an das Großdeutsche Reich geradezu prädestiniert seien. 1

So die Wiedergabe durch Seyß-Inquart in dem Bericht, den er Hitler im Sommer 1940 schickte (1. Bericht, 413). Mit der Erstellung dieses Berichts kam Seyß-Inquart einer Vorgabe von Hitler nach. Dieser hatte auf Vorschlag von Lammers „den Wunsch ausgesprochen“, vom Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, dem Generalgouverneur für die besetzten polnischen Gebiete sowie den Reichskommissaren in Norwegen und in den Niederlanden jeden Monat einen Bericht zur Lage in ihren jeweiligen Gebieten zu erhalten (siehe Rundschreiben von Lammers an die genannten Funktionsträger vom 15. Mai 1940, NIOD, 266/BBT 3134 B [NG 1233]. Siehe auch den Aktenvermerk der Reichskanzlei vom 30. Mai 1940, NIOD, 266/BBT 3134 A [NG 1233].) Später wurden die Abgabezeiträume bis auf ein halbes Jahr ausgeweitet. Lammers zufolge hat Hitler die eingegangenen Berichte „zum grössten Teil gar nicht gelesen.“ (De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/1, 62 unter Berufung auf eine Aussage von Lammers gegenüber Koenraad Wolter Swart vom 10. März 1948). Überliefert sind von Seyß-Inquart nur dieser erste ordentliche Bericht sowie vereinzelt Sonderberichte.

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Kapitel 3: Die Niederlande unter deutscher Besatzung

Wie Seyß-Inquart versucht hat, diese Aufgaben und Zielsetzungen umzusetzen, wird unter systematischen Gesichtspunkten ab Kapitel 5 untersucht. Um aber deutlich zu machen, wie die Vorgaben, die Hitler seinem Reichskommissar im Mai 1940 mit auf den Weg nach Den Haag gab, im Laufe der Zeit an praktischer Relevanz einbüßten, bis schließlich die entgegenkommende Haltung in eine fundamental oppressive und repressive Besatzungspolitik umschlug, werden in diesem Kapitel Momente, Aspekte, Ereignisse und Zäsuren vorgestellt, die für die deutsche Besatzungspolitik essenziell gewesen sind. Ein solcher Überblick ist notwendig, weil im weiteren Verlauf der Untersuchung immer wieder auf zentrale Momente der Besatzungszeit Bezug genommen wird. Entsprechend dem biografischen Fokus dieser Arbeit richtet die folgende Periodisierung ihr Augenmerk besonders auf Haltung, Stellungnahmen und Aktivitäten von Seyß-Inquart. Sie bemüht sich aber zugleich, die Interdependenz zwischen dem Protagonisten der Studie, deutschen Instanzen im Reich und in den Niederlanden sowie der einheimischen Bevölkerung zu berücksichtigen, und zwar vor dem Hintergrund der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entwicklungen zwischen Mai 1940 und Mai 1945. In diesem Sinn lässt sich die Geschichte der fünf Besatzungsjahre allgemein in vier Phasen einteilen. Bis zum Februar 1941 stand neben der Etablierung der Zivilverwaltung das Bemühen im Vordergrund der deutschen Politik, die niederländische Gesellschaft für den Nationalsozialismus zu gewinnen; deshalb war die erste Phase durch eine zurückhaltende bis entgegenkommende Haltung der Besatzungsmacht gekennzeichnet. Mit der Niederschlagung des sogenannten Februarstreiks von 1941 verschärfte die Zivilverwaltung in der zweiten Phase ihre Haltung gegenüber der einheimischen Bevölkerung. Zugleich radikalisierte sie die Segregation der Juden, ab Juli 1942 setzte deren Deportation ein. Die allgemeine Verhärtung der Besatzungspolitik führte ab 1941 zu einer Zunahme an Widerstand innerhalb der niederländischen Gesellschaft, der 1943 in den April-Mai-Streik mündete. Mit dessen Niederschlagung setzte die dritte Phase ein, die von zunehmender Radikalisierung, Repression und Ausbeutung von Land und Leuten charakterisiert war. Die Abkehr von der relativ entgegenkommenden Grundhaltung der ersten Besatzungsphase, die Fortführung der Judendeportationen und die hemmungslose Anwendung von repressiven Methoden verbindet die dritte Phase zweifellos mit der zweiten Phase. Doch auch wenn der Unterschied zwischen beiden Besatzungsphasen eher graduellen als prinzipiellen Charakter hatte – der Streik vom April/Mai 1943 war so einschneidend, dass das Regime seitdem Repression noch exzessiver zur Richtschnur seiner Politik machte als bisher. In der letzten Phase, die angesichts des Vormarschs der alliierten Truppen zu einer Erosion und schließlich zum Zusammenbruch der deutschen Machtstellung führte, dominierten kaum kontrollierbare Plünderungen und Terror das Verhalten der Angehörigen des NS-Regimes in den Niederlanden. Der letzte große Streik, der im September 1944 begann, und der desaströse Hungerwinter, der unter der einheimischen Zivilbevölkerung Tausenden das Leben kostete, markieren Eckpunkte der Agoniephase der deutschen Besatzungsherrschaft. Diese vier Phasen müssen sich nicht notwendigerweise mit speziellen Politikbereichen decken: Arbeitsfelder der Zivilverwaltung wie Judenverfolgung, Wirtschaftspolitik oder der

3.1 Erste Phase: Werben für den Nationalsozialismus

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Umgang mit einheimischen Kollaborateuren hatten ihre eigenen ‚Konjunkturen‘, blieben aber trotzdem nicht unbeeinflusst von der allgemeinen Entwicklung des Verhältnisses zwischen Besatzungsverwaltung und der niederländischen Gesellschaft. In diesem Sinn bieten die genannten Phasen einen Rahmen für eine sinnvolle Strukturierung der Besatzungsgeschichte. Für die anschließende Analyse einzelner Politikfelder werden die grundlegenden Ereignisse und Entwicklungen, die für die einzelnen Phasen benannt werden, vorausgesetzt. Dabei lassen sich punktuelle Überschneidungen und Wiederholungen mit späteren Kapiteln nicht ausschließen. 3.1 Erste Phase: Werben für den Nationalsozialismus (Mai 1940 bis Februar 1941)

In der ersten Phase stand der Versuch im Mittelpunkt, die Bevölkerung des besetzten Landes für den Nationalsozialismus, zumindest aber für eine Akzeptanz der deutschen Besatzung während der Dauer des Krieges zu gewinnen. Seyß-Inquart lag daran, deutlich zu machen, dass sich die deutsche Herrschaft über die Niederlande qualitativ von der Besetzung Polens unterschied und das Regime ein Engagement der Niederländer zugunsten des Nationalsozialismus mit einer vergleichsweise wohlwollenden Besatzungspolitik und mit der Aussicht auf einen besonderen Platz beim Aufbau der ‚Neuen Ordnung‘ in Europa ‚belohnen‘ würde. Wie noch gezeigt wird, enthielt seine Amtsführung etliche Momente, die den Niederländerinnen und Niederländern als eine ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ präsentiert wurden. In einer Rede in Maastricht gab Seyß-Inquart im November 1940 zwar vor, gar nicht die Absicht zu haben, um die einheimische Bevölkerung zu werben. Doch im selben Atemzug verlieh er der Hoffnung – und damit auch der Aufforderung – Ausdruck, dass die Niederländer nach dem Vorbild des nationalsozialistischen Deutschlands „ein ganz fest gefügtes Gemeinschaftsvolk werden, bei dem die Ehre der Arbeit und auch die Ehre des Blutes im Vordergrund stehen.“2 Mit solchen Aussagen suggerierte er, dass das Reichskommissariat bereit sei, ein gewisses Maß an nationaler Eigenständigkeit zu tolerieren und zu respektieren, sofern die einheimische Bevölkerung genuin nationalsozialistische Grundsätze annehmen würde. Gleichzeitig aber implementierte die Besatzungsmacht von Anfang an Maßnahmen, die auf eine Gleichschaltung des besetzten Landes hinausliefen.3 Die erste Phase der Besatzungszeit war somit von einer strukturellen Doppelgleisigkeit gekennzeichnet: Das – letztlich vergebliche – Werben für den Nationalsozialismus lief parallel zu vielfältigen Bestrebungen, mit Druck und auch mit Zwang die Niederlande nach nationalsozialistischen Vorstellungen umzugestalten. Zu den Aktivitäten, mit denen der einheimischen Bevölkerung ein positives Bild von den deutschen Machthabern und ihren Absichten vermittelt werden sollte, zählten Wiederaufbauarbeiten, die über einen entsprechenden Fonds finanziert wurden.4 Am 20. April 1941 stellte 2 3 4

Zit. nach: DZN vom 24. November 1940. Siehe hierzu im Einzelnen Kap. 6. Der auch im Deutschen als Herstellingsfonds bezeichnete Wiederaufbaufonds wurde von Seyß-Inquart durch VO 21/1940 vom 21. Juni 1940 (in: VOBl. NL 1940, 52 f.) ins Leben gerufen. Zur Gründung

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Kapitel 3: Die Niederlande unter deutscher Besatzung

Seyß-Inquart anlässlich von Hitlers 52. Geburtstag beim Besuch des Luxor-Theaters in Rotterdam ausdrücklich einen Zusammenhang her zwischen der Aufgabe, die im Mai 1940 von der deutschen Luftwaffe schwer zerstörte Hafenstadt wiederaufzubauen, und dem Ziel des Großdeutschen Reiches, „nicht allein dem deutschen Volk, sondern darüber hinaus allen germanischen Völkern die Notwendigkeit einer fruchtbaren Zusammenarbeit darzulegen. Wenn wir die Niederländer auf diesem Wege unterstützen und sie mitzureissen suchen, so wissen wir, dass wir damit wertvolle Mitarbeit nach dem Willen des Führers leisten.“5 Aufmerksamen Beobachtern konnte nicht entgehen, dass der Wiederaufbaufonds unter anderem aus Etatposten des niederländischen Staatshaushalts gespeist wurde. So zählte Seyß-Inquart am 21. Juni 1940 bei seinem ersten Besuch in Rotterdam beispielsweise den niederländischen Beitrag zum Völkerbund zu jenen Beträgen, „die heute naturgemäss den Bezugsberechtigten nicht mehr zugeführt werden können“ und deshalb in den Wiederaufbaufonds eingezahlt würden. Wie schon in der Kapitulationsurkunde vom 15. Mai 19406 war bei Seyß-Inquart von einer Beteiligung des Deutschen Reiches am Wiederaufbau der Niederlande keine Rede. Aus Sicht der Sieger- und Besatzungsmacht handelte es sich um eine innerniederländische Angelegenheit, der der Reichskommissar in Rotterdam einen ideologischen Unterton verpasste – sollte doch seiner Meinung nach jede Unterstützungsmaßnahme der öffentlichen Hand dazu dienen, „allen Mitbürgern Beweise einer echten Volksgemeinschaft“ zu geben.7 Seyß-Inquart legte großen Wert darauf, dass Niederländer in die Planungen für den Wiederaufbau von Rotterdam einbezogen wurden. Er sprach sich sogar dafür aus, für diesen Zweck Niederländer in die Abteilung Siedlung und Bauten der für Finanzen und Wirtschaft zuständigen Behörde des Reichskommissariats aufzunehmen.8 Auch Unterstützungsleistungen von „bedürftigen niederländischen Staatsangehörigen“ durch die Stiftung Winterhilfe Niederlande, die Seyß-Inquart im Oktober 1940 nach dem Vorbild des Winterhilfswerks des Deutschen Volkes ins Leben rief,9 dienten dem Ziel, bei der niederländischen Bevölkerung Sympathien für das NS-System zu wecken. Das Gleiche galt für die Antrittsreisen, die Seyß-Inquart zwischen Juni und Anfang August 1940 durch die verschiedenen Provinzen des Landes unternahm. Sie wurden ebenso mit propagandistischen Mitteln begleitet wie die Kinderlandverschickungen in die Ostmark, die Seyß-Inquart ebenfalls bei seinem Besuch in Rotterdam am 21. Juni 1940 als einen „Akt gegenseitiger mensch-

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dieses Fonds’ siehe auch die propagandistischen Berichte in der Rheinischen Landeszeitung und in der Frankfurter Zeitung vom 23. Juni 1940. Seyß-Inquart zit. nach: DZN vom 21. April 1941. Vgl. auch den Bericht in De Nederlander vom selben Tag (NIOD, KA I 3408). Zum Wiederaufbau von Rotterdam vgl. Van der Pauw, Rotterdam in de Tweede Wereldoorlog und Roelofsz, De frustratie van een droom. Text auf Deutsch und Niederländisch bei Verzijl, De capitulatie (ohne Quellenangabe). Seyß-Inquart in der Wiedergabe durch die DZN vom 22. Juni 1940. Aktenvermerke von Walter Münster vom 6. und 15. Februar 1941, NIOD, 39/2216. Schon kurz nach der Kapitulation der niederländischen Armee wurde der neokalvinistische Politiker Jacob Adriaan de Wilde, in den Dreißigerjahren Innen- und Finanzminister unter Hendrik Colijn, zum Regierungskommissar für den Wiederaufbau von Rotterdam ernannt. VO 186/1940 vom 22. Oktober 1940, § 1, in: VOBl. NL 1940, 539.

3.1 Erste Phase: Werben für den Nationalsozialismus

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licher Hilfsbereitschaft“ ankündigte. Mit dieser Aktion bedankte er sich zugleich dafür, dass Niederländer nach dem Ersten Weltkrieg Tausende von ausgemergelten, hungernden Kindern aus Deutschland, Österreich und Ungarn aufgenommen, aufgepäppelt und materiell unterstützt hatten.10 In der Kinderlandverschickung von 1940 sah er offenbar einen Anknüpfungspunkt, der die Wunden des Fünf-Tage-Kriegs für die niederländische Bevölkerung erträglich machen sollte. Ein positives Signal sollte auch davon ausgehen, wenn der Reichskommissar der Speisung von bedürftigen Kindern in Rotterdam beiwohnte.11 Derartige Aktionen waren Ausdruck des Bemühens, die niederländische Gesellschaft von den vorgeblich wohlwollenden und fürsorglichen Intentionen des neuen Regimes überzeugen zu wollen. Um dies zu unterstreichen, erschien der Reichskommissar am 21. Juli 1940 auf dem Bahnhof von Rotterdam nicht in Uniform, sondern in Zivilkleidung, um niederländische Kinder ins Salzkammergut zu verabschieden, und die Worte, mit denen der „lächelnde, gemütliche Onkel“12 an diesem Morgen etwa 800 Kinder auf die Reise schickte, wurden von der Deutschen Zeitung in den Niederlanden als „einfach und schlicht“ bezeichnet, „Worte, die vom Herzen kamen und ihren Weg zum Herzen fanden.“13 Eine derartige Inszenierung und ihre aufwändige propagandistische Begleitung im Polygoon Hollands Nieuws und zahllosen Printmedien zielten auf eine Beruhigung der niederländischen Bevölkerung ab und sollten den gewaltsamen Charakter der deutschen Herrschaft, den der Fünf-Tage-Krieg und besonders die Bombardierung von Rotterdam hinterlassen hatten, relativieren oder gar vergessen lassen – zumindest bei denjenigen, die bereit waren, sich von den ‚Wohltaten‘ und der angeblichen Generosität des neuen Regimes ansprechen zu lassen.14 Parallel dazu bemühte sich Seyß-Inquart zu Beginn der ersten Besatzungsphase, Eliten der niederländischen Parteien für eine Mitarbeit am Aufbau der ‚Neuen Ordnung‘ zu gewinnen. Bei einem zweistündigen Gespräch, das er etwa Mitte Juni 1940 auf Vermittlung des Juristen Prof. Dr. Johannes van Loon mit dem mehrmaligen Premierminister Hendrikus (Hendrik) Colijn (1925/26 und 1933–1939) führte, war es ihm darum gegangen, „die Besten des niederländischen Volkes“ an die Seite Deutschlands zu binden.15 Auch wenn das Gespräch 10 Siehe Seyß-Inquarts Ausführungen in der DZN vom 22. Juni 1940. Zur Unterstützung von Kindern aus den ehemaligen Mittelmächten sowie aus Belgien durch Niederländer nach dem Ersten Weltkrieg siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 1, 60 f. 11 Siehe DZN vom 13. Januar 1941. 12 Van Liempt, „Zeg Trude, de Führer wil dat ik tulpen ga planten“. 13 DZN vom 22. Juli 1940. 14 Trotz der breiten Berichterstattung in den niederländischen Medien über die Verabschiedung der Kinder in Rotterdam durch den Reichskommissar war es schwierig gewesen, 6.000 Kinder im Alter zwischen acht und vierzehn Jahren für die Kinderlandverschickung zu gewinnen (De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/2, 610). Etliche Gemeinden verweigerten die Mitarbeit bzw. Teilnahme an dieser Aktion. Eine Gemeinde in Nordbrabant schob als Begründung für ihre ablehnende Haltung vor, dass eine Verschickung in die Ostmark überflüssig sei, weil es in ihrer eigenen Gemeinde „herrliche Tannenluft“ gebe (zit. nach Romijn, Burgemeesters, 147). 15 Zit. nach: Langeveld, Schipper naast God, Bd. 2, 252 mit Anm. 30 unter Berufung auf eine Mitteilung Van Loons vom Oktober 1952. Zu Seyß-Inquarts Gespräch mit Colijn siehe ebd., 524 ff. und Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 41 f. Zu Van Loon siehe die biografische Notiz in: Van Koppen/

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Kapitel 3: Die Niederlande unter deutscher Besatzung

mit dem Führer der konservativ-protestantischen ‚Antirevolutionären Partei‘ nicht zu einem greifbaren Ergebnis führte, war erkennbar, dass sich Seyß-Inquart das Prestige des angesehenen Politikers Colijn zunutze machen wollte, um die niederländische Bevölkerung von den vorgeblich guten Absichten der Besatzungsmacht zu überzeugen. Nach dem Scheitern des Versuchs, die traditionelle politische Elite des Landes für die eigenen Zwecke einzubinden, distanzierte er sich zwar von Colijn, indem er ihn Hitler gegenüber als „betonten Calvinisten“ diskreditierte, der „für nationalsozialistische Gedankengänge irgendwelcher Art nicht zu haben“ sei.16 Doch im Hinblick auf die positiv gemeinten Signale, die Seyß-Inquart in der „Phase der Versprechungen“17 der ersten Wochen und Monate nach seinem Amtsantritt aussendete, kann ihm nicht abgesprochen werden, eine „intelligente Zurückhaltung“ an den Tag gelegt zu haben.18 Eine erste Belastungsprobe für sein Verhältnis zur niederländischen Bevölkerung stellte der 29. Juni 1940 dar. An diesem Samstag brachten Tausende von Niederländerinnen und Niederländern aus Anlass des Geburtstags von Prinz Bernhard von Lippe-Biesterfeld, dem Gemahl von Kronprinzessin Juliana, ihre Ablehnung der deutschen Besatzung öffentlich zum Ausdruck, genau einen Monat nach Seyß-Inquarts Amtsantritt in Den Haag. Als Zeichen „symbolischen Widerstands“19 steckte man sich in verschiedenen Gemeinden des Landes demonstrativ weiße Nelken, die Lieblingsblume des Prinzen, an die Kleidung, und in Den Haag trug man sich am königlichen Schloss Noordeinde in Gratulationslisten ein, um dem Schwiegersohn von Königin Wilhelmina zu gratulieren und Loyalität gegenüber dem Königshaus im Exil zu manifestieren. Mit besonderer Aufmerksamkeit registrierte der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in den Niederlanden, Hans Emil Nockemann, in seinem Bericht über die Gesamtvorgänge des 29. Juni in Den Haag, dass es hier „zum ersten Mal zu gemeinsamen Hochrufen auf das Königshaus, zum Absingen der Nationalhymne und anschliessend zu vereinzelten und dann auch von mehr Personen übernommenen Schmähworten gegen Deutschland und auch den Führer“ kam, und zwar in Anwesenheit des Oberbefehlshabers der niederländischen Land- und Seestreitkräfte, General Henri Gerard Winkelman. Dabei hatte das Reichskommissariat im Vorfeld die niederländischen Behörden zu der Pressemitteilung gedrängt, „dass eine Beflaggung am 29.6. unerwünscht sei.“ Darüber hinaus war vom Reichskommissar festgelegt worden, „dass für diesen Tag nach Möglichkeit bei Zuwiderhandlungen hiergegen und bei sonstigen Ovationen für den Prinzen nicht exekutiv eingeschritten, das Verhalten der Bevölkerung jedoch beobachtet und Einzelvorkommnisse genau festgehal-

Ten Kate, De Hoge Raad in persoon, 139. Er wurde im Juli 1941 von Seyß-Inquart in den Obersten Gerichtshof des Landes, den ‚Hohen Rat der Niederlande‘, berufen, und zwar als Nachfolger von Lodewijk Ernst Visser, der aufgrund jüdischer Abstammung entlassen worden war. 16 Seyß-Inquart, 1. Bericht, 415. Ebd., 425 stellte er den Vorgang wahrheitswidrig auf den Kopf: Demnach habe es sich bei seinem Gespräch mit dem früheren niederländischen Premierminister um „den Versuch der System-Parteien“ gehandelt, „durch Colijn wieder Einfluß zu gewinnen […].“ 17 So die treffende Formulierung von Hoffmann, NS-Propaganda, 247. 18 Lademacher, Zwei ungleiche Nachbarn, 180 f. 19 Van Galen Last, The Netherlands, 193.

3.1 Erste Phase: Werben für den Nationalsozialismus

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ten werden sollten.“ Mit dieser Vorgehensweise wollte Seyß-Inquart – wie Nockemann nicht ohne kritischen Unterton in seinem Bericht unterstrich – sicherstellen, dass „der einmal befohlene Weg der grosszügigen Behandlung der besetzten Niederlande eingehalten“ werde.20 Für Seyß-Inquart wie auch für den deutschen Sicherheitsapparat kamen die Ereignisse des ‚Nelkentags’ überraschend. Zu diesem Zeitpunkt hielt sich der Reichskommissar in Begleitung von zwei hochrangigen politischen Beamten der deutschen Besatzungsverwaltung in Den Haag, der Generalkommissare Hanns Albin Rauter und Fritz Schmidt, gerade auf einer Inspektionsreise in den nördlichen Provinzen Friesland, Groningen, Drenthe und Overijssel auf. Für den Reichskommissar hatte der ‚Nelkentag‘ eine unangenehme Konsequenz: Seyß-Inquart wurde von Hitler, dem die antideutschen Demonstrationen vom 29. Juni wie ein Verrat des ‚germanischen Brudervolks‘ vorgekommen sein müssen, ins Führerhauptquartier einbestellt. Hitler „gab ihm hierbei sein Missfallen über diese Vorgänge kund.“21 Seyß-Inquart selber hat nach dem Krieg die Behauptung aufgestellt, dass sein Vortrag beim ‚Führer‘ am 1. Juli auf seine eigene Initiative zurückzuführen gewesen sei, nachdem ihm Hitlers Forderung übermittelt worden sei, er habe in Den Haag „sofort 200 Geiseln [,] darunter den Buergermeister [,] festzusetzen und der Stadt eine Busse von glaublich 5 Millio[nen] Fl[orins] aufzuerlegen. Der R[eichs]K[ommissar] verlangt[e] persoenlichen Vortrag vor Durchfuehrung der Massnahmen und flog am selben Tag ins Hauptquartier. Nach dem Vortrag ueberliess der Fuehrer die Angelegenheit dem R[eichs]K[ommissar], weder Geiseln wurden verhaftet noch eine Geldbusse auferlegt, nur der Buergermeister verabschiedet, der in aller Ruhe in Den Haag weiterverblieb.“22 Doch für all diese Behauptungen gibt es keine Belege. Weder lässt sich beweisen, dass Seyß-Inquart aus eigener Initiative zu Hitler geflogen ist, noch finden sich in den überlieferten Akten Spuren von Forderungen nach Geiselnahmen und der Verhängung eines hohen Bußgeldes – Forderungen, die in einer solch frühen Phase Hitlers eigenem Anliegen, die Niederländer durch eine entgegenkommende Haltung für den Nationalsozialismus zu gewinnen, völlig zuwider gelaufen wären. Schließlich trifft auch nicht zu, dass der Bürgermeister von Den Haag, Salomon Jean René de Monchy, „verabschiedet“ wurde und „in aller Ruhe“ in seiner Stadt verblieb. Er wurde vielmehr seines Amtes enthoben und drei Monate später im Konzentrationslager Buchenwald interniert.23 Noch unglaubwürdiger ist 20 Undatierter Bericht Nockemanns, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 38, 502 f. Tatsächlich hatte Seyß-Inquart seine Beauftragten im Vorfeld angehalten, nicht „unmittelbar polizeilich“ einzugreifen, sondern lediglich im Nachhinein den Generalkommissar zur besonderen Verwendung, Fritz Schmidt, zu informieren, wenn die niederländische Hymne gesungen würde. Siehe Piesbergens Protokoll vom 27. Juni 1940, NIOD, 14/146. Zum ‚Nelkentag‘ siehe Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 121 ff. 21 Aus einer Niederschrift des Auswärtigen Amtes, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Anm. 20 zu Dok. 38, 505 f. 22 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 113 f.; dieses Verteidigungspapier ist auf den 2. Oktober 1945 datiert. 23 Lenferink, Monchy. Peter Romijn weist darauf hin, dass die Entlassung De Monchys als Bürgermeister von Den Haag auf den ausdrücklichen Wunsch Seyß-Inquarts hin geschah (Burgemeesters, 152–154). De Monchy hatte schon dadurch den Unmut der Besatzungsmacht auf sich gezogen gehabt, dass er am 20. Mai 1940 vor dem Stadtrat einen Abschiedsbrief des jüdischen Stadtverordneten Michel Joëls verlesen

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eine These, die Seyß-Inquart im Sommer 1946 in Vorbereitung seiner Schlusserklärung vor dem Internationalen Militärgerichtshof entwickelte: Demnach war bei dem Treffen mit Hitler eine Annexion der Niederlande durch das Reich in Erwägung gezogen worden.24 Ein derart radikaler Kurswechsel, der nach nur einem Monat dem Reichskommissariat und der ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ den Garaus gemacht hätte, wäre zu diesem Zeitpunkt kaum zu vermitteln gewesen. Er konnte nicht im Interesse der Reichsführung gelegen haben. Wahrscheinlich ist immerhin, dass Hitler von seinem Stellvertreter in den Niederlanden ein härteres Auftreten forderte, um eine denkbare Wiederholung antideutscher Demonstrationen unmöglich zu machen. Tatsächlich war die Reaktion des Reichskommissariats unmissverständlich.25 Zu den Maßnahmen, mit denen die Besatzungsmacht die öffentliche ‚Ordnung‘ in der Haager Innenstadt wiederherstellen wollte, gehörte neben der Entlassung des Bürgermeisters die Schließung von Schloss Noordeinde. Die umliegenden Straßen wurden abgeriegelt, die Gratulationslisten eingezogen. Der Initiator dieser Aktion, Hofmarschall Albert Dominicus Laman Trip, wurde in das Drenther Städtchen Assen verbannt und verpflichtet, sich täglich bei der örtlichen Polizei zu melden. Das Reichskommissariat ergriff auch gleich die Gelegenheit beim Schopf, General Winkelman, der sich in Noordeinde in die ausgelegten Listen eingetragen hatte, zu verhaften und – wie sich Seyß-Inquart ausdrückte – „sang- und klanglos in die Kriegsgefangenschaft“ abzuführen.26 Denn der frühere Oberbefehlshaber der niederländischen Streitkräfte hatte sich sehr zum Ärger von Wehrmacht und deutscher Zivilverwaltung einer Mitarbeit der niederländischen Industrie an der Rüstungswirtschaft des Großdeutschen Reiches hartnäckig in den Weg gestellt. Beim Reichskommissar hatte er sich darüber hinaus dadurch unbeliebt gemacht, dass er zwei Tage vor dem ‚Nelkentag‘ in einem Brief an die niederländische Presse27 die deutsche Luftwaffe für die Zerstörung von Rotterdam am 14. Mai verantwortlich gemacht und sich damit öffentlich gegen Seyß-Inquart gestellt hatte – hatte der Reichskommissar doch bei seinem Besuch in Rotterdam am 21. Juni „das tragische Ereignis“ in propagandistischer Einseitigkeit „den niederländischen Kommando­ stellen“ und „der englandhörigen ehemaligen niederländischen Regierung“ in die Schuhe geschoben.28 Um für die Zukunft prooranische Manifestationen und andere oppositionelle Aktivitäten auszuschließen, stellte Seyß-Inquart am 26. Juli 1940 in einer Rede vor der NSDAP in Den Haag klar, dass es sich die Besatzungsmacht hinfort nicht werde bieten lassen, „daß Kundgebungen irgendwelcher Art für eine Persönlichkeit veranstaltet werden, die sich in den Reihen

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hatte, der sich kurz zuvor das Leben genommen hatte. Die Ansprache des Bürgermeisters ist in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Happe/Mayer/Peers (Bearb.), West- und Nordeuropa, Dok. 30, 150–152. Laut seinen Schlussausfuehrungen (Bl. 46) war es damals im Führerhauptquartier um „die Uebernahme der gesamten Verwaltung der Niederlande durch deutsche Organe“ gegangen. Vgl. Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 123–125. Aus dem Kriegstagebuch der Rüstungsinspektion Niederlande zum 30. September 1942, zit. nach: Meihuizen, Noodzakelijk kwaad, 107. NL-HaNA, 2.13.91/355. Frankfurter Zeitung vom 23. Juni 1940. Siehe auch DZN vom 22. Juni 1940.

3.2 Zweite Phase: Verhärtung

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der Feinde befindet – selbst wenn es die Königin des Landes ist.“29 Und nur drei Tage nach dem erwähnten Gespräch mit Hitler erließ der Reichskommissar eine Verordnung, die es der Besatzungsverwaltung erlaubte, das Vermögen von Personen oder Vereinigungen einzuziehen, die nach deutscher Lesart „deutsch- oder reichsfeindliche Bestrebungen“ förderten. Vereinigungen, die von einer solchen Maßnahme betroffen waren, wurden bei der Gelegenheit automatisch für aufgelöst erklärt.30 Die Drohungen und Maßnahmen, mit denen die Besatzungsverwaltung nicht ohne Improvisation auf die Herausforderung reagierte, die die Demonstrationen des ‚Nelkentags‘ darstellten, blieben nicht ohne Effekt: Am Geburtstag von Königin Wilhelmina, dem 31. August, blieb es relativ ruhig im Lande. Der Großteil der Bevölkerung nahm in der Folgezeit eine abwartende Haltung ein und versuchte, sich mit den neuen Verhältnissen nolens volens zu arrangieren. Trotz der unzweideutigen Reaktion auf den ‚Nelkentag‘ bewegte sich das Reichskommissariat immer noch im Rahmen der Grundlinien, die entsprechend der Erwartungen Hitlers maßgeblich sein sollten für die deutsche Besatzungspolitik: Das Werben um Mitarbeit der niederländischen Bevölkerung am Aufbau einer nazifizierten Gesellschaftsordnung schloss Maßnahmen, die der Wahrung von „Reichsinteressen“ dienten, keineswegs aus.31 Obwohl der ‚Nelkentag‘ erstmals in einem größeren Rahmen zu erkennen gegeben hatte, dass die deutsche Besatzung mit Widerspruch zu rechnen hatte, wurden die Ereignisse vom 29. Juni 1940 nicht zum Anlass genommen, die Erwartung einer Selbstnazifizierung der Niederlande ad acta zu legen. 3.2 Zweite Phase: Verhärtung (Februar 1941 bis März 1943)

Dies gilt bemerkenswerterweise auch für die zweite Phase, die in vielerlei Hinsichten eine Verschärfung und Verhärtung der Besatzungspolitik mit sich brachte. Sie war von der brutalen Niederschlagung von organisiertem Widerstand und jeglicher Form von Widersetzlichkeit, von der Intensivierung der Verfolgung und Deportation der jüdischen Bevölkerung, von der Forcierung einer wirtschaftlichen Anbindung der Niederlande an das Deutsche Reich und von der verstärkten Einbindung der einheimischen Bevölkerung in die Kriegsführung in Osteuropa und in die deutsche Rüstungsproduktion gekennzeichnet. Außerdem wurden in dieser Phase vermehrt Angehörige der wichtigsten Kollaborationspartei, der Nationaal-Socialistische Beweging (NSB), in einflussreiche Positionen gehievt; ab Dezember 1941 war die ‚Nationalsozialistische Bewegung‘ sogar die einzige politische Partei in den Niederlanden, die vom NS-Regime noch zugelassen war. War die erste Phase der Besatzungspolitik von einer abwartenden bis scheinbar entgegenkommenden Haltung des Reichskommissariats gegenüber der niederländischen Bevölkerung gekennzeichnet, traten in der zweiten Phase Repression 29 Seyß-Inquart, Versammlung der AO der NSDAP, 23. Das Manuskript befindet sich in: NIOD, 1/11. 30 VO 33/1940 vom 4. Juli 1940, in: VOBl. NL 1940, 128–31, hier §§ 1 und 5. 31 Vgl. hierzu im Detail Kap. 5.1 und 6.1.

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und eine verschärfte Gangart bei der Gleichschaltung und Nazifizierung von oben in den Vordergrund. Die zweite Phase begann mit dem Februarstreik 1941.32 Dieser war zwar nicht der erste Zusammenstoß zwischen Anhängern und Gegnern der nationalsozialistischen Besatzung des Landes.33 In seinem Ausmaß und in seinen Folgen aber war der Streik derart herausragend, dass mit ihm ein neues Kapitel in der Besatzungsgeschichte aufgeschlagen wurde. Von keiner Seite geplant, war er das Ergebnis einer bis dahin beispiellosen Eskalation der Gewalt. Die Stimmung war zu diesem Zeitpunkt schon dadurch angespannt, dass von Seiten der Besatzungsmacht verstärkt Druck auf niederländische Arbeiter ausgeübt worden war, zum Arbeitsdienst nach Deutschland zu gehen.34 Primär ausgelöst aber wurde der Februarstreik dadurch, dass deutsche und niederländische Nationalsozialisten das Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung verschärften. Zunächst führten gezielte Provokationen der jüdischen Bevölkerung, Schlägereien sowie die Plünderung und Zerstörung von jüdischem Eigentum durch Mitglieder der ‚Wehrabteilung‘ (WA) der NSB und der ‚Sturmabteilung‘ der ‚Nationalsozialistischen Niederländischen Arbeiterpartei‘ unter Beteiligung von deutschen Nationalsozialisten zu gewaltsamen Ausschreitungen. Dabei wurde im Amsterdamer Judenviertel ein WA-Mann so schwer verwundet, dass er bald darauf verstarb. Dass dann auch noch aus dem Eissalon Koco in der Van Woustraat der deutsch-jüdischen Flüchtlinge Ernst I. Cahn und Alfred Kohn heraus die deutsche Ordnungspolizei mit Ammoniakgas angegriffen wurde, nahm Himmler sofort zum Anlass, die Verhaftung von 425 männlichen Juden bis zum Alter von 35 Jahren zu fordern. Tatsächlich wurden am 22. und 23. Februar 1941 bei den ersten Razzien, die das NS-Regime in den Niederlanden durchführte, weit über 400 jüdische Männer festgenommen. 389 von ihnen wurden über das Polizeiliche Durchgangslager Schoorl (Provinz Nordholland) nach Buchenwald deportiert. Von hier aus wurden 340 Juden später weiter nach Mauthausen gebracht, wo alle Opfer aus Amsterdam ums Leben kamen. 35 Als Antwort auf die Razzien und die Verhaftung der betroffenen Juden wiederum rief die illegalisierte Kommunistische Partei zu einem Generalstreik auf. Ihm schlossen sich am 25. und 26. Februar von Amsterdam ausgehend in etlichen Landesteilen auch viele nichtkommunistische Niederländer an. Damit wurde deutlich, dass die vom Reichskommissariat gewünschte Selbstnazifizierung der niederländischen Bevölkerung nichts als eine Schimäre war. Denn der Februarstreik war „sowohl ein Protest gegen die deutschen antijüdischen Maßnahmen wie 32 Nach wie vor grundlegend: Sijes, De Februari-staking. Siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/2, Kap. 18. 33 Siehe hierzu Romijn, Burgemeesters, 218 ff. Zum Februarstreik siehe auch Moore, Slachtoffers en overlevenden, 85 ff. 34 Klemann, Nederland 1938–1948, 573. 35 Hirschfeld, Niederlande, 141. Aus der Gruppe der im Februar 1941 verhafteten Juden hat nur ein Einziger den Krieg überlebt: Max Nebig entging dem Transport nach Mauthausen, er konnte bis zur Befreiung des Lagers in der Buchenwalder Krankenbaracke versteckt werden. Vgl. die Mitteilung seines ehemaligen Mithäftlings Eugen Kogon (Der SS-Staat, 165) sowie Hackett (Hrsg.), Der Buchenwald-Report, 248. Zum Schicksal der nach Mauthausen deportierten Juden siehe auch Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 207.

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gegen die deutsche Gewaltherrschaft im Allgemeinen […], ein Protest, der von vielen gesellschaftlichen Gruppen unterstützt wurde.“36 Mit der brutalen Niederschlagung des Streiks durch bewaffnete Sicherheitskräfte änderte sich die deutsche Besatzungspolitik qualitativ: Sie nahm einen repressiven Charakter an; das Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung war fortan von der Bereitschaft zur Ergreifung von radikalen Maßnahmen getragen. Die unmittelbare Bilanz sprach in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache: Neben der erwähnten Deportation der 389 Juden waren mehrere Tote und Verletzte zu beklagen; zahlreiche Mitglieder der Kommunistischen Partei und Gewerkschaftsführer wurden verhaftet und zum Tod oder zu langen Freiheitsstrafen verurteilt; den Gemeinden Amsterdam, Zaandam und Hilversum wurden von Rauter, der neben seinem Amt des Generalkommissars für das Sicherheitswesen auch das Amt des Höheren SS- und Polizeiführers bekleidete, „aufgrund einer Ermächtigung des Reichskommissars“ und „im Einvernehmen mit dem Wehrmachtbefehlshaber“37 hohe Geldbußen auferlegt, die amtierenden Bürgermeister wurden durch Kollaborateure ersetzt; in Amsterdam wurde das Kollegium des Bürgermeisters und der Beigeordneten abgesetzt und damit die amtierende Regierung der niederländischen Hauptstadt beseitigt; der Korpschef der dortigen Polizei, Hendrik Johan Versteeg, wurde seines Amtes enthoben, an seine Stelle trat das NSB-Mitglied Sybren Tulp.38 Außerdem nutzte das Regime die Gelegenheit, demonstrativ gegen Widerstandsbewegungen vorzugehen: Wie Seyß-Inquart Anfang März der Reichskanzlei mitteilte, waren am Tag zuvor vom Kriegsgericht 18 Todesurteile gegen Mitglieder der Organisation De Geuzen gefällt worden, die schon 1940 verhaftet worden waren. Nachdem der Wehrmachtbefehlshaber, General der Flieger Friedrich Christiansen, drei Personen unter 20 Jahren zu lebenslangen Zuchthausstrafen begnadigt hatte, wurden 15 von ihnen zusammen mit drei Teilnehmern des Februarstreiks in den Dünen der Waalsdorpervlakte – knapp zwei Kilometer von Seyß-Inquarts Residenz Clingendael entfernt – exekutiert.39 Dieses Ereignis stellte die erste Massenexekution niederländischer Staatsbürger durch die Besatzungsmacht dar. Seyß-Inquart geriet durch den Februarstreik enorm unter Druck. Dass ausgerechnet die ‚germanische‘ Bevölkerung in ‚seinen‘ Niederlanden derart demonstrativ gegen das NS-Regime aufbegehrt hatte, war mit seinem ideologischen Selbstverständnis nicht zu vereinbaren und erschwerte seine Position innerhalb des Machtgefüges des Großdeutschen Reiches. Die Ereignisse vom Februar 1941 trafen ihn denn auch unvorbereitet. Wesentlich mehr als der ‚Nelkentag‘ führten sie schlagartig vor Augen, dass das Ziel, die Niederländer für den Na36 Moore, Slachtoffers en overlevenden, 93. 37 Rauter an den Wehrmachtbefehlshaber in den Niederlanden – I a [Erster Generalstabsoffizier] vom 4. März 1941, in: Sijes, De Februari-staking, Anlage II, 213. Demnach betrug die „Sühneleistung“ für Amsterdam 15 Millionen, für Hilversum 2,5 Millionen und für Zaandam 500.000 Gulden. Zu Bußgeldern gegen niederländische Kommunen als Vergeltung für Sabotageakte siehe auch Aalders, Geraubt!, 54. 38 Romijn, Burgemeesters, 236 f. und Moore, Nazi masters and accommodating Dutch bureaucrats, 191–194. 39 Fernschreiben Seyß-Inquarts an Lammers vom 5. März 1941, BArch, R 43 II/675, Bl. 60 und Aktenvermerk der Reichskanzlei vom 22. April 1941, ebd., Bl. 61. Die Bezeichnung De Geuzen verweist auf jene Niederländer, die während des Achtzigjährigen Krieges (1568–1648) für die Unabhängigkeit ihres Landes von der Herrschaft des Hauses Habsburg gekämpft hatten.

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tionalsozialismus zu gewinnen, nicht so leicht zu erreichen war wie ursprünglich gedacht. Nicht zuletzt der Reichsführung musste Seyß-Inquart nun seine Eignung für das Amt des Reichskommissars unter Beweis stellen. Dies war keine leichte Aufgabe. Denn ein führender NS-Politiker wie Joseph Goebbels stichelte hinter den Kulissen mit der Einschätzung, Seyß-Inquart sei „kein echter Nazi“, sondern „ein Ostmärker“, dem es in einer solchen Situation an Durchsetzungsvermögen mangle.40 Andererseits schloss Hitlers Auftrag, die niederländische Bevölkerung zum Nationalsozialismus zu führen, eine ausschließlich auf Repression basierende Besatzungspolitik geradezu aus. In dieser Hinsicht brachte der Februarstreik zum ersten Mal den politischen Spagat zum Ausdruck, der von Anfang an im Amt des Reichskommissars angelegt war: Die Aufgabe, die „Reichsinteressen“ zu wahren, und das Ziel, die einheimische Gesellschaft zur Selbstnazifizierung zu bringen, gerieten in Widerstreit. Dass diese beiden Aspekte „im Einzelfall nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen“ sein könnten, hatte Seyß-Inquart übrigens zu Beginn seiner Amtszeit Hitler gegenüber ausdrücklich mit der folgenden Begründung vor Augen zu führen versucht: „[…] das Interesse der Besatzungsmacht verlangt die weitgehende Unterbindung aller möglichen öffentlichen Betätigungsformen, die Weckung und Lenkung der politischen Willensbildung erfordert hingegen die Gewährung solcher Freiheiten, die das schließliche Ergebnis für die Niederländer zu einer eigenen Entscheidung machen.“41 Angesichts der hohen Erwartungen, die in Berlin an ihn gestellt wurden, befand sich Seyß-Inquart im Februar 1941 in einer ernsthaften Bewährungsprobe. In der gegebenen Situation blieb ihm keine andere Wahl, als in Übereinstimmung mit Himmler das harte Auftreten der Sicherheitsorgane zu unterstützen. Von Wien aus, wo er sich zum Zeitpunkt des Streiks aufhielt, schloss sich der Reichskommissar telefonisch Rauters Auffassung an, „dass […] man den Juden Cohn [sic] hängen soll“,42 und alle Maßnahmen, mit denen der Februarstreik gewaltsam niedergeschlagen wurde, waren von ihm gedeckt. Aus seiner Perspektive handelte es sich beim Februarstreik um „Umtriebe, die gegen die öffentliche Ordnung und die Sicherheit des öffentlichen Lebens“ gerichtet gewesen und von Juden und der westlich orientierten Intelligenzschicht des Landes angezettelt worden seien. Wie er in seiner Rede vom 12. März 1941 in der Amsterdamer Philharmonie, dem Concertgebouw, erläuterte, sollte die Niederschlagung des Februarstreiks der niederländischen Bevölkerung die Entschlossenheit der Besatzungsmacht zu hartem Auftreten vor Augen führen. Die Niederländer mussten sich aufgerufen fühlen, Konsequenzen für ihr zukünftiges Verhalten gegenüber den Deutschen zu 40 Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 9, 159 und 161 (26. und 27. Februar 1941). Siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/2, 934. 41 Seyß-Inquart, 1. Bericht, 413. 42 So der Bericht von Rauter an Himmler vom 20. Februar 1941, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 61, 547 f. Tatsächlich wurde Cahn nach einem Schnellprozess vor dem SS- und Polizeigericht in Den Haag am 3. März auf der Waalsdorpervlakte hingerichtet; seine Erschießung stellte die erste Hinrichtung durch die NS-Besatzung in den Niederlanden dar. Kohn wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, verstarb jedoch bald. Insgesamt sollten während der Besatzungszeit auf der Waalsdorpervlakte über 250 Menschen hingerichtet werden, die meistens zuvor im Scheveninger Gefängnis Oranjehotel interniert gewesen waren; vgl. Van der Boom, Den Haag: de Waalsdorpervlakte, 124 f.

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ziehen. Denn der Reichskommissar hegte die Hoffnung, „daß das niederländische Volk aus den Erfahrungen der letzten Tage gelernt hat, wie unerbittlich die Besatzungsmacht ihre Aufgabe zu erfüllen und ihr Recht zu wahren weiß.“ Vor allem an die Beamten, Angestellten und Vertreter der Medien, die maßgeblich den Februarstreik getragen hatten, war die Warnung gerichtet, man solle sich nicht noch einmal an einem Streik beteiligen oder zu einem Streik aufrufen.43 Ganz in diesem Sinn ordnete Seyß-Inquart denn auch in einem Rundschreiben die fristlose Entlassung, zumindest aber Lohn- oder Gehaltskürzungen aller Angehörigen des öffentlichen Dienstes an, „die zu dem Streik mittelbar oder unmittelbar aufgefordert“ oder hieran teilgenommen hatten.44 Dabei blieb es freilich nicht. Eine ganze Reihe von Maßnahmen diente dazu, die Wiederholung eines Streiks auszuschließen. So legte Seyß-Inquart nach dem Februarstreik die Intelligenzschicht des Landes an die Kandare. Aus ihren Reihen war schon vor dem Februarstreik Unzufriedenheit mit der deutschen Besatzungspolitik im Allgemeinen und der Judenverfolgung im Besonderen artikuliert worden. Im September 1940 hatte der scheidende Rektor der Universität Amsterdam, der Medizinprofessor Dr. Johannes Jacobus van Loghem, in seiner Abschiedsrede gegen den Faschismus Stellung bezogen und sich geradezu demonstrativ auf den jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza berufen, und zwar auf den fünften Teil von dessen Ethica, Ordine Geometrico demonstrata, deren Überschrift De Potentia Intellectus, Seu De Libertate Humana als ein Bekenntnis zur humanistischen, aufklärerischen Tradition westeuropäischer Geistesgeschichte verstanden werden konnte und sollte.45 Zur Verärgerung der Besatzungsmacht trug auch der liberale Völkerrechtler Benjamin Marius Telders bei. Er legte dar, dass die Einführung einer Ariererklärung an den Hochschulen im Widerspruch zu Arti43 Seyß-Inquart, Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [12. März 1941], 37 f. Obwohl auf einer Parteiversammlung des NSDAP-Kreises Nordholland gehalten, zielte die Rede auf eine breite Rezeption unter der niederländischen Bevölkerung. Sie wurde nicht nur als Broschüre auf Deutsch publiziert (Seyß-Inquart, Rede des Reichskommissars) und in der DZN vom 13. März 1941 (BArch, R 8034/III-443, Bl. 52) abgedruckt, sondern auch in einer niederländischen Übersetzung veröffentlicht (Seyß-Inquart, Rede van den Rijkscommissaris) und in Zeitungen wie Het Vaderland. Staat- en Letterkundig Nieuwsblad (Morgenausgabe vom 13. März 1941) wiedergegeben. Seyß-Inquart selber hielt sie für so wichtig, dass er sie 1944 in die publizierte Sammlung seiner Reden aufnahm (Vier Jahre in den Niederlanden, 33–66). Für Reaktionen der niederländischen Presse auf Seyß-Inquarts Rede vom 12. März 1941 siehe DZN vom 14. März 1941 sowie die Presseausschnittsammlung in NIOD, KA I 3410. Das Parteiblatt der NSB sah in der Ansprache des Reichskommissars „eine magistrale Rede über den Platz des niederländischen Volkes im neuen Europa und über die heutige Entwicklung auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet.“ (Volk en Vaderland vom 21. April 1941, BArch, R 4902/1499) Die Mitarbeiter des Reichskommissariats wurden übrigens kostenlos mit einem Sonderzug von Den Haag nach Amsterdam gebracht, damit sie als „Gefolgschaftsmitglieder des Reichskommissars geschlossen von der ihnen gegebenen Möglichkeit, den Herrn Reichskommissar zu hören, Gebrauch machen“ konnten (Rundschreiben vom 11. März 1941, NIOD, 14/112). 44 Rundschreiben vom 25. März 1941 an die Generalsekretäre, die höchsten Beamten der niederländischen Ministerien, NL-HaNA, 2.14.08/157. Allein in Amsterdam wurden nach dem Februarstreik 74 Beamte entlassen; siehe Romijn, Burgemeesters, 237. 45 Siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/2, 787 mit Quellenbeleg. Die Ethica erschien in Spinozas Todesjahr 1677.

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kel 43 der Haager Landkriegsordnung stand und nach niederländischem Recht ausschließlich die Krone befugt war, Entlassungen auszusprechen.46 Zusammen mit dem Rechtsprofessor und früheren Rektor der Universität Amsterdam Dr. Paul Scholten verfasste Telders einen Protestbrief an Seyß-Inquart, der von etwa der Hälfte der Hochschullehrer des Landes unterzeichnet wurde. Der ebenfalls in Leiden lehrende Rechtsprofessor Dr. Rudolph Cleveringa hatte am 26. November 1940 vor der Juristischen Fakultät die Entlassung jüdischer Kollegen ausdrücklich als Unrecht bezeichnet,47 und im selben Zeitraum begannen Studierende aus Protest gegen die ‚Säuberungen‘ an verschiedenen Hochschulen wie der Technischen Hochschule in Delft und der Reichsuniversität Leiden zu streiken. Die Reaktion der Besatzungsmacht war hart: Die betroffenen Hochschulen wurden zeitweilig geschlossen, Hochschullehrer, die gegen die deutschen Maßnahmen Stellung bezogen hatten, entlassen.48 Nach dem Februarstreik beließ es Seyß-Inquart nicht bei anlassbezogenen ‚Antworten‘ auf Proteste von niederländischen Studierenden und Lehrenden. Nun intensivierte und systematisierte er den Zugriff auf die Intelligenzschicht des besetzten Landes. Mit der Verordnung über die Verwaltung der Universitäten und Hochschulen49 unterwarf der Reichskommissar die Leitung der niederländischen Hochschulen stärker staatlicher Kontrolle und führte in Übereinstimmung mit dem nationalsozialistischen Führerprinzip hierarchische Strukturen ein. So wurde der höchste Beamte im niederländischen Ministerium für Erziehung, Wissenschaft und Kulturverwaltung, Generalsekretär Dr. Jan van Dam, ermächtigt, an den Hochschulen Kuratoren zu ernennen (und gegebenenfalls zu entlassen), die seiner Aufsicht unterstellt wurden und verpflichtet waren, die Befehle, Anweisungen und Vorschriften des Generalsekretärs „unverzüglich zu befolgen“ (§ 4). Auch bestellte und entließ der Generalsekretär nach Anhörung des zuständigen Kurators das vierköpfige Kuratorium, das ihm als Beratungsorgan zur Seite gestellt wurde.50 Dies alles geschah unter der politischen Aufsicht des Reichskommissars, 46 Art. 43 der Haager Landkriegsordnung verpflichtete eine Besatzungsmacht, alle Vorkehrungen zu treffen, „um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze.“ Zit. nach der Ausgabe Laun (Hrsg.), Die Haager Landkriegsordnung, 89. 47 Rede van Prof. Dr. Cleveringa, namens de Juridische Faculteit als decaan gehouden naar aanleiding van het ontslag van Prof. Mr. E. M. Meyers als Hoogleeraar aan de Rijksuniversiteit te Leiden op dinsdag 26 nov[ember] 1940, NIOD, Coll. Illegale pamfletten en brochures, 28.2 (Mikrofiche 68). 48 Zu den Protesten von Hochschullehrern und Studenten gegen die Judenverfolgung und den Folgen siehe Hirschfeld, Die Universität Leiden unter dem Nationalsozialismus, 573 ff., Knegtmans, Die Universität von Amsterdam, 80, Sinke, Loyaliteit in verdrukking, Kap. 3 und 4 sowie De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/2, 786–803. 49 VO 153/1941 vom 13. August 1941, in: VOBl. NL 1941, 653 f. In weiteren Verordnungen wurden diese Bestimmungen auf immer mehr Hochschulen angewendet. Siehe VO 163/1941 vom 22. August 1941 (ebd., 693 f.) und VO 214/1941 vom 22. November 1941 (ebd., 920 f.). 50 Zur Verhinderung zukünftiger Protestaktionen an den niederländischen Hochschulen hatte Generalsekretär Van Dam bereits am 26. März 1941 die Rektoren ermächtigt und beauftragt, Studenten „bei der Übertretung der Ordnung oder im Falle eines sonstigen schlechten Betragens“ zu verwarnen oder „in Fällen ernstlicher Art“ ein siebentägiges Hausverbot auszusprechen (VO 62/1941, in: ebd., 218–220), und am 10. März 1943 wurden die Vorsitzenden Kuratoren von ihm ermahnt und zugleich ermächtigt, Handlungen oder Äußerungen zu verhindern, zu melden oder in begrenztem Rahmen zu ahnden, die

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der sich über das niederländische Generalsekretariat ein unmittelbares Zugriffsrecht auf die Universitäten des Landes sicherte. Die Mitarbeiter des Reichskommissariats, die Angehörigen der Sicherheitsbehörden sowie alle deutschen Parteigenossen in den Niederlanden forderte Seyß-Inquart im Mai 1941 zu energischem Einschreiten für den Fall auf, „daß seitens einzelner Niederländer Beschimpfungen gegen die hier im Lande tätigen Deutschen, vor allem aber auch gegen den Führer z. B. durch Nachrufen solcher Schimpfworte usw. vorkommen.“ Sogar die Anwendung von Gewalt war mitunter gerechtfertigt und von ihm gedeckt: „Sollte es sich um eine Beleidigung des Führers handeln, so werde ich mich vor jeden stellen, der in Ahndung einer solchen Beleidigung von der Waffe Gebrauch macht.“51 Da der Reichskommissar keine näheren rechtlichen Spezifizierungen vornahm, war in der Anwendung seiner Anweisung vom 8. Mai 1941 Willkür Tür und Tor geöffnet – seine Anweisung konnte geradezu als ein Beitrag zur Schaffung eines rechtsfreien Raumes gelesen werden. Dem Brechen von Widerstand war auch die Verordnung geschuldet, mit der sich Seyß-Inquart am 19. März die Selbstermächtigung erteilte, das sogenannte Verwaltungsstandrecht einzuführen, und zwar dann, wenn er es „zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und der Sicherheit des öffentlichen Lebens für notwendig“ hielt. Zu diesem Zweck gab der Reichskommissar in Verordnung 55/194152 den „Befehl“ aus, „dass sich jedermann von allen Umtrieben, die die öffentliche Ordnung und die Sicherheit des öffentlichen Lebens zu stören oder zu gefährden geeignet sind, zu enthalten und den besonderen Anordnungen des Reichskommissars zu fügen hat […].“ (§ 1) Zuwiderhandlungen konnten mit dem Tod durch Erschießen, „in leichteren Fällen“ mit mindestens zehn Jahren Zuchthaus geahndet werden (§§ 7 und 8). Für die Aburteilung war das Deutsche Obergericht zuständig; in seiner Rechtsprechung hatte es sich nach den „im Altreich geltenden Vorschriften über das Verfahren vor den Sondergerichten“ zu richten (§ 8). Für die Betroffenen verhieß das nichts Gutes: Die Träger zukünftiger Widerstandsaktionen durften nicht auf rechtsstaatliche Mindeststandards rechnen. Im selben Augenblick höhlte Seyß-Inquart das demokratische Repräsentativsystem der Niederlande aus. Denn für den Fall der Verhängung des Verwaltungsstandrechts konnte er laut Verordnung 55/1941 die Tätigkeiten „aller Vertretungskörperschaften sowie aller kollegial beschliessenden Verwaltungsausschüsse öffentlichrechtlicher Art“ außer Kraft setzen; die Befugnisse dieser Gremien gingen dann auf Exekutivorgane wie den Provinzkommissar, den Bürgermeister oder den Deichgrafen über (§ 5). Damit sprach der Reichskommissar der niederländischen Exekutive, die allerdings vollständig der Aufsicht seiner Behörde unterstand, weitreichende Vollmachten zu; gleichzeitig wurden die traditionellen legislativen Körperschaften ausgehebelt. Durch das Verwaltungsstandrecht konnte „auf das Prinzip der Einmann„gegen die öffentliche Ordnung“ gerichtet seien (VO 28/1943, § 1, in: VOBl. NL 1943, 128). Zugleich wurden in dieser Verordnung Bestimmungen von VO 62/1941 verschärft. 51 Anweisung des Reichskommissars vom 8. Mai 1941, Abschriften in NIOD, 14/113 und 39/2297. 52 VOBl. NL 1941, 190–193. Ersetzt wurde die Verordnung durch die Ordnungsschutzverordnung 1943 (VO 1/1943) vom 5. Januar 1943, abgedruckt in: VOBl. NL 1943, 1–39.

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führung umgestellt“ werden, das der Leiter der Abteilung Rechtsetzung und Staatsrecht des Reichskommissariats, Dr. Dr. Kurt O. Rabl, als probates Mittel ansah, um „eine weitgehend befehlsmäßig-autoritäre Straffung des Verwaltungsapparats unter Ausschaltung aller parlamentarisch-demokratischen Hemmnisse“ zu erreichen.53 Nach Verordnung 55/1941 waren die Besatzungsbehörden nicht einmal an die bestehende Rechtsordnung gebunden. Denn sowohl der Höhere SS- und Polizeiführer (HSSuPF), der mit den polizeilichen Aspekten der Durchführung der Verordnung beauftragt wurde, als auch ein Sonderbeauftragter, dem der Reichskommissar bei der Verhängung des Verwaltungsstandrechts „die gesamte öffentliche Verwaltung nichtpolizeilicher Art“ übertrug, wurden eigens ermächtigt, vom geltenden Recht abzuweichen (§§ 3 und 4). Durch den Verordnungstext war nicht einmal die Möglichkeit ausgeschlossen, dass der HSSuPF zugleich die Funktion des Sonderbeauftragten wahrnahm; Rabl hielt eine Personalunion bei der Durchführung des Verwaltungsstandrechts sogar für empfehlenswert, da dann „die gesamten Machtmittel der Zivilverwaltung von einem Punkte her“ eingesetzt werden könnten.54 Genau zwei Monate später erließ der Reichskommissar zwei weitere Verordnungen, die zukünftige Widerstandsaktionen im Keim ersticken sollten. In Verordnung 94/194155 bestimmte er am 19. Mai zur Sicherung des Arbeitsfriedens, dass die Teilnahme an einem Streik mit Gefängnis von mindestens einem Jahr bis hin zur Hinrichtung bestraft werden konnte. Diese drakonischen Strafen drohten nicht nur Arbeitnehmern. Auch Arbeitgeber, die aus nichtwirtschaftlichen Gründen – also im Rahmen eines politisch motivierten Streiks – ihren Betrieb stilllegten, konnten belangt werden. In Verordnung 95/194156 drohte Seyß-Inquart am selben Tag jenen Personen Gefängnisstrafen an, die sich für eine politische Partei engagierten, die in den Niederlanden aufgelöst oder verboten war. Zu diesem Zeitpunkt richtete sich diese Bestimmung noch ausschließlich gegen die ‚linken‘ Parteien. Doch als im Juli 1941 alle nichtfaschistischen Parteien verboten wurden,57 entfaltete die Verordnung ihre ganze Wirkung. „Deutschfeindliche“ Äußerungen wurden durch Verordnung 95/1941 mit Gefängnisstrafen oder empfindlichen Geldbußen belegt. Was hierunter genau zu verstehen war, wurde nicht näher definiert. In der Praxis wurde ein breites Spektrum von Verhaltensweisen unter ‚Deutsch­feindlichkeit‘ rubriziert. Es umfasste lapidare Tätigkeiten wie das Abhören von Sendungen der BBC oder von Radio Oranje, des Rundfunksenders der niederländischen Exil­ regierung in London, die Weigerung, deutschen Anordnungen oder Befehlen in der geforderten Form nachzukommen, die Äußerung von Sympathien für das oranische Königshaus und dessen Angehörige oder Tätigkeiten für eine der nichtfaschistischen Parteien. Gegen widerständiges Verhalten war ferner Seyß-Inquarts Anordnung gerichtet, dass im Rahmen „der rücksichtslosen Niederschlagung aller Störungsversuche“, die Deutschland in seinem Kampf „gegen die Feindmächte“ beeinträchtigen könnten, alle Sabotageakte mit der 53 Rabl, Das Reichskommissariat, 88. 54 Ebd.; Hervorhebung im Original. 55 VOBl. NL 1941, 364 f., am 25. Juli 1941 ersetzt durch VO 138/1941, §§ 3 bis 5 (ebd., 563 f.). 56 Ebd., 365-367, am 25. Juli 1941 ersetzt durch VO 138/1941, § 7 (ebd., 564). 57 Siehe hierzu Kap. 6.3.2.

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Todesstrafe zu ahnden seien; schon Beihilfe konnte mit dieser Strafe belegt werden. Rechtssicherheit schloss der Reichskommissar in diesem Zusammenhang ausdrücklich aus. Denn die einzusetzenden Sondergerichte wurden von der Einhaltung von Fristen entbunden, die Vorlage einer Anklageschrift war nicht erforderlich.58 Mit der Waffenverordnung sollte zudem dem Untergrund der Zugang zu Waffen und Sprengstoff erschwert werden, weil Personen, „die wegen Verstosses gegen Anordnungen der deutschen Besatzungsmacht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sind oder gegen die Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass sie die Belange der deutschen Besatzungsmacht schädigen werden“,59 die Ausstellung von Waffen- oder Sprengstoffbesitzscheinen untersagt wurde. Ein Verstoß gegen die Waffenverordnung konnte mit der Todesstrafe oder Zuchthaus, in leichteren Fällen mit Gefängnis geahndet werden.60 Am einschneidendsten war die Verordnung über den Ordnungsschutz, die Seyß-Inquart am 25. Juli 1941 erließ.61 Sie war nicht nur an Seitenzahl und Anzahl der Paragrafen, sondern auch im Hinblick auf den Inhalt ungewöhnlich umfangreich und trat an die Stelle zahlreicher Verordnungen, in denen vorher repressive Einzelmaßnahmen dekretiert worden waren. Zugleich wurden hiermit neue Bestimmungen in Kraft gesetzt, sodass sich das Besatzungsregime einen weitreichenden Katalog an Kompetenzen zum Kampf gegen Dissidenz und Opposition bereitstellte (§§ 55 und 56). Ungewöhnlich war auch, dass die Verkündung der Verordnung nicht auf die Kundmachung im amtlichen Mitteilungsblatt des Reichskommissariats, dem Verordnungsblatt für die besetzten niederländischen Gebiete, beschränkt war, sondern eigens festgelegt wurde, dass eine Publizierung durch Presse, Rundfunk, Anschläge oder anderweitig zu erfolgen hatte (§ 48); das Reichskommissariat legte also Wert auf eine flächendeckende und möglichst lückenlose Bekanntmachung ihrer Möglichkeiten zur Repression. In diesem Sinn kann Seyß-Inquarts Ordnungsschutzverordnung von 1941 als eine explizite Warnung an die Bevölkerung vor einem radikalen Auftreten der Besatzungsmacht gegen jegliche Opposition verstanden werden, die sie selber als bedrohlich einstufen mochte. Besonders die folgenden Bestimmungen verliehen dieser Verordnung einen besonderen Stellenwert in der deutschen Besatzungspolitik der Niederlande. Unter der Abschnittsüberschrift Schwere Gefährdung des öffentlichen Friedens wurde all jenen Personen die Todesstrafe, Zuchthaus oder in leichteren Fällen eine Gefängnisstrafe angedroht, die gewaltsam gegen Angehörige von Wehrmacht, Waffen-SS, Deutscher Polizei sowie gegen Dienststellen des Deutschen Reiches oder der NSDAP in den Niederlanden vorgingen (§ 1). Bei Handlungen, die „gegen Belange des deutschen Volkes oder des Grossdeutschen Reichs gerichtet oder die öffentliche Ordnung oder das öffentliche Leben in den unter dem Schutz [sic] der deutschen Truppen stehenden niederländischen Gebieten zu stören geeignet sind“, war die Besatzungsmacht befugt, Kollektivstrafen zu verhängen. Solche als „Ersatzoder Sühneleistung“ qualifizierte Bestrafungen konnten Gemeinden, auf deren Gebiet ent58 59 60 61

VO 195/1941 vom 16. Oktober 1941, in: VOBl. NL 1941, 835 f. VO 139/1941 vom 25. Juli 1941, § 4, in: ebd., 593. VO 138/1941 vom 25. Juli 1941, § 2, in: ebd., 562. VO 138/1941 vom 25. Juli 1941, in: ebd., 560–590.

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sprechende Handlungen erfolgt waren, oder auch Personen, Vereinigungen oder Stiftungen treffen, „die solche Handlungen gutheissen oder fördern oder bei denen anzunehmen ist, dass sie solche Handlungen gutheissen oder fördern“ (§§ 51 bis 53).62 Mit der Verhängung von Kollektivstrafen, die nach Artikel 50 der Haager Landkriegsordnung ausdrücklich verboten waren,63 verzichtete der Reichskommissar demnach bei zukünftigen Sabotage- oder Widerstandsaktivitäten auf den Nachweis von individueller Verantwortung. Zugleich reichte den Strafverfolgungsbehörden ein bloßer Verdacht, um zum Repressionsinstrument der kollektiven „Ersatz- oder Sühneleistung“ zu greifen. Auf diesem Wege zog das Reichskommissariat zugunsten deutscher Kassen unmittelbar nach der Niederschlagung des Februarstreiks 18,5 Millionen Gulden ein.64 Mit Gefängnis- oder Geldstrafen musste rechnen, wer sich Zuwiderhandlungen gegen Maßnahmen des Wehrmachtbefehlshabers zu Schulden kommen ließ (§§ 44 bis 46). Arbeitnehmern und Arbeitgebern wurde in der Ordnungsschutzverordnung erneut strikt die Teilnahme an einem Streik untersagt. Schon der Versuch oder die Aufforderung zur Streikteilnahme wurde unter Strafe gestellt; das Strafmaß konnte bis zur Todesstrafe reichen (§§ 3 bis 5). Auch erneuerte Seyß-Inquart das Verbot, für eine aufgelöste oder verbotene politische Partei oder Organisation tätig zu werden (§ 7), und die beabsichtigte Neugründung von „nichtwirtschaftlichen Personenvereinigungen und Stiftungen“ wurde dadurch erschwert, dass sie der Genehmigung durch den zuständigen niederländischen Generalstaatsanwalt bedurfte. In seiner Eigenschaft als Landespolizeidirektor hatte der Generalstaatsanwalt darüber hinaus das Recht, bestehende Personenvereinigungen oder Stiftungen aufzulösen und das Vermögen zugunsten des niederländischen Staates einzuziehen (§ 22). Die Artikulation oppositioneller Haltungen wurde durch das Verbot kriminalisiert, „deutschfeindliche“ Schriften, Abbildungen oder sonstige Gegenstände herzustellen oder zu verbreiten (§§ 8 bis 9); im gleichen Atemzug wurden „deutschfeindliche Kundgebungen aller Art“ untersagt (§ 10). Die Bestimmung, dass Aufzüge und Versammlungen entgegen der demokratischen Tradition des Landes bis auf wenige Ausnahmen genehmigungspflichtig waren (§§ 24 bis 27), zielte auf die Unterbindung oder zumindest Kontrolle jeglicher Opposition. Zum Schutz vor unwahren Nachrichten (Abschnitt IV) wurde das Abhören von Rundfunksendungen verboten, die außerhalb des deutsch beherrschten Einflussgebietes produziert worden waren; auch der Betrieb von behördlich nicht genehmigten Sendeanlagen wurde untersagt. Um die Entstehung von organisiertem bewaffnetem Widerstand zu erschweren, wurde „die Bildung mannschaftlich gegliederter 62 Diese Formulierung wurde aus Seyß-Inquarts Verordnung über die Auferlegung von Leistungen übernommen (VO 7/1941 vom 11. Januar 1941, in: ebd., 23–25). Die Bestimmungen wurden später in Abschn. XIV der Ordnungsschutzverordnung 1943 vom 5. Januar 1943 übernommen (in: VOBl. NL 1943, 32–34). 63 Hierin hieß es in Geist und Wortlaut unmissverständlich: „Keine Strafe in Geld oder anderer Art darf über eine ganze Bevölkerung wegen der Handlungen einzelner verhängt werden, für welche die Bevölkerung nicht als mitverantwortlich angesehen werden kann.“ Zit. nach: Laun (Hrsg.), Die Haager Landkriegsordnung, 91. 64 Siehe Fritz Schmidt an Bormann vom 8. März 1941 in der Wiedergabe durch den französischen Hilfsankläger Charles Gerthoffer in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 5, 622 f.

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und befehlsmässig geführter Verbände, deren Angehörige in geschlossenen Abteilungen oder uniformiert in der Öffentlichkeit auftreten“, von einer Genehmigung durch den niederländischen Generalsekretär für Justiz abhängig gemacht (§ 18). Für denselben Zweck konnte von der Besatzungsmacht das Verbot eingesetzt werden, ohne behördliche Genehmigung Spendensammlungen durchzuführen (§§ 28 bis 35). Schließlich schuf die Ordnungsschutzverordnung „im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder der Sicherheit des öffentlichen Lebens“ die Möglichkeit, Aufenthaltsverbote zu erteilen, eine Polizeistunde festzusetzen, „öffentliche Tanzlustbarkeiten“ oder den Ausschank von alkoholischen Getränken mit einem Verbot zu belegen und den Wechsel eines Wohnsitzes oder Aufenthaltsortes zu untersagen; umgekehrt konnte durch polizeiliche Anordnung ein bestimmter Aufenthaltsort angewiesen werden (§§ 36 bis 43).65 Summa summarum erweiterte der Reichskommissar mit seiner Verordnung vom 25. Juli 1941 erheblich den Aktionsradius des Polizeiapparats. Dabei behielt er sich selbst die politische Aufsicht vor. Denn zu den Maßnahmen, die im Rahmen der Ordnungsschutzverordnung ergriffen wurden, wurde Rauter nicht in seiner Eigenschaft als Höherer SS- und Polizeiführer ermächtigt, sondern in der Funktion des Generalkommissars für das Sicherheitswesen, und in diesem Amt war Rauter formal Seyß-Inquart gegenüber verantwortlich. So ging es in den folgenden Monaten munter weiter. Um die abschreckende Wirkung von Strafen zu erhöhen, verfügte Seyß-Inquart im Juli 1942 pauschal die Verdoppelung der Geldbeträge, die in diversen Verordnungen als Höchststrafen für Gerichtsverfahren vorgesehen waren.66 Nach einer Verordnung vom Mai 194267 konnte – wie deren Titel vorgab – zum Schutz der öffentlichen Ordnung und der Sicherheit des öffentlichen Lebens zu lebenslangem Zuchthaus oder gar zum Tod verurteilt werden, wer eine „geheime Verbindung“ gründete oder in irgendeiner Weise unterstützte (§ 1). Und jeder, der „mittelbar oder unmittelbar zum Ungehorsam gegen geltende Rechtsvorschriften oder zur Widersetzlichkeit gegen Massnahmen der Besatzungsmacht oder zur Unterlassung der freiwilligen Mitwirkung bei der Durchführung solcher Massnahmen auffordert oder anreizt“, musste mit Gefängnis oder einer Geldstrafe bis zu 50.000 Gulden rechnen, in „besonders schweren Fällen“ war auch die Verhängung einer Zuchthausstrafe oder einer Geldbuße in unbeschränkter Höhe möglich. Wieder einmal wurde schon ein entsprechender Versuch als strafbare Handlung gewertet (§ 2). In eine ähnliche Richtung wies die Verordnung zur Abwehr von Handlungen gegen die Besatzungsmacht, die Seyß-Inquart Mitte Juli 1942 in Kraft setzte und gleichfalls mit unbilligen Sanktionsmöglich-

65 Für die deutschen Soldaten forderte Göring zu einem späteren Zeitpunkt Ausnahmen. Während die niederländische Bevölkerung zu Zwangsarbeit in Deutschland und zu höheren Lieferungen ins Reich verpflichtet wurde, rief er den anwesenden Reichskommissar auf einer Besprechung am 28. April 1943 auf, „die Bars offenzuhalten, ob die Holländer das verstehen oder nicht“, und gab die Devise aus: „Alle Lokale, wo Landser und junge Offiziere zu verkehren pflegen, sind von vornherein sacrosanct.“ Zit. aus der Stenographischen Niederschrift der Besprechung beim Reichsmarschall über Totale Kriegsmaßnahmen in den besetzten Gebieten, NIOD, 206/700-1-83, Bl. 115 und 120. 66 VO 78/1942 vom 21. Juli 1942, in: VOBl. NL 1942, 370 f. 67 VO 55/1942 vom 21. Mai 1942, in: ebd., 281 f.

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keiten versah:68 Hierin wurde mit dem Tod oder in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bedroht, wer nicht genügend Engagement bei der Abwehr von Sabotageakten an den Tag legte, wer es unterließ, Erkenntnisse über Sabotageakte der Wehrmacht oder der deutschen Polizei mitzuteilen, und wer Saboteuren Unterschlupf oder Unterstützung gewährte. Zusammen mit anderen einschlägigen Bestimmungen unter Einschluss des Polizeistandrechts wurden all diese Vorschriften im folgenden Jahr in der Ordnungsschutzverordnung 1943 zusammengefasst – einem regelrechten Kompendium staatsterroristischer Repressionspolitik.69 Ob sich Seyß-Inquart und seine Mitarbeiter bei der Vorbereitung und Durchführung von Anordnungen, mit denen Widerstand in den Niederlanden erschwert oder verhindert werden sollte, an entsprechenden Rechtsakten oder Verfahrensweisen im Reich oder in anderen besetzten oder eingegliederten Gebieten orientiert haben, ist noch nicht untersucht worden. Eine unmittelbare Tuchfühlung in dieser Frage beispielsweise mit Josef Terboven ist nicht belegt. Die Stärkung der Exekutive zum Zweck der Repression und der forcierte Einsatz bewaffneter Kräfte zur Niederschlagung von Aufständen waren jedoch im Prinzip nationalsozialistisches Gemeingut. Aus Sicht der deutschen Besatzungsverwaltungen im Zweiten Weltkrieg war auf diesem Gebiet Effektivität vermutlich wichtiger als Originalität. Auf jeden Fall zeigen alle repressiv ausgerichteten Verordnungen und Maßnahmen, dass der Aspekt der Wahrung der „Reichsinteressen“ seit dem Februarstreik für Seyß-Inquarts Amtsführung in den Niederlanden an Bedeutung zunahm. Der Anbiederungskurs, der in den ersten Monaten der Besatzungszeit dazu gedient hatte, durch ein verhältnismäßig entgegenkommendes Auftreten die niederländische Bevölkerung zur Übernahme des Nationalsozialismus zu motivieren, war erkennbar gescheitert. Im Unterschied zur ersten Phase der Besatzungszeit wurden jetzt symbolische Gesten, die ein positives Signal hätten aussenden können, zurückgefahren. Symptomatisch hierfür ist das Verbot, weiterhin Kränze und Blumensträuße an den Gräbern jener Niederländer niederzulegen, die durch Bombenabwürfe ums Leben gekommen waren.70 Die politische Botschaft, die Seyß-Inquart nach dem Februarstreik kommunizieren wollte, lief darauf hinaus, dass alle Niederländer vor die radikale Alternative gestellt waren: „Mit uns oder gegen uns – ein Drittes gibt es nicht mehr.“71 Die Schärfe einer solchen dezisionistischen Grundsatzentscheidung wurde nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 noch erhöht. Fünf Tage später hielt Seyß-Inquart auf einer abendlichen Großkundgebung von NSDAP, NSB und Arbeitsdienst auf dem Amsterdamer Museumplein eine Rede, zu der Juden der Zutritt explizit verboten war.72 Hierin forderte er besonders die niederländischen Faschisten auf, sich unzweideutig 68 VO 75/1942 vom 13. Juli 1942, in: ebd., 364 f. 69 VO 1/1943 vom 5. Januar 1943, in: VOBl. NL 1943, 1–39. 70 Rundschreiben des Reichskommissars vom 25. August 1941 an die Beauftragten für die Provinzen, Amsterdam und Rotterdam, NIOD, 14/129. Zur Begründung führte Seyß-Inquart an: „Ich halte dies nicht für zweckmässig und glaube auch, dass die damit erhofften Rückwirkungen ausbleiben werden.“ Ausnahmen bedurften seiner Genehmigung. 71 Seyß-Inquart, Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [12. März 1941], 48. 72 Siehe das Plakat in NIOD, Coll. Affiche/Lithografie, 1202. Diese Aufforderung wurde von Zeitungsan-

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hinter die deutschen Nationalsozialisten als den „Kämpfern, Hütern und Rettern Europas“ zu stellen und die eigene Bevölkerung zum Einsatz im „Entscheidungskampf mit dem Todfeind europäischer Kultur und Gesinnung“ zu mobilisieren. Denn durch die Beteiligung am Krieg gegen die „Weltverschwörung des Großkapitals, des Judentums und des Bolschewismus“ – wie er die antideutschen Kriegsgegner von Washington über London bis Moskau diffamierte – würden die Niederlande ihre Verantwortung als Teil einer „Schicksals- und Gesinnungsgemeinschaft“ wahrnehmen,73 und nur hierdurch hätte die niederländische Bevölkerung nach dem Ende des Krieges die Möglichkeit, sich einen angemessenen Platz in einer von Deutschland dominierten europäischen Nachkriegsordnung zu sichern. In diesem Sinn rief er die Niederländer am 27. Juni mit missionarischem Eifer und in geradezu eschatologischer Zukunftserwartung zur Entscheidung für eine „Bewährung als Nationalsozialisten“ auf: „Blickt nach dem Osten. […] Ihr baut an der Zukunft Eurer Kinder, wenn Ihr jetzt mit antretet. Euer Einsatz ist Eure Pflicht und Euer Nutzen und zugleich eine Wohltat für die Bewohner dieser Räume, da wir sie vom Bolschewismus erlösen und der abendländischen Kultur wieder zuführen.“74 Nachdem die Niederländer sich fatalerweise jahrhundertelang an den Westmächten orientiert hätten, bringe der Krieg gegen die bolschewistische Sowjetunion die Chance – und zugleich die Pflicht – mit sich, an der Seite des nationalsozialistischen Deutschlands alle Kräfte „zum uneingeschränkten und unbedingten Einsatz für die Blutgemeinschaft des eigenen Volkes“ einzusetzen. Er selber betrachte es als seine „besondere Aufgabe, die Heimkehr der Niederländer in die gesamteuropäische Gemeinschaft zu erleichtern und mitzuhelfen, daß die Niederländer in voller Gleichberechtigung am Neuaufbau teilnehmen.“ Die Zusicherung, bei diesem Neuaufbau die „völkische Eigenart und Selbständigkeit“ der niederländischen Bevölkerung zu respektieren,75 sollte die seiner Ansicht nach überfällige Grundsatzentscheidung zugunsten des Nationalsozialismus erleichtern. Auf jeden Fall konnte es aus Sicht des Reichskommissars seit dem Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion noch weniger als zuvor eine neutrale Haltung geben, wie sie bis zum Zweiten Weltkrieg die offizielle Doktrin niederländischer Außenpolitik gewesen war. Denn die weltpolitische Entwicklung seit dem 22. Juni 1941 fordere zu einer eindeutigen Entscheidung zugunsten Deutschlands und des Nationalsozialismus heraus.

zeigen übernommen; siehe zum Beispiel De Nieuwe Dag vom 27. Juni 1941 (NIOD, KA I 3411). Laut Du Prel (Hrsg.), Die Niederlande im Umbruch der Zeiten (Unterschrift zum Foto im Bildteil nach S. 128), nahmen 50.000 Menschen an der Veranstaltung teil. Um eine möglichst große Verbreitung zu erreichen, wurde Seyß-Inquarts Rede in zahlreichen deutsch- und niederländischsprachigen Zeitungen publiziert (siehe NIOD, KA I 3411). Im Folgenden wird zitiert aus der Ausgabe Seyß-Inquart, Vier Jahre in den Niederlanden, 67–79. Eine Fotokopie des Redemanuskripts findet sich in: IfZ, IMG-Dok. PS-3653. 73 Seyß-Inquart, Kundgebung auf dem Museumplein, 67. 74 Ebd., 77 f. Siehe auch Bosma, Verbindungen zwischen Ost- und Westkolonisation, 201. 75 Seyß-Inquart, Kundgebung auf dem Museumplein, 78 f.

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Abb. 5: Seyß-Inquart bei seiner Rede vom 27. Juni 1941 auf dem Amsterdamer Museumplein.

Um die Meldung von Niederländern zur deutschen Wehrmacht, zur Waffen-SS oder zur Niederländischen SS zu erleichtern oder gar erst zu ermöglichen, erließ Seyß-Inquart an jenem 25. Juli 1941, an dem er die oben vorgestellte Ordnungsschutzverordnung in Kraft setzte, eine Reihe von Verordnungen, die die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Teilnahme niederländischer Staatsbürger an militärischen Operationen von Organisationen der Besatzungsmacht schufen. In Verordnung 133/1941 wurde in Abweichung vom bisher geltenden niederländischen Staatsrecht statuiert, dass „militärischer oder ziviler Dienst im Kampf gegen den Bolschewismus“ nicht als „fremder Kriegs- oder Staatsdienst“ zu werten sei;76 dies galt rückwirkend zum Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges. Implizit war mit dieser Regelung ausgesagt, dass zumindest im Hinblick auf die Rekrutierung von Freiwilligen für die bewaffneten Verbände des Großdeutschen Reiches die Grenze zwischen Deutschland und den Niederlanden an staatsrechtlicher Bedeutung verloren hatte. Eine weitere Verordnung entband diejenigen Niederländer, die sich zum Dienst an der Waffe gegen die Sowjetunion entschieden, von den Bestimmungen des niederländischen Strafgesetzbuchs, die Hilfestellung zugunsten eines feindlichen Staates, Kriegsdienst für eine feindliche Macht oder Handlungen, die den eigenen Staat zugunsten eines Feindstaates benachteiligten, unter Strafe gestellt hatten.77 Da diese Außerkraftsetzung von niederländischem Strafrecht rückwirkend zum 10. Mai 76 VOBl. NL 1941, 548. Siehe auch VO 134/1941, ebenfalls vom 25. Juli 1941, in: ebd., 549 f. 77 VO 135/1941 vom 25. Juli 1941, in: ebd., 551. Zum niederländischen Strafgesetzbuch vgl. Bangma, Wetboek van Strafrecht, 94 f.

3.3 Dritte Phase: Weitere Radikalisierung

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1940 galt, waren en passant automatisch nachträglich alle Kollaborateure juristisch rehabilitiert, die sich seit Beginn des Westfeldzugs in den Dienst des Großdeutschen Reiches gestellt hatten.78 Vor allem waren hierdurch alle niederländischen Freiwilligen vom Vorwurf des Landes- oder Hochverrats freigesprochen, die unter deutschem Befehl gegen die Sowjetunion ins Feld zogen. Für diesen Personenkreis wurden in einer weiteren Verordnung arbeits- und versorgungsrechtliche Detailfragen geklärt, damit sie und ihre Angehörigen für ihren Dienst in Wehrmacht, Waffen-SS oder Freiwilligenlegion Niederlande materiell abgesichert waren.79 1943 dann verfügte Seyß-Inquart, dass niederländische Beschäftigte, die sich zu einem Lehrgang für „Wehrertüchtigung“ meldeten, Anspruch auf Sonderurlaub geltend machen konnten.80 Aus der Teilnahme an einem solchen Lehrgang durften ihnen keine Nachteile entstehen, auf jeden Fall genossen sie eine Arbeitsplatzgarantie. Die Arbeitgeber hatten für die Zeit der besagten Lehrgänge Löhne und Gehälter fortzuzahlen und waren somit gezwungen, die Teilnahme am Krieg Deutschlands mitzufinanzieren. Zwar konnten die Ergebnisse der Lehrgänge im Notfall zur Verteidigung des eigenen Landes eingesetzt werden. Doch es steht außer Frage, dass „Wehrertüchtigungs“-Lehrgänge aus der Sicht des NS-Regimes in erster Linie für den Einsatz von Niederländern an der Front geeignet waren. Die ‚Einladung‘ zu derartigen Veranstaltungen galt übrigens nicht nur für Erwachsene. Schülern wurde die Möglichkeit in Aussicht gestellt, sich vom Schulbesuch befreien zu lassen. Wie im Deutschen Reich sollte die Jugend des besetzten Landes an militarisierte Lebensformen herangeführt werden. 3.3 Dritte Phase: Weitere Radikalisierung (März 1943 bis September 1944)

Die dritte Phase der deutschen Besatzungspolitik in den Niederlanden erstreckte sich vom Streik im April und Mai 1943 bis zum Beginn der Befreiung einzelner Landesteile durch alliierte Truppen im September 1944. Sie war durch eine weitere Brutalisierung und Radikalisierung im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung gekennzeichnet. Die exzessive wirtschaftliche Ausbeutung von Land und Leuten wie auch die Bekämpfung des mittlerweile gut organisierten Widerstands erreichten eine neue Dimension, die Deportation der jüdischen Bevölkerung wurde weitgehend zum Abschluss gebracht. Ausgangspunkt war der April-MaiStreik, dessen brutale Niederschlagung symptomatisch für den allgemeinen Charakter der dritten Besatzungsphase war.

78 Zutreffend urteilte Edgar Faure als Vertreter der französischen Anklage auf dem Nürnberger Prozess hierüber: „Wenn man also nach dem geltenden Recht Verbrechen begangen hat, so ist es sehr praktisch, das Gesetz abzuändern, um die betreffenden Verbrechen unter den Tisch fallen zu lassen.“ (Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 6, 573) 79 VO 136/1941 vom 25. Juli 1941, in: VOBl. NL 1941, 551–558. Abgeändert durch VO 202/1941 vom 24. Oktober 1941 (ebd., 867 f.). Durch VO 45/1942 vom 24. April 1942 (in: VOBl. NL 1942, 209) wurden die Regelungen auch auf den Reichsarbeitsdienst und das Nationalsozialistische Kraftfahrerkorps ausgeweitet. 80 VO 31/1943 vom 5. April 1943, in: VOBl. NL 1943, 148–150.

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Kapitel 3: Die Niederlande unter deutscher Besatzung

Dem April-Mai-Streik von 194381 lagen mehrere Ursachen zugrunde. In breiten Kreisen der niederländischen Bevölkerung war die abwartende Haltung, die für die erste Phase kennzeichnend gewesen war, im Laufe der zweiten Phase tiefer Unzufriedenheit mit der deutschen Politik gewichen. Nicht zuletzt in der Zunahme von Widerstandsaktionen ab 1942 kam immer stärker eine fühlbare Ablehnung von Nationalsozialismus und deutscher Besatzungsherrschaft zum Ausdruck. Besondere Verbitterung riefen Maßnahmen hervor, die vom Reichskommissariat als Vergeltung für Attentate auf führende Kollaborateure dekretiert wurden. Sie gingen darauf zurück, dass Seyß-Inquart, Rauter, die Befehlshaber von Ordnungsund Sicherheitspolizei, Generalkommissar Schmidt und der stellvertretende NSB-Führer Cornelis (Kees) Van Geelkerken am 6. Februar 1943 auf einer Besprechung übereinkamen, „möglichst viele Studenten des reaktionären Lagers“ sowie „mindestens 5.000 Plutokratensöhne“ aus Utrecht, Nord- und Südholland zu verhaften und in das Konzentrationslager Herzogenbusch bei Vught zu verbringen. Besonders die Angehörigen des gebildeten und begüterten Bürgertums – im NS-Jargon als „Plutokraten“ bzw. „Plutokratensöhne“ diffamiert – sollten auf ausdrücklichen Wunsch Seyß-Inquarts „zu harter Arbeit im Reich herangezogen werden“. So überzogen die Reaktion des NS-Regimes auf die Anschläge von Widerstandskreisen auf niederländische Kollaborateure anmutet – die ‚Beschränkung‘ auf die Internierung von Studenten im KZ und deren zwangsweise Einziehung zum Arbeitsdienst in Deutschland blieb hinter der Forderung zurück, die Himmler in Abstimmung mit Hitler ursprünglich erhoben hatte und die von Rauter auf der erwähnten Besprechung vom 6. Februar vorgebracht wurde: 50 Bürger, die nicht nachweislich mit den Attentaten in Verbindung standen, zu ergreifen und zu erschießen.82 Bei einer weiteren Zusammenkunft kam Seyß-Inquart mit Christiansen, dem Vertreter des Auswärtigen Amts in Den Haag, Otto Bene, und dem Kommandierenden General der Einsatzdivisionen zu dem Ergebnis, „dass eine Erschiessung von weiteren Geiseln auf diese jugendliche[n] Elemente und die Niederländer keinen Eindruck machen wird, dass es aber darauf ankommt, die Kreise zu erfassen, aus denen heraus man weitere Mordanschläge erwarten kann.“83 Wie noch zu zeigen sein wird, war Seyß-Inquart keineswegs grundsätzlich gegen Geiselnahmen und -erschießungen.84 Er hatte aber zu diesem Zeitpunkt erkannt, dass die Hinrichtung von Geiseln seiner ‚Herrschaft‘ abträglich war, und in diesem Sinn ging es ihm bei der Formulierung der deutschen 81 Grundlegend ist nach wie vor die detaillierte Studie und Quellenedition De April-Mei-Stakingen von Bouman. Siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/2, 799–861. 82 Fernschreiben Rauters an Himmler vom 6. Februar 1943, BArch, NS 19/2860, Bl. 38 f. Im Fernschreiben an Rauter hatte Himmler am selben Tag zu rücksichtslosem Losschlagen aufgefordert: „Ihr könnt garnicht [sic] scharf genug durchgreifen“ (zit. nach: In ’t Veld [Hrsg.], De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 320, 950). Ähnlich Himmlers Fernschreiben an Rauter vom 10. Februar 1943 mit der Direktive: „Rückzieher dürfen in keiner Form gemacht werden.“ (BArch, NS 19/2860, Bl. 44) Siehe hierzu auch Neuman, Arthur Seyss-Inquart, 215–217, der sich wenig kritisch auf die Darstellung stützt, die Rauter 1948 zu seiner Verteidigung vorgebracht hat (RIOD [Hrsg.], Het Proces Rauter, 92–96). Siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/2, 618–625. 83 Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 8. Februar 1943, PA AA, R 99208. 84 Siehe Kap. 10.

3.3 Dritte Phase: Weitere Radikalisierung

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‚Antwort‘ auf die Aktivitäten des niederländischen Widerstands um politische Nützlichkeit: Einem gezielten Schlag gegen die Intelligenzschicht des Landes, in der er Drahtzieher und Stichwortgeber für die Anschläge vermutete, gab er den Vorzug gegenüber einer wilden Racheaktion. Hierfür gab es aus seiner Sicht mehrere Gründe: Ein Terrorregime hätte dem Bestreben, Nationalsozialismus und ‚Neue Ordnung‘ als attraktive Zukunftsoptionen für die ‚germanischen‘ Niederlande zu propagieren, jegliche Grundlage entzogen; der Schwerpunkt der deutschen Besatzungspolitik hätte sich von Seyß-Inquart auf den Repressionsapparat von SS und Polizei verlagert, hierdurch wiederum wäre eine politische Steuerung durch den Reichskommissar enorm erschwert worden; und die einheimischen Kollaborateure wären noch mehr isoliert worden, als sie es ohnehin waren. Aus Seyß-Inquarts Sicht sprachen somit nicht humanitäre Gründe gegen die von Himmler geforderten Geiselerschießungen. Ausschlaggebend waren machtpolitische Motive. Für die Durchführung der Verhaftungsaktion nun war die Zustimmung Hitlers notwendig. Der ‚Führer‘ akzeptierte Seyß-Inquarts Vorschlag, Tausende von Studenten festzunehmen und auf Geiselerschießungen zu verzichten, forderte aber erwartungsgemäß dazu auf, „nicht in der geringsten Form nachgiebig zu werden, sondern schärfstens durchzugreifen.“85 Mit dieser Entscheidung konnten sich Seyß-Inquart wie auch Himmler zufriedengeben. Schon am 6. Februar waren bei einer Razzia mehrere Hundert Studenten festgenommen und nach Vught überstellt worden.86 Nachdem eine Widerstandsgruppe am 7. Februar erneut ein Attentat auf einen hochrangigen NSB-Funktionär verübt hatte, folgte kurz darauf eine zweite Verhaftungswelle. Die festgenommenen und alle anderen niederländischen Studierenden wurden anschließend verpflichtet, bis zum 10. April eine ‚Loyalitätserklärung‘ mit der Versicherung zu unterschreiben, dass man „die in den besetzten niederländischen Gebieten geltenden Gesetze, Verordnungen und sonstigen Anordnungen nach Ehre und Gewissen befolgen und sich jeder gegen das Deutsche Reich, die deutsche Wehrmacht oder die niederländischen Behörden gerichteten sowie solcher Handlungen und Äusserungen enthalten wird, die unter den jeweils gegebenen Verhältnissen die öffentliche Ordnung an den Universitäten und Hochschulen gefährden.“87 Andernfalls wurde ihnen nicht nur die Fortführung oder der Abschluss des Studiums untersagt, sondern es drohte die zwangsweise Abschiebung zum Arbeitsdienst in Deutschland. Der überwiegende Teil der Studierenden verweigerte die geforderte Unterschrift und tauchte unter. So musste der für Verwaltungs- und Justizangelegenheiten zuständige Generalkommissar Friedrich Wimmer eingestehen, dass nur 2.274 von 14.571

85 So die Darstellung im Fernscheiben Himmlers an Rauter vom 11. Februar 1943, BArch, NS 19/2860, Bl. 46 f. 86 Zu diesem Lager siehe De Vries, Das Konzentrationslager Herzogenbusch. 87 VO 28/1943, § 2, in: VOBl. NL 1943, 129; die Verordnung wurde am 10. März 1943 von Generalsekretär Van Dam erlassen und trat drei Tage später in Kraft. Zur Loyalitätserklärung und den Folgen vgl. Hirschfeld, Die Universität Leiden unter dem Nationalsozialismus, 578 ff., Knegtmans, Onderwijspacificatie in de Nieuwe Orde, 280 f. und Ders., Die Universität von Amsterdam, 93–95. Siehe auch Seyß-Inquarts Anordnung zur Durchführung der Studentensicherstellungsaktion für die Generalkommissare Rauter, Wimmer und Schmidt vom 9. Februar 1943, NIOD, 20/487.

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Kapitel 3: Die Niederlande unter deutscher Besatzung

Studenten die Loyalitätserklärung unterzeichnet hatten.88 Dieses Ergebnis stellte für die deutschen und niederländischen Nationalsozialisten ein Debakel dar; auf die Stimmung gegenüber der Besatzung wirkte sich der Schlag gegen die Studenten und andere oppositionelle Kräfte verheerend aus. Zu all dem kam, dass die Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad und der Rückzug der deutschen Truppen aus Nordafrika die Erwartung oder Hoffnung nährten, dass sich der Krieg nun zu Ungunsten Deutschlands entwickeln würde. Diese Aussicht wurde verstärkt durch die Zunahme an Luftangriffen des britischen Bomber Command auf das Reichsgebiet. In dieser angespannten Stimmung bildete eine Anordnung von General Christiansen den konkreten Anlass für den Streik: Am 29. April 1943 gab der Wehrmachtbefehlshaber mit Zustimmung der militärischen und zivilen Führung des NS-Staates unter Einschluss Hitlers bekannt, dass alle Soldaten der ehemaligen niederländischen Armee wieder in Kriegsgefangenschaft genommen würden.89 Damit wurde eine Entscheidung rückgängig gemacht, die der ‚Führer‘ im Frühjahr 1940 als Zeichen einer von ihm als entgegenkommend gedachten Haltung getroffen hatte: Im Unterschied etwa zu ihren französischen Kameraden waren die niederländischen Soldaten als Angehörige eines ‚germanischen‘ Volkes bald nach der Kapitulation ihrer Armee freigelassen worden.90 Diese inszenierte ‚Großzügigkeit‘, die der Chef des Generalstabs beim Wehrmachtbefehlshaber in den Niederlanden noch 1941 in propagandistischer Absicht als Ausdruck „soldatischer Ritterlichkeit“ gefeiert hatte,91 war schon im Mai 1942 dadurch eingeschränkt worden, dass sich auf Anweisung Hitlers 2.027 Berufsoffiziere und Offiziersanwärter wieder in Kriegsgefangenschaft begeben mussten.92 Ein Jahr später nun folgten die weitaus zahlreicheren Angehörigen der niedrigeren Ränge bis zu den einfachen Soldaten. Die Anordnung Christiansens zur Wiedereinführung der Kriegsgefangenschaft zeigt, dass auf deutscher Seite die Euphorie der ‚Blitzsiege‘ von 1940 angesichts der bedrängten militärischen Situation und der Zunahme an Attentaten auf deutsche Einrichtungen und niederländische Faschisten im Frühjahr 1943 einem nervösen Aktionismus gewichen war. Ihr Text war mindestens ungeschickt formuliert: Er erweckte den Eindruck einer allgemeinen, umfassenden Maßnahme, ohne die zahlreichen Ausnahmefälle zu erwähnen, die zuvor innerhalb der Besatzungsverwaltung festgelegt worden waren. Und entgegen der intern getroffenen 88 Bericht von Wimmer an Seyß-Inquart vom 20. April 1943, NIOD, 20/457. Zur Loyalitätserklärung siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/2, 737–762. 89 Siehe das Faksimile der niederländischen Fassung der Bekanntmachung in: Kok/Somers, Nederland in de Tweede Wereldoorlog, Bd. 1, 468. 90 Französische Kriegsgefangene wurden erst 1942 freigelassen. Dafür verpflichtete sich Vichy-Frankreich, im Zuge der Relève Zehntausende von zivilen Arbeitskräften nach Deutschland zu entsenden (Boldorf, Die gelenkte Kriegswirtschaft im besetzten Frankreich, 126 f.). 91 Schwabedissen, Die deutsche Wehrmacht in den Niederlanden, 78. 92 Siehe die Bekanntmachung des Wehrmachtbefehlshabers in den Niederlanden, in: Nieuwsblad van het Noorden vom 18. Mai 1942. Vgl. auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/2, 970–972. Der Zeitpunkt war bemerkenswert früh. In Polen wurden erst am 23. August 1942 die Offiziere der ehemaligen Armee verhaftet, die sich im Generalgouvernement aufhielten; siehe Majewski, Nationalsozialistische Unterdrückungsmaßnahmen im Generalgouvernement, 185.

3.3 Dritte Phase: Weitere Radikalisierung

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Vereinbarung, dass die betroffenen Soldaten nicht auf einen Schlag, sondern sukzessive in die Kriegsgefangenschaft zu führen seien, ordnete Christiansen die unverzügliche Umsetzung der Maßnahme an.93 Mit der erneuten Internierung der demobilisierten Angehörigen der niederländischen Streitkräfte verknüpfte die NS-Führung zwei Ziele: Erstens benötigte sie in einer Phase, in der das Großdeutsche Reich militärisch an mehreren Fronten zunehmend in die Defensive gedrängt wurde, Arbeitskräfte für ihre Kriegswirtschaft. Zweitens wollte sie prophylaktisch verhindern, dass die niederländischen Soldaten sich im Falle einer erwarteten alliierten Landung an der Nordseeküste dem bewaffneten Widerstand anschlossen, die westlichen Invasionstruppen unterstützen und der deutschen Wehrmacht in den Rücken fallen könnten94 – einen ‚Dolchstoß‘ in einem der besetzten Gebiete wie 1918 in Deutschland wollte das NS-Regime in Zeiten des ‚totalen Krieges‘ keineswegs dulden. Schon vorher hatte Himmler auf einer Führerbesprechung in der ‚Wolfsschanze‘ vorgeschlagen, 300.000 Niederländer zum „Arbeitseinsatz“ nach Deutschland abzuschieben – nicht zufällig deckte sich diese Größenordnung mit der Anzahl der Angehörigen der ehemaligen niederländischen Armee.95 Himmlers eigener Darstellung zufolge fand Hitler eine solche Maßnahme in der Besprechung vom 13. Februar 1943 „notwendig und richtig“ und beauftragte den Reichsführer-SS, in dieser Angelegenheit sofort mit Seyß-Inquart Kontakt aufzunehmen.96 Dieser war weniger begeistert als sein ‚Führer‘. Der Reichskommissar hatte sich schon im Januar 1942 gegen eine Anfrage des Oberkommandos der Wehrmacht ausgesprochen, im Zuge der Einführung von Zwangsarbeit97 die ehemaligen niederländischen Soldaten wieder in Kriegsgefangenschaft zu überführen und zum Arbeitsdienst in Deutschland heranzuziehen. Auch jetzt riet er zu Vorsicht. Denn er sah durchaus zutreffend voraus, dass sich das Großdeutsche Reich mit der Wiedereinführung der Kriegsgefangenschaft für die früheren niederländischen Soldaten ein Problem einhandeln würde, das gravierende psychologische, wirtschaftliche und politische Konsequenzen nach sich ziehen würde: „[…] einerseits kann ein solcher Entzug zu einer schweren Störung unserer Rüstungswirtschaft usw. führen, andererseits könnte die Nichtbefolgung einer solchen Einberufung durch die Betroffenen zu einer schweren Schädigung unserer Autorität führen, da wir ja zu wenig deutsche Kräfte haben, um die Leute einzelweise herauszufangen, und die niederländische Polizei in diesen Dingen kaum voll einsatzfähig ist.“98 Dass die Wiedereinführung der Kriegsgefangenschaft zu Unruhe unter der Bevölkerung führen könnte, war ihm durchaus bewusst. Dies galt umso mehr, als im selben Zeitraum im Reich und in den deutschen Dienststellen der besetzten Niederlande über die Einziehung Zehntausender Zivilisten zur Zwangsarbeit in Deutschland beraten wurde.99 Beide Maßnahmen bargen schon jeweils für sich genommen Potenzial für Unzufriedenheit. 93 94 95 96 97 98 99

Vgl. Sijes, De Arbeidsinzet, 276. Zu dieser Maßnahme siehe auch Romijn, Burgemeesters, 475. So die Darstellung von Seyß-Inquart beim Verhör durch Hale vom 25. Juli 1945, IfZ, ZS 300, Bd. IV. Diesen Zusammenhang unterstreicht auch Sijes, De Arbeidsinzet, 269 f. Undatierter Aktenvermerk Himmlers in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 334, 969. Siehe Sijes, De Arbeidsinzet, 154 f. und unten in dieser Arbeit, S. 468 ff. Seyß-Inquart an Himmler vom 15. Februar 1943, BArch, NS 19/2860, Bl. 132. Siehe hierzu Sijes, De Arbeidsinzet, 264–279.

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Kapitel 3: Die Niederlande unter deutscher Besatzung

Ihre Koinzidenz konnte zu einer schweren Hypothek für die deutsche Herrschaft werden. Trotz seiner Bedenken versprach Seyß-Inquart, sein Möglichstes zu tun. Der enorme Bedarf der deutschen Rüstungswirtschaft an Arbeitskräften, das Bestreben, die früheren niederländischen Soldaten durch eine erneute Gefangennahme im Hinblick auf eine Invasion der Alliierten vorsorglich zu neutralisieren, und die Tatsache, dass Hitler und Himmler die Rückführung der niederländischen Soldaten in die Kriegsgefangenschaft ausdrücklich wünschten, dürften den Ausschlag gegeben haben. Schon unmittelbar nach Christiansens Bekanntmachung vom 29. April 1943 kam es zu Arbeitsniederlegungen. Ausgehend von der Maschinenfabrik Gebrüder Stork & Co. in Hengelo (Provinz Overijssel) und anderen Firmen in Twente breiteten sie sich auf andere Landesteile aus. Auch wenn die Unruhen nicht flächendeckend das ganze Land erfassten, drohte ein Generalstreik die Niederlande lahmzulegen. Für den Reichskommissar, der jetzt ebenso wenig wie beim Beginn des Februarstreiks von 1941 im Land weilte, muss dieser markante Ausbruch von Unzufriedenheit eine ungeheuerliche Provokation dargestellt haben. Der Generalstreik strafte die Erwartung Lügen, dass die Niederschlagung des Februarstreiks und der darauffolgende Erlass von allerlei repressiven Bestimmungen und deren Umsetzung die Niederländer von neuerlichen Unruhen abhalten würden. Auch wurde deutlich, dass Nazifizierung und Gleichschaltung, die in der zweiten Besatzungsphase intensiviert worden waren, die Unzufriedenheit mit der deutschen Politik anheizten und einmal mehr vor Augen führten, dass eine Selbstnazifizierung der einheimischen Gesellschaft nichts als eine Illusion war. Entsprechend brutal fiel die Antwort der Besatzungsmacht aus: Unter Berufung auf seine Ordnungsschutzverordnung 1943 verhängte Seyß-Inquart das Polizeistandrecht, und zwar nicht nur für die Brandherde des Generalstreiks, sondern für die gesamten Niederlande. Damit hatte der Sicherheitsapparat die Möglichkeit, überall schrankenlos und abweichend vom geltenden Recht gegen vermeintliche oder tatsächliche „ernste Gefährdungen oder Störungen der öffentlichen Ordnung oder der Sicherheit des öffentlichen Lebens“ in den besetzten Niederlanden vorzugehen.100 Tatsächlich setzte Rauter sofort nach Bekanntwerden der Unruhen alle ihm zur Verfügung stehenden deutschen und niederländischen Sicherheitskräfte ein, um ‚Ruhe und Ordnung‘ wiederherzustellen. Dabei wurde rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch gemacht. Die rasch gebildeten Standgerichte fällten 116 Todesurteile, von denen 80 vollstreckt wurden.101 Auf der scheinlegalen Grundlage von Seyß-Inquarts Ordnungsschutzverordnung wüteten tagelang im ganzen Land Willkür und Terror gegen tatsächliche und vermeintliche Streikteilnehmer. Das Regime statuierte ein Exempel. Wer es wagte, ehemaligen niederländischen Soldaten zu helfen, die nach dem April-MaiStreik untergetaucht waren, um der Zwangsarbeit in Deutschland zu entgehen, machte sich strafbar. Durch eine Verordnung sorgte Seyß-Inquart dafür, dass jedwede Unterstützung von untergetauchten Soldaten mit Gefängnis, Zuchthaus oder in schweren Fällen mit Todesstrafe geahndet werden konnte. Bestraft werden konnte auch, wer den Aufenthalt von Angehörigen 100 VO 1/1943, § 62, in: VOBl. NL 1943, 34. 101 Zahlen nach: Romijn, Burgemeesters, 477.

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einer feindlichen Armee nicht unverzüglich der nächsten Dienststelle von Polizei oder Wehrmacht meldete.102 Überhaupt setzte das Reichskommissariat ergänzend zur unmittelbaren Niederschlagung der Unruhen vom Frühjahr 1943 durch Sicherheitskräfte auf eine Verschärfung von Repression mit legistischen und administrativen Mitteln. Hatte sich Seyß-Inquart nach dem Februarstreik damit begnügt, Beamte und Angestellte von öffentlich-rechtlichen Körperschaften zu verwarnen, und auf Lohn- oder Gehaltskürzungen oder Entlassungen gedrängt, drohte er nun ein Strafmaß zwischen Gefängnis und Tod für jene an, die an einem Streik teilnahmen, zu Arbeitsniederlegungen aufriefen oder andere an der Wiederaufnahme der Arbeit hinderten.103 Darüber hinaus ordnete Rauter in dem Bestreben, den Einfluss der niederländischen Exilregierung und der Alliierten auf die Bevölkerung auszuschalten, die Einziehung aller Radiogeräte einschließlich der Zubehör- und Ersatzteile an. Von dieser Bestimmung ausgenommen waren generell nur deutsche Dienststellen und deren Mitarbeiter; individuelle Ausnahmegenehmigungen konnten allenfalls andere deutsche Staatsangehörige, Mitglieder der NSB und ihrer Gliederungen sowie Angehörige von Niederländern beantragen, die in der Wehrmacht, der Waffen-SS oder der Freiwilligenlegion Niederlande Dienst taten. Ob Rauters Behauptung zutrifft, dass diese Maßnahme „an sich“ von Seyß-Inquart ausging,104 lässt sich nicht klären. Entscheidend ist, dass sie in Absprache und Übereinstimmung mit dem Reichskommissar erfolgte, und zwar genau einen Tag, bevor dieser das verhängte Polizeistandrecht wieder außer Kraft setzte.105 Von außen betrachtet mag die Anordnung zur Einziehung der Rundfunkgeräte durch Rauter am 13. Mai 1943 im ­Widerspruch zur Aufhebung des Polizeistandrechts durch Seyß-Inquart am 14. Mai gestanden haben. Bei genauerer Betrachtung jedoch waren diese beiden Maßnahmen, die im Verordnungsblatt bezeichnenderweise unter derselben Nummer erschienen, zwei unterschiedliche Seiten derselben Medaille: Sie gehörten zu einer Strategie von ‚Zuckerbrot und Peitsche‘, die Seyß-Inquarts Amtsführung einen doppelbödigen Charakter verlieh. Im selben Augenblick, in dem die Besatzungsverwaltung drastische Maßnahmen bedingt lockerte, verschärfte sie ihre Haltung in anderen Punkten. Inwieweit die betroffene Bevölkerung, die Exilregierung in London und die Widerstandsbewegungen im besetzten Land diese Strategie durchschaut haben, sei dahingestellt. Entscheidend ist, dass die Politik von ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ im Gesamtergebnis nicht zu einer Entspannung, sondern zu einer Radikalisierung der deutschen Besatzungspolitik führte. Gerade die Niederschlagung des April-Mai-Streiks bot dem Sicherheitsapparat eine vorzügliche Gelegenheit, seinen Einfluss mit Zustimmung und Unterstützung des Reichskommissars auszudehnen. 102 VO 24/1944 vom 1. Juni 1944, in: VOBl. NL 1944–1945, 60 f. 103 VO 49/1943 vom 14. Mai 1943, in: VOBl. NL 1943, 190 f. 104 RIOD (Hrsg.), Het Proces Rauter, 85. 105 Siehe Seyß-Inquarts Erlass vom 14. Mai 1943 mit Rauters Anordnung über die Einziehung von Rundfunk­ empfangsanlagen vom 13. Mai, zusammengefasst unter VO 48/1943, abgedruckt in: VOBl. NL 1943, 184–189. Die Abgabequote blieb allerdings hinter den Erwartungen zurück. Deshalb sah sich Rauter in Übereinstimmung mit Seyß-Inquart im Oktober gezwungen, die Abgabefrist noch einmal zu verlängern. Siehe DZN (BArch, ZSg. 103/5515) und Arnhemsche Courant vom 2. Oktober 1943.

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Kapitel 3: Die Niederlande unter deutscher Besatzung

Vorher hatte man sich im Reichskommissariat lange Zeit gegen die Einziehung von Radiogeräten gewandt und Hitler überzeugen können, „dass der Besitz eigener Rundfunkempfangsgeräte die Niederländer doch weitgehend mit der deutschen Sprache vertraut und sie dadurch auch deutschen Propagandalosungen zugängig mache […].“106 Lediglich Juden war schon 1941 der Besitz von Radiogeräten verboten worden. Im Hinblick auf die zu nazifizierende nichtjüdische Bevölkerung aber schien bis zum April-Mai-Streik der propagandistische Nutzen größer als die Gefahr des Abhörens von ‚Feindsendungen‘ – sie wurde bis dahin von den Besatzungsbehörden mithilfe von Seyß-Inquarts Bestimmungen zum Ordnungsschutz bekämpft. Jetzt aber ließ der Reichskommissar Hitler bitten, der Einziehung der Radiogeräte in den Niederlanden zuzustimmen,107 und zwar einen Tag, nachdem Himmler „mit gröss­ tem Nachdruck“ für eine solche Maßnahme eingetreten war.108 Erwartungsgemäß erteilte der ‚Führer‘ seine Einwilligung;109 anschließend konnte Rauter seine erwähnte Anordnung in Kraft setzen. Dass daraufhin zwischen Goebbels, der Wehrmacht und Himmler ein wilder Verteilungskampf um die eingezogenen Geräte entbrannte, braucht hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet zu werden.110 Wichtig für Seyß-Inquarts Politik in den Niederlanden war, dass er Ansprüche, die der kommissarische Generalsekretär für Finanzen Dr. Meinoud Marinus Rost van Tonningen für den niederländischen Staat erhob, kategorisch zurückwies mit dem Machtwort: „Verfügung liegt bei uns!“111 Die Repression, die mit der Einziehung von Eigentum niederländischer Bürger zugunsten des Großdeutschen Reiches verbunden wurde, sollte angesichts des April-Mai-Streiks und anderer Widerstandsaktionen nicht durch ein Entgegenkommen gegenüber dem niederländischen Staat ‚verwässert‘ werden. Der ganze Vorgang führte schon den Zeitgenossen vor Augen, dass es der Besatzungsmacht trotz schwerster Strafandrohungen nicht gelungen war, die niederländische Bevölkerung vom Abhören von Sendungen der Kriegsgegner abzuhalten; er stellte geradezu ein Eingeständnis des Scheiterns der deutschen Rundfunkpolitik dar. Obendrein schnitt sich das Reichskommissariat ins eigene Fleisch: Mit der Einziehung von Radiogeräten beraubte man sich selbst eines breitenwirksamen Mediums, um eigene Propaganda unters Volk zu bringen.112 Um Lehren aus den Ereignissen vom April und Mai 1943 ziehen zu können, schickte Seyß-Inquart am 10. Mai an seine Beauftragten in den Provinzen, Amsterdam und Rotterdam einen Fragenkatalog über Ursachen und Verlauf der Unruhen sowie über das Verhalten von deutschen wie auch von niederländischen Instanzen während des Streiks. Außerdem erwartete er sich Vorschläge für eine zukünftige Bekämpfung derartiger Ereignisse. Der Beauf106 Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 1. Oktober 1941 über den Besuch von Seyß-Inquart und Generalkommissar Schmidt bei Hitler am 26. September 1941, PA AA, R 29678, Bl. 84451. 107 Seyß-Inquart an Bormann vom 10. Mai 1943, nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Anm. 1 zu Dok. 388, 1032. 108 Fernschreiben Himmlers an Rauter vom 9. Mai 1943, in: ebd., Dok. 387, 1031. 109 Siehe die Mitteilung im Fernschreiben Rauters an Himmler vom 12. Mai 1943, in: ebd., Dok. 388, 1032. 110 Vgl. Rauter an Himmler vom 15. Juli 1943, in: ebd., Dok. 440, 1151–1153. 111 Handschriftliche Notiz auf dem Schreiben, das ihm Rost van Tonningen am 17. November 1943 geschickt hatte, NIOD, 20/818. 112 So auch Crone, Hilversum unter dem Hakenkreuz, 65.

3.3 Dritte Phase: Weitere Radikalisierung

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Abb. 6: Seyß-Inquart auf dem Gelände der Firma Stork in Hengelo, wo er am 19. Mai 1943 die Niederschlagung des April-Mai-Streiks durch die Besatzungsmacht verteidigte.

tragte für die Provinz Drenthe, Dr. Heinrich Sellmer, kam bei der Beurteilung des deutschen Auftretens zu dem Ergebnis, „daß wir undanks unserer friedlichen Bemühungen, um die Niederländer zu einer besseren und gesünderen Einsicht zu bringen, auch hart und unerbittlich sein können“, während der Beauftragte für Groningen, Dr. Hermann Conring, freimütig das Scheitern einer Politik einräumte, die auf eine Selbstnazifizierung der niederländischen Gesellschaft setzte. Für ihn hatte der April-Mai-Streik deutlich gemacht, dass sich das nationalsozialistische Deutschland außerhalb der NSB, ihrer Nebenorganisationen und der Germanischen SS kaum „verlässliche Freunde“ erwerben könne, „die auch im Ernstfall für die deutschen Interessen eintreten.“ Seyß-Inquarts Beauftragter für die Provinz Südholland, Dr. Ernst August Schwebel, ging noch einen Schritt weiter mit dem Hinweis, „daß ein nicht unbeträchtlicher Teil von Mitgliedern der N. S. B., auch solche, die sonst ein gutes Verständnis für die Maßnahmen der deutschen Besatzungsmacht aufbringen, von der Schockwirkung der Verordnung des Wehrmachtbefehlshabers mit erfaßt worden sind und noch heute über deren Sinn insofern in Zweifeln leben, als sie befürchten, daß damit die bisherige Politik des Reichskommissars aufgegeben und das normale Kriegsverhältnis zwischen den beiden Völkern wiederhergestellt sei.“113 Eine Stellungnahme Seyß-Inquarts zu den eingereichten Be113 Berichte von Sellner, Conring und Schwebel an Seyß-Inquart vom 13., 14. und 17. Mai 1943, NIOD, 20/102. Der Fragenkatalog des Reichskommissars befindet sich auch in NIOD, 20/9151.

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Kapitel 3: Die Niederlande unter deutscher Besatzung

richten seiner Beauftragten ist nicht überliefert. Der Einsicht aber, dass der April-Mai-Streik deutlich gemacht hatte, auf welch weite und erbitterte Ablehnung die Besatzungsmacht stieß, konnte er sich nicht entziehen. Dies hielt ihn nicht davon ab, in der Rede, die er am 19. Mai 1943 in einer Halle der Firma Storck hielt, einen neuerlichen Versuch zu unternehmen, die Bevölkerung für den Nationalsozialismus zu gewinnen. Seinen Zuhörern versicherte der Reichskommissar, er sei nach wie vor darauf aus, „daß meine Beziehungen zu den Niederländern nicht von dem Argument der Waffen, sondern von den Argumenten vernünftiger Erwägungen geleitet werden.“ Mit den „vernünftigen Erwägungen“ meinte er, es müsse im Interesse der Niederländer liegen, in der deutsch-niederländischen „Kampf- und Schicksalsgemeinschaft“ am antibolschewistischen Kampf des nationalsozialistischen Deutschlands teilzunehmen und zugunsten ihres eigenen Landes und des ganzen europäischen Kontinents ihren spezifischen Beitrag zur Abwehr des Bündnisses zwischen Stalin und den Westmächten zu leisten. Im selben Atemzug aber rechtfertigte er ausgerechnet an dem Ort, an dem der April-Mai-Streik seinen Ausgang genommen hatte, alle Entscheidungen der Besatzungsmacht, die zu Ursache und Anlass der Unruhen geworden waren, und verteidigte alle repressiven Maßnahmen, mit denen das Reichskommissariat auf den Streik reagiert hatte. Dabei hob er lobend die Niederländer hervor, die an dessen Niederschlagung beteiligt gewesen waren, und sprach explizit den deutschen Dienststellen und Einheiten seine Anerkennung für „ihr klares und entschiedenes Eintreten“ aus. Und obwohl er es „traurig“ fand, „daß so viele Opfer gefallen sind“, lobte er die Arbeit der Standgerichte.114 In ihrer Gesamtheit vereinigte Seyß-Inquarts Rede in Hengelo, die nicht nur in deutschen und niederländischen Zeitungen abgedruckt, sondern am folgenden Tag auch von Radio Hilversum ausgestrahlt wurde, gegensätzliche Stimmungen: Die Demonstration unerbittlicher Härte stand neben der Bekundung persönlicher Betroffenheit, und das rigorose Eintreten für die Wahrung dessen, was er als Reichsinteressen ausgab, schien für Seyß-Inquart immer noch nicht die Hoffnung auf eine (Selbst-)Nazifizierung der niederländischen Gesellschaft auszuschließen. Ob Seyß-Inquart nach der Niederschlagung des April-Mai-Streiks noch ernsthaft an die Möglichkeit einer (Selbst-)Nazifizierung glaubte oder in seiner propagandistisch angelegten Rede in Hengelo ausschließlich die deutschen Parteigenossen und noch mehr die niederländischen Kollaborateure bei der Stange halten wollte, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit ausmachen. Tatsache ist, dass die rücksichtslose Verteidigung der Interessen des NS-Systems noch mehr in den Mittelpunkt der deutschen Besatzungspolitik rückte als zuvor. Dies hatte auch Konsequenzen für das nationalsozialistische Machtgefüge in Den Haag: Mit dem sicht114 Seyß-Inquart, Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [19. Mai 1943], 127 und 131. Het Nationale Dagblad vom 20. Mai 1943 (NIOD, KA I 3409) zufolge nahmen 7.000 Menschen an der Veranstaltung teil. Ob dies überwiegend oder zur Gänze auf freiwilliger Basis geschah, ließ die NSB-Zeitung ebenso offen wie die DZN vom selben Tag mit ihrem Bericht über eine „denkwürdige politische Kundgebung“. Goebbels attestierte Seyß-Inquart, seine Rede „sehr geschickt aufgesetzt“ zu haben; sie war ihm Ausweis einer „außerordentlich klugen Politik“. Zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 8, 342 f. (22. Mai 1943).

3.3 Dritte Phase: Weitere Radikalisierung

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baren Scheitern des Konzepts der gelenkten Selbstnazifizierung sank ebenso sichtbar der Stern von Generalkommissar Schmidt, der seit Beginn der Zivilverwaltung für die Durchsetzung der Selbstnazifizierung sachlich zuständig gewesen war und entgegen Rauters Ablehnung und Seyß-Inquarts Zurückhaltung für eine aktive Einbindung der niederländischen Faschisten in die Bestrebungen zur Nazifizierung des besetzten Landes eingetreten war. Zugleich schien die Niederschlagung des Streiks dem Reichskommissar ein Beleg dafür, dass der in ständigem Aufstieg begriffene SS-Komplex der einzige zukunftsfähige Machtfaktor in den besetzten Niederlanden war. Hatte er noch ein Jahr vorher von dem Gefühl gesprochen, durch die „Funktionsanmassung der SS“ „in der breiten politischen Arbeit […] zu sehr eingeengt“ zu werden,115 lehnte sich Seyß-Inquart nun stärker als zuvor an Himmler an, der bei der Niederschlagung des Streiks zusammen mit Rauter die zentrale Rolle gespielt hatte. Himmler wiederum wertete seinen Stellvertreter in Den Haag ostentativ dadurch auf, dass er ihn nach dem Streik zum SS-Obergruppenführer beförderte und dem Höheren SS- und Polizeiführer damit den gleichen Rang verlieh, den der Reichskommissar seit zwei Jahren innehatte.116 Nachdem Schmidt im Juni 1943 unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen war und durch den wenig profilierten Wilhelm Ritterbusch ersetzt wurde, nahm Seyß-Inquarts Orientierung an der SS noch zu.117 Auch wenn er sich weiterhin bemühte, möglichst viele Machtfaktoren seines ‚Herrschaftsgebietes‘ bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, war nicht zu leugnen, dass der Einfluss des Reichsführers-SS innerhalb des NS-Systems auf absehbare Zeit von niemandem zu überflügeln sein sollte, und diesem Umstand trug Seyß-Inquart dadurch Rechnung, dass er ab sofort eine noch engere Bindung an den SS-Komplex suchte als bisher. Wie in den folgenden Kapiteln an zahlreichen Punkten deutlich wird, kam es unter seiner Ägide denn auch auf so gut wie allen Politikfeldern zu einer Radikalisierung der deutschen Besatzungspolitik. Sie ließ keinen Raum mehr für eine wie auch immer geartete entgegenkommende Haltung gegenüber der niederländischen Bevölkerung. Selbst die einheimischen Kollaborateure waren von der Radikalisierung der Besatzungsherrschaft betroffen: Im Unterschied zu den vorangegangenen Phasen dachte auf deutscher Seite nun niemand mehr daran, die Nationaal-Socialistische Beweging mit politischer Verantwortung zu betrauen. Seyß-Inquart selber durfte sich sicher sein, dass das harte Auftreten der deutschen Behörden in der Reichsführung ästimiert wurde. Die rasche Niederschlagung des April-Mai-Streiks war nicht nur nach Himmlers Geschmack. Auch Goebbels hielt in seinem Tagebuch anerkennend fest, dass Seyß-Inquart in dieser Angelegenheit „äußerst geschickt“ operiert habe; „er ist der Krise in einem Tempo Herr geworden, das einige Bewunderung verdient.“118

115 So die Wiedergabe seiner Worte im Schreiben von Rauter an Himmler vom 28. April 1942, BArch, NS 19/1543, Bl. 23. 116 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/2, 848. 117 So auch In ’t Veld, Inleiding, 96. 118 Zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 7, 210 f., Eintrag vom 5. Mai 1943. Vgl. auch die Einträge vom 3. und 8. Mai 1943, in: ebd., 201 und 230.

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Kapitel 3: Die Niederlande unter deutscher Besatzung

3.4 Vierte Phase: Verfall der deutschen Herrschaft (September 1944 bis Mai 1945)

Wie wenig sich die Besatzungsverwaltung auf die einheimischen Kollaborateure verlassen konnte, wurde am sogenannten ‚verrückten Dienstag‘ offenbar: Vor dem Hintergrund der Nachricht, die Befreiung der Niederlande durch die westlichen Alliierten stünde unmittelbar bevor, setzten sich an diesem 5. September 1944 über 30.000 Mitglieder der NSB und ihrer Nebenorganisationen mit ihren Familienangehörigen nach Deutschland ab.119 Auch das Reichskommissariat war von dem Vormarsch der alliierten Truppen betroffen, schon vorher hatte die Anspannung innerhalb der Behörde enorm zugenommen. Dies ist beispielsweise ablesbar an einem Rundschreiben, in dem Seyß-Inquart kurz nach dem D-Day (6. Juni 1944) die Mitarbeiter seiner Behörde vor übermäßigem Alkoholkonsum warnte,120 nachdem ein Deutscher einen Mitarbeiter des Reichskommissariats nach einer durchzechten Nacht angeschossen hatte. Und im August 1944 war den „Gefolgschaftsmitgliedern“ der Besatzungsverwaltung die Verbringung eines ihrer Kollegen in ein Konzentrationslager wegen „Abhörens von Feindsendern und defaitistischer Einstellung“ als ein „warnendes Beispiel“ vor Augen gestellt worden.121 Ein hartes Durchgreifen kündigte Seyß-Inquart jenen deutschen Angestellten an, die während des ‚verrückten Dienstags‘ „auftragswidrig“ ihre Dienststelle verlassen hatten – d. h. geflüchtet waren: Sie mussten mit der Aburteilung vor einem Sondergericht rechnen.122 Im Dezember 1944 wurde für alle Dienststellen des Reichskommissariats eine Urlaubssperre verhängt, und um eine neuerliche Absetzbewegung nach Deutschland zu verhindern, bedurften alle Angestellten und Beamten für Reisen ins Reich fortan der persönlichen Vorabgenehmigung durch Seyß-Inquart oder einen der vier Generalkommissare.123 Mit Ermahnungen, rigider werdenden Dienstvorschriften und drakonischen Strafandrohungen versuchte Seyß-Inquart, unter den Angehörigen seiner Behörde Disziplin und Loyalität in einer Phase aufrechtzuerhalten, in der sich das Ende von deutscher Besatzung, nationalsozialistischer Herrschaft und Zweitem Weltkrieg immer deutlicher abzeichnete. Der Ernst der Lage und die Sorge um die deutsche Herrschaft über die Niederlande kommt auch in Seyß-Inquarts Appell an die Obersten Reichsbehörden zum Ausdruck, „angesichts der derzeitigen Lage von jeder Befassung meiner Dienststelle abzusehen, die sich nicht auf die allein kriegswichtigen Dinge, also den Stellungsbau oder die Rückführung von Kriegsgütern bezieht; für die Vertretung privatwirtschaftlicher Interessen irgendwelcher Gruppen oder Einzelpersonen ist derzeit kein Raum.“124 Der Verfall der deutschen Herrschaft, der zwischen ‚verrücktem Dienstag‘ und Kapitulation die letzte Phase der Besatzungsgeschichte prägte, ging einher mit dem genauen Gegenteil 119 Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 194. 120 Rundschreiben des Reichskommissars vom 9. Juni 1944, NIOD, 14/129. 121 Siehe Piesbergens Rundschreiben vom 19. August 1944, NIOD, 14/116. 122 Seyß-Inquart an die Obersten Reichsbehörden vom 10. Oktober 1944, BArch, NS 6/352, Bl. 23. 123 Rundschreiben von Piesbergen vom 29. Dezember 1944, NIOD, 14/116. 124 Seyß-Inquart an die Obersten Reichsbehörden vom 10. Oktober 1944, BArch, NS 6/352, Bl. 24.

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der ‚Politik der ausgestreckten Hand‘, mit der Seyß-Inquart im Frühjahr 1940 angetreten war: Zwischen September 1944 und Mai 1945 bestimmte in den Landesteilen, die noch nicht von den Alliierten hatten befreit werden können, blanker Terror das Verhältnis des Regimes zur einheimischen Bevölkerung. In den westlichen, östlichen und nördlichen Provinzen wurden willkürliche Verhaftungen, die Verhängung von exzessiven Strafen für geringste Verstöße gegen die vom Regime geschaffene Rechtsordnung sowie die Überflutung ganzer Landstriche durch die Wehrmacht zu einer grausamen Normalität für die betroffene Bevölkerung. Außerdem nahm in diesen neun Monaten im Vergleich zu den vorangegangenen Phasen der Abtransport von Rohstoffen, Waren, Maschinen, Verkehrsmitteln und Arbeitskräften ins Reich noch einmal zu. Durch zwei Ereignisse, die neben dem Vormarsch der Alliierten in der Phase der Agonie der deutschen Herrschaft großen Einfluss auf Seyß-Inquarts Politik hatten und untereinander in einem Zusammenhang standen, wurde die Situation zusätzlich erschwert: durch den Eisenbahner- oder Septemberstreik und durch den Hungerwinter.125 Der dritte und letzte große Streik der besetzten Niederlande begann, als die Exilregierung in London am 17. September 1944 über die BBC und Radio Oranje die Angestellten der niederländischen Eisenbahngesellschaft zur Arbeitsniederlegung aufrief, um die britisch-amerikanische Operation Market Garden zu unterstützen. Der Streik wurde mit ausdrücklicher Billigung der Exilregierung auch dann fortgesetzt, als sich schon nach wenigen Tagen herausstellte, dass die Befreiung des Landes nach der Schlacht bei Arnheim ins Stocken geriet und noch einige Zeit auf sich warten lassen würde.126 Daraufhin versuchte Seyß-Inquart, durch den Leiter der Hauptabteilung Ernährung und Landwirtschaft im Generalkommissariat für Finanz und Wirtschaft, Ministerialrat Jürgen von der Wense, niederländische Beamte zu einem Aufruf zu bewegen, den Streik einzustellen. Der kommissarische Generalsekretär im Ministerium für Handel, Industrie und Schifffahrt sowie im Ministerium für Landwirtschaft und Fischerei, Dr. Hans Max Hirschfeld, und der Generaldirektor des Reichsamts für Ernährung im Ministerium für Landwirtschaft und Fischerei, Stephanus Louwe Louwes, verweigerten jedoch ihre Mitwirkung in der Erwartung, dass die Niederlande bald befreit sein würden.127 Sie ließen sich nicht einmal durch die Androhung von Gegenmaßnahmen einschüchtern, mit denen das NS-Regime von der Wense zufolge „die niederländische Bevölkerung im Westen des Landes sofort vor die Hungerfrage“ stellen würde.128 Um den Druck zu erhöhen, verhängte Seyß-Inquart daraufhin über den gesamten zivilen Schiffsverkehr ein Embargo: Mehrere Wochen hindurch standen niederländische Schiffe

125 Vgl. Trienekens, Voedsel en honger in oorlogstijd, 73 ff. Siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 10 ff. und ebd., Kap. 3. 126 Vgl. die Ansprache von Premierminister Dr. Pieter Sjoerd Gerbrandy auf Radio Oranje vom 21. November 1944, in: B.B.C. vom 22. November und Radio Oranje. Orgaan voor Strijdend Nederland vom 23. November 1944 (NIOD, Coll. 556, Kart. 4 bzw. 65). Auch andere Untergrundzeitungen verbreiteten den Text von Gerbrandys Rundfunkansprache. 127 So Hirschfeld in seinem Tagebucheintrag zum 22. September 1944, NIOD, 212a/2d, Bl. 16. 128 So die Darstellung von Hirschfeld auf dem Nürnberger Prozess nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 236.

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ausschließlich der Wehrmacht zur Verfügung, sie durften weder Lebensmittel noch Treibstoff oder Kohle in die besetzten Teile des Landes einführen. In der Deutschen Zeitung in den Niederlanden begründete der Reichskommissar diese Maßnahme mit der militärischen Notwendigkeit, die Niederlande gegen eine Eroberung durch die Alliierten zu sichern. In diesem Sinn gestand er der Wehrmacht zu, „dass sie dasjenige, was sie zur Verteidigung dieses Landes gebraucht und in diesem Lande vorfindet, mit allem Recht in Anspruch nehmen kann und muss […].“ Dabei war ihm bewusst, dass das Schiffsembargo eine Zäsur im Verhältnis zwischen Besatzungsmacht und Bevölkerung bedeutete und eine neue Phase einläutete: „Die sorgsame und rücksichtsvolle Behandlung, die die Niederlande in den letzten vier Jahren erfahren haben, ist […] heute nicht mehr möglich.“129 Verschlimmert wurde die ganze Situation dadurch, dass zu diesem Zeitpunkt Agrargebiete und die Limburger Kohleminen in den bereits befreiten Teilen des Landes lagen und damit die stark urbanisierten Westprovinzen vom Nachschub abgeschnitten waren, andere Gebiete durch gezielt herbeigeführte Überflutungen mit Meerwasser unbrauchbar gemacht wurden oder durch Bombenangriffe in Mitleidenschaft gezogen waren.130 Seyß-Inquarts Schiffsembargo ist in der Geschichtsschreibung zu Recht als eine besondere Form staatlichen Terrors bezeichnet worden: Es kostete die deutsche Seite wenig Aufwand, trug einen unblutigen Charakter und hatte einen flächendeckenden Effekt, den Verhaftungen, Geiselnahmen oder Exekutionen einer begrenzten Anzahl von Bürgern nie erreichen konnten.131 Sechs Wochen lang wurde die gesamte Bevölkerung der westlichen, östlichen und nördlichen Niederlande sozusagen in kollektive Geiselhaft genommen. Damit wurde eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, die in die verheerende Hungerkatastrophe vom Winter und Frühjahr 1944/45 mündete. Zum 8. November 1944 hob Seyß-Inquart das Embargo offiziell wieder auf. Bei der Wehrmacht bemühte er sich um die Zusage, dass Heer und Marine niederländische Schiffe nicht davon abhielten, Lebensmittel und Kohle in die westlichen Landesteile zu transportieren.132 Trotzdem nahm die deutsche Armee weiterhin Schiffe für ihre Zwecke in Beschlag und verhinderte damit, dass lebensnotwendige Güter in ausreichendem Maße eingeführt werden konnten. Außerdem waren die Fahrten, die nun wieder erlaubt waren, erheblichen Einschränkungen unterworfen. So gestanden Vertreter von Wehrmacht und Zivilverwaltung zwei Tage 129 Seyß-Inquart, Absolut sicher und gelassen. 130 Klemann, Die niederländische Wirtschaft von 1938 bis 1948, 73. 131 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 19 unter Bezugnahme auf die grundlegende Untersuchung zum Eisenbahnerstreik durch Adolf Johann Cord Rüter (Rijden en staken, 1960). 132 Siehe das Protokoll der Befragung des früheren Wasserstraßenbevollmächtigten im Generalkommissariat für Finanz und Wirtschaft, Dr. Arved H. C. Bolle, vom 4. Juli 1946, NA, FO 1019/44. An die wichtige Frage, ob Seyß-Inquart vor Ausrufung des Embargos mit einer Hungersnot gedroht hatte, wollte sich Bolle, der ansonsten recht ausführliche Schilderungen lieferte, nicht erinnern. Seine Aussage, die offenkundig ihn selber wie auch Seyß-Inquart entlasten sollte, ist somit von begrenztem historiografischen Wert. Dessen ungeachtet versprach sich Steinbauer von Bolles Aussage den Nachweis, „daß Seyß-Inquart bestrebt war, diesen durch die Maßnahmen der Wehrmacht hervorgerufenen Zustand soweit wie möglich in seinen Auswirkungen zu mildern.“ (Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 8, 669) Zur Aufhebung des Schiffsembargos siehe auch In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Anm. 2 zu Dok. 594, 1421.

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nach Aufhebung des Embargos den Niederlanden auf einer Besprechung unter Vorsitz des Reichskommissars nicht mehr als 15 Schlepper für die Anlieferung von Waren über das Ijsselmeer zu.133 Von geschätzten ein bis zwei Millionen Tonnen Frachtraum sollten „für niederländische Transportzwecke“ lediglich 100.000 Tonnen zur Verfügung stehen. Bei diesen begrenzten Kontingenten durften niederländische Unternehmen ausschließlich einheimische Schiffe benutzen, von einer Unterstützung durch deutsche Schiffe oder Lastwagen war auf der Besprechung vom 10. November keine Rede.134 Die Fahrten der niederländischen Schiffe wurden dem Geleit – und zugleich der Kontrolle – der Ijsselmeerflotte unterworfen, die letztlich Rauters Kommando unterstand. Und schließlich wurden die niederländischen Transportfirmen verpflichtet, „die Schleppzüge voll auszulasten und auf der Rückfahrt von Amsterdam nach dem Osten den freien Schiffsraum der Wehrmacht zum Transport von Wehrmachtsund Rüstungsgut zur Verfügung zu stellen.“ Angesichts solch restriktiver Bedingungen und der Tatsache, dass der Eisenbahnerstreik unvermindert weiterging, erstaunt es nicht, dass die Anlieferung lebenswichtiger Waren weit hinter den Erwartungen, geschweige denn den Notwendigkeiten zurückblieb. Im Laufe des strengen Winters wuchs sich der Mangel an Nahrungsmitteln und Kohle für die Zivilbevölkerung insbesondere in den drei westlichen Provinzen Südholland, Nordholland und Utrecht zu einer unerhörten humanitären Katastrophe aus. Verschärft wurde die Situation durch die erwähnte Demontage von Maschinen und Fabrikanlagen, durch Plünderungen und durch die gezielte Zerstörung von Infrastruktur und landwirtschaftlicher Nutzfläche. Um nun die Gütereinfuhr zu steigern, gab Seyß-Inquart nach der Aufhebung des Schiffsembargos seine Zustimmung zu Lebensmittellieferungen durch das Schweizer und das Schwedische Rote Kreuz. Außerdem erteilte er Anfang Dezember 1944 seine Zustimmung zur Gründung der ‚Zentralen Reederei für Ernährung‘. Sie hatte dafür zu sorgen, dass Nahrungsmittel aus den Provinzen Groningen, Friesland und Drenthe über das Ijsselmeer zu der hungernden Bevölkerung in den Städten des westlichen Landesteils transportiert wurden. Die Verwaltung der Centrale Reederij van de Voedselvoorziening lag ausschließlich in niederländischen Händen, denn von Anfang an waren für das Direktorium einheimische Politiker und Beamte vorgesehen: Hirschfeld und Louwes sowie die Bürgermeister von Amsterdam und Rotterdam, der deutschfreundliche Edward John Voûte und das NSB-Mitglied Fredrik Ernst Müller.135 Damit schuf sich die Besatzungsmacht die Möglichkeit, die unzureichende Versorgung der Bevölkerung in den westlichen Provinzen des Landes nicht nur auf den von der Exilregierung in

133 Siehe hierzu das Rundschreiben Rauters vom 11. November 1944, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 600, 1431. 134 Ähnlich hielt es Seyß-Inquart Ende Oktober 1944 bei einem Besuch der Provinz Seeland, die Opfer von alliierten Luftangriffen geworden war, für „selbstverständlich, dass dieser durch englische Bomber hervorgerufene Notzustand nicht zu Lasten der deutschen Besatzung gehen kann. […] Es wird vor allem Sache der Niederländer sein, ihren in Not geratenen Landsleuten zu helfen […].“ DZN vom 26. Oktober 1944; siehe auch Het Nationale Dagblad vom selben Tag. 135 De Tijd. Dagblad voor Nederland vom 22. Dezember 1944. Zur Reederei siehe auch De Jong, Het Konink­ rijk, Bd. 10b/1, 178–181.

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London initiierten und unterstützten Eisenbahnerstreik zurückzuführen, sondern die Verantwortung hierfür auch den niederländischen Behörden in die Schuhe zu schieben. In diesem Sinn wurde noch im Dezember 1944 für die Presse die Parole ausgegeben, dass das Problem der Lebensmittelversorgung „in erster Linie eine Transportfrage“ sei.136 Die eigene Verantwortung für die immer bedrohlicher werdende Lage meinte das Regime damit herunterspielen zu können, und noch nach dem Krieg gab Seyß-Inquart „den Holländern“ die Schuld für die Kalamitäten des Hungerwinters, „da sie die Weisungen der Emigrantenregierung“ in London befolgt und den Eisenbahnerstreik über den September 1944 hinweg fortgesetzt hätten.137 Die Beurteilung des Schiffsembargos und des Hungerwinters schwankte nach Kriegsende zwischen zwei Extrempositionen: Die Täter von einst und ihre Rechtsvertreter versuchten, die Bedeutung der deutschen Maßnahmen und deren Folgen zu bagatellisieren. So meinte Steinbauer vor dem Nürnberger Gerichtshof, dass „die allgemeine Lebenslage“ trotz der Blockade des zivilen Schiffsverkehrs durch die Besatzungsmacht „unter Berücksichtigung der Kriegszeit durchaus keine wesentliche Verschlechterung erfuhr“,138 und Seyß-Inquart selbst verstieg sich in einer Denkschrift, in der er im Herbst 1945 seine Verteidigung vor dem Internationalen Militärgerichtshof vorbereitete, zu der Aussage, im Deutschen Reich sei „eine groessere Lebensmittelnot fuer mehr Menschen eingetreten, als dies in Holland der Fall war.“139 Außerdem gab er sich noch im Rückblick überzeugt, dass sein Embargo militärisch notwendig und zum Zeitpunkt der Ausrufung für die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung ungefährlich gewesen sei. Erst durch die Fortsetzung des Eisenbahnerstreiks, das Untertauchen von Beamten des niederländischen Verkehrsministeriums, die Weigerung der einheimischen Schiffer, nach Aufhebung des Embargos ihre Boote in den Dienst der Anfuhr von Lebensmitteln und Kohle zu stellen, sowie die fortgesetzten Requisitionen der Wehrmacht sei die Situation derart verschärft worden, dass mit Einsetzen der Frostperiode der Hungerwinter nicht mehr hätte vermieden werden können.140 In diesem Sinn wollte er das Embargo als einen „Notstand“ verstanden wissen, „in den sich die Niederlaender selbst versetzt hatten, indem sie im Sept[ember] 1944 alles auf eine Karte setzten.“141 Im kollektiven Gedächtnis der niederländischen Gesellschaft hingegen wurde der Hungerwinter jahrzehntelang zum dominierenden Signum der deutschen Herrschaft und geradezu zum Synonym für die Gesamtheit der deutschen Herrschaft.142 Die Erinnerung an die existenziellen Nöte, denen die Bevölkerung besonders in Südholland, Nordholland und Utrecht in den Monaten zwischen Herbst 1944 und Mai 1945 ausgesetzt war, überlagerte alle anderen 136 Delftsche Courant vom 19. Dezember 1944. 137 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 104. Handschriftlich fügte Seyß-Inquart hinzu, dass den Deutschen in dieser Situation nur die Verhängung des Schiffsembargos geblieben sei: „Wenn alle Verkehrsmittel durch Streik ausfallen, sorgt die Besatzungsmacht zuerst für sich!“ 138 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 19, 121. 139 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 20. 140 Seyß-Inquart, Embargo auf dem Iysselmeer, Bl. 18; das Manuskript datiert vom 13. November 1945. 141 Seyß-Inquart, Schlussausfuehrungen, Bl. 66. 142 Kossmann, Overleven in bezettingstijd, 244, Barnouw, De hongerwinter, Kap. 5 und Klemann, De Hongerwinter, 260–264.

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Aspekte der fünf Besatzungsjahre, erschwerte die Analyse von unterschiedlichen Phasen oder divergierenden Ansätzen und Zielsetzungen der deutschen Politik und ließ die vielfältigen Formen der Interaktion zwischen den Besatzern und der Bevölkerung des besetzten Landes unter Einschluss von Kollaboration und Anpassung breiter Bevölkerungskreise an das neue Regime in den Hintergrund treten. Dabei geriet aus dem Blick, dass der Hungerwinter innerhalb der Besatzungszeit eine singuläre Position einnimmt: Während bis zum September 1944 die Ernährungslage trotz der erzwungenen Ausfuhr von Lebens- oder Futtermitteln nach Deutschland stabil und auf einem relativ hohen Niveau war und die Bevölkerung im Großen und Ganzen ausreichend ernährt werden konnte, sank die Versorgung der westlichen Provinzen während des Hungerwinters derart dramatisch, dass die durchschnittliche Tages­ ration auf 340 Kilokalorien sank und Tausende von Niederländerinnen und Niederländern an Unterernährung starben.143 Es war das Verdienst von Gerard Trienekens, 1985 in seiner Dissertation die Besonderheit dieser Phase der Besatzungszeit herausgearbeitet zu haben. Er wies auch darauf hin, dass der desaströse Hungerwinter letztlich das Ergebnis eines politischen Spiels der Besatzungsmacht, der Alliierten und der niederländischen Exilregierung war, die den Septemberstreik fortführte, obwohl der Vormarsch der alliierten Truppen recht bald bei Arnheim ins Stocken geraten war und eine unmittelbare Befreiung der nördlichen, östlichen und westlichen Provinzen auf absehbare Zeit nicht zu erwarten war.144 Dies nimmt freilich nicht weg, dass das nationalsozialistische Deutschland auch in der letzten Phase der Besatzungsgeschichte die Hauptverantwortung für alles trug, was in den Niederlanden vor sich ging, und die Überlebensbedingungen für die einheimische Bevölkerung durch die politischen und militärischen Entscheidungen und Maßnahmen des NS-Regimes erheblich verschärft wurden. Wie und unter welchen Bedingungen Seyß-Inquart versucht hat, während des Hungerwinters die Versorgung der einheimischen Bevölkerung mit Lebensmitteln und Kohle durch Verhandlungen mit niederländischen Beamten im besetzten Gebiet, mit der Exilregierung in London und mit Vertretern der Alliierten in Gang zu bringen, wird in Kapitel 14 untersucht. Dort ist auch die Haltung zu analysieren, die der Reichskommissar im letzten halben Jahr des Zweiten Weltkriegs zur Überschwemmung landwirtschaftlicher Nutzflächen, zur Zerstörung von Infrastruktur, zur Demontage von Maschinen und Fabrikanlagen sowie zur ‚Politik der verbrannten Erde‘ eingenommen hat. Und schließlich ist dort der Ort, um unter systematischen Gesichtspunkten zu untersuchen, wie Seyß-Inquart trotz des Vormarschs der alliierten Truppen auf ‚seine‘ Niederlande und trotz der Auflösungstendenzen innerhalb seiner eigenen Behörde und unter niederländischen Kollaborateuren in der letzten Phase der Besatzungszeit die Position der deutschen Zivilverwaltung bis zur Kapitulation der Wehrmacht und zum Untergang des Deutschen Reiches gehandhabt hat. Hier genügt der Hinweis, dass seine persönliche Verantwortung für den Hungerwinter weiter ging, als seine Darstellung auf dem Nürnberger Prozess nahelegte.145 Bei seiner Ver143 Klemann, Nederland 1938–1948, 465. 144 Trienekens, Voedsel en honger in oorlogstijd, 78. 145 Vgl. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 21–23.

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Kapitel 3: Die Niederlande unter deutscher Besatzung

teidigung strich er heraus, er habe bei der Wehrmacht darauf gedrungen, die Beschlagnahme niederländischer Schiffe auf drei bis vier Wochen zu befristen, damit rechtzeitig vor Beginn der Frostperiode wieder Transportkapazitäten für den zivilen Bedarf zur Verfügung stünden. Und während er selber mit seiner Behörde vielfältige Anstrengungen unternommen habe, um die Lebensmittelversorgung wiederherzustellen, trügen die Wehrmacht mit der Requirierung von Schiffen, die niederländischen Eisenbahner mit ihrem Streik und eine unfähige niederländische Verwaltung die Schuld für die mangelhafte Versorgung während des Hungerwinters. Mit dieser Darstellung ging Seyß-Inquart darüber hinweg, dass er es gewesen war, der im Herbst 1944 die politische Verantwortung für das Embargo übernommen und eine Politik des Hungers als kalkulierte Erpressung eingesetzt hatte. Auch ließ er außer Betracht, dass der Eisenbahnerstreik für die Deutschen durchaus Vorteile mit sich gebracht hatte: Da der zivile Verkehr zum Erliegen gekommen war, konnten Maschinen und Strecken durch den Einsatz von Zugführern der Deutschen Reichsbahn für militärische Zwecke genutzt werden. Für die weiterhin besetzten Gebiete der Niederlande aber war die letzte Phase von Seyß-Inquarts Reichskommissariat ein grausamer Tiefpunkt. Sie stellt das Ende einer Entwicklung dar, die in der zweiten Phase einsetzte, in der dritten Phase an Intensität zunahm und in der vierten Phase in einer ‚Politik der ausgestreckten Faust‘ kulminierte. Mit Konrad Kwiet lässt sich diese Entwicklung der deutschen Besatzungspolitik folgendermaßen zusammenfassen: „Je länger der Krieg dauerte und je radikaler er geführt wurde, desto rücksichtsloser wurde die Besatzung gehandhabt. Der Kampf gegen die immer stärker werdende Resistance, die Geiselerschießungen, der Arbeitseinsatz, die restlose wirtschaftliche Ausbeutung und vor allem die erbarmungslose Judenverfolgung führten die Nazifizierungsversuche ad absurdum, enthüllten mehr und mehr nur noch den nackten Machtanspruch der deutschen Führung und ließen für germanische Partnerschaft immer weniger Raum.“146

146 Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 150.

Kapitel 4:

Ernennung zum Reichskommissar

Warum war es Arthur Seyß-Inquart, der als höchster Repräsentant des Großdeutschen Reiches in jenes Land entsandt wurde, das im Morgengrauen des 10. Mai 1940 zusammen mit Frankreich, Belgien und Luxemburg im Zuge des Westfeldzugs von der Wehrmacht überfallen worden war? Nicht zu Unrecht warf die renommierte New Yorker Staatszeitung und Herold im November 1941 die Frage auf, aus welchen Gründen „diese Mittelmäßigkeit Österreichs auf den Posten im Haag“ gelangte.1 Gab es sachliche Gründe, die für Seyß-Inquart sprachen? Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Seyß-Inquart offenkundig keine persönliche Beziehung zu den Niederlanden gehabt, und es gibt keinen Nachweis, dass er sich jemals vor Mai 1940 in diesem Land aufgehalten hätte. Am allerwenigsten dürfen ihm niederländische Sprachkenntnisse unterstellt werden. Sein Duzfreund Friedrich Wimmer, der ihm schon in Österreich zu Diensten gewesen war und ihm auch in die Niederlande folgte, attestierte ihm nach dem Krieg „ein Antitalent für Sprachen“,2 und noch 1943 musste Seyß-Inquart bei einer Ansprache vor über 1.000 Mitgliedern des Niederländischen Arbeitsdienstes öffentlich eingestehen, dass „ich nicht in Eurer Sprache zu Euch sprechen kann.“3 Mehr noch: In seiner Vorstel1 Diplomaticus, Brief aus der Bundeshauptstadt. 2 Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 345. Auf dem Bogen Personalangaben vom 5. Juni 1939 (BArch [ehem. BDC], SSO Arthur Seyß-Inquart, Bl. 21) sowie auf einer Karteikarte vom 15. Oktober 1941 (NIOD, Coll. Doc. I, 1564, Mappe B) hat Seyß-Inquart selber angegeben, dass er keine Fremdsprache in Wort und Schrift beherrsche – obwohl er auf dem Olmützer Gymnasium Unterricht in Fremdsprachen gehabt hatte, wie die entsprechenden Einträge zu Französisch und Tschechisch in den Haupt-Katalogen des K.k. Deutschen Staatsgymnasiums in Olmütz für die Schuljahre 1903 bis 1905 und 1906/07 belegen (SOkAO, Německé státní gymnazium, M 5-34/86, 87 und 89). Später hat Seyß-Inquart Privatunterricht in Englisch genommen. Entsprechende Hinweise finden sich in Briefen aus den Jahren 1913 und 1914 an seine Verlobte Gertrud Maschka, die sich damals zum Erlernen der englischen Sprache in Großbritannien aufhielt. Siehe die Materialien in: ÖNB-HAN, Autogr. 1019/1 ff. Vgl. auch Neuman, Arthur Seyss-Inquart, 16. 3 DZN vom 6. April 1943. Seyß-Inquarts Persönlicher Referent Dr. Hermann Harster bestätigte am 14. April 1949 in einem Gespräch mit den niederländischen Historikern Louis de Jong und Adolf E. Cohen rückblickend, dass Seyß-Inquart – im Gegensatz zu seiner Frau Gertrud – in all den Jahren seines Aufenthalts in den Niederlanden die dortige Landessprache nicht erlernt hat. „Jeder von uns lernte es eigentlich von selbst, sozusagen auf der Strasse. Seyss-Inquart nicht, er probierte es auch gar nicht.“ (NIOD, Coll. Doc. I, 248-0638A/a2, Bl. 7). Siehe auch Laurentius, De residentie van Seyss-Inquart, 162.

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lung gab es zwischen der deutschen und der niederländischen Sprache ein hierarchisches Verhältnis. Es reflektierte die Machtverhältnisse, die seit der Kapitulation der niederländischen Streitkräfte zwischen den beiden Ländern herrschten. Denn Seyß-Inquart hielt es für erwiesen, „daß die Verständigungssprache in diesem Bereich sich nach dem deutschsprechenden 90-Millionen-Volk richten wird, da die Niederländer als zweitstärkste Teilhaber nur 9 Millionen Köpfe aufweisen. Die Kenntnis der deutschen Sprache wird daher eine der Voraussetzungen für die Bewegungsfreiheit vorerst im germanischen Raum, darüber hinaus aber in Europa und wahrscheinlich in nicht unbeträchtlichem Maße in der ganzen Welt sein.“4 Eine solch ideologisierte Haltung war wenig geeignet, sich selbst zu motivieren, die Muttersprache der Bevölkerung des eroberten Landes zu erlernen. Immerhin hat Seyß-Inquart bis zum Ende der Besatzungszeit mindestens begrenzte passive Kenntnisse der Landessprache erworben. Denn in einem Protokoll von Mitte April 1945 wurde festgestellt, dass der Reichskommissar in der Lage war, einen auf Niederländisch verfassten Text zu lesen und zu beurteilen.5 Doch nicht nur Sprachkenntnisse müssen im Hinblick auf seine Entsendung in die Niederlande als Leerstelle betrachtet werden. Es lassen sich für die Zeit vor dem Westfeldzug auch keinerlei persönliche oder politische Verbindungen zu niederländischen Faschisten ausmachen,6 und auch zu deutschen Parteigenossen in den Niederlanden wie einem österreichischen Nationalsozialisten aus Eindhoven, der Seyß-Inquart am 13. März 1938 (dem von ihm so genannten „Tag der Befreiung Österreichs“) als Dank für seinen Beitrag zum Anschluss Österreichs einen Schmuckbrief sandte,7 pflegte er keine Beziehungen. In der niederländischen Presse war Seyß-Inquart zwar vor 1940 durchaus präsent, wenn es darum ging, ihn in eine Reihe mit europäischen Kollaborateuren zu stellen, die ihr eigenes Land dem Dritten Reich auslieferten. Doch eine unmittelbare Verbindung zwischen den Niederlanden oder einheimischen Nationalsozialisten und Seyß-Inquart wurde in solchen Beiträgen, die dem National-

4 Seyß-Inquart, Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [12. März 1941], 62. Hier wie an vergleichbaren Stellen war in der niederländischen Übersetzung von 85 statt 90 Millionen deutschsprachigen Menschen die Rede (Seyß-Inquart, Rede van den Rijkscommissaris, 25). Zum deutschnationalen Topos des ‚90-Millionen-Volks‘ siehe Thorpe, Pan-Germanism and the Austrofascist State, 96 f. 5 Siehe das Protokoll zum 13. April 1945, NIOD, 183/105. 6 Seyß-Inquart wird denn auch in keinem Buch über den niederländischen Faschismus vor dem Zweiten Weltkrieg genannt. Siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 1, De Jonge, Het Nationaal-Socialisme, Orlow, The Lure of Fascism und Te Slaa/Klijn, De NSB. Ob Seyß-Inquart mit Rost van Tonningen, der in den Zwanziger- und Dreißigerjahren den Völkerbund in Wien vertrat und nach dem Westfeldzug zu einem der wichtigsten niederländischen Nationalsozialisten wurde, jemals in Österreich zusammengetroffen ist, lässt sich nicht belegen. Er selber hat auf dem Nürnberger Prozess für diesen Zeitraum ein persönliches Treffen in Abrede gestellt (siehe seine Aussage vom 11. Juni 1946 in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 35), und aus der Korrespondenz, die die beiden Nationalsozialisten während der Besatzungszeit miteinander geführt haben, geht eine frühere Bekanntschaft nicht hervor (siehe Berger, Im Schatten der Diktatur). Analoges gilt für Ernst Hermann van Rappard, der 1930 an der Wiener Universität in Staatswissenschaften promovierte und ein Jahr später die Nationaal-Socialistische Nederlandsche Arbeiderspartij (NSNAP) ins Leben rief (siehe Zondergeld, Rappard). 7 ÖStA/AdR, BKA, Ministerkorrespondenz Seyss-Inquart, 85/1105.

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sozialismus ablehnend gegenüberstanden, nicht hergestellt.8 Nicht einmal in den Planungen zum ‚Fall Gelb‘, wie der militärische Überfall auf die Beneluxstaaten und Frankreich genannt wurde, tauchte Seyß-Inquarts Name auf.9 Hat Hitler mit der Entscheidung für Seyß-Inquart – wie Max Domarus meinte – die gleiche Taktik angewandt, die er bereits der Entsendung des Pfälzers Bürckel nach Wien oder des Rheinländers Terboven nach Oslo zugrunde gelegt hatte: „Nur ja keinen Mann ernennen, der mit den Landesverhältnissen vertraut war“?10 Entscheidend für die Bestimmung Seyß-Inquarts zum Reichskommissar in den Niederlanden war jedenfalls, dass der Betroffene selber zu einem geschickt gewählten Zeitpunkt auf sich aufmerksam machte. Denn es war wohl alles andere als ein Zufall, dass er just an dem Tag, an dem die Wehrmacht den Überfall auf Frankreich und die Beneluxländer begann, Hitler schriftlich bat, ihn „an die Front zu lassen“. Außerdem ersuchte er Himmler am selben Tag, sich beim ‚Führer‘ für eine neue Verwendung für ihn einzusetzen. Als Begründung gab er an: „Es drängt mich, nach den Erlebnissen 191418 nun unter des Führers und Großdeutschlands Fahnen im Kampfe zu stehen.“ Dass er dennoch nicht allen Ernstes an eine genuin militärische Verwendung dachte, erhellt aus seinem expliziten Hinweis, dass er mit seinem „steifen Bein“, das er sich im Sommer 1928 nach einem Bergunfall am Ortler zugezogen hatte, „nicht mehr stürmen kann.“11 Auch musste ihm klar sein, dass Hitler keinen Spitzenfunktionär im Rang eines Reichsministers an die Front schicken würde, nachdem Seyß-Inquart wegen dieses Rangs im Sommer 1939 nicht für den Posten eines Gesandten in der Slowakei in Betracht gekommen war.12 Und schließlich war sein militärischer Rang eines Oberleutnants der Reserve weit unter jenem Niveau, das er als Politiker im zivilen Bereich erreicht hatte. Von Himmler ist Seyß-Inquarts Schreiben vom 10. 8

Bezeichnend ist etwa die Einschätzung, die Louis de Jong nicht einmal eine Woche vor Beginn des Westfeldzugs in einem Zeitungsartikel vornahm: „Die ‚Fünfte Kolonne‘ – das sind die Seiss-Inquarts [sic] und Henleins, die Gaydas und Hachas, die Tisos und Tukas, die Codreanus, die Van Severens, die Mosleys, die Quislings, die Musserts – völkische Belagerer des eigenen Volkes, Hypernationalisten, die die eigene Nation ins Verderben stürzen wollen. Es handelt sich um lärmende Anbeter von Liktorenbündel und Hakenkreuz, ‚Blut und Boden‘ und Stechschritt. Sie sind die Vorhut des internationalen Faschismus.“ („De Vijfde Colonne“ marcheert …, 8). Das Zitat wurde in leicht gekürzter Form auch in die Broschüre Het kan verkeeren aufgenommen, in der zahlreiche Textauszüge und Karikaturen aus niederländischen Zeitungen zu Seyß-Inquarts Beitrag zum Anschluss Österreichs abgedruckt wurden. Die Schrift, die nach dem Fünf-Tage-Krieg publiziert wurde, richtete sich ebenso gegen Seyß-Inquart wie gegen die niederländischen Faschisten. 9 Vgl. Van Gent, Het falen van de Nederlandse gewapende neutraliteit. 10 Domarus (Hrsg.), Hitler, Bd. 3, 1514, ähnlich ebd., Bd. 4, 1782. 11 Während Seyß-Inquarts Schreiben an Hitler verloren gegangen ist, ist sein Brief an Himmler vom 10. Mai 1940 überliefert in BArch, NS 19/836, Bl. 130 f. Zu dem Bergunfall von 1928 siehe die Meldung im Tiroler Anzeiger vom 21. August 1928. Über deutsche Planungen zu einem Angriff im Westen dürfte Seyß-Inquart schon längere Zeit vorher informiert gewesen sein. Er selber hatte in der ersten Märzwoche auf „den Kampf am Westwall, an der Küste, auf den Meeren und in der Luft“ hingewiesen, der ebenso wie „der Einsatz im Osten“ für „den Bestand des Reiches unerläßlich sei“ (zit. nach Krakauer Zeitung vom 9. März 1940). Schon Wochen vor dem Westfeldzug war in den Presseorganen des Generalgouvernements, der Krakauer Zeitung und der Warschauer Zeitung, auffallend oft von Westwall, Maginotlinie und den verstärkten Rüstungsanstrengungen der niederländischen Armee die Rede gewesen. 12 Vgl. hierzu Koll, Profilierung im prekären Staat, 294.

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Abb. 7a: Erste Seite von Seyß-Inquarts Schreiben an Himmler vom 10. Mai 1940, mit dem er um eine neue Verwendung bat.

Mai 1940 denn auch zutreffend als das interpretiert worden, als was es wohl gedacht war: eine Bewerbung um einen herausgehobenen politischen Posten in einem der frisch überfallenen westeuropäischen Länder.13 Auf diese Weise wollte sich Seyß-Inquart aus der unglücklichen 13 Ob Seyß-Inquart über diese Angelegenheit mit Himmler, der sich in diesen Tagen im Generalgouvernement aufhielt (siehe Krakauer Zeitung vom 12. Mai 1940), ein persönliches Gespräch geführt hat, ist nicht bekannt.

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Abb. 7b: Zweite Seite von Seyß-Inquarts Schreiben an Himmler vom 10. Mai 1940.

Situation befreien, in der er sich in Krakau unter Hans Frank befand. Er kam zwar auch später Himmler gegenüber noch einmal auf den Wunsch „nach dem persönlichen Einsatz in [sic] der Front“ zurück, weil ihm hierin „eine Vollendung nach den Erlebnissen des [Ersten] Weltkriegs, der Kampfjahre und Großdeutschlands Werden“ zu liegen schien.14 Doch auch diesmal hatte der Verweis auf eine militärische Verwendung den Charakter des Kokettierens. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte er sich als Reichskommissar in den Niederlanden bereits so fest etabliert, dass seine Abberufung zur Wehrmacht politisch absurd gewesen wäre.15 Tatsächlich dürften Hitler und Himmler am 15. Mai – dem Tag der Kapitulation der niederländischen Streitkräfte – die ‚Bewerbung‘ des österreichischen Nationalsozialisten gebilligt haben – hatte Seyß-Inquart sich doch aus Sicht der Reichsführung mit seinem diplomatischen Fingerspitzengefühl und der politischen Erfahrung, die er in Wien und Krakau an den Tag gelegt hatte, bewährt, und mit seinem Schreiben vom 10. Mai hatte er Interesse und Bereitschaft signalisiert, diese Erfahrungen in einem der westeuropäischen Länder zugunsten des rasch expandierenden Großdeutschen Reiches einzusetzen.16 Für Seyß-Inquart mochte auch sprechen, dass er sich als Reichsminister gegenüber Wehrmacht und anderen Instanzen des NS-Staates durchzusetzen versprach, zugleich aber ohne eigene ‚Hausmacht‘ innerhalb der 14 Seyß-Inquart an Himmler vom 27. Dezember 1940, BArch, NS 19/836, Bl. 137 f. 15 In diesem Sinn hielt Himmler Seyß-Inquarts ‚Wunsch‘ „im Interesse des Ganzen gesehen nicht für richtig.“ Himmler an Seyß-Inquart vom 7. Januar 1941, BArch, NS 19/836, Bl. 139. 16 Auch Peter Longerich unterstreicht, dass die Ernennung Seyß-Inquarts zum Reichskommissar nicht zuletzt auf Himmlers Empfehlungen zurückzuführen ist (Himmler, 510).

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NSDAP zu schwach war, um das ihm anvertraute ‚Herrschaftsgebiet‘ zu einer eigenständigen Territorialmacht auszubauen.17 Und nachdem er dazu beigetragen hatte, die österreichische Bevölkerung in das Großdeutsche Reich zu integrieren, konnte man ihm zutrauen, die als ‚germanisches‘ Volk angesehenen Niederländerinnen und Niederländer für das aufzubauende Großgermanische Reich zu gewinnen – wie auch immer so etwas nach dem erhofften Sieg aussehen mochte. Obendrein sah Himmler in der Ernennung des SS-Gruppenführers Seyß-Inquart eine Möglichkeit, seinen eigenen Einfluss in den besetzten Niederlanden gegenüber der Wehrmacht und anderen Machtgruppierungen des NS-Staates zu stärken.18 Für Seyß-Inquart günstig war, dass sich Mitte Mai zwei Tendenzen überlagerten: Seine ‚Bewerbung‘ um einen neuen Posten erreichte den ‚Führer‘ just in dem Augenblick, in dem dieser seine Bestrebungen intensivierte, in den Niederlanden eine Zivilverwaltung einzurichten. Ursprünglich nämlich hatte Hitler bei der Vorbereitung des ‚Falles Gelb‘ der Wehrmachtsführung zugesagt, in den zu erobernden Ländern im Westen eine Militärverwaltung einzurichten.19 Hier wollte die Wehrmacht verhindern, dass SS, Sipo und SD mit ihren Einsatzgruppen und -kommandos durch ihre Politik der ethnischen ‚Säuberung‘ wie beim Einmarsch in Polen die genuin militärischen Operationen erschwerten und das Erscheinungsbild der deutschen Besatzungsmacht von vornherein beschädigten. Im Westen sollte aus Sicht des Oberkommandos des Heeres denn auch „jedes Hineinregieren der Partei-, SS- und Reichsbehörden“ vermieden werden. Mit dieser Zielsetzung ging die Wehrmacht schon bei der Planung der Einrichtung einer Militärverwaltung derart gründlich vor, dass Konrad Kwiet zu der Einschätzung gekommen ist: „In der deutschen Heeresgeschichte ist wohl kaum eine Kriegsverwaltung sorgfältiger und intensiver vorbereitet worden.“20 Im seinem Erlass vom 9. Mai, mit dem der Startschuss zum Westfeldzug gegeben wurde, hatte Hitler der Wehrmacht tatsächlich den Auftrag zum Aufbau einer Besatzungsverwaltung erteilt: „Der Oberbefehlshaber des Heeres hat für die zu besetzenden Gebiete Frankreichs, Luxemburgs, Belgiens und Hollands eine Militärverwaltung einzusetzen. Die Durchführung der Militärverwaltung ist hierfür ausgestatteten militärischen Dienststellen zu übertragen. Die Exekutivorgane sind vom Heer zu stellen.“21 Schon bald aber 17 So auch Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 20. Das Fehlen einer Verankerung in der Partei unterschied Seyß-Inquarts Position in den Niederlanden von der seines ‚Kollegen‘ in Norwegen Terboven, der seit 1928 Gauleiter von Essen war und darüber hinaus als Oberpräsident der preußischen Rheinprovinz (seit 1935) die Sympathien Görings besaß. 18 So auch Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 48 f. Siehe auch In ’t Veld, Inleiding, 78. 19 Siehe hierzu Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, Kap. I. 20 Ebd., 36. Die beiden Einsatzkommandos, die Heydrich Ende März 1940 für die Niederlande und für Belgien hatte aufstellen lassen, kamen nicht zum Einsatz (siehe Gerwarth, Reinhard Heydrich, 215 f. mit Anm. 5). Zu den Vorbereitungen des Westfeldzugs und ihrer Umsetzung siehe auch zusammenfassend Umbreit, Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft, 54 ff. 21 Zit. nach: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 26, 118. Als politische Zielrichtung hielt Hitler in seinem Erlass fest: „Die Handhabung der Militärverwaltung hat so zu erfolgen, daß der Eindruck einer beabsichtigten Annexion der besetzten Gebiete nicht entsteht […].“ (ebd.) Die Durchführung der Verwaltung wurde vom Militärverwaltungsstab wahrgenommen, dem Oberfeld-, Feld- und Ortskommandanturen unterstanden. Zur Militärverwaltung in den Niederlanden siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/1, 1 sowie ergänzend die Studie des niederländischen Generals Van Hilten, Van capitulatie tot capitulatie, 42 und 55.

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wollte der ‚Führer‘ von einer Militärverwaltung nichts mehr wissen. Nur wenige Tage nach der Kapitulation der niederländischen Streitkräfte ordnete er für die Niederlande die Installierung einer nationalsozialistischen Zivilverwaltung an. Hierbei mag die für ihn nicht untypische Verlogenheit und Heuchelei mit im Spiel gewesen sein, über die sich der Generalstabschef des Heeres Franz Halder mit erkennbarer Enttäuschung und Verärgerung in seinem Tagebuch ausließ: „Das Verhalten in der Frage Militärverwaltung Holland zeigt wieder die völlige Unaufrichtigkeit der obersten Führer dem OKH gegenüber.“22 Hitlers Umschwenken kann aber auch damit zusammenhängen, dass man anfangs mit der Gefangennahme der niederländischen Königin Wilhelmina gerechnet hatte; in diesem Fall wäre – wie im Falle Belgiens – eine Militärverwaltung ausreichend gewesen, sofern die niederländische Regierung zur Zusammenarbeit mit Deutschland bereit gewesen oder gemacht worden wäre.23 Nachdem aber die Königsfamilie am 13. Mai nach Großbritannien geflüchtet war und sich auch die Minister der niederländischen Regierung ins Exil nach London begeben hatten, waren derartige Überlegungen hinfällig. Aus deutscher Sicht ermöglichte bzw. erforderte die Flucht der Monarchin und das dadurch entstandene „politische Vakuum“24 eine Neuorientierung der deutschen Besatzungspolitik in den Niederlanden. Dazu kam „die grundsätzliche Aversion gegen das Prinzip der Militärverwaltung, genährt aus dem tief eingewurzelten Mißtrauen Hitlers insbesondere gegenüber dem älteren, noch überwiegend preußisch-konservativ denkenden Offizierskorps des Heeres […].“ Ausschlaggebend für Hitlers Entscheidung, in den Niederlanden die Militär- durch eine Zivilverwaltung zu ersetzen, war aber vermutlich die Überlegung, über eine bloße militärische Besetzung des Landes hinauszugehen und „zu einer politischen und territorialen ‚Neuordnung‘ zu gelangen, die unter dem Patronat einer politischen Besatzungsverwaltung naturgemäß eher ventiliert und angebahnt werden konnte als unter einer Militärverwaltung, die sich gerade die politische Enthaltsamkeit zum Ziel gesetzt hatte.“25 Wollte man auch den westeuropäischen Raum nach ‚völkischen‘ Gesichtspunkten neu strukturieren, mochte die Einrichtung einer Zivilverwaltung als angemessene Form einer deutschen Besatzung erscheinen. Dem lag die schon im 19. Jahrhundert entwickelte und von der ‚Westforschung‘ untermauerte Vorstellung zugrunde, dass die niederländische Bevölkerung ebenso wie die Bewohner des norddeutschen Raumes als Nachfahren der ‚Volksstämme‘ von Friesen, Franken und Sachsen angesehen werden müssten26 und als Teil einer ‚germanischen‘ Völkerordnung in ethnischer und sprachlicher Hinsicht mit den Deutschen verwandt seien. Auf der Grundlage einer derartigen rassistischen Sichtweise erachtete man es als naheliegend, die Niederländer durch die Einrichtung einer Zivilverwaltung für den Nationalsozialismus zu gewinnen. Wie im Fall von Norwegen verstand man ein 22 Halder, Kriegstagebuch, Bd. 1, 302. Um Hitler als den Oberkommandierenden der Wehrmacht nicht persönlich zu kritisieren, verwendete Halder den unspezifischen Plural „der obersten Führer“. 23 So die Überlegung von Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 49 f. 24 Lademacher, Zwei ungleiche Nachbarn, 178. 25 Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 51 f. Ähnlich ebd., 152. 26 Zu diesem Geschichtsmythos im historischen Kontext vgl. Beyen, De grenzen van de grensoverschrijdende Westforschung. Zur ‚Westforschung‘ vgl. Dietz/Gabel/Tiedau (Hrsg.), Griff nach dem Westen und Müller, Imaginierter Westen.

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solches Besatzungssystem überdies als Aufforderung an die Bevölkerung, sich durch Mitarbeit und Loyalität gegenüber der Besatzungsmacht einen ihr gebührenden Platz innerhalb der ‚Neuen Ordnung‘ zu erarbeiten, die das NS-Regime nach genuin nationalsozialistischen Gesichtspunkten in Kontinentaleuropa aufbauen wollte.27 Diesen Zusammenhang machte Seyß-Inquart deutlich, als er Mitte November 1941 auf einem Vortrag in Köln die Entscheidung für die Einrichtung einer Zivilverwaltung folgendermaßen begründete: „Die Niederlande und Norwegen gehören zur germanischen Völkerfamilie, und deshalb sei es auch der Wunsch und der Wille des Führers, in diesen beiden Ländern in einem möglichst raschen Tempo normale Verhältnisse wiederherzustellen und sie dahin zu bringen, dass sie am Neuaufbau Europas aus einer selbstgewonnenen Erkenntnis tatkräftig mitarbeiten.“28 Eine erfolgreiche Nazifizierung der niederländischen Gesellschaft schien darüber hinaus die Aussicht zu bieten, den Aufwand an Finanzen, Personal und Material, den das Großdeutsche Reich in die Verwaltung der besetzten niederländischen Gebiete investieren musste, gering zu halten und alle Kräfte auf die Eroberung Großbritanniens und die Vorbereitung des Russlandfeldzugs zu konzentrieren. Aus Sicht des NS-Regimes sprachen somit ideologische wie auch pragmatische Gründe für eine Zivilverwaltung, auch wenn es ebenso viele sachliche Gründe für eine Militärverwaltung gab.29 Der große Profiteur von Hitlers Sinneswandel war Arthur Seyß-Inquart. Für den Versuch, die niederländische Bevölkerung für den Nationalsozialismus zu gewinnen, schien er der Reichsführung als geeignete Persönlichkeit. Dennoch war seine Berufung zum Reichskommissar in höchsten Kreisen möglicherweise nicht unumstritten. Er selbst jedenfalls hat nach dem Krieg ausgesagt, dass Terboven mit Görings Unterstützung die Niederlande Norwegen vorgezogen hätte, während er selber Norwegen den Vorzug gegeben habe. Diese Aussage ­erscheint jedoch wenig glaubwürdig angesichts der Tatsache, dass er sich nicht schon am 9. April, dem Tag des Überfalls der Wehrmacht auf Norwegen (‚Unternehmen Weserübung‘), an Himmler gewandt hatte, sondern erst zu Beginn des Westfeldzugs. In einem Punkt hatte er mit seiner Aussage vor einem alliierten Verhöroffizier allerdings Recht: die letzte Entscheidung lag bei Hitler, für den ebenso wie für Himmler Seyß-Inquart der am besten geeignete Kandidat für die Führung des Reichskommissariats in den Niederlanden war.30 Inoffiziell erfolgte seine Ernennung zum Reichskommissar am 17. Mai, offiziell wurde ihm der auf den 18. Mai datierte Führererlass über Ausübung der Regierungsbefugnisse in den Niederlanden am 19. Mai im Führerhauptquartier an der Westfront überreicht.31 Nachdem Seyß-Inquart von seiner Ernennung erfahren hatte, soll er seiner Frau die neue Herausforde27 Zu diesem nationalsozialistischen ‚Leistungsprinzip‘ vgl. auch Mazower, Hitler’s Empire, 105. Zu Norwegen siehe Bohn, Reichskommissariat Norwegen. 28 So die Wiedergabe in der DZN vom 15. November 1941. Zu diesem Vortrag siehe auch das Deutsche Volksblatt vom 22. November 1941 (BArch, R 8034/III-443, Bl. 53). 29 Vgl. die kritischen Bemerkungen bei In ’t Veld, Inleiding, 148. 30 Protokoll des Verhörs durch Lieutenant colonel Oron J. Hale vom 25. Juli 1945, IfZ, ZS 300, Bd. IV. Dass Göring Terboven als „Gewährsmann für die Interessen der deutschen (rheinischen) Wirtschaft in Norwegen“ lanciert hat, zeigt Bohn, Die Errichtung des Reichskommissariats Norwegen, 141. 31 Zu Seyß-Inquarts Ernennung siehe Neuman, Arthur Seyss-Inquart, 138 und Cohen, Het ontstaan van het Duitse Rijkscommissariaat, 176.

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rung bei einem Telefonat von Krakau nach Wien mit den Worten bekanntgegeben haben: „Du Trude, der Führer will, dass ich Tulpen pflanzen gehe.“ Hitler habe übrigens Wert darauf gelegt, dass auch Gertrud in den Niederlanden lebte. So forderte er Seyß-Inquart auf: „Nehmen Sie Ihre Frau mit, denn ich möchte [,] dass Sie sich mit den Holländern auf gesellschaftlichem Wege befreunden.“32 Der symbolische Gehalt dieser Aufforderung wird durch den Kontrast zum Generalgouvernement besonders augenfällig: In Krakau hatte Seyß-Inquart ohne seine Frau gelebt. Eine familiäre Note sollte in den Niederlanden gleich von Anfang an einen positiven, entgegenkommenden Eindruck machen. Von Gertruds Anwesenheit in Den Haag sollte das Signal ausgehen, dass den ‚germanischen‘ Niederländern von höchster Stelle eine qualitativ andere Behandlung in Aussicht gestellt wurde, als sie den ‚slawischen‘ Polen jemals vergönnt war. Für Arthur Seyß-Inquart stellte die Ernennung zum Reichskommissar zweifellos den Höhepunkt der politischen Karriere dar. Nun stand er an der Spitze des Verwaltungsapparats eines größeren besetzten Gebietes und war unmittelbar Hitler unterstellt. Im Unterschied zu seiner Stellung als Reichsstatthalter in Österreich übte er sein Amt nicht mehr in Konkurrenz zu einem anderen, mehr oder weniger gleichrangigen Funktionsträger wie Reichskommissar Bürckel aus, und noch weniger war er lediglich der zweite Mann hinter einer selbstherrlichen, machtbewussten Persönlichkeit wie Generalgouverneur Frank. Und während er als Leiter der österreichischen Landesregierung primär die Aufgabe hatte, einen Behördenapparat abzuwickeln, und viele reichsrechtliche Regelungen weitestgehend ohne jeden eigenen politischen Spielraum für Österreich übernehmen musste, hatte er in den Niederlanden die Möglichkeit und die Aufgabe, den Aufbau einer neuen politischen und Rechtsordnung zu steuern. Ihm war wohl bewusst, dass sein neues Amt prinzipiell befristet war und mit Kriegsende und einem erwarteten Sieg des Großdeutschen Reiches einer dauerhaften politischen Neuordnung des europäischen Kontinents würde weichen müssen. Schon die Bezeichnung ‚Reichskommissariat‘ brachte insoweit einen interimistischen Charakter zum Ausdruck, als „es sich nur um eine vorläufige (‚kommissarische‘) Regelung der politischen und Hoheits-Verhältnisse“ handelte.33 Um auch nach dem möglichen Auslaufen seiner Funktion in Den Haag weiterhin eine Spitzenposition innerhalb des NS-Regimes einnehmen zu können, entwickelte Seyß-Inquart denn auch während der Besatzungszeit immer wieder europapolitische Vorstellungen und legte mit unverkennbarem persönlichen Ehrgeiz außenpolitische Ambitionen an den Tag.34 Es muss ihm auch bewusst gewesen sein, dass sein neuer ‚Herrschaftsbereich‘ für die territoriale Expansion und Kriegsführung des Großdeutschen Reiches allenfalls eine begrenzte Relevanz besaß. Dies machte einen Unterschied zu seinem bisherigen Tätigkeitsfeld Polen aus, das als Laboratorium für gigantische ethnische ‚Säuberungen‘ und Judenverfolgung schon 32 Beide Zitate gehen auf Aussagen von Witwe Seyß-Inquart aus dem Jahr 1952 zurück: De Jong, Twee gesprekken, 129. 33 Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 62 und Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 16. Allgemein zu den verschiedenen Arten der ‚Reichsaußenverwaltung‘ im Zweiten Weltkrieg: Umbreit, Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft, 109 ff. 34 Siehe hierzu Kap. 13.

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damals eine wesentlich größere Bedeutung für das NS-Regime besaß und als eine der militärischen Ausgangsbasen für den anstehenden Krieg gegen die Sowjetunion ab 1941 noch an Relevanz gewinnen sollte. Selbst im Vergleich zu dem als traditionellem ‚Erbfeind‘ betrachteten Frankreich, das stets für das Versailler System verantwortlich gemacht worden war und unter der Volksfrontregierung des sozialistischen Premierministers Léon Blum in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre angeblich dem ‚Kommunismus‘ anheimzufallen gedroht hatte, hatten die Niederlande eine geringere Bedeutung für die nationalsozialistische Expansionspolitik. Und im Unterschied zu Himmler, Göring und allerlei anderen NS-Größen, die sich – zum Teil mehrmals – in den Niederlanden aufgehalten haben,35 hat Hitler das Land nie besucht, während es ihm sehr wohl ein Bedürfnis war, nach der Kapitulation Frankreichs in die dortige Kapitale Paris zu reisen und die flandrischen Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs zu besichtigen.36 Trotz all dieser Einschränkungen stellte die Entsendung in die Niederlande für Arthur Seyß-Inquart zunächst einmal eine Befreiung von den engen Fesseln dar, die die Stellvertretung des Generalgouverneurs in Polen der Entfaltung seines politischen Potenzials und persönlichen Ehrgeizes angelegt hatte. Nun besaß er in direkter Unterstellung unter den ‚Führer‘ als Chef einer nationalsozialistischen Zivilverwaltung eine Machtstellung, die ihm bisher verwehrt gewesen war und die ihn noch enger an das Führungsnetzwerk des Reiches heranführte. Innerhalb des NS-Systems gehörte er von nun an zu den einflussreichen ‚Territorialfürsten‘, deren Machtfülle auch von den Angehörigen der engeren Führungsschicht des Großdeutschen Reiches zu respektieren war. Mehr als zuvor galt Seyß-Inquart fortan als Angehöriger jenes „personalisierten Herrschaftsverbandes“, der nach Max Weber ein zen­trales Kennzeichen einer „charismatischen Herrschaft“ wie der des Hitler-Regimes war.37 Er seinerseits hat seine neue Stelle als persönliche Herausforderung verstanden, sich zu bewähren und sich als ein vertrauenswürdiger Statthalter Hitlers zu erweisen. Seine Funktion als Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete wollte er nicht nur bestmöglich entsprechend dem Willen und dem Auftrag seines ‚Führers‘ ausüben. Wie an einigen Aspekten seiner Politik in den folgenden Kapiteln gezeigt wird, hatte er auch den Ehrgeiz, dem aus Sicht des NS-Regimes politisch eher randständigen Land zu einer Vorbildfunktion innerhalb des Großdeutschen Reiches zu verhelfen und seinen ‚Herrschaftsbereich‘ durch seine Amtsführung somit aufzuwerten. Auch wenn eine entsprechende Selbstaussage von ihm fehlt, steht außer Frage, dass er damit die Hoffnung verband, dadurch seine eigene Karriere zu befördern. In den Niederlanden sah sich Seyß-Inquart widersprüchlichen Erwartungen ausgesetzt, als er unmittelbar nach einem Empfang durch Hitler in dessen Hauptquartier ‚Felsennest‘ in Bad Münstereifel am Abend des 25. Mai in Den Haag ankam. Einerseits wurde dort – vor dem Hintergrund des verheerenden Auftretens von Wehrmacht und diversen SS-Verbänden in seinem früheren ‚Arbeitsgebiet‘ Polen – nicht ohne Erleichterung festgestellt, dass sich die militärischen wie auch die zivilen Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht in 35 Vgl. hierzu das – vermutlich nicht vollständige – Gästebuch der Residenz Seyß-Inquarts in Den Haag, Haus Clingendael, RMA, NG-C-2006-1. 36 Vgl. Kershaw, Hitler, Bd. 2, 405 f. 37 Vgl. allgemein hierzu Hachtmann, Elastisch, dynamisch und von katastrophaler Effizienz, 37.

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Abb. 8: Im ‚Felsennest‘ wurde der neue Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete am 25. Mai 1940 vom ‚Führer‘ empfangen und nahm an einer Lagebesprechung über die Westfront teil. V.l.n.r.: Seyß-Inquart, Dr. Hans Heinrich Lammers, Martin Bormann, General Karl Bodenschatz, Hitler und Reichspressechef Otto Dietrich.

den Niederlanden vergleichsweise zivilisiert verhielten und auf die Verhaftung von Juden und großangelegte Internierung von politischen Gegnern verzichteten.38 So hob die ausgesprochen deutschfreundliche Zeitung De Telegraaf hervor, „dass die deutschen Truppen, die unser Land besetzt halten, eine Disziplin und ein Taktgefühl an den Tag legen, die man kaum von einer siegreichen Armee hätte erwarten können.“ Und dass Seyß-Inquart nach der Kapitulation der niederländischen Armee auf das überhebliche Auftreten eines Triumphators verzichtete, wurde vorschnell als Zeichen dafür gewertet, „dass wir unser Land und unsere Freiheit behalten werden.“39 Andererseits hielt der Sicherheitsdienst in seinen Meldungen aus dem Reich vom 23. Mai die mindestens ebenso vorschnelle Erwartung fest, dass das besetzte Gebiet der Niederlande mit der Ernennung Seyß-Inquarts zum Reichskommissar „später in irgendeiner Form an das Reich gebunden wird. Vielfach wird in der Bevölkerung eine Einverleibung Hollands schon als sicher angesehen.“40 Bei solchen Einschätzungen spielte zweifelsohne das Bild eine Rolle, das Seyß-Inquart mit seiner bisherigen politischen Karriere hinterlassen hatte. Er selber hat als Reichskommissar öfters in Reden an die Erfahrungen erinnert, die er vorher in der Organisierung einer nationalsozialistischen Verwaltung in Österreich und in Polen gesammelt hatte. Und bei dem 38 Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 15 f. und Van der Heijden, Grijs verleden, 137 f. 39 Abendausgabe des Telegraaf vom 30. Mai 1940. Zu dieser Zeitung siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/2, 628–636. 40 Zit. nach Boberach (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich, Bd. 4, 1164.

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Kapitel 4: Ernennung zum Reichskommissar

Abschiedsessen, das ihm zu Ehren am 22. Mai 1940 in Krakau gegeben wurde, bekannte Seyß-Inquart: „Ich habe hier sehr viel gelernt […], und zwar auf Grund der initiativen entschlossenen Führung, wie ich sie von meinem Freund Dr. Frank gesehen habe.“41 Auf welche Aspekte er sich hierbei konkret bezog, blieb unausgesprochen. Spielte er auf den Aufbau einer Besatzungsverwaltung an? Meinte er die Implementierung von Maßnahmen zur Judenverfolgung? Bezog er sich auf die wirtschaftliche Ausbeutung des Landes und dessen Instrumentalisierung zugunsten des Deutschen Reiches? Oder handelte es sich lediglich um höfliche Gelegenheitsworte, denen keine ernstzunehmende inhaltliche Bedeutung beizumessen war? In seiner Krakauer Abschiedsrede jedenfalls hob er im Anschluss an die lobenden Worte über Frank die deutsche Politik im Generalgouvernement begrifflich und konzeptionell von der Aufgabe ab, vor die er sich in den Niederlanden gestellt sah: „Im Osten haben wir eine nationalsozialistische Mission, drüben im Westen haben wir eine Funktion […].“42 Auch wenn er während der Besatzungszeit sehr wohl einmal dem Nationalsozialismus „ein gewisses Missionsbedürfnis“ attestierte43 und faktisch seine gesamte Politik der Gleichschaltung und Nazifizierung mit missionarischer Zielgerichtetheit betrieb,44 brachte er mit dieser Differenzierung zum Ausdruck, dass der deutschen Besatzung der Niederlande eine andere Ausrichtung zugrunde liegen sollte als in Polen: Während im Generalgouvernement die als inferior angesehene ‚slawische‘ Bevölkerung der angeblich überlegenen deutschen Kultur zu unterwerfen war, betrachtete man die ‚germanischen‘ Niederländer als ethnisch verwandte Bevölkerung, die man mit behutsamen Mitteln zum Nationalsozialismus bringen könne.45 Der weitere Verlauf der Besatzungszeit sollte freilich zeigen, dass der Unterschied zwischen ‚Mission‘ und ‚Funktion‘ nur „eine Frage der Nuancierung“ war,46 die Brutalität der Besatzungspolitik zunahm und die Ausbeutung von Land und Leuten in den letzten Monaten des Krieges den Westen in vielen Punkten dem Osten Europas annäherte. Trotzdem hatte die rassistisch begründete Differenzierung zwischen ‚slawischem Osten‘ und ‚germanischen‘ Niederlanden Konsequenzen für den Aufbau der deutschen Besatzungsverwaltung in den Niederlanden und für die Grundausrichtung der Politik, die Seyß-Inquart gut fünf Jahre lang von Den Haag aus führen sollte.

41 Zit. nach Frank, Tagebuch 1940, Bd. 2/2, BArch, R 52 II/177, Bl. 81 f. Zu dieser Veranstaltung siehe auch Warschauer Zeitung vom 24. Mai 1940. 42 Zit. nach Frank, Tagebuch 1940, Bd. 2/2, BArch, R 52 II/177, Bl. 82. Auf genau diese Aussage berief sich Seyß-Inquart in seinem Affidavit vom 25. August 1946, NA, FO 1019/44, englische Fassung in: ÖGZ-A, NL-61, DO 714, Mappe 337, Bl. 3 f. 43 So die Aussage des niederländischen Faschisten Geerto Aeilko Sebo Snijder vom März 1947 (Gesprekken met Seyss-Inquart, Bl. 7). 44 Siehe hierzu Kap. 6. 45 Ähnlich De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/1, 58. 46 Heydecker/Leeb, Der Nürnberger Prozeß, 433.

Kapitel 5:

Nationalsozialistische Zivilverwaltung. Grundlagen und Grenzen von Seyß-Inquarts Machtstellung

In sein neues Amt wurde Seyß-Inquart am 29. Mai 1940 eingeführt. Bis dahin sah sich das Land innerhalb kurzer Zeit mehrmals kurzfristigen Regimewechseln ausgesetzt. Zu Beginn des Fünf-Tage-Kriegs übte die niederländische Regierung die Souveränität aus. Nach deren Flucht nach London am 13. Mai fungierte General Winkelman als oberste militärische und politische Autorität des Landes; als solcher musste der damals 63-jährige General am 15. Mai in dem nahe bei Rotterdam gelegenen Rijsoord in Anwesenheit des Oberbefehlshabers der XVIII. deutschen Armee, General Georg von Küchler, die Kapitulation der niederländischen Armee unterzeichnen – und damit die Unterwerfung des ersten westeuropäischen Landes unter die Herrschaft des Großdeutschen Reiches bestätigen. Unterstützt wurde Winkelman in der Ausübung seiner exekutiven Funktion von den Generalsekretären, die im Unterschied zu ihren Ministern als die führenden Beamten der niederländischen Ressorts im besetzten Land geblieben waren und in dieser Zwischenphase als eine Art von informellem Ministerrat fungierten.1 Anschließend unterstand das Land der Militärverwaltung unter General Alexander von Falkenhausen, dessen Anordnungen sich Winkelman und die Generalsekretäre zu fügen hatten. Mit dem Übergang von der Militär- auf die Zivilverwaltung übernahm schließlich Seyß-Inquart die Führung des Landes2 – und sollte bis Kriegsende der höchste Funktionsträger des NS-Staates auf einem Gebiet von 34.181 km2 sein, auf dem 8.833.977 Einwohner lebten.3 Der Übergang von der Militär- auf die Zivilverwaltung verlief in politischer und administrativer Hinsicht nicht reibungslos. Zunächst einmal versuchte Falkenhausen, die Übergabe der Amtsgeschäfte an Seyß-Inquart hinauszuzögern. Der geläufigen Darstellung in der Geschichtsschreibung nach teilte Seyß-Inquart Falkenhausen bei der ersten persönlichen Begeg1 Cohen, De positie van de secretarissen-generaal, 229. 2 Die Grundlage hierzu bildete Hitlers Erlass vom 28. Mai 1940, in: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 30, 121 f. 3 So die Angaben, die der Verwaltungsfachmann der SS Dr. Werner Best in dem 1941 entstandenen Manuskript Die deutschen Aufsichtsverwaltungen (Bl. 29) gemacht hat. Zu den Zahlenangaben vgl. auch Kroiß, Die Verwaltung des Reichskommissars, 32.

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Kapitel 5: Nationalsozialistische Zivilverwaltung

nung am 26. Mai 1940 mit, dass es Hitlers und sein eigener Wunsch sei, die Amtsübergabe so rasch wie möglich zu vollziehen, und zwar am 28. Mai. Falkenhausen jedoch plädierte für den 1. Juni, um mehr Zeit für die Vorbereitung eines geordneten Übergangs auf die Zivilverwaltung zu haben. Schließlich einigte man sich auf den 29. Mai.4 Entgegen dieser Darstellung entsprach die Festlegung auf den letzten Mittwoch im Mai 1940 keineswegs den Wünschen Seyß-Inquarts. Einer Aktennotiz des Auswärtigen Amtes zufolge war auch der frisch ernannte Reichskommissar anfangs für einen späteren Termin gewesen, habe aber „auf Befehl des Führers seine Absicht, erst in 8 Tagen sein Amt zu übernehmen“, ändern müssen.5 Wie so oft in der Geschichte des ‚Tausendjährigen Reiches‘ war es offenkundig auch hier wieder Hitler, der seine Mitarbeiter unter Hintanstellung sachlicher Bedenken durch Aktionismus unter Zugzwang setzte. So konnten Engpässe in der Übergangsphase nicht ausbleiben. Nicht ohne die subtile Kritik eines Verwaltungsfachmanns an Hitlers sprunghafter Politik berichtete Staatssekretär Stuckart im Anschluss an eine Reise durch die eroberten Westgebiete dem Chef der Reichskanzlei: „Der kurzfristige Übergang der Militärverwaltung in Holland auf die zivile Verwaltung hat dazu geführt, dass die Militärverwaltung ihre Tätigkeit eingestellt hat, während die Zivilverwaltung noch nicht aufgebaut war. […] Die erheblichen Nachteile dieses Verfahrens liegen auf der Hand.“ Deshalb „befinden sich zurzeit weite Teile der Niederlande […] ohne jegliche reichsdeutsche Betreuung.“ Zur Behebung dieses administrativen Notstands habe Seyß-Inquart die Wehrmacht bitten lassen, ihm für eine Übergangszeit die Oberfeld- und die Feldkommandanturen zur Verfügung zu stellen, und es sollten „beschleunigt Männer aus der Verwaltung und aus der Wirtschaft, die der Reichskommissar erbeten hatte, nach Den Haag in Marsch gesetzt werden.“6 Tatsächlich erklärte sich Falkenhausen, der sich mittlerweile als Militärbefehlshaber für Belgien und die beiden französischen Départements Pas-de-Calais und Nord in Brüssel niedergelassen hatte, bereit, der Zivilverwaltung in den Niederlanden Militärverwaltungsbeamte für eine Übergangszeit zu überlassen. Nach Einstellung der kriegerischen Auseinandersetzungen konnten für den Aufbau des dortigen Reichskommissariats auch Fachkräfte freigestellt werden, die bis dahin in der Wehrmacht gedient hatten. Wie nun sah die Verwaltung aus, die Seyß-Inquart in den Niederlanden aufbauen sollte, und welche Position nahm er selber als Reichskommissar ein? 5.1 Rechtlich-politische Aspekte

Die Grundlage für die deutsche Zivilverwaltung in den Niederlanden stellte der Führererlass vom 18. Mai 1940 dar. In dessen erstem Paragrafen legte Hitler Position und Funktion Seyß-Inquarts folgendermaßen fest: „Der Reichskommissar ist Wahrer der Reichsinteressen 4 Cohen, Het ontstaan van het Duitse Rijkscommissariaat, 177 und Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 59. 5 Vortragsnotiz von Martin Luther für Ribbentrop vom 25. Mai 1940, PA AA, R 27666, Bl. 314. 6 Stuckart an Lammers vom 4. Juni 1940, BArch, R 43 II/675, Bl. 65 und 67. Siehe hierzu auch Wagner, Belgien in der deutschen Politik, 156 f.

5.1 Rechtlich-politische Aspekte

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und übt im zivilen Bereich die oberste Regierungsgewalt aus. Er untersteht mir unmittelbar und erhält von mir Richtlinien und Weisungen.“7 Zwar war Seyß-Inquarts Aufgabengebiet auf die zivilen Belange beschränkt, während für die militärischen Aspekte der deutschen Besatzung der Wehrmachtbefehlshaber, General Christiansen, und die Oberbefehlshaber der einzelnen Wehrmachtsteile zuständig waren. Doch wenn militärische Maßnahmen Konsequenzen für die Zivilverwaltung hatten, war der Wehrmachtbefehlshaber verpflichtet, sich an Seyß-Inquart zu wenden. Christiansen war nicht befugt, niederländischen Stellen oder Personen unmittelbar Befehle, Anweisungen oder Aufträge zu erteilen, denn „seine Forderungen werden im zivilen Bereich vom Reichskommissar durchgesetzt.“ (§ 2)8 Auch wurde Seyß-Inquart von Hitler ermächtigt, sich „zur Durchführung seiner Anordnungen“ deutscher Polizeiorgane zu bedienen, während der Wehrmachtbefehlshaber in den Niederlanden nur dann Polizeikräfte für militärische Zwecke in Anspruch nehmen durfte, wenn „die Aufgaben des Reichskommissars es zulassen.“ (§ 3) Außerdem bestimmte Hitlers Erlass, dass sich der Reichskommissar „zur Durchführung seiner Anordnungen und zur Ausübung der Verwaltung der niederländischen Behörden“ bedienen könne (§ 4). Schließlich wurde Seyß-Inquart die Befugnis zur Rechtsetzung erteilt. Das bisher geltende Recht bleibe zwar in Kraft, „soweit es mit der Besetzung vereinbar ist.“ Doch zugleich wurde der Reichskommissar ermächtigt, durch den Erlass von Verordnungen Recht zu setzen (§ 5) – und wie im Laufe dieser Studie immer wieder deutlich wird, hat Seyß-Inquart von dieser Ermächtigung auf allen Politikfeldern reichlich Gebrauch gemacht mit dem Ziel, das besetzte Land nach nationalsozialistischen Grundsätzen umzugestalten und den Bedürfnissen des Deutschen Reiches anzupassen. Gestützt auf den Führererlass hat Seyß-Inquart die Rahmenbestimmungen, die Hitler am 18. Mai festgelegt hatte, in seiner Verordnung über die Ausübung der Regierungsbefugnisse in den Niederlanden aufgegriffen und präzisiert; sie datiert vom Tag seiner Amtseinführung.9 Nicht überraschend war, dass er sich mit dieser Verordnung „alle in den besetzten niederländischen Gebieten tätigen deutschen Behörden, Dienststellen und Organe“ mit Ausnahme der Instanzen der Wehrmacht unterstellte (§ 8). Zugleich erklärte er die Übernahme aller Befugnisse, „die nach der Verfassungsurkunde und den Gesetzen bisher dem König und der Regierung zustanden“, durch den Reichskommissar (§ 1). Zu den damit verbundenen exekutiven Vollmachten gehörte nicht zuletzt, dass er sich „zur Durchführung seiner Anordnungen“ deutscher SS- und Polizeikräfte und der niederländischen Polizei bedienen durfte, die 7

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§ 1 von Hitlers Erlass über Ausübung der Regierungsbefugnisse in den Niederlanden, in: RGBl. 1940/I, 778 (siehe auch das Faksimile auf S. 124) sowie als VO 1/1940 in: VOBl. NL 1940, 2. Zu den Aufgaben und Kompetenzen des Reichskommissars vgl. auch die zeitgenössischen Darstellungen von Best, Die deutschen Aufsichtsverwaltungen und Kroiß, Die Verwaltung des Reichskommissars. Ähnlich hieß es in Hitlers Befehl vom 20. Mai 1940: „Forderungen der Wehrmacht, die im zivilen Bereich durchzusetzen sind, richtet der Wehrmachtbefehlshaber an den Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete. Soweit die Oberbefehlshaber der Wehrmachtteile Forderungen im zivilen Bereich zu stellen haben, leiten sie diese über den Wehrmachtbefehlshaber. Treten sie in dringenden Angelegenheiten unmittelbar mit dem Reichskommissar in Verbindung, so ist der Wehrmachtbefehlshaber zu beteiligen.“ Zit. nach: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 29, 121. VO 3/1940 vom 29. Mai 1940, in: VOBl. NL 1940, 8-11.

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Kapitel 5: Nationalsozialistische Zivilverwaltung

Abb. 9: Hitler Erlass über Ausübung der Regierungsbefugnisse vom 18. Mai 1940.

5.1 Rechtlich-politische Aspekte

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wiederum der Aufsicht der deutschen Polizei unterstellt und an deren Weisungen gebunden war (§ 5).10 Neben der exekutiven Gewalt beanspruchte Seyß-Inquart die Ausübung legislativer Maßnahmen, wenn es „die Interessen des Grossdeutschen Reiches oder der öffentlichen Ordnung oder des öffentlichen Lebens in den Niederlanden“ erforderten. Seine Verordnungen besaßen Gesetzeskraft (§ 1), und er bestimmte, dass ihm alle Rechtsvorschriften vor ihrer Verkündung vorzulegen seien; „wenn der Reichskommissar es verlangt“, musste eine Verkündung ausgesetzt werden (§ 2). Und schließlich reservierte sich Seyß-Inquart die Befugnis, in die Rechtsprechung einzugreifen. Er stellte in seiner Verordnung vom 29. Mai 1940 zwar fest: „Die Rechtsprechung ist unabhängig.“ (§ 6) Doch im selben Paragrafen sprach er sich selber das Recht zu, zu bestimmen, „welche Urteile ihm vor ihrer Vollstreckung zur Bestätigung vorzulegen sind.“ Außerdem durfte er auf dem Verordnungsweg bestimmen, „welche Straftaten der Sondergerichtsbarkeit unterliegen und unter welchen Voraussetzungen Personen niederländischer Staatsangehörigkeit der Wehrgerichtsbarkeit oder der deutschen Polizeigerichtsbarkeit unterliegen.“ (§ 6) Entsprechend dem nationalsozialistischen ‚Führerprinzip‘ vereinigte der Reichskommissar somit alle öffentlichen Gewalten in seiner Person; Gewaltenteilung als eines der Kernelemente demokratischer Kontrollmechanismen war für die Dauer der deutschen Besatzung der Niederlande ausgeschlossen. Der niederländischen Verwaltung und Justiz wurde in Seyß-Inquarts Verordnung über die Ausübung der Regierungsbefugnisse in den Niederlanden keinerlei unabhängiges Handeln zugesprochen. Die niederländischen Behörden waren nicht mehr als ein Instrument, dessen sich der Reichskommissar „zur Durchführung seiner Anordnungen“ „bedienen“ konnte, die Tätigkeit der Generalse­kretäre wurde auf das Recht zum Erlass von „Ausführungsvorschriften zu den geltenden niederländischen Gesetzen und zu den Verordnungen des Reichskommissars“ beschränkt. Die Abhängigkeit der Generalsekretäre von Seyß-Inquart wurde noch dadurch erhöht, dass sie von ihm zur Verantwortung gezogen werden konnten, denn sie waren „dem Reichskommissar im Rahmen ihres sachlichen Bereichs für die ordnungsgemässe Leitung der Amtsgeschäfte verantwortlich.“ (§ 3) Als Chef der zivilen Besatzungsbehörde forderte der Reichskommissar alle „im öffentlichen Dienst stehenden Richter, Beamten und Angestellten sowie die haupt- und nebenamtlichen Lehrpersonen an den öffentlichen und privaten Unterrichtsanstalten“ zu Loyalität auf; sie wurden verpflichtet, eine eidesstattliche Erklärung abzugeben, „dass sie die Verordnungen und sonstigen Anordnungen des Reichskommissars sowie der ihm nachgeordneten deutschen Dienststellen gewissenhaft befolgen und sich jeder gegen das Deutsche Reich oder die deutsche Wehrmacht gerichteten Handlung enthalten werden.“ (§ 7) Insgesamt erhielt der Reichskommissar durch den Führererlass vom 18. Mai und durch 10 Während in Belgien die einheimischen Polizeieinheiten unter der Aufsicht der dortigen Ministerien blieben und formell den Generalsekretären für Innere Angelegenheiten bzw. für Justiz unterstellt waren, wurde in den Niederlanden die Aufsicht über die einheimischen Polizeikräfte durch den Erlass des Reichskommissars über den organisatorischen Aufbau der Dienststellen des Reichskommissariats (siehe VO 3/1940 vom 3. Juni 1940, § 5, in: VOBl. NL 1940, 13) Rauter unterstellt. Vgl. Van Doorselaar, De politie in de Lage Landen, 379.

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Kapitel 5: Nationalsozialistische Zivilverwaltung

seine eigene Verordnung über die Ausübung der Regierungsbefugnisse in den Niederlanden eine starke Stellung: Erstens besaß er einen Immediatzugang zu Hitler und war somit „aus der Kompetenz der einzelnen Ressortminister wie auch der Reichsregierung herausgenommen“11 – unabhängig davon, dass Seyß-Inquart das Amt eines Reichsministers ohne Geschäftsbereich, das er seit dem 1. Mai 1939 bekleidete,12 bis Kriegsende beibehielt. Zweitens war er – ähnlich wie sein Kollege Terboven in Norwegen13 – der einzige Spitzenvertreter des Deutschen Reiches im besetzten Gebiet. Anders als der Generalgouverneur in Polen hatte der Reichskommissar keinen allgemeinen Stellvertreter, und im Vergleich zur Zivilverwaltung im Reichsprotektorat, wo der einflussreiche Staatssekretär (ab August 1943: Deutsche Staatsminister für Böhmen und Mähren) Karl Hermann Frank maßgeblich die für die dortige Besatzungspolitik entscheidenden Fäden zog,14 war es in den Niederlanden einzig der Reichskommissar, der nominell und faktisch die deutsche Besatzungspolitik konzipierte und mithilfe der Generalkommissare, der deutschen Exekutivkräfte und der niederländischen Verwaltung durchsetzte. Drittens genoss der Reichskommissar gegenüber den militärischen Instanzen in den Niederlanden einen unangreifbaren Vorzug. Denn während Seyß-Inquart selber das Recht hatte, unmittelbar mit seinem ‚Führer‘ in Kontakt zu treten, war der Wehrmachtbefehlshaber verpflichtet, sich im Bedarfsfall über das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) an Hitler zu wenden. Außerdem besaß Seyß-Inquart im Gegensatz zu General Christiansen die Befugnis, Recht zu setzen, und für Maßnahmen, die Auswirkungen auf den zivilen Bereich hatten, musste der Wehrmachtbefehlshaber die Zustimmung des Reichskommissars einholen.15 Im Verlauf der Besatzungszeit wurde das Verhältnis zwischen Zivilverwaltung und Armee zwar punktuell feinjustiert.16 Den politisch gewollten Primat der Zivilverwaltung wusste Seyß-Inquart aber bis zum Ende des Krieges entschieden zu behaupten; dies gilt auch für die Zeit, als die Niederlande nach der Landung der Alliierten an der Nordseeküste wieder zum Kriegsgebiet geworden waren.17 Viertens vereinigte der Reichskommissar im Sinne des nationalsozialistischen Führerprinzips alle staatlichen Gewalten in sich. Angesichts einer solchen Stellung kann Seyß-Inquart als Leiter der nationalsozialistischen Zivilverwaltung eines besetzten Landes nur mit Terboven unmittelbar in Beziehung gesetzt 11 So die übertriebene Interpretation von Seyß-Inquarts Persönlichem Referenten, Dr. Rudolf Kroiß, aus dem Jahr 1942 in: Die Verwaltung des Reichskommissars, 19. 12 Ernennungsurkunde in: BArch, R 43 II/140, Bl. 13 (ohne Unterschrift). 13 Vgl. Bohn, Reichskommissariat Norwegen, 160. 14 Siehe hierzu Küpper, Karl Hermann Frank, Teil III. 15 Ähnlich äußerte sich Rabl in einem Vortrag, den er nicht vor März 1941 gehalten hat. Für den Leiter der Abteilung Rechtsetzung und Staatsrecht im Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz bezog sich das „Übergewicht“, das der Reichskommissar gegenüber der Wehrmacht hatte, auch auf den Umstand, dass Seyß-Inquart „Wahrer der Reichsinteressen und als solcher mit einem totalen politischen Auftrag vom Führer ausgestattet“ sei. Letztlich kam Rabl zu dem Ergebnis: „So ist die Rechtsstellung des Reichskommissars eine umfassende, eine totale, ebenso wie seine Aufgabe umfassend und total ist.“ (Rabl, Die Verwaltung, Bl. 12) Zum Verhältnis zwischen Reichskommissar und Wehrmachtbefehlshaber siehe auch In ’t Veld, Inleiding, 87–89. 16 Vgl. den Hinweis in Schramm (Hrsg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht, Bd. 1, 357. 17 Vgl. Kap. 14.1.

5.2 Der Reichskommissar im polymorphen Machtgefüge des NS-Systems

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werden. Die Reichskommissare Hinrich Lohse (Ostland) und Erich Koch (Ukraine) hingegen unterstanden dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und waren somit nicht führerunmittelbar. Der Gauleiter von Köln–Aachen Josef Grohé wurde im Sommer 1944 so spät zum Reichskommissar für Belgien und Nordfrankreich ernannt, dass er wegen der bald erfolgenden Befreiung keine Gelegenheit hatte, das Amt auszuüben. Die Reichskommissariate Moskowien und Kaukasien, deren Errichtung für die Zeit nach einem deutschen ‚Endsieg‘ geplant war,18 kamen über das Planungsstadium nicht hinaus. Und obwohl die Position von Hans Frank im Hinblick auf die Führerunmittelbarkeit Anknüpfungspunkte an Seyß-Inquart und Terboven erlaubt, unterschied sich das Generalgouvernement von den Reichskommissariaten in den Niederlanden und in Norwegen wesentlich dadurch, dass hier keine ‚germanische‘ Bevölkerung zu nazifizieren war. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass Seyß-­Inquart unter den ‚Zwischengewalten‘ des NS-Regimes während des Zweiten Weltkriegs nicht nur in Westeuropa eine besondere Position innehatte, sondern auch innerhalb des gesamten deutschen Machtbereichs zu den herausragenden Funktionären gehörte. 5.2 Der Reichskommissar im polymorphen Machtgefüge des NS-Systems

Die scheinbare Omnipotenz des Reichskommissars wurde allerdings durch eine Reihe von Faktoren unterlaufen oder gar konterkariert. Die Möglichkeit, sich dank der Immediatstellung in allen Zweifelsfragen direkt an den ‚Führer‘ wenden zu können, wurde in der Praxis durch „Hitlers demonstratives Desinteresse für die innenpolitischen Entwicklungen in den besetzten Gebieten und seine hinlänglich bekannte Entscheidungsschwäche bei internen Machtfragen“ relativiert.19 Auch legte der ‚Führer‘ schon am 19. Mai in einem weiteren Erlass fest, dass neben ihm „auch Generalfeldmarschall Göring im Rahmen der ihm als Beauftragten für den Vierjahresplan obliegenden Aufgaben dem Reichskommissar Weisungen erteilen kann.“20 Im Vergleich mit anderen deutschen Dienststellen in Den Haag spielte Görings niederländische Dienststelle unter dem Luftwaffenoffizier Josef Veltjens während der Besatzungszeit zwar keine herausragende Rolle.21 Aber wie noch zu zeigen sein wird,22 machte Göring ab 1941 ausführlich von seinem Weisungsrecht Gebrauch, indem er den Niederlanden ebenso wie anderen besetzten Gebieten Vorgaben für die Gestellung von Arbeitskräften, Lebensmitteln oder Mobiliar zugunsten des Reiches erteilte. Diese Entwicklung hatte Hitler mit seinem Erlass vom 19. Mai 1940 ermöglicht – und damit den Handlungsspielraum seines Statthalters in Den Haag von vornherein begrenzt. Mindestens ebenso folgenreich für die Stellung des Reichskommissars war, dass mächtige Instanzen aus dem Reich Vertreter in die Niederlande entsandten, die unter dem Dach 18 Hildebrand, Das Dritte Reich, 95. 19 Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 21 f. 20 IfZ, IMG-Dok. NG-1492, mit Quellenangaben abgedruckt in: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 28, 120. Ergänzend fügte Hitler hinzu: „Eine Veröffentlichung dieser Anordnung hat zu unterbleiben.“ 21 In ’t Veld, Inleiding, 79 mit Anm. 5. 22 Siehe unten, Kap. 11.3 und 11.4.

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Kapitel 5: Nationalsozialistische Zivilverwaltung

des Reichskommissariats die spezifischen Interessen ihrer jeweiligen Vorgesetzten vertraten. Dies betrifft vor allem die vier Generalkommissare. Sie hatten die Aufgabe, für den Reichskommissar Entscheidungen vorzubereiten und die politische und verwaltungstechnische Aufsicht über die niederländischen Generalsekretariate zu führen. Die Bestimmung, der Reichskommissar „übt seine Befugnisse durch die innerhalb seines Amts tätigen Generalkommissare aus“, beinhaltete de facto eine Unterstellung der Generalkommissare unter den Reichskommissar, im Bedarfsfall konnte Seyß-Inquart den Generalkommissaren Weisungen erteilen.23 Ungeachtet seiner herausgehobenen Position aber war er von vornherein auf die Bereitschaft der Generalkommissare zur Zusammenarbeit angewiesen, und dies gab seinen engsten Mitarbeitern einen politischen Spielraum, den der Reichskommissar beim Bestreben, eine einheitliche deutsche Besatzungspolitik zu konzipieren und zu realisieren, stets in Rechnung stellen musste. Schon bei der Auswahl der Generalkommissare konnte Seyß-Inquart nur zwei Persönlichkeiten seines Vertrauens selber bestimmen: Friedrich Wimmer übernahm das Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz, Hans Fischböck das Generalkommissariat für Finanz und Wirtschaft. Mit beiden ostmärkischen Nationalsozialisten war Seyß-Inquart durch persönliche Freundschaften verbunden, und ebenso wenig wie der Reichskommissar verfügten Wimmer und Fischböck über eine gewachsene Verankerung in der NSDAP oder der SS. Genau hierin lag ein wichtiger Unterschied zu den beiden anderen Generalkommissaren, die Seyß-Inquart vorgegeben wurden. Der westfälische Parteifunktionär Fritz Schmidt wurde durch Hitler auf Anraten von Martin Bormann zum Generalkommissar zur besonderen Verwendung ernannt und in dieser Funktion mit der Vertretung in allen parteilichen Belangen, mit Propaganda und der Aufgabe der Nazifizierung der niederländischen Gesellschaft betraut.24 Und Himmler reklamierte den Sicherheitsapparat für die SS. Kurzzeitig erwog er, 23 VO 3/1940 vom 29. Mai 1940, § 4, in: VOBl. NL 1940, 10. Zu den Generalkommissaren vgl. auch VO 4/1940 vom 3. Juni 1940, §§ 1 und 3, in: ebd. 12 sowie ihre offizielle Bestellung in VO 5/1940 vom 5. Juni 1940, in: ebd., 18 f. In seinem Brief an Lammers vom 4. Juli 1940 umschrieb Seyß-Inquart die Generalkommissare folgendermaßen: „Die Generalkommissare nehmen […] in der Reichsordnung ungefähr die Stellung der Landesminister ein, wie sie zum Beispiel beim Reichsstatthalter in Österreich in Funktion waren, im Reichsgefüge also ungefähr den Rang der Staatssekretäre.“ (BArch, R 43 II/677, Bl. 102) 24 Zu Schmidt siehe In ’t Veld, Inleiding, 90-97. Wimmer führte Schmidts Ernennung auf einen Vorschlag von Rudolf Heß, dem ‚Stellvertreter des Führers‘, zurück; siehe Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 339 und 354. Möglicherweise waren Schmidts langjährige Bemühungen um die Partei im grenznahen Münster ausschlaggebend. Schmidt wurde von verschiedenen Seiten nachgesagt, während der Besatzungszeit eine Beförderung zu einer Art von Gauleiter für die Niederlande oder für Belgien und Nordfrankreich anzustreben (siehe beispielsweise Gottlob Berger an Himmler vom 5. Januar 1943, BArch, NS 19/1549, Bl. 1). Sogar Bormann sah sich Anfang 1943 gezwungen, den notorisch intriganten Schmidt mit der Begründung fallen zu lassen, er habe über ihn gehört, „daß er keine zielklare Politik treibe, sondern laufend versuche, einzelne Personen und Gruppen gegeneinander auszuspielen. Ich halte solche Beispiele für gefährlich, weil sie niemals Erfolg bringen, denn die Betrogenen werden sich immer gegen die Betrüger wenden. Eindeutig möchte ich klarstellen, daß ich für das, was der Pg. Schmidt-Münster als Politik bezeichnet und tut, keinerlei Verantwortung trage oder übernehmen möchte.“ (zit. nach: Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 149) Auf einer Dienstreise verunglückte Schmidt Ende Juni 1943 in Frankreich durch den Sturz aus einem Zug tödlich. Es konnte nie geklärt werden, ob es sich um einen

5.2 Der Reichskommissar im polymorphen Machtgefüge des NS-Systems

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den Höheren SS- und Polizeiführer im SS-Oberabschnitt Südost (Schlesien), SS-Gruppenführer Erich von dem Bach-Zelewski, als seinen Vertreter nach Den Haag zu entsenden; doch am 22. Mai fiel die Wahl auf SS-Brigadeführer Hanns Albin Rauter.25 Dieser österreichische SS-Offizier fungierte bis 1945 als Höherer SS- und Polizeiführer Nordwest. Ihm gelang es, im Laufe der Besatzungszeit zum zweiten Mann nach dem Reichskommissar zu avancieren,26 auch wenn er offiziell niemals mit dessen allgemeiner Stellvertretung betraut wurde. Während Hitler „mit Rauter als Österreicher sehr einverstanden“ war,27 war Seyß-Inquart mit dieser Entscheidung nicht glücklich. Zwar gibt es aus dieser Zeit keine Quelle, aus der eine Stellungnahme zu Rauters Ernennung zum HSSuPF Nordwest unmittelbar abgeleitet werden könnte. Doch auf dem Nürnberger Prozess unterstrich Seyß-Inquart, dass Rauter von Hitler auf Vorschlag Himmlers ernannt worden sei, ohne dass er hierzu gefragt worden sei.28 Und Rauter selber hat nach Kriegsende zu Protokoll gegeben, dass seine Ernennung beim designierten Reichskommissar nicht auf positive Resonanz gestoßen ist: „Seyss-Inquart hat den Führer gebeten um einen Reichsdeutschen für Holland, als er von ihm hörte, dass ich als Höherer SS- und Polizeiführer in Holland ernannt worden war. Er hatte die Absicht, den Dr. Fischböck und den Wimmer mitzunehmen, und fürchtete, es kämen zu viele Österreicher nach Holland. Der Führer aber sagte: Das macht nichts, also Rauter geht mit nach Holland.“29 Rauters Behauptung, dass der Reichskommissar eine Überrepräsentation von österreichischen Funktionären in den Niederlanden habe vermeiden wollen, reicht zur Erklärung allerdings nicht aus. Seyß-Inquarts ablehnende Haltung gegenüber Rauters Entsendung nach Den Haag dürfte eher darauf zurückzuführen sein, dass er den früheren Freikorpsführer seit dessen Beitritt zum Steirischen Heimatschutz als einen zu Radikalität und Brutalität neigenden National­sozialisten kannte und nun zu Recht befürchtete, dass dessen Bereitschaft zu rücksichtsloser Aggressivität seine eigene Politik in den Augen der niederländischen Bevölkerung diskreditieren könnte. Eine solche Befürchtung war umso begründeter, als Seyß-Inquart

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Unfall, Mord oder Suizid handelte. Seyß-Inquart ging nach dem Krieg von Selbstmord aus, weil Schmidt den Unmut von Bormann und Himmler auf sich gezogen und mit einer Festnahme gerechnet habe (Verhörprotokoll vom 25. Juli 1945, DÖW, 12638). Nach Schmidts Tod übernahm Wilhelm Ritterbusch im Juli 1943 das Amt des Generalkommissars z. b. V. Dessen Taufname lautete Johann Baptist Albin. Zu Rauter siehe In ’t Veld, Inleiding, 98–107 und Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 83–86. Derzeit bereitet Theo Gerritse die Veröffentlichung einer Biografie über Rauter vor. Das Schreiben, mit dem Rauter zum HSSuPF Nordwest ernannt wurde, ist abgedruckt in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 22, 483; siehe auch Himmlers Rundschreiben vom 24. Mai 1940 in: ebd., Nr. 23, 483 f. So auch Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer, 216. Allgemein zu dessen Tätigkeit in den Niederlanden: ebd., 206-216. Aus Himmlers Notizen aus dem ‚Felsennest‘, zit. nach: Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 58. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 703. Tweede verhoor van H. A. Rauter, NIOD, 463, Kart. 1, Mappe Verhooren Rauter, Bl. 2. Die Befragung Rauters wurde am 30. Januar 1947 durch die niederländischen Historiker Louis de Jong und Nicolaas Wilhelmus Posthumus im Arnheimer Strafgefängnis durchgeführt. Ein halbes Jahr später bestätigte auch Wimmer, „dass Seyss-Inquart sich vor einer Zusammenarbeit mit Rauter scheute und nicht sehr mit seiner Ernennung zufrieden war.“ (Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 339)

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in Polen die heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem dortigen Höheren SS- und Polizeiführer Krüger und Himmler auf der einen sowie Generalgouverneur Hans Frank auf der anderen Seite hautnah miterlebt hatte. „Er wußte nur zu gut, daß die ‚persönliche und unmittelbare‘ Unterstellung des HSSPF unter den Repräsentanten der Verwaltung lediglich auf dem Papier stand und daß er als Reichskommissar in Wirklichkeit weder eine Befehlsgewalt über die deutsche Polizei noch über den ‚Generalbevollmächtigten‘ Himmlers besitzen würde. Im Unterschied zu dem erfahrenen ‚alten Kämpfer‘ Terboven, der seinen HSSPF selbst bestimmen und so seine Selbständigkeit weitgehend wahren konnte, war Seyss-Inquart in Partei und SS viel zu schwach, als daß er erfolgreich gegen die Berufung Rauters hätte protestieren können.“30 Trotz seiner Vorbehalte gegenüber einer Ernennung Rauters verstand es Seyß-Inquart im Großen und Ganzen gleichwohl, im Besatzungsalltag eine pragmatische Form des Umgangs mit Rauter an den Tag zu legen, in Nürnberg hat er gar von „einem engen Einvernehmen“ gesprochen.31 Die Zusammenarbeit zwischen dem Reichskommissar und dem Generalkommissar für das Sicherheitswesen wurde in der Regel von beiden Seiten mit sachlicher Nüchternheit gestaltet, und zahlreiche Besprechungen unter vier Augen, die gelegentlich mehrere Stunden in Anspruch nahmen, boten den beiden österreichischen NS-Funktionären sowohl Gelegenheit zur Äußerung divergierender Ansichten als auch zur Abstimmung der politischen Linie, die die Besatzungsverwaltung in sicherheitsrelevanten Fragen einzunehmen gedachte. Dass Schmidt und Rauter in der zweiten Maihälfte des Jahres 1940 durch Bormann bzw. Himmler zu Generalkommissaren bestimmt wurden, war ein Signal dafür, dass sich deren Loyalität nicht nur auf den Reichskommissar, sondern mindestens ebenso stark auf die Partei bzw. die SS und deren jeweilige Führungsorgane und -personen im Reich erstreckte – fühlte sich Schmidt doch als Dienstleiter, später Hauptdienstleiter der NSDAP an die Parteizentrale in München gebunden, während Rauter als Höherer SS- und Polizeiführer durchgehend eifrig bemüht war, Himmlers Befehle umzusetzen bzw. dessen Wünschen dienstfertig, um 30 Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 85; siehe auch In ’t Veld, Inleiding, 105. Tatsächlich gelang Terboven in Norwegen, was Seyß-Inquart in den Niederlanden verwehrt blieb: den dortigen HSSuPF Friedrich Wilhelm Rediess „als eigenständige Instanz, die ja formal unmittelbar dem Reichsführer SS unterstellt war und dessen politische Interessen vertreten sollte, (macht)politisch auszuschalten […].“ (Bohn, Reichskommissariat Norwegen, 73) Loock vermutet, dass Himmler und Terboven eine Absprache getroffen haben, die der SS eine Beteiligung an der Besatzungspolitik in Norwegen und dem Reichskommissar ein Mitspracherecht bei der Ernennung höherer SS-Chargen sicherte (Quisling, Rosenberg und Terboven, 358). Dazu kommt, dass Terbovens „politische Vorstellungen radikal genug waren, als daß es für die SS noch Alternativen gegeben hätte.“ (Umbreit, Die deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten, 108) Zu den Auseinandersetzungen zwischen Frank und der SS in Polen siehe Eisenblätter, Grundlinien der Politik des Reichs gegenüber dem Generalgouvernement, Kap. II, besonders Abschn. 3. 31 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 67. Rauter wiederum meinte im Januar 1947 rückblickend über die Zusammenarbeit mit dem Reichskommissar: „Ich habe Seyss-Inquart sehr kritisch beobachtet und ich muss sagen, dass ich seine ganze Arbeit schätzen muss. Er war ein unerhört fleissiger, gewissenhafter und sich seiner Verantwortung bewusster Mann. Er hat sich der holländischen Sachen sehr eingehend angenommen.“ (Tweede verhoor van H. A. Rauter, NIOD, 463, Kart. 1, Mappe Verhooren Rauter, Bl. 13)

5.2 Der Reichskommissar im polymorphen Machtgefüge des NS-Systems

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nicht zu sagen: unterwürfig entgegen- oder gar zuvorzukommen.32 Die Doppelfunktionen von Generalkommissar und (Haupt-)Dienstleiter bzw. Höherem SS- und Polizeiführer musste Seyß-Inquart jedenfalls bei seiner Amtsführung in Rechnung stellen. Dies erwies sich besonders im Falle Rauters als schwierig: In höherem Maße als dies bei Schmidt der Fall war, blieb Rauter auf permanenter Tuchfühlung mit seinem Vorgesetzten im Reich und machte insbesondere bei der Judenverfolgung und der Bekämpfung von Widerstand von der Sonderstellung Gebrauch, die er als Höherer SS- und Polizeiführer außerhalb der Strukturen des Reichskommissariats von Anfang an besaß. Seine besondere Stellung trug entscheidend dazu bei, dass der SS-Komplex „eine Enklave im besetzten Gebiet bildete.“33 Diese Sonderstellung wurde verstärkt durch die Tatsache, dass es zwischen den verschiedenen Organen, die Rauters Leitung unterstanden, keine genaue Abgrenzung der Tätigkeitsfelder gab; wie Himmler zu diesem Zeitpunkt auf der Reichsebene die Ämter des Reichsführers-SS und des Chefs der Deutschen Polizei bekleidete,34 trug auf der Ebene der besetzten niederländischen Gebiete Rauters Doppelfunktion eines HSSuPF und eines Generalkommissars für das Sicherheitswesen dazu bei, die Grenze zwischen SS und Polizei fließend zu halten. Rauters Sonderstellung innerhalb des Reichskommissariats wurde noch dadurch unterstrichen, dass er nur in den ersten Monaten vom Reichskommissariat besoldet wurde;35 ab Dezember 1941 wurde er von SS-Geldern bezahlt.36 Vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die Seyß-Inquart im Generalgouvernement im Hinblick auf die Spannungen zwischen dem obersten Verwaltungschef eines besetzten Gebiets und einem Höheren SS- und Polizeiführer gewonnen hatte, wird er auch für seinen ‚Herrschaftsbereich‘ von vornherein damit gerechnet haben, dass der SS-Komplex bestrebt sein würde, ungeachtet der formellen Einbindung in die Verwaltungsstrukturen des Reichskommissariats sicherheitspolitische Fragen nach eigenen Spielregeln anzugehen. Erleichtert wurde der Eingriff der SS in fast alle Aspekte der deutschen Besatzungspolitik dadurch, dass der Begriff ‚Sicherheit‘ ausgesprochen weit ausgelegt wurde. Das frühzeitig erkennbare Bestreben von SS und Parteileitung, über die Generalkommissare Rauter und Schmidt Einfluss auf die Politik des Reichskommissariats zu nehmen, ließ Seyß-Inquart für die Gestaltung seiner Amtsführung de facto nur die folgenden Konsequenzen: so oft wie nötig die Zusammenarbeit mit Himmler wie auch mit Bormann zu suchen; deren Vertreter in Den Haag so weit wie möglich auf einer gemeinsamen politischen Linie zu halten versuchen; und stets nach einem Ausgleich der Interessen zwischen den hinter ihnen stehenden Reichsinstitutionen zu streben. Seyß-Inquarts relativ schwache machtpolitische Po32 Hiervon legt die Korrespondenz zwischen Rauter und Himmler Zeugnis ab, wie sie zu einem großen Teil in In ’t Velds Edition De SS en Nederland dokumentiert ist. Zu Rauters Doppelstellung siehe auch Cohen, Rauters positie en bevoegdheden, 203. Beim Gerichtsverfahren gegen Rauter sprach Staatsanwalt J. Zaaijer am 3. April 1948 von einer „dualistischen Position“ (RIOD [Hrsg.], Het Proces Rauter, 222). 33 In ’t Veld, Inleiding, 106. 34 Vgl. hierzu Wilhelm, Die Polizei im NS-Staat, IV. Teil. 35 Siehe hierzu Seyß-Inquart an Himmler vom 9. September 1940 mit der Mitteilung, dass Rauter neben einer Dienstwohnung ein Gehalt von 1.500 Reichsmark monatlich zustehe, abgedruckt in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 49, 527. 36 In ’t Veld, Inleiding, 106.

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sition im Reich und in der NSDAP erleichterten es Himmler und Bormann, die spezifischen Interessen von SS und Partei in den Niederlanden wesentlich stärker zu Geltung zu bringen, als dies in Norwegen unter Terboven oder im Generalgouvernement unter Frank der Fall war. Bezeichnend für den begrenzteren Handlungsspielraum, den Seyß-Inquart als deutsche ‚Zwischeninstanz‘ in den Niederlanden von Seiten des Reichs erhielt, war auch die Tatsache, dass Göring seine Zuständigkeiten für die Reichsverteidigung und den Vierjahresplan nicht an Seyß-Inquart delegierte, während er Hans Frank im Dezember 1939 fürs Generalgouvernement sehr wohl zum Generalbeauftragten für den Vierjahresplan und zum Reichsverteidigungskommissar ernannt hatte.37 Unter solchen Bedingungen konnte sich Seyß-Inquart den Aufbau eines eigenen, von der Einmischung von Reichsstellen weitgehend freien ‚Machtbereichs‘ nicht leisten. Die Befürchtung des Reichsschatzmeisters der NSDAP, Franz Xaver Schwarz, „die Herren Reichskommissare, einschliesslich des ‚Königs‘ Frank“ würden Bestrebungen an den Tag legen, „die nicht zum, sondern vom Reich weg führen“,38 konnte kaum auf Seyß-Inquart gemünzt sein. Außerdem zeigte sich der Reichskommissar in den Niederlanden – wie Adolf E. Cohen vermutet hat – einflussreichen Reichspolitikern gegenüber in der Regel gefügig, weil er sich deren Unterstützung bei seinem mutmaßlichen Bestreben erhoffte, zu einem späteren Zeitpunkt auf Reichsebene von Hitler mit einem staatlichen Amt mit einem eigenen Geschäftsbereich betraut zu werden.39 Ihm war klar, dass der anvisierte Weg auf den Posten des Reichsaußenministers nicht ohne oder gar gegen Himmler und Bormann zurückgelegt werden konnte. Dies zwang den Reichskommissar zu einer wohlwollenden Zusammenarbeit mit den Führern von SS und NSDAP in seinem aktuellen Arbeitsfeld, den besetzten Niederlanden. Partei und SS waren freilich nicht die einzigen Reichsinstitutionen, die nach dem FünfTage-Krieg Vertreter in die Niederlande entsandten. Das Auswärtige Amt schickte den Gesandten Otto Bene nach Den Haag, der vorher neben seinen diplomatischen Tätigkeiten im faschistischen Italien als Landesgruppenleiter in Großbritannien und Irland sowie als Gauamtsleiter zur besonderen Verwendung für die NSDAP tätig geworden war und zugleich im Rang eines Standartenführers der Schutzstaffel angehörte; ihn lernte Seyß-Inquart am 24. Mai 1940 in Berlin kennen.40 Wie schon mit Blick auf Schmidt und Rauter sah sich der frisch ernannte Reichskommissar auch in dieser Personalfrage von Hitler desavouiert. Denn am 19. Mai hatte sich Seyß-Inquart mit Außenminister Joachim von Ribbentrop da37 Krakauer Zeitung vom 5. Dezember 1939. Die Aufgabe eines Reichsverteidigungskommissars lag laut Taschen-Brockhaus zum Zeitgeschehen von 1940 (219) darin, „in allen Angelegenheiten der zivilen Reichsverteidigung die Einheitlichkeit der Maßnahmen innerhalb des Wehrkreises sicherzustellen und die enge Zusammenarbeit mit den zuständigen Wehrmachtsdienststellen zu gewährleisten“. 38 So die Wiedergabe von Schwarz’ Äußerungen im Brief von Berger an Himmler vom 2. Juli 1941, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 71, 563 f. 39 Cohen, Ontstaan en betekenis, 221. 40 Zu diesem Treffen siehe die Vortragsnotiz von Luther für Ribbentrop vom 25. Mai 1940, PA AA, R 27666, Bl. 312. Zu Benes Ernennung vgl. Cohen, De instelling, 188 f. Innerhalb der SS brachte es Bene während der Besatzungszeit bis zum Brigadeführer. Vgl. die Kurzbiografie in: Keipert/Grupp (Hrsg.), Biographisches Handbuch, Bd. 1, 102 f.

5.2 Der Reichskommissar im polymorphen Machtgefüge des NS-Systems

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rauf geeinigt, den bisherigen Generalkonsul in Amsterdam, Felix Benzler, zum Vertreter des Auswärtigen Amtes zu ernennen.41 Offenbar aber wollte der ‚Führer‘ in den Niederlanden keine Diplomaten dulden, die bereits vor dem Westfeldzug in dem besetzten Land tätig gewesen waren. Er scheint einem Diplomaten den Vorzug gegeben zu haben, der ‚von außen‘ kam und versprach, das Auswärtige Amt unzweideutig im nationalsozialistischen Geist zu vertreten; hierfür bürgte nicht zuletzt die Mitgliedschaft in der SS. Schließlich mochte gegen Benzler auch dessen recht spät erfolgter Eintritt in die NSDAP am 1. Januar 1940 gesprochen haben.42 So sah sich Seyß-Inquart einmal mehr gezwungen, sich in der Auswahl seiner engsten Mitarbeiter Hitlers Willen zu beugen. Im Unterschied zu den Generalkommissaren unterstand Otto Bene als Vertreter des Auswärtigen Amtes sehr wohl dem Reichskommissar „unmittelbar“,43 und aus den Berichten, die Bene im Laufe der folgenden Jahre nach Berlin geschickt hat, lässt sich herauslesen, dass er Seyß-Inquart und dessen Politik mit Loyalität und Sympathie begegnete. Bene hat sich denn auch in keiner Weise gegen die Gleichschaltung des ‚germanischen‘ Landes durch die deutsche Zivilverwaltung gewandt,44 obwohl die schiere Existenz seines Amtes nach außen suggerierte, dass das Großdeutsche Reich die Niederlande als Ausland betrachte. Auf jeden Fall hatte er als Vertreter Ribbentrops in erster Linie die Aufgabe, die Interessen und Sichtweisen des Auswärtigen Amts in Den Haag zur Geltung zu bringen, und dies nötigte den Reichskommissar, den Standpunkt der Wilhelmstraße in seine Überlegungen und Entscheidungen einfließen zu lassen. Schließlich haben auch die Wehrmacht sowie verschiedene zivile Staats- oder Parteiorgane, die nicht dem Reichskommissariat eingegliedert waren, Dienststellen in den Niederlanden unterhalten. So wurde etwa der Ministerialdirektor zur besonderen Verwendung im Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan, Helmuth C. H. Wohlthat, zum Beauftragten für die ‚Niederländische Bank‘ ernannt;45 neben Veltjens vertrat er letztlich Görings Ansprüche und Interessen in den Niederlanden. Für den Reichsarbeitsdienst war Generalarbeitsführer Walter Ludwig Bethmann vor Ort, für das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition (ab Juni 1943: Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion) Richard Fiebig. Verbände nationalsozialistischer Sonderverwaltungen wie der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) agierten zwar mit Unterstützung des Reichskommissariats, standen aber weitgehend außerhalb der Strukturen der deutschen Zivilverwaltung in den Niederlanden. Mit diesen und zahlreichen weiteren Vertretern von Reichsbehörden wurden wie im Reich und in den anderen besetzten oder angegliederten Gebieten auch in den Niederlanden Behördenpluralismus und polykratische Machtstrukturen institutionalisiert.46 Erschien das Reichs41 Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 58. 42 Zu Benzler siehe Keipert/Grupp (Hrsg.), Biographisches Handbuch, Bd. 1, 108 f. 43 VO 4/1940 vom 3. Juni 1940, § 1, in: VOBl. NL 1940, 12. 44 Siehe hierzu Kap. 6. 45 Siehe VO 5/1940, vom 5. Juni 1940, Art. II, in: VOBl. NL 1940, 18. Zu Wohlthat siehe die biografische Notiz bei Kreutzmüller, Händler, 342. 46 Siehe hierzu auch den Überblick über das Reichskommissariat, den Otto Bene in seinen Berichten ans Auswärtige Amt vom 6. Oktober 1942 und vom 15. Januar 1943 gab, PA AA, R 101102.

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Kapitel 5: Nationalsozialistische Zivilverwaltung

kommissariat nach außen hin aus einem Guss, enthielt es im Innern zahlreiche Sollbruchstellen. In diesem Sinn hat der Historiker Nanno In ’t Veld die deutsche Zivilverwaltung in den besetzten Niederlanden zutreffend beschrieben als „einen schwerfälligen und weitverzweigten Apparat, in dem sich Aufgabenzuschreibungen überlappten, Abteilungen im Laufe der Zeit verschoben oder aufgehoben wurden und die Leiter einzelner Abteilungen in Kompetenzstreitigkeiten verwickelt waren.“47 In der Praxis wurde mit der Vielzahl an deutschen Ämtern gerade das unterlaufen, was der Wortlaut des Führererlasses vom 18. Mai 1940 als Ziel vorgegeben hatte: eine klare, hierarchische Struktur zu schaffen, in der auf dem zivilen Sektor ausschließlich Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart das Sagen haben sollte. Die Einführung polymorpher Strukturen relativierte faktisch seine Machtstellung und schränkte seinen Spielraum ein. Nicht zu Unrecht verteidigte er sich auf dem Nürnberger Prozess mit dem Hinweis: „[...] auch der Reichskommissar in den Niederlanden war nicht allmächtig.“48 Auf jeden Fall erforderte ein institutionelles Umfeld, das „eher einem Konglomerat von Vertretern deutscher Ministerien und anderer Instanzen als einem kohärenten und ausgewogenen Verwaltungsapparat“49 glich und damit geradezu typisch für das NS-Regime war, von Seyß-Inquart Fingerspitzengefühl, um zu verhindern, dass sich persönlich, institutionell oder politisch bedingte Rivalitäten und divergierende Interessen zwischen diversen Personen oder Instanzen der deutschen Zivilverwaltung, der Wehrmacht und der einheimischen Bevölkerung zu einer Belastung für seine Politik entwickelten. Sein zentrales Problem war denn auch nicht, dass Hitler als sein einziger unmittelbarer Vorgesetzter zu stark in seine Politik eingegriffen hätte. Die Herausforderung seines Amtes bestand vielmehr darin, die unterschiedlichen Machtgruppierungen im Reich und in den besetzten Niederlanden auf eine einheitliche politische Linie festzulegen. Hierzu hatte er zwar von Hitler ausreichend Handlungsspielraum bekommen. Zugleich aber wurde seine Arbeit durch das polymorphe Machtgefüge erschwert. Die schwierige Ausgangslage, die Seyß-Inquart von Hitler mit seiner Ernennung zum Reichskommissar mit auf den Weg gegeben worden war, hat Otto Bene einmal treffend zusammengefasst: „Es ist […] schon eine schwierige Aufgabe für den Reichskommissar durch das Ganze, ohne dass Reibungen zwischen den deutschen Dienststellen oder Unruhe bei der niederländischen Bevölkerung entstehen, mit Erfolg durchzumanövrieren und die Niederlande zu beachtlichen kriegswichtigen industriellen und landwirtschaftlichen Lieferungen gebracht zu haben.“50 Bei all dem gilt zu bedenken, dass das Reichskommissariat als ‚Zwischeninstanz‘ in Verwaltungsprozesse eingebunden war, die letztendlich auf Reichsebene entschieden wurden. Wie im Folgenden an vielen Stellen deutlich wird, hatte die deutsche Zivilverwaltung in den Niederlanden oftmals Vorgaben umzusetzen, die von Reichszentralstellen initiiert oder dekretiert worden waren. Dabei war Seyß-Inquart nicht nur dafür verantwortlich, dass alle Stellen innerhalb der besetzten Niederlande zu einem gemeinsamen, möglichst effektiven Vorgehen motiviert wurden. Er trug auch die politische Verantwortung für eine reibungs47 48 49 50

In ’t Veld, Inleiding, 82. Ähnlich Blom, Nederland onder Duitse bezetting, 487 f. Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 54. In ’t Veld, Inleiding, 83. Bericht ans Auswärtige Amt vom 6. Oktober 1942, PA AA, R 101102.

5.3 Das Verhältnis zu SS und Reichsinstitutionen

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lose Koordination zwischen seinem Reichskommissariat und den zuständigen Ministerien, Sonderbehörden oder Sonderbeauftragten im Reich. Seine Position erforderte somit die Fähigkeit, zwischen Reichsinstanzen einerseits und den Mitarbeitern von Reichskommissariat und niederländischen Behörden andererseits vermitteln zu können – wohlwissend, dass auf beiden Seiten jeweils divergierende Interessen vertreten werden konnten. Zugleich musste ihm daran gelegen sein, seine von Hitler garantierte Eigenständigkeit zu wahren und deutlich zu machen, dass er als Reichskommissar die Gesamtverantwortung für die Politik des nationalsozialistischen Deutschlands in den besetzten Niederlanden trug. Und schließlich lässt sich an etlichen Punkten belegen, dass er sich in Diskussions- oder Entscheidungsprozesse auf Reichsebene eingeschaltet hat und auf dieser Ebene in seinen Funktionen als Reichsminister und Reichskommissar Stellung bezog. Dabei lavierte er oft geschickt zwischen Führerhauptquartier, Reichsministerien und Instanzen des SS-Komplexes, und dank seiner Interventionen konnte er im Vorfeld manche Vorgaben des Reiches beeinflussen, für deren Umsetzung in den Niederlanden er anschließend geradezustehen hatte. 5.3 Das Verhältnis zu SS und Reichsinstitutionen

Das Verhältnis des Reichskommissars zum Reich war also komplex. Einerseits war Seyß-Inquart in reguläre Geschäftsordnungsvorgänge des Großdeutschen Reiches eingebunden, als ‚Zwischeninstanz‘ zwischen Reich und besetztem Gebiet war er auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit Reichsstellen geradezu angewiesen. Andererseits hat er immer wieder Versuche unternommen, Eingriffe aus dem Reich oder eine Kontrolle durch Reichsinstanzen einzuhegen oder gar abzublocken. Beinahe programmatischen Charakter für derartige Versuche besitzt ein Brief an Fiebig, den Vertreter von Albert Speer in den Niederlanden. Fiebig wurde 1942 von Seyß-Inquart nicht nur ermahnt, sich ungeachtet seiner Bindung an den Rüstungsminister an die Zuständigkeiten innerhalb des Reichskommissariats zu halten. Seyß-Inquart brachte hier auch auf grundsätzliche Weise sein Verständnis vom Verhältnis zwischen seiner Behörde und den Vertretern von Reichsstellen zum Ausdruck: „Die Einflussnahme der mit allgemeiner Zuständigkeit ausgestatteten Reichszentralstellen […] besteht darin, dass die Generalbevollmächtigten bzw. Generalkommissare51 Weisungen an meine Dienststelle geben, die dann von dieser Dienststelle durchgeführt werden, nicht aber darin, dass diese einen eigenen Verwaltungsapparat hier aufbauen, mit dem sie unabhängig von meiner Dienststelle in die niederländische Verwaltung eingreifen.“52 Auch den Einfluss der Wehrmacht inner- und außerhalb der Niederlande wollte Seyß-Inquart begrenzt wissen. So wehrte er sich als Chef der Zivilverwaltung beispielsweise erfolgreich gegen die Forderung von Wehrmachtbefehlshaber Christiansen nach dem Erlass einer Verordnung, „durch die das gesamte Nachrichtenwesen der Aufsicht und zum Teil auch der 51 Damit sind hier nicht die Generalkommissare des Reichskommissariats gemeint, sondern Vertreter von Reichszentralstellen. 52 Seyß-Inquart an Fiebig vom 19. Oktober 1942, NIOD, Coll. Doc. I, 248-0476/a2.

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Lenkung durch die Wehrmachtsbehörden“ unterstellt würde. Nicht ohne Selbstbewusstsein begründete er seine ablehnende Haltung mit Argumenten, die ins Grundsätzliche gingen: „Ich kann mich nicht recht dazu verstehen, die doch eigentlich mir übertragene Regierungsgewalt in einer so wichtigen Sache einfach aus der Hand zu geben und sehe hiezu [sic] auch keine Notwendigkeit, da ich ohnehin bereit bin, alles was die Wehrmacht will und vernünftigerweise verlangt werden kann, zu tun.“53 Damit blieb es bei der Regelung, dass der Wehrmachtbefehlshaber für alle Formen der Nachrichtenübermittlung zuständig war, die durch Funk, Lichtsignale oder Brieftauben getätigt wurden, nicht jedoch für Rundfunkgeräte oder andere Medien des Nachrichtenwesens, die Auswirkungen auf die Politik gegenüber der niederländischen Gesellschaft hatten.54 Ob diese Angelegenheit tatsächlich von so grundsätzlicher Bedeutung war, wie Seyß-Inquart behauptete, ist hier nicht entscheidend. Aus seiner Stellungnahme lässt sich aber ablesen, dass er selbst in Detailfragen darauf bedacht war, die klare, politisch gewollte Priorität zu behaupten, die Hitler mit seinem Erlass vom 18. Mai 1940 der Zivilverwaltung zugewiesen hatte. Eine neue Qualität gewannen Kompetenzkonflikte zwischen Militär- und Zivilverwaltung, als auf deutscher Seite ab 1943 die Angst vor einer alliierten Landung an der Nordseeküste zunahm und die Niederlande wieder Kriegsgebiet zu werden drohten. Wie noch zu zeigen sein wird, gelang es Seyß-Inquart selbst in dieser Phase, die Suprematie der Zivilverwaltung zu verteidigen.55 Das Verhältnis zu Reichszentralstellen kam besonders ausgeprägt in einer mehrjährigen Diskussion zum Ausdruck, in der es um die Frage ging, ob der Reichsrechnungshof befugt sei, den Haushalt der Reichskommissariate in den Niederlanden und in Norwegen zu kontrollieren. Und noch grundsätzlicher war in diesem Zusammenhang zu klären, inwieweit diese beiden nationalsozialistischen Zivilverwaltungen dem Reichsrecht unterlagen oder nicht zuletzt in haushaltsrechtlicher Hinsicht einen Sonderstatus besaßen. So hatte Reichsfinanzminister Johannes Ludwig (Lutz) Graf Schwerin von Krosigk im Sommer 1940 darauf gedrängt, „daß für alle besetzten Gebiete sowohl die allgemeine Organisation der Reichskommissare und ihrer Dienststellen als auch die Kostendeckung […] alsbald grundlegend geregelt wird.“ 56 Demgegenüber vertrat der Chef der Reichskanzlei, Dr. Hans Heinrich Lammers, die Auffassung, dass eine Vereinheitlichung der Verwaltung der besetzten Gebiete angesichts ihrer Unterschiedlichkeit nicht sinnvoll und wünschenswert sei: „Die Art der Organisation wird wesentlich durch die besonderen und jeweils verschiedenartigen Verhältnisse des besetzten Gebiets, die daraus sich ergebenden besonderen Aufgaben, die politische Zielsetzung und durch die Arbeitsweise des vom Führer bevollmächtigten Reichskommissars bestimmt sein.“57 53 Seyß-Inquart an Lammers vom 17. August 1940, BArch, R 43 II/677, Bl. 11. 54 Siehe VO 25/1940 vom 24. Juni 1940, in: VOBl. NL 1940, 59–63. Ergänzend hierzu VO 156/1940 vom 27. September 1940, in: ebd., 474 f. Vgl. auch die Verordnungen über das Halten von Tauben (VO 140/1941 vom 25. Juli 1941, in: VOBl. NL 1941, 605–610) und über das Verbot des Haltens von Tauben (VO 86/1942 vom 3. August 1942, in: VOBl. NL 1942, 394–396). 55 Siehe hierzu Kap. 14. 56 Schwerin von Krosigk an Lammers vom 3. Juli 1940, BArch, R 43 II/677, Bl. 73. 57 Lammers an Schwerin von Krosigk vom 5. August 1940, ebd., Bl. 67 f.

5.3 Das Verhältnis zu SS und Reichsinstitutionen

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Diese Sichtweise konnte Seyß-Inquart sich zunutze machen. In einem Schreiben an Lammers stellte er sich im Oktober 1940 auf den Standpunkt, dass „das Reichsrecht nicht ohne weiteres in den Niederlanden gilt“. Hieraus wiederum sei abzuleiten, dass „die Kompetenz des Reichsrechnungshofes an und für sich“ nicht gegeben sei, da es sich bei der Finanzierung der Besatzungsverwaltung in den Niederlanden „nicht um Reichsmittel handelt, sondern der niederländische Staat die Kosten der Besatzungsbehörden trägt“, die sein Reichskommissariat zur Bestreitung der laufenden Ausgaben benötige. Außerdem verteidigte Seyß-Inquart eine haushaltsrechtliche Autonomie seiner Behörde durch den Hinweis, „daß ich den Großteil der durch mich vom niederländischen Staat beanspruchten Mittel für Zwecke reserviere und zum Teil auch ausgebe, die vollkommen auf der politischen Ebene liegen und bezüglich welcher eine haushaltsmäßige Verrechnung gar nicht in Frage kommt.“ Eine Kontrolle durch den Rechnungshof würde er dabei als eine Beeinträchtigung seiner „Dispositionsfreiheit“ und politischen Handlungsfreiheit empfinden. Um diese Frage einmal grundsätzlich zu klären, regte Seyß-Inquart die Einholung einer „Führerentscheidung“ an.58 Aus seiner Sicht war dies ein kluger Schachzug. Denn tatsächlich hat Hitler ein Machtwort zugunsten seines Reichskommissars in den Niederlanden gesprochen: „[…] der Reichsrechnungshof solle sich keinesfalls um die Dienststelle des Reichsministers Seyß-Inquart kümmern.“59 Offensichtlich war es Seyß-Inquart gelungen, mit seinen Ausführungen Hitlers bekannte Distanz gegenüber der regulären Reichsministerialbürokratie und die gleichzeitige Bevorzugung jeglicher Art von Sonderverwaltungen anzusprechen, sein Hinweis auf die angebliche Notwendigkeit einer politisch statt bürokratisch verantworteten Finanzverwaltung dürfte ganz nach Hitlers Geschmack gewesen sein. Trotz des klaren Machtworts schwelte die Frage nach der Reichweite der Prüfungstätigkeit des Rechnungshofs aber weiter, die „Führerentscheidung“ entfaltete in diesem Fall also nur eine temporäre, keine definitive Wirkung. Der Präsident des Reichsrechnungshofs, Dr. Heinrich Müller, hatte nämlich den Ehrgeiz, die Zuständigkeit seiner Behörde nicht nur innerhalb des Großdeutschen Reiches zur Geltung zu bringen, sondern während des Krieges auch auf die angegliederten und besetzten Gebiete auszuweiten.60 In diesem Sinn argumentierte Müller im März 1941 völlig konträr zu Hitlers Entscheidung, das Reichskommissariat sei „eine vom Führer durch Erlaß vom 18. Mai 1940 […] eingesetzte Dienststelle des Reiches“ und unterliege deshalb „den Vorschriften des Deutschen Reichshaushaltsrechts und der Prüfung des Rechnungshofs.“61 Einen solchen Widerspruch zu einer „Führerentscheidung“ konnte 58 Seyß-Inquart an Lammers vom 29. Oktober 1940, ebd., Bl. 21–23. 59 Hier ging es nicht um Seyß-Inquarts Ministerbüro in Berlin, sondern um das Reichskommissariat in den Niederlanden. Bormann an Lammers vom 11. November 1940, ebd., Bl. 24; Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 1, Nr. 14639. In demselben Sinn hatte Hitler im Hinblick auf Norwegen entschieden und sich damit auf die Seite Terbovens gestellt, der den besetzten norwegischen Gebieten im Zusammenhang mit den Diskussionen über eine Etatisierung des dortigen Reichskommissariats den Status einer Obersten Reichsbehörde zuerkannt wissen wollte; siehe Bohn, Reichskommissariat Norwegen, 34. 60 Vgl. Dommach/Franz, Müller. 61 Müller an Reichskabinettsrat Dr. Leo Killy (Reichskanzlei) vom 22. März 1941, BArch, R 43 II/677, Bl. 25.

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sich vermutlich nur ein ‚alter Kämpfer‘ erlauben. Jedenfalls war die Diskussion wieder eröffnet, auch wenn sie mühsam und über einen längeren Zeitraum geführt wurde. Es dauerte denn auch gut zwei Jahre, ehe wieder sichtbar Bewegung in die Angelegenheit kam. Im April 1943 schlug Schwerin von Krosigk einen Kompromiss zwischen Müller auf der einen und Seyß-Inquart – sowie in gewisser Weise Hitler – auf der anderen Seite vor. Demnach sollte der Rechnungshof „die Verfügungsmittel“ des Reichskommissariats wie Dienstaufwand, Repräsentations-, Reise- und sonstige Haushaltskosten sehr wohl prüfen dürfen, wohingegen die Ausgaben für die originär politisch motivierte Arbeit Seyß-Inquarts, namentlich die „Förderung der deutsch-niederländischen Zusammenarbeit“, vom Prüfungsrecht ausgenommen sein solle.62 Einer solchen Regelung konnte sich Seyß-Inquart nicht verschließen. Er willigte in den Vorschlag des Finanzministers ein, bestand aber darauf, dass die Detailprüfung der genannten Verfügungsmittel „allgemein bei den Reichskommissaren erfolgt“, während der Reichsrechnungshof sich auf die Feststellung beschränken müsse, „ob die Globalsumme […] in einem Verhältnis zu dem in den Niederlanden durchzuführenden Auftrag stehe.“63 Auch im Hinblick auf die Aufstellung eines Haushaltsplans wurde Seyß-Inquart übrigens von Reichs wegen in die Pflicht genommen. So griff Lammers im September 1942 eine Anregung des Finanzministers auf und verpflichtete Seyß-Inquart, ab 1943 einen Haushaltsplan aufzustellen und der Reichskanzlei vorzulegen, fügte aber beschwichtigend hinzu, dass dieses Vorgehen „eine Beschränkung Ihrer finanziellen Bewegungsfreiheit nicht zur Folge zu haben braucht.“64 Trotzdem wurde der Handlungsspielraum von Hitlers Statthalter in Den Haag mit solchen Bestimmungen eingeschränkt. Von den Auswirkungen unmittelbar betroffen waren zunächst die Angestellten des Reichskommissariats. Für sie fielen künftig bestimmte Sonderzahlungen fort wie Heirats- und Geburtsbeihilfen, Weihnachtszuwendungen oder Zulagen für Deutsche aus den Niederlanden, die in die Wehrmacht einberufen wurden.65 Darüber hinaus hatte die Haushaltskontrolle zwei politische Konsequenzen: Sie verstärkte die Einbindung der deutschen Zivilverwaltung in die Strukturen der Reichsverwaltung, und hierdurch wiederum wurden die besetzten Niederlande noch mehr an das Großdeutsche Reich herangeführt als bisher. Selbst wenn Seyß-Inquart jemals daran gedacht hätte, eine eigenständige ‚Territorialherrschaft‘ anzusteuern – mit der Verpflichtung zur Aufstellung eines Haushaltsplans war die Abhängigkeit seines ‚Herrschaftsgebiets‘ von Reichszentralbehörden mehr denn je irreversibel. Überdies brachte der Kriegsverlauf mit sich, dass einzelne Reichszentralstellen mit Befugnissen ausgestattet wurden, die sich nicht nur auf das Reich, sondern auch auf die besetzten 62 Schwerin von Krosigk an Lammers vom 7. April 1943, ebd., Bl. 38 f. mit Bl. 40. 63 Aktenvermerk vom Juni 1943, ebd., Bl. 41. Hierin wird Bezug genommen auf ein Schreiben Seyß-Inquarts vom 25. Mai 1943. 64 Lammers an Seyß-Inquart vom 21. September 1942 (ebd., Bl. 87). Siehe auch Schwerin von Krosigk an Lammers vom 26. August 1942 (ebd., Bl. 84 f.) sowie die beiden Rundschreiben, in denen Seyß-Inquart am 29. Januar 1943 die Übernahme der Geldbewirtschaftung des Reichskommissariats in den Reichshaushalt zum 1. April ankündigte (NIOD, 14/115). 65 Rundschreiben Piesbergens vom 22. Februar 1943, NIOD, 14/115.

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Gebiete bezogen. Dies war beispielsweise der Fall, als Hitler am 23. Januar 1942 Reichsverkehrsminister Dr. Julius Dorpmüller ermächtigte, über das gesamte Eisenbahnwesen einschließlich der Arbeitskräfte im Protektorat und in den Niederlanden zu verfügen, um – wie es im Führererlass hieß – „den höchstmöglichen und einheitlichen Einsatz des Verkehrsapparates im gesamten deutschen Machtbereich für die Kriegführung zu gewährleisten“. Reichsprotektor Neurath bzw. Seyß-Inquart waren vom Minister lediglich „rechtzeitig zu verständigen“; ein Recht auf Mitentscheidung wurde weder den zivilen noch den militärischen Instanzen der beiden Gebiete zugestanden.66 Ähnliches galt für den Erlass, mit dem Hitler am 30. Mai 1943 Dorpmüller die Vollmacht erteilte, in zahlreichen besetzten Gebieten Straßenbahnwagen und Omnibusse mit den dazugehörigen Einrichtungen, Anlagen und Ersatzteilen zu beschlagnahmen, um im Reich, dessen Infrastruktur durch die alliierten Luftangriffe bereits schwer beeinträchtigt war, „den kriegsnotwendigen Verkehr“ aufrechtzuerhalten. Mit den Chefs der anderen Zivilverwaltungen und dem Oberkommando der Wehrmacht wurde auch Seyß-Inquart aufgefordert, „den Forderungen des Reichsverkehrsministers zu entsprechen.“67 Auch hier war für den Reichskommissar und seine Kollegen ein Mitentscheidungsrecht nicht vorgesehen. Im Februar 1944 führte der Kriegsverlauf auch zu einem Schlagabtausch zwischen Seyß-Inquart und Reichsarbeitsführer Konstantin Hierl. Ausgangspunkt war die Forderung von General Christiansen, den Niederländischen Arbeitsdienst (NAD) aufzulösen.68 Dies begründete der Wehrmachtbefehlshaber mit der Befürchtung, dass die zwangsweise zum Arbeitsdienst eingezogenen Niederländer im Falle einer Landung der Alliierten an der holländischen Nordseeküste die Invasionstruppen unterstützen würden. Hierl und sein Vertreter in den Niederlanden, Generalarbeitsführer Bethmann, wiesen die Unterstellung politischer Unzuverlässigkeit zurück und vermuteten, dass hinter Christiansens Vorstoß die Absicht der Nationaal-Socialistische Beweging stünde, Personal für eigene Zwecke rekrutieren zu wollen.69 Diese Vermutung war nicht völlig aus der Luft gegriffen. Denn Anton Adriaan Mussert, der die NSB 1931 ins Leben gerufen hatte und seitdem ihr ‚Führer‘ war, konnte kaum mit der Tatsache zufrieden sein, dass von den 1.800 Mann, die Mitte 1944 den Kader des Niederländischen Arbeitsdienstes bildeten, nur etwa ein Viertel Mitglied seiner Partei war.70 Jedenfalls hat Mussert Seyß-Inquart am 18. Februar 1944 empfohlen, den NAD zumindest zeitweilig außer Dienst zu stellen und dessen Angehörige anderweitig einzusetzen – die Nichtmitglieder in der Organisation Todt, die Parteimitglieder in parteinahen Organisationen wie dem Landsturm, dem Evakuierungsdienst oder der Niederländischen Landwacht, die im November 1943 zur Territorialverteidigung und zum Schutz von NSB-Angehörigen und -Einrichtungen vor den damals zunehmenden Attentaten des Widerstands gegründet worden war.71 Nach 66 67 68 69 70 71

Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 140, 230. Ebd., Dok. 250, 339. Zum Arbeitsdienst siehe Kap. 11.4. Aktenvermerk in: BArch, NS 19/3403, Bl. 97 f. De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10a/1, 205. Mussert an Seyß-Inquart vom 18. Februar 1944, Abschriften auf Deutsch und Niederländisch in: NIOD,

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einem Gespräch zwischen Christiansen und Hierl war zunächst „eine Zeit lang Ruhe“ eingetreten.72 Doch als mit dem D-Day die Alliierten tatsächlich auf dem Kontinent gelandet waren und rasch vorankamen, flammte die Kontroverse erneut auf.73 In einem Brief an Hierl vom 12. Juli 1944 griff Seyß-Inquart wieder die Befürchtung auf, dass sich im NAD „eine grosse, ja überwiegende Zahl von mehr oder weniger antideutsch eingestellten Menschen“ zusammenfinde und „die Sammlung so vieler junger Menschen einen Gefahrenansatzpunkt gibt für Konspirationen, die sich insbesondere im Augenblick einer Landung ungünstig auswirken müssen […].“ Deshalb sehe er sich außerstande, „die Verantwortung für das Weiterbestehen dieser Organisation an sich im heutigen Umfange und Aufbau“ zu tragen. 74 Als Hierl dem Reichskommissar daraufhin vorwarf, über die Haltung der niederländischen Arbeitsdienstmänner „völlig einseitig“ informiert zu sein und drohte, die Frage Hitler zur Entscheidung vorzulegen,75 reagierte Seyß-Inquart ungehalten. In gereiztem Ton warf er dem Reichsarbeitsführer seinerseits „völlige Unorientiertheit mit der gegebenen Situation“ vor und kündigte an, den NAD in der damals bestehenden Form aufzulösen. Die bereits eingezogenen Männer sollten in einen Hilfsdienst überführt werden, aus dem der Nederlandsche Hulpdienst wurde. In der Folgezeit solle dann der Versuch unternommen werden, durch eine „strenge Auslese“ von Führern und Unterführern den Niederländischen Arbeitsdienst neu zu gestalten und eine Mitgliedschaft lediglich auf freiwilliger Basis zuzulassen; auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass der Arbeitsdienst eine zuverlässige und loyale Stütze im Kampf des NS-Regimes gegen die alliierten Soldaten sei.76 Der Protest, den Hierl Mitte August bei Himmler einlegte, war offenkundig ergebnislos.77 Denn der Reichsführer-SS unterstützte ausdrücklich Seyß-Inquarts Position und hielt es für richtig, die 18- bis 22-jährigen Niederländer zur „Abgabe an das Reich für Zwecke des Arbeitseinsatzes“ einzuziehen statt sie in ihrem Heimatland im NAD Dienst tun zu lassen.78 Damit musste sich Hierl abfinden. Denn er konnte es nicht wagen, gegen Himmlers Entscheidung Hitler anzurufen, und damit wiederum war für das Reichskommissariat und die Wehrmacht der Weg frei, über niederländische Arbeitskräfte zu verfügen, die unabhängig vom Reichsarbeitsführer und seinem Verwaltungsapparat in den Niederlanden oder im Deut-

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123/216, Mappe 6. Wie Christiansen gab Mussert politische Unzuverlässigkeit als Begründung an: „Der NAD ist eher ein Instrument in den Händen unserer Gegner und unserer Feinde, als dass er in zuverlässigen nationalsozialistischen Händen ist.“ So die Formulierung von Rauter im Schreiben an Himmler vom 19. Juli 1944, BArch, NS 19/3403, Bl. 87. Siehe unter anderem den Aktenvermerk für SS-Standartenführer Dr. Rudolf Brandt (Persönlicher Stab des Reichsführers-SS), ebd., Bl. 58. Seyß-Inquart an Hierl vom 12. Juli 1944, ebd., Bl. 88-91. Hierl an Seyß-Inquart vom 1. August 1944, ebd., Bl. 82-84, hier zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 580, 1401. Seyß-Inquart an Hierl vom 9. August 1944, BArch, NS 19/3403, Bl. 64. Hierl an Himmler vom 13. August 1944, ebd., Bl. 64. Fernschreiben Himmlers an Rauter vom 24. August 1944, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 587, 1411.

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schen Reich eingesetzt werden konnten. Schon wenige Tage später sollte sich zeigen, dass die Skepsis gegenüber dem NAD aus Sicht der NS-Führung berechtigt war. Als nämlich am bereits erwähnten ‚verrückten Dienstag‘ über Radio Oranje die Meldung verbreitet wurde, nach der Befreiung von Brüssel und Antwerpen stünde auch die Befreiung der Niederlande durch die Alliierten unmittelbar bevor, entstand in der einheimischen Bevölkerung eine euphorische Stimmung, während unter niederländischen Kollaborateuren und Deutschen eine Massenpanik ausbrach. Viele von ihnen setzten sich ins Reich ab. Auch für den Niederländischen Arbeitsdienst hatte der Dolle Dinsdag gravierende Konsequenzen: Fast alle Mitglieder und drei Viertel seines Kaders verließen ihre Stellungen. Damit wurde deutlich, dass Hierl und Bethmann in den vorangegangenen Monaten die politische Loyalität dieser Organisation gegenüber dem deutschen Besatzungsregime falsch eingeschätzt hatten. Genau dies warf Seyß-Inquart dem Reichsarbeitsführer noch im Januar 1945 in einer Mischung aus Enttäuschung und Genugtuung vor.79 In der aktuellen Situation wirkte es wie hilfloser Aktionismus, dass Bethmann am 6. September 1944 den Kommandanten des NAD, Lodewijk Alexander Cornelis de Bock, seines Postens enthob und selber die Führung übernahm.80 Die Auseinandersetzungen um den Niederländischen Arbeitsdienst sind nicht nur um ihrer selbst willen von Belang. Sie verweisen auch beispielhaft auf das Verhältnis des Reichskommissariats zum SS-Apparat, der mit der zunehmenden Radikalisierung des Großdeutschen Reiches im Laufe des Zweiten Weltkriegs immer mehr an Bedeutung innerhalb des NS-Systems gewann. Ein Großteil dieser Thematik, die besondere Aufmerksamkeit verdient, hing eng mit der deutschen Politik gegenüber der NSB zusammen und wird deshalb unten näher analysiert.81 Andere Aspekte trugen einen grundsätzlicheren Charakter und hatten unmittelbare Konsequenzen für Seyß-Inquarts Stellung innerhalb des nationalsozialistischen Machtgefüges. Insgesamt ist sein Verhältnis zum SS-Apparat als ambivalent zu bezeichnen. Auf der einen Seite waren für Seyß-Inquart die persönliche Bindung an Himmler, dem er in hohem Maße seine Berufung zum Reichskommissar zu verdanken hatte, wie auch die institutionelle Bindung an die SS in ihrer Gesamtheit seit dem Anschluss Österreichs unerlässlich – dienten sie doch nicht zuletzt der Kompensation seines Mangels an einer ‚Hausmacht‘ in der NS-Bewegung. Die kontinuierlich gepflegte Korrespondenz mit Himmler und die relativ häufigen persönlichen Begegnungen zwischen den beiden NS-Politikern82 legen denn auch Zeugnis von seinem Bestreben ab, mit dem Reichsführer-SS in einem positiven Verhältnis zu verkehren. Die Zusammenarbeit mit Himmler setzte er auch ein, um seine Amtsführung nach Berlin zu kommunizieren und dabei seine Besatzungsverwaltung auf Reichsebene als vorbildlich darzustellen. Mehr noch: Er mischte sich über Himmler in Fragen ein, die Konsequenzen für das Reich in seiner Gesamtheit haben mussten. 79 80 81 82

Seyß-Inquart an Hierl vom 19. Januar 1945, BArch, NS 19/3403, Bl. 52. De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10a/1, 207 und Van Breen, De Nederlandsche Arbeidsdienst, 170. Siehe hierzu Kap. 7. Allein in den Jahren 1941/42 sind sich Himmler und Seyß-Inquart nachweislich an 16 Tagen begegnet; siehe Witte u. a. (Bearb.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers, passim.

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Dies war ausdrücklich der Fall, als Seyß-Inquart dem Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei Ende November 1942 Entwürfe zu einer Polizeiorganisationsverordnung und der Einführung eines Polizeistandrechts in den Niederlanden zukommen ließ. 83 Im Begleitbrief warf er nämlich die Frage auf, ob er für die Zusammenfassung des niederländischen Polizeiwesens ein eigenes Generalsekretariat errichten solle, und die Antwort auf diese Frage sei – so betonte er nachdrücklich – nicht nur für Rauter und die besetzten Niederlande, „sondern auch für das Reich“ von Bedeutung. Diese Formulierung beweist, dass Seyß-Inquart bewusst war, welch enorme Bedeutung die aufgeworfene Frage für die Position Himmlers wie auch für die gesamte Architektur der Reichsführung hatte. Denn für aufmerksame Beobachter war kaum zu übersehen, dass Himmler danach trachtete, Frick als Innenminister abzulösen. Vor diesem Hintergrund legte Seyß-Inquart Wert auf die Feststellung, dass sein Reichskommissariat nicht gegen mögliche Entscheidungen der Reichsführung arbeiten wolle, sich aber zugleich als einen Schrittmacher empfand, der die Zukunft des Reiches in mustergültiger Form vorzudenken bereit war: „Mit Rücksicht darauf, daß ich bestrebt bin, die innere Entwicklung in den Niederlanden möglichst in den Schritt des Reiches zu bringen – wobei man hier ruhig auch einen Schritt voraus machen kann unter der Voraussetzung, daß das Reich selbst beabsichtigt, den Schritt nachzumachen –, möchte ich eine solche Entscheidung nicht treffen, ohne sicher zu sein, daß das Reich selbst diesen Entwicklungsweg gehen will.“ Für die Niederlande sprach er sich Himmler gegenüber zum damaligen Zeitpunkt zwar letztlich gegen die Einrichtung eines Generalsekretariats für das niederländische Polizeiwesen aus, und tatsächlich war in der Polizeiorganisationsverordnung, wie Seyß-Inquart sie mit Wirkung zum 1. März 1943 in Kraft setzte, keine derartige Einrichtung vorgesehen.84 Doch mit seinem Brief an den Reichsführer-SS hatte Seyß-Inquart eine Option thematisiert, die etwa ein halbes Jahr später mit der Ersetzung Fricks durch Himmler Wirklichkeit werden sollte. Seine Vorbehalte gegenüber der Einrichtung eines Generalsekretariats für die niederländische Polizei sind umso bemerkenswerter, als in Norwegen mit der Einrichtung eines Polizeiministeriums bereits ein Präzedenzfall geschaffen war, dem die besetzten Niederlande hätten folgen können.85 Dass Seyß-Inquart hierauf keinerlei Bezug nahm und sich nicht für eine analoge Regelung 83 Die beiden Verordnungsentwürfe und Seyß-Inquarts Brief an Himmler vom 30. November 1942 befinden sich unter anderem in BArch, SS-HO 1771 (ehem. BDC). Die Verordnungsentwürfe wurden Himmler von Rauter überbracht, der ebenso wie Generalkommissar Schmidt am 2. Dezember 1942 zu einem Gespräch mit dem Reichsführer-SS gereist war; siehe Witte (Bearb.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers, 627. Beide Verordnungsentwürfe wurden in kaum veränderter Form im Verordnungsblatt für die besetzten niederländischen Gebiete publiziert. Die Polizeiorganisationsverordnung trat am 1. März 1943 in Kraft (VO 147/1942 vom 14. Dezember 1942, in: VOBl. NL 1942, 627–637). Der Entwurf zum Polizeistandrecht wurde als Abschn. XV in die Ordnungsschutzverordnung 1943 aufgenommen (VO 1/1943 vom 5. Januar 1943, in: VOBl. NL 1943, 34–38). 84 Die Polizeiaufgaben wurden vielmehr unter dem Generaldirektor für das Polizeiwesen zusammengefasst. Mit diesem Amt wurde der Generalsekretär für Justiz, das NSB-Mitglied Jacobus Johannes Schrieke, betraut; er hatte in Einzelfällen das Einvernehmen mit anderen zuständigen Generalsekretären zu suchen. Siehe VO 147/1942 vom 14. Dezember 1942, §§ 2 und 3 sowie Bestimmungen in Abschn. V, in: VOBl. NL 1942, 628 f. bzw. 633–637 sowie Vogel/Schulten, Het dwaalspoor van een praktisch staatsrecht, 141. 85 Bohn, Die Instrumentarien, 89.

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in den Niederlanden aussprach, gibt Raum zu der Vermutung, dass er nicht nur Himmlers Zustimmung zu einer eigenständigen Reorganisation der niederländischen Polizei einholen, sondern mit seinen Verordnungsentwürfen zugleich einen Beitrag zur Reichspolitik ventilieren wollte. Dass sein Vorstoß von der Reichsführung mit Zustimmung aufgenommen wurde, geht nicht nur aus Himmlers Antwortschreiben hervor, dass er mit Seyß-Inquarts Entwurf einer Polizeiorganisationsverordnung „absolut einverstanden“ sei.86 Sie erhellt auch aus der Mitteilung, die Lammers in einem Gespräch mit Seyß-Inquart am 9. Dezember 1942 „streng vertraulich“ machte. Demzufolge hatten Himmler und Bormann „die geplante Regelung“ gebilligt, und noch wichtiger war der Hinweis, dass Hitler Seyß-Inquarts Option der Errichtung eines Reichspolizeiministeriums gutgeheißen hatte: „[…] der Führer habe wohl die Absicht, den Reichsführer-SS später einmal zum Reichspolizeiminister zu machen, wolle dies nur jetzt noch nicht tun. Unter diesen Umständen könne die vom Reichskommissar vorgesehene Regelung als zweckmäßig und unbedenklich erachtet werden.“87 Wie der Entmachtungsprozess von Frick, der schließlich zur Ernennung Himmlers zum Reichsinnenminister führte, im Einzelnen hinter den Kulissen abgelaufen ist, lässt sich nach dem derzeitigen Forschungsstand nicht nachzeichnen. Fest steht aber: Der Sturz des langjährigen Innenministers, den Seyß-Inquart noch im März 1942 in einem längeren Artikel für die Deutsche Zeitung in den Niederlanden gewürdigt hatte,88 war von langer Hand vorbereitet, und Seyß-Inquart hatte hierbei seine Finger im Spiel.89 Von der Peripherie eines der besetzten Ge86 Himmler an Seyß-Inquart vom 3. Dezember 1942, BArch, NS 19/2860, Bl. 279 und Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 1, Nr. 16354. 87 Aus dem Aktenvermerk des Reichskabinettsrats Hermann von Stutterheim vom 19. Dezember 1942, zit. nach: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 1, Nr. 16392. 88 Seyß-Inquart, Reichsminister Dr. Frick 65 Jahre. 89 Die Hintergründe, die Himmlers Weg ins Reichsministerium des Innern freimachten, fehlen bei Longerich, Himmler, 701 ff., Wilhelm, Die Polizei im NS-Staat, 179 f. und Lehnstaedt, Das Reichsministerium des Innern. Fricks Biograf Neliba zeichnet zwar die langjährige Entfremdung zwischen Hitler und Frick sowie Fricks Machtverlust im Zweiten Weltkrieg nach und weist darauf hin, dass der bayerische Ministerpräsident Ludwig Siebert am 5. Mai 1942 in einem Aktenvermerk festhielt, dass Himmler „als Reichsinnenminister für später ausersehen“ sei (zit. nach: Neliba, Wilhelm Frick, 341). Doch er unterlässt es, der Frage nachzugehen, inwieweit die Abschiebung Fricks auf den Posten des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren und die Ernennung Himmlers zum Reichsinnenminister im August 1943 das Ergebnis einer Intrige einflussreicher Nationalsozialisten gewesen sein könnte (ebd., 354 f.). Hinter den Kulissen jedenfalls galt Frick schon länger als Ablösekandidat. Goebbels hielt ihn im Mai 1943 für „reichlich alt und verbraucht“. Ihm zufolge erwog Hitler im Juni 1943, das Reichsinnenministerium Arthur Greiser zu übertragen, fügte aber hinzu, diese Frage sei derzeit „noch nicht akut.“ (zit. nach: Fröhlich [Hrsg.], Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 8, 248 und 536 [9. Mai bzw. 25. Juni 1943]) Sollte ­Goebbels’ Mitteilung zutreffen, bleibt unklar, ob der ‚Führer‘ mit einer solchen Option einen im Vergleich zu Himmler schwächeren Innenminister einsetzen und einen bedeutenden Machtzuwachs des Reichsführers-SS umgehen wollte oder Greiser für die Tatsache entschädigen wollte, dass er den zuvor erwogenen Plan, Greiser an die Stelle des politisch angeschlagenen Hans Frank ins Generalgouvernement zu berufen, nicht umgesetzt hat. Himmler erhielt mit der Ernennung zum Reichsinnenminister jedenfalls eine noch größere Machtfülle, als ein halbes Jahr zuvor von Hitler angedacht worden war: Er wurde im August 1943 nicht Polizeiminister neben dem Innenminister, sondern übernahm gleich dessen Ressort zur Gänze und bestimmte zugleich über sämtliche Polizeiangelegenheiten. Wie Franz Neumann schon

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biete aus mischte er sich intrigierend in die Reichsgeschäfte ein. Mit seinem Vorstoß trug er dazu bei, dass sich die Verteilung des politischen Gewichts im deutschen Herrschaftsbereich in der zweiten Kriegshälfte einmal mehr von der klassischen Ministerialbürokratie zum ‚prekären Staat‘ verschob, dass der ‚Normenstaat‘ im Sinne von Ernst Fraenkels Vorstellung vom nationalsozialistischen ‚Doppelstaat‘90 so nachhaltig wie nie zuvor dem extralegalen ‚Maßnahmenstaat‘ nachgeordnet wurde, für den Himmler in besonderer Weise stand. Inwieweit Seyß-Inquart beim Sturz von Frick weiterhin tätig geworden ist, lässt sich mangels Quellen nicht eruieren. Doch mit dem Begleitbrief vom 30. November 1942 hatte Seyß-Inquart sein Ziel erreicht: Er hatte einen Beitrag zu einer Entwicklung geleistet, die Himmlers Aufstieg förderlich war, und seine Unterstützung Himmlers in dieser Angelegenheit trug sicherlich dazu bei, die Rückendeckung des Reichsführers-SS zu seinen Gunsten zu stärken. Trotz des gravierenden Unterschieds in Rang und Machtstellung glich das Verhältnis zwischen Seyß-­ Inquart und Himmler somit einer Symbiose: Indem eine Hand die andere wusch, profitierten der Reichsführer und sein Gruppenführer (seit 20. April 1941: Obergruppenführer) voneinander.91 Auch mit dem Verordnungsentwurf zum Polizeistandrecht wollte sich Seyß-Inquart über Himmler mit Blick auf die Reichsführung profilieren, und zwar als nationalsozialistischer Hardliner. Denn schon an sich zielte das Polizeistandrecht auf die Aushebelung elementarer rechtsstaatlicher Prinzipien bei der Bekämpfung von vermeintlichem oder tatsächlichem Widerstand, und die Bestimmung, dass der Höhere SS- und Polizeiführer im Zusammenhang mit dem Standrecht vom geltenden Recht abweichen könne (§ 64), verlieh Himmlers Statt­ halter in Den Haag praktisch unbeschränkte Möglichkeiten zu ungehemmter Repression. Dies reichte dem Reichskommissar aber offenkundig noch nicht – war er doch bereit, gelegentlich auf die formelle Verhängung des Polizeistandrechts zu verzichten, um dem Polizeiapparat freie Hand bei der Durchführung standrechtlicher Maßnahmen zu lassen. Der gelernte Rechtsanwalt durfte sicher sein, dass er mit dem Verzicht auf jegliche Rechtsförmigkeit beim Reichsführer-SS auf ein offenes Ohr stieß, wenn er darauf hinwies, „daß ich ein Polizeistandgericht auch ohne Verhängung des Polizeistandrechts unter besonderen Umständen in Funktion treten lassen kann, z. B. bei der Häufung von Sabotageakten in einer Provinz. Das außerordentlich rasche und radikale Verfahren dieses Polizeistandgerichtes wird wahrscheinlich dazu beitragen können, solche Delikte raschestens zu bekämpfen, ohne den gesamten Apparat eines Standrechtes in Schwung setzen zu müssen.“ Zugleich sicherte er sich selber die Funktion eines Gerichtsherrn, „weil ja der Reichskommissar im Führererlaß als der Wahrer der Reichsinteressen bestellt wurde“, war aber bereit, „alle praktischen Vollmachten, während des Krieges zutreffend festhielt, besiegelte der ‚Führer‘ damit „Himmlers Aufstieg zur höchsten Gewalt in der Innenpolitik und bezeichnete die Degradierung Fricks.“ (Behemoth, 572) 90 Vgl. Fraenkel, Der Doppelstaat. 91 Den symbiotischen Charakter seiner Beziehung zum Reichsführer-SS unterstrich Seyß-Inquart, als er seine Beförderung zum Obergruppenführer als eine Aufwertung und zugleich als einen Ansporn zu weiterer Aktivität im Sinne der SS darstellte; siehe sein Schreiben an Himmler vom 20. April 1941, BArch (ehem. BDC), SSO Arthur Seyß-Inquart, Bl. 144. Allgemein hierzu: Schulte, Zur Geschichte der SS, XXI.

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die ein Gerichtsherr braucht, in der Verordnung selbst dem Höheren SS- und Polizeiführer“ zu übertragen. Mit diesem Kompromiss zeigte sich Himmler in seinem Antwortschreiben „voll und ganz einverstanden“, und mit Seyß-Inquart war er sich einig, „daß das Polizeistandrecht in dieser Form uns das Instrument in die Hand gibt, radikal und rasch durchzugreifen.“92 Aus dieser Formulierung lässt sich nicht zuletzt die Befürchtung ablesen, dass ein zögerliches, ineffizientes oder gar erfolgloses Auftreten von SS- und Polizeikräften der Wehrmacht einen Vorwand für ein Eingreifen geben könnte. Sowohl Himmler als auch Seyß-Inquart hatten jedoch ein Interesse daran, der Zivilverwaltung in den Niederlanden die Niederschlagung von Widerstand und inneren Unruhen zu sichern, und im Unterschied zu General Christiansen war Rauter in seiner doppelten Funktion als Höherer SS- und Polizeiführer und Generalkommissar für das Sicherheitswesen vom Reichsführer-SS wie auch vom Reichskommissar unmittelbar abhängig. Die Abwehr von potenziellen Ansprüchen der Wehrmacht auf Teilnahme an der Bekämpfung von Widerstand und das Bestreben, der Zivilverwaltung in dieser Angelegenheit mit dem Polizeistandrecht ein im wahrsten Sinn des Wortes schlagkräftiges Instrument an die Hand zu geben, verband Seyß-Inquart denn auch mit Himmler. Ein solches Instrument war aus ihrer Sicht umso vordringlicher, als mit der damals kritisch werdenden Lage der VI. Armee bei Stalingrad, der Niederlage von Rommels Afrikakorps bei El Alamein und der Landung amerikanischer Truppen in Nordafrika (Operation Torch) der Widerstand in den Niederlanden ebenso wie in anderen besetzten Ländern zunahm. Durch ihren politischen Schulterschluss trugen die beiden NS-Politiker jedenfalls zu einer Radikalisierung der Besatzungsherrschaft bei. In der rücksichtslosen Bekämpfung jeglichen Widerstands fühlten sich der Reichsführer-SS und der Reichskommissar für die besetzten Niederlande als Gleichgesinnte, die sich gegenseitig unterstützten. So vermerkte Rauter im Oktober 1942, also noch vor der Vorlage der beiden Polizeiverordnungen, mit Genugtuung, dass Seyß-Inquart offen zum Ausdruck gebracht habe, „daß er in allen wichtigen Angelegenheiten mit dem Reichsführer-SS Einvernehmen herstellen wird“, und hieraus wiederum leitete er nicht ohne Stolz und Schmeichelei ab, dass sich „das politische Magnetfeld Hollands“ nach Himmler auszurichten beginne.93 Auf der anderen Seite war Seyß-Inquart bestrebt, in seinem ‚Herrschaftsbereich‘ die Etablierung einer Monopolstellung des SS-Komplexes zu verhindern. Denn aus der Sicht des Reichskommissars stellte die SS nicht mehr und nicht weniger als einen der Machtfaktoren im politischen Feld dar; dessen Einfluss musste mit anderen mächtepolitischen Faktoren wie der Wehrmacht, diversen Reichsbehörden, dem niederländischen Zweig der NSDAP, der NSB oder den Ämtern seines Reichskommissariats stets ausbalanciert werden. So erläuterte 92 Himmler an Seyß-Inquart vom 3. Dezember 1942, BArch, NS 19/2860, Bl. 277 und Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 1, Nr. 16354. Ab August 1944 sah die deutsche Besatzung in großem Umfang von der Berücksichtigung formaljuristischer Minimalanforderungen ab. Von da an fanden Aburteilungen in den Niederlanden weitestgehend auf der Grundlage von willkürlichen Maßnahmen von Sipo und SD statt; siehe In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Anm. 4 zu Dok. 268, 877. 93 Rauter an Himmler vom 6. Oktober 1942, BArch, NS 19/1558, Bl. 7.

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Seyß-Inquart Rauter im April 1942, dass er Generalkommissar Schmidt besonders unterstütze, weil die SS ihre Aktivitäten stark ausweite und nicht einmal vor einer Unterwanderung der NSDAP Halt mache. „Die SS bekäme jetzt soviel Lebensgebiete der Partei, […], daß für die Partei nicht mehr viel übrig bleibe [,] und es bestehe eben in der Partei eine gewisse Gegenund Widerstandsbewegung gegen diese Funktionsanmaßungen bei der SS.“94 Die Förderung Schmidts setzte der Reichskommissar somit bewusst ein, um den Vormarsch des SS-Apparats zu retardieren und die Partei als einen eigenständigen Machtfaktor zu schützen. Darüber hinaus verfolgte Seyß-Inquart das Ziel, in Analogie zu Hitlers Führungsstil sich selbst für seinen ‚Herrschaftsbereich‘ als Instanz darzustellen, deren Machtstellung durch die Entscheidung über Kompetenzabgrenzungen zwischen verschiedenen NS-Organisationen gestärkt werden konnte. In diesem Sinn bezog er in verschiedenen Punkten gegen Versuche Himmlers, Rauters oder des Reichssicherheitshauptamts Stellung, die Kompetenzen des SS-Apparats auszuweiten und damit das machtpolitische Kräftefeld in den besetzten Niederlanden zu verschieben. Hier ist zwar nicht der Ort, systematisch und umfassend das Verhältnis zwischen Reichskommissariat und SS zu analysieren.95 Anhand von bezeichnenden Einzelaspekten soll jedoch im Folgenden nachgezeichnet werden, wie Seyß-Inquart mit den Bestrebungen des SS-Komplexes zur Ausbreitung seiner Stellung und Aufgabengebiete umgegangen ist. Konkret geht es um die Stellung des Beauftragten des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums in den Niederlanden (1), die sogenannte Germanische Leitstelle (2), die Anordnung A 54/42 (3) und die Reichsschulen bzw. Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (4). 1) Im Sommer 1941 entzündete sich ein Kompetenzkonflikt, als Seyß-Inquart für sich das Recht reklamierte, dem Beauftragten des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) in den Niederlanden, Friedrich Franz Graf Grote, Weisungen zu erteilen. In einem längeren Brief an Himmler, der im Oktober 1939 nach dem Überfall auf Polen von Hitler zum RKF ernannt worden war und mit diesem Amt ein weiteres Instrument zur Durchführung des Programms ethnischer ‚Säuberungen‘ bekommen hatte, verwies Seyß-Inquart auf den Führererlass vom 18. Mai 1940 – war ihm hier doch die „ausschließliche Zuständigkeit“ im zivilen Bereich verbrieft worden. Von dieser Feststellung aus leitete er ab, „daß der Reichskommissar [für die Festigung deutschen Volkstums] keine eigenen Organe und Dienststellen in den besetzten niederländischen Gebieten hat, sondern seine Aufgaben durch den Reichskommissar für diese Gebiete ausführen läßt […].“ Diese Sichtweise wiederum führte Seyß-Inquart zu der Schlussfolgerung, dass er als Reichskommissar für die besetzten Niederlande die „Befehlsstelle“ für alle Anordnungen und Maßregeln sei, die sich auf die Niederlande und deren Bevölkerung bezögen. Nachdem er auf grundsätzliche Weise seine Rechtsposition dargelegt und seine Machtstellung noch einmal definiert hatte, kam er Himmler im Hinblick auf die konkrete Umsetzung der Zusammenarbeit zwischen dem 94 So die Wiedergabe von Seyß-Inquarts Position durch Rauter in dessen Brief an Himmler vom 28. April 1942, BArch, NS 19/1543, Bl. 23. 95 Nach wie vor grundlegend zur Stellung der SS in den Niederlanden sind Einleitung und Quellenedition von In ’t Veld: De SS en Nederland.

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RKF-Vertreter in den Niederlanden und ihm als dem Reichskommissar für das besetzte Land allerdings entgegen. Denn er erklärte sich bereit, bei der Anwerbung von Niederländern für die „Ostsiedlung“, die der Hauptzweck der Tätigkeiten von Graf Grote sein sollte, eng mit Rauter in seiner Funktion als Generalkommissar für das Sicherheitswesen zusammenzuarbeiten; er selber wolle sich dabei auf „die große Linie der Durchführung“ beschränken und Rauter mit allen notwendigen Vollmachten ausstatten.96 In seinem kurzen Antwortschreiben gab sich Himmler mit Seyß-Inquarts Ausführungen „restlos einverstanden“.97 Dass der Reichsführer-SS im Unterschied zu Seyß-Inquart Rauter in dieser Frage dezidiert nicht als Generalkommissar, sondern als SS-Gruppenführer benannte, macht deutlich, dass Himmler und Seyß-Inquart divergierende Vorstellungen von der Stellung von SS-Organen in den Niederlanden hatten: Während Seyß-Inquart mit dem demonstrativen Hinweis auf das Generalkommissariat noch einmal die Bindung Grotes und Rauters an sein Reichskommissariat unterstrich, spielte Himmler darauf an, dass Gruppenführer Rauter als Höherer SS- und Polizeiführer ihm persönlich unterstellt war und an seine Direktiven gebunden war. Rauters Doppelfunktion eröffnete somit die Möglichkeit zu unterschiedlichen Interpretationen des Verhältnisses zwischen Reichskommissariat und SS-Apparat. Immerhin fanden sich Seyß-Inquart und Himmler in dieser Frage zu einem Arrangement bereit, das dem Ansehen des Reichskommissars ebenso Genüge tat wie dem Bestreben Himmlers, die Durchführung der „Ostsiedlung“ in seinen Händen zu zentralisieren. 2) Einen Streitpunkt von beträchtlicher Dimension stellte die 1940 eingerichtete Germanische Freiwilligen-Leitstelle dar, ab Herbst 1942 unter Verzicht auf das ‚Freiwillige‘ als Germanische Leitstelle bezeichnet.98 Ihre Aufgabe lag zunächst darin, in den als ‚germanisch‘ betrachteten Ländern, die von Deutschland besetzt waren, Freiwillige für die Waffen-SS zu rekrutieren und deren ideologische Ausrichtung im Sinne der SS zu lenken. Darüber hinausgehend aber verfolgte sie das weitgesteckte Ziel, die ‚germanische‘ Politik des Großdeutschen Reiches durch die angestrebte Bildung eines Großgermanischen Reiches zu koordinieren und dabei zugleich dem SS-Komplex eine zentrale Position innerhalb des nationalsozialistisch beherrschten Europa zu sichern. Seit April 1941 unterstand die Germanische Leitstelle dem aus der Schweiz stammenden Arzt und SS-Sturmbannführer Dr. Franz Riedweg, der mit Sibylle von Blomberg, Tochter des einstigen Reichskriegsministers, verheiratet war.99 Im Hintergrund aber war der hochrangige SS-Offizier Gottlob Berger die treibende Kraft. Ihm bot die Germanische Leitstelle in seiner Eigenschaft als Chef des SS-Hauptamts die Möglichkeit, seine Dienststelle innerhalb des SS-Apparats aufzuwerten und sich bei Himmler als unentbehrlich darzustellen. Dieser unterstützte Bergers Initiative nicht zuletzt dadurch, dass er 1942 den Befehl erteilte, bei den Höheren SS- und Polizeiführern in Norwegen, Dänemark, Belgien und den Niederlanden Außenstellen der Germanischen Leitstelle zu errichten.100 Speziell im 96 Seyß-Inquart an Himmler vom 15. Juli 1941, NIOD, 20/24 (Abschrift vom 23. November 1942). 97 Himmler an Seyß-Inquart vom 22. Juli 1941, ebd. (Abschrift vom 23. November 1942). 98 Vgl. hierzu In ’t Veld, Inleiding, 164–176 und Wyss, Un Suisse au service de la SS, 430 mit Anm. 77. 99 Siehe Wyss, Un Suisse au service de la SS. 100 Heinemann, „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“, 343 mit Anm. 118 und 119.

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Hinblick auf die Niederlande sah Berger in den Aktivitäten der Leitstelle die Chance, parallel zum dortigen Reichskommissariat Besatzungspolitik betreiben zu können. So meinte er in einem Brief an Himmler nicht ohne einen polemischen Seitenhieb auf Seyß-Inquart, mit dieser Institution sei „eine Arbeit auf lange Sicht und unabhängig von den Tagesfragen und von dem jeweiligen Willen und der Meinung des Herrn Reichskommissars möglich […].“101 Bergers durchsichtiger Versuch, mithilfe der Germanischen Leitstelle spürbaren Einfluss auf die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden zu gewinnen, stieß bei Seyß-Inquart natürlich auf Vorbehalte. Einmal mehr mischte sich eine von Berlin aus gesteuerte Organisation in das komplexe Institutionen- und Machtgefüge in den Niederlanden ein, und außerdem erstreckte sich die Arbeit der Leitstelle substanziell auf das Verhältnis zur niederländischen Bevölkerung und musste somit Rückwirkungen auf die gesamte deutsche Besatzungspolitik haben, ohne der Kontrolle durch den Reichskommissar unterworfen zu sein. Seine Distanz gegenüber der Berliner Zentrale der Leitstelle brachte Seyß-Inquart dadurch zum Ausdruck, dass er sich weigerte, Riedweg auf dessen Reise in die Niederlande zu empfangen.102 Wohl ließ er sich überreden, seinen Beauftragten für die Provinz Nordbrabant, SS-Standartenführer Robert Thiel, als Leiter der Dienststelle in Den Haag zu akzeptieren. Da Thiel obendrein in der Partei den Rang eines Hauptbereichsleiters innehatte, stellte er für Seyß-Inquart wohl eine personelle Brücke zwischen Reichskommissariat, Leitstelle und NSDAP dar und schien von daher eine gewisse Gewähr zu bieten, nicht als einseitiger Vertreter von SS-Interessen aufzutreten. Im Hinblick auf Thiels Ernennung zum Leiter der Dienststelle in den Niederlanden erklärte sich Seyß-Inquart denn auch schließlich bereit, „die Arbeit der Germanischen Leitstelle im niederländischen Raum zu aktivieren.“103 Vermutlich sah nicht einmal Rauter in der Germanischen Leitstelle eine Stärkung seiner Machtstellung104 – obwohl Berger ihm ausdrücklich versicherte, dass die Leitstelle unter anderem das Ziel verfolge, „die Stellung des Höheren SS- und Polizeiführers so zu festigen, dass er der Zweite ist in dem betr[effenden] Land und dass bei einer Abwesenheit des Reichskommissars sich das so ausdrückt, dass er der berufene Stellvertreter desselben in allen Angelegenheiten ist.“105 Rauter wünschte der Leitstelle zwar „einen guten Enderfolg“ und unterbreitete 101 Berger an Himmler vom 4. Februar 1942, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 114, 639 f. 102 Bei seiner Vernehmung im Nürnberger Gefängnis gab Seyß-Inquart am 27. September 1946 zu Protokoll, er habe Riedweg „rausgeschmissen“ ([Walter] Rapp, Interrogation Nr. 169, BArch, All.Proz. 2 F/20/883 K [Rolle 68, FC 6128 P], Bl. 6). Ähnlich äußerte sich Seyß-Inquart in seiner Denkschrift (Bl. 10 und 116). Riedweg hingegen gab bei seiner Befragung durch Swart am 19. November 1947 an, er sei vom Reichskommissar nicht „rausgeschmissen“, sondern lediglich nicht empfangen worden (NIOD, 463, Kart. 2, Mappe Riedweg, Bl. 4 f.). Wie auch immer – Riedweg hat während des Krieges in den Niederlanden ebenso Werbung für die Waffen-SS betrieben wie in anderen Ländern (siehe Wyss, Un Suisse au service de la SS, 427). 103 Rauter an Himmler vom 29. Mai 1943 über ein Gespräch, das er am Vortag mit Seyß-Inquart und dem niederländischen SS-Standartenführer Henk Feldmeijer geführt hatte, in: BArch, NS 19/1556, Bl. 40. 104 So nachdrücklich In ’t Veld, Inleiding, 171 f. In diesem Zusammenhang siehe auch Berger an Rauter vom 4. Juni 1942, in: Ders. (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 169, 746-748. 105 Berger an Rauter vom 17. August 1942, BArch, NS 19/2520, Bl. 3 f. (Hervorhebung im Original).

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Himmler konkrete Vorschläge, welche Tätigkeitsfelder „einwandfrei“ der Leitstelle übertragen werden könnten.106 Doch Bergers Versuch, ihn unter Hinweis auf eine politische Aufwertung seiner Stellung innerhalb der deutschen Zivilverwaltung der Niederlande bis hin zu einer allgemeinen Stellvertretung des Reichskommissars für das Projekt der Germanischen Leitstelle zu gewinnen, ging er nicht auf den Leim. Nicht zu Unrecht mochte er befürchten, dass durch die niederländische Dienststelle der Leitstelle sein unmittelbarer Zugang zu Himmler dadurch eingeschränkt würde, dass er in Zukunft in vielen Fragen den amtlichen Umweg über Berger oder das Reichssicherheitshauptamt nehmen müsste. Er hatte allen Grund, den Dienststellenleiter der Leitstelle in Den Haag als einen Konkurrenten zu betrachten. Ihm dürfte eher daran gelegen gewesen sein, selber die Aufsicht über die verschiedenen SS-Institutionen in den Niederlanden zu führen. Unterstützung erhielt das Reichskommissariat schließlich von der Parteikanzlei, die ihre Arbeit durch die Leitstelle ebenfalls bedroht sah. Der Sachbearbeiter für Innere Parteiangelegenheiten der NSDAP, Oberbefehlsleiter Helmuth Friedrichs, sprach sich nämlich im Sommer 1943 dafür aus, „dass der Reichskommissar nicht übergangen werde“, und er forderte „eine Kompetenzabgrenzung zwischen der Parteiarbeit“ der NSDAP in den Niederlanden und der Germanischen Leitstelle ein.107 Wie Seyß-Inquart und Rauter befürchtete die Parteikanzlei, in den besetzten Gebieten von der Germanischen Leitstelle an den Rand gedrückt zu werden. Deshalb machte sie in vorsichtigen, aber unmissverständlichen Worten deutlich, dass das ‚Braune Haus‘ in München einen Monopolanspruch der SS nicht tolerieren würde. Wohl angesichts des gemeinsamen Widerspruchs von Seyß-Inquart und Parteikanzlei und der zwar loyalen, aber zurückhaltenden Unterstützung durch Rauter hat Himmler seine anfängliche Unterstützung der Leitstelle in der Folgezeit deutlich zurückgefahren. Hierzu wird nicht zuletzt eine persönliche Aussprache beigetragen haben, zu der sich Himmler und Seyß-Inquart am 4. Juni 1943 in Lindau getroffen haben. Am Tag zuvor hatte Berger zwar noch den Versuch unternommen, Himmler von den angeblichen Vorteilen zu überzeugen, die die Germanische Leitstelle dem nationalsozialistischen Deutschland bringen würde, und in diesem Zusammenhang hatte der Chef des SS-Hauptamts nicht einmal vor diffamierenden Äußerungen über Seyß-Inquart und Rauter zurückgeschreckt, war er doch der Meinung: „Weder SS-Gruppenführer Rauter noch vor allen Dingen der Reichskommissar Seyß-Inquart haben den Gedanken der Germanischen Leitstelle erfaßt. […] Weil sie ‚regieren‘ wollen, glauben sie nicht, daß es andere gibt, die eine Sache um ihrer selbst willen tun.“108 Doch bei dem

106 Siehe seinen Brief an Himmler vom 30. Juli 1943, zit. nach: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 1, Nr. 17103. Demnach sollte die Leitstelle zuständig sein für „die grossgermanische Ausrichtung aller niederländischen Wehrformationen sowie Jugend- und Studentenverbände, die Fürsorge, das ganze Ersatzwesen, die Werbung [von Freiwilligen für SS-Verbände], die grossgermanische Schulung, die Reichsschulen, das Lebensbornheim, das SS-Mannschaftshaus, die Germanische SS, das SS-Gästehaus […].“ 107 So der Bericht von Rauter im Schreiben an Himmler vom 30. Juli 1943, zit. nach: ebd. 108 Berger an Brandt vom 3. Juni 1943, BArch, NS 19/2860, Bl. 220 f. Abschließend polemisierte Berger noch mit arrogantem Gestus: „[…] eines müssen sich die Herren abgewöhnen: Wir sind politisch nicht ungeschickt und nicht dümmer als die Herren aus der Ostmark.“

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Treffen am Bodensee zeigte sich Himmler nicht bereit, sein Verhältnis zum Reichskommissar für die besetzten Niederlande durch eine weitere Unterstützung des ebenso ambitiösen wie intriganten Gottlob Berger aufs Spiel zu setzen,109 und so blieben letztlich fast alle SS-Einrichtungen in den Niederlanden mit wenigen unbedeutenden Ausnahmen Rauter unterstellt. Erst recht gelang es der Germanischen Leitstelle nicht, den angestrebten Einfluss auf die Hitlerjugend (HJ) oder den Nationale Jeugdstorm, die Jugendorganisation der NSB, zu erlangen. Vor diesem Hintergrund dürfte Seyß-Inquart die Zusage leicht gefallen sein, „dass er als Reichskommissar sich in aller Öffentlichkeit mit der Arbeit der Germanischen Leitstelle identifiziere und sie fördere.“ Dies umso mehr, als weder Rauter noch Himmler Einwände dagegen erhoben, dass Thiel von Seyß-Inquart mit dem Titel eines Beauftragten zur besonderen Verwendung ernannt wurde und somit auch in seiner Funktion als Leiter der Leitstellenniederlassung in den Niederlanden eng an den Reichskommissar gebunden wurde.110 Kompetenzabgrenzungen zwischen Reichskommissariat und Leitstelle blieben zwar auch nach dem Lindauer Treffen auf der Tagesordnung, und noch im März 1944 fühlte sich Bormann aufgerufen, die Parteigliederungen und die Reichskommissare, die ihren Auftrag „unmittelbar vom Führer erhielten und diesem direkt unterstehen“, gegen Ansprüche der Germanischen Leitstelle in Schutz zu nehmen.111 Aber mit der faktischen Marginalisierung der Leitstelle vermochte Seyß-Inquart den Einfluss des Berliner SS-Apparats auf ‚seine‘ Niederlande zu einem beachtlichen Teil im Zaum zu halten.112 3) Weniger erfolgreich war Seyß-Inquart in der Auseinandersetzung um Anordnung A 54/42, die sich noch tiefgreifender auf das Dreiecksverhältnis zwischen Reichskommissariat, SS-Komplex und Partei auswirkte als die Diskussionen um die Germanische Leitstelle. In dieser Anordnung gab Martin Bormann unter dem Datum des 12. August 1942 bekannt, dass Hitler dem Reichsführer-SS die ausschließliche Zuständigkeit „für Verhandlungen mit allen germanisch-völkischen Gruppen in Dänemark, Norwegen, Belgien und den Niederlanden […] im Bereich der NSDAP., ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände“ zusprach.113 Aus Himmlers Sicht mochte eine derartige Regelung nur konsequent erscheinen: 109 Schon früher hatte Himmler persönliche Angriffe Bergers auf Seyß-Inquart abgewehrt. Siehe Berger an Himmler vom 23. September 1942 (BArch, NS 19/1550, Bl. 2) mit Brandt an Berger vom 5. Oktober 1942 (ebd., Bl. 17). 110 So der Bericht Rauters über eine Besprechung zwischen ihm, Seyß-Inquart und Generalkommissar Ritterbusch am 30. Juli 1943 im Schreiben an Himmler vom 31. Juli 1943, BArch, NS 19/3363, Bl. 106-108. 1943 übernahm SS-Sturmbannführer Gerhard Rouenhoff in Personalunion die Leitung der Germanischen Leitstelle in den Niederlanden und des Ersatzkommandos Niederlande, das für die Rekrutierung der Waffen-SS verantwortlich war. In welchem Verhältnis Rouenhoff im Vergleich mit Thiel zu Seyß-Inquart stand, bleibt bei In ’t Veld (Inleiding, 174) offen. 111 Bormann an Himmler vom 5. März 1944, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 512, 1298 f. Vgl. hierzu auch Berger an Brandt vom 4. April 1944, in: ebd., Dok. 523, 1312 f. Zu Problemen der Kompetenzabgrenzung äußerte sich auch Rauter mit kritischen Bemerkungen über Berger im Schreiben an Brandt vom 19. August 1943, abgedruckt in: ebd., Dok. 455, 1185 f. 112 In ’t Veld, Inleiding, 173–176. 113 Hier zitiert aus dem Reichsverfügungsblatt (Ausgabe A, Folge 34/42 vom 18. August 1942) nach: BArch, NS 19/3565, Bl. 73.

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Es entsprach seinem Selbstverständnis, dass der Aufbau einer ‚Neuen Ordnung‘ in Europa auf ethnischer Grundlage ein originäres Aufgabengebiet der SS und aller ihm unterstellten Verwaltungs- und Kampfeinheiten darstelle. Konsequent wurde er von Hitler denn auch mit Ämtern und Funktionen betraut, die eine praktische Umsetzung eines solchen Ziels erlaubten. Nachdem Himmler im Oktober 1939 zum RKF ernannt worden war, wurde er im Februar 1941 per Verfügung Beauftragter der NSDAP für alle Volkstumsfragen, und im März 1942 wurde durch eine weitere Verfügung Hitlers ein Hauptamt für Volkstumsfragen bei der Reichsleitung der NSDAP ins Leben gerufen, für das einmal mehr Himmler verantwortlich zeichnete.114 Außerdem war dem Reichsführer-SS gelungen, die Volksdeutsche Mittelstelle, die seit 1937 unter der Führung von SS-Obergruppenführer Werner Lorenz stand, als eines der Hauptämter in seinem SS-Apparat zu verankern. Alles in allem hat Himmler für seine Schutzstaffel einen Primat in der Politik der ethnischen ‚Säuberungen‘ des Großdeutschen Reiches erworben, das sich bis in den Bereich der Partei hinein erstreckte. Sein Verhältnis zur NSDAP und der Parteikanzlei war somit durch eine Mischung aus Kooperation, Rivalität und dem Versuch der Infiltration gekennzeichnet. In diesen Kontext reihte sich Anordnung A 54/42 ein. Sie brachte Himmler eine Machterweiterung, die gleichwohl nicht ohne Bormanns Zustimmung zustande gekommen sein kann. Nur scheinbar handelt es sich bei diesem Dokument um ein Zugeständnis Bormanns an Himmler. Vielmehr steht zu vermuten, dass der mächtige Leiter der Parteikanzlei ein Arrangement mit dem SS-Komplex erzielen wollte, um unnötige machtpolitische Auseinandersetzungen zu vermeiden. Dabei wird er wohl in Übereinstimmung mit Himmler davon ausgegangen sein, dass Hitler die Niederlande mit ihrer ‚germanischen‘ Bevölkerung nach dem erwarteten Kriegsende in einen Reichsgau umwandeln würde, und in einem Reichsgau hätte die NSDAP nun einmal eine starke Stellung besessen. In einem solchen Licht betrachtet war die Anordnung vom 12. August 1942 nichts anderes als das Ergebnis einer Machtteilung zwischen Bormann und Himmler und den hinter ihnen stehenden Organisationen von Partei und SS durch den ‚Führer‘.115 Zehn Tage vorher nämlich hatte Hitler Bormanns Position aufgewertet, indem die Leiter der Arbeitsbereiche und der Dienststellen der Reichsleitung der NSDAP verpflichtet wurden, mit dem Leiter der Parteikanzlei in „allen grundsätzlichen und wesentlichen Maßnahmen“ Einvernehmen zu suchen; von dieser Regelung war im Hinblick auf vermögensrechtliche Angelegenheiten lediglich Reichsschatzmeister Schwarz ausgenommen.116 Darüber hinaus war Bormann im selben Jahr von Hitler mit der Zuständigkeit für alle politisch-konfessionellen Angelegenheiten betraut worden. Schon die zeitliche Nähe der Verfügungen vom 2. und vom 12. August 1942 legt die Annahme nahe, dass es sich um ein Arrangement auf höchster Ebene handelte: Während Hitlers Verfügung vom 2. August 114 Siehe Verfügung V 2/42 vom 12. März 1942, in: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 148, 240. 115 Ähnlich die Interpretationen bei Nolzen, Die Arbeitsbereiche der NSDAP, 264 und In ’t Veld, Inleiding, 168. 116 Bormanns Verfügung V 8/42 vom 2. August 1942 findet sich in: Reichsverfügungsblatt, Ausgabe A, Folge 34/42 vom 18. August 1942, hier zit. nach: BArch, NS 19/3565, Bl. 72. Zum historischen Kontext vgl. auch In ’t Veld, Inleiding, 168–170.

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Bormann und seiner Stellung innerhalb der Partei zugutekam, erfuhr Himmler durch die Anordnung vom 12. August eine Stärkung seiner Position. Letztere berührte nicht nur die machtpolitische Balance innerhalb des Reiches, sondern musste auch gravierende Konsequenzen für die Besatzungspolitik in den besetzten Ländern haben. Die Abgrenzung der Machtsphären zwischen Bormann und Himmler, die Hitler in der ersten Augusthälfte 1942 offenkundig vornahm, sorgte für Irritationen und rief Widerspruch hervor. Das Auswärtige Amt, das bemerkenswerterweise an der Vorbereitung dieses Re­glements in keiner Weise beteiligt gewesen war und sogar erst einen Monat nach Inkraft­ setzung von Bormanns Anordnung von deren Existenz erfuhr, störte sich vor allem an der Tatsache, dass Dänemark in einem Atemzug mit Norwegen, Belgien und den Niederlanden genannt wurde, obwohl „die Arbeit mit den germanisch-völkischen Gruppen in Dänemark“ – wie Staatssekretär Weizsäcker am 19. September Ribben­trop erläuterte – „seit langer Zeit ausschließlich durch das Auswärtige Amt“ erfolgt sei und sich „sehr erfolgreich“ gestaltet habe.117 Auch in Den Haag machte sich Unsicherheit über die politische Bedeutung und die Auswirkungen von Anordnung A 54/42 breit. Denn obwohl Bormann ausdrücklich die Bestimmung aufgenommen hatte, dass die Landesgruppen der Auslandsorganisation (AO) bzw. die Arbeitsbereiche der NSDAP in den erwähnten Ländern von seiner Anordnung nicht berührt seien, hatten Seyß-Inquart und der für Parteibelange zuständige Generalkommissar Schmidt Grund zu der Befürchtung, dass der Handlungsspielraum des Reichskommissariats für den Aufbau einer nationalsozialistischen Ordnung in den Niederlanden drastisch eingeschränkt und besonders die Initiative beim Umgang mit der NSB sukzessive an den SS-Apparat verloren gehen würde. Rauter zufolge hatte sich Seyß-Inquart ihm gegenüber zwar am 9. September – mit der bezeichnenden Verzögerung von fast einem Monat – erfreut darüber gezeigt, „dass nunmehr die germanische Arbeit in einer Hand liege und dass er wisse, woran er nun endgültig sei.“118 Doch wenig später verwahrte sich der Reichskommissar entschieden gegen Gerüchte, dass mit Bormanns Anordnung vom 12. August „eine grundsätzliche Änderung der Politik in den Niederlanden erfolgen würde“, und um das Gesicht zu wahren und die Erosion der Autorität von Generalkommissar Schmidt aufzuhalten, ordnete er an, „dass jede Erörterung der genannten Verfügung ausser in streng dienstlichem Rahmen zu unterbleiben hat.“119 Außerdem führte er in Berlin Gespräche mit Bormann und Himmler, und zwar im 117 Zit. nach: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 2, Nr. 26627. 118 Rauter an Himmler vom 10. September 1942, BArch, NS 19/3565, Bl. 64. Demnach habe Seyß-Inquart Anordnung A 54/42 dahingehend aufgefasst, dass der Schmidt unterstehende Arbeitsbereich der NSDAP in den Niederlanden „mit den völkisch-germanischen Aufgaben des Raumes nichts mehr zu tun habe, und dass nunmehr eigentlich die SS-Einrichtung unter der Führung des Reichsführers diese Aufgabe beim Reichskommissar zu lösen haben werde.“ 119 Aus Seyß-Inquarts Brief zit. nach Fernschreiben Rauters an Himmler vom 1. Oktober 1942, ebd., Bl. 48– 50. Für die Gerüchte hatte Seyß-Inquart besonders „SS-Kreise“ verantwortlich gemacht. Um die durch Anordnung A 54/42 angegriffene Position Schmidts innerhalb der deutschen Besatzungsverwaltung zu stabilisieren, betraute Seyß-Inquart den Generalkommissar z. b. V. im Dezember 1942 – in Analogie zur Situation Bormanns auf Reichsebene – mit der „zusammenfassenden Bearbeitung der politisch-konfes-

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Anschluss an eine Audienz bei Hitler am 1. Oktober, die später noch im Zusammenhang mit Plänen erörtert wird, Mussert mit der Bildung einer niederländischen Regierung zu betrauen.120 In der zweistündigen Unterredung mit Himmler erzielte Seyß-Inquart Otto Bene zufolge dahingehend Übereinstimmung, dass Anordnung A 54/42 „sich nur auf das Reichsgebiet beziehe, und dass beim Reichsführer SS nicht die Absicht bestehe, in die vom Reichskommissar hier betriebene Politik einzugreifen. Die Politik wird hier also nach wie vor vom Reichskommissar als dem allein Verantwortlichen betrieben werden.“121 Ähnlich äußerte sich vier Tage später Himmler selber, als er Rauter darauf hinwies, dass sich Bormanns Anordnung nur auf die deutschen Parteidienststellen im Reich beziehe, denen jeder unmittelbare Verkehr mit niederländischen Instanzen untersagt sei. Das Reichskommissariat hingegen sei von der Anordnung nicht tangiert, und es werde sich nichts an der bisherigen Praxis ändern, dass Seyß-Inquart „mit mir auch weiterhin alle Maßnahmen besprechen und mit meinen Wünschen, Gedanken und Anregungen abstimmen [wird].“122 Bormann wiederum scheint Seyß-Inquart bei seinem Aufenthalt in Berlin bewegt zu haben, Himmler eine Interpretation seiner Anordnung A 54/42 zu kommunizieren und dabei implizit vor einer extensiven Auslegung zugunsten der SS zu warnen. Jedenfalls hob der Leiter der Parteikanzlei am 5. Oktober in einem Schreiben an Himmler die politische Eigenständigkeit eines Reichskommissars unter Hinweis auf die unmittelbare Unterstellung unter Hitler hervor und stellte klar: „Mit der Anordnung sollte selbstverständlich nicht ein Unterstellungsverhältnis der Reichskommissare Seyss-Inquart und Terboven unter den RFSS erreicht werden. Die beiden Reichskommissare erhalten ihre Weisungen ausschliesslich vom Führer; selbstverständlich sind die beiden Reichskommissare durchaus berechtigt, selbständig alle Verhandlungen mit den germanisch-völkischen Gruppen in den Niederlanden und in Norwegen zu führen. Mit der Anordnung vom 12.8.1942 sollte das Hineinregieren irgendwelcher Parteidienststellen des Reiches nach den Niederlanden und nach Norwegen unterbunden werden.“123 Zwar konnte Seyß-Inquart mit dem Gefühl nach Den Haag zurückkehren, dass innerhalb der Reichsführung Konsens darüber herrsche, dass das Reichskommissariat weiterhin die Einrichtung sei, die die Politik gegenüber der NSB bestimme. Doch es war offensichtlich, dass in Zukunft sionellen Fragen“ in den Niederlanden. Siehe Seyß-Inquarts Rundschreiben vom 7. Dezember 1942 in: BArch, NS 19/1549, Bl. 6. 120 Siehe hierzu unten, S. 287. 121 Bericht Otto Benes ans Auswärtige Amt vom 6. Oktober 1942, PA AA, R 101102. Zu dem Gespräch siehe auch Himmler an Gottlob Berger vom 21. Oktober 1942, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 248, 857. In Himmlers Dienstkalender ist erst zum Nachmittag des 3. Oktober 1942 ein Gesprächstermin mit Seyß-Inquart vermerkt. Möglicherweise haben sich die beiden Politiker aber bereits am Rande der Reichs- und Gauleitertagung gesprochen, auf der Hitler sich am 1. Oktober über die Kriegslage und die entscheidende Bedeutung der Ostfront ausgelassen hatte; vgl. Witte u. a. (Bearb.), Der Dienst­ kalender Heinrich Himmlers, 575 f. und 578. 122 Fernschreiben Himmlers an Rauter vom 4. Oktober 1942, BArch, NS 19/3565, Bl. 47. 123 Bormann an Himmler vom 5. Oktober 1942 nach: ebd., Bl. 45. Himmlers lakonisches Antwortschreiben an seinen Duzfreund Bormann vom 24. Oktober 1942 findet sich in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 250, 858. Vgl. auch Unterstaatssekretär Martin Luther an den Gesandten Gustav Adolf Baron Steengracht von Moyland vom 8. Oktober 1942, in: IfZ, IMG-Dok. NG-5078.

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Himmler und sein Apparat die Besatzungspolitik in den Niederlanden noch mehr als bisher beeinflussen würden. In der Folgezeit bemühte sich Seyß-Inquart, anhand konkreter Kompetenzfragen die Auslegung von Anordnung A 54/42 so weit wie möglich zu Gunsten seines Reichskommissariats zu begrenzen. In diesem Sinn bestand er in einem längeren Gespräch mit Rauter am 17. Dezember darauf, dass er weiterhin die Weisungsbefugnis gegenüber dem frisch ernannten Beauftragten der Reichsjugendführung in den Niederlanden Wilhelm Blomquist haben müsse. Denn Bormann habe ihm zweimal versichert, dass die nationalsozialistische Jugendarbeit in den Niederlanden dem dortigen Arbeitsbereich der NSDAP unterstehe; insbesondere die ‚Betreuung‘ der NSB-Jugendorganisation Nationale Jeugdstorm blieb für Seyß-Inquart damit außerhalb der Reichweite der Anordnung vom 12. August. Er selber würde im Zweifelsfall, so drohte der Reichskommissar, nicht zögern, Hitler um eine Entscheidung zu ersuchen.124 In seiner eigenen Dienststelle in Den Haag versuchte Seyß-Inquart nach der Rückkehr aus Berlin Anfang Oktober hingegen, das Verhältnis zwischen Vertretern von SS und NSDAP zu entspannen. So fasste er ins Auge, Rauter und Schmidt jede Woche zu einer Besprechung in seine Residenz einzuladen, damit in den „wichtigsten politischen Angelegenheiten“ Einvernehmen zwischen und mit den beiden Generalkommissaren hergestellt werde. Außerdem forderte er den Höheren SS- und Polizeiführer auf, sachliche Differenzen offen auszusprechen, und er unterstrich, er habe „absolut den besten Willen, die Sache jetzt im besten Einvernehmen weiterzupauken, um stets mit gutem Gewissen dem Reichsführer-SS in allen konkreten Angelegenheiten gegenübertreten zu können.“125 Dies schien für den Reichskommissar umso mehr geboten zu sein, als die Weichen für eine weitere Ausweitung von Himmlers Machtbefugnissen bereits gestellt waren. Denn Bormann hatte in seiner Anordnung A 54/42, die sich auf die Dienststellen und Gliederungen der Partei bezog, angekündigt, dass eine analoge Regelung für die staatlichen Dienststellen folgen würde. So konnte der Reichsführer-SS Rauter Ende September 1942 vielsagend mitteilen: „Die Entwicklung geht ganz langsam vor sich.“126 Es dauerte immerhin noch ein gutes halbes Jahr, ehe Lammers die entsprechende Entscheidung Hitlers bekanntgab – möglicherweise wollte der Leiter der Reichskanzlei zunächst die Umsetzung der Anordnung vom 12. August 1942 in den besetzten Gebieten abwarten. Am 6. Februar 1943 war es dann soweit: Durch einen Runderlass von Lammers wurde der Primat des Reichsführers-SS „für Verhandlungen mit den germanisch-völkischen Gruppen in den besetzten Gebieten über gemeinsame germanisch-völkische Belange“ über die deutschen Parteidienststellen hinaus ausgedehnt. Von nun an war auch die gesamte staatliche Verwaltung des Reiches verpflichtet, die ausschließliche Zuständigkeit des Reichsführers-SS im Umgang mit kollaborationsbereiten Vertretern der besetzten Gebiete anzuerkennen oder das Einvernehmen mit Himmler herzustellen.127 Erneut 124 So der Bericht Rauters im Schreiben an Himmler vom 17. Dezember 1942 in: BArch, NS 19/1997, Bl. 2. 125 Rauter an Himmler vom 7. Oktober 1942, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 235, 840. 126 Himmler an Rauter vom 29. September 1942, in: ebd., Dok. 227, 830. 127 BArch, NS 19/3565, Bl. 10.

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bemängelte das Auswärtige Amt die Einbeziehung Dänemarks,128 während Seyß-Inquart so weit ging, mehr oder weniger versteckt mit einem Rücktritt zu drohen. Seiner Ansicht nach beschränkte Lammers’ Erlass „den mir vom Führer unmittelbar gegebenen Auftrag und zugleich meine alleinige Zuständigkeit zur Durchführung dieses Auftrages innerhalb meines Gebietes. Die Erfahrungen, die ich gemacht habe, lassen mich mit allem Nachdruck betonen, daß es mir unmöglich ist, die mir übertragene Aufgabe besonders unter den heutigen schwierigen Verhältnissen zu erfüllen, wenn ich in meinen Vollmachten beeinträchtigt werde und insbesondere wenn die tatsächliche Führung der Geschäfte nicht ausschließlich bei mir liegt.“ Seinen Einspruch gegen Lammers’ Erlass verband Seyß-Inquart mit dem Vorschlag, die Bestimmung aufzunehmen, „daß den Reichskommissaren die Verhandlung mit den jeweiligen Obersten Reichsbehörden auch in der Behandlung der germanisch-völkischen Gruppen freigestellt sei“, und er forderte Lammers auf, die Frage der Zuständigkeit bei der Gestaltung der Politik gegenüber der niederländischen Gesellschaft und besonders der dortigen Faschisten noch einmal mit Bormann zu besprechen und gegebenenfalls eine Entscheidung durch Hitler herbeizuführen.129 Mit der Monopolstellung, die Himmler mit Bormanns Anordnung vom 12. August 1942 und Lammers’ Erlass vom 6. Februar 1943 auf diesem für ihn sensiblen Gebiet erwirkt hatte, wollte sich Seyß-Inquart jedenfalls nicht kampflos abgeben. Seine Drohgebärde verfing in der Reichskanzlei allerdings nicht. In seinem Antwortschreiben vertrat Lammers die Ansicht, dass Seyß-Inquarts Zuständigkeit „auf dem fraglichen Gebiet innerhalb der besetzten niederländischen Gebiete in vollem Umfange gewährleistet sei“ und verwies in diesem Zusammenhang auf die Bestimmung seines Erlasses, dass Dienststellen des Reiches, die ihren Sitz in einem der besetzten Gebiete hatten, „innerhalb ihres Aufgabenbereichs für Verhandlungen mit germanisch-völkischen Gruppen ihres Gebietes zuständig“ blieben und nur in bestimmten Situationen das Einvernehmen mit dem Reichsführer-SS zu suchen hätten, nämlich wenn es „um grundsätzliche germanische Volkstumsfragen, um Fragen der Nachwuchserziehung […] oder um gemeinsame völkische Belange des deutschen Volkes und der germanisch-völkischen Gruppen der besetzten Gebiete“ gehe. Auch wenn dieser Katalog sehr weit gefasst war und die Bindung einer Behörde wie Seyß-Inquarts Reichskommissariat an Himmlers Monopol eher bestätigte als relativierte, sah Lammers keinen Grund für eine Revision seines Erlasses. Im Gegenteil, er riet ausdrücklich davon ab, die Frage Hitler vorzulegen: „Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß der Führer […] die von Ihnen gewünschte Änderung meines Runderlasses nicht genehm halten würde und möchte im übrigen auch nicht unerwähnt lassen, daß Reichskommissar Terboven gegen die Fassung des Erlasses keinerlei Einwendungen erhoben hat.“130 Während es Seyß-Inquart gelungen war, den Einfluss der Germanischen Leitstelle gehörig einzudämmen, war mit der unverblümten Zurückweisung durch Lammers sein Versuch ge128 Siehe unter anderem Fernschreiben von Dr. Werner Best ans Auswärtige Amt vom 24. Mai 1943 und Aktennotiz von Legationsrat Eberhard Reichel vom 7. August 1943 in: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 2, Nr. 26627. 129 Seyß-Inquart an Lammers vom 12. Februar 1943, BArch, NS 19/3565, Bl. 11 f. 130 Lammers an Seyß-Inquart vom 22. Februar 1943, ebd., Bl. 13–15.

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scheitert, die Aktivitäten des SS-Apparats im Umgang mit der niederländischen Bevölkerung und besonders mit den dortigen Faschisten als Reichskommissar in letzter Verantwortung zu steuern. Mehr denn je hing der Spielraum zur Gestaltung des Verhältnisses zu Vertretern der niederländischen Gesellschaft fortan von den konkreten Umständen ab. Die schleichende Unterwanderung des NS-Systems durch den SS-Komplex war nun in eine neue Phase getreten, die Seyß-Inquart wohl als eine Herausforderung aufgefasst hat. Einen Rücktritt hat er jedenfalls nicht in die Tat umgesetzt. Bis zum Ende des Krieges blieb er auf seinem Posten, und wie in diesem Buch an verschiedenen Stellen deutlich wird, suchte er bei vielen Gelegenheiten das Einvernehmen mit dem Reichsführer-SS. 4) Ebenso komplex wie die Auseinandersetzungen um die Germanische Leitstelle und die Anordnung A 54/42 waren die Diskussionen über die Organisierung eines genuin nationalsozialistischen Schulwesens in den Niederlanden, das neben den Unterricht an staatlichen oder konfessionellen Mittelschulen treten und der Ausbildung eines am Nationalsozialismus orientierten Nachwuchses dienen sollte. Dabei ging es konkret um die Errichtung von Nationalpolitischen Erziehungsanstalten oder Reichsschulen, die deutsche und in einem geringen Ausmaß niederländische Kinder und Jugendliche in einem großgermanischen Sinn zu erziehen hatten. Auch auf diesem Gebiet kam es zu Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Interessengruppen des NS-Regimes unter Einschluss diverser SS-Instanzen, und auch hier sah Seyß-Inquart eine Aufgabe darin, seiner Behörde Einfluss zu sichern und zugleich an einer Lösung mitzuarbeiten, die alle relevanten NS-Gruppierungen gegeneinander auszubalancieren in der Lage war. Schon im ersten Besatzungsjahr führte Wimmer ein Gespräch mit SS-Obergruppenführer August Heißmeyer, der innerhalb des Reichssicherheitshauptamts als Inspekteur der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (NPEA)131 für die Ausbildung eines nationalsozialistischen Führernachwuchses verantwortlich zeichnete. Hierbei kam man überein, dass die NPEA in Bensberg eine maßgebliche Rolle beim Aufbau von gleichartigen Einrichtungen in den Niederlanden spielen sollte; durch den Austausch von Lehrpersonal und Schülern sollte die Verbindung mit Bensberg zusätzlich gestärkt werden.132 Zunächst ergriff der Generalsekretär für Erziehung, Wissenschaft und Kulturverwaltung, Jan Van Dam, die Initiative, indem er im August 1941 die Eröffnung einer ‚Niederländischen Einrichtung für völkische Erziehung‘ ankündigte. Die Nederlandsche Instelling voor Volksche Opvoeding (NIVO) sollte bereits im Oktober desselben Jahres in dem nördlich von Arnheim gelegenen ehemaligen psychiatrischen Sanatorium Koningsheide den Schulbetrieb aufnehmen; bald schon wurden aus 500 Bewerbungen 20 Jungen ausgewählt.133 Doch letztlich war niemand mit der NIVO zufrieden. Die NSB bemängelte, dass sie keinen entscheidenden Einfluss auf die Erziehung der niederländischen Jugend ausüben konnte, wurde doch die Auswahl des Lehrpersonals ohne geregelte Mitsprache durch Musserts Partei von deutschen Stellen vorgenommen. Doch auch 131 Umgangssprachlich wurde und wird auch gerne die Bezeichnung ‚Napola‘ als Abkürzung für ‚Nationalpolitische Lehranstalt‘ verwendet. 132 Wimmer an Heißmeyer vom 4. November 1940, NIOD, 20/586. 133 In ’t Veld, Inleiding, 139.

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deutsche Stellen wollten sich mit der NIVO nicht anfreunden. Reichskommissariat und SS vermochten einer Einrichtung in niederländischer Trägerschaft kein Vertrauen entgegenzubringen und wollten der NSB jede Möglichkeit abschneiden, im Laufe der Zeit Einfluss auf die gewünschten genuin nationalsozialistischen Mittelschulen zu gewinnen. Stattdessen favorisierten sie eine Schulform, die gänzlich unter deutschem Einfluss stehen sollte und in ihrem Unterricht eine Orientierung an großgermanischen Vorstellungen garantieren würde. In diesem Sinn wandte sich Seyß-Inquart am 13. Februar 1942 mit der suggestiv formulierten Frage an Himmler, „ob das Experiment mit der Nivo nicht fallengelassen und schlankweg eine Napola errichtet werden soll.“ Um den Reichsführer-SS für diesen Plan zu gewinnen, willigte er in „die von Ihnen geforderte Zuständigkeit der Inspektion der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten ohne weiteres“ ein und bot an, die Hälfte der Baukosten von insgesamt sechs Millionen Reichsmark zu übernehmen. Als NPEA solle die zu errichtende Schule von niederländischen Behörden unabhängig sein. Der ‚deutsche Charakter‘ solle überdies dadurch gewährleistet werden, dass die Schülerschaft zu zwei Dritteln aus deutschen Kindern und Jugendlichen bestehen werde.134 Mit diesen Vorschlägen zeigte sich Himmler vollkommen einverstanden: „Ich bin völlig Ihrer Ansicht, dass wir uns auf keine Schulen gemeinsam mit den Holländern einigen, sondern die Schulen müssen Schulen des Reiches sein. Für Ihre freundliche Bereitwilligkeit, einen Teil der Finanzierung zu übernehmen, sage ich Ihnen meinen herzlichen Dank.“ Zugleich teilte er mit, dass Reichsschatzmeister Schwarz, der die SS ausgesprochen großzügig förderte, „dankenswerterweise“ die Übernahme der anderen Hälfte der Baukosten zugesagt habe.135 Dies alles fand die Zustimmung Hitlers.136 In der Entscheidung, das niederländische Modell der NIVO nach nicht einmal einem Jahr auslaufen zu lassen und an ihrer Stelle nach deutschem Muster in den Niederlanden eine NPEA zu errichten, waren sich Reichskommissar und Reichsführer-SS rasch einig. Auch in der Auswahl eines geeigneten Ortes und Gebäudes erzielten die beiden NS-Politiker mühelos eine Einigung. Hierzu schlug Seyß-Inquart am 16. März 1942 Himmler das bei Baarn gelegene Schloss Soestdijk (Provinz Utrecht) vor, das bis zum Westfeldzug Kronprinzessin Juliana und Prinz Bernhard als Residenz gedient hatte. Im Hinblick auf die Finanzierung erklärte Seyß-Inquart sich bereit, zusätzlich zur Beteiligung an den Baukosten auch die Hälfte der jährlichen Betriebskosten zu übernehmen, die er auf 500.000 Reichsmark schätzte. Die andere Hälfte sollte seinen Vorschlägen zufolge von Heißmeyers Inspektion der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten aufgebracht werden. Auch bei einer zweiten und dritten NPEA, auf deren Errichtung in den Niederlanden er innerhalb seiner Amtszeit hoffte, wollte er die 134 NIOD, 20/586. 135 Himmler an Seyß-Inquart vom 5. März 1942, BArch, NS 19/1558, Bl. 29 und NS 19/3363, Bl. 45. Wie sehr der Reichsschatzmeister der NSDAP der SS nahestand, wird in dem Schreiben deutlich, in dem Gottlob Berger am 2. Juli 1941 Himmler euphorisch mitteilte, dass SS-Obergruppenführer Schwarz alle finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt habe, um die Allgemeine-SS in den besetzten Gebieten auszubauen (in: In ’t Veld [Hrsg.], De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 71, 563). Wohl aufgrund seiner Unterstützung wurde Schwarz 1942 der äußerst seltene Titel eines SS-Oberstgruppenführers verliehen. 136 Siehe Picker (Hrsg.), Hitlers Tischgespräche, 255 (5. April 1942).

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Hälfte der Kosten übernehmen. Sozusagen als Gegenleistung für das finanzielle Engagement des Reichskommissariats und die Bereitstellung von Baumaterialien brachte Seyß-Inquart die Erwartung zum Ausdruck, dass „die Leitung dieser Napola im Einvernehmen mit mir geführt wird […].“ Neben Heißmeyer und dem Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, wollte er sich somit als Reichskommissar einen substanziellen Einfluss auf die Ausrichtung der für Soestdijk geplanten NPEA sichern. Auch beim Umbau des Schlosses wollte er beteiligt sein. So forderte er eine Mitaufsicht bei der Bauausführung und unterbreitete den Vorschlag, einen Wettbewerb auszuschreiben; an der Jury, die unter Himmlers Leitung stehen solle, wolle er sich selbst „gerne beteiligen“.137 Es steht nicht zweifelsfrei fest, ob Seyß-Inquart durch die Ausschreibung eines Wettbewerbs und durch seine Beteiligung an dessen Ausgang verhindern wollte, dass Dr. Hans Kammler, der als Leiter der Amtsgruppe C des SS-Verwaltungs- und Wirtschaftshauptamts in Berlin das gesamte Bauwesen der SS unter sich hatte und in dieser Funktion unter anderem an Planung und Bau von Konzentrationslagern unter Einschluss von Gaskammern und Krematorien beteiligt war, ohne weiteres in den Niederlanden aktiv werden konnte. In diese Richtung weist immerhin, dass Himmler Kammler Mitte April 1942 dazu anhielt, mit Blick auf das Preisausschreiben nicht „darauf erpicht“ zu sein, dass der eigene Plan umgesetzt werde. „Erweist sich in diesem Preisausschreiben unser Plan als der bessere, wird er ohnedies angenommen.“138 Auf jeden Fall ließ der Reichskommissar erkennen, dass für ihn die Errichtung einer NPEA in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ ein Prestigeobjekt war, mit dem er sich auf Reichsebene profilieren wollte, ohne von der SS allzu sehr eingeschränkt zu werden. Gottlob Berger, der sich am 30. März 1942 zu einem Gespräch über den Umgang mit der NSB und über die Germanische Leitstelle mit Seyß-Inquart und Rauter in Den Haag aufhielt, berichtete denn auch, der Reichskommissar lege Wert darauf, dass eine Reichsschule in den Niederlanden „in allem erstklassig und vorbildlich für alle germanischen Länder werde.“139 Bei derselben Gelegenheit wurde Seyß-Inquart die Nachricht überbracht, dass die Finanzierung von Nationalpolitischen Erziehungsanstalten und der Hitlerjugend eine Angelegenheit von Reichsschatzmeister Schwarz sei und über die Zahlstelle der SS abzuwickeln sei; von der Möglichkeit einer finanziellen Beteiligung des Reichskommissariats an der geplanten NPEA, die Seyß-Inquart Himmler mehrfach angeboten hatte, war keine Rede mehr. Um den Reichskommissar nicht zu verprellen, legte Rauter in Absprache mit Berger Himmler nahe, „dass man den Reichskommissar nicht ganz ausschaltet, denn sonst wächst der Widerstand in einer Form, dass wir sachlich nicht mehr weiter können.“140 Tatsächlich kam Himmler 137 Seyß-Inquart an Himmler vom 16. März 1942, BArch, NS 19/1558, Bl. 32–35 mit 45. Zur Entscheidung für Soestdijk anstelle von Harderwijk und Bloemendaal als Standort für eine NPEA siehe Seyß-Inquart an Himmler vom 13. und vom 14. Februar 1942 sowie SS-Hauptsturmführer Wilhelm Kemper an Wimmer vom 13. März 1942, NIOD, 20/586. 138 Himmler an Kammler vom 14. April 1942, BArch, NS 19/1558, Bl. 37. Zu Kammler siehe Naasner, SS-Wirtschaft und SS-Verwaltung, 338–342. 139 Berger an Himmler vom 31. März 1942, BArch, NS 19/1558, Bl. 1. 140 Rauter an Berger vom 1. April 1942, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 137, 680.

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Seyß-Inquart in seinem Schreiben vom 13. April 1942 so weit wie möglich entgegen. Dessen Vorschlag eines Wettbewerbs bezeichnete er als „ausgezeichnet“, und er sah es als selbstverständlich an, „daß Ihnen eine Mitaufsicht über die Durchführung des gesamten Planes zusteht.“ Als Namenspatron schlug der Reichsführer-SS kurioserweise Philipp Marnix von Sint-Aldegonde vor, der sich in den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts an der Seite von Wilhelm von Oranien-Nassau für die Wahrung niederländischer Freiheiten eingesetzt hatte. In seiner selektiven und großgermanisch gefärbten Wahrnehmung von Geschichte sah Himmler in Aldegonde allen Ernstes einen Garanten für die Verbindung zwischen den Niederlanden und dem Reich, denn seiner Ansicht nach handelte es sich bei diesem Adeligen um „den Mann aus der niederländischen Geschichte […], der seinerzeit auf dem Deutschen Reichstag gemahnt hat, der Reichstag solle aufpassen, daß die Niederländer nicht vom Reich wegkommen.“141 Dabei bezog sich der Reichsführer-SS auf eine Rede, in der Aldegonde im Jahr 1578 in Worms die Hilfe von Kaiser und Reichsfürsten im Kampf gegen die autokratische, gegenreformatorische Herrschaft des spanischen Königs Philipp II. in den Niederen Landen angerufen hatte. Obwohl dieser Appell damals nicht die gewünschte Wirkung erzielt hatte, weil das Heilige Römische Reich den Niederländischen Aufstand nicht unterstützte; obwohl dieser Aufstand 1648 zum Austritt der Niederlande aus dem Reichsverband geführt hatte; und obwohl Aldegonde als der Verfasser des Liedes Wilhelmus galt, das 1932 als niederländische Nationalhymne anerkannt wurde, wurde dessen Wormser Rede in nationalsozialistischen Kreisen gerne als Ausdruck einer deutsch-niederländischen Verbundenheit im Rahmen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation interpretiert.142 In diesem Sinn ist es beispielsweise kein Wunder, dass Reichsleiter Baldur von Schirach im Dezember 1942 in seiner Zeitschrift Wille und Macht. Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend Ausschnitte eines Textes abdruckte, in dem der borussische Historiker Heinrich von Treitschke 1869 unter dem Titel Die Republik der Vereinigten Niederlande Marnix von Sint-Aldegonde und Wilhelm von Oranien-Nassau als Retter „einer herrlichen Welt germanischen Lebens vor jenem bleiernen Schlummer“ gefeiert hatte, „der auf dem hispanischen Italien lastete […].“143 Gegenüber einer derartigen großgermanischen Instrumentalisierung Aldegondes gab es zwar auch kritische Stimmen. So sprach sich der Leiter der Abteilung Archivwesen des Reichskommissariats, Dr. Bernhard Vollmer, sehr deutlich gegen Himmlers Vorschlag zur Namensgebung der geplanten NPEA Soestdijk aus: Ihm galt Marnix von Sint-Aldegonde wegen seiner Unterstützung für Herzog Franz von Anjou als Befürworter einer „francophilen Politik“ und „Repräsentant des französischen Kalvinismus, der eine wesentliche Wurzel des niederländischen Partikularismus“ darstelle – und somit als das genaue Gegenteil einer engen Verbindung zwischen den Niederen Landen und dem damaligen Deutschen Reich.144 Doch aus 141 Himmler an Seyß-Inquart vom 13. April 1942, BArch, NS 19/1558, Bl. 35. 142 Schöffer, Het nationaal-socialistische beeld, 192-194. 143 Heinrich von Treitschke und die Niederlande, 34. Zu Treitschkes Aufsatz und seiner Rezeption in der NSZeit siehe Schöffer, Het nationaal-socialistische beeld, 124-126. 144 Vollmer an Wimmer vom 28. Juni 1943, NIOD, 20/586. Bei dieser Argumentation bezog sich Vollmer explizit auf das Aldegonde-Buch, das der faschistisch orientierte niederländische Theologe und Historiker

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machtpolitischen Gründen fiel für Seyß-Inquart ein positives Verhältnis zu Himmler mehr ins Gewicht als eine Detailfrage historiografischer Interpretation, und so nannte er Himmlers Vorschlag zur Namensgebung „geradezu großartig“.145 Während sich Reichskommissar und Reichsführer-SS in der ersten Hälfte des Jahres 1942 im Briefverkehr und bei zwei persönlichen Begegnungen146 mit dem erkennbaren Bemühen um eine zügige und einvernehmliche Absprache über die Grundzüge der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt in den Niederlanden einigten, gab es unter anderen Vertretern des NS-Regimes in der Folgezeit Kompetenzstreitigkeiten. Vor allem zwischen Heißmeyer, Berger und Rust kam es 1942/43 hinsichtlich der Aufteilung von Kompetenzen wiederholt zu Auseinandersetzungen, ohne dass eine tragfähige Klärung erreicht werden konnte.147 Mit der Frage der Kompetenzaufteilung zusammen hing die Begriffsbildung: Von Anfang an waren in der Korrespondenz die Begriffe ‚Reichsschule‘ und ‚Nationalpolitische Erziehungsanstalt‘ durcheinander verwendet worden. Ihre jeweilige Bedeutung und Zuordnung wurde im Zuge einer Besprechung zwischen Rust und Berger folgendermaßen definiert: „Die Reichsschulen unterstehen in jeder Richtung ausschließlich dem Reichsführer-SS. Das Reichserziehungsministerium beansprucht eine Führung über diese Anstalten nicht, wird sie aber nach Möglichkeit unterstützen (Abgabe von Lehrern, Zeugnisanerkennung). Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten unterstehen ausschliesslich dem Reichserziehungsminister. Der Reichsführer-SS unterstützt diese Anstalten weitgehend; seine Mitarbeit in der geistigen Gestaltung wird vom Erziehungsminister begrüßt und gefördert.“148 Ob Lehrplan und Unterrichtsgestaltung an einer NPEA oder einer Reichsschule in der Praxis gravierend voneinander abwichen, sei dahingestellt. Doch die Entscheidung für einen der beiden Begriffe ließ eine Präferenz für oder gegen eine starke Stellung des SS-Komplexes erkennen. Wenn Seyß-Inquart in dem machtpolitischen Gerangel von 1942/43 das Modell der Reichsschule favorisierte, gab er zu erkennen, dass er die Ausbildung des nationalsozialistischen Führungsnachwuchses in ‚seinen‘ Niederlanden in erster Linie der SS anvertraut wissen wollte, und zwar unter seiner Mitwirkung. So forderte er für die Reichsschule: „Fachlich unterrichtsmäßig untersteht sie dem Generalkommissar für Verwaltung und Justiz, rücksichtlich ihrer germanischen, durch die SS wahrzunehmenden Aufgaben dem Höheren SS- und Polizeiführer. Durch diese Unterstellungen ist aber meine Einflußnahme in keiner Weise beschränkt.“ Eine Einmischung der Germanischen Leitstelle schloss der Reichskommissar in diesem Zusammenhang explizit aus. Für das Reichserziehungsministerium und Heißmeyers Inspektion sollte wohl nur ein beAart Arnout van Schelven 1939 veröffentlicht hatte. Zu Aldegondes Rede auf dem Wormser Reichstag von 1578 siehe auch NIOD, 20/1072. Zu Vollmer vgl. Menk/Plantinga, „Die Ehre der deutschen Staatsarchivare und Historiker zu wahren“; dessen Stellungnahme zu Marnix von Sint-Aldegonde wird hier allerdings nicht thematisiert. 145 Seyß-Inquart an Himmler vom 15. April 1942, BArch, NS 19/1558, Bl. 46. 146 Siehe Witte u. a. (Bearb.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers, 411 mit Anm. 77 zum 26. April 1942 und ebd., 431 zum 19. Mai 1942. 147 Vgl. hier die einschlägigen Materialien in IfZ, IMG-Dok. NG-4619 und NIOD, 20/586 sowie In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 198, 198 I, 208, 213, 281, 281 I und Bd. 2, Dok. 468 und 528. 148 Aktennotiz vom 28. November 1942, NIOD, 20/586.

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grenzter Spielraum bleiben. Denn entscheidend war für Seyß-Inquart, „daß über die Führung der germanischen Politik ein Einvernehmen zwischen Reichsführer und mir herzustellen ist, in keiner Weise ist aber eine unmittelbare Exekutive geschaffen […].“149 Noch während die politisch motivierten Diskussionen zwischen diversen NS-Instanzen über eine Aufteilung von Zuständigkeiten in Gang waren, wurden am 1. September 1942 zwei Reichsschulen in Betrieb genommen, die Kindern von Deutschen und von NSB-Angehörigen offenstanden.150 In Valkenburg entstand eine Reichsschule für Jungen, Mädchen stand die Reichsschule in Heythuizen offen. Eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt Marnix von Sint-Aldegonde auf Schloss Soestdijk ist somit über das Planungsstadium nicht hinausgekommen. Die Aufsicht über die Reichschulen in Valkenburg und Heythuizen führte SS-Hauptsturmführer Dr. Wilhelm Kemper, bisher Unterrichtsleiter der NPEA Bensberg. Er fungierte auch als Anstaltsleiter in Valkenburg, wurde aber aufgrund anderer beruflicher Funktionen innerhalb des Reichskommissariats in den ersten Monaten durch Unterrichtsleiter Ernst-Rüdiger Debusmann vertreten, der ebenfalls mit Bensberg verbunden war. Die Reichsschule Heythuizen wurde Freifrau Julia (Juul) A. op ten Noort unterstellt, die 1938 an der Gründung der ‚Nationalsozialistischen Frauenorganisation‘ beteiligt gewesen war und in einem engen Freundschaftsverhältnis zu Himmler stand.151 Die Auswahl der Kinder und Jugendlichen erfolgte nicht zuletzt nach medizinischen und ‚rassekundlichen‘ Gesichtspunkten; an ihnen war unter anderem der Vertreter des Rasse- und Siedlungshauptamts in Den Haag, Rasse- und Siedlungsführer Herbert Aust, beteiligt. Das von Himmler und Seyß-Inquart anvisierte Übergewicht der deutschen Jugend über die niederländischen Schüler wurde nicht erreicht: Im Oktober 1942 waren 66 deutsche und 57 niederländische Schüler in Valkenburg, im nächsten Jahr stellten die niederländischen Schüler sogar die Mehrheit.152 Beide Reichsschulen lagen in der Provinz Limburg und befanden sich damit zwar in geografischer Nähe zur ‚Mutterschule‘ in Bensberg, waren aber nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie des Landes angesiedelt. In beiden Fällen wurden Anfang Juli 1942 Gebäude von katholischen Klostergemeinschaften requiriert: In Heythuizen wurden Franziskanerinnen gezwungen, innerhalb von drei Tagen das Mädchenpensionat St. Elisabeth zu räumen, in Valkenburg ließ der Sicherheitsdienst den dortigen Jesuiten nicht einmal anderthalb Stunden Zeit, um das Ignatiuskolleg zu verlassen.153 Planungen für die Errichtung eines Neubaus, an denen sich auch Seyß-Inquart beteiligte, scheiterten 1943 daran, dass sich das Reichsfinanzministerium während des Krieges außer Stande sah, die geschätzten Baukosten von zwei Millionen Reichs-

149 Seyß-Inquart an Wimmer vom 17. Mai 1943, ebd. 150 Zum Folgenden vgl. In ’t Veld, Inleiding, 137–145 und Van der Steen, Keurkinderen. Zu Heythuizen siehe auch Jodda-Flintrop, „Wir sollten intelligente Mütter werden“, 52–54. 151 Vgl. etwa das Schreiben vom 15. September 1943, in dem Himmler „jede Hilfe und jede Unterstützung“ bei der Verschleierung von Op ten Noorts Schwangerschaft anbot (Heiber [Hrsg.], Reichsführer!, Dok. 270, 234 f. mit Dok. 280, 241). 152 In ’t Veld, Inleiding, 141 f. 153 Van der Steen, Keurkinderen, 70 und 54.

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mark zur Verfügung zu stellen.154 Zwar erwog Himmler noch 1944 die Errichtung einer dritten Reichsschule in den Niederlanden.155 Doch am 6. Juni dieses Jahres teilte Seyß-Inquart Heißmeyer mit, dass keine geeigneten Gebäude zur Verfügung stünden.156 Am selben Tag hatte die Landung der Alliierten in der Normandie begonnen (Operation Overlord), und ihr rasches Vorrücken ließ jegliche Planung zur Gründung einer weiteren Reichsschule Makulatur werden. Als sich im September die Befreiung der Provinz Limburg abzeichnete, wurden die Internatsschülerinnen aus Heythuizen in die NPEA Reichenau evakuiert, während die Schüler aus Valkenburg zur NPEA Bensberg verlegt und von hier aus auf andere ‚Napolas‘ wie in Naumburg an der Saale oder in Plön verteilt, zum Dienst als Flakhelfer oder zum Ausbau der Stellungen am Westwall abkommandiert wurden.157 Auch wenn sich in der Praxis einiges anders entwickelte als ursprünglich geplant, konnte Seyß-Inquart mit dem Erreichten zufrieden sein: Es war ihm gelungen, seinem Reichskommissariat einen entscheidenden Einfluss auf die Einrichtung und Verwaltung der beiden Reichsschulen zu sichern und konkurrierende Ansprüche anderer NS-Instanzen zu minimieren oder zu neutralisieren. Dabei kam ihm das Zusammenspiel mit Himmler zugute. Während der Reichsführer-SS Seyß-Inquarts Ansprüchen in dieser Angelegenheit zu einem großen Teil entgegenkam, sahen sich Berger und Heißmeyer, die beide herausgehobene Positionen im Berliner Reichssicherheitshauptamt wahrnahmen, von Himmler weitaus weniger unterstützt. Besonders Berger musste zur Kenntnis nehmen, dass letztlich weder das Projekt einer Germanischen Leitstelle in seiner Gesamtheit noch die Unterstellung der Reichsschulen in den Niederlanden unter diese Leitstelle von seinem Vorgesetzten in der von ihm gewünschten Weise und Intensität verteidigt wurde. Die Auseinandersetzungen um die Stellung des RKF-Beauftragten, die Germanische Leitstelle, Bormanns Anordnung A 54/42 und die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten bzw. Reichsschulen vollzogen sich zeitlich gesehen weitgehend parallel und waren zum Teil ineinander verwoben, wie Seyß-Inquarts Ablehnung einer Beteiligung der Leitstelle an den Reichsschulen in den Niederlanden zeigt. Im Einzelnen aber hatten diese Themenfelder unterschiedliche Auswirkungen auf Seyß-Inquarts Position im nationalsozialistischen Machtgefüge. Die ausgesprochen kooperative Art der Zusammenarbeit mit der SS und ihrem Reichsführer schloss keineswegs aus, dass sich der Reichskommissar um die Abwehr von Initiativen bemühte, die darauf zielten, seinen Einfluss zugunsten des SS-Komplexes zu beeinträchtigen. Das Verhältnis zwischen Seyß-Inquart und der SS lässt sich somit nicht auf einen Begriff bringen. Die Beispiele belegen des weiteren, dass das Verhältnis nicht ausschließlich bilateral war. Vielmehr waren in der Regel zahlreiche weitere Instanzen des NS-Regimes involviert, und nicht zuletzt gab es innerhalb der SS mancherlei Differenzen und Grabenkämpfe, die Seyß-Inquart in seinem Verhältnis zu Himmler in Rechnung zu stellen hatte. Die Tatsache, 154 Ebd., 133 mit Anm. 127. 155 Siehe Wimmer an Himmler vom 28. März 1944, NIOD, 20/586. Als Sitz der dritten Reichsschule in den besetzten Niederlanden hatte Himmler die SS-Kaserne Möverstedt in Apeldoorn auserkoren. 156 Seyß-Inquart an Heißmeyer vom 6. Juni 1944, ebd. 157 Zu den Evakuierungen der beiden Reichsschulen vgl. Van der Steen, Keurkinderen, 133 ff.

5.3 Das Verhältnis zu SS und Reichsinstitutionen

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dass er sich bis in die letzten Kriegstage hinein besonders eng an Himmler und den SS-Apparat angelehnt hat, unterstreicht, dass ihm bewusst war, wie wichtig der Reichsführer-SS für seine eigene Karriere war. Und es ist ihm natürlich nicht entgangen, dass Himmler während des Krieges nach Hitler zum zweitmächtigsten Nationalsozialisten aufstieg – hatte er selber doch Himmlers Bestellung zum Reichsinnenminister 1943 mit der subtilen Beteiligung am Sturz von Frick befördert. Umgekehrt hatte er nicht nur bei der Berufung in die Niederlande die Unterstützung des Reichsführers-SS genossen. Auch während der gesamten fünf Besatzungsjahre war Himmler ein wichtiger Ansprechpartner und Fürsprecher für ihn. Schließlich zeigt Seyß-Inquarts Verhältnis zu Reichszentralstellen, dass er als ‚Zwischengewalt‘ trotz seiner positionellen Schwäche stets bedeutend mehr als ein bloßer Befehlsempfänger war. Von Anfang an besaß er nicht nur innerhalb der besetzten Niederlande, sondern auch gegenüber Vertretern des Reiches weitgehende Handlungsspielräume – und zwar nicht in erster Linie als Reichsminister, sondern als Reichskommissar. Von den Spielräumen hat er verschiedentlich Gebrauch gemacht, um seinen Primat in der deutschen Niederlandepolitik zu unterstreichen und gleichzeitig seine eigene Position und die seiner Behörde zu verteidigen. Die Führerunmittelbarkeit seines Amtes und der Ehrgeiz, die Fäden der deutschen Politik in den Niederlanden in der Hand zu halten, sorgten denn auch dafür, dass er sich in manchen Punkten gegenüber Reichsstellen durchsetzte. Einem geschickt agierenden Politiker der ‚zweiten Reihe‘ bot der ‚prekäre Staat‘ des NS-Systems also in der vertikalen Machtverteilung durchaus Möglichkeiten zur Durchsetzung eigener Positionen – notfalls gegen einzelne Reichszentralinstanzen. Wie aber stand es mit der horizontalen Machtverteilung? Mit anderen deutschen Zivilverwaltungen in besetzten oder angegliederten Gebieten ist Seyß-Inquart offenkundig nur von Fall zu Fall in Kontakt getreten. Eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen solchen Zivilverwaltungen hat es nicht gegeben und wäre bei der Reichsführung auf Ablehnung gestoßen. Bezeichnend hierfür ist das Schicksal eines Vorstoßes, den der Staatssekretär beim Reichsprotektor in Böhmen und Mähren in diese Richtung unternahm: Im Dezember 1942 lud Karl Hermann Frank zusammen mit dem Leiter der Parteiverbindungsstelle beim Reichs­ protektorat, Dr. Hugo Jury, die nationalsozialistischen Funktionäre Seyß-Inquart, Terboven, Hans Frank, Alfred Rosenberg als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete sowie die Chefs der Zivilverwaltungen in Luxemburg, Lothringen, Klagenfurt, der Untersteiermark und im Elsass zu monatlichen Besprechungen ein, die einem „persönlichen Gedankenaustausch und gegenseitigem Bericht über Grundgedanken, Erfahrungen und Pläne auf dem Gesamtgebiet der Verwaltung“ dienen sollten. Seinem Aufruf zufolge sollten Fachleute der eingeladenen Territorialverwaltungen im Januar 1943 erstmalig in den Niederlanden zusammenkommen, um die Kollegen der anderen Besatzungsverwaltungen über ihr jeweiliges Gebiet zu informieren.158 Gegen diese Initiative, die angesichts des ins Auge gefassten Tagungsortes nicht ohne vorherige Absprache mit Seyß-Inquart lanciert worden sein kann, bezogen sowohl die Partei- als auch die Reichskanzlei Stellung: Bormann und Lammers waren sich schnell einig, 158 Abschrift des Schreibens von Karl Hermann Frank vom 7. Dezember 1942 in: BArch, R 43 II/606, Bl. 93 f. Dieser reichspolitisch interessante Aspekt fehlt bei Küpper, Karl Hermann Frank.

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Kapitel 5: Nationalsozialistische Zivilverwaltung

dass eine koordinierte Absprache unter den Zivilverwaltungen der besetzten oder angegliederten Länder des Großdeutschen Reiches nicht erwünscht war. Lammers konzedierte zwar, „daß ein gelegentlicher persönlicher Meinungsaustausch unter den Chefs der verschiedenen Verwaltungsgebiete unter vier Augen oder wenigstens in kleinem Kreise fruchtbar und nutzbringend sein kann […], aber dafür bedürfte es auch nicht irgendwelcher organisatorischer Vorkehrungen.“159 Vermutlich hegten Bormann wie auch Lammers die Befürchtung, dass sich die von Frank geplante Informationsveranstaltung leicht zu einer politischen Koordinierung ausweiten würde und in diesem Zusammenhang die Gefahr bestünde, dass unter Umgehung von Reichs- und Parteikanzlei Absprachen getroffen werden könnten, die eine einheitliche Verwaltung innerhalb des Großdeutschen Reiches und der besetzten Gebiete in Europa sowie den Primat der Reichsführung durchlöchern würden. Einer derartigen Entwicklung standen das zentralisierte und hierarchische Verwaltungsverständnis des Nationalsozialismus wie auch das Machtbewusstsein von Lammers und Bormann entgegen. In Berlin, München und dem Führerhauptquartier empfand man Absprachen auf regionaler Ebene als einen Widerspruch zum Prinzip des ‚divide et impera‘, das die politische Abhängigkeit aller Funktionsträger von Hitler sichern und jede Verselbstständigung administrativer Einheiten verhindern sollte. Somit blieb es bis Kriegsende bei gelegentlichen Begegnungen Seyß-Inquarts mit anderen Leitern von nationalsozialistischen Zivilverwaltungen, etwa als er im Dezember 1943 zwecks „gegenseitigem Erfahrungsaustausch innerhalb der Verwaltung der besetzten Länder“ mit Terboven und Dr. Werner Best in Norwegen bzw. Dänemark zusammentraf.160 Franks Vorstoß ist durch den Einspruch von Lammers und Bormann rasch zu den Akten gelegt worden. 5.4 Der Reichskommissar in seiner Behörde

Wie aber positionierte sich Seyß-Inquart innerhalb des Reichskommissariats? Hier stellte sich ihm besonders die Aufgabe, die Generalkommissare als seine engsten Mitarbeiter auf 159 Von Stutterheim an Staatssekretär Dr. Gerhard Klopfer (Vertreter der Parteikanzlei in der Reichskanzlei) vom 22. Januar 1943, BArch, R 43 II/606, Bl. 95 f. 160 Baseler Nachrichten vom 23. Dezember 1943 (BArch, ZSg. 117/1248). Über den konkreten Zweck von Seyß-Inquarts Reise in die nordischen Staaten wurde seinerzeit heftig spekuliert. Unter Berufung auf das Malmöer Sydsvenska Dagbladet berichteten die Baseler Nachrichten am 20. Dezember (ebd.) von der Befürchtung, „daß er eine Umorganisierung des Polizeiwesens nach dem Muster der besetzten Niederlande durchführen soll, so daß die dänische Polizei in allen wesentlichen Funktionen durch deutsche Staatspolizei ersetzt werden würde.“ Auf jeden Fall habe die Mitteilung über Seyß-Inquarts Ankunft „die Unruhe der dänischen Bevölkerung in hohem Grade gesteigert, da dessen Anwesenheit nichts anderes als eine Verschärfung der Situation in Dänemark bedeuten würde.“ Am wenigsten plausibel war die Vermutung der in Basel erscheinenden Nationalzeitung, Seyß-Inquart werde „vielleicht dauernd dort zur ‚Befriedung‘ der Lage bleiben“ (Ausgabe vom 20. Dezember, ebd.). Die Spekulationen zeigen jedenfalls, dass Seyß-Inquart im neutralen Ausland zu diesem Zeitpunkt als nationalsozialistischer Hardliner wahrgenommen und gefürchtet wurde. Auf jeden Fall beweist Seyß-Inquarts Reise nach Nordeuropa, dass er mit den ‚Fähigkeiten‘, die er in den Niederlanden auf Gebieten wie der Bekämpfung von Widerstand und der Judenverfolgung unter Beweis gestellt hatte, bei anderen nationalsozialistischen Zivilverwaltungen als kompetenter Berater auftrat, und dies dürfte nicht ohne Wissen oder Zustimmung der Reichsführung geschehen sein.

5.4 Der Reichskommissar in seiner Behörde

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die Durchsetzung einer gemeinsamen politischen Linie zu verpflichten. Das Gelingen dieser Bemühungen hing in hohem Maße von seinem persönlichen Verhältnis zu den einzelnen Generalkommissaren sowie von jenen Beziehungen ab, die die Generalkommissare untereinander pflegten; bei Schmidt und Rauter spielte darüber hinaus die Rückbindung an Rudolf Heß und Bormann bzw. an Himmler eine wichtige Rolle. Am unkompliziertesten gestaltete sich für Seyß-Inquart das Verhältnis zu Wimmer und Fischböck.161 Mit diesen beiden persönlichen Freunden hatte Seyß-Inquart im Kontext des Anschlusses Österreichs und der Errichtung der Ostmark zusammengearbeitet. Noch nach dem Krieg rühmte er Wimmer als „einen gediegenen Juristen und Verwaltungsfachmann, ruhigen und einsichtigen Menschen und ausgezeichneten Charakter“, den er im Frühjahr 1940 „wiederholt“ gedrängt habe, in die Niederlande zu kommen, da er befürchtet habe, „dass man mir ansonsten einen fachlich weniger tuechtigen [,] aber dafuer unduldsamen Mann aus dem Reich schicken werde.“162 Wimmer wie auch Fischböck arbeiteten ausgesprochen unauffällig und eng mit Seyß-Inquart zusammen. Auch untereinander scheinen sie friktionsfrei gewirkt zu haben; Wimmer vertrat denn auch Fischböck, wenn dieser nicht in den Niederlanden anwesend war.163 Der ungehobelte Draufgänger Rauter hingegen warf Wimmer schon einmal dessen Herkunft aus katholischem Milieu vor und beschwerte sich im geheimen darüber, dass der Generalkommissar für Verwaltung und Justiz „in keiner Form die Härte“ aufbringe, die notwendig sei, „um hier durchzugreifen.“164 Besonders aber zwischen Rauter und Schmidt kam es im Verlauf der Besatzungszeit immer wieder zu Reibereien, die sich vor allem um die Frage des Verhältnisses der deutschen Besatzung gegenüber den einheimischen Kollaborateuren und um die Stellung drehten, die der SS-Komplex bzw. die NSDAP in den Niederlanden einnehmen sollten. Wie noch zu zeigen sein wird, spielten hierbei nicht nur persönliche Profilierungsbestrebungen und Animositäten der beiden Generalkommissare eine Rolle. Es ging auch um die Abgrenzung von Machtsphären, die vom Reich aus in die besetzten Gebiete ausstrahlte. Dabei standen sich der Reichsführer-SS mit seinen Behörden und der Stab des Stellvertreters des Führers gegenüber, der nach Heß’ Englandflug im Mai 1941 in die Parteikanzlei umgewandelt wurde. Die fast durchgängig auftretenden Auseinandersetzungen zwischen Rauter und Schmidt können somit als eine Art Stellvertreterkrieg zwischen Himmler und Bormann betrachtet werden, vertraten die beiden Generalkommissare doch „in erster Linie die Interessen und die Politik der hinter ihnen stehenden ‚Potentaten‘, denen sie ihre Stellung und ihren Einfluß zu verdanken hatten.“165

161 Hiervon legt der Schriftverkehr in den Beständen 20 und 39 des NIOD Zeugnis ab. 162 Eidesstattliche Erklärung Seyß-Inquarts für Wimmer vom 2. September 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 714, Mappe 337, Bl. 15. Vgl. mit Wimmers Darstellung in: Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 338. 163 Siehe Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 348. Dies war besonders der Fall, nachdem Fischböck im Januar 1942 zum Reichskommissar für die Preisbildung ernannt worden war und sich öfters in Berlin aufhalten musste; siehe Anm. 5 zu Fischböcks Lebenslauf vom 6. Oktober 1941, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 82, 584. 164 Rauter an Himmler vom 12. Mai 1942, BArch, DS (ehem. BDC), Sammelliste 65, Bl. 127–129. 165 Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 91. Ähnlich Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 21.

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Kapitel 5: Nationalsozialistische Zivilverwaltung

Mit Seyß-Inquart, Wimmer, Fischböck und Rauter rekrutierte sich die Führung der deutschen Besatzungsverwaltung in den Niederlanden in einem auffallenden Umfang aus Nationalsozialisten, die aus der Ostmark stammten. Dies gilt auch für nachgeordnete Beamte wie Kajetan Mühlmann, Dr. Franz Wehofsich oder Dr. Friedrich Plutzar, die Seyß-Inquart als bewährte Mitarbeiter seines Vertrauens in Angelegenheiten von Kulturverwaltung und Kunstraub nach Den Haag mitnahm. Die starke Vertretung österreichischer Nationalsozialisten, besonders in den führenden Rängen, trug dem Reichskommissariat bei Beamten aus dem Altreich den Spitznamen ‚Donauklub‘ ein.166 Es ist jedoch irreführend, von einer „Österreich-Connection“ zu sprechen.167 Denn erstens verstand sich Seyß-Inquart entsprechend Hitlers Auftrag als Repräsentant des gesamten Großdeutschen Reiches, ‚österreichische‘ Akzente lassen sich in seiner Amtsführung in den Niederlanden lediglich in der Personalpolitik und im Bereich der Kultur- und Wissenschaftspolitik ausmachen.168 Zweitens erschwerte die skizzierte Anwesenheit von Reichsinstanzen jeden Versuch, der deutschen Politik einen ‚ostmärkischen Stempel‘ aufzudrücken. Drittens – und dies ist für Seyß-Inquarts Position in Den Haag entscheidend – unterstellt der Begriff „Österreich-Connection“ ein größeres Maß an Einheitlichkeit, als in Wirklichkeit vorhanden gewesen ist. In manchen Fragen von zentraler Bedeutung für die deutsche Besatzungspolitik existierten innerhalb der Spitzen des Reichskommissariats unter Einschluss der ostmärkischen Funktionäre ausgesprochen konträre Vorstellungen. So stellte sich beispielsweise die grundsätzliche Frage, ob die deutsche Politik darauf gerichtet sein sollte, die niederländische Bevölkerung durch eine ‚sanfte‘ Besatzungspolitik für den Nationalsozialismus zu gewinnen und das ‚germanische‘ Nachbarvolk durch ein moderates Auftreten auf den Weg einer Selbstnazifizierung zu bringen – wie dies Seyß-Inquart vorschwebte und Hitlers Auftrag zu entsprechen schien. Oder sollte man die im Felde besiegten Niederländer nicht eher durch eine Politik der Härte, wie sie ab dem Frühjahr 1941 mit steigender Brutalität unter dem maßgeblichen Einfluss von Rauter implementiert wurde, beherrschen und ohne jede Rücksicht auf Traditionen, Erwartungen oder Wünsche der einheimischen Bevölkerung zur Unterwerfung unter deutsche Vorgaben zwingen?169 Und welche Haltung sollte man gegenüber der größten – und ab Dezember 1941 einzigen – niederländischen Kollaborationsorganisation einnehmen? Sollte man die NSB – in welcher Form auch immer – mit Regierungsverantwortung betrauen, wie dies Seyß-Inquart und Schmidt am 10. Dezember 1942 Hitler bei einem Besuch mit Mussert in der ‚Wolfsschanze‘ ohne Erfolg vorschlugen? Oder

166 Neuman, Arthur Seyss-Inquart, 159. 167 Dies tut etwa Wielenga in Die Niederlande, 217. 168 Siehe hierzu unten, Kap. 12. 169 Rauter selber hat am 30. Januar 1947 im Arnheimer Strafgefängnis zu Protokoll gegeben, dass Seyß-Inquarts Bestreben, über die Niederlande „mit Glacéhandschuhen“ zu regieren, dazu geführt habe, dass er im ganzen Reich „von Parteikreisen immer wieder stark angegriffen wurde wegen seiner schwachen Politik in Holland; man sagte, dass er mit weicher Hand regiere.“ Gegen derartige Vorwürfe habe sich Seyß-Inquart nie verteidigt. Tweede verhoor van H. A. Rauter, Bl. 7 f., NIOD, 463, Kart. 1, Mappe Verhooren Rauter.

5.4 Der Reichskommissar in seiner Behörde

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sollte man sie Rauters Vorstellungen entsprechend rein instrumentell lediglich als eine Art von politischer Relaisstation zwischen den deutschen Besatzungsbehörden und der niederländischen Bevölkerung gebrauchen, ohne ihr eine eigenständige politische Rolle zuzugestehen?170 Auch über die Frage, ob und in welchem Umfang den Niederlanden nach dem Krieg in einem nationalsozialistisch dominierten Europa staatliche Selbstständigkeit belassen bzw. zurückgegeben werden sollte oder inwieweit das Land nach dem erwarteten und unermüdlich propagierten Endsieg an das Großdeutsche Reich an- oder in das Reich eingegliedert werden sollte, gab es Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Reichskommissariats: Während Rauter ohne weiteres für eine baldige Annexion eintrat und damit eine Haltung zum Ausdruck brachte, die in SS-Kreisen weit verbreitet war,171 wollte Seyß-Inquart vermeiden, die niederländische Bevölkerung durch eine annexionistische Politik zu verschrecken und die dortigen Kollaborateure noch mehr zu isolieren, als sie es ohnehin von Anfang an waren. Obwohl auch der Reichskommissar als überzeugter SS-Offizier persönlich der großgermanischen Idee nahestand, nahm er aus politischen Gründen auf die NSB Rücksicht, die mehrheitlich für nationale Selbstständigkeit des Landes eintrat. Die Meinungsverschiedenheiten über die zukünftige Stellung der Niederlande im Europa der Nachkriegszeit gingen über rein taktische Überlegungen hinaus, hatten Konsequenzen für die Formulierung und Umsetzung der deutschen Besatzungspolitik und wurden selbst dann noch unvermindert fortgesetzt, als Goebbels am 15. Dezember 1941 die Order ausgab, „das Thema der weiteren staatlichen Behandlung der Niederlande nicht mehr aufzugreifen.“172 Ebenso wenig wie sich die Reichsführung und namentlich Hitler während des Krieges auf eine eindeutig zu verfolgende Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten festlegen wollte, waren sich die Vertreter des NS-Staates in Den Haag in derartig grundlegenden Fragen einig. In politischer Hinsicht war es denn auch die größte Herausforderung für den Reichskommissar, die Differenzen unter den Vertretern der deutschen Besatzungsbehörden unter Kontrolle zu halten, sich ungeachtet interner Differenzen um eine einheitliche Ausrichtung der Besatzungspolitik zu bemühen und zu vermeiden, dass divergierende Haltungen innerhalb der Besatzungsbehörden allzu sehr nach außen drangen und den Gegnern des NS-Regimes Vorlagen für eine propagandistische Ausschlachtung lieferten. Am Erfolg dieser Bemühungen wurde Seyß-Inquart nicht zuletzt von der Führung des Großdeutschen Reiches gemessen. Wollte er nach dem erwarteten deutschen Endsieg weiterhin mit herausragenden politischen Ämtern betraut werden, musste er sich in dieser Hinsicht bewähren. In Hitlers Wahrnehmung dürfte ihm dies letztlich gelungen sein – anders ist nicht zu erklären, dass Seyß-Inquart im April 170 Siehe hierzu Kap. 7. Vgl. auch Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer, 208 f. 171 Vgl. etwa die Denkschrift Völkische Neuordnung West-Europas zur Sicherung des Reiches! von Werner Best (November 1941), referiert in: Herbert, Best, 294 f. Vgl. auch Grunert, Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen, 87 ff. 172 Aktennotiz von Walter Tießler, Bormanns Verbindungsmann zur Reichspropagandaleitung der NSDAP, für die Parteikanzlei vom 15. Dezember 1941, zit. nach: Akten der Partei-Kanzlei, Teil II, Bd. 4, Dok. 42033, 242. Vgl. auch Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 2, 327 (21. November 1941).

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Kapitel 5: Nationalsozialistische Zivilverwaltung

1945 zum Reichsaußenminister bestimmt wurde. Wie er als Reichskommissar versucht hat, in den fünf Besatzungsjahren in der Zusammenarbeit mit den Generalkommissaren eine einheitliche Politik für die Niederlande zu konzipieren und umzusetzen, wird in den folgenden Kapiteln anhand einzelner Politikfelder immer wieder zur Sprache kommen. Wie nun sah die Binnengliederung des Reichskommissariats aus? Durch die Festlegung auf vier Generalkommissare, die sich in Hauptabteilungen, Abteilungen und Referate gliederten, war die Struktur der deutschen Zivilverwaltung Seyß-Inquart schon vor seinem Amtsantritt vorgegeben. Dazu ernannte Seyß-Inquart in den einzelnen Provinzen sowie in den großen Städten Amsterdam und Rotterdam Beauftragte, die ihm persönlich unterstellt waren. Sie hatten dem Reichskommissar regelmäßig über die Situation in ihrem jeweiligen Verwaltungsgebiet zu berichten und mussten dafür Sorge tragen, dass Seyß-Inquarts Anordnungen von den zuständigen provinzialen oder kommunalen Amtsträgern oder Körperschaften der niederländischen Verwaltung in ihrem Sprengel umgesetzt wurden.173 Seyß-Inquart legte Wert darauf, dass seine Beauftragten der Partei angehörten, denn er wollte in den Provinzen keine Verwaltungsbeamten einsetzen, sondern „politisch erfahrene Männer“.174 Bei der ersten Zusammenkunft der Beauftragten am 4. Juni 1940 beschrieb der Reichskommissar deren Stellung und allgemeine Aufgabe folgendermaßen: „Die Entsendung der Beauftragten für die Provinzen sei nötig wegen der vielen autonomen Einrichtungen in den einzelnen Provinzen. Eine genaue Instruktion könne für die Beauftragten nicht gegeben werden. Die Beauftragten wären sozusagen kleine Reichskommissare oder nach früheren Begriffen missi domini.175 Der Beauftragte müsse durch seine Persönlichkeit wirken und die Zentrale über alle wichtigen Angelegenheiten orientieren.“176 Sein Persönlicher Referent Dr. Rudolf Kroiß definierte 1942 die Beauftragten des Reichskommissars für die Provinzen und die beiden Großstädte als „Aufsichtsorgane“, die den elf Kommissaren der Provinzen sowie den Bürgermeistern von Amsterdam und Rotterdam zur Seite gestellt wurden; dies schien aus nationalsozialistischer Sicht notwendig, weil Provinzkommissare und Bürgermeister vor dem Westfeldzug von der niederländischen Königin ernannt worden waren und damit als unsichere Kantonisten galten.177 Sie sollten nun mithilfe der Beauftragten des Reichskommissars auf das NS-Regime hin ausgerichtet werden. Ihre Bindung an das Königshaus und die niederländische Exilregierung sollte terminologisch dadurch geschwächt werden, dass die traditionelle Bezeichnung ‚Kommissar der Königin‘ im Sommer 1940 durch den Begriff ‚Provinzkommissar‘ ersetzt wurde.178 Im 173 Zu ihren Aufgaben vgl. VO 4/1940 vom 3. Juni 1940, § 8, in: VOBl. NL 1940, 14 f. 174 Seyß-Inquart, 1. Bericht, 418; als „Geheime Reichssache“ an Hitler geschickt. 175 Anspielung auf die ‚missi dominici‘, die in fränkischer Zeit in bestimmten Regionen die königliche Zen­ tralgewalt repräsentierten. 176 Aktennotiz vom 6. Juni 1940, NIOD, 14/146. 177 Kroiß, Die Verwaltung des Reichskommissars, 23. 178 Romijn, Burgemeesters, 137. Die Umbenennung erfolgte nicht durch eine Verordnung der Besatzungsmacht, sondern im Rahmen eines Rundschreibens des niederländischen Innenministeriums vom 30. Juli 1940. Die Initiative jedoch war einen Monat vorher vom Reichskommissar ausgegangen; siehe den undatierten Bericht des BdS Hans Emil Nockemann in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 38, 505 mit Anm. 19. In der DZN wurde die Ersetzung des Titels ‚Kommissar der Königin‘ durch ‚Provinz-

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Verhältnis zu den niederländischen Instanzen entsprachen Seyß-Inquarts Beauftragte auf der provinzialen bzw. lokalen Ebene in etwa dem, was der Reichskommissar sowie die Generalkommissare auf der gesamtniederländischen Ebene darstellten. Allerdings verfügten sie für ihren Bereich nur über Kontroll- und Weisungsbefugnisse, nicht jedoch über die Befugnis, Recht zu setzen. Als regionale Kontrollinstanzen der Besatzungsmacht ergänzten die Beauftragten die Generalkommissariate, deren Kompetenzen nach sachlichen Gesichtspunkten ausgerichtet waren. Ihre Einrichtung machte immerhin deutlich, dass die niederländischen Provinzen unter dem NS-System grundsätzlich ebenso wenig beseitigt werden sollten wie die Länder in Deutschland. Doch genauso wie im Reich war angestrebt, die Provinzen, die in den Niederlanden seit jeher ein hohes Maß an Autonomie besessen hatten, unter die Kontrolle der nationalsozialistischen Führung zu bringen. Hierfür erschienen Seyß-Inquart die Beauftragten als „politisch erfahrene Männer“ die geeigneten Werkzeuge zu sein. Da er für ihr Amt keine generellen Instruktionen erließ, hing es von der politischen Geschicklichkeit der einzelnen Beauftragten ab, ob und inwieweit sie ihr Amt zur Zufriedenheit des Reichskommissars ausübten; dies garantierte ihre politische, institutionelle und persönliche Abhängigkeit von Seyß-Inquart. Für seine eigene Amtsführung reservierte sich Seyß-Inquart ein gehöriges Maß an Flexibilität, wenn er dezidiert auf eine konkrete Festlegung der Aufgabenfelder und Arbeitsgebiete seiner Beauftragten verzichtete. Dadurch konnte er je nach situativem Bedarf die Umsetzung der Nazifizierung des Landes und die Durchsetzung von konkreten Maßnahmen in den Provinzen und Kommunen steuern. Zu den Generalkommissariaten und den Beauftragten für die Provinzen und die beiden großen Städte des Landes kamen je nach Bedarf Sonderbeauftragte. Das Recht zu deren Ernennung „für einzelne örtliche oder sachliche Bereiche“ hatte sich Seyß-Inquart in seiner Verordnung über die Ausübung der Regierungsbefugnisse in den Niederlanden selber zugesprochen.179 Das Modell von Sonderbeauftragten konnte er von der Reichsebene übernehmen, wo Hitler oft und gerne reguläre Verwaltungsabläufe mithilfe von allerlei Sonderbeauftragten, -kommissaren und -bevollmächtigten umging, die ihm persönlich unmittelbar unterstellt waren und im Unterschied zu einem großen Teil der Ministerialbürokratie uneingeschränkt hinter dem Nationalsozialismus standen – und die ihm dadurch erlaubten, politische Prozesse zu flexibilisieren und zu radikalisieren.180 Im Unterschied aber zu seinem ‚Führer‘ hat Seyß-Inquart in den Niederlanden nur zurückhaltend Sonderbeauftragte eingesetzt. Dies war etwa der Fall, als er seinen österreichischen Freund Mühlmann zum Sonderbeauftragten für die Sicherung der Kunstschätze in den besetzten niederländischen Gebieten ernannte. Dennoch kommissar‘ in der Ausgabe vom 5. Februar 1941 als ein Rückgriff auf die niederländische Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts dargestellt. 179 VO 3/1940 vom 29. Mai 1940, § 4, in: VOBl. NL 1940, 10. Siehe auch VO 4/1940 vom 3. Juni 1940, §§ 1 und 9, in: ebd., 12 und 15. 180 Reichardt/Seibel, Radikalität und Stabilität, 12-14 und Hachtmann, Elastisch, dynamisch und von katastrophaler Effizienz, 52–59 sehen hierin eine spezifisch nationalsozialistische ‚Neue Staatlichkeit‘, die in ihrer inhärenten Flexibilität und Elastizität insbesondere unter den Bedingungen des Krieges rasche Kommunikation und situationsorientierte Problemlösungen erleichtern sollte.

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Kapitel 5: Nationalsozialistische Zivilverwaltung

wollte auch er nicht auf Flexibilität in der Strukturierung des Reichskommissariats verzichten. So genehmigte sich Seyß-Inquart am 3. Juni 1940 per Erlass eine Generalermächtigung zur „Errichtung und Aufhebung ziviler deutscher Dienststellen“ und zur Festlegung ihrer jeweiligen Zuständigkeitsbereiche.181 Auf diese Weise ließ er sich die Möglichkeit offen, seinen Behördenapparat in Zukunft möglichen neuen Herausforderungen oder gewandelten Bedingungen anpassen zu können. Hiervon machte er beispielsweise Gebrauch, als Fischböck Anfang 1942 als Nachfolger des geschassten Josef Wagner zum Reichskommissar für die Preisbildung ernannt worden war und sich deshalb weniger regelmäßig in den Niederlanden aufhielt. In dieser Situation erklärte Seyß-Inquart in einem behördeninternen Rundschreiben, dass er selber „die notwendige Zusammenfassung der wirtschaftlichen Agenden dadurch sicherstellen [werde], dass ich mich diesem Aufgabenkreis selbst in einem stärkeren Masse widme.“ Bei der Gelegenheit unterstellte er sich gleich Fischböcks Persönlichen Referenten, Dr. Gebhard Holz, für die Bearbeitung aller wirtschaftlichen Angelegenheiten, die in den Zuständigkeitsbereich des Generalkommissariats für Finanz und Wirtschaft fielen.182 Zu einem nennenswerten Umbau des Reichskommissariats ist es allerdings nicht gekommen. In Einzelfällen wurden lediglich innerbehördliche Umschichtungen vorgenommen, um in den besetzten Niederlanden gewandelten Machtverhältnissen in Deutschland bzw. daraus resultierenden Umstrukturierungen der Reichsverwaltung Rechnung tragen zu können. Ein Beispiel hierfür ist Seyß-Inquarts Entscheidung vom April 1942, die Geschäftsgruppe Soziale Verwaltung vom Generalkommissariat für Finanz und Wirtschaft in das Generalkommissariat zur besonderen Verwendung zu transferieren, wo sie gleichzeitig zu einer Hauptabteilung aufgewertet wurde; mit dieser Maßnahme sollte die Erfassung von Niederländern in Übereinstimmung mit den Bemühungen von Fritz Sauckel gebracht werden, im großen Stil Zwangsarbeiter aus den besetzten Ländern für die deutsche Kriegswirtschaft zu rekrutieren.183 Im Zusammenhang mit der Rekrutierung niederländischer Zwangsarbeiter wurde Fischböcks Generalkommissariat auch die Zuständigkeit für die Verteilung der Lebensmittelkarten entzogen; auf Rauters Verlangen hin wurde die Verwaltung des Bezugs solcher Karten und das gesamte Meldewesen dem Höheren SS- und Polizeiführer unterstellt und damit zu einer genuin polizeilichen Angelegenheit gemacht.184 In den Grundzügen aber blieb es bis zur Kapitulati181 VO 4/1940 vom 3. Juni 1940, § 11, in: VOBl. NL 1940, 15. 182 Rundschreiben von Seyß-Inquart an die Generalkommissare und seine Beauftragten vom 16. Juli 1942, NIOD, 14/129. Im November desselben Jahres wurde Oberregierungsrat Dr. Hans Wolfgang Freiherr von Langen-Keffenbrink zu Holz’ Nachfolger ernannt; siehe Seyß-Inquarts Rundschreiben vom 28. November 1942, ebd. 183 Seyß-Inquart an Piesbergen vom 2. April 1942, NIOD, 14/141, Bl. 200187. Diese Maßnahme hing damit zusammen, dass Generalkommissar Schmidt von Sauckel als dem Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz für die Niederlande mit der Verantwortung für den ‚Arbeitseinsatz‘ betraut worden war und hierzu die Verfügung über die Hauptabteilung Soziale Verwaltung benötigte. Siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/2, 666 f. und Sijes, De Arbeidsinzet, 57 f. Zum Arbeitseinsatz siehe auch unten, Kap. 11.4. Im August 1944 wurde Soziale Verwaltung wieder dem Generalkommissariat für Finanz und Wirtschaft eingegliedert. 184 RIOD (Hrsg.), Het Proces Rauter, 55.

5.4 Der Reichskommissar in seiner Behörde

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Abb. 10: Mit dem Melone tragenden Bürgermeister von Rotterdam, Pieter Jacobus Oud, besichtigte der Reichskommissar im Juni 1940 den Hafen von Rotterdam. Links neben Seyß-Inquart ist Rauter zu sehen.

on Deutschlands weitgehend bei jener administrativen Struktur, die Seyß-Inquart am 3. Juni 1940 mit seinem Erlass über den organisatorischen Aufbau der Dienststellen des Reichskommissariats in Kraft gesetzt hatte. Dazu trug auch bei, dass von Seiten der Reichsführung während des Krieges keine grundlegenden Änderungen an der Verwaltung und territorialen Einteilung des niederländischen Raums vorgenommen wurden. Um in Berlin frühzeitig ein Veto gegen mögliche Planungen zu Einschränkungen des niederländischen Territorialbestands einzulegen, bezog Seyß-Inquart schon im Juli 1940 Stellung gegen Gebietsabtretungen an das Reich oder an Belgien. In seinem ersten Bericht an Hitler wandte er sich zum einen dagegen, die Provinz Limburg im Zuge „einer neuen Gaueinteilung“ abzutreten. Zum anderen sprach er sich dagegen aus, die Provinz Seeland, deren Bevölkerung „eigentlich friesischen Ursprungs“ sei, an das Gebiet um das flandrische Antwerpen herum abzutreten.185 Vermutlich waren ihm die damals anlau­ fenden Planungen zur Schaffung von Groß-Antwerpen zu Ohren gekommen. Es dürfte ihm bewusst gewesen sein, dass mit der Realisierung derartiger Pläne dem Hafen von Rotterdam – und damit der Wirtschaft der gesamten besetzten Niederlande – fast buchstäblich das Wasser 185 Seyß-Inquart, 1. Bericht, 428.

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abgegraben worden wäre, und dies konnte nicht im Interesse des Reichskommissars sein.186 Um Rotterdam innerhalb des deutsch beherrschten Raumes nach der Zerstörung durch die deutsche Luftwaffe am 14. Mai 1940 wieder konkurrenzfähig zu machen, sah das Reichskommissariat im Wiederaufbau von Stadt und Hafen denn auch eine wichtige Aufgabe.187 Tatsächlich wurde Seyß-Inquarts ‚Herrschaftsgebiet‘ nicht angetastet. Im Gegenteil, zeitweilig wurden innerhalb der Reichsführung Pläne erwogen, das Territorium der Zivilverwaltung in den Niederlanden auszuweiten. So erhielt Lammers im Oktober 1941 von Hitler den Auftrag, zu prüfen, ob Belgien in einen flämischen und einen wallonischen Landesteil aufgespalten werden könne; während diesem Modell nach für Wallonien Joseph Grohé als Leiter der Zivilverwaltung vorgesehen war, sollte Flandern dem Reichskommissariat für die besetzten niederländischen Gebiete zugeschlagen werden.188 Ein derartiger Plan war unverkennbar ‚völkischen‘ Gesichtspunkten geschuldet – hatte er doch zum Ziel, die niederländischsprachigen Flamen mit der Bevölkerung der Niederlande einer gemeinsamen Besatzungsverwaltung zu unterstellen. Hiergegen wurde jedoch von verschiedenen Seiten und mit unterschiedlichen Begründungen Einspruch eingelegt. Als sich im folgenden Jahr dann auch noch abzeichnete, dass ein rascher Endsieg unwahrscheinlicher und damit eine Neuordnung des europäischen Kontinents nach ethnischen Gesichtspunkten zunehmend schwieriger wurde, wurde der Plan einer Aufteilung Belgiens zugunsten der Wahrung des Status Quo zurückgestellt, auch wenn in den folgenden Jahren von verschiedenen Seiten weiterhin Pläne zu einer möglichen Teilung Belgiens lanciert wurden.189 Noch am 1. Oktober 1942 bestätigte Hitler in einem persönlichen Gespräch Seyß-Inquart gegenüber, „daß eine Vereinigung der flämischen Teile Belgiens mit den Niederlanden nicht in Frage kommt“.190 Erst beim raschen Vorstoß der Alliierten rang sich Hitler Mitte Juli 1944 dazu durch, für Belgien und Nordfrankreich die Militär- durch eine Zivilverwaltung zu ersetzen und Grohé als Reichskommissar für diesen kaum mehr zu haltenden Herrschaftsbereich zu ernennen.191 Auf Seyß-Inquart hatte diese hilflose Reorganisation in seiner Nachbarschaft allerdings keinen unmittelbaren Einfluss, während der Vormarsch der alliierten Truppen auch ‚sein‘ Territorium immer mehr bedrohte. Auch Hitlers leicht dahingeworfene Bemerkung von 1942, man müsse Seyß-Inquart einmal sagen, dass die Friesen diesseits und jenseits der Ems „zu einer Provinz“ zusammengeschlossen werden sollten,192 hatte keinerlei praktische Konsequenzen für das Reichskommissariat in Den Haag: Eine Abspaltung der niederländischen Friesen von den Niederlanden und ihre Vereinigung mit den Friesen in Deutschland in einem gemeinsamen politischen Verband ist 186 Zu diesen Planungen siehe Wouters, De Führerstaat, 114 ff. Im September 1941 wurde tatsächlich Groß-Antwerpen ins Leben gerufen. 187 Vgl. Völckers, Rotterdam. 188 Siehe hierzu Wagner, Belgien in der deutschen Politik, 234–250 und Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 65–68. 189 Vgl. Wagner, Belgien in der deutschen Politik, Kap. IV. 190 Zit. aus einem Aktenvermerk der Reichskanzlei nach: ebd., 255. 191 Hitlers Erlass vom 13. Juli 1944 ist abgedruckt in: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 338, 430–432. Siehe hierzu auch Wagner, Belgien in der deutschen Politik, 286–292. 192 Zit. nach: Picker (Hrsg.), Hitlers Tischgespräche, 255 (5. April 1942).

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Schimäre geblieben. Das Reichskommissariat für die besetzten niederländischen Gebiete war somit von Seiten des Reiches bis Kriegsende keiner nennenswerten Reorganisation der Verwaltungsstruktur und des territorialen Umfangs ausgesetzt. Keinerlei Folgen hatte auch der Plan von Gottlob Berger, Seyß-Inquart ins Generalgouvernement zu versetzen.193 Sein Vorschlag vom Oktober 1942 schloss eine große Personalrochade von Belgien über Norwegen bis Polen ein und ist im Zusammenhang mit der machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen Heinrich Himmler und Hans Frank zu sehen, die im selben Jahr mit dem Ausschluss Franks aus allen Parteiämtern ihren Höhepunkt erreichte. Bergers Vorstoß wurde allerdings nicht einmal von Himmler ernst genommen. Besondere Bedeutung bei der Frage nach Seyß-Inquarts Stellung innerhalb des deutschen Besatzungswesens in Den Haag kommt schließlich der Organisierung der dort lebenden deutschen NSDAP-Mitglieder zu.194 Diese waren bis zum Westfeldzug in der Reichsdeutschen Gemeinschaft (RDG) zusammengefasst, die wie alle Filialen der Auslandsorganisation der Partei Gauleiter Ernst-Wilhelm Bohle unterstanden.195 Mit der raschen militärischen Eroberung der westlichen Nachbarländer sah Bohle eine Gelegenheit, seine Aufsicht über die deutschen Parteimitglieder in den Niederlanden zu stärken. Schon am Tag der Kapitulation der niederländischen Armee betraute er seinen Stabsleiter Bernhard Ruberg anstelle des bisherigen Landesgruppenleiters Dr. Otto Butting kommissarisch mit der Leitung der RDG, die im Juli vorläufig in ‚Landesgruppe Niederlande‘ umbenannt wurde. Nachdem Seyß-Inquart sein Amt in den Niederlanden angetreten hatte, lag ihm daran zu verhindern, dass sich die dortige NSDAP im Zuge der Neuorganisation, die Ruberg forsch in Angriff nahm, zu einem eigenständigen Machtfaktor entwickeln konnte, der sich seiner Kontrolle entzogen hätte. Für ihn galt, Bohles Einfluss in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ so weit wie möglich zu reduzieren und zugleich die deutschen Parteigenossen an die Zivilverwaltung zu binden.196 Während in den besetzten polnischen Gebieten der Generalgouverneur formell die Leitung des dortigen Arbeitsbereichs übernahm,197 wurde in den Niederlanden nicht der Reichskommissar als Leiter der Zivilverwaltung, sondern das Generalkommissariat zur besonderen Verwendung mit der 193 Berger an Himmler vom 21. Oktober 1942, BArch, NS 19/1983, Bl. 1 f. 194 Zum Folgenden siehe auch Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 87–90. De Jong zufolge waren in den Niederlanden knapp 3.000 von den 50.000 Deutschen Parteimitglieder (Het Koninkrijk, Bd. 4/1, 97 f.). Während der Besatzungszeit erhöhte sich ihre Zahl durch den Zuzug von deutschen Beamten, Angestellten und Soldaten einschließlich der Familienangehörigen. 1942 lebten etwa 70.000 Deutsche in den Niederlanden. Siehe Bericht Otto Benes ans Auswärtige Amt vom 6. Oktober 1942, PA AA, R 101102. 195 Zur Geschichte der RDG bis zum Mai 1940 siehe Lademacher, Zwei ungleiche Nachbarn, 159–164. 196 Für Seyß-Inquarts These, dass er mit der Unterstellung der Auslandsorganisation in den Niederlanden unter Generalkommissar Schmidt gegen seine Politik gerichteten Intrigen von Bohle habe entgegentreten wollen (siehe seine Aussage vom 12. September 1946 in: Von Halle, Interrogation Summary Nr. 128, BArch, All.Proz. 2 F/20/883 K [Rolle 68, FC 6128 P], Bl. 30), gibt es keine nachprüfbaren Belege. Insgesamt tragen die Entmachtung Bohles und die Ersetzung der Landesgruppe durch den Arbeitsbereich im Oktober 1940 einen offensiven, keinen defensiven Charakter. 197 Vgl. Krakauer Zeitung vom 9. Mai 1940 und Franks Anordnung über die Errichtung des Arbeitsbereiches Generalgouvernement Polen der NSDAP. vom 6. Mai 1940 in: VOBl. PL 1940, Teil I, 183. Siehe auch Nolzen, Die Arbeitsbereiche der NSDAP, 254.

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‚Betreuung‘ der deutschen NSDAP-Mitglieder beauftragt. So wurde Fritz Schmidt durch eine Parteiverfügung, die Rudolf Heß am 7. Oktober 1940 unterzeichnete,198 zum Leiter der Landesgruppe Niederlande ernannt. Bei dieser Gelegenheit wurde auch die Landesgruppe aus Bohles Auslandsorganisation ausgeschieden und erhielt die offizielle Bezeichnung ‚Arbeitsbereich der NSDAP in den Niederlanden‘. Der Arbeitsbereich in seiner Gesamtheit wiederum wurde ausdrücklich Seyß-Inquart unterstellt. Mit dieser Regelung, deren Anwendung sich auch auf alle Fachämter und parteilichen Untergruppierungen wie Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädel, Nationalsozialistische Frauenschaft oder Nationalsozialistische Volkswohlfahrt bezog, war die bereits erwähnte Doppelfunktion Schmidts formal besiegelt: In seiner Verantwortung für die deutschen Parteigenossen war der Generalkommissar z. b. V. sowohl von der Parteiführung in München als auch vom Reichskommissar in Den Haag abhängig. Seine Doppelstellung wurde durch eine weitere Parteiverfügung noch einmal bestätigt. Im Oktober 1941 bestimmte Bormann, dass Schmidt „in allen internen Parteiangelegenheiten an meine, in allen den politischen Einsatz des Arbeitsbereiches der NSDAP. betreffenden Fragen an die Weisungen und Richtlinien des Reichskommissars und Reichsministers Pg. Seyß-Inquart gebunden“ war. Als Leiter des Arbeitsbereichs habe er für Änderungen in organisatorischer und personeller Hinsicht zuerst die Zustimmung des Reichskommissars einzuholen, ehe er die Parteikanzlei um Genehmigung ansuchen dürfe. Obwohl Schmidt von Bormann „die Rechte eines Hoheitsträgers der NSDAP“ zugesprochen wurden, war der Generalkommissar in der ‚Betreuung‘ der deutschen Parteimitglieder somit zwischen Parteikanzlei und Reichskommissariat eingespannt.199 Während Bohle mehr und mehr an Einfluss im Reich verlor,200 profitierten von der Ausgliederung der Landesgruppe Niederlande aus der AO und der Gründung des Arbeitsbereichs vor allem die folgenden nationalsozialistischen Funktionäre: Fritz Schmidt, weil seine innerparteiliche Position der eines Gauleiters angenähert wurde und er nicht nur für die Beziehungen zu den niederländischen Faschisten, sondern fortan auch für die ‚Betreuung‘ der deutschen Parteigenossen zuständig war; Martin Bormann, weil die Parteikanzlei mithilfe von Weisungen an Schmidt einen unmittelbaren Einfluss auf die NSDAP in den Niederlanden ausüben konnte; und Arthur Seyß-Inquart, weil die ‚Betreuung‘ der Parteigenossen über Schmidts Generalkommissariat in die Strukturen des Reichskommissariats eingepasst wurde.201 Außerdem bot ihm die Einbindung des Arbeitsbereichs in sein Reichskommissa-

198 Verfügung V 9/40 vom 7. Oktober 1940, in: Reichsverfügungsblatt 1940, Ausgabe B, 125, auch abgedruckt in: DZN vom 27. Oktober 1940. 199 Verfügung V 3/41 vom 15. Oktober 1941, in: Reichsverfügungsblatt 1941, Ausgabe A, 143. In dem als „vertraulich“ eingestuften Rundschreiben Nr. 129/41 (BArch, NS 6/335, Bl. 128) hat Bormann am selben Tag eine Anordnung von Reichsschatzmeister Schwarz versendet, die auf eine Verschärfung der Neuaufnahme von Parteimitgliedern in den Niederlanden zielte. 200 Siehe beispielsweise die Aktennotiz des Auswärtigen Amtes vom 18. Juni 1941 (PA AA, R 27630, Bl. 67 f.), der zufolge Bormann und Ribbentrop zeitweilig in Erwägung zogen, Otto Bene als Nachfolger Bohles mit der Leitung der AO zu betrauen. Siehe auch Hausmann, Ernst-Wilhelm Bohle, Kap. II/12. 201 Ähnlich Cohen, Ontstaan en betekenis, 215.

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riat die Möglichkeit, seine Stellung innerhalb der Partei nach außen hin zu stärken.202 Mit der organisatorischen Einbindung der deutschen Parteigenossen in das Reichskommissariat waren jedenfalls die Voraussetzungen geschaffen, um die NSDAP-Mitglieder in jene allgemeine Zielsetzung einzuspannen, die Seyß-Inquart den in den Niederlanden lebenden Deutschen am 27. Oktober 1940 anlässlich der Überführung der Landesgruppe Niederlande in den Arbeitsbereich auf einer Veranstaltung in Utrecht vorgab: „[d]em niederländischen Volk die nationalsozialistische Volksgemeinschaft im großgermanischen Gemeinschaftsbereich vorzuleben und Wirklichkeit werden zu lassen.“203 Um nach der Ausschaltung von Bohle und Ruberg Befürchtungen über weitergehende personelle Veränderungen unter den Parteimitgliedern entgegenzutreten, versicherte er bei derselben Gelegenheit, „dass der organisatorische Aufbau und Ihr persönlicher Einsatz, also Ihre Parteifunktion [,] unverändert übernommen werden als Ausgangsstellung für den neuen Aufgabenkreis.“204 Die Bedeutung der Reorganisation des deutschen Parteiwesens in den besetzten Niederlanden reichte aber über die deutschen NSDAP-Mitglieder hinaus. Wie die Bezeichnung ‚Reichskommissariat‘ für den Bereich der staatlichen Verwaltung eine besondere Beziehung zum Deutschen Reich deutlich machen sollte, wurde mit der Ausgliederung der Landesgruppe aus der Auslandsorganisation der NSDAP auch für den Parteisektor signalisiert, dass die Niederlande aus Sicht der NS-Führung nicht mehr umstandslos als Ausland galten. Mit der Gründung des Arbeitsbereichs war potenziell eine Grundlage geschaffen, auf der eine Umwandlung in einen Reichsgau nicht ausgeschlossen war. In einer solchen Perspektive lässt sich die Errichtung des Arbeitsbereichs der NSDAP in den Niederlanden als eine Option lesen, mit der eine spätere Eingliederung des Landes in das Großdeutsche Reich oder in ein Großgermanisches Reich, dessen Gründung im Falle eines deutschen Sieges nach Kriegsende auf der Tagesordnung gestanden hätte, von langer Hand vorbereitet wurde. Schon Zeitgenossen sagten dem umtriebigen Schmidt nach, er habe genau dieses Ziel zur Beförderung seiner eigenen Karriere verfolgt. Seyß-Inquart jedenfalls unterstellte seinem früheren Generalkommissar z. b. V. bald nach Kriegsende, eine „Gauleiter[-]aehnliche Stellung“ angestrebt zu haben.205 Nach Schmidts Tod brachte Rauter den Vorschlag auf, dafür zu sorgen, dass Seyß-Inquart zum Leiter des Arbeitsbereichs ernannt werde. Auf diese Weise könne in den Niederlanden eine dem Generalgouvernement und Norwegen vergleichbare Konstellation erreicht werden, wo der jeweilige Chef der Zivilverwaltung zugleich der „Hoheitsträger in der NSDAP“ sei. 202 So auch Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 90. Angesichts der Vorteile, die die Errichtung des Arbeitsbereichs und seine Unterstellung unter Generalkommissar Schmidt für Seyß-Inquart bedeutete, ist Rauters Aussage wenig überzeugend, der Reichskommissar habe sich in dieser Angelegenheit gegen seine eigenen Intentionen von Schmidt drängen lassen. Siehe Tweede verhoor van H. A. Rauter, NIOD, 463, Kart. 1, Mappe Verhooren Rauter, Bl. 7. 203 Seyß-Inquart, Übernahme der AO, 35. 204 Zit. nach: DZN vom 28. Oktober 1940. Zur Reorganisation des Arbeitsbereichs siehe Nolzen, Die Arbeitsbereiche der NSDAP, 262 f. 205 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 114. Bedenkenswert ist Grunerts Überlegung, dass Schmidts Bestrebungen „einen noch unverhohleneren Imperialismus dar[stellten] als die SS-Konzeption eines ‚Großgermanischen Reichs‘.“ (Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen, 71, Anm. 46)

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Mit einem solchen Modell wollte Rauter letztendlich die Position des SS-Komplexes stärken. Denn hierbei sei man bei politischen Entscheidungen in Zukunft nicht immer auf einen Parteiführer angewiesen, der in Den Haag die Interessen der Parteikanzlei vertrete. Vielmehr hätte Himmler „einen viel stärkeren Einfluss auf die Entwicklung der Dinge in den Niederlanden, wenn der R[eichs]K[ommissar] auch auf diesem Gebiete verantwortlich ist“. Dabei ging der Höhere SS- und Polizeiführer wie selbstverständlich davon aus, dass SS-Obergruppenführer Seyß-Inquart als ein Vertreter von großgermanisch ausgerichteten Interessen des SS-Apparates anzusehen sei, und die prinzipiell kooperative Haltung des Reichskommissars gegenüber Himmler mochte eine solche Einschätzung als begründet erscheinen lassen. Rauter war allerdings bewusst, dass sein Vorschlag kaum realisierbar war und nicht nur am Widerspruch aus Parteikreisen unter Einschluss von Martin Bormann von vornherein zum Scheitern verurteilt sein musste, sondern auch Seyß-Inquarts Bestreben zuwiderlief, „das Generalkommissariat z. b. V. […] nicht einfach verschwinden zu lassen.“206 Realistischer war die Ernennung des früheren Beauftragten des Reichskommissars für die Provinz Nordbrabant, Wilhelm Ritterbusch, zum Generalkommissar zur besonderen Verwendung und zum Leiter des Arbeitsbereichs der NSDAP in den Niederlanden. Diesen Vorschlag hatte Oberbereichsleiter Friedrichs bereits am Tag nach Schmidts Tod unterbreitet,207 und auch Rauter konnte sich mit einer solchen Personalentscheidung anfreunden. Aus seiner Sicht sprach für Ritterbusch, der seit Herbst 1941 in der Münchener Parteikanzlei gearbeitet hatte, dass es sich um „einen ruhigen, sehr ordentlichen Charakter pastoraler Prägung“ handelte, der „politisch gestaltend nicht eingegriffen“ habe. Mit anderen Worten: Dem SS-Apparat kam eine Persönlichkeit entgegen, die politisch schwach war und aus diesem Grund im Unterschied zu Schmidt dem Ausbau des SS-Einflusses in den Niederlanden keine Steine in den Weg legen würde.208 Dies entsprach denn auch der Forderung Himmlers, der für die Nachfolge Schmidts ausdrücklich „einen geraden Vertreter der Groß-Germanischen Linie“ forderte.209 Nachdem Himmler und Bormann sich in dieser Frage zügig geeinigt hatten, wurde Ritterbusch Mitte Juli 1943 von Hitler zum Generalkommissar und Leiter des Arbeitsbereichs ernannt.210 Von Anfang an wurde dem neuen Leiter der NSDAP in den Niederlanden bedeutet, dass er einen wesentlich begrenzteren Spielraum besitzen würde als sein Amtsvorgänger. In einer dreistündigen Besprechung unterstrichen Seyß-Inquart und Rauter am 30. Juli die Notwendigkeit der Loyalität gegenüber dem Reichsführer-SS und stellten klar, dass die Germanische Leitstelle entsprechend der Absprache, die Himmler und Seyß-Inquart im Juni 1943 in Lindau getroffen hatten, Rauter als dem HSSuPF Nordwest und dem Reichskommissar, „der im holländischen Raum Vertreter 206 Rauter an Himmler vom 29. Juni 1943, BArch, NS 19/1556, Bl. 105. 207 Friedrichs’ Fernschreiben aus Paris an Bormann vom 26. Juni 1943 findet sich in: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 2, Nr. 27388. 208 Fernschreiben Rauters an Himmler vom 28. Juni 1943, BArch, NS 19/1556, Bl. 102 f. 209 Fernschreiben Werner Grothmanns (RSHA) an Rauter vom 30. Juni 1943, ebd., Bl. 108. 210 Die offizielle Bekanntmachung des Reichskommissars über die Berufung Ritterbuschs zum Generalkommissar z. b. V. erfolgte allerdings erst im Dezember 1943; siehe VO 118/1943 vom 11. Dezember 1943, in: VOBl. NL 1943, 376.

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des Führers auf allen Gebieten sei“, unterstellt sei. Dies sei auch von Ritterbusch anzuerkennen. Er habe als Generalkommissar und Leiter des Arbeitsbereichs „im Interesse des Ganzen in guter Kameradschaft mit dem Höheren SS- und Polizeiführer zusammen [zu] arbeiten.“211 Eine eigenständige Parteiarbeit war damit von vornherein so gut wie ausgeschlossen, und tatsächlich sind Ritterbuschs Versuche, sich selbst und den Arbeitsbereich stärker ins Spiel zu bringen, gescheitert.212 Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass für das ‚Funktionieren‘ des Reichskommissariats regelmäßige Besprechungen Seyß-Inquarts mit seinen engsten Mitarbeitern notwendig waren. So kamen die vier Generalkommissare sowie der Vertreter des Auswärtigen Amtes Bene freitags zwischen zehn und dreizehn Uhr in Seyß-Inquarts Büro zu Besprechungen zusammen, sofern sich der Reichskommissar zu diesem Zeitpunkt in Den Haag aufhielt. Soweit bekannt, wurden hierüber keine Notizen angefertigt oder Protokolle geführt. In der Nachkriegszeit berichtete Rauter über die Dienstbesprechungen: „Es wurden keine Beschlüsse genommen. Seyss-Inquart hat in den Sitzungen allerhand Sachen angeschnitten und sich von allen Seiten sehr eingehend informieren lassen. Jeden Tag wurde auch mit dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei über die polizeilichen Aufgaben gesprochen. Auf allen möglichen Gebieten hat er [Seyß-Inquart] sich interessiert [,] und dann hat Seyss-Inquart persönlich seine Beschlüsse gefasst. Das war das Führerprinzip.“213 Rauters Darstellung von 1947 deckt sich mit Aussagen, die andere ehemalige Mitarbeiter des Reichskommissariats wie Wimmer oder Seyß-Inquarts Persönlicher Referent, Dr. Hermann Harster, nach Kriegsende gemacht haben, und wird im Kern nicht unzutreffend sein.214 Es ist allerdings allzu offensichtlich, dass Rauter Wert darauf legte herauszustellen, dass die Chefbesprechungen rein konsultativen Charakter besessen hätten und Seyß-Inquart gegenüber seinen engsten Mitarbeitern einen autoritären Führungsstil gepflegt habe. Da der frühere HSSuPF damals – ebenso wie Wimmer – sich selbst angesichts des bevorstehenden Gerichtsprozesses gegen ihn entlasten wollte, versuchte er erkennbar, Verantwortung auf den mittlerweile hingerichteten Reichskommissar abzuwälzen. In der umfangreichen Korrespondenz, die Rauter während der Besatzungszeit mit Himmler geführt hatte, hatte er demgegenüber öfters triumphierend unterstrichen, dass sich Seyß-Inquart von seinen Argumenten habe überzeugen lassen. Diese Beobachtung mahnt zu einer vorsichtigen Interpretation von Rauters Ausführungen aus dem Jahr 1947. In unzähligen Fällen wird Seyß-Inquarts Umgang mit den Generalkommissaren wohl kaum ausschließ211 Rauter an Himmler vom 31. Juli 1943, BArch, NS 19/3363, Bl. 106–108. 212 Selbst Bormann wies ‚seinen‘ Generalkommissar in die Schranken, als dieser in den letzten Kriegsmonaten den Vorschlag unterbreitete, die niederländischen Flüchtlinge und Zwangsarbeiter im Deutschen Reich durch niederländische Faschisten ‚betreuen‘ zu lassen. Siehe Nolzen, Die Arbeitsbereiche der NSDAP, 266268. 213 Tweede verhoor van H. A. Rauter, NIOD, 463, Kart. 1, Mappe Verhooren Rauter, Bl. 12. Rauter sprach von „Regierungssitzungen“, während Generalkommissar Schmidt in seinem Tagebuch den Begriff „Ministerbesprechung“ verwendete (ebd., Mappe Dagboek Schmidt 1940, passim). Ich gebe dem Ausdruck „Chefbesprechung“, der in zahlreichen anderen zeitgenössischen Quellen auftaucht, den Vorzug. 214 Siehe Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 346 und das Gespräch von Cohen und De Jong mit Harster vom 14. April 1949 in NIOD, Coll. Doc. I, 248-0638A/a2, Bl. 2.

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lich vom Führerprinzip geleitet gewesen sein, sondern vom Bestreben, ungeachtet seiner herausgehobenen Position mit seinen engsten Mitarbeitern auf konstruktive und kollegiale Weise zusammenzuarbeiten, um die verschiedenen, mitunter divergierenden Interessen im Hinblick auf die Formulierung einer möglichst einheitlichen Linie abzustimmen. Dies dürfte auch für die anlassbezogenen Gespräche gelten, die er neben den Chefbesprechungen oftmals mit einzelnen Generalkommissaren, Beauftragten, Wehrmachtbefehlshaber Christiansen oder untergeordneten Mitarbeitern der Besatzungsverwaltung geführt hat. Seyß-Inquarts Besprechungen mit seinen Beauftragten für die Provinzen sowie die Städte Amsterdam und Rotterdam fanden anfangs in der Regel 14-tägig dienstagnachmittags statt und konnten bei Bedarf am folgenden Vormittag fortgesetzt werden. 1941 wurde der Rhythmus dieser Zusammenkünfte „auf Anordnung des Herrn Reichskommissars“ auf vier Wochen verlängert. 215 Sowohl die Generalkommissare als auch die Beauftragten waren verpflichtet, Seyß-Inquart jeden Monat schriftlich Bericht zu erstatten.216 Auf diese Weise war der Reichskommissar im Verein mit den Berichten, die er vom Sicherheitsdienst erhielt, relativ gut über die Stimmung wie auch über Probleme in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ unterrichtet. Für die Alltagsarbeit hilfreich war vermutlich, dass der Großteil der wichtigsten deutschen Behörden im Den Haager Stadtzentrum angesiedelt war. Seyß-Inquarts Büro befand sich in einem repräsentativen klassizistischen Gebäude aus dem 18. Jahrhundert. Dasselbe Gebäude am Plein 23, in dem bis zur Flucht der königlichen Regierung das niederländische Außenministerium seinen Sitz gehabt hatte, beherbergte auch die Stabs- und die Präsidialabteilung des Reichskommissars sowie das Büro von Generalkommissar Schmidt. In unmittelbarer Nähe ließen sich die Dienststellen anderer militärischer und ziviler Besatzungsinstanzen nieder. Wehrmachtbefehlshaber Christiansen bezog im früheren Kriegsministerium am Plein 4 Quartier, Rauter mit den Befehlshabern der Ordnungs- und der Sicherheitspolizei im ehemaligen Kolonialministerium am Plein 1. Die Generalkommissare Wimmer und Fischböck nahmen Gebäude am Lange Vijverberg bzw. in der Alexanderstraat in Gebrauch.217 Auf diese Weise konzentrierte sich der deutsche Verwaltungsapparat im Umfeld des ehemaligen Parlaments- und Regierungsviertels des niederländischen Königreichs. 5.5 Justizwesen und Gnadenrecht

Ähnlich wie im Bereich der staatlichen Verwaltung beließ das Reichskommissariat das etablierte niederländische Justizwesen im Prinzip in jenen Strukturen, die entsprechend der dortigen Rechtsordnung vor dem Westfeldzug in Geltung gewesen waren. Lediglich die niederlän215 Rundschreiben von Piesbergen vom 11. November 1940 und vom 3. April 1941, NIOD, 14/111 und 112. 216 Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 346. Siehe auch Rundschreiben Piesbergens an die Generalkommissare und die Beauftragten vom 12. Mai 1942, NIOD, 14/114. Deren Berichte nahm Seyß-Inquart im selben Monat zur Grundlage, um Hitler einen Rückblick auf zwei Jahre Reichskommissariat zu geben; siehe Rundschreiben Piesbergens vom 29. Mai 1942, ebd. 217 Laurentius, De residentie van Seyss-Inquart, 138.

5.5 Justizwesen und Gnadenrecht

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dischen Militärgerichte wurden im Frühjahr 1941 aufgelöst, die dort anhängigen Verfahren wurden an die ordentlichen Gerichte des Landes übergeben.218 Autonomie gestand die Besatzungsmacht den einheimischen Gerichten und Staatsanwaltschaften allerdings ebenso wenig zu wie den übrigen niederländischen Behörden. Im Gegenteil, das einheimische Rechtswesen sah sich von Anfang an massiven Eingriffen ausgesetzt, die auch die Justiz Nazifizierung und Gleichschaltung aussetzten.219 Dies lässt sich insbesondere an drei Umständen festmachen. Erstens verpflichtete Seyß-Inquart noch am Tag seines Amtsantritts die niederländischen Richter zur gewissenhaften Befolgung aller Ver- und Anordnungen der Besatzungsmacht sowie zum Verzicht auf alle Handlungen, die als ‚deutschfeindlich‘ hätten ausgelegt werden können. Außerdem verstand es sich von selbst, dass Gerichtsurteile nicht länger im Namen der Königin, sondern im Namen „des Rechts“ zu fällen waren, und dieses Recht wurde im Laufe der Zeit durch den Erlass einschlägiger Verordnungen immer nationalsozialistischer. Schließlich reklamierte der Reichskommissar für sich das Recht, Gerichtsurteile vor der Vollstreckung zu bestätigen.220 Zweitens griff das Reichskommissariat in die Besetzung von Justizämtern ein. Die rechtliche Grundlage hierfür schuf sich Seyß-Inquart im August mit Verordnung 108/1940. In ihr reklamierte er für sich das Recht zur Ernennung und Entlassung von niederländischen Spitzenbeamten unter Einschluss der Richter und Staatsanwälte.221 Von dieser Selbstermächtigung hat er bald darauf ausgiebig Gebrauch gemacht: Noch im Sommer 1940 entließ der Reichskommissar drei von fünf Generalstaatsanwälten, mit Dr. Robert van Genechten (Den Haag) und Wilhelmus de Rijke (Arnheim) besetzte er die Stellen mit zwei NSB-Mitgliedern nach. Auch die Verordnung, mit der Seyß-Inquart im Juli 1941 die Altersgrenze für Richter und den Oberstaatsanwalt beim Obersten Gerichtshof, dem Hooge Raad, von 70 auf 65 Jahre herabsetzte, bedeutete einen Eingriff der Besatzungsmacht.222 Sie bot dem Reichskommissariat im Verein mit Verordnung 108/1940 die Möglichkeit einer allmählichen ‚Säuberung‘ des niederländischen Justizapparats: Ältere Richter, die fast durchweg dem niederländischen Königtum verbunden waren, konnten nun leicht durch jüngere Juristen ersetzt werden, die dem Nationalsozialismus nahestanden. Aus nationalsozialistischer Sicht selbstverständlich war, dass jüdische Advokaten, Richter, Staatsanwälte und Notare mit einem Berufsverbot belegt wurden,223 und Juristen, die es wagten, sich in Widerspruch zur Besatzungspolitik zu setzen, wurden gelegentlich aus dem Amt entfernt. Dieses Schicksal widerfuhr den Leeuwardener Richtern Dr. Frans Frederik Viehoff und Jan Wedeven, die am 25. Februar 1943 in einem Gerichtsurteil unmissverständlich Kritik an den unmenschlichen Zuständen, denen niederländische Strafgefangene im Lager ‚Erika‘ zu Ommen (Provinz Overijssel) ausgesetzt waren, 218 VO 56/1941 von Generalsekretär Johannes Petrus Hooykaas vom 19. März 1941, in: VOBl. NL 1941, 193–197. 219 Vgl. hierzu auch Von Frijtag Drabbe Künzel, Political Justice in the Netherlands. 220 VO 3/1940 vom 29. Mai 1940, §§ 6 und 7, in: VOBl. NL 1940, 10 f. 221 VO 108/1940 vom 20. August 1940, § 1, in: ebd., 338. 222 VO 130/1941 vom 18. Juli 1941, in: VOBl. NL 1941, 538 f. 223 Siehe hierzu Kap. 8.1.

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geäußert hatten. Ihre mutige Klage, dass das nationalsozialistische Deutschland unter Verstoß gegen niederländische Gesetze und unter Missachtung der Urteile niederländischer Gerichtshöfe Straftäter hingerichtet hatte, nahm Seyß-Inquart Anfang April zum Anlass, Viehoff und Wedeven auf Anregung des Generalsekretärs für Justiz, Jacobus Johannes (Jaap) Schrieke, zu entlassen.224 An seiner Entscheidung vermochte auch die Protestnote nichts zu ändern, in der sieben Präsidenten und Vizepräsidenten anderer Gerichtshöfe des Landes Anfang Mai 1943 die Absetzung von Viehoff und Wedeven zutreffend als „eine Verletzung der im internationalen Recht hochgehaltenen und auch durch Sie, Herr Reichskommissar, garantierten Unabhängigkeit der Rechtspflege“ brandmarkten.225 Auch zögerte Seyß-Inquart nicht, den Rotterdamer Anwalt Dr. Floris Bertold Bakels, der Ende November 1942 wegen der Mitgliedschaft in der Widerstandsgruppe Leeuwengarde [Löwengarde] vom Feldkriegsgericht Luftgau Holland zu KZ-Haft verurteilt worden war und in Natzweiler einsaß, aus der Liste der Anwälte zu streichen.226 Seyß-Inquart begnügte sich also nicht damit, die rechtlichen Grundlagen für eine Nazifizierung des niederländischen Rechtswesens zu legen. Schon die wenigen genannten Beispiele zeigen, dass er auch aktiv Personalentscheidungen fällte. Entscheidend für die Justizgeschichte unter der deutschen Herrschaft sollte der dritte Umstand sein, der einer Autonomie des autochthonen Rechtswesens im Weg stand und einen radikalen Bruch mit den Werten bedeutete, auf denen die liberale Tradition der niederländischen Rechtsstaatlichkeit beruht hatte: Die deutsche Verwaltung baute ein eigenständiges, vielgliedriges Justizsystem auf, das sich an der Rechtsordnung des Großdeutschen Reiches orientierte und im besetzten Gebiet der Durchsetzung von ‚Recht und Ordnung‘ im Sinne der Besatzungsmacht, der Bestreitung von Resistenz und der allmählichen Nazifizierung dienstbar war. Auf den Wehrmachtsgerichten, den Deutschen Gerichten, den SS- und Polizeigerichten und der von der Besatzungsmacht unterstützten Friedensgerichtsbarkeit liegt in der folgenden Darstellung der Akzent. Die erste Art von deutschen Gerichten, die im Reichskommissariat eine rechtliche Grundlage erhielt, waren die Wehrmachtsgerichte. Als Gerichtsherr fungierte General Christiansen. In dieser Funktion unterstanden dem Wehrmachtbefehlshaber die Kriegsgerichte der drei Wehrmachtsteile: das Feldgericht des Kommandierenden Generals und Befehlshabers im Luftgau Holland mit Sitz in Amsterdam (später Herzogenbusch); das Marinegericht mit Sitz in Scheveningen (später Utrecht), 1943 in ‚Gericht des Admirals in den Niederlanden‘ um224 In französischer Übersetzung sind das Leeuwardener Gerichtsurteil und Seyß-Inquarts Entlassungsverfügung für Viehoff abgedruckt in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 38, Dok. RF-931, 695–697. Zu diesem Vorgang siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/2, 638 f. und 694 f. mit Wiedergabe der Urteilsbegründung auf Niederländisch. Eine Abschrift des Urteils auf Deutsch befindet sich in: ÖGZ-A, NL-61, DO 714, Mappe 336, Bl. 42 f. Eine Mitteilung über die Absetzung von Viehoff und Wedeven erschien auch in verschiedenen Presseorganen wie dem Nieuwsblad van Friesland vom 12. April 1943. 225 Zit. nach: De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/2, 694. 226 Das Schreiben Seyß-Inquarts an Bakels ist als Faksimile abgedruckt in der niederländischen Ausgabe von Bakels’ Memoiren Nacht und Nebel, 167; in die deutsche Ausgabe von 1982 wurde es nicht aufgenommen. Vgl. auch Meihuizen, Smalle marges, 130.

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benannt; und das Heeresgericht mit Sitz in Utrecht.227 Zu diesen Gerichten hieß es in einer Verordnung des Reichskommissars vom 8. Juni 1940 kurz und bündig: „Der Wehrmachtsgerichtsbarkeit unterliegen Zivilpersonen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit für Straftaten, die 1) sich gegen die deutsche Wehrmacht, ihre Angehörigen oder ihr Gefolge richten oder 2) in Gebäuden, Räumlichkeiten oder Anlagen begangen werden, die den Zwecken der deutschen Wehrmacht dienen.“228 Aus der klaren Beschränkung der Aufgaben der Militärgerichtsbarkeit auf jene Fälle, in denen die Wehrmacht unmittelbar betroffen war, wird deutlich, dass Seyß-Inquart als Chef der Zivilverwaltung sehr genau darauf achtete, auch auf dem Justizsektor militärische von zivilen Angelegenheiten zu trennen. Für alle anderen Fälle, die sich allgemein gegen die Besatzungsmacht oder das Deutsche Reich richteten, sollten deutsche Strafgerichte zuständig sein. Vor ihnen sollten auch Deutsche angeklagt werden können, während sich die Kompetenz der Militärgerichte ja ausdrücklich nur auf „Zivilpersonen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit“ bezog.229 Schon in seiner Verordnung vom 8. Juni 1940 hatte Seyß-Inquart dem Gerichtsherrn eines Wehrmachtsgerichts die Möglichkeit eröffnet, Verfahren an die „sonst zuständigen Strafverfolgungsbehörden“ abzugeben,230 und die wurden am 17. Juli 1940 durch Verordnung 52/1940 in Form eines Landesgerichts, eines Obergerichts und einer gemeinsamen Staatsanwaltschaft gegründet.231 Die Einrichtung einer zivilen deutschen Strafjustiz war nicht selbstverständlich: Wie Geraldien von Frijtag Drabbe Künzel gezeigt hat, unterschied sich der gelernte Rechtsanwalt Seyß-Inquart in diesem Punkt fundamental von seinem Kollegen Terboven, der eine analoge Regelung für Norwegen explizit ausschloss und die justizielle Ahndung von antideutschen Akten längere Zeit weitestgehend den Wehrmachtsgerichten überließ.232 Wie war die deutsche Strafgerichtsbarkeit beschaffen, die Seyß-Inquart mit der genannten Verordnung 52/1940 einführte? Das Landesgericht entsprach einem Amtsgericht im Deutschen Reich, das Obergericht einem Landgericht; beide hatten ihren Sitz in Den Haag (§§ 3 und 4).233 Das Landesgericht fungierte als erste Instanz und durfte Zuchthausstrafen bis zu fünf Jahren, Gefängnis und andere Formen von Haft sowie Geldstrafen verhängen. Das dreiköpfige Obergericht agierte als Berufungsinstanz und urteilte erstinstanzlich in allen Fällen, die über den Strafrahmen des Landesgerichts hinausgingen. Während gegen Urteile 227 Thomas, Wehrmachtjustiz und Widerstandsbekämpfung, 142. 228 VO 12/1940 vom 8. Juni 1940, § 1, in: VOBl. NL 1940, 26 f. 229 Siehe hierzu auch Seyß-Inquart an Lammers vom 30. Mai 1940, IfZ, IMG-Dok. NG-365. 230 VO 12/1940 vom 8. Juni 1940, § 2, in: VOBl. NL 1940, 27. 231 VO 52/1940 vom 17. Juli 1940, in: ebd., 181–190. Vgl. auch die Änderungen in VO 123/1941 vom 5. Juli 1941 (VOBl. NL 1941, 522 f.) und in VO 56/1942 vom 21. Mai 1942 (VOBl. NL 1942, 282 f.) sowie die Neufassung in VO 72/1942 mit Anlage vom 6. Juli 1942 (ebd., 346–356) mit Änderung in VO 50/1943 vom 14. Mai 1943 (VOBl. NL 1943, 191 f.). 232 Von Frijtag Drabbe Künzel, Rechtspolitik im Reichskommissariat. 233 Dass das Landesgericht in den meisten Fällen als erstinstanzliches Gericht fungierte, wurde begrifflich erst in VO 71/1942 vom 6. Juli 1942 klargemacht (§ 1, III). Hier wurde aber auch die Bestimmung eingeführt, dass das Obergericht in jenen Fällen als „Gericht des ersten Rechtszugs“ auftrat, in denen die Anklageerhebung von der Staatsanwaltschaft ausging (§ 1, V). Siehe VOBl. NL 1942, 340 f.

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des Landesgerichts Berufung zulässig war, wurden Berufung und Revision gegen Urteile des Obergerichts ausgeschlossen (§§ 7 und 9). Generell ahndeten die beiden Instanzen der Deutschen Gerichte in den Niederlanden Straftaten, die von deutschen Staatsangehörigen oder von Angehörigen des Reichsprotektorats begangen wurden. Zum anderen lag ihre Aufgabe in der Verfolgung und Aburteilung von Straftaten, die sich gegen das Großdeutsche Reich, die NSDAP und ihre Mitglieder oder angeschlossene Verbände richteten, und zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit des betreffenden Täters. Auch Straftaten, die von Deutschen oder Nichtdeutschen an deutschen Staatsbürgern, Gebäuden oder sonstigen Einrichtungen begangen wurden, fielen in ihre Zuständigkeit (§ 2). Die Verfolgung von Straftaten, die „von geringer Bedeutung“ waren und deren Urheber weder die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen noch aus dem Protektorat stammten, konnten an die niederländischen Gerichte abgegeben werden; solche Fälle wurden dann nach niederländischem Recht behandelt (§ 13). Bei den Fällen hingegen, die vor den Deutschen Gerichten verhandelt wurden, wurde das im Reich geltende Recht, das von der Besatzungsmacht in den Niederlanden gesetzte Recht sowie das niederländische Strafrecht unter Einschluss der Bestimmungen, die die Generalsekretäre aufgrund der Ermächtigung durch den Reichskommissar während der Besatzungszeit setzten, zugrunde gelegt (§ 17). Dabei verstand es sich für NS-Juristen von selbst, dass „jeweils dasjenige Recht angewandt werden [soll], das die schwerere Strafe zuläßt“, und es galt als ausgemacht, dass dies „stets die deutschen Strafvorschriften gegen Hochverrat sein [werden]“.234 Angesichts des Umfangs, den die deutsche Gerichtsbarkeit im besetzten Land annahm, erscheint es geradezu untertrieben, wenn Seyß-Inquart kurz vor Veröffentlichung von Verordnung 52/1940 Reichsjustizminister Dr. Franz Gürtner schrieb: „[…] wir wollen in den Niederlanden keine neue Gerichtsbarkeit aufbauen bezw. [sic] die Verwaltung der niederländischen Gerichtsbarkeit übernehmen, sondern diese nur politisch überwachen und steuern. Eine eigene Gerichtsbarkeit wird nur in Strafsachen aufgebaut […].“235 Der Reichskommissar hatte nach Verordnung 52/1940 mehrere Möglichkeiten, in seinem Sinne in das Justizwesen einzugreifen: Ihm oblag die Bestellung der Richter, und er behielt sich die Zulassung der niederländischen Anwälte vor, die als Verteidiger vor Deutschen Gerichten tätig werden durften (§§ 5 und 16). Außerdem hatte er die Entscheidung, in welchen Fällen eine Strafverfolgung „von einer behördlichen Zustimmung oder Anordnung abhängig ist“ (§ 18), und er konnte rechtskräftige Urteile der Deutschen Gerichte nach einer entsprechenden Beschwerde des Deutschen Generalstaatsanwalts in den Niederlanden aufheben und zur Neuverhandlung an das Deutsche Obergericht verweisen (§ 21). Schließlich besaß er die Kompetenzkompetenz, also die Entscheidung, ob in Zweifelsfällen ein deutsches oder ein 234 So der kommissarische Reichsjustizminister Franz Schlegelberger an Lammers vom 20. August 1941, BArch, R 43 II/675a, Bl. 68. Nur in Ausnahmefällen konnte Schlegelberger zufolge „von der Anwendung des schwereren deutschen Rechts abgesehen und die Sache nach einheimischem Recht beurteilt werden, wenn im Einzelfalle die Anwendung des deutschen Rechts eine ungerechtfertigt schwere Härte bedeuten würde.“ Dabei bezog er sich auf § 17, Abs. 3 von VO 52/1940. 235 Seyß-Inquart an Gürtner vom 9. Juli 1940, NIOD, 266/BBT 720 (auszugsweise Abschrift). Verharmlosend auch sein Rückblick in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 705.

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niederländisches Gericht für zuständig erklärt wurde (§ 22). Ein Weisungsrecht gegenüber Richtern oder Staatsanwälten besaß der Reichskommissar zwar nicht. Doch insgesamt garantierte Verordnung 52/1940, dass der Chef der deutschen Zivilbehörde fest in dem von ihm initiierten Rechtswesen verankert war. Damit war die Justiz hier ebenso wenig vor politischer Beeinflussung gefeit wie im Großdeutschen Reich. Die Abhängigkeit der Justiz vom Reichskommissar wurde noch dadurch erhöht, dass es ab Juli 1942 nicht mehr der Mitwirkung des Generalstaatsanwalts bedurfte, um Urteile der Deutschen Gerichte aufzuheben. In Verordnung 71/1942236 schrieb Seyß-Inquart sich selber unmittelbar das Recht zu, Urteile eines Deutschen Gerichts anzuzweifeln, die er für „ungerecht“ oder für bedenklich hielt, und ihre Neuverhandlung vor dem neu gebildeten Besonderen Senat des Obergerichts anzuordnen. Dabei war der Senat „an die Rechtsauffassung gebunden, die der Reichskommissar seiner Anordnung gegebenenfalls beigibt.“ Die Abhängigkeit dieses Besonderen Senats vom Reichskommissar wurde dadurch unterstrichen, dass dessen drei Richter von ihm selbst ernannt wurden. Damit steigerte Seyß-Inquart noch einmal seine Zugriffsmöglichkeit auf die Deutschen Gerichte, mehr als zuvor wurden sie politische Instrumente in der Hand des Reichskommissars. Die Politisierung der Strafverfolgung wurde auch dadurch unterstrichen, dass Seyß-Inquart im Hinblick auf die Rechtsprechung der Deutschen Gerichte wie auch der niederländischen Gerichtshöfe das Gnadenrecht ausübte. Dies tat er wohlgemerkt nicht aus eigenem Recht, sondern aufgrund einer speziellen Ermächtigung durch Hitler: Am 20. Dezember 1940 unterzeichnete der ‚Führer‘ den Erlass über die Ausübung des Gnadenrechts in den besetzten niederländischen Gebieten, der neben dem Recht, Begnadigungen auszusprechen oder abzulehnen, auch die Ermächtigung enthielt, Verfahren niederzuschlagen.237 Damit bekam Seyß-Inquart Befugnisse, die Hitler während des Krieges auch an andere Leiter national­ sozialistischer Zivilverwaltungen wie Hans Frank (Generalgouvernement) und Arthur Greiser (Warthegau) delegierte.238 In seinem ‚Herrschaftsbereich‘ wiederum machte Seyß-Inquart vom Recht zur Weiterübertragung des Gnadenrechts Gebrauch. In seiner Verordnung über die Ausübung des Gnadenrechts239 übertrug er dem Generalsekretär für Justiz unter Vorbehalt das Gnadenrecht und das Recht zur Niederschlagung von Prozessen für alle Fälle, in denen niederländische Strafgerichte eine Haftstrafe von bis zu drei Monaten oder eine Geldbuße von unter 1.000 Gulden verhängten; niederländische Rechtsvorschriften, die dem entgegenstan236 VOBl. NL 1942, § 1, XV, 345 f.; die Verordnung datiert vom 6. Juli 1942. 237 Abgedruckt in RGBl. 1940/I, 1644 sowie als VO 1/1941 in: VOBl. NL 1941, 2 f. Das Gnadenrecht bezog sich nicht auf die Wehrmachtsgerichte und die SS- und Polizeigerichte. Zur Vorbereitung des Führererlasses siehe den Schriftwechsel von Reichskanzlei und Reichsjustizministerium in IfZ, IMG-Dok. NG-1441. 238 Zu Frank vgl. den Führererlass vom 30. Januar 1940 (RGBl. 1940/I, 339) und Franks Erlaß über die Ausübung des Gnadenrechts im Generalgouvernement vom 8. März 1940 (VOBl. PL 1940, 99), zu Greiser Epstein, Model Nazi, 203. Die Möglichkeit zur Übertragung des Gnadenrechts hatte Hitler in § 8 des Reichsstatthaltergesetztes vom 30. Januar 1935 festgelegt (RGBl. 1935/I, 65). Bei den Übertragungen behielt er sich freilich vor, in Einzelfällen selber eine Entscheidung zu treffen. 239 VO 2/1941 vom 6. Januar 1941, in: VOBl. NL 1941, 4 f.

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den, hob der Reichskommissar ausdrücklich auf. Bei Urteilen niederländischer Gerichtshöfe, die den genannten Strafrahmen überstiegen, behielt sich Seyß-Inquart die Ausübung des Gnadenrechts generell selber vor. Und selbstverständlich reservierte er sich das ausschließliche Gnaden- und Niederschlagungsrecht bei allen Urteilen der deutschen Strafgerichte; die Einmischung eines Beamten des besetzten Landes in die Rechtspflege der Besatzungsmacht wäre undenkbar gewesen. Offensichtlich wurde die Abteilung Gnadensachen, die innerhalb des Reichskommissariats für die Bearbeitung dieser Fälle zuständig war, in der Folgezeit mit Gnadenersuchen überschwemmt. Auf jeden Fall setzte Seyß-Inquart im April 1942 die Grenze bei den Fällen, in denen der Generalsekretär für Justiz das Gnadenrecht ausüben durfte, auf eine Haftstrafe von sechs Monaten oder 1.500 Gulden hinauf.240 Wie viele Gnadensachen während der Besatzungszeit beim Reichskommissariat anhängig gemacht wurden und nach welchen Kriterien und in welchem Ausmaß Seyß-Inquart Gnaden­ erweisen stattgegeben oder Verfahren niedergeschlagen hat, ist meines Wissens noch nicht systematisch untersucht worden; angesichts des großen Umfangs an einschlägigem Quellenmaterial können diese Fragen hier nicht behandelt werden.241 Immerhin zeigt ein Einzelfall, dass der Reichskommissar zumindest bei einem bekennenden Kommunisten keine Gnade walten ließ: Am 15. April 1942 lehnte Seyß-Inquart eine Begnadigung des Widerstandskämpfers Hendricus Josephus (Henk) Sneevliet ab, der vor dem Westfeldzug Vorsitzender der ‚Revolutionär-Sozialistischen Arbeiterpartei‘ gewesen war, anschließend die Untergrundorganisation Marx-Lenin-Luxemburg-Front mitgegründet hatte und nach seiner Verhaftung mit sieben Mitstreitern vom Deutschen Obergericht wegen illegaler Aktivitäten zum Tod verurteilt worden war. Obwohl niemand Geringerer als der Vorsitzende des Obergerichts, Dr. Friedrich Randermann, bei Seyß-Inquart um eine Begnadigung Sneevliets ansuchte, schloss sich der Reichskommissar der Meinung von Kammergerichtsrat Dr. Werner Seiffert an, dem Leiter der Hauptabteilung Justiz in Wimmers Generalkommissariat. Demnach sei es rechtens, die Todesstrafe zu vollstrecken, weil Sneevliet als Trotzkist ein international orientierter Revolutionär sei, der obendrein Verbindungen zum „Judentum“ habe. Er sei gefährlicher, als es die begrenzte Anzahl seiner Anhängerschaft vermuten lasse.242 Seyß-Inquart übernahm in diesem Fall die radikale Position, vom Gnadenrecht machte er dezidiert keinen Gebrauch. Einer besonderen Regelung bedurfte die Frage, welches Gericht für Fälle von Hochverrat zuständig war. Da das höchste deutsche Gericht in den besetzten Niederlanden, das Oberge240 VO 38/1942 vom 14. April 1942, in: VOBl. NL 1942, 190 f. 241 Siehe die Unterlagen der Abteilung Gnadensachen in NIOD, 20/7833 bis 20/9063. Seyß-Inquart selber hat im Sommer 1946 angegeben, er habe von den 100 Todesurteilen, die die deutschen Gerichte in den Niederlanden gefällt hätten, ein Viertel auf dem Gnadenweg aufgehoben (Schlussausfuehrungen, Bl. 50). 242 Brief von Seyß-Inquart vom 15. April 1942, in niederländischer Übersetzungs auszugsweise in: IISG, Henk Sneevliet/683. Zu dieser Gnadensache nahm Seyß-Inquart erst im Nachhinein Stellung – Sneevliet war drei Tage vorher im Polizeilichen Durchgangslager Amersfoort hingerichtet worden. Zu Sneevliet siehe auch die Einträge von De Jonge im Biografisch Woordenboek van Nederland und von Tichelman im Biografisch Woordenboek van het Socialisme en de Arbeidersbeweging in Nederland mit weiterführenden Hinweisen auf wissenschaftliche Literatur und Quellen. Siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/2, 962–965.

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richt, laut Verordnung 52/1940 lediglich einem Landgericht im Deutschen Reich entsprach, gab es streng genommen innerhalb des Reichskommissariats keine Instanz, die zur Führung eines Hochverratsprozesses befugt gewesen wäre. In diesem Sinn bestand der kommissarische Reichsjustizminister Dr. Franz Schlegelberger darauf, dass solche Fälle generell vor dem Volksgerichtshof in Leipzig zu verhandeln seien. Nur wenn der Justizminister darauf verzichte, eine entsprechende Anordnung zu erteilen, falle die justizielle Ahndung von Hochverratsdelikten in den Niederlanden in die Zuständigkeit des Reichskommissars; dieser habe ebenso wie der Minister die Möglichkeit, aus politischen Erwägungen heraus auf einen Prozess zu verzichten.243 Diese Regelung unterstrich die primäre Zuständigkeit des Reiches. Seyß-Inquart stimmte ihr im Oktober 1941 zu,244 obwohl sie von seinem eigenen Vorschlag abwich, zu differenzieren zwischen Verfahren, deren Gegenstand sich innerhalb der Niederlande ereignet hatte, und jenen Fällen, „die in ihrem Umfang über den Bereich der Niederlande hinausgehen, insbesondere wenn sie mit anderweitigen anhängigen Verfahren verknüpft sind“.245 Er bat Schlegelberger lediglich, die Gelegenheit zu erhalten, vor einer entsprechenden Entscheidung des Justizministers „auf die Gesichtspunkte hinzuweisen, die sich aus den besonderen politischen Verhältnissen in den meiner Verwaltung unterstellten Gebieten für die Gesamtbeurteilung der einzelnen Sache ergeben“246 – eine Bitte, der der Staatssekretär des Ministeriums und spätere Präsident des Volksgerichtshofs, Dr. Roland Freisler, bereitwillig nachkam.247 Wenig später ordnete Seyß-Inquart an, die laufenden Hochverratsprozesse dem Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof zuzuleiten, fügte aber schlitzohrig hinzu, diesem solle „Rückgabe der Akten hierher nahegelegt werden“.248 Tatsächlich wurden nur wenige Niederländer vor dem Volksgerichtshof angeklagt, die meisten Verfahren wegen antideutscher Bestrebungen oder Aktivitäten wurden vor den Deutschen Gerichten in den Niederlanden geführt.249 Die deutschen Strafgerichte samt Staatsanwaltschaft bildeten für Seyß-Inquart den Mittelpunkt des deutschen Justizsystems in den Niederlanden. Sie waren hinreichend unabhängig vom Reichsjustizministerium, sicherten ihm selber Eingriffsmöglichkeiten und konnten bei Bedarf mit der Ausübung des Standrechts ausgestattet werden. In der Folgezeit legte der Reichskommissar Wert darauf, dass sich die Militärgerichte in den Niederlanden auf jene Fälle beschränkten, in denen die Wehrmacht von Beleidigungen, Sabotage oder anderen als ‚deutschfeindlich‘ eingestuften Akten betroffen war. Die justizielle Bekämpfung des ‚politischen‘ Widerstands blieb demgegenüber weitgehend dem Landes- und dem Obergericht in 243 Schlegelberger an Lammers vom 20. August 1941, BArch, R 43 II/675a, Bl. 67–69. Das Schreiben wurde am 8. September an Seyß-Inquart weitergeleitet (IfZ, IMG-Dok. NG-1475). 244 Seyß-Inquart an Schlegelberger vom 22. Oktober 1941, NIOD, 20/2302. 245 Seyß-Inquart an Lammers vom 22. Juli 1941, BArch, R 43 II/675a, Bl. 63 f. 246 Seyß-Inquart an Schlegelberger vom 22. Oktober 1941, NIOD, 20/2302. 247 Freisler an Seyß-Inquart vom 13. November 1941, ebd. 248 Aktenvermerk vom 22. Dezember 1941 über eine Anordnung vom 19. Dezember, ebd. 249 Von Frijtag Drabbe Künzel, Rechtspolitik im Reichskommissariat, 474 f. Die Autorin weist auch darauf hin, dass neben dem Volksgerichtshof auch das Reichskriegsgericht, von dem die Angehörigen illegaler Militärorganisationen hätten verurteilt werden können, keine nennenswerte Rolle beim justiziellen Kampf des NS-Regimes gegen den niederländischen Widerstand gespielt hat.

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Den Haag vorbehalten.250 Schwieriger war es für Seyß-Inquart, die dritte Art von deutschen Gerichten im Zaum zu halten, die während der deutschen Besatzung auf niederländischem Boden etabliert wurde: die SS- und Polizeigerichte. Sie dienten zum einen als eine Art von Truppengericht dazu, Straftaten zu ahnden, die Angehörige der SS und der Deutschen Polizei auf niederländischem Gebiet verübt hatten. Zum anderen waren sie befugt, über Straftaten zu urteilen, die an Personen oder Einrichtungen von SS und Polizei verübt worden waren. In beiden Fällen durften die SS- und Polizeigerichte aber erst dann in Aktion treten, wenn sie von Seyß-Inquart hierzu beauftragt worden waren.251 Für Rauter, das Reichssicherheitshauptamt und das Hauptamt SS-Gericht war diese Situation natürlich unbefriedigend. Schon seit der Jahreswende 1941/42 hatte Reinhard Heydrich Versuche unternommen, die SS- und Polizeigerichte aufzuwerten. Hiergegen sträubte sich Seyß-Inquart lange. Erst mit der Einführung des Polizeistandrechts und dessen Verankerung in der Ordnungsschutzverordnung 1943 erhielten die SS- und Polizeigerichte die Möglichkeit, anstelle des Obergerichts als Standgerichte zu fungieren. Damit verlagerte sich die Aufsicht über standgerichtliche Verfahren von Wimmers Generalkommissariat zum Höheren SS- und Polizeiführer. Rauter bekam nun freie Hand, rechtliche Verfahren nach seinen eigenen Maßgaben zu steuern: Er ernannte die Mitglieder der Polizeistandgerichte aus einer Liste, die vom Reichskommissar zu genehmigen war; er besaß eine Weisungsbefugnis gegenüber den SS- und Polizeigerichten; und er hatte das Recht, deren Urteile zu bestätigen, aufzuheben oder Verfahren an ein anderes Gericht zu verweisen.252 Warum Seyß-Inquart im Winter 1942/43 einer so weitreichenden Stärkung der SS- und Polizeigerichte zustimmte, lässt sich nicht eindeutig klären. Wie oben dargestellt, stand die Ordnungsschutzverordnung 1943 insgesamt im Zusammenhang mit der engen Anlehnung an Heinrich Himmler, die er zu diesem Zeitpunkt suchte.253 Es ist aber auch davon auszugehen, dass die stärkere Einbeziehung der SS- und Polizeigerichte in die Repressionspolitik des Regimes eine Reaktion auf das Erstarken des Widerstands war. Möglicherweise hat die daraus resultierende Arbeitsüberlastung von Landes- und Obergericht die Entscheidung beeinflusst, die SS- und Polizeigerichte in den Niederlanden stärker einzubinden. Von Frijtag Drabbe Künzel hat darüber hinaus die Vermutung geäußert, der Reichskommissar könne es für opportun gehalten haben, die ‚reguläre‘ deutsche Strafgerichtsbarkeit nicht mit den ‚außerordentlichen‘ standrechtlichen Verfahren zu verquicken, um einen Anschein von Legalität zu wahren.254 Die SS wollte aber mehr: Im Frühjahr und Sommer 1943 erhob sie die Forderung, ihre Gerichte in den Niederlanden nicht erst dann zum Zug kommen zu lassen, wenn der Reichs-

250 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., 468-476. Toppe (Besatzungspolitik) weist ergänzend auf den völkerrechtswidrigen Charakter der deutschen Strafrechtsordnung und -pflege in den besetzten Niederlanden hin, ohne der Erforschung der Geschichte des Reichskommissariats weiterführende Impulse zu vermitteln. 251 Siehe VO 52/1940 vom 17. Juli 1940, § 11, in: VOBl. NL 1940, 185. Wegner legt den Akzent einseitig auf den Aspekt der Truppengerichtsbarkeit, die Einbindung der SS- und Polizeigerichte in die Bekämpfung von Resistenz wird von ihm kaum berücksichtigt (Die Sondergerichtsbarkeit von SS und Polizei). 252 VO 1/1943 vom 5. Januar 1943, §§ 67–70, in: VOBl. NL 1943, 36–38. 253 Siehe oben, S. 142–145. 254 Von Frijtag Drabbe Künzel, Rechtspolitik im Reichskommissariat, 470.

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kommissar explizit das Polizeistandrecht ausrief. Die SS- und Polizeigerichte sollten in Zukunft auch unabhängig von solch einer besonderen Situation aktiv werden können, und zwar ohne dass es noch einer Zuweisung einzelner Fälle durch den Generalkommissar für Verwaltung und Justiz bedurft hätte. Ähnlich wie die Militärgerichte automatisch für die Ahndung von Anschlägen auf Angehörige oder Einrichtungen der Wehrmacht zuständig waren, sollten die SS- und Polizeigerichte aus eigenem Recht alle Straftaten ahnden können, die gegen die SS und die Deutsche Polizei verübt wurden.255 Das Hauptamt SS-Gericht strebte denn auch die Anerkennung einer „Gleichberechtigung der Wehrmachts- und SS- und Polizeigerichtsbarkeit“ an.256 Mit dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Keitel, erreichte Himmler schon bald bei einer persönlichen Begegnung eine Übereinkunft, deren zentrale Bestimmung lautete: „In den besetzten Gebieten überlassen die Wehrmachtgerichte die Verfolgung von Zivilpersonen den SS- und Polizeigerichten, wenn sich die Straftat ausschließlich oder überwiegend gegen die SS oder Deutsche Polizei, deren Angehörige oder Gefolge richtet.“257 Diesem Arrangement aber widersetzte sich Seyß-Inquart erfolgreich. Rauters Aufforderung, die Vereinbarung zwischen OKW und Reichsführer-SS in den Niederlanden umzusetzen,258 kam der Reichskommissar nicht nach. Hierzu sei er erst bereit, wenn eine vergleichbare Regelung im Reich getroffen werde.259 Wie Dr. Karl Krug, ein führender Justizbeamter aus Wimmers Generalkommissariat, im Juni 1943 meinte, bestand für Seyß-Inquart kein Anlass, „weitergehend als im Reich eine unbedingte Zuständigkeit der SS- und Polizeigerichtsbarkeit zu schaffen.“260 Der Reichskommissar beharrte darauf, dass jene Fälle, auf deren Behandlung die Wehrmachtsgerichte verzichteten, weiterhin an die Deutschen Gerichte verwiesen wurden, die der Aufsicht seines Vertrauten Wimmer unterstanden. „Eine Überlassung des Verfahrens von Zivilpersonen, die vor das Militärgericht gehören, an ein SS-Gericht kommt daher nicht in Frage.“261 Eine solche Entschiedenheit war Sand ins Getriebe der allgemeinen Machtsteigerung, die der SS-Komplex in dieser Zeit erfuhr. Seyß-Inquarts hartnäckige Weigerung, die Rechtslage zugunsten der SS- und Polizeigerichte zu modifizieren, führte zu monatelangem Stillstand in dieser Angelegenheit. Anfragen, Gutachten und Stellungnahmen gingen hin und her, ohne dass eine Gleichstellung der SS- und Polizeigerichte an die Wehrmachtsgerichte erreicht worden wäre.262 So kam es, dass die Rechtslage der Praxis hinterherhinkte: Weil faktisch zahlreiche Verfahren an die SS- und Polizeigerichte abgegeben wurden, die SS und Deutsche Polizei betrafen, kam es Krug zufolge dazu, „daß unzweifelhaft tatsäch-

255 Himmler an Lammers vom 16. Mai 1943, BArch (ehem. BDC), SS-HO 5624. Die Initiative zu einer Änderung der Rechtslage ging auf Rauter zurück. 256 Schreiben vom 14. Juli 1943, NIOD, 20/760. 257 Keitel an Seyß-Inquart vom 26. Mai 1943, NIOD, 20/2386. 258 Rauter an Seyß-Inquart vom 9. Juni 1943, ebd. 259 Siehe sein Schreiben an Lammers vom 11. Juni 1943, NIOD, 20/760. 260 Aktennotiz von Ministerialrat Dr. Karl Krug für Wimmer vom 21. Juni 1943, NIOD, 20/2386. 261 Seyß-Inquart an Wimmer vom 2. Juni 1943, ebd. 262 Siehe die Materialien in NIOD, 20/760 und NIOD 20/2386.

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lich der SS- und Polizeigerichtsbarkeit in den Niederlanden mehr Sachen gegen Zivilpersonen zur Aburteilung überlassen werden als den Wehrmachtsgerichten“, obwohl der SS- und Polizeigerichtsbarkeit „in originärer Zuständigkeit“ weniger zustand als der Wehrmachtsgerichtsbarkeit.263 Dabei übernahmen die SS- und Polizeigerichte sowohl von den ordentlichen Strafgerichten als auch von den Wehrmachtsgerichten einschlägige Fälle – die Übernahme von den deutschen Strafgerichten war schon im Juli 1940 in Verordnung 52/1940 ermöglicht worden, die Übernahme von den Militärgerichten war gut drei Jahre später durch die erwähnte Übereinkunft von Keitel und Himmler möglich geworden. In der Frage der originären Zuständigkeit aber kam der SS-Komplex nicht voran. Seyß-Inquart wurde in seiner Haltung dadurch gestützt, dass das Oberkommando der Wehrmacht die Forderung des Hauptamts SS-Gericht nach einer Gleichstellung ihrer Gerichtsbarkeit mit der Wehrmachtsgerichtsbarkeit als unbegründet zurückwies, und dieser Rechtsauffassung schloss sich das Justizministerium an.264 Damit fehlte dem SS-Komplex der politische Rückhalt, um die angestrebte Gleichstellung mit den Militärgerichten in der Frage der originären Zuständigkeit zu erreichen. Dem aktiven Engagement der SS- und Polizeigerichte bei der Bekämpfung von Widerstand und Widersetzlichkeit tat dies freilich keinen Abbruch. Dabei blieb Rechtssicherheit auf der Strecke. Für solch ein Gut boten schon die deutschen Strafgerichte aufgrund ihrer engen Bindung an den Reichskommissar keinerlei Gewähr. Noch weniger war dies bei den SS- und Polizeigerichten der Fall, erst recht wenn sie als Standgerichte tätig wurden. Sie traten im Laufe der Besatzungszeit immer mehr an die Stelle der ordentlichen Strafgerichte, auch wenn ihnen eine originäre Zuständigkeit verwehrt blieb. Dazu kam, dass die Sicherheitspolizei in allen fünf Besatzungsjahren zahllose Festnahmen, Hausdurchsuchungen und Internierungen vornahm, ohne dass richterliche Haftbefehle vorgelegen hätten oder Gerichtsverfahren angestrebt worden wären. Von Anfang an agierte die Sicherheitspolizei in einem rechtsfreien Raum und stand ebenso wie die Standgerichte für eine Willkür- und Terrorherrschaft. Ab Herbst 1943 ging die Bekämpfung von Resistenz faktisch immer mehr von den Gerichten auf die Organe der Sicherheitspolizei über, die mit der Anwendung von extralegalen Methoden auf diesem Gebiet eine beinahe unantastbare Position erreichte.265 Wie der damalige Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD, Erich Naumann, im Februar 1944 zugab, erfolgte deren Eingreifen zumindest teilweise in Übereinstimmung mit den zuständigen Beauftragten des Reichskommissars in den Provinzen und den großen Städten des Landes. Naumann lag übrigens daran, sich für das Vorgehen seiner Leute bei den politischen Stellen des Reichskommissariats Rückendeckung zu verschaffen. Im selben Rundschreiben wies er nämlich die ihm unterstellten Sipo-Dienststellen an: „Wenn aus politischen Gründen die Notwendigkeit eines sicherheitspolizeilichen Einschreitens […] besteht, weil z. B. niederländische Gerichte Zivilurteile oder Strafurteile erlassen haben und deren Vollstreckung 263 Krug an Ministerialrat Dr. Wilhelm Grau (Reichsjustizministerium) vom 3. Dezember 1943, ebd.; Hervorhebung im Original. 264 OKW an Dr. Otto Georg Thierack vom 24. Januar und Grau an Seyß-Inquart vom 7. Februar 1944, beide in: ebd. 265 So auch Von Frijtag Drabbe Künzel, Political Justice in the Netherlands, 326.

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anordnen, die dem deutschen Rechtsempfinden und den politischen deutschen Interessen in starkem Masse abträglich sind, so ist nicht nur mit den Beauftragten des Reichskommissars Fühlung zu nehmen, sondern es ist unverzüglich an mich zu berichten, damit über den Generalkommissar für Verwaltung und Justiz die niederländischen Gerichte entsprechend gesteuert werden können.“266 Seyß-Inquarts Beauftragte und Wimmer, der im Auftrag des Reichskommissars die Aufsicht über das niederländische Justizwesen führte, arbeiteten also eng mit der Sicherheitspolizei zusammen, um das niederländische Rechtssystem auszuhebeln. Die Klage von Generalsekretär Schrieke, dass die Eingriffe der Sipo in die Rechtspflege des Landes „eine ordentliche Funktionierung [sic] des niederländischen Justizapparates“ verhindere und „die Autorität der niederländischen Justiz“ beeinträchtige, fand auf deutscher Seite kein Gehör.267 Neben der kumpanenhaften Zusammenarbeit zwischen Reichskommissariat und Sicherheitspolizei, die eine justizförmige Auseinandersetzung mit der niederländischen Bevölkerung unterlief, war eine politisch gewollte Grauzone zwischen ordentlicher Gerichtsbarkeit und Sondergerichtsbarkeit ein weiteres Kennzeichen der deutschen Justizpolitik. Seyß-Inquart schrieb sich zwar gleich zu Beginn seiner ‚Herrschaft‘ das Recht zu, per Verordnung zu bestimmen, welche Straftaten den Sondergerichten zu überantworten waren.268 Wenige Wochen später aber war vom Erlass einer einschlägigen Verordnung keine Rede mehr: Mit der Einrichtung von Landes- und Obergericht erteilte sich der Reichskommissar die Generalermächtigung, „nach eigenem Ermessen“ kasuistisch ein Strafverfahren an ein Sondergericht zu verweisen. Allgemein konnten darüber hinaus von der Staatsanwaltschaft die Fälle an ein Sondergericht in den Niederlanden verwiesen werden, „in denen nach den im Altreich geltenden Bestimmungen das Sondergericht zuständig wäre“.269 Ab dem Sommer 1942 war hierzu nicht einmal die Einreichung einer Anklageschrift erforderlich. Es reichte ein mündlicher Antrag, an die Einhaltung von Fristen war die deutsche Justiz dabei nicht gebunden.270 Besonders im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Widerstand traten in zunehmendem Maße und gedeckt durch entsprechende Anordnungen des Reichskommissars Standgerichte auf den Plan, und nach Ausrufung des Ausnahmezustands in der letzten Phase der Besatzungsgeschichte leisteten auch die Militärstandgerichte einen blutigen Beitrag zu einer entfesselten

266 Rundschreiben Naumanns an die Außendienststellen und den Außenposten Den Haag vom 28. Februar 1944, NIOD, 20/2390. 267 Schrieke an Krug vom 20. Januar 1944, ebd. Dabei hatte Schrieke selber aktiv an der Aushöhlung des niederländischen Justizsystems und an dessen Nazifizierung mitgewirkt. Siehe beispielsweise seine Verordnungen vom 18. Dezember 1942 und vom 9. Juni 1943 (VOBl. NL 1943, 68 f. und 233). Mit ihnen schuf er sich die Möglichkeit, kollegiale Formen der Rechtsprechung einzuschränken und forderte die Richter auf, Urteile nicht am Wortlaut des Gesetzes, sondern am „gesunden Rechtsempfinden“ auszurichten. Zu den Folgen, die die Ersetzung der Orientierung am positiven Recht durch das „gesunde Rechtsempfinden“ im Sinne des Nationalsozialismus für die Rechtsprechung der Friedensrichter und des Friedensgerichts hatte, vgl. De Geus, Vrederechtspraak in Nederland, 66–78. 268 VO 3/1940 vom 29. Mai 1940, § 6, in: VOBl. NL 1940, 10. 269 VO 52/1940 vom 17. Juli 1940, §§ 11 und 10, in: ebd., 185. 270 VO 71/1942 vom 6. Juli 1942, § 1, VII, in: VOBl. NL 1942, 343 f.

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Justiz.271 Insgesamt wurden in den Niederlanden alleine bei den deutschen Gerichten, d. h. ohne Berücksichtigung von Wehrmachts- und SS- und Polizeigerichten, 40.544 Strafanträge eingebracht. Von ihnen kamen 12.240 Fälle zur Verhandlung, davon 94 Prozent vor dem Landesgericht.272 Zu der Frage, wie viele Todesurteile von den verschiedenen deutschen Gerichten gefällt und vollstreckt wurden, liegen unterschiedliche Zahlenangaben vor. Sie reichen von mindestens 1.331 Hingerichteten bis zu 3.000 Opfern.273 Auf jeden Fall erfuhr das deutsche Justizsystem einen Radikalisierungsprozess, der Willkür Tür und Tor öffnete. Bezeichnend für den Abbau rechtsstaatlicher Standards und Normen ist eine Verordnung, mit der Seyß-Inquart im September 1942 Justiz- und Polizeibehörden die Möglichkeit einräumte, Geldstrafen, Haftstrafen bis zu sechs Monaten oder die Einziehung von Gegenständen ohne Durchführung einer gerichtlichen Hauptverhandlung zu verhängen.274 Der Beschuldigte durfte zwar innerhalb von zwei Wochen Einspruch erheben und eine Verhandlung beantragen, lief aber Gefahr, dass bei einem Gerichtsprozess das Strafmaß erhöht wurde. In bestimmten Fällen war für die Behandlung solcher Fälle nicht einmal ein Richter erforderlich: In Fällen, die in den Bereich der „Deutschen Gerichtsbarkeit“ fielen, waren die Beauftragten des Reichskommissars befugt, anstelle des Deutschen Landesgerichts Strafverfahren durchzuführen. Diese Verordnung reiht sich in einen Reigen von Bestimmungen ein, mit denen die Besatzungsmacht unter Seyß-Inquart in immer stärkerem Maße die Grundlagen des liberalen Konstitutionalismus zersetzte, der seit dem 19. Jahrhundert in den Niederlanden aufgebaut worden war. An dessen Stelle trat ein Rechtswesen, das der Nazifizierung des besetzten Landes Vorschub leistete. Diesem Ziel diente auch die vierte Art von juristischen Institutionen, die unter Seyß-Inquarts Ägide neu in den Niederlanden eingeführt wurde: die Friedensrichter und ein Friedensgerichtshof. Die Friedensrichter wurden entsprechend einer Verordnung von Generalsekretär Schrieke vom 12. August 1941 den fünf niederländischen Landgerichten angegliedert, der Friedensgerichtshof wurde als Sonderkammer beim Oberlandesgericht in Den Haag eingerichtet.275 Ein Friedensrichter sprach in erster Instanz Recht, der dreiköpfige Friedensgerichtshof fungierte als Berufungsinstanz gegen Urteile eines Friedensrichters; seine Entscheidungen wiederum waren endgültig und nicht anfechtbar (§ 14). Das Friedensgericht war aber nicht nur Berufungsinstanz: Ihm konnten von dem Generalstaatsanwalt, der ihm beigeordnet war, auch Fälle zugewiesen werden, die dieser den Friedensrichtern bei den Landgerichten entzogen wissen wollte; in solchen Fällen urteilte der Friedensgerichtshof als erste und zugleich letzte Instanz. Gegenüber den anderen niederländischen Gerichtshöfen 271 Siehe hierzu unten, S. 546 f. 272 Von Frijtag Drabbe Künzel, Rechtspolitik im Reichskommissariat, 488, Tab. 1 unter Bezugnahme auf ihre Studie Het recht van de sterkste (1999). Sie weist darauf hin, dass ein großer Teil der Verfahren Bagatellsachen wie die Beleidigung eines Deutschen betraf. 273 Vgl. Toppe, Besatzungspolitik, 110. 274 VO 99/1942 vom 18. September 1942, in: VOBl. NL 1942, 348–448. 275 VO 156/1941 vom 12. August 1941, in: VOBl. NL 1941, 664–671 mit den Änderungen in Schriekes VO 205/1941 vom 8. November 1941, in: ebd., 872–874.

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besaß der Friedensgerichtshof insoweit Vorrang, als die Generalstaatsanwälte bei den Oberlandesgerichten und die Oberstaatsanwälte verpflichtet waren, dem Generalstaatsanwalt beim Friedensgerichtshof alle gewünschten Akten zur Verfügung zu stellen (§ 8 und 9). Das Friedensgericht konnte somit Verfahren an sich ziehen, ohne dass Schriekes Verordnung vom 12. August 1941 dem Generalstaatsanwalt dieses Gerichts bei der Auswahl der Fälle irgendeine Beschränkung auferlegt hätte. Mehr noch: In den Übergangsbestimmungen sprach Schrieke dem Generalstaatsanwalt beim Friedensgerichtshof das Recht zu, Verfahren dem Friedensgerichtshof zur Neuverhandlung zu übertragen, die vor einem ordentlichen Gericht bereits mit einem rechtskräftigen Urteil abgeschlossen worden waren (§ 17). Dies verstieß in eklatanter Weise gegen den traditionellen Rechtsgrundsatz, dass man nicht zweimal wegen desselben Delikts vor Gericht gestellt werden darf (‚Ne bis in idem‘), und zeigt, wie sehr das nationalsozialistische Recht, das unter Seyß-Inquart in den Niederlanden eingeführt wurde, auf eine Aushöhlung von etablierten Prinzipien liberaler Rechtsstaatlichkeit abzielte.276 Von außen betrachtet handelte es sich bei der Friedensgerichtsbarkeit zwar um eine niederländische Einrichtung, die vom höchsten niederländischen Justizbeamten eingesetzt wurde. Doch die Initiative ging von der deutschen Besatzungsverwaltung aus: Schon im Frühjahr 1941 hatte Wimmer beim kommissarischen Generalsekretär für Justiz Johannes Petrus Hooykaas die Einrichtung einer Friedensgerichtsbarkeit angeregt, und der erste Verordnungsentwurf stammte aus dem Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz.277 Die Besatzungsmacht hatte durchaus ein Interesse daran, die Deutschen Gerichte nicht mit der Ahndung von Äußerungen zu belasten, die gegen die NSB und deren Nebenorganisationen gerichtet waren. Da das Reichskommissariat obendrein kein Vertrauen in die ordentlichen niederländischen Gerichte hatte, war die Begründung einer neuen Form von Gerichtsbarkeit aus seiner Sicht ein geeignetes Mittel, antifaschistische Manifestationen zu bekämpfen, ohne eigene Ressourcen einsetzen zu müssen. Auf diese Weise konnten sich das deutsche Landes- und das Obergericht auf die Verfolgung jener Straftaten konzentrieren, die nach nationalsozialistischem Recht gegen das Deutsche Reich, die NSDAP und die Personen und Einrichtungen der zivilen und militärischen Besatzungsverwaltung gerichtet waren oder von deutschen Staatsbürgern begangen wurden. Von Anfang an haftete den Friedensrichtern und dem Den Haager Friedensgericht denn auch der Geruch von Parteilichkeit und Kollaboration an, sie waren Ausfluss einer gelenkten Selbstnazifizierung des besetzten Landes. Dies kommt besonders in der Beschreibung der „Verbrechen“ und „Übertretungen“ zum Ausdruck, für die die Friedensrichter zuständig waren: Sie hatten jede Straftat zu verfolgen, die „den politischen Frieden innerhalb der Volksgemeinschaft gefährdet oder die höchsten politischen Belange der Volksgemeinschaft berührt oder aus politischen Beweggründen begangen worden ist.“ (§ 2) Zu einer faschismusfreundli276 Unter der niederländischen Richterschaft rief § 17 von VO 156/1941 Empörung hervor. In einem an Schrieke gerichteten Protestbrief verwahrten sich 370 Personen – und damit gut ein Drittel der niederländischen Richterschaft – gegen die Abschaffung des ‚Ne bis in idem‘-Prinzips; siehe De Geus, Vrederechtspraak in Nederland, 55. 277 De Geus, Vrederechtspraak in Nederland, 48 und 54.

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Kapitel 5: Nationalsozialistische Zivilverwaltung

chen Rechtsprechung trug auch bei, dass der ausgesprochen deutschfreundliche Generalsekretär Schrieke die Friedensrichter, die Mitglieder des Friedensgerichts und deren Stellvertreter bestimmte (§§ 1 und 7). In der Praxis lief dies darauf hinaus, dass die entsprechenden Stellen ausschließlich mit überzeugten Faschisten besetzt wurden. Die meisten Friedensrichter gehörten der Nationaal-Socialistische Beweging und deren Rechtsfront an, nur wenige hatten bereits Berufserfahrung als Richter.278 Eine regimekonforme Judikatur sicherte schließlich die Besetzung der Leitung des Friedensgerichtshofs mit Mussert-Vertrauten: Dr. Johan Herman Carp wurde Vorsitzender, Van Genechten Generalstaatsanwalt. In all ihrer Parteilichkeit diente die Friedensgerichtsbarkeit letztlich dazu, Mitglieder der NSB und ihrer paramilitärischen ‚Wehrabteilung‘ mit den Mitteln einer Rechtsprechung zu schützen, die durch unbillige Urteile rasch eine abschreckende Wirkung erzeugte. Über die Friedensgerichtsbarkeit wurde die niederländische Judikatur auf diese Weise vom Reichskommissariat in die Bekämpfung von Resistenz eingebunden.279 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es im Justizwesen der besetzten Niederlande wie in der staatlichen Verwaltung eine Parallelität von deutschen und niederländischen, von militärischen und zivilen, von seit langem etablierten und durch die Besatzungsmacht neu eingeführten Strafverfolgungsbehörden gab; mit Peter Romijn kann man von einem hybriden Charakter des Gerichtswesens zwischen 1940 und 1945 sprechen.280 Und wie bei allen anderen Aspekten der Organisation der deutschen Besatzung reichten Kompetenzen von Reichsorganen wie dem Reichsministerium der Justiz und dem Volksgerichtshof in das besetzte Gebiet hinein. Die verschiedenen Instrumente, die auf diesem Gebiet in den Niederlanden eingeführt wurden, ermöglichten der Besatzungsmacht jedenfalls weitreichende Eingriffe in das niederländische Rechtswesen. Sie entlarven Wimmers Nachkriegsaussage als dreiste Lüge, das Reichskommissariat habe nicht in die Unabhängigkeit der niederländischen Justiz eingegriffen und den einheimischen Behörden die Möglichkeit gelassen, „in voller Unabhaengigkeit und ohne irgendeinen Druck seitens des Occupanten“ Recht zu sprechen.281

278 Ebd., 59 mit Anm. 34. 279 Vogel/Schulten, Het dwaalspoor van een praktisch staatsrecht, 129. 280 Romijn, Reichskommissariat Niederlande, 133. 281 Befragung Wimmers vom 20. Mai 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 677, Mappe 149.

Kapitel 6:

Politische Ziele der ‚Aufsichtsverwaltung‘: Nazifizierung und Gleichschaltung

Als Reichskommissar war Seyß-Inquart nicht nur der Chef eines größeren Verwaltungsapparats. Neben seiner administrativen Funktion hatte er von Anfang an – stets unter Wahrung der „Reichsinteressen“ – zwei zentrale politische Aufgaben zu bewältigen:1 Erstens musste er die als ‚germanisches Volk‘ betrachtete Bevölkerung der Niederlande zum Nationalsozialismus führen. In diesem Sinn sah etwa Himmler in Seyß-Inquarts Tätigkeit „die historisch so wichtige Aufgabe, 9 Millionen germanisch-niederdeutscher Menschen, die jahrhundertelang dem Deutschtum entfremdet wurden, mit fester und doch sehr weicher Hand wieder zurückzuholen und der deutsch-germanischen Gemeinschaft wieder einzufügen […].“2 Zweitens hatte der Reichskommissar mit seiner Behörde die Niederlande dem Großdeutschen Reich anzupassen; dies führte allmählich zu einer Umgestaltung der niederländischen Verwaltung entsprechend der Prinzipien, die ein nationalsozialistisches Verwaltungssystem kennzeichneten, nämlich der Ausrichtung am Führerprinzip und der Bevorzugung von bekennenden Nationalsozialisten bei der Besetzung von politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich relevanten Posten. Damit verbunden waren die Förderung faschistischer Parteien und Organisationen und die gleichzeitige Marginalisierung, schließlich auch Ausschaltung aller Vereinigungen, die dem Regime nicht positiv gegenüberstanden. Auch das niederländische Königshaus, dessen symbolische Bedeutung für die Motivierung zur Ablehnung der deutschen Besatzung und zum Widerstand gegen das NS-System innerhalb des besetzten Landes weit über seine praktischen Beiträge zur Befreiung hinausging, wurde von der Besatzungsmacht angegriffen: Das Vermögen seiner Angehörigen wurde eingezogen, Bilder von Prinz Bernhard mussten aus den Büros der niederländischen Generalsekretariate entfernt werden.3 Später wurde „der nationalsozialistische Bildersturm gegen das Oranierhaus“4 auf alle lebenden Mitglieder der kö1

Siehe hierzu auch Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 92 ff. und Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 29 ff. 2 Himmler an Seyß-Inquart vom 7. Januar 1941, BArch, NS 19/836, Bl. 139. 3 Siehe Rundschreiben Wimmers vom 25. September 1940, NIOD, 14/111. Zum Vermögenseinzug siehe unten, S. 440 ff. 4 Romijn, Burgemeesters, 276.

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Kapitel 6: Politische Ziele der ‚Aufsichtsverwaltung‘

niglichen Familie ausgeweitet. Weder durften von ihnen Abbildungen an öffentlichen Orten hängen oder aufgestellt sein, noch durften Straßen, Krankenhäuser, Altenheime und ähnliche Einrichtungen nach ihnen benannt werden.5 Und gleich im ersten Besatzungsjahr begann man damit, die Briefmarken mit dem Bildnis der Königin durch die Ausgabe neuer Marken zu verdrängen, die nur die Wertangabe enthielten.6 Durch solche symbolischen Akte, mehr aber noch durch handfeste machtpolitische Machinationen sollten die Niederlande letztlich mithilfe von Nazifizierung und Gleichschaltung ihren spezifischen Platz in der ‚Neuen Ordnung‘ erhalten. Dabei wurde während des Krieges in der Schwebe gehalten, inwieweit das Land formell selbstständig sein durfte und in welcher Form dessen ‚germanische‘ Bevölkerung in den deutschen Herrschaftsbereich eingebunden werden sollte. Noch am 26. September 1941 kamen Hitler und Seyß-Inquart in Anwesenheit von Lammers, Bormann und Generalkommissar Schmidt zwar zu dem Ergebnis, „dass der Anschluss der Niederlande nicht, sondern ein selbständiger Staat Niederlande im Germanischen Reich gewünscht wird.“7 Trotzdem wurden in den fünf Besatzungsjahren intensive Vorbereitungen dafür geschaffen, dass die Niederlande im Falle eines deutschen Sieges als ein nach deutschem Vorbild gründlich nazifiziertes Land fest in der deutschen Einflusssphäre verankert gewesen wären. Dafür bildeten Nazifizierung und Gleichschaltung gleichermaßen Zielsetzung wie auch politische Instrumente, die das Reichskommissariat mit zunehmender Rigorosität anwandte. Im Selbstverständnis nationalsozialistischer Funktionsträger waren Nazifizierung und Gleichschaltung übrigens konzeptionell nicht voneinander zu trennen: Die beabsichtigte Hinführung der Bevölkerung zum Nationalsozialismus und zu seiner Vorstellung von der ‚Volksgemeinschaft‘ konnte nur dadurch erreicht werden, dass konkurrierende weltanschauliche ‚Angebote‘ ausgeschaltet, demokratische Verfahrensweisen außer Kraft gesetzt und die Jüdinnen und Juden eliminiert wurden. Und die Gleichschaltung machte nur Sinn, wenn sie das Ziel verfolgte, dem Nationalsozialismus zum Durchbruch zu verhelfen. Beiden Aufgaben hat sich Seyß-Inquart mit seiner Behörde bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bedingungslos verschrieben, und in dem Bestreben, die Niederlande in die ‚Neue Ordnung‘ einzubinden, dienten alle Einzelmaßnahmen, die das Reichskommissariat während der Besatzungszeit ausgeführt hat, der Nazifizierung und Gleichschaltung des Landes. Dabei setzte man anfangs vorwiegend auf die Stimulierung von Kollaboration und den Erlass von Rechtsvorschriften, die weitgehend ohne Einsatz physischer Gewalt die niederländische Staats- und Gesellschaftsordnung in eine nationalsozialistische Ordnung nach deutschem Vorbild transformieren sollten. Je mehr sich aber im Laufe der Besatzungszeit herausstellte, dass diese beiden Instrumente angesichts der ablehnenden Haltung der Mehrheit der einheimischen Bevölkerung nicht ausreichten, traten zunehmend die Ausübung von Zwang und die Anwendung von polizeilichen Methoden neben oder gar an die Stelle von Verordnungen. 5 6 7

Ebd., 200. Siehe VO 152/1940, die der Generalsekretär für Innere Angelegenheiten, Karel Johannes Frederiks, am 19. September 1940 erließ, abgedruckt in: VOBl. NL 1940, 461 f. So die Zusammenfassung von Otto Bene in seinem Bericht ans Auswärtige Amt vom 1. Oktober 1941, PA AA, R 29678, Bl. 84454.

6.1 Seyß-Inquart und das „eng verwandte germanische Volk“

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6.1 Seyß-Inquart und das „eng verwandte germanische Volk“: Zwischen „Reichsinteressen“ und ‚Politik der ausgestreckten Hand‘

Jedenfalls stand von Anfang an außer Zweifel, dass das Reichskommissariat bei dem Bestreben, die niederländische Gesellschaft zum Nationalsozialismus zu führen, die zentrale Rolle spielen sollte. Die Durchführung dieser Aufgabe fiel in besonderem Maße in die Zuständigkeit von Fritz Schmidt – hatte Seyß-Inquart doch zu Beginn seiner ‚Herrschaft‘ in Den Haag dem Generalkommissar zur besonderen Verwendung die Verantwortung für „alle Fragen der öffentlichen Meinungsbildung und der nichtwirtschaftlichen Vereinigungen“ übertragen. 8 Doch auch alle anderen deutschen Beamten, Angestellten und Soldaten sowie die deutschen Parteigenossen der NSDAP waren aufgerufen, sich für dieses Ziel einzusetzen, und insbesondere Seyß-Inquart wurde nicht müde, die Gewinnung der Niederländer für den Nationalsozialismus immer wieder als das eigentliche Ziel der deutschen Besatzung zu propagieren. Er hielt es für seine eigene „geschichtliche Aufgabe“, den Nationalsozialismus auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens zum maßgeblichen Herrschaftssystem zu machen.9 Bemerkenswert ist, dass die Besatzungspolitik in den ersten Monaten nach dem Westfeldzug darauf ausgerichtet war, die einheimische Bevölkerung dazu zu bringen, von sich aus den Nationalsozialismus zu übernehmen und an dessen Vertiefung und Verbreitung innerhalb der eigenen Gesellschaft aktiv mitzuarbeiten. Für eine solche Strategie gab es eigentlich keinerlei Ansatzpunkte: Die Faschisten waren in den Niederlanden schon vor dem Einmarsch der Wehrmacht marginalisiert gewesen, seit dem Fünf-Tage-Krieg wurden sie als ‚Landesverräter‘ zusätzlich stigmatisiert. Ab 1933 war die politische Entwicklung in Deutschland überwiegend mit Sorge beobachtet worden, Organisationen wie die 30.000 Mitglieder umfassende ‚Niederländische Bewegung für Einheit durch Demokratie‘ (Nederlandsche Beweging voor Eenheid door democratie) und das kleinere ‚Wachsamkeitskomitee‘ (Comité van Waakzaamheid) hatten sich entschieden gegen Faschismus und Nationalsozialismus gewandt und waren beherzt für parlamentarische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingetreten. Auch die verschiedenen Kirchengemeinschaften des Landes hatten sich in den Dreißigerjahren gegen den Faschismus ausgesprochen. Schließlich hat die Tatsache, dass NSB-Mitglieder ab 1934 nicht mehr im Staatsdienst tätig sein durften, dazu beigetragen, die einheimischen Faschisten politisch und gesellschaftlich zu isolieren.10 Am allerwenigsten gab es in den Niederlanden einen Nährboden für einen völkischen Nationalismus, wie er für Seyß-Inquarts politische Vorstellungswelt leitend war und in Deutschland sowie in Österreich eine wesentliche Grundlage für die Durchsetzung des Nationalsozialismus gewesen war. All dies hielt Seyß-Inquart und seine Mitarbeiter nicht von dem Bestreben ab, entsprechend Hitlers Auftrag die niederländische Gesellschaft zum Nationalsozialismus zu führen. Es verstand sich für ihn von selbst, dass das Ziel einer gelenkten Selbstnazifizierung mit einer 8 VO 4/1940 vom 3. Juni 1940, § 7, in: VOBl. NL 1940, 14. 9 Seyß-Inquart, Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [19. Mai 1943], 144. 10 Wielenga, Die Niederlande, 131.

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Kapitel 6: Politische Ziele der ‚Aufsichtsverwaltung‘

radikalen Politik von Nazifizierung und Germanisierung, wie sie in Polen mit Brachialgewalt seit September 1939 praktiziert worden war, nicht zu vereinbaren war. Im Unterschied zu den besetzten Ländern in Osteuropa zielte das Reichskommissariat in den Niederlanden denn auch nicht auf eine Eliminierung der einheimischen Führungsschichten und eine Helotisierung der restlichen Bevölkerung ab. Hier ging es vielmehr darum, die gesamte Gesellschaft und ihre Führungsschichten aus Politik, Wirtschaft, den Kirchen oder dem intellektuellem Milieu zu bewegen, mit der Besatzungsverwaltung zusammenzuarbeiten und die niederländische Bevölkerung dahin zu bringen, aus eigenen Stücken den Nationalsozialismus als die Ideologie und Herrschaftsform anzuerkennen, von der auf absehbare Zeit die Geschicke in Europa und den Niederlanden abhängen würden. Deshalb traten militärische wie auch zivile deutsche Dienststellen in der Anfangszeit vergleichsweise zurückhaltend auf. Dahinter stand nicht nur das Bemühen, mit möglichst geringem Aufwand ‚Ruhe und Ordnung‘ zu sichern, die wirtschaftlichen Ressourcen für die deutsche Rüstungsproduktion dienstbar zu machen und Niederländer und Niederländerinnen für den Dienst in NS-Organisationen oder bewaffneten Verbänden zu gewinnen. Es ging für Seyß-Inquart auch darum deutlich zu machen, dass die Niederländer als ‚germanisches Volk‘ in ähnlicher Weise für den Nationalsozialismus prädestiniert seien wie die deutschsprachige Bevölkerung im Altreich, in der Ostmark oder in den Sudetengebieten. Ganz in diesem Sinne bekundete der Reichskommissar in einem Gespräch, das er am 28. September 1940 in Den Haag mit dem niederländischen Archäologieprofessor und faschistischen Kulturfunktionär Dr. Geerto Aeilko Sebo Snijder führte, die Überzeugung, dass die Niederländer „ein eng verwandtes germanisches Volk“ seien. Er bewundere geradezu „die so allgemein sauber-germanische Art des Niederländers“ und habe nicht das Gefühl, einem „fremden“ Volk gegenüberzustehen, „sondern sozusagen mitten unter Verwandten“ zu sein. Die geschichtliche und politische Entwicklung hätten zwar zu Unterschieden zwischen Deutschen und Niederländern geführt. Doch dies seien „reine Äußerlichkeiten“, die sich „über die wahre Volksart“ gelegt hätten. Es gehe nun darum, „die darunter liegende wirkliche, lebendige Volksart wieder zu finden.“11 Auch wenn Snijder dieses nach dem Krieg aufgezeichnete Gespräch nicht unbedingt in jedem Wort präzise wiedergegeben haben sollte, präsentierte er eine Interpretation, die Seyß-Inquart auch in öffentlichen Reden und Ansprachen immer wieder zum Besten gegeben hat. So führte der Reichskommissar beispielsweise im Juni 1940 vor einem in Den Haag stationierten Sturmbann der Waffen-SS aus: „Wenn wir für unser Lebensrecht kämpfen, so wollen wir nicht, dass die Niederlande ihre Lebensrechte aufgeben. Nein, wir werden für eine gerechte Ordnung in Europa sorgen. […] Wir tun das in dem Bewusstsein, dass hier Menschen germanischen Blutes leben, die einmal begreifen werden, welch grosse Tat es war, dass der Führer ihre Geschichte in die Hände nahm.“12 Im Frühjahr des folgenden Jahres versuchte Seyß-Inquart den Niederländern, die seiner Meinung nach 11 Snijder, Gesprekken met Seyss-Inquart, Bl. 1 f. 12 Zit. nach: DZN vom 19. Juni 1940. Aus Respekt vor den ‚germanischen‘ Niederländern forderte Seyß-Inquart bei dieser Gelegenheit von den SS-Männern „äusserste Haltung und Disziplin“.

6.1 Seyß-Inquart und das „eng verwandte germanische Volk“

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„über die gleichen rassischen Anlagen verfügen und daher blutnahe Völker und [zu] einer immer engeren Gemeinsamkeit fähig sind“, weiszumachen, dass ihr Land unter der „einmaligen Persönlichkeit der Erscheinung Adolf Hitlers“ zu „einer neuen Ordnung des europäischen Raumes mit dem natürlich gegebenen Machtkern der 90 Millionen deutscher Menschen, als dem größten rassisch und geistig einheitlich ausgerichteten Volkstum, das es auf der Erde gibt, und mit der gleichberechtigten Mitwirkung der germanischen Völker im gemeinsamen Lebensbereich“ geführt werde.13 Und nach dem Überfall auf die Sowjetunion formulierte er in Anwesenheit von Albert Forster, dem Gauleiter und Reichsstatthalter von Danzig, vor deutschen und niederländischen Nationalsozialisten die „Erkenntnis“, „dass das deutsche und das niederländische Volk zusammengehören“, und appellierte an „die Lebenskameradschaft aller Völker germanischen Blutes“.14 Entscheidend für Seyß-Inquarts Verständnis nationalsozialistischer Politik waren demnach nicht politische Kategorien wie ‚Staat‘ und ‚Regierungsform‘, sondern ethnische Vorstellungen von ‚Volk‘ und ‚Rasse‘. Diese Sichtweise hat er im Juli 1944 in der Braunschweiger Akademie für Jugendführung in wünschenswerter Klarheit ausgesprochen. Nachdem er vor HJ-Führern die Bedeutung von „Lebensraum“, „Rasse“ und „Blut“ für das Politikverständnis des Nationalsozialismus dargelegt hatte, fuhr er fort: „Volk ist, was blutmässig zusammengehört […]. In dem Augenblick, wo wir als den souveränen Begriff das Volk der Blutsgemeinschaft bezeichnen, tritt der Staat in die zweite Rolle zurück und steht nicht mehr obenan […]. Das liberal-demokratische Prinzip vom Staat und seiner Souveränität hat versagt.“ 15 Auf dieser allgemeinen Grundlage postulierte Seyß-Inquart eine Verwandtschaft zwischen Deutschen und Niederländern, die Letztere quasi wie von selbst von der angeblichen geschichtlichen Notwendigkeit des Nationalsozialismus überzeugen würde. Mithilfe eines begrenzten Maßes an Stimulierung durch das Reichskommissariat könne eine Selbstnazifizierung der niederländischen Gesellschaft und ihre Integration in die national­sozialistische ‚Neue Ordnung‘ erreicht werden. Diesen Zusammenhang stellte der Reichskommissar in aller Deutlichkeit in einer Rede her, die er am 26. Januar 1941 vor den Mitgliedern der NSDAP in Herzogenbusch hielt: „Die Niederländer gehören zu den deutschen Stämmen. […] Volkstumsmässig haben sie sich eine Zeitlang von uns entfernt. Sie sind aber germanischen Blutes und damit ein germanisches Volk.“ Aus diesem ‚Befund‘ leitete er für die deutsche Besatzungspolitik die „grosse Schicksalsaufgabe“ ab, „mit der Schaffung des starken Grossdeutschlands den Kern zu gestalten, um den herum sich das Abendland neu aufbaut, um dann zu einer immer stärkeren Sicherheit und Kraft zu gelangen, zu einer politischen und militärischen Organisierung des germanischen Raumes. […] Ehre des Blutes und Ehre der Arbeit, diese Grundsätze müssen wir den Niederländern vorleben.“ Die deutschen Parteigenossen wurden denn auch aufge13 Seyß-Inquart, Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [12. März 1941], 40 und 44 f. 14 Zitate aus Brüsseler Zeitung vom 6. November (BArch, ZSg. 103/5519) und DZN vom 5. November 1941. Es handelt sich um Berichte über eine Veranstaltung des Kreises Gelderland des Arbeitsbereichs der NSDAP in den Niederlanden, die am Tag zuvor im Konzertsaal Musis Sacrum in Arnheim stattgefunden hatte. 15 Seyß-Inquart, Worum es geht, 10, 14 und 16 f.

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Kapitel 6: Politische Ziele der ‚Aufsichtsverwaltung‘

Abb. 11: Seyß-Inquart bei seiner Amtseinführung am 29. Mai 1940 im Rittersaal des Den Haager Binnenhof zwischen Falkenhausen (li.) und Christiansen (re.). Links in der ersten Reihe des Publikums sitzt Rauter.

rufen, den Niederländern beizubringen, „dass sie nur mit der nationalsozialistischen Idee leben können und dass es weiter keinen Weg für sie gibt.“16 Noch kürzer fasste Kurt Rabl die Aufgabe der deutschen Zivilverwaltung zusammen: Es komme darauf an, „den Niederländer den Weg in die Zukunft des germanisch-europäischen Großraums selbst finden zu lassen.“17 Damit umschrieb er das, was Konrad Kwiet als eine „Politik einer induzierten Freiwilligkeit“ bezeichnet hat.18 Sie stellte für Seyß-Inquart die Leitlinie deutscher Besatzungspolitik in den Niederlanden dar. Um gleich von Anfang an das Ziel zu signalisieren, die niederländische Bevölkerung für den Nationalsozialismus und die Mitarbeit am Aufbau einer ‚Neuen Ordnung‘ in Europa gewinnen zu wollen, schlug Seyß-Inquart bei seinem Amtsantritt ostentativ beruhigende und geradezu versöhnliche Töne an. Bei der Rede, die er am 29. Mai 1940 anlässlich der feierlichen Übertragung der zivilen Hoheitsrechte an ihn und der militärischen Befehlsgewalt an General Christiansen im geschichtsträchtigen Rittersaal des Binnenhofs zu Den Haag hielt,19 16 NIOD, Coll. Doc. I, 1564, Mappe B, Zitate aus dem Manuskript Bl. 4–7. 17 Rabl, Das Reichskommissariat, 90. Siehe auch Ders., Die Rechtssetzung des Reichskommissariats im Jahre 1940. 18 Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 96. 19 Zu dieser Feierlichkeit und den dort von Falkenhausen, Seyß-Inquart und Christiansen gehaltenen Ansprachen siehe u. a. die Pressematerialien in NIOD, KA I 3403 sowie den Artikel in der DAZ vom

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betonte er in Anwesenheit hoher Amtsträger aus dem Reich wie SS-Obergruppenführer Werner Lorenz und Reichsleiter Max Amann, „daß wir Deutsche in dieses Land lieber mit der zum Gruß erhobenen offenen Hand als mit der Waffe in der Faust gekommen wären.“ Doch für Deutschland sei der militärische Einmarsch in die Niederlande notwendig gewesen, weil „das deutsche Volk […] in seinem letzten Entscheidungskampf [steht], in dem es um die Entscheidung über Sein oder Nichtsein geht.“20 Dabei übernahm Seyß-Inquart aus der Propagandasprachregelung des Regimes die These, der deutsche Angriff auf das neutrale Land sei nichts anderes als eine unvermeidliche Präventivmaßnahme gewesen – hätten die Westmächte doch geplant, über die Beneluxländer in Deutschland einzumarschieren. Diese These hatte Ribbentrop bereits am Morgen des 10. Mai der niederländischen Regierung gegenüber vertreten, als er durch den deutschen Gesandten in Den Haag, Graf Julius Zech von Burkersroda, dem niederländischen Außenminister Eelco Nicolaas van Kleffens als Begründung für den Westfeldzug ausrichten ließ: „[…] wir haben unwiderlegliche Beweise eines unmittelbar drohenden Einfalles Frankreichs und Englands in Holland, Belgien und Luxemburg, der mit Wissen Hollands und Belgiens lange vorbereitet [wurde].“21 Seyß-Inquart übernahm diese verlogene Interpretation, wenn er im Binnenhof in vollständiger Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse im Hinblick auf die Niederlande vorgab, dass „die deutsche Wehrmacht dieses Land in ihren Schutz nehmen [mußte], um zu verhindern, daß es in Mißachtung aller Grundsätze der Neu­tralität zur Basis des von den Feinden des deutschen Volkes geplanten Herzstoßes in das Industriegebiet des Reiches gemacht werde.“22 Bei diesem – gänzlich an 31. Mai 1940. Vgl. auch Neuman, Arthur Seyss-Inquart, 142-146. In den Niederlanden wird Seyß-Inquarts Amtsantritt unter Anspielung auf die traditionelle Eröffnung des Parlaments im Rittersaal durch den König oder die Königin mitunter sarkastisch als ‚brauner Prinzentag‘ bezeichnet; siehe Huf, Wie was Seyss-Inquart?, Nr. 4, 21. Zur Geschichte des Binnenhofs siehe Van Oostrom, Den Haag. 20 Seyß-Inquart, Aus Anlass der Übernahme der Regierungsgewalt, 7. 21 Zit. nach: Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 29. Auch in zahlreichen anderen nationalsozialistischen Schriften wurde der Westfeldzug als legitime präventive Maßnahme gegen einen angeblich bevorstehenden Angriff der demokratischen Staaten Westeuropas verharmlost. Seyß-Inquarts Persönlicher Referent Dr. Kroiß beispielsweise begründete noch 1942 in der Zeitschrift Reich – Volksordnung – Lebensraum. Zeitschrift für völkische Verfassung und Verwaltung den deutschen Einmarsch mit der vorgeblichen Notwendigkeit, zu verhindern, dass die Niederlande „das Glacis für britisch-französische Angriffspläne werden.“ (Die Verwaltung des Reichskommissars, 24) Der niederländische Schriftsteller Antoon Coolen sah in solchen propagandistischen Verdrehungen kurz vor Kriegsende „unverschämte, erlogene Rechtfertigungen“, die er in eine Kontinuität zum deutschen Angriff auf Belgien im August 1914 setzte (Bevrijd Vaderland, 10). Die Umkehrung der politischen Verantwortung für eine militärische Expansion des Deutschen Reiches war übrigens seit der ‚Machtergreifung‘ ein beliebtes rhetorisches Muster (siehe hierzu Schlosser, Sprache unterm Hakenkreuz, Kap. 12: Der Weg in einen „uns aufgezwungenen Krieg“). Im Zweiten Weltkrieg gewann dieses Muster zusätzliche Relevanz. Hans Frank wendete es an, als er bei seinem Amtsantritt im Herbst 1939 Großbritannien und die mit diesem Land verbündete polnische Exilregierung für die angebliche Notwendigkeit des Einmarsches der Wehrmacht in Polen verantwortlich gemacht hatte (siehe Schenk, Hans Frank, 149 f.). Und nach dem Überfall auf Dänemark und Norwegen sprach die NS-Presse davon, mit dem ‚Unternehmen Weserübung‘ „zwei friedliche Länder vom Kriege bewahrt“ zu haben, weil die Westmächte den Norden hätten besetzen wollen (hier nach: Krakauer Zeitung vom 10. April 1940). 22 Seyß-Inquart, Aus Anlass der Übernahme der Regierungsgewalt, 7. Diese Interpretation propagierte Seyß-Inquart auch bei anderen Gelegenheiten, etwa in einer Rede vor deutschen Parteigenossen am 26. Juli 1940

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den Haaren herbeigezogenem – Szenario wären die Niederlande „der Schauplatz der blutigsten und heftigsten Kämpfe“ geworden. Doch „dank der Großmut des Führers, der Kraft der deutschen Wehrmacht und der Besonnenheit der niederländischen Bevölkerung“ bestehe nun die Möglichkeit, „jene Ordnung des öffentlichen Lebens wieder herzustellen, die in den gewohnten Gang der Dinge nur soweit eingreifen soll, als es die besonderen obwaltenden Verhältnisse erfordern.“23 Vor diesem Hintergrund formulierte der Reichskommissar bei seinem Amtsantritt die Leitlinie seiner Politik folgendermaßen: „Wir kommen nicht hierher, um ein Volkstum zu bedrängen und zu zerstören und um einem Lande die Freiheit zu nehmen. […] Wir wollen dieses Land und seine Leute weder imperialistisch bedrängen, noch ihnen unsere politische Überzeugung aufdrängen. Wir wollen in unseren Handlungen nur durch die Notwendigkeiten geleitet sein, die sich aus der heutigen besonderen Lage ergeben. Darüber hinaus aber werden wir durch nichts anderes wirken als durch unsere Haltung und durch das Beispiel, das die Stärke unserer Gesinnung und die Bedingungslosigkeit unseres Einsatzes für Volk und Reich geben können.“24 In diesem Sinn werde er sich dafür einsetzen, „daß das dem deutschen Volke blutsnahe niederländische Volk nicht ungünstigeren Lebensbedingungen verfällt, als es die gegebene Schicksalsgemeinschaft und der Vernichtungswille unserer Feinde in dieser Zeit nötig machen.“ Konkret wolle das Reichskommissariat der Beseitigung der Schäden, die die zurückliegenden Kampfhandlungen für die Niederlande mit sich gebracht hatten, dieselbe finanzielle Bedeutung zukommen lassen „wie jenen Leistungen, auf die die deutsche Wehrmacht und die deutsche Verwaltung in diesem Lande Anspruch haben.“ Wichtiger aber war Seyß-Inquarts Aussage, dass er bei der Ausübung „der obersten Regierungsgewalt im zivilen Bereich“ willens sei, „das bisher geltende niederländische Recht möglichst in Kraft zu belassen, zur Ausübung der Verwaltung die niederländischen Behörden heranzuziehen und die Unabhängigkeit der Rechtsprechung zu wahren.“ Als Gegenleistung für dieses ‚Entgegenkommen‘ der Siegermacht sprach er die Erwartung aus, „daß alle im aktiven Dienst in Den Haag, wo er den Krieg gegen Frankreich und die Beneluxstaaten als eine „Verteidigungsmaßnahme“ ausgab, die nicht zum Ziel gehabt habe, „ein Land zu erobern und ein Volk seiner Freiheit zu berauben.“ (Versammlung der AO der NSDAP, 20 und 14) Siehe auch die Beantwortung von Fragen, die ihm Rundfunkreporter im Juni 1940 auf einer von Dr. Markus Timmler (Auswärtiges Amt) organisierten Propagandareise durch Frankreich, Belgien und die Niederlande vorgelegt hatten. Hier verstieg sich Seyß-Inquart zu der zynischen Aussage: „Die deutschen Truppen haben den bewaffneten Schutz der Neutralität dieser Länder übernommen.“ (BArch, R 901/48008, Bl. 28) Ob das Interview mit Seyß-Inquart tatsächlich gesendet wurde, konnte nicht eruiert werden. Mit derartigen Äußerungen formulierte Seyß-Inquart jedenfalls die offizielle Sprachregelung, die auch von anderen Mitarbeitern des Reichskommissariats übernommen und propagiert wurde; vgl. z. B. Rabl, Das Reichskommissariat, 83. 23 Seyß-Inquart, Aus Anlass der Übernahme der Regierungsgewalt, 7. 24 Ebd., 9 f. Noch auf dem Nürnberger Prozess stellte Seyß-Inquart in Abrede, die Absicht verfolgt zu haben, „den Niederländern einen bestimmten politischen Willen zu oktroyieren“ (Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 699), musste aber im Rückblick konzedieren: „Wir waren in dem Irrtum befangen, daß unsere Ordnung der Besatzungsmacht die richtige oder zumindest bessere ist, und zweitens, daß sich in einem besetzten Gebiet ein eigenständiger politischer Wille entwickeln kann. Daran sind wir in dieser Politik gescheitert.“ (ebd., 701; ähnlich seine Aussage in ebd., Bd. 16, 42)

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stehenden niederländischen Richter, Beamten, Angestellten und Lehrer in Erkenntnis nicht nur der Unabänderlichkeit [,] sondern auch der logischen Folgerichtigkeit der Entwicklung […] meine […] Anordnungen gewissenhaft befolgen, und daß das niederländische Volk mit Verständnis und Beherrschung dieser meiner Führung folgt.“25 Nicht einmal die Toten und Verwundeten, die der Fünf-Tage-Krieg gefordert hatte, sollten dem Aufbau eines einvernehmlichen Verhältnisses zwischen Niederländern und der deutschen Besatzung entgegenstehen. Der Reichskommissar erwies sogar den feindlichen Soldaten die Ehre, wenn er darauf hinwies: „Auch das niederländische Volk hat seinen Blutzoll gezahlt, wenn auch aus einem geschichtlichen Irrtum heraus. Die niederländischen Soldaten haben sich im Kampf gut geschlagen, die niederländische Zivilbevölkerung hat sich den kämpfenden Truppen gegenüber ordentlich [sic] benommen.“ In diesem Sinn unterstrich er: „[…] unsere Herzen beherrscht keine Feindschaft.“ Hieraus wiederum zog er die entscheidende Konsequenz, die er als Appell an die niederländische Bevölkerung verstanden wissen wollte: „Es liegt nichts vor, was uns hindern könnte, einander mit Achtung zu begegnen.“26 Dass sich dieses Angebot nicht an den jüdischen Bevölkerungsteil richtete, verstand sich für den ausgesprochenen Antisemiten Arthur Seyß-Inquart von selbst. Ebenso wenig wie Juden für ihn und alle anderen Nationalsozialisten zum ‚deutschen Volk‘ gehörten, wurden sie auch in den Niederlanden kategorial nicht zu dem gerechnet, was man als ‚das Volk‘ ansah. Bevor also die Juden, die sich in den Niederlanden aufhielten, sozial, wirtschaftlich, kulturell und geografisch ausgegrenzt wurden, war jeder, der der nationalsozialistischen Definition von ‚Jude‘ entsprach, schon von vornherein „als geborener Feind des Nationalsozialismus und der neuen Ordnung Europas“ vom höchsten Vertreter des NS-Regimes in Den Haag begrifflich aus dem „niederländischen Volkskörper“27 herausgeschnitten worden. Immerhin verzichtete Seyß-Inquart bei seinem Amtsantritt darauf, öffentlich scharfe antisemitische Maßnahmen in Aussicht zu stellen. Denn dies hätte seine Intention konterkariert, die niederländische Bevölkerung für seine Politik zu gewinnen, von den angeblich guten Absichten der deutschen Besatzung zu überzeugen und durch ein positives Vorbild für den Nationalsozialismus zu gewinnen. Aus seiner Sicht war der Verzicht auf antisemitische Ausfälle, die später zum Standardrepertoire seiner Reden werden sollten, zu diesem Zeitpunkt taktisch sinnvoll.28 In seiner Antrittsrede vom 29. Mai legte Seyß-Inquart ausführlicher dar, was er in komprimierterer Form vier Tage vorher bei seinem Besuch im Führerhauptquartier in Aussicht gestellt hatte und was wenig später als Aufruf des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete an die niederländische Bevölkerung im Verordnungsblatt für die besetzten niederländischen Gebiete gleich im Anschluss an Hitlers Erlass vom 18. Mai veröffentlicht wurde.29 Beide Verlautbarungen des Reichskommissars waren von zwei zentralen Aussagen getragen. Einerseits ließ Seyß-Inquart keinerlei Zweifel daran, dass er als Repräsentant der Siegermacht 25 Seyß-Inquart, Aus Anlass der Übernahme der Regierungsgewalt, 11 f. 26 Ebd., 9. 27 So Seyß-Inquarts Formulierung aus dem Jahr 1942 (Die politische Aufgabe des Reichskommissars, 13). 28 Zur Judenverfolgung siehe Kap. 8. 29 Als VO 2/1940 vom 25. Mai 1940 abgedruckt in: VOBl. NL 1940, 6.

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in die Niederlande gekommen war und alle Maßnahmen ergreifen werde, um „die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben sicherzustellen“, denn unmissverständlich stellte er klar: „Ich habe als Reichskommissar die Reichsinteressen in den unter dem Schutz der deutschen Truppen stehenden niederländischen Gebieten zu wahren, und ich werde sie wahren.“ Andererseits formulierte er im selben Atemzug eine ‚Politik der ausgestreckten Hand‘, indem er die niederländische Bevölkerung zur Mitarbeit am Aufbau einer nationalsozialistischen Ordnung im eigenen Land wie auch in Europa an der Seite Deutschlands – und unter dessen Führung – aufrief: „Das niederländische Volk wird in Erfüllung der Aufgaben, die sich aus dem gemeinsamen Schicksal ergeben, sein Land und seine Freiheit für die Zukunft zu sichern vermögen.“30 Die niederländische Bevölkerung musste sich also darauf einstellen, dass sich die deutsche Besatzungspolitik unter Seyß-Inquarts Führung zwischen zwei Polen bewegen würde, deren Inhalt vage und deren Relation offen blieb: zwischen „Reichsinteressen“ und ‚ausgestreckter Hand‘. Die Spannung, die zwischen diesen beiden Polen bestand, verlieh dem Reichskommissariat von vornherein eine Janusköpfigkeit, die sich im Laufe der fünf Besatzungsjahre ad absurdum führen sollte. Nimmt man die programmatischen Aussagen zusammen, die Seyß-Inquart zu Beginn seiner Tätigkeit als Reichskommissar artikuliert hat, liegt die Vermutung nahe, dass er sich als Leiter einer Besatzung neuen Typs verstand. Demnach wollte das Großdeutsche Reich nicht einfach ein erobertes Land unterwerfen, wie dies üblicherweise nach einem erfolgreich geführten Feldzug der Fall war. Das Reichskommissariat trat in den Niederlanden vielmehr mit dem Anspruch auf, der Bevölkerung ein ‚Angebot‘ zu machen, nämlich nach deutschem Vorbild und unter deutscher ‚Schützenhilfe‘ zu übernehmen, was ihr als einem „germanischen Volk“ angeblich im Blut lag: Ideologie und politisches System des Nationalsozialismus. Beim Reichskommissariat handelte es sich um eine ideologisierte Besatzungsverwaltung, die sich aus missionarischem Bekehrungseifer speiste und sich zugleich auf die Macht einer militärischen Besatzung des Landes stützte. Obwohl die nationalsozialistische Zivilverwaltung in dieser Mischung partiell Parallelen zu den Idealen der Truppen der Französischen Revolution oder zu denen der Roten Armee aufwies, hätte Seyß-Inquart jede Ähnlichkeit mit anderen Formen ideologisierter Besatzungsverwaltung weit von sich gewiesen, weil er den Nationalsozialismus als historisch einzigartig ansah und dessen Bestreben, Europa nach ‚rassischen‘ Gesichtspunkten zu ordnen, eine Selbstverständlichkeit und ideologische ‚Natürlichkeit‘ zusprach, die kein anderes Regime besaß.

30 VO 2/1940 (ebd., 8). Diese Botschaft sollte Seyß-Inquart in den folgenden Wochen und Monaten bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholen. Im Juni etwa unterstrich er bei einem Besuch der schwer zerstörten Stadt Middelburg, dass „wir Ihnen unser Wohlwollen zeigen wollen, nicht im Sinne eines Gönnertums, sondern im Sinne einer Bereitschaft zur Zusammenarbeit.“ Zit. nach: DZN vom 12. Juni 1940. Im Oktober schrieb er für die Zeitschrift Die Aktion. Kampfblatt für das Neue Europa: „Wir wären lieber in dieses Land gekommen mit der zum Gruß erhobenen Hand – nicht mit der Waffe in der Hand. […] Ich bin überzeugt, daß das blutsnahe Niederländische [sic] Volk die große Bedeutung der Aufforderung erkennen wird, die der Führer an alle germanischen Völker zum Neuaufbau Europas richtet.“ Seyß-Inquart, Vorwort des Reichskommissars, 1.

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Auf welche Resonanz stieß Seyß-Inquart mit der Antrittsrede und dem ‚Programm‘, das er im Frühjahr 1940 der niederländischen Bevölkerung in Aussicht stellte? Von Himmler erhielt er aus dem ‚Sonderzug Heinrich‘ die Mitteilung, „der Führer war mit Ihrer Rede sehr einverstanden.“31 Dieses Lob war zunächst einmal kaum überraschend. Denn Seyß-Inquart hatte sich im Kern an jenen interpretatorischen Rahmen gehalten, den Hitler selber vorgegeben hatte, als er am 25. Mai im ‚Felsennest‘ zu Bad Münstereifel in Anwesenheit von Himmler, Bormann und den designierten Generalkommissaren Rauter und Schmidt Seyß-Inquart gegenüber eine ethnische Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit von Deutschen und Niederländern behauptet und die Erwartung ausgesprochen hatte, die niederländische Bevölkerung trotz ihrer anglophilen Grundhaltung für Deutschland und ein nationalsozialistisches Europa gewinnen zu können.32 Einer Aktennotiz des Auswärtigen Amtes zufolge lief „die vom Führer angeordnete Sonderbehandlung Hollands“ denn auch auf das Bemühen hinaus, „im Guten und in Zusammenarbeit mit den Holländern weiter zu kommen.“ Ein „zu schroffes Vorgehen“ solle vermieden werden, da ansonsten die Gefahr bestehe, dass „das bisher sich anbahnende Vertrauensverhältnis in passiven Widerstand umschlagen könnte.“33 In diesem Sinn verzichtete die Reichsführung auf eine umstandslose Annexion der frisch besetzten Niederlande und stellte die staatliche Einheit des Landes nicht in Frage. Nicht einmal dessen Kolonien, die während des Krieges ohnehin nicht erobert werden konnten, wollte die NS-Führung Seyß-Inquart zufolge in ihren Besitz bringen. In diesem Sinn erklärte der Reichskommissar am 26. Juli 1940 auf einer Großkundgebung der Landesgruppe Niederlande der NSDAP im Festsaal des Tierparks von Den Haag: „Die Führung des Großdeutschen Reiches erhebt mit der militärischen Besetzung der Niederlande ebensowenig irgendeinen Anspruch auf irgendeinen Teil des niederländischen Reiches außerhalb Europas wie sie eine Beseitigung der selbständigen Niederlande beabsichtigt.“34 Die scheinbare Bescheidenheit und Zurückhaltung, die aus solchen Worten sprechen sollte und in der niederländischen Presse auf Zustimmung stieß,35 diente einer Reihe von politischen und wirtschaftlichen Überlegungen. Nicht zuletzt die Hoffnung, bei einem denkbaren Friedensschluss mit Großbritannien die Niederlande als Verhandlungsmasse einbringen zu können, spielte in den ersten Monaten der Besatzungszeit eine wichtige Rolle. Gerhard Hirschfeld hat diese – letztlich gescheiterte – Strategie auf den Punkt gebracht: „Angesichts des Risikos, durch eine vorzeitige Annexion eine außenpolitische Trumpfkarte bei einem immer noch möglichen Arrangement mit England zu verlieren und im Hinblick auf die erwarteten außenwirtschaftlichen und handelspolitischen Vorteile, die ein niederländisches Kolonialreich einbringen würde, hatte sich Hitler zunächst entschieden,

31 Himmler an Seyß-Inquart vom 4. Juni 1940, BArch, NS 19/836, Bl. 133. 32 Siehe Cohen, Het ontstaan van het Duitse Rijkscommissariaat, 177 und Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 58 f. 33 Ministerialdirektor Emil Wiehl, Aufzeichnung betreffend Bericht des Staatsrats Wohlthat über die Lage in Holland vom 12. Juni 1940, PA AA, R 29678. 34 Seyß-Inquart, Versammlung der AO der NSDAP, 28. 35 Siehe die zeitgenössischen Zeitungsausschnitte in: NIOD, KA I 3408.

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diese Frage offenzuhalten und die Niederlande formal ‚selbständig‘ zu belassen.“36 Auch wenn Seyß-Inquart mit seiner Antrittsrede nicht mehr und nicht weniger getan hat, als Hitlers Wunsch nach einer wohlwollenden Haltung gegenüber der niederländischen Bevölkerung öffentlich zu vermitteln, war dessen positive Reaktion für ihn psychologisch und politisch wichtig – zeigte sie doch, dass er auf die Unterstützung und Wertschätzung des ‚Führers‘ zählen konnte. Doch auch in der niederländischen Presse erntete Seyß-Inquart Zustimmung. Hier fand nicht nur die symbolische Geste Anklang, die der Reichskommissar den niederländischen Gefallenen gegenüber erwiesen hatte.37 Es wurde auch mit Erleichterung die Bereitschaft der Besatzungsmacht zur Zusammenarbeit mit der niederländischen Bevölkerung und den einheimischen Behörden hervorgehoben und gewürdigt. So sah beispielsweise De Westlander nicht ohne Naivität den zentralen Inhalt von Seyß-Inquarts Rede in dessen Versprechen, „unseren Volkscharakter nicht in Bedrängnis zu bringen und unserem Volk kein politisches System aufzuerlegen.“38 Zu einer solchen Hoffnung schienen auch symbolische Handlungen Anlass zu geben. Neben der verbalen Verneigung vor den niederländischen Soldaten in seiner Antrittsrede, dem Besuch von verletzten niederländischen und deutschen Soldaten in Den Haager Krankenhäusern oder dem Niederlegen von Kränzen an den Gräbern von Soldaten beider Länder, die in den Kämpfen vom Mai 1940 am Grebbeberg gefallen waren,39 gehörte für Seyß-Inquart die Wahl seiner Residenz zu den bewusst inszenierten politischen Gesten. Während die Behördenapparate von Reichskommissariat und Wehrmacht in Den Haag öffentliche Gebäude in Beschlag nahmen, die bisher vorzugsweise von der niederländischen Regierung benutzt worden waren, verzichtete Seyß-Inquart geradezu demonstrativ darauf, eines der königlichen Schlösser als Wohnsitz für sich und seine Familie in Anspruch zu nehmen. Stattdessen bestimmte er das am Rande von Den Haag auf einem Landgut gelegene Haus Clin­gen­dael zu seiner Residenz; dessen adelige Besitzerin, Marguérite Baronin van Brienen van de Groote Lindt, war im November 1939 kinderlos verstorben. Auf die repräsentative, von einem großen Park umgebene Villa hatte ihn sein vertrauter Mitarbeiter Mühlmann aufmerksam gemacht. Bis Haus Clingendael, das praktischerweise nicht mehr als knapp zweieinhalb Kilometer vom Den Haager Büro des Reichskommissars am Plein 23 entfernt war, für die Bedürf36 Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 26. Am 4. Juni 1940 hob Seyß-Inquart auf einer Dienstbesprechung hervor, „daß nach dem Willen des Führers Holland ein selbständiges Land bleiben solle, das aber später aus freiem Willen sich dem Führer Mittel-Europas würde anschließen müssen.“ (Aktennotiz vom 6. Juni 1940, NIOD, 14/146) Zu den wechselnden politischen und wirtschaftlichen Zielen, die die deutsche Besatzungspolitik gegenüber den besetzten Niederlanden im Verlauf des Krieges einnahm, siehe Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 22–38. Siehe auch Kap. 11 im vorliegenden Buch. 37 Siehe etwa De Rotterdammer vom 31. Mai 1940. 38 De Westlander vom 16. Juli 1940. Zu weiteren positiven Stellungnahmen der niederländischen Presse vgl. Ten Have, De Nederlandse Unie, 125 f. 39 Siehe DZN vom 23. Juni 1940, Algemeen Handelsblad vom 22. März 1943 (NIOD, KA I 3409) sowie Mussert an Seyß-Inquart vom 15. März 1944, NIOD, 123/216, Mappe 10. Siehe auch die Fotografien unter Beeldbank WO2, Sign. 70071-70073, 70079 und 70080.

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Abb. 12: Himmlers Eintrag ins Gästebuch von Haus Clingendael während seines Aufenthalts in den Niederlanden im Mai 1942.

nisse der neuen Bewohner umgebaut und an die als notwendig erachteten Sicherheitsanforderungen angepasst war, residierte Seyß-Inquart im Hotel Kasteel Oud Wassenaar. Spätestens kurz vor Weihnachten 1940 waren die Baumaßnahmen dann so weit abgeschlossen, dass er,

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seine Frau und Tochter Dorothea in Clingendael einziehen konnten.40 Hier sollte der Reichskommissar in den folgenden Monaten zahlreiche Gäste aus Politik, Kultur, Wirtschaft oder Militär empfangen; prominenten Gästen wie Heinrich Himmler diente die Villa auch zur Übernachtung.41 Oftmals fanden in der Residenz kulturelle Veranstaltungen statt. Namentlich Konzerte stellten für den musikalisch sehr interessierten Reichskommissar angenehme repräsentative Pflichten dar; zu den musikalischen Matineen, die Sonntagsmorgens auf Clingendael auf dem Programm standen, wurden bis zu 100 Einladungen ausgesprochen oder verschickt.42 Zu den Sportarten, die der Reichskommissar wohl als standesgemäß ansah, gehörten das Tennisspiel, Reiten und Segeln. Auf seinem Landgut ließ er eigens einen Tennisplatz anlegen, und auf dem nördlich von Leiden gelegenen Seengebiet Kaag hatte er mit seiner Familie ein Wohnboot sowie zwei Segelboote angemietet.43 In dem gesellschaftlichen Leben, das der Reichskommissar in seiner Residenz entfaltete, sieht Victor Laurentius zu Recht eine propagandistische Funktion, sollte doch die Villa „ein würdevolles, gleichwohl geselliges Haus sein, in dem ein gastfreundlicher Reichskommissar seine Gäste auf eine kaum formelle Weise empfing.“44 Die ‚Gastfreundlichkeit‘ beschränkte sich allerdings auf ausgewählte Gäste wie deutsche oder niederländische Nationalsozialisten oder herausragende Künstler, die dem Regime mindestens freundlich gegenüberstanden. Für alle anderen war das Landgut hermetisch abgeriegelt, um potenziellen Attentätern jeglichen Zugang zu versperren. Ihre doppelte Bedeutung als Wohnstätte der Familie des Reichskommissars und als Ort deutsch-niederländischer Begegnungen unter dezidiert nationalsozialistischen Vorzeichen büßten Haus und Landgut Clingendael ein, als im weiteren Verlauf des Zweiten Weltkriegs ein Großteil der Ämter des Reichskommissariats in östlicher gelegene Ortschaften wie Apeldoorn, Almelo, Hengelo und Delden verlegt wurde.45 Damit verband das Regime die Hoffnung, im Landesinneren die deutschen Besat40 Huf in einem Gespräch mit Witwe Gertrud („Hij vond het fijn in Holland“, 8). Arthur Seyß-Inquart selber hat in einem Brief an Lammers vom 10. Juli 1942 angegeben, dass er und seine Familie bereits seit Anfang Oktober in Haus Clingendael residiert hätten (BArch, R 43 II/140, Bl. 47). Zum Aufenthalt der Familie Seyß-Inquart auf Clingendael siehe auch Laurentius, De residentie van Seyss-Inquart. 41 Als Dank erhielt der Reichskommissar artige Worte in sein Gästebuch geschrieben. Während seine Untergebenen Millionen von Menschen auf grauenvolle Weise in Tod und Verderben führten, trug Himmler den vor kitschiger Idylle triefenden Satz ein: „Wir danken herzlich für die liebevolle Aufnahme u[nd] Gastfreundschaft im Hause Seyß-Inquart und in den Niederlanden, des Germanischen Reiches schönstem Garten.“ (siehe Abb. 12) Außerdem schickte der Reichsführer-SS Seyß-Inquart Anfang Juni „als Dank für die Tage in Den Haag“ (16. bis 20. Mai 1942) drei vierarmige Leuchter (Karteikarte in BArch [ehem. BDC], SSO Arthur Seyß-Inquart, Bl. 11). Zwischen 30. Januar und 2. Februar 1944 nächtigte Himmler erneut in Haus Clingendael. Siehe RMA, NG-C-2006-1, Eintrag im Gästebuch zu den genannten Daten, die Abbildung in: Blom u. a. (Hrsg.), A. E. Cohen als geschiedschrijver, 299 und das Fernschreiben vom 8. Feburar 1944, mit dem Himmler sich „in alter Kameradschaft“ für „die schönen Tage und die so gastfreundliche Aufnahme“ bedankte (NL-HaNA, 2.14.08/94). 42 De Jong, Twee gesprekken, 139. Siehe auch unten, Kap. 12. 43 Huf, „Hij vond het fijn in Holland“, 10. 44 Laurentius, De residentie van Seyss-Inquart, 144. 45 Siehe die Organisationspläne in: NIOD, 14/141.

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zungsbehörden vor einer befürchteten Landung der Alliierten an der niederländischen Küste besser schützen zu können als im küstennahen Den Haag. Obendrein boten diese Standorte den deutschen Beamten den Vorteil, sich im Notfall rascher aufs Reichsgebiet zurückziehen und sich hinter der Weststellung verschanzen zu können. Mit der Verlegung der zahlreichen Ämter ergab sich die Notwendigkeit, in diesem Teil der Niederlande auch eine Residenz für den Reichskommissar ausfindig zu machen. Die Wahl fiel erneut auf ein repräsentatives Landgut: In der südlich von Apeldoorn gelegenen Ortschaft Beekbergen richtete sich Seyß-Inquart auf Landgut Spelderholt ein, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem jüdischen Ingenieur und rechtsliberalen Politiker Louis Frederik Teixeira de Mattos erbaut worden war.46 Ob der Reichskommissar auch hier ein nach außen sichtbares gesellschaftliches Leben entfaltet hat, ist nicht bekannt und vor dem Hintergrund der sich stetig verschlechternden Rahmenbedingungen wenig wahrscheinlich. Von dem Aufenthalt der Familie Seyß-Inquart in Clingendael gingen letztlich zwei politische Signale aus. Erstens sollte in der niederländischen Gesellschaft wahrgenommen werden, dass der Reichskommissar nicht nur NS-Funktionäre aus dem Deutschen Reich, sondern auch ausgewählte Niederländer, die dem Regime nahestanden, zu sich einlud. Damit wurde das gesellschaftliche Leben in der Villa am Rande von Den Haag zu einem Sinnbild für seine ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ gegenüber all jenen Niederländern, die zur Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht bereit waren. Zweitens wollte Seyß-Inquart mit dem Verzicht auf die Inanspruchnahme eines königlichen Schlosses deutlich machen, dass sich die Besatzungsmacht nicht anmaßte, umstandslos an die Stelle des niederländischen Königshauses zu treten. Angesichts der Loyalität, die die Mehrheit der Niederländer dem Haus Oranien entgegenbrachte, baute der Reichskommissar somit an diesem Punkt einer möglichen Konfrontation und breit gestreuten Unzufriedenheit im Lande vor, die nur schwer kontrollierbar gewesen und von Anfang an allen Bemühungen um ein Entgegenkommen zuwidergelaufen wäre. Mit seiner Entscheidung setzte sich Seyß-Inquart signifikant von seinem früheren Vorgesetzten Hans Frank ab, der in seinem Selbstverständnis als „von Hitler über Polen gesetzter Lehnskönig“47 wie selbstverständlich den Wawel, das polnische Königsschloss in Krakau, in Beschlag genommen hatte. ‚Clingendael‘ machte auf symbolische Weise einmal mehr deutlich, dass die deutsche Besatzungspolitik in den als ‚germanisch‘ betrachteten Niederlanden von gänzlich anderem Zuschnitt sein sollte als in Polen, wo sich selbst Kreishauptleute in der Mentalität von ‚Herrenmenschen‘ einheimische Arbeitskräfte, Reitpferde, kostbare Möbel oder wertvolle Kunstwerke aneigneten.48 Zwar verfügte Seyß-Inquart in den Niederlanden über vier Reitpferde.49 Von einer Selbstinszenierung als ‚Herrenmensch‘ aber, der seine politische Funktion in aller Öffentlichkeit zur persönlichen Bereicherung auf Kosten des besetzten Landes und seiner Einwohner einsetzte, war er weit entfernt. Für ihn gehörte das gesellschaftliche Leben, das in der Villa und auf dem Landgut Clingendael gepflegt wurde, zu seiner politischen Strate46 Vgl. Janss, Teixeira de Mattos. 47 Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, 72. 48 Zum Generalgouvernement vgl. Roth, Herrenmenschen, 50–52. 49 Siehe die Aufstellung vom 7. September 1942 in: NIOD, 20/1936.

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gie, der niederländischen Bevölkerung so viel Entgegenkommen zu demonstrieren, wie unter den Bedingungen einer deutschen Besatzung möglich sein könnte. Seyß-Inquarts Vorstellung von den Niederländern als einem „eng verwandten germanischen Volk“ reichte aber über Ideologie und symbolische Politik hinaus. Sie hatte auch Konsequenzen für die Frage nach der Gestaltung des Staatsbürgerschaftsrechts innerhalb des deutsch beherrschten Raums. In dieser Frage ging der Reichskommissar so weit, per Verordnung eine deutsch-niederländische Doppelstaatsbürgerschaft einzuführen.50 Der Reichskanzlei gegenüber begründete er dies mit der Überlegung, „daß wir uns auf weite Sicht gesehen mit einer Regelung befassen müssen, der zufolge die in dem künftigen Gemeinschaftsgebilde – mag es ‚Germanischer Staatenbund‘ heißen oder eine andere Bezeichnung führen – wohnhaften Staatsangehörigen der einzelnen Teile wirtschaftliche und politische Betätigungsrechte in den anderen Teilen zuerkannt bekommen müssen, die die Angehörigen dieses Staatenbundes jedenfalls von den Ausländern üblicher Art unterscheiden.“ Diesen Vorschlag verstand er als einen Beitrag zur Entwicklung einer „großgermanischen Reichsbürgerschaft“.51 Mit diesen Überlegungen und seiner Verordnung zur deutsch-niederländischen Doppelstaatsbürgerschaft zeigte Seyß-Inquart, dass er seine Politik in den Niederlanden an Zielen orientierte, die über das Kriegsende hinauswiesen und im Fall eines deutschen Endsiegs zur Etablierung der angestrebten ‚Neuen Ordnung‘ hätten führen können. In der Reichskanzlei fand man seine Vorschläge zwar kompliziert, und weil sie tief in das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht eingriffen, verhielt man sich in Berlin zunächst zurückhaltend.52 Letztlich aber stellte sich die Reichsführung der Einführung einer Doppelbürgerschaft nicht in den Weg. Hierfür gab es einen höchst praktischen Grund: Nach der Entfesselung des ‚Unternehmens Barbarossa‘ benötigte das Reich massenhaft Freiwillige aus nichtdeutschen Ländern, und da das Staatsrecht des Königreichs der Niederlande den Verlust der niederländischen Staatsbürgerschaft dann vorgesehen hatte, wenn ein niederländischer Staatsangehöriger in der Armee eines anderen Landes Dienst tat oder sich in einem anderen Land naturalisieren ließ, musste Reichsführung wie Reichskommissar daran gelegen sein, die rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, um Niederländern die Mitgliedschaft in einer bewaffneten deutschen Einheit zu ermöglichen. Diesem Ziel dienten die drei Verordnungen betreffend die deutsche Staatsangehörigkeit, die Seyß-Inquart im Sommer 1941 in Kraft setzte.53 Eine allgemeine Regelung der Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft an Personen, die ihre Niederlassung in den Niederlanden hatten, blieb aber aus; eine entsprechende Verordnung ist bis Kriegsende nicht erlassen worden. In den Akten des Generalkommissariats für Verwaltung und Justiz findet sich immerhin die Abschrift eines Verordnungstextes vom März 1943,54 50 Siehe VO 147/1941 vom 8. August 1941, in: VOBl. NL 1941, 622 f. 51 Seyß-Inquart an Lammers vom 3. Mai 1941, zit. nach: Jacobsen, Der Weg zur Teilung der Welt, Dok. 136, 246. 52 Siehe den Aktenvermerk vom 11. Mai 1941, BArch, R 43 II/677, Bl. 98 f. 53 Neben der erwähnten VO 147/1941 waren dies VO 133/1941 und VO 134/1941, beide vom 25. Juli 1941, in: VOBl. NL 1941, 548–550. 54 NIOD, 20/1815.

6.1 Seyß-Inquart und das „eng verwandte germanische Volk“

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der erkennen lässt, unter welchen Voraussetzungen man im Reichskommissariat bereit war, die deutsche Staatsbürgerschaft an Niederländer oder nichtdeutsche Ausländer zu verleihen, die sich in diesem Land niedergelassen hatten. Demnach wären bei Antragstellung ein „rassischer Abstammungsnachweis“ oder ein amtlich beglaubigter Ahnenpass vorzulegen gewesen. Die Amtliche Deutsche Beratungsstelle, die in den Niederlanden mehrere Dienststellen unterhielt, wäre ermächtigt worden, bei Bedarf weitere Unterlagen anzufordern, etwa ein Gutachten der zuständigen Kreisleitung der NSDAP über die Frage, „ob gegen die Einbürgerung in politischer oder sonstiger Hinsicht Bedenken bestehen“, oder eine Stellungnahme des zuständigen Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD, „ob in sicherheitspolizeilicher und sonstiger Hinsicht gegen die Einbürgerung Bedenken bestehen.“ Diese Bestimmungen sind zwar nie in Kraft gesetzt worden. Sie zeigen aber, dass man im Reichskommissariat an ein hochgradig politisiertes Verfahren dachte, das fundamental auf rassistischen Kriterien basierte. In dieser Hinsicht ist der Verordnungstext vom März 1943 für die gesamte Denkweise von Arthur Seyß-Inquart bezeichnend: Seit seiner Jugendzeit orientierte sich Politik für ihn am ‚völkischen‘ Gedanken, und der war ihm in ungebrochener Kontinuität auch nach der Installierung als Reichskommissar in öffentlichen wie in nichtöffentlichen Äußerungen der zentrale Leitfaden für die Formulierung politischer Ziele. Vor diesem Hintergrund hielt er auch dann an der Erwartung einer Selbstnazifizierung der niederländischen Gesellschaft fest, als wenige Monate nach seinem Amtsantritt im Februarstreik offenkundig wurde, dass ein solches Konzept eher Utopie als realisierbares Ziel war – und mit zunehmender Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Regime und Bevölkerungsmehrheit bleiben würde. So gab er sich im April 1941 in einem Zeitungsinterview überzeugt, dass viele Niederländer nicht nur unter dem Eindruck der militärischen Siege, die die Wehrmacht bisher errungen hatte, sondern „auch aus innerer Überzeugung für eine enge Zusammenarbeit der Völker des germanischen Gemeinschaftsbereiches eintreten. Diese Einstellung wird mehr und mehr um sich greifen. Ich betrachte es als meine besondere Aufgabe, sie zu fördern.“55 Und obwohl die Unruhen vom Februar deutlich gemacht hatten, dass ein Großteil der niederländischen Bevölkerung nicht mit der deutschen Besatzungspolitik übereinstimmte, bezog sich Seyß-Inquart in seiner Grundsatzrede vom 12. März 1941 auf die „Schicksalsgemeinschaft des niederländischen und des deutschen Volkes“. Noch immer strebte er dem Ziel nach, „daß die Niederländer selbst aus innerer Überzeugung und mit dem Einsatz ihres ganzen Wesens antreten für das große Werk des Aufbaues unseres germanischen Gemeinschaftsbereiches und damit eines neuen Europa.“56 55 NS.-Landpost vom 4. April 1941. Ähnliches verkündete er in der Dezemberausgabe der Europäischen Revue: „[…] der Niederländer beginnt in seiner politisch besten Schicht den Sinn des heutigen Weltkampfes zu begreifen und zurückzufinden zu dem Platz, der ihm nach rassischer, historischer und wirtschaftlicher Hinsicht zukommt, dem Platz eines Mitarbeiters an der europäischen Neuordnung, eines Mitstreiters für die nationalsozialistische Idee und eines Bundesgenossen für das Großdeutsche Reich.“ (Seyß-Inquart, Zur geistigen und politischen Situation der Niederlande, 714) 56 Seyß-Inquart, Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [12. März 1941], 48 und 65 f. Ähnlich Ders., Zum Geleit [Volk und Reich].

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Vergleichbare Aussagen finden sich in vielen weiteren Ansprachen, Interviews und Artikeln, mit denen Seyß-Inquart noch lange nach dem Februarstreik seine Hoffnung auf eine Selbstnazifizierung der einheimischen Bevölkerung zum Ausdruck brachte. Dies war etwa der Fall in der Neujahrsausgabe des Völkischen Beobachters von 1942. Hier glaubte der Reichskommissar beobachten zu können, „mit welch zunehmendem Interesse und Verständnis die niederländischen Menschen die geistige Entwicklung und Neugestaltung Europas durch den Nationalsozialismus unter der Führung Adolf Hitlers verfolgen“, nachdem „unter dem energischen Zugriff der deutschen Exekutive“ und dank der „Besonnenheit der niederländischen Bevölkerung“ wieder „Ruhe und Ordnung“ im Land eingekehrt seien.57 Solche Ausführungen waren nicht zu vereinbaren mit den Berichten über die Stimmung im Land, die Seyß-Inquart vom Sicherheitsdienst, von seinen Beauftragten für die Provinzen und die Großstädte oder von anderen Mitarbeitern des Reichskommissariats erhielt. Wie Seyß-Inquart ab der zweiten Besatzungsphase die Diskrepanz zwischen seinen Erwartungen und der Realität wahrnahm, lässt sich ebenso wenig zuverlässig bestimmen wie der Grund für die Tatsache, dass er bis in die letzten Monate der deutschen Besatzung hinein öffentlich Hoffnung auf eine Selbstnazifizierung der niederländischen Gesellschaft bekundete. Lagen seinen wiederholten Appellen an ein konstruktives, ‚kameradschaftliches‘ Verhältnis zwischen Deutschen und Niederländern nichts als Zweckoptimismus und propagandistische Absichten zugrunde? Hinderte ihn ein ideologisch bedingter Idealismus wahrzunehmen, dass für den größten Teil der niederländischen Bevölkerung eine zurückhaltende bis ablehnende Haltung kennzeichnend war? Oder fühlte er sich ungebrochen an den ursprünglichen ‚Führerauftrag‘ gebunden, die niederländische Bevölkerung für den Nationalsozialismus zu gewinnen? Selbst als gegen Ende des Krieges die Kapitulation des Großdeutschen Reiches nur noch eine Frage der Zeit sein konnte und die einheimische Bevölkerung durch die harten fünf Jahre nationalsozialistischer Besatzungspolitik und den verhängnisvollen Hungerwinter von 1944/45 der Befreiung entgegenfieberte, glaubte Seyß-Inquart noch Grund zur Hoffnung zu haben, „dass […] ein einheitlicher Wille zur Ordnung erwachen muss und erwachen kann, denn das gemeinsame Handanlegen zur Beseitigung der Not unter einer ordnenden Führung […] scheint der einzige Weg zu sein, um die heutige Situation zu bestehen.“58 57 Seyß-Inquart, Blick auf die Niederlande. 58 Seyß-Inquart, Was nun?, 15. Hierbei handelt es sich um eine Rundfunkansprache vom 7. Januar 1945, die auf Deutsch und auf Niederländisch auch in Broschürenform gedruckt wurde und deren Inhalt in mehreren Zeitungen sowie der DZN referiert wurde. In einem ähnlichen Sinn hatte Seyß-Inquart zwei Tage vorher im NSB-Blatt Volk en Vaderland anonym einen von Snijder ins Niederländische übersetzten Artikel veröffentlichen lassen, in dem er seinen Glauben an eine ‚Blutsverwandtschaft‘ von Deutschen und Niederländern wiederholte und sich von einer Ausbreitung des Nationalsozialismus überzeugt gab, „weil in jedem germanischen Volk das Verlangen nach einer Ordnung lebt, in der der germanische Mensch die Führung innehat, in der er die Möglichkeit hat, seine schöpferischen Kräfte in Übereinstimmung mit seiner nordischen Art zu entfalten, und die er mit seiner Soldatentugend von ganzem Herzen verteidigen kann.“ Aus dem Niederländischen rückübersetzt nach: Seyß-Inquart, Ter opheldering. Zu diesem Artikel siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b, 330 f. und Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 117. In einer Mischung aus Humor und ätzender Kritik reagierte Leonhard Huizinga auf Seyß-Inquarts Rund-

6.1 Seyß-Inquart und das „eng verwandte germanische Volk“

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Erst spät rang er sich zu dem Eingeständnis durch, dass das Konzept der gelenkten Selbstnazifizierung nicht aufging. Dies tat er wohlgemerkt nicht in der Öffentlichkeit, sondern in einem persönlichen Schreiben an den nationalsozialistischen Schriftsteller Dr. Bruno Brehm vom 1. Mai 1944.59 Hier kam der Reichskommissar zu der Einsicht, wie wenig „nützlich“ die „West- und Nordgermanen hier in den Niederlanden […] von unserem Standpunkt zumindest in der augenblicklichen Lage“ seien. Er sah ein, „dass die germanischen Westvölker für unseren Nationalsozialismus nichts übrig haben.“ Dennoch gab er auch jetzt noch nicht die Hoffnung auf, dass man den „Typus des Westgermanen“ zwar nicht „für ein dogmatisches Parteiprogramm kurzfristiger Prägung“, mittel- und langfristig aber sehr wohl „für die Wertordnung des Nationalsozialismus“ gewinnen könne. Und obwohl der überwiegende Teil der niederländischen Bevölkerung seit langem unübersehbar eine abweisende bis feindliche Haltung gegenüber der deutschen Besatzung und den einheimischen Kollaborateuren einnahm, gab sich Seyß-Inquart überzeugt, dass die Niederländer irgendwann einmal „die verlässlichen Mitträger der neuen Ordnung sein [werden], weit über alles hinaus, was an sozialer Nützlichkeit seitens der slawischen oder sonstigen Völker in dieser Gemeinschaft geleistet werden kann.“ Von deutscher Seite jedenfalls müsse man den Niederländern erstens deutlich machen, dass die Juden als „europafeindliches Blut“ nicht geduldet würden, und dass zweitens „in der sozialen Gemeinschaftsordnung an Stelle des Kapitalismus die Wertordnung der Arbeit und der Leistung tritt.“ Im übrigen wolle man der einheimischen Bevölkerung „volle Freiheit und Gleichberechtigung im eigenen Lebensraum“ zugestehen. Solch ein Versprechen war derart weit von der repressiven Praxis der deutschen Besatzungsherrschaft entfernt, dass Seyß-Inquarts Ausführungen zu einer möglichen Neuausrichtung unter Gewährung von „volfunkansprache vom 7. Januar. Unter dem Pseudonym Handje Plak klagte der Sohn des Kulturhistorikers Johan Huizinga bitter über die Folgen der deutschen Besatzungspolitik: „Die Kinder von Holland / ach, viele sind es nicht mehr. / Der Tod mit seinem Seyß-Inquart / mäht sie reihenweise nieder.“ (Wat straks, 52) Das Scheitern des Versuchs, die niederländische Bevölkerung für den Nationalsozialismus zu gewinnen, wurde aus Anlass der Rundfunkrede des Reichskommissars vom 7. Januar 1945 auch in dem Typoskript Antwoord aan Seyss-Inquart sowie in der Flugschrift Wat nu …? Een bange vraag voor velen, doch niet voor ons! formuliert (NIOD, Coll. Illegale pamfletten en brochures, IP 6.37 bzw. 6.34, Mikrofiche 24). 59 Eine von Jules Huf erstellte Abschrift befindet sich in ÖGZ-A, NL-96, DO 1105, Mappe 21. Der Verbleib des Originals ist unbekannt. Nach Auskunft von Brehms Sohn und Nachlassverwalter Dr. Roland Brehm ist die Korrespondenz von Bruno Brehm 1945 größtenteils gestohlen oder vernichtet worden (Schreiben vom 31. Oktober 2011). Aus dem Brief von Rudolf Brandt an Gottlob Berger vom 30. Mai 1944 geht hervor, dass Seyß-Inquart seinen Brief an Brehm Himmler übergeben hatte; siehe NIOD, Coll. Doc. I, 1564, Mappe B, Bl. 1027. Seyß-Inquart gehörte zu den Bewunderern von Brehm. Im Geleitwort zu einer Festgabe der sudetendeutschen Heimat, die 1942 im Auftrag von Konrad Henlein zu Brehms 50. Geburtstag erschienen war, feierte der Reichskommissar den österreichischen Schriftsteller als einen „Wegbereiter für Großdeutschland“ (Seyß-Inquart, Bruno Brehm, 9). Das Nieuwsblad van het Noorden widmete am 22. Juli 1942 sowohl Seyß-Inquart als auch Brehm eine Hommage anlässlich des 50. Geburtstags der beiden Männer. Auf Einladung des Reichskommissars reiste Brehm Ende April 1942 zu Lesungen aus seinen Werken nach Den Haag, Amsterdam und Haarlem (Rundschreiben von Heinrich Kreckel [Präsidialabteilung des Reichskommissariats] vom 25. April 1942, NIOD, 14/114); über die Lesereise berichtete die Tagespresse.

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ler Freiheit und Gleichberechtigung im eigenen Lebensraum“ allenfalls theoretischen Charakter haben konnten. Theoretischer Art blieb letztlich auch die Einsicht in die völlige Wirkungslosigkeit der Bemühungen um eine gelenkte Selbstnazifizierung der niederländischen Bevölkerung. Bis in die späten Phasen der deutschen Besatzung des Landes hinein glaubte Seyß-Inquart an die Möglichkeit, die Niederländer doch noch von der Idee des Nationalsozialismus zu überzeugen. 6.2 Deutsche Aufsichtsverwaltung, niederländische Behörden und parlamentarische Vertretungskörperschaften

Wie die Spitzen der niederländischen Behörden auf Seyß-Inquarts ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ reagierten, konnte Seyß-Inquart gleich im Anschluss an die Zeremonie der Amtseinführung ausloten. Würden die Generalsekretäre zu Kooperation und Anpassung an die gegebene Situation bereit sein? Musste die Besatzungsverwaltung mit Indifferenz, Neutralität, Widerspruch oder gar Widerstand rechnen? Als er die Generalsekretäre als die ranghöchsten niederländischen Beamten am 29. Mai 1940 in seinem Haager Amtssitz empfing, betonte Seyß-Inquart neuerlich Kooperationsbereitschaft gegenüber den einheimischen Behörden bei gleichzeitiger Entschiedenheit, entsprechend Hitlers Auftrag die „Reichsinteressen“ zu wahren. In diesem Sinn brachte er die Erwartung zum Ausdruck, „daß Sie als gute Niederländer in erster Linie Ihre Aufgabe weiter erfüllen. Ich bin hier, um die deutschen Interessen zu vertreten. Darüber können Meinungsverschiedenheiten entstehen. Wenn Sie nicht mit mir einer Meinung sind, so erwarte ich, daß Sie das sagen und gegebenenfalls Ihren Abschied einreichen. Ich kann es jedoch nicht dulden, daß Sie mit mir einer Meinung sind und (dennoch) meine Arbeit sabotieren. Ich erwarte, daß Sie das deutlich aussprechen. Wenn Sie in einer solchen Situation zurücktreten, werde ich Ihnen keine Schwierigkeiten machen.“60 Nach Rücksprache mit General Winkelman, den die Generalsekretäre zu diesem Zeitpunkt noch ungeachtet der Übernahme der zivilen Gewalt durch Seyß-Inquart als legitime und Legitimität verleihende Instanz ansahen, erklärten die Generalsekretäre ihre grundsätzliche Bereitschaft, mit der deutschen Besatzungsverwaltung zusammenzuarbeiten. Sie unterstrichen aber, dass sie sich an eine Richtlinie gebunden fühlten, die der niederländische Ministerrat im Mai 1937 unter dem damaligen Premierminister Colijn für den Fall einer feindlichen Besetzung des Landes verabschiedet hatte.61 In der sogenannten Aanwijziging war unter anderem festgelegt worden, dass die im Land verbliebenen Beamten zum Wohl der Bevölkerung so lange im Amt bleiben sollten, wie ihre Tätigkeit überwiegend dem Interesse des Landes zugutekam; sie hatten jedoch ihren Posten aufzugeben, wenn die Gefahr bestand, dass ihr Dienst mehr den Interessen der Besatzungsmacht als denen der einheimischen Bevölkerung nutzte oder gar dem Land schadete.62 Nach 60 Zit. nach: Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 71 f. 61 Hirschfeld, Verantwoordelijkheid van Dr. A. Seyss Inquart, Bl. 1; das Manuskript datiert vom 18. Dezember 1945. 62 Der Text der Aanwijzigingen betreffende de houding, aan te nemen door de bestuursorganen van het Rijk, de

6.2 Deutsche Aufsichtsverwaltung

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der Kapitulation der niederländischen Armee war abzusehen, dass es für die einheimischen Beamten in den Grundzügen wie auch in der täglichen Verwaltungsarbeit schwierig werden würde, die Grenze zwischen legitimer Kooperation und illegitimer Kollaboration mit der Besatzungsmacht zu bestimmen. Es war auch absehbar, dass die Unterschiede, die zwischen dem nationalsozialistischen Verwaltungssystem des Großdeutschen Reiches und der traditionell demokratisch-pluralistischen Verfassungs- und Verwaltungskultur der Niederlande existierten, eine Zusammenarbeit prinzipiell erschweren würden. Trotz der erkennbaren Probleme sahen die Generalsekretäre bei ihrem Gespräch mit Seyß-Inquart vermutlich keine Alternative zu einer Zusammenarbeit mit dem Reichskommissariat, und abgesehen von politischen Grundsatzentscheidungen, die ihrem Verständnis weiterhin der niederländischen Exilregierung in London vorbehalten blieben, fühlten sie sich hierzu durch die ‚Anweisung‘ von 1937 auch legitimiert. Aus ihrer Sicht schien mit der Annahme der ausgestreckten deutschen Hand und der gleichzeitigen Bindung an die Aanwijziging ein Arrangement möglich zu sein, das als Kompromiss beiden Seiten gerecht zu werden versprach, obwohl die Hegemonie der Siegermacht Deutschland in militärischer und politischer Hinsicht für alle Beteiligten völlig außer Frage stand. Vom Rücktritt eines Generalsekretärs war jedenfalls damals keine Rede. Glaubte man auf niederländischer Seite, dass die Besatzungsverwaltung die Vorbehalte gegenüber der deutschen Politik, die die Aanwijziging implizierte, respektieren würde? Oder befürchteten die niederländischen Spitzenbeamten, dass bei einem Rücktritt ein Angehöriger der NSB oder einer anderen faschistischen Organisation, der sich nach menschlichem Ermessen wesentlich willfähriger und entgegenkommender den Vorgaben oder Intentionen des Reichskommissariats angedient hätte, an ihre Stelle treten würde? Abgesehen von der Sicherung der eigenen beruflichen Position in einer politischen Umbruchsituation, wie es sie in der niederländischen Geschichte seit dem Zeitalter von Batavischer Revolution und Napoleon Bonaparte (1795–1813) nicht mehr gegeben hatte, wird die Bereitschaft der Generalsekretäre, im Sinne der ‚Anweisung‘ im Amt zu bleiben, von der Absicht diktiert gewesen sein, soweit wie möglich den niederländischen Verwaltungsapparat mit Beamten aufrechtzuerhalten, die unter der legitimen Regierung ernannt worden waren. In diesem Sinn war der Verzicht auf einen Rücktritt von dem Bestreben getragen, ‚Schlimmeres zu verhindern‘.63 Eine bedingte Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht erhielt darüber hinaus durch eine Broschüre moralische Rückendeckung, in der Colijn Ende Juni 1940 von seinen Landsleuten eine Anpassung an die gegebenen Verhältnisse forderte, um den Niederlanden nach dem Ende einer als „überlebt“ erfahrenen Demokratie und unter den Bedingungen der deutschen Besatzung einen festen und möglichst eigenständigen Platz in einem von NS-Deutschland beherrschten Europa zu sichern. Hier fehlte nicht nur jeder Aufruf zu Opposition und Widerstand. Hier wurden die Niederländer von einem Politiker, der hohes Ansehen genoss, ausdrücklich aufgefordert, sich nach der NieProvinciën, Gemeenten, Waterschappen, Veenschappen en Veenpolders, alsmede door het daarbij in dienst zijnde personeel en door het personeel in dienst bij spoor- en tramwegen in geval van een vijandelijke inval ist abgedruckt in: Bolhuis u. a. (Hrsg.), Onderdrukking en verzet, Bd. 1, 387–394. Zu diesen ‚Anweisungen‘ siehe auch Romijn, Burgemeesters, 50–58. 63 Vgl. Romijn, Reichskommissariat Niederlande, 129.

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Kapitel 6: Politische Ziele der ‚Aufsichtsverwaltung‘

derlage Frankreichs und dem erzwungenen Rückzug von Großbritannien vom europäischen Kontinent aktiv an der Seite Deutschlands für die Zukunft des eigenen Landes einzusetzen. 64 Dass ein derartiges Votum von jenem früheren Premierminister kam, der drei Jahre vorher die ‚Anweisung‘ hatte ausarbeiten lassen, dürfte für manchen niederländischen Beamten ein weiterer Grund gewesen sein, mit der Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten. Die Generalsekretäre verband darüber hinaus die Hoffnung, der Besatzungsmacht als Kollegium geschlossen gegenübertreten und dadurch das Gewicht der niederländischen Beamtenschaft erhöhen zu können – obwohl ein derartiges Gremium in der niederländischen Verfassung nicht vorgesehen war. Am allerwenigsten war von Seyß-Inquart ein Signal ausgegangen, ein solches Gremium anerkennen zu wollen. Im Gegenteil, das Bestreben der deutschen Verwaltung ging dahin, den niederländischen Beamten keine Gelegenheit zu kollektivem Auftreten zu geben. Gespräche mit Vertretern der niederländischen Generalsekretariate wurden vom Reichskommissariat denn auch dezidiert mit einzelnen Generalsekretären geführt, die für ihr jeweiliges Aufgabengebiet in die Pflicht genommen wurden. In diesem Sinn wies Wimmer ein Protestschreiben, mit dem sich die Generalsekretäre am 24. Februar 1941 gegen die Entlassung von jüdischen Beamten ausgesprochen hatten, mit der folgenden Begründung zurück: „Der Herr Reichskommissar steht auf dem […] Standpunkt, dass es kein Kollegium der Generalsekretäre [,] und zwar weder auf Grund der niederländischen Verfassung noch auf Grund der vom Herrn Reichskommissar erlassenen Vorschriften [,] gibt.“ Mahnend fügte der Generalkommissar für Verwaltung und Justiz abschließend hinzu: „Ich darf Sie daher bitten, sich in Zukunft bei [sic] keinen Kollektiveingaben an den Herrn Reichskommissar zu beteiligen.“65 Mit dieser Haltung wollte Seyß-Inquart offenkundig verhindern, dass sich das Kollegium der Generalsekretäre zu einer Art von informeller national-niederländischer Schattenregierung in Stellung brachte. Die Generalsekretäre kamen zwar weiterhin als College van Secretarissen-Generaal zusammen, um untereinander Informationen auszutauschen und die Position der niederländischen Beamtenschaft gegenüber dem Reichskommissariat abzustimmen. Ihre Zusammenkünfte endeten jedoch im Herbst 1943, weil einige Generalsekretäre – wie es Hirschfeld kurz nach Kriegsende formulierte – „keine Lust mehr hatten“, nationalsozialistisch eingestellte Kollegen wie namentlich den fanatischen SS-Mann Rost van Tonningen (Besondere Wirtschaftliche Angelegenheiten) zu treffen.66 Doch auch schon vorher scheinen sich die Generalsekretäre Wimmers Ermahnung gebeugt zu haben. Denn bereits Mitte Juni 1941 hatte dieser festgehalten: „Der Fall ‚Kollegium der Generalsekretäre‘ ist längst 64 Colijn, Op de grens van twee werelden, Zitat 48. Konkret trat Colijn für die Bewahrung der konstitutionellen Monarchie unter der oranischen Dynastie sowie für die Bildung einer „nationalen Front“ ein. Ein solches Gremium sollte aus Personen bestehen, die im Namen „einer überwältigenden Mehrheit des Volkes“ sprächen und „das moralische Recht“ besäßen, „die Wünsche des niederländischen Volkes der deutschen Obrigkeit vorzutragen“ (ebd., 53). Zweifellos rechnete sich Colijn, der wenige Tage vorher mit Seyß-Inquart über die Bildung eines niederländischen Beratungsgremiums gesprochen hatte (vgl. Langeveld, Schipper naast God, Bd. 2, 526 f.), zu diesem Personenkreis. 65 Aus Wimmers Antwortschreiben vom 12. März 1941, zit. nach: Cohen, De positie van de secretarissen-generaal, 242 f. 66 NIOD, 212a/2e, Mappe Het College van Secretarissen-Generaal 1940, Bl. 1, Eintrag vom 8. Juni 1945.

6.2 Deutsche Aufsichtsverwaltung

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ausgestanden. […] Wenn heute da und dort noch von einem ‚Kollegium der Generalsekretäre‘ gesprochen wird, so werden damit lediglich die Zusammenkünfte der Generalsekretäre gemeint, die der Reichskommissar stillschweigend zulässt. Offiziell erscheint diese Bezeichnung nirgend [sic] mehr auf, auch treffen die zur Aussprache zusammentretenden Generalsekretäre keine Kollegialbeschlüsse […].“67 Die Zurückweisung der Legitimität eines institutionalisierten Kollegiums der Generalsekretäre zeichnete sich in den ersten Wochen nach der Kapitulation der niederländischen Armee aber noch nicht klar ab, und so muss es nicht verwundern, dass sich die Generalsekretäre bei ihrem Gespräch mit Seyß-Inquart am 29. Mai 1940 Spielräume versprachen, die dessen ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ suggerierte. Damals konnten die Generalsekretäre auch noch nicht absehen, dass Seyß-Inquart zwischen Juli und September 1940 eine Reihe ihrer Kollegen entlassen würde; dieses Schicksal ereilte Cornelis Ringeling (Verteidigung), der sich ebenso wie General Winkelman gegen die völkerrechtswidrige Einspannung niederländischer Rüstungsbetriebe in die deutsche Kriegsproduktion gewandt hatte,68 Dr. Arend Lubbertus Scholtens (Soziale Angelegenheiten) und Gerrit Abraham van Poelje (Unterricht, Künste und Wissenschaften). Zu einem gemeinsamen Protest gegen die Amtsenthebungen konnten sich die verbleibenden Generalsekretäre nicht durchringen, fühlten sie sich doch an die Absprachen gebunden, die sie in ihrem Gespräch mit Seyß-Inquart vom 29. Mai 1940 getroffen hatten.69 Die Bereitschaft der Generalsekretäre – und zahlreicher untergeordneter Beamter – zur Mitarbeit auf der Grundlage der ‚Anweisung‘ von 1937 wurde möglicherweise auch dadurch motiviert, dass das Reichskommissariat in seiner Gesamtheit als sogenannte Aufsichtsverwaltung konzipiert war. Dem SS-Juristen Werner Best zufolge bestand das Ziel eines solchen Verwaltungssystems darin, „die gesamte Staatsverwaltung dieses Staates in geeigneter Weise zu überwachen und die Durchführung der Verwaltungsmaßnahmen zu kontrollieren. Dabei werden gewisse oberste Verwaltungsmaßnahmen, insbesondere auch die Rechtsetzung auf bestimmten Gebieten [,] allein der Aufsichtsverwaltung vorbehalten sein. Im übrigen wird die Staatsverwaltung unverändert durch den Verwaltungsapparat des geführten Staates durchgeführt.“70 Best unterstrich 1941 in einem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Papier sogar, „dass alle Verwaltungstätigkeit, soweit irgend möglich, den landeseigenen Behörden und Einrichtungen zu überlassen ist, die erfahrungsgemäss ihre Aufgaben in einer dem Lande 67 Wimmer an Schmidt vom 16. Juni 1941, zit. nach: Cohen, De positie van de secretarissen-generaal, 244. 68 Meihuizen, Noodzakelijk kwaad, 103 ff. Die Entlassung des Generalsekretärs für Verteidigung begründete Seyß-Inquart damit, „dass Herr Ringeling den Vertretern staatlicher Rüstungswerke Weisungen gegeben hat, die in vollkommenem Widerspruch zu den Anordnungen gestanden sind, die ich […] gegeben habe.“ (Seyß-Inquart an Generalsekretär Aarnout Marinus Snouck Hurgronje vom 12. Juni 1940, NIOD, 212a/2e, Mappe Het College van Secretarissen-Generaal 1940, Anlage 6) 69 Romijn, Burgemeesters, 149. 70 Hier zit. nach: Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 70. Best setzte in seinem Manuskript von 1941 den Typus der Aufsichtsverwaltung von einer Bündnis-, Regierungs- oder Kolonialverwaltung ab. Vgl. auch Kroiß, Die Verwaltung des Reichskommissars, 17 f. Allgemein zu den unterschiedlichen Verwaltungstypen der NS-Herrschaft im besetzten Europa siehe Hirschfeld, Formen nationalsozialistischer Besatzungspolitik, 43.

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Kapitel 6: Politische Ziele der ‚Aufsichtsverwaltung‘

entsprechenden Weise ausreichend erfüllen. […] Die eigenen Verwaltungsmassnahmen, zu denen der deutsche Verwaltungsfachmann (und der Nichtfachmann erst recht) nur zu sehr neigt, sind in der Aufsichtsverwaltung auf das allernotwendigste Mass zu beschränken.“ Erst wenn die Behörden des besetzten Landes nicht den in sie gesetzten Erwartungen entsprächen, solle sich die Besatzungsbehörde aufgerufen fühlen, „die Schraube der eigenen Verwaltungsmassnahmen allmählich anzuziehen.“71 Genau diese Vorstellung stellte Rabl kurz nach Seyß-Inquarts Amtseinführung auch für die Niederlande als Leitlinie der deutschen Besatzungspolitik in Aussicht: „Die deutschen Behörden überwachen nur, das heisst sie sorgen für Wahrung der Reichsinteressen. Im übrigen soll der niederländischen Behördenapparat möglichst intakt bleiben“; auf diese Weise vollziehe sich die Tätigkeit des Reichskommissars und seiner Dienststellen „gewissermassen hinter einer unsichtbaren Wand.“72 In Übereinstimmung mit dem Tenor seiner Antrittsrede vom 29. Mai 1940 unterstrich auch Seyß-Inquart, dass sich die Aufgabe der deutschen Besatzungsverwaltung „vornehmlich auf die Führung und Kontrolle der im übrigen nur von Niederländern ausgeübten unmittelbaren Exekutive“ beschränke.73 Nach außen hin sollte der Charakter einer Aufsichtsverwaltung schon durch eine Begrenzung der Zahl der Angehörigen der deutschen Zivilverwaltung in Den Haag unterstrichen werden. So schätzte der Leiter der Präsidialabteilung des Reichskommissariats, Dr. Hans H. Piesbergen, dass eine Personalstärke von etwa 200 Beamten ausreichend sei, um eine Aufsicht im Sinne von Bests Definition gewährleisten zu können. Tatsächlich aber umfasste der Personalbestand des Reichskommissariats im Herbst 1940 etwa 1.000 Personen; dazu kam noch der von Rauter geführte Sicherheitsapparat. In Anbetracht einer solchen beachtlichen Größe ordnete Seyß-Inquart am 26. November 1940 auf einer Besprechung mit den Generalkommissaren an, „daß eine weitere Erhöhung der Zahl der Mitarbeiter grundsätzlich nicht verantwortet werden kann.“74 Ungeachtet dessen waren im Sommer des folgenden Jahres schon fast 1.600 Personen beim Reichskommissariat angestellt, und im Mai 1943 zählte Seyß-Inquarts Behörde 2.000 Personen, von denen zwischen 38 und 43 Prozent die niederländische Staatsangehörigkeit hatten. Kein Wunder, dass auch die Niederlande von General Walter von Unruh als Hitlers Sonderbeauftragtem für die Überprüfung des zweckmäßigen Kriegseinsatzes daraufhin überprüft wurden, ob „alle Deutschen im Hinblick auf die Erfordernisse des Krieges zweckmäßig verwendet und voll ausgenutzt sind.“75 Eine drastische Reduzierung des deutschen Personalbestands brachte der ‚verrückte Dienstag‘: Kurzzeitig sank die Zahl der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des 71 Best, Die deutschen Aufsichtsverwaltungen, Bl. 67. 72 DZN vom 6. Juni 1940. 73 Reichskommissar Dr. Seyß-Inquart über die Niederlande, in: Krakauer Zeitung vom 25. Oktober 1941. Das Interview gab Seyß-Inquart in Krakau am Rande seines mehrtägigen Aufenthalts zum zweiten Jahrestag der Errichtung des Generalgouvernements. Es wurde nicht nur von der DZN (30. Oktober), sondern auch von etlichen niederländischen Tageszeitungen übernommen. 74 Rundschreiben von Piesbergen vom 26. November 1940, NIOD, 14/111. 75 So die Formulierung in Hitlers Erlass vom 10. Mai 1943, zit. nach: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 246, 335. Im August desselben Jahres hielt sich Unruh nachweislich auf Clingendael auf; siehe den Eintrag zum 22. oder 27. August im Gästebuch (RMA, NG-C-2006-1).

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Reichskommissariats im September 1944 auf 420 Personen, stieg aber bis zum Februar 1945 wieder kräftig an.76 Schon die numerische Stärke des Mitarbeiterstabs ließ erkennen, dass das Reichskommissariat in den Niederlanden faktisch mehr als eine reine Aufsichtsverwaltung war. Doch nicht nur in der Personalstärke, vor allem in der administrativen Praxis ging die deutsche Zivilverwaltung über die Wahrnehmung einer Aufsicht über die Tätigkeiten der einheimischen Behörden weit hinaus. Dies betraf in erster Linie die Rechtsetzung: Umfang und Inhalt des Verordnungsblatts für die besetzten niederländischen Gebiete dokumentieren, dass Seyß-Inquart in extensiver Weise von dem Recht auf Erlass von Verordnungen, das ihm Hitler mit seinem Erlass vom 18. Mai 1940 zugesprochen hatte, Gebrauch machte. Dies tat er in seinem eigenen Namen wie auch für die Generalkommissare, die nur selten im Verordnungsblatt eigene Anordnungen publizierten. Die Generalsekretäre wurden von Seyß-Inquart zwar ermächtigt, „im Rahmen ihres sachlichen Zuständigkeitsbereichs die zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und zur Sicherung des öffentlichen Lebens notwendigen Massnahmen zu treffen“. Dazu zählten nach Paragraf 1 der Erlass von Rechtsvorschriften ebenso wie die Befugnis, allen niederländischen Instanzen, die den Generalsekretären oder ihrer Aufsicht unterstellt waren, Weisungen zu erteilen. Bezeichnend für seine Haltung gegenüber den niederländischen Behörden ist allerdings, dass sich der Reichskommissar in Paragraf 2 vorbehielt, die genannten Vollmachten „für einzelne Fälle zu beschränken oder zurückzunehmen.“77 Damit machte er deutlich, dass er sich selbst als die letztlich entscheidende, omnipotente Quelle für die Rechtsetzung in den besetzten Niederlanden verstand. Ganz in diesem Sinn kam es vor, dass sich Seyß-Inquart vorbehielt, Kompetenzen wieder an sich zu ziehen, die er einem Generalsekretär zu einem früheren Zeitpunkt zugestanden hatte.78 In einem anderen Fall führte der Reichskommissar nachträglich zu einer Verordnung, die von niederländischen Generalsekretären im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts erlassen worden war, die Möglichkeit der Straffreiheit ein – eine Option, die die Generalsekretäre nicht vorgesehen hatten.79 Der konkrete Inhalt derartiger Eingriffe in die Verordnungspraxis der Vertreter der niederländischen Ministerien ist an dieser Stelle nicht von Bedeutung. Entscheidend ist, dass der Reichskommissar mit seinen Eingriffen dem Anspruch Nachdruck verlieh, in Übereinstimmung mit dem Führererlass vom 18. Mai 1940 76 Zahlen nach: Gallin, Machtstrukturen, 148, In ’t Veld, Inleiding, 96 f. und Best, Die deutschen Aufsichtsverwaltungen, Bl. 34; siehe auch Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 18. Zum Vergleich: Kommando- und Verwaltungsstab der Militärverwaltung in Belgien und Nordfrankreich umfassten Ende 1941 1.166 Mitarbeiter; mit diesem relativ kleinen Personalstamm wurde eine Bevölkerung von 12 Millionen Menschen verwaltet (Seibel, Polykratische Integration, 247). 77 VO 23/1940 vom 21. Juni 1940, in: VOBl. NL 1940, 55 f. Vgl. auch VO 193/1940 vom 31. Oktober 1940, in: ebd., 559 f. 78 Siehe etwa VO 43/1941 vom 5. März 1941 mit § 3, in: VOBl. NL 1941, 156 f. 79 Siehe die Verordnung über Straffreiheit für Zuwiderhandlungen auf dem Gebiete der Bewirtschaftung, VO 113/1943 vom 30. November 1943 (in: VOBl. NL 1943, 366–368), mit der Seyß-Inquart die von Hirschfeld und Schrieke erlassene VO 174/1941 vom 23. August 1941 (VOBl. NL 1941, 752–760) in der Fassung von VO 17/1943 vom 3. Februar 1943 (VOBl. NL 1943, 80-84) modifizierte.

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nicht zuletzt im Bereich der Rechtsetzung oberste Autorität zu sein. Den einheimischen Behörden wurden zwar im Kontext der ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ Spielräume zugesprochen oder belassen – doch nur soweit, wie dies das Reichskommissariat für opportun hielt, und alle Konzessionen konnten von Seyß-Inquart ohne weiteres revidiert oder gar gänzlich zurückgenommen werden. Die Generalsekretäre hatten somit generell keinerlei Garantie, dass ihre Entscheidungen von Seyß-Inquart akzeptiert wurden. Aus Sicht des Reichskommissariats sollte die Unsicherheit, die hieraus resultierte, die Generalsekretäre vermutlich dazu bringen, den Wünschen der Besatzungsmacht entgegen zu arbeiten – mochte doch die Wahrscheinlichkeit, dass eine erlassene Rechtsvorschrift oder erteilte Weisung Bestand haben würde, dann vergleichsweise hoch sein, wenn sie den bekannten oder vermuteten Interessen der nationalsozialistischen Zivilverwaltung entsprach. Zwar übernahm die Besatzungsmacht nicht eine lückenlose Lenkung und Kontrolle des niederländischen Verwaltungs- und Gerichtswesens. Doch schon im Erlass über den organisatorischen Aufbau der Dienststellen des Reichskommissariats vom 3. Juni 1940 waren die „niederländischen Behörden, Ämter, Anstalten und Einrichtungen öffentlicher und nichtöffentlicher Art“ verpflichtet worden, den Mitarbeitern des Reichskommissariats Auskünfte zu erteilen. Zugleich waren die Generalkommissare ermächtigt worden, den niederländischen Instanzen „die notwendigen Weisungen zu erteilen.“80 Durch die permanent drohende wie auch durch die tatsächlich erfolgte Wahrnehmung von Weisungs- und Kontrollbefugnissen wurden die niederländischen Behörden in einen „hybriden Zustand zwischen vollständiger Abhängigkeit und gewissen Ermessensspielräumen“ versetzt.81 Wie Peter Romijn in seiner Studie über das Verhalten der Bürgermeister in den Niederlanden herausgearbeitet hat, hing es von lokalen Umständen und dem persönlichen Engagement der jeweiligen Amtsträger ab, inwieweit einheimische Beamte Spielräume nutzen konnten.82 Der Rahmen, den Seyß-Inquart und die Generalkommissare vorgaben, war jedenfalls von Anfang an durch die Kombination von Recht­ setzung, Weisungsbefugnis und umfassenden Kontrollrechten eng – und wurde im Laufe der Besatzungszeit zugunsten einer Nazifizierung der niederländischen Staatsverwaltung immer enger gezogen. Dazu kam, dass einheimische Beamte und Angestellte, die loyal zur niederländischen Exilregierung und zum oranischen Königshaus standen, aber bereit waren, auf der Grundlage der Aanwijziging ihren Dienst zum Wohle des Landes unter der deutschen Besatzung fortzuführen, von kollaborationsbereiten Mitbürgern unter Druck gesetzt wurden – immerhin brannten NSB-Mitglieder darauf, Posten im öffentlichen Dienst zu übernehmen, zu denen ihnen der Zugang in den Dreißigerjahren von der niederländischen Regierung verweigert worden war. Dieses Problem war nicht auf das Amt eines Generalsekretärs beschränkt, sondern betraf alle Ebenen der staatlichen Verwaltung. Tatsächlich lassen sich aus der Besatzungszeit etliche Beispiele dafür anführen, dass einheimische Faschisten sich bemühten, im Sinne 80 VO 4/1940 vom 3. Juni 1940, § 3, in: VOBl. NL 1940, 12. Zu den Kompetenzen der Beauftragten für die Provinzen vgl. auch § 8 dieser Verordnung (ebd., 14 f.). 81 Romijn, Reichskommissariat Niederlande, 138. 82 Romijn, Burgemeesters, 127–129.

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des Reichskommissariats zu arbeiten, um sich bei der Besatzungsverwaltung in der Hoffnung zu profilieren, öffentliche Ämter übernehmen zu können.83 Das Reichskommissariat hat in dieser Hinsicht für die Niederlande offenkundig ein Muster übernommen, das sich in Deutschland aus Sicht des NS-Regimes bewährt hatte: Dort konnte die Reichsführung damit rechnen, dass ihre ausgesprochenen oder unausgesprochenen Erwartungen durch die Bereitschaft zahlloser ‚Volksgenossen‘, dem ‚Führer‘ entgegen zu arbeiten, erfüllt wurden. 84 In den Niederlanden stieß dieses Herrschaftskonzept allerdings an Grenzen. Denn wie erwähnt, waren die einheimischen Faschisten schon vor dem Westfeldzug eine Minderheit gewesen, und seit dem 10. Mai 1940 galten die Mitglieder der NSB weithin als Landesverräter. Doch trotz ihrer numerischen Schwäche und ungeachtet ihres prekären Ansehens bei breiten Bevölkerungsschichten konnte deren Servilität abgeschöpft werden, um nichtnationalsozialistisch orientierte Beamte und Angestellte unter Druck zu setzen. Die einheimischen Kollaborateure stellten für Seyß-Inquart und seine Mitarbeiter das Personalreservoir für eine allmähliche Nazifizierung des niederländischen Verwaltungssystems dar, und schon der Hinweis auf die bloße Möglichkeit, einheimische Faschisten mit Stellen im öffentlichen Dienst zu versorgen, konnte als Drohung eingesetzt werden, um niederländische Beamte zur gewünschten oder erwarteten Mitarbeit zu bewegen. Und schließlich konnte sich die Besatzungsverwaltung zunutze machen, dass nicht alle Beamte einem autoritären Regime abgeneigt waren, manche Beamte im NS-System sogar zumindest partiell ein Vorbild für eine Modernisierung des eigenen Landes sehen wollten. Zur Einführung von fälschungssicheren Personalausweisen oder einer Progressionssteuer etwa leisteten auch nichtfaschistische Beamte wie der Leiter der ‚Reichsinspektion der Bevölkerungsregister‘, Jacobus Lambertus Lentz, oder Mitarbeiter des Finanzministeriums anstandslos ihren Beitrag; neben der eigenen Karriere dürfte dabei der Wunsch eine Rolle gespielt haben, im Fahrwasser deutscher Erwartungen oder Beschlüsse die staatliche Verwaltung ihres eigenen Landes effektiver zu gestalten. Dies galt noch mehr für Beamte, die schon vor dem Westfeldzug Sympathien für Maßnahmen des Dritten Reiches zu erkennen gegeben hatten. Zu ihnen zählte etwa Robert Antony Verwey, seit Sommer 1940 kommissarischer Generalsekretär für Soziale Angelegenheiten. Er soll 1941 geäußert haben, dass sich unter der deutschen Besatzung eine „schöne Gelegenheit“ ergebe, „um allerlei Pläne bezüglich einer Verbesserung der sozialen Gesetzgebung durchzuführen“, ohne Einsprüche von Regierung oder Parlament berücksichtigen zu müssen.85 Ob diese Aussage in dieser Form getätigt worden ist oder nicht – bei der Einführung des Arbeitsdienstes ist Verwey den deutschen Erwartungen nachweisbar bereitwilligst entgegengekommen.86 83 Vgl. Moore, Nazi masters and accommodating Dutch bureaucrats und Hilbrink, „In het belang van het Nederlandse volk ...“. 84 Vgl. Kershaw, „Working towards the Führer“. 85 Schon vor dem Fünf-Tage-Krieg hatte Verwey als Direktor des ‚Reichsdienstes für Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung‘ die Arbeits- und Sozialpolitik des nationalsozialistischen Deutschlands gelobt. Siehe Hirschfeld, Der „freiwillige“ Arbeitseinsatz, 506 f. mit dem Zitat in deutscher Übersetzung. 86 Siehe hierzu unten, Kap. 11.4.

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Die Einbeziehung der niederländischen Behörden in den Umbau des Landes in ein nazifiziertes Gemeinwesen hatte noch eine weitere Dimension. Sie entsprach nicht nur Seyß-Inquarts ‚Politik der ausgestreckten Hand‘. Die instrumentalisierende und manipulierende Haltung, die das Reichskommissariat den niederländischen Beamten gegenüber einnahm, führte auch dazu, dass einheimische Instanzen des besetzten Landes gezwungen wurden, die Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen zu übernehmen. In seinem für Hitler bestimmten Bericht über die ersten zwei Monate seiner Amtstätigkeit in Den Haag machte Seyß-Inquart deutlich, dass es seine erklärte Absicht war, den einheimischen Behörden Maßnahmen aufzubürden, die für die Bevölkerung eine Minderung des Lebensstandards zur Folge hatten. Dabei ging es ihm darum, „daß alle diese Maßnahmen die Unterschrift von Niederländern tragen“ und dadurch „durchaus den Charakter der Freiwilligkeit haben.“87 Mit dieser Strategie wollte die Besatzungsverwaltung einen Teil des Unmuts der Bevölkerung auf die einheimischen Behörden ableiten. Nach außen hin wurde die beabsichtigte politisch-moralische Korrumpierung der Verwaltung der Niederlande oft unter dem Schlagwort ‚Kameradschaft‘ verbrämt. Wie Seyß-Inquarts Bericht aber deutlich macht, diente sie hier wie in anderen besetzten Gebieten letztlich der Entlastung der deutschen Besatzungsverwaltung.88 Dies galt auch für die Judikatur. Besonders eklatant war in dieser Hinsicht das Urteil, mit dem der ‚Hohe Rat der Niederlande‘ am 12. Januar 1942 bestimmte, dass Verordnungen des Reichskommissars und der Generalsekretäre, deren Verordnungsentwürfe ja entsprechend Seyß-Inquarts Verordnung über die Ausübung der Regierungsbefugnisse in den Niederlanden vom 29. Mai 1940 dem Reichskommissar vor ihrer Veröffentlichung zur Überprüfung vorzulegen waren, für die niederländische Rechtsordnung Gesetzescharakter besaßen – und obendrein einer Überprüfung durch internationales Recht nicht unterzogen werden durften. Durch dieses sogenannte ‚Prüfurteil‘ war es Niederländern fortan verwehrt, unter Berufung auf die Haager Landkriegsordnung von 1907 oder auf das bisher geltende Recht des Königreichs der Niederlande gegen Maßnahmen von deutschen Organen den Rechtsweg zu beschreiten.89 Damit hatte sich das niederländische Rechtswesen, das seit Hugo Grotius (1583–1645) jahrhundertelang entscheidend an der Formulierung und Durchsetzung des Völkerrechts mitgewirkt hatte und das Land seit 1848 zu einem konstitutionellen Staat hatte werden lassen, selbst entmachtet. Zugleich war die Haager Landkriegsordnung nicht nur relativiert, sondern geradezu in ihr Gegenteil verkehrt worden: Ursprünglich zum Schutz der Bevölkerung eines besetzten Landes verabschiedet, wurde sie im Urteil des Hoge Raad vom Januar 1942 herangezogen, um selbst Willkürakte der deutschen Besatzungsverwaltung jeglicher juristischen Überprüfung zu entziehen. Auf diese Weise wurde die Landkriegsordnung nicht im Sinne der einheimischen Bevölkerung interpretiert und zur Wahrung der Integrität der niederländischen Rechtsordnung in Anspruch genommen, sondern einseitig im Sinne der 87 Seyß-Inquart, 1. Bericht, 418 f. 88 Neulen, Deutsche Besatzungspolitik, 412 f. 89 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 41, Dok. Seyß-Inquart-96, 360-363. Für die historische Kontextualisierung des ‚Prüfurteils‘ hilfreich ist die Edition Venema/De Groot-van Leeuwen/Mertens (Hrsg.), Onder de huidige omstandigheden.

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Legitimierung der Besatzungsmacht ausgelegt. Damit hatte die höchste juristische Instanz der Niederlande dazu beigetragen, die Gültigkeit von Verordnungen und ihre Durchsetzung durch das Reichskommissariat auch gegen internationales Recht zu untermauern. Mit der Instrumentalisierung von niederländischen Behörden und Gerichten zur völkerrechtswidrigen Legalisierung der eigenen Besatzungspolitik, wie sie in Akten wie dem ‚Prüfurteil‘ des ‚Hohen Rates‘ Niederschlag gefunden hat, ging die Besatzungsmacht über eine bloße ‚Aufsicht‘ hinaus, weil sie die Substanz der dort geltenden Rechtsordnung fundamental angriff. Über eine ‚Aufsicht‘ ging die Besatzungsverwaltung auch dadurch hinaus, dass sie neue staatliche und außerstaatliche Institutionen ins Leben rief, die – zum Teil nach deutschem Vorbild – der niederländischen Gesellschaft und dem dortigen Behördensystem einen genuin nationalsozialistischen Stempel aufdrückten und die bisher bestehenden Institutionen rechts überholen sollten. Dies galt insbesondere für das Generalsekretariat für Besondere Wirtschaftliche Angelegenheiten, das im Juli 1942 durch eine Geheimanordnung des Reichskommissars zu einem Ministerium aufgewertet wurde.90 Es galt auch für die Generalsekretariate für Volksaufklärung und Künste sowie für Erziehung, Wissenschaft und Kulturverwaltung, die aus der Aufspaltung des bisherigen Ministeriums für Unterricht, Künste und Wissenschaften hervorgingen.91 Umgekehrt wurden Behörden, die die Besatzungsmacht für die intendierte Angleichung an das Großdeutsche Reich für störend oder überflüssig hielt, aufgelöst. So hob Seyß-Inquart im Juni 1942 mit rückwirkender Kraft das niederländische Außenministerium auf.92 Einer Nazifizierung und Gleichschaltung der Gesellschaft des besetzten Landes dienten auch der noch näher vorzustellende Niederländische Arbeitsdienst93 sowie der Niederländische Volksdienst, der ab Mitte 1941 in Analogie zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) im Reich als eine Art von Dachorganisation für alle Organisationen auftrat, die auf sozialem Gebiet tätig waren.94 Für diese Organisationen fungierten die vergleichbaren deutschen Institutionen nicht nur als Vorbild. Parallel zum Niederländischen Volksdienst waren unter dem Dach des Arbeitsbereichs der NSDAP in den Niederlanden auch die NSV und andere Nebenorganisationen der Reichspartei in dem besetzten Land aktiv.95 Wie das Generalkommissariat zur besonderen Verwendung trugen auch sie unter Schmidts Führung dazu 90 Rundschreiben Seyß-Inquarts vom 23. Juli 1942 an die Leiter der Abteilungen und Hauptabteilungen des Reichskommissariats, NIOD, 14/114. Der besondere Status als Ministerium wurde weder im Verordnungsblatt noch im ‚Niederländischen Staatsanzeiger‘ (Nederlandsche Staatscourant) bekannt gegeben. 91 Zur Errichtung beider Generalsekretariate siehe VO 211/1940 vom 25. November 1940, in: VOBl. NL 1940, 604-606. Martin Moll hat darauf hingewiesen, dass Seyß-Inquart das niederländische Generalsekretariat für Volksaufklärung und Künste nur zwei Monate nach der Errichtung eines vergleichbaren Ministeriums in Norwegen durch den dortigen Reichskommissar Terboven ins Leben rief, und wie in Norwegen wurde das neu geschaffene Ressort auch in den Niederlanden in der Person von Tobie Goedewaagen an der Spitze mit einem Mitglied der größten einheimischen Kollaborationspartei besetzt (Die deutsche Propaganda, 219 f.). 92 Manning/Kersten, Inleiding, VII; ein Datum für die rückwirkende Auflösung wurde in Seyß-Inquarts Verordnung nicht angegeben. 93 Siehe Kap. 11.4. 94 Vgl. Romijn, Burgemeesters, 210. 95 Vgl. die zeitgenössische Eigendarstellung bei Sommer, Die NSDAP. in den Niederlanden, 124.

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bei, die unter deutscher Schirmherrschaft implementierten niederländischen ‚Schwesterorganisationen‘ zu kontrollieren und im Sinne der deutschen Besatzungspolitik zu lenken. Ähnliches gilt für die Winterhilfe Niederlande. Sie wurde von Seyß-Inquart im Herbst 1940 als rechtsfähige Stiftung mit der Maßgabe ins Leben gerufen, bedürftige Niederländerinnen und Niederländer „ohne Ansehen der Person, des Standes, der Konfession oder der Parteizugehörigkeit“ finanziell und materiell zu unterstützen. Zugleich wurde allen anderen Organisationen verboten, Spenden zu sammeln.96 Der nach deutschem Muster gegründeten Stiftung wurde somit ein Monopol zugesprochen, das vor allem die Kirchen des Landes benachteiligte. Nach außen hin sollte die Winterhilfe zwar nicht als eine nationalsozialistisch orientierte Organisation erscheinen. So wurden neben überzeugten Nationalsozialisten wie Rost van Tonningen Personen, die wie der Kommissar der Königin für die Provinz Utrecht, Junker Dr. Lodewijk Hendrik Nicolaas Bosch Ridder van Rosenthal, eine deutliche Distanz zum NS-Regime erkennen ließen, in den sogenannten Ehrenrat berufen, der die Leitung der Stiftung beriet.97 Die Führung der Organisation aber war in Händen von NSB-Mitgliedern: Zunächst leitete Carel Piek die Winterhilfe, ihm folgte 1942 der Bürgermeister von Delft, Frederik Willem van Vloten. Als Landesleiter sorgten diese einheimischen Faschisten dafür, dass die Winterhilfe in enger Anlehnung an die Besatzungsmacht von ihresgleichen dominiert wurde. Seyß-Inquart selber machte öffentlich deutlich, dass die Winterhilfe nicht mit traditioneller karitativer Wohltätigkeit in Verbindung zu bringen war, sondern aus der nationalsozialistischen Vorstellung einer ‚Volksgemeinschaft‘ hervorging. Denn „sie entspricht der Verantwortung für den Volksgenossen und ist die Erfüllung einer erhöhten Pflicht, die sich aus dem größeren Maß an Recht und Besitz ergibt.“98 In oppositionellen Kreisen wurde denn auch immer wieder zu Recht darauf hingewiesen, dass die Winterhilfe nichts anderes als Ausfluss einer Strategie von Nazifizierung und Gleichschaltung war. So warf die Untergrundzeitung Vrijheid dem Reichskommissar vor, dass diese Stiftung „ein politisches Instrument in Ihren Händen ist, mit dem Sie die Arbeiter mürbe machen wollen, um sie umso leichter schikanieren zu können.“99 Tatsächlich übten deutsche und niederländische Nationalsozialisten Druck auf Bürger, Unternehmen und die Bürgermeister aus, die in ihren Gemeinden für die Organisierung von Sammelaktionen verantwortlich waren. Neben der Durchführung von Straßen- und Haussammlungen und der Veranstaltung einer Lotterie wurden mehr oder weniger subtile Formen von Zwang ausgeübt, um die Kassen des niederländischen Winterhilfswerks zu füllen. Unternehmen, die von deutschen Aufträgen abhängig waren, kamen nicht 96 DZN vom 27. Oktober 1940. Offiziell gegründet wurde die Winterhilfe Niederlande durch VO 186/1940 vom 22. Oktober 1940 (VOBl. NL 1940, 538–541). Siehe auch die Änderungen in VO 76/1943 vom 21. August 1943 (VOBl. NL 1943, 267 f.). Zur Winterhilfe siehe auch Romijn, Burgemeesters, 202–216. Schon vor der Gründung dieser Stiftung hatte Seyß-Inquart die Durchführung von öffentlichen Sammlungen generell von einer behördlichen Genehmigung abhängig gemacht. Siehe VO 109/1940 vom 23. August 1940 (VOBl. NL 1940, 340–344), ersetzt durch VO 138/1941 vom 25. Juli 1941, §§ 28-35 (VOBl. NL 1941, 574–578). 97 Siehe die Mitgliederliste in IISG, Jan van Zutphen/40c. 98 Seyß-Inquart, Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [12. März 1941], 59. 99 Vrijheid vom 1. Dezember 1941, NIOD, Coll. 556, Kart. 103.

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umhin, ‚freiwillig‘ zu spenden. Wie Gerard Aalders festgehalten hat, reichte meist ein stiller Wink, um einen Betrieb zu bewegen, fünf Prozent seines Gewinns der Winterhilfe zu überweisen.100 Für Verwalter oder Eigentümer von arisierten Betrieben dürfte es sich von selbst verstanden haben, einen Obulus zu entrichten, und von Arbeitnehmern und Angestellten des öffentlichen Dienstes wurde ein Lohnverzicht von einem Prozent als angemessener Beitrag zum Winterhilfswerk geradezu erwartet. Trotz des Drucks war der Erfolg der durchgeführten Sammelaktionen begrenzt. Auch wenn Seyß-Inquart nach dem ersten Winter der Besatzungszeit lauthals verkündete, die Winterhilfe sei erfolgreich gewesen,101 hieß es in niederländischen Zeitungen recht offenherzig, die Winterhilfsaktion sei „fürchterlich gescheitert“.102 Dass der Reichskommissar selber zu Beginn der Adventszeit 1940 mediengerecht gespendet hatte,103 führte die Verbindung zwischen dem Regime und der Winterhilfsorganisation sinnfällig vor Augen und dürfte auf viele Niederländer eher abschreckend gewirkt haben.104 Schließlich dienten eine ganze Reihe von berufsständischen Organisationen wie die Kulturkammer, die auf ihrem Höhepunkt 42.000 Mitglieder umfasste,105 sowie Ärztekammer, Tierärztekammer, Zahnärztekammer und Apothekenkammer dem Zweck, die niederländische Gesellschaft unter nationalsozialistischen Vorzeichen zusammenzufassen und kontrollieren zu können.106 Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, dass die Kammern nach dem Führerprinzip aufgebaut waren und eine Zwangsmitgliedschaft für die Angehörigen der jeweiligen Berufsgruppen mit sich brachten. Nach dem Krieg hat Seyß-Inquart zwar behauptet, dass die Weigerung, einer der berufsständischen Organisationen beizutreten, für die Betroffenen keinerlei persönliche Konsequenzen gehabt habe und beispielsweise die Mitgliedschaft in der Niederländischen Arbeitsfront als der organisatorischen Zusammenfassung „der im Erwerbsleben stehenden niederländischen Menschen“107 „vollkommen freiwillig“ gewesen sei.108 In Wirklichkeit jedoch wurden die Angehörigen der betroffenen Berufsgruppen der 100 Aalders, Geraubt!, 47. 101 Seyß-Inquart, Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [12. März 1941], 60. 102 De Tijd, Morgenausgabe vom 14. März und De Courant. Het Nieuws van den Dag vom 15. März 1941 (NIOD, KA I 3412) unter Bezugnahme auf ein Schreiben Seyß-Inquarts an Dr. Hans Böhmcker, den Beauftragten des Reichskommissars für Amsterdam. 103 Siehe das Foto in der DZN vom 1. Dezember 1940. Siehe auch Nieuwsblad van het Noorden vom 3. und vom 12. Dezember 1940. 104 Auch im Fall der Winterhilfe Niederlande gab es mit dem sogenannten Kriegswinterhilfswerk eine deutsche Parallelorganisation in den besetzten Niederlanden. Noch bevor er die Winterhilfe Niederlande ins Leben rief, sprach Seyß-Inquart die Erwartung aus, „daß sich alle Gefolgschaftsangehörigen [des Reichskommissariats] in vorbildlicher Weise am Kriegswinterhilfswerk beteiligen.“ (Rundschreiben Piesbergens vom 28. September 1940, NIOD, 14/111) 105 Moll, Die deutsche Propaganda, 225. 106 Zur Gründung der genannten Kammern siehe VO 211/1941 vom 22. November 1941 (VOBl. NL 1941, 901–915), VO 226/1941 vom 19. Dezember 1941 (ebd., 1004–1026, besonders Titel II), VO 16/1942 vom 25. Februar 1942 (VOBl. NL 1942, 79-93, besonders Titel II), VO 23/1942 vom 13. März 1942 (ebd., 115–136, besonders Titel II), VO 24/1942 vom 13. März 1942 (ebd., 136–154, besonders Titel II) und VO 47/1942 vom 30. April 1942 (ebd., 211-216). 107 VO 47/1942 vom 30. April 1942, § 2, in: VOBl. NL 1942, 211. 108 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 123. Ähnlich irreführend seine Ausführungen vom 10. und 11. Juni 1946

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Möglichkeit beraubt, auf legalem Weg ihrer Arbeit nachzugehen, wenn sie nicht Mitglied der einschlägigen nationalsozialistischen Organisation waren.109 Für die meisten Berufsverbände und deren Mitglieder wurde eine Pflichtmitgliedschaft denn auch explizit vorgeschrieben. Dies galt nicht nur für die bereits genannten Berufskammern. Journalisten mussten dem ‚Niederländischen Journalistenverband‘ beitreten,110 und alle Personen, die in irgendeiner Weise an der Produktion, dem Vertrieb oder der Aufführung von Filmen beteiligt waren, wurden per Verordnung verpflichtet, dem Niederländischen Lichtspielbund beizutreten.111 Alle Unternehmer gehörten gewollt oder ungewollt der Industrie- oder Handelskammer an, deren Organisationsstruktur und Arbeitsweise in hohem Maße vom Generalsekretär für Handel, Gewerbe und Schifffahrt abhängig gemacht wurde.112 Wie im Reich und in anderen besetzten Gebieten war auch in den Niederlanden eine freiwillige Mitgliedschaft in berufsständischen Organisationen de facto und de jure allenfalls die Ausnahme, nicht die Regel. Und selbstverständlich übten die Kammern einen großen Einfluss auf die Arbeitsweise und den Zugang zu dem betreffenden Berufsstand aus. So hatte beispielsweise der Präsident der Tierärztekammer nicht nur die Befugnis, eine Berufsordnung zu erlassen, in der die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Tierarztes, das Niederlassungsrecht oder die Einrichtung von berufsständischen Gerichten geregelt wurden. Ihm stand auch das Recht zu, in Einzelfällen Verfügungen über die Ausübung tierärztlicher Tätigkeiten zu erlassen.113 Damit wurde die Führung einer Berufskammer mit einer Disziplinierungsgewalt versehen, die vom Regime und niederländischen Kollaborateuren zu Zwecken der Nazifizierung ganzer Berufsgruppen genutzt werden konnte. Es kam auch vor, dass das Reichskommissariat eine bestimmte Parteigliederung der NSB zu einer berufsständischen Organisation erhob, sie damit zu einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft aufwertete und ihr gegenüber anderen gesellschaftlichen Organisationen eine privilegierte Stellung oder gar eine Monopolposition verschaffte. Dies geschah etwa mit dem Landstand, der in Seyß-Inquarts Worten die Aufgabe hatte, die Landwirte nach „nationalsozialistischen Grundsätzen in die Volksgemeinschaft einzuordnen und jeden einzelnen Angehörigen des Bauernstandes zu betreuen.“114 Als berufsständische Organisation des niederländischen „Bauernstandes“ ging der Landstand in Anlehnung an den deutschen Reichsnach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 701 und Bd. 16, 52 f. Zur Niederländischen Arbeitsfront siehe auch unten, Kap. 6.3.4. 109 Vgl. auch Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 29. 110 VO 83/1941 vom 2. Mai 1941, §§ 1 und 20, in: VOBl. NL 1941, 321-334. Diese Schriftleiterverordnung war vom Generalsekretariat für Volksaufklärung und Künste in monatelanger Zusammenarbeit mit der Hauptabteilung Volksaufklärung und Propaganda des Generalkommissariats z. b. V. ausgearbeitet worden und wurde am 2. Mai 1941 von Generalsekretär Goedewaagen in Kraft gesetzt. Siehe Hoffmann, NS-Propaganda, 224. 111 VO 160/1940, § 4, in: VOBl. NL 1940, 485. Diese Verordnung über die Organisation des Filmwesens wurde am 4. Oktober 1940 von den Generalsekretären für Unterricht, Künste und Wissenschaften, für Innere Angelegenheiten und für Justiz in Kraft gesetzt. 112 VO 223/1941 von Generalsekretär Hirschfeld vom 25. November 1941, § 5, in: VOBl. NL 1941, 986. 113 VO 16/1942 vom 25. Februar 1942 (Tierärzteverordnung), §§ 19, 20, 24 und 28, in: VOBl. NL 1942, 85–89. Ergänzend hierzu: VO 78/1943 vom 21. August 1943, in: VOBl. NL 1943, 269 f. 114 Seyß-Inquart, Zum Erntedankfest, 172.

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nährstand im Oktober 1941 aus der Agrarisch Front hervor, die ihrerseits aus der Fusion der NSB-Formation Boerenfront [Bauernfront] mit dem Bauernbund Landbouw en Maatschappij [Landbau und Gesellschaft] entstanden war. Die nichtfaschistischen landwirtschaftlichen Interessenvertretungen wie der ‚Katholisch-niederländische Bauern- und Gärtnerbund‘, der protestantische ‚Christliche Bauern- und Gärtnerbund‘ und das ‚Niederländische Landbaukomitee‘ wurden in diesem Zusammenhang verdrängt.115 In anderen Fällen achtete die Besatzungsmacht darauf, dass die Führung von berufsständischen Organisationen in die Hände von zuverlässig nationalsozialistisch eingestellten Funktionären kam. Auch dies gehörte zu dem Bestreben des Reichskommissariats, die niederländische Gesellschaft durch Nazifizierung und Gleichschaltung nach deutschem Muster fest an das NS-System zu binden. Dieses Bestreben stieß allerdings auf Grenzen. Wie unten anhand des Ärzteprotests gezeigt wird,116 blieb der Einfluss von Berufskammern auf die einheimische Bevölkerung mitunter bei weitem hinter den Erwartungen der Besatzungsmacht zurück. Deshalb ging Seyß-Inquart im Frühjahr 1943 dazu über, Kompetenzen von den Kammern zu den Generalsekretariaten zu verlagern: Er ordnete an, dass Personen, deren Beruf die Ablegung eines Eides oder eines Gelöbnisses erforderte, eine Zustimmung des zuständigen Generalsekretärs brauchten, um ihren Beruf auszuüben; die bisher praktizierte Mitwirkung der betreffenden Berufskammern wurde auf unbestimmte Zeit außer Kraft gesetzt.117 In einer Phase, in der die Aussicht auf eine Selbstnazifizierung der niederländischen Gesellschaft jede Wahrscheinlichkeit eingebüßt hatte, intensivierte der Reichskommissar auf diese Weise die staatliche Kontrolle über Ärzte, Notare und ähnliche Berufsgruppen. Ungeachtet ihrer partiellen Entmachtung aber blieben die Berufskammern für die Besatzungsverwaltung auch in der zweiten Kriegshälfte weiterhin wichtige Instrumente für den Griff auf die einheimische Bevölkerung. Parallel zum Aufbau von rein nationalsozialistischen Organisationen im staatlichen und gesellschaftlichen Organisationsgefüge wurden niederländische Institutionen außer Funktion gesetzt, die den Vorstellungen des Reichskommissariats zufolge mit nationalsozialistischen Organisationsprinzipien nicht zu vereinbaren waren. Zugleich griff die Besatzungsverwaltung immer wieder in Entscheidungsabläufe und nicht zuletzt in den Personalbestand der bestehenden niederländischen Behörden, Gerichtshöfe und Parteien ein, um ihre Zielsetzungen durchzusetzen. Die rechtliche Grundlage für die personalpolitische Steuerung und ‚Säuberung‘ des niederländischen Verwaltungsapparats im nationalsozialistischen Sinn verschaffte sich Seyß-In-

115 VO 196/1941 vom 22. Oktober 1941, in: VOBl. NL 1941, 838–840. Zum „Bauernführer“ wurde das NSB-Mitglied Evert Jan Roskam ernannt; seinem Landstand gehörten zwangsweise rund 300.000 Bauern und selbstständige Landarbeiter an (Kreutzmüller, Händler, 294). Siehe auch Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 29 und die Darstellung des damaligen Leiters der Hauptabteilung Ernährung und Landwirtschaft im Generalkommissariat für Finanz und Wirtschaft aus dem Jahr 1941: Grote, Die Landwirtschaft, 265. 116 Siehe Abschn. 4 in diesem Kapitel. 117 VO 51/1943 vom 25. Mai 1943, in: VOBl. NL 1943, 193–195; die Anordnung wurde rückwirkend zum 1. März 1943 in Kraft gesetzt.

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quart mit einer Reihe von Verordnungen, die die auf den ersten Blick farblos klingenden Titel über besondere verwaltungsrechtliche Massnahmen oder über ausserordentliche Massnahmen auf verfassungs- und verwaltungsrechtlichem Gebiet trugen. In der Vierten Verordnung dieser Art (108/1940)118 sprach sich der Reichskommissar am 20. August 1940­das Recht zu, niederländische Spitzenbeamte zu ernennen, anzustellen und zu entlassen. Wie schon an anderer Stelle berichtet, war hiervon unter anderem das Justizwesen betroffen. 119 Darüber hinaus garantierte Verordnung 108/1940 dem Reichskommissar die Verfügung über die Posten der Generalsekretäre, der Provinzkommissare, der Mitglieder des Staatsrats, der Bürgermeister der Provinzhauptstädte und größeren Gemeinden des Landes sowie des Präsidenten der Niederländischen Bank und der führenden Beamten der niederländischen Polizei. Auch die Verwaltungschefs des Lotsenwesens, der Staatlichen Waffenfabriken, der Staatswerft und des sogenannten Aufbaudienstes120 wurden offiziell vom Reichskommissar angestellt und entlassen (§ 1). Darüber hinaus behielt sich Seyß-Inquart das Recht vor, die Ernennung und Entlassung von subalternen Beamten und Angestellten, die eigentlich den fachlich zuständigen Generalsekretären oblag, an sich zu ziehen (§§ 2 und 3). Für die praktische Umsetzung der Personalpolitik gegenüber niederländischen Beamten und Angestellten wurde innerhalb des Generalkommissariats für Verwaltung und Justiz eine eigene Abteilung eingerichtet, die auch Disziplinarverfahren durchführen konnte: die Abteilung Niederländische Personalangelegenheiten; sie stand unter Leitung des Mindener Oberbürgermeisters Ernst Althaus. Mit ihrer Hilfe und gestützt auf Verordnung 108/1940 beabsichtigte Seyß-Inquart, wie er sich zwei Tage nach seinem Amtsantritt Lammers gegenüber ausdrückte, „den vorhandenen Apparat nach und nach in die Hand zu bekommen.“121 Nach außen hin allerdings wollte der Reichskommissar einen ganz anderen Eindruck erwecken, wenn er sich in einem Interview ganz im Sinne des Prinzips der Aufsichtsverwaltung zugutehielt, „dass die niederländischen Behörden im Amt bleiben und das Eingreifen der deutschen Dienststellen auf Ausnahmefälle beschränkt bleibt.“122 Diese Position führte er noch nach dem Krieg zu seiner Verteidigung an: „Die Verwaltung an sich habe ich nicht nur behalten, sondern in ihrer Funktion noch verstärkt. [...] Ich habe die Bürgermeister ausschließlich dann entfernt, wenn sie durch ein aktives gegnerisches Verhalten für mich untragbar waren. Ihre sonstige politische Einstellung war 118 Abgedruckt in: VOBl. NL 1940, 338–340. In der Folgezeit wurde die Vierte Verordnung über besondere verwaltungsrechtliche Massnahmen mehrfach geändert. Dabei erstreckte Seyß-Inquart das Recht zur Ernennung und Entlassung auf weitere, von ihm neu geschaffene Posten der niederländischen Verwaltung. 119 Siehe oben, S. 179 f. 120 Zu dieser Organisation siehe unten, S. 464. 121 Seyß-Inquart an Lammers vom 31. Mai 1940, Kopie in: NIOD, 266/BBT 3021 (NG 365). Schon einen Monat vorher hatte Seyß-Inquart in seinem ersten Bericht für Hitler die Absicht von ‚Säuberungsmaßnahmen‘ angedeutet: „Es wird der Augenblick kommen, in dem einzelne Generalsekretäre, vielleicht auch sonstige Beamte, jedenfalls Bürgermeister ausgetauscht werden können.“ (Seyß-Inquart, 1. Bericht, 416) 122 BArch, R 901/48008, Bl. 30. Ebd., Bl. 40 behauptete Seyß-Inquart sogar: „Es dürfte in der Geschichte kaum ein Beispiel geben, dass einem mit Waffengewalt besetzten Lande die eigene Verwaltung in einem derartigen Umfange belassen wurde, wie dies in den Niederlanden der Fall ist.“ Zu dem Interview siehe oben, S. 200, Anm. 22.

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mir vollkommen gleichgültig.“123 Eine derartige Aussage geht – wie noch gezeigt wird – allzu großzügig darüber hinweg, dass Seyß-Inquart Eingriffe in die niederländische Verwaltung, zu der er sich durch die Verordnung vom 20. August 1940 selbst ermächtigt hatte, in der Praxis exzessiv mit dem Ziel vornahm, während seiner Amtszeit in den Niederlanden eine umfassende Nazifizierung und Gleichschaltung zu bewerkstelligen. Die Entmachtung bzw. faktische Abschaffung niederländischer Institutionen betraf vor allem parlamentarische Körperschaften, die Seyß-Inquart als Inkorporation „der überlebten liberal-demokratischen Systeme“ empfand.124 Bereits am 21. Juni 1940 erließ der Reichskommissar eine Verordnung, die die bisherige Legislative zur Untätigkeit verdammte. So bestimmte Verordnung 22/1940,125 dass die Tätigkeit der beiden Kammern des nationalen Parlaments, der Generalstaaten, sowie des Staatsrats, der nach Artikel 77 der niederländischen Verfassung den König oder die Königin bei der Gesetzgebung zu beraten hatte,126 „bis auf weiteres“ ruhe (§§ 1 und 2). Ebenfalls „bis auf weiteres“ wurden Wahlen zu den Generalstaaten ausgesetzt, und inwieweit Wahlen oder Neuernennungen von Mitgliedern für die Provinzialstaaten, Gemeinderäte „oder für andere öffentlichrechtliche Vertretungskörperschaften“ durchgeführt werden durften, blieb der Entscheidung des Reichskommissars vorbehalten (§ 3). In Gremien, deren Neuwahl eigentlich anstehen würde, wurden die Mandate der Gewählten „bis auf weiteres“ verlängert (§ 4). Da jenseits der vagen Formulierung „bis auf weiteres“ keine genaue zeitliche Beschränkung angegeben war, musste man davon ausgehen, dass die Bestimmungen der Verordnung für die Dauer der deutschen Besatzung in Geltung sein würden. Zwar wurden die parlamentarischen Körperschaften der nationalen, provinzialen und kommunalen Ebene nicht formell aufgehoben, wie Seyß-Inquart nach dem Krieg zu seiner Entlastung nachdrücklich hervorhob.127 Doch faktisch bedeutete das ‚Ruhen‘ ihrer Tätigkeit, dass sie für die Dauer des Krieges suspendiert waren. Ein geregeltes parlamentarisches Leben war somit schon knapp einen Monat nach der Kapitulation der niederländischen Armee nicht mehr möglich. Es ist kein Zufall, dass Seyß-Inquart an ein und demselben Tag parlamentarische 123 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 38. Ähnlich verharmlosend argumentierte Schwebel, während des Krieges ein enger Mitarbeiter Seyß-Inquarts. Er gab bei einem Verhör im Mai 1946 an, dass niederländische Beamte, die ihre Arbeit auf der Grundlage der ‚Anweisung‘ von 1937 verrichtet hätten, „im Prinzip“ in ihrer Funktion geblieben seien; Entlassungen habe Seyß-Inquart nur bei jenen vorgenommen, „die durch ihre Handlungen bewiesen hätten, dass sie gegen die Besatzungsmächte [d. h. die zivilen und militärischen deutschen Instanzen] arbeiteten […].“ Befragung des Angeklagten Schwebel vom 21. Mai 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 677, Mappe 149, Bl. 3. 124 So die Formulierung in den Gedanken zur Lage (IfZ, ED 18, Bd. 1, Bl. 12 f.). Eine detaillierte Analyse der Entparlamentarisierung der niederländischen Kommunen und Provinzen durch das Reichskommissariat im chronologischen Verlauf bietet Romijn, Burgemeesters, passim. 125 VOBl. NL 1940, 54 f. Zu dieser Verordnung siehe auch die Materialien in NIOD, 20/1410 sowie Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 101 und Romijn, Burgemeesters, 138. 126 Siehe die Edition De Boer/Sap, Constitutionele bronnen, 276. 127 So unterstrich Seyß-Inquart in seiner Denkschrift vom 2. Oktober 1945, dass die General- und Provinzialstaaten „in ihrer gesetzgeberischen Funktion, wie es fuer ein Besatzungsregime selbstverstaendlich ist, ausgeschaltet, aber nicht verfassungsrechtlich beseitigt“ worden seien (Bl. 121). Ähnlich hatte schon 1941 Dr. Carl Stüler argumentiert (Die Neuregelung der Gemeinde- und Provinzialverfassung, 435).

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Vertretungskörperschaften außer Funktion setzte (Verordnung 22/1940) und gleichzeitig den Generalsekretären die Befugnis zur Erteilung von Weisungen und zum Erlass von Rechtsvorschriften (Verordnung 23/1940) zusprach. Die Verlagerung des politischen Gewichts innerhalb des niederländischen Verfassungs- und Verwaltungssystems von parlamentarischen Gremien zur Exekutive war voll und ganz in Übereinstimmung mit dem nationalsozialistischen Staats- und Politikverständnis. Dem deutschen Vorbild entsprach auch, dass die regionale Ebene geschwächt wurde – waren im Dritten Reich die regionalen Gebietskörperschaften doch schon in den ersten Monaten nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten zugunsten gesamtstaatlicher Instanzen ‚mediatisiert‘ worden.128 Auf die Niederlande, in deren Geschichte seit Jahrhunderten Parlamentarismus, Föderalismus und Partikularismus zentrale Momente politischer Organisation gewesen waren, musste die Neutralisierung lokaler und provinzialer Vertretungskörperschaften als eine besonders eingreifende Maßnahme der Besatzungsmacht empfunden werden. Den Griff auf die entparlamentarisierten Gemeinden verstärkte Seyß-Inquart nach der Niederschlagung des Februarstreiks. Mit der Ersten Verordnung über ausserordentliche Massnahmen auf verfassungs- und verwaltungsrechtlichem Gebiet schuf er sich die Möglichkeit, in bestimmten Kommunen den Gemeinderat, das Kollegium des Bürgermeisters und der Beigeordneten „sowie alle gemeindlichen Ausschüsse“ für aufgelöst zu erklären und im selben Augenblick die Kommunalverwaltung einem Regierungskommissar zu übertragen.129 Gestützt auf eine solche selbstgeschaffene Rechtsgrundlage entließ der Reichskommissar nach dem Februarstreik die Stadtoberhäupter von Amsterdam, Zaandam und Haarlem.130 Anstelle der bisherigen Bürgermeister Willem de Vlugt (‚Anti-Revolutionäre Partei‘), Joris In ’t Veld (‚Sozialdemokratische Arbeiterpartei‘) und Jacob Evert Baron de Vos van Steenwijk (‚Liberale Staatspartei‘) ernannte Seyß-Inquart mit Edward John Voûte, Cornelis van Ravenswaay und Simon Lambertus Antonius Plekker niederländische Persönlichkeiten zu Regierungskommissaren, die der ‚Neuen Ordnung‘ zugewandt waren. Außerdem bestellte er den amtierenden Bürgermeister von Hilversum, Ernst de Bönninghausen, zum Regierungskommissar in dieser nordholländischen Stadt und sorgte dafür, dass Beigeordnete, die sich im Allgemeinen und besonders im Februarstreik als Gegner des Besatzungsregimes erwiesen hatten, ersetzt oder zum Rücktritt gezwungen wurden.131 Mit dem Regierungskommissar lehnte sich Seyß-Inquart an ein Modell an, das in Deutschland bereits unmittelbar nach der Machtergreifung praktiziert worden war: Hier waren 1933 Parteigenossen als ‚kommissarische Bürgermeister‘ eingesetzt worden, um Kommunalverwaltungen zu nazifizieren, der demokratischen Kon­ trolle parlamentarischer Körperschaften zu entziehen und den Bedingungen des hierarchisch

128 Vgl. Ruck, Partikularismus und Mobilisierung, 84. 129 VO 36/1941 vom 1. März 1941, § 2 mit § 6, in: VOBl. NL 1941, 137 f. 130 Siehe VO 37/1941 vom 1. März 1941 und VO 45/1941 vom 5. März 1941, in: VOBl. NL 1941, 139 bzw. 158 f. Zwei Monate später wurde VO 37/1941 auch auf Maassluis angewendet; siehe VO 96/1941 vom 17. Mai 1941, in: ebd., 368. Vgl. auch Romijn, Burgemeesters, 236 f. 131 Romijn, Burgemeesters, 252 ff.

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gegliederten ‚Führerstaats‘ anzupassen.132 Durch die Deutsche Gemeindeordnung vom 30. Januar 1935 erhielten Nazifizierung und Gleichschaltung der Kommunen im Dritten Reich dann eine juristische Grundlage. Dass mit der Gemeindeordnung das Führerprinzip an die Stelle parlamentarischer Strukturen und Verfahrensweisen gesetzt worden war, hatte Seyß-Inquart vier Jahre nach deren Inkraftsetzung in einem Artikel für die Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht in seiner damaligen Funktion als Reichsstatthalter in Österreich mit folgenden Worten begrüßt: „Die Deutsche Gemeindeordnung hat die parlamentarische Form der Gemeindeverfassung mit der Vielheit der die Verantwortung aufeinander abschiebenden Organe beseitigt. An der Spitze der gemeindlichen Selbstverwaltung steht der Bürgermeister, unter dessen Führung und ausschließlicher Verantwortung die Verwaltung in der Gemeinde geführt wird. Die Gemeinde ist nun nicht mehr ein Gegenpol zum Staat, sondern seine sinnvolle Ergänzung durch die Mitarbeit der Bürger an jenen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, die dem Volk am nächsten steht.“133 Ganz in diesem Sinn blieb Seyß-Inquart in seiner Funktion als Reichskommissar in den Niederlanden nicht bei der Einsetzung von Regierungskommissaren stehen. Mit der schon erwähnten Verordnung vom 19. März 1941, ebenfalls als Antwort auf den Februarstreik erlassen, bekräftigte er unter Androhung der Todes- oder langjähriger Zuchthausstrafe die Übertragung von Befugnissen der Vertretungskörperschaften oder der kollegial beschließenden Verwaltungsausschüsse auf die Exekutive im Falle der Verhängung des Verwaltungsstandrechts.134 Mit seiner Achten Verordnung über besondere verwaltungsrechtliche Mass­nah­ men schließlich setzte er am 11. August 1941 die parlamentarischen Gremien nicht mehr nur in ausgewählten, sondern in allen niederländischen Gemeinden sowie in den Provinzen aufs Abstellgleis. In dieser Verordnung 152/1941,135 die eine tiefgreifende Zäsur für die auf Demokratie und Kollegialität beruhende niederländische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte bedeutete, wurde nämlich bestimmt, dass die Tätigkeit der bisherigen Gemeinderäte und Provinzialstaaten ab dem 1. September ruhen solle, und erneut wurde das Verbot ausgesprochen, Wahlen zu diesen Gremien durchzuführen. Auch den Kollegien der Bürgermeister und Beigeordneten, der Provinzial­aus­schüs­se, der Ausschüsse der Generalstaaten sowie der Wahlprüfungsämter, die bis dahin ebenfalls fester Bestandteil des demokratisch verfassten Parlamentarismus der Niederlande gewesen waren, wurde nun jegliche Tätigkeit untersagt. Ihre zu Untätigkeit gezwungenen Mitglieder konnten von den niederländischen General­ sekretariaten, den Provinzkommissaren bzw. den Bürgermeistern auch aus Verwaltungsorganen privatrechtlicher, zum Teil auch öffentlich-rechtlicher Körperschaften wie etwa Aufsichtsräten, „an denen der Staat, eine Provinz oder eine Gemeinde beteiligt ist“, entlassen werden (§ 2). Damit wurden die parlamentarischen Gremien und ihre Mitglieder von Seyß-Inquart politisch kaltgestellt. Im selben Atemzug wurden die exekutiven Organe auf kommunaler 132 Zur Rolle der Gemeinden im Dritten Reich siehe Gruner, Die Kommunen im Nationalsozialismus. 133 Seyß-Inquart, Selbstverwaltung in der Ostmark, 11. 134 Siehe oben, S. 83. 135 VO 152/1941 vom 11. August 1941, in: VOBl. NL 1941, 637-650. Siehe hierzu die fundierte Analyse bei Romijn, Burgemeesters, Kap. 11.

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und provinzialer Ebene in Verordnung 152/1941 ganz im Sinne des Führerprinzips gestärkt. Denn analog zur Deutschen Gemeindeordnung gingen die Aufgaben der Gemeinderäte sowie der Kollegien des Bürgermeisters und der Beigeordneten auf die Bürgermeister über, die der Provinzialstaaten auf die Provinzkommissare (§§ 3 bzw. 16). Die Bürgermeister konnten für sechs Jahre zwei bis sechs Beigeordnete zu ihren Stellvertretern ernennen und bei Bedarf abberufen. Um den Bruch mit der Zeit vor dem deutschen Einmarsch zu forcieren, schrieb Seyß-Inquart vor, dass diese Personen nicht aus dem Kreis der bisherigen Gemeinderäte stammen durften (§§ 4 und 5). Außerdem wurden die Bürgermeister ermächtigt, nach eigenem Ermessen neue Gemeinderäte zu berufen, und zwar „aus der Gesamtheit der in der Gemeinde ansässigen Volksgenossen“ (§ 7); die Bestellung von Gemeinderäten ‚von oben‘ trat an die Stelle von demokratischen Wahlen. Seyß-Inquart machte deutlich, dass in den auf vier Jahre zu berufenden Gemeinderäten neuen Typs bestimmte Personengruppen wie Geistliche oder Amtsträger, die schon unter Königin Wilhelmina längere Zeit eine öffentliche Funktion ausgeübt hatten, von Seiten der Besatzungsmacht nicht erwünscht waren (§ 8). Es versteht sich von selbst, dass eine derartige Regelung dazu gedacht war, königstreue Personen aus der Vertretung der niederländischen Gemeinden fernzuhalten und gleichzeitig der Einsetzung von NSB-Mitgliedern oder -Sympathisanten Vorschub zu leisten. Außerdem wurden die von den Bürgermeistern ernannten Gemeinderäte neuen Typs ebenso zu reinen Akklamationsgremien herabgestuft, wie es der Reichstag in Berlin seit der Machtergreifung im Jahr 1933 war. Denn deren Funktion erschöpfte sich in der Beratung der Bürgermeister; ein originär demokratisches Verfahren wie eine Abstimmung oder Beschlussfassung wurde ausdrücklich ausgeschlossen (§ 13). Die ohnehin ausgehöhlte Beratungsfunktion der Gemeinderäte neuen Typs wurde noch dadurch geschwächt, dass ein Bürgermeister befugt war, „auch andere Volksgenossen“ aufzufordern, „ihn in bestimmten Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung zu beraten.“ (§ 13) Extrakonstitutionelle Einflüsterungen von Kollaborateuren erhielten damit eine scheinlegale Grundlage. Ungeachtet der Tatsache, dass die Bürgermeister gegenüber der Institution des Gemeinderats enorm gestärkt wurden, wurden sie ihrerseits durch Verordnung 152/1941 in hierarchische Strukturen eingebunden, fungierten doch für die großen ­Städte Den Haag, Amsterdam und Rotterdam der Generalsekretär für Innere Angelegenheiten, Karel Johannes Frederiks, für die kleineren Kommunen der jeweilige Provinzkommissar als „Aufsichtsbehörde“ (§ 15); sie hatten das Recht, den Bürgermeistern Weisungen zu erteilen (§ 14). Eine analoge Konstruktion wie für die kommunale Verwaltungsebene galt für die provinziale Ebene: Die Provinzkommissare übernahmen die Aufgaben der außer Dienst gestellten Provinzialausschüsse (§ 17), durften für ihre Stellvertretung Provinzialverwaltungsräte ernennen (§ 19) und „aus der Gesamtheit der in der Provinz ansässigen Volksgenossen“ Provinzialräte berufen (§ 22), und wie die Bürgermeister der drei großen Städte waren auch die Provinzkommissare der Aufsicht durch den Generalsekretär für Innere Angelegenheiten als der zuständigen Aufsichtsbehörde unterstellt (§ 26). Auf diese Weise konnten Bürgermeister und Provinzkommissare zu ausführenden Organen der Zentralgewalt gemacht werden, die traditionelle Gemeindeautonomie war außer Kraft gesetzt.

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Summa summarum ersetzte Seyß-Inquart durch die Achte Verordnung über besondere verwaltungsrechtliche Massnahmen systematisch die demokratisch-pluralistische Grundordnung des niederländischen Staates, wie sie durch die Verfassung, das Provinzialgesetz von 1850 und das Gemeindegesetz von 1851 in der Ära des liberalen Premierministers Johan Rudolph Thorbecke geschaffen worden war, durch eine politische Ordnung, die durch das nationalsozialistische Führerprinzip gekennzeichnet war, und er schuf die juristische Legitimation für eine personelle ‚Säuberung‘ niederländischer Instanzen.136 Im Verein mit anderen einschlägigen Erlassen wurden durch Verordnung 152/1941 Nazifizierung und Gleichschaltung mit besatzungsrechtlicher und -politischer Brachialgewalt beschleunigt, die Etablierung der ‚Neuen Ordnung‘ nahm schärfere Konturen an. Zynischerweise wurde die Entparlamentarisierung und Nazifizierung der niederländischen Gemeinde- und Provinzialverwaltung im Dezember 1941 von Dr. Carl Stüler, dem Leiter der Hauptabteilung Inneres beim Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz, in einem Beitrag für die Zeitschrift Deutsche Verwaltung, dem Organ der Verwaltungsrechtswahrer des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes, mit dem „Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit des öffentlichen Lebens in dem besetzten Lande“ begründet, zu dem die Besatzungsmacht durch die Haager Landkriegsordnung berechtigt sei.137 Mit derartigen Verlautbarungen wollte das Reichskommissariat nach außen hin den Anschein erwecken, Nazifizierung und Gleichschaltung besäßen völkerrechtliche Legitimität und Dignität. Gestützt auf eine solche juristische Interpretation hat Seyß-Inquart als Chef der deutschen Zivilverwaltung im Laufe der fünf Jahre seiner Tätigkeit in den Niederlanden von der Selbstermächtigung zur ‚Säuberung‘ des einheimischen Verwaltungssystems ungeniert Gebrauch gemacht. Zahlreiche Bürgermeister und sonstige Beamte oder Angestellte, die vor dem Mai 1940 ernannt worden waren, hat er entlassen und Angehörige oder Sympathisanten der NSB an deren Stelle gesetzt.138 Auch einzelne Provinzkommissare sahen sich gezwungen, den Hut zu nehmen. So wurden Anfang Februar 1941 Dr. Willem George Alphonse van Sonsbeeck 136 Wie Seyß-Inquart nach dem Krieg beschönigend erklärte, war es ihm darum gegangen, das Verfassungsund Verwaltungssystem der Niederlande „den Erfordernissen des Besatzungsregimes nach zentraler Verwaltungsfuehrung mit der Ein-Mannverantwortung“ anzupassen (Denkschrift, Bl. 21), und auf dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess vertrat er dezidiert die „Meinung, daß in Krisenzeiten immer eine ‚Einmann-Verantwortung‘ das richtige ist.“ (Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 41) Vgl. auch Stüler: „Durch die Beseitigung der bisherigen Gewaltenteilung auf mehrere Organe und die Einführung des Grundsatzes der unbeschränkten Führerverantwortlichkeit wird künftig eine einheitliche, geschlossene und schlagkräftige Verwaltungsführung gewährleistet.“ (Die Neuregelung der Gemeinde- und Provinzialverfassung, 436) Und vermutlich 1941 meinte Rabl triumphierend festhalten zu dürfen: „Wir haben […] dem Autoritätsprinzip zum Durchbruch verholfen, gleichzeitig aber jenen klaren Instanzenzug geschaffen, dessen die Niederlande bislang ermangelten.“ (Die Verwaltung, Bl. 29) Bei der Bewertung der Ersten und Zweiten Durchführungsverordnung zu VO 152/1941, die Seyß-Inquart am 19. August 1941 in Kraft setzte, hob Kurt Jacobi (RMI) „die Einführung des Führerprinzips“ in der niederländischen Gemeinde- bzw. Provinzialverwaltung hervor (Schreiben an Ministerialdirektor Friedrich Wilhelm Kritzinger [Reichskanzlei] vom 6. bzw. 10. September 1941, BArch, R 43 II/675a, Bl. 33 und 44). 137 Stüler, Die Neuregelung der Gemeinde- und Provinzialverfassung, 435. 138 Siehe hierzu im Einzelnen Romijn, Burgemeesters, Kap. 13. Vgl. auch Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 31.

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(Limburg) und Bosch Ridder van Rosenthal (Utrecht) aus ihren Ämtern entlassen. An ihrer Stelle ernannte Seyß-Inquart die NSB-Mitglieder Maximilianus Graf de Marchant et d’Ansembourg bzw. Fredrik Ernst Müller, der noch im Herbst desselben Jahres zum Bürgermeister der Hafenstadt Rotterdam ernannt wurde.139 Das Presseorgan des Reichskommissariats, die Deutsche Zeitung in den Niederlanden, rechtfertigte diese Maßnahme mit Seyß-Inquarts Bestreben, „die unter den gegebenen Verhältnissen notwendig gewordene einheitliche Ausrichtung der Verwaltung dieser Provinzen auf die derzeitigen Aufgaben sicherzustellen und zu erleichtern.“ Im Hinblick auf die angestrebte Nazifizierung boten ihm die Faschisten De Marchant et d’Ansembourg und Müller offenbar die Gewähr, „die Interessen des niederländischen Volkes mit den Forderungen der Besatzungsmacht in Einklang zu bringen […].“140 Nach dem Überfall auf die Sowjetunion nahmen die Eingriffe des Reichskommissariats in den Personalbestand der niederländischen Verwaltung noch zu. Mehr als zuvor wurden Angehörige des öffentlichen Dienstes nun unter Druck gesetzt, für das nationalsozialistische Regime Farbe zu bekennen. Unter den Bürgermeistern tauschte das Reichskommissariat bis Kriegsende gut ein Drittel aus; da es sich hierbei nicht zuletzt um die Bürgermeister der größeren Städte handelte, wurde letztlich etwa die Hälfte der niederländischen Bevölkerung von einem Stadt­ oberhaupt vertreten, das der NSB zugerechnet werden muss.141 Auch auf die Besetzung von Posten eines Generalsekretärs nahm Seyß-Inquart massiv Einfluss, etwa wenn er im Sommer 1943 in Absprache mit dem damaligen Generalkommissar z. b. V. Wilhelm Ritterbusch dafür sorgte, dass das NSB-Mitglied Willem Lucianus Zion van der Vegte, bisher Generaldirektor der niederländischen Postgesellschaft PTT, anstelle des parteilosen Dirk Gerard Willem Spitzen Generalsekretär für Wasserverwaltung wurde.142 Insgesamt wurden während der Besatzungszeit vom Reichskommissariat sechs der zehn Generalsekretäre durch Mitglieder der NSB ersetzt.143 Alle derartigen Eingriffe hat Seyß-Inquart nach dem Krieg als ebenso legitime wie notwendige Maßnahme seiner Verwaltung darzustellen versucht. In seiner Denkschrift vom Herbst 1945 gab er zu, „dass eine groessere Anzahl von NSBern in staatl[ichen] Funktionen verwendet wurde. Das lag im notwendigen Interesse der Besatzungsmacht.“ Zu seiner Verteidigung fügte er hinzu, „dass alle diese Maenner, sobald sie eine staatliche Funktion hatten, sich bemuehten [,] ihre staatliche Aufgabe zB [sic] als Buergermeister zu erfuellen und durchwegs den Parteimann in die zweite Linie zu stellen.“144 Diese Sicht der Dinge stand einmal mehr im Widerspruch zu den historiografisch nachweisbaren Tatsachen. Denn zahlreiche NSB-Mit-

139 Romijn, Burgemeesters, 263 und Van der Leeuw, Utrecht in de oorlogsjaren, 26. 140 DZN vom 5. Februar 1941. Siehe auch Brüsseler Zeitung vom 6. Februar 1941 (BArch, ZSg. 103/5515). 141 Romijn, „Um Schlimmeres zu verhindern …“, 121 und 129 f. 142 Siehe Rauter an Himmler vom 29. November 1943, DÖW, 21561/7. 143 Wielenga, Die Niederlande, 203. 144 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 128 f. Die ‚Säuberungen‘ vornehmlich in der niederländischen Polizei rechtfertigte er mit einer Art von Gewohnheits- oder Naturrecht einer Besatzungsmacht: „Politische Gegner werden ausgeschieden und eigene Parteigaenger […] eingestellt. Das war immer so und wird immer so sein.“ (ebd., Bl. 42)

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glieder wie beispielsweise Graf de Marchant et d’Ansembourg, die von ihm oder unter dem Druck des Reichskommissariats eingesetzt wurden, haben durch eine loyale bis vorauseilende Haltung gegenüber deutschen Instanzen oder durch den Versuch der Einführung des Führerprinzips in ihrem jeweiligen Verwaltungsbereich sehr wohl als „Parteimann“ nationalsozialistische Interessenpolitik verfolgt.145 Bemerkenswerterweise waren aber nicht einmal die Kollaborationsparteien vor Eingriffen des Reichskommissars und der Generalkommissare sicher. Wie noch zu zeigen sein wird,146 hat sich die deutsche Zivilverwaltung wiederholt in die Besetzung von Ämtern niederländischer Parteien eingemischt. Hierzu war nicht einmal der Erlass einer Verordnung notwendig. Im Unterschied zur ‚Säuberung‘ der staatlichen Verwaltung reichte hier das politische Gewicht, das die Besatzungsverwaltung von vornherein besaß und rücksichtslos einsetzte. Mit dem unermüdlichen Erlass von Verordnungen, der extensiven Wahrnehmung von Weisungsbefugnis und Kontrollrechten gegenüber niederländischen Behörden, der Schaffung genuin nationalsozialistischer Organisationen, der Abschaffung parlamentarischer Körperschaften und der Durchführung von ‚Säuberungen‘ zugunsten von Kollaborateuren griff das Reichskommissariat weitaus tiefer in die bestehende Struktur des besetzten Landes ein, als der Begriff der ‚Aufsichtsverwaltung‘ nahelegen mochte. Die radikale Ideologisierung aller Aspekte der Besatzungspolitik, die die nationalsozialistische Zivilverwaltung von allen früheren Formen von Besatzungsverwaltungen einer siegreichen Macht in Europa unterschied, war die zentrale Ursache dafür, dass der gern benutzte Begriff der ‚Aufsicht‘ zu einer Farce wurde. Er sollte propagandistisch die Realität einer Besatzung verschleiern, die im Laufe der Zeit immer repressiver auftrat und die Grundstruktur des Landes für die Dauer des Krieges und darüber hinaus substanziell verändern wollte. Je länger nämlich die Besetzung des Landes dauerte, desto resoluter zog das Reichskommissariat die Zügel an sich; von einer Beschränkung der Verwaltungstätigkeit „auf das allernotwendigste Mass“, wie sie Best angemahnt hatte, konnte immer weniger die Rede sein. Die ‚Politik der ausgestreckten Hand‘, die Seyß-Inquart bei seinem Amtsantritt und zahlreichen späteren Anlässen wortreich beschworen hatte und die neben der erwähnten ‚Anweisung‘ von 1937 eine der Grundlagen gewesen war, auf der die Generalsekretäre am selben Tag ihre Bereitschaft zur Mitarbeit der niederländischen Beamtenschaft erklärt hatten, wurde im Laufe der Besatzungszeit ausgehöhlt und in ihr Gegenteil gekehrt: Die einheimischen Beamten wurden einem enormen Anpassungsdruck ausgesetzt und tendenziell zu Erfüllungsgehilfen der Besatzungsmacht degradiert. Selbst eine stark nazifizierte Behörde wie das Generalsekretariat für Volksaufklärung und Künste, deren weitgehende Kollaboration die Besatzungsmacht gerne in Anspruch nahm, sah sich kontinuierlich Eingriffen in ihre Arbeit durch die Hauptabteilung Volksaufklärung und Propaganda von Schmidts Generalkommissariat ausgesetzt.147 Wimmer gab zwar im August 1947 zu Protokoll, der Umgang der Besatzungsmacht mit den niederländischen Generalsekretären habe 145 Zu de Marchant et d’Ansembourg siehe den biografischen Artikel von A. A. de Jonge im Biografisch Woordenboek van Nederland. 146 Vgl. unten, Kap. 7. 147 So nachdrücklich Hoffmann, NS-Propaganda, 157–161.

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„auf dem Prinzip der Gleichheit“ beruht.148 Doch da sich der frühere Generalkommissar zu diesem Zeitpunkt in amerikanischer Gefangenschaft befand und mit einer Anklage rechnen musste, ist seine Aussage eher als eine Rechtfertigung und Verharmlosung der eigenen Amtsführung denn als zutreffende Beschreibung der Vergangenheit zu lesen. Die Wirklichkeit der Besatzungsjahre war denn auch von einem deutlichen Machtgefälle zwischen deutscher und niederländischer Verwaltung gekennzeichnet, das das Konzept einer Aufsichtsverwaltung hinter sich ließ. In entlarvender Offenheit hat dies Rabl in einem Vortrag formuliert, den er vermutlich 1941 gehalten hat: „Ich möchte nicht sagen, dass wir die Aufsicht über die niederländische Verwaltung führen. Denn dieser […] sehr liberale Begriff der Aufsicht setzt die Existenz zweier prinzipiell voneinander unabhängigen [sic] und zu eigenen und gleichen Rechten nebeneinander lebender Grössen voraus.“ Im Fall der Niederlande könne hiervon keine Rede sein, und deshalb „werden die Richtlinien für die Verwaltung von uns bestimmt, sei es nun auf Vorstellung von niederländischer Seite oder sei es aus eigenem Antrieb [,] und die niederländischen Behörden sind demgegenüber lediglich Exekutivorgane des Willens des Reichskommissars. Es liegt also […] die Steuerung eines fremdvölkischen Verwaltungsapparates durch deutsche Hoheitsträger vor.“149 Diese Darstellung widersprach Rabls Versprechen aus dem Jahr 1940, die Zivilverwaltung werde „hinter einer unsichtbaren Wand“ agieren. Sie entsprach jedoch den tatsächlichen Verhältnissen und gab das rein instrumentell bestimmte Verhältnis zwischen deutscher und niederländischer Verwaltung, wie es sich im Laufe der Besatzungszeit herausbildete, durchaus korrekt wieder. 6.3 Gleichschaltung von Parteien, Medien und gesellschaftlichen Organisationen

Bei der Gleichschaltung staatlicher Behörden blieb das Reichskommissariat nicht stehen. Wie die erwähnte Gründung berufsständischer Organisationen mit Zwangsmitgliedschaft schon andeutete, griff die deutsche Besatzungsverwaltung auch tief in das Gefüge privatrechtlicher Institutionen ein, denn die deutschen Nazifizierungsbestrebungen bezogen sich auf alle Gebiete der niederländischen Gesellschaft. So sollten neben dem öffentlich-rechtlichen Sektor auch Parteien, das Pressewesen, Gewerkschaften und sonstige gesellschaftliche Vereinigungen dem ideologischen Totalitätsanspruch des NS-Regimes unterworfen werden. Mit der Gleichschaltung des breitgefächerten Parteiwesens, der Medien und der Vielzahl an gesellschaftlichen Organisationen – bis zum Westfeldzug ein selbstverständliches Kennzeichen der pluralistischen Zivilgesellschaft der Niederlande – hat das Reichskommissariat den Versuch unternommen, ein seit Jahrzehnten bewährtes System zu beseitigen, das in der Soziologie gerne als ‚Versäulung‘ bezeichnet wird. Der Begriff, wie er besonders von dem niederländisch-amerikanischen Politologen Arend Lijphart 1968 bestimmt worden ist, beinhaltet die Parzellierung der Gesellschaft in die soziokulturellen Milieus von Protestanten, Katholiken und Sozialdemokraten, die seit dem späten 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund ihrer jewei148 Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 341. 149 Rabl, Die Verwaltung, Bl. 24 f.

6.3 Gleichschaltung von Parteien, Medien und gesellschaftlichen Organisationen

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ligen weltanschaulichen Bindung eigenständige Netzwerke gesellschaftlicher Organisationen, Medien und politischer Parteien aufgebaut haben.150 Auch die niederländischen Liberalen, die von ihrem Selbstverständnis her eigentlich eine gesellschaftlich offene Alternative zu den ‚Säulen‘ darstellen wollten, bildeten mit ihren Medien, Parteien und sonstigen Interessenverbänden in gewisser Weise eine ‚Säule‘ – wenn auch eine ‚Säule wider Willen‘. Die politischen Eliten des Landes sorgten sich zwar zuvörderst um die Integrität und Binnenkohäsion ihrer eigenen ‚Säule‘, waren untereinander aber in hohem Maße zu Kompromissen und Kooperation bereit. Die gesellschaftliche Gesamtverfassung der Niederlande war somit bis zum Mai 1940 von einer pragmatischen Form von Toleranz gekennzeichnet, die Eigenständigkeit der verschiedenen ‚Säulen‘ und nationale Kohärenz miteinander in Übereinstimmung zu bringen versuchte. Für den Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus stellte die ‚versäulte‘ Gesellschaft der Niederlande in ihrem weltanschaulichen Pluralismus und mit ihrer Fähigkeit zum Aushandeln von Kompromissen nach demokratischen Spielregeln eine Herausforderung dar. Wie ist Seyß-Inquart, dessen zentrale politische Aufgaben in der Nazifizierung und Gleichschaltung seines ‚Herrschaftsbereichs‘ lagen, mit diesem Phänomen umgegangen? Im Hinblick auf Parteien, Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Organisationen lassen sich für die ersten Monate der deutschen Besetzung des Landes in seiner Amtsführung unterschiedliche Herangehensweisen ausmachen: 1) Er ließ die Bildung einer bürgerlichen Sammlungsbewegung zu, die unter der Bezeichnung Nederlandsche Unie einen nationalen Zusammenschluss breitester Schichten der einheimischen Gesellschaft jenseits der ‚Versäulung‘ beabsichtigte. Die ‚Niederländische Union‘ wurde jedoch nur solange toleriert, wie ihre Existenz der deutschen Besatzungspolitik nicht schadete. 2) Bald nach seinem Amtsantritt verbot Seyß-Inquart die kommunistischen und sozialistischen Organisationen. 3) Sozialdemokratische und konfessionell gebundene Organisationen wurden anfangs einer Kontrolle unterworfen, anschließend gleichgeschaltet und im Juli 1941 verboten. 4) Die faschistischen Organisationen wurden von der Besatzungsmacht gefördert, ohne die NSB von vornherein zu bevorzugen. Sofern sie nicht schon vorher ihre Tätigkeiten eingestellt hatten, wurden die kleineren rechtsextremen Parteien dann im Dezember 1941 verboten, sodass fortan die NSB die einzig zugelassene niederländische Partei war. 6.3.1 Das Experiment der ‚Niederländischen Union‘ im Kontext der Gleichschaltungspolitik

Für ein Regime, das eine Gleichschaltung des besetzten Landes anstrebte, stellte die Nederlandsche Unie eine bemerkenswerte Herausforderung dar.151 Die Leitung dieser nichtfaschistischen Bewegung, die sich am 24. Juli 1940 offiziell konstituierte, übernahmen der parteilose Rotterdamer Polizeipräsident Louis Einthoven, der liberale Kommissar der Königin in Gro150 Lijphart, The Politics of Accommodation. Knappe Darstellung von Lijpharts Modell und Diskussion von Versäulungstheorien bei Wielenga, Die Niederlande, 97–106. 151 Grundlegend zu ihrer Geschichte: Ten Have, De Nederlandse Unie.

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ningen Johannes Linthorst Homan und Dr. Jan Eduard de Quay, Dozent an der Katholischen Handelshochschule in Tilburg und von Generalsekretär Hirschfeld Mitte Mai zum Regierungskommissar für die Organisation der Arbeit ernannt. Dieses ‚Triumvirat‘ verfolgte mit der Gründung der ‚Niederländischen Union‘ das Ziel, die Gesellschaft des besetzten Landes soweit wie möglich in einer nationalen Massenbewegung zu sammeln, nachdem im Laufe des Monats Juli Versuche der sozialdemokratischen, konfessionellen und liberalen Parteien gescheitert waren, eine nationale, überparteiliche, dezidiert nichtnationalsozialistische Bewegung ins Leben zu rufen. Bei aller Ablehnung der deutschen Besetzung des Landes verstand man in der ‚Union‘ die neue Situation durchaus als eine Chance, die Fragmentierung der ‚versäulten‘ Gesellschaft zu überwinden, und anknüpfend an Kritik, die schon in der Zwischenkriegszeit an Demokratie und Parlamentarismus geäußert worden war, waren der Führung und manchen Mitgliedern der ‚Niederländischen Union‘ autoritäre Tendenzen nicht fremd. Da man unter dem Eindruck der deutschen ‚Blitzsiege‘ davon ausging, dass die Besetzung des Landes durch das Großdeutsche Reich für längere Zeit eine irreversible Tatsache sein würde, suchte die ‚Union‘ nach Wegen, um die Interessen der niederländischen Gesellschaft zu bündeln und der Besatzungsmacht gegenüber zu vertreten, ohne sich in den Augen der einheimischen Bevölkerung durch Kollaboration, geschweige denn durch die Übernahme des Nationalsozialismus zu korrumpieren; in diesem Sinn setzte sich die Nederlandsche Unie demonstrativ von der NSB ab und verstärkte damit die ohnehin in weiten Teilen der niederländischen Gesellschaft verbreitete Ansicht, dass es sich bei Musserts Partei um eine Gruppierung von Landesverrätern handele. In ihrer Zielsetzung, die trotz aller Überparteilichkeit ein Bekenntnis zum Christentum als einer einflussreichen weltanschaulichen Antithese zum Nationalsozialismus einschloss, wollte die ‚Union‘ sowohl „nach gesellschaftlicher Erneuerung streben als auch sich an die Tatsache der Besetzung anpassen und zugleich dem Charakter der niederländischen Gesellschaft und den damit traditionell zusammenhängenden Werten Schutz bieten.“152 Diese Zielsetzung brachte freilich eine schwierige Gratwanderung zwischen Annäherung an das und Distanz vom Besatzungsregime mit sich. Über die Frage, wo bei Kontakten zur deutschen Verwaltung die Grenze zu ziehen sei, gab es innerhalb der ‚Union‘ unterschiedliche Vorstellungen. Als die Balance zwischen Distanz und pragmatischer Anpassung an die deutsche Vorherrschaft ins Wanken geriet, wandten sich immer mehr Mitglieder von der ‚Union‘ ab. Dennoch erreichte diese Organisation einen Mitgliederstand, von dem die NSB oder die faschistischen Splitterparteien nur träumen konnten: Bereits acht Wochen nach ihrer Gründung zählte die ‚Niederländische Union‘ 400.000 Mitglieder, im Februar 1941 waren es möglicherweise gar 800.000 Menschen.153 Das Reichskommissariat nahm gegenüber den Allparteiengesprächen und der Nederlandsche Unie offiziell zunächst eine abwartende Haltung ein. In diesem Sinn erklärte Seyß-In152 Ebd., 224. 153 Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 101 f. mit Anm. 43. Ten Have weist darauf hin, dass die defizitäre Quellenlage eine exakte Quantifizierung des Mitgliederbestandes nicht erlaubt. Er hält die Zahl von 600.000 Mitgliedern für eine realistische Schätzung (De Nederlandse Unie, 321). Noch weniger lässt sich in Zahlen fassen, wie viele Niederländer der ‚Union‘ jenseits einer formellen Mitgliedschaft nahestanden.

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quart schon zwei Tage nach der Konstituierung der ‚Union‘: „Ich beobachte mancherlei Versuche der Sammlung, Konzentration genannt. Ich begleite alle diese Versuche mit wohlwollendem Interesse und werde ihnen keine Schwierigkeiten bereiten, es sei denn, daß es sich einfach um den Versuch handelt, jenen Geist in irgendeiner Form weiterbestehen oder wieder aufleben zu lassen, der schließlich das niederländische Volk in den 10. Mai 1940 geführt hat.“ Abgesehen von der schwer nachvollziehbaren These, die Niederlande trügen die Verantwortung für den Fünf-Tage-Krieg, war die Absicht, eine nationale Sammlungsbewegung zu tolerieren, ernst gemeint. Angesichts der erkennbaren Unpopularität der faschistischen Kollaborationsparteien in breiten Bevölkerungsschichten schien ihm die Tolerierung der Nederlandsche Unie die Möglichkeit zu eröffnen, besonders die NSB unter Druck zu setzen und zu Loyalität gegenüber der deutschen Zivilverwaltung zu bewegen. In diesem Sinn fuhr Seyß-Inquart in seiner Rede vom 26. Juli 1940 fort: „Eine innenpolitische Bewegung und Willensbildung kann ihre Autorisierung niemals von mir als dem Vertreter der Besatzungsmacht erwarten, sondern muß sie dadurch erhalten, daß sie das niederländische Volk von der Richtigkeit ihres Weges überzeugt.“154 Eine derartige Aussage mochte suggerieren, dass die Besatzungsverwaltung bereit war, der ‚Niederländischen Union‘ eine autonome Entwicklung zuzugestehen. Dies war allerdings nicht der Fall. Denn das Reichskommissariat verzichtete keineswegs darauf, Druck auf die ‚Union‘ auszuüben. So sah sich deren Führung gezwungen, im Gründungsmanifest auf die Bindung an das niederländische Königshaus und die Forderung nach Wiederherstellung der Unabhängigkeit des Landes zu verzichten. Weiterhin beugte sie sich der Forderung der Besatzungsmacht, Juden die Ausübung von Ämtern in ihren eigenen Reihen zu verweigern.155 Mit kritischem Blick beobachtete das Reichkommissariat die innere Entwicklung der ‚Niederländischen Union‘, zur Einschüchterung nahm die Sicherheitspolizei gelegentlich Verhaftungen von Unionsfunktionären vor. Der ostentative Mangel an der von Seyß-Inquart erhofften Unterstützung der politischen Neuordnung im Sinne des Nationalsozialismus sowie zahlreiche regimekritische Broschüren und Artikel im Wochenblatt De Unie ließen offenbar werden, dass die ‚Niederländische Union‘ nicht nach einer Integration des Landes in ein großgermanisches Reich strebte, sondern sich die Erhaltung von nationaler Selbstständigkeit auf die Fahnen schrieb. Vor diesem Hintergrund kam man auf deutscher Seite zu der zutreffenden Feststellung, dass ein großer Teil der Unionsmitglieder antideutsch eingestellt sei: „Man kann die Unie heute ruhig als Sammelbecken all derer, die gegen Deutschland eingestellt sind, bezeichnen.“156 Eine enorme Verschärfung erfuhr das Verhältnis zur Besatzungsverwaltung, als sich die Leitung der Nederlandsche Unie weigerte, die niederländische Bevölkerung, ja selbst die eigenen Mitglieder zum Einsatz im Krieg gegen die Sowjetunion aufzurufen. Mehr noch, Anfang Juli 1941 publizierte De Unie einen Artikel, in dem sich das ‚Triumvirat‘ klar vom National154 Seyß-Inquart, Versammlung der AO der NSDAP, 24. 155 Siehe Ten Have, De Nederlandse Unie, 230 f. bzw. 335–338 und 462–470. 156 Zit. aus dem Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 16. Januar 1941 nach: Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 119.

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sozialismus distanzierte, einmal mehr für die Niederlande die Respektierung nationaler Eigenständigkeit einforderte und den gerade begonnenen Feldzug gegen Russland als eine ausschließliche Angelegenheit zwischen Deutschland und der Sowjetunion darstellte. Erst wenn die Niederlande wieder im Besitz ihrer „vollen Freiheit“ seien, sei denkbar, dass ihre „eigene Regierung“ eine Teilnahme am Krieg gegen „den Bolschewismus“ beschließe. Mit anderen Worten: Obwohl die ‚Union‘ mit Seyß-Inquart in der Ablehnung des Kommunismus übereinstimmte, war es für ihre Führung nicht hinnehmbar, von der deutschen Besatzungsverwaltung in den deutsch-sowjetischen Krieg gezwungen zu werden.157 Mit dieser Haltung bezog die ‚Union‘ unzweideutig Stellung gegen Seyß-Inquart. Dieser hatte nämlich am 27. Juni 1941 auf der schon mehrfach erwähnten Großveranstaltung auf dem Amsterdamer Museumplein die niederländische Bevölkerung aufgerufen, „zum Wohle des eigenen Volkes am großen europäischen Aufbauwerk“ mitzuwirken, statt in der Rolle eines „Zuschauers bei dem großen Geschehen im Osten“ zu verharren.158 Vor diesem Hintergrund konstatierte der Pressedezernent des Reichskommissariats, Willi Janke, verärgert und nicht ohne drohenden Unterton, dass das Verhältnis der ‚Niederländischen Union‘ zu den deutschen Besatzungsbehörden in zunehmendem Maße nicht zuletzt dadurch getrübt werde, „daß die Leitung der Partei den […] an die Niederländer gerichteten Appell des Reichskommissars zur Herstellung einer gemeinsamen Front gegen den Bolschewismus damit beantwortete, daß sie am 2. Juli in einer öffentlichen Erklärung die Parole der Abseitsstellung ausgab.“159 Kaum verwunderlich, dass sich auch die gleichgeschaltete Presse ablehnend über die negative Haltung der Nederlandsche Unie zum Unternehmen Barbarossa äußerte. So kam der Doesburgsche Courant zu dem Ergebnis, dass die Leitung der ‚Union‘ mit ihrer Haltung „freiwillig in die Verbannung gegangen ist und in Zukunft keinerlei Einfluss auf die weitere Entwicklung hier zu Lande haben wird.“160 Tatsächlich hatte die Nederlandsche Unie im Sommer 1941 klargemacht, dass sie nicht bereit war, sich von der Besatzungsmacht grenzenlos instrumentalisieren zu lassen. Damit verlor sie für Seyß-Inquart jegliche Bedeutung und drohte, zu einer politischen Belastung zu werden. Die Antwort des Reichskommissariats ließ nicht lange auf sich warten: Kurz nach dem Erscheinen des inkriminierten Artikels in De Unie ging die Besatzungsmacht mit einer Reihe von Repressalien gegen die ‚Union‘ vor. Dazu gehörten ein Versammlungsverbot, die Verhängung einer Geldbuße von 60.000 Gulden und das Verbot, weiterhin für die eigene Organisation und ihre Ziele zu werben und De Unie zu verbreiten. Am 31. August 1941 schließlich musste die ‚Union‘ alle Aktivitäten einstellen.161 Formell aufgehoben wurde sie im Dezember

157 Waar wij staan [Wo wir stehen], in: De Unie vom 3. Juli 1941, unterschrieben von Einthoven, Linthorst Homan und De Quay. 158 VB vom 29. Juni 1941 (BArch, R 8034/III-443, Bl. 53). Ähnlich Hamburger Fremdenblatt vom selben Tag. Zu Seyß-Inquarts Rede siehe oben, S. 88 f. 159 Janke, Regungen des neuen Geistes, 47 f. 160 Doesburgsche Courant vom 9. Juli 1941. In NIOD, KA I 3411 befinden sich weitere Artikel der niederländischen Presse, die die Weigerung der ‚Niederländischen Union‘ kritisieren, zur Teilnahme am Krieg gegen die Sowjetunion aufzurufen. 161 Ten Have, De Nederlandse Unie, 472 f.

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desselben Jahres. Ihre Büros und Unterlagen wurden von der Polizei beschlagnahmt, bei Unionsfunktionären fanden Hausdurchsuchungen statt.162 Ein halbes Jahr später wurden zahlreiche Unionsfunktionäre verhaftet, Linthorst Homan, De Quay und Einthoven ins Geisellager Sint-Michielsgestel überstellt.163 Mit dem Verbot der Nederlandsche Unie war das Experiment einer vom Regime unabhängigen nationalen Sammlungsbewegung gescheitert. 6.3.2 Die Gleichschaltung des Parteiwesens

Während Seyß-Inquart in den ersten Monaten seiner Tätigkeit als Reichskommissar die Bildung der parteiübergreifenden bürgerlichen Nederlandsche Unie zuließ, durften die ‚linken‘ Parteien mit keinerlei Entgegenkommen rechnen. Im Gegenteil, die Parteien von Kommunisten und Sozialisten wurden noch im Frühjahr und Sommer 1940 zerschlagen. Mit dieser Aufgabe betraute Seyß-Inquart Rost van Tonningen; das führende NSB-Mitglied und großgermanisch eingestellter Protegé von Heinrich Himmler wurde vom Reichskommissar am 20. Juli 1940 zum Kommissar für die marxistischen Parteien ernannt. Dies war vermutlich bereits bei einem Gespräch vereinbart worden, das Seyß-Inquart am 2. Juni mit Rost und Himmler, der zu diesem Zeitpunkt die Westfront inspizierte, geführt hatte. Peter Berger zufolge hatte sich Rost bei dieser Gelegenheit dadurch für ein politisches Amt in Stellung gebracht, dass er es als Aufgabe der NSB bezeichnet habe, die niederländische Arbeiterschaft von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften zu trennen und ins Lager der Nationalsozialisten zu ziehen.164 Zugleich sprach er sich wahrscheinlich bei dem Gespräch dafür aus, in den Niederlanden SS-Formationen aufzubauen und Niederländer für die Waffen-SS zu rekrutieren;165 auch dies dürfte ihn beim Reichskommissar wie auch beim Reichsführer-SS für die Übernahme eines staatlichen Amtes empfohlen haben.166 Im Ernennungsschreiben wies Seyß-Inquart dem Kommissar für die marxistischen Parteien die Aufgabe zu, die ‚Kommunistische Partei‘ und die ‚Revolutionär-Sozialistische Arbeiterpartei‘ zu liquidieren. Weniger repressiv sollte Rost van Tonningen hingegen mit der ‚Sozialdemokratischen Arbeiterpartei‘ (SDAP) umgehen, denn deren Mitglieder und Anhänger wollte Seyß-Inquart für den Nationalsozialismus gewinnen. In diesem Sinn hatte Rost dafür Sorge zu tragen, „dass die Organisation als solche von marxistischer Tätigkeit und Anschauung befreit wird.“ Dies schloss allerdings nicht aus, dass das Vermögen auch der SDAP und ihrer Untergruppierungen konfisziert werden konnte; eine Entscheidung über entsprechende Schritte behielt sich Seyß-Inquart

162 Ebd., 483. 163 Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 119, Anm. 15. Schon im Sommer 1941 waren Linthorst Homan und Einthoven aus ihren Ämtern des Kommissars von Groningen bzw. des Polizeipräsidenten von Rotterdam entlassen worden (Ten Have, De Nederlandse Unie, 476). 164 Berger, Im Schatten der Diktatur, 506 f. 165 In ’t Veld, Inleiding, 226 und Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 112. 166 Die Ergebnisse, die Himmler, Seyß-Inquart und Rost van Tonningen bei ihrem Gespräch vom 2. Juni erzielten, stießen bei Hitler auf Zustimmung: „Er war mit den von uns vertretenen Gedanken sehr einverstanden.“ Himmler an Seyß-Inquart vom 4. Juni 1940, BArch, NS 19/836, Bl. 133.

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persönlich vor.167 Schon bald aber zeichnete sich ab, dass sich die Sozialdemokraten nicht dem neuen Regime anschlossen, hatte doch ihr Parteivorsitzender Jacobus Jan (Koos) Vorrink jegliche Zusammenarbeit mit dem radikalen Kollaborateur Rost van Tonningen kategorisch ausgeschlossen.168 Damit erwies sich das Modell einer staatlichen Aufsicht über die SDAP als unbrauchbar. Vor diesem Hintergrund bekundete Seyß-Inquart zwischen Dezember 1940 und Februar 1941 in einer Reihe von Besprechungen Rost van Tonningen gegenüber die Absicht, die Partei aufzulösen.169 Umgesetzt wurde die Entscheidung am 4. Juli 1941: An diesem Tag löste Seyß-Inquart per Verordnung alle nichtfaschistischen Parteien auf.170 Betroffen von dieser Maßnahme war aber nicht nur die Sozialdemokratische Partei, sondern auch die ‚Römisch-Katholische Staats­ partei‘, die ‚Antirevolutionäre Partei‘ (ARP), die ‚Christlich-Historische Union‘, der ‚Freisinnig-Demokratische Bund‘, die ‚Liberale Staatspartei‘, die ‚Christlich-Demokratische Union‘ sowie die ‚Politisch-Reformierte Partei‘. Schon wenige Tage vorher hatte die Sicherheitspolizei in verschiedenen Teilen des Landes zahlreiche führende Politiker aus den Parteien verhaftet, die das Reichskommissariat aufzuheben gedachte. Alleine von der protestantischen Antirevolutionaire Partij, deren Mitgliederbestand seit Beginn der Besatzung von etwa 70.000 auf mehr als 250.000 Personen angewachsen war, wurden am 30. Juni 90 Parteifunktionäre in das Durchgangslager Schoorl verbracht; der ARP-Vorsitzende Colijn wurde zunächst in einem Hotel in Valkenburg unter Hausarrest gestellt, anschließend auf Anordnung Hitlers nach Deutschland deportiert und dort zusammen mit seiner Frau Helena Colijn-Groenenberg bis zu seinem Tod im September 1944 interniert.171 Mit der Liquidierung des Vermögens 167 Seyß-Inquart an Rost van Tonningen vom 20. Mai 1940, in: Correspondentie van Mr. M. M. Rost van Tonningen, Bd. 1, Dok. 66, 383 f. Siehe auch Seyß-Inquarts Vollmacht für den Kommissar für die marxistischen Parteien einschließlich einer Spezifizierung der betreffenden Organisationen in ebd., Dok. 66 I und 66 II, 384-386. 168 Vgl. Wiedijk/Harmsen, Vorrink. Siehe auch Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 129. 169 Vgl. Rost van Tonningen an Seyß-Inquart vom 19. Dezember 1940, in: Correspondentie van Mr. M. M. Rost van Tonningen, Bd. 1, Dok. 157, 549 mit Anm. 4. 170 VO 120/1941, in: VOBl. NL 1941, 513 f. Vor dem Nürnberger Militärtribunal hat Seyß-Inquart das Parteienverbot damit zu begründen versucht, dass alle niederländischen Parteien mit Ausnahme der NSB seit dem Beginn des „Ostfeldzugs“ „eine aktive feindliche Stellung gegen die Besatzungsmacht“ eingenommen hätten (Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 700). Die Gespräche, die er schon Monate vor dem 4. Juli 1941 mit Rost van Tonningen geführt hatte, beweisen jedoch, dass das Verbot aller nichtfaschistischen Parteien von langer Hand vorbereitet war, die Ablehnung des Krieges gegen die Sowjetunion für das Reichskommissariat also nur einen Vorwand darstellte, um die sozialdemokratischen, bürgerlichen und konfessionellen Parteien verbieten zu können. 171 Zu Seyß-Inquarts Schlag gegen die niederländischen Parteien vgl. De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/1, 138149. Siehe auch Fernschreiben Nr. 5349 von Rauter an Himmler vom 30. Juni 1941, NIOD, Coll. Doc. I, vorläufige Sign.: Aanwinst 1879. Zur Verhaftung und Internierung von Colijn im Ilmenauer Hotel Gabelbach, deretwegen Seyß-Inquart eng mit Hey­drich zusammenarbeitete, siehe Langeveld, Schipper naast God, Bd. 2, Kap. 17, Koop, In Hitlers Hand, 209-211 sowie den Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 12. November 1941 (PA AA, R 101102). Obwohl intensive sicherheitspolizeiliche Untersuchungen die konstruierten Spionagevorwürfe gegen Colijn nicht bestätigen konnten (siehe den Bericht des Vortragenden Legationsrats Dr. Erich Albrecht vom 13. November 1941 und den Untersuchungsbe-

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der verbotenen Parteien und der ihnen angegliederten Organisationen wurde ein Stillhaltekommissar beauftragt. Damit folgte man jenem Muster, das auch in der Ostmark und in anderen angegliederten oder besetzten Gebieten angewendet worden war.172 In den Niederlanden wurde der in Deutschland geborene NSB-Funktionär Hans Werner Müller-Lehning zum Stillhaltekommissar ernannt. Die Rechtsgrundlage für dessen weitreichende Tätigkeiten hatte Seyß-Inquart knapp ein Vierteljahr vorher durch eine Verordnung geschaffen, 173 in der er dem Kommissar für die nichtwirtschaftlichen Personenvereinigungen und Stiftungen die Befugnis erteilt hatte, „im Zuge der Neuordnung“ privatrechtliche Vereinigungen und Stiftungen aufzulösen, sie anderen – gemeint war: nationalsozialistischen – Vereinigungen oder Stiftungen einzugliedern, bestehende Satzungen abzuändern oder neue Satzungen aufzuoktroyieren und Gremien oder Führungspersonen der betroffenen Organisationen abzusetzen oder neu zu ernennen (§ 2). Neugründungen mussten beim Stillhaltekommissar beantragt werden (§ 5); diesem oblag auch die Entscheidung über das Vermögen von aufgelösten Organisationen (§ 3). Mit der Auflösung der nichtfaschistischen Parteien und der Konfiszierung ihres Vermögens endete die Phase der begrenzten Tolerierung eines pluralistischen Parteienspektrums durch das Reichskommissariat. Dass Seyß-Inquart bis dahin sozialdemokratische, konservative, konfessionelle und liberale Parteien geduldet hatte, hatte keineswegs mit Respekt vor den Prinzipien einer parlamentarisch-demokratischen Grundordnung zu tun gehabt, sondern mit dem Ziel, in einem utilitaristisch-funktionalistischen Sinn aus möglichst vielen ‚Säulen‘ der niederländischen Gesellschaft Kräfte zur Mitarbeit am Aufbau der ‚Neuen Ordnung‘ im Sinne seiner ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ zu motivieren. Statt auf Verbot und Ausgrenzung setzte Seyß-Inquart in der Anfangszeit darauf, dass auch die nichtfaschistischen Parteien und die ‚Niederländische Union‘ dazu gebracht werden könnten, zu der anvisierten Selbstnazifizierung des Landes beizutragen. Die begrenzte Tolerierung von Parteien in den ersten Monaten der Besatzung war somit als Anreiz zur Kollaboration mit jener Macht zu verstehen, die militärisch nicht zu besiegen schien und sich anschickte, auf lange Sicht den europäischen Kontinent zu beherrschen. Mit der erwähnten Verordnung vom 4. Juli 1941 war das Parteiwesen gleichgeschaltet, organisierte politische Dissidenz wurde in den Untergrund gezwungen. Die Einflussnahme auf nichtfaschistische Strömungen und deren Kontrolle wurricht vom 26. Januar 1942, beide in PA AA, R 101102), wurde der niederländische Politiker vom NS-Regime als Sicherheitsrisiko betrachtet und außer Landes gebracht. 172 Vgl. Pawlowsky/Leisch-Prost/Klösch, Vereine im Nationalsozialismus. 173 VO 41/1941 vom 28. Februar 1941, in: VOBl. NL 1941, 148-152. Diese Verordnung wurde von Seyß-Inquart rückwirkend zum 21. September 1940 in Kraft gesetzt (§ 10). Ihre Bestimmungen galten somit von jenem Tag an, an dem der Reichskommissar durch VO 145/1940 nichtwirtschaftliche Personenvereinigungen und Stiftungen grundsätzlich einer Anmeldepflicht unterworfen hatte (VOBl. NL 1940, 445-447). Auf der Grundlage der Registrierung von knapp 90.000 nichtwirtschaftlichen Vereinigungen und Stiftungen konnte die Besatzungsmacht ab Frühjahr 1941 zur politischen Steuerung des niederländischen Vereinswesens nach ihren Vorstellungen übergehen. Tatsächlich wurden allein in den ersten acht Monaten nach Erlass von VO 41/1941 ungefähr 7.700 nichtfaschistische Vereinigungen liquidiert (Aalders, Geraubt!, 55 f.).

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de nun nicht mehr mit politischen, sondern mit polizeilichen Mitteln verfolgt. Seyß-Inquart beeilte sich zwar, Generalsekretär Frederiks am folgenden Tag mitzuteilen, dass die Auflösung der Parteien nicht bedeute, dass deren Mandatsträger automatisch ihre Sitze in Vertretungskörperschaften verlieren würden.174 Doch was sollte es nützen, die juristische Gültigkeit von Mandaten aufrechtzuerhalten, wenn Parteien und Parlamente verboten bzw. außer Funktion gesetzt wurden? Aus Seyß-Inquarts Sicht gehörte die Zukunft jedenfalls ausschließlich den einheimischen Faschisten. 6.3.3 Die faschistischen Parteien: Von wohlwollender Förderung zum Verbot

Dass das Reichskommissariat faschistische Parteien nicht nur tolerierte, sondern auch unterstützte, ist angesichts ideologischer Affinität zum Nationalsozialismus nicht verwunderlich. Der für Parteiarbeit zuständige Generalkommissar Schmidt protegierte ostentativ die NSB, sorgte aber zugleich dafür, dass andere faschistische Parteien von deutscher Seite Subventionen erhielten und auf vielfältige Weise gefördert wurden.175 Dies galt etwa für die ‚Nationale Front‘ mit ihrer Zeitung Nederlandsch Dagblad und den völkischen Verbond van Dietsche Nationaal Solidaristen (Verdinaso), der sowohl in Flandern als auch in den Niederlanden aktiv war und unter dem Stichwort ‚dietsch‘ eine weitreichende Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Ländern intendierte.176 In besonderem Maße profitierte die ‚Nationalsozialistische Niederländische Arbeiterpartei‘ (NSNAP) von deutscher Unterstützung. Sie war nur zwei Tage nach der Gründung der NSB am 16. Dezember 1931 von Ernst Hermann Ritter van Rappard ins Leben gerufen worden, der ein Jahr zuvor an der Universität Wien in Staatswissenschaften promoviert hatte.177 Seine Partei zerfiel aber schon bald aufgrund von Streitigkeiten unter ihren führenden Politikern Van Rappard, Adalbert Smit und Albert van Waterland (eigentlich: Albert de Joode) in drei separate Parteien. Gemeinsam war ihnen ein rassistisches Weltbild, Antisemitismus und Bewunderung für Hitler und die NSDAP. Van Rappard zeichnete sich darüber hinaus von Anfang an durch die Forderung nach einem Anschluss der Niederlande an das nationalsozialistische Deutschland aus und ließ bereits in den Dreißigerjahren seine Storm Afdeling nach dem Vorbild der deutschen SA gewaltsam gegen tatsächliche oder vermeintliche Kommunisten und Sozialisten vorgehen. Im Unterschied zur NSB, in der man bis zum Ende der Besatzungszeit den alten Seemansgruß Hou zee als Grußform beibehielt, wurde in Van Rappards Nationaal-Socialistische Nederlandsche Arbeiderspartij der Hitlergruß praktiziert. Nach dem Westfeldzug kam die NSNAP in den Genuss finanzieller Unterstützung durch die Besatzungsmacht, ab dem 15. Juni 1940 erschien ihr Parteiblatt Het Nieuwe Volk in gedruckter Form. 1941 jedoch untersagte Seyß-Inquart allen faschistischen Parteien mit Ausnahme der NSB jede weitere politische Tätigkeit. Was mag ihn bewogen haben, nicht nur die ‚Niederländische 174 Diese Interpretation des Reichskommissars teilte Frederiks am 14./15. Juli 1941 per Rundschreiben den Provinzialausschüssen mit (NIOD, 20/1412). 175 Vgl. Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 104 f. und Schöffer, Het nationaal-socialistische beeld, 83. 176 Hoffmann, NS-Propaganda, 33 unter Bezugnahme auf Janke, Regungen des neuen Geistes, 47. 177 Siehe Zondergeld, Rappard.

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Union‘, die ‚linken‘ und die bürgerlichen Parteien aufzuheben, sondern auch die kleineren faschistischen Parteien? Den entscheidenden Anstoß gab wohl Hitler. Bei dem Gespräch mit Seyß-Inquart und Generalkommissar Schmidt gab der ‚Führer‘ am 26. September 1941 die Losung aus, „ein Gegeneinanderarbeiten nationalsozialistischer Gruppen sei unerwünscht und abzustellen. Unter den obwaltenden Umständen sei die Herausnahme der NSNAP aus dem politischen Raum notwendig.“ Tatsächlich hatte Van Rappard den Mitgliedern seiner Partei, wie Otto Bene dem Auswärtigen Amt mitteilte, „jegliche politische Betätigung bis auf weiteres untersagt“. Auch wenn Bene andere faschistische Parteien nicht ausdrücklich erwähnte, hatte Hitler klargemacht, dass es von nun an in den besetzten Niederlanden (wie in Deutschland seit 1933) nur eine politische Partei geben sollte, und dies konnte nach Lage der Dinge nur die NSB sein. Musserts Partei war aus Hitlers Sicht zwar „weltanschaulich noch nicht gefestigt“. Aber für sie sprach, dass sie von allen faschistischen Parteien des Landes die meisten Mitglieder hatte. Diese sollten nun zeigen, „ob sie in der Lage sein werden, das niederländische Volk für den Nationalsozialismus zu gewinnen.“ Von Mussert und seiner Partei erwartete der ‚Führer‘ jedenfalls, dass sie ihr Land unter einer „von uns kontrollierten autonomen Verwaltung“ durch eine „organische Entwicklung in das germanische Reich“ führen würden. In weiterer Zukunft – damit war vermutlich die Zeit nach dem erhofften Endsieg gemeint – solle „die tragende niederländische politische Bewegung […] dereinst die Macht und Führung in den Niederlanden übernehmen, ob sie NSB oder anders heisse [,] spiele keine Rolle.“ Hitler ließ freilich keinen Zweifel, dass er nicht gewillt war, der Nationaal-Socialistische Beweging freie Hand zu lassen. Vielmehr forderte er die deutschen Behörden auf, „Mussert und die NSB noch mehr als bisher zu unterstützen. […] Es sei notwendig, den massgebenden Einfluss auf die NSB und die einzelnen Persönlichkeiten zu verstärken, damit ein Versagen [der NSB] ausgeschlossen sei.“ Da Hitler bekannt war, dass Musserts Partei von breiten Kreisen der niederländischen Gesellschaft als landesverräterische Bewegung abgelehnt wurde, legte er bei dem Gespräch vom 26. September 1941 Wert darauf, dass die Einflussnahme des Reichskommissariats „nach aussenhin nicht in Erscheinung treten“ dürfe, „weil dadurch Mussert und der NSB die Arbeit wahrscheinlich noch mehr als bisher bei der Bevölkerung erschwert werden würde.“178 Damit wurde von Berlin aus das Signal für die letzte Phase der Gleichschaltung des niederländischen Parteiwesens gegeben, das Todesurteil über die NSB-Konkurrenten wurde von höchster Stelle gesprochen: Mit Blick auf den Krieg gegen die Sowjetunion sollten die politischen Kräfte der besetzten Niederlande konzentriert werden. Die meisten Mitglieder der NSNAP gingen denn auch zur NSB über oder stellten sich der SS zur Verfügung. Schon im Vorfeld hatte Seyß-Inquart angeordnet, dass diese Leute „nutzbringend in Verwaltung und

178 Alle Zitate nach dem Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 1. Oktober 1941, PA AA, R 29678, Bl. 84452-84454. Die Auflösung der NSNAP hatte bereits Himmler am selben Tag mit Seyß-Inquart und Generalkommissar Schmidt beim gemeinschaftlichen Mittagessen besprochen; siehe Witte u. a. (Bearb.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers, 220. Zu dem Empfang von Seyß-Inquart und Schmidt durch Hitler siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/1, 194–197.

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Wirtschaft untergebracht werden, damit sie als Nationalsozialisten nicht verloren gehen.“179 Die Versorgung mit Posten sollte die Betroffenen also für die faktische Auflösung ihrer Partei entschädigen. Wirksam wurde die ‚Flurbereinigung‘ im faschistischen Lager, als Seyß-Inquart Mitte Dezember 1941 die NSB zur einzig zugelassenen Partei in den Niederlanden erklärte.180 Im Unterschied zum Schlag gegen die sozialdemokratischen und bürgerlichen Parteien verzichtete das Regime diesmal auf den Erlass einer Verordnung. Die Auflösung der anderen faschistischen Parteien und deren weitgehende Überführung in die ‚Nationalsozialistische Bewegung‘ wurde somit ohne Rechtskraft und ohne offizielle Bekanntmachung ins Werk gesetzt. Die Ausschaltung der NSB-Konkurrenten wurde wie eine innerfaschistische Familienangelegenheit behandelt, bei der die niederländischen Kollaborateure freilich am allerwenigsten ein Recht auf Mitsprache und Entscheidungsbefugnisse hatten. Mit dieser Entwicklung wurde eine Option realisiert, die Martin Luther, damals noch Vortragender Legationsrat im Auswärtigen Amt, anlässlich eines Gesprächs mit zwei Abgesandten der NSNAP frühzeitig erwogen hatte. Einen Vorschlag der namentlich nicht genannten Abgesandten aufgreifend, hatte Luther am 18. Mai 1940 angeregt, „dass dem Gedanken einer Vereinigung der NSNAP. mit der NSB. gegebenenfalls näher getreten werden kann.“ Als Begründung gab Luther damals an, die Nationaal-Socialistische Nederlandsche Arbei­ders­ partij „könnte gegebenenfalls für die NSB. einen begrüssenswerten Zuwachs bedeuten, falls die Gegensätze, die zweifellos in stärkster Form vorhanden waren […], überbrückt werden können.“ Dabei war es Luther nicht nur um eine numerische Stärkung der NSB zur organisatorischen Bündelung des faschistischen Lagers in den Niederlanden gegangen. Sein Hinweis, dass die NSNAP „das gleiche Programm“ wie die NSDAP in Deutschland habe, zeigt, dass Ribbentrops Vertrauter schon damals darauf setzte, die NSB durch die Fusion mit der NSNAP, die „insbesondere in Bezug auf die Rassenfrage“ die Judenverfolgung des NS-Regimes mitzutragen versprach, zu radikalisieren.181 Nachdem Seyß-Inquart einige Tage später die Führung der deutschen Zivilverwaltung in Den Haag angetreten hatte, wurde die Idee einer Zwangsvereinigung von NSB und NSNAP jedoch zunächst ad acta gelegt. Sie widersprach dem Bestreben des Reichskommissars, die „Willensbildung“ auf eine möglichst breite gesellschaftliche Grundlage zu stellen und durch ein relativ tolerantes Auftreten die niederländische Bevölkerung für den Nationalsozialismus einzunehmen zu versuchen. Erst als sich auch für Seyß-Inquart abzeichnete, dass das Ziel einer gelenkten Selbstnazifizierung nicht wunschgemäß zu erreichen war, stattdessen die Ablehnung von deutscher Besatzung und Nationalsozialismus bei breiten Bevölkerungskreisen evident wurde und die Unterstützung für den Krieg gegen die Sowjetunion weit hinter den Erwartungen zurückblieb, wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 1941 der Weg freigemacht für die Zusammenlegung und Konzentrierung aller faschistischen Kräfte des Landes. Mit Hitlers Entscheidung, alle rechtsextremen Parteien mit Ausnahme der NSB aufzulösen, scheint Seyß-Inquart einverstanden gewesen zu sein; Kritik 179 Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 1. Oktober 1941, PA AA, R 29678, Bl. 84454. 180 Siehe hierzu unten, S. 279. 181 Vortragsnotiz von Martin Luther vom 25. Mai 1940, PA AA, R 27666, Bl. 301 f.

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ist nicht überliefert. Es steht eher zu vermuten, dass die Anregung zur Auflösung der faschistischen Splitterparteien von ihm ausgegangen war, als er am 26. September 1941 „dem Führer eine ungeschminkte Schilderung der tatsächlichen Lage in den besetzten niederländischen Gebieten gegeben, dabei Licht- und Schattenseiten gleichermassen erwähnt und auch die negativen Tatsachen keineswegs übergangen [hat].“182 6.3.4 Die Gleichschaltung der Gewerkschaften

Neben den Parteien wurden auch die Gewerkschaften Opfer der deutschen Gleichschaltungspolitik.183 Treibende Kraft hierbei war Dr. Werner Hellwig, der als Vertreter der Deutschen Arbeitsfront (DAF) in Den Haag die Aufgabe hatte, mit seiner Dienststelle die Gewerkschaften der von Deutschland besetzten westeuropäischen Länder dem NS-Regime zu unterstellen. Unter seiner Regie wurden ab dem 16. Juli 1940 der Vorstand des Dachverbands der niederländischen Gewerkschaften, des Nederlandsch Verbond van Vakverenigingen (NVV), sowie die Vorstände der angeschlossenen Gewerkschaften abgesetzt. Mit der Führung des niederländischen Gewerkschaftsbundes betraute Seyß-Inquart in Absprache mit Mussert den NSB-Funktionär Hendrik Jan Woudenberg; dieser genoss auch die Unterstützung des Kommissars für die marxistischen Parteien Rost van Tonningen.184 Als Anhänger der ‚Neuen Ordnung‘ und Sympathisant der SS ‚säuberte‘ Woudenberg sogleich den NVV von Gegnern des NS-Regimes sowie von allen jüdischen Mitarbeitern. Die konfessionellen Gewerkschaften des Christelijk Nationaal Vakverbond (CNV) und des Rooms-Katholiek Werklieden Verbond (RKWV) blieben formell vorläufig unabhängig, erhielten aber einen ‚Beauftragten‘ als nationalsozialistisches Kontrollorgan. 1941 wurden dann auch die beiden konfessionellen Gewerkschaften gleichgeschaltet und Woudenberg unterstellt. Mit dem Schlag gegen die freien Gewerkschaften und die „marxistischen Organisationen“ wollte sich Seyß-Inquart, wie er nicht einmal zwei Wochen nach der Absetzung des bisherigen NVV-Vorstands öffentlich kundtat, die Gewähr dafür schaffen, „daß jene Einflüsse und Gefahren ausgeschaltet sind, die frei gewähren zu lassen in einem nationalsozialistischen Machtbereich unmöglich ist.“185 Letztlich stand hinter den Maßnahmen gegen die freien Gewerkschaften nicht weniger als die Absicht des Reichskommissariats, nach dem Vorbild der Deutschen Arbeitsfront auch in den besetzten Niederlanden eine einheitliche, nationalsozialistische Gewerkschaft ins Leben zu rufen. Dieses Ziel wurde ab 1942 mit der Niederländischen Arbeitsfront (NAF) angestrebt. Ihr konnten – mit Ausnahme der Juden – jeder erwerbstätige Niederländer sowie berufliche Fachverbände und Gewerkschaften beitreten.186 Wie Seyß-Inquart bei der feierlichen Eröffnung der NAF in Den Haag kundgab, schuf diese Organisation „die Grundlage für die neue 182 So die verklausulierte Formulierung Benes in seinem Bericht ans Auswärtige Amt vom 1. Oktober 1941, PA AA, R 29678, Bl. 84449. 183 Vgl. zum Folgenden Langeveld, Niederlande, 98 ff. 184 Barnouw, Woudenberg. 185 Seyß-Inquart, Versammlung der AO der NSDAP, 24. 186 VO 47/1942 vom 30. April 1942, in: VOBl. NL 1942, 211–216, hier § 5, 213.

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Sozialordnung“, die für die Zeit nach dem erwarteten Sieg über die Sowjetunion angestrebt wurde.187 Doch schon für die Dauer des Weltkriegs und der deutschen Besatzung wurden ihr traditionell gewerkschaftliche Aufgaben übertragen wie die Mitgestaltung von Arbeits- und Lohnbedingungen, die Mitwirkung am Ausbau des Sozialversicherungssystems, die Förderung von beruflicher Fortbildung sowie Rechtsberatung und -vertretung ihrer Mitglieder. Die NAF-Gemeinschaft Vreugde en Arbeid [Freude und Arbeit] schließlich, deren Einrichtungen „zur Befriedigung der kulturellen Bedürfnisse der Mitglieder und zur Erhaltung und Förderung ihrer Leistungskraft“ beizutragen hatten (§ 2), lässt Parallelen zur NS-Gemeinschaft ‚Kraft durch Freude‘ der Deutschen Arbeitsfront erkennen. Wie die DAF ging ihr niederländisches Pendant allerdings in zweifacher Hinsicht über eine klassische Gewerkschaft hinaus. Zum einen war die Niederländische Arbeitsfront entsprechend dem Führerprinzip hierarchisch aufgebaut. So behielt sich der Reichskommissar entscheidende Rechte vor wie die Berufung und Abberufung des NAF-Leiters, der ihm gegenüber verantwortlich war (§ 7), die Bestätigung der Satzung (§ 8) und die Einsetzung der Mitglieder des Finanzausschusses (§ 10). Außerdem wurde dem Leiter der Arbeitsfront Entlastung nicht durch ein Vertretungsorgan der Mitglieder, sondern durch den Vorsitzenden des Finanzausschusses erteilt (§ 10). Zum anderen richtete sich die Nederlandsche Arbeidsfront sowohl an Arbeitnehmer als auch an Arbeitgeber und deren korporative Vertretungen (§ 5). Die NAF diente somit nicht nur der Gleichschaltung der Gewerkschaften, sondern zielte zugleich auf eine spezifisch nationalsozialistische Vorstellung von Sozialpartnerschaft, in der Arbeitgeber und Arbeitnehmer ökonomische, soziale und kulturelle Interessen miteinander abglichen, und zwar unter der Aufsicht und gemäß den Erwartungen der politischen Führung. Dahinter stand nichts anderes als die harmonische Sozialutopie einer klassenlosen ‚Volksgemeinschaft‘. Dass übrigens die Niederländische Arbeitsfront am 1. Mai 1942 ins Leben gerufen wurde, war kein Zufall, galt doch dieses Datum nicht nur in der deutschen Arbeiterschaft traditionell als Tag der Arbeit. Die Leitung der NAF übertrug der Reichskommissar einmal mehr Woudenberg, der den Prozess der Nazifizierung und Gleichschaltung des niederländischen Gewerkschaftswesens mit Unterstützung des Reichskommissariats somit noch weiter vorantreiben konnte. Immerhin verfügte er nun über das Vermögen der anderen Gewerkschaften, die fortan aufgehoben waren. Von Hitler wurde die Auflösung der konfessionellen Gewerkschaften, Vereine und Parteien ausdrücklich gutgeheißen. Bei dem Gespräch mit Seyß-Inquart und Schmidt vom 26. September 1941 billigte der ‚Führer‘ in Anwesenheit von Lammers und Bormann auch die Pläne des Reichskommissariats zur Einrichtung der Niederländischen Arbeitsfront.188 Damit konnte sich Seyß-Inquart für die Schritte, die er auf dem Weg der Nazifizierung und Gleichschaltung der Niederlande in die Wege geleitet hatte, der Rückendeckung der NS-Spitze sicher sein. In der Realität war der Erfolg dieser Politik jedoch ausgesprochen begrenzt. Besonders aus dem konfessionellen Raum weigerten sich Mitglieder und Funktionäre von Einzelge187 Seyß-Inquart, Aus Anlass der Errichtung der Niederländischen Arbeitsfront, 104. 188 Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 1. Oktober 1941, PA AA, R 29678, Bl. 84449.

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werkschaften, unter dem Dach der NAF zu arbeiten, und setzten ihre Aktivitäten für die Dauer der deutschen Besatzung aus. Nach der Unterstellung unter Woudenberg ließen die Leitungen des katholischen RKWV wie auch des protestantischen CNV die konfessionellen Gewerkschaften regelrecht ‚leerlaufen‘. So blieben im RKWV von den 180.000 Mitgliedern nur 8.000, im protestantischen CNV waren es in der Anfangszeit nur 25.000 von 120.000 Mitgliedern. Selbst im NVV, der sich in den ersten beiden Jahren mit bemerkenswert wenig Widerstand hatte gleichschalten lassen, war nur ein Drittel bereit, sich der Niederländischen Arbeitsfront anzuschließen: Von 300.000 Mitgliedern, die der NVV am 1. Januar 1942 zählte, traten weniger als 100.000 der NAF bei. Noch krasser fallen die Zahlenverhältnisse aus, wenn man die Mitglieder von allen Woudenberg unterstellten Gewerkschaftsverbänden zur NAF in Relation setzt: Von 700.000 Gewerkschaftsmitgliedern trat nur ein Siebtel der Arbeitsfront bei.189 Dazu kommt, dass die Sozialistische Arbeitsgemeinschaft, die im Sommer 1940 unter der Bezeichnung Nederlandsche Socialistische Werkgemeenschap (NSWG) als Auffangbecken für alle niederländischen Arbeiter und Sozialdemokraten von dem kollaborationsbereiten Sozialdemokraten Tjerk van der Zee gegründet worden war, nicht in der Lage war, sich zu einer Konkurrenz für die SDAP zu entwickeln, denn bis auf wenige Ausnahmen weigerten sich die niederländischen Sozialdemokraten, mit dem fanatischen Nationalsozialisten Rost van Tonningen zusammenzuarbeiten.190 Da die NSWG nicht mehr als 2.500 Mitglieder gewinnen konnte, löste sich diese Organisation nach nur knapp einem Jahr im Oktober 1941 auf.191 Um das offensichtliche ‚Ausbluten‘ der niederländischen Gewerkschaften aufzuhalten, hatte nämlich Generalsekretär Verwey Mitte März 1942 Vertreter von CNV und RKWV zu Gesprächen über die Bildung einer Einheitsgewerkschaft unter ausdrücklicher Beteiligung der konfessionellen Gewerkschaften eingeladen.192 Doch die Pläne des Generalsekretärs für Soziale Angelegenheiten scheiterten nach kurzer Zeit ebenso wie die Planungen des früheren RKWV-Vorsitzenden Adrianus Cornelis de Bruijn, mit einem ‚Bund der Arbeit‘ ein paritätisch besetztes Gremium von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu begründen. Für das Scheitern derartiger Planungen lassen sich im wesentlichen zwei Gründe anführen: Erstens befürchtete man auf konfessioneller Seite mit guten Gründen, dass eine Einheitsgewerkschaft unvermeidlicherweise eine nationalsozialistische Signatur tragen werde; diese Sorge wurde auch von Vertretern anderer Gewerkschaften wie Evert Kupers geteilt, der bis zu seiner Absetzung 1940 Vorsitzender des Nederlandsch Verbond van Vakverenigingen gewesen war. Zweitens zeigte Generalkommissar Schmidt bei einem Gespräch, das er am 20. März 1942 mit Verwey, De Bruijn und Kupers führte, keinerlei Bereitschaft, den konfessionellen Gewerkschaften Spielraum zuzugestehen. Im Gegenteil, der Generalkommissar ließ keinen Zweifel an der Notwendigkeit einer niederländischen Arbeitsfront nach dem Vorbild von Leys Deutscher Arbeitsfront, wie sie bald darauf tatsächlich ins Leben gerufen wurde. Mit der Gründung der 189 Zahlen nach Langeveld, Niederlande, 103 f. 190 Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 127 und Barnouw, Rost van Tonningen, 59 ff. 191 Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 67 f. 192 Siehe hierzu Werkman, „Laat uw doel hervorming zijn!“, 105 ff., Kuys, De vrees, 580 ff. und Langeveld, Niederlande, 125 f.

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NAF durchkreuzte die Besatzungsverwaltung jedenfalls niederländische Pläne zur Bildung einer Einheitsgewerkschaft unter Einbindung der konfessionellen Einzelgewerkschaften – sah man hierin doch ein Hindernis für die Politik von Gleichschaltung und Nazifizierung. 6.3.5 Einbindung und Gleichschaltung der niederländischen Wirtschaft

Nicht nur die Arbeitnehmervertretungen, auch die niederländischen Unternehmen und ihre Interessenvertretungen wurden mit der deutschen Politik von Gleichschaltung und Nazifizierung konfrontiert.193 Eine Kontrolle von Unternehmen und Branchen wurde schon dadurch ermöglicht, dass die zahlreichen Abteilungen des Generalkommissariats für Finanz und Wirtschaft sowie die diversen Reichsstellen, die in Deutschland für verschiedene Zweige des Wirtschaftslebens zuständig waren und in Den Haag durch Referenten bzw. Bevollmächtigte vertreten waren, eine Art von Aufsicht über ihre niederländischen Pendants führten, die für Wirtschaftsfragen zuständigen Generalsekretariate sowie die sogenannten Rijksbureaus. Ein Schritt in Richtung Gleichschaltung wurde darüber hinausgehend durch eine Verordnung gesetzt, mit der Generalsekretär Hirschfeld im Herbst 1940 die Etablierung einer „Selbstverwaltungsorganisation zur Förderung der gewerblichen Wirtschaft“ einleitete;194 sie wird nach ihrem Vorsitzenden, dem Rotterdamer Bankier Herman Louis Woltersom, als ‚Organisation Woltersom‘ oder ‚Kommission Woltersom‘ bezeichnet. Diese Organisation sollte bald das ‚Nationale Komitee für wirtschaftliche Zusammenarbeit‘ verdrängen, das der niederländische Großindustrielle Frederik Hendrik Fentener van Vlissingen bald nach dem Fünf-Tage-Krieg mit dem Ziel ins Leben gerufen hatte, die Interessen der niederländischen Unternehmen unter den Bedingungen der deutschen Herrschaft zu vertreten.195 Auch mit der Einrichtung der Organisation Woltersom mag Hirschfeld die Hoffnung verbunden haben, den einheimischen Unternehmerverbänden so viel Eigenständigkeit von politischen Vorgaben wie möglich zu sichern – allerdings unter der Aufsicht seines Generalsekretariats für Handel, Industrie und Schifffahrt. Die Besatzungsverwaltung hingegen verfolgte die Absicht, die niederländische Wirtschaft in Analogie zur deutschen Reichswirtschaftskammer zu ordnen und sie letztlich in die Strukturen einer vom Großdeutschen Reich dominierten kontinentaleuropäischen Wirtschaftsordnung einzupassen.196 In diesem Sinn wurde die Organisation Woltersom bis Ende 1941 mit sechs Hauptgruppen aufgebaut, in denen die unterschiedlichen Wirtschaftszweige untergebracht wurden. Wie die Reichsgruppen, die 1934 in Deutschland ein193 Zum Folgenden vgl. auch Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 141–154. 194 VO 206/1940 vom 31. Oktober 1940, § 1, in: VOBl. NL 1940, 594. Diese Verordnung wurde – ebenfalls von Hirschfeld – am 8. Mai 1941 ergänzt durch VO 89/1941 (VOBl. NL 1941, 348 f.). Siehe hierzu auch Klemann, Nederland 1938–1948, 519 f. 195 Vor dem Westfeldzug war der Stahlindustrielle Fentener van Vlissingen mehrere Jahre hindurch Vorsitzender der Deutsch-Niederländischen Handelskammer gewesen, zwischen 1937 und 1942 gehörte er der Deutsch-Niederländischen Gesellschaft an. Nach der Kapitulation der niederländischen Armee hatte er zwar Bereitschaft zu einem „wirtschaftlichen Anschluß“ an Deutschland erklärt, zugleich aber um die Aufrechterhaltung von „Selbständigkeit innerhalb unseres Hauses“ gebeten. Zit. nach: Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 143. Siehe auch De Vries, Fentener van Vlissingen. 196 Langeveld, Niederlande, 107.

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gerichtet worden waren,197 waren auch für sie Führerprinzip und Pflichtmitgliedschaft kennzeichnend. Im April 1942 wurde dann – wiederum unter Woltersoms Vorsitz – ein 14-köpfiger Wirtschaftsrat ins Leben gerufen, der als Dachorganisation aller Branchen mit Ausnahme der Landwirtschaft die deutschen, aber auch die niederländischen Behörden beraten und die Industrie- und Handelskammern kontrollieren sollte. Durch diesen Raad voor het Bedrijfsleven, die Organisation Woltersom und die Arbeidsfront waren die Interessenvertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern seit dem Frühjahr 1942 dem NS-System formell gleichgeschaltet. NSB-Mitglieder kamen in der Organisation Woltersom und dem Wirtschaftsrat allerdings nur bedingt zum Zug, und ganze Abteilungen von Unternehmerverbänden, die bereits vor dem Einmarsch der Wehrmacht existiert hatten, konnten faktisch ihre Aktivitäten unter dem Dach dieser Organisation fortführen. Hier blieb die Gleichschaltung der niederländischen Wirtschaftsverbände im Endeffekt genauso auf halber Strecke stehen wie die der Gewerkschaften. Dadurch wiederum konnte sich der vom Regime erwünschte Effekt der Selbstnazifizierung auch im Bereich der Unternehmensverbände kaum einstellen.198 Umso wichtiger war es für die Besatzungsmacht, die Kontrolle über die niederländische Notenbank zu sichern. In der Person von Helmuth Wohlthat wurde der Nederlandsche Bank von Anfang an ein Beauftragter beigestellt, und wie noch gezeigt wird,199 wurde der Griff auf die Bank dadurch erhöht, dass 1941 deren bisheriger Präsident, Leonardus Jacobus Anthonius Trip, durch Rost van Tonningen ersetzt wurde. Zwei Jahre später dann unterstellte sich Seyß-Inquart die ‚Niederländische Bank‘ persönlich. Er behielt sich in der entsprechenden Verordnung200 das Recht vor, dem Präsidenten und den übrigen Mitgliedern des Direktoriums Weisungen zu erteilen und „jederzeit“ das Präsidium abzuberufen (§§ 3 und 4). Der Wirkungsbereich der Hauptversammlung wurde auf die Entgegennahme von Jahresabschluss und Geschäftsbericht beschränkt, eine Entlastung von Präsident und Direktorium wurde ihr in Seyß-Inquarts Verordnung nicht zugestanden (§ 9). Mit diesem Muster brachte der Reichskommissar genuin nationalsozialistische Organisationsprinzipien zur Geltung. Sie ermöglichten ihm, an die Stelle der Unabhängigkeit der Notenbank des besetzten Landes eine politische Instrumentalisierung treten zu lassen, die der Besatzungsmacht die Umsetzung ihrer Finanzund Wirtschaftspolitik erleichtern konnte.201 6.3.6 Die Gleichschaltung der Medien

Ebenso wenig wie politische Parteien und die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Organisationen blieben Rundfunk, Presse und Kino von Gleichschaltung verschont. Auf seiner Rede 197 Siehe die Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Vorbereitung des organischen Aufbaues der deutschen Wirtschaft vom 27. November 1934, in: RGBl. 1934/I, 1194–1199. 198 Kreutzmüller, Händler, 116 f. Ähnlich Langeveld, Niederlande, 108 f., Blom, Nederland onder Duitse bezetting, 502 und Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 152 f. 199 Siehe unten, S. 423 f. 200 VO 58/1943 vom 26. Juni 1943, in: VOBl. NL 1943, 220–229, hier § 1. 201 Zu Seyß-Inquarts Wirtschaftspolitik siehe unten, Kap. 11.

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vor den NSDAP-Mitgliedern in den Niederlanden versprach Seyß-Inquart am 26. Juli 1940 zwar, dass das Reichskommissariat politische Meinungsäußerungen nicht unterdrücken werde, deutete zugleich aber an, dass diese Zusage nicht voraussetzungslos war: „Wenn nicht schwere Verstöße gegen die unbedingt zu berücksichtigenden Interessen der Besatzungsmacht vorkommen, können nach wie vor alle Zeitungen erscheinen und sind auch in ihrem Inhalt nur im eigensten Interesse und im Interesse des niederländischen Volkes soweit beschränkt, als es im Hinblick auf die Notwendigkeiten der Besatzungsmacht erforderlich erscheint.“202 Mit dem Rekurs auf „die Notwendigkeiten der Besatzungsmacht“ ließ sich die scheinbare Tolerierung einer pluralistischen Medienlandschaft in der Praxis unterlaufen, und genau dies hat das Reichskommissariat fast fünf Jahre lang getan. Dabei haben Seyß-Inquart und Schmidt als der zuständige Generalkommissar nicht nur die politischen und juristischen Rahmenbedingungen vorgegeben. Sie haben auch niederländische Persönlichkeiten und Instanzen, namentlich das von der Besatzungsverwaltung ins Leben gerufene Generalsekretariat für Volksaufklärung und Künste, angeregt bzw. angehalten, sich aktiv an der Nazifizierung des Pressewesens zu beteiligen. Eine erste Maßnahme zur Steuerung des Rundfunkwesens in den Niederlanden stellte der Erlass der Verordnung zum Schutze der niederländischen Bevölkerung vor unwahren Nachrichten vom 4. Juli 1940 dar.203 Wie manch anderes Gesetz, das das NS-Regime seit der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 „zum Schutz von Volk und Staat“204 in Kraft gesetzt hatte, brachte diese Verordnung im Titel einen zynischen Paternalismus zum Ausdruck, hinter dem sich kaum verhohlen die Bereitschaft der Besatzungsmacht zu einer repressiven Politik verbarg. Mit der genannten Verordnung wurde das Hören all jener Sendungen verboten, die von Medien ausgestrahlt wurden, die nicht deutscher Kontrolle unterlagen. Damit wollte man die Verbreitung dessen unterbinden, was in nationalsozialistischer Diktion ‚Feindpropaganda‘ war – vor allem Radio Oranje und die BBC. Die saftigen Strafen, die bei Zuwiderhandlung drohten, konnten von Gefängnis bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe bis zu der sagenhaften Höhe von 100.000 Gulden reichen. Sie konnten auch bei der Weitergabe von Informationen verhängt werden, die von alliierten oder neutralen Medien stammten. Nach der Niederschlagung des Februarstreiks wurde das Strafmaß noch erhöht: Nach der Verordnung des Reichskommissars über den Ordnungsschutz konnte die Verbreitung von „unwahren Nachrichten“ mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren und Geldstrafe in unbeschränkter Höhe geahndet werden.205 202 Seyß-Inquart, Versammlung der AO der NSDAP, 23. 203 VO 35/1940, in: VOBl. NL 1940, 135 f., am 25. Juli 1941 ersetzt durch VO 138/1941, Abschn. IV (VOBl. NL 1941, 567 f.), die am 5. Januar 1943 ihrerseits durch §§ 10 bis 14 in VO 1/1943 ersetzt wurde (VOBl. NL 1943, 7–9). Zur Gleichschaltung des niederländischen Rundfunkwesens siehe auch Crone, Hilversum unter dem Hakenkreuz und Hoffmann, NS-Propaganda, 230–241. 204 RGBl. 1933/I, 83. 205 VO 138/1941 vom 25. Juli 1941, § 15, in: VOBl. NL 1941, 567. Ähnlich lautete das Strafmaß in der Ordnungsschutzverordnung 1943 (VO 1/1943 vom 5. Januar 1943, § 11, in: VOBl. NL 1943, 8). Die Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen, die der Ministerrat für die Reichsverteidigung am 1. Mai 1939 in Kraft gesetzt hatte, hatte für „besonders schwere Fälle“ die Todesstrafe vorgesehen (RGBl. 1939/I, 1683).

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Parallel dazu übte das Reichskommissariat mehr oder weniger subtilen Druck auf die niederländischen Rundfunksender aus, die im Unterschied zur Situation in Deutschland nicht staatlich organisiert, sondern traditionell den ‚Säulen‘ verpflichtet waren. Von beiden Seiten aus kam es von Anfang an zu einer deutsch-niederländischen Zusammenarbeit.206 Sie schlug sich nicht nur darin nieder, dass deutschkritische oder -feindliche Beiträge keinen Platz mehr in der Programmgestaltung hatten und regimefreundliche Berichte zunahmen. Sie manifestierte sich auch darin, dass einzelne niederländische Anstalten jüdische oder englische Mitarbeiter entließen. Angesichts des Entgegenkommens, das die Rundfunkorganisationen an den Tag legten, verzichtete man deutscherseits in der zuständigen Hauptabteilung Volksaufklärung und Propaganda und in der sogenannten Rundfunkbetreuungsstelle in der ersten Besatzungsphase auf sichtbare Zwangsmaßnahmen. Man wollte den Eindruck eines ‚Besatzungsrundfunks‘ vermeiden und suggerieren, dass die einheimischen Rundfunkgesellschaften in relativer Autonomie weiterarbeiten würden, obwohl ihnen unter der Hand sukzessive Eigenständigkeit entzogen wurde. Diese Zielsetzung entsprach einmal mehr der Hoffnung auf eine Selbstnazifizierung der niederländischen Gesellschaft. Den Februarstreik nahm der Reichskommissar jedoch zum Anlass, das ‚versäulte‘ Rundfunkwesen zu beseitigen und schon länger erwogene Pläne durchzusetzen, einen staatlichen Rundfunk zu schaffen, der eine Monopolposition haben sollte. Am 12. März 1941 dekretierte er die Errichtung eines Staatsrundfunks mit Sitz in Amsterdam und die gleichzeitige Auflösung der vier bisher bestehenden Rundfunkgesellschaften.207 Nur dem Nederlandsche Omroep, dem durch Seyß-Inquarts Verordnung das Vermögen der aufgelösten privaten Radiogesellschaften zugesprochen wurde, war in Zukunft „die Gestaltung und Ausführung des Programms des niederländischen Rundfunks und Drahtfunks“ erlaubt. Durch dessen dienstrechtliche Unterstellung unter das Generalsekretariat für Volksaufklärung und Künste sollte sichergestellt werden, dass die Gleichschaltung des niederländischen Rundfunkwesens mit nationalsozialistischer Indoktrination verbunden wurde. Unter seinem Generaldirektor, dem NSB-Mitglied Dr. Willem Arie Herweyer, wurden die jüdischen Mitglieder des Staatsrundfunks ausgeschlossen, die Belegschaft wurde entsprechend dem nationalsozialistischen Führerprinzip in eine ‚Gefolgschaft‘ umgewandelt.208 Schon im Dezember 1940 hatte Seyß-Inquart die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass alle Sendeanlagen, die seit 1935 von der ‚Niederländischen Radiosender-Gesellschaft‘ betrieben worden waren, dem Staatsbetrieb des Post-, Telegraph- und Fernsprechwesens PTT unterstellt und damit verstaatlicht wurden. Zugleich wurde ein verpflichtender Hörerbeitrag eingeführt, der nicht den ‚versäulten‘ Rundfunkgesellschaften, sondern ebenfalls dem Staats206 Siehe hierzu Crone, Hilversum unter dem Hakenkreuz, Kap. 4. 207 VO 49/1941, in: VOBl. NL 1941, 170–172. Betroffen von dieser Maßnahme waren die unabhängige bzw. liberale ‚Allgemeine Rundfunk-Vereinigung‘, der ‚Katholische Rundfunk‘, die protestantische ‚Niederländisch-Christliche Radiovereinigung‘ sowie die an sozialdemokratischen Werten orientierte ‚Vereinigung von Arbeiterradioamateuren‘. Zu dieser Verordnung und ihren Folgen siehe auch Crone, Hilversum unter dem Hakenkreuz, Kap. 5. 208 Hoffmann, NS-Propaganda, 235.

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bedrijf der Posterijen, Telegrafie en Telefonie zugutekam.209 Zur Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda während der deutschen Besatzung trug schließlich auch bei, dass über die niederländischen Sendeanlagen nicht nur Herweyers ‚Niederländischer Rundfunk‘, sondern auch der vom Reichspropagandaministerium betriebene Großdeutsche Rundfunk Sendungen ausstrahlte.210 Konterkariert wurde die propagandistische Rundfunkpolitik nach der Niederschlagung des April-Mai-Streiks von 1943 allerdings durch Rauters Anordnung, alle Rundfunkgeräte zu konfiszieren.211 Dadurch standen in der Folge nur noch 470.000 von 1,4 Millionen Geräten zum Empfang von Sendungen zur Verfügung, dem niederländischen Staatsrundfunk entgingen zugleich Rundfunkgebühren in beträchtlicher Höhe.212 Für Printmedien setzte Seyß-Inquart am 17. August 1940 mit seiner Verordnung über die Marktregelung von Druckerzeugnissen den Ton. Hierin behielt sich der Reichskommissar die Genehmigung von „Planungen auf allen Gebieten des Pressewesens“ vor; wer sich dieser staatlichen Kontrolle entziehen wollte, musste mit einer Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe bis zu 2.000 Gulden rechnen.213 Neben die politische Steuerung des Pressewesens, die sich Seyß-Inquart mit dieser Verordnung sicherte, traten zahlreiche administrative Maßnahmen und institutionelle Neuerungen, mit denen die deutsche Zivilverwaltung danach strebte, in Zusammenarbeit mit kollaborationsbereiten Niederländern die Printmedien des besetzten Landes gleichzuschalten und einer Nazifizierung zu unterwerfen. So wurde die Nachrichtenagentur ‚Allgemeines Niederländisches Pressebüro‘ mit der Einsetzung von P. J. van Megchelen als neuem Vorsitzenden der Gleichschaltung, Nazifizierung und Arisierung unterzogen.214 Für das Ziel, die Verbreitung von Nachrichten im Sinne des NS-Regimes kontrollieren und leiten zu können, eiferte auch der ‚Informationsrat für die niederländische Presse‘, der sich unter dem „Protektorat des Reichskommissars“215 als Zu209 VO 232/1940 vom 19. Dezember 1940, in: VOBl. NL 1940, 703–705. Schon diese Maßnahmen bedeuteten faktisch „das Todesurteil für die bisherigen Rundfunkorganisationen“ (Crone, Hilversum unter dem Hakenkreuz, 155). PTT war 1928 aus der Administratie der Posterijen en Telegrafieën hervorgegangen. Mit Seyß-Inquarts Verordnung 67/1941 vom 31. März 1941 erhielt die niederländische Staatspost ihr definitives Statut (VOBl. NL 1941, 274–278), mit VO 25/1943 vom 11. März 1943 unterstrich der Reichskommissar, dass die Staatspost ein Monopol im Nachrichtenverkehr mit dem Ausland hatte (VOBl. NL 1943, 118–122). 210 Siehe Hoffmann, NS-Propaganda, 236 f. 211 Siehe oben, S. 97. 212 Vgl. Moll, Die deutsche Propaganda, 232 und Hoffmann, NS-Propaganda, 240 f. 213 VO 102/1940 vom 17. August 1940, §§ 1 und 3, in: VOBl. NL 1940, 325 f. Siehe auch VO 103/1940 des Generalsekretärs für Justiz Jan Coenraad Tenkink vom selben Tag, in: ebd., 327 f. Durch VO 188/1941 der Generalsekretäre Schrieke und Goedewaagen vom 24. September 1941 wurde die Zuständigkeit vom Generalsekretariat für Justiz auf Goedewaagens Generalsekretariat für Volksaufklärung und Künste übertragen (VOBl. NL 1941, 802). Vgl. zu diesen Maßnahmen auch Hoffmann, NS-Propaganda, 223. 214 Seyß-Inquarts Pressereferent Willi Janke sprach in diesem Zusammenhang von „einer weitgehenden personellen und reorganisatorischen Umstellung, in deren Zuge der jüdische Einfluß beseitigt wurde […].“ (Regungen des neuen Geistes, 50). Siehe auch Hoffmann, NS-Propaganda, 74. 215 So die Formulierung auf einer Dienstbesprechung beim Generalkommissar z. b. V. vom 21. August 1940, zit. nach: Hoffmann, NS-Propaganda, 134.

6.3 Gleichschaltung von Parteien, Medien und gesellschaftlichen Organisationen

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sammenschluss von faschistisch und prodeutsch eingestellten niederländischen Journalisten Anfang Juni 1940 konstituierte und sich unter dem Journalisten und späteren Generalsekretär für Volksaufklärung und Künste, Prof. Dr. Tobie Goedewaagen, für eine Kooperation mit den Besatzungsbehörden auf propagandistischem Gebiet andiente. Der Raad van Voorlichting voor de Nederlandsche Pers hatte das Ziel, „die bis dahin bestehenden Verleger- und Journalistenorganisationen in den Niederlanden so rasch wie möglich zu liquidieren bzw. im Sinne einer künftigen Pressekammer umzufunktionieren.“216 Damit waren vor allem die Vereinigungen der Zeitungsverleger (Nederlandsche Dagbladpers) und der Journalisten (Nederlandsche Journalistenkring) gemeint, die als unabhängige Verbände in den ersten Wochen der Besetzung des Landes in Konkurrenz zu Goedewaagens ‚Informationsrat‘ standen. Das Reichskommissariat verhielt sich in dieser Rivalität nach außen hin zunächst neutral. Doch im September 1940 sprach sich Generalkommissar Schmidt für den ‚Informationsrat‘ aus. Damit wiederum wurden die unabhängigen Medienverbände zur Selbstauflösung gezwungen, ihre Mitglieder mussten sich dem von der NSB dominierten ‚Niederländischen Journalistenverband‘ anschließen.217 Auch sorgte Schmidt im Zusammenwirken mit dem Generalsekretariat für Volksaufklärung und Künste dafür, dass unter Verweis auf die Notwendigkeit der Papierrationierung bis zum Herbst 1941 zahlreiche Printmedien gezwungen wurden, ihr Erscheinen einzustellen. Dies betraf gut die Hälfte der damals existierenden 111 Tageszeitungen, von den 4.000 Zeitschriften durften 2.800 nicht mehr erscheinen. Prozentual noch härter traf es die Kirchenblätter, deren Anzahl von 2.000 auf 200 reduziert wurde, und die 599 Nachrichtenund Annoncenblätter; von ihnen wurden 470 ausgeschaltet. Mit dieser gezielten Kampagne wurden zunächst jene Blätter stillgelegt, die es aus Sicht des Reichskommissariats an Loyalität gegenüber der deutschen Besatzungsmacht hatten fehlen lassen. Von der Einstellung von Printmedien waren 191 Verlagsbetriebe betroffen, 4.062 Personen wurden entlassen. Die Ausschaltung der unliebsamen Konkurrenz, die die ‚versäulte‘ Presselandschaft für die niederländischen Faschisten bedeutet hatte, kam deren Presse und Verlagswesen zugute, insbesondere der Nederlandsche Nationaal-Socialistische Uitgeverij (Nenasu) mit der Wochenzeitung Volk en Vaderland und der Tageszeitung Het Nationale Dagblad. Auch die Propagandaorgane der ‚Wehrabteilung‘ der NSB (De Zwarte Soldaat), der Niederländischen SS (Storm) oder völkischer Organisationen (Hamer und Volksche Wacht), auf die die SS im Laufe der Besatzungszeit Einfluss nehmen konnte, erfuhren Förderung durch das Reichskommissariat. Und nicht zuletzt die Deutsche Zeitung in den Niederlanden, die Seyß-Inquart in der ersten Nummer „als ein Organ der im besetzten Gebiet ansässigen Deutschen und als ein[en] Verbindungsträger der deutschen Verwaltung zur gesamten Bevölkerung“ bezeichnete,218 profitierte von der Beseitigung medialer Konkurrenz: Sie vermochte die Auflagenzahl von 30.000 Exemplaren im Juli 1940 auf 54.500 Exemplare im Mai 1942 zu erhöhen.219 Im weiteren Verlauf des Krieges 216 Ebd., 135. 217 Vgl. ebd., 135–139. 218 Seyß-Inquart in seinem Grußwort an die DZN vom 5. Juni 1940. 219 Hoffmann, NS-Propaganda, 89; insgesamt zur DZN ebd., 78–93.

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musste die übrig gebliebene niederländische Presse weitere Einschränkungen wie eine Begrenzung auf einen Maximalumfang von vier Seiten pro Ausgabe oder die Einstellung von Sonntagsausgaben hinnehmen. Von derartigen Bestimmungen war lediglich die NSB-Zeitung Het Nationale Dagblad ausgenommen. Zu dem schrumpfenden Papiervorrat, der schon 1942 gegenüber dem Vorjahr einen Rückgang um 12.000 auf nur noch 5.000 Tonnen ausmachte, traten für die Herstellung von Medien zunehmend Probleme mit der Elektrizitätsversorgung und personelle Engpässe, die in erster Linie durch den Arbeitseinsatz bedingt waren. Auch nahm die Papierqualität mit fortschreitender Dauer des Krieges fühlbar ab.220 Um das niederländische Pressewesen auf die Propagierung nationalsozialistischer Themen oder Parolen auszurichten, hielt das Reichskommissariat täglich Pressekonferenzen ab; darin folgte man in Den Haag dem Vorbild, das Goebbels seit 1933 im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gegeben hatte.221 Bei diesen Pressekonferenzen wurden die niederländischen Journalisten mit Instruktionen für die Berichterstattung in ihren Medien versehen. Analoges galt für die Provinz- bzw. Regionalpressekonferenzen, die von Zeit zu Zeit in anderen niederländischen Städten stattfanden. Dazu kamen wöchentliche Pressebesprechungen, die die jeweiligen Referenten für Presse- und Propagandaangelegenheiten bei den Beauftragten des Reichskommissars für die Provinzen und größeren Städte des Landes mit Vertretern der Lokalpresse durchführten. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Besatzungspolitik war auf all diesen Pressekonferenzen selbstverständlich ausgeschlossen, die Zusammenkünfte hatten einen hochgradig manipulativen Charakter. Denn sie verschafften dem Reichskommissariat – wie Janke offenherzig bekannte – „die Möglichkeit zu einer ständigen Lenkung der gesamten Tages- und politischen Zeitschriften-Presse.“222 Tatsächlich liefen die Pressekonferenzen darauf hinaus, den Vertretern der niederländischen Medien die Vorgaben des Reichspropagandaministeriums und des Reichskommissariats zu vermitteln und dafür zu sorgen, dass die höchst einseitige Berichterstattung in Form und Inhalt landesweit weitgehend identisch war. Vorbereitet wurden die Pressekonferenzen auf geheimen Dienstbesprechungen, auf denen – nach dem Vorbild der sogenannten ‚Ministerkonferenzen‘ im Reichspropagandaministerium – die Generalkommissare Schmidt und Rauter sowie gelegentlich auch Seyß-Inquart die Vorgaben für die niederländische Presse unter vorwiegend propagandistischen und sicherheitspolitischen Gesichtspunkten koordinierten.223 Zur propagandistischen Beeinflussung bzw. Lenkung gehörte auch, dass die Presseabteilung des Reichskommissariats vorlagepflichtige Artikel überprüfte, gezielt Artikel anregte oder selbstverfasste Artikel lancierte, die auf den Pressekonferenzen unverhohlen zur Übernahme durch die niederländischen Zeitungen nahegelegt wurden. 220 Ebd., 228–230. 221 Vgl. Thacker, Joseph Goebbels, 213 f. Das Auswärtige Amt, das über Willi Janke anfangs in die Lenkung der niederländischen Presse eingebunden war, wurde demgegenüber 1941/42 vom Reichspropagandaministerium verdrängt. Siehe Longerich, Propagandisten im Krieg, 215–221. 222 Janke, Regungen des neuen Geistes, 51. Zu den Pressekonferenzen vgl. Hoffmann, NS-Propaganda, 114 ff. und 216–220. 223 Hoffmann, NS-Propaganda, 211–216.

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Als „einschneidendste legislative Maßnahme im Pressebereich“ bezeichnet Gabriele Hoffmann zu Recht die Schriftleiterverordnung vom 2. Mai 1941.224 Mit ihr zwang Goedewaagen die niederländischen Journalisten nach dem Vorbild des deutschen Schriftleitergesetzes vom 4. Oktober 1933,225 dem ‚Niederländischen Journalistenverband‘ beizutreten, um weiterhin beruflich tätig sein zu dürfen. Außerdem unterwarf der Generalsekretär für Volksaufklärung und Künste die Medienvertreter über den Journalistenverband seiner Kontrolle und disziplinarrechtlichen Aufsicht, während gleichzeitig der Einfluss der Zeitungsverleger drastisch reduziert wurde.226 Und schließlich erteilte sich Goedewaagen die Vollmacht, Periodika „auf bestimmte oder unbestimmte Zeit zu verbieten oder auch die bereits ausgegebenen Stücke beschlagnahmen und einziehen“ zu können, „wenn ihr Inhalt geeignet ist, die Interessen oder den Gemeinschaftswillen des niederländischen Volkes, seine Kultur oder Wirtschaft zu schwächen oder die religiösen Empfindungen anderer zu verletzen“; eine Berufungsmöglichkeit war in der Schriftleiterverordnung nicht vorgesehen.227 Später konnte der Niederländische Journalistenverband mit all seinen Mitgliedern mühelos in die Pressegilde überführt werden, die wiederum eine von sechs Fachgruppen der im November 1942 gegründeten Kulturkammer war. Auch hier war eine Pflichtmitgliedschaft selbstverständlich.228 Schließlich wurde auch das Kino unter dem Druck des Reichskommissariats nazifiziert und den Erwartungen des Reichspropagandaministeriums angepasst.229 Zu den Maßnahmen, die von den zuständigen niederländischen Generalsekretären dekretiert wurden, gehörte eine Verordnung des Innen- und des Justizministeriums, die die Aufführung von Filmen, die nicht nationalsozialistischen Vorstellungen entsprachen, verbot und gleichzeitig die Kinos verpflichtete, ausschließlich Filme vorzuführen, die im Großdeutschen Reich einschließlich des Protektorats Böhmen und Mähren produziert wurden oder dort zur Aufführung freigegeben waren.230 Außerdem wurden die Filmschaffenden zwangsweise im oben erwähnten Niederländischen Lichtspielbund und später in der Filmgilde der Niederländischen Kulturkammer erfasst. NS-Propaganda wurde die Bevölkerung auch durch Polygoon Hollands Nieuws ausgesetzt; wie in der Deutschen Wochenschau ging es hier um Indoktrination und Manipulation statt um ausgewogene Information. In Ergänzung zu allen anderen Maßnahmen zur Beeinflussung der Medien durch das Reichskommissariat waren im Zusammenwirken mit dem niederländischen Propagandaministerium und nach Maßstäben, die den Erwartungen oder Vorgaben des Reichspropaganda224 Ebd., 224 mit Bezugnahme auf VO 83/1941 vom 2. Mai 1941. 225 RGBl. 1933/I, 713–717. Hoffmann weist darauf hin, dass für die niederländischen Journalisten der Nachweis der arischen Abstammung, der in die Schriftleiterverordnung von 1941 im Unterschied zum deutschen Schriftleitergesetz von 1933 nicht aufgenommen worden war, durch eine entsprechende Verfügung des Vorsitzenden des Niederländischen Journalistenverbands nachgeholt wurde (NS-Propaganda, 225 mit Anm. 75). 226 Vgl. VO 83/1941 vom 2. Mai 1941, §§ 26 und 27, in: VOBl. NL 1941, 330. 227 Ebd., 333 (§ 37). 228 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/2, 760 f. 229 Vgl. Schiweck, „(…) weil wir lieber im Kino sitzen“ und Hoffmann, NS-Propaganda, 241–246. 230 VO 57/1940 vom 26. Juni 1940, in: VOBl. NL 1940, 196 f.

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Kapitel 6: Politische Ziele der ‚Aufsichtsverwaltung‘

ministeriums entsprachen, die Grundlagen für eine Nazifizierung und Gleichschaltung der niederländischen Presse und des Lichtspielwesens gelegt. Die Besatzungsverwaltung schuf sich bereits in den ersten Monaten nach dem Fünf-Tage-Krieg eine ganze Reihe von Instrumenten, die ihr eine effektive Steuerung der Pressepolitik erlaubten. Unabhängige Medien oder ‚Feindsender‘ wurden unterdrückt, ausgeschaltet bzw. in den Untergrund gedrängt, während staatliche oder kollaborationsbereite Medien mit Unterstützung des Reichskommissariats ein Meinungs- und Informationsmonopol erhielten. Auf dieser Grundlage wurde im Laufe der fünf Besatzungsjahre der großangelegte Versuch unternommen, die einheimische Bevölkerung mit nationalsozialistischer Propaganda zu indoktrinieren. Ähnlich wie in den anderen ‚germanischen‘ Ländern, die vom Großdeutschen Reich besetzt waren, wurde in der gleichgeschalteten Presse der Niederlande die angebliche kulturelle und ethnische Verbundenheit mit dem Deutschen Reich und dem deutschen Volk betont, die Arbeit des Reichskommissariats wurde pausenlos mit Lob bedacht; Raum für kritische Darstellungen war in den offiziell zugelassenen Medien nicht gegeben. Und wie im gesamten deutsch beherrschten Europa wurden auch in den Niederlanden „die Betonung der eigenen Unschuld am Kriegsausbruch, Attacken gegen die angloamerikanische Politik und ihre angeblichen Hintermänner aus Kreisen der sog. jüdischen Hochfinanz, das Schüren der Angst vor dem bolschewistischen Rußland, die Verheißung von Wohlstand für alle in Hitlers ‚Neuem Europa‘“ und ähnliche Themen behandelt, die die nationalsozialistische Herrschaft über Kontinentaleuropa als unausweichliche Tatsache sowie als historisch notwendige und ideologisch gerechtfertigte Zukunftsperspektive darstellten.231 Mit dem Versuch, über das gleichgeschaltete Pressewesen die niederländische Gesellschaft zum Nationalsozialismus zu führen, ist die Besatzungsmacht zwar restlos gescheitert. Gleichwohl gehörte die Gleichschaltung des gesamten Medienbereichs zu Seyß-Inquarts Streben nach einer gelenkten Selbstnazifizierung der ‚germanischen‘ Niederlande. Der Anspruch auf eine vollständige Kontrolle der öffentlichen Meinung durch das NS-Regime war ein wichtiger Teil deutscher Besatzungspolitik in den Niederlanden. 6.4 Grenzen der Gleichschaltung: Die Kirchen und der Ärzteprotest

Die Bestrebungen, alle politischen und gesellschaftlich relevanten Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens in den Niederlanden über eine Politik der Gleichschaltung zu kontrollieren und mittel- oder langfristig einer Nazifizierung zu unterziehen, stießen allerdings an Grenzen. Sie kamen beispielsweise in der reichhaltigen Untergrundpresse oder in den Sendungen von Radio Oranje zum Ausdruck, und die Tatsache, dass die gut organisierten ‚Säulen‘ auch nach der Gleichschaltung nichtfaschistischer Organisationen und Medien höchst aktiv blieben, führte schon den Zeitgenossen vor Augen, dass sich das Bestreben der Besatzungsmacht nach umfassender Gleichschaltung nicht mit der Realität deckte. Die Reichweite der deutschen Gleichschaltungspolitik systematisch auszuloten, würde eine Studie, die Seyß-Inquart in den Mittelpunkt stellt, überfordern. An zwei Fällen aber soll deutlich gemacht wer231 Moll, Die deutsche Propaganda, 239.

6.4 Grenzen der Gleichschaltung

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den, dass die Besatzungsverwaltung Gleichschaltung nicht schrankenlos durchsetzen konnte: am Verhältnis zu den Kirchen232 und am gut organisierten Widerstand, der der Besatzungsverwaltung von den niederländischen Ärzten und ihrer Interessenvertretung Medisch Contact entgegengesetzt wurde. Die verschiedenen protestantischen Kirchen wie auch die katholische Kirche, die traditionell in der ‚versäulten‘ Gesellschaft der Niederlande eine enorm wichtige Rolle spielten, hatten sich in den Dreißigerjahren mehrfach gegen den Faschismus ausgesprochen, und auch in den konfessionellen Vereinen, Verbänden und Parteien war eine Distanzierung vom Faschismus im eigenen Land und vom Nationalsozialismus in Deutschland selbstverständlich. Nachdem die niederländische Regierung im Dezember 1933 mit dem sogenannten Ambte­ narenverbod Beamten eine Mitgliedschaft in der ‚Nationalsozialistischen Bewegung‘ verboten hatte, untersagten die Bischöfe Anfang Februar 1934 in einem Hirtenbrief ihren Geistlichen und den Laien, die eine führende Position in katholischen Organisationen innehatten oder als Lehrer an kirchlichen Schulen unterrichteten, Mitglied der NSB zu werden oder zu bleiben. Im Mai 1936 verurteilten die Bischöfe, die mit kritischem Blick den Kirchenkampf im Dritten Reich beobachteten und mitunter vom NS-Regime verfolgte Katholiken aus Deutschland unterstützen, in einem weiteren Hirtenbrief die NSB, die just in diesem Jahr bei den Wahlen zu den Provinzialstaaten mit acht Prozent ihren elektoralen Höhepunkt erreichte, als schädlich und schlossen Niederländer, die Musserts Partei „in einem wesentlichen Umfang“ unterstützten, vom Empfang der Sakramente aus. Obwohl die vage Formulierung einen gewissen Spielraum ließ, war die Botschaft deutlich: Katholizismus und Nationalsozialismus waren aus Sicht des niederländischen Episkopats unvereinbar.233 Im Oktober desselben Jahres warnten auch die neokalvinistischen Gereformeerde Kerken ihre Gläubigen vor einer Mitgliedschaft in der NSB, Angehörigen der faschistischen Partei drohte der Ausschluss vom Abendmahl.234 Ihre allgemeine Synode konnte sich zwar nicht zu einer offiziellen Stellungnahme zur Judenverfolgung in Deutschland und ebenso wenig zu einer Solidaritätsbekundung gegenüber der Bekennenden Kirche durchringen. Aber eine private Initiative dieser protestantischen Glaubensrichtung sorgte dafür, dass mit dem Theologen Karl Barth einer der Gründungsväter der Bekennenden Kirche und Mitverfasser der Barmer Theologischen Erklärung die Gelegenheit erhielt, im Jahr 1935 Lehrveranstaltungen an der Universität Utrecht abzuhalten.235 Trotz derartiger Initiativen und der Ablehnung der NSB war unter niederländischen Protestanten bei der Beurteilung der kirchenpolitischen Entwicklungen im Dritten Reich im Allgemeinen eine

232 Eine umfassende Darstellung zum Verhältnis der verschiedenen Religionsgemeinschaften des Landes und der deutschen Besatzung fehlt bislang. 233 Zu den Hirtenbriefen von 1934 und 1936 siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 1, 348–359. 234 Vgl. Delleman (Hrsg.), Opdat wij niet vergeten, 57–62 mit Dok. I, 481–489. 235 Hennecke, Zur Barthrezeption in den Niederlanden, 145–147 und Bank, Protestantism in the Second World War, 243 ff. Auch danach hielt sich Barth bis zum Westfeldzug mehrmals in den Niederlanden auf. 1936 wurde ihm von der Theologischen Fakultät der Universität Utrecht die Ehrendoktorwürde verliehen. Zur ablehnenden Haltung der neokalvinistischen Gereformeerde Kerken siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, 362–365.

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Kapitel 6: Politische Ziele der ‚Aufsichtsverwaltung‘

Zurückhaltung verbreitet, die Ger van Roon als „Neutralismus“ bezeichnet.236 Eine solche Haltung war nicht zuletzt für die größte Religionsgemeinschaft des Landes kennzeichnend: Die Nederlandsch Hervormde Kerk unterließ es in den Dreißigerjahren, faschistische und nationalsozialistische Bewegungen offiziell zu verurteilen. Auch hier aber wurden der totalitäre Anspruch und die aggressive Kirchenpolitik des Dritten Reiches abgelehnt und mit Argusaugen verfolgt. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht traten die Kirchen dem neuen Regime in einer Mischung aus Anpassung und Opposition gegenüber.237 Es gab nur wenige Gläubige, die dem Regime aufgeschlossen gegenüberstanden oder gar Mitglied einer faschistischen Organisation waren. Und obwohl besonders in den ersten Monaten nach der Kapitulation der niederländischen Armee in manchen protestantischen Kreisen die Überzeugung verbreitet war, die deutsche Besatzung müsse aus theologischen Gründen hingenommen werden, waren Leute wie der Rotterdamer Pastor Gerrit Hendrik Kersten, der die Besetzung des Landes durch die Wehrmacht und die Einrichtung des Reichskommissariats als göttliche Strafe für eine angeblich sündhafte Lebensweise seiner Landsleute darstellte und Ungehorsam oder Widerstand zurückwies, in der Minderheit.238 Der „Neutralismus“ war zwar nicht schlagartig mit dem FünfTage-Krieg obsolet geworden, büßte aber im Laufe der ersten Monate der Besatzungszeit an Rückhalt und Relevanz ein.239 Mehr noch: Unzählige Niederländerinnen und Niederländer schlossen sich aus christlichem Glauben heraus dem Widerstand an, halfen Juden oder unterstützen Männer, die sich durch Untertauchen dem Arbeitsdienst zu entziehen versuchten. In diesem Zusammenhang ist besonders auf die größte Widerstandsorganisation hinzuweisen, die Landelijke Organisatie voor Hulp aan Onderduikers [Nationale Hilfsorganisation für Untergetauchte]. An ihrer Gründung in der zweiten Hälfte des Jahres 1942 war neben Helena Kuipers-Rietberg der neokalvinistische Pastor Frederik (Frits) Slomp maßgeblich beteiligt.240 Unter den führenden Persönlichkeiten der Kirchen blieb jedenfalls die prinzipielle Ablehnung von Faschismus maßgeblich. Die Besetzung des Landes durch das kirchenfeindliche NS-Deutschland stärkte sogar die Tendenz zur Abgrenzung gegenüber Faschismus und Nationalsozialismus. So unterstrichen die katholischen Bischöfe am 13. Januar 1941 noch einmal, dass Mitgliedern der Nationaal-Socialistische Beweging die Sakramente verweigert würden; dies galt nicht nur für Funktionäre, sondern auch für die einfachen Parteimitglieder. Später wurde diese Bestimmung auch auf die Nebenorganisationen der NSB wie die ‚Wehrabteilung‘ oder Angehörige und Förderer der Niederländischen SS ausgeweitet.241 Zugleich 236 Van Roon, Zwischen Neutralismus und Solidarität. 237 Bank, Protestantism in the Second World War, 224. 238 Ebd., 253 f. und Van Roon, Zwischen Neutralismus und Solidarität, 197–199. 239 Van Roon, Zwischen Neutralismus und Solidarität, Kap. 9. Um eine differenzierte Wertung der Stellungnahmen der niederländischen Kirchen gegen die Judenverfolgung bemüht sich Pastor Johan M. Snoek in seinem nichtwissenschaftlichen Buch De Nederlandse kerken en de Joden. 240 Bank, Protestantism in the Second World War, 257 ff. Die Organisation zog allerdings bald auch andere Niederländerinnen und Niederländer an. 241 Vgl. Stokman (Hrsg.), Het verzet van de Nederlandsche bisschoppen, 27 ff. Auch deutschen Staatsangehörigen, die sich im nationalsozialistischen Sinne betätigten oder äußerten, verweigerten die niederländischen

6.4 Grenzen der Gleichschaltung

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kam es verstärkt zu Kontakten unter den Kirchenführungen der verschiedenen Konfessionen. Zunächst schlossen sich Ende Juni 1940 evangelische Kirchengemeinschaften zum Convent van Kerken zusammen.242 Aus ihm gingen schon früh Proteste gegen die Diskriminierung der Juden hervor, die nach Meinung des protestantischen Kirchenkonvents „im Widerspruch mit der christlichen Barmherzigkeit“ stand.243 Auch im sogenannten Lunterse Kring fanden sich protestantische Kreise bald nach der Kapitulation der niederländischen Armee zusammen, um die Bevölkerung aus der Illegalität heraus zu Widerspruch und Widerstand gegen Nationalsozialismus und deutsche Besatzung aufzurufen.244 Im Oktober 1941 schloss sich die katholische Kirche den interkonfessionellen Konsultationen an. Dies stieß zwar in randständigen doktrinär-protestantischen Zirkeln auf Widerspruch. So stellte ein anonym verfasstes Flugblatt 1943 die rhetorische Frage, ob man Rom, „dieses Bollwerk von Intoleranz und geistlicher Diktatur“, nötig habe, um sich „den Irrtümern des modernen Heidentums“ zu widersetzen, und in der Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche vermutete man nichts anderes als das Bestreben ultramontaner Kreise, „die Führung des Christentums in den Niederlanden an sich zu reißen.“245 Doch im Unterschied zu dieser Flugschrift, die eine dogmatische Reinheit evangelikaler Lehre über die Notwendigkeit einer gemeinsamen Haltung der niederländischen Kirchen gegenüber der Bedrohung gestellt wissen wollte, die der Nationalsozialismus für alle Religionen und die gesamte Gesellschaft bedeutete, haben die Führungen der protestantischen Kirchen eng mit dem Episkopat der römisch-katholischen Kirche zusammengearbeitet. Mehrmals haben die niederländischen Kirchen im Rahmen des Interkerkelijk Overleg246 (IKO) untereinander Proteste gegen die NS-Politik abgesprochen. In gleich oder ähnlich lautenden Verlautbarungen und in gemeinsamen Eingaben an Seyß-Inquart oder andere führende Repräsentanten der deutschen oder niederländischen Verwaltung brachten sie ihre Kritik an der Nazifizierung der niederländischen Gesellschaft und an konkreten Missständen zum Ausdruck. Insbesondere Judenverfolgung, Zwangsarbeit und willkürliche Verhaftungen und Erschießungen waren Themen, die immer wieder Anlass zu konBischöfe die Sakramente, ohne jedoch die bloße Mitgliedschaft in einer nationalsozialistischen Organisation als Kriterium geltend zu machen (ebd., 33–35). Siehe auch Gevers, Catholicism in the Low Countries, 216–219. 242 Siehe das Schreiben der Algemeene Synodale Commissie der Nederlandsche Hervormde Kerk an F. M. Wester­ ouen van Meeteren (Remonstrantsche Broederschap) vom 20. Juni mit der Einladung zur konstituierenden Sitzung am 25. Juni 1940 in Den Haag, HUA, 1423/2152. Die protestantischen Kirchen erkannten gegenseitig ihre Unabhängigkeit an und wollten ihre Zusammenarbeit auf jene Fragen beschränken, „auf denen sich Kirche und Staat tatsächlich begegnen oder begegnen können“ (Bericht über die 5. Sitzung des Convent van Kerken vom 17. September 1940, HUA, 1423/2150). 243 Schreiben des Kirchenkonvents an Seyß-Inquart vom 24. Oktober 1940, HUA, 1423/2154. 244 Siehe Delleman (Hrsg.), Opdat wij niet vergeten, 35–38. 245 HUA, 1423/2180. 246 An seinen Konsultationen haben Repräsentanten des katholischen Episkopats und der folgenden protestantischen Glaubensgemeinschaften teilgenommen: Nederlandsch Hervormde Kerk, Gereformeerde Kerken in Nederland, Gereformeerde Kerken in Nederland in Hersteld Verband, Remonstrantsche Broederschap, Algemeene Doopsgezinde Sociëteit, Evangelisch Luthersche Kerk und Hersteld Evangelisch Luthersch Kerkgenootschap. Vgl. Stokman (Hrsg.), Het verzet van de Nederlandsche bisschoppen, 36.

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Kapitel 6: Politische Ziele der ‚Aufsichtsverwaltung‘

fessionsübergreifenden Beratungen und gemeinsamen Erklärungen gaben. Neben mutigen Stellungnahmen gegen Nazifizierung, Gleichschaltung und staatlichen Terror koordinierten die Kirchen auch ihren Protest gegen Maßnahmen der Besatzungsmacht, die Strukturen und Autonomie der Kirchen antasteten wie das Verbot kirchlicher Kollekten zugunsten der Sammelaktionen der Winterhilfe, die Aufhebung kirchlicher Einrichtungen oder die Eingriffe in das kirchliche Schulwesen. Für die angestrebte Politik von Nazifizierung und Gleichschaltung stellte die Verankerung der Kirchen in der niederländischen Gesellschaft eine Herausforderung dar. Im Gegensatz zu Parteien, Vereinen und Verbänden oder Stiftungen ließen sich Religionsgemeinschaften nicht einfach aufheben, und noch weniger konnte es für die Besatzungsmacht darum gehen, Religiosität zu bekämpfen. In dieser Hinsicht schloss sich Seyß-Inquart 1943 Musserts Forderung an, der Nationalsozialismus solle „nicht antireligiös sein, um nicht bei Durchführung des antiklerikalen Zieles einen Religionskrieg zu entfesseln.“ Und Himmler erinnerte er daran, dass Hitler sich einmal in Anwesenheit von Bormann, Robert Ley und Hanns Kerrl, dem Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten, dagegen verwahrt habe, „dass der Nationalsozialismus zu einer Religion gemacht werde und er selbst womöglich zu einem Religionsstifter“.247 Vielmehr lag das Ziel des Reichskommissariats darin, den politisch-gesellschaftlichen Einfluss der Kirchen auf die niederländische Gesellschaft zurückzudrängen. Dabei konnte es sich das Reichskommissariat besonders zu Beginn der deutschen Herrschaft kaum leisten, die Kirchen und ihre Angehörigen frontal anzugreifen.248 Dies wäre Seyß-Inquarts ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ zuwidergelaufen, und zum Zweck der Aufrechterhaltung von ‚Ruhe und Ordnung‘ war dem Reichskommissar an einem Verhältnis zu Kirchen und Gläubigen gelegen, das so weit wie möglich frei von Reibungen blieb. Bezeichnend hierfür ist beispielsweise, dass er 1941 der SS untersagte, das bischöfliche Palais in Roermond zu beschlagnahmen. Den Befehlshaber der Waffen-SS Nordwest, SS-Brigadeführer Kurt Knoblauch, wies er ausdrücklich an, die SS solle in der Provinz Limburg „einstweilen lediglich durch ihre Anwesenheit wirken, aber keine Tätigkeit gegen die Kirche ausüben.“249 Für das Reichskommissariat war ein zurückhaltendes Auftreten nicht zuletzt insoweit geboten, als die Kirchen eine religiös begründete Ablehnung der totalitär auftretenden Ideologie des Nationalsozialismus leicht mit nationalem Widerstand gegen deutsche Fremdherrschaft verbinden konnten. Dem hatten weder die Besatzungsverwaltung noch die einheimischen Faschisten etwas entgegenzusetzen. Parallel zur allgemeinen Verschlechterung des Verhältnisses der Besatzungsmacht zur niederländischen Gesellschaft nahmen auch die Spannungen zu den Kirchen im Laufe der Besatzungszeit zu. Ausdruck eines verschärften antikirchlichen Kurses war die Reaktion des 247 Seyß-Inquart an Himmler vom 26. November 1943, BArch, NS 19/3403, Bl. 28–31, hier zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 484, 1250. Seyß-Inquart bezog sich auf Musserts vierte Denkschrift für Hitler vom 26. Oktober 1943, abgedruckt in: Cohen (Hrsg.), Vijf nota’s van Mussert aan Hitler, 76–93. 248 So auch Gevers, Catholicism in the Low Countries, 214. 249 Fernschreiben Knoblauchs an SS-Oberführer Korsemann (Kommandeur der 14. SS-Standarte) vom 6. Februar 1941, NIOD, Coll. Doc. I, vorläufige Sign.: Aanwinst 1879.

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Reichskommissariats auf den Hirtenbrief, den die katholischen Bischöfe am 3. August 1941 in allen Kirchen des Landes hatten verlesen lassen. Hierin waren die Gläubigen offen vor „den Gefahren des Nationalsozialismus für den Glauben“ gewarnt worden. Zugleich hatten die Bischöfe gegen Maßnahmen protestiert, die die Autonomie der Kirchen bedrohten oder einschränkten, und sie hatten den Ausschluss von Mitgliedern faschistischer Organisationen vom Empfang der Sakramente erneuert. All diese Punkte und die Solidarisierung der niederländischen Bischöfe mit ihren deutschen Amtsbrüdern, die am 6. Juli in einem gemeinsamen Hirtenbrief gegen „das Unrecht“ protestiert hatten, „welches der katholischen Kirche in der letzten Zeit in Deutschland angetan wurde“, wurden von der Besatzungsverwaltung als eine veritable Kriegserklärung an den Nationalsozialismus begriffen.250 Auf der Chefbesprechung vom 4. August wurden denn auch entschiedene Gegenmaßnahmen beschlossen. Zu ihnen zählte insbesondere die Einstellung katholischer Kirchenzeitungen; zugelassen waren fortan nur noch kirchenamtliche Mitteilungen, die jedoch einer Vorzensur unterworfen wurden. Zugleich wurde die Kirche von staatlicher Subventionierung ausgeschlossen, für Sachleistungen der öffentlichen Hand musste sie bezahlen. Außerdem wurde der Erzbischof von Utrecht, Dr. Dr. Johannes de Jong, mit einer Ordnungsstrafe von 250 Gulden belegt. Schließlich kam man überein, in katholischen Organisationen verstärkt nichtgeistliche Kommissare einzusetzen, und die faschistischen Organisationen sollten zu „Propaganda-Aktionen“ gegen die katholische Kirche aufgefordert werden.251 Die Gegenmaßnahmen des Besatzungsregimes zielten zwar nicht darauf, die Kirchen in der Ausübung von genuin religiösen Aktivitäten zu beschneiden. Sie waren aber daraufhin ausgelegt, weitere regimekritische Stellungnahmen zu erschweren und den gesellschaftlichen Einfluss der Kirchen einzuschränken. Doch weder die katholische noch die protestantischen Kirchen ließen sich einschüchtern. Am 5. Januar 1942 überreichten Abgesandte einer ökumenisch zusammengesetzten Delegation unter Leitung von Paul Scholten Generalsekretär Schrieke eine Denkschrift, in der sie gegen „die fast vollkommene Rechtlosigkeit“ protestierten, denen die niederländische Bevölkerung durch willkürliche Verhaftungen, begründungslose Internierungen und ähnliche Maßnahmen ausgesetzt sei. Außerdem forderten die Kirchen kategorisch die Einstellung der Deportation der Juden, zu denen „Schrecken erregend hohe Sterblichkeitsziffern“ vorlägen. Und schließlich lehnten sie prinzipiell „die nationalsozialistische Lebens- und Weltanschauung“ ab; sie sei mit dem Christentum nicht vereinbar.252 Entsprechend ihrem Wunsch leitete Schrieke die Denkschrift an Seyß-Inquart weiter mit dem Hinweis, dass die Kirchen „den 250 Gevers, Catholicism in the Low Countries, 218. Der Hirtenbrief, den die niederländischen Bischöfe am 3. August 1941 von den Kanzeln verlesen ließen, datiert vom 25. Juli 1941; in einer deutschen Übersetzung befindet er sich in NIOD, 20/2111. Der erwähnte Hirtenbrief des deutschen Episkopats wurde am 26. Juni 1941 von den Bischöfen auf einer Konferenz in Fulda unterzeichnet; er ist abgedruckt in: Volk (Bearb.), Akten deutscher Bischöfe, Dok. 670, 462–469. 251 Vermerk über die Chefbesprechung am 4. August 1941, NIOD, 20/2111. Die Überlegung, den Kommissar der Provinz Nordbrabant abzusetzen, wurde nicht umgesetzt: Junker Dr. Augustinus Bernardus Gijsbertus Maria van Rijckevorsel blieb bis Mai 1945 in seinem Amt. 252 NIOD, 20/602. Zu dem unangemeldeten Besuch der Kirchenvertreter bei Schrieke siehe auch Stokman (Hrsg.), Het verzet van de Nederlandsche bisschoppen, 36 f.

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Kapitel 6: Politische Ziele der ‚Aufsichtsverwaltung‘

Versuch machten, ein unerbittliches und unentrinnbares historisches Geschehen aufzuhalten […].“253 Der Reichskommissar weigerte sich allerdings, Scholten als Vertreter der Reformierten Kirche zu empfangen; seit der Amsterdamer Rechtsprofessor im September 1940 gegen die Judenverfolgung in den Niederlanden protestiert hatte, war er Seyß-Inquart ein Dorn im Auge. Der Rechtsgelehrte wurde kurzerhand in Haft genommen und nach einigen Tagen nach Valkenburg verbannt.254 An seiner Stelle nahm der reformierte Groninger Theologe Prof. Dr. Willem Jan Aalders am 17. Februar 1942 an der Audienz beim Reichskommissar teil. Unter seiner Leitung wiederholten die Vertreter des Interkerkelijk Overleg gegenüber Seyß-Inquart, Schmidt und Schrieke ihre fundamentale Kritik an der Etablierung eines Zustands permanenter Rechtlosigkeit, an der Judenverfolgung und an der Nazifizierung des Landes, wie sie beispielsweise im Arbeitsdienst, in der Schulpolitik und in der Kulturkammer zum Tragen komme. Und gegen ein Kernanliegen der nationalsozialistischen Ideologie unterstrichen sie, dass ‚Volk‘ und ‚Volksgemeinschaft‘ nicht „die höchsten Werte“ seien. Doch wie zu erwarten war, lehnte Seyß-Inquart jede Nachsichtigkeit gegenüber der jüdischen Bevölkerung und eine Abschwächung der Verfolgungspolitik ab, und er warnte die Kirchen, in politischen Angelegenheiten Stellung zu beziehen.255 Dabei blieb es nicht: Als man auf deutscher Seite erfuhr, dass die Kirchen am Sonntag, dem 22. März ihre Gläubigen über das enttäuschende Ergebnis der Besprechung mit dem Reichskommissar informieren wollten, drohte die Sicherheitspolizei, den Sekretär der Allgemeinen Synode der Reformierten Kirche, Kuno Henricus Eskelhoff Gravemeyer, in Haft zu nehmen.256 Unter diesem Druck verzichteten die Kirchen darauf, die Besprechungsergebnisse publik zu machen, legten aber bei Seyß-Inquart vehement Protest gegen das Vorgehen der Polizei ein und warfen ihm vor, einen „Kirchenkampf“ entfesseln zu wollen.257 Auch in der Folgezeit richteten die Kirchenleitungen immer wieder Proteste an die Adresse des Reichskommissars – entweder gemeinsam oder im Namen der eigenen Religionsgemeinschaft. Im Winter 1942/43 etwa zeigten sich die katholische Kirche und acht protestantische Kirchen „tief erschüttert durch die vielen bereits vollstreckten Todesurteile“ und forderten Seyß-Inquart auf, weitere Todesurteile, die das Regime bereits im Zuge der Bekämpfung des zunehmenden Widerstands verhängt hatte, nicht zu vollstrecken258 – ein Verlangen, das der 253 Schrieke an Seyß-Inquart vom 14. Januar 1942, NIOD, 20/602. 254 Oostenbrink-Evers, Scholten, 389. 255 Onderhoud met den Rijkscommissaris, 17 Februari 1942, HUA, 1423/2155. Über den begrenzten Effekt ihres Protests waren sich die Teilnehmer der Audienz im Klaren. In protokollartigen Notizen über das Gespräch mit Seyß-Inquart kam Aalders am darauffolgenden Tag zu dem Ergebnis, „dass man von dieser Audienz nichts erwarten kann. Es ist nur uns selbst und der Kirche gegenüber entscheidend, dass wir ein Zeugnis abgelegt haben.“ (Ebd.) Zu dem Gespräch vom 17. Februar 1942 und seinen Folgen vgl. auch Stokman (Hrsg.), Het verzet van de Nederlandsche bisschoppen, 37–41 und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/2, 720–725. 256 Siehe Gravemeyers Aktennotiz vom 16. März 1942, HUA, 1423/2155. 257 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/2, 723. 258 Adres aan Rijkscommissaris Seyss Inquart vom 31. Dezember 1942, HUA, 1423/2155. Der Text trägt den 7. Januar 1943 als Datum. Weil das erste Exemplar ohne Unterschriften versendet worden war, wurde der Text Seyß-Inquart zwei Tage später noch einmal zugeschickt. Ein gleichlautendes Gesuch erhielt Christiansen (ebd.).

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Reichskommissar am 29. Januar 1943 vor deutschen und niederländischen Nationalsozialisten entrüstet zurückwies und zum Anlass nahm, jedem Vernichtung anzudrohen, der es wage, seinen Anordnungen Widerstand entgegenzubringen und durch „Konspirationen“ dem nationalsozialistischen Deutschland in seinem „Existenzkampf“ in den Rücken zu fallen.259 Dessen ungeachtet wurde am 21. Februar 1943 in allen katholischen und reformierten Kirchen ein offener Brief an Seyß-Inquart verlesen, in dem man in aller Entschiedenheit gegen Judenverfolgung, Nazifizierung, Zwangsarbeit in Deutschland, Geiselpolitik und andere Formen staatlicher Repression wie Razzien auftrat. Die Katholiken wurden bei dieser Gelegenheit von ihren Bischöfen sogar mit allem Nachdruck zu zivilem Ungehorsam aufgerufen: Sie sollten in Zukunft die Mitwirkung am Arbeitsdienst und an der Judenverfolgung verweigern.260 Am 19. Mai 1943 wandten sich die Vertreter des Interkerkelijk Overleg in unmissverständlichen Worten gegen die Sterilisierung von zeugungsfähigen Partnern in christlich-jüdischen Misch­ ehen als eine Praxis, die für sie „die letzte Konsequenz einer antichristlichen und volksverheerenden Rassenlehre, einer Selbstüberhebung ohne Massen, einer Welt- und Lebensanschauung, welche ein wahrlich christliches und menschliches Leben untergräbt und endlich unmöglich macht“, darstellte.261 Und im November 1944 verurteilten die katholische und vier protestantische Kirchen ebenso eindeutig, „dass Tötung und Vernichtung stattfinden, die, weit abseits der Kriegführung liegend, eine Schändung des Gebotes der Menschlichkeit bedeuten, an welches auch die besetzende Macht eines überwältigten Landes gebunden ist“.262 Dass solche Stellungnahmen in NS-Kreisen als Herausforderung empfunden wurden, erstaunt nicht. Der Beauftragte für Nordbrabant Thiel empfahl denn auch dem Reichskommissar im Frühjahr 1942 „eindeutige Antworten“ der Besatzungsmacht auf „die von der Kirche immer mehr bezogene Feindstellung“.263 Zu einer substanziellen und nachhaltigen Verschärfung seiner Kirchenpolitik vermochte sich Seyß-Inquart allerdings nicht durchzuringen. Auch nach dem Ende der ersten Besatzungsphase wagte er es nicht, alle oder auch nur einzelne Kirchengemeinschaften fundamen259 Seyß-Inquart, Zum 10. Jahrestag der Machtübernahme, 124 f. In perverser Zuspitzung fuhr der Reichskommissar in seiner Rede fort: „Hart sein und noch härter werden gegen uns selbst und gegen unsere Gegner, das ist das Gebot eines unerbittlichen Ablaufs notwendiger Ereignisse und für uns eine vielleicht menschlich schwere, aber doch heilige Pflicht. Wir bleiben menschlich, indem wir unsere Gegner nicht quälen, wir müssen hart bleiben, indem wir sie vernichten.“ 260 Siehe Adres aan den Rijkscommissaris (HUA, 1423/2155) und Hirtenbrief der niederländischen Bischöfe vom 17. Februar 1942 (Stokman [Hrsg.], Het verzet van de Nederlandsche bisschoppen, Dok. 64, 266 f.). Vgl. auch Gevers, Catholicism in the Low Countries, 221 und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/2, 629-637. 261 Adres aan den Rijkscommissaris vom 19. Mai 1943, HUA, 1423/2156. Einen Monat später schloss sich der Episkopat der altkatholischen Kirche dieser Stellungnahme an; siehe Hendricus Theodoris Johannes van Vlijmen (altkatholischer Bischof von Haarlem) an Seyß-Inquart vom 15. Juni 1943, HUA, 1423/2154. Dass sich Seyß-Inquart weigerte, persönlich mit den niederländischen Kirchenvertretern über diese Frage zu sprechen, und sie stattdessen an Rauter verwies, wies das IKO in einer Eingabe an den Reichskommissar vom 24. Juni 1943 entrüstet zurück (HUA, 1423/2156). Zur Frage der Sterilisierung von Partnern in Mischehen siehe unten, S. 342–344. 262 Adres aan den Rijkscommissaris dd. November 1944, inzake den toestand in Nederland, HUA, 1423/2156. 263 Monatsbericht Thiels für April 1942, NIOD, 210/H 218, Bl. 2040.

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tal und frontal anzugreifen. Hier setzte er sich einmal mehr von Hans Frank ab, der am 5. April 1940 in Anwesenheit Seyß-Inquarts für das Generalgouvernement die Losung ausgegeben hatte, „daß man die Kirchen Polens nicht zu schonen brauche“.264 In den Niederlanden blieb es bei einem vergleichsweise zurückhaltenden Taktieren, das verschiedene Formen annehmen konnte. In einigen Fällen reagierte der Reichskommissar nach außen hin gar nicht. Dies war etwa der Fall, nachdem die Kirchen am 21. Februar 1943 den erwähnten offenen Brief hatten verlesen lassen. Da dieses Ereignis nur wenige Tage nach den Razzien gegen die Studenten stattfand,265 wollte Seyß-Inquart in der damaligen Situation neben dem Zwang zur Unterzeichnung der Loyalitätserklärung durch die Studierenden offensichtlich nicht einen weiteren Konfliktherd mit großen Teilen der niederländischen Gesellschaft riskieren. Dafür ließ er die Kirchen bis hinunter zu Städten und Dörfern durch die Sicherheitspolizei, seine Beauftragten und die Abteilung Kirchen in Wimmers Generalkommissariat überwachen, und in Reden äußerte er bisweilen Kritik an öffentlicher Kritik der Kirchen.266 Gelegentlich wurden die Vertreter der niederländischen Religionsgemeinschaften mit dem Ziel unter Druck gesetzt, regimekritische Stellungnahmen zu unterbinden – wie nach der Audienz vom 17. Februar 1942. Und um die Kirchen einzuschüchtern, schreckte der Sicherheitsapparat nicht davor zurück, einzelne Kirchenvertreter festzunehmen oder ihnen zumindest mit einer Inhaftierung zu drohen.267 An anderen Stellen hingegen machte Seyß-Inquart den Kirchen Konzessionen, um sie politisch zu erpressen. Dies war insbesondere der Fall, als zehn niederländische Kirchen in einer konzertierten Aktion des Interkerkelijk Overleg am 11. Juli 1942 in einem Telegramm Seyß-Inquart, Schmidt, Rauter und Christiansen aufforderten, von den unmittelbar bevorstehenden Deportationen der jüdischen Bevölkerung Richtung Osten abzusehen.268 Seyß-Inquarts Entgegenkommen bestand darin, dass er in Aussicht stellte, alle Jüdinnen und Juden, die sich vor dem 1. Januar 1941 hatten taufen lassen, vom „Abtransport“ auszunehmen. Dies galt aber nur unter der Voraussetzung, „dass die Kirchen sich wegen der übrigen Juden nicht bemüssigt fühlen würden [,] irgendwelche Schritte zu tun.“269 Natürlich nur gegenüber 264 Frank, Tagebuch 1940, Bd. 2/1, BArch, R 52 II/176, Bl. 5 f. 265 Siehe oben, S. 93. 266 Zur Überwachung der Kirchen siehe beispielsweise die Berichte in NIOD, 20/2121. Für eine kirchenkritische Rede sei verwiesen auf Seyß-Inquarts Ausführungen in Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [19. Mai 1943], 141 f. 267 So war Aalders schon Ende Februar 1942 festgenommen worden, Gravemeyer Anfang Mai 1942, und Dr. Jannes Johannes Cornelis van Dijk, der als Vertreter der Gereformeerde Kerken mit Aalders und dem katholischen Priester Felix van de Loo an der Audienz vom 17. Februar 1942 bei Seyß-Inquart teilgenommen hatte, wurde im April 1943 interniert. 268 Der Text des Telegramms befindet sich in der Anlage zu Benes Schreiben ans Auswärtige Amt vom 31. Juli 1942, PA AA, R 100876, Bl. 13, das an Christiansen adressierte Exemplar in NIOD, 77/1264. Hierzu und zum Folgenden siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/1, 12–23. 269 So Bene in seinem Schreiben ans Auswärtige Amt vom 31. Juli 1942, PA AA, R 100876, Bl. 12 mit Anlage, Bl. 14. Von der temporären Freistellung betroffen waren, wie Adolf Eichmann sogleich aus Den Haag mitgeteilt wurde, 694 katholisch und 1.061 evangelisch getaufte Personen; siehe Fernschreiben des BdS Dr. Wilhelm Harster an Eichmann vom 20. Juli 1942, NIOD, 77/1264.

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seinen engsten Mitarbeitern enthüllte Seyß-Inquart auf der Chefbesprechung vom 17. Juli 1942, dass es ihm bei der Ausnahmeregelung darum ging, die Kirchen ruhigzustellen, um die Deportationen insgesamt weitgehend ungehindert durchführen zu können. So äußerte er Rauter zufolge: „Wenn er, der Reichskommissar, […] durch dieses Entgegenkommen die christlichen Kirchen aus Anlaß der Evakuierung der niederländischen Juden zum Schweigen bringen könnte, wäre für ihn viel gewonnen.“ Und nur in diesem vertrauten Kreis gab der Reichskommissar die Absicht zu, „dass, nachdem alle anderen Juden abgeschoben sein werden, bei nächstbester Gelegenheit, die politisch passt, auch die letzten ‚christlichen‘ Juden nach dem Osten verpflanzt werden sollten.“270 Als nun in allen katholischen und einigen protestantischen Kirchen am Sonntag, dem 26. Juli 1942 nicht nur Seyß-Inquarts Zusage einer (temporären) Freistellung der getauften Juden publik gemacht, sondern auch der Text des genannten Telegramms vorgelesen wurde,271 ließ der Reichskommissar das Pendel in die Gegenrichtung ausschlagen: Gleich am darauffolgenden Montag traf er auf einer weiteren Chefbesprechung die Entscheidung, über 200 katholisch getaufte Juden zu verhaften. Die meisten von ihnen wurden über die Lager in Amersfoort und Westerbork in Konzentrationslager außerhalb der Niederlande verbracht; unter ihnen befand sich die aus Köln geflohene Karmeliterschwester und promovierte Philosophin Edith Stein, die bald nach der Ankunft in Auschwitz-Birkenau vergast wurde.272 Mit der Entscheidung, nur die katholisch getauften Juden zu deportieren, war nicht zuletzt die Absicht verbunden, einen Keil zwischen die katholische Kirche und die protestantischen Kirchen zu treiben – und damit die konfessionsübergreifenden Beratungen des IKO politisch zu schwächen.273 Allerdings legte Seyß-Inquart die Anwendung seiner Konzession, getaufte Juden vorläufig von der Deportation freizustellen, auch im Falle der ‚protestantischen Juden‘ eng aus. So bestimmte er am 13. November 1942, dass nur diejenigen „zunächst“ in den Niederlanden bleiben dürften, die ihre Taufe vor dem 1. Januar 1941 durch amtliche Dokumente glaubhaft belegen konnten. „Alle anderen Juden sind abzuschieben.“274 Immerhin verteidigte Seyß-Inquart seine Zusage, die ‚christlichen Juden‘ für die Dauer des Krieges freizustellen, gegen den Sicherheitsapparat, der ungeduldig auf die Deportation von restlos allen Juden aus den Niederlanden drängte.275 Dies wurde besonders deutlich, als sich die protestantischen Kirchen bei ihm im September 1943 über Gerüchte beschwerten, dass das Lager in Westerbork bald geschlossen und alle Insassen nach Deutschland transferiert würden. Die Sorge war umso größer, als die ‚katholischen Juden‘ aus den Niederlanden deportiert worden waren, weil die Bischöfe – nach den Worten von 270 Rauter an Wilhelm Harster vom 18. Juli 1942, NIOD, 77/1264. 271 Siehe Stokman (Hrsg.), Het verzet van de Nederlandsche bisschoppen, Dok. 49, 249 f. 272 Zu der Chefbesprechung vom 27. Juli 1942 siehe das Protokoll von Wilhelm Harster, NIOD, 77/1264. Zur Verhaftungsaktion siehe auch Gevers, Catholicism in the Low Countries, 221. Ein Protestschreiben von Erzbischof De Jong an Seyß-Inquart und Rauter blieb unbeantwortet; siehe Stokman (Hrsg.), Het verzet van de Nederlandsche bisschoppen, 117 und Dok. 53, 255. 273 Dies geht besonders deutlich aus dem Schreiben Rauters an Himmler vom 24. September 1942 hervor, BArch, NS 19/3364, Bl. 100 f. 274 Rauter an Wilhelm Harster vom 16. November 1942, NIOD, 77/1264. 275 Vgl. Rauter an Wilhelm Harster vom 14. Mai 1943, ebd.

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Otto Bene – „wieder gehetzt hatten.“276 Sofort nach Eingang des Schreibens der protestantischen Kirchen diktierte Seyß-Inquart dem damaligen Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Naumann in einem ungewohnt energischen Befehlston: „1.) Verfügungen über diese Juden dürfen ausschließlich mit meiner Zustimmung erfolgen. 2.) Die Juden bleiben in Westerborg [sic]. 3.) Kirchen verständigen.“277 Die vorläufige Freistellung der ‚christlichen Juden‘ galt als Chefsache, und Seyß-Inquart legte Wert darauf, dass ihm der Sicherheitsapparat im sensiblen und angespannten Verhältnis zu den Kirchen in dieser Frage keinen Strich durch die Rechnung machte. Obwohl der Reichskommissar zweifelsohne für einen rigorosen Kurs in der Judenverfolgung stand, gab er der Ruhigstellung der Kirchen aus taktischen Gründen den Vorzug gegenüber dem antisemitischen Aktionismus des SS-Komplexes.278 In ihrer Gesamtheit zeigen all diese Schattierungen der Kirchenpolitik einmal mehr, dass sich Seyß-Inquart eines Instrumentariums bediente, das sich zwischen ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ bewegte und eine großangelegte Konfrontation vermied. Der fast kontinuierlich vorgetragene Protest der niederländischen Kirchen setzte der Umsetzung seiner Politik von Nazifizierung und Gleichschaltung offenkundig Grenzen. Das Gleiche gilt – wenn auch in geringerem Ausmaß – für den Protest der niederländischen Ärzte. Den Anstoß hierzu bildete die sogenannte Ärzteverordnung, in der Seyß-Inquart im Dezember 1941 jedem niederländischen Arzt die Zwangsmitgliedschaft in der neu errichteten Ärztekammer vorschrieb.279 Diese Berufskammer wurde dem NSB-Mitglied Dr. Constant Charles Adolphe Croïn unterstellt. Als nationalsozialistisches Instrument der Gleichschaltung trat sie an die Stelle der 1849 errichteten ‚Niederländischen Gesellschaft zur Förderung der Medizin‘, der die überwiegende Mehrheit der niederländischen Ärzte angehört hatte. Schon vor Erlass der Verordnung hatten Hunderte von Ärzten gegen die beabsichtigte Gründung der Ärztekammer protestiert, und unmittelbar nach deren Errichtung kündigten wiederum Hunderte von Medizinern an, dass sie Croïns Anordnungen keine Folge leisten würden. Obwohl einige führende Mitglieder der im Sommer 1941 gegründeten Geheimorganisation Medisch Contact verhaftet wurden, ließ sich die überwältigende Mehrheit der niederländischen Ärzte nicht einschüchtern. Denn die vorgeschriebene Pflichtmitgliedschaft erwies sich als wirkungslos: Im Laufe des Jahres 1942 hatten einem amtlichen Vermerk zufolge nur 1.034 Ärzte den Pflichtbeitrag von 50 Gulden entrichtet, 5.500 Ärzte hingegen weigerten sich, Beiträge zu entrichten und der Ärztekammer beizutreten.280 Als Croïn als Re276 Bene ans Auswärtige Amt vom 4. Juni 1943, PA AA, R 99429. 277 Seyß-Inquarts Notiz auf der Adres aan den Rijkscommissaris der protestantischen Kirchen vom 13. September 1943, HUA, 1423/2156; Hervorhebung im Original. 278 Zu Seyß-Inquarts Haltung und Beitrag zur Judenverfolgung siehe unten, Kap. 8. 279 VO 226/1941 vom 19. Dezember 1941, in: VOBl. NL 1941, 1004–1026, hier Art. 6, 1007. Zum Folgenden siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/2, 700-711 und Bd. 7/1, 554–563 sowie die Zusammenfassung bei Warmbrunn, The Dutch under German Occupation, 153–156. Grundlegend zum Ärzteprotest ist nach wie vor die Darstellung und Quellenedition, die Philip de Vries 1949 im Auftrag der ‚Niederländischen Gesellschaft zur Förderung der Medizin‘ publiziert hat (M. C. 1941–1945). 280 Undatierte Aktennotiz, die unter Berufung auf eine Mitteilung des Leiters der Abteilung Volksgesundheit im Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz, Dr. Gero Reuter, erstellt wurde, NIOD, 20/368.

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aktion auf dieses unübersehbare Signal kollektiver Widersetzlichkeit im März 1943 etwa 80 Personen, die einen Beitritt zur Ärztekammer verweigert hatten, mit einem Bußgeld belegte, kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung. Die Kontaktkommission, wie Medisch Contact in deutschen Quellen gerne genannt wurde, rief nämlich die niederländischen Mediziner in einem Schreiben dazu auf, den Begriff ‚Arzt‘ von ihren Namensschildern und Bescheinigungen zu entfernen.281 Originellerweise konnten sich die Mediziner dabei auf eine Bestimmung der Ärzteverordnung berufen: In deren Artikel 5 war einem Arzt die Möglichkeit eröffnet worden, auf die Berechtigung zu verzichten, die Bezeichnung ‚Arzt‘ zu führen. Dank dieser Gesetzeslücke konnte man die Zwangsmitgliedschaft in der Ärztekammer, die an die Verwendung dieser Berufsbezeichnung gebunden war, umgehen, ohne notwendigerweise den Dienst an den Patienten einzustellen. Medisch Contact zufolge leisteten zwischen 5.700 bis 6.000 Ärzte dem Aufruf Folge, indem sie Croïn zum vorgegebenen Stichtag 24. März 1943 mithilfe einer vorbereiteten Erklärung den Verzicht auf die Führung der Bezeichnung ‚Arzt‘ bekanntgaben.282 Zugleich stellten sie in Aussicht, dass sie Patienten, die über die Deutsche Krankenkasse für die Niederlande versichert waren, nicht mehr behandeln würden, wenn das entsprechende Honorar nicht zur Gänze an sie selber, sondern ein Teil der Vergütung weiterhin an die Ärztekammer überwiesen würde, denn – so hieß es in dem vorformulierten Standardschreiben an diese Krankenkasse – „sie wollen das Verfügungsrecht über das ihnen Zustehende behalten […].“283 Von einem Ausschluss der bei der Deutschen Krankenkasse versicherten Patienten wären vor allem gut eine Million Niederländer betroffen gewesen, die in Deutschland zum Arbeitsdienst eingesetzt waren, aber auch die Angestellten von manchen deutschen Behörden in den Niederlanden samt ihren Familienangehörigen.284

Beigetreten sind vermutlich die ca. 250 Mediziner, die dem NS-Regime nahestanden, und die etwa 600 jüdischen Ärzte, die von Medisch Contact zum Schutz vor Repressalien zum Beitritt aufgefordert worden waren (Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 215, Anm. 156). Angesichts der Zahlenverhältnisse spricht De Jong zu Recht von „einem eklatanten Fiasko“ für die Ärztekammer (Het Koninkrijk, Bd. 6/2, 704). Er weist darauf hin, dass die Zahn- und die Tierärzte im Unterschied zur Gruppe der Haus- und Fachärzte keine schlagkräftige Organisation wie Medisch Contact aufgebaut haben; hier lagen die Beitrittszahlen zur jeweiligen Berufskammer deutlich höher (ebd., 705 f.). 281 Abschriften des Schreibens auf Deutsch und auf Niederländisch befinden sich in NIOD, 20/368. Von der faktischen und symbolischen Bedeutung, die die Arztschilder im Widerstand der Mediziner gegen die Ärztekammer besaßen, leitet sich die niederländische Bezeichnung „bordjesactie“ [Schilderaktion] ab. 282 Siehe deren Estafettebericht bzw. Staffettenbericht vom 13. April und 3. April 1943, Abschriften in ebd. De Jong beziffert die Anzahl der genannten Verzichtsbriefe auf 6.200 (Het Koninkrijk, Bd. 6/2, 708). 283 NIOD, 91/9a. 284 Abteilung Volksgesundheit im Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz an Generalkommissar Wimmer vom 27. März 1943, NIOD, 20/368; da die Seite mit der Unterschrift fehlt, kann nur vermutet werden, dass das Schreiben von Obermedizinalrat Reuter oder von Medizinalrat Dr. W. Weigel stammt. Dem Schreiben zufolge hätte die angedrohte Behandlungsverweigerung der Ärzte auch 24.000 Arbeiter der Organisation Todt sowie Niederländer, die im Dienst von Wehrmacht und NSKK-Verbänden standen, um medizinische Versorgung gebracht. Nach dem Nederlandsch Artsenblad vom 15. November 1942 waren darüber hinaus die Angehörigen der Waffen-SS in den Niederlanden und des Stabes des HSSuPF Nordwest bei der Deutschen Krankenkasse versichert (siehe De Vries, M. C. 1941–1945, 39).

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Ein solcher organisierter Widerstand forderte neben Croïn und NSB auch die deutsche Besatzung heraus: Nicht nur war die medizinische Versorgung jener Niederländer gefährdet, die für die Kriegsrüstung des Reiches oder für deutsche NS-Organisationen arbeiteten. Auch die Gesundheit der gesamten Bevölkerung unter Einschluss der in den Niederlanden stationierten deutschen Soldaten und Zivilangestellten lief Gefahr, bei einer weiteren Zuspitzung Schaden zu nehmen. Im Falle einer fürs Frühjahr befürchteten alliierten Landung an der Küste wäre sogar der Ausbruch von Epidemien nicht ausgeschlossen gewesen. Auf diese Herausforderung antwortete das Reichskommissariat mit einer vielschichtigen Strategie: Der Sicherheitsapparat drohte den Medizinern, die sich trotz Ermahnung weigerten, Patienten der Deutschen Krankenkasse zu behandeln und die Bezeichnung ‚Arzt‘ zu führen, die Festnahme oder gar die Deportation in das Konzentrationslager Herzogenbusch an,285 das ursprünglich „vom Reichskommissar als Durchgangslager für die auszusiedelnden Juden“ errichtet worden war.286 Bei dieser harten Linie war man sich der Rückendeckung Himmlers sicher, der sich „für absolutes Durchgreifen“ aussprach und es für richtig hielt, „wenn rund 3–500 der Streikführenden verhaftet und sofort in die K[onzentrations]L[ager] im Reich verbracht werden.“ 287 Die Beauftragten des Reichskommissars für die Provinzen und die Städte Amsterdam und Rotterdam hingegen wurden aufgefordert, „lediglich eine beobachtende Haltung“ einzunehmen und „in keiner Weise einzugreifen“.288 Zurückhaltend verhielt sich auch der zuständige Generalkommissar Wimmer, der im Auftrag von Seyß-Inquart für den 1. April 1943 zehn Vertreter der oppositionellen Ärzte zum Gespräch einlud. Daraufhin rief Medisch Contact das Ende des Widerstands aus. Denn man meinte den Ärzten mitteilen zu können, dass die Ärztekammer einer Reform unterzogen würde und die von Croïn verhängten Bußgelder nicht fällig würden.289 Somit konnte Rauter Himmler schon am 2. April per Fernschreiben berichten, dass die Ärzte ihre Schilder wieder angebracht hätten und ihren Dienst wie gewohnt durchführten.290 Ob die einstweilige Beendigung des Widerstands auf Wimmers Gespräche mit den Ärztevertretern, auf die Repressionsandrohungen des Sicherheitsapparates oder auf eine Kombination dieser unterschiedlichen Strategien der Besatzungsmacht zurückzuführen ist, lässt sich schwer beurteilen.

285 Fernschreiben von BdS Den Haag, SS-Obersturmführer Friedrich Knolle, vom 30. März 1943, NIOD, 20/368, und Fernschreiben Knolles vom 31. März 1943, als Faksimile abgedruckt in: Nederland in Oorlogstijd vom 28. Dezember 1946, 79. 286 So die Formulierung von SS-Obergruppenführer Oswald Pohl (Leiter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts) an Himmler vom 17. Dezember 1942, BArch, NS 19/1696, Bl. 2. Zur Geschichte des Lagers siehe Stuldreher, Das Konzentrationslager Herzogenbusch. 287 Fernschreiben Himmlers an Rauter vom 31. März 1943, abgedruckt in: De Vries, M. C. 1941–1945, Dok. I 3, 317. 288 Fernschreiben vom 25. März 1943, NIOD, 20/368. 289 Estafettebericht von Medisch Contact vom 13. April 1943 (ebd.). In demselben Bestand findet sich eine Liste der Teilnehmer des Gesprächs vom 1. April, die Reuter eine Woche später Wimmer schickte. 290 Seiner Einschätzung nach hätten die Ärzte zum Ausdruck gebracht, „dass sie der Besatzungsmacht durchaus loyal gegenüberständen, eine Zusammenarbeit mit der NSB und deren Einrichtungen jedoch ablehnten.“ Zit. nach: De Vries, M. C. 1941–1945, Dok. I 4, 317 f.

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Der Widerstand flammte allerdings bald erneut auf, nachdem Seyß-Inquart am 25. Mai 1943 in einer Anordnung über die Berufsausübung gewisser beeideter Personen eine zentrale Forderung der Ärzte nicht umgesetzt hatte: Er hatte zwar rückwirkend zum 1. März die Bestimmung der Ärzteverordnung außer Kraft gesetzt, die den Präsidenten der Niederländischen Ärztekammer und der Kammern anderer Gesundheitsberufe die Befugnis zugesprochen hatte, dem Verzicht auf die Ausübung des Arztberufes die Zustimmung zu erteilen oder zu verweigern.291 Die Pflichtmitgliedschaft in der Kammer aber blieb weiterhin in Geltung, und dies war der Auslöser für eine neue Protestwelle. In einem – wiederum von der Kontaktkommission vorbereiteten – Protestschreiben kündigten deutlich über 3.700 niederländische Ärzte unter dem Einheitsdatum 23. Juni an, „Freiheit und unser Leben“ einzusetzen, wenn die Besatzungsmacht auf der Pflichtmitgliedschaft bestehe. Dabei bezog man in aller Klarheit Stellung gegen die Ärztekammer an sich und gegen die jedem ärztlichen Berufsethos widerstreitende nationalsozialistische ‚Gesundheits‘-Politik: „Herr Reichskommissar, es muß Ihnen klar sein, welchen [sic] Abscheu wir niederländischen Ärzte vor dem uns aufgedrungenen, importierten Institut haben. […] Groß war und ist das Mißtrauen der niederländischen Ärzte gegen diese Organisation. […] Aus der Durchführung der Rassenlehre – mit den Konsequenzen der Wegführung der Geisteskranken und Kranken und die [sic] Sterilisation gesunder Menschen – geht hervor, wie sehr unsere Besorgtheit gerechtfertigt ist.“292 Auf diese „mehr oder weniger offene Kriegserklärung“ reagierte die Besatzungsmacht dadurch, dass gut 400 niederländische Ärzte ins Polizeiliche Durchgangslager Amersfoort verbracht wurden, und auch die anderen namentlich identifizierbaren Mediziner sollten verhaftet werden.293 Da hierdurch die Gesundheitsversorgung der gesamten Niederlande in Gefahr geriet, suchte Seyß-Inquart parallel zu der Verhaftungswelle nach einer Beruhigung der Situation mit politischen Mitteln. Auf einer Besprechung vom 1. Juli 1943294 mit den Generalkommissaren Wimmer und Rauter, dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD, Dr. Wilhelm Harster, und dem Leiter der Abteilung Volksgesundheit im Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz, Obermedizinalrat Dr. Gero Reuter, ordnete er einerseits an, dass die Verhaftungen „rigoros durchgehalten“ werden sollten, auch „wenn sie sich auf Monate erstrecken müßten.“ Andererseits sollte jenen Ärzten, die den Brief vom 23. Juni an ihn geschickt hatten, angeboten werden, durch eine Strafzahlung von 50 Gulden und die Absendung eines Entschuldigungsschreibens an den Reichskommissar mit einer Verwarnung davonzukommen. Der von Seyß-Inquart genehmigte Standardtext des Entschuldigungsschreibens enthielt die

291 VO 51/1943, in: VOBl. NL 1943, 193-195, hier §§ 2 und 4. 292 Abschrift in deutscher Übersetzung in: NIOD, 20/368; auf Niederländisch ist der Brief abgedruckt in: De Vries, M. C. 1941–1945, Dok. E 3, 241–243. In einem Brief an General Christiansen, der auch den Generalkommissaren und Otto Bene zur Kenntnis gebracht wurde, gab Seyß-Inquart am 14. Juli 1943 an, 3.725 Schreiben erhalten zu haben, von denen 2.000 unleserliche Unterschriften trügen; NIOD, 20/368. 293 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 7/1, 557 f.; De Vries spricht von 360 Verhaftungen (M. C. 1941–1945, 54), ihm folgt Warmbrunn (The Dutch under German Occupation, 156). Siehe hierzu auch Nederland in Oorlogstijd vom 28. Dezember 1946, 79. 294 Siehe den Aktenvermerk in NIOD, 20/368.

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Kapitel 6: Politische Ziele der ‚Aufsichtsverwaltung‘

Erklärung des jeweiligen Arztes, „dass der Inhalt des Briefes vom 23. Juni 1943 nicht eine politische Aktion gegen die Besatzungsmacht beabsichtigte; dass er es bedauert, dass sein Brief an den Herrn Reichskommissar durch den Ton, in dem dieser gehalten war, als kränkend und beleidigend aufgefasst werden konnte und dass es keinesfalls seine Absicht war, in irgend einer Weise beleidigend gegen die Person des Herrn Reichskommissar aufzutreten.“295 Wer sich weigerte, das Entschuldigungsschreiben abzuschicken, wurde mit fühlbaren Geldbußen oder gar mit Zwangsarbeit in einem deutschen Konzentrationslager bedroht. In der Mischung aus Repression und einem gewissen Entgegenkommen ließ diese Lösung wieder einmal eine mehrschichtige Strategie erkennen. Sie bot dem Reichskommissar die Aussicht, die Mediziner zu besänftigen, und enthielt die Möglichkeit, die Ärzteschaft zu spalten. Zugleich wollte sich Seyß-Inquart selbst durch das Entschuldigungsschreiben einen weiteren Gesichts- und Autoritätsverlust ersparen. Seine Rechnung ist im Großen und Ganzen aufgegangen: Nachdem der Text des Entschuldigungsschreibens Vertretern der Kontaktkommission übermittelt und von ihr zustimmend an die Ärzte weitergeleitet worden war, erhielt der Reichskommissar seinen eigenen Angaben zufolge bis Mitte Juli 3.710 Entschuldigungsbriefe.296 Daraufhin wurden die bereits verhafteten Mediziner sukzessive freigelassen. Zu einer landesweit organisierten ernsthaften Konfrontation mit der Zunft der Mediziner ist es danach nicht mehr gekommen, auch wenn immer wieder niederländische Ärzte bei Seyß-Inquart oder Wimmer vorstellig geworden sind.297 Wie man sich im Herbst 1943 erzählte, „will der Reichskommissar absolut nichts, was die Ruhe stören könnte.“298 Seyß-Inquart war bewusst, dass der Protest der Mediziner nicht ausschließlich gegen Croïn und die Niederländische Ärztekammer gerichtet war: „Wenn sich diese Demonstration scheinbar nur gegen die berufliche Organisation gerichtet hat, so war sie doch in Wirklichkeit gegen uns gemeint.“299 Doch natürlich stand auch – und vordergründig – die niederländische Kollaborationspartei am Pranger. Am deutschen Krisenmanagement auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass der NSB-Politiker Croïn von der Besatzungsmacht in keiner Weise in Schutz genommen wurde. Im Gegenteil, Seyß-Inquart ließ Croïn in dem Bemühen, den Widerstand der Ärzte durch partielles Entgegenkommen zu pazifizieren, sichtlich hängen und äußerte Zweifel an der politischen Eignung des Präsidenten und der Mitarbeiter der Ärztekammer: „Es mag sein, daß die Männer, die auf niederländischer Seite heute diese Organisation führen, nicht dieses Maß von Geschicklichkeit an den Tag legen, das notwendig ist, in 295 Zit. aus einem der Exemplare in: NIOD, 20/368. Siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 7/1, 559 f. und De Vries, M. C. 1941–1945, 55–57 jeweils mit Wiedergabe der niederländischen Fassung des Entschuldigungsbriefes. 296 Seyß-Inquart an Christiansen vom 14. Juli 1943, NIOD, 20/368. 490 Ärzte hingegen weigerten sich, ein Entschuldigungsschreiben an Seyß-Inquart zu schicken. Siehe Reuter an Piesbergen vom 5. August 1943, ebd. 297 Auch hierzu befinden sich in NIOD, 20/368 zahlreiche Unterlagen. Siehe auch die Dokumente E 4 bis E 6 in: De Vries, M. C. 1941–1945, 243–253. 298 Aus dem Protokoll zur Sitzung der Zahnärztekammer vom 30. Oktober 1943, zit. nach: De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 7/1, 562. 299 Seyß-Inquart an Christiansen vom 14. Juli 1943, NIOD, 20/368.

6.4 Grenzen der Gleichschaltung

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dieser schweren Situation die Dinge in Ordnung zu halten.“300 Vielsagend war auch, dass er sich weigerte zu antworten, als Croïn sich brieflich darüber beschwerte, „dass die Durchführung der Ärzteordnung aus Mangel an Mitwirkung der zuständigen Behörden unmöglich ist“, weil Generalkommissar Wimmer nach der Entschärfung des Konflikts durch die erwähnten Entschuldigungsschreiben sowohl die Eintreibung der von Croïn verhängten Bußgelder als auch die Mitgliedsbeiträge zur Ärztekammer untersagt habe.301 Es half auch nichts, dass Mussert, den Croïn vermutlich um Unterstützung ersucht hatte, nachdem er ohne Antwort von Seyß-Inquart geblieben war, beim Reichskommissar mit demselben Anliegen vorstellig wurde. Auch diesmal antwortete Seyß-Inquart nicht persönlich, sondern wies Wimmer an, Mussert mitzuteilen, „daß Croïn seiner Aufgabe nicht gewachsen zu sein scheint.“302 Auch im Reich stieß Croïns Amtsführung auf Kritik. So stellte sich der Leiter der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands gegen den NSB-Politiker, weil er in der automatischen Einbehaltung eines Teils der Arzthonorare durch die Ärztekammer keine Rechtsgrundlage sah.303 Bezeichnend ist schließlich, dass das Entschuldigungsschreiben, das Seyß-Inquart den Ärzten im Sommer 1943 vorlegte, keine Selbstverpflichtung zum Beitritt zur Ärztekammer enthielt; diese Institution wurde nicht einmal erwähnt! Die Ärztekammer wurde vom Reichskommissariat sozusagen ausgehungert. Zeitweilig wurden zwar Pläne für eine Reorganisation erwogen. So plädierte Wilhelm Harster einmal dafür, an der Stelle von Croïn einen deutschen Ärztefunktionär zum Präsidenten der Kammer zu ernennen. Ein anderer Plan sah für den Fall einer Neubesetzung von deren Präsidium eine Berücksichtigung von NSB-Mitgliedern ebenso wie von „Nicht-NSB-ern“ vor.304 Doch zu einer Reform ist es angesichts des massiven Protests einer für die Bevölkerung des besetzten Landes wichtigen Berufsgruppe nicht gekommen. Da Seyß-Inquart die Ärztekammer ins Leben gerufen hatte, hätte er sie ohne einen Prestigeverlust nicht nach nur anderthalb Jahren wieder einfach abschaffen können. Dafür ließ er sie eines stillen Todes zugrunde gehen. Die Geschichte des Ärzteprotests ist so ausführlich referiert worden, weil sie neben der Kirchenpolitik für die Analyse von Seyß-Inquarts Amtsführung in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich ist. Sie veranschaulicht, dass der Reichskommissar den Gleichschaltungsprozess an bestimmten Punkten nicht rigide, sondern mit politischer Flexibilität gestaltete. Auf eine Herausforderung wie den organisierten Widerstand der Ärzteschaft reagierte er mit einer vielschichten Strategie, in der sowohl ‚Zuckerbrot‘ als auch ‚Peitsche‘ zur Anwendung kamen. 300 Ebd. 301 Croïn an Seyß-Inquart vom 23. August 1943, NIOD, 20/368. In grüner Farbe, die im innerbehördlichen Schriftverkehr dem Reichskommissar vorbehalten war, verwies Seyß-Inquart das Schreiben an „die zuständige Stelle“. 302 Mussert an Seyß-Inquart vom 8. September 1943 mit handschriftlicher Notiz von Seyß-Inquart, ebd. 303 Mitteilung von Medizinalrat Dr. W. Weigel vom 25. März 1943 (ebd.) unter Bezugnahme auf ein Telefonat mit Dr. Heinrich Grote. Siehe auch Grote an den Rotterdamer Arzt Dr. F. A. Schalij, in: De Vries, M. C. 1941–1945, Dok. I 6, 319 f. 304 Siehe Wilhelm Harster an Seyß-Inquart vom 27. März und Weigel an Wimmer vom 31. März 1943, NIOD, 20/368. Harsters Vorschlag, Croïn durch den deutschen Amtsarzt Dr. Weigel zu ersetzen, versah Seyß-Inquart handschriftlich mit einem Fragezeichen. Diese Option wurde denn auch nicht realisiert.

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Kapitel 6: Politische Ziele der ‚Aufsichtsverwaltung‘

Und sie verdeutlicht, dass der Reichskommissar die ‚Nationalsozialistische Bewegung‘, auf die er für die angestrebte Nazifizierung der einheimischen Bevölkerung schwer verzichten konnte, nicht vorbehaltlos unterstützte – paradoxerweise an einem Punkt, an dem die Kollaborationspartei als Instrument für Nazifizierung und Gleichschaltung auftrat. Ein bedingtes Entgegenkommen gegenüber der Ärzteschaft war dem Reichskommissar offensichtlich wichtiger als eine einseitige Unterstützung der NSB. Sein Entgegenkommen gegenüber den niederländischen Medizinern hielt Seyß-Inquart freilich in keiner Weise davon ab, nationalsozialistischen Einfluss nach Kräften auch auf das Gesundheitswesen auszuweiten. Neben der obligatorischen Zusammenfassung der Angehörigen verschiedener medizinischer Berufe in Kammern wurde insbesondere das ‚Niederländische Rote Kreuz‘ (NRK) an das Gängelband der deutschen Politik gelegt.305 Dessen Schriftverkehr mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und den Rotkreuz-Gesellschaften von ‚Feindstaaten‘ sowie seine Mitteilungen an Rotkreuz-Gesellschaften von verbündeten, befreundeten und neutralen Staaten wurden überwacht, zum Teil musste Korrespondenz über das Präsidium des Deutschen Roten Kreuzes laufen. Reisen von NRK-Vertretern in die Schweiz waren im Reichskommissariat nicht gerne gesehen, die Einladung des IKRK an den Ersten Vizepräsidenten des NRK, Willem Jacob Baron van Lynden, wurde 1943 von deutscher Seite torpediert. Die Tätigkeitsfelder des Nederlandsche Roode ­Kruis wurden im Laufe der Besatzungszeit ebenso eingeschränkt und begrenzt wie dessen Bestand an Personal und Ausrüstung; zeitweilig nahm die Wehrmacht alle Rotkreuzwagen in Beschlag. Gleichzeitig wurde das NRK mithilfe der Besatzungsmacht durch einheimische Nationalsozialisten unterwandert. So wurde der Kommissar für die Provinz Utrecht, das NSB-Mitglied Willem Bernard Engelbrecht, im Juli 1942 von Seyß-Inquart zum Vorsitzenden des ‚Niederländischen Roten Kreuzes‘ ernannt,306 und 1944 ersetzte der Reichskommissar den bisherigen Generalsekretär W. J. Lucardie wegen „deutschfeindlicher Kundgebungen“ durch Carel Piek, der sich für das NS-Regime bereits als Leiter des Winterhilfswerks bezahlt gemacht hatte. Federführend bei der Lenkung des politischen Einflusses auf das NRK war Gero Reuter. Auf dessen „fachlich gute und ruecksichtsvolle Arbeit“ als Leiter der Abteilung Volksgesundheit führte es Seyß-Inquart nach Kriegsende zurück, dass das ‚Niederländische Rote Kreuz‘ während der Besatzungszeit nicht aufgelöst worden sei, obwohl es sich durch den Transport von Waffen, Personen und Nachrichten „zu einer grossen illegalen Hilfsorganisation der Widerstandsbewegung“ entwickelt habe.307 Dass das NRK zuvor von der Besatzungsmacht für deutsche Zwecke eingesetzt worden war, verschwieg Seyß-Inquart wohlweislich. Zu Recht aber warfen ihm die niederländischen Ärzte in einem neuerlichen anonymen Protestschreiben vom November 1944 vor, mit der Einsetzung des namentlich nicht genannten Piek 305 Zum Folgenden siehe Morgenbrod/Merkenich, Das Deutsche Rote Kreuz, 312–318, Riesenberger, Das Deutsche Rote Kreuz, 335–337 und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 288–291. 306 Siehe Utrechtsch Nieuwsblad und andere niederländische Tageszeitungen vom 24. Juli 1942. 307 Eidesstattliche Erklärung Seyß-Inquarts für Reuter vom 27. September 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 714, Mappe 114 und Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 75. In dem gleichen Sinn hatte sich Seyß-Inquart in seiner Rundfunkansprache vom 7. Januar 1945 geäußert (Was nun?, 13 f.).

6.4 Grenzen der Gleichschaltung

273

das Rote Kreuz zu einem „deutschen Instrument“ degradiert zu haben, mit dem man nicht zusammenarbeiten könne.308 Zu diesem Zeitpunkt waren Nazifizierung und Gleichschaltung freilich nicht mehr die vorrangigen Ziele der Besatzungsmacht. Schon vier Monate vorher hatte Seyß-Inquart in Braunschweig vor HJ-Führern in erstaunlicher Offenheit zugegeben, dass es dem Reichskommissariat nicht gelungen war, diese Ziele in den Niederlanden zu erreichen: „Wir müssen […] in aller Offenheit […] eingestehen, dass wir uns durch die Besetzung nicht beliebt machen, obwohl – und das ist das Tragische – wir wahrscheinlich den besetzten Gebieten viel Gutes bringen […]. Doch alles, was wir bringen, […] wird mehr oder weniger abgelehnt, weil es als eine Einmischung in die eigenen Verhältnisse empfunden wird. Ich glaube, wir machen in den besetzten Gebieten den Fehler, dass wir alles selbst machen wollen und zwar nach einer Methode der Gleichschaltung, indem wir trachten, dass alles so organisiert wird und funktioniert, wie wir es bei uns selbst haben oder vielleicht nur haben wollen. Infolgedessen haben die Bewohner dieser besetzten Gebiete den Eindruck, dass sie geschulmeistert werden, und unser Verhalten geht im allgemeinen so weit, dass wir selbst diejenigen, die sich in irgendeiner Weise als unsere Parteigänger, wenn vielleicht auch nicht als vollkommene zeigen, vor der Öffentlichkeit des eigenen Landes schulmeistern und daher leicht lächerlich machen, obwohl sie sich durch ihre positive Stellungnahme für uns ohnehin schon in den Augen der eigenen Landsleute exponiert hatten.“ Seyß-Inquarts offenherzige Selbstkritik an der gewaltsamen Politik von Nazifizierung und Gleichschaltung der Besatzungsjahre schloss Kritik am „widerspruchsvollen Verhalten verschiedener nebeneinander arbeitender deutscher Instanzen“ und „das wenig nationalsozialistische Verhalten nur geschäftlich interessierter und wenig sauber arbeitender Volksgenossen“ ein. Sie gipfelte in der zutreffenden Schlussfolgerung: „Eine Chance verstanden wir den besetzten Gebieten nicht zu geben.“309 Er schloss zwar immer noch nicht aus, dass die ‚germanische‘ Bevölkerung der Niederlande einmal von selbst zum Nationalsozialismus finde. In der letzten Phase der Besatzungsgeschichte aber lag das Hauptaugenmerk des Regimes nicht mehr auf Nazifizierung und Gleichschaltung, sondern auf dem Kampf gegen den Vormarsch der Alliierten, auf der Abwehr der drohenden Niederlage und schließlich auf den Problemen, die der Hungerwinter mit sich brachte. Bis dahin jedoch waren Nazifizierung und Gleichschaltung zentrale Anliegen von Seyß-Inquarts Politik in den besetzten Niederlanden gewesen, die er durch die Kombination von staatlicher Machtpolitik und dem Einsatz einheimischer Faschisten zu erreichen gesucht hatte. Im Hinblick auf die angestrebte (Selbst-)Nazifizierung der niederländischen Gesellschaft verdient im Folgenden das komplexe Verhältnis des Reichskommissars zu der größten – und ab Ende 1941 einzigen – Kollaborationspartei NSB besondere Aufmerksamkeit.

308 Zit. nach: De Vries, M. C. 1941–1945, Dok. E 6, 248. 309 Seyß-Inquart, Worum es geht, 41 f.

Kapitel 7:

Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘ (NSB)1

Seyß-Inquarts Verhältnis zur Nationaal-Socialistische Beweging zeichnete sich durch Vielschichtigkeit aus und war nicht frei von taktisch motivierten Schwankungen und Ambivalenzen. Im wesentlichen war seine Politik gegenüber der NSB während der fünf Besatzungsjahre abhängig von seiner persönlichen Einschätzung des Parteiführers Mussert und dem NSB-Hauptquartier in der Utrechter Maliebaan 35, von den Rivalitäten und Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Persönlichkeiten und Flügeln der Partei sowie von den Erwartungen oder Einstellungen, die die Reichsspitze bis hin zu Hitler und Himmler in Bezug auf die ‚Nationalsozialistische Bewegung‘ und deren Führungspersonal einnahm. Auch die divergierenden bis konträren Haltungen zwischen den Generalkommissaren Rauter und Schmidt bzw. Ritterbusch blieben nicht ohne Einfluss auf Seyß-Inquarts Umgang mit der Partei. Das Verhältnis des Reichskommissars zur NSB war somit in das multipolare Kräftefeld eingespannt, das die deutsche Herrschaft über die Niederlande kennzeichnete. Dieses Verhältnis soll im Folgenden im Anschluss an grundsätzliche Beobachtungen anhand von drei Themenfeldern exemplifiziert werden: der möglichen Bildung einer niederländischen Regierung unter Mussert, der Verfügungsgewalt über die niederländischen SS-Freiwilligen und den innerparteilichen ‚Säuberungen‘, mit deren Hilfe Mussert an der Jahreswende 1944/45 den großgermanischen Flügel um Rost van Tonningen aus der Parteiführung eliminieren wollte. Diese ausgewählten Themenfelder können zwar nicht umfassend analysiert werden, und sie erschöpfen keinesfalls das Verhältnis des Reichskommissariats zur NSB. Sie bringen aber Seyß-Inquarts Politik gegenüber dieser niederländischen Kollaborationspartei im Kontext der allgemeinen Bedingungen, die für die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden konstitutiv waren, prägnant zum Ausdruck. Am Rande wird auch deutlich, 1

Für einen Überblick über die Geschichte der NSB während der Besatzungszeit siehe Damsma, Nazis in the Netherlands. Für die ersten vier Jahre des Bestehens dieser Partei (1931–1934) liegt die fundierte und umfangreiche Studie von Te Slaa und Klijn vor (De NSB). Außerdem sei verwiesen auf regionalhistorische Untersuchungen (wie Damsma/Schumacher, Hier woont een NSB’er zu Amsterdam) und biografische Literatur über führende Funktionäre der Partei, beispielsweise Meyers, Mussert, Pollmann, Mussert & Co., Van der Boom, Kees van Geelkerken und Barnouw, Rost van Tonningen.

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Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘

dass die Generalkommissare Schmidt und Rauter als die politischen Platzhalter für NSDAP­ und SS in ihrem Verhältnis zur Nationaal-Socialistische Beweging nicht immer an einem Strang zogen. Mehr als auf anderen Arbeitsfeldern musste der Reichskommissar auf diesem Gebiet versuchen, divergierenden Vorstellungen seiner engsten Mitarbeiter Rechnung zu tragen – und trotzdem eine möglichst konsistente Politik der Besatzungsmacht gegenüber dem begrenzten Reservoir an Niederländern zu formulieren, die zu Kollaboration bereit waren. Erschwert wurde diese Aufgabe dadurch, dass Hitler sich weigerte, während des laufenden Krieges die Rolle der NSB festzulegen. 7.1 Ambivalente Grundhaltung

Im Allgemeinen war Seyß-Inquarts Haltung zu Musserts Partei von einer ambivalenten Haltung getragen. Auf der einen Seite wurde die NSB von seiner Behörde gefördert, weil sie im Gegensatz zu allen ‚linken‘, bürgerlichen und konfessionellen Parteien ohne weiteres für Kollaboration mit dem NS-Regime eintrat und zugleich eine größere Verbreitung in der niederländischen Gesellschaft zu verzeichnen hatte als die faschistischen Splitterparteien der ‚Nationalen Front‘ und der NSNAP. Immerhin war ihr Mitgliederbestand nach dem Westfeldzug innerhalb weniger Monate von etwa 30.000 auf 80.000 Personen gestiegen, und diese Größenordnung, von der die anderen faschistischen Parteien weit entfernt waren, konnte die Nationaal-Socialistische Beweging grosso modo bis 1944 halten.2 In diesem Sinn wurde die NSB als ein wichtiges autochthones Instrument für die angestrebte (Selbst-)Nazifizierung des Landes angesehen. Solange man im Reichskommissariat davon ausging, dass Deutschland den Krieg gewinnen würde, war dieser Partei die Aufgabe zugedacht, das ideologisch geeignete Personal für eine nazifizierte Staatsverwaltung nach Kriegsende zu stellen. Und nach dem Überfall auf die Sowjetunion erwartete die Besatzungsmacht, dass sich vor allem die Mitglieder der NSB an der Seite des Großdeutschen Reiches am Kampf in Osteuropa beteiligen würden. Die Persönlichkeit des Parteiführers stellte Seyß-Inquart in Berichten an Hitler zwar stets mit negativen Charakterisierungen dar. So beschrieb er Mussert in seinem ersten Bericht vom Juli 1940 als „einen liberalen Nationalisten mit dem Versuch faschistischer Methoden, der letztlich vor dem Großdeutschen Reich Angst hat“ und in seinen politischen Qualitäten nicht über das Niveau „eines durchschnittlichen Gauleiters im Reich“ hinausrage. 3 Und in seinem für Hitler bestimmten Sonderbericht über die Entwicklung und Lage in den besetzten niederländischen Gebieten vom 21. September 1941 skizzierte er Mussert unter anderem als „sehr mißtrauisch, überdies geltungsbedürftig, um nicht zu sagen eitel“ und monierte, „daß unter Billigung der Führung der NSB Freimaurer bis in die oberste Parteileitung kamen, auch Juden grundsätzlich nicht nur nicht ausgeschlossen waren, sondern maßgebliche Stellungen innehatten […] und daß vor allem in konfessionellen Fragen […] die Einstellung der NSB-Leitung nach nationalsozialistischen Begriffen vollkommen unzulänglich war.“ Trotz2 Blom, Nederland onder Duitse bezetting, 495. 3 Seyß-Inquart, 1. Bericht, 416.

7.1 Ambivalente Grundhaltung

277

dem erkannte der Reichskommissar an, dass Mussert über „eine echte Gefolgschaft in der nationalsozialistischen Bewegung“ verfüge, und daraus könne Deutschland nur eine Konsequenz ziehen: „Wenn die NSB die tragende politische Bewegung werden soll, so geht dies nur mit Mussert.“4 Die Pflege eines positiven Verhältnisses zur NSB bot Seyß-Inquart auch die Möglichkeit, die Partei durch eine geschickte Instrumentalisierung von innerparteilichen Flügelkämpfen nach seinen Bedürfnissen zu manipulieren. Wenn er nämlich die Parteiführung um Mussert, die ebenso wie der überwiegende Teil der Parteimitglieder mehrheitlich eine Annexion durch Deutschland und eine Integration ins Reich ablehnte, unterstützte, konnte er den radikal-völkischen Flügel um Rost van Tonningen schwächen, der vorbehaltlos für Judenverfolgung und den Anschluss an das Großdeutsche Reich eintrat – und umgekehrt. Die Stärke oder Schwäche dieses Flügels wiederum hatte Auswirkungen auf die Position des SS-Apparats in den Niederlanden: Die Förderung Rost van Tonningens durch das Reichskommissariat kam Himmler und Rauter als dessen politischen Mentoren zugute, während Seyß-Inquart die Unterstützung Musserts einsetzen konnte, um die unaufhaltsame Ausbreitung der SS in den Niederlanden wenigstens zu retardieren. Auch wenn er durchgängig viel Wert auf ein gutes persönliches und politisches Verhältnis zu Himmler und Rauter legte, der großgermanischen Ideologie der SS anhing und gelegentlich dem Flügel um Rost van Tonningen entgegenkam, nahm SS-(Ober-)Gruppenführer Seyß-Inquart regelmäßig Mussert und dessen Mitarbeiter im Hauptquartier der Partei gegen den Vorwurf von Seiten der SS in Schutz, die NSB-Führung widersetze sich einer Einordnung in das angestrebte Großgermanische Reich und verfolge eine „separatistische, dietsche Politik“.5 Am allerwenigsten ist er der frühzeitig erhobenen Forderung Rost van Tonningens nach einem „Personenwechsel in den verschiedenen führenden Stellungen“ der NSB nachgekommen.6 In diesem Sinn profitierten Seyß-Inquart und die NSB-Führung um Mussert in gewisser Weise in einer symbiotischen Beziehung von höchst ungleichen Partnern voneinander. Andererseits war Seyß-Inquart nicht geneigt, die NSB von vornherein zu privilegieren. Deren Mitglieder mussten die Erfahrung machen, dass ihnen die ‚Verdienste‘, die sie sich vor dem Westfeldzug bei ihren Bemühungen um den Aufbau einer faschistischen Gesellschaft in ihrem Land erworben hatten, nicht automatisch den Weg an die Schalthebel der Macht freimachten. Die Weigerung der Besatzungsmacht, den oft langjährigen Kampf der niederländischen Parteigenossen gegen das demokratisch-parlamentarische System des Königreichs der Niederlande ab Mai 1940 umstandslos mit einflussreichen Stellen zu belohnen, war freilich nicht ausschließlich eine persönliche Entscheidung von Reichskommissar Seyß-Inquart. Sie 4 5

6

BArch, NS 19/2860, Bl. 209–217, Zitate Bl. 215, 209 und 212 f. So beispielsweise Rauter an Himmler vom 28. April 1942, BArch, NS 19/1543, Bl. 23; ähnlich Himmler an Rauter vom 13. März 1942, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 128, 663. Zu einer vergleichbaren Einschätzung des Verhältnisses zwischen Seyß-Inquart, dem SS-Apparat und der NSB kommt In ’t Veld in Inleiding, 159 f. Rost van Tonningen an Seyß-Inquart vom 18. September 1940, zit. nach: Correspondentie van Mr. M. M. Rost van Tonningen, Bd. 1, Dok. 103, 458. Ähnlich sein Brief an Seyß-Inquart vom 24. August 1940, in: ebd., Dok. 80, 415–423.

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Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘

Abb. 13: Seyß-Inquart und Mussert mit deutschen und niederländischen Nationalsozialisten beim Festakt zum zehnjährigen Jubiläum der NSB am 14. Dezember 1941 in Utrecht.

entsprach vielmehr einem Muster, das sich in zahlreichen nationalsozialistischen Besatzungsverwaltungen ausmachen lässt.7 In den Niederlanden boten Existenz und Aktivitäten anderer niederländischer Parteien der Besatzungsmacht bis Dezember 1941 die Möglichkeit, die NSB in ihrem Buhlen um die Gunst des Reichskommissars permanent unter Druck zu setzen und auf diese Weise in Abhängigkeit von der deutschen Politik zu halten. So rief Seyß-Inquart die niederländischen Faschisten beispielsweise nach dem Februarstreik zu Anstrengungen auf, „den einzelnen niederländischen Volksgenossen von der Richtigkeit der politischen Idee des Nationalsozialismus zu überzeugen, um so durch die Gewinnung der politisch maßgebenden Schichten zur tragenden politischen Bewegung des niederländischen Volkes zu werden.“8 Wie alle anderen Parteien sollte sich die NSB zugunsten des Nationalsozialismus und der ‚Neuen Ordnung‘ bewähren. Zunächst wollte Seyß-Inquart denn auch beobachten, welche der niederländischen Parteien oder politischen Bewegungen sich im Hinblick auf Kollaborationsbereitschaft und auf die Gewinnung einer möglichst breiten Anhängerschaft am ehesten durchsetzen würde und sich für die deutsche Besatzungspolitik am besten würde einspannen lassen. Diese Haltung war nicht nur taktisch motiviert. Sie entsprach auch der sozialdarwinistisch fundierten Vorstellung der Nationalsozialisten, dass Kampf und Auseinandersetzungen probate Mittel seien, um den ‚stärksten‘ Partner für die Umsetzung der eigenen Politik ermitteln zu können. 7 Vgl. Pohl, Herrscher und Unterworfene, 277 f. 8 Seyß-Inquart, Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [12. März 1941], 50.

7.1 Ambivalente Grundhaltung

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Nachdem – wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt – alle anderen niederländischen Parteien sukzessive gleich- oder ausgeschaltet worden waren, erklärte Seyß-Inquart die NSB mit ausdrücklicher Zustimmung Hitlers zur einzig zugelassenen politischen Partei in den besetzten Niederlanden. Dies tat er am 14. Dezember 1941 auf einem Festakt, der in Anwesenheit von Helmuth Friedrichs als dem Vertreter der Münchener Parteikanzlei aus Anlass des zehnjährigen Bestehens der NSB in Utrecht stattfand. Schon die bloße Anwesenheit des Reichskommissars hatte symbolische Bedeutung, denn im ersten Besatzungsjahr hatte Hitlers Statthalter eine persönliche Teilnahme an der traditionellen Feier des Gründungstages der niederländischen Kollaborationspartei vermieden. Nun lobte Seyß-Inquart in seiner Festrede die Nationaal-Socialistische Beweging als eine „zum Kampf entschlossene Gruppe von Männern und Frauen“, die sich unter ihrem ‚Führer‘ Mussert gegen allerlei Gegner habe durchsetzen müssen wie seinerzeit die NSDAP in Deutschland.9 Seyß-Inquart ließ hier – möglicherweise bewusst – offen, ob er den Begriff des Kampfes auf Staat und Gesellschaft des niederländischen Königreichs (bis Mai 1940), auf die Rivalität mit den anderen, nun aufgelösten faschistischen Parteien (Mai 1940 bis Dezember 1941) oder auf beide Phasen der NSB-Geschichte bezogen wissen wollte. Für die Zukunft jedenfalls nahm der Reichskommissar die NSB in die Pflicht. Er sprach nämlich die Erwartung aus, dass sich die niederländischen Faschisten für „die größere Gemeinschaft“ all derer einsetzen müssten, „die durch ihr nordisch-arisches Blut in der höheren Schicksalsgemeinschaft der germanischen Völker in der Mitte und im Norden Europas vereinigt sind.“ Dies war eine klare Absage an jedwede national-niederländische Tendenz. Die Nationaal-So­ci­a­lis­ti­sche Beweging war aufgerufen, ihre privilegierte Stellung dadurch zu rechtfertigen, dass sie sich in die „Neuordnung Europas“ im Sinne des Aufbaus eines Großgermanischen Reiches einfügte.10 Explizit wurden die Mitglieder der NSB in diesem Zusammenhang aufgefordert, sich am Krieg gegen die Sowjetunion zu beteiligen. Nur so könne man sich „das Recht“ erwerben, „im politischen, also für die Gemeinschaft verantwortlichen Bereich mitzureden.“11 Damit blieb die NSB auch dann weiterhin zur ‚Bewährung‘ an der Seite des nationalsozialistischen Deutschlands aufgerufen, nachdem ihr von der Besatzungsverwaltung die politische Alleinvertretung der niederländischen Bevölkerung zugesprochen worden war. Die Aufwertung der NSB zur einzig zugelassenen Partei hatte sich Mussert dadurch ‚erkauft‘, dass er zwei Tage vorher bei einem Empfang durch Hitler in der Reichskanzlei zu Berlin in Anwesenheit von Seyß-Inquart, Lammers und Generalkommissar Schmidt persön-

9 Seyß-Inquart, Aus Anlass der 10. Jahresversammlung der NSB, 80 f. Alle Ansprachen des Festakts sind auf Niederländisch veröffentlicht worden in: Seyß-Inquart, Toespraak. Weitere Presseberichte über den Festakt vom 14. Dezember 1941 befinden sich unter anderem in der DAZ vom 16. Dezember 1941, niederländische Zeitungsartikel sind über NIOD, KA I 3408 zu erschließen. Eine von Mussert handgeschriebene Einladung Seyß-Inquarts zum zehnjährigen Jubiläum befindet sich in: NIOD, 123/113. 10 Seyß-Inquart, Aus Anlass der 10. Jahresversammlung der NSB, 82. 11 Ebd., 83. Ähnlich seine Ausführungen auf einer Zusammenkunft des Arbeitsbereichs der NSDAP in den Niederlanden am 13. Mai 1942, referiert in Het Nationale Dagblad vom 14. April und im Bukarester Tageblatt vom 16. April 1942 (BArch, R 4902/1499).

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Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘

lich auf Hitler „als germanischem Führer Treue bis in den Tod“ geschworen hatte.12 Diese Formulierung ging weit über die Erklärung hinaus, die Mussert am 4. September 1940 in Seyß-Inquarts Den Haager Dienststelle auf Hitler abgelegt hatte. Damals war es für den Führer der NSB und seine beiden Stellvertreter Van Geelkerken und Rost van Tonnigen darum gegangen, „das Wohl des Niederländischen [sic] Volkes“ in Hitlers Hände zu legen.13 Seyß-Inquart, der diese Erklärung in Anwesenheit von Schmidt, Wimmer und Rauter entgegengenommen hatte und das unterschriebene Exemplar dieser Erklärung samt einer Denkschrift Musserts am Folgetag Hitler bei einer persönlichen Begegnung überreicht hatte, hatte hierin die Voraussetzung dafür gesehen, dass „das niederländische Volk die Gelegenheit bekommt, zur vollen Entwicklung zu kommen.“14 Mit der Treueerklärung von 1940 hatte die NSB-Führung bereits den ersten formellen Schritt getan, der in der Folgezeit zu einer immer größer werdenden Abhängigkeit von Hitler führen sollte.15 Tatsächlich wurde die Bindung der niederländischen Kollaborationspartei an das Großdeutsche Reich mit Musserts Treueid vom 12. Dezember 1941 forciert. Dies geschah nicht nur im Hinblick auf den Krieg gegen die Sowjetunion. Sie war auch willkommen vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Hitler am Tag zuvor kurz nach dem Angriff der japanischen Streitkräfte auf die amerikanische Pazifikflotte in Pearl Harbor (7. Dezember) auf einer Reichstagssitzung in der Berliner Krolloper – übrigens in Anwesenheit von Seyß-Inquart und Schmidt sowie von Mussert und weiteren niederländischen Faschisten wie Müller-Lehning und Van Geelkerken16 – den USA den Krieg erklärt hatte. Im Anschluss an Musserts Eidesleistung vom 12. Dezember 1941 sprach Hitler denn auch unmissverständlich von „der Notwendigkeit eines Zusammengehens der germanischen Völker“. Damit war die niederländische Beteiligung an den Kriegen gemeint, die das Großdeutsche Reich an mehreren Fronten führte. Zwei andere Optionen hingegen wurden für die NSB einmal mehr ausgeschlossen: eine eigenständige, national-niederländisch ausgerichtete Politik und der großniederländische (‚dietsche‘) Gedanke, der auf eine Vereinigung der Niederlande mit Flandern zielte.17 Auf ei12 Luther an Ribbentrop vom 3. Januar 1942, PA AA, R 29678. Siehe auch das Protokoll in: RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, Dok. 6, 322. Als Faksimile ist das Protokoll zum 12. Dezember 1941 samt Eidesformel abgedruckt in: Nederland in Oorlogstijd vom 12. April 1947, 102. 13 In seiner Erklärung fügte Mussert hinzu: „In dem Bewusstsein, dasz [sic] alle Ihre Entschlüsse und Befehle letzten Endes auch zum Wohle des Niederländischen [sic] Volkes sind, erwarten wir Ihre Befehle.“ Zit. nach: RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, Dok. 3, 315. Siehe auch den Eintrag in Musserts Tagebuch zum 4. September 1940, in: ebd., 61. 14 Zit. nach: ebd., Dok. 4, 316. Musserts erwähnte Denkschrift ist abgedruckt in: Cohen (Hrsg.), Vijf nota’s van Mussert aan Hitler, 16–32; sie datiert vom 27. August 1940. 15 In ’t Veld, Inleiding, 241. Kwiet sieht in der Treueerklärung einen bemerkenswerten politischen Erfolg Seyß-Inquarts und Schmidts: Sie hatten Mussert „zu einer Unterwerfung unter Hitler gezwungen, ohne ihm auch nur das geringste politische Zugeständnis zu machen.“ (Reichskommissariat Niederlande, 135) 16 Siehe Musserts Bericht in: RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, Dok. 5, 319. 17 Vgl. Musserts Bericht in ebd., Dok. 5, 320. Trotzdem gab Mussert die Hoffnung nicht auf, „dass die Zeit kommen wird […], dass der Führer selbst den Wunsch haben wird, dass ich mich auch mit den Südlichen Niederlanden befassen soll.“ (ebd.) Dass Mussert mit den Südlichen Niederlanden Belgien meinte, ist zwar nicht ausgeschlossen, aber weniger wahrscheinlich als eine Bezugnahme auf das niederländischsprachige Flandern. Im

7.1 Ambivalente Grundhaltung

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ner Nachbesprechung im Hotel Kaiserhof präzisierte Seyß-Inquart im Gespräch mit Schmidt und Mussert, dass eine Annäherung zwischen Flandern und den Niederlanden allenfalls erreicht werden könnte, nachdem die beiden Länder jeweils für sich „die Bindung mit Deutschland“ verstärkt hätten.18 Mit anderen Worten: Hitler und Seyß-Inquart räumten weder Flandern noch den Niederlanden eine autonome Entscheidung über eine Zusammenarbeit oder gar eine staatliche Vereinigung der beiden westeuropäischen Länder ein. Die Führung des Großdeutschen Reiches wollte das Verhältnis zwischen den beiden ‚germanischen‘ Völkern moderieren und kontrollieren. Nicht einmal für die Nachkriegszeit dachte Hitler daran, „alle kleinen Staaten im selben Vertrag und im selben Verhältnis zum Reich aufzunehmen“; wie er am 2. Dezember 1943 Mussert und Van Geelkerken in Anwesenheit von Seyß-Inquart, Ritterbusch, Lammers und Bormann darlegte, wollte die Reichsführung nach Kriegsende „mit jedem einzelnen dieser Gebilde Einzelverträge abschliessen“.19 Und selbst für einen solchen Bilateralismus, der die außenpolitische Unselbstständigkeit der „kleinen Staaten“ ebenso wie die deutsche Führungsrolle in Kontinentaleuropa nach dem erwarteten Endsieg zementieren sollte, erwartete der ‚Führer‘ von der niederländischen und der flämischen Bevölkerung ein spürbares militärisches Engagement an der Seite des nationalsozialistischen Deutschlands während des Krieges. Nur unter dieser Voraussetzung erhielt die NSB, wie Mussert am Tag seiner Vereidigung auf Adolf Hitler im Dezember 1941 vor Augen geführt wurde, die begehrte Stellung der einzig zugelassenen niederländischen Partei. Eine Zeitung wie das Utrechtsch Nieuwsblad meinte zwar, mit der Erklärung der NSB zur einzig zugelassenen Partei hätten die Deutschen „die Grundlage der Verwaltung abgetreten“, und weitere Schritte zur Übernahme von politischer Verantwortung seien zu erwarten.20 Für einen derart naiven Optimismus, der innerhalb der NSB weit verbreitet war, gab die deutsche Besatzungspolitik allerdings keinen Anlass – konnte Musserts Partei doch in den Niederlanden mitnichten jene einzigartige Position einnehmen, die die NSDAP in Deutschland seit dem Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. Juli 1933 und dem Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1. Dezember 1933 innehatte.21 Vielmehr blieb das Verhältnis zwischen Besatzungsmacht und NSB voller Spannungen, falscher gegenseitiger Erwartungen und beidseitiger Enttäuschungen, und bis Kriegsende wurden Mussert und seine Partei vom Reichskommissariat hingehalten. Aufschlussreich hierfür ist eine für das deutsch-niederländische Verhältnis in der Besatzugszeit essenzielle Frage: die nach der Bildung einer niederländischen Regierung.

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Hinblick auf den ‚dietschen‘ Gedanken spricht Grunert für die gesamte Besatzungszeit von einem „sich durch alle deutschen Instanzen ziehenden Willen, Kontakte politischen Charakters zwischen flämischen und niederländischen Faschisten zu unterbinden.“ (Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen, 132) Zit. nach Musserts Bericht in: RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, Dok. 5, 320. Diese Ausführungen des Reichskommissars bezeichnete Mussert als „berechtigt“ (ebd.). So die Darstellung im Schreiben Rauters an Himmler vom 9. Dezember 1943, BArch, NS 19/1556, Bl. 191. Ähnlich Van Geelkerken in seinem Bericht, in: RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, Dok. 9, 330 f. Utrechtsch Nieuwsblad vom 16. Dezember 1941. Siehe RGBl. 1933/I, 479 und 1016.

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7.2 Die Frage einer NSB-Regierung

Während die NSB vor dem Westfeldzug keinerlei Aussicht auf die Bildung eines Kabinetts gehabt hatte, schien für sie mit der deutschen Besetzung des Landes die Gelegenheit gekommen zu sein, mit Regierungsverantwortung betraut zu werden. Von Anfang an stand dies jedoch unter dem Schatten der Ereignisse, die sich knapp einen Monat vorher in Norwegen abgespielt hatten: Hier hatte Vidkun Quisling als Führer der faschistischen Partei Nasjonal Samling mit dem Einmarsch der deutschen Truppen am 9. April 1940 einen Staatsstreich inszeniert und sich mit Hitlers Billigung an die Spitze einer Regierung gestellt, hatte aber innerhalb weniger Tage auf deutschen Druck hin zurücktreten müssen, weil rasch deutlich wurde, dass sein Kabinett von der dortigen Bevölkerung so gut wie einhellig abgelehnt wurde und den Widerstand gegen die deutsche Besetzung beflügelte.22 Angesichts dieses Desasters ließ sich die Reichsführung in den Niederlanden nicht erneut auf das Experiment ein, in einem besetzten Land die einheimischen Faschisten mit der Bildung einer Regierung zu beauftragen. Ob Mussert der Wandel der deutschen Haltung zwischen April und Mai 1940 bewusst war, lässt sich nicht klären. Immerhin legte er nicht eine komplette Kabinettsliste vor, sondern beschränkte sich darauf, das Innen- und das Justizministerium für seine Partei zu fordern. Dem deutschen Diplomaten Rudolf Likus, Verbindungsführer der Dienststelle Ribbentrop zum SS-Hauptamt und zum Reichsführer-SS, erklärte er am 21. Mai 1940 in Den Haag, er halte es für „notwendig, dass die NSB. als weitaus führende nationalsozialistische Parteiorganisation in geeigneter Weise durch die Gestellung zweier Sachverständiger in politischen Schlüsselpositionen beteiligt würde.“ Im übrigen stehe die NSB – so unterstrich Mussert in scheinbarer Bescheidenheit – „dem deutschen Reichskommissar gern mitarbeitend zur Verfügung.“23 Seine Bitte, von Hitler und Ribbentrop empfangen zu werden, um seine eigenen Vorstellungen über die politische Zukunft der Niederlande darzulegen und die Pläne der Reichsführung kennenzulernen, wurde in Berlin jedoch längere Zeit unübersehbar ignoriert. Selbst Seyß-Inquart ließ sich geradezu demonstrativ Zeit, den Führer der niederländischen Nationalsozialisten zu einer Audienz zu empfangen. Während dessen innenpolitischer Rivale, der großgermanisch eingestellte Rost van Tonningen, bereits am 2. Juni 1940 ein Gespräch mit dem Reichskommissar führen konnte, erhielt Mussert erst drei Tage später die Gelegenheit, den Chef der deutschen Zivilverwaltung persönlich kennenzulernen. Hierbei wurde der NSB-Führer zwar ermuntert, sich mit seiner Partei dafür einzusetzen, die niederländische Bevölkerung für den Nationalsozialismus zu gewinnen. Von einer Beteiligung der NSB an einer Regierung war bei dieser Unterhaltung jedoch keine Rede. Erst einmal müsse die Partei unter Beweis stellen, dass sie in der Lage sei, die Niederländer im Sinne der deutschen Besatzungspolitik zu beeinflussen. Musserts Wunsch, wenigstens das Justiz- und das Innenressort mit einem NSB-Mitglied besetzen zu dürfen, gab 22 Siehe hierzu Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 12 f. und Dahl, Quisling, 187. 23 Aufzeichnung des Auswärtigen Amtes vom 25. Mai 1940, PA AA, R 27666, Bl. 306. Zu dem Gespräch mit Legationsrat Likus, an dem auch Graf De Marchant et d’Ansembourg teilnahm, siehe auch Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 76 f.

7.2 Die Frage einer NSB-Regierung

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der Reichskommissar nicht statt. Am allerwenigsten dachte er daran, eine vollwertige niederländische Regierung zu installieren. Vielmehr sollten die Generalsekretäre nach der Flucht der Minister nach England unter Aufsicht und Führung des Reichskommissariats die Arbeit der einzelnen Ressorts weiterführen, ohne jedoch – wie oben gezeigt – als Kollegium eine Art von Ersatz- oder Schattenregierung zu bilden. Und da Seyß-Inquart den amtierenden Generalsekretären am 29. Mai 1940 zugesagt hatte, von sich aus keinen dieser Spitzenbeamten aus dem Amt zu entlassen, war für die Betrauung von NSB-Mitgliedern mit Regierungsverantwortung zunächst einmal keine Möglichkeit gegeben. Im Laufe der Zeit wurden zwar immer mehr einheimische Faschisten in politisch einflussreiche Positionen gebracht. Doch einen Vertrauensvorschuss wollte Seyß-Inquart der Nationaal-Socialistische Beweging nicht von vornherein einräumen. Schon bei der ersten persönlichen Begegnung am 5. Juni 1940 machte er Mussert klar, dass die ‚Leistung‘ der Partei zugunsten der Durchsetzung des Nationalsozialismus über ihre politische Stellung im Land entscheiden würde.24 Zu einem ähnlichen Ergebnis musste der niederländische Faschistenführer kommen, als er am 23. September 1940 nach langem Hinhalten erstmals von Hitler in Berlin empfangen wurde. Der deutsche ‚Führer‘ hatte Mussert zwar vorher durch Seyß-Inquart ausrichten lassen, dass er die oben erwähnte Treueerklärung der NSB-Führung vom 4. September annehme, und bei der Gelegenheit in Aussicht gestellt, „dass der Nationalsozialismus in den Niederlanden durch die NSB unter Mussert verwirklicht werden solle“.25 Und nun, am 23. September, versicherte Hitler in der Neuen Reichskanzlei, dass er Seyß-Inquart den Auftrag erteilt habe, Mussert den Weg an die Macht zu ebnen. Doch die Bildung einer NSB-Regierung wurde wieder einmal ausdrücklich an die Gewinnung der einheimischen Bevölkerung für den Nationalsozialismus gebunden, und weil dies möglicherweise erst in der nächsten oder übernächsten Generation der Fall sein werde, hatte Hitlers Zusage weder verbindlichen Charakter noch konkrete Konsequenzen. Zu Recht kommt Kwiet zu dem Ergebnis, dass Hitler beim ersten Zusammentreffen mit Mussert nicht mehr versprach, als Seyß-Inquart am 5. Juni angekündigt hatte: „Erst wenn die NSB die Massen mobilisiert und die Bevölkerung für den Nationalsozialismus gewonnen habe, werde sie mit der ersehnten ‚Machtübernahme‘ belohnt werden.“26 Ein anderes Konzept, das in führenden NSB-Kreisen mit dem Ziel der Machtübernahme ausgearbeitet wurde, fand ebenfalls nicht die Billigung der Besatzungsmacht. Im Sommer 1940 entwarf der faschistische Verwaltungsjurist Carp den Plan, unter Verweis auf die Flucht der königlichen Familie nach Großbritannien den niederländischen Staatsrat mit der Regent24 Zu dem Gespräch Seyß-Inquarts mit Mussert siehe In ’t Veld, Inleiding, 226 unter Bezugnahme auf die Einträge in Musserts Tagebuch zum 4. und 5. Juni 1940 sowie Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 106 f. 25 Aus einem Bericht von Van Geelkerken, zit. nach: RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, Dok. 4, 316 f. 26 Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 137. Zum Empfang Musserts durch Hitler am 23. September 1940 in Anwesenheit von Seyß-Inquart, Schmidt, Lammers, Bormann, Van Geelkerken und Rost van Tonningen siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/2, 592–595 sowie den Bericht Van Geelkerkens in: RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, Dok. 4, 317–319.

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schaft zu betrauen, wie dies in der Landesverfassung für den Fall einer Thronvakanz oder der Abwesenheit des Staatsoberhaupts vorgesehen war.27 Mit diesem Plan war die Bildung „einer zentralen niederländischen Behörde“ angedacht, wohlgemerkt „unter der höheren Führung des deutschen Reichskommissars“. Carp zufolge sollte der Staatsrat von Seyß-Inquart ermächtigt werden, alle Angelegenheiten, die durch die niederländische Verfassung dem Gesetzgeber vorbehalten waren, im Wege von Verwaltungsmaßnahmen wie Verordnungen zu regeln. Durch „eine Revision unserer gesamten Gesetzgebung“ solle der Staatsrat „den Übergang zum Führerstaat“ vorbereiten, in dem Mussert anschließend die Regentschaft übernehmen und weiterführen solle.28 Aus Sicht der NSB bot ein derartiger Vorschlag mehrere Vorteile: Er hätte ihr den angestrebten entscheidenden Vorrang gegenüber allen anderen niederländischen Parteien eingeräumt; er hätte auf der Grundlage der niederländischen Verfassungsordnung die Stellung einer autochthonen Landesverwaltung gegenüber dem Besatzungsregime in Den Haag und der Reichsführung gestärkt; und er hätte Musserts unverkennbaren persönlichen Ehrgeiz befriedigt, nicht nur innerhalb seiner Partei, sondern auch im gesamten Land mit einer herausragenden Führungsposition beauftragt und mit exekutiven Machtbefugnissen ausgestattet zu werden. Bei Seyß-Inquart stießen Carps Ideen wenig überraschend auf Ablehnung. Wie er selber nach dem Krieg angab, bezweifelte er, dass der Plan einer Übertragung der Regentschaft auf den Staatsrat bzw. auf Mussert „der Ausgangspunkt einer wirklichen politischen Entwicklung sein koennte, weil er in weiteren niederlaendischen Kreisen hierfuer keine Bereitschaft fuehlte.“ Deshalb ließ er sich „nicht einmal auf eine vorbereitende Aenderung des Raad van State ein, sondern dieser amtierte in der alten Zusammensetzung weiter als eine verwaltungsrechtliche Instanz.“29 Die Behauptung, der Staatsrat habe in der bisherigen Zusammensetzung weitergearbeitet, trifft zwar nicht zu. Denn durch Verordnung 22/1940 hatte Seyß-Inquart die Tätigkeiten dieses Gremiums am 21. Juni 1940 ruhend gestellt.30 Doch die Vermutung, dass eine Regentschaft des Staatsrats bzw. Musserts von der niederländischen Bevölkerung nicht akzeptiert worden wäre, war in der Tat nicht von der Hand zu weisen. Gegen Carps Plan sprach auch, dass Seyß-Inquart in seiner Verordnung über die Ausübung der Regierungsbefugnisse in den Niederlanden selber alle Befugnisse an sich gezogen hatte, die nach der Verfassung und den Gesetzen bisher der Königin und ihrer Regierung zugestanden hatten;31 für einen Regenten war somit aus seiner Sicht weder politisch noch juristisch Platz. Zweimal lehnte er bei Gesprächen mit Mussert auch dessen Bitte ab, den Staatsrat zugunsten von NSB-Mitglie-

27 Siehe Art. 46 in der Fassung von 1938, in: De Boer/Sap, Constitutionele bronnen, 273. 28 Aus Carps Brief an Mussert vom 26. Juli 1940, zit. nach: RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, 45. Er wurde während der Verhandlung gegen Mussert vor dem Sondergerichtshof zu Den Haag am 27. November 1945 durch den Vorsitzenden Richter A. L. M. van Berckel vorgetragen. Zu diesem Plan siehe auch Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 172 f. 29 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 119 f. Die ablehnende Haltung gegenüber dem Carp-Plan bestätigte auch Mussert vor dem Den Haager Sondergericht; siehe RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, 47. 30 Siehe oben, S. 227. 31 VO 3/1940 vom 29. Mai 1940, § 1, in: VOBl. NL 1940, 8.

7.2 Die Frage einer NSB-Regierung

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dern zu ‚säubern‘: Am 16. August 1940 fand er dieses Ansinnen wohl deshalb „zu einschneidend“,32 weil er zu diesem Zeitpunkt nicht einseitig auf die Nationaal-Socialistische Beweging setzen, sondern besonders der ‚Niederländischen Union‘ eine Chance zur Sammlung der einheimischen Bevölkerung geben wollte. Zum Zeitpunkt einer Besprechung am 10. Februar 194233 wiederum hatte die NSB zwar mittlerweile nach der Aufhebung von Union und der anderen faschistischen Parteien eine Monopolstellung erreicht. Doch an einer politischen und staatsrechtlichen Aufwertung des Gremiums des Staatsrats war Seyß-Inquart jetzt ebenso wenig interessiert wie zu Beginn der deutschen Besatzung. Die Ausgangsbedingungen für die NSB zur Bildung einer niederländischen Regierung oder wenigstens zur eigenverantwortlichen Beteiligung an der politischen Verwaltung des besetzten Landes waren denn auch weitaus weniger günstig, als ihre führenden Politiker anfangs gehofft hatten. Die Partei sah sich gezwungen, anderthalb Jahre lang mit anderen kollaborationsbereiten Parteien um die Gunst des Reichskommissars und seiner Mitarbeiter zu rivalisieren. Erst nach Seyß-Inquarts Entscheidung, im Dezember 1941 der Nationaal-Socialistische Beweging das langersehnte Ziel eines Monopols einzuräumen, schöpfte Mussert erneut Hoffnung, von Hitler den Auftrag zur Bildung einer niederländischen Regierung zu erhalten und selber zum Ministerpräsidenten oder Staatsoberhaupt in den Niederlanden ernannt zu werden. Beflügelt wurde der NSB-Führer wohl durch die Tatsache, dass sein norwegisches ‚Pendant‘ Quisling am 1. Februar 1942 dann doch zum Ministerpräsidenten des besetzten nordischen Landes ernannt worden war und aus Mitgliedern seines Nasjonal Samling ein Kabinett zusammenstellte.34 Vor diesem Hintergrund wärmte Mussert im Juli Carps Plan wieder auf, den Staatsrat durch Seyß-Inquart mit NSB-Vertrauten besetzen zu lassen, das ‚gesäuberte‘ Gremium zum Inhaber der vakanten königlichen Gewalt zu erheben und sich selbst vom Staatsrat zum Regenten ausrufen zu lassen, damit er in der Folge als Staatsoberhaupt der Niederlande „eine verantwortliche Regierung“ bilden könne. Zur Bestreitung der Ausgaben, die ihm als zukünftigem Staatsoberhaupt und einem ihm unterstehenden Staatssekretariat entstehen würden, möge Hitler die als ‚Feindvermögen‘ beschlagnahmten Besitzungen des königlichen Hauses zur Verfügung stellen.35 Wie stand man damals im Reichskommissariat zur Bildung einer niederländischen Regierung unter Führung oder zumindest unter maßgeblicher Beteiligung der Nationaal-Socialistische Beweging? Einerseits hatten Seyß-Inquart und Generalkommissar Schmidt Grund, in der stärkeren Beteiligung der NSB an der Verwaltung des Landes ein probates Mittel zu sehen,

32 Aus der Anklageschrift gegen Mussert, zit. nach: RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, 72. 33 Vgl. ebd., 47 f. mit dem Hinweis auf einen Brief Musserts an Seyß-Inquart vom 4. März 1942. 34 Siehe hierzu Bohn, Reichskommissariat Norwegen, 48-56 mit einer Erläuterung der verfassungsrechtlichen und politischen Stellung von Quislings Regierung. Siehe auch Goebbels’ Kommentar: „Die Betrauung Quislings hat natürlich Mussert mobil gemacht, der für die Niederlande ein ähnliches Regime eingerichtet wissen möchte wie für Norwegen.“ Zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 3, 316 (15. Februar 1942). 35 Aktenvermerk Musserts vom 20. Juli 1942, in: RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, 166 f. Zu Musserts Forderung nach dem Zugriff auf das königliche Vermögen siehe auch unten, S. 442.

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um in ihrem ‚Herrschaftsbereich‘ eine Art von Gegengewicht gegen den SS-Apparat in Stellung zu bringen – besonders, nachdem sich im Sommer 1942 abzeichnete, dass die SS durch die oben behandelte Anordnung A 54/42 auch in den Niederlanden an Macht zunehmen würde.36 Es wird dem Reichskommissar auch bewusst gewesen sein, dass sich die Aussicht auf eine politische Aufwertung ihrer Partei positiv auf die Motivation der NSB-Mitglieder zu weiterer Kollaboration mit dem Besatzungsregime und zur Rekrutierung von Freiwilligen für den Einsatz an der Ostfront auswirken würde. Darüber hinaus hätte eine niederländische Regierung dazu gebracht oder gezwungen werden können, die niederländische Bevölkerung von Gesetzes wegen zu verstärktem militärischem Einsatz im Krieg gegen die Sowjetunion zu verpflichten. Andererseits bestand die Gefahr, dass die Betrauung der unpopulären NSB mit Regierungsverantwortung unter der einheimischen Bevölkerung Unruhe auslösen würde. In diesem Sinn warnte Otto Bene im März 1942 in einem Stimmungsbericht ans Auswärtige Amt, dass ein derartiger Schritt „die herrschende Bitternis wahrscheinlich auf den Siedepunkt bringen“ würde. Deshalb „scheine für Mussert und die NSB eine feierliche Übernahme der Staatsgewalt angesichts der vollen Kritik der sorgenbeladenen Bevölkerung im Augenblick nicht sehr geeignet.“37 Und wenige Tage später kamen Seyß-Inquart und Bene zu dem Ergebnis, „dass die ‚Machtübernahme‘ nicht für die nächste Zeit zu erwarten ist. Herr Mussert möchte zwar sehr gern eine ‚Machtübernahme‘ bis zu einem gewissen Grade eintreten lassen, jedoch hat der Reichskommissar ihm mitgeteilt, dass seiner Ansicht nach eine Machtübernahme für Mussert erst einen praktischen Wert haben könne, nachdem die endgültige Entscheidung in Russland gefallen sei.“38 Für die deutsche Besatzungsverwaltung in Den Haag war die Frage einer NSB-Regierung somit eine zweischneidige Angelegenheit. Insgesamt aber durfte Mussert immer noch nicht auf eine wohlwollende Förderung seines Anliegens durch Seyß-Inquart zählen. Im Gegenteil, in einem Bericht ans Auswärtige Amt vom 28. September 1942 fasste Otto Bene dessen Haltung folgendermaßen knapp zusammen: „Der Herr Reichskommissar denkt einstweilen nicht daran, Mussert zur Ministerpräsidentschaft vorzuschlagen.“39

36 Siehe Kap. 5.3. Den Zusammenhang mit Bormanns Anordnung A 54/42 vom 12. August 1942 betonen auch In ’t Veld, Inleiding, 289 und 420 sowie Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 147. Otto Bene äußerte in seinem Bericht ans Auswärtige Amt vom 28. September 1942 (PA AA, R 101102), dass Schmidt befürchte, im Gefolge dieser Anordnung die ihm bisher obliegende ‚Betreuung‘ der NSB an Rauter zu verlieren. 37 PA AA, R 101102; der Text stammt vom 10. März 1942. Ähnlich skeptisch äußerte sich Bene noch in der ersten Augusthälfte 1942 in einem Bericht ans Auswärtige Amt über eine Akzeptanz Musserts als Staatschef durch die niederländische Bevölkerung (ebd.). 38 Bene an Luther vom 16. März 1942, ebd. Im gleichen Sinn lehnte Seyß-Inquart am 30. März 1942 gegenüber Gottlob Berger eine Übertragung von Macht an die NSB mit den Worten ab, dass er „überhaupt nicht daran denke, dem Führer in der nächsten Zeit einen solchen Vorschlag zu machen.“ Zit. aus Schreiben von Rauter an Himmler vom 1. April 1942 nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 137, 679. 39 PA AA, R 101102.

7.2 Die Frage einer NSB-Regierung

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Trotzdem reiste Seyß-Inquart zwei Tage später nach Berlin, um zunächst mit Himmler und am Folgetag mit Hitler über die Bildung einer NSB-Regierung unter deutscher Führung zu reden – mit scheinbar höchst konträren Ergebnissen. Himmler habe „dem Gedanken der Machtergreifung [sic] Musserts durchaus nicht ablehnend, sondern stark positiv gegenüber gestanden.“ Himmler und Seyß-Inquart hätten bereits ins Auge gefasst, Mussert zum Ministerpräsidenten, Van Geelkerken zum Innenminister und Rost van Tonningen zum Wirtschaftsminister zu machen. Sie seien sich auch einig gewesen, dass es kein niederländisches Polizeiministerium geben solle, sondern die Aufsicht über die niederländische Polizei weiterhin dem Höheren SS- und Polizeiführer Nordwest unterstellt bleibe; „damit müßte sich Mussert unter allen Umständen abfinden.“40 Hitler hingegen hat sich am 1. Oktober 1942 bei dem Gespräch mit Seyß-Inquart nicht zur Bildung einer NSB-Regierung durchringen können. Der ‚Führer‘ tat das, was er am liebsten tat: Er behielt sich „die endgültige Entscheidung […] für einen späteren Zeitpunkt“ vor,41 und gab als Order aus: „Bisherige Politik soll weitergeführt werden, sodass bis auf weiteres hier alles beim alten bleiben wird.“42 Damit war eine Ernennung Musserts zum niederländischen Ministerpräsidenten von höchster Stelle für die Dauer des Krieges – und faktisch für immer – ad acta gelegt. Obwohl es nach außen hin den Anschein haben mag, ist unwahrscheinlich, dass Himmler und Hitler eine gegensätzliche Politik gegenüber der Nationaal-Socialistische Beweging verfolgten – standen beide Mussert und seiner Partei doch ausgesprochen skeptisch gegenüber. Die scheinbar kon­trären Positionen, die ‚Führer‘ und Reichsführer-SS bei ihren Gesprächen mit Seyß-Inquart Ende September/Anfang Oktober 1942 an den Tag legten, dürften vielmehr ein abgekartetes Spiel gewesen sein, in das der Reichskommissar einbezogen wurde: Während Himmler trotz der Geringschätzung, die er Mussert und dessen Partei gewöhnlich entgegenbrachte, überraschenderweise sehr wohl Bereitschaft signalisierte, die Bildung einer NSB-Regierung zu konzedieren, diente Hitlers abwartende Haltung dazu, Mussert unter Druck zu setzen, um ihn und seine Partei noch stärker zu einer Anbindung an bzw. Unterwerfung unter die deutsche Politik und Kriegsführung zu zwingen. In diesem Sinn ist die Forderung zu verstehen, die Seyß-Inquart an Mussert stellte, als er nach seiner Rückkehr in die Niederlande am 5. Oktober Mussert Hitlers Entscheidung bekanntgab. Bei dieser Gelegenheit habe er vom NSB-Führer nämlich verlangt, „daß er sich zur Germanischen SS positiv einstellen müsse und habe durchblicken lassen, daß gerade der Reichsführer-SS derjenige sei, von dem er seine

40 So der Bericht Rauters im Brief an Himmler vom 6. Oktober 1942, BArch, NS 19/1558, Bl. 7. Rauter bezog sich hier auf die Darstellung, die Seyß-Inquart ihm am Tag zuvor von seiner Besprechung mit Himmler gegeben hatte. Nach Seyß-Inquarts Gespräch mit Hitler unterhielten sich Himmler und Seyß-Inquart am Nachmittag des 3. Oktober erneut in Berlin über die Frage der Bildung einer NSB-Regierung; siehe Witte u. a. (Bearb.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers, 578 mit Anm. 21. 41 Mitteilung von Luther an Steengracht vom 8. Oktober 1942, IfZ, IMG-Dok. NG-5078. 42 Fernschreiben Otto Benes ans Auswärtige Amt vom 6. Oktober 1942, PA AA, R 101102 und R 29678. Ähnlich Bene in seinem vertraulichen Bericht ans Auswärtige Amt vom selben Tag (PA AA, R 101102). Seyß-Inquarts Darstellung des Gesprächs mit Hitler vom 1. Oktober 1942 hat Rauter in seinem Brief an Himmler vom 6. Oktober 1942 referiert: BArch, NS 19/1558, Bl. 7.

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besondere Unterstützung erwarten könnte.“43 Das Doppelspiel von Hitler, Himmler und Seyß-Inquart vom Herbst 1942 diente also dazu, Mussert und seine Partei einmal mehr mit ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ auf die von Deutschland vorgegebene Linie zu zwingen. Für Seyß-Inquart und das Reichskommissariat konnte Hitlers Entscheidung gegen die Bildung einer NSB-Regierung einerseits als eine Bestätigung der bisher verfolgten Politik aufgefasst werden, die auf eine möglichst weitgehende Bindung der niederländischen Faschisten an die deutsche Politik hinauslief, ohne ihnen reale Macht zuzugestehen. Andererseits waren die vor allem von Schmidt forcierten Bestrebungen, die NSB über die Betrauung mit Regierungsverantwortung als Gegengewicht zur SS zu stärken, mit Hitlers Order vom 1. Oktober 1942 gescheitert. Es war sogar das genaue Gegenteil eingetreten: Wie Seyß-Inquart bei seiner Unterredung mit Mussert am 5. Oktober deutlich machte, wurde die Nationaal-Socialistische Beweging zu einer Radikalisierung im Sinne einer stärkeren Anlehnung an den SS-Komplex gedrängt. Denn Hitler und Seyß-Inquart waren sich bei ihrer Unterhaltung einig gewesen, dass man die NSB im Laufe der Zeit zu einem „radikalen Kurs“ an der Seite Deutschlands bewegen müsse. Rauter zufolge hatte Seyß-Inquart dem ‚Führer‘ die Auffassung mitgeteilt, „dass Mussert mitziehen werde, wenn eine staatsrechtliche Form als Uebergangslösung gewählt würde, die ihm dazu die Möglichkeit böte.“44 Wie aber sollte eine Übergangslösung aussehen? Um auf der Grundlage des Gesprächs zwischen Hitler und Seyß-Inquart vom 1. Oktober 1942 Mussert von höchster Stelle vor Augen zu führen, welche Möglichkeiten der Nationaal-Socialistische Beweging aus Sicht der Reichsführung gegeben, aber auch welche Grenzen der Kollaborationspartei und ihrem Führer gezogen waren, wurde für Anfang November ein Empfang im Führerhauptquartier ins Auge gefasst.45 Er wurde jedoch auf den 10. Dezember verschoben; ob hierfür die sich zuspitzende militärische Lage bei Stalingrad verantwortlich war, lässt sich aus den Quellen nicht mit Sicherheit eruieren. Jedenfalls fand die „längere vertrauensvolle Aussprache“46 mit Hitler noch gerade rechtzeitig vor den Feierlichkeiten zum elften Jahrestag des Bestehens der NSB statt, die für den 13. Dezember anberaumt waren. Für Mussert und seinen Anhang muss das Treffen in der ‚Wolfsschanze‘ eine herbe Enttäuschung gewesen sein – zumal der Parteiführer im Vorfeld des Empfangs durch Hitler hochgesteckte Erwartungen zu Papier gebracht hatte. So hatte er am 22. November in einer Aktennotiz47 unter anderem die Hoffnung auf einen Führererlass mit der Verfügung formuliert, dass „Amtsernennungen“ zukünftig sowohl der Unterschrift des Reichskommissars als

43 So die Wiedergabe von Rauter im Schreiben an Himmler vom 6. Oktober 1942, BArch, NS 19/1558, Bl. 8. Vgl. auch den vertraulichen Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 6. Oktober 1942, PA AA, R 101102. 44 Rauter an Himmler vom 17. Dezember 1942, BArch, NS 19/1997, Bl. 2. 45 Fernschreiben Nr. 392 und 393 von Betz ans Auswärtige Amt vom 3. bzw. 4. November 1942, PA AA, R 29678. 46 So die Formulierung in der von Lammers autorisierten Presseverlautbarung vom 11. Dezember 1942, BArch, R 43 II/1463a, Bl. 76. 47 Deutsche Übersetzung in: BArch, NS 19/1993, Bl. 2.

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auch der des NSB-Führers bedürften. Auch schlug er vor, die NSB-Mitglieder Herweyer, Van Genechten und Van Ravenswaay zu Generalsekretären zu ernennen. Und schließlich kam er auf das mehrfach angeregte Projekt einer ‚Säuberung‘ des Staatsrats zugunsten von NSB-Mitgliedern zurück. Er zeigte zwar Bereitschaft, auf die einst von Carp geplante politische Aufwertung dieses traditionellen Gremiums des niederländischen Verfassungswesens zu verzichten, wollte aber den ‚gesäuberten‘ Staatsrat als sein Beratungsgremium „in staatspolitischen Angelegenheiten“ an sich selbst gebunden wissen. Derartige Ausführungen waren völlig unrealistisch; Musserts Anspruch auf tiefgreifende politische Partizipation und die Vorstellungen auf deutscher Seite klafften himmelweit auseinander. Weder im Reichskommissariat noch bei Hitler, Himmler oder Bormann gab es auch nur ansatzweise Bereitschaft, der NSB und ihrem Führer derart weitreichende Kompetenzen zuzugestehen. Diese Erfahrung musste Mussert bei dem Empfang durch den ‚Führer‘ am 10. Dezember 1942 machen. In Anwesenheit von Seyß-Inquart, Himmler, Bormann und Lammers, Schmidt und Fredrik Ernst Müller wiederholte Hitler zwar mit allgemein gehaltenen Formulierungen, dass die Nationaal-Socialistische Beweging „die einzige politische Willensäußerung des niederländischen Volkes“ sei, und er stellte in Aussicht, dass Mussert und seine Partei „in das öffentliche Leben der Niederlande“ eingeschaltet werden sollten.48 Doch mit keinem Wort ging er auf eine Einbeziehung des NSB-Führers bei Entscheidungen über die Besetzung von Ämtern oder auf eine ‚Säuberung‘ des Staatsrats ein. Am allerwenigsten erwähnte er die Möglichkeit, der Kollaborationspartei Regierungsverantwortung zu übertragen. Im Gegenteil, Hitler wandte sich sogar unter ausdrücklichem Verweis auf die Schwierigkeiten, denen Quisling bei der norwegischen Bevölkerung ausgesetzt war, gegen die Einsetzung einer autochthonen Regierung in einem besetzten Land. Erst müsse man den Krieg gewinnen, „ehe wir weitere Zukunftspläne erörtern können.“49 Zur Frage, welche Haltung der ‚Führer‘ am 10. Dezember 1942 Mussert gegenüber eingenommen hat, sind zwei divergierende Protokolle überliefert. Bormann zufolge trat Hitler seinen Gästen aus den Niederlanden harsch und geradezu geringschätzend entgegen. Ihm zufolge lehnte der ‚Führer‘ energisch einen „germanischen Staatenbund“ ab, wie ihn Mussert in einer Reihe von Denkschriften und Briefen an Hitler entworfen hatte.50 Während Mussert mit seinem Modell den einzelnen ‚germanischen‘ Ländern eine gewisse Eigenständigkeit gesichert wissen wollte, habe Hitler in der ‚Wolfsschanze‘ auf eine „feste Zusammenfügung“ dieser Länder unter deutscher Führung Wert gelegt; die niederländische Bevölkerung würde lediglich „als wertvolle Ergänzung bei dieser Konstruktion einkalkuliert.“51 Nach Müllers Protokoll hingegen stellte Hitler bei dem Empfang am 10. Dezember „eine gerechte und ehrliche Zusammenarbeit mit dem niederländischen Volk im neuen Europa“ in Aussicht, die Niederländer sollten nicht als ein besiegtes Volk behandelt werden. In diesem Zusammenhang habe der ‚Führer‘ Mussert sogar zugesagt, „niemals“ Entscheidungen zu fällen, „ohne vorher mit 48 Zit. aus dem von Müller erstellten Bericht nach: RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, Dok. 8, 326 f. 49 Hitler nach Bormanns Protokoll vom 14. Dezember 1942, BArch, NS 19/1556, Bl. 15. 50 Vgl. die von Cohen herausgegebene Edition Vijf nota’s van Mussert aan Hitler. 51 Hitler nach Bormanns Aktenvermerk vom 14. Dezember 1942, BArch, NS 19/1556, Bl. 15 f.

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Ihnen gesprochen zu haben. Niemals werden Sie etwas durch die Presse oder sonst erfahren, was ich nicht vorher mit Ihnen ausgemacht habe.“52 So sehr die genannten Protokolle in Ton und Inhalt voneinander abweichen – aus beiden Berichten lässt sich ablesen, dass Hitler angesichts der sich abzeichnenden Wende an der Ostfront nicht das geringste Interesse an einer substanziellen politischen Aufwertung von Mussert und dessen Partei hatte. Schon vor dem Empfang im Führerhauptquartier hatte die deutsche Seite festgelegt, dass eine Ernennung Musserts zum Ministerpräsidenten durch die Reichsführung „nicht in Aussicht genommen“ war. Wie Otto Bene einen Tag vorher ans Auswärtige Amt berichtete, sollte am 10. Dezember lediglich „vom Führer entschieden werden, ob bezw. [sic] wie Mussert ein gesetzlich festzu­ legendes Mitspracherecht eingeräumt werden kann, um ihn auf diesem Wege langsam weiter vorzuschieben.“53 Das konkrete Resultat des Besuchs der Delegation aus den Niederlanden bei Hitler war ausgesprochen mager. Für die NSB ergaben sich nur zwei praktische Folgerungen: Erstens wurde Mussert am 13. Dezember 1942 durch Seyß-Inquart auf der elften Gründungsfeier der NSB im Amsterdamer Concertgebouw öffentlich zum ‚Führer des niederländischen Volkes‘ ausgerufen.54 Der niederländische Begriff Leider bezog sich nun nicht mehr nur auf die Führungsposition innerhalb der Partei, sondern erstreckte sich auf die gesamte niederländische Bevölkerung. Im Unterschied zu Musserts innerparteilicher Führungsfunktion waren mit dem neuen Titel zwar keinerlei Machtbefugnisse verbunden, es handelte sich um einen reinen Ehrentitel. Immerhin aber wurde Mussert hierdurch unter den Kollaborateuren des westeuropäischen Raums hervorgehoben – erhielten doch weder im besetzten Teil von Frank52 Zit. nach: RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, Dok. 8, 326. 53 Bericht Otto Benes ans Auswärtige Amt vom 9. Dezember 1942, PA AA, R 29678. 54 Seyß-Inquart, Aus Anlass der 11. Jahresfeier der NSB, 112. Zu dieser Veranstaltung siehe die Berichte in der DZN vom 14. Dezember, in der DAZ vom 15. Dezember sowie im VB vom 16. Dezember 1942. Otto Bene kritisierte in seinem Bericht ans Auswärtige Amt vom 22. Dezember 1942 zwar die Tatsache, dass die Jubiläumsfeier der NSB „nach deutschem Vorbild“ entworfen worden sei und damit für die niederländische Bevölkerung, die zu einer „wenig bombastisch oder übertrieben wirkenden Aufmachung bei politischen Ereignissen oder bei Ansprachen leitender Staatsmänner“ neigen würde, „einen lächerlichen [,] leicht auch einen ärgerlichen Charakter“ angenommen habe. Seyß-Inquarts Rede aber zollte Bene Respekt: „Sofort fühlt man hier den Intellektuellen der österreichischen Schule, dem es […] gelingt, ein Publikum zu fesseln, selbst ein Publikum, das im Grunde anderer Meinung ist. Sein historisches und philosophisches Wissen, sein politischer Blick, verbunden mit den ruhigen und doch warmen Formen, in die er seinen Vortrag zu giessen weiss, sichern ihm Erfolg.“ (PA AA, R 99208, Bl. 1 und 3) Rauter hingegen beschwerte sich am 15. Dezember 1942 in einem Brief an Himmler, dass Seyß-Inquart Mussert und Generalkommissar Schmidt lobend herausgestellt habe, die SS jedoch nicht erwähnt und begrüßt habe (BArch, NS 19/1558, Bl. 24). Auch darüber hinaus entstand innerhalb der SS Unmut über Musserts Ernennung zum ‚Führer des niederländischen Volkes‘. Der SS-Ausschuss der Arbeitsgemeinschaft für den germanischen Raum, der am 12. Januar 1943 im Berliner SS-Hauptamt tagte, kam zu dem Ergebnis, diese Maßnahme habe sich „auf die übrigen germanischen Länder ausserordentlich beunruhigend ausgewirkt, vor allem auf Flandern“, und das vom Reichskommissariat praktizierte „Prinzip der ‚Abnützung‘ Musserts, um ihn hinterher fallen zu lassen, [muss] seitens einer germanischen Reichspolitik im Sinne der Schutzstaffel abgelehnt werden […].“ (zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 26, Dok. PS-705, 264)

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Abb. 14: Karikatur Zes-en-een-Kwart von Leendert Jurriaan Jordaan aus dem Jahr 1945 mit Seyß-Inquart und Mussert. Der Titel verballhornt den Namen des Reichskommissars: „Seyß und ein Viertel“ spielt auf die Tatsache an, dass Seyß-Inquart seit seinem Bergunfall am Ortler im Sommer 1928 hinkender Weise ein Bein nachzog.

reich noch in Belgien die Führer der jeweiligen Kollaborationsparteien einen äquivalenten Titel verliehen. Zweitens erließ Seyß-Inquart am 15. Dezember die Anordnung, „dass zur Sicherung des Einklanges der Verwaltung mit den Aufgaben der NSB alle mir unterstellten Dienststellen bei der Durchführung wichtiger Verwaltungsmassnahmen, insbesondere aber in allen Personalangelegenheiten, das Einvernehmen mit dem Leiter der NSB, Herrn Mussert, bezw. [sic] den von Herrn Mussert bestimmten Parteistellen der NSB zu pflegen haben.“55 Als Verbindungsstelle zwischen dem Reichskommissariat und dem Hauptquartier der NSB sollte ein sogenanntes Staatspolitisches Sekretariat ins Leben gerufen werden, für dessen Einrichtung sich Seyß-Inquart reichlich Zeit ließ. Erst am 30. Januar 1943, möglicherweise nicht zufällig am zehnten Jahrestag der Machtergreifung der NSDAP in Deutschland, erschien der Erlass, mit dem der Reichskommissar die Einschaltung des Staatspolitischen Sekretariats der Natio55 Rundschreiben Seyß-Inquarts vom 15. Dezember 1942, BArch, NS 19/1549, Bl. 7.

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naal-Socialistische Beweging der Nederlanden in die öffentliche Verwaltung dekretierte.56 Bemerkenswert an diesem Erlass ist nicht nur, dass Seyß-Inquart mit der um anderthalb Monate hinausgezögerten Veröffentlichung signalisierte, dass das Staatspolitische Sekretariat für ihn keine Priorität besaß. Bemerkenswert ist auch, dass die Mitglieder dieser Institution nicht unmittelbar mit dem Reichskommissar kommunizieren durften, sondern sich über die Generalkommissare mit der Besatzungsmacht ins Benehmen zu setzen hatten. Zugleich aber behielt sich Seyß-Inquart persönlich die Beschlussfassung in jenen Fällen vor, „in denen unter den gegebenen Verhältnissen vordringlich und in erster Linie der Standpunkt der Besatzungsmacht gewahrt werden muss […].“ Damit unterstrich er einmal mehr die souveräne Position, die er als der Vertreter des ‚Führers‘ und des Deutschen Reiches in den Niederlanden einnahm. Mit dem Rekurs auf die vorgebliche Wahrung von „Reichsinteressen“, die ihm Hitler in seinem Erlass vom 18. Mai 1940 zur Aufgabe gemacht hatte, konnte er bei Bedarf Vorschläge oder Wünsche des Staatspolitischen Sekretariats blockieren bzw. rückgängig machen. Außerdem bestand Seyß-Inquart darauf, dass die Mitglieder des Staatspolitiek Secretariaat „keinerlei Anweisungen und Verfügungen gegenüber niederländischen Dienststellen treffen“57 und damit unmittelbar politischen Einfluss auf die Verwaltungsarbeit im Lande ausüben konnten. In diesem Zusammenhang war von Bedeutung, dass es sich nicht um ein amtliches Organ, sondern um eine an die Partei gebundene Institution handelte – darauf wies schon die mit Bedacht gewählte offizielle Bezeichnung ‚Staatspolitisches Sekretariat der Nationaal-Socialistische Beweging der Nederlanden‘ unübersehbar hin. Insgesamt gesehen hatte das Staatspolitische Sekretariat eine prekäre Grundlage. Eine umfassende und effektive Einbeziehung der NSB in Prozesse von politischer Entscheidungsfindung und -durchsetzung konnte die Partei mit dieser Institution nicht erreichen. Sie taugte weder als Gegengewicht zu den Generalsekretären noch als Ausgangspunkt für die Bildung einer autochthonen Kollaborationsregierung.58 Nach dem Krieg hat Seyß-Inquart die These vertreten, für ihn sei Hitlers Wunsch nach der Ernennung Musserts zum ‚Führer des niederländischen Volkes‘ und der Auftrag zur Einrichtung eines Staatspolitischen Sekretariats „vollkommen ueberraschend“ gewesen, denn „in der vorhergegangenen Einzelbesprechung hatte Hitler keine solche Andeutung gemacht.“59 Rauter behauptete – ebenfalls nach dem Krieg – das genaue Gegenteil, als er im Januar 1947 im Arnheimer Gefängnis zu Protokoll gab, dass sich der Reichskommissar dies alles im Alleingang ausgedacht habe und die NS-Funktionäre in den Niederlanden wie auch die Reichsführung von ihm überrumpelt worden seien; „Hitler hat nichts davon gewusst. Wir waren alle erstaunt hier in Holland.“60 Weder die eine noch die andere Darstellung darf als zutreffend 56 So lautete der Titel von VO 10/1943; sie ist abgedruckt in: VOBl. NL 1943, 63 f. 57 Rauter an Himmler vom 23. Januar 1943, zit. nach In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 305, 927. 58 Ähnlich die Einschätzung, die Dr. Hans Max Hirschfeld in seinem Tagebucheintrag zum 13. März 1945 notierte; vgl. NIOD, 212a/2d, Bl. 62. 59 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 120. Ähnlich äußerte sich Wimmer Ende August 1947; vgl. Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 362. 60 Tweede verhoor van H. A. Rauter, NIOD, 463, Kart. 1, Mappe Verhooren Rauter, Bl. 16.

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angesehen werden. Wie alle anderen Besuche im Führerhauptquartier war auch die Audienz vom 10. Dezember 1942 intensiv vorbereitet worden, denn weder Hitler noch Seyß-Inquart konnten ein Interesse daran haben, Mussert zu einer ergebnisoffenen Besprechung ins Führerhauptquartier einzuladen. Wie nicht zuletzt der zitierte Bericht Benes zeigt, war das Ergebnis der Besprechung vielmehr zwischen Den Haag und dem Führerhauptquartier im ostpreußischen Rastenburg im Vorfeld abgesprochen gewesen; eine Überraschung konnte es für den Chef der deutschen Zivilverwaltung keinesfalls gewesen sein. Im Gegenteil: Mit der Ernennung Musserts zum ‚Führer des niederländischen Volkes‘ und der Errichtung des Staats­ politischen Sekretariats führte die Besatzungsmacht ihre Politik fort, die NSB-Mitglieder mit symbolischen Gesten zur Mitarbeit am Aufbau einer nationalsozialistischen Ordnung in den Niederlanden und zum Einsatz im Krieg gegen die Sowjetunion zu motivieren, ohne der Partei reale Macht zuzugestehen. Angesichts der sich abzeichnenden Kriegswende in Stalingrad war die deutsche Seite weniger als je zuvor bereit, die Nationaal-Socialistische Beweging mit Regierungsverantwortung zu betrauen. Die beiden symbolischen Gesten vom Winter 1942/43 waren denn auch kaum mehr als ein propagandistisches Manöver. Mit seiner Hilfe konnte man von der düsteren militärischen Lage sowie von der zunehmenden Brutalisierung und Radikalisierung der deutschen Besatzungspolitik in den Niederlanden ablenken und Tätigkeiten abschirmen, die in dieser Phase für das Regime vordringlich waren: die Deportation der Juden, die Rekrutierung von Zwangsarbeitern und der Kampf gegen den Widerstand. Die Hoffnung der NSB auf eine Aufwertung wie auch die Befürchtung von breiten Kreisen der Bevölkerung, die Ernennung Musserts zum Leider van het Nederlandsche Volk und die Einrichtung des Staatspolitischen Sekretariats könnten Schritte auf dem Weg zur Etablierung einer Kollaborationsregierung sein – beide Seiten derselben Medaille dienten Reichsführung und Reichskommissar dazu, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit mit relativ folgenlosen Gesten zu beschäftigen. Für die NSB bedeutete dies alles, dass ihr Status in der Schwebe blieb, ihr Einfluss und ihre Partizipationsmöglichkeiten waren weiterhin in hohem Maße eingeschränkt. Damit wollte sich Mussert, der bald darauf 18 NSB-Funktionäre seines Vertrauens in das Staatspolitische Sekretariat berief61 und seinen Experten für Staatsrecht Carp zum Leiter dieser Einrichtung ernannte, nicht zufriedengeben. Er wird sicherlich die Hoffnung gehabt haben, aus dem Staatspolitiek Secretariaat über kurz oder lang doch noch eine nationale Regierung hervorgehen lassen zu können. Dies kam schon darin zum Ausdruck, dass es bei den Gesprächen, die er im Vorfeld der Einrichtung des Staatspolitischen Sekretariats mit Seyß-Inquart führte, seiner Formulierung nach um „die Teilnahme der [Nationalsozialistischen] Bewegung an der Verwaltung des Landes und über die Weise, wie diese vorbereitet werden könne“, gegangen sei.62 Später bemühte er sich darum, den rechtlichen Status des Se61 Zur personellen Besetzung des Staatspolitischen Sekretariats siehe die Liste der „Bevollmächtigten des Führers“, die Mussert am 25. Januar 1943 Seyß-Inquart schickte; Abschrift in: NIOD, 123/113. Siehe auch In ’t Veld, Inleiding, 290 f. 62 Mussert an Seyß-Inquart vom 25. Januar 1943, NIOD, 123/113. Die Gespräche fanden am 24. Dezember 1942 und am 14. Januar 1943 statt.

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kretariats zu präzisieren und zu konsolidieren. So äußerte er in einem Brief an Seyß-Inquart die Überzeugung, dass seine Partei durch die Verordnung vom 30. Januar 1943 implizit als eine „öffentliche Rechtsperson“ anerkannt worden sei; dabei bezog er sich auf die Formulierung, dass die NSB fortan „Träger des politischen Willens des niederländischen Volkes“ sei. Als Mussert den Reichskommissar drängen wollte, die Partei auch ausdrücklich als öffentliche Rechtsperson anzuerkennen, drohte Seyß-Inquart, sie sich in diesem Fall zu unterstellen. 63 Damit machte der Reichskommissar einmal mehr deutlich, dass die Nationaal-Socialistische Beweging trotz ihrer deklamatorischen Erhebung zum „Träger des politischen Willens des niederländischen Volkes“ und ungeachtet der Einrichtung des Staatspolitischen Sekretariats als Instrument „zur Sicherung des Einklanges“ zwischen Reichskommissariat und NSB keine Ansprüche auf weitergehende Einbeziehung in politische Entscheidungsprozesse stellen dürfe. Im Gegensatz zu Mussert sah er im Sekretariat eben nicht den Kern einer zukünftigen niederländischen Regierung. Die Einrichtung diente ihm in Übereinstimmung mit Hitlers Vorgaben vielmehr dazu, die Forderung der NSB nach der Konstituierung einer nationalen Regierung abzublocken. Nicht zu Unrecht stellte Rauter rückblickend fest, dass Seyß-Inquart mit dem Staatspolitischen Sekretariat „eine Art Verzuckerung“ hatte anbieten wollen, um Mussert und die NSB über Hitlers Weigerung zu vertrösten, die Partei mit Regierungsverantwortung zu betrauen.64 Tatsache ist, dass das Staatspolitische Sekretariat der NSB weder vom Reichskommissariat noch von den niederländischen Generalsekretariaten in die Vorbereitung von Erlassen und Verordnungen einbezogen wurde. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine handgeschriebene Zusammenstellung von Verordnungen, in denen das Sekretariat in der zweiten Hälfte des Jahres 1943 nicht konsultiert worden war. Hier kam man zu einem niederschmetternden Ergebnis: In der überwiegenden Anzahl hatte „keine Beratung“ stattgefunden, nur in ganz wenigen Ausnahmefällen findet sich der Vermerk: „Beratung eröffnet, aber nicht abgeschlossen“. Pikanterweise wurde das Staatspolitische Sekretariat sogar von Mussert umgangen. Denn in derselben Liste findet sich der Hinweis, dass aus einer Rede, die der NSB-Führer im Juli gehalten habe, zu schließen sei, „dass sehr wohl eine Beratung stattgefunden haben muss“.65 Diese unscheinbare Notiz macht deutlich, dass das Staatspolitische Sekretariat auch aus Sicht der NSB ein Schattendasein führte, ohne jemals die Gelegenheit bekommen zu haben, sich zum institutionellen Nukleus einer autochthonen Regierung zu entwickeln. Von deutscher Seite wurden dem Sekretariat sogar in scheinbaren Nebensächlichkeiten Steine in den Weg gelegt. So lag Wochen nach dem Erlass vom 30. Januar 1943 noch immer keine Baugenehmigung für das projektierte Gebäude vor. Als sich Mussert hierüber bei Seyß-Inquart beklagte, lautete die offizielle Sprachregelung nach einer Mitteilung Rauters an Himmler scheinheilig: „Der Reichskommissar möchte wohl, aber alle möglichen kleineren Leute aus Berlin verböten die Baulichkeiten.“ Am Rande aber fügte der HSSuPF hinzu: „In Wirklichkeit schiebt der 63 Mussert an Seyß-Inquart vom 16. August 1943, NIOD, 123/816 mit handschriftlichem Vermerk Seyß-Inquarts. 64 Tweede verhoor van H. A. Rauter, NIOD, 463, Kart. 1, Mappe Verhooren Rauter, Bl. 16. 65 NIOD, 123/976.

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Reichskommissar diese Leute vor, um Mussert abzubremsen.“66 Eine solche adminis­trative Schikane war symptomatisch für Seyß-Inquarts politische Intention: Mit dem Staats­politiek Se­cretariaat wollte er die NSB mit einer Institution abspeisen, die eine Beteiligung an politischen Entscheidungen suggerierte, um die Partei und ihre Mitglieder weiterhin für die Werbung von niederländischen Freiwilligen zum Kriegsdienst oder zum Einsatz in der Rüstungswirtschaft zu motivieren, tatsächlich aber die Zuständigkeiten und die Tätigkeiten der deutschen Besatzungsmacht und der von ihr abhängigen einheimischen Beamten völlig unberührt ließ. In diesem Sinn setzte Seyß-Inquart exakt Hitlers Vorgabe um, die bisherige Politik gegenüber der NSB weiterzuführen und dafür zu sorgen, dass alles beim Alten bleibe. Auch in der Folgezeit blieb Seyß-Inquart überzeugt, dass Hitler „vom norwegischen Experiment genug habe“ und der Ernennung Musserts zum Ministerpräsidenten in den Niederlanden „keinesfalls zustimmen werde.“67 Mit der Zunahme von Sabotageakten, dem Erstarken des Widerstands und der Möglichkeit einer alliierten Invasion wurde eine solche Option bei der Reichsführung wie auch im Reichskommissariat zu Den Haag schon zu diesem Zeitpunkt als inopportun, ja als nicht realisierbar angesehen. Mit der Einschätzung, dass eine NSB-Regierung von der Bevölkerung abgelehnt, den Widerstand zusätzlich animieren und dem Ansehen der deutschen Besatzung wie in Norwegen schaden würde, lag die deutsche Seite nicht einmal falsch. Denn nur wenige Tage nach der Bekanntgabe der Gründung des Staatspolitischen Sekretariats verübte die Widerstandsgruppe CS-6 in Scheveningen ein tödliches Attentat auf General Hendrik Alexander Seyffardt, der innerhalb des Sekretariats für die Niederländische Freiwilligenlegion hätte zuständig sein sollen, und in der Folgezeit wurden zahlreiche weitere prominente NSB-Funktionäre zur Zielscheibe von Anschlägen. Dazu zählten Folkert Evert Posthuma, der im Staatspolitiek Secretariaat für das Arbeitsgebiet Landbau und Fischerei ausersehen war, und Hermannus Reydon, der am 1. Februar 1943 als Nachfolger von Goedewaagen zum Generalsekretär für Volksaufklärung und Künste ernannt worden war.68 Wie Rauter zutreffend feststellte, führten die Attentate vor Augen, „wie schwach die NSB hier ist und wie eiskalt ablehnend die übergrosse Mehrheit des Volkes geworden ist.“69 Bezeichnend hierfür war nicht zuletzt die Tatsache, dass an der Gedenkveranstaltung für General Seyffardt, die am 10. Februar auf dem Binnenhof stattfand, abgesehen von offiziellen Vertretern der NSB keine Bürger aus Den Haag teilnahmen. Dass Seyß-Inquart den Verstorbenen bei dieser Gelegenheit als „einen wahren niederländischen Patrioten“ würdigte, der sich entschieden „für die Zukunft seines Volkes und unserer europäischen und germanischen 66 Rauter an Himmler vom 31. März 1943, BArch, NS 19/1556, Bl. 28. Zunächst war das Staatspolitische Sekretariat in Den Haag am Nassauplein untergebracht; erst im Juli 1944 konnte es in das nahe beim Binnenhof gelegene Gebäude am Korte Vijverberg 3 umziehen, in dem bis zum Fünf-Tage-Krieg das Kabinett der Königin seine Büros gehabt hatte; siehe Meyers, Mussert, 230 f. 67 Rauter an Himmler vom 29. Mai 1943, BArch, NS 19/1556, Bl. 41. 68 Zu den erwähnten Anschlägen siehe Kooistra/Oosthoek, Recht op wraak, 24 und In ’t Veld, Inleiding, 291. Die Bezeichnung CS-6 ging auf die Amsterdamer Corellistraat 6 zurück, wo sich die Mitglieder dieser Widerstandsgruppe trafen. Zur Freiwilligenlegion siehe den folgenden Abschnitt in diesem Kapitel. 69 Fernschreiben Rauters an Himmler vom 10. Februar 1943, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 326, 956.

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Gemeinschaft“ eingesetzt habe,70 konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ‚Nationalsozialistische Bewegung‘ und der ‚Führer des niederländischen Volkes‘ von der Mehrheit dieses Volkes abgelehnt und vom Widerstand zunehmend blutig bekämpft wurde. Seine pathetischen Worte konnten auch nicht verbergen, dass das Staatspolitische Sekretariat alles andere als populär war. Dies dürfte den Reichskommissar eher noch bestärkt haben, den Spielraum dieser Institution so begrenzt wie möglich zu halten und weitere Vorstöße der NSB-Führung zur Bildung einer autochthonen Kollaborationsregierung abzuwehren. Da die Niederlande nach gut drei Jahren nun wieder Kriegsgebiet zu werden drohten, war der deutschen Seite primär an der Konsolidierung der eigenen Macht gelegen, nicht an der Einbindung niederländischer Kollaborateure in Regierungsverantwortung. Am allerwenigsten setzte Seyß-Inquart seine Zusage vom 15. Dezember 1942 um, bei der Durchführung wichtiger Verwaltungsmaßnahmen das Einvernehmen mit der NSB und ihrem Führer zu suchen. So glaubte Mussert im März 1945 allen Grund zu der Beschwerde zu haben, dass dieses Versprechen „mit Füssen getreten“ werde.71 Er übersah dabei jedoch, dass das Staatspolitische Sekretariat auch von der eigenen Parteiführung stiefmütterlich behandelt wurde, und er ging darüber hinweg, dass sich seine Partei seit dem ‚verrückten Dienstag‘ aus Sicht der Besatzungsmacht gründlich diskreditiert hatte.72 Trotz alledem war Seyß-Inquart aus realpolitischen Gründen daran gelegen, das Verhältnis zur NSB zu pflegen, und immer wieder hat er auch nach Hitlers ausdrücklicher Weigerung, die niederländische Kollaborationspartei mit Regierungsverantwortung zu betrauen, Mussert gegen den großgermanischen Flügel von dessen Partei sowie gegen den SS-Komplex in Schutz genommen. Rauter berichtete zwar merkwürdigerweise in einem Brief an Himmler, dass Seyß-Inquart nach der Unterredung mit Hitler vom 1. Oktober 1942 mit ihm ausführlich die Frage erörtert habe, „ob es doch noch möglich wäre, Mussert als Ministerpräsidenten einzusetzen“. Nach heftigen Einwänden Rauters aber habe sich der Reichskommissar dann entschlossen, „Mussert fallen zu lassen“ und von der SS die großgermanische Linie zu übernehmen. Angeblich kamen Rauter und Seyß-Inquart bei einer Besprechung am 13. November 1942 auch zu dem Ergebnis, dass die NSB zerschlagen werden müsse, wenn eine grundsätzliche politische Neuordnung der Niederlande wie z. B. die von Rauter vorgeschlagene Einteilung in Gaue anstehe.73 Doch schon Nanno In ’t Veld hat mit guten Gründen in Zweifel gezogen, dass Rauter hier Seyß-Inquarts Worte, geschweige denn dessen Position richtig wiedergab.74 Hat Rauter den Reichskommissar in seiner unverhohlenen Freude darüber, dass Hitler eine NSB-Regierung zumindest für die Dauer des Krieges ausgeschlossen hatte, falsch 70 Zit. nach: DZN vom 10. Februar 1943. 71 Mussert an Seyß-Inquart vom 8. März 1945, NIOD, 123/253, Mappe 12 mit der Zusammenfassung einer Besprechung, zu der die beiden Politiker am 23. Februar zusammengetroffen waren. 72 Vgl. Seyß-Inquarts Worte der Enttäuschung in einem Gespräch mit Schrieke von Ende Oktober 1944, zit. in: De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 283 f. 73 Rauter an Himmler vom 14. November 1942, BArch, NS 19/1558, Bl. 19-21. Laut Schreiben von Brandt an Rauter vom 22. November 1942 (ebd., Bl. 22) unterstützte Himmler Rauters Überlegungen. 74 In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Anm. 2 zu Dok. 262, 870.

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verstanden? Wollte er Seyß-Inquart bei Himmler bewusst in ein falsches Licht setzen? Oder hat sich der Reichskommissar – aus welchem Grund auch immer – ihm gegenüber unklar ausgedrückt? Rauters Ausführungen wirken geradezu wirr angesichts der Tatsache, dass Seyß-Inquart hier wie immer vorbehaltlos Hitlers Direktiven übernahm und umsetzte und nüchtern die jeweils gegebenen Möglichkeiten abtaxierte. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Hitler hat der Reichskommissar die NSB und ihren Führer auch dann in Schutz genommen, wenn dieser oder andere führende Mitglieder der Kollaborationspartei die Vorstellungen der deutschen Besatzungsmacht aus deren Sicht konterkarierten oder ihre Umsetzung erschwerten. So schrieb Seyß-Inquart beispielsweise am 29. Mai 1943 an Himmler: „[…] wir müssen die Politik mit Mussert weitermachen und dürfen nicht durch ein begreifliches und temperamentvolles, aber politisch unkluges Verhalten die vom Führer nun einmal bestimmte Linie stören. Dazu kommt, daß Mussert heute noch innerhalb der NSB einen zu starken Faktor darstellt, als daß man ihn einfach entfernen könnte.“ Pragmatisch hielt er fest, dass die N ­ ationaal-Socialistische Beweging der einzige ernstzunehmende einheimische Personalpool war, der für die nach wie vor angestrebte Nazifizierung des Landes eingesetzt werden konnte: „Die NSB stellt den verhältnismäßig großen Kader von Menschen dar, aus denen ich nicht nur die Niederländer für die staatlichen Funktionen [,] sondern vor allem auch für jene Organisationen im politischen Bereich mir hole, die ich zur Auflockerung [sic] des niederländischen Volkes brauche, also z. B. die Niederländische Arbeitsfront, den Niederländischen Volksdienst usw.“ So kam er zu dem Ergebnis, „daß es vollkommen unmöglich ist, in den Niederlanden Politik zu machen, wenn wir nicht die NSBer als Mannschaft bei uns haben.“75 In demselben Sinn hatte Seyß-Inquart einen Tag vorher Rauter und dem großgermanisch orientierten SS-Standartenführer Johannes Hendrikus (Henk) Feldmeijer erläutert, dass Hitler aus außenpolitischen Gründen „derzeit“ nicht in der Lage sei, „in der Grossgermanischen Frage eine Aktivität zu entwickeln“ – offenbar hielt er einen Wechsel an der Spitze der NSB angesichts der verschlechterten militärischen Lage des Reiches nach Stalingrad für riskant. Er war denn auch überzeugt, dass Hitler „von sich aus kaum Mussert stürzen“ werde. Deshalb stellte sich der Reichskommissar zu diesem Zeitpunkt gegen Rauters Wunsch, den Führer der Niederländischen SS Feldmeijer an die Stelle Musserts zu setzen. Im Sinne Hitlers hielt er es für unausweichlich, dass man Mussert „mit all seinen Fehler[n] wenigstens zunächst noch weiter mitschleppen müsse, da der Krieg noch länger dauern werde; er betrachte ihn jedoch nur noch als Abnutzungsobjekt.“76 Das war freilich leichter gesagt als getan. Kurz nachdem Seyß-Inquart die Bedeutung der NSB unter der Führung Musserts für die „Auflockerung des niederländischen Volkes“ herausgestrichen hatte, provozierte dieser durch eine Rede, in der er inmitten der Auseinandersetzungen mit Feldmeijer vor Funktionären seiner Partei am 5. Juni 1943 in Utrecht scharfe 75 Seyß-Inquart an Himmler vom 29. Mai 1943, BArch, NS 19/2860, Bl. 206. 76 Rauter an Himmler vom 29. Mai 1943 mit Bericht über ein Treffen vom Vortag, BArch, NS 19/1556, Bl. 40. Zu diesem Vorgang siehe auch Kromhout, De Voorman, 358–363.

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Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘

Kritik an einigen Prinzipien und Maßnahmen der deutschen Besatzungspolitik in den Niederlanden übte.77 Der Zeitpunkt war bewusst gewählt: Just am Tag vorher hatte Seyß-Inquart mit Himmler in Lindau über den weiteren Kurs in den Niederlanden und gegenüber der NSB konferiert. In seiner Utrechter Rede nun bekannte sich Mussert zwar unzweideutig zum Nationalsozialismus, zur „Zusammenarbeit der germanischen Völker“, zur Ablehnung von Demokratie und „Amerikanismus“ sowie zum Kampf gegen „den Bolschewismus“ an der Seite Deutschlands. Zugleich aber forderte er in Übereinstimmung mit den Grundlinien der Denkschriften, die er für Hitler verfasst hat, die Respektierung einer gewissen Eigenständigkeit des „niederländischen Volkes“ sowie von Religions- und Gewissensfreiheit als „den Urniederländischen [sic] Tugenden“. Dass Mussert „die grossdeutsche Politik“ als „Imperialismus“ brandmarkte, war ein kalkulierter Angriff auf den SS-Komplex unter Einschluss seines Rivalen Feldmeijer. Wie vorauszusehen, wurde Musserts Rede vom 5. Juni von dieser Seite für Angriffe auf den NSB-Führer genutzt. So sah sich Seyß-Inquart mehr als jemals zuvor Kritik an seiner Haltung gegenüber der NSB ausgesetzt. Rauter, Kaltenbrunner, Feldmeijer und der damalige Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Den Haag, SS-Obersturmführer Friedrich Knolle, äußerten sich empört über Musserts Rede.78 Sogar Hitler war derart erzürnt, dass er sich weigerte, Musserts Wunsch nach einer neuerlichen Audienz stattzugeben. Stattdessen musste sich der Leider mit einer persönlichen Aussprache mit Himmler begnügen – und damit mit jenem NS-Funktionär, dessen Linie er am heftigsten angegriffen hatte.79 Um die Wogen zu glätten, berief Seyß-Inquart für den 19. Juni eine Besprechung ein, an der Rauter, Schmidt und „eine Anzahl von Beauftragten“ teilnahmen. Nachdem man sich negativ über die NSB-Führung ausgelassen hatte, kam man immerhin zu der Schlussfolgerung, dass trotz der „Unzulänglichkeit Musserts dieser gehalten werden muss, dass aber alles zu versuchen ist, ihn in eine gewisse Richtung hineinzuzwängen.“ Darüber hinaus kam man überein, „dass eisern regiert wird, dass der Holländer mehr denn ein anderes Volk eine scharfe Führung braucht und dass das ewige Entgegenkommen und die Politik der Halbheiten auf allen Gebieten endgültig aufhören muss.“80 Dieses Resultat muss als Kompromiss zwischen verschiedenen Strömungen nationalsozialistischer Niederlandepolitik verstanden werden: Wieder einmal wurde im Sinne von Seyß-Inquart und Schmidt festgehalten, dass das 77 BArch, NS 19/1556, Bl. 48–57 und Bl. 223–232. Eine gekürzte deutsche Fassung ist auszugsweise abgedruckt in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 410 I, 1077–1085; dieser Edition sind die folgenden Zitate entnommen. 78 Vgl. Rauter an Himmler vom 19. und vom 24. Juni (BArch, NS 19/1556, Bl. 62 und 67), Fernschreiben Kalten­brunners an Himmler vom 19. Juni (ebd., Bl. 60 f.), Aktennotiz Feldmeijers vom 11. Juni und Aktennotiz Knolles vom 19. Juni 1943 (In ’t Veld [Hrsg.], De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 402, 1061–1063 und Dok. 410, 1071–1076). Zur Reaktion des SS-Apparats auf Musserts Rede siehe auch In ’t Veld, Inleiding, 295. 79 Zu Hitlers Reaktion siehe Fernschreiben Himmlers an Seyß-Inquart vom 19. Juni 1943, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 414, 1088. 80 Referiert nach: Rauter an Himmler vom 19. Juni 1943, BArch, NS 19/1556, Bl. 62. Anzahl und Namen der teilnehmenden Beauftragten wurden hier nicht angegeben.

7.2 Die Frage einer NSB-Regierung

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Reichskommissariat nolens volens auf die Einbindung Musserts und seiner Partei angewiesen war. Zugleich aber konnten sich in dem Besprechungsergebnis jene Hardliner wiederfinden, die eine schärfere Gangart gegenüber der NSB und der niederländischen Bevölkerung favorisierten. Insgesamt war es Seyß-Inquart auf der Besprechung vom 19. Juni gelungen, die Flügelkämpfe innerhalb der einzigen Kollaborationspartei des besetzten Landes, die im Gefolge von Musserts Rede vom 5. Juni auf die Spitze getrieben worden waren, zu entschärfen und einen Bruch zwischen NSB und SS zu vermeiden; durch ein Treffen zwischen Himmler und Mussert am 8. Juli 194381 wurde dies nach außen hin sichtbar dokumentiert. Damit wiederum hatte der Reichskommissar erneut seine Generallinie verteidigen können, die auf eine Einbindung aller relevanten Machtfaktoren in seinem ‚Herrschaftsbereich‘ zielte. Er war jedenfalls nicht bereit, Mussert unter dem Druck von SS-Kreisen fallen zu lassen. Schon vor dessen Utrechter Rede hatte Seyß-Inquart Himmler erläutert, dass er nach einer Lösung strebe, „die Mussert in seiner Funktion beläßt, aber nunmehr nach entsprechendem Ausbau der SS-Position den germanischen Kurs klar in den Vordergrund bringt.“82 Und zwei Tage nach der Besprechung vom 19. Juni zeigte er Rauter gegenüber sogar Verständnis für einige von Musserts Positionen wie der Forderung nach „einer gewissen Rede- und Kritikfreiheit“ und kam zu dem Ergebnis: „In dieser Rede finden sich ebenso positive wie negative Sachen.“83 Mussert sollte für ihn ein Machtfaktor bleiben, nachdem die Bildung einer Kollaborationsregierung durch Hitler abgelehnt worden war, und dieses Ziel hat er gegen die notorischen Bestrebungen des SS-Apparats verteidigt, den Führer der NSB auf den von ihr verfolgten großgermanischen Kurs zu zwingen. So begleitete Seyß-Inquart Mussert bei dessen letztem Besuch, den der ‚Führer des niederländischen Volkes‘ Hitler unter Begleitung von Ritterbusch und Van Geelkerken sowie in Anwesenheit von Lammers und Bormann am 2. Dezember 1943 abstattete. Wie schon zu früheren Gelegenheiten hatte Mussert auch diesmal wieder zur Vorbereitung des Besuchs beim ‚Führer‘ eine Denkschrift zusammengestellt, in der er seine Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Deutschland, den „germanischen Völkern“ im Allgemeinen und den Niederländern im Besonderen entwickelt und seine Erwartungen an Vertreter des Reiches formuliert hatte. Seine Überlegungen enthielten unter anderem den Vorschlag, Aufgabenfelder der Landesverwaltung zwischen deutschen und niederländischen Instanzen aufzuteilen – und damit der NSB in begrenztem Maße doch noch die Bildung einer niederländischen Regierung zu ermöglichen. Dabei unterschied Mussert drei Kategorien: Außen-, Verteidigungs- und Kolo-

81 Siehe hierzu De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 7/2, 1234–1237 und In ’t Veld, Inleiding, 296–298. 82 Seyß-Inquart an Himmler vom 29. Mai 1943, BArch, NS 19/2860, Bl. 207. In seinem Antwortschreiben vom 11. Juni 1943 unterstrich auch Himmler Hitlers Entscheidung, „daß Mussert bleibt“, konnte sich aber die Warnung nicht verkneifen, dass man sich „das dauernde Ausbrechen dieses unzulänglichen Mannes aus der Gesamtlinie“ nicht gefallen lassen könne (ebd., Bl. 225); unter „Gesamtlinie“ verstand der Reichsführer-SS offenbar die großgermanische Idee, für die die Schutzstaffel stand. Ein von Himmler handschriftlich korrigierter Entwurf seines Antwortschreibens vom 11. Juni befindet sich in: NIOD, 210/H 218, Bl. 1986–1988. 83 Seyß-Inquart an Rauter vom 21. Juni 1943, BArch, NS 19/1556, Bl. 204 f.

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Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘

nialpolitik müssten zentral von Berlin aus geleitet werden – übrigens nicht nur während des Krieges, sondern auch darüber hinaus; für Innenpolitik und die Verwaltung von Justiz, Polizei, Wirtschaft, Finanzen und sozialen Angelegenheiten sowie für Wasserverwaltung und Verkehr sah Mussert das „Einvernehmen zwischen dem Reichskommissar und dem Leider“ vor; und Ressorts, die er unter den Stichworten Volksgesundheit, Volkserziehung, Volksaufklärung und niederländische kulturelle Angelegenheiten behandelte, sollten ausschließlich von ihm und seiner Partei bearbeitet werden – jede Einmischung von deutscher Seite, so fügte Mussert beinahe warnend hinzu, könne hier nur von Schaden sein; lediglich dem Reichskommissar sei es unbenommen, auch auf diesen Feldern „sein Aufsichtsrecht“ wahrzunehmen.84 Bemerkenswerterweise hielt Seyß-Inquart, der Musserts vierte Denkschrift nach einer Überarbeitung des Textes durch Ritterbusch an Hitler weiterleitete, die „Inangriffnahme“ von Musserts Überlegungen für „notwendig“, „da wir nur auf diese Weise die Kräfte in diesen Völkern lebendig machen, sich aus eigener Initiative mit der von uns gewünschten zukünftigen Gestaltung auseinanderzusetzen, vertraut zu machen und dafür einzutreten.“ Es müsse Mussert lediglich klargemacht werden, dass eine mögliche Betrauung mit Regierungsvollmacht nur „aus dem Willen des Führers“ abgeleitet werden könne, „denn das niederländische Volk selbst ist ja nicht entschlossen, ihm ein solches Recht einzuräumen.“ Hieraus wiederum folgerte der Reichskommissar, „dass das Aufsichts- und Einflussrecht der Besatzungsmacht auf allen Gebieten gegeben bleiben muss, die Mussert oder irgend eine niederländische Regierung zur Besorgung von uns übertragen bekommt.“85 Sogar Rauter konnte sich trotz seiner kritischen Haltung gegenüber Mussert und dessen vierter Denkschrift mit dem Reichskommissar dahingehend einverstanden erklären, „dass in der Zukunft nach dem Kriege […] sich eine solche Dreiteilung in dieser Form machen lässt“.86 Der Reichskommissar und sein Generalkommissar für das Sicherheitswesen schlossen somit im Winter 1943 eine wie auch immer geartete Betrauung der NSB mit Regierungsverantwortung grundsätzlich nicht aus, auch wenn man sich nicht auf einen Termin oder ein Zeitschema für eine mögliche Übertragung von Zuständigkeiten und Aufgaben an die Kollaborationspartei festlegte. Was aber mag Seyß-Inquart bewogen haben, Musserts vierte Denkschrift an Hitler weiterzuleiten? Hatte er Hinweise empfangen, dass der ‚Führer‘ seine ablehnende Haltung bezüglich einer NSB-Regierung aufzugeben oder zumindest zu modifizieren bereit gewesen wäre? Im Unterschied zu dem Empfang Musserts durch Hitler vom 10. Dezember 1942 lässt sich die Vorgeschichte der Audienz vom 2. Dezember 1943 nicht 84 Die ‚Denkschrift über die politische Entwicklung in den Niederlanden‘ vom 26. Oktober ist mit dem Entwurf eines Begleitbriefs vom 10. November 1943 abgedruckt in: Cohen (Hrsg.), Vijf nota’s van Mussert aan Hitler, 75–93, hier besonders 88. Siehe auch den Brief Musserts an Hitler vom 16. November 1943 in BArch, NS 19/3403, Bl. 36 f. 85 Seyß-Inquart an Himmler vom 26. November 1943, BArch, NS 19/3403, Bl. 28–31, hier zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 484, 1252. Zur Überarbeitung von Musserts vierter Denkschrift siehe auch ebd., Anm. 1, 1248. 86 Rauter an Himmler vom 29. November 1943, DÖW, 21561/7, hier zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 486, 1256. Der HSSuPF bestand nur darauf, dass „staatspolizeiliche Angelegenheiten“ „zu den Reichsangelegenheiten geschlagen werden müssen.“ (ebd.)

7.2 Die Frage einer NSB-Regierung

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genau rekonstruieren. Es muss offen bleiben, ob nun erneut ein abgekartetes Spiel inszeniert wurde, bei dem die NSB-Führung wieder einmal durch ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ an Reichsführung und Reichskommissariat gebunden werden sollte. Jedenfalls blieb Hitler bei dem Empfang in der ‚Wolfsschanze‘ am 2. Dezember 1943 bei der Position, die er bereits im Vorjahr eingenommen hatte: Eine NSB-Regierung war für ihn aktuell kein Thema. In seinem unvermeidlichen Monolog ließ er sich besonders über den gemeinsamen Kampf gegen die Sowjetunion aus, unterstrich seine Weigerung, während des Krieges das Verhältnis unter den „germanischen Völkern“ umfassend festzulegen, und erklärte, man wolle die Niederländer nicht „entniederländern“.87 Mit keinem Wort aber ging der ‚Führer‘ auf Musserts Vorschlag einer Aufgabenteilung zwischen deutschen und niederländischen Instanzen ein, die Seyß-Inquart ausdrücklich begrüßt hatte.88 Mussert kehrte damit zum wiederholten Mal ohne ein konkretes Ergebnis nach Hause zurück. Obwohl er angeblich nach dem Empfang „von einer geradezu religiösen Einstellung gegenüber der Mission des Führers“ gesprochen und erklärt habe, „daß man gar keine anderen Gedanken haben könne, als alles zu tun, um dem Führer in seinem Kampf zu helfen“,89 blieb sein großes Ziel, durch Hitler zum Chef einer niederländischen Regierung zu werden, unerfüllt. Wieder einmal wurde er mit äußerst vagen Vertröstungen auf die Nachkriegszeit hingehalten und musste zur Kenntnis nehmen, dass Hitler im Hinblick auf eine Beteiligung der NSB an einer autochthonen Regierung nicht einmal zu minimalen Zugeständnissen bereit war, solange der Krieg nicht entschieden war. Damit war der letzte Anlauf gescheitert, die Nationaal-Socialistische Beweging mit Rückendeckung aus dem Reichskommissariat im unmittelbaren Kontakt mit Hitler an einer niederländischen Regierung zu beteiligen. Dass Seyß-Inquart wiederholt Mussert gegen die SS in Schutz nahm und bei Hitler als unumgänglichen Partner für eine gelenkte Selbstnazifizierung der niederländischen Gesellschaft verteidigte, schloss nicht aus, dass er zeitweilig daran dachte, Mussert abzulösen. Vermutlich im Kontext von dessen Utrechter Rede vom 5. Juni 1943 hat er Rauter zufolge Feldmeijer aufgefordert, „mit Rücksicht auf die Unzuverlässigkeit Musserts sich darauf vorzubereiten, dass er eines Tages würde einspringen müssen.“90 Und nur drei Tage, bevor Seyß-Inquart

87 Siehe die Vorläufige Gedächtnisniederschrift vom Empfang Musserts beim Führer am 2.12.1943, die Seyß-Inquart auf der Grundlage von Bormanns Notizen anfertigte und am 9. Dezember an Himmler versandte, BArch, NS 19/1556, Bl. 192. Vgl. den Bericht von Van Geelkerken, abgedruckt in: RIOD (Hrsg.), Het Proces Mussert, Dok. 9, 328–332. Zum Ablauf des Empfangs in der ‚Wolfsschanze‘ siehe auch Heinz Linge, Hitlers Terminkalender, IfZ, F 19, Bd. 4, Bl. 114. 88 Darauf wies Rauter, der von Ritterbusch über den Empfang bei Hitler informiert worden war, im Schreiben an Himmler vom 9. Dezember 1943 hin; siehe BArch, NS 19/1556, Bl. 191. 89 Seyß-Inquart an Himmler vom 9. Dezember 1943, NIOD, Coll. Doc. I, 1564, Mappe A, Bl. 1275. Ähnlich Rauter an Himmler vom 13. Dezember 1943, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 490, 1260 f. 90 Rauter an Himmler vom 8. Juli 1944 unter Bezugnahme auf 1943, zit. nach In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 570, 1382. Von derartigen Plänen des Reichskommissars war bereits am 26. Mai 1943 im Brief Rost van Tonningens an Rauter die Rede gewesen (abgedruckt in: Correspondentie van Mr. M. M. Rost van Tonningen, Bd. 2, Dok. 131, 227 f.).

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Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘

Himmler die NSB als den unentbehrlichen „Kader von Menschen“ vor Augen führte, habe er sich in einer Besprechung mit den Generalkommissaren Schmidt und Rauter zu der Aussage hinreißen lassen, „es sei besser, jetzt irgendwie Schluss zu machen und neu aufzubauen als wie bisher sich mit Mussert zu belasten […].“91 Doch zu einem Sturz Musserts ist es in der ganzen Besatzungszeit nicht gekommen, nicht einmal die kritische Rede in Utrecht hat ihm politisch das Genick gebrochen. Der Reichskommissar hat denn auch den Bemühungen des SS-Komplexes die Unterstützung verweigert, Feldmeijer zum Ausbildungsleiter der NSB zu machen – und damit vereitelt, dass neben Rost van Tonningen als einem der Stellvertretenden Parteiführer auch noch der ,Kronprinz‘ der niederländischen SS eine wichtige Funktion innerhalb der NSB erhielt. Wie Rauter Seyß-Inquart im November 1943 mit säuerlichem Unterton mitteilte, habe Mussert stattdessen Leute seines Vertrauens unter Einschluss eines „Vierteljuden und Achtelnegers“ mit der parteiinternen ‚Schulung‘ beauftragt, und in ungewöhnlich scharfer Form warf der enttäuschte Höhere SS- und Polizeiführer dem Reichskommissar anschließend in diesem Punkt politisches Versagen vor.92 Schwer zu überprüfen ist der Wahrheitsgehalt von Rauters Bericht, Seyß-Inquart habe im Sommer 1944 erwogen, Mussert gegebenenfalls „zum Regenten oder Bundespräsidenten oder etwas Ähnliches [sic]“ zu machen, den NSB-Führer also durch das Abschieben auf einen repräsentativen Posten politisch zu neutralisieren und statt seiner eine Persönlichkeit wie den „deutschfreundlichen“ Fredrik Ernst Müller zum Regierungschef zu ernennen, der als „sehr ruhiger und zugänglicher Nationalsozialist“ auch „bei den Antis anerkannt und beliebt sei“. Es ist nicht undenkbar, dass sich der wendige Reichskommissar einen Monat nach der Landung angloamerikanischer Verbände auf dem Kontinent und ihrem raschen Vormarsch mit solch einem Szenario die Option offenhalten wollte, die niederländische Bevölkerung durch eine „Koalitionsregierung“ für den Kampf gegen die alliierten Invasionstruppen zu mobilisieren und dabei Mussert und seine Partei in gewissen Grenzen einzubinden.93 Doch selbstverständlich sind derartige Überlegungen nicht umgesetzt worden, und für die Gesamtheit der Besatzungszeit bleibt festzuhalten, dass Seyß-Inquart Mussert weder fallen gelassen noch durch Feldmeijer oder Müller ersetzt bzw. entmachtet hat. Auch ist es nicht zur Zerschlagung der NSB oder der Einführung einer Gaustruktur in den Niederlanden gekommen. Am allerwenigsten hat Seyß-Inquart seine Amtsführung trotz seiner verbalen Referenzen gegenüber Himmler umstandslos an einer großgermanischen Perspektive ausgerichtet. Im Gegenteil: Nachdem Mussert zum ‚Führer des niederländischen Volkes‘ ausgerufen worden 91 Rauter an Himmler vom 26. Mai 1943, BArch, NS 19/1556, Bl. 43 f. 92 Rauter an Seyß-Inquart vom 11. November 1943, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 482 I, 1245–1247, Zitat 1247. Bei dem angeblichen „Vierteljuden und Achtelneger“ handelte es sich um einen Niederländer, dessen Vorfahren mütterlicherseits aus Surinam stammten (ebd., Anm. 7). Zu der Auseinandersetzung zwischen Mussert und Feldmeijer vgl. auch Kromhout, De Voorman, Kap. 13: Gevecht om de macht. 93 Rauter an Himmler vom 8. Juli 1944, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 570, 1383 f. Wie oben erwähnt, hatte Mussert selber im Rahmen des Carp-Plans eine Regentschaft anvisiert; im Gegensatz zu Seyß-Inquart wäre für ihn solch ein Amt allerdings der Ausgangspunkt für die Bildung einer NSB-Regierung unter seiner Führung gewesen.

7.3 Auseinandersetzungen um niederländische SS-Freiwillige

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war, hat er Rauter darauf „aufmerksam“ gemacht, „dass die SS doch die Lage und das Führerwort irgendwie zur Kenntnis nehmen müsse. Der Führer hätte Mussert nun einmal zum ‚Führer des niederländischen Volkes‘ erklärt, und die radikale grossgermanische Richtung der SS werde sich mit dieser Führererklärung doch irgendwie abfinden bezw. [sic] einordnen müssen.“ Rauter wurde vom Reichskommissar sogar ausdrücklich aufgefordert, „wieder ein engeres Verhältnis zu Mussert“ zu suchen.94 Und Ende Juni 1944 äußerte Seyß-Inquart Rauter gegenüber mit kritischer Stoßrichtung, dass die SS „in stark dogmatisierter Form sich ueberall einmenge und alles beeinflusse.“95 Derartige Stellungnahmen zeigen, dass das Dreiecksverhältnis zwischen Reichskommissariat, SS-Apparat und NSB bis in die allerletzten Kriegstage hinein ebenso komplex wie labil blieb. Es erforderte von Seyß-Inquart immer wieder erhebliche Anstrengungen, um sowohl die SS als auch die NSB bei der Stange halten zu können. 7.3 Auseinandersetzungen um niederländische SS-Freiwillige

Dies kam nicht nur in der Frage nach einer möglichen Ministerpräsidentschaft Musserts zum Ausdruck. Auch die Beteiligung der niederländischen Bevölkerung an Kampfverbänden war in den fünf Jahren der deutschen Besatzung des westeuropäischen Landes sehr umstritten. Die Initiative in dieser Frage ging von der SS aus.96 Schon am 15. Mai 1940, d. h. am Tag der Kapitulation der niederländischen Armee, hatte Gottlob Berger als Chef des Ergänzungsamts der SS seinem Vorgesetzten Heinrich Himmler den Vorschlag unterbreitet, „Holländer und Flamen für die Waffen-SS“ zu werben,97 und an jenem 25. Mai, an dem Seyß-Inquart seinen Antrittsbesuch bei Hitler im ‚Felsennest‘ machte und Instruktionen für sein Amt als Reichskommissar entgegennahm, erhielt Himmler vom ‚Führer‘ den Auftrag, die SS-Standarte ‚Westland‘ aufzustellen. Nachdem dieser Befehl relativ rasch umgesetzt worden war, wurde ‚Westland‘ bereits im Dezember 1940 mit SS-Verbänden aus anderen ‚germanischen‘ Ländern wie den SS-Standarten ‚Nordland‘, die in den besetzten skandinavischen Ländern rekrutiert worden war, und ‚Germania‘, in der überwiegend Deutsche Dienst getan hatten, zusammengelegt, um als 5. Panzerdivision der Waffen-SS eingesetzt werden zu können. Unter der Bezeichnung ‚Wiking‘ wurde der neu gebildete Kampfverband SS-Brigadeführer Felix Steiner unterstellt.98 Parallel zur Konstituierung von ‚Westland‘ bzw. ‚Wiking‘, auf die die NSB so gut wie keinen direkten Einfluss hatte, betrieb Rauter im Sommer 1940 die Bildung einer 94 So die Darstellung von Rauter im Brief an Himmler vom 17. Dezember 1942, BArch, NS 19/1997, Bl. 1 f., hier zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 286, 902. 95 Fernschreiben Rauters an Himmler vom 27. Juni 1944 nach: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 1, Nr. 17755 unter Bezugnahme auf ein Gespräch, das der HSSuPF Nordwest zwei Tage vorher mit Seyß-Inquart geführt hatte. 96 Zum Folgenden vgl. Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 109–116, In ’t Veld, Inleiding, Kap. VII bis IX, Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 184 ff. und Grunert, Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen, 143-150. 97 Aus IMG-Dok. NO-5717, zit. nach: Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 110. 98 Vgl. In ’t Veld, Inleiding, 313–332.

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Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘

Allgemeinen Niederländischen SS. Sie sollte zwar offiziell der Nationaal-Socialistische Beweging angegliedert werden – und damit formell Mussert unterstellt sein. Faktisch aber stand sie unter der Führung von Henk Feldmeijer, der als ‚Frontmann‘ der SS der Kontrolle von Rauter und Musserts innerparteilichem Rivalen Rost van Tonningen unterworfen war. Aus dieser Konstellation resultierten unvermeidlicherweise politische Friktionen. Mussert versicherte Seyß-Inquart zwar am 30. August 1940 nach einem Gespräch mit Himmler, dass er gegen die „nordische Ideologie der SS“ nichts einzuwenden habe und mit grundlegenden Prinzipien der SS wie „der Bedeutung des Blutes“, „Freiheitswillen und Streitlust“ sowie „Treue und Ehre“ vollkommen übereinstimme. Und er sei bereit, „im Interesse des Fortschritts eines gemeinsamen Aufbaus“ einer nationalsozialistischen Ordnung in den Niederlanden innerhalb der NSB eine Niederländische SS zu errichten, obwohl die dortige Bevölkerung in dem SS-Zeichen „ein besonderes deutsches Zeichen“ sehe, keinesfalls jedoch ein Zeichen, „das für alle germanischen Völker vom Nordkap bis Nordfrankreich“ gelte. Doch gegen die Berufung Feldmeijers, der sich entgegen der Prinzipien von Ehre und Treue gegen ihn als Parteiführer aufgelehnt habe, legte Mussert Widerspruch ein.99 Vergeblich, denn weder vermochte Mussert durchzusetzen, dass der Kommandant der ‚Wehrabteilung‘ seiner Partei, Arie Johannes Zondervan, anstelle Feldmeijers zum Voorman der Freiwilligenorganisation ernannt wurde, noch konnte er die Durchsetzung des Begriffs ‚Niederländische SS‘ verhindern. Angesichts seiner schwachen Position und getrieben von dem Wunsch, sich gegenüber der deutschen Besatzungsmacht zu profilieren und sich von anderen Kollaborationsparteien abzusetzen, blieb Mussert nichts anderes übrig, als am 11. September 1940 die Niederländische SS ins Leben zu rufen.100 Die Spannungen zwischen NSB und SS, die von Anfang an vorhanden waren, mussten an Schärfe zunehmen, als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel und Seyß-Inquart die Niederländer aufrief, „für die Verteidigung des Abendlandes und für ein einiges, starkes und friedenssicheres [sic] Europa anzutreten“ und „in der Freiwilligen-Legion Niederlande gegen den Bolschewismus und für das eigene Volk und Vaterland zu kämpfen.“101 Zunächst konnte zwar unter deutschen und niederländischen Nationalsozialisten Einigkeit erzielt werden über die Ernennung des früheren Chefs des niederländischen Generalstabs Hendrik Alexander Seyffardt zum Befehlshaber der zu bildenden Freiwilligenlegion. Als politisch wenig ambitionierter Berufssoldat, der weder der NSB noch der SS besonders nahestand, versprachen Name und Autorität des damals 68-jährigen pensionierten Generalleutnants viele Niederländer zu einer freiwilligen Meldung zu den Waffen zu bewegen und nicht zuletzt Offiziere anzusprechen, die nach der Kapitulation ihrer Armee im Mai 1940 ohne militärische Verwendung geblieben waren. Über die Frage der Unterstellung einer niederländischen 99 Mussert an Seyß-Inquart vom 30. August 1940, NIOD, 123/113. Die erste Seite der niederländischen Fassung des Briefes ist als Faksimile reproduziert in: Kok/Somers, Nederland in de Tweede Wereldoorlog, Bd. 1, 333. 100 In ’t Veld, Inleiding, 243. 101 Zit. nach Telegramm Kuehnen an Janke vom 15. Juli 1941, PA AA, R 29678. Seyß-Inquarts Aufruf datiert vom 10. Juli 1941.

7.3 Auseinandersetzungen um niederländische SS-Freiwillige

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Freiwilligenlegion und der ‚Betreuung‘ oder Verwaltung ihrer Angehörigen gab es jedoch ein machtpolitisches Tauziehen, das unvermeidlich Rückwirkungen auf die allgemeine Stellung der Nationaal-Socialistische Beweging hatte und nicht ohne Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Reichskommissar, SS-Komplex und NSB blieb. Während Mussert, Seyffardt und ihre jeweiligen Berater und Mitarbeiter davon ausgingen, dass die Freiwilligenlegion eine rein niederländische Institution sei, die auf gleicher Augenhöhe und relativ eigenständig Seite an Seite mit deutschen Kampfverbänden im Krieg gegen die Sowjetunion operieren würde, stand auf deutscher Seite von Anfang an fest, dass die niederländischen Freiwilligen im Rahmen der Waffen-SS eingesetzt werden sollten.102 Der ganze Verlauf der Diskussionen kann hier zwar nicht im Detail nachgezeichnet werden. Sie sollen aber insoweit beleuchtet werden, als sie Aufschluss über Seyß-Inquarts Politik gegenüber den niederländischen Nationalsozialisten geben. Wie bei manchen anderen Themen musste der Reichskommissar auch in dieser Frage versuchen, die widerstreitenden Interessen von NSB und SS so gut wie möglich auszubalancieren und gleichzeitig seine eigene Position als die entscheidende Autorität der deutschen Niederlandepolitik zu behaupten. In diesem Sinn setzte sich Seyß-Inquart anfangs gegen Bestrebungen zur Wehr, die Niederländische Legion der Verwaltung des Reichssicherheitshauptamts zu unterstellen. Ihm war bewusst, dass diese Einheit unter der niederländischen Bevölkerung an Attraktivität eingebüßt hätte, wenn sie von vornherein umstandslos der Waffen-SS eingegliedert worden wäre; eine solch unpopuläre Regelung hätte die Werbung von Freiwilligen enorm erschwert. So sprach sich Seyß-Inquart im November 1941 Himmler gegenüber vehement dagegen aus, die Rekrutierung für die Freiwilligenlegion dem SS-Hauptamt in Berlin zu übertragen, wie es der Reichsführer-SS in einem Rundschreiben angeordnet hatte.103 Seyß-Inquart stellte sich auf den Standpunkt, dass die Werbung vor Ort zu geschehen habe; es könne nicht sein, dass ein Befehl zur Werbung von niederländischen Freiwilligen vom fernen Berlin aus „ohne Verbindung mit den politischen Stellen“ in Den Haag erfolge. Für die Kommunikation zwischen der Führung der Legion unter Seyffardt und dessen Hauptquartier an der Den Haager Koniginnegracht einerseits und dem Höheren SS- und Polizeiführer Rauter bzw. der zuständigen SS-Ergänzungsstelle, die für die Erfassung der Freiwilligen zuständig war, andererseits solle lediglich ein Verbindungsoffizier berufen werden. Auf diese Weise könne sichergestellt werden, „dass auf der einen Seite der politische Zweck erfüllt wird in der Weise, dass den Niederländern gegenüber eine niederländische Persönlichkeit erscheint, und auf der anderen Seite alle Vorsichten gewahrt bleiben in der Weise, dass durch den Verbindungsführer usw. dafür gesorgt wird, dass diese Dinge in Ordnung durchgeführt werden.“104 Seyß-Inquart lag also erkennbar daran, die NSB in den Aufbau, die Rekrutierung und die Führung der 102 Zu Seyffardts Ernennung zum Befehlshaber der niederländischen Freiwilligenlegion und den divergierenden Interpretationen über deren Status vgl. In ’t Veld, Inleiding, 334 ff. Siehe auch Schulten, Oudheid en Nieuwe Orde, 193 f. 103 Himmlers Rundschreiben über Aufstellung und Einsatz ausländischer Freiwilligenverbände datiert vom 6. November 1941. Es ist abgedruckt in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 88, 593–596. 104 Seyß-Inquart an Himmler vom 21. November 1941, BArch, NS 19/3519, Bl. 163–167. Mit „in Ordnung“ meinte er: im Sinne Deutschlands.

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Freiwilligenlegion einzubinden, zugleich aber dem SS-Apparat die Kontrolle zuzusprechen, die Himmler über den militärischen Einsatz in Osteuropa ausüben wollte. Darüber hinaus machte er den Anspruch geltend, als Reichskommissar in gebührender Weise in alle Aspekte einbezogen zu werden, die die Freiwilligenlegion betrafen. Von Himmler wurde Seyß-Inquarts Bestreben, unterschiedliche Machtgruppierungen in den Niederlanden auszubalancieren, anerkannt und akzeptiert. Der Reichsführer-SS sagte zu, „dass die gesamte SS-Arbeit in den germanischen Ländern […] im engsten Einvernehmen mit den dortigen politischen Dienststellen, vor allem in den Niederlanden mit Ihnen, als dem Hoheitsträger des Reiches [,] zu geschehen habe“, und er unterstrich, dass sein erwähntes Rundschreiben „niemals beabsichtigte, die bisherige Zusammenarbeit zwischen Ihnen und meinen Dienststellen in den Niederlanden irgendwie zu ändern.“ Himmler folgte denn auch im Konkreten Seyß-Inquarts Vorschlag, die Werbung, Fürsorge und Betreuung der niederländischen SS-Freiwilligenverbände beim Hauptquartier von General Seyffardt zu belassen.105 Vermutlich auf Drängen von Rauter und möglicherweise von Gottlob Berger kam Seyß-Inquart dann Himmler wieder ein Stück entgegen, indem er feststellte, „daß die tatsächliche Arbeit von der Waffen-SS geleistet wird und General Seyffardt allein in der von ihm übernommenen Funktion bleibt“.106 Nach einem Gespräch mit Rauter und Berger am 30. März 1942 erklärte er sich sogar bereit, alle Fragen, die mit der sozialen und finanziellen Absicherung und Betreuung der Mitglieder der Niederländischen Legion sowie von deren Angehörigen zusammenhingen, dem sogenannten Fürsorgeführer der Waffen-SS in den Niederlanden zu übertragen.107 Das Ergebnis dieser Konsultationen war, dass Seyffardts Hauptquartier mit Zustimmung des Reichskommissars sozusagen über die Hintertür ein Aufgabengebiet entzogen wurde, das ihm kurz zuvor noch zugesichert worden war.108 Tatsächlich verloren Seyffardt wie auch die NSB-Führung innerhalb weniger Monate sukzessive die Kontrolle über die niederländischen Einheiten von SS-Freiwilligen an Himmlers Machtapparat. Sichtbar wurde dies, als am 17. Mai 1942 im Großen Saal des Tierparks von Den Haag 760 Mann der Niederländischen SS nicht auf Mussert, sondern auf Hitler als den „germanischen Führer“ vereidigt wurden.109 Die Bedeutung dieser Zeremonie lässt sich schon alleine an der Prominenz der Teilnehmer ablesen: Neben Mussert waren Himmler, der Chef von dessen Persönlichem Stab, SS-Obergruppenführer Karl Wolff, und SS-Gruppenführer Gottlob Berger sowie die Spitzen des Reichskommissariats Seyß-Inquart, Rauter, Schmidt und Wimmer anwesend. Eine solche Zeremonie war schon einmal für den 6. Juli 1941 ins 105 Himmler an Seyß-Inquart vom 22. Januar 1942, ebd., Bl. 153. 106 Seyß-Inquart an Himmler vom 27. Januar 1942, ebd., Bl. 152. 107 Bericht von Rauter an Himmler vom 1. April 1942, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 137, 677-682. 108 Am 14. Februar 1942 informierte Rauter General Seyffardt über das Ergebnis, das Seyß-Inquart und Himmler in dieser Angelegenheit erzielt hatten. Siehe Correspondentie van Mr. M. M. Rost van Tonningen, Bd. 1, Dok. 271, 760 f. 109 Vgl. In ’t Veld, Inleiding, 243. Hirschfeld, der auch die Eidesformel zitiert, geht von etwa 600 Freiwilligen aus (Fremdherrschaft und Kollaboration, 190), während De Courant vom 19. Mai 1942 von „ungefähr 800“ Personen sprach.

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Auge gefasst worden. Damals war ihre Durchführung in der in Ellecom bei Dieren gelegenen SS-Schule Avegoor aber daran gescheitert, dass Mussert sich geweigert hatte, die Niederländische SS auf Hitler vereidigen zu lassen – handelte es sich doch in seinen Augen um eine Formation der NSB und nicht um ein Instrument der deutschen Führung. Da die NS-Führung so unmittelbar nach Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion die Rekrutierung von niederländischen Freiwilligen nicht in Gefahr bringen wollte, verzichtete man nach turbulenten Gesprächen und Schriftwechseln einstweilen auf die Durchführung einer Vereidigungsfeier.110 Weil es Mussert aber in den folgenden Monaten nicht gelungen war, mithilfe seiner Partei die in Aussicht gestellte Anzahl an Freiwilligen zu rekrutieren und sich abzeichnete, dass in den Niederlanden nicht einmal ein Regiment, geschweige denn eine Division zusammenkommen würde, setzten Himmler und Seyß-Inquart im Frühjahr 1942 die Frage der Eidesleistung erneut auf die Tagesordnung. Bei einer abendlichen Besprechung in Berlin kamen die beiden NS-Politiker am 26. April 1942 überein, dass am besagten 17. Mai die Vereidigung auf Hitler stattfinden solle, dass aber Mussert die Vereidigung vornehmen solle.111 Ihnen war klar, dass sich Mussert einer Vereidigung der niederländischen SS-Freiwilligen kaum mehr verweigern konnte, nachdem er selber in der Zwischenzeit einen Eid auf Hitler abgelegt hatte. Mit der vorgesehenen Eidesformel wollte sich der Führer der niederländischen Kollaborationspartei allerdings nicht abfinden. In der Formulierung, dass die SS-Männer den von Hitler bestimmten Vorgesetzten „Gehorsam bis in den Tod“ schwören sollten,112 sah er die Gefahr einer unmittelbaren Unterstellung unter Himmler und dessen SS-Apparat. Wie Seyß-Inquart Himmler nach einem Gespräch mit Mussert am 30. April mitteilte, war diese Formulierung für Mussert inakzeptabel im Hinblick auf die Erwartung, dass „die Niederländische SS eine Formation der NSB bleiben solle. Er verlange nicht seine Nennung in der Eidesformel wie in Norwegen, aber die Art der Vorgesetztenbestellung dürfe durch die Aufnahme der Worte ‚und die von Dir bestellten Vorgesetzten‘ nicht vorzeitig festgelegt werden.“113 Obwohl Seyß-Inquart mit dem Reichsführer-SS einer Meinung war, dass die niederländischen Freiwilligen nun auf Hitler vereidigt werden sollten, nahm er Mussert in der Frage des Eidestextes Himmler gegenüber in Schutz. Offenbar befürchtete der Reichskommissar nach wie vor, dass sich kaum Freiwillige zur Niederländischen SS melden würden, wenn nach außen hin eine Unterstellung dieser Einheit unter deutsche Befehlshaber sichtbar würde. Und um den Nationalsozialismus in den Niederlanden durchsetzen zu können, sei man nun einmal auf die NSB angewiesen, „zumal ja deren [Personal-]Decke reichlich kurz ist.“ In diesem Sinn kam er zu dem Ergebnis, „dass es eine Niederländische SS, die ausserhalb des Rahmens der NSB steht, im niederländischen Raum derzeit kaum geben kann, dass aber umgekehrt die Niederländi110 Vgl. hierzu Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 185–187 und In ’t Veld, Inleiding, 288 f. 111 Rauter an Himmler vom 28. April 1942, BArch, NS 19/1543, Bl. 23, hier zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 150, 699. Siehe auch Witte u. a. (Bearb.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers, 411 mit Anm. 77. 112 Der Text der Eidesformel ist abgedruckt in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 150 I, 703. 113 Seyß-Inquart an Himmler vom 4. Mai 1942, BArch, NS 19/1543, Bl. 25–29, hier zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 154, 714.

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Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘

sche SS im Rahmen der NSB für die Einhaltung der politischen Linie von ausserordentlicher Bedeutung ist […].“114 Sein Bemühen, sowohl mit Himmler als auch mit Mussert eine einvernehmliche Regelung zu finden, zeigt einmal mehr, dass es zu Seyß-Inquarts Politikstil gehörte, so weit wie möglich ausgleichend zwischen gegensätzlichen Standpunkten zu lavieren, ohne dass der eindeutigen Dominanz von deutscher Politik und Verwaltung in den Niederlanden jemals Abbruch getan würde. Als Reichskommissar brauchte er sowohl SS als auch NSB und hatte ein Interesse daran, beiden Seiten Entfaltungsmöglichkeiten zu gewährleisten. Dem Reichsführer-SS blieb in dieser Situation kaum etwas anderes übrig, als auf Seyß-Inquarts Vermittlungsvorschlag einzugehen. In seinem ungewohnt energisch und gereizt formulierten Antwortschreiben beklagte er sich zwar zähneknirschend über „die widerlichen Schwierigkeiten“, die Mussert im Zusammenhang mit „dieser einfachen Vereidigung der SS-Männer“ mache,115 konzedierte aber den Verzicht auf die umstrittene Passage im Eidestext. Mit diesem Kompromiss konnte das Reichskommissariat einerseits Mussert gegenüber den Anschein erwecken, dass die Niederländische SS weiterhin einen Bestandteil der NSB darstelle und auf ihren Parteiführer orientiert sei. Denn es war ja der Leider, der am 17. Mai 1942 die Vereidigung der niederländischen Freiwilligen vornahm, und eine direkte oder indirekte Unterstellung unter deutsche SS-Offiziere war dank der Vermittlung Seyß-Inquarts abgewendet worden. Sogar Himmler unterstrich in seiner Rede im Den Haager Tierpark, dass die niederländischen SS-Freiwilligen durch ihre Eidesleistung einerseits „in die große Gemeinschaft der SS., der gesamten Germanischen SS.“ aufgenommen worden seien, sich aber zugleich zum „Dienst an Eurem Vaterland“ aufgefordert fühlen müssten und danach streben sollten, „als die Besten der N. S. B. zu gelten.“116 Die Fiktion einer doppelten Orientierung der Niederländischen SS an der „großen Gemeinschaft der SS.“ und an der ‚Nationalsozialistischen Bewegung‘ wurde denn auch bewusst aufgebaut, um gegenüber Mussert wie auch gegenüber potenziellen niederländischen Freiwilligen die Achtung von nationalen Gefühlen oder Interessen zu suggerieren. Auch ließen Himmler und Seyß-Inquart Mussert freie Hand, die Führungskader der NSB auf ihn als Leider zu vereidigen.117 Andererseits wurden die Angehörigen der Niederländischen SS eben nicht auf Mussert, sondern auf Hitler vereidigt. Überhaupt war die Vereidigungszeremonie vom 17. Mai 1942 dazu angetan, den Führer der NSB in Bedrängnis zu bringen. Denn es rächte sich, dass über seine eigene Eidesleistung auf Hitler vom 12. Dezember 1941 seinerzeit Geheimhaltung vereinbart worden war, um seine Stellung innerhalb der Niederlande durch die Unterwerfung unter Hitler nicht noch weiter zu 114 Seyß-Inquart an Himmler vom 4. Mai 1942, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 154, 716. Mit der „Einhaltung der politischen Linien“ war das Ziel einer (Selbst-)Nazifizierung der niederländischen Gesellschaft gemeint. 115 Himmler an Seyß-Inquart vom 9. Mai 1942, Abschriften in BArch, NS 19/1543, Bl. 30–33 und NS 19/1558, Bl. 48-51, hier zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 155, 720. 116 Ins Deutsche rückübersetzt nach: De Courant vom 19. Mai 1942. 117 Siehe Seyß-Inquart an Himmler vom 4. Mai 1942, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 154, 718 und Himmler an Seyß-Inquart vom 9. Mai 1942, zit. nach: ebd., Dok. 155, 720. Am 20. Juni 1942 legten ca. 3.000 NSB-Funktionäre in Utrecht einen Treueid auf Mussert ab; siehe In ’t Veld, Inleiding, 289.

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untergraben.118 Vor diesem Hintergrund musste nun in der niederländischen Öffentlichkeit ein Eid, „den ein Niederländer in die Hand des Niederländers auf einen fremden Staatsführer ablegt“,119 mindestens eigenartig wirken. Darüber hinaus konnte Musserts Akzeptanz innerhalb der niederländischen Bevölkerung nach der Zeremonie vom 17. Mai nur abträglich sein, dass Christiansen und Rauter für Wehrmacht, Waffen-SS, Ordnungs- und Sicherheitspolizei eine Grußpflicht gegenüber Angehörigen der Niederländischen SS anordneten. Der Höhere SS- und Polizeiführer legte sogar Nachdruck darauf, dass die Grußregelung von deutschen Waffenträgern so zu praktizieren sei, „als wäre die niederländische SS allgemeine SS im Reich,“120 und der Wehrmachtbefehlshaber gestattete Wehrmachtssoldaten aller Dienstgrade, in Zukunft „Veranstaltungen und Zusammenkünfte der NSB-Mitglieder und der niederländischen Waffen-SS zu besuchen, Einladungen anzunehmen und auch selbst solche ergehen zu lassen.“121 Von einer derartigen ‚kameradschaftlichen Umarmung‘ ging das für Mussert gefährliche politische Signal aus, dass die NSB in ihrer Gesamtheit in einem großgermanischen Fahrwasser gelandet sei, obwohl die Parteiführung im Gegensatz zum Flügel um Rost van Tonningen und Feldmeijer für das Land nach wie vor eine national-niederländische oder eine ‚dietsche‘ Zukunft anstrebte. Himmler nutzte die herbeigeführte Annäherung der niederländischen SS-Freiwilligen an das nationalsozialistische Deutschland, um bald nach der Vereidigungsfeier vom 17. Mai 1942 den ohnehin kaum mehr fühlbaren Einfluss der NSB ad absurdum zu führen. In einem Rundschreiben vom 27. Juni dekretierte er kurz und bündig die formelle Übernahme der Niederländischen SS durch die Allgemeine SS: „Durch die Vereidigung der Niederländischen SS auf den Führer ist die Niederländische SS in die Gesamtgermanische SS aufgenommen worden“122 – deren formelle Bindung an die NSB spielte für ihn gar keine Rolle mehr. Der Schlusspunkt der Verlagerung der Verfügungsgewalt über die Niederländische SS von der NSB zu Himmlers Machtapparat wurde dadurch gesetzt, dass diese Organisation am 1. November 1942 in ‚Germanische SS in den Niederlanden‘ umbenannt und dem Höheren SSund Polizeiführer Rauter unterstellt wurde; wie bei der Germanske SS Norge, die schon im Juli 118 Siehe In ’t Veld, Inleiding, 289. 119 So die treffende Beschreibung durch Bene in einem als vertraulichen Privatbrief deklarierten Schreiben an Unterstaatssekretär Luther vom 22. Mai 1942, PA AA, R 27632, Bl. 51-54. Entgegen Benes ausdrücklichem Wunsch leitete Luther das Schreiben nicht an Weizsäcker und Dr. Ernst Woermann weiter; siehe die Mitteilung für Steengracht vom 26. Mai 1942, PA AA, R 101102. 120 Rundschreiben Rauters vom 3. Juni 1942, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 166, 742. Ähnlich Rauter an Brandt vom 11. Juni 1942, in: ebd., Dok. 176, 762 f. 121 Tagesbefehl von General Christiansen vom 23. Mai 1942, zit. nach: ebd., Dok. 160, 733. Der Wehrmachtbefehlshaber fügte ebd. aber hinzu: „In Gesprächen politischer Art wird den Wehrmachtangehörigen zur Pflicht gemacht, die notwendige Zurückhaltung zu bewahren, da die Richtlinien für den Gang der politischen Entwicklung allein vom Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete ergehen. Ebenso ist es selbstverständlich, dass über militärische Begebenheiten und Einrichtungen der Wehrmacht nur mit der gebotenen Zurückhaltung gesprochen wird.“ Die Grußpflicht für Angehörige der deutschen Wehrmacht gegenüber der Niederländischen SS hat Christiansen mit seinem Tagesbefehl 33/42 angeordnet. Siehe ebd., Anm. 3 zu Dok. 162, 737. 122 Zit. nach: ebd., Dok. 185, 773.

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Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘

aus der Norges SS hervorgegangen war, wollte Himmler damit deutlich machen, dass es innerhalb des Einflussbereichs des Großdeutschen Reiches nur eine einzige Schutzstaffel gebe, und dass er als Reichsführer-SS die Verfügungsgewalt über die bewaffneten Freiwilligenverbände in den ‚germanischen‘ Ländern für sich beanspruchte.123 Vom Reichskommissar wurden ihm hierbei keine Steine in den Weg gelegt. Was mag Seyß-Inquart bewogen haben, dieser Entwicklung ihren Lauf zu lassen? Hat er sich bald nach der Vereidigungszeremonie vom 17. Mai damit abgefunden, dass Himmlers Machtzuwachs, der mit Bormanns Anordnung A 54/42 vom 12. August 1942 eine neue Dimension gewann, nicht mehr aufzuhalten war? Oder kam er Himmler entgegen, um sozusagen im Gegenzug dessen Zustimmung zur damals diskutierten Frage einer Beteiligung der NSB an einer niederländischen Regierung zu begünstigen? Auf jeden Fall hat Seyß-Inquart sich auch später darum bemüht, Mussert und dessen Anhänger in der machtpolitischen Auseinandersetzung mit Himmler, Rauter und den großgermanisch eingestellten Kräften von dessen eigener Partei punktuell zu unterstützen. So schloss er sich beispielsweise Anfang April 1944 Musserts Klage darüber an, dass Feldmeijer einen Monat vorher ohne Rücksprache mit dem Parteiführer innerhalb der Germanischen SS den Hitlergruß anstelle des NSB-Grußes Hou zee eingeführt hatte. Seyß-Inquart verlangte, dass dieser Gruß erst nach einer ausdrücklichen Anordnung Hitlers verwendet werden dürfe.124 Obwohl Himmler an Feldmeijers Entscheidung festhielt und Musserts Einstellung in dieser Angelegenheit „mehr als kleinlich“ fand,125 war eine solche Stellungnahme für Seyß-Inquart ohne jedes politische Risiko: Er konnte Mussert das Gefühl vermitteln, seine Anliegen stießen bei ihm auf offene Ohren, ohne dass die tatsächlichen Machtverhältnisse in Frage gestellt wurden. Denn an der faktischen Unterstellung der niederländischen SS-Freiwilligen änderte die Grußordnung nichts. Ähnliches gilt für ein anderes strittiges Thema: Mit der Anordnung, dass Funktionäre seiner Partei nicht der Organisation ‚Fördernde Mitglieder der Germanischen-SS in den Niederlanden‘ beitreten dürften, rief Mussert im Frühjahr 1944 wieder einmal den Unmut des SS-Apparats auf den Plan. Hier sah man in der Anordnung einen weiteren Versuch, den großgermanischen Flügel innerhalb der Partei zu schwächen und zugleich eine personelle und materielle Stärkung der Germanischen SS zu verhindern. Himmler sprach in einem Fernschreiben an Seyß-Inquart vom 1. Mai 1944 denn auch von „einer ausgesprochenen Unfreundlichkeit“ und ersuchte den Reichskommissar um „die Beseitigung einer im jetzigen 123 Zur Umbenennung siehe die Mitteilung des Stabschefs der Germanischen SS in den Niederlanden, SS-Obersturmführer Jan Louis Jansonius, vom 26. Oktober 1942, hier nach: De Courant vom 31. Oktober 1942. Vgl. auch In ’t Veld, Inleiding, 301 und 244. 124 Siehe Rauters Bericht vom 4. April über die Besprechung mit Seyß-Inquart vom 2. April 1944, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 522, 1311. Auch durch andere Äußerlichkeiten wie die Ersetzung der schwarzen durch eine feldgraue Uniform und die Einführung deutscher anstelle von niederländischen Rangbezeichnungen in der Germanischen SS hatte sich Feldmeijer Musserts Unmut zugezogen. Vgl. Kromhout, De Voorman, 419 f. 125 So die Mitteilung von Brandt an Rauter vom 24. April 1944, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 530, 1326.

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Zeitpunkt doch wahrhaft unnötigen Schwierigkeit […].“126 In mehreren Gesprächen bemühte sich Seyß-Inquart zwischen Mai und August erfolgreich um eine Vermittlung, die beiden Seiten einen Gesichtsverlust ersparen sollte. Sowohl Mussert als auch die SS akzeptierten schließlich Seyß-Inquarts Kompromissvorschlag, dem zufolge ein niederländischer Parteifunktionär, der die SS offiziell unterstützen wollte, nicht als ‚Förderndes Mitglied‘, sondern nur als ‚Begünstiger‘ bezeichnet werden sollte. Mit dem Verzicht auf den Begriff ‚Mitglied‘ gab sich Mussert zufrieden,127 und Rauter hatte Grund zu der Feststellung, dass „man formell dem Leider entgegenkommt, im Materiellen aber alles beim Alten bleibt.“128 Dass aus Sicht der SS alles beim Alten blieb, sollte dadurch gewährleistet sein, dass ein niederländischer ‚Begünstiger‘ sich zu der Erklärung verpflichten musste, „nach den Grundsätzen der SS sein Leben einzurichten und sie zu beachten.“129 Seyß-Inquarts Kompromissvorschlag offenbart einmal mehr, dass sich Mussert mit Äußerlichkeiten wie der Vermeidung des Mitgliedsbegriffs zufriedengab, während die SS die Ausrichtung an ihrer großgermanischen Politik bestätigt erhielt und ihren Einflussbereich mithilfe der ‚Begünstiger‘ offiziell bis in die Kreise der NSB-Funktionäre ausweiten und institutionell absichern konnte; ihr dominierender Griff auf die niederländischen SS-Freiwilligen wurde dadurch noch gestärkt. Seyß-Inquarts Kompromiss spiegelte auch in dieser Frage die tatsächlichen Machtverhältnisse im Prinzip richtig wider, gab aber auch Mussert das Gefühl, vom Reichskommissar als politischer Machtfaktor ernst genommen zu werden. Für das Reichskommissariat und den SS-Komplex hingen übrigens die Frage der Bildung einer niederländischen Regierung durch die NSB und die Beteiligung von Niederländern an der Freiwilligenlegion zusammen. Ihrer Ansicht nach konnte Mussert nur dann einen Anspruch auf die Bestellung zum Ministerpräsidenten erheben, wenn es ihm gelang, genügend Freiwillige für den Krieg ‚im Osten‘ zu gewinnen. Da er dieses Ziel nicht im erwarteten Ausmaß erreichte, hatten Hitler, Himmler und Seyß-Inquart leichtes Spiel, die niederländischen Faschisten immer wieder hinzuhalten und Mussert das Amt eines Ministerpräsidenten vorzuenthalten. Beide Fragen – Regierungsbildung oder -beteiligung der NSB und Verfügungsgewalt über die Niederländische SS – offenbaren eine für Seyß-Inquart typische Schaukelpolitik, mit deren Hilfe der Reichskommissar in seinem ‚Herrschaftsbereich‘ divergierende Interessen auszugleichen versuchte. Einerseits stehen seine Sympathien für den Aufbau einer großgermanischen Ordnung außer Frage, und dass Himmler und die Schutzstaffel für die Erreichung dieses Ziels wie auch für seine eigene Karriere von großer Bedeutung waren, hat er in seiner Amtsführung durch das enge Verhältnis, das er zu Himmler, Rauter und zahlreichen 126 Zit. nach: ebd., Dok. 536, 1335. Zu dieser Angelegenheit siehe auch Fernschreiben Rauters an Himmler vom 29. April, (ebd., Dok. 533, 1331 f.) und Kaltenbrunner an Himmler vom 3. Mai 1944 (ebd., Dok. 539, 1337 f. sowie BArch, NS 19/3403, Bl. 117). 127 Siehe sein Schreiben an Himmler vom 4. September 1944, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 590, 1416 f. 128 Rauter an Himmler vom 8. Juli 1944, zit. nach: ebd., Dok. 570, 1384. 129 Fernschreiben Rauters an Himmler vom 7. August 1944, zit. nach: ebd., Dok. 582, 1404. Vgl. zu diesem ganzen Vorgang auch Kromhout, De Voorman, 420–422.

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anderen SS-Angehörigen gepflegt hat, immer wieder unter Beweis gestellt. Andererseits war ihm bewusst, dass er die Nationaal-Socialistische Beweging als Juniorpartner für das erhoffte Ziel der (Selbst-)Nazifizierung der niederländischen Gesellschaft brauchte; nach dem Verbot oder der Aufhebung aller anderen niederländischen Parteien blieb ihm keine Alternative zu Konzessionen an die einheimischen Kollaborateure. Somit musste selbst der beinahe allmächtige Reichsführer-SS stets damit rechnen, dass der Reichskommissar Mussert selbst in jenen Fällen unterstützte oder in Schutz nahm, in denen er selber und sein Stellvertreter vor Ort Rauter am liebsten kurzen Prozess mit der NSB gemacht hätten. 7.4 Reichskommissariat, SS und die ‚Säuberungen‘ in der NSB 1944/45

Wie labil das Dreiecksverhältnis zwischen Seyß-Inquart, dem SS-Apparat und der NSB war und bis in die letzte Kriegsphase hinein blieb, wurde besonders deutlich, als Mussert am 28. Dezember 1944 seine beiden Stellvertreter in der Parteiführung, Cornelis van Geelkerken und Rost van Tonningen, ohne Vorankündigung ihrer Ämter enthob und zugleich Van Geelkerken, der 1931 mit Mussert zusammen die Nationaal-Socialistische Beweging gegründet hatte, als Generalinspekteur der Niederländischen Landwacht entließ.130 Die Hintergründe und Umstände dieses Vorgangs lassen sich zwar nicht lückenlos rekonstruieren. Doch die überlieferten Dokumente zeigen ungeachtet ihrer Widersprüchlichkeit, dass Mussert hiermit in ein Wespennest stieß und sein ohnehin hochgradig belastetes Verhältnis zur SS einer letzten großen Zerreißprobe aussetzte. Besonders aber wird deutlich, dass Seyß-Inquart in dieser Angelegenheit stärker als je zuvor seine Schaukelpolitik betrieb, die auf allen Seiten bis hin zum Reichsführer-SS Irritationen auslöste und letztlich niemanden befriedigte, ohne doch die Erosion der NSB aufhalten zu können. Der Verdacht, dass Seyß-Inquart ein Doppelspiel betrieb, konnte bei den Beteiligten schon dadurch aufkommen, dass der Reichskommissar zunächst am 27. Dezember 1944 Mussert grünes Licht für die Entlassung von Rost van Tonningen und Van Geelkerken gab. Mehr noch: Musserts eigenen Angaben zufolge ermunterte ihn der Reichskommissar bei einem Gespräch, im Entlassungsschreiben keinerlei Begründung anzugeben, und so fühlte sich der NSB-Führer von ihm zu der Aussage ermuntert: „Souverän auf meinem Gebiet. Reorganisation der [Nationalsozialistischen] Bewegung macht dies notwendig. Aus.“131 Tatsächlich beschränkte sich das Schreiben, mit dem Mussert Rost van Tonningen am folgenden Tag als seinen Stellvertreter entließ, auf die kurze Mitteilung: „Kamerad, ich stehe vor der Notwendigkeit, die Führung der Bewegung auf tiefgreifende Weise zu reorganisieren. Im Interesse der Bewegung sehe ich mich genötigt, Sie ab 1. Januar nächsten Jahres als Stellvertretenden Füh-

130 Siehe Van der Boom, Kees van Geelkerken, 75–82. Pollmann zeichnet zwar den Prozess der Entfremdung zwischen Mussert und Van Geelkerken nach, verzichtet aber auf eine Darstellung der ‚Säuberungs‘-Episode (Mussert & Co., Kap. 6: Mussert en Kees van Geelkerken). 131 Aus einem Bericht Musserts über die Besprechung mit Seyß-Inquart vom 27. Dezember 1944, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Anm. 6 zu Dok. 616, 1457.

7.4 Reichskommissariat, SS und die ‚Säuberungen‘ in der NSB 1944/45

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rer durch Kamerad Müller zu ersetzen.“132 Jegliches Wort des Dankes fehlte, und nicht zuletzt musste Rost van Tonningen als Brüskierung empfinden, dass Mussert den Rest des auffallend kurzen Briefes darauf verwandte, Rosts Nachfolger, Fredrik Ernst Müller, lobend hervorzuheben. Die Aufwertung des Rotterdamer Bürgermeisters kam zwar nicht völlig unerwartet. So hatte Mussert schon im Herbst 1942 in einem vertraulichen Gespräch angedeutet, dass Müller einmal sein Nachfolger als NSB-Führer werden solle,133 und den Reichskommissar setzte er im Frühjahr 1944 darüber in Kenntnis, dass er Müller zu seinem Bevollmächtigten für Innere Angelegenheiten ernannt und damit Van Geelkerken von diesem Parteiposten entbunden hatte.134 Und dass sein Verhältnis zu seinen bisherigen Stellvertretern ausgesprochen angespannt war, während Müller sein Vertrauen genoss, war in politischen Kreisen kein Geheimnis. Trotzdem kamen Zeitpunkt und der barsche, ehrenrührige Stil der Entlassung für die Betroffenen überraschend. Bei Van Geelkerken wollte Mussert den harschen Stil durch Hinzufügung einer persönlichen Bemerkung abmildern, in der er seinem bisherigen Stellvertreter „große Verdienste“ attestierte – zumindest bis ins Jahr 1942 hinein.135 Den persönlichen und politischen Bruch zwischen den einstigen politischen Weggefährten konnten solch unbeholfene Worte freilich nicht kaschieren, und in der Folgezeit kam es im Verhältnis der beiden Männer zu einer Eskalation, die weit über persönliche Befindlichkeiten hinausführte. Am selben Tag, an dem Mussert den Reichskommissar in seine Entscheidung zur Entlassung von Rost van Tonningen und Van Geelkerken einweihte, hielt Seyß-Inquart auch eine Besprechung mit Rauter und Ritterbusch ab. Offenkundig erwähnte er dabei nicht Musserts Absicht, obwohl ihm bewusst sein musste, dass der Schlag gegen die beiden stellvertretenden NSB-Führer nicht nur die Kollaborationspartei verändern, sondern auch Auswirkungen auf das gesamte innenpolitische Machtgefüge in den noch besetzten Teilen der Niederlande haben würde. Entweder fand seine Besprechung am 27. Dezember mit den Generalkommissaren vor dem Gespräch mit Mussert statt, oder der Reichskommissar hielt sein Wissen um Musserts Absicht, sich am Folgetag seiner beiden Stellvertreter zu entledigen, bewusst zurück – etwa um möglichen Interventionen durch SS-Stellen keinen Raum zu geben und somit Mussert für die Umsetzung seiner Entscheidung den Rücken freizuhalten.136 Dass Seyß-Inquart nicht mit offenen Karten spielte, lässt sich auch aus der Tatsache ableiten, dass er am 28. Dezember Rost van Tonningen auf dessen Wunsch hin empfing. Bei der 132 Zit. nach: Correspondentie van Mr. M. M. Rost van Tonningen, Bd. 2, Dok. 361, 545. 133 Vgl. Romijn, Burgemeesters, 597. 134 Mussert an Seyß-Inquart vom 1. Mai 1944, Abschriften auf Deutsch und Niederländisch in: NIOD, 123/216, Mappe 15. Ebd. befindet sich eine Abschrift der Verordnung, mit der Mussert am 13. April Müller zum Bevollmächtigten ernannt hatte. Zum Verhältnis zwischen Mussert und Müller siehe auch Pollmann, Mussert & Co., Kap. 7: Musserts beste man. 135 Aus Musserts Brief an Van Geelkerken vom 28. Dezember 1944, zit. nach: Van der Boom, Kees van Geelkerken, 78. 136 Jedenfalls erwähnte Rauter in seinem Fernschreiben an Himmler vom 28. Dezember 1944 mit keiner Silbe die Entlassung von Rost van Tonningen und Van Geelkerken. Er glaubte sogar, Seyß-Inquart halte „noch an Mussert fest, weil Ritterbusch und die Parteikanzlei so denken, ist aber innerlich ganz meiner Meinung.“ Zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 611, 1150.

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Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘

Gelegenheit legte er seinem Gesprächspartner lediglich nahe, sich freiwillig zurückzuziehen, ging aber – wie Rost van Tonningen wenig später entrüstet und verbittert feststellte137 – mit keinem Wort auf die bevorstehende Entlassung ein, die just an diesem Tag erfolgte. Zugleich nahm Seyß-Inquart eine Denkschrift entgegen, in der sich Rost van Tonningen bitter über Mussert und „die verhängnisvolle Politik der N. S. B.-Leitung“ beklagte und sich trotz seiner Kritik an „den unglaublichen Annektierungsbestrebungen seitens gewisser Kreise der deutschen Wirtschaft“ für „eine reichstreue Leitung der Partei“ andiente, die sich für „den organischen Einbau der Intelligenz und des Volkes in ein nationalsozialistisch geführtes Reich“ einsetzen wolle. Dass die Würfel zu diesem Zeitpunkt bereits gegen seinen großgermanisch fixierten Gesprächspartner gefallen waren, behielt der Reichskommissar für sich.138 Umso höher schlugen die Wogen, als die Bombe kurz danach platzte. Nachdem die Ersetzung der bisherigen Stellvertreter durch Müller und die Entlassung Van Geelkerkens als Generalinspekteur der Nederlandsche Landwacht bekannt geworden war, reagierten die beiden betroffenen NSB-Funktionäre wie auch der SS-Komplex heftig und umtriebig. Rost van Tonningen bat Seyß-Inquart, zu seinen Gunsten zu intervenieren, und forderte den Reichskommissar auf, „dass Sie Mussert zur Ordnung rufen und meine Entlassung rückgängig machen.“139 Zugleich polemisierte er mit Zustimmung Himmlers und Rauters heftig in der Publizistik gegen den Flügel um Mussert. So schrieb er am 12. Januar 1945 in einem Artikel über die politische Zukunft der Niederlande, dass die Niederländer aufgrund einer „tiefen Enttäuschung über die Parteiführung“ verunsichert seien, und zum wiederholten Mal pries er in bewusster Absetzung von Mussert den großgermanischen Reichsgedanken und das Bündnis „mit dem durch die Jahrhunderte hindurch so schwer geprüften deutschen Volk“.140 Die treibende Kraft gegen Mussert aber war einmal mehr Rauter. Nach einem Gespräch mit Ritterbusch meldete der Höhere SS- und Polizeiführer Himmler per Fernschreiben nicht ohne Enttäuschung, dass Mussert diese Aktion mit Seyß-Inquart abgesprochen habe, ohne sich vorher mit dem Reichsführer-SS abgestimmt zu haben; dabei habe Himmler sich doch „in besonderem Masse im Interesse der Aufrechterhaltung der Einheit der Bewegung dafür eingesetzt […], dass der völkische Exponent Rost in die engere Leitung [der NSB] käme“. Er konnte nicht sein Unverständnis verhehlen, dass der Reichskommissar „in einer solchen bru137 Rost van Tonningen an Seyß-Inquart vom 30. Dezember 1944, BArch, NS 19/2429, Bl. 54. 138 Die am 27. Dezember 1944 verfasste Denkschrift Rost van Tonningens befindet sich ebd., Bl. 17–28, Zitate Bl. 24 f. Am 28. Dezember richtete Rost van Tonningen auch ein Schreiben an Mussert. Hierin brachte der großgermanisch eingestellte Nationalsozialist – offenkundig noch ohne Kenntnis seiner Entlassung – seinen Ärger darüber zum Ausdruck, dass der Parteiführer „eine immer schärfere Ausschaltung der reichstreuen Mitglieder“ aus der NSB betrieben habe. Außerdem warf er Mussert vor, dass „Verrat der Treue zum [Deutschen] Reich an der Tagesordnung ist.“ (Correspondentie van Mr. M. M. Rost van Tonningen, Bd. 2, Dok. 360, 540–545, Zitate 543 f.) 139 Rost van Tonningen an Seyß-Inquart vom 30. Dezember 1944, BArch, NS 19/2429, Bl. 57. 140 Rost van Tonningen, De staatkundige toekomst der Nederlanden. In seinem Fernschreiben an Himmler vom 3. Januar 1945 hatte Rauter die Absicht Rost van Tonningens befürwortet, „eine Serie grossgermanischer Aufsetze [sic] in der ihm zur Verf[ügun]g stehenden Presse“ zu lancieren. Noch am selben Tag telegrafierte der Reichsführer-SS sein Einverständnis. Siehe die Fernschreiben in: BArch, NS 19/2429, Bl. 58–60.

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talen Form der Öffentlichkeit gegenüber Rost ausschaltet“, und er hielt es für „bezeichnend“, dass Seyß-Inquart „alle diese Massnahmen in der Form jetzt durchführt“, obwohl er wisse, dass Himmler den Wunsch geäußert habe, „ihn im Januar in der Hollandpolitik sprechen zu wollen.“141 Zeitgleich setzte sich Rauter hektisch mit Seyß-Inquart, der sich an Silvester für drei Tage auf Reisen begeben hatte, zunächst telefonisch in Verbindung und führte nach dessen Rückkehr ein dreistündiges Gespräch mit dem Reichskommissar über die neu entstandene Situation.142 Bei dem Telefonat vom Neujahrstag schien sich Seyß-Inquart gegen Mussert zu stellen. Entgegen der Darstellung, die der NSB-Führer von seinem Gespräch mit dem Reichskommissar vom 27. Dezember gegeben hat, zeigte sich Seyß-Inquart Rauters Angaben zufolge gegenüber dem Höheren SS- und Polizeiführer am 1. Januar über Musserts Vorgehen entrüstet und meinte, „dass das natürlich nicht ginge, dass Mussert den ihm unbequemen Rost abschiebt, und v[an] Geelkerken belässt. Auch [die] herabsetzende und kränkende beabsichtigte Pressemitteilung sei untragbar, da sie Rost schwerstens verletzen müsse.“143 Unmittelbar nach dem Telefonat wies Seyß-Inquart dann – wiederum den Angaben Rauters zufolge – den Chef des Stabsamtes des Arbeitsbereichs der NSDAP, Friedrich Bühner, in Stellvertretung des erkrankten Generalkommissars Ritterbusch an, sofort bei Mussert vorzusprechen.144 Dass er selber Musserts Angaben nach den Führer der NSB wenige Tage zuvor ermuntert hatte, seine beiden Stellvertreter ohne Angabe von Gründen zu entlassen, ist mit Rauters Darstellung schwer zu vereinbaren. Andererseits blieb Seyß-Inquart bei der Einschätzung, dass es für Rost van Tonningen besser sei, „wenn er in der weiteren Entwicklung nicht mehr Stellvertreter ist.“ Sein Verhältnis zu diesem großgermanischen NSB-Funktionär sei zwar unverändert; dessen Entlassung durch Mussert aber wollte er erkennbar nicht rückgängig machen.145 Angesichts all dieser verwirrend widersprüchlichen Darstellungen von Seyß-Inquarts NSB-Politik um die Jahreswende 1944/45 sind zwei Erklärungen denkbar: Entweder haben Mussert, Rauter oder beide in dieser Frage gänzlich oder partiell falsche oder unvollständige Angaben gemacht, oder der Reichskommissar hat nicht nur gegenüber der NSB, sondern auch gegenüber dem SS-Apparat vielschichtig taktiert. Wie dem auch sei, von Rauter alarmiert schaltete sich Himmler persönlich ein. In einem Fernschreiben an den „lieben Parteigenossen Seyß-Inquart“ brachte der Reichsführer-SS am 2. Januar 1945 seine Irritation so gespielt zum Ausdruck, als sei ihm dessen Beteiligung an Musserts Personalentscheidung nicht bekannt: „Ich höre, daß Mussert Rost van Tonningen 141 Fernschreiben Rauters an Himmler vom 1. Januar 1945, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 616, 1456 f. Vermutlich Mitte Januar 1945 reiste Himmler tatsächlich in Begleitung seiner Gattin in die Niederlande. Am 8. Februar bedankte sich Seyß-Inquart „in alter Kameradschaft“ für diesen Besuch (BArch [ehem. BDC], SSO Arthur Seyß-Inquart, Bl. 88). 142 Siehe die Fernschreiben Rauters an Himmler vom 31. Dezember 1944 und 1. Januar 1945, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 613 und 616, 1453 bzw. 1456 f. sowie seine Fernschreiben an Himmler vom 2. und 3. Januar 1945, BArch, NS 19/2429, Bl. 40 und 58 f. 143 Fernschreiben Rauters an Himmler vom 1. Januar 1945, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 617, 1458. 144 Fernschreiben Rauters an Himmler vom 2. Januar 1945, in: ebd., Dok. 620, 1459. 145 Fernschreiben Seyß-Inquarts an Himmler vom 3. Januar 1945, BArch, NS 19/2429, Bl. 61.

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Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘

praktisch schlicht verabschiedet hat. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken. Irgendwie finde ich aber diese Maßnahme von Mussert unmöglich. Ich weiß, daß Rost eine ganze Menge Fehler hat, darüber haben wir beide schon oft gesprochen. Aber er hat die großgermanische und die Reichslinie immer gehalten.“146 Himmler ließ seinen alten Protegé Rost van Tonningen also nicht fallen, und auch in der Frage, ob Van Geelkerken in der Führung der Landwacht bleiben solle, suchte der Reichsführer-SS, der sich nicht zum ersten Mal von Mussert betrogen fühlte, die Auseinandersetzung mit der NSB-Führung. Seyß-Inquart kam der SS bei einer Besprechung mit Rauter am folgenden Tag insoweit entgegen, als er zusagte, dass die Entlassung von Rost van Tonningen und Van Geelkerken als Stellvertretende Führer der NSB nicht in der Presse vermeldet werde; es solle lediglich verlautbart werden, dass Müller zum Stellvertreter des Leider ernannt worden sei. Prinzipiell also blieb es bei der Entlassung der bisherigen Stellvertretenden Parteiführer, nur sollte die Maßnahme dadurch ein wenig entschärft werden, dass Musserts Schlag gegen Van Geelkerken und Rost van Tonningen der Öffentlichkeit gegenüber verschleiert wurde.147 In der Frage der Besetzung der Führungsposition der Landwacht jedoch unterstützte der Reichskommissar in den ersten Januartagen des letzten Kriegsjahres die Position der SS: Nachdem Rauter Van Geelkerken angeboten hatte, in der Landwacht Generalinspekteur zu bleiben oder Kommandeur zu werden, erklärte auch Seyß-Inquart sein Einverständnis, diesen NSB-Politiker in der Führung der Landwacht zu behalten.148 Dass Mussert ihm zwei andere Kandidaten vorschlug, blieb denn auch ohne jede Konsequenz.149 Nach Seyß-Inquarts Weigerung, bei Mussert auf die Rücknahme der Entlassung von Rost van Tonningen und Van Geelkerken aus der Parteiführung zu drängen, musste der SS-Komplex die Ersetzung dieser beiden niederländischen Politiker durch Müller hinnehmen, der sowohl das Vertrauen Musserts als auch die Wertschätzung des Reichskommissars besaß. Dafür spitzte sich die Auseinandersetzung zwischen Rauter und der NSB-Führung in den folgenden Wochen und Monaten umso mehr im Streit um die Besetzung der Führung der Landwacht zu, und en passant verbanden Rauter und Himmler ihren Griff auf die Landwacht mit dem Bestreben, dem Nationale Jeugdstorm durch die Gründung einer SS-hörigen ‚Germanischen Hitlerjugend Niederlande‘ das Wasser abzugraben und die Nationaal-Socia146 Ebd., Bl. 38. Am selben Tag forderte Himmler Rauter per Fernschreiben auf, auf Rost van Tonningen einzuwirken, er solle „jetzt nur um Gottes Willen keine Formfehler machen und Sie wegen jeden Schrittes, den er tun will, fragen. Ich lasse ihn sehr grüßen.“ (ebd.) 147 Tatsächlich wusste die Untergrundzeitung Het Parool schon am 12. Januar zu berichten, dass von deutscher Seite auf einer Pressekonferenz die Ersetzung von Van Geelkerken und Rost van Tonningen durch Müller bekannt gegeben worden war; siehe deren Ausgabe für Rotterdam vom 12. Januar 1945 (NIOD, Coll. 556, Kart. 61). 148 Siehe die Fernschreiben von Rauter an Himmler vom 2. und 3. Januar 1945, hier nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 621 und 622, 1459–1461. 149 Mussert an Seyß-Inquart vom 5. Januar 1945, NIOD, 123/252, Mappe 1/2. Bei Musserts Kandidaten für das Amt des Kommandeurs der Landwacht handelte es sich um Jacob Eduard Feenstra, Stellvertretender Polizeipräsident für die Provinzen Gelderland und Overijssel, und um Wouter Slob, bisher Stabschef der Landwacht.

7.4 Reichskommissariat, SS und die ‚Säuberungen‘ in der NSB 1944/45

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listische Beweging damit einmal mehr zu schwächen.150 Bei der Landwacht ging es nicht nur um die Person Van Geelkerkens. Es wurde viel grundsätzlicher über die Frage gestritten, ob der NSB-Führer Mussert oder der Generalkommissar für das Sicherheitswesen Rauter über die Besetzung der Führung der Landwacht befinden durfte.151 Denn im Herbst 1943 hatte Mussert Rauters Vorschlag zur Gründung der Niederländischen Landwacht in der Erwartung zugestimmt, dass diese Organisation die Mitglieder und das Eigentum der Partei gegen Angriffe des Widerstands schützen sollte und dadurch ihre Existenzberechtigung aus der Bindung an die NSB bezog. Tatsächlich hatte Seyß-Inquart in der Verordnung, mit der er seinerzeit die Landwacht ins Leben gerufen hatte, von einer „Selbstschutzorganisation“ der NSB gesprochen. Zugleich aber hatte er dem deutschen Generalkommissar weitreichenden Zugriff auf die Landwacht gesichert. So unterstanden ihre Angehörigen in ihren Einsätzen dem Höheren SS- und Polizei­führer. Von ihm wurden sie auch bewaffnet und „mit polizeilichen Befugnissen zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz von Leben und Gut der ordnungsliebenden Bevölkerung eingesetzt.“ Außerdem waren die Mitglieder der Nederlandsche Landwacht in Ausübung ihres Dienstes dem SS- und Polizeigericht statt der ordentlichen Gerichtsbarkeit des Landes unterworfen.152 Angesichts dieser Konstruktion stellte sich die Frage, ob die Landwacht, die sich ausschließlich aus Mitgliedern der NSB und ihren Nebenorganisationen zusammensetzte, letztlich eher der Mussert-Partei zu Diensten zu stehen hatte oder als eine Art niederländische Hilfspolizei der deutschen Besatzungsmacht zu verstehen war. Schon in den vorangegangenen Monaten war diese Frage zwischen dem SS- und Polizeiapparat und der NSB strittig gewesen, und Rauter hatte nichts unversucht gelassen, im Laufe des Jahres 1944 den Einfluss seines Apparats auf die Landwacht immer mehr auszudehnen. Mit der Entlassung von Van Geelkerken aus dem höchsten Amt der Landwacht durch Mussert verschärfte sich der latent vorhandene Disput dramatisch. Welche Haltung nahm Seyß-Inquart in diesem Zusammenhang ein? Seine Politik zeichnete sich nicht durch eine klare, konsequent verfolgte Linie aus, sondern eher durch den Versuch, beiden Seiten entgegenzukommen bzw. sowohl Mussert als auch Rauter vor einem substanziellen Gesichtsverlust zu bewahren. In diesem Sinn lud er am 22. oder 23. Januar 1945 beide Politiker zu einem Vermittlungsgespräch. Da hierbei keine Einigung erzielt werden konnte, ging man ohne Ergebnis auseinander; das Ringen um die Zukunft der Land-

150 Vgl. Rauters Fernschreiben an Himmler vom 12. bis 14. Januar 1945, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 631, 633 und 635, 1467–1471 und Himmlers Fernschreiben an Rauter vom 14. Januar, in: ebd., Dok. 634, 1469. 151 Zur Geschichte der Niederländischen Landwacht siehe In ’t Veld, Inleiding, 385-403. Sie ist zu unterscheiden von der Landwacht Niederlande, die von Seyß-Inquart zwar im Einvernehmen mit Mussert ins Leben gerufen wurde, aber von Anfang an im Rahmen der Waffen-SS aufgestellt und dem HSSuPF unterstellt war. Siehe VO 24/1943 vom 11. März 1943 (in: VOBl. NL 1943, 116-118) mit VO 70/1943 vom 27. Juli 1943 (in: ebd., 250 f.). Im Oktober desselben Jahres wurde die Landwacht Niederlande in Landstorm Nederland umbenannt; dies hatte keine Auswirkungen auf Aufgaben, Rechte, Pflichten und Unterstellungsverhältnisse ihrer Mitglieder. Siehe VO 103/1943 vom 16. Oktober 1943 (in: ebd., 346). 152 VO 110/1943 vom 12. November 1943, in: VOBl. NL 1943, 359–361.

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Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘

wacht blieb einstweilen offen.153 Nachdem Van Geelkerken Musserts Aufforderung, beim Reichskommissar sein Gesuch um Entlassung aus dem Amt des Generalinspekteurs einzureichen,154 nicht nachgekommen war, wurde er am 22. Februar vom NSB-Führer „wegen Ungehorsam an den [sic] Leider“ aus der Partei ausgeschlossen.155 Diesen Schritt nahm dann Seyß-Inquart zum Anlass, die Suspendierung Van Geelkerkens zu fordern.156 Einerseits erkannte er damit grundsätzlich Musserts Anspruch an, dass die Führung der Landwacht nur einem Parteimitglied anvertraut werden könne. Andererseits zog er nicht die naheliegende Konsequenz, Van Geelkerken gleich zu entlassen; mit der Beschränkung auf die Forderung nach einer Suspendierung wollte sich der Reichskommissar offenbar alle Türen offenhalten. Immerhin hatte Himmler die Initiative an sich gerissen, indem er Van Geelkerken nach entsprechenden Vorarbeiten Rauters am 27. Januar zum Kommandeur der Landwacht im Rang eines Ober­führers ernannte,157 und wie immer glaubte Seyß-Inquart es sich nicht leisten zu können, auf einen der beiden politischen Partner zu verzichten. Sein Mangel an Konsequenz, der auch in dieser Frage zu einer Schaukelpolitik zwischen SS und NSB führte, trat noch deutlicher zutage, als Mussert am 28. März durch Ritterbusch telefonisch mitgeteilt wurde, dass der Reichskommissar die Suspendierung Van Geelkerkens aufhob und diesen wieder in das Amt des Generalinspekteurs einsetzte – obwohl Van Geelkerken weiterhin aus der Partei ausgeschlossen blieb. Dieses Vorgehen des Reichskommissars empfand Mussert als „einen Schlag in das Gesicht des Leiders“.158 Und eine Woche später erhielt Mussert vom SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei Dr. Karl Eberhard Schöngarth, der nach einem Anschlag auf Rauter neben seiner Funktion als Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD kommissarisch das Amt des Höheren SS- und Polizeiführers wahrnahm, ein Schreiben, in dem ihm mitgeteilt wurde: „In dem derzeitigen schweren Abwehrkampf ist der Herr Reichskommissar nicht gewillt, Eingriffe in die Führung der Landwacht zu dulden.“ 159 Damit war von Seyß-Inquart in dieser Frage ein spätes Machtwort gesprochen – zu einem Zeitpunkt, an dem der Vormarsch der Alliierten weder durch eine reorganisierte Landwacht noch eine Germanische Hitlerjugend aufzuhalten war, die Bevölkerung durch den verheerenden Hun153 Zu dem Gespräch siehe Fernschreiben Rauters an Himmler vom 24. Januar 1945, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 641, 1475 mit den Bemerkungen des Herausgebers zu Inhalt und Datierung in Anm. 1. 154 Siehe die Abschrift einer deutschen Fassung von Musserts Schreiben an Van Geelkerken vom 14. Februar 1945, NIOD, 123/252, Mappe 6. 155 Siehe Mussert an Seyß-Inquart vom 30. März 1945, ebd., Mappe 13 mit einem handschriftlichen Entwurf auf Niederländisch und Abschriften auf Deutsch und Niederländisch. Siehe auch Mussert an Seyß-Inquart vom 12. Februar 1945, ebd., Mappe 6. 156 So Rauter im Fernschreiben an Himmler vom 27. Februar 1945, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 652, 1487. 157 Siehe Himmler an Van Geelkerken vom 27. Januar 1945, in: ebd., Dok. 642, 1476. Siehe hierzu auch Rauters Fernschreiben an Himmler vom 5. Januar und Himmlers Antwort vom 6. Januar 1945, in: ebd., Dok. 626 und 627, 1463 sowie Himmlers Fernschreiben an Rauter vom 8. Januar 1945, BArch, NS 19/2429, Bl. 64. 158 Mussert an Seyß-Inquart vom 30. März 1945, NIOD, 123/252, Mappe 13. 159 Schöngarth an Mussert vom 5. April 1945, ebd., Mappe 14.

7.4 Reichskommissariat, SS und die ‚Säuberungen‘ in der NSB 1944/45

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gerwinter mit existenziellen Sorgen konfrontiert war und Zigtausende von Menschen ums nackte Überleben kämpften. Die hektischen Auseinandersetzungen um die Entlassung von Rost van Tonningen und Van Geelkerken zeigen, dass sich sowohl das Reichskommissariat als auch der SS-Apparat bis in die letzten Wochen der deutschen Besetzung der Niederlande hinein massiv in die Personalpolitik der Nationaal-Socialistische Beweging eingemischt haben. Sie lassen auch die Nervosität erkennen, die im letzten Kriegswinter unter deutschen wie auch unter niederländischen Nationalsozialisten herrschte. Und sie offenbaren, dass Seyß-Inquart nach wie vor versuchte, alle relevanten Machtgruppierungen in seinem ‚Herrschaftsbereich‘ trotz ihrer gegensätzlichen Interessen und ihres ungleichen politischen Gewichts in seine Besatzungspolitik einzubinden und soweit wie möglich einen Interessenausgleich zustande zu bringen. Ob der Reichskommissar in der Phase der ‚Götterdämmerung‘ der NS-Herrschaft über die Niederlande die Fäden noch in der Hand hielt oder durch eine Schaukelpolitik, die keine Seite wirklich befriedigen konnte, zwischen den Stühlen saß, ist schwer zu entscheiden. Denn angesichts der widersprüchlichen Darstellungen von Mussert und Rauter und dem Mangel an aussagekräftigen Ego-Dokumenten von Seyß-Inquart lassen sich dessen Intentionen und Aktionen nicht mit Sicherheit ausmachen. Bezeichnend aber ist, dass sich Seyß-Inquart bis kurz vor der deutschen Kapitulation weigerte, die NSB fallen zu lassen, obwohl sich schon seit Jahren herausgestellt hatte, dass die Kollaborationspartei für seine Zielsetzung einer gelenkten Selbstnazifizierung der Niederlande nicht nur nicht geeignet war, sondern aufgrund mangelhafter Resonanz bei der einheimischen Bevölkerung und ihrer Vorliebe für eine national-niederländische oder gegebenenfalls großniederländische Politik einer Umsetzung dieses ursprünglichen Ziels der deutschen Besatzungspolitik sogar im Wege stand.160 In Seyß-Inquarts grundsätzlichem Festhalten an der Nationaal-Socialistische Beweging auch in einer extrem kritischen Phase der Besatzungsgeschichte kam ein roter Faden seiner Amtsführung als Reichskommissar zum Tragen: Von Anfang an war Seyß-Inquart darauf bedacht gewesen, SS, NSDAP und NSB jeweils Raum zur politischen Entfaltung bei der Nazifizierung der Niederlande zu garantieren. Von SS-Vertretern wurde er zwar dem Verdacht ausgesetzt, einseitig die Interessen von Mussert und Schmidt zu vertreten. So kritisierte etwa Gottlob Berger, dass Seyß-Inquart sich als „Überparteilicher“ bezeichne, „steht aber innerlich mehr auf der Seite Schmidt[s].“161 Gegen eine solche Interpretation sprechen aber die engen Absprachen, die der Reichskommissar immer wieder mit Rauter oder gar Himmler getroffen hat. Dagegen spricht auch, dass Seyß-Inquart Schmidts Plan, Mussert von Hitler zum Ministerpräsidenten ernennen zu lassen, zwar gelegentlich unterstützt, im entscheidenden Augenblick aber fallen gelassen hat. Und schließlich war sich Seyß-Inquart bewusst, dass die NSB nicht in der Lage sein würde, „dem Führer beachtliche Teile des holländischen Volkstums zu bringen.“162 Seine Strategie lief insgesamt gesehen auf ein Ausbalancieren der unter160 Ähnlich die Beurteilung durch Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 129–139. 161 Berger an Himmler vom 31. März 1942, BArch, NS 19/1558, Bl. 1. 162 So Seyß-Inquarts Aussage laut Mitteilung Rauters an Himmler vom 8. Juli 1944, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 570, 1383.

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Kapitel 7: Seyß-Inquart und die ‚Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande‘

schiedlichen Machtgruppierungen in den Niederlanden hinaus. In diesem Zusammenhang war die NSB für ihn als Instrument einer gelenkten Selbstnazifizierung der niederländischen Gesellschaft ein selbstverständlicher Teil der deutschen Besatzungspolitik. Im Laufe der fünf Besatzungsjahre war Seyß-Inquarts Umgang mit der Kollaborationspartei zwar von enormen Schwankungen gekennzeichnet, bei denen er stets das Verhältnis zu SS und NSDAP in den Niederlanden und im Reich im Blick haben musste. Eine schlüssige und widerspruchsfreie Periodisierung seiner NSB-Politik163 lässt sich aber kaum rekonstruieren. Es überwiegt der Eindruck von Kontinuität: Der Wechsel zwischen Ermunterung, Hinhalten und Brüskierung Musserts; das Ausspielen der rivalisierenden Parteiflügel um Mussert und um Rost van Tonningen; die auffällige Vermeidung einer klaren Festlegung von Form, Inhalt und Intensität der politischen Einbindung der NSB für die Dauer des Krieges; und selbst die taktisch motivierten Schwankungen im Verhältnis zur NSB durchziehen die gesamte Amtszeit von Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart.

163 Wenig überzeugend in dieser Hinsicht ist der Versuch von Meyers (Mussert, 238 f.).

Kapitel 8:

Judenverfolgung1

Die Bevölkerungsgruppe, die vom NS-Regime am fanatischsten und nachhaltigsten verfolgt wurde, war die jüdische. Die Niederlande waren in diesem Kontext besonders betroffen: Aus keinem der besetzten westeuropäischen Länder wurden derart viele Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager in Osteuropa deportiert. Bei den insgesamt ca. 160.000 Personen, die im Sommer 1941 von den Nationalsozialisten als ‚Juden‘ oder ‚Mischlinge‘ ausgemacht wurden, handelte es sich sowohl um Angehörige einer gesellschaftlichen Gruppe, die seit Jahrzehnten, zum Teil seit Jahrhunderten in den Niederlanden ansässig war, als auch um Tausende von Juden, die im Zuge der Machtergreifung in Deutschland oder der ‚Anschlüsse‘ von Österreich und des Sudetenlands hierhin geflüchtet waren.2 Der erste Deportationszug verließ Amsterdam mit 962 Männern, Frauen und Kindern in der Nacht vom 14. Juli 1942 und fuhr am folgenden Tag mit 1.135 Juden vom Sammellager Westerbork ins Vernichtungs­lager ­Auschwitz/Oświęcim. Es folgten 100 weitere Transporte von Westerbork, Apeldoorn und Vught aus nach Auschwitz, Sobibór, Theresienstadt/Terezín und Bergen-Belsen. Der letzte Deportationszug verließ Westerbork am 13. September 1944 – zu einem Zeitpunkt, als die alliierten Truppen bereits die Grenze zu Belgien erreicht hatten und sich anschickten, die Niederlande zu befreien. Insgesamt wurden bis Kriegsende ca. 107.000 Menschen, die nach nationalsozialistischen Kriterien als ‚Juden‘ galten, in ‚den Osten‘ transportiert. Von ihnen überlebten nur etwa 5.200 Personen den Holocaust.3 Im Hinblick auf die Radikalität, bürokratische Effizienz und massenmörderische Konsequenz, mit der die jüdische Bevölkerung systematisch isoliert, beraubt und anschließend in die Vernichtung geführt wurde, nimmt die Situation der Niederlande unter Reichskommissar Seyß-Inquart in der Geschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkriegs eine singuläre Stellung ein – bildet das Land unter den westeuropäischen Ländern doch prozentual und in absoluten Zahlen bei den Deportationen die traurige Spitze: Mit der Vernichtung von 1 2 3

Für einen Forschungsüberblick vgl. De Haan, Breuklijnen. Aus Deutschland waren bis Mai 1940 25.000 bis 30.000 Jüdinnen und Juden in die vermeintlich sicheren Niederlande geflüchtet; weniger als die Hälfte von ihnen reiste über die Nordseehäfen nach Großbritannien oder Übersee weiter. Siehe Benz, Der Holocaust, 31 und Happe/Mayer/Peers, Einleitung, 16. Zahlen nach: Hirschfeld, Niederlande, Anhänge I und II sowie Romijn, De oorlog, 315, 333 und 339. Siehe auch Hájková, Das Polizeiliche Durchgangslager Westerbork, 241.

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Kapitel 8: Judenverfolgung

gut 76 Prozent der ‚Volljuden‘ liegt das Ergebnis der Ausrottungspolitik hier weit über den Zahlen, die für Frankreich (80.000 = 25 Prozent) und Belgien (25.000 = 43 Prozent) ermittelt worden sind.4 Dies ist umso bemerkenswerter, als Antisemitismus vor dem deutschen Überfall in den Niederlanden allenfalls marginal vorhanden gewesen war und Juden bis 1940 einen selbstverständlichen und weitgehend gut integrierten Teil der niederländischen Bevölkerung dargestellt hatten.5 Hier ist es weder möglich, die Judenverfolgung in den Niederlanden im Detail zu analysieren noch mit Verfolgungsmaßnahmen in anderen besetzten Gebieten zu vergleichen.6 Entscheidend ist vielmehr, dass die besetzten Niederlande im Kontext des Holocaust im negativen Sinn herausragten, und dabei spielte der Chef der deutschen Zivilverwaltung eine zentrale Rolle. Wie auf anderen Politikfeldern war das Reichskommissariat zwar auch bei der Judenverfolgung in ein komplexes arbeitsteiliges Verfahren eingebunden.7 Erwartungen des ‚Führers‘, Vorgaben des Reichssicherheitshauptamts und die Kompetenzen und Interessen von unterschiedlichen Reichsministerien und anderen Reichszentralbehörden waren zu berücksichtigen, und bei der Umsetzung von Verfolgungsmaßnahmen vor Ort waren nicht nur die Generalkommissariate einzubeziehen, sondern auch die Mitarbeiter des Befehlshabers der Sicherheitspolizei, die dem Höheren SS- und Polizeiführer unterstanden und sich damit außerhalb der unmittelbaren Weisungsbefugnis des Reichskommissars befanden. Dazu kamen einheimische Kollaborateure und Denunzianten, die sich gegen Kopfgeld an der Jagd auf Juden beteiligten.8 Letztlich aber trug Seyß-Inquart auch für diesen Teil der deutschen Besatzungspolitik de jure und de facto die Verantwortung. Auf dem Nürnberger Prozess hat er seine Haltung mit der Aussage zu rechtfertigen versucht, „daß ich aus dem ersten Weltkrieg und aus der Nachkriegszeit heraus als ein Antisemit nach Holland gegangen bin“, und in Den Haag habe er den Eindruck gehabt, „daß die Juden natürlich gegen das nationalsozialistische Deutschland sein müssen. Eine Schuldfrage war für mich nicht zu erörtern, sondern ich mußte als Chef eines besetzten Gebietes nur mit der Tatsache rechnen. Ich mußte mir sagen, daß ich aus den jüdischen Kreisen besonders mit Widerstand, Defaitismus und so weiter zu rechnen habe.“ In einer solchen Darstellung wurde die mit aller nur denkbaren Brutalität und schließlich mit genozidaler Absicht durchgeführte Judenverfolgung des NS-Regimes in einen defensiven Akt uminterpretiert, dem auch noch eine sachliche Notwendigkeit unterstellt wurde. Die Massendeportationen erschienen in diesem Licht als eine Verteidigung im „Kampf auf Leben und Tod des deutschen Volkes“,9 als eine scheinbar rationale Antwort auf eine angebliche Herausforderung der deutschen Herrschaft, deren Legitimität für Seyß-Inquart 4 Seibel, The Holocaust in western Europe, 224 f. Vgl. auch Tab. 7 in: Meinen/Meyer, Verfolgt von Land zu Land, 272. 5 Van Eijnatten/Van Lieburg, Nederlandse Religiegeschiedenis, 318 f. Siehe auch De Haan, The Paradoxes of Dutch History und Ders., Imperialism, Colonialism and Genocide. 6 Für Westeuropa vgl. Griffioen/Zeller, Jodenvervolging in Nederland, Frankrijk en België. 7 Vgl. hierzu den vorzüglichen Sammelband Feldman/Seibel (Hrsg.), Networks of Nazi Persecution. 8 Siehe hierzu Van Liempt, Kopfgeld. 9 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 723 f.

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außer Frage stand. Damit wurde die Geschichte der Judenverfolgung geradezu auf den Kopf gestellt. Einer moralischen Bewertung wollte er sich weder in der Besatzungs- noch in der Nachkriegszeit stellen, Judenverfolgung präsentierte er als eine ausschließlich politische Herausforderung, die dem NS-Staat von den Verfolgten aufgedrängt worden sei. Wie Seyß-Inquart während der Besatzungszeit tatsächlich zur „Lösung“ der „Judenfrage“, die er einmal als „vordringlich“ bezeichnet hat,10 stand, soll im Folgenden untersucht werden. Welche Maßnahmen hat er auf diesem Gebiet ergriffen? Wie verhielt er sich gegenüber Arisierungsbegierden von niederländischen ‚Kameraden‘? Wie muss sein Kenntnisstand über das tödliche Schicksal der in die Vernichtungslager abgeschobenen Juden eingeschätzt werden, und wie ist der Beitrag des Reichskommissars zum Holocaust zwischen Mai 1940 und Mai 1945 zusammenfassend zu bewerten? 8.1 Schaffung rechtlicher Grundlagen

Wie in Deutschland galten Juden in den besetzten Niederlanden von Anfang an als inferiore, weitgehend entrechtete Bevölkerungsgruppe, die juristisch und terminologisch aus dem Be­ griff des ‚niederländischen Volkes‘ herausdefiniert wurde. Ihre Angehörigen wurden sukzessive von der nichtjüdischen Bevölkerung separiert, durch Enteignung und die Verhängung von Berufs- und Aufenthaltsverboten aus dem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben ausgesondert, mit bürokratischen Mitteln registriert, an bestimmten, zugewiesenen Orten konzentriert und ab Juli 1942 in ‚den Osten‘ deportiert; hier wurden sie unter dem Vorwand eines ‚Arbeitseinsatzes‘ und einer Neuansiedlung nach dem Ende des Krieges zum überwiegenden Teil physisch liquidiert. Die verschiedenen Formen der Enteignung jüdischen Besitzes wiederum, die noch vorzustellen sein werden, liefen im Prinzip ebenfalls nach Mustern ab, die in Deutschland und anderen deutsch beherrschten Gebieten praktiziert wurden: zunächst verpflichtende Anmeldung und Registrierung, dann Übernahme der betreffenden Werte oder Güter durch ‚Verwalter‘ oder ‚Treuhänder‘, die von der Besatzungsverwaltung eingesetzt und beauftragt wurden, und schließlich Verkauf, dessen Erlös nicht den entrechteten Juden, sondern deutschen Institutionen zugutekam.11 Nur wenigen – und ausschließlich vermögenden – Juden gelang es in den ersten Monaten der Besatzungszeit, durch exorbitant hohe Lösegeldzahlungen für sich und ihre Familien die Ausreise aus dem deutschen Machtbereich zu erkaufen. 10 Bericht der Vertretung des Auswärtigen Amtes in Den Haag (Mohr) an das Auswärtige Amt vom 17. Februar 1941, PA AA, R 102895. 11 Veraart, Ontrechting en rechtsherstel, 51. Siehe auch Middelberg, Judenrecht, Judenpolitik und der Jurist Hans Calmeyer, 109 ff. und Kreutzmüller, Händler, 134–155. Klemann weist darauf hin, dass der rassistisch motivierte Verdrängungs- und Vernichtungswille im Vordergrund der deutschen Arisierungsbestrebungen stand. Ungeachtet des systematischen Charakters, mit dem die Besatzungsmacht die jüdische Bevölkerung enteignete und beraubte, hält er aus makroökonomischer Sicht die Bedeutung der Arisierung für die niederländische Volkswirtschaft – im Vergleich zu anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Reichskommissariats – für gering (Nederland 1938–1948, 93–100). Dass die Beraubung im Verein mit Entrechtung, Deportation und Vernichtung für die betroffene Bevölkerungsgruppe wie auch für die niederländische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gravierende Konsequenzen hatte, steht freilich außer Frage.

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Ab 1942 konnte man auf offiziellem Wege fast nur noch einen zeitlichen Aufschub der Deportation erwirken. Eine Ausreise war nach der Wannseekonferenz, auf der verschiedene Reichsbehörden am 20. Januar 1942 die Durchführung der ‚Endlösung der Judenfrage‘ abgeklärt hatten, kaum mehr möglich. Am allerwenigsten garantierten Rückstellungen, auf Dauer vor der Abschiebung in die Vernichtungslager in Osteuropa sicher zu sein.12 Eine Überlebensgarantie besaßen auch jene Gruppen von Juden nicht, die lediglich für eine gewisse Zeit von Deportationen verschont blieben: Mitarbeiter des Judenrats, die zwangsweise in die Deportation der jüdischen Bevölkerung eingebunden wurden; ‚Halb-‘ oder ‚Vierteljuden‘, über deren Schicksal auf Reichsebene zu entscheiden war; Juden, deren Arbeitskraft in rüstungsrelevanten Betrieben ausgenutzt wurde; die im NS-Jargon ‚Diamantjuden‘ genannten Spezialisten, die mit ihren Fachkenntnissen für die Bearbeitung von Edelsteinen gebraucht wurden; ausländische Juden, von deren Freipressung sich das Regime Deviseneinkünfte versprach; und eine Gruppe von Juden, die auf Wunsch der Generalsekretäre Frederiks und Van Dam aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung eine Zeit lang auf einem Landgut bei Barneveld (Provinz Gelderland) festgehalten wurden. Ansonsten blieben den Angehörigen der jüdischen Bevölkerung nur illegale Optionen, um wenigstens den Versuch zu unternehmen, zu überleben: unterzutauchen, zu fliehen oder Ausweise und Ausreisedokumente ausländischer Staaten zu kaufen, die – in den meisten Fällen und oftmals gegen Geld – gefälscht wurden. Gegen die untergetauchten Juden richteten sich zahlreiche Razzien, die die Besatzungsmacht mit aller Brutalität durchführte. Juristische, polizeiliche, wirtschaftliche und propagandistische Mittel griffen ineinander, um die jüdische Bevölkerung zunächst zu isolieren und anschließend aus den Niederlanden zu vertreiben und in den sicheren Tod zu schicken. Insgesamt nahmen die Maßnahmen, die von der deutschen Besatzungsverwaltung unter Einbeziehung oder Mitarbeit von einheimischen Kollaborateuren und niederländischen Beamten implementiert und durchgeführt wurden, im Laufe der Besatzungszeit an Radikalität zu: Gab sich das Reichskommissariat in den ersten Monaten mit der Verhängung von Einschränkungen in der privaten und beruflichen Lebensführung der jüdischen Bevölkerung relativ zurückhaltend, um die öffentliche Meinung im Sinne der ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ nicht vorzeitig zu beunruhigen, nahmen ab 1941 gewaltsame Übergriffe zu. Zugleich wurden die Existenzgrundlagen der Juden immer mehr eingeschränkt, ehe die Deportationen ab Juli 1942 auf grausame Weise zur ‚Endlösung‘ beitrugen.13 Im Vergleich zum besetzten Frankreich, wo die Militärverwaltung bereits im Sommer und Herbst 1940 die Weichen zur Registrierung der jüdischen Bevölkerung und zur Arisierung der dortigen Wirtschaft stellte,14 setzte die Zivilverwaltung in den Niederlanden die antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen etwas später in Gang. Dies aber geschah in der Folge so energisch und systematisch, dass die 12 Siehe hierzu Zeugin/Sandkühler, Die Schweiz und die deutschen Lösegelderpressungen in den besetzten Niederlanden, Kap. 3. Zum Folgenden siehe auch Moore, Slachtoffers en overlevenden, Kap. 6 und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/1, 266 ff. 13 Zur chronologischen Entwicklung vgl. Middelberg, Judenrecht, Judenpolitik und der Jurist Hans Calmeyer, Kap. II D. 14 Vgl. Happe/Mayer/Peers, Einleitung, 46 f. mit Dok. 236 und 246, 592–595 bzw. 618 f.

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Deportationen aus diesem Land die Deportationen aus Belgien und Frankreich bei weitem übertrafen. Obwohl Seyß-Inquart und seine Behörde keineswegs autonom agierten, zeichnete der Reichskommissar als Hitlers Statthalter in Den Haag für die Judenverfolgung in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ verantwortlich. In diesem Bereich hat er sich so stark engagiert und exponiert wie auf kaum einem anderen Politikfeld. Hierfür dürften zwei Momente ausschlaggebend gewesen sein. Erstens trifft seine oben zitierte Aussage durchaus zu, er sei „aus dem ersten Weltkrieg und aus der Nachkriegszeit heraus als ein Antisemit nach Holland gegangen“ – war er doch schon als junger Mann Freizeitorganisationen wie dem Gesangverein Baden und der Akademischen Sektion Wien des Alpenvereins beigetreten, die Juden die Mitgliedschaft verweigerten.15 In den Zwanzigerjahren war Seyß-Inquart darüber hinaus politisch ausgerichteten Vereinigungen beigetreten, die neben dem staatlichen Zusammenschluss von Deutschland und Österreich die Zurückdrängung von Juden aus dem politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben anstrebten (Deutsche Gemeinschaft und Deutscher Klub, teilweise auch Österreichisch-Deutscher Volksbund), in den Dreißigerjahren hatte er sich Organisationen angeschlossen, die für einen militanten Antisemitismus standen (Verband deutsch-arischer Rechtsanwälte in Österreich, Steirischer Heimatschutz, NSDAP). In Wien, seit langem eine der Hochburgen der Judenfeindschaft in Europa, war Antisemitismus somit integraler Bestandteil seiner politischen Sozialisation gewesen, und schon für seine Karriere im Kontext und in der Folge des ‚Anschlusses‘ Österreichs war die Bereitschaft zur Judenverfolgung eine unausgesprochene Voraussetzung gewesen. Als Reichsstatthalter hatte er denn auch für die reibungslose Einführung der deutschen Rassegesetzgebung in der Ostmark gesorgt, als Führer des Deutschen Alpenvereins hatte er konsequent den Ausschluss von Juden aus den einzelnen Sektionen durchgeführt.16 An die Erfahrungen, die Seyß-Inquart in Österreich gesammelt hatte, konnte der gestandene Antisemit – nun unter den Bedingungen des Krieges – in Krakau anknüpfen. Denn als Stellvertretender Generalgouverneur nahm er in Polen an den ethnischen ‚Säuberungen‘ teil, mit denen das NS-Regime seine ‚Neue Ordnung‘ in Europa zu etablieren suchte.17 Während ihm allerdings Hans Frank in Krakau kaum die Möglichkeit gelassen hatte, ein eigenes politisches Profil zu entwickeln, bot die Berufung nach Den Haag Seyß-Inquart die 15 Zum Gesangverein Baden siehe oben, S. 32, zur Akademischen Sektion Wien und ihrem Arierparagrafen deren Jahresberichte für 1920 (22 und 1) und 1923 (11) sowie die Festschrift von 1928 zu ihrem 40-jährigen Bestehen. Ihre Mitglieder wollten im Sinne einer Revision der Pariser Vorortverträge „auch im Kampfe mit den Bergen Körper und Geist kräftigen und schulen, auf daß der Tag der großen Abrechnung mit unseren Feinden in uns starke und heimatstreue Menschen finde“ (aus dem Jahresbericht für 1921, zit. nach Pichl, Vierzig Jahre Akademische Sektion „Wien“, 26). Zur Geschichte dieser deutschvölkischen Alpenvereinssektion siehe Amstädter, Der Alpinismus, 73–77 und 274. Ein Zugang zum Archiv der Akademischen Sektion Wien war mir während meiner Forschungen nicht möglich (E-Mails von Dr. Wolfgang Steffanides vom 29. und 30. Juni 2011). 16 Vgl. Koll, Aufbau der „Volksgemeinschaft“, 134 f. 17 Siehe hierzu oben, Kap. 2.5.

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Chance, sich stärker noch als in Wien und Krakau in den Augen der Reichsführung zu profilieren. Hierin liegt das zweite Moment begründet, das sein hohes persönliches Engagement auf diesem Gebiet zu erklären hilft: Als Reichskommissar diente Seyß-Inquart die Judenverfolgung dazu, sich durch Effizienz und Radikalität innerhalb der nationalsozialistischen Funktionselite auszuzeichnen – galt doch die Eliminierung der jüdischen Bevölkerung auf allen Rängen des NS-Systems als ein Herzstück der zu errichtenden ‚Neuen Ordnung‘. Da er nun die Gesamtverantwortung für eines der von Deutschland besetzten Länder trug, widmete Seyß-Inquart diesem Herzstück besondere Aufmerksamkeit. Die Absicht, die jüdische Bevölkerung aus ‚seinen‘ Niederlanden zu eliminieren, entsprang also sowohl einem persönlichen Anliegen, das auf seine politische Sozialisation zurückging, als auch strategischem Kalkül, das der eigenen Karriere förderlich sein sollte. Ideologiehörigkeit und Utilitarismus gingen Hand in Hand. Dies lief in der Praxis darauf hinaus, dass ihm als Reichskommissar in erster Linie die Schaffung rechtlicher Grundlagen oblag. In ihnen spiegeln sich die verschiedenen Formen und Etappen der Judenverfolgung wider, auf ihnen fußte der Prozess der umfassenden Ausgrenzung, Enteignung und Deportation der jüdischen Bevölkerung. In der Regel wurden die einschlägigen Verordnungen und sonstigen Rechtstexte auf der Grundlage von Seyß-Inquarts Vorgaben durch die Experten der Abteilung Rechtsetzung und Staatsrecht von Wimmers Generalkommissariat im Detail ausgearbeitet und nach Abstimmung mit anderen betroffenen deutschen oder auch niederländischen Behörden dem Reichskommissar zur Genehmigung vorgelegt. Im positiven Fall wurden sie dann von Seyß-Inquart in Kraft gesetzt, im Verordnungsblatt verkündet und vor allem von Rauters Sicherheitsapparat mit polizeilichen Mitteln erbarmungslos umgesetzt. Im Rahmen ihres jeweiligen Aufgabenbereichs haben auch Generalkommissare Anordnungen erlassen, die das Leben der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden einschränkten und später der Vorbereitung und Durchführung der Deportationen dienten.18 Insbesondere Rauter erließ zahlreiche ‚Anordnungen‘ oder ‚Bekanntmachungen‘, zu denen er durch Seyß-Inquarts Ordnungsschutzverordnung von 194119 ermächtigt worden war. Darüber hinaus waren die niederländischen Generalsekretariate in den Erlass von anitjüdischen Anordnungen eingespannt. So ordnete beispielsweise Generalsekretär Jan van Dam im September 1941 an, dass jüdische Kinder fortan nur noch eine der 34 jüdischen Schulen besuchen durften, an denen ausschließlich jüdische Lehrer zum Unterrichten befugt waren.20 Es steht außer Zweifel, dass diese und ähnliche Anordnungen auf Wunsch oder Anweisung 18 Griffioen und Zeller wiesen darauf hin, dass die antijüdischen Verordnungen vom Reichskommissariat vergleichsweise rasch ausgearbeitet und verkündet wurden (Jodenvervolging in Nederland, Frankrijk en België, 208). 19 VO 138/1941 vom 25. Juli 1941, § 45, in: VOBl. NL 1941, 583 f. 20 Romijn, Burgemeesters, 243–245. Der Widerstand, den es vereinzelt gegen diese Anordnung gab, wurde von der Besatzungsmacht durch die Drohung gebrochen, jüdische Eltern zu deportieren, die ihre Kinder weiterhin auf nichtjüdische Schulen schicken würden. Zur Frage des Ausschlusses jüdischer Kinder aus nichtjüdischen Schulen siehe auch De Pater, Het schoolverzet, 76–80.

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des Reichskommissars oder eines Generalkommissars ausgearbeitet und nicht ohne Seyß-Inquarts Zustimmung in Kraft gesetzt wurden. Darauf weist besonders das folgende Beispiel hin: Am 11. Februar 1941 ermächtigte Seyß-Inquart Van Dam auf dem Verordnungsweg, den Zugang von jüdischen Studierenden zu den Hochschulen des Landes erheblich zu erschweren oder gar unmöglich zu machen, und tatsächlich erließ der Generalsekretär für Erziehung, Wissenschaft und Kulturverwaltung am selben Tag eine Vorschrift, die für Juden ab dem Studienjahr 1941/42 die Aufnahme eines Studiums sowie das Ablegen von Prüfungen von seiner Genehmigung abhängig machte.21 Hier wird exemplarisch deutlich, dass niederländische Beiträge zur antijüdischen Rechtsetzung vom Reichskommissariat orchestriert und dirigiert wurden – wollte das Besatzungsregime doch auf keinem Gebiet derart konsequent alle Fäden in der Hand behalten wie auf dem der Judenverfolgung. Im Kern wurde dieser Politikbereich von der Besatzungsmacht denn auch als eine genuin deutsche Angelegenheit angesehen, bei deren Implementierung und Durchführung Niederländer allenfalls assistieren durften. In diesem Punkt unterschied sich die Situation der Niederlande von der in Norwegen: Terbovens Behörde hielt sich bei der Judenverfolgung in den ersten zweieinhalb Jahren der Besetzung des Landes weitgehend zurück. Bis zum Beginn der Deportationen im Herbst 1942 überließ das dortige Reichskommissariat antijüdische Maßnahmen im Großen und Ganzen den einheimischen Staatsorganen und dem Nasjonal Samling.22 Noch weniger können die Niederlande mit ‚befreundeten‘ oder verbündeten Ländern des Großdeutschen Reiches verglichen werden: Während in Vichy-Frankreich, Bulgarien oder Rumänien kollaborationsbereite Regierungen die Verfolgung von Jüdinnen und Juden mithilfe von ‚Kommissaren für Judenfragen‘ zwar oft in Absprache und Zusammenarbeit mit deutschen Nationalsozialisten, letztlich aber in eigener Verantwortung organisierten,23 waren es in Seyß-Inquarts Reichskommissariat die deutschen Beamten und Dienststellen, die Maßgaben für die Judenverfolgung erließen und in führender Weise umsetzten. Wagten es niederländische Beamte, gegen Maßnahmen wie die Entlassung von jüdischen Beamten im Februar 1941 zu protestieren, handelten sie sich von deutscher Seite einen strengen Verweis ein.24 Kollaboration in den von Deutschland vorgegebenen Bahnen wurde eingefordert, Kritik hingegen unterdrückt. Sogar die einheimischen Faschisten wurden nicht in dem Maße in die Arisierung des besetzten Landes einbezogen wie von ihnen gewünscht.25 Wurde im besetzten und im unbesetzten Teil von Frankreich die wirtschaftliche Beraubung der Juden weitgehend französischen Behörden wie dem Service du contrôle des administrateurs

21 Siehe VO 27/1941 (Seyß-Inquart) und VO 28/1941 (Van Dam), in: VOBl. NL 1941, 99–101. Zu den beiden Verordnungen und den Protesten, mit denen niederländische Studierende auf die Arisierung der Hochschulen reagierten, siehe Presser, Ondergang, Bd. 1, 97–99 und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/2, 871–873. 22 Happe/Mayer/Peers, Einleitung, 26-29. 23 Für das Commissariat Général aux Questions Juives des Vichy-Regimes vgl. Mayer, Staaten als Täter, passim. 24 Siehe oben, S. 214. 25 Vgl. hierzu Abschn. 5 in diesem Kapitel.

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provisoires und der Direction de l’aryanisation économique überlassen,26 blieben in den Niederlanden die Arisierung des Wirtschaftslebens und die Deportation der jüdischen Bevölkerung als ein Kernelement nationalsozialistischer Politik von Anfang bis Ende in deutscher Hand. So war es Seyß-Inquart, der die entscheidenden rechtlichen Rahmenbedingungen für die Judenverfolgung ohne Mitwirkung von niederländischen Behörden festlegte, und für die Weichenstellungen, wenn auch nicht für die konkrete Umsetzung der Verfolgungsmaßnahmen, übernahm er später vor dem Nürnberger Gericht die Verantwortung.27 Wichtige Schritte auf dem Weg der Verfolgung von Juden in den Niederlanden stellen die folgenden Rechtsvorschriften dar, die Seyß-Inquart selber in Kraft gesetzt oder an deren Vorbereitung er aktiv teilgenommen hat. Durch Verordnung 189/1940 vom 22. Oktober 194028 wurden all jene niederländischen Unternehmen, die Juden gehörten, die „unter dem beherrschenden Einfluss von Juden“ (§ 2) standen oder an denen Juden als persönlich haftende Gesellschafter, Mitglieder des Aufsichtsrats oder Anteilseigner beteiligt waren, verpflichtet, sich bei der Wirtschaftsprüfstelle in Den Haag registrieren zu lassen. Die Wirtschaftsprüfstelle war Fischböcks Generalkommissariat für Finanz und Wirtschaft eingegliedert und stand zu diesem Zeitpunkt unter der Leitung von Legationssekretär Dr. Ernst Kühn.29 Vom Reichskommissar erhielt sie die Aufgabe, die Arisierung der niederländischen Wirtschaft durchzuführen. Die vage Bezeichnung des Personenkreises, auf den die Verordnung angewendet werden durfte, zeigt, dass die Besatzungsverwaltung bestrebt war, ihre Eingriffsmöglichkeiten so weit zu sichern, wie es ihren Interessen entsprach. Für später erlassene Verordnungen, die auf die Verdrängung der Juden aus dem niederländischen Wirtschaftsleben und auf deren Enteignung zielten, bildete Verordnung 189/1940 eine zentrale Grundlage, weil hiermit erstmals rechtsverbindlich für das Reichskommissariat definiert wurde, wer als ‚Jude‘ galt (§ 4), und weil hier alle als ‚jüdisch‘ geltenden Unternehmungen zum Zweck der Arisierung erfasst wurden. So erließ Seyß-Inquart im März 1941 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Verordnung vom 22. Oktober 1940 die Wirtschaftsentjudungsverordnung.30 Unter der Bezeichnung 48/1941 wurden hierin Fischböck und seinen Beamten verschiedene Instrumente an die Hand gegeben, um jüdische Betriebe umfassend unter deutsche Kontrolle zu bringen. Zum einen bestimmte der Reichskommissar, dass Neugründungen von jüdischen Betrieben oder Änderungen jedweder Art an bestehenden jüdischen Unternehmen einer Genehmigung durch das Generalkommissariat für Finanz und Wirtschaft bedurften (§§ 1 und 2). Diese

26 Grundlegend hierzu ist die Dissertation von Jungius, Der verwaltete Raub. 27 So bekannte Seyß-Inquart auf der Sitzung vom 10. Juni 1946: „Die Verordnungen […] sind zumeist von mir selbst unterschrieben worden, jedenfalls mit meiner ausdrücklichen Zustimmung veröffentlicht worden“, fügte aber sofort hinzu: „Einzelmaßnahmen […] lagen außerhalb meines Willens.“ Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 724. 28 VOBl. NL 1940, 546–552. 29 Zugleich war Kühn Führer beim Stab SS-Personalhauptamt. Siehe Keipert/Grupp (Hrsg.), Biographisches Handbuch, Bd. 2, 686. 30 VO 48/1941 vom 12. März 1941, in: VOBl. NL 1941, 164–170.

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Bestimmung galt sogar rückwirkend zum 9. Mai 1940, also dem Vorabend des Fünf-TageKriegs (§ 3). Entscheidungen, die der Generalkommissar in dieser Angelegenheit treffen werde, wurden auch für die niederländischen Gerichte und Verwaltungsbehörden für verbindlich erklärt (§ 6). Zum anderen schuf Seyß-Inquart mit Verordnung 48/1941 für Fischböck die Möglichkeit, in jüdischen Unternehmen ‚Treuhänder‘ einzusetzen. Diese übernahmen faktisch die Leitung der betroffenen Unternehmen und wurden ermächtigt, frei über den Betrieb zu verfügen. Dies schloss das Recht ein, ein jüdisches Unternehmen ganz oder teilweise zu veräußern, und dabei durfte der Treuhänder auch noch die Veräußerungsbedingungen festlegen (§ 8)! Wie bei der ersten Bestimmung dieser Verordnung waren jüdische Unternehmen damit schutzlos der deutschen Besatzungsverwaltung und deren Arisierungsbestrebungen ausgeliefert. Dass jeder Treuhänder verpflichtet wurde, „bei seiner Tätigkeit die Sorgfalt eines ordentlichen Treuhänders anzuwenden“ (§ 9), entsprang in keiner Weise der Sorge um die Situation der jüdischen Eigentümer, sondern diente einzig und allein der Werterhaltung des betreffenden Betriebes, um im Zuge der Arisierung für den neuen Eigentümer einen optimalen Erlös erzielen zu können. Die Liquidierung Tausender jüdischer Unternehmen31 wurde in der Folgezeit durch ein Zusammenspiel von allerlei deutschen Organisationen durchgeführt wie der niederländischen Filiale der deutschen Treuhandgesellschaft Omnia Treuhand G. m. b. H., der Wirtschaftsprüfstelle, der Niederländischen Aktiengesellschaft für die Abwicklung von Unternehmungen, der Zweigniederlassung Den Haag der Deutschen Revisions- und Treuhand A. G. und der Vermögensverwaltungs- und Rentenanstalt (VVRA), die unter der Geschäftsführung von Dr. Alfred Büler zunächst in Den Haag, dann in einem Gebäude an der Amsterdamer Herengracht untergebracht war. Über den Handelstrust West war auch die Dresdner Bank in das organisatorische Netz eingebunden, das die Liquidierung jüdischer Unternehmen und Vermögensbestände betrieb.32 Mitarbeiter des Reichskommissariats hingegen waren schon vor Erlass der Verordnung von der Teilnahme am Treuhandwesen ausgeschlossen worden. So bestimmte Piesbergen am 17. Januar 1941 in einem Rundschreiben, „daß es mit der Tätigkeit der Beamten und Angestellten der Behörde des Reichskommissars nicht vereinbar ist, wenn Mitarbeiter neben ihrer dienstlichen Tätigkeit die Treuhänderschaft für jüdische Betriebe übernehmen oder auch nur Verhandlungen anbahnen, welche auf einen Erwerb oder auf eine sonstige Interessenahme an solchen Betrieben abzielen.“33 Schließlich wurde Fischböck in Verordnung 48/1941 ermächtigt, jüdische Unternehmen abzuwickeln oder stillzulegen (§ 12). Mit all diesen Bestimmungen legte Seyß-Inquart die rechtlichen Grundlagen für den Griff auf das jüdische Wirtschaftsleben. Niederländischen Instanzen ent31 Vgl. Aalders, Geraubt!, 196–203. 32 Siehe hierzu Sattler, Der Handelstrust West in den Niederlanden. Nach dem Krieg gaukelte Seyß-Inquart Rechtsstaatlichkeit bei der „Durchfuehrung der Vermoegensbeschlagnahme“ vor: Dadurch, dass in Form der Omnia Treuhand G. m. b. H. „eine Treuhand- und Revisionsgesellschaft mit beeideten Revisoren und Schatzmeistern“ bestellt worden sei, habe das Reichskommissariat ein Kontrollsystem installiert (Denkschrift, Bl. 50). 33 NIOD, 14/112. Mit welchen „strengsten Strafen“ Verstöße gegen diese Anordnung geahndet werden sollten, blieb im Rundschreiben offen.

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zog er mit seiner Wirtschaftsentjudungsverordnung jede Mitwirkungsmöglichkeit, die Judenverfolgung wollte der Reichskommissar in die Hände der deutschen Besatzungsverwaltung gelegt wissen. Hierbei wiederum war er bestrebt, das Feld nicht alleine dem Sicherheitsapparat zu überlassen, sondern auch Fischböck eine führende Rolle zu sichern. Zu einer durchgreifenden Arisierung hatte er sich bereits ein Vierteljahr vorher die Zustimmung Hitlers geholt. Der Februarstreik war ihm dann ein willkommener Anlass, die Verordnung in Kraft zu setzen, um die „Entjudung“ der niederländischen Wirtschaft weiter voranzutreiben.34 Verordnung 189/1940 bildete auch die Grundlage für Seyß-Inquarts Anordnung, dass alle als jüdisch registrierten Betriebe im August 1941 verpflichtet wurden, ihren Grundbesitz unter Einschluss von Häusern und Baugrund sowie Hypotheken innerhalb eines Monats bei der neu errichteten Niederländischen Grundstücksverwaltung (NGV) anzumelden. Diese Organisation wurde ermächtigt, „jüdischen Grundbesitz in ihre Verwaltung [zu] übernehmen“, ganz oder teilweise zu veräußern oder zu belasten.35 Die Leitung der NGV wurde dem Wiener Diplomingenieur Walter Münster übertragen, der in Fischböcks Generalkommissariat das Amt des Bevollmächtigten für das Wohnungs- und Siedlungswesen bekleidete und im Reichskommissariat für den Wiederaufbau zuständig war. Solch eine Zuweisung war kein Zufall. Sie signalisierte, dass durch die rigorose Aneignung von jüdischem Besitz der Wiederaufbau der Niederlande unter den Vorzeichen nationalsozialistischer Siedlungspolitik finanziert wurde, und hierzu legte Seyß-Inquarts Verordnung über den jüdischen Grundbesitz eine juristische Grundlage. In der Summe konnte sich der ‚Erfolg‘ der NGV sehen lassen: Insgesamt wurden schätzungsweise 20.000 Grundstücke und 5.600 Hypotheken in einem Gesamtwert von 150 Millionen bzw. 22 Millionen Gulden angemeldet – und damit der Konfiszierung durch die Besatzungsmacht geöffnet.36 Wenige Tage vorher hatte Seyß-Inquart – wiederum unter Berufung auf Verordnung 189/1940 – in der sogenannten Ersten Liro-Verordnung angeordnet, dass Juden Barbeträge und Schecks ab einer Gesamtsumme von 1.000 Gulden auf das Amsterdamer Bankhaus Lippmann, Rosenthal & Co. (Liro) einzuzahlen hatten. Auch alle Wertpapiere, Guthaben und Depots, die Juden bei anderen Banken besaßen, waren auf dieses Privatbankhaus zu 34 Den Zusammenhang mit dem Februarstreik stellte schon der Leiter der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, Ministerialdirektor Emil Wiehl, in einer Aufzeichnung für Ribbentrop vom 1. März 1941 fest. Demnach hielt Seyß-Inquart „das Erscheinen der Verordnung im gegenwärtigen Zeitpunkt für nötig als Gegenmassnahme auf den holländischen Generalstreik zugunsten der Juden.“ Drei Monate zuvor habe Hitler auf Vortrag des Reichskommissars die grundsätzliche Entscheidung gefällt, „dass die Arisierung durchgeführt werden könne.“ (PA AA, R 29678) Programmatische Zielsetzungen und Planungen schlossen somit die Ausnutzung situativer Gegebenheiten keineswegs aus. Im Gegenteil: Seyß-Inquarts Verordnung 48/1941 kann nachgerade als ein Beispiel für die Kompatibilität einer intentionalistischen und einer funktionalistischen Betrachtungsweise nationalsozialistischer Herrschaft gelesen werden. 35 VO 154/1941 vom 11. August 1941, §§ 7 und 8, in: VOBl. NL 1941, 658. 36 Zahlen nach Aalders, Geraubt!, 210; siehe auch ebd., 219, Anm. 35. In der Praxis übertrug die NGV die Verwaltung des betreffenden Grundbesitzes einzelnen ‚Verwaltern‘ oder Verwaltungsgesellschaften wie Nobiscum, Algemeen Nederlands Beheer van Onroerende Goederen oder dem Maklerbüro Everout in Amsterdam, die in der Regel von NSB-Mitgliedern geleitet wurden; siehe Veraart, Ontrechting en rechtsherstel, 149 f.

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übertragen.37 Mit der Liro bediente sich das Reichskommissariat auf parasitäre Weise eines angesehenen Bankinstituts. Dessen Zentrale in der Nieuwe Spiegelstraat behielt man in erster Linie bei, um gegenüber der jüdischen Bevölkerung und dem Ausland den Anschein zu erwecken, unter der deutschen Besatzung würden normale Bankgeschäfte getätigt; unter der Hand diente diese Fassade sogar dazu, geraubte Aktien und Obligationen regulär an der Börse zu verkaufen. Mit der Beibehaltung der Liro-Zentrale aber schuf man eine Tarnung. Denn zum einen wurden die beiden jüdischen Gesellschafter Edgar Fuld und Robert May im Mai 1941 gezwungen, die Leitung ihres Instituts dem Präsidenten der Deutschen Handelskammer für die Niederlande, Alfred Flesche, zu übertragen, der wiederum Dr. Walter von Karger und Otto Witscher mit der Geschäftsführung betraute. Zum anderen – und dies sollte für den Arisierungsprozess entscheidend sein – baute die Besatzungsverwaltung in der Sarphatistraat eine Filiale auf, die außer dem Namen Lippmann, Rosenthal & Co. nichts mit der Zentrale gemein hatte. Sie erhielt den Auftrag, das gesamte Vermögen von Juden in den Niederlanden zu erfassen und zu arisieren. Gegen die Anordnung, jüdische Vermögenswerte fortan ausschließlich bei der Liro-Filiale in der Sarphatistraat zu deponieren, regte sich zwar bei anderen niederländischen Banken Widerspruch. Der Protest, den sie beim zuständigen Generalkommissar Fischböck gegen den Abzug des jüdischen Vermögens aus ihren Depots vorbrachten, wurde jedoch abgewehrt; analog zu den Erfahrungen, die sie in Österreich mit der Arisierung jüdischen Besitzes gemacht hatten, wollten Seyß-Inquart und Fischböck auch in den Niederlanden die Konzentrierung der jüdischen Vermögen bei einer Bank, die vollständig unter der Kontrolle der deutschen Verwaltung in Den Haag stand. Hier war denn auch ein Konto der VVRA eingerichtet, auf das all die Erträge eingezahlt wurden, die auf der Grundlage der Wirtschaftsentjudungsverordnung im Zuge der Liquidierung jüdischer Unternehmen erzielt worden waren.38 Schon innerhalb der ersten sieben Wochen nach Erlass der Ersten Liro-Verordnung konnte der Reichskommissar über 15 Millionen Gulden aus jüdischem Privatvermögen verfügen, und in diesem Betrag waren Aktien und Obligationen nicht einmal berücksichtigt. 39 Am 17. November 1941 erteilte Seyß-Inquart dann der Liro den Auftrag, die bisher eingegangenen jüdischen Vermögenswerte zu verkaufen, und zwar „sobald die Konzentration des bei Ihnen zu erlegenden jüdischen Besitzes im wesentlichen abgeschlossen ist.“ Der Erlös sollte in deutschen oder niederländischen Staatspapieren angelegt werden.40 Ein solcher Schritt wurde dadurch erleichtert, dass die beabsichtigte Vermeidung von Gegenmaßnahmen seitens 37 VO 148/1941 vom 8. August 1941, in: VOBl. NL 1941, 624–628. Zur Instrumentalisierung der Liro für den Arisierungsprozess siehe Kreutzmüller, Händler, 149–155 sowie Aalders, Geraubt!, Kap. 6 und 265 ff. 38 Euwe, De Nederlandse kunstmarkt, 80. Die Einrichtung der VVRA war von Fischböck zusammen mit anderen Maßnahmen der „Entjudung“ bereits auf einer Besprechung mit Seyß-Inquart am 19. Mai 1941 in Aussicht gestellt worden. Siehe den Aktenvermerk Zusammenfassende Darstellung der Entwicklung bezüglich Hortung des jüdischen Vermögens von SS-Obersturmbannführer Dr. Erich Rajakowitsch vom 21. Juni 1941 (hier nach SWA, Mappe Erich Rajakowitsch 23). 39 Aalders, Geraubt!, 261 unter Bezugnahme auf einen undatierten Bericht der Hauptabteilung Wirtschaft des Generalkommissariats für Finanzen und Wirtschaft. 40 Veraart, Ontrechting en rechtsherstel, 228 mit Quellenangabe. Zum Gewinn, den die Liro aus dem Verkauf jüdischer Aktien erzielte, siehe Aalders, Geraubt!, 273 und 300.

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der Alliierten durch die Wirklichkeit überholt worden war – hatten die USA doch in der Zwischenzeit das dort angelegte deutsche Vermögen eingefroren. Ein Jahr später verstärkte das Reichskommissariat die Möglichkeit des Zugriffs auf die erzwungenen Liro-Einlagen: Im November 1942 verfügte Fischböck die Auflösung der Einzelkonten aller ‚Volljuden‘ und die Übertragung der entsprechenden Vermögenswerte auf ein Sammelkonto.41 Schließlich ermöglichte Seyß-Inquart der Liro zu einem Zeitpunkt, an dem die Deportationszüge bereits seit langem in die Vernichtungslager rollten, die Lebens-, Kapital-, Renten- und Pensions­ versicherungen der niederländischen Juden zu kapitalisieren; dabei wurde das Ende des Versicherungsverhältnisses einfach auf den 30. Juni 1943 festgelegt. Die Versicherungsgesellschaften hatten der deutschen Raubbank Zahlungen selbst dann zu leisten, „wenn das Bankhaus Lippmann, Rosenthal & Co. die Police nicht vorlegen oder den etwa vorgesehenen Lebensoder Gesundheitsnachweis nicht erbringen kann.“42 Dass die pseudolegale Aneignung jüdischen Vermögens durch derartige Verordnungen im Zusammenhang mit den Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager in Osteuropa stand, machte Seyß-Inquart am 19. Mai 1941 klar. Auf einer Besprechung mit der Sicherheitspolizei und den Generalkommissaren gab er seine Entscheidung bekannt, „daß er die Hortung des jüdischen Vermögens und seine Widmung für die Finanzierung der Endlösung billige“43 – auch in den Niederlanden musste also die jüdische Bevölkerung ihre eigene Vernichtung bezahlen. Auf der Basis dieser Grundsatzentscheidung arbeiteten Fischböck und sein Generalkommissariat in den folgenden Monaten Pläne aus, wie die Arisierung der jüdischen Vermögenswerte konkret durchgeführt werden sollte. Das Ergebnis dieser Überlegungen wurde gut ein Jahr später in der sogenannten Zweiten Liro-Verordnung bekannt gegeben.44 Hierin wurden Juden verpflichtet, innerhalb von knapp einem Monat Forderungen aller Art sowie Sammlungen, Kunstgegenstände oder andere wertvolle Gegenstände bei der Liro anzumelden. Auch der Besitz von Pferden, Land- und Wasserfahrzeugen war zu melden, 41 Vgl. Kreutzmüller, Händler, 152. 42 VO 54/1943 vom 11. Juni 1943, § 2, in: VOBl. NL 1943, 204 f. Insgesamt kam die Liro in den Besitz von 22.368 Policen mit einem Gesamtwert von etwa 25 Millionen Gulden (Aalders, Geraubt!, 321). 43 Rajakowitsch, Zusammenfassende Darstellung. Ähnlich empfahl Böhmcker Seyß-Inquart am 2. Oktober 1941, das von Juden requirierte Vermögen zum einen für die Finanzierung von Schulen, Sozialeinrichtungen und Arbeitsmöglichkeiten für Juden, zum anderen aber „zur Förderung der Auswanderung der Juden als dem Endziel der Lösung der Judenfrage“ bereitzuhalten (NIOD, 20/1545). Der Vorschlag von Dr. Paul Heinrich Mojert hingegen, das geraubte Vermögen zumindest teilweise für „gemeinnützige Zwecke“ wie den Bau von Arbeiterwohnungen zu nutzen, wurde von Rajakowitsch als unvereinbar mit Seyß-Inquarts Vorgabe zurückgewiesen, die jüdischen Vermögenswerte „für die Finanzierung der Endlösung der Judenfrage“ einzusetzen; siehe Rajakowitschs Protokoll vom 19. August 1941 über die Sitzung des Kuratoriums der VVRA vom 15. August 1941, SWA, Mappe Erich Rajakowitsch 23. Die Bedeutung der Grundsatzentscheidung vom 19. Mai 1941 sieht Gerhard Hirschfeld zu Recht darin, dass die Verantwortlichen in Den Haag bereits 15 Monate vor Beginn der planmäßigen Deportationen ihre generelle Zustimmung zu einer „territorialen Endlösung“ für die in den Niederlanden lebenden Juden erteilt hatten (Niederlande, 144). 44 VO 58/1942 vom 21. Mai 1942, in: VOBl. NL 1942, 289–300. Zu Umsetzung und Folgen der Zweiten Liro-Verordnung siehe Aalders, Geraubt!, Kap. 8.

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und zwar bei der Zentralstelle für jüdische Auswanderung, die – in Anlehnung an die gleichnamigen Institutionen in Wien und Prag – in Amsterdam errichtet wurde. Eine Verschärfung gegenüber der Ersten Liro-Verordnung bedeutete auch die Herabsetzung der Freigrenze auf 250 Gulden. Die wenigen Ausnahmen, die die Zweite Liro-Verordnung konzedierte, waren angesichts der umfassenden Dimension der Beraubung eher dazu angetan, die angestrebte wirtschaftliche Marginalisierung der jüdischen Bevölkerung noch zu unterstreichen als zu relativieren: Die ohnehin intendierte Verarmung der Juden trat noch einmal besonders markant zutage, wenn ihnen nicht mehr gelassen wurde als die eigenen Trauringe und die eines verstorbenen Ehegatten, silberne Armband- und Taschenuhren für den persönlichen Gebrauch, ein vierteiliges Essbesteck sowie Zahnersatz aus Edelmetallen, „soweit er sich im persönlichen Gebrauch befindet.“ (§ 12)45 Nicht nur Vermögen, das Juden in den Niederlanden besaßen, wurde arisiert. Ihnen wurde auch die Verfügung über Vermögenswerte entzogen, die sie im Großdeutschen Reich deponiert hatten. Diese Form der Enteignung betraf zunächst einmal die in den Niederlanden lebenden Juden deutscher Staatsangehörigkeit. Ihnen wurde dadurch die Möglichkeit, über ihr in Deutschland gelegenes Vermögen zu verfügen, genommen, dass Seyß-Inquart im Sommer 1941 eine Anordnung des Reichswirtschaftsministers für verbindlich erklärte, der zufolge Juden, die seit August 1931 aus Deutschland in die Niederlande eingewandert waren und zu diesem Zeitpunkt die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, nur mit Genehmigung der zuständigen Devisenstelle über ihre im Reich deponierten Vermögenswerte verfügen durften.46 Dabei ging man stillschweigend davon aus, dass entsprechende Anträge von Juden keinerlei Aussicht auf Genehmigung hatten. Zwei Jahre später wurde ein Anlauf unternommen, auch für die Juden mit niederländischer Staatsangehörigkeit eine Regelung bezüglich der in Deutschland gelegenen Vermögen zu finden. Im Hinblick auf die Verteilung der ‚Beute‘ zwischen Reich und Reichskommissariat schwebte Seyß-Inquart generell vor, dass „jene Vermögenswerte, die auf ehemals reichsangehörige Juden entfallen, dem Reich zur Verfügung gestellt werden“, während die Vermögenswerte, die „auf Juden niederländischer Staatsangehörigkeit entfallen, für speziell niederländische Zwecke“ zu verwenden seien.47 Die Regelung der Verfügung über das Vermögen niederländischer Juden im Reich bedurfte allerdings in der Hochzeit der Deportationen besonderer Absprachen. Zu diesem Zweck kamen auf Anregung von Seyß-Inquart Mitarbeiter seiner eigenen Behörde, Vertreter von verschiedenen Reichsministerien und des 45 Bei gemischten Ehen schloss Seyß-Inquart übrigens in seiner Anweisung für die Behandlung des Vermögens des jüdischen Eheteiles in Mischehen vom 15. Januar 1943 (NIOD, 20/1517) die Übertragung von Vermögen auf den nichtjüdischen Partner aus. Nicht einmal Adoptiv- oder Stiefkindern durfte in solchen Ehen Vermögen übertragen werden. Erlaubt war lediglich, dass ein jüdischer Elternteil Vermögen „an die nicht als Juden geltenden Kinder“ übertrug, und sofern „solche Vermögensteile von der Arisierung erfaßt und liquidiert wurden“, war den Kindern der Liquidationserlös zur Verfügung zu stellen. Zur Behandlung der Mischehen in den besetzten Niederlanden siehe unten, S. 341 ff. 46 VO 180/1941 vom 18. September 1941 mit der Anordnung des Reichswirtschaftsministers (Staatssekretär Dr. Friedrich Landfried) vom 30. August 1941, in: VOBl. NL 1941, 785 f. 47 Anweisung Seyß-Inquarts vom 16. Januar 1943, NIOD, 20/1517.

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Reichskommissars für das feindliche Vermögen sowie Legationsrat Eberhard von Thadden vom ‚Judenreferat‘ des Auswärtigen Amtes im Berliner Reichswirtschaftsministerium zusammen, um über Seyß-Inquarts Wunsch zu konferieren, „daß die Vermögensbestandteile von Juden im Reich nicht anders behandelt werden, als die in den Niederlanden gelegenen.“48 Die ‚Expertenrunde der Arisierung‘ kam am 16. Juli 1943 zu zwei Ergebnissen: 1) Die im Reich gelegenen Vermögensbestände von jenen niederländischen Juden, die „bereits in die Ostgebiete abgeschoben worden sind“, sollten weiterhin als „mehr oder weniger herrenloses Gut“ betrachtet und vom Reichskommissar für das Feindvermögen verwaltet werden;49 sie wurden somit der Verwaltung des Reiches unterstellt. 2) Die in Deutschland deponierten Vermögen der niederländischen Juden, die noch in ihrem Heimatland lebten, sollten von der Liro eingezogen werden; deren Verwaltung oblag also dem Reichskommissariat. Gegen die Ausweitung der Zuständigkeit der Raubbank des Reichskommissariats auf das Reich sprach sich jedoch das Reichsjustizministerium aus. Hier vertrat man den Standpunkt, „daß die Zuständigkeit der für die Behandlung des feindlichen Vermögens berufenen Stellen in den einzelnen in Betracht kommenden Gebieten sich jeweils nur auf das in diesen Gebieten vorhandene Vermögen erstreckt, und daß ferner für Forderungen die Zuständigkeit sich nach dem Wohnsitz oder Sitz des Schuldners richtet […].“50 Im Reichsinnenministerium fand man zwar, „daß es politisch nicht verständlich ist, das im Reichsgebiet befindliche Vermögen niederländischer Juden besser zu behandeln als deren Vermögen in den Niederlanden selbst.“51 Doch noch im September 1944, nachdem der überwiegende Teil der niederländischen Juden in den Vernichtungslagern umgekommen war, war in dieser Frage keine Regelung getroffen,52 und tatsächlich wurde bis zum Ende des Krieges weder im Reichsgesetzblatt noch im Verordnungsblatt für die besetzten niederländischen Gebiete ein Rechtstext veröffentlicht, der dem Reichskommissar oder der Liro den gewünschten Zugriff erlaubt hätte. Dennoch offenbart dieser Vorgang Seyß-Inquarts Absicht, in Abstimmung mit dem Reich die Verfügung über die Vermögensbestände von möglichst vielen Juden aus seinem ‚Herrschaftsbereich‘ zu bekommen, ungeachtet der Staatsangehörigkeit und des Landes, in dem die jeweiligen Vermögen deponiert waren. Nicht einmal Juden aus Drittstaaten, die sich in den Niederlanden aufhielten, konnten sich ihrer Vermögen sicher sein. Otto Bene, der als Vertreter des Auswärtigen Amtes an diesen Fällen zu beteiligen war, wies zwar „auf eine interne Absprache mit dem Reichskommissar“ hin, 48 Das Folgende nach der Aufzeichnung Thaddens vom und über den 16. Juli 1943, PA AA, R 99310, Bl. K 327499-K 327501. Zu Thadden siehe die vorzügliche Studie von Weitkamp, Braune Diplomaten. 49 Zu dessen Funktion und Tätigkeiten siehe Lindner, Das Reichskommissariat für die Behandlung feindlichen Vermögens. 50 Ministerialdirektor Johannes Segelken (Reichsjustizministerium) an den Reichsminister des Innern vom 31. August 1943, PA AA, R 99310, Bl. K 327521. Auch im Reichswirtschaftsministerium gab es Bedenken „gegen die Anerkennung der Gesetzgebung des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete als Rechtsgrundlage für die Behandlung des im Reichsgebiet gelegenen Vermögens niederländischer Juden“; siehe Schreiben an den Reichsminister des Innern vom 5. April 1944, ebd., Bl. K 327554. 51 Schreiben an den Reichswirtschaftsminister vom 30. September 1943, ebd., Bl. K 327519 f. 52 Dies geht aus dem Schreiben von Emil Driest (RMI) an den Reichsminister der Justiz vom 21. September 1944 hervor, ebd., Bl. K 327553.

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dass „ausländische Juden“ zunächst einmal nicht unter Seyß-Inquarts „Judenverordnungen“ fallen würden. Doch die Vermögenswerte von Juden aus neutralen oder befreundeten Staaten mussten bei der Liro angemeldet werden, und rumänische, ungarische, französische und belgische Juden sowie „die Juden der Oststaaten“ wurden wie niederländische Juden behandelt, das heisst sie wurden „abtransportiert unter Einziehung ihres Vermögens durch die Behörden des Reichskommissars“. Die Vermögensbestände von Juden aus „Feindstaaten“ schließlich wurden als „Feindvermögen“ betrachtet und unterlagen damit den allgemeinen Bedingungen, denen diese Kategorie von Vermögenswerten während des Krieges im Großdeutschen Reich ausgesetzt war.53 Zum nationalsozialistischen Beuteschema gehörte schließlich die ideologisch überhöhte ‚Scholle‘.54 Auch wenn nicht mehr als 0,9 Prozent des landwirtschaftlich genutzten Bodens der Niederlande in jüdischen Händen war, wurde den Juden vom Regime auch der agrarische Besitz geraubt. In der Landwirtschafts­entjudungsverordnung wurden sie nämlich Ende Mai 1941 verpflichtet, landwirtschaftliche Grundstücke anzumelden und innerhalb von drei Monaten „in notarieller Form zu verkaufen“. Nicht einmal als Pächter oder Nießnutzer eines landwirtschaftlichen Grundstücks durften Juden mit Ablauf des laufenden Wirtschaftsjahres mehr fungieren. Wie in anderen Verordnungen, die auf eine Enteignung jüdischen Besitzes hinausliefen, kündigte Seyß-Inquart auch in dieser Verordnung drakonische Gefängnisstrafen, Geldbußen und die Einziehung der betreffenden Werte im Falle eines Verstoßes an.55 Insgesamt brachte der Verkauf von landwirtschaftlichem Grundbesitz aus jüdischem Besitz 17 Millionen Gulden ein. Parallel zur Arisierung der unterschiedlichsten Arten von Besitz wurden Jüdinnen und Juden aus dem Berufsleben gedrängt. So ordnete Seyß-Inquart in einem Rundschreiben an die Generalsekretäre vom 4. November 1940 das „Ausscheiden der Juden aus dem öffentlichen Dienst“ an.56 Diese Regelung galt nicht nur für staatliche Behörden im engeren Sinne, sondern erstreckte sich auf alle Institutionen, an denen die öffentliche Hand finanziell beteiligt war.57 Bei dieser Maßnahme stützte sich der Reichskommissar auf eine früher erlassene Verordnung, in der sich die Besatzungsmacht die Möglichkeit zur Entlassung von Angehörigen des Staatsdienstes und von öffentlich-rechtlichen Körperschaften sowie von Lehrpersonen an Privatschulen geschaffen hatte, und zwar „nötigenfalls unter Abweichung von dem bisher geltenden Recht“.58 Außerdem wurden auf der Grundlage der Vierten Verordnung über besondere verwaltungsrechtliche Massnahmen niederländische Beamte und Angestellte verpflichtet, eine

53 Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 19. August 1943, ebd., Bl. K 327513–K 327515. 54 Vgl. hierzu Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, besonders Eintrag Blut und Boden. 55 VO 102/1941 vom 27. Mai 1941, in: VOBl. NL 1941, 388–395, hier §§ 5, 10 und 14 f., ergänzt durch VO 32/1943 vom 5. April 1943, in: VOBl. NL 1943, 151. Siehe hierzu auch Aalders, Geraubt!, 209 f. 56 Abschriften des von Wimmer „in Vertretung“ unterzeichneten Dokuments in: NIOD, 14/111, Bl. 110 f. und in: NIOD, 20/2316. Siehe hierzu auch Romijn, Burgemeesters, 179 ff. 57 Böhmcker an Seyß-Inquart vom 2. Oktober 1941, NIOD, 20/1545. 58 VO 137/1940 vom 13. September 1940, § 1, in: VOBl. NL 1940, 425.

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Ariererklärung einzureichen.59 Wer die Kriterien eines ‚Ariers‘ nicht erfüllte, war gezwungen, aus dem Staatsdienst auszuscheiden. Insgesamt mussten 2.092 von 192.205 Personen ihre Posten in Reichs-, Provinzial- und Kommunalbehörden aufgeben.60 Besonders bemerkenswert an diesem Vorgang ist, dass Seyß-Inquart den Inhalt seines Rundschreibens vom 4. November 1940 nicht in eine eigene Verordnung goss. Das „Ausscheiden der Juden aus dem öffentlichen Dienst“ vollzog das Reichskommissariat beinahe geräuschlos.61 Auch aus den freien Berufen und der gewerblichen Wirtschaft wurden Juden ausgeschlossen. In diesem Sinn verfügte Seyß-Inquart im Oktober 1941, dass „die Ausübung einer beruflichen, gewerblichen oder sonstigen, auf Erwerb gerichteten Tätigkeit“ durch Juden per Verwaltungsanordnung genehmigungspflichtig wurde, mit Auflagen versehen oder untersagt werden konnte (§ 1).62 Zugleich wurden Arbeitgeber ermächtigt, bei Entlassungen von Juden abweichend von geltenden Rechtsvorschriften oder laufenden Verträgen die Kündigungsfristen auf drei Monate zu reduzieren (§ 5). Ansprüche auf Ruhegehälter, Beiträge zur Hinterbliebenenfürsorge oder ähnliche Sozialleistungen konnten auf Antrag des Arbeitgebers in eine einmalige Abfindung umgewandelt werden. Deren Höhe wurde vorsätzlich so gering festgelegt, dass eine Abfindung die Gefährdung der Existenz eines Juden nicht aufhalten konnte (§§ 6 und 7) – erst recht angesichts der Tatsache, dass der jüdischen Bevölkerung durch zahlreiche andere Verordnungen die Subsistenzgrundlage schrittweise entzogen wurde. Am selben Tag erließ Seyß-Inquart eine Verordnung, die Juden aus „nichtwirtschaftlichen Personenvereinigungen“ oder „nichtwirtschaftlichen Stiftungen“ ausschloss, sofern die betreffende Organisation nicht ausschließlich aus Juden bestand.63 Für die Sicherung ihrer Subsistenz wurden J­ uden somit auf jüdische Institutionen beschränkt, und dies führte zu einer beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Segregation und Paralysierung dieser Bevölkerungsgruppe. Und dabei blieb es nicht: Die Vermögensbestände der jüdischen Vereinigungen überantwortete Seyß-Inquart dem Kommissar für die wirtschaftlichen Personenvereinigungen und Stiftungen, 64 und damit war die juristische Grundlage für deren Aufhebung gegeben. Schätzungen zufolge erbrachte die Liquidation jüdischer Organisationen einen Ertrag von 10,2 Millionen Gulden.65 Selbst die Anstellungsverhältnisse in privaten Haushalten wurden von der Besatzungsverwaltung nach rassistischen Gesichtspunkten geordnet. So dekretierte der Reichskommissar bereits im Dezember 1940, dass „deutsche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes“ nicht mehr in Haushalten beschäftigt sein durften, „in denen ein Jude Haushaltungs-

59 VO 108/1940 vom 20. August 1940, in: ebd., 338–340. Zur Einführung der Ariererklärung siehe Moore, Slachtoffers en overlevenden, 71 f. 60 Zahlen nach: Lademacher, Zwei ungleiche Nachbarn, 185 (ohne Beleg). 61 Middelberg, Judenrecht, Judenpolitik und der Jurist Hans Calmeyer, 110. Siehe auch ebd., 153 f. 62 VO 198/1941 vom 22. Oktober 1941, in: VOBl. NL 1941, 841–844. 63 VO 199/1941 vom 22. Oktober 1941, in: ebd., 844–846. 64 VO 41/1941 vom 28. Februar 1941, in: ebd., 148–152. 65 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/1, 421. Demnach wurde der überwiegende Teil der Liro überwiesen. 150.000 Gulden wurden für die Einrichtung des Konzentrationslagers Ommen verwendet, 40.000 wurden dem Judenrat zur Verfügung gestellt.

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Abb. 15: Im Dezember 1940 unterband Seyß-Inquart die Anstellung von „deutschen Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“ in jüdischen Haushalten.

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vorstand“ war oder denen ein Jude über einen längeren Zeitraum angehörte.66 Am 22. Oktober 1941 wurde diese Verordnung zwar außer Kraft gesetzt. Am selben Tag aber trat an ihre Stelle eine neue Verordnung, in der Seyß-Inquart sozusagen als spiegelbildlichen Ersatz festlegte, dass in Haushalten, „in denen ein Jude Haushaltungsvorstand ist“ oder denen ein Jude über einen längeren Zeitraum angehörte, ausschließlich Juden beschäftigt sein durften; anderslautende bestehende Arbeitsverträge wurden für unwirksam erklärt.67 Bediente der Reichskommissar für die besetzten Niederlande jenes Stereotyp nationalsozialistischer Propaganda, dem zufolge ‚arische‘ Hausangestellte „als potentielle Beute jüdischer Verführer“ angesehen wurden?68 Auf jeden Fall stellte Seyß-Inquarts Verordnung eine messerscharfe Trennung von jüdischen und nichtjüdischen Haushalten her. Damit war ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer vollständigen Isolierung der jüdischen Bevölkerung getan. Fatale Folgen hatte die Bestimmung, dass Juden einer Meldepflicht unterworfen wurden.69 In Verordnung 6/1941 wurden die niederländischen Meldebehörden vom Reichskommissar angewiesen, „die Eigenschaft des Angemeldeten als Person jüdischen Blutes im Melde- oder Aufenthaltsregister zu vermerken.“ (§ 8) Für Zweifelsfälle, ob eine Person „als ganz oder teilweise jüdischen Blutes anzusehen ist“, wurde innerhalb des Reichskommissariats die ,Entscheidungsstelle über die Meldepflicht aus der Verordnung 6/41‘ eingerichtet, die unter der Leitung des Osnabrücker Rechtsanwalts Dr. Hans Georg Calmeyer damit befasst war, auf der Grundlage von Abstammungsnachweisen über die ‚jüdische‘ oder ‚arische‘ Qualität von Menschen zu entscheiden (vgl. § 3).70 Für die Meldung hatten die Juden – bzw. im Falle von Bedürftigkeit die örtlich zuständige Israelitische Kultusgemeinde – einen Gulden zu entrichten (§ 9). Wer der Meldepflicht „schuldhaft“ nicht nachkam, wurde dezidiert als Verbrecher betrachtet. Er oder sie riskierte eine Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren, und wie bei vielen anderen Arisierungsregelungen konnte das Vermögen in solch einem Fall eingezogen werden (§ 10). Für einen Juden gab es kaum eine Möglichkeit, sich der Erfassung seiner Daten – und später seiner Person – durch die Behörden zu entziehen. Denn deutsche und niederländische Beamte konnten neben den Meldungen auf den Gemeindeämtern, zu denen die jüdische Bevölkerung durch Verordnung 6/1941 verpflichtet wurde, auf Adressbestände bei der Reichsinspektion der Bevölkerungsregister in Den Haag, die dem Generalsekretariat für Innere Ange66 VO 231/1940 vom 19. Dezember 1940, § 1, in: VOBl. NL 1940, 701 (siehe Abb. 15). 67 VO 200/1941 vom 22. Oktober 1941, in: VOBl. NL 1941, 846–848. 68 Naimark, Flammender Hass, 79. 69 VO 6/1941 vom 10. Januar 1941, in: VOBl. NL 1941, 19–23. Zu dieser Verordnung siehe auch die Materialien in NIOD, 20/1545 sowie Romijn, De oorlog, 317–320. Das Meldeformular ist als Faksimile abgedruckt in: Joods Historisch Museum Amsterdam (Hrsg.), Documenten van de jodenvervolging in Nederland, 46 f. 70 Zu Calmeyer und seiner nicht unumstrittenen Tätigkeit im Reichskommissariat siehe Von Frijtag Drabbe Künzel, Zwischen Tätern, Zuschauern und Opfern und die rechtswissenschaftliche Dissertation von Middelberg, Judenrecht, Judenpolitik und der Jurist Hans Calmeyer. Laut Middelberg (Calmeyer, 117) kam die ‚Entscheidungsstelle‘ bis 1944 in 3.700 von 6.000 Fällen zu dem Ergebnis, dass die betreffenden Personen entsprechend nationalsozialistischer Kategorisierung als ‚Arier‘ oder als ‚arische Mischlinge‘ zu betrachten waren.

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legenheiten unterstellt war, zurückgreifen; außerdem führte der Jüdische Rat in Amsterdam, der von der Besatzungsverwaltung auserkoren war, „de facto für die gesamte Judenschaft in den Niederlanden verantwortlich“ zu sein und als „Befehlsempfänger für die Judenschaft“ zu fungieren,71 ein entsprechendes Register.72 Dass die Erfassung der Juden für das NS-Regime ein zentraler Aspekt der Besatzungspolitik war, lässt sich nicht zuletzt an der Tatsache ablesen, dass die Verordnung 6/1941 am 10. Januar 1941 erst nach neun Entwürfen promulgiert wurde, an deren Ausarbeitung deutsche und niederländische Behörden gearbeitet hatten. 73 Ihre politische Bedeutung ist denn auch evident: Die harmlos erscheinende Registrierung auf den Gemeindeämtern stellte eine Grundlage dar, auf der die staatlich organisierte Beraubung und die Vorbereitung und Durchführung der Deportationen der Jüdinnen und Juden effektiv implementiert werden konnten.74 All diese Maßnahmen gingen im Laufe der Besatzungszeit Hand in Hand. Nicht zu unterschätzen sind auch die praktischen Auswirkungen der Verordnung vom 10. Januar 1941: Juden, die sich nicht registrieren ließen und untertauchten, waren automatisch vom Bezug von Lebensmittelkarten ausgeschlossen. Sie waren entweder auf die Unterstützung durch andere angewiesen oder liefen Gefahr zu verhungern. Doch auch bei den Juden, die sich entsprechend Verordnung 6/1941 registrieren ließen, förderte das Reichskommissariat Unterernährung und Hunger: Auf Anweisung von Seyß-Inquart war die jüdische Bevölkerung ab 1. Februar 1942 von Sonderzuteilungen von Lebensmitteln ausgeschlossen.75 Eine zielgerichtete Politik von ‚Vernichtung durch Aushungern‘ ist hieraus schwerlich abzuleiten. Dass aber der Reichskommissar schon lange vor dem Beginn der Deportationen im Sommer 1942 eine lebensgefährdende Schwächung und den Tod der jüdischen Bevölkerung in Kauf nahm, ja sogar forcierte, ist nicht von der Hand zu weisen. Insgesamt war der Prozentsatz an Juden, die der Registrierungspflicht nachkamen, ausgesprochen hoch. Trotzdem haben sich weit weniger Juden und ‚Mischlinge‘ gemäß Verordnung 6/1941 angemeldet, als von deutscher Seite erwartet worden war. Eine behördeninterne statistische Auswertung, die am 23. August 1941 Seyß-Inquart zugeschickt wurde, kam zu dem vorläufigen Ergebnis, dass sich statt der erwarteten 240.000 Personen lediglich 159.806 Menschen in die Melde- und Aufenthaltsregister eingetragen hatten,76 im Endergebnis kam man schließlich auf 160.820 Meldungen.77 Weniger relevant als die unrealistischen Erwartun71 Protokoll von Böhmcker über die Besprechung beim Reichskommissar vom 8. Oktober 1941, NIOD, 20/1545. 72 Vgl. Kreutzmüller, Die Erfassung der Juden, 31. 73 Kreutzmüller, Eichmanns Zahlen für die Niederlande, 364–366. 74 Zu diesem Zusammenhang vgl. auch ebd. 75 Kroiß an die Generalkommissare vom 13. Januar 1942, NIOD, 20/1541. 76 EMRFZ, A7 1941.23.08; der Text der statistischen Auswertung stammt vermutlich von Dr. Carl Stüler, dem Leiter der Hauptabteilung Inneres beim Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz. Zu den präsentierten Zahlen vgl. auch Romijn, Burgemeesters, 232 f. Andere Nationalsozialisten waren 1940/41 in gänzlicher Verkennung der Realität gar davon ausgegangen, dass in den Niederlanden bis zu 800.000 Jüdinnen und Juden lebten; siehe Kreutzmüller, Eichmanns Zahlen für die Niederlande, 364. 77 Wimmer an Fischböck vom 5. September 1941, in: Happe/Mayer/Peers (Bearb.), West- und Nordeuropa, Dok. 90, 271. Bis zum Stichtag 27. August 1941 hatten sich bei der Rijksinspectie van de Bevolkingsregisters

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gen deutscher Bürokraten ist die Verve, mit der die registrierten wie auch die untergetauchten Juden in den folgenden vier Jahren immer ausgreifenderen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt wurden. Der allergrößte Teil dieses Bevölkerungsteils sollte den Zweiten Weltkrieg nicht überleben. Zu der Einführung der Meldepflicht – und auf Verordnung 6/1941 aufbauend – kamen weitere Maßnahmen, die den Griff der Besatzungsmacht auf die jüdische Bevölkerung verstärkten. Nach deutschem Vorbild wurden in deren Personalausweise die Abkürzungen ‚J‘, ‚G I‘ oder ‚G II‘ für ‚Voll-‘, ‚Halb-‘ oder ‚Vierteljude‘ eingetragen.78 Zwar wurden 1941 auch alle anderen niederländischen Staatsbürger ab dem Alter von 15 Jahren verpflichtet, einen neu entwickelten Personalausweis, der schwer zu fälschen war, stets bei sich zu tragen und auf Verlangen befugten Personen vorzuzeigen.79 Im Unterschied zur nichtjüdischen Bevölkerung aber erleichterte die besondere Markierung der Ausweise für die Juden deren Identifizierung, Segregation und schließlich Ergreifung und Deportation. Dem gleichen Ziel diente die Verpflichtung, ab Mai 1942 in der Öffentlichkeit einen gelben Davidstern auf der Kleidung zu tragen.80 Wie Seyß-Inquart im unmittelbaren Vorfeld der Deportationen in einem Geheimbrief von Anfang Juli konkretisierte, betraf diese Verpflichtung all jene Juden bzw. Mischlinge, „die für eine Aussiedlung in Frage kommen.“81 Das Reichskommissariat ging sogar über die im Reich gehandhabte Praxis hinaus, indem diese Maßnahme auch für Jüdinnen und Juden galt, die in einer Mischehe lebten.82 Im Zusammenwirken von Registrierungspflicht und der Entwicklung von fälschungssicheren Ausweisen baute das Reichskommissariat ein tendenziell lückenloses und flächendeckend wirksames Netz an Kontrollmechanismen auf. Seine Effektivität trug letztlich mit zur Singularität der Judenverfolgung in den besetzten Niederlanden bei.83

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140.552 ‚Volljuden‘, 14.549 ‚Halbjuden‘ und 5.719 ‚Vierteljuden‘ in das Zentralregister aller Personen jüdischen Blutes und gemischt jüdischen Blutes in den Niederlanden eingetragen. Der Buchstabe G stand für „Gemischten Blutes“. Siehe hierzu Romijn, Burgemeesters, 228–233, Kreutzmüller, Die Erfassung der Juden und Aalders, Geraubt!, 216, Anm. 9 unter Bezugnahme auf die Mitteilungen im Nederlandsche Staatscourant vom 3. und 19. Februar 1941. Bei Juden mit deutscher Staatsangehörigkeit wurden nur ‚Volljuden‘ in ihren Ausweisen entsprechend indiziert, während ‚Mischlinge‘ ersten und zweiten Grades in ihren deutschen Pässen keine besondere Markierung erhielten; siehe Böhmcker an Seyß-Inquart vom 2. Oktober 1941 (NIOD, 20/1545). Vgl. VO 132/1940 der Generalsekretäre Frederiks (Innere Angelegenheiten) und Tenkink (Justiz) vom 6. September 1940 (VOBl. NL 1940, 408–410) mit Änderung durch VO 186/1941 vom 13. September 1941 (VOBl. NL 1941, 797 f.) sowie VO 197/1940 von Frederiks vom 17. Oktober 1940 (VOBl. NL 1940, 566–577). Siehe auch Seyß-Inquarts VO 130/1942 vom 28. November 1942 (VOBl. NL 1942, 577–580). Kreutzmüller zufolge waren in den Niederlanden nicht lange vor dem Westfeldzug Pläne zur Einführung einer Ausweispflicht abgelehnt worden, weil eine solche Regelung der liberalen Tradition des Landes widersprochen hätte (Die Erfassung der Juden, 23). Siehe Rauters Bekanntmachung vom 29. April 1942 in: Het Vaderland, Abendausgabe vom selben Tag. Aus Seyß-Inquarts Schreiben an die vier Generalkommissare, Wilhelm Harster und Böhmcker vom 2. Juli 1942 nach: De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/2, 1081. Im Reichs- und Protektoratsgebiet war das Tragen des Judensterns bereits seit dem 19. September 1941 verpflichtend gewesen; siehe Wegehaupt, Judenstern, 205. Seyß-Inquart an Bormann vom 28. Februar 1944, IfZ, G 01, Bd. 33, Dok. 1439. So auch Moore, Slachtoffers en overlevenden, 238 f.

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Die Frage der Behandlung von Mischehen und von Mischlingen, die für die nationalsozialistische Rassenideologie eine besondere Herausforderung darstellten, hat den Reichskommissar in zahlreichen weiteren Hinsichten beschäftigt.84 Nicht nur in den Niederlanden, sondern auch im Reich war der Umgang des Regimes mit diesem Personenkreis nicht einheitlich. Zu einer konsequent praktizierbaren Handhabung hatte schon das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre samt Erster Ausführungsverordnung aus dem Jahr 193585 keine hinreichenden Grundlagen gelegt, und nicht einmal auf der Wannseekonferenz oder ihren Nachfolgekonferenzen wurde eine tragfähige ‚Lösung‘ erzielt. Dennoch bildete die Konferenz vom Januar 1942 den Anstoß zu einer Regulierung, die auch in den Niederlanden tief in das Leben der Angehörigen dieses Personenkreises eingriff: Knapp zwei Monate später gab Seyß-Inquart auf der Zusammenkunft mit den Generalkommissaren und seinen Beauftragten für die Provinzen, Amsterdam und Rotterdam eine Weisung über die „Frage eines Verbotes der Mischehe und der Rassenschande“ bekannt.86 Hierin wurden Jüdinnen und Juden die Eheschließung und Geschlechtsverkehr mit Angehörigen nichtjüdischer Bevölkerungsgruppen verboten. Vom Erlass einer entsprechenden Verordnung wollte Seyß-Inquart zwar absehen – höchstwahrscheinlich befürchtete er, dass die Veröffentlichung einer Verordnung zu Unruhe führen könnte, besonders unter der betroffenen nichtjüdischen Bevölkerung. Doch er legte Wert darauf, dass sich seine Besatzungsbehörde an den Bestimmungen der Nürnberger Gesetze von 1935 orientiere und eine Reihe von Einzelmaßnahmen umsetze, mit der die Segregation der jüdischen Bevölkerung nach ethnischen Kriterien forciert wurde: „A) Der Judenrat hat der Judenschaft im jüdischen Wochenblatt87 mitzuteilen, daß den Juden die Eheschließung und der außereheliche Geschlechtsverkehr mit Nichtjuden verboten ist. B) Die Juden, die Aufgebote mit Ariern beantragt haben, sind sofort festzunehmen. C) Die Standesämter sollen vom Generalkommissar für Verwaltung und Justiz angewiesen werden, das Aufgebot von Juden mit Ariern sofort dem Generalkommissar für das Sicherheitswesen zu melden.“ Wie später in einem Bericht der Hauptabteilung Justiz von Wimmers Generalkommissariat festgehalten wurde, sind in der Folge „sämtliche niederländischen Standes­beamten angewiesen worden, der deutschen Sicherheitspolizei unverzüglich davon Kenntnis zu geben, wenn bei ihnen ein Aufgebot zur Eheschließung zwischen Personen jüdischer und nicht­jüdischer Abstammung eingeht. Gegen den beteiligten Juden werden sofort sicherheitspolizeiliche Maßnahmen angeordnet.“88 Diese „sicherheitspolizeilichen Maßnahmen“ liefen darauf hinaus, dass männliche 84 Siehe hierzu auch Stuldreher, De legale rest und Middelberg, Judenrecht, Judenpolitik und der Jurist Hans Calmeyer, 329–345. 85 RGBl. 1935/I, 1146 f. (15. September 1935) bzw. 1334–1336 (14. November 1935). 86 Zum Folgenden siehe Bericht an den Herrn Reichskommissar über die Behandlung der Judenfrage im Bereich des Generalkommissariats für Verwaltung und Justiz vom 25. Juni 1942, NIOD, 20/2316. Die erwähnte Zusammenkunft fand am 23. März 1942 statt. 87 Siehe die Ausgabe vom 27. März 1942 von Het Joodsche Weekblad. Im Gegensatz zu einer Publizierung im Verordnungsblatt konnte die Mitteilung in dieser – von der Besatzungsmacht kontrollierten – jüdischen Wochenzeitung auf die jüdische Bevölkerung beschränkt bleiben, ohne dass die nichtjüdische Bevölkerung hierüber in nennenswertem Umfang Kenntnis erhielt. 88 Bericht an den Herrn Reichskommissar über die Behandlung der Judenfrage im Bereich des Generalkommissari-

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Juden im Anschluss an „Schutzhaft“ und Überstellung ins Durchgangslager Amersfoort in das Konzentrationslager Mauthausen überstellt wurden, während Jüdinnen, denen ein Verstoß gegen Seyß-Inquarts Weisung unterstellt wurde, nach Ravensbrück deportiert wurden.89 Auch wenn somit seit dem Frühjahr 1942 in den Niederlanden keine neuen Mischehen mehr eingegangen werden durften, blieb umstritten, wie mit den bereits existierenden Misch­ ehen und den daraus hervorgegangenen Kindern nach Beginn der Deportationen im Juli 1942 zu verfahren sei. Sollte der jüdische Teil einer Mischehe umstandslos deportiert werden? Und sollte man einen Unterschied zwischen Ehen mit Kindern und kinderlosen Ehen machen? Vereinbart wurde zunächst im August 1942, die jüdischen Partner in Ehen mit Kindern nicht in den ‚Osten‘ abzuschieben. Doch während Calmeyer für einen weitgehenden Schutz der Mischehen eintrat, sprach sich der Sicherheitsapparat „gegen jede Privilegierung von Mischehen“ aus,90 und so drängte Rauter, der das „grosse Reinemachen in Holland“ kaum erwarten konnte,91 in gewohnter Radikalität darauf, die 6.000 jüdischen Partner einer kinderlosen Mischehe zu deportieren.92 Am 16. Oktober 1942 wurde auf einer Chefbesprechung noch einmal festgehalten, dass die Partner in Mischehen mit Kindern – wohlgemerkt nur „bis auf weiteres“ – nicht abgeschoben würden, aus kinderlosen Ehen der jüdische Teil aber sehr wohl zur Deportation freigegeben war, gleichgültig ob es sich um den Mann oder die Frau handelte. Dies stellte einerseits einen Kompromiss zwischen Calmeyer und Rauter dar. Andererseits ging das Reichskommissariat mit dieser Regelung über die Praxis hinaus, die im Reich galt – war hier doch der weibliche Teil einer kinderlosen Mischehe vor Abschiebung in die Vernichtungslager geschützt.93 Dafür wiederum setzte sich Seyß-Inquart dafür ein, dass Jüdinnen, die in einer Mischehe lebten und keine Kinder mehr bekommen konnten oder älter als 45 Jahre waren, grundsätzlich von Deportationen ausgenommen blieben. Diese Frauen hatten in seinem Verständnis nicht mehr das biologische Potenzial, dem Judentum eine Zukunft zu sichern, in seiner rassistischen Sichtweise galten sie als ungefährlich. Mit Himmler traf der Reichskommissar ats für Verwaltung und Justiz, NIOD, 20/2316. Der nicht identifizierbare Verfasser des Berichts benannte für die Hauptabteilung Justiz des Generalkommissariats als „vordringliche Aufgabe“ die „Entjudung der niederländischen Justiz“. 89 Siehe die Schreiben von Wilhelm Harster und Wilhelm Zöpf vom 1. bzw. 2. April 1942, in den Dokumenten zum Strafverfahren 12 Ks 1/66 vor dem Landgericht München II abgedruckt in: Rüter/De Mildt/Hekelaar Gombert (Bearb.), Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 25, 453 f. Zu diesem Strafverfahren vgl. Fühner, Nachspiel, 220 ff. sowie besonders Ritz, Schreibtischtäter vor Gericht. Zu Seyß-Inquarts Verbot von gemischten Eheschließungen und Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden siehe Moore, Slachtoffers en overlevenden, 111 f. 90 Laut Notiz von Dr. Rothe (Abteilung Feindvermögen) vom 1. September 1942, zit. nach: De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/1, 292. 91 Rauter an Himmler vom 10. September 1942, BArch, NS 19/3565, Bl. 65 f. 92 Rauter ging davon aus, dass es damals in den Niederlanden insgesamt etwa 20.000 Mischehen gab. Seiner Meinung nach müsste auch die nichtjüdische Ehefrau eines Juden „mit nach dem Osten“ genommen werden – „Wir werden mit diesen Fällen sonst ewig Schwierigkeiten haben.“ Alles nach Brief Rauters an Himmler vom 24. September 1942, BArch, NS 19/3364, Bl. 100 f. 93 Middelberg, Judenrecht, Judenpolitik und der Jurist Hans Calmeyer, 338.

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1943 auch die Vereinbarung, „daß die in den Niederlanden in Mischehe lebenden Juden (mit und ohne Kinder) bei Nachweis der Unfruchtbarkeit vom Tragen des Judensterns befreit werden.“94 Dies galt für Männer wie für Frauen. Bei beiden Geschlechtern war im Hinblick auf den erwähnten „Nachweis der Unfruchtbarkeit“ eine Sterilisierung erforderlich. Die betroffenen Personen wurden also vor die grausame Alternative gestellt, sich entweder sterilisieren zu lassen oder zur Deportation freigegeben zu werden. Obwohl – oder gerade weil – die Sicherheitspolizei in der Folgezeit trotzdem sterilisierte Juden aus Mischehen aufgriff und in die Vernichtungslager abtransportierte, sah sich Seyß-Inquart noch Ende Februar 1944 gegenüber Bormann und Himmler genötigt, die Alternative Sterilisierung–Deportation zu verteidigen. Ausdrücklich sprach er sich dafür aus, den sterilisierten oder als unfruchtbar anerkannten jüdischen Teil einer Mischehe in seiner oder ihrer Familie zu belassen. Hier würden die Betroffenen zwar „einer gewissen sicherheitspolizeilichen Kontrolle rücksichtlich ihres Aufenthaltes und einer gewissen Beschränkung in ihrer Erwerbstätigkeit“ unterstehen. Doch da von sterilisierten Jüdinnen und Juden in Mischehen keine Gefahr für das NS-Regime ausgehe, gab er sich überzeugt, dass die Regelung, die er für ‚seine‘ Niederlande vorschlug, „in gewissem Sinne eine präjudizielle Bedeutung für das Reich haben kann bzw. auf die Dauer die Regelung der Mischehen im Reich auch in den Niederlanden zur Anwendung kommen wird […].“ 95 Mit seinem Vorschlag, bei jüdischen Partnerinnen und Partnern von Mischehen Sterilisation anstelle von Deportation ‚anzubieten‘, wollte er sich also wie auf manchen anderen Gebieten seiner Politik auf Reichsebene als ‚Musterknabe‘ profilieren, der in seinem ‚Herrschaftsbereich‘ Vorgaben und Verfahrensweisen entwickelte, die ihm geeignet schienen, die Situation im Reich und in den Niederlanden auf vorbildliche Weise einander anzunähern. Hierzu dürfte er sich umso mehr berechtigt gefühlt haben, als von Seiten des Reiches in der Frage der Mischehen bisher kaum verbindliche Regelungen getroffen worden waren, an denen er sich als Leiter einer der nationalsozialistischen Zivilverwaltungen hätte orientieren können. Und da die Deportation der ‚Volljuden‘ zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten war, wollte er offensichtlich im Hinblick auf die mögliche Ausweitung der Abschiebungen auf Mischlinge endlich klare Verhältnisse auf Reichsebene anmahnen und sich selber mit seinem Vorschlag ins Gespräch bringen. Vermutlich glaubte er, mit der erpresserischen Alternative von Sterilisierung oder Deportation der Reichsführung ein subtiles Instrument anzubieten, das in der Propaganda den Anschein erwecken konnte, als gäbe es im Nationalsozialismus keine Zwangssterilisation, weil die Sterilisierung ja angeblich auf eine Entscheidung der Betroffenen zurückzuführen sei. Nach Kriegsende wiederum präsentierte er die in den Niederlanden praktizierte Sterilisation als das geringere Übel. Wie noch zu zeigen sein wird, wollte er damit 94 Wilhelm Harster an Otto Bene vom 28. August 1943, PA AA, R 99428. Vgl. auch Harster an Seyß-Inquart vom 28. Juni 1943, EMRFZ, A7 1943.02.06, sowie den Telexbericht von Seyß-Inquart an seinen Beauftragten in Amsterdam, Dr. Werner Schröder, vom 2. Februar 1943 mit dem bezeichnenden Hinweis, dass die Besatzungsmacht durch die Deportation der betreffenden Frauen „nur böses Blut machen“ werde (zit. nach: Middelberg, Judenrecht, Judenpolitik und der Jurist Hans Calmeyer, 339). 95 Seyß-Inquart an Bormann vom 28. Februar 1944, IfZ, G 01, Bd. 33, Dok. 1439; seinen eigenen Angaben zufolge hat er ein gleichlautendes Schreiben an Himmler gerichtet.

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Kapitel 8: Judenverfolgung

seinen Beitrag zur Judenverfolgung herunterspielen und die Verantwortung für die Deportationspraxis dem Sicherheitsapparat zuweisen. Die seinerzeit betroffene Bevölkerungsgruppe hingegen sah die Sterilisierung offenbar nicht als akzeptables Mittel zur Rettung vor Deportation: Die 2.500 bis 3.000 Personen, die sich sterilisieren ließen, stellten unter jenen Jüdinnen und Juden, für die diese Maßnahme gedacht war, eine Minderheit dar.96 Zu all diesen perfiden Regelungen kam die umfassende gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Strangulierung jüdischen Lebens in den besetzten Niederlanden und der Ausschluss der Juden aus dem Kulturleben und Bildungswesen des Landes – was noch einmal deren soziale und wirtschaftliche Isolierung und Segregation verschärfte. Schon frühzeitig erließ Seyß-Inquart beispielsweise eine Verordnung, mit der das Schächten eingeschränkt wurde.97 Waren von dieser Bestimmung zunächst einmal religiös lebende Juden betroffen, folgten 1941 Maßnahmen, die alle betrafen, die die Nationalsozialisten als Juden betrachteten. Hierzu zählte das Verbot, Theater, Konzerte, Bibliotheken, Kinos, Ausstellungen oder Zoologische Gärten zu besuchen, sich in öffentlichen Parkanlagen aufzuhalten oder an Märkten und Versteigerungen teilzunehmen. Auch wurde Juden untersagt, zusammen mit nichtjüdischer Bevölkerung Sport- oder Freizeitaktivitäten nachzugehen und sich an Stränden und in Badeanstalten aufzuhalten. Nicht einmal in Restaurants, Kaffeehäusern, Hotels oder Pensionen durften sie sich ab September 1941 aufhalten.98 In Amsterdam wurde die Teilnahme von Juden an Hochkultur auf ein Jüdisches Symphonieorchester und ein Jüdisches Theater beschränkt.99 Der Name dieses Theaters an der Plantage Middenlaan wurde auf Anordnung der Besatzungsmacht von Hollandsche Schouwburg in Joodsche Schouwburg geändert. Es war Ausdruck einer makabren Symbolik, dass das Jüdische Theater ab Sommer 1942 zum Sammelpunkt für die zu deportierenden Juden umfunktioniert wurde.100 Zum Ausschluss der jüdischen Bevölkerung von Bildung gehört auch, dass deren Kindern, wie erwähnt, der Besuch von nichtjüdischen Schulen verboten und jüdischen Studierenden der Zugang zu den Universitäten erschwert wurde; von den Anträgen auf Zulassung zum Studium, die Juden zum Studienjahr 1941/42 einreichten, wurden 40 Prozent abschlägig beschieden.101 Im April 1942 wurden Juden durch Seyß-Inquarts Ankündigung, dass ihnen „durch Anordnung des Generalkommissars für das Sicherheitswesen verboten werden solle, die Einrichtungen der niederländischen Universitäten zu betreten“, völlig aus den Hochschulen verbannt.102 Schon 96 Moore, Slachtoffers en overlevenden, 154 und Middelberg, Judenrecht, Judenpolitik und der Jurist Hans Calmeyer, 340 mit Anm. 1175. 97 In VO 80/1940 vom 31. Juli 1940 (VOBl. NL 1940, 247 f.) schrieb der Reichskommissar vor, dass ein Opfertier vor dem Schlachten betäubt werden musste. Dies widersprach jüdischem Verständnis, dem zufolge das Fleisch durch Betäubung nicht mehr koscher ist. 98 Siehe Rauters Verordnung über das „Auftreten der Juden in der Öffentlichkeit“ in: De Courant vom 16. September 1941. In Het Joodsche Weekblad wurde der Text erst zehn Tage später veröffentlicht. 99 Vgl. Romijn, De oorlog, 323 f. und Lademacher, Zwei ungleiche Nachbarn, 186 f. 100 Siehe hierzu den Überblick bei Zaich, Das Sammellager Hollandsche Schouwburg. 101 Knegtmans, Die Universität von Amsterdam, 84 und Ders., Onderwijspacificatie in de Nieuwe Orde, 274 f. 102 Protokoll vom 21. April 1942, das Böhmcker über die Besprechung vom 19. April angefertigt hat; NIOD, 20/453.

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im ersten Besatzungsjahr wurden jüdische Wissenschaftler unter Berufung auf einschlägige Verordnungen des Reichskommissars und gestützt auf die erwähnte Ariererklärungen aus dem Hochschuldienst entlassen. Besonders betroffen war die Universität von Amsterdam: Hier verloren neun Professoren, drei Lektoren, zwölf Privatdozenten, vier Konservatoren, 27 wissenschaftliche Assistenten in befristeter Anstellung, drei Studienassistenten sowie zwei Mitarbeiter der Bibliotheca Rosenthaliana ihre Ämter.103 Darüber hinaus wurde es Juden verboten, Mitglied der Niederländischen Kulturkammer oder einer Vereinigung oder Stiftung zu werden bzw. zu bleiben, die dieser gleichgeschalteten Dachorganisation nationalsozialistischer Kulturpolitik angehörte.104 Denn Juden bildeten, wie eine Broschüre der Informations­ abteilung der Kulturkammer betonte, „eine eigene, nicht-arische Gemeinschaft, und deshalb können sie nicht Mitglied einer arischen Kulturorganisation sein.“105 Formell wurde zwar die Ausübung jüdischer Religiosität in den Niederlanden ebenso wenig verboten wie im Reich. Aber im Verein mit allen anderen Maßnahmen von Diskriminierung und Beraubung wurde das religiöse und kulturelle Leben der Juden vom Reichskommissariat und den Polizei- und Sicherheitsorganen derart stark beschnitten, dass dieser Bevölkerungsteil schon vor der physischen Vernichtung zum Opfer kultureller Helotisierung gemacht wurde. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass für Seyß-Inquarts Haltung zur Judenverfolgung nicht nur jene Rechtsakte bezeichnend sind, die der Reichskommissar in enger Zusammenarbeit mit den Generalkommissaren in Kraft gesetzt hat. Aufschlussreich für seine Haltung sind auch politische Initiativen, die nicht umgesetzt wurden. Zu erwähnen ist besonders der Vorschlag des Reichssicherheitshauptamts, den aus den Niederlanden deportierten Juden die niederländische Staatsangehörigkeit abzuerkennen; auf diese Weise wollte man unmittelbar nach dem Beginn der Deportationen von Berlin aus unterbinden, dass das Königreich Schweden weiterhin als Schutzmacht für die niederländischen Juden auftrat. Diesen Gedanken griff Seyß-Inquart auf der Chefbesprechung vom 17. Juli 1942 begeistert auf und gab seine Bereitschaft zu erkennen, eine entsprechende Verordnung mit der Begründung zu erlassen, „dass alle Juden Deutschlands Feinde seien“. Seiner Vorstellung nach sollte die Aberkennung der niederländischen Staatsbürgerschaft nicht einmal auf die zu deportierenden Juden beschränkt

103 Hier hatte die antijüdische ‚Säuberung‘ im Laufe der Besatzungszeit weitere Folgen. Vier Professoren wurden in Geiselhaft genommen, über zwei Privatdozenten, die sich geweigert hatten, die Ariererklärung zu unterschreiben, wurde Hausverbot verhängt. Dazu kam, dass drei jüdischen Universitätsangehörigen im Mai 1940 die Flucht nach England gelang, während ein jüdischer Professor nach der Kapitulation der niederländischen Armee Selbstmord beging. Ein weiterer jüdischer Professor kehrte wohlweislich nach dem Westfeldzug von einer Chinareise nicht in die Niederlande zurück. Siehe Knegtmans, Die Universität von Amsterdam, 84 f. Zur Bibliotheca Rosenthaliana siehe unten, S. 456 f. 104 VO 211/1941 vom 22. November 1941, § 10, in: VOBl. NL 1941, 904 f. Nach dieser Verordnung konnte der Generalsekretär für Volksaufklärung und Künste „in besonders gelagerten Einzelfällen“ Ausnahmen gestatten, und zwar wenn „eine jüdische oder jüdisch versippte Person“ Mitglied der Niederländischen Kulturkammer wurde, oder wenn „Personenvereinigungen oder Stiftungen, die der Niederländischen Kulturkammer angehören müssen, von der Mitgliedschaft befreit sind, wenn sie ausschliesslich Juden zu Mitgliedern haben oder wenn das Stiftungsvermögen ausschliesslich Juden zugute“ kam. 105 Waarom een Nederlandsche Kultuurkamer? (undatiert und unpaginiert, vermutlich aus dem Jahr 1942).

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werden, sondern generell für alle Juden mit niederländischer Staatsbürgerschaft gelten.106 Seyß-Inquart übernahm somit nicht nur den Vorschlag des RSHA, sondern ging sogar über die Intentionen der radikalen Zentrale der Judenverfolgung in Europa hinaus! Im Auswärtigen Amt allerdings stand man dem Vorstoß kritisch gegenüber – offensichtlich befürchtete man hier negative außenpolitische Rückwirkungen und sah sich nicht in der Lage, eine solche Maßnahme gegenüber dem Ausland diplomatisch und propagandistisch hinreichend abzuschirmen. In der Wilhelmstraße schien Seyß-Inquarts Vorschlag denn auch „in dieser Form zu weitgehend“,107 und Staatssekretär Weizsäcker fand, dass Seyß-Inquarts Begründung „kein hinreichender Anlass zu der gedachten Massnahme“ sei.108 Da nun der Reichskommissar die Zustimmung des Auswärtigen Amtes zur Bedingung für den Erlass der projektierten Verordnung gemacht hatte, sah er angesichts des Widerstands, der ihm von Seiten der Wilhelmstraße geboten wurde, von einer entsprechenden Maßnahme ab.109 Hier stellt sich die Frage, ob Seyß-Inquart seinen Vorstoß auf der Chefbesprechung vom 17. Juli deshalb so weitreichend formuliert hatte, weil er ahnte, dass seine Position faktisch nicht durchsetzbar sein würde. Hatte er also eine ablehnende Stellungnahme des Auswärtigen Amtes von vornherein einkalkuliert, ohne sich die Gelegenheit entgehen zu lassen, sich gegenüber seinen engsten Mitarbeitern zum wiederholten Mal als energischer Antisemit zu profilieren? Auf jeden Fall zeigt diese Episode, dass Seyß-Inquart zu allen Maßnahmen bereit war, die eine Umsetzung der Deportationen effektiv machen und beschleunigen konnten. Zugleich aber offenbart sie seine Fähigkeit und Bereitschaft, flexibel auf Entscheidungen zu reagieren, die an höherer Stelle getroffen wurden. Vor diesem Hintergrund brachte sein Taktieren in der Frage der Aberkennung der niederländischen Staatsbürgerschaft für Juden sein Bestreben zum Ausdruck, auch und gerade bei der Judenverfolgung ideologischen Radikalismus, bürokratische Effizienz und die Berücksichtigung aller relevanten Entscheidungsträger miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Alles diente dem einen Ziel: unter seiner Führung die Juden aus den ‚germanischen‘ Niederlanden zu entfernen. 8.2 Anspruch auf politische Steuerung

Mit den aufgeführten und zahlreichen weiteren normativen Vorgaben hat Seyß-Inquart mit seinen Mitarbeitern im Reichskommissariat und unter Einschaltung von niederländischen Beamten im Laufe der Zeit ein Set an Richtlinien kreiert, mit dessen Hilfe alle in den Niederlanden lebenden Juden systematisch erfasst, beraubt und von der nichtjüdischen Bevölkerung separiert wurden. Im Sinne der Erwartungen, die die Reichsführung im Hinblick auf eine ‚Endlösung der Judenfrage‘ für das gesamte nationalsozialistisch beherrschte Gebiet in Europa an die deutschen Besatzungsverwaltungen stellte, dienten die Verordnungen des 106 Fernschreiben Otto Benes ans Auswärtige Amt vom 17. Juli 1942, PA AA, R 100876, Bl. 5. 107 Aufzeichnung von Referat D III für Weizsäcker, Luther und Woermann vom 20. Juli 1942, ebd., Bl. 6. 108 Aktennotiz Weizsäckers vom 17. August 1942, ebd., Bl. 8. 109 Bericht von Legationsrat Franz Rademacher an Weizsäcker, Luther und Woermann vom 1. September 1942, ebd., Bl. 43. Ähnlich bereits Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 13. August 1942, ebd., Bl. 41.

8.2 Anspruch auf politische Steuerung

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Reichskommissars ab 1941 der Vorbereitung, Finanzierung und Durchführung der Deportationen, die für die Betroffenen in den allermeisten Fällen tödlich endeten. Während aber im Deutschen Reich Himmler mit seinem Reichssicherheitshauptamt gegen das Reichsinnenministerium unter Frick und andere Reichszentralinstanzen die Federführung bei der Judenverfolgung durchsetzen konnte, achtete Seyß-Inquart für ‚seine‘ Niederlande darauf, besonders im Bereich der Rechtsetzung, aber auch bei der Aufsicht über die Umsetzung der dekretierten Maßnahmen selber die Fäden so weit und so lange wie möglich in der Hand zu behalten und die politische Gesamtverantwortung nicht nur nominell, sondern auch faktisch auszuüben. Bezeichnend für diesen Anspruch ist, dass er sich in etlichen seiner Verordnungen das Recht vorbehielt, in Zweifelsfragen „allgemein rechtsverbindliche Entscheidungen“ zu treffen; die Festlegung der Rahmenbedingungen der Judenverfolgung war somit im Reichskommissariat für die besetzten niederländischen Gebiete Chefsache. Dies schloss ein, dass Seyß-Inquart kraft seines Amtes eine Aufgabenteilung für das Politikfeld der Judenverfolgung vornahm. Dabei trachtete er danach, eine Monopolstellung des SS-Komplexes zu verhindern, indem er bestimmte Aufgaben anderen Zweigen der Besatzungsverwaltung vorbehielt. Demnach war in den Niederlanden – in Analogie zu Heydrichs Funktion als Sonderbeauftragter zur Lösung der Judenfrage auf der gesamten Reichsebene – Rauters Sicherheitsapparat für alle Maßnahmen zuständig, die man gerne als ‚polizeilich‘ oder ‚sicherheitspolizeilich‘ qualifizierte. Ihm wurde nicht zuletzt die Zentralstelle für jüdische Auswanderung unterstellt, mit deren Aufbau in Amsterdam SS-Obersturmbannführer Dr. Erich Rajakowitsch und SS-Hauptsturmführer Wilhelm Zöpf beauftragt wurden. Die Einrichtung der Zentralstelle in der am Vondelpark gelegenen Van Eeghenstraat ging Rauters irreführender Darstellung nach zwar auf „einen persönlichen Wunsch des Herrn Reichskommissars“ zurück, sie solle „beispielgebend für die Lösung der Judenfrage in sämtlichen europäischen Staaten“ werden.110 In Wirklichkeit aber war die Zentralstelle ein Instrument in den Händen der SS. Mit ihrer Hilfe wollte Rauter mit seinem Sicherheitsapparat die Kontrolle über die jüdische Bevölkerung in den Niederlanden an sich reißen und die Vorbereitungen zu deren Deportation über eine Institution kanalisieren, die zum Einflussbereich des Reichssicherheitshauptamts und seines ‚Judenreferats‘ IV B 4 unter Adolf Eichmann gehörte. Seyß-Inquart tat jedoch alles, um den Einfluss der Zentralstelle so gering wie möglich zu halten, und legte allergrößten Wert darauf, dass neben dem Generalkommissariat für das Sicherheitswesen auch jene Abteilungen des Reichskommissariats an Arisierung und Judenverfolgung beteiligt wurden, die stärker an ihn gebunden waren, als dies beim Höheren SS- und Polizeiführer mit seiner unmittelbaren Unterstellung unter Himmler der Fall war.111 So blieben – wie im 110 Rauter an Abteilung Rechtsetzung des Generalkommissariats für Verwaltung und Justiz vom 18. April 1941, NIOD, 20/9137. 111 Zum Tauziehen über die Zentralstelle für jüdische Auswanderung zwischen Seyß-Inquart und dem SS-Komplex siehe im Einzelnen Griffioen/Zeller, Jodenvervolging in Nederland, Frankrijk en België, 216– 226 und 228. Ähnlich Romijn, Burgemeesters, 241, Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, 204 f., Moore, Slachtoffers en overlevenden, 94 ff. und Ben Sijes in seinem Bericht für den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem aus dem Jahr 1960, IfZ, G 01, Bd. 31, Dok. 1256, Bl. 23.

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Zusammenhang mit der Wirtschaftsentjudungsverordnung gezeigt112 – Fragen der Vernichtung der wirtschaftlichen Stellung und Existenz der jüdischen Bevölkerung in der Hand von Fischböcks Generalkommissariat, und zumindest formell behielt Seyß-Inquarts Vertrauter Wimmer die Entscheidungsbefugnis über Calmeyers oben genannte Entscheidungsstelle, die dessen Generalkommissariat eingegliedert war.113 Es war Seyß-Inquart auch ein Anliegen, dass sein Beauftragter für die Stadt Amsterdam, Dr. Hans Böhmcker, in seinem Namen die Aufsicht über die verschiedenen Aspekte der Judenverfolgung ausübte. Zu diesem Zweck gab er auf einer Besprechung am 8. Oktober 1941 die Ernennung Böhmckers zum „allgemeinen politischen Vertreter des Reichskommissars“ für alle mit der Judenverfolgung zusammenhängenden Fragen bekannt.114 Bei Rauter und dessen Mitarbeitern dürfte die Ernennung eines vom SS-Komplex unabhängigen Fachmanns für die Judenverfolgung nicht auf Begeisterung gestoßen sein, und vereinzelt äußerten deutsche Funktionsträger Bedenken an der Zentralisierung der Aufsicht über die Durchführung der antijüdischen Maßnahmen bei Seyß-Inquarts Beauftragten für Amsterdam. So regte 1942 der Beauftragte für die Provinz Groningen, Hermann Conring, in einem seiner Monatsberichte für den Reichskommissar an, dass „die Behandlung der Judenfrage“ in Amsterdam von der in den anderen Landesteilen abgetrennt werden müsse, „da die Judenverhältnisse in der Stadt Amsterdam und in den Provinzen des Landes wesentlich voneinander abweichen.“115 Doch ein solcher Anstoß wurde nicht umgesetzt. Seyß-Inquart hielt an seinem Beauftragten für die Stadt Amsterdam, in der der überwiegende Teil der jüdischen Bevölkerung lebte, als seinem Beauftragten für die Judenverfolgung fest. Dies galt auch, nachdem Dr. Werner Schröder Mitte 1942 an die Stelle Böhmckers trat, und zwar sowohl als Beauftragter für Amsterdam als auch als Seyß-Inquarts Beauftragter für die Durchführung der Judenverfolgung.116 Die Mitarbeiter der Sicherheitspolizei und der Zentralstelle für jüdische Auswanderung verpflichtete der Reichskommissar ausdrücklich, sich mit seinem Beauftragten „in allen grundsätzlichen Fragen ins Benehmen zu setzen.“ Zugleich wurde die Sicherheitspolizei auf rein polizeiliche Maßnahmen und die Zentralstelle „auf die Vorbereitung und Bearbeitung der Auswanderung

112 Siehe oben, S. 328–330. 113 Kreutzmüller, Die Erfassung der Juden, 37 f. 114 Siehe Böhmckers Protokoll vom selben Tag, NIOD, 20/1545. Ursprünglich war Böhmcker im Frühjahr 1941 von Fischböck als Beauftragter für die Durchführung der antijüdischen Maßnahmen ins Gespräch gebracht worden. Aus unbekannten Gründen stieß dies bei Seyß-Inquart zunächst auf Ablehnung (siehe Rajakowitsch, Zusammenfassende Darstellung). Ebenso unbekannt sind die Gründe, die den Reichskommissar bewogen haben, seinen Beauftragten für die Stadt Amsterdam schließlich doch „mit der Aufsicht über die Befolgung der gegen die Juden gerichteten adminis­trativen Massnahmen“ zu betrauen (siehe Bericht von Ben Sijes für den Eichmann-Prozess von 1960, IfZ, G 01, Bd. 31, Dok. 1256, Bl. 69, Anm. 97 unter Bezugnahme auf eine Aussage von Wilhelm Harster vom Oktober 1948). 115 Abschrift für Stüler vom 8. Juli 1942, NIOD, 20/1485. 116 Obendrein war Kammergerichtsrat Schröder seit 1940 Leiter der Abteilung Feindvermögensverwaltung im Generalkommissariat für Finanz und Wirtschaft und übernahm 1943 auch noch die Leitung der Wirtschaftsprüfstelle (Kreutzmüller, Händler, 340). Damit saß der Vertraute des Reichskommissars an Schaltstellen der Judenverfolgung.

8.2 Anspruch auf politische Steuerung

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der Juden“ beschränkt.117 Die politische Lenkung und Aufsicht über die Judenverfolgung hingegen reservierte sich der Reichskommissar über seine Beauftragten Böhmcker bzw. Schröder selber. In SS-Kreisen kursierte im Herbst 1943 sogar die Vermutung, Seyß-Inquart habe dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD, dessen berüchtigtes ‚Judenreferat‘ IV B 4 seit Anfang 1942 Aufgabengebiete von der Zentralstelle für jüdische Auswanderung übernommen hatte,118 durch einen Geheimerlass „die weitere Bearbeitung von Judenangelegenheiten (insbesondere Mischehen, Diamantjuden usw.)“ entzogen und Schröder sowie SS-Sturmbannführer Willy Lages, dem Chef der Außenstelle Amsterdam der Sicherheitspolizei und des SD und der Zentralstelle für jüdische Auswanderung, unterstellt. Indigniert beschrieb der desavouierte Leiter des ‚Judenreferats‘ Zöpf die Haltung des Reichssicherheitshauptamts mit folgenden Worten: „[…] es sei gegen den Befehl des Reichsführers-SS und widersinnig, wenn in diesem vorgerückten Stadium die vom Herrn Reichskommissar selbst als sicherheitspolizeilich bestätigte Judenfrage nunmehr wieder von anderen Stellen bearbeitet würde.“119 Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt die operative Durchführung der Deportationen ungemein fortgeschritten, und hierbei spielte faktisch nicht der Beauftragte des Reichskommissars, sondern der SS- und Polizeiapparat die entscheidende Rolle. Die hohen Wellen, die die Angelegenheit bis ins RSHA hinein schlug, geben aber Grund zu der Vermutung, dass der Reichskommissar noch lange nach Beginn der Massendeportation bestrebt war, die Zügel bei der Judenverfolgung in der Hand zu halten. Nach wie vor erhob er den Anspruch auf politische Führung in der Judenpolitik. Das Bestreben, durch eine Teilung von Aufgaben und Zuständigkeiten verschiedene Instanzen der deutschen Besatzungsverwaltung unter seiner Leitung an der Judenverfolgung zu beteiligen, geht auch aus dem Rundschreiben Zur Behandlung der Judenfrage hervor, das Seyß-Inquart am 25. November 1941 an die Generalkommissare, Piesbergen, Otto Bene und seine Beauftragten für die Provinzen, Amsterdam und Rotterdam versandte.120 Hierin gab der Reichskommissar seinen engsten Mitarbeitern mehrere Entscheidungen bekannt, die den weiteren Prozess der Verfolgungsmaßnahmen kanalisieren sollten. Dazu gehörte die Bestätigung, dass Böhmcker von ihm mit der politisch-administrativen Aufsicht über die Judenverfolgung betraut wurde. Wie Seyß-Inquart in seinem Rundschreiben betonte, ließ er sich mit dieser Entscheidung von dem Ziel leiten, „eine Einheitlichkeit in der Durchführung“ sicherzustellen. Außerdem wolle er der Tatsache Rechnung tragen, „dass die überwiegende und bedeutsamste Ansammlung der Juden im Raum von Amsterdam gegeben ist“. Im selben Atemzug wurde der Leiter der Außenstelle Amsterdam der Sicherheitspolizei zum Leiter der 117 Böhmckers Protokoll vom 8. Oktober 1941, NIOD, 20/1545. 118 Siehe die Neuverteilung der Aufgaben und Zuständigkeiten nach dem Rundschreiben von Wilhelm Harster vom 3. Februar 1942, abgedruckt in: Rüter/De Mildt/Hekelaar Gombert (Bearb.), Justiz und NS-Verbrechen, 411 f. Damit war die Zentralstelle nicht mehr – wie ursprünglich von Rauter vorgesehen – „beispielgebend für die Lösung der Judenfrage in sämtlichen europäischen Staaten“. 119 Bericht des Leiters von Referat IV B 4 beim BdS in den Niederlanden Zöpf vom 11. November 1943, IfZ, G 01, Bd. 22, Dok. 596. 120 BArch, R 177/203.

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Kapitel 8: Judenverfolgung

Zentralstelle für jüdische Auswanderung bestimmt und „mit der Durchführung aller der Polizei obliegenden bezw. [sic] übertragenen Massnahmen für das besetzte niederländische Gebiet beauftragt.“ Im Vorfeld der Wannseekonferenz, die ursprünglich für Dezember 1941 geplant gewesen war, dann aber auf den 20. Januar des Folgejahres verschoben wurde, wollte der Reichskommissar für seinen ‚Herrschaftsbereich‘ klare Verhältnisse schaffen, kraft seines Amtes die Aufgaben nach ‚politischen‘ und nach ‚polizeilichen‘ Gesichtspunkten aufteilen und sich selbst die zentrale Steuerungskompetenz bei der „Behandlung der Judenfrage“ sichern. Dieses Ziel lässt sich auch daraus ableiten, dass Seyß-Inquart in demselben Rundschreiben die – nicht zuletzt von ihm selber – bisher getätigten Schritte würdigte und neue Aufgaben definierte: „Mit den in diesem Monat erlassenen Verordnungen, insbesondere über die Berufsausübung, Lösung der Dienstverhältnisse, Ausschluss aus den nichtwirtschaftlichen Vereinigungen sowie aus dem kulturellen Leben, ist das notwendige und beabsichtigte Ausmass der legislativen Regelungen für die Behandlung der Judenfrage geschaffen und wird innerhalb dieses Rahmens nunmehr die Exekutive zu führen sein. Die nächste Aufgabe wird daher die Durchsetzung aller Massnahmen sein, die im Wege dieser Verordnungen vorgesehen sind. Das Ziel ist die wirtschaftliche, kulturelle und persönliche Trennung der Juden von den Nichtjuden.“ Den Anspruch auf die zeitliche, inhaltliche und organisatorische Strukturierung des Prozesses der Judenverfolgung wollte er sich für die Niederlande nicht streitig machen lassen – auch wenn ihm bewusst sein musste, dass auf der anstehenden Wannseekonferenz ein für alle besetzten Gebiete einheitliches, zumindest koordiniertes Verfahren unter der Federführung von Reinhard Heydrich abgesprochen werden würde. Seinen Führungsanspruch auf die Judenverfolgung in den Niederlanden unterstrich Seyß-Inquart in seinem Rundschreiben vom 25. November 1941 auch dadurch, dass er Einzelheiten vorgab, die in der nächsten Zukunft die Verfolgungsmaßnahmen des Regimes begleiten oder auszeichnen sollten. So bestimmte er den Judenrat „zu einer Befehlsübermittlungsstelle für die zuständigen deutschen Dienststellen“. Er legte fest, dass Juden, „deren Abtransport für die nächste Zeit nicht erwartet werden kann“, zu Zwangsarbeit heranzuziehen seien, und ordnete an, dass die Beraubung der jüdischen Bevölkerung „im Benehmen“ zwischen seinem Beauftragten Böhmcker und der Zentralstelle für jüdische Auswanderung fortgesetzt werden solle. Schließlich gab Seyß-Inquart in seinem Rundschreiben bekannt, dass für ‚seine‘ Niederlande die Bildung von Ghettos in nächster Zeit nicht in Frage käme. Dass er diese Vorgabe als „vorläufig“ bezeichnete, zeigt zweierlei: Erstens gab es auf deutscher Seite in dieser Frage unterschiedliche Auffassungen, zweitens wurde der interne Klärungsprozess vom Reichskommissar noch nicht als abgeschlossen angesehen. Immerhin waren die Niederlande das einzige besetzte Gebiet außerhalb Osteuropas, in dem eine Besatzungsverwaltung nachweislich über die Möglichkeit einer Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung nachdachte. Tatsächlich hatte Böhmcker schon länger derartige Überlegungen ventiliert, sich hiermit unter den deutschen Instanzen in Den Haag aber nicht durchsetzen können.121 Die Gründe für den Verzicht auf 121 Michman, Angst vor den „Ostjuden“, Kap. 9. Moore zufolge waren Böhmckers Überlegungen zur Bildung

8.2 Anspruch auf politische Steuerung

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die Bildung von Ghettos in den Niederlanden sind nicht dokumentiert. War hierfür der Widerspruch der Generalsekretäre ausschlaggebend? Glaubte man, nicht genügend Personal zur Bewachung zur Verfügung zu haben? Oder befürchtete die Besatzungsmacht, dass die Errichtung von Ghettos unter der jüdischen, vor allem aber unter der nichtjüdischen Bevölkerung der Niederlande zu erheblicher Unruhe führen würde und damit dem Bestreben zuwiderlief, die innenpolitische Situation nach dem Februarstreik wieder zu beruhigen? Stand nicht gar zu erwarten, dass die Bildung von Ghettos in einem der westeuropäischen Länder über die Grenzen der Niederlande hinaus zu Unruhen geführt hätte und besonders für die Militärverwaltungen in Frankreich und Belgien zu einer Belastung geworden wäre? Kurzum: Gegen Ghettos nach osteuropäischem Vorbild sprach, dass ihre Einrichtung „sehr aufwendig und die politischen Folgekosten sehr hoch waren.“122 Außerdem erübrigte sich in den Niederlanden aus praktischen Gründen eine Ghettobildung. Immerhin war eine weitgehende administrative Erfassung und Registrierung der Juden durch die verschiedenen Verordnungen gewährleistet, die Seyß-Inquart bis zu diesem Zeitpunkt bereits in Kraft gesetzt hatte. Statt Ghettos zu bilden, wurde die jüdische Bevölkerung seit Anfang 1942 aus zahlreichen Orten des Landes vertrieben und verpflichtet, sich innerhalb kürzester Zeit in Amsterdam niederzulassen. Hier wiederum durften Juden sich nur in bestimmten Stadtvierteln aufhalten. In diesem Sinn ermächtigte Seyß-Inquart die Polizei zu „Beschränkungen der Wohn- und Aufenthaltsmöglichkeiten für Juden“; eine Appellationsmöglichkeit bei ordentlichen Gerichten schloss er für die Betroffenen dezidiert aus.123 Durch eine solche Maßnahme wurde die jüdische Bevölkerung topografisch konzentriert und war für einen Zugriff durch Polizeiorgane leicht zu fassen. Unter diesen Umständen war eine formelle Ghettoisierung gar nicht nötig, um die ‚Endlösung der Judenfrage‘ mit höchstmöglicher Effizienz durchzuführen. Trotz der Bemühungen des Reichskommissars, die „Behandlung der Judenfrage“ in den Niederlanden in ihrer Gesamtheit politisch zu steuern und unter seiner Kontrolle zu behalten, war es letztlich der Polizei- und Sicherheitsapparat, der der Judenverfolgung ihren unerhört radikalen Stempel aufdrückte und allgemeine Vorgaben wie auch Einzelmaßnahmen in der Praxis mit grausamer Effizienz umsetzte.124 Ohne sich jemals offen in Widerspruch

eines Ghettos eher eine der Antworten der Zivilverwaltung auf die Unruhen im Kontext des Februarstreiks als Resultat einer konsistenten politischen Planung (Slachtoffers en overlevenden, 86 f.). 122 Kreutzmüller, Die Erfassung der Juden, 26. 123 Seyß-Inquart, Rundschreiben Zur Behandlung der Judenfrage vom 25. November 1941, BArch, R 177/203. Hierbei berief sich der Reichskommissar explizit auf seine Verordnung 230/1940 vom 19. Dezember 1940, in der er festgelegt hatte: „Über zivilrechtliche Ansprüche, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Anordnungen des Reichksommissars für die besetzten niederländischen Gebiete oder der von ihm beauftragten Stellen von den dadurch Betroffenen oder ihren Rechtsnachfolgern geltend gemacht werden, entscheidet im Streitfalle der Reichskommissar oder die von ihm beauftragte Stelle unter Ausschluss des Rechtsweges.“ (§ 1, zit. nach: VOBl. NL 1940, 699; Hervorhebung J. K.) Zur Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus ihren bisherigen Wohngebieten in den verschiedenen Landesteilen und ihrer Konzentrierung in ausgewählten ‚Judenvierteln‘ siehe auch RIOD (Hrsg.), Het Proces Rauter, 25 f. sowie Romijn, Burgemeesters, 450 f. 124 Vgl. Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer, 179–181.

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Kapitel 8: Judenverfolgung

zum Reichskommissar setzen zu müssen, hatten Rauter und seine Untergebenen durchaus die Möglichkeit, Verfolgungsmaßnahmen im Alltag weitgehend eigenmächtig durchzuführen. Im Unterschied zu Seyß-Inquarts Beauftragten Böhmcker und Schröder waren die diversen Instanzen des SS- und Polizeiapparats für die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung personell reich ausgestattet und über das Reichssicherheitshauptamt bestens in Verfahrensweisen und Strukturen auf Reichsebene integriert, die eine rasche und relativ geräuschlose Segregation und Deportation der jüdischen Bevölkerung ermöglichten. Dem Reichskommissar fehlten demgegenüber die Instrumente für eine umfassende Kontrolle des operativen Tagesgeschäfts des deutschen Sicherheitsapparats. Dazu kommt, dass Seyß-Inquart hätte abwägen müssen, ob ein Einspruch gegen Einzelmaßnahmen von SS- und Polizeikräften einen Konflikt mit Himmler wert gewesen wäre. Für solch eine Erwägung gab es schon dadurch keine Grundlage, dass der hochrangige SS-Offizier Seyß-Inquart mit den Angehörigen aller Ebenen des SS-Komplexes vollkommen in dem Ziel übereinstimmte, die Niederlande so rasch und so umfassend wie möglich ‚judenfrei‘ zu machen. Schließlich nahm Seyß-Inquart als bekennender Antisemit durch den Erlass von Rechtsvorschriften, die Anordnung von Verfolgungsmaßnahmen und das Bestreben, die politische Kontrolle und Steuerung zu behalten, bereitwillig die Verantwortung für die Judenverfolgung in den Niederlanden auf sich. Und letztlich gab der Reichskommissar Rauter im Großen und Ganzen jene Rückendeckung, die dieser benötigte, um die Eliminierung der jüdischen Bevölkerung ins Werk zu setzen. 8.3 Persönliches Engagement – Beispiele

Seyß-Inquarts Anteil an der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden erschöpfte sich weder in der Schaffung einschlägiger Rechtsgrundlagen noch in dem Bemühen, die politische Kontrolle über die Judenverfolgung zu behalten. In Einzelfällen hat er sich nachweislich in Verfolgungsmaßnahmen eingeschaltet, etwa indem er Deportationslisten abzeichnete, die ihm vom Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD vorgelegt wurden. So versah er die Liste mit jenen 305 Juden, die am 14. September 1943 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurden, eigenhändig mit seiner Paraphe.125 Fünf Monate später genehmigte er nachträglich die „Umsiedlung“ von 870 Juden nach Theresienstadt, die auf weiteren Deportationslisten erfasst worden waren.126 Höchstwahrscheinlich war Seyß-In125 Wilhelm Harster an Seyß-Inquart vom 19. August 1943, als Faksimile abgedruckt in: Nederland in Oorlogstijd vom 25. Januar 1947, 88. Innerhalb der Behörde wurde Harster eigens darauf hingewiesen, dass der Handvermerk dafür stehe, dass der Reichskommissar „mit der Überstellung der Juden nach Theresienstadt einverstanden“ sei. Nach dem Krieg versuchte Seyß-Inquart sich dadurch zu rechtfertigen, dass er sich wiederholt „nach den Verhaeltnissen in Theresienstadt erkundigt und nicht beunruhigende Auskuenfte erhalten“ habe. Der Verschleierung und Verharmlosung diente auch, dass er in diesem Zusammenhang nicht den Begriff ‚Konzentrationslager‘ verwendete, sondern von „dieser Stadt“ sprach, die „fuer beguenstigte Juden zum ausschliesslichen Bewohnen bestimmt worden“ sei (Denkschrift, Bl. 51). 126 Undatiertes Schreiben von BdS Erich Naumann an Seyß-Inquart [nach 18. Januar 1944] und Schreiben aus Seyß-Inquarts Reichsministerium in Berlin vom 9. Februar 1944 an Naumann, IfZ, G 01, Bd. 20, Dok. 337.

8.3 Persönliches Engagement – Beispiele

353

quart auch an der Entscheidung beteiligt, in der Nacht vom 21. Januar 1943 überfallartig die jüdische Anstalt für geistig Behinderte Het Apeldoornsche Bosch sowie die Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche Achisomog, die sich auf demselben Gelände befand, räumen und die Insassen sowie 52 Angehörige des ausschließlich jüdischen Pflegepersonals nach Auschwitz deportieren zu lassen.127 Jacques Presser zufolge war der Befehl hierzu von Eichmann ausgegangen.128 Da aber der fanatische Koordinator der europäischen Judenvernichtung kurz vorher mit Seyß-Inquart und Wilhelm Harster in den Räumen des Reichskommissariats zusammengekommen war,129 dürfte die Räumung der Apeldoorner Anstalten mit Seyß-Inquart abgesprochen gewesen sein. Obwohl nicht bekannt ist, wie er persönlich zur Euthanasie stand, werden die Insassen von Het Apeldoornsche Bosch auch für diesen Spitzenfunktionär gleich in zweifacher Hinsicht unerwünscht gewesen sein: Sie waren Juden, und sie litten unter Geisteskrankheiten. Diese Kombination prädestinierte sie aus nationalsozialistischer Sicht nachgerade zu Opfern der Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes, und dies wird dem Reichskommissar bei der Begegnung mit Eichmann bewusst gewesen sein. Auf jeden Fall hat er weder gegen die gewaltsame Räumung der Apeldoorner Anstalten noch gegen die Räumung von weiteren jüdischen sozialen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Sanatorien, Altenheimen oder Waisenhäusern, die in den folgenden Monaten durchgeführt wurden, erkennbar Einspruch erhoben.130 Seine Zustimmung zu den Deportationen darf vorausgesetzt werden. Auch hat sich Seyß-Inquart immer wieder über den aktuellen Stand informieren lassen, gegen die jüdische Bevölkerung gehetzt und zu weiteren Verfolgungsmaßnahmen aufgefordert. So erhielt er beispielsweise einen Bericht über die Behandlung der Judenfrage im Bereich des Generalkommissariats für Verwaltung und Justiz, in dem unter dem Datum des 25. Juni 1942 über den Stand der „Entjudung der niederländischen Justiz“ referiert wurde. Als gelernter Rechtsanwalt wird er mit Aufmerksamkeit die folgende Einschätzung der Hauptabteilung Justiz von Wimmers Generalkommissariat zur Kenntnis genommen haben: „Die Justiz und vor allem der Rechtsanwaltstand haben von Anfang an unter den Berufen, zu denen sich der Jude besonders hingezogen fühlt, eine hervorragende Stellung eingenommen.“131 Und nachdem er ab dem Frühjahr 1938 als Reichsstatthalter bereits an der Arisierung des Justizwesens in Österreich teilgenommen hatte, wird der Ausschluss jüdischer Advokaten, Notare, Richter oder Staatsanwälte aus dem Rechtssystem der Niederlande ganz in seinem Sinn gewesen sein. Seyß-Inquarts Interesse an antijüdischen ‚Säuberungen‘ erstreckte sich übrigens nicht nur auf den niederländischen Behördenapparat. Der Reichskommissar zögerte nicht, auch gegenüber der eigenen Verwaltung als antisemitischer Hardliner aufzutreten. Dies war etwa der Fall, als 127 Siehe hierzu Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, 439 f. und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/1, 319-326. Die operative Leitung dieser Aktion lag bei Ferdinand Aus der Fünten, dem damaligen Leiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Amsterdam. 128 Presser, Ondergang, Bd. 1, 324. 129 Vgl. Meyer, Das Wissen um Auschwitz, 59 f. 130 Vgl. hierzu Moore, Slachtoffers en overlevenden, 125 f. 131 NIOD, 20/2316.

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Kapitel 8: Judenverfolgung

der deutsche Diplomat Felix William Wickel wegen seiner ‚halbjüdischen‘ Abstammung in Bedrängnis geriet. Als Landesgruppenleiter der Auslandsorganisation der NSDAP in Niederländisch-Indien (ab 1932), Niederlande-Referent der Dienststelle Ribbentrop (ab 1935), Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes (ab 1936), geschäftsführendes Vorstandsmitglied der nationalsozialistisch unterwanderten Deutsch-Niederländischen Gesellschaft und zeitweiliger Leiter des Referats Sonderfragen, das innerhalb des Auswärtigen Amtes im Zusammenhang mit dem sogenannten Sonderauftrag Linz gegründet worden war, hatte sich Rittmeister Wickel zwar seit langem für das NS-Regime engagiert. Dies hinderte Seyß-Inquart aber nicht, auf dessen jüdische Abstammung hinzuweisen, und dies wiederum veranlasste Otto Bene zu der Frage, ob der ihm zugeordnete Gesandtschaftsrat Wickel „wegen seines Webfehlers, der jetzt überall bekannt ist, sehr lange zu halten sein wird […].“132 Bemerkenswerterweise blieb Wickel noch lange in Benes Diensten. Hierbei wird nicht zuletzt eine Rolle gespielt haben, dass er von Luther als „ein alter und bewährter Mitarbeiter der Dienststelle Ribbentrop“ bezeichnet wurde, „der immer treu zu uns gehalten hat“.133 Erst im September 1943 wurde sein Dienstverhältnis mit dem Reichskommissariat beendet, nachdem er vorher mehrmals monatelang im Krankenurlaub gewesen war. Doch selbst danach schien Wickel vor Verfolgungsmaßnahmen geschützt zu sein. Denn bis zum 4. September 1944 blieb Den Haag sein Wohnsitz, ehe er sich – vermutlich im Kontext des ‚verrückten Dienstags‘ – ins Reich absetzte. Einem aktiven Eingreifen Seyß-Inquarts im Sinne einer konsequenten antisemitischen ‚Säuberung‘ waren somit Grenzen gesetzt. Trotzdem zeugt die Stellungnahme des Reichskommissars gegen Wickels Abstammung von seinem Interesse, (halb-)jüdische Mitarbeiter aus der eigenen Behörde zu entfernen. Informationen zum Stand der Judenverfolgung erhielt Seyß-Inquart nicht nur über die Situation in ‚seinen‘ Niederlanden. Auch über geplante Verfolgungsmaßnahmen im Reich, auf die er seine Politik in den Niederlanden abstimmen wollte, war er auf dem Laufenden. So wurde er von Rauter frühzeitig über die Planungen zur Wannseekonferenz in Kenntnis gesetzt. Fünf Tage nachdem in Berlin unter dem Vorsitz von Eichmann erstmals Vertreter von NSDAP, Reichssicherheitshauptamt, Reichsinnenministerium und der Vierjahresplanbehörde unter anderem über die Frage der Einbeziehung von Mischlingen in die ‚Endlösung‘ konferiert hatten, informierte Rauter Seyß-Inquart am 18. August 1941 darüber, dass in absehbarer Zeit in Berlin „Ressort-Besprechungen der obersten Reichsinstanzen“ stattfinden würden, bei denen „die kommende Endlösung der Judenfrage“ im Mittelpunkt stünde. Als Begründung gab der Höhere SS- und Polizeiführer Nordwest schon zu diesem Zeitpunkt an Seyß-Inquart weiter: „Die Betrachtung der Blutschutzfrage im europäischen Masstabe erfordert eine Regelung, die auf ausschliesslich rasse-biologischen Grundsätzen basiert, ohne dass hierbei die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen eine Rolle zu spielen hat. In diesem Zusammen-

132 Bene an Luther vom 27. November 1940, zit. nach: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 2, Nr. 25042. Aus dem Brief geht nicht hervor, wann Seyß-Inquart gegen Wickel Stellung bezogen hatte. 133 Luther an Bene vom 9. Dezember 1940, zit. nach: ebd. Für biografische Informationen zu Wickel danke ich Dr. Martin Kröger (PA AA; E-Mail vom 29. Dezember 2011, Gz. 117-251.07 Koll).

8.3 Persönliches Engagement – Beispiele

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hang dürfte die Frage der Regelung des Mischlings-Problems neu aufgerollt werden.“134 In der Frage, inwieweit auch die Mischlinge über die Nürnberger Gesetze hinausgehend in die Planungen zu einer ‚Endlösung‘ einbezogen werden sollten, gehörte Seyß-Inquarts Reichskommissariat schon zu diesem Zeitpunkt zum radikalen Flügel: Indem man in Den Haag für „einen erweiterten Judenbegriff“ eintrat, lehnte man sich an die Position des RSHA und der Parteikanzlei an, während das Reichsinnenministerium und Göring im Sommer 1941 noch gegen eine Einbeziehung von Mischlingen in die geplanten umfassenden Deportationen waren; selbst Hitler hatte sich damals noch gegen eine Aufweichung der Nürnberger Gesetze durch eine Ausweitung der antijüdischen Bestimmungen auf Mischlinge gewandt.135 Mit Verordnung 6/1941 hatte Seyß-Inquart jedenfalls schon ein gutes halbes Jahr vorher die Grundlagen für die behördliche Erfassung der Mischlinge gelegt, und der knappe, vertrauliche Ton, in dem Rauter mit Begriffen, die zum damaligen Zeitpunkt nur für Eingeweihte die genozidale Dimension und Intention der Reichsführung andeuteten, den Reichskommissar über das auf der Wannseekonferenz zu regelnde „Mischlings-Problem“ informierte, weist darauf hin, dass Rauter und Seyß-Inquart in dieser Frage eine gemeinsame Haltung einnahmen. Im Laufe der folgenden Wochen kümmerte sich der Reichskommissar darum, auch die Generalkommissare Wimmer und Schmidt in ein koordiniertes Vorgehen der Besatzungsmacht einzubeziehen.136 Es liegt somit der Verdacht nahe, dass sich das Reichskommissariat in den Niederlanden bei der Verfolgung und Deportation der Juden unter den besetzten Ländern in Westeuropa durch die Bereitschaft zu besonders weitgehenden und rigide durchgeführten Maßnahmen profilieren wollte. Zu den Beiträgen zur Judenverfolgung zählen auch zahlreiche Reden und Aufsätze, in denen Seyß-Inquart öffentlich volksverhetzende Stimmung gegen die jüdische Bevölkerung betrieb oder antisemitische Maßnahmen ankündigte bzw. rechtfertigte. In einem Beitrag für die von Wilhelm Stuckart, Werner Best, Gerhard Klopfer, Rudolf Lehmann und Reinhard Höhn herausgegebene Zeitschrift Reich – Volksordnung – Lebensraum stellte er im Jahr der Wannseekonferenz nicht nur mit Stolz fest, welche Schritte das Reichskommissariat bisher bei der Judenverfolgung unternommen hatte. Er deutete auch das Ziel der „Sonderbehandlung“ an, denen „der Jude“ in den Niederlanden unterworfen werde: „Ohne Rücksicht auf seine staatliche Zugehörigkeit wurde er […] zuerst aus jeder öffentlich-rechtlichen, sodann aus jeder wirtschaftlichen und schließlich kulturellen Betätigung ausgeschaltet. Seine vollkommene Ausscheidung aus dem niederländischen Volkskörper ist im Gange.“137 Und bei der Feier zum zehnten Jahrestag der Machtergreifung bezeichnete es Seyß-Inquart im Januar 1943 vor Tausenden von deutschen und niederländischen Nationalsozialisten in Den Haag als „Notwehr“, 134 EMRFZ, A7 1941.18.08. 135 Siehe Wildt, Generation des Unbedingten, 610 f. 136 Entsprechende Besprechungen fanden am 23. August sowie am 5. und 25. September 1941 statt; siehe den Hinweis bei Stuldreher, De legale rest, 134. Die Besprechungen dienten auch der Vorbereitung des Besuchs bei Hitler am 26. September, wo unter anderem der Stand der Judenverfolgung in den Niederlanden besprochen wurde. Siehe hierzu unten, S. 370. 137 Seyß-Inquart, Die politische Aufgabe des Reichskommissars, 13.

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Kapitel 8: Judenverfolgung

Abb. 16: „Wir werden die Juden schlagen, wo wir sie treffen […].“ Seyß-Inquart bei seiner pompös inszenierten Rede vom 12. März 1941 im Amsterdamer Concertgebouw.

dass „das deutsche Volk“ den Entschluss gefasst habe, „das Judentum aus seinem Volkskörper zu entfernen.“138 Dass es sich hierbei nicht um leere Worte handelte und die Drohungen auch die in den Niederlanden lebenden Juden einschlossen, bekamen die Betroffenen am eigenen Leibe zu spüren – hat sich Seyß-Inquart doch tatsächlich mit aller Macht bis hin zur ‚Endlösung‘ für die „vollkommene Ausscheidung“ der jüdischen Bevölkerung aus der nichtjüdischen Bevölkerung des besetzten Landes eingesetzt. Der verbale Radikalismus war also durchaus im Einklang mit der Wirklichkeit der deutschen Besatzungspolitik. Die antisemitische Propa­ ganda deckte sich mit einer ideologischen Programmatik, die mit steigender Radikalisierung in die Praxis der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung umgesetzt wurde. Unter den antisemitischen Ansprachen, die Seyß-Inquart als Reichskommissar gehalten hat, ragt die schon anderweitig erwähnte Rede vom 12. März 1941 durch ihre Aggressivität heraus.139 Hierin machte er vor deutschen und niederländischen Nationalsozialisten per138 Seyß-Inquart, Zum 10. Jahrestag der Machtübernahme, 116. 139 Seyß-Inquart, Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [12. März 1941]. Die folgenden Zitate stammen von S. 37 f., 50, 57 f.

8.3 Persönliches Engagement – Beispiele

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verserweise „die Juden, die letzten Endes diesen als Vernichtungskrieg gegen das deutsche Volk gemeinten Kampf entfesselt haben“, für den Zweiten Weltkrieg sowie für den Februarstreik verantwortlich. Sie nämlich seien es gewesen, die knapp zwei Wochen zuvor das niederländische Volk „zum Widerstand aufgereizt und verführt“ hätten. Den Aufruhr in einigen Teilen des Landes, den der Februarstreik mit sich gebracht hatte und der von den Sicherheitskräften brutal niedergeschlagen worden war, nutzte Seyß-Inquart, um auf eine grundsätzliche Weise seine Haltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung darzulegen. Er zog alle Register antisemitischer Klischees, indem er alle möglichen Versatzstücke nationalsozialistischer Rhetorik anführte und voll primitiver Polemik geiferte: „Die Juden werden von uns nicht als ein Bestandteil des niederländischen Volkes angesehen. Die Juden sind für den Nationalsozialismus und das nationalsozialistische Reich der Feind. Vom Augenblick ihrer Emanzipation an war ihr Wirken darauf gerichtet, die völkischen und moralischen Werte im deutschen Volk zu vernichten und an Stelle einer national bewußten und verantwortlichen Weltanschauung einen internationalen Nihilismus zu setzen.“ In Deutschland seien sie für die Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich gewesen, und nach 1918 hätten sie danach getrachtet, „alle traditionellen völkischen, aber auch sittlichen und religiösen Glaubenswerte im deutschen Volk“ aufzulösen und zu zersetzen. Auch in den besetzten Niederlanden würden die Juden als Feinde betrachtet. Mit diesen „land- und volksfremden Elementen“ könne es weder einen Waffenstillstand noch einen Friedensschluss geben. Für die Besatzungsmacht komme daher nur eines in Frage: „Wir werden die Juden schlagen, wo wir sie treffen, und wer mit ihnen geht, hat die Folgen zu tragen. Der Führer hat erklärt, daß die Juden in Europa ihre Rolle ausgespielt haben, und daher haben sie ihre Rolle ausgespielt.“ Die Drohung gegen die Juden und all jene, die für sie eintraten, bezog sich zunächst einmal auf die Zeit, in der das Großdeutsche Reich die Niederlande besetzt halten würde. Doch auch für die Zeit nach einem erwarteten deutschen Endsieg und einem Abzug von Besatzungstruppen und -verwaltung werde „das niederländische Volk vor die Wahl gestellt sein, ob es das kameradschaftliche Zusammengehen mit dem deutschen Volk den Juden zuliebe auf das Spiel setzen will.“ Mit diesen Ausführungen warnte Seyß-Inquart zum einen die Niederländer in ihrer Gesamtheit davor, noch einmal zugunsten der jüdischen Mitbürger gegen die deutsche Politik Stellung zu beziehen – habe doch das unerbittliche Auftreten der Besatzungsmacht bei der Niederschlagung des Februarstreiks deren Entschlossenheit deutlich gemacht, „ihren Standpunkt durchzusetzen“, und es müsse klar sein: „Wir werden in Zukunft, wenn es sein muß, noch härter sein.“ Zum anderen machte er deutlich, dass das, was im nationalsozialistischen Sprachgebrauch unter dem Stichwort ‚die Judenfrage‘ verhandelt wurde, für das Reichskommissariat ein zentraler Aspekt der Besatzungspolitik war. In diesem Zusammenhang rief er nicht zuletzt die niederländischen Faschisten, für die der Antisemitismus bis 1940 einen weitaus geringeren Stellenwert hatte als für ihre deutschen Gesinnungsgenossen,140 dazu auf, sich an der Seite des Großdeutschen Reiches am Kampf gegen ‚das Judentum‘ zu beteiligen. Der NSB, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht den Status der einzig zugelassenen politischen Partei 140 Siehe hierzu Kwiet, Mussert, „Mussert-Juden“ und die „Lösung der Judenfrage“, 152–154.

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Kapitel 8: Judenverfolgung

erlangt hatte, wurde die bedingungslose Unterstützung der deutschen Politik als unerlässlich vor Augen geführt, und dies schloss die Beteiligung an der Judenverfolgung ein. Wenn auch die Verfolgungsmaßnahmen im Kern von deutschen Kräften durchgeführt wurden, wollte der Reichskommissar auch die Bevölkerung der Niederlande, zumindest aber die dortigen Kollaborateure, in politische Mitverantwortung zwingen. Mit seiner Grundsatzrede vom 12. März 1941 und zahlreichen anderen Ansprachen unternahm Seyß-Inquart den Versuch, eine antisemitische Stimmung, wie sie das NS-Regime schon lange in Deutschland und zum Teil in anderen besetzten Gebieten gefördert hatte, in die Niederlande zu importieren, und er unterstützte Initiativen von deutscher und niederländischer Seite, die die Judenverfolgung des Regimes rechtfertigten.141 Nachdem im Februarstreik eine weitverbreitete Ablehnung von Antisemitismus und antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen ans Licht getreten war, wollte er mindestens die kollaborationsbereiten Kräfte des Landes zu verstärktem Engagement aufrufen, zugleich aber breiten Bevölkerungsschichten signalisieren, dass die ‚Judenfrage‘ für das Reichskommissariat ein derart sensibles Thema war, dass es jeden Einspruch und jeden weiteren Widerstand mit aller Härte unterdrücken würde. Um die ‚Judenfrage‘ im Sinne des Nationalsozialismus zu ‚lösen‘, kommunizierte er die Entschlossenheit, sein Ziel, die niederländische Gesellschaft durch eine relativ entgegenkommende Politik zu einer Selbstnazifizierung zu führen, hintanzustellen. Die Prioritäten seiner Besatzungspolitik waren spätestens mit der Grundsatzrede im Amsterdamer Concertgebouw klargestellt: Die möglichst reibungslose Durchführung der Judenverfolgung rangierte im Zweifelsfall vor dem mittel- und langfristig konzipierten Ziel der Gewinnung der Niederländer für den Nationalsozialismus. Den unbedingten Willen des nationalsozialistischen Deutschlands zur rigorosen Ausschaltung aller Jüdinnen und Juden hat Seyß-Inquart auch später immer wieder artikuliert, etwa wenn er es am 20. April 1943 in einer öffentlichen Rede in Heerlen zu Hitlers 54. Geburtstag als einen „Akt der Notwehr“ bezeichnete, „wenn wir Deutsche beschließen, daß die Juden in unseren Reihen und in unserem Wirkungsbereich nichts mehr zu tun haben […].“ Während die Deportationszüge seit Monaten gen Osten rollten, verbat sich der Reichskommissar jeglichen Einspruch gegen die Judenpolitik des NS-Regimes. Denn es sei „ausschließlich Sache des deutschen Volkes, ob es den Juden in seinen Reihen noch dulden will oder nicht.“ Seinen Vorschlag, die USA sollten ihre Staatsausgaben für den Freikauf von Juden und deren Emigration nach Amerika verwenden statt Milliardenbeträge in ihre Rüstungsproduktion stecken, kann er selber nicht ernst genommen haben.142 An der verbissenen Entschlossenheit des Großdeutschen Reiches, die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung voranzutreiben, ließ Seyß-Inquart jedenfalls zu keinem Zeitpunkt Zweifel aufkommen: „[…] der Führer hat gesagt, das Judenproblem wird gelöst, und das Judenproblem wird auch in den Niederlanden 141 So schrieb er ein Geleitwort zu der Anthologie Niederlandbuch, die 1942 von dem Direktor der Deutschen Oberschule in Den Haag, Walter Söchting, herausgegeben wurde und einen Artikel enthielt, der Seyß-Inquarts Maßnahmen und Stellungnahmen auf dem Gebiet der „Judenfrage“ lobte (Seyß-Inquart, Zum Geleit [Niederlandbuch] und Molenbroek, Die Juden in den Niederlanden). 142 Zit. nach Seyß-Inquart, Zu Führers Geburtstag 1943, 157.

8.4 Diskrepanz zwischen Wissen und Reden über den Genozid

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gelöst werden. Ich glaube, dieses Jahr wird nicht vergangen sein, ohne dass hier das Judentum auch aus dem niederländischen Volkskörper herausgelöst sein wird.“143 8.4 Diskrepanz zwischen Wissen und Reden über den Genozid

Was aber wusste Seyß-Inquart konkret über Ausmaß und Finalität der Judenverfolgung? War ihm spätestens bei den Vorbereitungen zur Wannseekonferenz die genozidale Dimension der Verfolgungsmaßnahmen bekannt, an denen er an verantwortlicher Stelle aktiv, freiwillig und höchst engagiert mitgearbeitet hat? Diese Frage war nicht nur für die Richter des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals wichtig. Sie ist auch für die historisch-politische Beurteilung der Beteiligung einer der einflussreichen ‚Zwischengewalten‘ des NS-Systems an der Judenverfolgung relevant. War Seyß-Inquart bewusst, dass die Registrierung, Segregation, fortwährende Diskriminierung und ab Sommer 1942 die Deportationen in die physische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung mündeten? Aus der Besatzungszeit ist aus seinem Mund oder seinen schriftlichen Äußerungen kein Beleg überliefert, mit dessen Hilfe eindeutig bewiesen werden könnte, dass er eine zweifelsfreie Kenntnis vom tatsächlichen Inhalt des Begriffs ‚Endlösung‘ hatte. Doch ebenso wenig wie seinerzeit ein eindeutiger Befehl Hitlers zur Durchführung der Judenvernichtung notwendig war,144 bedarf es des Nachweises einer expliziten einschlägigen Aussage Seyß-Inquarts, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass sein Beitrag zur Judenverfolgung in den Niederlanden mit höchster Wahrscheinlichkeit auf dem Wissen um den vom Regime intendierten und exekutierten millionenfachen Mord an Jüdinnen und Juden beruhte. In den überlieferten Dokumenten aus der Besatzungszeit hat er das Ziel der Deportationen konsequent mit verharmlosenden Bezeichnungen wie „Evakuierung“ oder „Arbeitsverwendung im Osten“ umschrieben. Nicht einmal Formulierungen wie „Aussonderung jüdischen Blutes aus der niederländischen Volksgemeinschaft“,145 „Sonderbehandlung“ oder „Bereinigung“ bzw. „Generalbereinigung der Judenfrage“146 waren so eindeutig, dass sie zwangsläufig die genozidale Intention erkennen ließen, die den Deportationen tatsächlich zugrunde lag. Erst recht wies Seyß-Inquart vor dem Nürnberger Gerichtshof von sich, während seiner Amtszeit gewusst zu haben, dass die Deportationen im staatlich organisierten Massenmord endeten. Er gab sogar vor, Hitler habe ihm 1943, in einer Phase also, in der bereits ein Großteil der Juden aus den Niederlanden in die Vernichtungslager abtransportiert worden war, zugesagt, dafür sorgen zu wollen, „daß die Juden an der Ostgrenze des deutschen Interessengebietes angesiedelt werden, sofern sie nicht überhaupt in andere Erdteile auswandern 143 Aus Seyß-Inquarts Heerlener Rede vom 20. April 1943, zit. nach DZN vom Folgetag. Der zitierte Satz fehlt in der Ausgabe seiner Reden, die Seyß-Inquart 1944 in seinem Sammelband Vier Jahre in den Niederlanden herausgegeben hat – war doch „das Judenproblem“ zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend „gelöst“. 144 Ähnlich jüngst Burger, Heimatrecht und Staatsbürgerschaft, 155–165. 145 So in seinem Rundschreiben vom 30. Oktober 1943, NIOD, 20/1561. 146 So im Schreiben an Erich Naumann vom 5. Oktober 1943 (ebd.) bzw. im DZN-Interview vom 27./28. Mai 1944 (Seyß-Inquart, Vier Jahre Reichskommissariat in den Niederlanden).

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Kapitel 8: Judenverfolgung

können.“147 Indem Seyß-Inquart während des Kreuzverhörs beharrlich von „Evakuierungen“ sprach, suggerierte er, dass die Deportationen nach seinem damaligen Kenntnisstand auf eine Umsiedlung, nicht jedoch auf eine systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung hinausgelaufen seien. Mit Auschwitz habe er damals ein Sammellager verbunden, „in dem die Juden verbleiben sollten, bis eben der Krieg entschieden oder irgendeine andere Entscheidung getroffen ist.“ Das tatsächliche Schicksal, das den deportierten Juden in den osteuropäischen Konzentrationslagern blühte, hätten „die allermeisten nicht gekannt.“148 Er unterstrich sogar, dass er „überhaupt nie“ an „eine vollständige Vernichtung und Auslöschung der Juden“ gedacht habe.149 Auffällig ist, dass zahlreiche andere Nationalsozialisten ähnlich argumentierten und einen vergleichbaren Sprachgebrauch an den Tag legten. So gab beispielsweise Wimmer 1947 zu Protokoll, er habe erst nach der Kapitulation gehört, dass die Juden in Polen ermordet worden waren. „Es ist erstaunlich, wie wenig [sic] Leute das gewusst haben.“150 Und der einstige Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Den Haag Wilhelm Harster, der an der Umsetzung von Tausenden von Deportationen beteiligt gewesen war, schützte im Umfeld des Eichmann-Prozesses allen Ernstes vor, über das Schicksal der deportierten Juden nicht informiert gewesen zu sein. Er wollte gar gehört haben, Adolf Eichmann habe Seyß-Inquart persönlich mitgeteilt, „dass die Juden in Deutschland zum Arbeitseinsatz kommen wuerden.“151 Mit solchen Darstellungen gerierten sich die Täter von einst als Opfer von Täuschungen. Karl Hermann Frank stellte ebenfalls nach dem Krieg in Abrede, vom Holocaust gewusst zu haben,152 und Hans Frank sprach verharmlosend von einem „Judenverschickungsprogramm nach dem Osten“.153 Vergleichbare Aussagen liegen von Angehörigen der Gestapo und dem ‚Judenreferenten‘ des Auswärtigen Amtes, Eberhard von Thadden, vor.154 Selbst Rauter, der 147 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 8. Ähnlich argumentierte Seyß-Inquart in seiner Denkschrift, Bl. 54 f. und in seinen Schlussausfuehrungen, Bl. 66–68. 148 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 87 f. 149 Ebd., 12. 150 Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 364. Ähnlich äußerte sich Wimmer in seiner eidesstattlichen Erklärung vom 20. Juni 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 677, Mappe 149, Bl. 2. 151 IfZ, G 01, Bd. 32, Dok. 1351, hier zit. nach der deutschen Übersetzung. Eichmann habe bei einem Gespräch mit ihm und Seyß-Inquart entschieden von sich gewiesen, dass es in Auschwitz eine Vernichtung der Juden gebe, derartige Behauptungen seien als Feindpropaganda zu sehen gewesen. Er selber habe erst nach seiner Verhaftung in Rom im Mai 1945 von der Vergasung von Juden erfahren (ebd., Dok. 1354). Im gleichen Sinne gab Harster den Inhalt des Gesprächs mit Eichmann, das Ende 1942 oder Anfang 1943 im Reichskommissariat stattgefunden habe, bei späteren Vernehmungen wieder; siehe Meyer, Das Wissen um Auschwitz, 59 f. Als er 1960 im Zuge der Vorbereitung des Gerichtsverfahrens gegen ihn vor dem Münchener Landgericht vernommen wurde, schützte Harster vor, seiner damaligen Kenntnis als BdS nach habe das Ziel von Deportationen im „Arbeitseinsatz“ und in der Ansiedlung der Juden in Osteuropa bestanden; von einer systematischen Ermordung habe er seinerzeit nichts gewusst. Siehe Ritz, Schreibtischtäter vor Gericht, 164 f. 152 Siehe Küpper, Karl Hermann Frank, 183. 153 Aus Franks Memoiren Im Angesicht des Galgens, hier zit. nach Schenk, Hans Frank, 93; siehe auch ebd., 221. 154 Siehe Jah, „… und dabei anständig geblieben zu sein“, 323 ff. und Weitkamp, Braune Diplomaten, 141–146 und 442.

8.4 Diskrepanz zwischen Wissen und Reden über den Genozid

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als Höherer SS- und Polizeiführer in den Niederlanden die Verantwortung für die operative Durchführung der Deportationen getragen hatte, behauptete scheinheilig am 1. April 1948 auf seinem Nachkriegsprozess in Den Haag: „Ich habe nicht gewusst, dass die Juden getötet wurden“, und auf den „Judenkonferenzen, die unter Seyß-Inquarts Vorsitz stattgefunden hatten, habe niemand „auch nur im entferntesten“ daran gedacht, „dass dem niederländischen Judentum dieses Schicksal bevorstehen könnte.“155 Dabei hatte er fast genau fünf Jahre vorher vor niederländischen und deutschen SS-Männern unzweideutig die Absicht der NS-Führung zur Liquidierung aller Juden in Europa enthüllt: „[…] die Judenfrage soll endgültig und restlos geklärt werden. Der Führer hat […] den amerikanischen Juden und Freimaurern zu verstehen gegeben, dass wenn der amerikanische Plutokratismus den Krieg entfesselt und sich auf Europa stürzen würde, dies das Ende des europäischen Judentums bedeuten würde. Und so wird es auch geschehen. Es soll in Europa kein Jude mehr übrig bleiben.“156 Die Übereinstimmung, die nach Kriegsende unter ehemaligen NS-Funktionären in der verharmlosenden Interpretation der Deportationen als Evakuierungs- oder Umsiedlungsmaßnahmen und in der nachträglichen Leugnung des Wissens um den Holocaust festgestellt werden kann, weist auf „einflußreiche Aussagekartelle“ hin,157 und die Diskrepanz zwischen der eigenen Verteidigung nach Kriegsende und dem tatsächlichen Wissensstand während des Krieges, die in dem Zitat von Rauter besonders deutlich wird, lässt darauf schließen, dass die Verwendung von Begriffen wie ‚Evakuierung‘ und ‚Umsiedlung‘ vor wie auch nach 1945 Teil einer offiziellen Sprachregelung war, mit der die eigene Mitwirkung am Genozid verschleiert werden sollte. Mit der „Fiktion des Nichtwissens“158 haben die Angeklagten des Hauptkriegsverbrecherprozesses unter Einschluss von Seyß-Inquart Argumentationsmuster vorexerziert, die nachgeordnete Funktionsträger des NS-Regimes während der Nachkriegsprozesse für ihre eigenen Zwecke übernehmen konnten. Schon Prozessbeobachter und andere Zeitgenossen erhoben grundsätzliche Zweifel gegen Seyß-Inquarts Darstellung. Die Zeitung Die Welt formulierte nach der Urteilsverkündung kurz und bündig: „Auf Grund des Beweismaterials und in Ansehung seiner Amtsstellung ist es unmöglich, diesen Behauptungen Glauben zu schenken.“159 Zuvor war schon wenige Wochen nach Seyß-Inquarts Kreuzverhör in einer Eingabe an das niederländische Außenministerium von der Erzählung eines niederländischen SS-Manns vom Herbst 1943 berichtet wor155 RIOD (Hrsg.), Het Proces Rauter, 38 und 46. Erst in der Gefangenschaft habe er die Wahrheit über den Holocaust erfahren (ebd., 49). Siehe auch Rauters unglaubwürdige Verteidigung am 20. Oktober 1948 vor dem niederländischen Kassationsgerichtshof in: ebd., 434–440. 156 In diesem Zusammenhang forderte Rauter die SS-Männer am 22. März 1943 zu einem „schonungslosen und mitleidslosen“ Vorgehen auf und drohte, Polizisten „auszumerzen“, die sich Befehlen zur Verfolgung der Juden verweigern würden. Zit. nach: ebd., 42 f. 157 Brunner, Ganz normale Lebensläufe, 127. 158 Meyer, Das Wissen um Auschwitz, passim. Zu diesem Buch siehe die kritische Rezension von Katja Happe auf sehepunkte 10 (2010), Nr. 11 vom 15. November 2010, http://www.sehepunkte.de/2010/11/18702. html [Zugriff: 23. Dezember 2014]. Zu den Aussagestrategien der einstigen Täter nach dem Krieg vgl. auch Meyer, Täter im Verhör, 65 f. 159 Die Welt vom 4. Oktober 1946.

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den. Dieser hatte in einem Vernichtungslager bei der Beseitigung der Leichen von vergasten Kindern aus Amsterdam helfen müssen, „die zuvor in dem Wissen, dass sie getötet werden sollten, um Gnade gebettelt hatten.“ Wenn aber schon ein gewöhnlicher Bürger – so lautete der nachvollziehbare Tenor der Eingabe – Kenntnis von Massentötungen gehabt habe, sei es sehr wahrscheinlich, dass auch Seyß-Inquart dank der vielen Informationskanäle, über die er als Reichskommissar verfügt hatte, Kenntnis vom tödlichen Schicksal der jüdischen Bevölkerung in den osteuropäischen Vernichtungslagern gehabt hatte.160 Steinbauer beharrte zwar im Schlussplädoyer vor dem Nürnberger Gerichtshof auf der Ansicht, „das wenige, das von Mund zu Mund ging, kam nie zur Kenntnis höherer Funktionäre des Dritten Reiches.“161 Und im Abschiedsbrief an seine Familie beteuerte Seyß-Inquart noch einmal, als Reichskommissar nichts von der Konsequenz der ‚Endlösung‘ für die Juden aus den Niederlanden gewusst zu haben: „Ich ahnte deren böses Schicksal [,] aber niemals deren systematische Vernichtung.“162 Doch sogar seine Witwe Gertrud nahm einige Jahre nach der Hinrichtung ihres Gatten an, dieser habe gewusst, was die Juden nach ihrer Deportation erwartete.163 Bestärkt werden solche zeitgenössischen Einschätzungen durch die historische Forschung. Peter Longerich ist bei der Untersuchung der Frage, wie stark das – zumindest diffuse und zweifellos unvollständige – Wissen um den Holocaust schon während des Krieges in der deutschen Gesellschaft verbreitet war, zu dem Ergebnis gekommen, dass schon in der zweiten Hälfte des Jahres 1942 der Mord an den deportierten Juden ein „öffentliches Geheimnis“ war. Der Massenmord war „von einer Aura des Unheimlichen“ umgeben, handelte es sich hierbei doch um ein Phänomen, „worüber man besser nicht sprach, das im allgemeinen Bewusstsein jedoch deutlich präsent war.“164 Um wie viel mehr aber musste ein Spitzenpolitiker des NS-Regimes über den historisch einmaligen Genozid Bescheid wissen, der als überzeugter Antisemit auf vielfältige und maßgebliche Weise an der Segregation und Deportation der jüdischen Bevölkerung beteiligt war? 160 NL-HaNA, 2.05.117/6659; die Eingabe aus Hilversum datiert vom 23. Juli 1946. Zu vergleichbaren zeitgenössischen Berichten siehe De Jong, Die Niederlande und Auschwitz. Eigenartig mutet allerdings an, dass De Jong es für unmöglich hält, den Wissensstand von Seyß-Inquart, Rauter und Schmidt über den tatsächlichen Inhalt des Begriffs ‚Endlösung‘ während des Krieges festzustellen (ebd., 14); eine Diskussion von Pro- und Kontra-Argumenten vermeidet der niederländische Historiker. Van der Booms Studie zu diesem Thema „Wij weten niets van hun lot“, der zufolge die ‚gewöhnlichen Niederländer‘ während der Besatzungszeit kein Wissen vom Holocaust gehabt hätten, sondern auf Vermutungen und Befürchtungen angewiesen gewesen seien, hat in niederländischen Medien eine heftige Debatte ausgelöst. Besonders ablehnend sind die Beiträge von Evelien Gans und Remco Ensel, von Arianne Baggerman und Rudolf Dekker sowie von Guus Meershoek, die De Groene Amsterdammer in den Ausgaben vom 12. Dezember 2012, vom 24. und 30. Januar sowie vom 6. Februar 2013 veröffentlicht hat (abrufbar über http://www. groene.nl/commentaar/2013-01-30/nederlanders-en-de-jodenvervolging [Zugriff: 23. Dezember 2014]). 161 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 19, 118. 162 Seyß-Inquart an seine Familie vom 16. Oktober 1946, Bl. 2, ÖGZ-A, NL-96/Jules Huf, DO 1105, Mappe 27. 163 Huf, „Hij vond het fijn in Holland“, 8. 164 Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!“, 325. Siehe auch ebd., 240 unter Bezug auf das Jahr 1942: „In der deutschen Bevölkerung waren generelle Informationen über den Massenmord an den Juden weit verbreitet.“

8.4 Diskrepanz zwischen Wissen und Reden über den Genozid

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Dass Seyß-Inquart selber die genozidale Dimension der ‚Endlösung‘ mit keinem Wort unmittelbar ansprach, kann jedenfalls nicht als Beweis für einen unzureichenden Informationsstand gewertet werden. Er hat sich vielmehr an die offizielle Sprachregelung innerhalb des NS-Systems gehalten, wie sie in unzähligen Dokumenten nationalsozialistischer Provenienz erkennbar ist.165 So schrieb etwa Göring in dem berühmten Brief vom 31. Juli 1941, mit dem er Heydrich die Vollmacht zur Vorbereitung der „Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa“ erteilte, bagatellisierend von „Auswanderung oder Evakuierung“,166 und im Protokoll der Wannseekonferenz,167 auf der unter Heydrichs Vorsitz die technisch-organisatorischen Aspekte der „Endlösung der Judenfrage“ besprochen wurden, war von „Zurückdrängung der Juden“ aus den „Lebensgebieten“ bzw. dem „Lebensraum“ „des deutschen Volkes“, von „Auswanderung“, von „Evakuierung der Juden nach dem Osten“ und vom „Arbeitseinsatz“ die Rede. Der Hinweis auf „natürliche Verminderung“ durch Sklavenarbeit diente ebenso der Verschleierung der wahren Intentionen und des tatsächlichen Umfangs der genozidalen Politik des Regimes wie Heydrichs Anspielung, der überlebende Teil werde „entsprechend behandelt werden müssen“. Dabei war sich jeder der Konferenzteilnehmer im Klaren, welche massenmörderische Wirklichkeit sich hinter derartigen Umschreibungen verbarg.168 Dies gilt etwa für Unterstaatssekretär Martin Luther, der für das Auswärtige Amt an der Wannseekonferenz teilgenommen hatte und in einer Aufzeichnung vom 21. August 1942 das ‚Judenreferat‘ D III zu enger Zusammenarbeit mit den Dienststellen des Reichsführers-SS bei „der Evakuierung der Juden“ aufforderte.169 Selbst auf untergeordneten Rängen des nationalsozialistischen Behördenapparats wurde die regimeinterne Sprachregelung eingehalten. Beispielsweise war im Schriftverkehr der Liro mit deutschen Dienststellen regelmäßig von „ausgesiedelten Juden“ die Rede.170 Generell waren die Angehörigen der Besatzungsmacht in den Niederlanden angehalten, in der Öffentlichkeit die Worte „Deportation“ und „nach dem Osten“ zu vermeiden; stattdessen sei von „Verschickung zur Zwangsarbeit“ zu sprechen.171 In all diesen und zahllosen weiteren Äußerungen wurde bewusst eine „verschleiernde Sprache“ (Raul Hilberg) zur Anwendung gebracht. Mit der Verwendung von Codewörtern und Tarnbegriffen war sie unter Nationalsozialisten besonders im Zusammenhang mit der Judenverfol165 Siehe Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, 174–176 und Schlosser, Sprache unterm Hakenkreuz, 239-241. 166 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 2, Dok. PS-710, 267. Zu diesem Brief siehe auch Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, 265–268. 167 PA AA, R 100857, Bl. 98–106, als Faksimile abgedruckt unter anderem in: Kampe/Klein (Hrsg.), Die Wannsee-Konferenz, Dok. 4.7, 40–54. 168 Zur Konferenz vom 20. Januar 1942 siehe jetzt Kampe/Klein (Hrsg.), Die Wannsee-Konferenz. 169 PA AA, R 100857, Bl. 112. Bezeichnend für seinen radikalen Antisemitismus ist die Tatsache, dass Luther lobend hervorhob, dass „die für Judensachen zuständige Dienststelle des Reichssicherheitshauptamts [gemeint ist das von Eichmann geleitete Referat IV B 4] von Anfang an alle Maßnahmen in reibungsloser Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt durchgeführt hat. Das Reichssicherheitshauptamt ist auf diesem Sektor in nahezu übervorsichtiger Form vorgegangen.“ 170 Vgl. Materialien in BArch, R 177/203. 171 Aus der Anordnung des Wehrmachtbefehlshabers vom 13. Mai 1942, aus BArch, R 70 Niederlande zit. nach: Von Fransecky, Flucht von Juden, 34.

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gung gang und gäbe und stand in einem eigentümlichen Kontrast zur „drastischen Sprache“, deren Radikalität in der nach außen gerichteten Propaganda wie auch in der internen Kommunikation gegen Gegner und Opfer des Regimes gerichtet war.172 Dass man an der Spitze und in den Ämtern des Reichskommissariats sehr wohl um die eliminatorischen Konsequenzen der Judenverfolgung wusste und sie guthieß, lässt sich indirekt durch die Mitteilung Otto Benes belegen, dass sich Juden seit Mitte August 1942 nicht mehr von sich aus zu den Transporten melden würden wie noch zu Beginn der Deportationen, und zwar „nachdem die Judenschaft dahinter gekommen ist und weiss, was bei dem Abtransport bezw. [sic] bei dem Arbeitseinsatz im Osten gespielt wird […].“173 Noch deutlicher wurde die Raubbank Lippmann, Rosenthal & Co. Sie forderte in der Hochphase der Deportationen eine holländische Versicherungsbank auf, ihr die Versicherungssummen von jüdischen Kunden zu überweisen, und zwar mit der aufschlussreichen Begründung, „daß Juden, die einmal behördlicherseits weggeführt wurden [,] vollständig aus der Gesellschaftsordnung herausgenommen sind und daß man in Zukunft nie mehr etwas von ihnen wird vernehmen können.“ In ihrem Schreiben setzte sie geradezu als bekannt voraus, dass die ‚behördliche Wegführung‘ für die Betroffenen einen tödlichen Ausgang nehmen würde. Denn man wies den Empfänger darauf hin, „daß die Verhältnisse, in denen sich die betreffenden Juden gesellschaftlich und daher auch Ihnen gegenüber befinden, einen Zustand geschaffen haben, der dem Zustand gleichkommt, der bei Ablauf einer Police wegen dem Tod des Versicherten entsteht […].“174 Dass die Liro und Bene, der nicht einmal unmittelbar in die praktische Vorbereitung und operative Durchführung der Deportationen eingebunden war, genaue Kenntnisse von deren wahrer Bestimmung kaum verhohlen durchscheinen ließen, berechtigt zu der Annahme, dass Seyß-Inquart, der als höchster Repräsentant des Großdeutschen Reiches in den Niederlanden die politische Gesamtverantwortung trug und zugleich hochrangiger SS-Offizier war, die genozidale Dimension der nationalsozialistischen Judenverfolgung sehr genau kannte. Immerhin traf Seyß-Inquart öfters mit Hitler und Himmler zusammen, stand häufig mit dem Reichsführer-SS und anderen Vertretern der Reichsführung in schriftlichem, telefonischem und mitunter persönlichem Austausch, hielt regelmäßig Besprechungen mit dem Höheren SS- und Polizeiführer Nordwest ab und erhielt immer wieder Berichte von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst. Es war wohl kein Zufall, dass er an jenem 12. Dezember 1941 in Berlin anwesend war, an dem Hitler auf einer Zusammenkunft der Reichs- und Gauleiter seine Entschlossenheit kundgab, „bezüglich der Judenfrage […] reinen Tisch zu machen.“ 172 Hilberg, Die Quellen des Holocaust, 123 ff. 173 Bene ans Auswärtige Amt vom 13. August 1942, PA AA, R 100876, Bl. 38. Die nicht minder zynische Formulierung einer weiteren Mitteilung, die Bene zwei Wochen vorher nach Berlin geschickt hatte, offenbart, dass die offizielle Sprachregelung der Verschleierung der tatsächlichen Bestimmung der Deportationszüge diente: „In jüdischen Kreisen ist die Meinung vertreten, dass der Abtransport der arbeitsfähigen Juden erfolge, um für die Juden im Osten die nötigen Quartiere vorzubereiten.“ (Bene ans Auswärtige Amt vom 31. Juli 1942, ebd., Bl. 12) 174 Lippmann, Rosenthal & Co. Sarphatistraat an die Direktion der Hollandsche Algemeene Verzekerings Bank in Schiedam vom 26. Januar 1943, NIOD, 270d, Mappe 3. Für den Hinweis auf dieses Schreiben danke ich Peter Berger (Wien).

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Wie Goebbels, der in seinem Tagebuch Hitlers Rede paraphrasierte, wird auch Reichskommissar Seyß-Inquart gehört haben, dass der ‚Führer‘ „den Juden prophezeit [hat], daß, wenn sie noch einmal einen Weltkrieg herbeiführen würden, sie dabei ihre Vernichtung erleben würden. Das ist keine Phrase gewesen. Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muß die notwendige Folge sein. Diese Frage ist ohne jede Sentimentalität zu betrachten.“175 Da Seyß-Inquart am selben Tag eine Besprechung mit Himmler hatte,176 deutet einmal mehr alles darauf hin, dass er über den Genozid an der jüdischen Bevölkerung informiert war, und zwar sozusagen aus erster Hand. Auch sein unmittelbares Umfeld in Den Haag wusste über den Holocaust Bescheid. So war der letzte Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in den Niederlanden Schöngarth einer der Teilnehmer der Wannseekonferenz gewesen, und Rauter war bei einer der berühmten Posener Reden anwesend, auf denen Himmler am 4. und 6. Oktober 1943 vor den Gruppenführern seiner Schutzstaffel sowie vor den Reichs- und Gauleitern unverblümt von der „Ausrottung des jüdischen Volkes“177 und dem „schweren Entschluß“ gesprochen hatte, „dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen.“178 Da es dem Reichsführer-SS darauf angekommen war, angesichts der für das Reich deutlich verschlechterten militärischen Lage die höheren und mittleren Ebenen von SS und NSDAP zu einem verstärkten Engagement in der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung anzuspornen und ihnen gleichzeitig das Gefühl zu vermitteln, hierfür von der Reichsführung sozusagen in politische Geiselhaft, zumindest aber in die Verantwortung genommen zu werden, ist so gut wie ausgeschlossen, dass SS-Obergruppenführer Seyß-Inquart nicht über den Inhalt der Posener Reden informiert wurde. Obwohl nur ein Teil der Besprechungen protokolliert wurde und nur ein Teil der Protokolle und Korrespondenzen überliefert ist, gibt es angesichts des hochkarätigen Beziehungsgeflechts, in das Seyß-Inquart eingebunden war, und des dichten Informationsnetzes, das ihn kontinuierlich mit geheimen Nachrichten versorgte, keinen Grund zu der Annahme, dass dem Reichskommissar für die besetzten niederländischen ­Gebiete, der sich gerade bei der Judenverfolgung als ‚Musterknabe‘ präsentieren wollte, die genozidale Konsequenz der Deportationspraxis verborgen geblieben wäre. In ihrer Gesamtheit lassen die Indizien nur den einen Schluss zu: Ungeachtet seiner Verschleierungstaktik hatte Arthur Seyß-Inquart genaue Kenntnis von der Tatsache, dass Millionen von deportierten Juden ermordet wurden. Dagegen hat er sich nicht nur nicht gewendet. In seiner Funktion als Reichskommissar hat er dafür gesorgt, dass die Sicherheitsorgane die ‚Entjudung‘ der Niederlande möglichst geräuschlos und effizient durchführen konnten. Und voll Stolz über die Vorbildlichkeit, mit der dies in seinem ‚Herrschaftsbereich‘ umgesetzt wurde, berichtete er Ende Februar 1944 nach Berlin: „Wir haben die Judenfrage in den Niederlanden insofern bereinigt, als es sich derzeit nur mehr um die Durchführung der getroffenen 175 Zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 2, 498 (13. Dezember 1941). 176 Siehe Witte u. a. (Bearb.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers, 289. 177 Aus Himmlers Rede vom 4. Oktober 1943, zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 29, Dok. PS-1919, 145. Zu Rauters Teilnahme an dieser Rede siehe die Hinweise bei De Mildt, Die Unschuld der Strafjustiz, 164 und Meyer, Das Wissen um Auschwitz, 59. 178 Aus Himmlers Rede vom 6. Oktober 1943, zit. nach: Smith/Petersen (Hrsg.), Heinrich Himmler, 169.

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Anordnungen handelt. Die Juden sind aus dem niederländischen Volkskörper ausgeschieden […].“179 Bei der ‚Bereinigung der Judenfrage‘ kam er höchst loyal den Erwartungen und Forderungen der Reichsführung entgegen und folgte für die Niederlande bereitwillig jener Radikalisierung, die auf der Ebene des gesamten Reiches in die industriell betriebene Vernichtung mündete. Seine Behauptung, er habe dies alles ohne Kenntnis der tatsächlichen Ziele und der brutalen Umsetzung ins Werk gesetzt, haben ihm schon die Richter des Internationalen ­Militärgerichtshofs nicht abgenommen. Die Verhängung der Todesstrafe war nicht zuletzt seiner wissentlichen Mitwirkung an der Judenvernichtung zuzuschreiben.180 8.5 ‚Arisierung‘ zwischen deutschen und niederländischen Nationalsozialisten

Es konnte nicht ausbleiben, dass auch niederländische Nationalsozialisten vom organisierten Großraub des Reichskommissariats profitieren und am Beutezug partizipieren wollten. So machte Rost van Tonningen, seit Frühjahr 1941 Generalsekretär für Besondere Wirtschaftliche Angelegenheiten, kommissarischer Generalsekretär für Finanzen und Präsident der ‚Niederländischen Bank‘, am 8. November 1941 den für Wirtschaft zuständigen Generalkommissar Fischböck darauf aufmerksam, dass „sich in den Reihen unserer Bewegung eine wachsende Unzufriedenheit bemerkbar [macht] über die Art und Weise [,] in welcher auf manchem Gebiete jüdische Betriebe in den Niederlanden arisiert werden.“ Damit nun seine ‚Nationalsozialistische Bewegung‘ frühzeitig prüfen könne, „welche Kameraden unserer Bewegung für derartige Betriebe in Betracht kämen“, ersuchte er Fischböck in diesem Zusammenhang, die Wirtschaftsprüfstelle dazu zu bewegen, in Zukunft frühzeitig mit der ‚Wirtschaftsfront‘ der NSB, deren Leitung er innehatte, Kontakt aufzunehmen.181 Tatsächlich kam es bald darauf zu einem Gespräch zwischen einem Vertreter Rost van Tonningens und Dr. Hans Bauer als Angehörigem der Wirtschaftsprüfstelle. Doch ungeachtet Bauers angeblicher Zusage, „den Wünschen der N.S.B. weiterhin weitgehend Rechnung tragen zu wollen“,182 scheint sich in der Praxis nicht viel geändert zu haben. Bezeichnend ist, dass Rost van Tonningen über drei Wochen später von der Wirtschaftsprüfstelle noch keine Antwort auf seine Forderung nach umfassender Beteiligung an Arisierungen erhalten hatte.183 Das Reichskommissariat behandelte die räuberischen Begierden ihrer niederländischen ‚Kameraden‘ ostentativ dilatorisch. Schon längere Zeit vorher hatte sich Seyß-Inquart dagegen ausgesprochen, den niederländischen Faschisten einen größeren Teil der ‚Beute‘ zu überlassen, geschweige denn einen Vortritt bei der Arisierung zuzugestehen. Er bemühte sich zwar um Verständnis, dass Mussert versuche, „gewisse Parteigenossen“ wie ‚Achtel‘- oder ‚Vierteljuden‘ in der Wirtschaft unterzubringen, 179 Seyß-Inquart an Bormann vom 28. Februar 1944, IfZ, G 01, Bd. 33, Dok. 1439. 180 Siehe die Urteilsbegründung in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 22, 656. 181 Zit. nach: Correspondentie van Mr. M. M. Rost van Tonningen, Bd. 1, Dok. 252, 730. 182 So die Zusammenfassung der Besprechung im Schreiben von Rost van Tonningen an Bauer vom 5. Dezember 1941, zit. nach: ebd., Dok. 259, 740. 183 Rost van Tonningen an Mussert vom 28. Dezember 1941, in: ebd., Dok. 267, 751. Siehe auch Rost van Tonningen an Mussert vom 18. März 1942, in: ebd., Dok. 288, 797.

8.5 ‚Arisierung‘ zwischen deutschen und niederländischen Nationalsozialisten

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und in solchen Fällen sei er „gern bereit, die eine oder andere Position den Niederländern […] zur Verfügung zu stellen“. Er stellte aber auch klar, dass er diese Haltung als eine besondere Geste gegenüber der NSB betrachte, die geradezu einen Ausnahmecharakter besaß. „[…] weiter wollte er nicht gehen“, wusste Rauter zu berichten.184 Bemerkenswerterweise bezog der Reichskommissar damit eine restriktivere Position als der Reichsführer-SS. Himmler erklärte nämlich ausdrücklich, dass er sich in dieser Frage nicht mit Seyß-Inquart einverstanden erklären könne, gab er sich doch überzeugt: „[…] die Deutschen, die jetzt arisieren, sind nicht die besten Deutschen, denn die stehen an der Front.“ Er plädierte zwar dafür, „gewisse Objekte für verdiente [deutsche] Frontsoldaten“ übrig zu lassen, dagegen könne kein Niederländer Einwände erheben. Andere „Objekte“ jedoch müsse man aus politischen Überlegungen heraus den Niederländern überlassen, „denn wir wollen ja die Niederländer gewinnen […].“185 Die kritische Stellungnahme des Reichsführers-SS nötigte Seyß-Inquart, seine Haltung ausführlich darzulegen. Ein Schreiben an Martin Bormann, der sich in dieser Frage namens der Parteikanzlei für das Verhältnis zur niederländischen ‚Schwesterpartei‘ NSB besonders angesprochen fühlen musste, nahm Seyß-Inquart am 27. Januar 1942 zum Anlass, seine Arisierungspolitik gegenüber der Reichsführung zu rechtfertigen;186 ein Schreiben mit dem gleichen oder einem ähnlichen Inhalt sandte er mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit auch an Himmler. Grundsätzlich sei für ihn und Fischböck maßgeblich, in den Niederlanden die negativen Erfahrungen zu vermeiden, die man in Österreich mit ‚wilden‘ Arisierungen nach dem ‚Anschluss‘ habe machen müssen. Deshalb setze das Reichskommissariat in den Niederlanden darauf, dass beim Erwerb von ehemals jüdischem Eigentum „ein reeller Kaufpreis“ geleistet werde und der neue Eigentümer über „einige Fachkenntnisse“ verfüge. Alles andere, so gab sich Seyß-Inquart überzeugt, führe zu dem Ergebnis, „dass politisch verdiente Männer auf Grund des ihnen mehr oder weniger geschenkten Betriebes eine Zeit lang über ihre Verhältnisse leben und zum Schluss wirtschaftlich scheitern.“ Den Vorwurf, bei der Durchführung der Arisierung zu wenig niederländische „Interessenten“ zu berücksichtigen, wies der Reichskommissar von sich. Das niederländische Generalsekretariat für Landwirtschaft und Fischerei oder die Händler der Amsterdamer Börse hätten sehr wohl die Möglichkeit, sich angemessen an der Veräußerung bzw. am Erwerb von ehemals jüdischem Eigentum zu beteiligen, und bei der Arisierung von jüdischem Hausbesitz gebe es keine „Bevorzugung deutscher Käufer“ – sofern nicht „in einzelnen Fällen ein Staats- oder Parteiinteresse eine Sonderverwendung verlangt“. Auf diese Weise blieben gut vier Fünftel der jüdischen Vermögenswerte in niederländischen Händen. Auch bei der Arisierung von gewerblichen Betrieben fiel die Bilanz nach Seyß-Inquarts Rechnung zugunsten der Niederländer aus: Von 1.000 Unternehmen seien „im Einvernehmen mit der NSB“ ungefähr 400 Betriebe Niederländern, 340 Deutschen und 250 Kriegsteilnehmern „vorbehalten oder zugeteilt“ worden. Der Reichskommissar verschwieg in diesem Zusammenhang nicht einmal, dass sich die Deutschen die Filetstücke unter den Nagel 184 So der Bericht im Schreiben von Rauter an Himmler vom 6. Januar 1942, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 106, 625. 185 Himmler an Rauter vom 12. Januar 1942, zit. nach: ebd., Dok. 108, 630. 186 In: ebd., Dok. 112, 634–637. Hieraus stammen die folgenden Zitate.

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Kapitel 8: Judenverfolgung

gerissen hatten: Belief sich die Kapitalsumme bei jüdischen Betrieben, die von Niederländern übernommen worden waren, auf nicht mehr als 60,5 Millionen Gulden, betrug sie im Fall der deutschen Arisierer 103 Millionen Gulden, und dabei war der Wert der Unternehmen, die für Kriegsteilnehmer reserviert waren, nicht einmal berücksichtigt. Geradezu verteidigend fügte Seyß-Inquart hinzu, „dass die Zuteilung selbst auf Grund gemeinsamer Besprechungen erfolgt, an denen alle in Betracht kommenden Stellen von Partei, Wirtschaft und Staat teilnehmen, auch die NSB, und dass bisher alle Fälle im vollkommenen Einvernehmen geregelt wurden.“ Mehr noch: Er drehte den Spieß regelrecht um, indem er „kapitalistischen Kreisen, richtigen Plutokraten“ in den Niederlanden vorwarf, bei den bisher durchgeführten Arisierungen nur an Spekulationsgeschäften interessiert gewesen zu sein. Denn es habe sich herausgestellt, „dass es sich fast durchgehend um Scheinarisierungen handelt, wobei auch NSBer Strohmänner waren.“ Für den erklärten Antisemiten Arthur Seyß-Inquart hatte ein solches Verhalten eine gewisse Tradition: Schon nach dem Ersten Weltkrieg hätten Niederländer die Inflation in Deutschland ausgenützt, indem sie „arischen Besitz zu sehr oft lächerlichem Gegenwert an sich genommen“ und dabei hohe Gewinne eingefahren hätten – angebliche niederländische Spekulationsgewinne und jüdische Besitzstände wurden in dieser kruden Argumentation als Bedrohung für deutsche Interessen dargestellt.187 Für die deutsche Politik in den Niederlanden sah Seyß-Inquart denn auch die Gefahr, dass „bei einer vorwiegenden Berücksichtigung der Niederländer“ weitere „Scheinarisierungen“ denkbar seien. Schließlich sprach für ihn auch die pure Faktizität der bestehenden Machtverhältnisse gegen eine Bevorzugung von Niederländern. Denn man dürfe nicht vergessen – wie Seyß-Inquart nur eine Woche nach der Wannseekonferenz unter dezenter, aber für einen Insider unmissverständlicher Anspielung auf deren Ergebnisse meinte –, „dass diese ganzen Möglichkeiten der Arisierung ja letzten Endes nur dadurch geschaffen wurden, dass das Deutsche Reich mit seinem militärischen Einsatz in Erscheinung getreten ist. Die Entfernung der Juden muss von den Niederländern als eine Wohltat aufgefasst werden, nicht als eine Gelegenheit, bei der sie die Geschäfte machen und wir das Odium der Durchführung haben, das sich ja noch sehr steigern wird durch den Schlussakt, nämlich die Aussiedlung der Juden selbst.“ In diesem Sinn plädierte der Reichskommissar für eine „rücksichtslose Arisierung“. Was er konkret hierunter verstanden wissen wollte, gab er zwar nicht an. Doch dass Seyß-Inquart nicht gewillt war, niederländische „Interessenten“ verstärkt bei der Arisierung zum Zug kommen zu lassen, wird aus dem Kontext seines Schreibens an Bormann mehr als deutlich. Nicht einmal den Mitgliedern der NSB, bei denen er letztendlich keine größere ideologisch motivierte Bereitschaft zur Beteiligung an der Judenverfolgung als bei anderen Niederländern zu erkennen meinte, wollte er eine stärkere Beteiligung am Erwerb jüdischen Eigentums zugestehen. Im Gegenteil, es sei 187 Schon Anfang Januar 1942 hatte Seyß-Inquart seine abstruse Einschätzung zur Zeit nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs dargelegt. In einem Gespräch mit Rauter gab er sich überzeugt, „dass die Holländer in den Jahren nach dem Umbruch ganz Deutschland ausgekauft hätten, dass ausserdem die Holländer [durch die Kapitulation vom 15. Mai 1940] den Krieg verloren haben und dass die Wegnahme des jüdischen Vermögens nur eine ausgleichende Gerechtigkeit sei.“ Wiedergabe seiner Position nach Schreiben Rauters an Himmler vom 6. Januar 1942, zit. nach: ebd., Dok. 106, 625.

8.6 Seyß-Inquart und die Judenverfolgung – eine Bilanz

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im Interesse des Deutschen Reiches, „dass wir aus politischen Gründen in den Niederlanden eine starke [,] auch wirtschaftlich gut fundierte deutsche Gruppe behalten müssen.“ Dies komme auch der wirtschaftlichen Verflechtung der beiden Länder entgegen, die Göring in Übereinstimmung mit Hitler als wirtschaftspolitische Maxime aufgestellt hatte.188 Himmlers Hauptvorwurf glaubte er mit diesen Darlegungen entkräftet zu haben. Denn das in den Niederlanden angewandte Arisierungsverfahren berücksichtige die Mitglieder der NSB, und für die Frontkämpfer werde vorgesorgt. Himmler blieb kaum etwas anderes übrig, als Seyß-Inquarts Position für „ausgesprochen gut und glücklich“ zu halten. Er plädierte lediglich dafür, dass „die führenden Niederländer in geeigneter Form über den bisherigen Gang der Dinge ganz klar unterrichtet“ würden; dass damit ausschließlich überzeugte Nationalsozialisten gemeint waren, bedurfte keiner näheren Erläuterung. Den generellen Kurs von Seyß-Inquarts Arisierungspolitik akzeptierte der Reichsführer-SS, und er durfte sicher sein, dass der Reichskommissar für seinen Zuständigkeitsbereich die Beschlüsse der Wannseekonferenz bis hin zur ‚Endlösung‘ ebenso loyal wie radikal umsetzen würde. Für die niederländischen Faschisten änderte sich in der Folge somit nicht viel. Noch Ende Juni 1942 beklagte sich Rost van Tonningen bei Seyß-Inquart darüber, dass seine Landsleute und Parteigenossen bei der Arisierung benachteiligt würden, und rechnete vor, dass deutsche „Interessenten“ vierbis fünfmal soviel jüdischen Besitz erworben hätten wie Niederländer.189 Doch angesichts der klaren Ablehnung, die der Reichskommissar in der Korrespondenz mit Vertretern der Reichsführung und in der Praxis seiner Arisierungspolitik an den Tag legte, vermochte nicht einmal der Himmler-Vertraute und Vertreter des radikalen Flügels innerhalb der NSB Rost van Tonningen für seine Parteigenossen eine stärkere Beteiligung an der jüdischen ‚Beute‘ durchzusetzen. In der Frage des arisierten Besitzes hatte die ‚Kameradschaft‘ mit den einheimischen Gesinnungsgenossen für den Reichskommissar als „Wahrer der Reichsinteressen“ in den besetzten Niederlanden eine Grenze, die er nicht zuletzt gegenüber Bormann und Himmler zu verteidigen wusste. 8.6 Seyß-Inquart und die Judenverfolgung – eine Bilanz

Die Reichsführung konnte mit Seyß-Inquart zufrieden sein. Die Deportationsmaschinerie lief aus ihrer Sicht wie geschmiert, die Übernahme von jüdischem Eigentum vollzog sich hier „erheblich systematischer als im besetzten Frankreich, was dem Gesamtplan der Nationalsozialisten für eine ökonomische ‚Neue Ordnung‘ in Europa entsprach“,190 und sporadischer Widerspruch oder Widerstand gegen die antijüdischen Maßnahmen wie beim Februarstreik von 1941 wurde gebrochen. Schon im Juni 1943 sah ein an den Reichskommissar gerichteter Geheimbericht des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD Grund für die trium188 Zur ‚Verflechtung‘ siehe unten, Kap. 11.2. 189 Rost van Tonningen an Seyß-Inquart vom 29. Juni 1942, in: Correspondentie van Mr. M. M. Rost van Tonningen, Bd. 2, Dok. 10, 33 f. Noch am 19. Mai 1943 setzte sich Rost van Tonningen dafür ein, dass „die alten Kämpfer unserer Bewegung“ an der Arisierung beteiligt würden (ebd., Dok. 128, 225). 190 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, 206.

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Kapitel 8: Judenverfolgung

phierend vorgetragene Mitteilung, dass in nur elf Monaten „die Entjudung der Niederlande annähernd zu drei Vierteln gelöst“ sei.191 Im folgenden Jahr war die jüdische Bevölkerung aus den Niederlanden so gut wie verschwunden. Bene berichtete denn auch im Juli 1944 nach Berlin: „Die Judenfrage kann für die Niederlande als gelöst bezeichnet werden, nachdem das Gros der Juden ausser Landes verbracht worden ist.“192 Von Hitler erntete Seyß-Inquart frühzeitig Lob für seine antijüdischen Maßnahmen. Auf dem bereits mehrfach erwähnten Empfang vom 26. September 1941 „zeigte sich der Führer von der Auswirkung der in den besetzten niederländischen Gebieten getroffenen Massnahmen, die die wirtschaftliche und persönliche Trennung der Juden von den Niederländern ergeben haben, befriedigt.“ Einigkeit herrschte bei diesem Treffen auch darüber, dass die Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung verschärft werden sollte. Denn man kam überein, dass „für die nächste Zukunft“ die „Abschiebung“ der etwa 15.000 jüdischen Emigranten aus Deutschland, die laut Verordnung 6/1941 gesondert erfasst worden waren, 193 in Aussicht genommen werden solle.194 Es wird Seyß-Inquart bewusst gewesen sein, dass ihm die Judenverfolgung mehr als andere Tätigkeitsfelder die Möglichkeit zur Profilierung bot, und diese Chance hat er – erkennbar zur Zufriedenheit seines ‚Führers‘ – genutzt. Die konkrete Durchführung der „Abschiebung“ der Juden wurde zwar zunächst hinausgeschoben, weil die Einführung des Davidsterns zu diesem Zeitpunkt noch verfrüht erschien und man im Reichskommissariat befürchtete, dass „die judenfreundlichen Niederländer […] die Kennzeichnung fortlaufend zum Anlaß nehmen [würden], ihr Mitleid mit den gekennzeichneten Juden zum Ausdruck zu bringen“195 – offensichtlich registrierte man im Reichskommissariat aufmerksam, dass die Kennzeichnungspflicht für Juden in Deutschland auf eine für das Regime unerwartete Ablehnung gestoßen war und teilweise zu symbolischer Solidarisierung mit den verfolgten Juden geführt hatte.196 Auch ist nicht auszuschließen, dass Seyß-Inquart befürchtete, dass der Zusammenhang zwischen Judenstern und Deportationen von der niederländischen Bevölkerung erkannt und wie schon im Februar 1941 Anlass zu einem Streik geben würde. Nachdem aber auf der Wannseekonferenz die Weichen für die groß angelegte Deportation aus den von Deutschland besetzten Gebieten gestellt worden waren und das Reichskommissariat grünes Licht für den Beginn der Deportationen aus den Niederlanden bekommen hatte, wurde die jüdische Bevölkerung im April 1942 auch hier zum Tragen des gelben Sterns verpflichtet.197 Damit war die letzte Hürde für die reibungslose Durchführung 191 Hier zit. aus dem Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 25. Juni 1943, NIOD, 266/BBT 2914 (NG-2631). 192 Bericht Benes ans Auswärtige Amt vom 20. Juli 1944, PA AA, R 99429. 193 VO 6/1941 vom 10. Januar 1941, § 7, in: VOBl. NL 1941, 21. Die in den Niederlanden ansässigen Juden, die noch die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, wurden zusätzlich durch die Bestimmungen von VO 168/1941 vom 29. August 1941 erfasst (ebd., 716-719). 194 Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 1. Oktober 1941, PA AA, R 29678, Bl. 84451. 195 Böhmcker an Seyß-Inquart vom 2. Oktober 1941, NIOD, 20/1545. Siehe auch Böhmckers Protokoll über die Besprechung beim Reichskommissar vom 8. Oktober 1941, ebd. 196 Siehe hierzu Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!“, 171–181. 197 Kreutzmüller, Die Erfassung der Juden, 35 f. Siehe auch das Schreiben, mit dem Wilhelm Harster Wimmer

8.6 Seyß-Inquart und die Judenverfolgung – eine Bilanz

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einer möglichst lückenlosen Deportation beseitigt. Auf Widerstand aus der niederländischen Bevölkerung wollte man nun keine Rücksicht mehr nehmen. Tatsächlich rollten Mitte Juli 1942 die ersten Deportationszüge über das Sammellager Westerbork in die Vernichtungslager in Osteuropa, und hierzu hatte Seyß-Inquart die nötigen legistischen und administrativen Grundlagen gelegt. Hitler hat sich mit Seyß-Inquarts Beiträgen zur Judenverfolgung an keiner Stelle unzufrieden gezeigt. Vielmehr passte die Effizienz, mit der die jüdische Bevölkerung fast vollständig aus den Niederlanden eliminiert worden ist, vollkommen zu der Vorstellung von der ‚Endlösung der Judenfrage‘, zu deren Durchführung im gesamten deutschen Herrschaftsbereich der ‚Führer‘ Reinhard Heydrich ermächtigt hatte. Angesichts des exzessiven Maßes, in dem Seyß-Inquart für die verschiedenen Formen der Judenverfolgung verantwortlich gewesen ist und in entscheidender Weise die Verfolgungsmaßnahmen und ihre juristische Fundierung vorangetrieben hat, erscheint Wimmers Aussage vor dem Nürnberger Gericht, Seyß-Inquart habe mit all diesen Maßnahmen innerlich nicht übereingestimmt, sie aber unter Druck aus Berlin ausführen müssen,198 vollkommen abwegig und wirkt angesichts von Zigtausenden von Opfern zynisch. Denn es gibt nicht den geringsten Beleg dafür, dass der Reichskommissar zu antijüdischen Maßnahmen oder Verordnungen gegen seinen Willen und gegen sein Gewissen hätte ermuntert oder gar gezwungen werden müssen. Im Gegenteil, die ausgewerteten Akten lassen erkennen, dass Seyß-Inquart höchst bereitwillig und in engem Zusammenwirken mit allen Generalkommissaren die politischen und juristischen Leitlinien für die Judenverfolgung entworfen und sich bemüht hat, in Zusammenarbeit mit verschiedenen Instanzen im Reich und in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ die Kontrolle über ihre Ausführung zu behalten. Nicht nur hat er Verfolgungsmaßnahmen, die in anderen Teilen des nationalsozialistisch beherrschten Europa galten, in den Niederlanden ebenso bereitwillig wie konsequent umgesetzt. In dem Bestreben, von der Reichsführung als ‚Musterknabe‘ wahrgenommen zu werden, hat er auch Wert darauf gelegt, dass die Judenverfolgung in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ vorbildlichen Charakter für das Reich habe. Mit allen Rechten, Kompetenzen und Machtmitteln, die ihm als Reichskommissar zur Verfügung standen, hat er jedenfalls seinen Anteil dazu geleistet, dass die jüdische Bevölkerung für „vogelfrei“199 erklärt und in die Vernichtungslager im Osten Europas transportiert wurde, und dies alles wurde vor Ort konzipiert und exekutiert, „ohne ständig Berlin um Anweisungen zu bitten.“200 Wie auf anderen Politikfeldern war Seyß-Inquart auch bei der Judenverfolgung bestrebt, innerhalb des Reichskommissariats verschiedenen Interessengruppen gerecht zu werden. Dies hatte zur Konsequenz, dass er Ambitionen auf radikale und kompromisslose Verfolgungsmaßnahmen, wie sie am 29. April 1942 mitteilte, den Judenrat mit der Verteilung von 569.355 Judensternen beauftragt zu haben. Es ist als Faksimile abgedruckt in: Joods Historisch Museum Amsterdam (Hrsg.), Documenten van de jodenvervolging in Nederland, 54 f. 198 Siehe seine Ausführungen vom 13. Juni 1946 in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 212–214. Vgl. auch Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 363. 199 So die Formulierung im Brief Rauters an Himmler vom 24. September 1942, BArch, NS 19/3364, Bl. 100 f. 200 Lozowick, Hitlers Bürokraten, 203.

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Kapitel 8: Judenverfolgung

im Sicherheitsapparat besonders von Rauter, der Zentralstelle für jüdische Auswanderung oder dem ‚Judenreferat‘ des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD kontinuierlich gefordert wurden, gelegentlich abbremste – etwa wenn es ihm darum ging, bestimmte Juden aufgrund von wirtschaftlichen oder politischen Überlegungen zeitweilig von der Deportation auszunehmen. An anderen Stellen wiederum trieb er den Radikalisierungsprozess voran – etwa wenn am 16. Oktober 1942 auf einer Besprechung mit den Generalkommissaren Schmidt und Rauter unter seinem Vorsitz jene Optionen beschlossen wurden, die darauf hinausliefen, die Anzahl der konzedierten Freistellungen von Deportationen gegenüber Vorschlägen, die drei Tage vorher von Schmidt, Calmeyer und zwei weiteren deutschen Beamten ausgearbeitet worden waren, zum Teil drastisch zu reduzieren.201 Seyß-Inquarts Beitrag zur Judenverfolgung hatte denn auch wie viele andere seiner politischen Tätigkeiten den Charakter von Mehrgleisigkeit. Wimmers These aber, Seyß-Inquart habe innerlich mit den von Berlin angeordneten Maßnahmen nicht übereingestimmt, war genauso verlogen wie seine Behauptung, die Generalkommissare „hätten es am liebsten gesehen, wenn man die holländischen Juden in Holland gelassen hätte.“202 Unberechtigt und unzutreffend war auch, wenn Seyß-Inquart selber nach dem Krieg jegliche Zuständigkeit und Verantwortung für die Deportationen und ihre tödlichen Folgen von sich wies. In seiner bereits mehrfach erwähnten Denkschrift vom 2. Oktober 1945, in Verhören durch alliierte Vernehmungsoffiziere und während der Verhandlungen des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals schob er die Verantwortung für die „Evakuation“ einseitig auf den Sicherheitsapparat des Deutschen Reiches. Dieser habe den Tätigkeitsbereich und die Kompetenzen des Reichskommissars so stark eingeschränkt, dass er selber „niemals“ die „Ueberfuehrung“ der jüdischen Bevölkerung ins Reich habe verfügen können. Er selber habe nicht weiter gehen wollen, als die Juden aus der öffentlichen Verwaltung und den führenden Positionen der niederländischen Wirtschaft zu verdrängen, und dies habe er im Führerhauptquartier auch deutlich gemacht. „Die Initiative zu weiteren Massnahmen gegen die Juden ging nicht mehr vom R[eichs]K[ommissar] aus. Diese erfolgte im wesentlichen durch den Chef der Sicherheitspolizei Heidrich [sic] und auf wirtschaftlichem Gebiete durch den Vierjahresplan.“ Seyß-Inquart verstieg sich sogar zu der Behauptung, er habe sich eingeschaltet, um Ausnahmen von Deportationen zu erwirken und die Methoden von Sicherheitspolizei und SD „zu beeinflussen“. Auch habe sein Beauftragter Böhmcker wiederholt eingegriffen, „um Massnahmen der Sicherheitspolizei in dem abgesteckten Rahmen der moeglich erscheinenden Durchfuehrbarkeit zu halten.“ Gelegentlich habe er sich sogar gegen Anordnungen Himmlers gestellt.203 Vor dem Nürnberger Gericht nahm Seyß-Inquart beispielsweise für sich in Anspruch, nach einem entsprechenden Hinweis von Generalsekretär Van Dam die Zerstörung der Portugiesischen Synagoge in Amsterdam, der aus dem 17. Jahrhundert stammenden Esnoga, verhindert zu haben.204 Und dass 1941 im Kontext des Februarstreiks 389 männliche Juden aus Amsterdam nach Mauthausen deportiert worden waren und dort ums Leben ge201 Siehe hierzu De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/1, 271–273. 202 Zit. nach: Cohen, Interview met Dr. Friedrich Wimmer, 364. 203 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 45 f., 48 und 53. 204 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 724.

8.6 Seyß-Inquart und die Judenverfolgung – eine Bilanz

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bracht worden waren, schob er Himmler in die Schuhe; er selber und sogar Rauter hätten gegen diese Maßnahme, mit der zum ersten Mal in den Niederlanden mit Kollektivmaßnahmen gegen Juden vorgegangen worden war, beim Reichsführer-SS protestiert!205 Auch habe er sich bei Himmler gegen die Absicht der Sicherheitspolizei verwahrt, die niederländischen Juden zu „Moorkultivierungsarbeiten“ an der deutsch-niederländischen Grenze einzusetzen, statt sie wie vorgesehen in Konzentrationslager einzuweisen.206 Ihm sei zu verdanken, dass die „Zugsbelegung“ der „Transporte“, wie er die unter unmenschlichen Bedingungen durchgeführten Deportationen mit einer technizistisch verharmlosenden Begrifflichkeit bezeichnete, von 2.000 auf 1.200 Menschen reduziert worden sei und obendrein Verpflegung, Trinkwasser sowie „eine Gelegenheit zur Beduerfnisbefriedigung“ bereitgestellt worden seien.207 Und er hielt sich zugute, dass er sich unter Hinweis auf die Sterilisierungspraxis in den Niederlanden Anfang 1944 dafür eingesetzt hatte, dass jüdische Partner aus Mischehen „mit Ruecksicht auf ihre nicht[-]juedische Versippung“ von Deportationen ausgenommen worden waren.208 In diesem Zusammenhang habe er sich gegenüber dem Reichsführer-SS „drastisch“ gegen eine Verschärfung der Deportationspraxis mit dem Argument ausgesprochen, dass die antijüdischen Maßnahmen in den Niederlanden schon „über die Reichsmaßnahmen“ hinausgegangen seien.209 In demselben Sinn habe er Einspruch gegen Himmlers Plan erhoben, dass all jene Juden, die aufgrund von Ausnahmegenehmigungen bisher von Deportationen verschont geblieben waren, nach dem Beginn der Invasion der Alliierten zu „evakuieren“ seien.210 Mit diesen Darstellungen wies Seyß-Inquart vor allem die Anschuldigungen einer ehemaligen Stenotypistin des Reichssicherheitshauptamts zurück, er habe Himmler gegenüber die effiziente Durchführung der Judenverfolgung in den Niederlanden als Maßstab für das Reich empfohlen, und es sei seine Initiative gewesen, Juden sterilisieren zu lassen.211 Im Sinne eines „Gegenangriffs“ drehte Seyß-Inquart vor Gericht den Spieß um: Wie er seinem Anwalt darlegte, ging es ihm darum, deutlich zu machen, dass die Anordnung zur Sterilisierung nicht auf seine Initiative zurückgegangen war. Außerdem habe er sich wiederholt gegen einzelne Maßnahmen des Reichssicherheitshauptamts oder des Reichsführers-SS ausgesprochen, „durch die die Lage der Juden weiter verschlechtert werden sollte.“212 Schließlich stellte er ungeachtet 205 Affidavit Seyß-Inquarts vom 25. August 1946, NA, FO 1019/44. Ähnlich seine Darstellung in der Denkschrift, Bl. 39. Zur Deportation der Amsterdamer Juden nach Mauthausen siehe oben, S. 78. 206 Affidavit Seyß-Inquarts vom 25. August 1946, NA, FO 1019/44. Ähnlich seine handschriftliche Notiz für Steinbauer vom 15. Juli 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 715, Mappe 338. 207 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 55. In zynischer Verkehrung der Wirklichkeit fügte Seyß-Inquart ebd. hinzu, dass „die Einwaggonierung“ „ohne Zwangsmassnahmen“ vor sich gegangen sei. 208 Affidavit Seyß-Inquarts vom 25. August 1946, NA, FO 1019/44. Zur Sterilisierungsfrage siehe oben, S. 342–344. 209 Notiz von Seyß-Inquart für Steinbauer vom 15. Juli 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 715, Mappe 338. 210 Affidavit Seyß-Inquarts vom 25. August 1946, NA, FO 1019/44. 211 Siehe die eidesstattliche Erklärung von Hildegard Kunze vom 8. Januar 1946, IfZ, IMG-Dok. PS-3594. Kunze, die seit 1942 in Eichmanns ‚Judenreferat‘ des RSHA gearbeitet hatte, bezog sich auf Seyß-Inquarts oben zitierten Brief an Bormann vom 28. Februar 1944, der ja wohl auch an Himmler gesendet worden war. 212 Seyß-Inquart in einer Notiz für Steinbauer vom 1. Juli 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 678, Mappe 150. Siehe auch die Formulierung im Schlussplädoyer seines Verteidigers auf der IMG-Sitzung vom 22. Juli

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Kapitel 8: Judenverfolgung

all der Reden und Aufsätze, in denen er öffentlich gegen die jüdische Bevölkerung gehetzt hatte, die Behauptung auf, er habe die Juden niemals als minderwertig bezeichnet.213 Vor dem Hintergrund seiner angeblichen Interventionen kam Seyß-Inquart in der Beurteilung seiner eigenen Rolle bei der Deportation der Juden aus den Niederlanden zu dem Ergebnis: „Vom Standpunkt des R[eichs]K[ommissars] handelte es sich um eine Evakuierung, die im Aufgabenbereich der Sicherheitspolizei lag und von dieser durchgefuehrt wurde.“214 Seine Verteidigungsstrategie in Nürnberg lief denn auch auf zwei Thesen hinaus: „1.) daß die Entscheidung in der Judenfrage bei Himmler lag und nicht bei mir […]. 2.) daß die Durchführung der Maßnahmen gegen die Juden in Händen der Sicherheitspolizei lag.“ 215 Überhaupt sah er zu seiner eigenen Entlastung die Verantwortung bei der Reichsführung. Denn in den Niederlanden sei es um nichts anderes gegangen als um „die Durchführung der Maßnahmen gegen die Juden, wie sie eben auch im Reich vorgekommen sind.“216 Das gesamte interpretatorische Konstrukt, das Seyß-Inquart während der Gefangenschaft in Nürnberg schriftlich und mündlich zum Besten gab, wurde von seinem Verteidiger Steinbauer im Schlussplädoyer ohne Abstriche übernommen.217 Setzt man Seyß-Inquarts Ausführungen in Beziehung zu den Tätigkeiten und Äußerungen, die seine Amtsführung tatsächlich zwischen 1940 und 1945 kennzeichneten, wird deutlich, dass dieses relativierende und exkulpierende Narrativ zu einem großen Teil unbeweisbare Aussagen enthält und gänzlich Seyß-Inquarts individuelle Verantwortung und sein aktives Engagement bei der Judenverfolgung verzerrt. Denn in Wirklichkeit hat der Reichskommissar ungeachtet der Unterstellung des Sicherheitsapparates unter den Reichsführer-SS und ungeachtet der Tatsache, dass er bei der Judenverfolgung in ein hochgradig arbeitsteiliges Verfahren eingebunden war, einen erheblichen persönlichen Anteil an der juristischen Fundierung und propagandistischen Verschleierung der Judenverfolgung gehabt; in Einzelfällen hat er eigenhändig Deportationen genehmigt, ohne zugunsten der jüdischen Bevölkerung Einspruch zu erheben. Dass seine Genehmigung mitunter erst im Nachhinein erfolgte, zeigt lediglich, dass die operative Durchführung der Verfolgungsmaßnahmen bei Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst lag. Nominell aber hielt Seyß-Inquart bis zum bitteren Ende der Deportationspraxis den Anspruch aufrecht, die politischen Fäden in der Hand zu halten, und war gut über Ablauf und Umfang der Verfolgungsmaßnahmen informiert. Nicht einmal seine in Nürnberg vorgetragene These, er habe sich nach der Landung der Alliierten in der Normandie bei Himmler gegen eine Deportation der restlichen noch überlebenden Juden ausgesprochen, lässt sich belegen. Im Gegenteil, in einem Schreiben an die protestantischen Kirchen in den Niederlanden verteidigte er Anfang September 1944 die Deportation der bis dahin in 1946 (in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 19, 119 f.), die Seyß-Inquart handschriftlich in den Entwurf von Steinbauers Manuskript (ÖGZ-A, NL-61, DO 678, Mappe 150) eingefügt hatte. 213 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 12. 214 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 55. 215 Notiz von Seyß-Inquart für Steinbauer vom 15. Juli 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 715, Mappe 338. 216 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 724. 217 Siehe ebd., Bd. 19, 112–120.

8.6 Seyß-Inquart und die Judenverfolgung – eine Bilanz

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Wester­bork internierten Juden nach Theresienstadt mit dem vorgeschobenen Hinweis, dass die Niederlande wieder „Schauplatz kriegerischer Unternehmungen“ werden könnten und „die militärischen und polizeilichen Verantwortungsträger“ keine Juden in Frontnähe dulden würden.218 Vor diesem Hintergrund erscheinen seine verteidigenden Aussagen der Nachkriegszeit als Versuch, zu verschleiern, dass er in der Besatzungszeit ein loyaler Exekutor der eliminatorischen Erwartungen der Reichsführung war und von seinem Handlungsspielraum rigoros Gebrauch gemacht hat, um ‚seine‘ Niederlande so weit wie möglich von der jüdischen Bevölkerung frei zu machen. Ein ideologisch motivierter Antisemitismus und das Bedürfnis, sich auf seinem Posten als Reichskommissar zugunsten der eigenen Karriere zu profilieren, dürften hierbei Hand in Hand gegangen sein. Selbst ein kundiger Holocaustforscher wie Jacques Presser beurteilte Seyß-Inquarts Rolle bei der Judenverfolgung viel zu defensiv, wenn er offenließ, ob der Reichskommissar die einschlägigen Maßnahmen innerlich begrüßt oder missbilligt und nur das getan habe, was er als seine Pflicht angesehen habe.219 Die Verordnungen, die Seyß-Inquarts Unterschrift tragen, die Protokolle von Besprechungen, auf denen er antijüdische Maßnahmen koordiniert und weitere Schritte in die Wege geleitet hat, und die wiederholten öffentlichen Bekenntnisse zu einer unbarmherzigen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung zeigen deutlich, dass der Reichskommissar voll und ganz hinter der sich radikalisierenden Programmatik und Praxis der nationalsozialistischen Judenverfolgung stand; gegen deren eliminatorische Konsequenzen hat er zu keinem Zeitpunkt Stellung bezogen. Er tat sogar nachweislich alles, was in seiner Macht stand, um die rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen für eine effektive Verfolgung und Deportation der Juden aus den Niederlanden zu schaffen. Seyß-Inquart tat also nicht nur Dienst nach Vorschrift, sondern war treibende Kraft. Als Chefsache war die Judenverfolgung zweifellos ein Kernanliegen seiner Tätigkeit als Reichskommissar für die besetzten Niederlande.

218 Seyß-Inquart an die protestantischen Kirchen in den Niederlanden vom 5. September 1944, NIOD, 20/608. 219 Presser, Ondergang, Bd. 2, 157 f.

Kapitel 9:

Die Verfolgung von Sinti und Roma

Neben Jüdinnen und Juden und jenen Personen, die aus weltanschaulichen und politischen Gründen unerbittlich bekämpft wurden, waren die Angehörigen jener Bevölkerungsgruppe das Opfer staatlicher Ausrottungspolitik, die in der zeitgenössischen Diktion als ‚Zigeuner‘ bezeichnet wurden.1 Wie bei der Judenverfolgung kamen bei der Verfolgung von Sinti und Roma entscheidende Impulse von Reichszentralstellen, insbesondere von Himmler bzw. vom Reichssicherheitshauptamt, wurden aber von Stellen in den besetzten Niederlanden umstandslos umgesetzt und ausgeführt. Der weitaus geringere Umfang und die Tatsache, dass die Deportation dieser Bevölkerungsgruppe in Richtung Osten später einsetzte als die der Juden und weniger systematisch vorbereitet und durchgeführt wurde, unterscheiden die deutschen Maßnahmen gegen Juden von denen gegen Sinti und Roma. Auch hier aber ging die Besatzungsmacht letztendlich mit brutalem genozidalem Impetus vor. Lange Zeit nahm die deutsche Zivilverwaltung offensichtlich keinen Anstoß an der Existenz von Sinti und Roma in den Niederlanden. Abgesehen von vereinzelten ‚sicherheitspolizeilichen‘ Maßnahmen wie der Ausweisung von „Zigeunergruppen“ aus den Sicherungszonen entlang der Küste2 ließ die Besatzungsmacht diese Bevölkerungsgruppe zunächst in Ruhe. Bezeichnend ist beispielsweise, dass etliche Zeitungen noch im Frühjahr 1943 einen wohlwollenden Artikel über die Beerdigung des damals ältesten „Zigeuners“ auf dem katholischen Friedhof in Nimwegen veröffentlichen konnten.3 Ebenso bezeichnend aber ist, dass niederländische Medien Sinti und Roma während der Besatzungszeit regelmäßig mit ­Kriminalität in Verbindung brachten und gehässige Artikel publizierten, in denen Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe mit negativen Stereotypen belegt wurden. Eine Venloer Regionalzeitung etwa meinte

1

2 3

Grundlegend für Deutschland und das deutsch besetzte Europa ist die Habilitationsschrift von Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid und der Überblick bei Ders., Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“. Für die Niederlande siehe Sijes, Vervolging van zigeuners und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 7/2, 1344–1353. Zu den Phasen der Verfolgung von Sinti und Roma durch das NS-Regime vgl. Widmann, Der Völkermord an den Sinti und Roma, 119–126. Siehe Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, 235 unter Hinweis auf einen Befehl des BdS vom 6. September 1940 an die Dienststellen in Amsterdam, Den Haag, Herzogenbusch und Middelburg. Siehe etwa die Notiz Koning der zigeuners [König der Zigeuner] in: De Tijd vom 10. Mai 1943. Auch andere niederländische Zeitungen berichteten über das Begräbnis von J. W. Franzen.

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Kapitel 9: Die Verfolgung von Sinti und Roma

ihre Leserschaft darüber aufklären zu müssen, dass „der Prozentsatz an asozialen Elementen“ unter „Zigeunern“ sehr groß sei, und während sie sich als Schausteller, Kessel- und Schirmflicker ausgäben, würden sie in Wirklichkeit von Diebstahl, Bettelei und Landstreichertum leben. Noch bedrohlicher war der Hinweis, dass die deutsche Reichsregierung „mit großem Interesse“ die Entscheidung der ungarischen Regierung zur Kenntnis genommen habe, „die Zigeunerfrage radikal zu lösen, sobald das Judenproblem aus der Welt geschaffen [sic] ist.“4 Das Reichskommissariat enthielt sich anfangs offiziell derartiger Einschüchterungen und impliziter Androhungen, ließ aber gegen Sinti und Roma gerichteten Presseartikeln freien Lauf. Sie dürften ihr sogar recht gewesen sein, denn ohne eigenes Zutun wurden hierdurch Positionen und Agitationen aus Deutschland in die Niederlande übersetzt. Das Gleiche galt für den Hinweis der Zeitschrift Het Rechtsfront, dass im Nationalsozialismus unter „artfremden“ Rassen Juden und „Zigeuner“ verstanden würden; damit wurde aus Kreisen der NSB, zu deren Umfeld die Zeitschrift gehörte,5 die im Reich gültige Anschauung wiedergegeben.6 Auch ließ die Besatzungsverwaltung die niederländischen Generalsekretariate für Justiz und für Innere Angelegenheiten ungehindert an Entwürfen arbeiten, die auf eine drastische Reduzierung der Anzahl an Wohnwagen und Wohnschiffen im Land zielten7 – Bestrebungen, die staatliche Kontrolle über die nichtsesshafte Bevölkerung zu verstärken, kamen ihr durchaus gelegen. Sie selber hat zwar punktuell durch eigene Rechtsvorschriften die in den Niederlanden lebenden Sinti und Roma als distinkte Bevölkerungsgruppe diskriminiert, als nämlich Seyß-Inquart „Zigeuner und nach Zigeunerart umherziehende Personen“ in seiner Waffenverordnung ausdrücklich als eine der Bevölkerungsgruppen benannte, die von der Berechtigung zum Erwerb von Waffen-, Waffenerwerbs- und Waffenbesitzscheinen ausgeschlossen waren.8 Diskriminierend war auch, dass neben Juden und „Ostarbeitern“ die „Zigeuner“ zu jenen Personen zählten, auf die im Falle des Arbeitsdienstes die Vorschriften für die Sozialversicherung der deutschen Staatsangehörigen nicht angewendet werden durften, und zwar im Gegensatz zu anderen Bewohnern der Niederlande.9 Eine systematische Segregation und Konzentration der Sinti und Roma zum Zweck ihrer Deportation blieb jedoch längere Zeit aus. Es blieb bei vereinzelten Kontrollen und Razzien, die die niederländische Polizei auf Drängen des Befehlshabers der deutschen Ordnungspolizei in den Niederlanden, Otto Schumann, gegen Bewohner von Wohnwagen durchführte.10 4

Nieuwe Venlosche Courant vom 12. November 1941. In demagogischer Absicht wurden auch in der SS-Zeitschrift Hamer „umherschweifende Zigeuner“, die für die Landbevölkerung immer schon „eine wahre Plage“ gewesen seien, gerne mit Juden auf eine Stufe gestellt, deren Streifzüge wiederum mit „blutschändenden Vergewaltigungen“ einhergegangen seien; De Haas, Om de laatste schoof, 3. 5 De Roo, Het rassenvraagstuk, 81. Zur Rechtsfront siehe Venema, De bewaking van het recht, 221 f. 6 Vgl. Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, 68 unter Bezugnahme auf den Kommentar Rassenund Erbpflege in der Gesetzgebung des Reiches von Wilhelm Stuckart und Rolf Schiedermair (3. Aufl. 1942). 7 Siehe hierzu Van Ooijen, „Je moet weg, hier komen mensen wonen“, 155–157. 8 VO 139/1941 vom 25. Juli 1941, § 4, in: VOBl. NL 1941, 593. 9 Siehe § 1 der Verordnung des Reichsarbeitsministers Franz Seldte vom 10. Februar 1943, in: RGBl. 1943/I, 90, auch als Anlage II zu VO 90/1943, in: VOBl. NL 1943, 298. 10 Siehe Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, 236.

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Dies änderte sich gravierend, als Himmler am 16. Dezember 1942 befahl, Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich, dem Reichsprotektorat, den Niederlanden sowie Belgien und Nordfrankreich, die unter einer gemeinsamen Militärverwaltung standen, nach Auschwitz-Birkenau zu deportieren.11 Damit kam ein Prozess in Gang, der mit der Ermordung der betroffenen Bevölkerungsgruppe endete. Nachdem das Reichssicherheitshauptamt Ende März 1943 die Deportation des überwiegenden Teils der Sinti und Roma aus den Niederlanden und aus Belgien angeordnet hatte, beauftragte Seyß-Inquart Rauter, dafür zu sorgen, dass das „germanische Nomadenleben“ in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ aufhöre. In diesem Sinn kündigte der Höhere SS- und Polizeiführer an, die Pferde der Sinti und Roma beschlagnahmen und ihnen von der Polizei einen festen Wohnsitz zuweisen zu lassen, damit sie „ein geordnetes Leben beginnen.“12 Das „Volk ohne Boden, Volk des Weges“, wie diese Bevölkerungsgruppe von der SS-Zeitschrift Hamer genannt wurden,13 sollte mit staatlichem Zwang sesshaft gemacht werden. Ob die intendierte Sesshaftmachung für Seyß-Inquart und Rauter Selbstzweck war und allenfalls dazu bestimmt war, nationalsozialistischen Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung Genüge zu tun, oder ob sie von ihnen als Vorstufte zur Registrierung und späteren Deportation begriffen wurde, lässt sich nicht ausmachen. Fest steht, dass im Frühjahr und Sommer tatsächlich das Verbot erging, weiterhin mit Wohnwagen umherzuziehen. Deren Bewohner wurden vor die Alternative gestellt, sich entweder auf Wohnwagensammelplätzen niederzulassen oder eine feste Wohnung zu beziehen. Wer sich dieser Anordnung widersetzte, riskierte die Konfiszierung des Wohnwagens, im schlimmsten Fall musste man mit der Einweisung in ein Konzentrationslager rechnen. Diese Regelung betraf zwar nicht ausschließlich Sinti und Roma, sondern auch jene Niederländer, die sich eine feste Wohnung nicht leisten konnten oder wollten. Doch aufgrund ihrer traditionellen Lebensweise waren faktisch überwiegend Sinti und Roma von dieser Regelung betroffen. Für sie schien die Anlage von Wohnwagensammelplätzen auf den ersten Blick angenehmer als die Einweisung in Sammellager, wie sie im Deutschen Reich seit längerem Usus war.14 Auf den zweiten Blick jedoch ließen die Verfolgung der Sinti und Roma im Reich wie auch die Judenverfolgung befürchten, dass die Konfinierung Ausgangspunkt für eine spätere Deportation war. Tatsächlich haben sich bis Juni 1944 nicht mehr als 440 Wohnwagen auf den vorgeschriebenen Sammelplätzen eingefunden – 723 weniger, als von deutscher Seite erwartet worden waren.15 11 Während der Wortlaut von Himmlers Befehl nicht erhalten ist, liegen die Ausführungsbestimmungen vor, die das Reichskriminalpolizeiamt am 29. Januar 1943 zur „Einweisung von Zigeunermischlingen, Rom-Zigeunern und balkanischen Zigeunern in ein Konzentrationslager“ an die nachgeordneten Polizeidienststellen sandte. Siehe Widmann, Der Völkermord an den Sinti und Roma, 122. 12 Zit. nach Rauters Schreiben an die Hauptabteilung Ernährung und Landwirtschaft des Generalkommissariats für Finanz und Wirtschaft vom 13. Mai 1943, in: Sijes, Vervolging van zigeuners, 85. 13 Hamer vom Februar 1941, 7. Zu dieser im Oktober 1940 gegründeten Zeitschrift, die in ansehnlicher Aufmachung in einer Auflage von 20.000 Exemplaren gedruckt und zu dem günstigen Preis von 20 Cent pro Einzelheft verkauft wurde, siehe Henkes/Rzoska, Volkskunde und „Volkstumspolitik“ der SS, 310 und 315–321, Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS, 179 f. und In ’t Veld, Inleiding, 263 ff. 14 Vgl. hierzu Fings, Nationalsozialistische Zwangslager für Sinti und Roma. 15 Sijes, Vervolging van zigeuners, 90 und 95.

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Kapitel 9: Die Verfolgung von Sinti und Roma

Es dauerte jedoch noch ein gutes Jahr, ehe der Abtransport der Sinti und Roma aus den Niederlanden in Angriff genommen wurde. In der ersten Maihälfte 1944 wies der damalige Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Naumann die niederländische Polizei an, für den 16. Mai „alle Personen, die aufgrund ihres Äußeren, ihrer Sitten und Gewohnheiten als Zigeuner oder als Halbblut-Zigeuner angesehen werden können, sowie alle Personen, die nach Zigeunerart herumziehen“, ins Sammellager Westerbork zu verbringen.16 Tatsächlich wurden an diesem Tag ab sieben Uhr morgens 565 Sinti und Roma und Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen, die im NS-Jargon gerne als ‚Asoziale‘ bezeichnet wurden, an verschiedenen Orten des Landes gefangen genommen und nach Westerbork verbracht; ihr weniges Eigentum verfiel an den Staat.17 Mit 245 Personen wurde knapp die Hälfte von ihnen in das ‚Zigeunerlager‘ in Birkenau deportiert; darunter befanden sich 147 Kinder. Im Konzentrations- und Vernichtungslager Birkenau waren die aus den Niederlanden Deportierten wie die Sinti und Roma aus anderen Ländern einem qualvollen und in den meisten Fällen tödlichen Leidensweg ausgesetzt.18 Der größte Teil fand vermutlich den Tod, als das ‚Zigeunerlager‘ Anfang August 1944 aufgelöst wurde. Nur etwa 50 Personen überlebten das Kriegsende, nicht mehr als 30 der deportierten Sinti und Roma kehrten in die Niederlande zurück. Auch die anderen Sinti und Roma, die im Frühjahr 1944 von der Deportation nach Birkenau verschont geblieben waren, konnten sich bis zur Befreiung durch die Alliierten ihres Lebens nicht sicher sein. Es hätte nur einer neuen Order aus Berlin bedurft, um auch sie zu deportieren. Ein deutscher Endsieg, der den Nationalsozialisten die Durchsetzung ihrer ‚Neuen Ordnung‘ ermöglicht hätte, war zum Zeitpunkt der Deportation der Sinti und Roma zwar in weite Ferne gerückt. Aber ein Regime, das sich zunehmend in der Defensive befand und bald nach dem D-Day wieder zu einem militärischen Operationsgebiet wurde, war für eine solche Minderheitengruppen noch unberechenbarer als für den Rest der Bevölkerung. Welchen konkreten Anteil Arthur Seyß-Inquart bei der Verfolgung der Sinti und Roma hatte, lässt sich mangels Quellen kaum hinreichend analysieren. Während er gegen die jüdische Bevölkerung beinahe kontinuierlich hetzte, hielt er sich im Hinblick auf Sinti und Roma in der Öffentlichkeit auffallend zurück. Die maßgeblichen Richtlinien kamen von Himmler und dem Reichssicherheitshauptamt, bei der Durchführung der Verfolgungsmaßnahmen scheint der Reichskommissar den Polizeibehörden vor Ort weitgehend freie Hand gelassen zu haben. Anders als bei der Judenverfolgung hat Seyß-Inquart mit Bezug auf Sinti und Roma auch keine speziellen Verordnungen erlassen. War deren Anteil an der Gesamtbevölkerung aus seiner Sicht zu gering, um sich als höchster Repräsentant des Großdeutschen Reiches in den Niederlanden neben dem Sicherheitsapparat mit ihnen zu befassen? Obendrein mochte er davon ausgehen, dass Sinti und Roma bei der übrigen Bevölkerung kaum auf Solidari16 Naumanns Befehl laut Wiedergabe im Fernschreiben der Generaldirektion der Polizei an die örtlichen Polizeikommandeure vom 14. Mai 1944, zit. nach: De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 7/2, 1351. 17 Zum Folgenden siehe ebd., 1353, Bd. 8/2, 840–842 und Bd. 10b/2, 826 sowie Sijes, Vervolging van zigeuners, Kap. 11 und S. 134. 18 Zum Birkenauer ‚Zigeunerlager‘ siehe Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, Kap. VII und Ders., Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung, 903.

Kapitel 9: Die Verfolgung von Sinti und Roma

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tät und aktive Unterstützung rechnen konnten und ihre Verfolgung keinen Anlass für einen Generalstreik oder andere Formen eines organisierten Widerstands geben würde. Auf jeden Fall ist – ähnlich wie der der Judenverfolgung – undenkbar, dass Seyß-Inquart als Leiter der deutschen Zivilverwaltung in Den Haag und als SS-Obergruppenführer weder über die Konfinierung noch über die Deportation dieses Bevölkerungsteils informiert war. Es gibt nicht den leisesten Hinweis, dass der Reichskommissar die Ausführung von Himmlers Deportationsbefehl vom Dezember 1942 dilatorisch behandelt oder sabotiert hätte. Im Gegenteil, seine Anordnung vom Frühjahr 1943, das „germanische Nomadenleben“ in den Niederlanden zu beenden, kann als Beleg dafür gesehen werden, dass er die von der Reichsführung gewollte Verfolgungspolitik in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ geräuschlos und geschmeidig unterstützte. Neben der Vernichtung der Juden war die Abschiebung der als ‚asozial‘ inkriminierten Sinti und Roma Teil einer Politik der ethnischen ‚Säuberung‘, die aus der Sicht des NS-Regimes in den ‚germanischen‘ Niederlanden ebenso wie im Reich durchzuführen war. Da Seyß-Inquart entsprechend Hitlers Auftrag die Angleichung der Niederlande an das nationalsozialistische Deutsche Reich als zentrales Ziel seiner Tätigkeit in Den Haag ansah, hat er dem grausamen Schicksal der deportierten Sinti und Roma keine Steine in den Weg gelegt.

Kapitel 10:

Geiselpolitik und Bekämpfung von Widerstand

Extreme Brutalität war nicht nur für die Verfolgung jener Bevölkerungsgruppen kennzeichnend, die aus rassistischen Gründen vom NS-Regime verfolgt wurden. Auch Widersetzlichkeit, organisierter Widerstand und bewaffneter Untergrund wurden mit Mitteln von Staatsterrorismus bekämpft.1 Denn politische Dissidenz und jede Form von Resistenz standen im Widerspruch zum ideologischen Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus und wurden als Bedrohung der deutschen Herrschaft über das besetzte Land wahrgenommen. Gleich nach Beendigung des Westfeldzugs kam es zu personellen ‚Säuberungen‘ von öffentlichen Verwaltungen sowie zur Festnahme von Sozialisten und Kommunisten. Sie wurden von der Besatzungsmacht generell als Gefahr für die deutsche Herrschaft und als Hindernis beim Aufbau der ‚Neuen Ordnung‘ betrachtet, viele von ihnen wurden in Konzentrationslager verbracht. Weitere Festnahmen einheimischer Politiker folgten, als Seyß-Inquart im Juli 1941 die bürgerlichen Parteien auflöste.2 Die großen Streiks vom Februar 1941 und vom April/Mai 1943 wurden mit erbarmungsloser Härte niedergeworfen, der organisierte Widerstand systematisch verfolgt. Über die fünf Jahre der Besatzungsherrschaft betrachtet zeichnete sich die Repression von potenziellem oder tatsächlichem Widerstand durch eine sukzessive Eskalation von Gewalt aus. Waren die ersten Monate nach dem Fünf-Tage-Krieg im Allgemeinen durch ein abwartendes und zurückhaltendes Auftreten der deutschen Behörden gekennzeichnet, wurden ab Frühjahr 1941 die Maßnahmen zur Bekämpfung von Widerstand und Widersetzlichkeit zunehmend verschärft, Härte und Umfang von Sanktionen nahmen kontinuierlich zu. Je mehr die Untergrundorganisationen ihr Vorgehen professionalisierten, desto brutaler traten die Exekutivkräfte auf. Zusätzlich angetrieben wurde die Spirale der Gewalt, als die militärischen Niederlagen der deutschen Armee ab 1942/43 eine Wende zu Ungunsten des Großdeutschen Reiches erwarten ließen. Die Gewalteskalation erreichte ihren Höhepunkt, als die Besatzungsmacht ab Sommer 1944 vor dem Hintergrund des Vormarschs der Alliierten alle Hemmungen fallen ließ: Bis zur Kapitulation beherrschten blanke Willkür und blutiger Terror das Verhältnis zur einheimischen Gesellschaft; weder das Völkerrecht noch das nationalsozialistische Recht, das unter Seyß-Inquarts Führung bis dahin in Kraft gesetzt 1 2

Vgl. die Überblicke von Van Galen Last, The Netherlands und Moore, Niederlande. Siehe Kap. 6.3.2.

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Kapitel 10: Geiselpolitik und Bekämpfung von Widerstand

worden war, boten der Bevölkerung, geschweige denn den Angehörigen des Widerstands irgendeinen Schutz. Generell ging es dem Regime bei der Bekämpfung von Widerstand nicht ausschließlich um die strafrechtliche Verfolgung der tatsächlichen Urheber von Sabotageakten. Wichtiger noch scheint die Einschüchterung und Abschreckung des Untergrunds und der gesamten Bevölkerung gewesen zu sein. Nur so ist zu erklären, dass sich das Reichskommissariat nicht mit der Ermittlung der Täter begnügte, sondern Tausende von Niederländern als Geiseln nahm, die nicht unmittelbar mit Aktionen des Widerstands in Verbindung standen. So wurden ab 1942 unschuldige Bürger ohne jedes Gerichtsverfahren in Konzentrations- oder spezielle Geisellager verbracht oder zum Arbeitsdienst nach Deutschland transportiert; etliche von ihnen wurden erschossen. In entwaffnender Ehrlichkeit gab Rauter einmal die Parole aus, „dass es nicht so sehr darauf ankommt, dass der rechte Mann niedergeschossen wird. […] Es kommt vielmehr darauf an, dass im rechten Augenblick Tote fallen.“3 Aus Seyß-Inquarts Mund ist zwar eine vergleichbare Aussage nicht überliefert. Der staatsterroristische Ansatz aber, den der Höhere SS- und Polizeiführer in dem Zitat ungeschminkt formulierte, wurde vom Reichskommissar politisch gedeckt und mitgetragen. Er war es jedenfalls, der der Besatzungsmacht in Verordnung 138/1941 die Möglichkeit verschaffte, mit Kollektivstrafen auf Anschläge des Untergrunds zu reagieren, und zahlreiche weitere Verordnungen, die er seit dem Februarstreik erließ, ermöglichten es dem Sicherheitsapparat, immer brutaler gegen Widerstand vorzugehen. Unter seiner Leitung wurden auf Chefbesprechungen Grundsatzentscheidungen in der Geiselpolitik und zur Bekämpfung von Widerstand gefällt, und in Einzelfällen entschied Seyß-Inquart persönlich, welche Geiseln zu erschießen waren. Mit der Verhängung des Ausnahmezustands am 4. September 1944 gab er den Exekutivkräften freie Bahn, um „jeden Widerstand gegen die Besatzungsmacht […] mit Waffengewalt sofort und energisch“ zu brechen; diese Generalermächtigung galt für SS- und Polizeieinheiten wie für die Angehörigen der Wehrmacht. In diesem Sinn wurde „jeder Versuch [,] sich mit dem Feinde einzulassen oder die Wehrkraft des Grossdeutschen Reiches und seiner Verbündeten zu beeinträchtigen oder die Durchführung eines militärischen Auftrages zu verhindern, jede Widersetzlichkeit, jede Störung der Ordnung des öffentlichen Lebens, jede Beeinträchtigung des Arbeitslebens und jedes Verhalten, das die Versorgung gefährdet“, mit der Todes- oder einer hohen Freiheitsstrafe bedroht.4 Gut drei Wochen später verschärfte Seyß-Inquart die kollektive Bestrafung für Anschläge des Untergrunds auf deutsche Beamte und Angestellte, Soldaten, Einrichtungen, Waffen oder sonstige Gerätschaften, auf Mitglieder der NSB oder auf niederländische Behörden mit der Drohung an die Adresse der Bevölkerung, „dass zur Vergeltung auf ihr Eigentum zurückgegriffen wird und Häuser oder Häusergruppen zerstört werden.“5

3 4 5

Aus einem nicht datierten Vortrag Rauters zit. nach: RIOD (Hrsg.), Het Proces Rauter, 172. BArch, ZSg. 103/5515. Bekanntmachung des Reichskommissars vom 24. September 1944, IfZ, IMG-Dok. PS-1163; siehe die Abbildung auf der nächsten Seite.

Kapitel 10: Geiselpolitik und Bekämpfung von Widerstand

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Abb. 17: Im Kampf gegen den Widerstand drohte Seyß-Inquart der niederländischen Zivilbevölkerung Repressalien an.

Die bekannteste Kollektivbestrafung einer ganzen Gemeinde war ein Fall, der unter der Bezeichnung ‚Razzia von Putten‘ traurige Berühmtheit erlangt hat.6 Mit dieser Razzia reagierte die Wehrmacht auf den Überfall einer Widerstandsgruppe auf ein deutsches Militärfahrzeug, bei dem in der Nacht auf den 1. Oktober 1944 ein Luftwaffenoffizier der Hermann-Göring-Division ums Leben kam und die anderen Insassen verletzt wurden. Wutentbrannt soll General Christiansen Vergeltung angekündigt haben mit dem Satz: „Das ganze Nest muss angesteckt werden und die ganze Bande an die Wand gestellt“.7 Ob der Wehrmachtbefehlshaber mit der „ganzen Bande“ nur die Täter oder die gesamte Bevölkerung meinte? Jedenfalls wurde die Bevölkerung des nahegelegenen Dorfes Putten kollektiv in Geiselhaft genommen: Das Dorf in der Provinz Gelderland wurde hermetisch abgeriegelt, die Bevölkerung in der Schule und der Kirche zusammengetrieben, zahlreiche Häuser wurden in Brand gesetzt, einige Personen vor Ort erschossen. Darüber hinaus hängte Oberst Fritz Wilhelm Fullriede ein Damoklesschwert über den Dorfbewohnern auf: Sollten sich die Attentäter nicht freiwillig melden und einen verletzten Oberleutnant freilassen, den sie bei dem Überfall mitgenommen hatten, würde die Dorfgemeinschaft ‚büßen‘ müssen. Genau dieser Fall trat ein: Alle 661 Männer zwischen 18 und 50 Jahren, die sich damals in Putten und Umgebung aufhielten, 6 7

Siehe hierzu De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 45-64, De Keizer, Razzia in Putten und Dies., Putten. Zit. aus einer Aussage des Chef des Stabes des Wehrmachtbefehlshabers, Generalleutnant Heinz-Hellmuth von Wühlisch, aus dem Jahr 1946 nach: De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 53.

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Kapitel 10: Geiselpolitik und Bekämpfung von Widerstand

wurden am folgenden Tag von einem SS-Wachbataillon ins nahe gelegene Lager Amersfoort transportiert. Von hier aus wurde der größte Teil von ihnen neun Tage später in verschiedene deutsche Arbeitslager wie Neuengamme, Meppen-Versen, Husum und Ladelund überführt. Nur ein geringer Teil überlebte das Kriegsende, nicht mehr als 48 Männer kehrten lebend in ihre Heimat zurück. Für die Vertreter der Besatzungsmacht war die Razzia von Putten eine Gelegenheit, „to show the population at large that they were still in control after the failure of Operation Market Garden and that any help given to the armed resistance would be mercilessly punished.“8 Aber nicht erst in dieser Phase gehörte Geiselpolitik zu den Instrumenten, die das nationalsozialistische Regime im Kampf gegen den niederländischen Widerstand einsetzte. Seit 1940 führte das Reichskommissariat Geiselnahmen durch, seit 1942 Geiselerschießungen. Derartige Maßnahmen konterkarierten zweifellos Seyß-Inquarts ‚Politik der ausgestreckten Hand‘, außerhalb des kleinen Kreises überzeugter Faschisten ließ die brutale Bekämpfung von Resistenz die Attraktivität von Nationalsozialismus und Selbstnazifizierung ins Bodenlose sinken. Die Geiselpolitik stand denn auch für die andere Seite des Amtes des Reichskommissars, nämlich für die unnachsichtige Verteidigung dessen, was er als die „Reichsinteressen“ ansah. Es ist nicht möglich, an dieser Stelle einen vollständigen Überblick über die Maßnahmen zu geben, mit denen unter seiner Ägide Widerstand in den Niederlanden bekämpft wurde. Stattdessen wird die Geiselpolitik als eine besondere Form der Bekämpfung von Resistenz in den Mittelpunkt gestellt: Sie ging über rein polizeiliche Bedürfnisse der Ermittlung und Neutralisierung von Attentätern hinaus, besaß von Anfang an eine dezidiert politische Signalwirkung und bezog bewusst Personen ein, die nicht nachweislich mit Anschlägen auf niederländische Kollaborateure, deutsche Einrichtungen oder Vertreter der Besatzungsmacht in Verbindung standen. Besondere Aufmerksamkeit gilt zunächst dem Umgang mit den Niederländern, die von der Besatzungsmacht im Zusammenhang mit Anschlägen von Widerstandsbewegungen in Geiselhaft genommen wurden; dazu gehört auch die ‚Silbertannen-Aktion‘, die Geiselnahmen mit staatlichem Meuchelmord verband. Anschließend wird mit den sogenannten ‚indonesischen‘ Geiseln eine besondere Opfergruppe vorgestellt, um die sich das Reichskommissariat im Interesse des Auswärtigen Amtes kümmerte, und mit Johan Huizinga wird abschließend eine national und international bekannte Einzelperson vorgestellt, die zeitweilig in die Mühlen der deutschen Geiselpolitik geriet. 10.1 Zwischen Prävention und Repressivmaßnahmen

Einen Blankoscheck ‚von oben‘ für eine offensive Anwendung von Geiselpolitik erhielt Seyß-Inquart, als er am 26. September 1941 mit Generalkommissar Schmidt von Hitler empfangen wurde. Bei dieser Gelegenheit ordnete der ‚Führer‘ im Falle von Sabotageakten „schärfstes Durchgreifen, Abführen von Geiseln und notfalls auch Erschiessen“ an.9 Diese 8 9

Van Galen Last, The Netherlands, 206. Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 1. Oktober 1941, PA AA, R 29678, Bl. 84451.

10.1 Zwischen Prävention und Repressivmaßnahmen

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Vorgabe schloss nahtlos an einen Erlass an, in dem Keitel nur zehn Tage vorher auf Anweisung Hitlers die Wehrmachtbefehlshaber der besetzten Gebiete aufgefordert hatte, bei Anschlägen auf Wehrmachtsangehörige Geiseln zu erschießen, und zwar im Verhältnis von 50 bis 100 „Kommunisten“ für einen getöteten deutschen Soldaten. Keitels Anordnung orientierte sich zwar vorwiegend auf den osteuropäischen Kriegsschauplatz, wo ihm zufolge „ein Menschenleben […] vielfach nichts gilt und eine abschreckende Wirkung nur durch ungewöhnliche Härte erreicht werden kann.“10 Aber auch für die ‚germanischen‘ Niederlande, für die General Christiansen im Verteilerkreis von Keitels Erlass aufschien, waren damit Geiselnahmen und -hinrichtungen grundsätzlich als ein legitimes Instrument nationalsozialistischer Besatzungspolitik anerkannt. Bei Hitlers Gespräch mit Seyß-Inquart und Schmidt vom 26. September nun wurde die Generalermächtigung zur Durchführung einer rigorosen Geiselpolitik auch für die Zivilverwaltung in den Niederlanden maßgeblich, wenn es in Zukunft um die Bekämpfung von Widerstand ging. Zugleich sanktionierte der ‚Führer‘ hier nachträglich die Maßnahmen, die das Reichskommissariat zur Niederschlagung des Februarstreiks ergriffen hatte, insbesondere die Ordnungsschutzverordnung, in der Seyß-Inquart im Juli 1941 die Auferlegung von „persönlichen Leistungen“ als ‚Sühne‘ für antideutsche Handlungen angekündigt hatte.11 Gestützt auf Keitels Erlass, auf Hitlers Generalermächtigung und auf die Verordnungen, die Seyß-Inquart seit Februar 1941 erließ, wurde in den Niederlanden Geiselpolitik zum Kampf gegen den Widerstand eingesetzt. Die exzessive Relation, die Keitel für Geiselerschießungen vorgegeben hatte, kam hier zwar nicht zum Tragen. Aber auch diesem besetzten westeuropäischen Land blieben Hinrichtungen im Kampf des NS-Regimes gegen den Untergrund nicht erspart. Für die Besatzungsmacht erfüllte Geiselpolitik mehrere Funktionen:12 Sie diente der Bestrafung für durchgeführte Widerstands- oder Sabotageaktivitäten; sie sollte von weiteren antideutschen Aktionen abhalten; sie wurde eingesetzt, um untergetauchte niederländische Beamte unter Einschluss von Polizisten durch die Festnahme von Familienangehörigen zu bewegen, sich wieder zum Dienst zu melden; schließlich wurden besonders in der letzten Besatzungsphase Geiseln genommen, um die Gestellung von Zwangsarbeitern für den Bau von Verteidigungsanlagen auf niederländischem Territorium zu erzwingen. Das Beispiel der ‚indonesischen‘ Geiseln wird darüber hinaus zeigen, dass die Besatzungsmacht Geiseln als Faustpfand nahm, um die Kriegsgegner unter Druck zu setzen. Die deutsche Geiselpolitik umfasste somit zugleich präventive Momente und Vergeltungsmaßnahmen: Um organisierten 10 Erlass Keitels vom 16. September 1941, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 34, Dok. C-148, 501-504, Zitat 502. Wie sehr der Begriff ‚Kommunist‘ im wahrsten Sinn des Wortes als Totschlagsargument verwendet wurde, geht aus der Richtlinie hervor, dass „bei jedem Vorfall der Auflehnung gegen die deutsche Besatzungsmacht, gleichgültig wie die Umstände im einzelnen liegen mögen, […] auf kommunistische Ursprünge geschlossen werden [muss].“ (ebd.) Siehe auch den undatierten Befehl Keitels in: ebd., Bd. 27, Dok. PS-1590, 373 f. 11 Siehe oben, S. 85 f. 12 Zum Folgenden siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 8/1, Kap. 3 und Neuman, Arthur Seyss-Inquart, Kap. 10, der stellenweise zu leichtgläubig der Argumentation folgt, die Rauter bei seinem Nachkriegs­ prozess zu seiner eigenen Entlastung vorgebracht hat.

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Kapitel 10: Geiselpolitik und Bekämpfung von Widerstand

Widerstand und die Bevölkerung von möglichen Sabotageakten abzuhalten, wurde mit der Ergreifung von Geiseln gedroht, und wenn der Widerstand durch Anschläge auf Personen, Verkehrsmittel, öffentliche Gebäude oder Wohnungen von Kollaborateuren zugeschlagen hatte, wurden ausgewählte Niederländer hingerichtet. Bei den Opfern handelte es sich wahlweise um bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder um Kommunisten und Sozialisten, deren Untergrundorganisationen das Regime mit Vorliebe die Urheberschaft für Anschläge zuschrieb. In einigen Fällen von Geiselerschießungen galt strikte Geheimhaltung, während der größte Teil der Geiselnahmen bewusst publik gemacht wurde, um die Bevölkerung einzuschüchtern und Widerstandsorganisationen von Anschlägen abzuhalten. Die deutsche Geiselpolitik bewegte sich somit zwischen Arkanbereich und Propaganda. In operativer Hinsicht resultierte die Durchführung von Geiselnahmen und -erschießungen aus der Zusammenarbeit von Rauters Sicherheitsapparat, dem Generalkommissariat zur besonderen Verwendung, Seyß-Inquarts Beauftragten für die Provinzen und die großen Städte des Landes sowie einheimischen Kollaborateuren. In manchen Fällen waren auch Reichszentralinstanzen wie das Auswärtige Amt und die Dienststellen von Heinrich Himmler involviert, und auch die Wehrmacht leistete mitunter gewaltsame Beiträge. Wie das Beispiel der Razzia von Putten zeigt, nahm die Armee in der letzten Phase der Besatzungsgeschichte unter den Bedingungen des Ausnahmezustands exzessiv an der Niederschlagung von Widerstand teil. Die Gesamtverantwortung für die deutsche Geiselpolitik in den Niederlanden aber lag wie auf allen anderen Politikfeldern beim Reichskommissar; dies galt für Präventiv- wie für Repressivmaßnahmen. Entgegen seiner Behauptung vor dem Nürnberger Gerichtshof, von ihm sei keine Anordnung zu Repressivmaßnahmen ergangen, weil dies ausschließlich in Rauters „Wirkungskreis“ gelegen habe,13 war Seyß-Inquart in vielfältiger Weise maßgeblich an der Formulierung und Ausführung der deutschen Geiselpolitik beteiligt. Er stellte nicht nur die Weichen für die Koordination zwischen den verschiedenen Instanzen, die vom Reich aus und in den Niederlanden an der praktischen Umsetzung der Geiselpolitik beteiligt waren. Wie eingangs erwähnt, schuf er durch den Erlass von einschlägigen Verordnungen auch die juristischen Grundlagen für die Verfolgung von Widerstand, entschied in Einzelfällen über Art und Umfang von Repressivmaßnahmen und genehmigte die Listen, auf denen die Namen derjenigen Niederländer zusammengetragen wurden, die von den Sicherheitsorganen als Opfer von Geiselnahmen und -hinrichtungen ausersehen wurden. Es ist davon auszugehen, dass der Reichskommissar über alle Maßnahmen auf diesem Gebiet bestens informiert war. In seiner Geiselpolitik machte er keinen Unterschied zwischen Personen, die Sabotageakte nachweislich durchführten, Widerstandsaktionen planten, zu Widerstand aufriefen oder auch nur Kenntnis von geplanten oder durchgeführten Sabotageakten hatten – alle wurden mit demselben Strafmaß bedroht. Geiselnahmen und -erschießungen trafen somit nicht nur überführte und von Gerichten verurteilte Täter, sondern mehrheitlich unbeteiligte Bürger. Schon im Umfeld des Februarstreiks hatte Seyß-Inquart Listen erstellen lassen, auf denen hunderte Namen von potenziellen Geiseln aus allen Regionen des Landes erfasst waren. Soll13 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 67.

10.1 Zwischen Prävention und Repressivmaßnahmen

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te es wieder zu organisiertem Widerstand kommen, konnte das Reichskommissariat schnell Niederländer in Haft nehmen, und zwar vorzugsweise Leute, „die im früheren politischen aber auch wirtschaftlichen Leben eine Rolle gespielt haben und deren Ausschaltung aus politischen Gründen zweckmässig ist.“14 Auf einer Besprechung mit Schmidt und dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Wilhelm Harster gab der Reichskommissar in den ersten Monaten des Jahres 1942 seine Zustimmung, die Zahl der zu erfassenden Personen auf 5.000 zu erhöhen. Die Erstellung der entsprechenden Listen sollte nicht auf den deutschen Sicherheitsapparat und seine Kontakte zu Angehörigen von NSDAP und Wehrmacht beschränkt bleiben. Auf Schmidts Wunsch hin wurde auch die NSB ausdrücklich aufgefordert, Regimekritiker zu benennen.15 Am 4. Mai desselben Jahres machte das Regime erstmals Gebrauch von den Listen: 460 Niederländer wurden als Geiseln genommen, vor allem Politiker, Bürgermeister, Universitätsprofessoren, Geistliche, Anwälte und Künstler.16 Sie wurden sozusagen stellvertretend für die politische und geistige Elite des Landes festgenommen und mussten damit rechnen, bei weiteren Anschlägen des Widerstands gegen führende NSB-Mitglieder oder Angehörige der Besatzungsmacht oder bei einem Einmarsch der Alliierten in die Niederlande exekutiert zu werden. Ein konkreter Anlass für die einschneidende Maßnahme wurde der Bevölkerung nicht mitgeteilt, und bei der Bekanntgabe der Geiselnahme wurde die Öffentlichkeit bewusst im Unklaren gelassen, wer von den deutschen Instanzen die Verantwortung für eine solche Entscheidung trug. Die Zeitungen vermeldeten nur, dass es sich bei dieser Warnung um eine offizielle Mitteilung handelte.17 Da sich Himmler in diesen Tagen in den Niederlanden aufhielt, ist nicht auszuschließen, dass Rauter im Zusammenspiel mit Seyß-Inquart dem Reichsführer-SS Stärke und Durchsetzungsfähigkeit demonstrieren wollte. Vielleicht hat auch die traditionelle Rivalität zwischen Rauter und Schmidt eine gewisse Rolle gespielt: Nachdem Letzterer einige Wochen vorher zum Ärger des Sicherheitsapparats dafür gesorgt hatte, dass die einheimischen Kollaborateure in die Erstellung von Geisellisten einbezogen wurden und damit persönlicher Ranküne Tür und Tor geöffnet war, sollte nun deutlich gemacht werden, dass SS- und Polizeikräfte bei der Umsetzung der Geiselpolitik des Reichskommissars das Heft in der Hand hatten. Einen neuen Beweis der Schlagkraft lieferten die Sicherheitskräfte, als sie am 13. Juli rund 800 weitere Geiseln nahmen. Da auch noch nach den großen Zugriffen vom 4. Mai und 13. Juli einzelne Niederländer verhaftet wurden, waren im Sommer 1942 gut 1.400 Geiseln interniert.18 14 Seyß-Inquart an Ribbentrop vom 3. Mai 1941, zit. nach: De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/2, 973. 15 Ebd. (ohne Quellenbeleg). 16 Zum Folgenden vgl. Von Frijtag Drabbe Künzel, Het Duitse gijzelingsbeleid, 160–163 und Blom, De gijzelaars van Sint Michielsgestel en Haaren, 7 ff. 17 Siehe zum Beispiel Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 17. Mai 1942 (NIOD, 267/109, Kart. 67 mit einer Wiedergabe des Textes auf Deutsch) und Nieuwsblad van Friesland vom 18. Mai 1942. 18 Von Frijtag Drabbe Künzel, Het Duitse gijzelingsbeleid, 174 sowie De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/1, 67 und Bd. 5/2, 975. Von Frijtag Drabbe Künzel weist darauf hin, dass bis zum Sommer ungefähr 200 Geiseln wieder freigelassen wurden, etwa Mitglieder der NSB oder einer ihrer Nebenorganisationen, Väter kinderreicher Familien, ältere und gebrechliche Geiseln oder Personen, die man aus wirtschaftlichen Gründen gebrauchen zu können meinte (Het Duitse gijzelingsbeleid, 161 f. und 179).

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Die Betroffenen wurden in Brabant in Gebäudekomplexen untergebracht, die vor der deutschen Besetzung des Landes der katholischen Kirche gehört hatten: dem Priesterseminar von Haaren, der katholischen Schule Beekvliet und dem Jungeninternat De Ruwenberg in Sint-Michielsgestel.19 Im Vergleich zu Insassen von Konzentrationslagern oder anderen Gefangenengruppen in Haaren und Sint-Michielsgestel besaßen die Geiseln größere Freiheiten: Sie waren nicht zu Arbeit gezwungen und konnten kulturelle und sportliche Veranstaltungen selbst organisieren. Außerdem durften sie Besuch und Lebensmittelpakte empfangen. Doch ihre Lage war prekär: Sie mussten ständig damit rechnen, erschossen zu werden, und bei einer Flucht stand zu befürchten, dass ihre Angehörigen Repressalien ausgesetzt würden.20 Zu einer ersten Hinrichtung von Geiseln schritt die Besatzungsmacht im Sommer 1942, und zwar als Vergeltung für ein Attentat, das die kommunistische Untergrundorganisation ‚Niederländische Volksmiliz‘ mitten in Rotterdam verübt hatte. Durch die Zündung einer Bombe hatte man einen Zug mit Wehrmachtssoldaten zur Entgleisung bringen wollen, die am 7. August aus dem Urlaub zurückgekehrt waren.21 Der Anschlag war zwar fehlgeschlagen. Aber nach Rücksprache mit dem OKW hatte Wehrmachtbefehlshaber Christiansen die Hinrichtung von 20 bis 25 Niederländern gefordert, um ein drastisches Exempel zu statuieren. Bei dieser hohen Zahl blieb es allerdings nicht: Aus Listen, die Harsters Stellvertreter Knolle zusammengestellt hatte, wählte Seyß-Inquart fünf Todeskandidaten aus. Wie auf einer Chefbesprechung am 8. August vereinbart wurde, waren die – am Attentat unbeteiligten – Männer zu exekutieren, wenn sich nicht innerhalb einer Woche die Täter stellen würden. Da dies trotz Bekanntmachung in der Presse nicht geschah, wurden Otto Ernst Gelder Graf von Limburg Stirum, Alexander Baron Schimmelpenninck van der Oye, Robert Baelde, Christoffel Bennekers und Willem Ruys am frühen Morgen des 15. August von einem Hinrichtungskommando der Ordnungspolizei auf einem Landgut bei Goirle (Provinz Nordbrabant) erschossen. Nicht einmal zwei Monate später wurden die Attentäter vom 7. August gefasst und ebenfalls hingerichtet. Für Seyß-Inquart war die Entscheidung über die Anzahl und die Auswahl der Geiseln, die als Vergeltung für den Anschlag in Rotterdam für die Exekution in Frage kommen sollten, ein diffiziler politischer Balanceakt: Einerseits trug er als Leiter der Zivilverwaltung letztlich die Verantwortung dafür, dass der Anschlag vom 7. August ‚gesühnt‘ wurde und zugleich mit der Hinrichtung eine Warnung an den Widerstand ausging, dass die Besatzungsmacht weitere Attentate rigoros ahnden würde. Andererseits war ihm bewusst, dass die Erschießung von unschuldigen Menschen, die nicht einmal persönliche Verantwortung für den Anschlag trugen, die Kluft zwischen dem Regime und der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit noch mehr vertiefen und den Widerstand eher stärken als schwächen würde. Treffend fasste denn auch ein deutscher Wehrmachtsoffizier sechs Wochen nach der Exekution die Wirkung der Geiselerschießung selbstkritisch mit den Worten zusammen: „Die letzten Verständigungs19 Siehe hierzu Jansens/Von Frijtag Drabbe Künzel/Blom, Een ruwe hand in het water. 20 Jansens, „Hitlers Herrengefängnis“, 149. 21 Vgl. zum Folgenden: De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/1, 66–80, Jansens, „Hitlers Herrengefängnis“, 164 f., Von Frijtag Drabbe Künzel, Het Duitse gijzelingsbeleid, 180–184 und Neuman, Arthur Seyss-Inquart, 213 f.

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möglichkeiten zwischen der Besatzungsmacht und dem niederländischen Volk gingen damit für immer verloren. Ein Tiefstand nie erlebter Ablehnung, ein nie gekannter Hass gegen Deutschland gewinnt in den Niederlanden an Raum.“22 Aus Seyß-Inquarts Sicht mag die Entscheidung, fünf statt 20 Personen töten zu lassen, eine Lösung des Balanceakts gewesen sein. Für die Betroffenen und ihre Angehörigen, aber auch für die gesamte Bevölkerung war die Entscheidung des Reichskommissars hingegen ein Fanal: Sie wirkte wie die Drohung, dass das Regime fortan Geiseln erschießen würde, wenn die Urheber von Aktionen des Widerstands gegen Deutsche oder niederländische Faschisten nicht ermittelt werden könnten. Rauter, in dessen Augen „die Geiselaktion […] sich politisch phantastisch ausgewirkt“ hat, war denn auch wild entschlossen, einen „stärkeren Druck“ auszuüben, „wenn der Wille der Besatzungsmacht zum Durchbruch kommen soll.“23 Tatsächlich sollte es nicht lange dauern, bis erneut niederländische Geiseln hingerichtet wurden: Am 16. Oktober 1942 fand die zweite Geiselerschießung statt.24 Wie am 15. August wurden die Opfer nicht ausschließlich aus dem ‚Reservoir‘ genommen, das das Regime mit den Verhaftungswellen vom Mai und Juli in Haaren und Sint-Michielsgestel angelegt hatte. Diesmal waren nur drei der 15 Hingerichteten ‚Präventiv-Geiseln‘; die anderen zwölf Niederländer wurden aus dem Polizeilichen Durchgangslager Amersfoort zur Hinrichtungsstätte gebracht. In vierfacher Hinsicht wies die zweite Geiselerschießung Unterschiede zur ersten Exekution auf: 1) Mit ihr reagierte die Besatzungsmacht nicht auf ein einzelnes Attentat, sondern auf eine ganze Reihe von Sabotageakten, die Widerstandskreise in der Zwischenzeit verübt hatten. 2) Die Initiative ging diesmal nicht von der Wehrmacht aus, sondern war eine polizeiliche Angelegenheit, bei der der SS- und Polizeiapparat von vornherein die Federführung hatte. 3) Das Regime sah davon ab, die Hinrichtung vorab in der Presse bekannt zu geben; erst im Nachhinein erschien in den Zeitungen eine knappe Mitteilung.25 Auch wurden die tatsächlichen Urheber der Anschläge diesmal nicht per Ultimatum aufgefordert, sich den deutschen Behörden zu stellen. Statt die Möglichkeit der Ergreifung der wahren Täter einzukalkulieren, setzte die Besatzungsmacht also auf eine allgemeine Verunsicherung oder Einschüchterung der Kreise, in denen man organisierten Widerstand vermutete. 4) Jetzt ging es um ‚linke‘ politische Kräfte: Denn bei den Opfern der zweiten Geiselexekution handelte es sich nicht um Angehörige der bürgerlichen und adeligen Gesellschaftsschichten mit teilweise klingenden Namen der niederländischen Geschichte wie Limburg Stirum und Schimmelpenninck, die entweder mit dem Ort des Anschlags verbunden waren oder denen enge

22 Aus dem Protokoll der Besprechung der Befehlshaber und Kommandeure am 2.10.1942 beim WBN, zit. nach: Von Frijtag Drabbe Künzel, Het Duitse gijzelingsbeleid, 195. 23 Rauter an Himmler vom 10. September 1942, DÖW, 21561/6a. Dass das Reichskommissariat Familienväter mit mehreren Kindern von der Geiselerschießung vom 15. August ausgenommen habe, meinte der HSSuPF als Beweis dafür werten zu dürfen, „wie ernst und gerecht [sic] es der Besatzungsmacht bei der Beurteilung aller auftretenden Fragen zu tun ist.“ 24 Vgl. auch Von Frijtag Drabbe Künzel, Het Duitse gijzelingsbeleid, 185–188. 25 Siehe zum Beispiel Het Vaderland, Abendausgabe vom 16. Oktober 1942 mit Bekanntgabe der Namen der Hingerichteten.

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Bindungen an das Königshaus unterstellt wurde, sondern um zwölf Kommunisten und drei Sozialisten. Bei allen Unterschieden zielten beide Exekutionen von Geiseln darauf, den Widerstand zu brechen. Diese Hoffnung erwies sich aber als Trugschluss. Anschläge auf Zuteilungsstellen für Lebensmittelkarten, Einwohnermeldeämter und Arbeitsämter mitsamt der Vernichtung von Unterlagen, die für die Rekrutierung und den Einsatz von Zwangsarbeitern notwendig waren, und der Raub von Lebensmittelkarten zugunsten von untergetauchten Juden oder Niederländern, die sich dem Arbeitseinsatz im Deutschen Reich entziehen wollten, nahmen ebenso zu wie die Liquidierung von NSB-Funktionären durch Mitglieder von Widerstandsorganisationen. Die beiden Geiselhinrichtungen verfehlten somit die abschreckende Wirkung, die ihnen von deutscher Seite zugedacht war. Sie gaben dem Widerstand sogar zusätzliche Nahrung. Vor diesem Hintergrund erwies sich die Geiselpolitik immer mehr als eine stumpfe Waffe. Dasselbe Ergebnis zeigte sich in Belgien und Nordfrankreich sowie im besetzten Teil Frankreichs, wo die Militärverwaltungen unter Falkenhausen bzw. Otto von Stülpnagel früher mit Geiselnahmen begonnen hatten und mehr Exekutionen durchführten, als dies in den Niederlanden geschah. Da sich die Geiselpolitik geradezu als kontraproduktiv herausstellte, wurden auf dem Gebiet des Reichskommissariats nach dem 16. Oktober 1942 keine Geiseln mehr exekutiert, es blieb bei den zwei genannten Hinrichtungen. Christiansen, der im August den Anstoß zur ersten Geiselexekution gegeben hatte, regte nun sogar an, die Geiselpolitik zu revidieren. Generalkommissar Schmidt gegenüber äußerte der Wehrmachtbefehlshaber im November die Ansicht, „dass jetzt die Zeit gekommen sei, einen beträchtlichen Teil dieser Geiseln frei zu stellen.“26 Prinzipiell erklärte sich Seyß-Inquart hierzu bereit, und so kamen Wehrmacht und Zivilverwaltung im Winter 1942 überein, Geiseln ‚scheibchenweise‘ zu entlassen. Dies geschah vorzugsweise an Terminen wie Weihnachten oder Hitlers Geburtstag (20. April), an denen eine Freilassung als eine Art von Geschenk dargestellt werden konnte. Hierbei ging es aber beileibe nicht um einen humanitären Akt, sondern um eine Neuorientierung der Geiselpolitik, die zu einer Steigerung der Effizienz bei der Repression des Untergrunds führen sollte. Denn in den folgenden Monaten versuchte die Besatzungsmacht, den zunehmenden Widerstand energischer und damit brutaler zu bekämpfen, ohne die Geiselpolitik gänzlich einzustellen. Mehr noch: Während zwischen Dezember 1942 und September 1944 in mehreren Etappen Häftlinge aus den Geisellagern freigelassen wurden, nahm man im selben Zeitraum kontinuierlich neue Geiseln. Ungeachtet der Freilassung von Geiseln legte Seyß-Inquart Wert darauf, „daß jene Personen, die bei der heutigen Situation aus politischen Gründen […] nicht unbeobachtet und unkontrolliert gelassen werden können, weiter in Geiselhaft zu verbleiben haben.“27 Auch wenn das Instrument der Geiselerschießung ausgedient hatte – Geiselnahmen blieben weiterhin Eckpfeiler deutscher Geiselpolitik. Der Verzicht 26 Schmidt an seinen Persönlichen Referenten, Hauptmann Erhard Gruffke, vom 18. November 1942, zit. nach: Blom, De gijzelaars van Sint Michielsgestel en Haaren, 18. 27 Seyß-Inquart an die Generalkommissare, Piesbergen und Bene vom 27. März 1943, als Faksimile abgedruckt in: Von Frijtag Drabbe Künzel, Het Duitse gijzelingsbeleid, 199. Vgl. auch die Angaben in ebd., 204 f. sowie bei Jansens, „Hitlers Herrengefängnis“, 165 f. und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 8/1, 181 f.

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auf Exekutionen und die Freilassung von Geiseln standen also nicht im Widerspruch zu der gleichzeitigen Brutalisierung der Bekämpfung von Widerstand. Die Geiselpolitik wurde lediglich neu ausgerichtet, um zielgerichteter für Repression eingesetzt zu werden. Die konzeptionelle Neuorientierung fasste Rauter im September 1943 in die Worte: „Von der Geiselhaft will der Reichskommissar langsam wieder herabsteigen, die Häftlinge aber in Vorbeugungshaft belassen.“28 Was das konkret bedeutete, wurde klar, als Seyß-Inquart am 25. Oktober desselben Jahres eine Anweisung erteilte, mit der er einen Schlusspunkt unter die bisherige Geiselpolitik setzte. Mit der Begründung, dass die in Sint-Michielsgestel inhaftierten Männer „auf billige Art eine Märtyrergloriole“ erhielten, gab er den deutschen Dienststellen bekannt, dass in Zukunft folgende Unterscheidungen zu treffen seien: Diejenigen, „die sich in irgend einer Weise feindselig gegen uns einstellen“ oder deren Verhalten von einer negativen Einstellung gegenüber der NSB zeugten, waren entweder vor ein Strafgericht zu stellen oder dem Konzentrationslager Herzogenbusch zu überstellen; hier konnten sie auch – wie die anderen Häftlinge in Vught – zu Zwangsarbeit herangezogen werden. In Sint-Michielsgestel hingegen sollten nur jene Niederländer festgehalten werden, die zwar wegen antideutscher Äußerungen festgehalten würden, aber gebrechlich oder krank waren. Darüber hinaus gehörten diejenigen nach Sint-Michielsgestel, die „ohne eine aktuelle feindselige Einstellung die Möglichkeit eines Widerstandszentrums abgeben können“; als potenzielle Widerständler waren sie in Sint-Michielsgestel in eine „Vorbeugungshaft“ zu nehmen.29 Diese Regelung, die der Bevölkerung nicht offiziell bekannt gemacht wurde, hatte mehrere Folgen für Besatzer und Besetzte. Für die Situation derjenigen, die nach Herzogenbusch überstellt wurden, bedeutete Seyß-Inquarts Anweisung vom 25. Oktober 1943 zweifellos eine drastische Verschärfung. Die Besatzungsmacht unterstrich damit, dass antideutscher Widerstand nicht mehr mit Geiselhaft, sondern mit dem härteren Schicksal einer KZ-Internierung bestraft wurde; die bescheidenen ‚Privilegien‘, die den Geiseln in Haaren und Sint-Michielsgestel zugestanden worden waren, galten hier nicht. Für die Angehörigen des Widerstands kam ein weiteres erschwerend hinzu: Gestützt auf seine Ordnungsschutzverordnung 1943 verlagerte Seyß-Inquart etwa im selben Zeitraum die Zuständigkeit für die Verfolgung von organisiertem Widerstand von den ordentlichen Gerichten zu den SS- und Polizeigerichten,30 und es lässt sich belegen, dass Seyß-Inquart in Einzelfällen eigens seine Zustimmung zu standgerichtlichen Verfahren erteilt hat, etwa als acht inhaftierte Personen als Vergeltung für 28 Rauter an Himmler vom 16. September 1943, BArch, NS 19/3364, Bl. 38 f., hier zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 464, 1208. 29 NIOD, 1/12. 30 Siehe Rauter an Himmler vom 16. September 1943, BArch, NS 19/3364, Bl. 38 f. In ’t Veld verweist auf eine interne Dienstanweisung Seyß-Inquarts vom 14. September 1943 (De SS en Nederland, Bd. 2, Anm. 7 zu Dok. 464, 1208). Siehe auch dessen Dienstanweisung vom 24. Februar 1944, NIOD, 20/9151. Wenig überraschend zeigte sich Himmler mit der Stärkung der SS- und Polizeigerichte „sehr einverstanden“ und regte mit der Einführung von Sippenhaft gleich eine weitere Verschärfung an: „Ich schlage vor, dass neben den Tätern im allgemeinen auch deren Familien gefasst werden, indem man ihnen das Vermögen, die Möbel und sonstige Einrichtungsgegenstände und alles nimmt.“ (Himmler an Rauter vom 24. September 1943, zit. nach: In ’t Veld [Hrsg.], De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 466, 1212)

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einen Anschlag auf einen niederländischen Mitarbeiter der Sicherheitspolizei in Rotterdam von einem SS- und Polizeigericht zum Tode verurteilt und am 13. Januar 1944 hingerichtet wurden.31 Der Radikalisierung der deutschen Besatzungspolitik, die mit dieser Entwicklung einherging, stand gegenüber, dass die Gesamtzahl der Geiseln durch die Überstellung einer ganzen Reihe von bisherigen Geiseln an die Strafverfolgungsbehörden oder das KZ Herzogenbusch reduziert wurde. Hiervon sollte wohl ein positiv gemeintes Signal an die Bevölkerung ausgehen: Wenige Niederländer blieben als Faustpfand in den Händen der Besatzer, während diejenigen, die des Widerstands und der Sabotage überführt wurden, nach der geltenden Rechtslage als Verbrecher verfolgt und in einem Konzentrationslager entsprechend nationalsozialistischer Praktiken behandelt wurden. Auf diese Weise entkoppelte Seyß-Inquart mit seiner Anweisung vom Oktober 1943 die Geiselpolitik von der Verfolgung von ‚Schuldigen‘ im Sinne des Besatzungsrechts. Er brauchte also nicht gänzlich auf Geiseln zu verzichten, nach wie vor verfügte er in Sint-Michielsgestel über ein Reservoir an bekannten Niederländern, die man bei möglichen Waffenstillstands- oder Friedensverhandlungen mit den Kriegsgegnern als Faustpfand hätte einsetzen können.32 Nicht einmal nach dem ‚verrückten Dienstag‘, dem 5. September 1944, wurden sie unmittelbar freigelassen, obwohl der größte Teil des Wachpersonals in Richtung Deutschland geflüchtet war. In den Wirren dieses Tages gelang nur acht Geiseln die Flucht aus Sint-Michielsgestel, während die übrigen Inhaftierten unter Bewachung in aller Eile nach Vught transferiert wurden. Die meisten der in Herzogenbusch internierten Geiseln wurden zwar nach dem ‚verrückten Dienstag‘ gruppenweise entlassen. Sieben Männer aber wurden zunächst nach Amersfoort verschleppt, wo sie am 20. September 1944 in Freiheit gesetzt wurden. Wesentlich schlechter erging es neun anderen Geiseln: Sie wurden nach Scheveningen verbracht, im dortigen Gefängnis mussten sie bis zur Kapitulation am 5. Mai 1945 ausharren.33 Parallel zu der Neuausrichtung der deutschen Geiselpolitik von 1942/43 kam es zu einer weiteren Brutalisierung des Besatzungsregimes im Kampf gegen den Widerstand. Ausdruck dieser Entwicklung ist etwa die Art und Weise, mit der das Reichskommissariat darauf reagierte, dass immer mehr niederländische Beamte und Angestellte untertauchten und dabei nicht selten amtliche Siegel, Formulare, Lebensmittelkarten oder – im Fall von Polizisten – ihre Dienstpistole mitnahmen. Um diesem Phänomen entgegenzuwirken, forderte Seyß-Inquart auf Antrag von Rauter und Wimmer am 14. März 1944 in einem geheimen Rundschreiben34 die Generalkommissare auf, „mit allen Mitteln ein weiteres Umsichgreifen dieses Untertauchens […] zu verhindern.“ Konkret wurden unter anderem die folgenden drakonischen Maßnahmen unter Einschluss von Sippenhaft angekündigt: Die nächsten Angehörigen der untergetauchten Beamten und Angestellten wie Ehefrauen und Kinder, Eltern und Geschwister seien durch die Sicherheitspolizei festzunehmen und „als Repressivhäftlinge“ nach 31 Siehe Rauter an Himmler vom 13. Januar 1944, BArch, NS 19/1556, Bl. 199. 32 So auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 7/2, 1357. 33 Von Frijtag Drabbe Künzel, Het Duitse gijzelingsbeleid, 206 unter Bezugnahme auf das Gedenkboek Gijzelaarskamp Beekvliet (Schiedam o. J. [1947]). 34 NIOD, 1/12.

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Vught zu überführen; das gesamte Vermögen der Untergetauchten könne eingezogen werden, ihre Wohnungseinrichtung dürfe beschlagnahmt und von der Sicherheitspolizei den zuständigen Referenten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt für die Vergabe an Bombengeschädigte übergeben werden; die untergetauchten Beamten und Angestellten seien unter Verlust ihrer Bezüge und Pensionen fristlos zu entlassen. Der ohnehin repressive Inhalt und Tenor wurde noch dadurch verschärft, dass die Bestimmungen von Seyß-Inquarts Rundschreiben nur den deutschen Dienststellen zur Kenntnis gebracht werden durften, während die betroffenen niederländischen Beamten und ihre Verwandten von den radikalen Maßnahmen erst durch deren Vollzug erfahren durften. Die Brutalisierung der Besatzungspolitik blieb freilich nicht bei Beamten und Angestellten stehen. Jeder einzelne Niederländer musste in zunehmendem Maße damit rechnen, vom deutschen Sicherheitsapparat für Sabotageaktivitäten des Widerstands zur Verantwortung gezogen zu werden, und zwar unabhängig von persönlichen Verbindungen zum Untergrund. Zeitgleich mit der erwähnten Neuausrichtung der Geiselpolitik wurden einheimische Bürger als Vergeltung für Anschläge von Widerstandsorganisationen auf Angehörige der Besatzungsmacht ohne Gerichtsverfahren hingerichtet, weitere Niederländer wurden in Konzentrationslagern interniert. Dies war etwa der Fall, als am 30. Januar 1943 ein Unteroffizier der Wehrmacht in Haarlem erschossen wurde. Ohne die wahren Täter ermittelt zu haben, wurden umgehend zehn Männer im Alter zwischen 27 und 65 Jahren exekutiert, die laut NS-Propaganda aus „jüdisch-kommunistischen Kreisen“ kamen, jedoch nicht mit dem Attentat in Verbindung standen; gleichzeitig wurde eine nicht spezifizierte „grosse Anzahl kommunistische[r] Werber“ in ein KZ eingewiesen. Bis Kriegsende nahmen derartige Fälle deutscher „Sühnemassnahmen“ zu.35 Ihnen fielen bei weitem mehr Personen zum Opfer als der bisher praktizierten Geiselpolitik, die 1942 zur Hinrichtung von 20 Menschen geführt hatte. Noch bedrohlicher wurde die Situation für die niederländische Bevölkerung durch eine Anweisung von Erich Naumann, der als ehemaliger Kommandeur von Einsatzgruppen in Polen und in der Sowjetunion reichlich Erfahrung in der Bekämpfung von vermeintlichem und tatsächlichem Widerstand gegen das NS-Regime gesammelt hatte. Am 13. September 1943 wies der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in den Niederlanden seine Außenstellen an, „bestimmte Terrorakte unserer Gegner und der Gegner der NSB mit Gegenterror zu beantworten.“36 Damit war der Grundstein zur sogenannten Silbertannen-Aktion gelegt. Sie lief darauf hinaus, dass bei Anschlägen auf niederländische Faschisten oder auf deutsche Einrichtungen, Zivilangestellte oder Wehrmachtssoldaten entweder ausgewählte Niederländer, die wegen ihrer antideutschen Haltung bekannt waren, in Geiselhaft genommen wurden oder die vermeintlichen Urheber der Attentate unter Verzicht auf jegliche polizeiliche Untersuchung und ohne ein Gerichtsverfahren heimtückisch erschossen wurden. Die Silbertannen-Aktion umfasste also Geiselnahmen wie auch Hinrichtungen von Bürgern, 35 Zitate aus Rauters Bekanntmachung in der DZN vom 2. Februar 1943 nach: RIOD (Hrsg.), Het Proces Rauter, 146. Auch in den niederländischen Zeitungen wurde die Mitteilung veröffentlicht. 36 NIOD, 77/1181. Zum Folgenden siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 7/2, 1257–1278.

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die mit Anschlägen nicht unmittelbar zu tun hatten. Im Unterschied zu der erwähnten „Sühnemassnahme“ von Haarlem wurde die Öffentlichkeit allerdings nicht über die vorgenommenen ­Exekutionen und Verhaftungen informiert. Als Geheimoperation machte die Silbertannen-Aktion aus der rechtsfreien Internierung und Hinrichtung unschuldiger Bürger ein regelrechtes System nationalsozialistischer Repressionspolitik. Von den Geiselnahmen, die vom Regime in diesem Rahmen vorgenommen wurden, waren schätzungsweise 260 Niederländer betroffen. Die meisten wurden in die Konzentrationslager von Vught und Amersfoort verbracht, einige in KZs auf Reichsgebiet deportiert. Wie viele von ihnen ums Leben gekommen sind, ist nicht bekannt. Den Morden jedenfalls, die 1943/44 im Rahmen der Silbertannen-Aktion in den Nieder­ landen begangen wurden, sind mindestens 45 Menschen zum Opfer gefallen.37 Dabei handelte es sich keineswegs ausschließlich um Widerstandskämpfer oder deren Angehörige. Die Opfer wurden vielmehr willkürlich ausgewählt – mit dem politisch gewollten Ziel, unter der Bevölkerung ein Gefühl von permanenter Unsicherheit und Angst zu verbreiten. Die staatlichen Auftragsmorde dienten somit der Einschüchterung und der Abschreckung vor weiteren Anschlägen des organisierten Widerstands. Sie waren das Ergebnis einer Zusammenarbeit des deutschen Sicherheitsapparats und der ‚Germanischen SS‘: Unter dem Codewort ‚Silbertanne‘ gaben Rauter oder Naumann bzw. dessen Nachfolger als BdS Schöngarth den Außenstellen des Sicherheitsdienstes den Befehl, als Vergeltung für Angriffe auf niederländische Faschisten tatsächliche oder vermeintliche Widerständler zu erschießen. Ausgeführt wurden die Morde dann mit logistischer und operativer Unterstützung des SD von Niederländern: zunächst von Angehörigen der fünf niederländischen SS-Standarten, ab April 1944 von Freiwilligen eines hierfür eigens gebildeten SS-Sonderkommandos, das Feldmeijer unterstellt wurde. Ein Jahr lang verübte das Sonderkommando etliche Meuchelmorde. Sie wurden als ‚Geheime Reichssache‘ durchgeführt, unterlagen also der höchsten Geheimhaltungsstufe des NS-Staates. Die Mordserie ging noch über die sogenannten Nacht-und-Nebel-Aktionen hinaus, die Hitler im Dezember 1941 mit einem Geheimerlass in Gang gesetzt hatte, um in den besetzten Gebieten unter weitgehender Umgehung der Justiz „Straftaten von nichtdeutschen Zivilpersonen“ zu ahnden, „die sich gegen das Reich oder die Besatzungsmacht richten […] und deren Sicherheit oder Schlagfertigkeit gefährden“.38 Im Unterschied zu den Nacht-und-Nebel-Aktionen verzichtete das NS-Regime bei den Silbertannen-Morden darauf, ein Gerichtsverfahren durchzuführen und die betreffenden Personen in ein Konzentrationslager auf Reichsgebiet zu verfrachten. Sie wurden einfach vor Ort liquidiert. Dies alles geschah mit ausdrücklicher Billigung durch Himmler. Am 1. November 1943 erteilte der Reichsführer-SS Rauter in einem Geheimschreiben den Auftrag, bei zukünftigen Anschlägen auf niederländische Kollaborateure „Gegenterrorangriffe“ durchzuführen. Dabei sollten für jeden Angriff auf Angehörige der NSB oder sonstige deutschfreundlich eingestellte Niederländer 37 Vgl. zum Folgenden Kromhout, De Voorman, 392–406. 38 Aus den Richtlinien für die Verfolgung von Straftaten gegen das Reich oder die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten vom 7. Dezember 1941, zit. nach: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 125, 213. Zu diesem Erlass siehe Gruchmann, „Nacht-und-Nebel“-Justiz.

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drei- bis sechsmal so viele „uns bekannte prominente Gegner“ zur ‚Rechenschaft‘ gezogen werden, ohne dass ihre Verbindung zu den Attentaten erwiesen war. Die „Gegenterrorangriffe“ wiederum durften nicht verfolgt werden: „Die Polizei wird in keinem dieser Fälle die Täter jemals fassen.“39 Damit waren die Silbertannen-Mörder von höchster Stelle effektiv vor Strafverfolgung geschützt,40 während Angehörige des Widerstands, internierte Geiseln und sonstige unschuldige Bürger potenziell in permanenter Lebensgefahr waren. Die Silbertannen-Morde zeigen, dass die von Seyß-Inquart dekretierte Strafverfolgung durch die SS- und Polizeigerichte dem Sicherheitsapparat nicht weit genug ging. Sie sind auch ein Beispiel dafür, dass die besetzten Niederlande nicht von der strukturellen Spannung – und der gleichzeitigen Komplementarität – zwischen rechtlich fixierten ‚Normen‘ und rechtsfreien ‚Maßnahmen‘ des nationalsozialistischen ‚Doppelstaates‘ ausgenommen waren. Wie stand der Reichskommissar hierzu? Es existiert keine Quelle mit einer unmittelbaren Stellungnahme Seyß-Inquarts zu den Silbertannen-Morden. Ebenso wenig gibt es einen Beleg für Rauters Behauptung, die Initiative zu der Mordserie sei von Seyß-Inquart in dem Bestreben ausgegangen, Hitlers Erwartungen von „Gegenmorden“ zu entsprechen. Diese These, die der angeklagte Rauter am 2. April 1948 vor dem Den Haager Sondergerichtshof ausführte, stellte eher den Versuch dar, sich selber auf Kosten des verstorbenen Reichskommissars zu entlasten, als eine korrekte Wiedergabe der Situation des Jahres 1943.41 Der Reichskommissar teilte zwar die Meinung, „dass Terror nur mit dem Mittel von Gegenterror gebrochen werden konnte.“42 Vieles aber deutet darauf hin, dass die Idee zu den Silbertannen-Morden aus dem SS-­Apparat kam, der sie ja auch federführend ausführte. Dies bedeutet aber in keiner Weise, dass Seyß-Inquart nicht über die Mordserie der SS-Sonderkommandos informiert war. Zwar hat er die Aktionen nicht rechtlich in seiner Eigenschaft als Reichskommissar sanktioniert; die Silbertannen-Morde blieben extralegal. Aber SS-Obergruppenführer Seyß-Inquart stand in regelmäßigem Kontakt mit Himmler, Rauter und den Befehlshabern der Sicherheitspolizei und des SD, und er erhielt vom Sicherheitsdienst regelmäßig Auskünfte über die Situation im Land und die sicherheitspolizeilichen Aktivitäten. Dass ihm eine Serie von heimtückischen Morden, die nicht aufgeklärt wurde, entgangen sein könnte, ist völlig ausgeschlossen.

39 BArch, NS 19/3364, Bl. 28. Im Oktober 1943 hatte Himmler ohne Konkretisierung von einem „Gegenschlag“ gesprochen, den „geeignete Männer der Germanischen SS in Drenthe unter Führung unserer Leute“ führen sollten (zit. nach: RIOD [Hrsg.], Het Proces Rauter, 189). 40 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg erwies sich die strafrechtliche Verfolgung der Silbertannen-Morde als schwierig. Immerhin wurde Heinrich Boere 2010 vom Landgericht Aachen wegen der Beteiligung an drei Morden in Voorschoten und Wassenaar zu lebenslanger Haft verurteilt; siehe Der Standard (Wien) vom 24. März 2010. Ein weiteres Mitglied von Feldmeijers Exekutionskommando, Klaas Carel Faber, verstarb im Mai 2012, ehe gerichtlich über den Vollzug einer Haftstrafe entschieden werden konnte; siehe de Volkskrant vom 26. Mai 2012. 41 RIOD (Hrsg.), Het Proces Rauter, 197 f. Ähnlich die Beurteilung von De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 7/2, 1268 f. 42 George Haase über eine Aussage von SS-Sturmbannführer Erich Deppner, Leiter der Abteilung IV (‚Gegner und Abwehr‘) des BdS, vom September 1943, also dem Beginn der Silbertannen-Aktion, zit. nach: RIOD (Hrsg.), Het Proces Rauter, 363.

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Bezeichnend für Seyß-Inquarts Haltung zu den Silbertannen-Morden ist auch, dass er nichts unternommen hat, um dem Wüten der SS-Schergen Einhalt zu gebieten. Seine Beauftragten für die Provinzen und die beiden großen Städte des Landes beteiligten sich an der Zusammenstellung von Listen mit den Namen potenzieller Opfer der Silbertannen-Aktion, und er selber hat der Brutalisierung der deutschen Repressionspolitik propagandistisch den Boden bereitet, indem er in öffentlichen Reden den „rücksichtslosen Einsatz unserer Exekutive“, gepaart mit der „revolutionären Kraft unserer nationalsozialistischen Gemeinschaft“, ankündigte.43 Gegen Stimmen, die sich kritisch äußerten, wenn der Sicherheitsapparat als Revanche für Anschläge willkürlich niederländische Bürger erschoss, intervenierte er – notfalls an höchster Stelle. Dies war etwa beim Chef des Stabes des Wehrmachtbefehlshabers, Generalleutnant Heinz-Hellmuth von Wühlisch, der Fall, der unter Berufung auf die Haager Landkriegsordnung von Rauter wiederholt den Verzicht auf die willkürliche Erschießung von Niederländern und die Ermittlung der tatsächlichen Urheber von Anschlägen eingefordert hatte. Gegen ihn wurde der Reichskommissar – vermutlich am 2. Dezember 1943 – bei Hitler vorstellig, gleichzeitig bat er Rauter, sich bei Himmler über den Wehrmachtsoffizier zu beschweren.44 Als jemand, der mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit in die Silbertannen-Morde eingeweiht war, tolerierte der Reichskommissar fast ein Jahr lang den ‚Doppelstaat‘ in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘. Dabei brachte die Serie von Meuchelmorden dem NS-Regime in politischer Hinsicht ausschließlich Verluste ein: Es gelang nicht, den Widerstand wirkungsvoll einzuhegen. Im Gegenteil, die Exekutionen beförderten eine weitere Eskalation und bestärkten den Widerstand noch einmal in der Entschlossenheit, an der Seite der Alliierten dem verbrecherischen Regime den Garaus zu machen.45 Trotz ihrer Dysfunktionalität wurde die Mordserie bis zum September 1944 fortgeführt. In gewisser Weise überflüssig wurde sie durch Hitlers Geheimerlass vom 30. Juli 1944. Hierin wurden Verbände und sogar jeder einzelne Angehörige von Wehrmacht, SS und Polizei ermächtigt, „Terroristen und Saboteure, die sie auf frischer Tat antreffen, sofort an Ort und Stelle niederzukämpfen“ – und das hieß in der Praxis: zu erschießen. Wer erst später ergriffen wurde, war der Sicherheitspolizei zu übergeben, von einem Gerichtsverfahren war an keiner Stelle des Führererlasses die Rede.46 Hitler brauchte sich gar nicht die Mühe zu machen, anzugeben, was mit den Opfern zu geschehen habe – die deutschen Soldaten und national­ 43 So lautete seine Drohung bei der Vereidigung von 1.200 Angehörigen des neu aufgestellten 3. Bataillons der Landwacht Niederlande in Weert (Provinz Limburg) am 1. August 1943 (Seyß-Inquart, Zur Vereidigung der Niederländischen Landwacht, 167). 44 Rauter zufolge zeigte sich Seyß-Inquart „entsetzt und erschüttert über die Haltung des Generalleutnants v[on] W[ühlisch]“ (Schreiben an Himmler vom 13. Januar 1944, in: In ’t Veld [Hrsg.], De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 498, 1278–1281, Zitat 1279). Wenig überraschend stärkte Himmler seinem HSSuPF den Rücken und erteilte ihm den Befehl, ohne irgendeine Rücksichtnahme auf Wühlisch „in schärfster Form Sühne- und Antiterrormassnahmen zu ergreifen.“ (Schreiben vom 25. Januar 1944, zit. nach: ebd., Dok. 501, 1283) 45 So auch Kooistra/Oosthoek, Recht op wraak, 25. 46 Der als „Geheime Kommandosache“ eingestufte Befehl ist abgedruckt in: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 344, 436 f.

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sozialistischen Sicherheitsorgane hatten mittlerweile reichlich Übung in der Liquidierung von vermeintlichen oder überführten Widerständlern, und selbst für eine Internierung in Gefängnissen, Kellern der Gestapo oder Konzentrationslagern verhieß Hitlers Erlass vom 30. Juli nichts Gutes im Hinblick auf die Behandlung der Betroffenen. Der Führererlass bedeutete somit die Suspendierung der Justiz, nicht einmal das nationalsozialistische Gerichtswesen war fortan für die Repression von Resistenz erforderlich. Damit war, wie Henk Neuman zu Recht anmerkt, „auch der letzte, äußerliche Schein eines Rechtsschutzes für die Staatsbürger preisgegeben.“47 Nach dem Krieg hat Seyß-Inquart zwar die Behauptung aufgestellt, dass dieser Führerbefehl vier bis sechs Wochen lang in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ ausgesetzt geblieben sei, denn er selber und Rauter hätten „dessen schädliche Auswirkung speziell in den Niederlanden klar erkannt“ und auf die Einbeziehung eines „Gerichtsoffiziers“ gedrängt; erst nach einer scharfen Rüge von Himmler sei Hitlers Geheimerlass auch in den Niederlanden zur Anwendung gekommen.48 Seyß-Inquarts Behauptung, er habe sich in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ gemeinsam mit dem Höheren SS- und Polizeiführer einem Führerbefehl widersetzt, hat aber mindestens zwei Makel. Sie ist nicht zu belegen, und sie ist nicht überzeugend mit der Fortführung der Silbertannen-Morde bis zum September in Einklang zu bringen. Außerdem steht sie in einem Spannungsverhältnis zu dem „dienstlichen Befehl“, in dem Rauter am 27. Juli 1944 die Ordnungs- und Sicherheitspolizei sowie die Landwacht Niederlande ermächtigte, bewaffnete „Terroristen und Saboteure“ „unverzüglich im Kampf niederzumachen“.49 Dass Rauter eine derart schwerwiegende Generalermächtigung, die den Führerbefehl vom 30. Juli bis in die Wortwahl hinein antizipierte, ohne Wissen und Rückendeckung des Reichskommissars erteilt haben könnte, ist schwer vorstellbar. Jedenfalls hat Seyß-Inquart an keiner Stelle gegen die Praxis, die der Generalkommissar für das Sicherheitsweisen schon drei Tage vor Hitlers Geheimerlass für die Niederlande sanktioniert hatte, Stellung bezogen und damit entgegen seiner Nachkriegsbehauptung die Radikalisierung und Brutalisierung geduldet, die Rauter in Übereinstimmung mit Hitlers Vorgaben für den Kampf gegen Widerstand und Widersetzlichkeit in der letzten Besatzungsphase einleitete. Mit der Landung der Alliierten in der Normandie verlor die Geiselpolitik fast jede Bedeutung für die Besatzungsmacht. Wie die bisherige Erfahrung gezeigt hatte, waren weder Geiselnahmen noch Geiselhinrichtungen in der Lage gewesen, den Widerstand einzudämmen oder gar zu unterbinden. Gleichzeitig rückte die Abwehr des militärischen Vormarschs in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 in den Vordergrund der deutschen Politik, und die Verhängung des Ausnahmezustands eröffnete der Besatzungsmacht die Möglichkeit, ohne viel Federlesens und frei von Hemmungen gegen jegliche Form von Verhalten vorzugehen, das man als ‚deutschfeindlich‘ interpretierte. Unter diesen Bedingungen wurde das Moment der Prävention, das früher Teil der Geiselpolitik gewesen war, geradezu überflüssig. Wenn 47 Neuman, Arthur Seyss-Inquart, 224. 48 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 707 und handschriftliche Notiz Seyß-Inquarts für Steinbauer vom 19. Juli 1946, ÖGZ-A, DO 713, Mappe 326. Ähnlich argumentierte Rauter 1948 in seinem Prozess vor dem Den Haager Sondergerichtshof: RIOD (Hrsg.), Het Proces Rauter, 152 ff. 49 Zit. nach: RIOD (Hrsg.), Het Proces Rauter, 153.

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es in der letzten Phase der Besatzungszeit zu Kollektivstrafen kam, in deren Gefolge Geiseln genommen wurden, ging es ausschließlich um Vergeltung. In besonders drastischer Weise war dies der Fall, als ein ganzes Dorf dafür büßen musste, dass in der Nacht vom 6. auf den 7. März 1945 niemand Geringerer als Rauter bei einem Anschlag auf sein Auto schwer verletzt und ein begleitender Offizier sowie der Fahrer getötet worden waren. Dieser Anschlag bei Woeste Hoeve auf der Reichsstraße zwischen Arnheim und Apeldoorn war von einer Einheit der ‚Inländischen Streitkräfte‘ durchgeführt worden, einem Zusammenschluss von niederländischen Widerstandsgruppen unter dem Oberbefehl von Prinz Bernhard und dem Kommando von Oberst Henri Koot.50 Es lässt sich im Nachhinein nicht entscheiden, ob den Attentätern zu dem Zeitpunkt bewusst war, dass der verhasste Höhere SS- und Polizeiführer in dem BMW saß; vermutlich war es reiner Zufall, dass der höchste Vertreter Himmlers in den Niederlanden und Seyß-Inquarts Generalkommissar für das Sicherheitswesen Opfer des Anschlags geworden war. Dies wiederum war auf deutscher Seite nicht bekannt, und selbst wenn es bekannt gewesen wäre, hätte es vermutlich keinen Einfluss auf die Repressalien gehabt, mit denen die Besatzungsmacht auf das Attentat bei Woeste Hoeve reagierte. In den Fernschreiben, die Seyß-Inquart und Himmler unmittelbar nach dem Vorfall wechselten, war zwar zunächst nicht von Vergeltungsmaßnahmen die Rede. Der Reichsführer-SS bat den Reichskommissar lediglich, alles zu veranlassen, was zu Rauters Genesung beitragen könne, und ihm seine Grüße auszurichten.51 Bei solch harmlosem Geplänkel blieb es freilich nicht. Das Gemetzel, mit dem Himmler im Juni 1942 auf die Ermordung seines damaligen Vertreters in Prag reagiert hatte, ließ nun auch in den Niederlanden eine Art von ‚Heydrichiade‘ Wirklichkeit werden: 263 Personen, die nichts mit dem Anschlag zu tun hatten und aus anderen Gründen in Konzentrationslagern oder Gefängnissen interniert waren, wurden an verschiedenen Orten der noch besetzten Teile des Landes als Vergeltung für den Anschlag bei Woeste Hoeve, den Rauter übrigens schwerverletzt überlebte, erschossen; allein am Ort des Geschehens wurden in aller Eile 117 Menschen umgebracht. In mancherlei Hinsicht wich diese monströse Vergeltungsaktion von früheren Formen der Bekämpfung von Widerstand ab: 1) Das Regime stellte den Attentätern kein Ultimatum, sondern ging ohne Vorwarnung zu Massenhinrichtungen von unbeteiligten Personen über. Man legte diesmal sogar Wert darauf, die Aktion geheim zu halten und auf die abschreckende Wirkung von Exekutionen zu verzichten – vermutlich wollte das Reichskommissariat in der Agoniephase der nationalsozialistischen Besatzung nicht publik machen, dass der deutsche Machtapparat nicht in der Lage gewesen war, ausgerechnet den für Sicherheit zuständigen Generalkommissar zu schützen.52 2) Es fand keine zielgerichtete Verfolgung von 50 Zum Attentat auf Rauter siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 439–446 sowie Schuurmann, Spoor naar Woeste Hoeve. Zu den Binnenlandse Strijdkrachten vgl. Moore, Niederlande, 117, zu Koot den Artikel von Karl de Leeuw im Biografisch Woordenboek van Nederland. 51 Siehe Fernschreiben Seyß-Inquarts an Himmler vom 7. und dessen Antworttelegramm vom 8. März 1945, BArch, NS 19/3167, Bl. 6 f. 52 Trotzdem wusste die Untergrundpresse bereits am 9. März über das Attentat und die Massenhinrichtungen zu berichten. Siehe die Ausgaben von VN-Nieuws. Speciaal Bulletin van Vrij Nederland und Nieuwsbulletin van „Klein maar dapper“, NIOD, Coll. 556, Kart. 92 bzw. 26.

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Tätern und Widerstandsgruppen mehr statt; ohne Interesse an einer Aufklärung des Attentats schritt man zu wahllosen Exekutionen. 3) Es wurden keine neuen Geiseln genommen, sondern man griff auf Niederländer zurück, die vorher bereits aus anderen Gründen inhaftiert worden waren. Dabei wurden etliche, zum Teil minderjährige Personen erschossen, die wegen behaupteter oder auch nachgewiesener Vergehen wie Plünderung oder Missachtung der Ausgangssperre in Haft genommen waren. Welche Verantwortung Seyß-Inquart hierfür trug, war nach dem Krieg umstritten.53 Er selber behauptete vor dem Nürnberger Gericht, Himmler habe die Erschießung von 500 Geiseln gefordert, und er habe Schöngarth, der nun Rauters Stellvertretung übernahm, nicht daran hindern können, den Befehl des Reichsführers-SS auszuführen, „denn wir mußten mit allen Mitteln die Widerstandsbewegung niederhalten.“54 Die Zahl der tatsächlich hingerichteten Niederländer lag zwar deutlich niedriger. Entscheidend aber ist, dass Seyß-Inquart sich im Juni 1946 geradezu als einen Unbeteiligten darstellte, der den SS-Apparat ohne eigene Einflussmöglichkeiten in einer Angelegenheit habe gewähren lassen müssen, die ausschließlich die SS etwas angegangen sei. Auch Wimmer schob alle Verantwortung auf Himmler. Er hielt Seyß-Inquart sogar zugute, dass die Anzahl der Hingerichteten weit unter 500 Menschen lag – habe doch der Reichskommissar Himmler über Schöngarth bitten lassen, „von einer so hohen Zahl von Erschießungen Abstand zu nehmen.“ Daraufhin – so ergänzte Wimmer vor dem Internationalen Militärgerichtshof – habe Himmler sich bereit erklärt, die Zahl zu reduzieren, und deshalb könne man „mit Fug und Recht sagen […], daß der Reichskommissar in diesem Falle einigen Hunderten Niederländern das Leben gerettet hat.“55 Mit dieser Darstellung widersprachen Seyß-Inquart und Wimmer Schöngarth. Der frühere Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD hatte zuvor zu Protokoll gegeben, der Reichskommissar habe ihm damals den Befehl erteilt, „die Vergeltungsmaßnahmen zu verschärfen durch Hinrichtung von 200 zum Tode verurteilten Gefangenen am Orte der Missetat. Diese Hinrichtung solle eine abschreckende Wirkung auf die Bevölkerung haben.“56 Statt Himmler schob Schöngarth die Verantwortung also Seyß-Inquart zu, anstelle von 500 Personen war bei ihm von 200 die Rede. Welche der Darstellungen zutrifft, kann mangels neutraler, zuverlässiger Quellen nicht geklärt werden. Immerhin ist davon auszugehen, dass Himmler und Seyß-Inquart sich nach dem Anschlag nicht nur über Rauters Gesundheitszustand ausgetauscht haben, sondern sich über eine nachdrückliche ‚Antwort‘ auf diese Herausforderung verständigt haben. Und dass sich der Reichskommissar in solch eine blutrünstige Aktion nicht eingeschaltet haben soll,

53 Siehe hierzu auch Cohen, De verantwoordelijkheid voor de repressailes. 54 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 712 f.; ähnlich Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 32. In demselben Sinn fasste er im August 1946 ebenso kryptisch wie drastisch zusammen: „Die Kugel trifft den, der im Gefahrenraum wirksam ist.“ (Schlussausfuehrungen, Bl. 61) 55 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 210 f. Ähnlich Schöngarths eidesstattliche Erklärung vom 20. Juni 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 677, Mappe 149. 56 Zit. aus einer der Erklärungen Schöngarths nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 64. Zu dessen Erklärungen vom März und April 1946 vgl. Cohen, De verantwoordelijkheid voor de repressailes, 258 f.

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wäre völlig unvereinbar mit seinem Bestreben, bis in die allerletzten Kriegstage auf allen Politikfeldern federführend zu sein.57 Auch wenn die Entscheidungsprozesse, die im März 1945 zu den Massenexekutionen nach dem Attentat auf Rauter führten, ungeklärt bleiben, steht außer Frage, dass das Reichskommissariat unter Arthur Seyß-Inquart für die Geiselpolitik verantwortlich zeichnete, und zwar in der gesamten Besatzungszeit. Die These von Saskia Jansens, der grundsätzliche Beschluss zur Geiselpolitik gehe auf die Wehrmacht zurück, greift deshalb zu kurz.58 Es trifft zwar zu, dass Keitels erwähnter Erlass vom 16. September 1941 die Schleusen für eine aggressive Geiselpolitik in den deutsch besetzten Gebieten geöffnet hat. Im Unterschied zu den Militärverwaltungen etwa in Belgien und Nordfrankreich oder im besetzten Teil Frankreichs war es in den Niederlanden aber der Reichskommissar, der über Geiselnahmen oder -erschießungen entschied – und hierzu am 26. September 1941 von Hitler eine Generalermächtigung erhielt. Wie in allen anderen Fragen war Wehrmachtbefehlshaber Christiansen auch auf diesem Gebiet gehalten, entsprechende Maßnahmen bei Seyß-Inquart zu beantragen, eine eigenständige Geiselpolitik stand dem Wehrmachtbefehlshaber im System der Zivilverwaltung nicht zu. Immerhin hat Christiansen den Anstoß zur ersten Hinrichtung von Geiseln auf niederländischem Boden gegeben. Doch der oben skizzierte Prozess der Beschlussfassung im Zusammenhang mit der Hinrichtung der fünf Geiseln aus Rotterdam vom 15. August 1942 hat gezeigt, dass letztlich Seyß-Inquart die Entscheidung über Leben und Tod der Geiseln oblag. Und in die zweite Exekution niederländischer Geiseln war der Wehrmachtbefehlshaber gar nicht involviert; die Exekution vom 16. Oktober 1942 war von vornherein eine Angelegenheit des Generalkommissariats für das Sicherheitswesen. Das Vorstehende falsifiziert auch Seyß-Inquarts Nachkriegsbehauptung, dass er selber, Christiansen und Rauter gegen Geisel­ erschießungen gewesen seien und nur auf höheren Befehl hin Geiseln hingerichtet hätten.59 Noch weniger treffen seine Aussagen zu, unter seiner Ägide sei nicht eine einzige Geisel aus Sint-Michielsgestel hingerichtet worden, und bei dem Lager habe es sich um nichts anderes als um „eine Art Schutzhaft“ gehandelt, mit deren Hilfe Geiseln „vorübergehend aus ihrer antideutschen Betätigung“ ausgeschaltet werden sollten.60 Die Geiselnahmen und -exekutionen waren vielmehr Instrumente, die unter Seyß-Inquarts Verantwortung zielbewusst eingesetzt wurden, um den Widerstand in den besetzten Niederlanden in einer Mischung aus Prävention und Repression zu bekämpfen.

57 Siehe hierzu unten, Kap. 14. 58 Jansens, „Hitlers Herrengefängnis“, 152 f. 59 Affidavit Seyß-Inquarts vom 25. August 1946, NA, FO 1019/44. 60 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 37 und seine Ausführungen in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 710. Ähnlich seine undatierte handschriftliche Notiz für Steinbauer in: ÖGZ-A, NL-61, DO 677, Mappe 149. In einer weiteren handschriftlichen Notiz für seinen Anwalt beteuerte er: „[…] ich hatte mit Geiselerschießungen nichts zu tun, auch nicht in eventu!“, und im Hinblick auf die Formulierung des Schlussplädoyers insistierte er: „Wir müssen besonders betonen, daß Michelgestell [sic] kein Geisellager [,] sondern eine Sicherungsverwahrung war.“ (ebd., DO 715, Mappe 338, datiert vom 10. Juli 1946; Hervorhebung im Original)

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10.2 Die ‚indonesischen‘ Geiseln

Eine besondere Geiselgruppe stellen die sogenannten ‚indonesischen‘ Geiseln dar; in den Niederlanden waren sie die ersten Opfer der deutschen Geiselpolitik.61 Hierbei handelte es sich um niederländische Staatsbürger, deren Internierung im Zusammenhang mit der Kolonie Niederländisch-Ostindien stand. Mit ihrer Festnahme reagierte das NS-Regime darauf, dass die niederländische Kolonialverwaltung unter dem Generalgouverneur, Junker Alidius W. L. T. van Starkenborgh Stachouwer, in Absprache mit der Regierung des Mutterlandes nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Niederlande in einer gut vorbereiteten und koordinierten Operation nicht nur die Mitglieder der NSB und Sympathisanten faschistischer Ideologie anderer Länder gefangen genommen hatte. Betroffen waren auch die etwa 2.800 männlichen Deutschen ab 17 Jahren unter Einschluss des Personals der Konsularabteilung in Batavia sowie der Besatzungen von 19 deutschen Schiffen, die dort vor Anker lagen. Mit der Festnahme von Personen, die man als politisch unzuverlässig oder gefährlich einstufte, und mit der Beschlagnahme ihres Vermögens hatte man verhindern wollen, dass deutsche und niederländische Nationalsozialisten als ‚Fünfte Kolonne‘ den indonesischen Archipel – möglicherweise mit Unterstützung oder zugunsten der Achsenmacht Japan – dem Nationalsozialismus ausliefern würden. Durch die Beschlagnahme von deutschen und von zwei dänischen Schiffen hatte man sich nebenbei zusätzlichen Schiffsraum von 122.000 Tonnen gesichert. Bald nachdem die Aktion in Deutschland bekannt worden war, setzte der Gegenschlag ein. Die Initiative ging vom Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Leiter der Auslandsorganisation der NSDAP aus. Gauleiter Bohle unterbreitete Ribbentrop am 20. Mai 1940 den Vorschlag, als Revanche niederländische Bürger zu verhaften.62 Mit Zustimmung des deutschen Außenministers besprach Bohle Anfang Juni mit dem frisch installierten Reichskommissar Seyß-Inquart eine Vergeltungsaktion. Daraufhin wurden am 19. und 20. Juli in den besetzten Niederlanden die ersten 232 Geiseln genommen, mit denen die Freilassung der Deutschen in Niederländisch-Ostindien erpresst werden sollte. Dies geschah, wie in der Wilhelmstraße betont wurde, auf Anordnung Hitlers.63 Dem Auswärtigen Amt reichte die Zahl nicht, hier drängte man auf die Festnahme von weiteren Geiseln. In der Wilhelmstraße dachte 61 Zum Folgenden siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 11a/1, 456–462 und 531–545, zusammenfassend Koop, In Hitlers Hand, 211 f. 62 Vgl. Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 88 f. Dass die deutsche Reichsregierung schon Ende Mai 950 Niederländer festgenommen habe, war ein Gerücht, dem der Generalsekretär für Auswärtige Angelegenheiten Snouck Hurgronje aufgesessen ist. Siehe seinen Brief an Tenkink vom 24. Juli 1940 in: Manning/Kersten (Bearb.), Documenten betreffende de Buitenlandse politiek van Nederland, Periode C, Bd. 1, Dok. 203, 224. 63 Vgl. Legationsrat Heinz Gossmann an Legationssekretär Werner Picot (beide Auswärtiges Amt) vom 12. Juli 1940 und Aufzeichnung Bohles für Rudolf Heß vom 7. August 1940, IfZ, IMG-Dok. NG-2350. Die Namen der Geiseln sind auf den beiden Listen zusammengestellt, die Heydrich am 20. Juli 1940 Ribbentrop schickte (IfZ, IMG-Dok. NO-481). Siehe auch die Aufzeichnung von Gossmann vom 6. August 1940 (IfZ, IMG-Dok. NG-2350). De Jong gibt die Zahl von 231 Personen an, davon 15 Frauen (Het Koninkrijk, Bd. 8/1, 166).

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man zeitweilig an 30.000 Niederländer64 – eine ungeheuerliche Zahl, die völlig im Gegensatz zu Seyß-Inquarts ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ gestanden hätte. Immerhin zeigte der Reichskommissar bei einem Gespräch mit Ribbentrop in Berlin im Sommer 1940 zunächst Bereitschaft, bis zu 3.000 Niederländer als Geiseln gefangen zu nehmen – vorzugsweise Personen, „deren Internierung hier aus man[n]igfachen Gründen wünschenswert erscheint.“ Bene zufolge unterstrich er aber, dass dies nach und nach zu geschehen habe, eine schlagartige Verhaftung „würde nicht empfehlenswert sein wegen der Rückwirkung, die es auf die von dem Herrn Reichskommissar zu befolgende Politik haben würde.“65 Nach seiner Rückkehr nach Den Haag ruderte Seyß-Inquart noch mehr zurück und wandte sich dagegen, führende niederländische Beamte oder Verwandte von Generalgouverneur Starkenborgh Stachouwer in Geiselhaft zu nehmen.66 Nicht zu Unrecht befürchtete er bei einer Eskalation der Geiselpolitik negative Auswirkungen auf seine Gesamtpolitik, und dies in einer Frage, zu deren Lösung der Schlüssel nicht ausschließlich auf deutscher Seite, sondern zu einem großen Teil in den Händen von Starkenborgh Stachouwer lag. Bohle, der sich offenbar seine Sporen als treibende Kraft außenpolitischer Radikalisierung verdienen wollte, forderte zwar weiterhin „scharfe Repressalien“.67 Damit konnte er sich aber nicht gegen den Reichskommissar durchsetzen. Dessen zurückhaltende Politik blieb maßgebend. So wurden in einer zweiten Verhaftungswelle am 7. Oktober 1940 nicht 3.000 und am allerwenigsten 30.000, sondern 116 Niederländer festgenommen. Die männlichen Geiseln wurden in separaten Baracken im Konzentrationslager Buchenwald untergebracht, die Frauen im KZ Ravensbrück. Die erste Gruppe der ‚indonesischen‘ Geiseln, die im Juli verhaftet worden war, bestand aus einigen Mitarbeitern des königlichen Hofes sowie aus niederländischen Staatsbürgern, die in Niederländisch-Ostindien lebten, sich zu diesem Zeitpunkt aber auf Urlaub in den Niederlanden aufhielten. Die zweite, im Oktober festgenommene Gruppe hingegen setzte sich aus prominenten Niederländern zusammen, die nicht in einer unmittelbaren Beziehung zur Kolonie oder zum Königshaus standen. Im Vergleich zu anderen Insassen der Lager von Buchenwald und Ravensbrück genossen die Geiseln aus den Niederlanden einige ‚Privilegien‘: Das Wachpersonal durfte sie nicht misshandeln, sie brauchten nicht zu arbeiten und konnten Pakete empfangen. Außerdem hatten das Internationale Rote Kreuz und die Schwedische Gesandtschaft in Berlin, die die Interessen der Niederländer in Deutschland vertrat, das Recht, den Teil des Lagers zu inspizieren, in dem die ‚indonesischen‘ Geiseln untergebracht waren.68 Trotz dieser relativen Erleichterungen stellte die Internierung für die Betroffenen und ihre Angehörigen natürlich eine ungeheure Belastung und Bedrohung dar. Für sie wird nicht nachvollziehbar gewesen sein, wenn Seyß-Inquart die Geiselhaft mit den „unwürdigen und außerordentlich ungesunden Bedingungen“ zu begründen versuchte, unter denen die Deutschen in Niederländisch-Ostindien interniert 64 Jacobsen/Smith, The Nazi Party and the German Foreign Office, 143 ohne Datumsangaben. 65 Bene an Bohle vom 22. Juli 1940, IfZ, IMG-Dok. NG-2350. 66 Mitteilung von Gossmann an das Büro des Reichsaußenministers vom 30. Juli 1940, ebd. 67 Aufzeichnung Bohles für Heß vom 7. August 1940, ebd. 68 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 8/1, 166-168.

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seien. Diese Bedingungen stünden „in krassem Widerspruch zu der loyalen und großzügigen Behandlung, welche von der Besatzungsmacht gegenüber dem niederländischen Volk angewandt wird.“ Zu seinem „Bedauern“ müssten die niederländischen Geiseln solange in Haft bleiben, bis der „für das deutsche Ehrempfinden unerträgliche Zustand“ durch die Freilassung der damals noch etwa 2.500 Deutschen aus den Lagern in Niederländisch-Ostindien abgestellt sei.69 Trotz der Entschiedenheit, die aus dieser propagandistisch verbogenen Sprachregelung hervorscheint, waren und blieben die ‚indonesischen‘ Geiseln für Seyß-Inquart ein Problem, das er loswerden wollte. Als sich im Winter 1940/41 unter den niederländischen Geiseln in Buchenwald Todesfälle häuften, setzte er sich bei Heydrich dafür ein, diese Personengruppe in die Niederlande zu überstellen. Bei weiteren Sterbefällen befürchtete er „Retorsionsmassnahmen in Niederlaendisch-Indien“ und möglicherweise Unruhe unter der niederländischen Bevölkerung;70 beides konnte seiner Politik in Den Haag nicht förderlich sein. Da nun der Umgang mit dieser Geiselgruppe außenpolitische Implikationen besaß, mahnte er eine Entscheidung auf Reichsebene an. Das Reichskommissariat war seiner Meinung nach in dieser Angelegenheit nicht mehr als „ein ausführendes Organ“, lediglich in der Auswahl der Geiseln behielt sich Seyß-Inquart Einfluss vor, um sicherstellen zu können, dass „die politische Linie, die ich hier zu vertreten habe, und die wirtschaftliche Einsatzfähigkeit für die Reichswirtschaft“ durch Geiselnahmen niederländischer Bürger nicht gestört würden.71 Die Haltung auf Reichsebene aber war gespalten: Das Auswärtige Amt befürwortete die Abschiebung der ‚indonesischen‘ Geiseln in die Niederlande, „wo das Klima günstiger ist und die Möglichkeit einer besseren Versorgung der Internierten besteht“ – und damit die Überlebenschancen für die Betroffenen größer waren. Außerdem würde die Schwedische Gesandtschaft in Berlin nicht mehr als Schutzmacht für diese Geiseln auftreten und in diesem Zusammenhang das KZ Buchenwald betreten können, da sich ihre Zuständigkeit nur auf Niederländer bezog, die sich im Reichsgebiet aufhielten, nicht aber auf das Gebiet der besetzten Niederlande.72 Das Reichssicherheitshauptamt jedoch meldete gegen eine Verlegung der ‚indonesischen‘ Geiseln „aus sicherheitspolizeilichen Gründen stärkste Bedenken“ an. Hier war man allenfalls zu einer Verlegung in das „klimatisch günstiger gelegene Lager Dachau“ bereit.73 Sicherheitspolizeiliche Bedenken wiederum wollte Seyß-Inquart nicht gelten lassen. Erstens hatte er keinen 69 Seyß-Inquart an Th. C. A. Nass vom 8. Juli 1940, NIOD, 205j/5. Siehe auch NL-HaNA, 2.21.183.83/6, Dok. 90b. 70 Fernschreiben Nr. 3832 von Rauter an die Adjutantur des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD [Heydrich] vom 21. April 1941, NIOD, Coll. Doc. I, vorläufige Sign.: Aanwinst 1879. Jansens zufolge starben in Buchenwald insgesamt 14 der niederländischen Geiseln („Hitlers Herrengefängnis“, 151). 71 Seyß-Inquart an Lammers vom 2. September 1941, BArch, R 43 II/675a, Bl. 101. 72 Albrecht an Lammers vom 23. August 1941, IfZ, IMG-Dok. NG-1477. 73 Schreiben von Abteilung IV D 4 des RSHA vom 30. September 1941, BArch, R 43 II/675a, Bl. 107. In dem für die SS charakteristischen Zynismus hieß es ergänzend: „In Dachau besteht die Möglichkeit, den Geiseln eine gesunde Betätigung in dem dort angelegten grossen Heilkräutergarten zu bieten.“ Abteilung IV D 4 war innerhalb des Reichssicherheitshauptamts für die besetzten Gebiete in West- und Nordeuropa zuständig.

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Kapitel 10: Geiselpolitik und Bekämpfung von Widerstand

Zweifel, dass Rauter für eine entsprechende Sicherung sorgen konnte. Zweitens standen Fragen der Sicherheit für ihn sowieso in keinem angemessenen Verhältnis zu den politischen Gefahren, die ein Verbleib der ‚indonesischen‘ Geiseln im Reich für seine Gesamtpolitik in den Niederlanden bedeuteten. Deshalb drängte er im Oktober 1941 angesichts des herannahenden Winters zur Eile, und nicht ohne gereizten Unterton ersuchte er Lammers, bei Ribbentrop und notfalls bei Hitler eine Entscheidung einzuholen; fühlbar wollte er die leidige Frage abhaken.74 Daraufhin kam tatsächlich Bewegung in die Angelegenheit: Ribbentrop setzte sich mit Himmler in Verbindung, und schon wenige Tage später sah sich das Reichssicherheitshauptamt zu der Mitteilung gezwungen, dass der Reichsführer-SS „unter Zurückstellung der bestehenden sicherheitspolizeilichen Bedenken“ im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt entschieden habe, die ‚indonesischen‘ Geiseln in die Niederlande zu transferieren.75 Kurz darauf fand die Verlegung statt: Mitte November wurde die mittlerweile dezimierte Gruppe der ‚indonesischen‘ Geiseln nach Haaren überstellt.76 Im Mai 1942 wurden sie nach Sint-Michielsgestel verlegt, wo in einem getrennten Bereich auch jene Geiseln untergebracht wurden, die das Regime im selben Zeitraum – wie oben dargestellt – im Zusammenhang mit Sabotageakten des Widerstands zu internieren begann. Die Überstellung von Haaren nach Sint-Michielsgestel nahm Seyß-Inquart zum Anlass, auf Reichsebene die Freilassung der ‚indonesischen‘ Geiseln anzuregen. Denn er legte Wert darauf, im Zuge der Bekämpfung des Widerstands „andere [,] gewichtigere Niederländer“ in Geiselhaft zu nehmen, und hierfür benötigte er in Sint-Michielsgestel ausreichend Platz.77 Für ihn rangierte in der Geiselpolitik die Bekämpfung des Widerstands an erster Stelle. Sie betraf sein ‚Herrschaftsgebiet‘ unmittelbar, während die ‚indonesischen‘ Geiseln primär im Interessengebiet des Auswärtigen Amtes lagen und für die Verwaltung der Niederlande keine große Bedeutung hatten – erst recht, nachdem Japan in der Zwischenzeit Niederländisch-Ostindien erobert hatte. Bei einer Besprechung in Berlin in der ersten Augustwoche des Jahres 1942 kam Seyß-Inquart denn auch mit Bohle überein, die verbliebenen ‚indonesischen‘ Geiseln unter der Voraussetzung zu entlassen, dass die Geiseln, die im Mai und Juli dieses Jahres im Zuge der Bekämpfung des Widerstands genommen wurden, „stillschweigend auch als Geiseln für die in niederländischen Kolonien internierten Reichsdeutschen gelten“ und solange in Haft bleiben sollten, bis die Deutschen freigelassen seien.78 Trotz dieser Übereinkunft blieben die ‚indonesischen‘ Geiseln weiterhin in Haft. 1944 wurden sie zusammen mit anderen Geiseln ins Konzentrationslager Herzogenbusch transportiert. Freigelassen wurden sie erst am 16. September 1944 – zu einem Zeit-

74 75 76 77

Fernschreiben Seyß-Inquarts an Lammers vom 20. Oktober 1941, ebd., Bl. 113. Abt. IV D 4 des RSHA an Lammers vom 30. Oktober 1941, ebd., Bl. 107. Zum Folgenden siehe auch Jansens, „Hitlers Herrengefängnis“, 151–155. Fernschreiben Otto Benes ans Auswärtige Amt vom 8. Juni 1942, PA AA, R 29678. Siehe auch sein Fernschreiben Nr. 124 ans Auswärtige Amt vom 21. April 1942, ebd. 78 Fernschreiben Otto Benes ans Auswärtige Amt vom 8. August 1942, ebd. Wie schon in seinem Fernschreiben vom 8. Juni unterstützte Bene Seyß-Inquarts Forderung nach Freilassung der ‚indonesischen‘ Geiseln, „da dadurch Zahl und Qualität der Geiseln verbessert und ein Wunsch des Reichskommissars erfüllt würde.“

10.3 Internierung und Freilassung von Johan Huizinga

407

punkt, an dem sich das NS-Regime angesichts des Vormarschs der Alliierten vor ganz andere Probleme gestellt sah, zu deren Lösung die ‚indonesischen‘ Geiseln nicht eingesetzt werden konnten.79 10.3 Internierung und Freilassung von Johan Huizinga

Ein besonders gut dokumentierter Einzelfall unter den niederländischen Geiseln war der international renommierte Kulturhistoriker Dr. Johan Huizinga.80 Schon in den Dreißigerjahren hatte sich der Professor und zeitweilige Rektor der Universität Leiden gegen den Faschismus gewandt und sich öffentlich für die westliche Demokratie und ihre Werte ausgesprochen. Deshalb wurden seine Schriften im Dritten Reich 1936 auf die Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums gesetzt, auch wenn das Regime nicht so weit ging, ein generelles Verbot seiner Bücher zu verhängen. Auch nach dem Westfeldzug machte sich Huizinga beim NS-Regime unbeliebt: Er bezog gegen die Judenverfolgung und gegen die Einmischung der Besatzungsbehörden in die universitäre Verwaltung Stellung. Ein deutliches antideutsches Signal war, dass er am 29. April 1942 von seiner Professur zurücktrat und sein Amt in der niederländischen Akademie der Wissenschaften niederlegte. Wie zahlreiche seiner Kollegen protestierte er mit diesem Schritt dagegen, dass die Deutschen den Professor für Staats- und Verwaltungsrecht und früheren Parlamentarier Dr. Roelof Kranenburg mit der Begründung entlassen hatten, er habe dem von der Besatzungsmacht eingeführten nationalsozialistischen Recht nicht gebührende Aufmerksamkeit gewidmet. Zusammen mit Kranenburg wurde Huizinga am 7. August 1942 verhaftet und nach Sint-Michielsgestel verbracht. Kurz darauf setzten sich mehrere prominente Persönlichkeiten aus den Niederlanden und dem Ausland für die Freilassung Huizingas ein. Dazu gehörten der Generalsekretär und Germanistikprofessor Van Dam sowie der ehemalige schwedische Ministerpräsident Hjalmar Hammarskjöld. Auch der großdeutsch eingestellte Historiker Prof. Dr. Heinrich von Srbik, den Seyß-Inquart 1938 in das Amt des Präsidenten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eingeführt hatte, wandte sich Mitte August 1942 zweimal brieflich an Seyß-Inquart.81 Ob er dies aus eigener Initiative tat, ob er die – zumindest informelle – Rü79 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 8/1, 164 f. 80 Zum Folgenden siehe Strupp, Johan Huizinga, 40 f. und Van der Lem, Johan Huizinga, 269 ff. Ohne eigenständige Quellenrecherchen und neue Forschungsergebnisse zu diesem Aspekt bleibt Krumm, Johan Huizinga, 237 f. Pesditschek weist darauf hin, dass Interventionen von NSDAP-Mitgliedern für einzelne vom Regime Verfolgte alles andere als unüblich waren und die Verwendung zugunsten Huizingas für Srbik mit keinem persönlichen Risiko verbunden war (Heinrich [Ritter von] Srbik, 310). 81 Zu Ernennung und Einsetzung Srbiks in das Amt des Präsidenten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vgl. ÖStA/AdR, BKA, Präsidium, Korrespondenz 1924–1940 und das Manuskript von Seyß-Inquarts Ansprache in BArch, N 1180/62. Nach dem Krieg nahm Seyß-Inquart für sich in Anspruch, Srbik habe den Sitz im Großdeutschen Reichstag ihm zu verdanken gehabt (eidesstattliche Erkärung vom 11. April 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 714, Mappe 337, Bl. 30). Srbiks Briefe an Seyß-Inquart vom 13. und 18. August 1942 sind verschollen. Sie sind weder in der Edition seiner Briefe vorhanden (Von Srbik, Die wissenschaftliche Korrespondenz) noch in den Universitätsarchi-

408

Kapitel 10: Geiselpolitik und Bekämpfung von Widerstand

ckendeckung anderer österreichischer Wissenschaftler besaß, oder ob er gar offiziell von der Akademie zu Wien mit einer Intervention zugunsten ihres korrespondierenden Mitglieds Huizinga beauftragt wurde, lässt sich nicht klären. Bemerkenswert ist, dass die Angelegenheit in der Akademie der Wissenschaften erst aktenmäßig zur Kenntnis genommen wurde, als der niederländische Gelehrte bereits aus Sint-Michielsgestel entlassen worden war.82 Für Huizinga selber jedenfalls war Ritter von Srbik, der zusammen mit seiner Gattin Johanna im September des vorangegangenen Jahres Seyß-Inquart in Clingendael besucht hatte, der Einzige, dem er bald nach seiner Gefangennahme zutraute, seine Freilassung zu bewirken.83 Zunächst lehnte der Reichskommissar Srbiks Bitte ab, den niederländischen Gelehrten aus Sint-Michielsgestel zu entlassen. Er war der Meinung, „daß in der gegenwärtigen Situation ein Verzicht auf Huizinga als Geisel nicht gut möglich ist.“ Denn Huizinga werde „im niederländischen Raum so sehr als bedeutsamster und bewußter Exponent der westlichen und damit dem Reichsgedanken und dem Nationalsozialismus feindlich eingestellten Wissenschaft und Geisteshaltung empfunden, daß es uns als Unsicherheit oder gar Schwäche ausgelegt werden müßte, wenn er aus dem Geisellager wieder entlassen werden würde, während seine weniger bedeutenden Kollegen von der Universität Leiden wegen des gleichen demonstrativen Entlassungsgesuches verhaftet bleiben.“ An eine Entlassung sei erst zu denken, wenn sich Huizingas Gesundheitszustand so sehr verschlechtere, dass ein Verbleib in Geiselhaft gesundheitsschädigend erscheine. In diesem Sinn versprach er, man werde „ganz besonders sorgfältig“ auf Huizingas Gesundheitszustand achten.84 In diesem Sinn ordnete Seyß-Inquart Anfang September an, den Zustand des niederländischen Kulturhistorikers genau zu beobachten. Sehr wahrscheinlich befürchtete er, dass dessen Tod in Sint-Michielsgestel mehr als das Schicksal weniger bekannter Geiseln eine Vorlage für Kritik an seiner Amtsführung liefern könnte, und zwar nicht nur innerhalb der Niederlande, sondern auch im internationalen Rahmen. Deshalb gab er die Losung aus, „es dürfe unter keinen Umständen passieren, daß H[uizinga] im Lager stirbt.“85 Diese Befürchtung war nicht ohne Grund. Denn zwei niederländische Ärzte hatten der prominenten Geisel attestiert, auf Dauer nicht haft- und lagerfähig zu sein; es bestehe Lebensgefahr, wenn Huizinga nicht eine angemessene Pflege zuteil werde. Vor diesem Hintergrund

82 83 84 85

ven von Leiden und Wien oder im Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften überliefert (E-Mails von Dr. Anton van der Lem vom 8. März, Thomas Maisel vom 14. Mai und Dr. Stefan Sienell vom 20. Mai 2010). Auch in den Beständen von NIOD und Nationaal Archief findet sich keine Spur von den Briefen. Nach Auskunft des Enkels, Dr. Hans Heinrich von Srbik, ist nur die wissenschaftliche Korrespondenz erhalten geblieben, nicht jedoch das Gesuch um die Freilassung Huizingas (Brief vom 29. Juli 2010). Siehe das Protokoll vom 27. November 1942, AÖAW, A 974/264. Siehe Huizinga an seine zweite Ehefrau Auguste Huizinga-Schölvinck vom 12. August 1942, in: Huizinga. Briefwisseling, Bd. 3, 345. Der Besuch des Ehepaars Srbik in Clingendael ist dokumentiert im Gästebuch (RMA, NG-C-2006-1), Eintrag zum 30. September 1941. Seyß-Inquart an Srbik vom 2. September 1942, als Faksimile in: Feichtinger u. a. (Hrsg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien, 44. Ein von Wimmer konzipierter Entwurf befindet sich in NIOD, 20/768. So die Wiedergabe im Schreiben Rauters vom 9. September 1942, zit. nach: Strupp, Johan Huizinga, 42, Anm. 100.

10.3 Internierung und Freilassung von Johan Huizinga

409

und angesichts der Interventionen aus verschiedenen europäischen Ländern wurde Huizinga nach einem Spitalsaufenthalt Anfang Oktober aus der Geiselhaft entlassen – allerdings unter der Auflage, nicht nach Leiden zurückzukehren.86 Das Schicksal Huizingas war nicht typisch für die deutsche Geiselpolitik. Es führt aber besonders gut vor Augen, dass Seyß-Inquart flexibel (re-)agierte und Repressivmaßnahmen nach politischer Opportunität auszurichten verstand. Ähnlich wie bei den ‚indonesischen‘ Geiseln lag ihm auch hier daran, Geiselpolitik als ein Instrument einzusetzen, das auf Härte basierte, in Einzelfällen aber zurückgenommen wurde, wenn sich schädliche Auswirkungen auf seine Gesamtpolitik abzeichneten. Drohte eine Repressivmaßnahme zu einer Belastung zu werden, war er bereit, Geiseln freizulassen, ohne grundsätzlich auf Geiselnahmen und -hinrichtungen zu verzichten. Insgesamt fiel die deutsche Geiselpolitik in den besetzten Niederlanden weniger exzessiv aus als in den deutsch beherrschten Teilen von Frankreich und Belgien, ganz zu schweigen von den Praktiken, die von Anfang an in Osteuropa angewendet wurden. Und dass in den Niederlanden die Bekämpfung von Widerstand längere Zeit vergleichsweise zurückhaltend und moderat ausfiel, hing zum einen mit Seyß-Inquarts ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ zusammen, zum anderen mit der Tatsache, dass der Untergrund anfangs keine ernsthafte Bedrohung für die deutsche Herrschaft darstellte und erst nach mehreren Monaten zu einer Professionalisierung fand, die der Besatzungsverwaltung wie auch einheimischen Kollaborateuren gefährlich werden konnte. Fast durchgängig gab Seyß-Inquart kleinen, aber zielgerichteten Aktionen von Geiselnahmen, -hinrichtungen oder anderen Formen des Kampfes gegen den organisierten Widerstand den Vorzug gegenüber großflächig angelegten Revancheaktivitäten. Allmählich aber zog das Besatzungsregime auch in den Niederlanden die Zügel an, und in der letzten Kriegsphase wurden selbst die Normen, die nationalsozialistisches Recht aufgestellt hatte, in Anlehnung an entsprechende Vorgaben Hitlers über den Haufen geworfen. Der von Seyß-Inquart ausgerufene Ausnahmezustand führte dazu, dass weitgehend schrankenlose Repressionsmaßnahmen sein ‚Herrschaftsgebiet‘ einem Zustand annäherten, der in anderen deutsch beherrschten Gebieten schon seit langem Standard war.87

86 Nach seiner Freilassung ließ sich Huizinga in dem bei Arnheim gelegenen Dorf De Steeg nieder. Hier lebte er mit seiner Familie in einem Landhaus, das Rudolph Cleveringa vor dem Krieg hatte errichten lassen. In der ‚Verbannung‘ setzte er sich fundamental kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinander. In dem Buch Geschonden wereld [Geschändete Welt], dessen Vorwort auf den 28. September 1943 datiert ist, verurteilte Huizinga Antisemitismus und Krieg und warnte vor einer „Überschätzung des Begriffs Nationalität“. Außerdem griff er Hitler, „den Führer aller Germanen“, an. Abschließend sprach er sich explizit für Demokratie, Freiheit, Liberalismus und Humanismus als normative Grundlagen für einen Neuaufbau nach der Überwindung des NS-Systems und dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus und wies Religiosität eine Aufgabe bei der als notwendig erachteten geistigen und moralischen Neuorientierung zu (Geschonden wereld, Zitate 117 und 177). Die Befreiung erlebte Huizinga nicht mehr: Er verstarb in De Steeg am 1. Februar 1945. 87 Siehe hierzu unten, Kap. 14.

Kapitel 11:

Wirtschaftspolitik

Die Wirtschaftspolitik, die unter Seyß-Inquart und dem zuständigen Generalkommissar Hans Fischböck in den Niederlanden geführt worden ist, machte einen beachtlichen Teil der Verordnungstätigkeit der Besatzungsverwaltung aus.1 Abgesehen von der Tatsache, dass für den Reichskommissar das Streben nach Nazifizierung und Gleichschaltung auch für dieses Politikfeld maßgeblich war, kann die Wirtschaftspolitik allerdings nicht unter einem Begriff zusammengefasst werden. Denn für den Verlauf der fünf Besatzungsjahre lassen sich unterschiedliche Zielsetzungen und mannigfache Facetten ausmachen, die ihrerseits gravierende Auswirkungen auf zahlreiche andere Arbeitsfelder des Reichskommissars und seiner Behörde hatten: die ‚Verflechtung‘ von deutschen und niederländischen Unternehmen; die Instrumentalisierung von Land und Leuten für die Zwecke der Rüstungsproduktion und zur Sicherung des Lebensstandards im Großdeutschen Reich; die Arisierung jüdischen Eigentums und die Konfiszierung der Vermögenswerte von ‚Reichsfeinden‘ und Gegnern des NS-Systems; die Einführung von Arbeitsdienst und Zwangsarbeit usw. Dazu kommt, dass das Reichskommissariat in der Wirtschaftspolitik mindestens so stark in reichspolitische Kontexte eingebunden war wie auf anderen Tätigkeitsfeldern, in vielerlei Hinsichten von allgemeinen Zielen, konkreten Vorgaben und Verwaltungsabläufen von Reichszentralstellen abhängig war und mit Sonderverwaltungen und nichtstaatlichen Vertretern deutscher Wirtschaftsinteressen zu tun hatte.2 Wie noch zu zeigen sein wird, nahm die Einflussnahme von Seiten des Reiches im Verlauf der Besatzungszeit an Intensität sogar zu. 1

2

Hierauf wies Rabl zu Beginn des Jahres 1941 in der Deutschen Zeitung in den Niederlanden hin. Unter Ausblendung der realpolitischen Machtverhältnisse zwischen deutschen und niederländischen Behörden betonte der Leiter der Abteilung Rechtsetzung und Staatsrecht allerdings, dass das Reichskommissariat hier wie auf allen anderen Politikfeldern gemeinsam mit den einheimischen Generalsekretariaten Recht­ setzung praktiziere, weil es ihm darum gehe, „das niederländische Volk seinen Weg in die grossgermanisch-mitteleuropäische Zukunft soweit als irgend möglich selbst finden zu lassen.“ (Die Rechtssetzung des Reichskommissariats im Jahre 1940; Hervorhebung im Original). Allgemein zum „institutionellen System der wirtschaftlichen Ausbeutung“ siehe Eichholtz, Institutionen und Praxis der deutschen Wirtschaftspolitik, 35 ff. Eine detaillierte Untersuchung der deutschen Wirtschaftspolitik in den Niederlanden und der Entwicklung der dortigen Volkswirtschaft bietet Klemann, Nederland 1938–1948. Siehe auch die Zusammenfassungen in Klemanns Aufsätzen Die niederländische Wirtschaft von 1938 bis 1948 und Did the German Occupation (1940–1945) Ruin Dutch Industry?

412

Kapitel 11: Wirtschaftspolitik

11.1 Phasen und Zielsetzungen

Insgesamt gesehen lässt sich die Wirtschaftspolitik der deutschen Zivilverwaltung grob in drei Phasen unterteilen.3 In einer ersten Phase (1940/41) ging es darum, die niederländische Wirtschaft, für die Deutschland bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Handelspartner gewesen war, rigoros auf das Großdeutsche Reich und dessen ökonomische Bedürfnisse und Interessen hin auszurichten. Dabei war das Ziel vorherrschend, das besetzte Land unter deutscher Führung zu einer Integration in eine zu errichtende großgermanische Wirtschaftsgemeinschaft zu bewegen, ohne die Substanz der niederländischen Volkswirtschaft und den Lebensstandard der Bevölkerung nachhaltig zu schädigen. In einer zweiten Phase (1942 bis September 1944) trat eine forcierte Inanspruchnahme niederländischer Ressourcen in den Vordergrund. Beschlagnahmungen, Plünderungen und der Übergang von einem mehr oder weniger freiwilligen Arbeitsdienst zu Zwangsarbeit führten zu einer regelrechten staatlichen Ausbeutungspolitik von Land und Leuten. Außerdem wurden Unternehmen, deren Produkte nicht im Interesse der deutschen Kriegswirtschaft lagen, von Rohstofflieferungen abgeschnitten, stillgelegt oder aufgelöst. Zugleich wurde die Ausrichtung der niederländischen Produktion auf die Bedürfnisse des deutschen Marktes gesteigert: 1943 waren rund ein Drittel für den deutschen Markt bestimmt, ein Jahr später ging bereits die Hälfte der in den Niederlanden produzierten Güter nach Deutschland. Mit diesen Zahlen spielten die Niederlande für das Reich eine wichtige ökonomische Rolle: Gut neun Prozent aller deutschen Importe stammten aus den Niederlanden.4 Um trotz der verschlechterten militärischen Lage den angestrebten Endsieg zu erzwingen, wurde durch die Ausbeutungspolitik eine Schädigung der niederländischen Wirtschaft bewusst in Kauf genommen. In diesem Kontext nahm der Einfluss des Reiches auf die ökonomische Entwicklung der Niederlande zu; insbesondere die Zentralisierung der Kriegswirtschaft in Deutschland und allen besetzten Gebieten unter Speer sowie die gewaltsame Rekrutierung von Arbeitskräften unter Sauckel reduzierten strukturell den Einfluss des Reichskommissars und seiner Behörde auf die Steuerung des niederländischen Wirtschaftslebens. Im Mittelpunkt der dritten Phase (Herbst 1944 bis Mai 1945) standen die vorsätzliche Demontage und Zerstörung industrieller Kapazitäten, die Überschwemmung von Agrarflächen und der Hungerwinter, der für Wirtschaft und Gesellschaft eine katastrophale Dimension annahm. An die konsequente Verfolgung einer konzis formulierten Wirtschaftspolitik war nicht mehr zu denken. In dieser Periodisierung kommt eine Radikalisierung der deutschen Wirtschaftspolitik zum Ausdruck: Sie spiegelt den Wandel von einer scheinbar wohlwollenden, auf konstruktiver Kooperation mit den ‚germanischen‘ Niederlanden ausgerichteten Form der Wirtschaft zu einer brutalen Kommandowirtschaft wider, die am Ende in dem besetzten Land nichts anderes als ein Objekt rücksichtsloser Ausbeutung sah. Die Unterschiedlichkeit der Schwerpunkte in 3 4

Vgl. auch Kreutzmüller, Händler, 118–120. Ebd., 119.

11.1 Phasen und Zielsetzungen

413

den einzelnen Phasen lässt auch erkennen, dass die deutsche Wirtschaftspolitik in den Niederlanden in den fünf Jahren nach dem Westfeldzug nicht von der konsequenten Umsetzung eines Masterplans gekennzeichnet war. Schlagworte wie ‚Großraumwirtschaft‘ und ‚Neue Ordnung‘ wurden in NS-Kreisen zwar durchgängig als regulative Ideen gehandelt. Im Verlauf der Besatzungszeit aber sah man sich auf verschiedenen Feldern der Wirtschaftspolitik zu Anpassungen an die zunehmend schlechter werdende militärische und kriegswirtschaftliche Lage des Großdeutschen Reiches gezwungen. Mindestens ebenso leitend wie die Orientierung an ideologisch motivierten Konzepten wurden somit für die deutsche Wirtschaftspolitik Improvisation und die Bereitschaft, von einer prinzipiell entgegenkommenden Haltung zu radikaler Ausbeutungspolitik überzugehen. Es versteht sich von selbst, dass die Phaseneinteilung nicht mehr als einen idealtypischen Charakter hat. Sie schließt Überlappungen und konzeptionelle Kontinuitäten nicht aus. So war Seyß-Inquart auch in der zweiten Phase daran gelegen, die Leistungsfähigkeit der niederländischen Volkswirtschaft trotz hemmungsloser Eingriffe in die ökonomische Substanz des Landes so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. Umgekehrt war die erste Phase nicht frei von Maßnahmen, die die Niederlande zugunsten der deutschen Autarkiebestrebungen und der Priorität, die die Kriegswirtschaft für das Großdeutsche Reich besaß, schädigten. Und Raub und Plünderungen fanden in verschiedenen Formen in allen Phasen statt, in ihrem Ausmaß verbanden sie besonders die beiden letzten Phasen miteinander. Als heuristisches Instrument aber ist die Periodisierung notwendig, um die Komplexität der deutschen Wirtschaftspolitik zwischen 1940 und 1945 im zeitlichen Verlauf übersichtlich machen zu können. Sie erhält dadurch Plausibilität, dass sie mit der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts korrespondiert, wie sie der Rotterdamer Wirtschaftshistoriker Hein Klemann herausgearbeitet hat.5 Diese Koinzidenz legt den Schluss nahe, dass die ersten anderthalb Besatzungsjahre, in denen Zwangsmaßnahmen und Plünderungen weniger ausgeprägt waren als in den anderen beiden Phasen, für viele Branchen zwar Veränderungen mit sich brachten, aber noch keine desaströsen Folgen hatten, in mancherlei Hinsicht sogar zu einer Stimulierung von Nachfrage und Produktion führten. Demgegenüber ging das niederländische Bruttoinlandsprodukt zurück, als Beschlagnahmungen, Plünderungen und die Deportation von Hunderttausenden von Arbeitskräften zunahmen und die Entscheidungskompetenz in Wirtschaftsfragen immer mehr von Den Haag nach Berlin verlagert wurde. Die Entwicklungen der dritten Phase schließlich ließen das Bruttoinlandsprodukt selbst in jenen Branchen einbrechen, die sich bisher gut oder zumindest einigermaßen hatten halten können. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Entwicklungen ist zunächst nach den Zielsetzungen zu fragen, mit denen Seyß-Inquart seine Tätigkeit als Reichskommissar aufnahm. Im Unterschied zur Situation in den eroberten Gebieten Osteuropas ging es in den Niederlanden nicht von Anfang an um eine ausschließliche, großflächig angelegte und mit Brutalität und Nachdruck betriebene Ausbeutung von Industrie, Landwirtschaft und Humanressourcen zugunsten des Deutschen Reiches – hätten doch die ungezügelte Eroberung von ‚Lebensraum‘ und die Durchführung von „radikal-faschistischen Utopien der Reagrarisierung und 5

Vgl. Klemann, Nederland 1938–1948, 429–431.

414

Kapitel 11: Wirtschaftspolitik

Herrenrassenelite“6 das ideologisch motivierte Werben um die ‚germanische‘ Bevölkerung der Niederlande im Zuge von Seyß-Inquarts ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ konterkariert. Wie auf anderen Politikfeldern war auch die Wirtschaftspolitik anfangs von einer nach außen hin entgegenkommenden Haltung gegenüber der Bevölkerung getragen. Damit wollte Seyß-Inquart Hitlers Auftrag gerecht werden, die Niederlande wirtschaftlich so weit wie möglich an Deutschland zu binden und im Sinne einer gelenkten Selbstnazifizierung eine „politische Willensbildung“ derart zustande zu bringen, dass „die wirtschaftliche Bindung der Niederlande an das Reich als Ausfluß des Willens des niederländischen Volkes“ erschien.7 Ähnlich beschrieb Göring am 19. Juni 1940 die Zielsetzung der deutschen Wirtschaftspolitik: „Bezüglich Holland soll eine vorsichtige Politik betrieben werden. Es ist beabsichtigt, Holland selbständig zu lassen, es jedoch eng an das Reich anzuschliessen. Die Holländer sollen selbständig wirtschaften, jedoch soll der deutsche Einfluss auf wirtschaftlichem Gebiet mit allen Mitteln gestärkt werden.“8 Zu einer entgegenkommenden Haltung gehörte auch, dass Hitler Wert darauf legte, die Niederlande ebenso wie die anderen beiden ‚germanischen‘ Länder Norwegen und Dänemark im Hinblick auf die Versorgung mit Lebensmitteln „aus politischen Gründen besser zu behandeln“ als die Bewohner von Frankreich und Belgien.9 In diesem Sinn war die Wirtschaftspolitik des Reichskommissariats in der Anfangszeit insbesondere auf die folgenden Ziele gerichtet: – alle Bereiche des niederländischen Wirtschaftslebens trotz der Schäden, die die militärischen Operationen des Fünf-Tage-Kriegs verursacht hatten, möglichst rasch wiederherzustellen bzw. funktionstüchtig zu erhalten; – den Lebensstandard und die Ernährungslage der Bevölkerung des dichtbevölkerten Landes so weit wie möglich aufrechtzuerhalten; – die niederländische Wirtschaft, die seit Jahrhunderten zu einem großen Teil auf Freihandel und den Austausch mit Großbritannien, Übersee und seinen Kolonien orientiert gewesen war, auf die Bedürfnisse, aber auch auf den Absatzmarkt in Deutschland und den deutsch beherrschten Ländern hin auszurichten;10 6 Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 25. 7 So Seyß-Inquarts Darstellung für Hitler in seinem 1. Bericht, 413. Siehe auch Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration, 22 f. 8 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 27, Dok. PS-1155, 30. 9 So Göring auf der Sitzung vom 7. Oktober 1940 „über die wirtschaftliche Ausnutzung der besetzten Gebiete“, zit. nach dem Protokoll von Dr. Bergmann in: NIOD, 14/232. Laut handschriftlicher Notiz wurde Seyß-Inquart am 21. Oktober über den Inhalt der Besprechung informiert. 10 In Seyß-Inquarts Worten ging es darum, „aus einem Freihandelsland liberalster Prägung, aus einem nach Übersee blickenden Wirtschaftsgebiet […] ein Land mit gelenkter Wirtschaft“ zu machen, „das sich der Kontinentalwirtschaft eingliedern soll.“ (Seyß-Inquart, Wie steht es in den Niederlanden? Ähnlich Ders., Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [19. Mai 1943], 140) Noch auf dem Nürnberger Prozess hielt er den „Umbau auf die Kontinentalwirtschaft“ und die „Steuerung“ der niederländischen Wirtschaft durch das Deutsche Reich für „eine konstruktive Idee eines neuen Europa“ (zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 87). Ähnlich seine Mitarbeiter Kroiß (Die Verwaltung des Reichskommissars, 52) und Fischböck (Wirtschaftspolitische Aufgaben für die Niederlande, 325 f.). Für die niederländische Landwirtschaft Backe, Um die Nahrungsfreiheit Europas, 122–130.

11.1 Phasen und Zielsetzungen

415

– die niederländischen Unternehmen zu einer mehr oder weniger freiwilligen Kooperation mit deutschen Wirtschaftspartnern zu bewegen. Zugleich jedoch hatte die Wirtschaftspolitik des Reichskommissariats in den Niederlanden den Ansprüchen gerecht zu werden, die das Großdeutsche Reich im Hinblick auf seine Rüstungsproduktion und Kriegsführung erhob, und diese Maßgabe geriet von Anfang an in ein Spannungsverhältnis – und in zunehmendem Maße in einen Gegensatz – zu den anderen genannten Zielen. Die Ausrichtung der niederländischen Wirtschaft auf die deutschen Bedürfnisse hob Seyß-Inquart ausdrücklich in einer Rede hervor, die er im Oktober 1942 in Arnheim hielt. Hierin bestimmte er eine der Hauptaufgaben der deutschen Nationalsozialisten in den Niederlanden dahingehend, dass „die gesamten Kräfte, die hier sind, vor allem wirtschaftlicher Art, mobilisiert und eingeschaltet werden in das Kriegspotential des Reiches.“11 Schließlich wollte man das besetzte Land unter dem Deckmantel ökonomischer Selbstständigkeit sukzessive an das Reich binden, nach nationalsozialistischen Gesichtspunkten umgestalten und in jene europäische ‚Neue Ordnung‘ einbinden, die unter dem Eindruck der Blitzkriege von 1939/40 in Kreisen der deutschen Wirtschaft und Wirtschaftsbürokratie erwogen wurden.12 Um die Industrie der Niederlande in die deutsche Rüstungswirtschaft einzubinden, hatte Göring schon vor Seyß-Inquarts Amtsantritt mit dem Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungs­amts, Generalleutnant Georg Thomas, die Einrichtung einer Rüstungsinspektion mit Sitz in Den Haag vereinbart.13 Kurz- und mittelfristig kam der niederländischen Industrie im Kontext der strategischen und politischen Planungen der militärischen und politischen Führung des Deutschen Reiches „eine besondere Bedeutung zu für den Fall einer Sonderregelung mit Frankreich. Bei dem dann folgenden Kampf gegen England ist“, wie es am 22. Mai 1940 auf einer Sitzung des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamts in Düsseldorf hieß, „eine Umstellung der deutschen Industrie auf Luftwaffe und Kriegsmarine nötig, wobei die holl[ändische] Ind[ustrie] als Unterlieferant aufzuziehen wäre.“14 Doch auch über diese unmittelbaren Kriegsziele hinaus war das nationalsozialistische Deutschland daran interessiert, Ressourcen des besiegten und besetzten Landes der eigenen Kriegsführung dienstbar zu machen. In diesem Sinn drängte Seyß-Inquart am 4. Juni 1940 in Anwesenheit von Fischböck und dem Vertreter der Rüstungsinspektion Niederlande, Oberstleutnant Dr. Robert Louis Leopold Freiherr von Schrötter, die Generalsekretäre Hirschfeld und Junker Aarnout 11 Zit. nach: DZN vom 12. Oktober 1942 (NIOD, KA I 3407). Seine Rede hielt Seyß-Inquart anlässlich des zweiten Jahrestags der Gründung des Arbeitsbereichs der NSDAP in den Niederlanden im Arnheimer Konzerthaus Musis Sacrum. Sie wurde auch in niederländischen Zeitungen teils paraphrasiert, teils wörtlich wiedergegeben. In der Zeitung Het Vaderland wurde allerdings der zitierte Satz nicht abgedruckt (siehe die Abendausgaben vom 12. und 13. Oktober 1942). 12 Vgl. hierzu Overy, The Economy of the German „New Order“, 19–25. Overy unterstreicht zu Recht, dass nationalsozialistische Planungen zu einer Neuordnung der Wirtschaft in Europa zwar auf die Zeit nach dem erhofften deutschen Endsieg ausgerichtet waren, das NS-Regime aber schon während des Krieges daran ging, die Wirtschaft in Deutschland und insbesondere in den angegliederten und besetzten Gebieten entsprechend solcher Planungen umzuwandeln; dies schloss die Niederlande ein. 13 Siehe Klemann, Nederland 1938–1948, 58. 14 Zit. nach: Meihuizen, Noodzakelijk kwaad, 71.

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Kapitel 11: Wirtschaftspolitik

Marinus Snouck Hurgronje (Allgemeine Angelegenheiten), die Kapazitäten der niederländischen Industrie unter Umgehung der Haager Landkriegsordnung für deutsche Bedürfnisse zur Verfügung zu stellen. Für den Weigerungsfall drohte er die Überführung von rüstungsrelevanten Betrieben in deutsche Hände an.15 Obwohl die Generalsekretäre Protest anmeldeten und General Winkelman sowie der Generalsekretär für Verteidigung Ringeling noch etliche Tage später die Arbeit von niederländischen Unternehmen für deutsche Rüstungszwecke entschieden ablehnten, gab es unter den gegebenen Machtverhältnissen für einheimische Betriebe kaum eine Alternative. Triumphierend hielt Schrötter denn auch fest, dass durch die Besprechung vom 4. Juni „die Grundlage zur rüstungswirtschaftlichen Ausnutzung der Niederlande gegeben“ sei.16 Aus Sicht der Besatzungsmacht musste es zwischen den „Reichsinteressen“, deren Wahrung ja entsprechend dem Führererlass vom 18. Mai 1940 zu den grundlegenden Aufgaben des Reichskommissars gehörte, und einer entgegenkommenden Haltung gegenüber der niederländischen Wirtschaft und der als ‚germanisch‘ angesehenen Bevölkerung des besetzten Landes nicht notwendigerweise einen Gegensatz geben. Für Seyß-Inquart mochten weder eine Nazifizierung und Gleichschaltung der niederländischen Volkswirtschaft noch deren Einbindung in die angestrebte ‚Neue Ordnung‘ dagegensprechen, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Lebensstandard in den besetzten Niederlanden über eine bloße Subsistenzsicherung hinaus so weit aufrechtzuerhalten, wie es die Kriegslage ermöglichte. Auch wenn auf deutscher Seite von vornherein außer Frage stand, dass die Ressourcen der besetzten westeuropäischen Länder für die Bedürfnisse des Reiches in Anspruch genommen würden, ließ Seyß-Inquarts Überzeugung, in den Niederländern einem „eng verwandten germanischen Volk“ gegenüberzustehen,17 aus nationalsozialistischer Sicht durchaus Raum für die Berücksichtigung niederländischer Interessen, sofern Nazifizierung und Gleichschaltung die erwarteten Fortschritte machten. In diesem Sinn stellte der Reichskommissar Ende Oktober 1940 in einem Interview fest, dass seine Politik entsprechend den Vorgaben von Hitler und Göring schon wenige Monate nach dem Beginn der deutschen Besetzung des Landes zu greifbaren Ergebnissen geführt habe. Dank der „Neuorientierung nach dem im Osten angrenzenden Absatzraum“ sei die niederländische Landwirtschaft „weithin im Genuß der ihr im Rahmen des großdeutschen Wirtschaftsraumes gebotenen Absatzsicherung“, und die Industrie schicke sich an, „mit den Vertretern der deutschen Wirtschaft Unterhandlungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung [sic] aufzunehmen, welche die Arbeitsteilung im europäischen Raum 15 Zur Besprechung vom 4. Juni 1940 siehe ebd., 90–93; Meihuizen stützt sich insbesondere auf Hirschfelds Herinneringen uit de bezettingstijd. Diese Angaben decken sich mit Hirschfelds Protokoll vom 5. Juni 1940 (NIOD, 212a/2e, Mappe Het College van Secretarissen-Generaal 1940, Anlage 5). 16 Zit. nach: Meihuizen, Noodzakelijk kwaad, 97. Schon Ende 1940 kam ein Geheimbericht über die Ausnutzung der Industrie in den Niedelanden und Belgien für die deutsche Luftwaffenrüstung zu dem Ergebnis, dass die Industrie in den Niederlanden zu 90 Prozent für die kriegswirtschaftlichen Bedürfnisse der deutschen Luftwaffe in Anspruch genommen wurde, während die Ausnutzung der belgischen Industrie zu diesem Zeitpunkt als „gering“ eingeschätzt wurde (NL-HaNA, 2.05.117/6659, Zitat Bl. 4; der Bericht datiert vom 31. Dezember 1940). 17 Snijder, Gesprekken met Seyss-Inquart, Bl. 1.

11.1 Phasen und Zielsetzungen

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durch Vereinbarungen sicherstellen sollen.“ Außerdem sei die Versorgung der niederländischen Bevölkerung „im gleichen Umfang und nach den gleichen Methoden sichergestellt wie im Reich.“ Bei all dem lege die Besatzungsmacht Wert darauf, „die Verwaltung durch die Landesbehörden selbst führen [zu] lassen. […] Das niederländische Volk wird daher durch seine eigenen Behörden und Beamten verwaltet.“18 In einem vergleichbaren Sinn hatte sich Seyß-Inquart einige Wochen vorher anlässlich der in Utrecht stattfindenden Niederländischen Jahresmesse zufrieden darüber geäußert, dass „die Wucht der Tatsachen“ dafür gesorgt habe, „dass auch die niederländische Wirtschaft wieder empfindet, wie sehr die beiden Nachbarvölker der Deutschen und der Niederländer zusammengehören. Wir begrüssen alles, was geeignet ist, die Zusammenarbeit zu vertiefen und das Wissen voneinander zu vergrössern.“ Die deutsche Besetzung des Landes wollte der Reichskommissar als eine Chance für den Aufbau eines „neuen Europas“ verstanden wissen – ging es ihm doch darum, den unter der Führung des Großdeutschen Reiches entstandenen „Grossraum“ in eine „vernünftig geführte Weltwirtschaft“ einzubetten.19 Neben solch ideologisch, macht- und wirtschaftspolitisch motivierten Gründen sprachen schließlich auch zweckrationale Überlegungen dafür, dass eine Einbindung der niederländischen Ökonomie in die Kriegswirtschaftspolitik des Großdeutschen Reiches am besten gewährleistet war, solange die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft des besetzten Landes sichergestellt war. Deutsche Bedürfnisse und eine demonstrativ wohlwollende Haltung gegenüber den Niederländern, wie sie Seyß-Inquart bei seinem Amtsantritt im Rittersaal zu Den Haag allgemein in Aussicht gestellt hatte, konnten auch im Bereich der Wirtschaft durchaus Hand in Hand gehen. Die Frage jedoch, inwieweit in den ersten Monaten der Besatzungszeit die rassistische Perspektivierung für eine nach außen hin entgegenkommende Behandlung der Wirtschaft der ‚germanischen‘ Niederlande ausschlaggebend gewesen ist, lässt sich empirisch nicht beantworten. War die entgegenkommende Haltung der Besatzungsverwaltung in Seyß-Inquarts Augen ein Selbstzweck, der sich für einen überzeugten Nationalsozialisten mehr oder weniger zwingend aus der Annahme einer ‚völkischen Verwandtschaft‘ zwischen Deutschen und Niederländern ergab? Wurde sie eher in einem utilitaristischen Sinn eingesetzt, um in diesem Teil des NS-Imperiums zugunsten der deutschen Rüstungsproduktion und der Kriegsführung in anderen Teilen des europäischen Kontinents Stabilität, Ruhe und Ordnung gewährleisten zu können, ohne auf eine zunehmende Inanspruchnahme, Instru18 Das Interview, das Dr. Walter Hagemann vom Welt-Presse-Dienst in Den Haag mit Seyß-Inquart führte, wurde in mehreren deutschen und niederländischen Zeitungen im Wortlaut wiedergegeben. Hier zit. nach der National-Zeitung (Essen) vom 29. Oktober 1940 (Der Neuaufbau in Holland). 19 Seyß-Inquart, Das neue Europa. Fischböck leitete aus Görings Zusage, „daß die Niederlande in wirtschaftlicher Beziehung nicht besser und nicht schlechter behandelt werden sollen als das Deutsche Reich“, die Zusicherung einer „Sonderstellung der Niederlande gegenüber den sonstigen besetzten Gebieten“ ab. Sie ermächtige und verpflichte die deutsche Wirtschaftsverwaltung zu einer sofortigen „Angleichung aller wirtschaftlich belangreichen Fragen an die Lage im Reich“. Dies wiederum sei ein „wesentlicher Baustein zur Zusammenfügung einer europäischen Wirtschaftseinheit“ im Sinne einer nationalsozialistischen Großraumwirtschaft (Die niederländische Wirtschaft im europäischen Raum, 243 und 245; ähnlich Ders., Wirtschaftspolitische Aufgaben für die Niederlande, 326–328).

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Kapitel 11: Wirtschaftspolitik

mentalisierung und Aneignung der ökonomischen Ressourcen und Potenziale des besetzten Landes und auf dessen Eingliederung in die ‚Neue Ordnung‘ verzichten zu müssen? Oder waren ideologische Überzeugungen und utilitaristische Motive gleichermaßen für die Wirtschaftspolitik des Reichskommissariats ausschlaggebend? Jedenfalls verhallten die Lockrufe des Reichskommissars nicht ungehört. Unter niederländischen Industriellen und Beamten der einheimischen Wirtschaftsverwaltung gab es Bereitschaft zu „einer weitgehenden wirtschaftlichen Kooperation mit der Besatzungsmacht“,20 der Schritt zu Kollaboration war mitunter nicht weit. Und wie Klemann deutlich gemacht hat, war die makroökonomische Entwicklung der Niederlande besonders in den ersten beiden Besatzungsjahren wesentlich günstiger als von den Zeitgenossen subjektiv wahrgenommen und von der älteren Forschung jahrzehntelang angenommen wurde.21 Nach den Einbrüchen und Schwierigkeiten, die der Protektionismus von Weimarer Republik und Drittem Reich im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1929, die Autarkiebe­stre­bungen des NS-Regimes, Devisenprobleme und eine rigide Deflationspolitik der niederländischen Regierung unter Colijn mit sich gebracht hatten,22 wirkten deutsche Aufträge und die Öffnung der von Deutschland dominierten kontinentalen Märkte ab dem Frühjahr 1940 stimulierend auf zahlreiche Branchen der niederländischen Wirtschaft. Dies wirkte sich auch positiv auf die Beschäftigungssituation aus: In den ersten zwei Jahren der deutschen Besatzung stieg die Anzahl der gemeldeten Arbeitsplätze in Industrie, Landwirtschaft und Transportwesen kontinuierlich; sie sank erst ab 1942 mit der Zunahme von Schwarzmarkt und Schwarzarbeit sowie der Einführung von Zwangsarbeit im Ausland. Die anfangs günstige wirtschaftliche Entwicklung scheint sogar zu einem guten Teil den Verlust der Kolonie Niederländisch-Ostindien wettgemacht zu haben, die bis zur Eroberung durch die Achsenmacht Japan im März 1942 der niederländischen Exilregierung unterstand und somit dem Einfluss des Großdeutschen Reiches und von Seyß-Inquarts Reichskommissariat entzogen war. Angesichts der Investitionen, die insbesondere in der niederländischen Industrie getätigt wurden, konnten nicht einmal die Zerstörungen des Fünf-Tage-Kriegs und die finanziellen Belastungen, die das nationalsozialistische Deutschland dem besiegten Land aufbürdete, die wirtschaftliche Kapazität in den ersten beiden Besatzungsjahren substanziell gefährden. Die Arbeitslosigkeit, die in der Depressionszeit das Sozialsystem belastet hatte, sank signifikant, die Löhne pendelten sich auf einem relativ hohen Niveau ein, und in etlichen Branchen verzeichneten Unternehmen gute Gewinne und Dividendenausschüttungen. Die Lebensmittelbewirtschaftung sorgte dafür, dass Nahrungsmittel bis 1944 grosso modo in ausreichendem Maße zur Verfügung standen und bezahlbar blieben. Vor diesem Hintergrund kann mit Klemann festgehalten werden, dass es Arbeitern wie auch Unternehmern zumindest in der ersten Besatzungsphase im Allgemeinen wirtschaftlich gut ging; einige Branchen konnten ihr Niveau auch noch bis in den Hungerwinter relativ stabil halten. Dies ist zumindest einer der Aspekte, die die niederländische Wirtschaftsgeschichte 20 Romijn, Reichskommissariat Niederlande, 136. 21 Ich folge hier seiner Argumentation in: Nederland 1938–1948, passim. 22 Vgl. zusammenfassend Wielenga, Geschichte der Niederlande, 351.

11.2 Die Niederlande in der nationalsozialistischen Großraumwirtschaft

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unter Seyß-Inquart kennzeichnen. Das Bild wird freilich relativiert durch die negativen Folgen, die die Einbindung der Niederlande in die nationalsozialistische Großraumwirtschaft letztlich mit sich brachte, durch die enormen finanziellen Belastungen, die die deutsche Besatzung von Anfang an dem Land aufbürdete, und durch eine politisch gedeckte Beraubung, die ab 1942 zunahm und dazu führte, dass das Bruttoinlandsprodukt und die Lebensqualität fast aller Bevölkerungskreise von da an in gravierendem Maße zurückgingen. 11.2 Die Niederlande in der nationalsozialistischen Großraumwirtschaft

Zum Aufbau einer von Deutschland dominierten Großraumwirtschaft zählten neben der Arisierung vor allem zwei wirtschaftspolitische Instrumente, die von Reichsführung und Reichskommissariat gleich nach Beginn der Besatzung in Angriff genommen wurden: die unter der Federführung von Görings Vierjahresplanbehörde lancierte Kapitalverflechtung und die Aufhebung der Zoll- sowie der Devisengrenze zwischen Deutschland und den Niederlanden. Auch eine Reform des Steuersystems nach deutschem Vorbild kann unter diesem Gesichtspunkt gesehen werden. Unter dem Stichwort ‚Kapitalverflechtung‘ verfolgte das NS-Regime das Ziel, deutschen Unternehmen die Möglichkeit zu geben, große Aktienpakete niederländischer Firmen zu übernehmen. Mithilfe der „Durchdringung der holländischen Wirtschaft mit deutschem Kapital mit allen Mitteln“, zu der sich ein zeitgenössischer Bericht bekannte,23 sollten Unternehmen des besetzten Landes unterwandert und kontrolliert, auf das engste an die deutsche Volkswirtschaft gebunden und letztlich vom Großdeutschen Reich abhängig gemacht werden. Theoretisch stand es zwar umgekehrt niederländischen Unternehmern offen, Kapital in deutschen Betrieben anzulegen. In der Praxis aber konnte von der Gleichberechtigung, von der Seyß-Inquart in seinem Interview vom Oktober 1940 euphemistisch sprach, keine Rede sein. Denn von vornherein war das niederländische Kapitalvolumen geringer als das wirtschaftliche Potenzial, das Deutschland zur Verfügung stand. Gegen nennenswerte niederländische Beteiligungen an deutschen Unternehmen sprach auch der ungünstige Wechselkurs, der nach der Kapitulation der Niederlande in einem bilateralen Abkommen auf das Verhältnis von 132,70 Reichsmark zu 100 Gulden festgelegt worden war – und damit die Reichsmark Schätzungen zufolge um mindestens zehn Prozent überbewertete.24 Und schließlich war die Investitionsfreudigkeit aus politischen Gründen bei niederländischen Unternehmern wesentlich geringer ausgeprägt als auf deutscher Seite. Bezeichnend hierfür ist, dass sich nicht nur 23 Der undatierte Bericht über die wirtschaftliche Situation in den besetzten Ländern (NIOD, 206/7001-41, Zitat Bl. 14) stammt vermutlich aus dem Jahr 1942. Zum Folgenden vgl. Kreutzmüller, Händler, Kap. 3.2.2, Aalders, Geraubt!, 57–64, Ders., Three ways of German economic penetration, 283 und 285 f., Tooze, Ökonomie der Zerstörung, 453 und Van Tielhof, Banken und Besatzer, 339 f. 24 Siehe Kreutzmüller, Händler, 121–123. Auch in Frankreich und Belgien nahm das NS-Regime eine Überbewertung der Reichsmark vor; siehe Oosterlinck, Sovereign Debts and War Finance, 96. Schon Franz Neumann sah in der Manipulation von Wechselkursen eine wichtige Methode der wirtschaftlichen Ausbeutung besetzter Länder (Behemoth, 226).

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das Kollegium der Generalsekretäre sowie der Präsident der ‚Niederländischen Bank‘ und Generalsekretär für Finanzen Trip entschieden gegen die Kapitalverflechtung aussprachen.25 Sogar der großgermanisch eingestellte Rost van Tonningen, dem es stets darum ging, „der gemeinsamen deutsch-niederländischen Sache und den nationalen Interessen unseres Volkes so gut wie möglich zu dienen“,26 sah sich Reichswirtschaftsminister Walther Funk gegenüber zu dem Eingeständnis genötigt, es sei „unmöglich und politisch äusserst bedenklich, Mehrheitsbeteiligungen bei der holländischen Industrie gegen den Willen der verantwortlichen Leiter dieser Industrien durchsetzen zu wollen. Derartige Bestrebungen verursachten in der Unternehmerschaft einen starken Widerwillen. […] Ein solches Vorgehen werde von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung als gegen die holländischen Interessen gerichtet angesehen werden.“27 Trotz der fühlbaren Vorbehalte unter niederländischen Unternehmern, Politikern und Beamten wurde das Projekt der Kapitalverflechtung auf deutscher Seite intensiv verfolgt.28 Für die operative Durchführung war innerhalb des Reichskommissariats eine Dienststelle zuständig, die anfangs unter dem Begriff ‚Sonderbeauftragter für wirtschaftliche Verflechtung‘ firmierte, ab 1941 die Bezeichnung ‚Abteilung für besondere wirtschaftliche Angelegenheiten‘ erhielt. Sie unterstand unmittelbar Fischböck, der als Generalkommissar für Finanz und Wirtschaft die treibende Kraft hinter der Kapitalverflechtung war. Es war kein Zufall, dass mit Dr. Paul Heinrich Mojert ein Mitarbeiter der Deutschen Bank zum Leiter dieser Abteilung ernannt wurde: Die deutschen Großbanken waren im Zusammenwirken mit Reichskommissariat und Reichswirtschaftsministerium aktiv in den Ankauf niederländischer Unternehmen einbezogen. Für die Dresdner Bank war auf diesem Gebiet der Handelstrust West federführend, der auch in die Arisierung involviert war.29 Angesichts des Widerstrebens auf niederländischer Seite ist schlussendlich festzuhalten, dass die Kapitalverflechtung weit hinter den Erwartungen der deutschen Industrie und der nationalsozialistischen Wirtschaftsverwaltung zurückblieb. Die Industrie konnte zwar mit tatkräftiger Unterstützung des Reichskommissariats und von deutschen Banken in meist kleinere oder mittelgroße niederländische Betriebe investieren. Auch gelang es, bei einigen größeren Unternehmen wie der kunstfaserproduzierenden Algemene Kunstzijde Unie, dem Stahlkonzern Koninklijke Nederlandsche Hoogovens en Staalfabrieken, der größten niederlän25 Siehe Hirschfelds Protokoll über die Sitzung vom 26. März 1941, NIOD, 212a/2e, Mappe Het College van Secretarissen-Generaal 1941, Bl. 11. 26 Rost van Tonningen an Mussert vom 18. März 1942, in: Correspondentie van Mr. M. M. Rost van Tonningen, Bd. 1, Dok. 288, 800. 27 Zit. aus einer Aktennotiz von Dr. Albert Bühler (Beauftragter bei der ‚Niederländischen Bank‘) über eine Besprechung mit Funk vom 14. August 1941 nach: ebd., Dok. 229, 679 f. Auch später stellte Rost van Tonningen nicht ohne Kritik fest, „dass eine Verflechtung notgedrungen immer mehr den Charakter einer einseitigen deutschen Beteiligung an unseren Betrieben bekommen wird“, und dagegen könne man nicht viel tun (Rost van Tonningen an Mussert vom 18. März 1942, in: ebd., Dok. 288, 797). 28 Vgl. Klemann, Nederland 1938–1948, 106 f. 29 Siehe hierzu Sattler, Der Handelstrust West in den Niederlanden, besonders 704 ff. Zu Mojerts Abteilung siehe auch Kreutzmüller, Händler, 128 f.

11.2 Die Niederlande in der nationalsozialistischen Großraumwirtschaft

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dischen Maschinenfabrik Werkspoor, dem Rüstungsbetrieb Artillerie Inrichtingen oder dem Flugzeughersteller Fokker größere Anteile oder gar die Mehrheit des Stammkapitals zu erwerben. Und etliche niederländische Unternehmen konnten durch die Einsetzung von Kommissaren für die deutsche Kriegswirtschaft nutzbar gemacht werden. Doch gerade einige der für Rüstungszwecke brauchbaren Großkonzerne wie Royal Dutch Shell, die Bataafsche Petroleum Maatschappij oder Unilever, auf die die nationalsozialistische Wirtschaftsverwaltung ihr besonderes Interesse richtete, verstanden es, sich einer Majorisierung durch deutsche Unternehmen zu entziehen. In einigen Fällen waren Vorstände rechtzeitig vor Beginn des Westfeldzugs ins Ausland geflüchtet, in anderen Fällen waren Firmensitze in außereuropäische Länder, etwa in niederländische Kolonien, verlegt worden – und damit dem deutschen Zugriff entzogen. Somit konnten deutsche Unternehmen bis zum Herbst 1941 Investitionen von nicht mehr als 50 Millionen Gulden in den Niederlanden tätigen. Dies war weniger als ein Viertel der französischen und britischen Investitionen in jenen niederländischen Betriebe, die jetzt unter Feindverwaltung standen.30 Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik blieb freilich nicht bei der ‚Verflechtung‘ von Unternehmen stehen. Das Projekt der Kapitalverflechtung war nicht mehr und nicht weniger als ein Teil einer Wirtschaftspolitik, die auf eine umfassende Integration der niederländischen Volkswirtschaft in die anvisierte nationalsozialistische Großraumwirtschaft zielte, die ihrerseits die Unterminierung der staatlichen Integrität des Landes implizierte. Aufschlussreich für diese Zusammenhänge sind Seyß-Inquarts Ausführungen in seinem ersten Bericht an Hitler. Hierin feierte der Reichskommissar die Tatsache, dass Funk in seiner Eigenschaft als Präsident der Reichsbank seinen niederländischen Kollegen Trip zu dem für Deutschland vorteilhaften Wechselkurs und zur unbeschränkten Annahme von Reichsmark hatte bewegen können, übertrieben als „den ersten Schritt zu einer Währungs-Union“. Die Bedeutung dieses Schritts reiche – wie er im Sommer 1940 selbstbewusst formulierte – weit über die Niederlande hinaus; implizit wollte er diese Maßnahme für den ganzen deutsch beherrschten Bereich als vorbildlich verstanden wissen. Schließlich unterstrich er die Erwartung, dass die Festlegung des Wechselkurses nicht ohne Auswirkung auf die staatliche Unabhängigkeit dieses Landes bleiben werde.31 Mit der Darlegung dieser Zusammenhänge gab Seyß-Inquart zwar eher (wirtschafts-)politische Zielvorstellungen als die Realität wieder. Denn weder wurde auch nur ansatzweise eine Währungsunion erreicht noch büßten die Niederlande formell ihre Unabhängigkeit ein. Doch sein Bericht an den ‚Führer‘ dokumentiert das Bestreben des Reichskommissars, die ‚germanischen‘ Niederlande auch auf wirtschaftlichem Gebiet fest im deutschen Machtbereich zu verankern. In Wirklichkeit freilich stellte die ‚Verflechtung‘ der deutschen und der niederländischen Wirtschaft eine „unverhüllte Methode einer systematischen Ausbeutung der Reichtümer, Kapazitäten und Arbeitskraft des Landes“ dar.32 30 Kreutzmüller, Händler, 131. 31 Seyß-Inquart, 1. Bericht, 420 f. Noch nach dem Krieg sah er hierin einen Schritt auf dem Weg, „einen moeglichst engen Wirtschaftskontakt zwischen Reich und Niederlanden zu schaffen, um die Niederlande an dem Grosswirtschaftsraum teilnehmen zu lassen […].“ (Denkschrift, Bl. 59) 32 Umbreit, Die deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten, 21.

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Kapitel 11: Wirtschaftspolitik

Ähnliches gilt für die Aufhebung der Zoll- und der Devisengrenze im Jahr 1941. Hierbei spielten die besetzten Niederlande eine Vorreiterrolle beim Aufbau jener „mitteleuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft“, die Göring am 22. Juni 1940, dem Tag der Unterzeichnung des Waffenstillstands mit Frankreich, in Aussicht gestellt hatte.33 Seyß-Inquarts Persönlicher Referent Kroiß sah denn auch besonders in der Aufhebung der Devisengrenze einen Beitrag zu einer „Neuordnung der gesamteuropäischen Wirtschaft“,34 und in einem Aktenvermerk, den Seyß-Inquart am 26. September 1941 Hitler übergab, wurden die Beseitigung der Zollgrenze und devisenrechtlicher Hemmnisse als Maßnahmen auf dem Wege einer weitreichenden Eingliederung des besetzten Landes in einen nationalsozialistischen Großwirtschaftsraum interpretiert: „Die Gleichordnung der Wirtschaftsplanungsmaßnahmen in Form und Inhalt an die Ordnung im Deutschen Reich ist so weitgehend erfolgt, dass von der wirtschaftlichen Seite aus gesehen kein Hindernis bestünde, die Niederlande so zu behandeln wie die einzelnen Gaue des Deutschen Reiches.“35 Und noch auf dem Nürnberger Prozess verteidigte Seyß-Inquart die Aufhebung der Devisengrenze mit dem Hinweis, dass das Reich damals „auf dem Höhepunkt seiner Macht“ stand und man davon ausgegangen sei, „daß die Mark die führende Währung in Europa wird.“36 Faktisch stellte die Aufhebung der Devisengrenze zwischen dem Reich und den Niederlanden eine „rabiate Öffnung der niederländischen Märkte zum Ausverkauf an Deutschland“ dar,37 und schon ein zeitgenössischer deutscher Wirtschaftswissenschaftler konzedierte, dass aus dieser Maßnahme „eine gewisse Einflußnahme an einzelnen niederländischen Unternehmen“ resultiert habe.38 Auf jeden Fall wurde jetzt der Gulden – wie zuvor schon die tschechische Krone – „zum Anhängsel der Reichsmark“.39 Obwohl die Aufhebung der Devisengrenze ohne jeden Zweifel zum Vorteil der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik war, darf nicht übersehen werden, dass sie auf deutscher Seite nicht unumstritten war, denn sie 33 Vgl. hierzu Boelcke, Deutschland als Welthandelsmacht, 145–151 und Volkmann, Autarkie, Großraumwirtschaft und Aggression. 34 Kroiß, Die Verwaltung des Reichskommissars, 52. Eine zeitgenössische Würdigung der „Einordnung der niederländischen Wirtschaft in die europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ findet sich auch in einer von der Geschichtsforschung kaum beachteten Broschüre, die der Wirtschaftswissenschaftler Georg Kepper 1942 im Auftrag der Deutsch-Niederländischen Gesellschaft verfasste (Die Wirtschaft der Niederlande, Kap. II). Als ein Faktor der ökonomischen Neuordnung Europas unter nationalsozialistischen Vorzeichen wurde hier auch kurz die „Entjudung der Wirtschaft“ in den Niederlanden benannt (ebd., 69). 35 Aktenvermerk über die wirtschaftliche Behandlung der besetzten niederländischen Gebiete, IfZ, IMG-Dok. NG-049. Diese Ausführungen wurden von Hitler „grundsätzlich gebilligt“ (Lammers im Schreiben vom 18. Oktober 1941, ebd.). 36 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 709. In seinen Schlussausfuehrungen (Bl. 57) vom Sommer 1946 stritt Seyß-Inquart ab, die Aufhebung der Zollgrenze hätte eine Belastung für die niederländische Volkswirtschaft dargestellt. Im Gegenteil, hierdurch sei „die Einfuhr deutscher Waren nach den Niederlanden erleichtert und verbilligt“ worden. 37 Aly, Hitlers Volksstaat, 166 f. In einem ähnlichen Sinn spricht Aalders kurz und bündig von einer „wirtschaftlichen Annexion der Niederlande“ (Geraubt!, 35). 38 Kepper, Die Wirtschaft der Niederlande, 82. 39 Kreutzmüller, Händler, 126. Ebd. hält Kreutzmüller fest, dass in keinem anderen besetzten westeuropäischen Land die Autonomie der Landeswährung so vollständig zerstört wurde wie in den Niederlanden.

11.2 Die Niederlande in der nationalsozialistischen Großraumwirtschaft

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barg Risiken für die wirtschaftspolitische Stabilität des Reiches in sich. So gab es – wie es in einer Aufzeichnung des Auswärtigen Amtes hieß – noch im Herbst 1940 innerhalb des NS-­ Regimes keine Einigkeit „über die wirtschaftliche und technische Möglichkeit der Aufhebung der Devisengrenze“ und die damit verbundenen Vor- und Nachteile.40 Auf einer Besprechung im Reichswirtschaftsministerium kamen Seyß-Inquart, Funk, Schwerin von Krosigk, Staatssekretär Erich Neumann (Vierjahresplanbehörde), Carl Clodius (Auswärtiges Amt), Fischböck und Wohlthat am 23. Oktober 1940 überein, die Devisengrenze nicht in einem Schritt abzuschaffen, sondern durch eine Reihe von Einzelmaßnahmen zunächst ‚aufzulockern‘.41 Dies geschah insbesondere dadurch, dass das Reichswirtschaftsministerium das bilaterale Clearing­ system, mit dem seit 1934 der deutsch-niederländische Zahlungsverkehr abgewickelt worden war, in ein multilaterales Zentralclearing umwandelte. Dadurch wurde der Deutschen Verrechnungskasse die Möglichkeit geschaffen, nicht nur den Zahlungsverkehr der Niederlande mit Deutschland, sondern auch mit Drittländern zu kontrollieren. Denn letztlich führte das System des Zentralclearings „zur Kontrolle und Steuerung des gesamten Verrechnungsverkehrs innerhalb des von England blockierten Europas“ durch das Großdeutsche Reich.42 Erst am 1. April 1941 wurde das Clearingsystem dadurch weitgehend überflüssig, dass von diesem Tag an die deutsch-niederländische Devisengrenze aufgehoben war.43 Damit wurden die Währungen der beiden Länder frei konvertibel. In der Praxis führte dies dazu, dass Deutsche ihre Einkäufe in den Niederlanden direkt in Reichsmark tätigen konnten und die ‚Niederländische Bank‘ verpflichtet war, die Reichsmark, die ins besetzte Land strömten, in Gulden zu wechseln. Das Defizit, das sich bis dahin für die Niederlande aus dem Clearingsystem ergeben hatte, wurde bei der Gelegenheit durch eine einmalige Abgabe pauschal abgegolten. Mit der Aufhebung der Devisengrenze nahmen die Niederlande unter den besetzten westeuropäischen Ländern eine besondere Position ein. Im Wirtschaftsverkehr mit Frankreich und Belgien beließ das Großdeutsche Reich das Clearingsystem nämlich aufrecht – und ließ hier bis Kriegsende gewaltige Schuldenstände auflaufen.44 Für die Niederlande hatte die Aufhebung der Devisengrenze neben den genuin ökonomischen Konsequenzen, die das Reich in den folgenden vier Jahren für sich zu nutzen verstand, übrigens politische Folgen: Sie führte 40 Aufzeichnung über die Aufhebung der Devisengrenze zwischen Deutschland und Holland (31. Oktober 1940), PA AA, R 29678. 41 Zu dieser Sitzung siehe Kreutzmüller, Händler, 124. 42 Boelcke, Deutschland als Welthandelsmacht, 147; siehe auch Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, Bd. 3/2, 726-728. In der euphemistischen Diktion nationalsozialistischer Propaganda lief dieses System darauf hinaus, „an die Stelle des bisherigen zweiseitigen Verkehrs einen umfassenden mehrseitigen zu setzen, der einen ersten entscheidenden Schritt zu einer freieren Form des zwischenstaatlichen Zahlungsaustausches im europäischen Wirtschaftsraum darstellen würde.“ (Von Boeck, Neuordnung der handels- und devisenpolitischen Beziehungen, 253 f.) 43 Die Aufhebung der Devisengrenze zum 1. April 1941 wurde durch Seyß-Inquarts VO 65/1941 vom 31. März (in: VOBl. NL 1941, 266 f.) sowie durch einen Runderlass des Reichswirtschaftsministeriums vom selben Tag bekannt gegeben (Boelcke, Deutschland als Welthandelsmacht, 146). Zu dieser Maßnahme siehe auch Klemann, Nederland 1938–1948, 102–104. 44 Vgl. Boelcke, Die deutsche Wirtschaft 1930–1945, 292 und Ders., Die Kosten von Hitlers Krieg, 111, Tab. 31a.

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Kapitel 11: Wirtschaftspolitik

zum Rücktritt von Trip als Generalsekretär und Präsident der Nationalbank. Anstelle dieses versierten Finanzpolitikers, der sich schon gegen die Kapitalverflechtung, die Einführung des für die Niederlande ungünstigen Wechselkurses und die Abschaffung der deutsch-niederländischen Zollgrenze ausgesprochen und nur widerwillig mit der Besatzungsmacht zusammengearbeitet hatte, wurde Rost von Tonningen ernannt. Dieser wurde zugleich mit der Leitung des neu geschaffenen Generalsekretariats für Besondere Wirtschaftliche Angelegenheiten betraut.45 Mit seiner großgermanischen Überzeugung bot Rost dem NS-Regime die Aussicht, dass die Niederlande die Wirtschaftspolitik der Besatzungsmacht im Großen und Ganzen bereitwillig ausführen würden. Schrittweise erfolgte auch die Abschaffung der Zollgrenze.46 Rüstungsrelevante Aufträge aus den besetzten Westgebieten wurden durch den Reichsfinanzminister schon Ende Juli 1940 von Zollabgaben befreit.47 Am 16. Dezember 1940 wurde die Zollgrenze auch für den Import anderer niederländischer Waren ins Deutsche Reich aufgehoben,48 und zum 1. Januar 1941 verschwand sie für den Export deutscher Waren in das Gebiet des Reichskommissariats.49 Seyß-Inquart war bewusst, dass diese Maßnahme nicht ohne finanz- und wirtschaftspolitische Gefahren war: Sie war geeignet, „Schwarz- und Schleichhandel“ zu befördern. Bemerkenswerterweise machte der Reichskommissar hierfür in einem Brief an Bormann ausdrücklich Deutsche verantwortlich, die in dem Bewusstsein, „in einem besetzten bzw. besiegten Land zu sein, […] ohne Hemmung eine ganze Reihe von Schwarzkäufen riskieren, die sie im Reichsgebiet selbst nicht vornehmen würden.“ Durch ein solches Verhalten würden im Laufe der Zeit „die größten Schwierigkeiten“ entstehen. Sie könnten „mit der Zeit sogar den Stand der Versorgung der niederländischen Bevölkerung mit Bedarfsartikeln gefährden, die notwendigerweise gehalten werden muß, um die Produktion im Reichsinteresse aufrecht zu erhalten.“ Außerdem sah Seyß-Inquart die Gefahr, dass „durch diese illegalen Aufkäufe hier ein Warenabfluß aus dem Reich in die Niederlande und von hier in den Schwarzhandel des Reiches entstehen würde.“ Um diese volkswirtschaftlich schädlichen Entwicklungen zu unterbinden, forderte er „die schärfste Verfolgung solcher Delikte auch gegen Reichsdeutsche“, und allen deutschen Dienststellen sollte expressis verbis verboten werden, sich am Schwarzhandel zu beteiligen. Obwohl er sich generell für den weitgehenden Abzug von Grenzbeamten aussprach, regte er eine „genaueste Überwachung des Verkehrs an der Grenze“ zum Reich an.50 Neben dem Problem des Schwarzhandels erforderten auch Unterschiede bei Steuern und Abgaben und in der Praxis der Warenbewirtschaftung erhebliche Anstrengungen, um die Aufhebung der deutsch-niederländischen Zollgrenze in vollem Umfang wirksam werden zu lassen – ein Ziel, das die deutsche Großraumwirtschaft bis Kriegsende nicht erreichen sollte. 45 Zur Ersetzung Trips durch Rost van Tonningen vgl. NIOD, 212a/2e, Mappe Het College van Secretarissen-Generaal 1941, Bl. 9–14. 46 Vgl. hierzu die zeitgenössische Darstellung von Kepper, Die Wirtschaft der Niederlande, 60 f. 47 Siehe Scherner, Europas Beitrag zu Hitlers Krieg, 73. 48 Siehe VO 241/1940 der Generalsekretäre Trip und Hirschfeld, in: VOBl. NL 1940, 722–724. 49 Kreutzmüller, Händler, 124. 50 Seyß-Inquart an Bormann vom 26. November 1941, in: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 1, Nr. 15397.

11.2 Die Niederlande in der nationalsozialistischen Großraumwirtschaft

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Auch wenn niederländische Waren, die ins Reich importiert wurden, seit 1. Mai 1941 von der Umsatzausgleichssteuer befreit waren,51 kam Seyß-Inquart zu dem Ergebnis, dass auf eine Zollabfertigung erst dann verzichtet werden könne, wenn das niederländische Zoll- und das Verbrauchssteuerrecht an jenes im Reich angeglichen sei.52 Wie wichtig es Seyß-Inquart war, nach der Aufhebung der Zoll- und der Devisengrenze den organisierten Schwarzhandel in den Griff zu bekommen, lässt sich daran ablesen, dass er in dieser Angelegenheit neben Bormann auch andere führende Reichspolitiker anschrieb. So wandte er sich an Lammers mit der Bitte, ihn „in der Bekämpfung der Schwarz- und Hamstereinkäufe hier zu unterstützen“,53 und Goebbels nahm ein gleichartiges Ersuchen des Reichskommissars zum Anlass, die Beteiligung ganzer deutscher Dienststellen am Schmuggelwesen als „wahre Landplage“ an den Pranger zu stellen: „Verschiedene Dienststellen des Reiches haben sich in dieser Beziehung außerordentlich schandhaft benommen. Sie haben dem deutschen Namen schweren Schaden zugefügt, und es wird einige Zeit dauern, bis wir das dadurch verlorene Ansehen bei den Völkern der besetzten Gebiete wieder aufgeholt haben.“54 Göring meinte die für das Reich richtige Lösung darin zu sehen, dass er am 13. Juni 1942 in einem Geheimerlass seinen Bevollmächtigten für Sonderaufgaben, Oberst Veltjens, mit der „zentralen Erfassung des schwarzen Marktes in den besetzten Gebieten“ beauftragte.55 Damit wollte er „das Nebeneinander der Wareneinkäufe der Wehrmachtteile und anderer Organisationen“ beenden und deutsche Schwarzmarkteinkäufe im Einvernehmen mit den Verwaltungschefs der besetzten Gebiete bündeln und „in geordnete Bahnen“ lenken.56 Denn fortan sollte es nicht mehr möglich sein, dass Einzelpersonen, einzelne Wehrmachtseinheiten oder deutsche Dienststellen unkontrolliert, zum eigenen Nutzen und auf eigene Rechnung Güter aus den besetzten Gebieten ins Reich mitnahmen. Im Endeffekt lief Görings Erlass nicht auf eine Trockenlegung des Schwarzmarktes, sondern auf die Legalisierung von staatlichem Handel außerhalb des legalen Marktes hinaus. Veltjens selber sah seine Aufgabe denn auch in der „Ausschöpfung des schwarzen Marktes in höchster Potenz und unter den für das Reich günstigen finanziellen Bedingungen“, und vor Vertretern von Reichsbehörden gab er sich überzeugt, „dass bei einer planvollen und zentralen Bearbeitung aus den schwarzen Märkten in den besetzten Gebieten in Zukunft erheblich mehr herauszuholen ist als bisher.“57 Ganz offensichtlich aber verfehlten derartige Regulierungsbemühungen die von Göring beabsichtigte Wirkung. Denn im Dezember 1943 leitete Seyß-Inquart die – auch seiner Ansicht nach berechtigte – Klage Musserts an Himmler weiter, „dass die vollkommene Aufhe51 Verordnung von Reichsfinanzminister Schwerin von Krosigk vom 28. April 1941, in: RGBl. 1941/I, 224. 52 Aktenvermerk der Reichskanzlei vom 15. April 1942, in: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 1, Nr. 15397. 53 Seyß-Inquart an Lammers vom 26. November 1941, in: ebd. 54 Zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 35, 242 (3. Februar 1942). 55 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 38, Dok. RF-109, 510; zu den Empfängern des Erlasses zählte auch Seyß-Inquart. Die Beauftragung Veltjens war im Vorfeld mit den zuständigen Reichsressorts akkordiert worden; siehe die Besprechung vom 21. Mai 1942 nach ebd., 512–514. 56 Göring an Veltjens vom 13. Juni 1942, in: ebd., Dok. RF-109, 511. 57 Zit. nach: ebd., Dok. RF-109, 516 und 520; diese Ansprache datiert vom 21. Mai 1942.

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Kapitel 11: Wirtschaftspolitik

bung der Währungs- und Zollgrenzen zwischen den Niederlanden und Deutschland zu einer nahezu totalen Abschöpfung des Gütervorrats in den Niederlanden“ geführt habe.58 Und im Januar 1944 sah er sich genötigt, in einem Rundschreiben „nachdrücklichst darauf aufmerksam“ zu machen, „daß den Angehörigen des Reichskommissariats ebenso wie allen übrigen Personen der Ankauf und die Mitnahme von im Schleichhandel erworbenen Lebensmitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen verboten ist.“ Bei Zuwiderhandlung drohe „strengste Ahndung durch die zuständigen Behörden des Reiches“. 59 Die ökonomischen Folgen, die aus der Aufhebung der Zoll- und der Devisengrenze resultierten, machen somit deutlich, dass der Einbau der Niederlande in die nationalsozialistische Großraumwirtschaft nicht dem besetzten Land zugutekam, sondern letztlich der Ausbeutung des besetzten Landes Vorschub leistete. Damit das niederländische Staatsbudget auch unter den besonderen Belastungen, die Krieg und Besatzung mit sich brachten, gesichert werden konnte, war eine Reform des Steuersystems unabdingbar. Entsprechende Planungen hatte es schon vor dem deutschen Einmarsch gegeben, und Hein Klemann weist darauf hin, dass selbst niederländische Finanzbeamte wie Trip, die dem NS-Regime ausgesprochen distanziert gegenüberstanden, die Besatzungssituation ab Mai 1940 zu einer überfälligen Modernisierung des einheimischen Fiskalwesens genutzt haben.60 Aus Sicht der Besatzungsmacht wiederum war eine Anpassung der niederländischen Steuern an das in Deutschland geltende System sinnvoll, um die Kapitalverflechtung und die Aufhebung der Zoll- und Devisengrenze zu größtmöglicher Wirkung kommen zu lassen und die Niederlande bestmöglich in die nationalsozialistische Großraumwirtschaft einzubeziehen. So wurden im Laufe der Besatzungszeit nach deutschem Vorbild eine Reihe von Steuern geändert bzw. neu eingeführt: die Körperschaftssteuer, die Gewerbesteuer sowie eine progressive Lohn- und Einkommenssteuer, die Familien mit Kindern aus den unteren Einkommensklassen entlastete und direkt vom Arbeitgeber ans Finanzamt abgeführt wurde. Neu war auch, dass die Umsatzsteuer sich nicht mehr nur auf den Produzenten, sondern auch auf den Handel erstreckte. Eine Innovation nach deutschem Vorbild war darüber hinaus, dass Unternehmen Ausgaben für eine betriebliche Altersvorsorge steuerlich geltend machen konnten und damit das Rentensystem gestärkt wurde. Stärker besteuert wurden unter der deutschen Besatzung schließlich Vermögen und Dividenden. Die Steuerreform führte dazu, dass die Abgabenlast für Unternehmen von weniger als 0,8 (1938) auf 5 Prozent (1942) des Bruttoinlandsprodukts stieg, die Steuern auf Löhne und Einkommen kletterten von 7 (1940) auf 11 Prozent (1941) und mehr.61 Trotz dieser Steigerung hielt sich Seyß-Inquart nach dem 58 Seyß-Inquart an Himmler vom 2. Dezember 1943, BArch, NS 19/3403, Bl. 28-31, hier zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 484, 1248. Er bezog sich hier auf Musserts vierte Denkschrift vom 26. Oktober 1943, in der explizit von Plünderung („leeghalen“) die Rede war; siehe die Wiedergabe in: Cohen (Hrsg.), Vijf nota’s van Mussert aan Hitler, 78 f. 59 Rundschreiben des Reichskommissars vom 19. Januar 1944, NIOD, 14/116. 60 Zum Folgenden siehe Klemann, Nederland 1938–1948, 157–174. Kepper unterstreicht, dass nicht nur das Steuersystem, sondern auch die Höhe der Tarife dem deutschen Standard angeglichen wurde. Zu den empfindlichsten Erhöhungen, die hieraus resultierten, gehörte die Tabaksteuer: Sie wurde in den Besatzungsjahren um 100 Prozent angehoben (Die Wirtschaft der Niederlande, 113–117, hier 115). 61 Klemann, Nederland 1938–1948, 168 und 170 mit Tab. 5.3.

11.3 Gelenkte Wirtschaft

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Krieg nicht zu Unrecht zugute, dass die Staffelung der Lohn- und Einkommenssteuer nach sozialen Kriterien besonders für die unteren Bevölkerungsschichten zu einer Nettoentlastung geführt habe.62 Dass Fischböck seinerzeit dafür eingetreten war, die „Plutokraten“ empfindlich zu besteuern, um sich bei den kleinbürgerlichen und proletarischen Anhängern der NSB beliebt zu machen,63 fiel bei dieser Darstellung allerdings ebenso unter den Tisch wie die Tatsache, dass die Steuerreform letztlich dem politischen Ziel diente, die Niederlande für eine von NS-Deutschland beherrschte Großraumwirtschaft reif zu machen. 11.3 Gelenkte Wirtschaft. Instrumentalisierung, Ausbeutung und Raubpolitik

Obwohl die ‚germanischen‘ Niederlande in den ersten Monaten nach dem Westfeldzug mit größerem Wohlwollen der NS-Führung rechnen konnten als der besiegte romanische ‚Erbfeind‘ Frankreich oder gar Länder mit slawischer Bevölkerungsmehrheit, wurden auch hier parallel zum Bemühen, die Bevölkerung zur Mitarbeit am Aufbau der ‚Neuen Ordnung‘ zu gewinnen, bereits in der ersten Besatzungsphase Tendenzen deutlich, die auf eine Instrumentalisierung, Schwächung und schließlich Ausbeutung der niederländischen Volkswirtschaft zugunsten der Versorgungslage der deutschen Bevölkerung sowie der Rüstungsproduktion und letztlich der Kriegsführung des Deutschen Reiches hinausliefen. Es wurde von den Entscheidungsträgern in Kauf genommen, dass die niederländische Volkswirtschaft und die einheimische Bevölkerung durch erzwungene Abgabelasten, die Rationierung von Gütern und die Transferierung von Ressourcen nach Deutschland geschädigt wurden. Schon die Reichskreditkassenscheine, mit denen die Wehrmacht in eroberten Ländern Einkäufe tätigte, belasteten die Wirtschaft von Anfang an.64 Hierbei handelte es sich um Scheingeld, das auf Reichsmark ausgestellt war. Es durfte nicht in Deutschland verwendet werden, musste aber entsprechend den Kapitulationsbedingungen vom 15. Mai 1940 in den Niederlanden als gesetzliches Zahlungsmittel angenommen werden. Die niederländischen Banken waren verpflichtet, Reichskreditkassenscheine in Gulden umzutauschen. Sie lösten die Scheine dann bei der ‚Niederländischen Bank‘ ein, die anschließend den Wert – wiederum in Gulden – aus dem Staatshaushalt erstattet bekam. Der Staat schließlich blieb auf den Reichskreditkassenscheinen sitzen, weil er sie nicht in Reichsmark eintauschen konnte. Mit diesem System war es Wehrmachtsangehörigen möglich, sich im besetzten Land in beliebigem Umfang mit Waren und Dienstleistungen einzudecken, ohne dass sich das Deutsche Reich selbst einer Inflationsgefahr aussetzte. Zugleich wurde die Finanzierung der Einkäufe, die die Wehrmacht im besetzten Gebiet tätigte, auf den niederländischen Staat abgewälzt. In diesem Sinn waren die Reichskreditkassenscheine letztlich nichts anderes als „in Zahlungs62 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 25 und 58. Die von Trip erlassene Lohnsteuerverordnung ist als VO 224/1940 abgedruckt in: VOBl. NL 1940, 658–681. 63 Aktenvermerk von Ministerialrat Dr. Christian Breyhan (Reichsfinanzministerium) vom 9. Februar 1942, IfZ, IMG-Dok. NG-4294. 64 Siehe hierzu Klemann, Nederland 1938–1948, 102 und 130 f. sowie allgemein Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, Bd. 3/2, 724–726.

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form gekleidete Requisitionsscheine, und die deutschen Panzer und Kanonen waren ihre Deckung.“65 Mit Seyß-Inquarts Hilfe konnte sich die Wehrmacht auch bei der Frage nach Entschädigungen für Grundstücke und Gebäude wie in einem Selbstbedienungsladen verhalten. Eine Verordnung des Reichskommissars66 sah zwar vor, dass niederländische Eigentümer für Beschlagnahmungen, die die Wehrmacht für die Bedürfnisse ihrer Truppen oder ihrer Verwaltung durchführte, Entschädigungszahlungen erhalten konnten. Aber hierbei handelte es sich um eine reine Kannbestimmung, nicht um einen Rechtsanspruch. Außerdem war den deutschen Wehrmachtbezirksverwaltungen freigestellt, die Höhe von eventuellen Entschädigungsleistungen „nach freiem Ermessen“ festzulegen; die niederländischen Pachtbüros waren von ihnen allenfalls anzuhören (§ 4). Und für Grundstücke oder Gebäude der Regierung, der niederländischen Armee sowie von Exulanten wurden generell gar keine Entschädigungszahlungen geleistet. Mit diesen Bestimmungen war den deutschen Streitkräften reichlich Spielraum gegeben, sich auf Kosten des besetzten Landes auszubreiten. Die niederländischen Gerichte wurden wenig später durch eine weitere Verordnung von der Behandlung zivilrechtlicher Ansprüche gegen deutsche Personen oder Einrichtungen ausgeschlossen, die im Zusammenhang mit „Kriegsereignissen“ standen. Zugleich erteilte sich Seyß-Inquart die Selbstermächtigung, über alle zivilrechtlichen Fragen zu entscheiden, die in Verbindung mit Anordnungen der Besatzungsmacht standen.67 1943 schließlich wurden auch die Pachtbüros durch Seyß-Inquarts Anordnung ausgeschaltet, so „dass alle beschlagnahmten Gegenstände, die wir in Erfüllung uns obliegender Betreuungsaufgaben […] benötigen, sofort in Anspruch genommen werden und an deren Stelle der Erlös tritt.“68 Von nun an diktierte die Besatzungsmacht nach Gutdünken Konditionen und Höhe eventueller deutscher Zahlungen. Wehrmachtssoldaten sowie die deutschen Angestellten der Militär- und der Zivilverwaltung profitierten auch vom berühmt-berüchtigten ‚Schlepp-Erlass‘. Er beinhaltete, dass Angehörige der Besatzungsmacht ohne Begrenzung im Wert oder im Umfang so viele Waren ins Reich mitnehmen durften, wie sie selber tragen konnten.69 Hierfür dekretierte Göring auf einer Besprechung, die am 7. Oktober 1940 unter dem bezeichnenden Betreff Über die wirtschaftliche Ausnutzung der besetzten Gebiete stattfand, die Aufhebung von Einkaufsverboten für etliche Luxusgüter und bestimmte: „Was der Soldat tragen kann und was zu seinem persönlichen Gebrauch oder für seine Angehörigen bestimmt ist, soll er mitnehmen dürfen.“ Auch waren die Angehörigen der Besatzungsmacht von den strengen Regelungen des Bezugskartensystems auszunehmen, das für die einheimische Bevölkerung beim Erwerb von vielen Gü65 So die treffende Formulierung unter Bezugnahme auf ein zeitgenössisches Zitat des Reichsbankdirektors Max Kretzschmann von 1941 in: Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, Bd. 3/2, 725. 66 VO 144/1940 vom 20. September 1940, in: VOBl. NL 1940, 436–441. 67 VO 230/1940 vom 19. Dezember 1940, in: ebd., 699 f. 68 Rundschreiben des Reichskommissars an die Generalkommissare und Piesbergen vom 12. April 1943, NIOD, 14/101 (unvollständige Abschrift). 69 Ein entsprechender OKW-Erlass vom 1. August 1940 wurde den Angehörigen der Zivilverwaltung offiziell am 29. September 1940 von Piesbergen per Rundschreiben bekannt gemacht; NIOD, 14/111.

11.3 Gelenkte Wirtschaft

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tern bestand. Dies alles sollte es ermöglichen, Luxusgüter aus den eroberten Ländern „auch der deutschen Bevölkerung zugänglich zu machen“.70 Dass eine derartige Ermächtigung Schleichhandel und Schwarzmarkt Vorschub leistete, liegt auf der Hand; hiervon waren die Niederlande ebenso betroffen wie andere besetzte Gebiete. Obwohl sich negative Folgen für die Volkswirtschaften der betreffenden Länder schon bald abzeichneten und der Schlepp-Erlass die antideutsche Stimmung weiter anfachte, hielt die Reichsführung an dem Erlass fest. Am 6. August 1942 bekräftigte Göring dessen Gültigkeit und unterstrich ausdrücklich, dass „auf etwaige inflationistische Folgeerscheinungen dieses Verfahrens in den besetzten Gebieten […] keine Rücksicht genommen zu werden“ brauche.71 Keitel versuchte zwar, Schleichhandel dadurch zu verhindern, dass er „Wehrmachtsangehörigen und Wehrmachtsgefolge“ verbot, Waren „zu Handelszwecken“ nach Deutschland zu transportieren.72 Doch ungeachtet der Beauftragung von Oberst Veltjens mit der „zentralen Erfassung des schwarzen Marktes in den besetzten Gebieten“ stand der erklärte politische Wille der Reichsführung einer effektiven Kontrolle der Beschränkung des Warentransfers auf den persönlichen Bedarf entgegen. Die desaströsen Folgen der Ausbeutung der besetzten Länder nahm das nationalsozialistische Deutschland somit wissend und billigend in Kauf. Wie in anderen besetzten Ländern wurden Instrumentalisierung und Ausbeutung der Wirtschaft in den Niederlanden dadurch erleichtert, dass das Reichskommissariat von Anfang an auf die Etablierung einer „gelenkten Wirtschaft“73 zielte, die Eingriffe der Besatzungsmacht in ökonomische und sozioökonomische Abläufe ermöglichte und dem NS-Staat eine Steuerung von Produktionsprozessen, des Arbeitsmarktes sowie der Lohn- und Preisentwicklung erlaubte. Die Tendenz zur Ausbeutung verstärkte sich, als sich die Kriegslage ab 1942 gegen Deutschland zu wenden begann und das Reich immer stärker und rücksichtsloser die wirtschaftlichen Kapazitäten und Arbeitskräfte der besetzten Gebiete zugunsten seiner Rüstungsproduktion heranzog. Reichskreditkassenscheine und Schlepp-Erlass sind jedoch Belege dafür, dass das NS-Regime schon im ersten Besatzungsjahr auf Kosten der Niederlande wirtschaftete. Sie zeigen auch, dass zahlreiche wirtschaftspolitische Initiativen vom Reich ausgingen, vom Reichskommissariat aber aufgegriffen und umstandslos in den Niederlanden umgesetzt wurden. Wie noch zu zeigen sein wird, verwahrte sich Seyß-Inquart nur in Einzelfällen gegen Vorgaben aus Berlin, die neben einer ökonomischen Schwächung der niederländischen Volkswirtschaft zugleich die politische Stabilität der deutschen Besatzungsherrschaft zu belasten drohten. Im Allgemeinen lehnte sich Seyß-Inquart auch in der Wirtschaftspolitik eng an

70 Zit. nach dem Protokoll von Dr. Bergmann in: NIOD, 14/232, Bl. 3 und 5. Zum Schlepp-Erlass siehe auch Aly, Hitlers Volksstaat, 124-132. Vgl. auch das Rundschreiben von Piesbergen vom 24. September 1940, NIOD, 14/111. 71 Zit. nach dem Protokoll aus: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 39, Dok. USSR-170, 410; ähnlich ebd., 391. 72 Fernschreiben Keitels vom 16. August 1942, NIOD, 20/297. 73 Vgl. hierzu Overy, The Economy of the German „New Order“, 21 f. Siehe auch Kreutzmüller, Händler, Kap. 3.2. Zu den Steuerungsbereichen und -instrumenten siehe auch Boldorf, Neue Wege zur Erforschung der Wirtschaftsgeschichte Europas, 8.

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Vorgaben, Verfahrensweisen und Strukturen aus dem Deutschen Reich an. Nach deutschem Vorbild etwa setzte er Ende 1941 in seinem ‚Herrschaftsbereich‘ einen Sparstoffkommissar sowie Umstellungsbevollmächtigte ein, die im Produktionsbereich niederländischer Betriebe für eine möglichst große Einsparung von Rohstoffen und die verstärkte Verwendung von Ersatzstoffen zu sorgen hatten.74 Durch solche dirigistischen Maßnahmen wurden die Niederlande einmal mehr in das Korsett der angestrebten nationalsozialistischen Großraumwirtschaft eingepasst. Ausgesprochen symptomatisch für die staatliche Lenkung von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik ist die Zentralstelle für öffentliche Aufträge, die Seyß-Inquart Anfang August 1940 mit dem Ziel einrichtete, die Aufsicht über deutsche Aufträge für niederländische Unternehmen in seiner Behörde zu konzentrieren. In gewisser Weise trat seine Zivilverwaltung damit in Konkurrenz zum Oberkommando der Wehrmacht, das mit seiner Rüstungsinspektion Niederlande schon bald nach der Kapitulation der niederländischen Armee die Vergabe von rüstungswirtschaftlichen Aufträgen an sich gezogen hatte. Obwohl in Belgien und Nordfrankreich im Unterschied zu den Niederlanden eine Militärverwaltung bestehen blieb, nahm Göring Seyß-Inquarts Zentralstelle zum Vorbild, um für die besetzten Westgebiete ein einheitliches System von Auftragsvergaben zu kreieren: Ende August 1940 rief der Beauftragte für den Vierjahresplan Zentrale Auftragsstellen (ZAST) in Brüssel und Paris ins Leben; gleichzeitig wurde die Zentralstelle in Den Haag ebenfalls in ‚Zentrale Auftragsstelle‘ umbenannt.75 Über die ZAST in den Niederlanden wurden allein im Rumpfjahr 1940 Aufträge im Wert von 902 Millionen Gulden abgewickelt; dies entsprach gut 15 Prozent des niederländischen Bruttoinlandsprodukts aus dem Jahr 1939.76 Nachdem in den folgenden Monaten der Einfluss von Göring rapide abgenommen hatte und Albert Speer 1942 zum Rüstungsminister und Generalbevollmächtigten für die Rüstungsaufgaben im Vierjahresplan aufgestiegen war, wurde das System der Zentralauftragsstellen in den besetzten westeuropäischen Ländern einer reichseinheitlichen Zentralisierung unterworfen. Die von Speer in Angriff genommene Reorganisation des Beschaffungswesens beinhaltete, die Verteilung von ‚kriegswichtigen‘ Rohstoffen, Arbeitskräften oder Maschinen im Rahmen der sogenannten Zentralen Planung mit Sitz in Berlin in seinem umfangreichen Zuständigkeitsbereich zu konzentrieren.77 Demselben Ziel kam zugute, dass Speer ab 1942 74 Euphemistische Darstellung bei Kepper, Die Wirtschaft der Niederlande, 74. Zum Sparstoffkommissar, den Umstellungsbevollmächtigten und den Arbeitseinsatzingenieuren, die unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft für den rationellen Einsatz von Humanressourcen verantwortlich waren, vgl. auch die vom damaligen Sparstoffkommissar Schmitz herausgegebene zweisprachige Broschüre Anregungen und Richtlinien aus dem Jahr 1944. 75 Siehe Schreiben von Göring vom 26. August 1940, BArch, R 43 II/675, Bl. 14. Zur Zentralstelle siehe Klemann, Nederland 1938–1948, 65 und 76 sowie Kreutzmüller, Händler, 111. 76 Klemann, Nederland 1938–1948, 58 und 106. 77 Siehe Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, Bd. 2/1, 64. Mit der Zentralen Planung wollte Speer „eine planmässige, zentral gesteuerte und überwachte Verlagerung deutscher Aufträge“ in den besetzten Westgebieten ermöglichen. In diesem Zusammenhang ist seine Anordnung zu sehen, dass Beschaffungsstellen der öffentlichen Hand unter Einschluss der Wehrmacht ab 15. Januar 1944 nicht mehr

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über seine Bevollmächtigten in Den Haag den niederländischen Rijksbureaus [Reichsbüros], die ihre Anweisungen bisher von den Generalsekretariaten erhalten hatten, direkt Anordnungen über die Verteilung von Rohstoffen erteilte.78 Und der Rüstungs- und Beschaffungskommission (Rübeko), die Seyß-Inquart im März 1943 ins Leben rief, gehörten neben einem Vertreter der Rüstungsinspektion und den Leitern der Hauptabteilung Soziale Verwaltung und der Abteilung Gewerbliche Wirtschaft des Reichskommissariats der Leiter der Zentralauftragsstelle sowie Speers Beauftragter Fiebig an. Wehrmacht, Rüstungsministerium und Seyß-Inquart koordinierten mit der Rübeko die Bemühungen um eine „Steuerung sämtlicher für die Rüstung in den besetzten niederländischen Gebieten durchzuführenden Beschaffungsvorhaben unter voller Ausnutzung aller wirtschaftlichen Kräfte dieser Gebiete für die deutsche Rüstung“, wie es in Seyß-Inquarts Erlass hieß.79 Durch die Zentralisierung des ZAST-Systems, den unmittelbaren Zugriff des Deutschen Reiches auf die Rijksbureaus, die Einrichtung der Rübeko und später die hemmungslose Demontage niederländischer Betriebe ging der Einfluss des Reichskommissariats auf diesem Gebiet in der zweiten Kriegshälfte zurück. Noch stärker als unter Göring wurde die deutsche Wirtschaftspolitik unter Speers Ägide von Berlin aus kontrolliert und gesteuert.80 Auf anderen Gebieten blieb die Lenkung der niederländischen Wirtschaft in den Händen des Reichskommissariats. Beispielsweise kontrollierte es über den Centrale Dienst voor In- en Uitvoer die Ausfuhr niederländischer Waren in Drittländer.81 Auch war dem Generalkommissar für Finanz und Wirtschaft vorbehalten, die Veräußerung niederländischer Industrieund Handelsunternehmen im Wert von mehr als 100.000 Gulden an ausländische Personen oder Unternehmen zu genehmigen. Weil sich diese zwingende Bestimmung auch auf potenzielle Käufer im Deutschen Reich bezog, stellte die entsprechende Verordnung Seyß-Inquarts nicht zuletzt den Versuch des Reichskommissariats dar, die angestrebte deutsch-niederländische Kapitalverflechtung von Den Haag aus zu kanalisieren.82 Auf dem Gebiet der Beschäftigungspolitik erließ Seyß-Inquart wiederholt Verordnungen, mit denen die Rahmenbedingungen für Löhne und Gehälter reglementiert und staatliche Eingriffe in Tarifverträge legitimiert wurden.83 Auf die Interessen der Besatzungsmacht zugeschnitselbstständig Aufträge erteilen dürften. Siehe Speers Erlass vom 3. Dezember 1943, hier nach NIOD, 14/99. 78 Klemann, Nederland 1938–1948, 430 und 520. 79 NIOD, 20/9128. Der Erlass, den Seyß-Inquart eigenhändig am 1. März 1943 unterschrieb, wurde nicht im Verordnungsblatt für die besetzten niederländischen Gebiete veröffentlicht. 80 So auch Klemann, Nederland 1938–1948, 570 f. Eichholtz betont, dass die Ereignisse von Stalingrad die Zentralisierungstendenzen im Rüstungsbereich beförderten (Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, Bd. 2/1, 137 f.). 81 Kepper, Die Wirtschaft der Niederlande, 62. 82 VO 58/1941 vom 24. März 1941, in: VOBl. NL 1941, 204–207. Bei Zuwiderhandlung war die Möglichkeit drastischer Strafen vorgesehen; das Spektrum reichte bis zu fünf Jahren Gefängnis, einer Geldstrafe von 100.000 Gulden und der Einziehung der Werte, auf die sich die Zuwiderhandlung bezog (§§ 6 und 7). 83 Siehe besonders VO 217/1940 vom 28. November und VO 111/1940 vom 27. August 1940, in: VOBl. NL 1940, 628–630 bzw. 359 f.

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ten war auch das gleich zu Beginn der Besatzungszeit erlassene Verbot, Betriebe stillzulegen, die Arbeitszeit signifikant zu reduzieren und Arbeiter oder Angestellte zu entlassen.84 Es nutzte zwar zweifellos auch der niederländischen Volkswirtschaft, wenn Produktion und Handel aufrecht erhalten blieben. Für die Besatzungsverwaltung boten solche Bestimmungen aber darüber hinaus die Möglichkeit, die Schließung von Firmen, Standorten oder Produktionsbereichen zu unterbinden, wenn dies von ihr als Akt passiven Widerstands aufgefasst wurde. Eine forcierte Gleichschaltung und Nazifizierung schließlich bezweckte jene Verordnung, in der der Reichskommissar im Oktober 1942 niederländische Betriebe in „Betriebsführer“ und „Gefolgschaft“ einteilte. Ersterer hatte „für das Wohl der Gefolgschaft“ Sorge zu tragen, während Letztere dem Unternehmer „die in der Betriebsgemeinschaft begründete Treue“ schuldig waren (§ 2).85 Wie die Deutsche Zeitung in den Niederlanden zutreffend festhielt, lehnte sich das Reichskommissariat mit dieser Organisationsform eng an das Reichsgesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit von 1934 an.86 Für die niederländische Sprache allerdings war die aus dem genuin nationalsozialistischen Führerprinzip abgeleitete Terminologie unverträglich: In der niederländischen Fassung der Verordnung wurden die Begriffe „Betriebsführer“ und „Gefolgschaft“ auf Deutsch übernommen – ein niederländisches Pendant stand den Übersetzern nicht zur Verfügung. Zudem widersprach die politisierte Hierarchisierung des Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern fundamental der einheimischen Unternehmenskultur, die auf der Suche nach Konsens zwischen den Sozialpartnern aufgebaut war. An die Stelle von Gesetzen und Verordnungen, die während der Zwanziger- und Dreißigerjahre eine kooperative Form von Sozialpartnerschaft begründet hatten und in § 19 der Verordnung eigens aufgezählt wurden, trat nun ein von Staats wegen eingesetzter Bevollmächtigter für die Ordnung des Arbeitslebens. Er hatte – in Analogie zum Treuhänder der Arbeit im Deutschen Reich – die Befugnis, unter der Aufsicht des Generalsekretariats für Soziale Angelegenheiten allgemeingültige Anordnungen wie Richtlinien für Betriebsordnungen, Arbeitsverträge und Tarifordnungen zu treffen, die ihm „für die Erhaltung des Arbeitsfriedens“ notwendig erschienen (§ 5 und Abschnitt III).87 Mit der zwangsweisen Einführung des Führerprinzips in die niederländische Unternehmenskultur war ein weiterer Schritt zu einer staatlichen Lenkung der niederländischen Wirtschaft getan. 84 Siehe die Erste Ausführungsvorschrift des Generalsekretärs für Soziale Angelegenheiten Scholtens, VO 9/1940 vom 11. Juni 1940, in: ebd., 23 f. 85 VO 114/1942 vom 13. Oktober 1942, in: VOBl. NL 1942, 493–500. 86 DZN vom 17. Oktober 1942. Mit der gleichzeitig kolportierten Aussage des Leiters der Niederländischen Arbeitsfront Woudenberg, bei VO 114/1942 handele es sich nicht um „die Übernahme artfremder Vorstellungen und Einrichtungen“, sondern sie biete „der niederländischen Eigenart volle Freiheit zur Entfaltung im Rahmen der werdenden europäischen Gemeinschaft“, blieb das Sprachrohr des Reichskommissariats vage. Der DZN ging es um die propagandistische Wirkung von Woudenbergs Aussage, dass Seyß-Inquarts Verordnung vom 17. Oktober „einer neuen Geisteshaltung den gemässen Ausdruck gibt, den Betrieb in der Volksgemeinschaft verankert […] und alle, die zu Gunsten der Volksgemeinschaft arbeiten, auf einen Nenner bringt.“ Zum Vergleich zwischen dem Reich und den besetzten Niederlanden siehe auch den Artikel Die Ordnung des Arbeitslebens in der DZN vom 11. Dezember 1942. Das erwähnte Reichsgesetz vom 20. Januar 1934 ist abgedruckt in: RGBl. 1934/I, 45–56. 87 Mit Cornelius van Rijs wurde das Amt des Bevollmächtigten dreieinhalb Monate nach Erlass von VO 114/1942 durch Generalsekretär Verwey besetzt. Siehe DZN vom 4. Februar 1943.

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Auch eine aktive staatliche Preispolitik zeugt vom Bestreben der Besatzungsmacht, unter Einschaltung niederländischer Behörden die wirtschaftliche Entwicklung unter den Bedingungen von Krieg und Besatzung zu steuern.88 Noch im Sommer 1940 wurde ein Verbot erlassen, Preise gegenüber der Zeit vor dem Westfeldzug anzuheben.89 Ein Jahr später schrieb die Preisbildungsverordnung vor, dass Preise generell entsprechend „den Erfordernissen des allgemeinen Wohles unter besonderer Berücksichtigung der Kriegsumstände“ zu bilden waren.90 Um Preisaufschläge für Exporte nach Deutschland zu verhindern, dekretierte Seyß-Inquart, dass für niederländische Exportwaren nur jene Preise gefordert werden dürften, die innerhalb der besetzten Niederlande zulässig waren.91 Zur Überwachung der Preisentwicklung wurde im November 1940 mit dem NSB-Mitglied H. C. Schokker ein niederländischer Bevollmächtigter für die Preise ernannt. Für die gerichtliche Ahndung von Vergehen gegen die staatlichen Preisund ähnliche Vorschriften wiederum wurden den niederländischen Landgerichten ab Mitte Mai 1941 sogenannte Wirtschaftsrichter zugeordnet; diese wurden vom Generalsekretär für Justiz bestimmt.92 Der Bevollmächtigte für die Preise war Hirschfeld als dem Generalsekretär für Handel, Gewerbe und Schifffahrt unterstellt, hatte aber eng mit der Abteilung Preisbildung in Fischböcks Generalkommissariat zusammenzuarbeiten. Später wurde seine Bindung an den niederländischen Behördenapparat gelockert: In einer Verordnung vom Oktober 1942 bestimmte Seyß-Inquart, dass der Gemachtigde voor de Prijzen fortan dem Reichskommissar gegenüber „für die ordnungsgemäße Leitung der Geschäfte“ verantwortlich war.93 Mit all diesen Maßnahmen und Instrumenten sollte nicht nur im Interesse der einheimischen Bevölkerung Preisstabilität garantiert werden. Vermutlich wichtiger war es der Besatzungsverwaltung, zu verhindern, dass für deutsche Unternehmen der Import aus den Niederlanden zu teuer werden könnte und letztlich die Einbindung des Landes in die deutsche 88 Vgl. De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 7/1, 178–182. 89 VO 64/1940, am 11. Juli 1940 von Generalsekretär Hirschfeld unterzeichnet, in: VOBl. NL 1940, 211– 214. Schon unmittelbar nach Beginn der Besetzung des Landes hatte die Wehrmachtsführung einen Preisstop dekretiert (Kepper, Die Wirtschaft der Niederlande, 95). 90 VO 167/1941 vom 9. August 1941, § 1, in: ebd., 709. Die Verordnung, die sich an die deutsche Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939 anlehnte (RGBl. 1939/I, 1609–1613, hier § 22), war von den Generalsekretären Hirschfeld, Spitzen, Frederiks und Rost van Tonningen unterschrieben. Siehe auch die Verordnung der Generalsekretäre Hirschfeld und Tenkink vom 7. Januar 1941 über Strafen und Strafverfahren bei Verstößen gegen die geltenden Preisvorschriften (Preisüberwachungsverordnung, VO 11/1941, in: ebd., 28–39) mit den Änderungen in VO 12/1942 vom 20. Dezember 1941 (VOBl. NL 1942, 53–56). Mit den Verordnungen zur staatlichen Preisregulierung wurde nach deutschem Vorbild das „in den Niederlanden bisher unbekannte Verwaltungsstrafverfahren eingeführt“. Lobend hob Dr. Carl Trabold das hohe Strafmaß hervor, das bei Zuwiderhandlungen verhängt werden konnte und „abschreckend“ wirken sollte (Staatliche Preislenkung in den Niederlanden, 305). 91 VO 162/1941 vom 22. August 1941, in: VOBl. NL 1941, 692 f. 92 Siehe VO 218/1940, die die Generalsekretäre Hirschfeld, Spitzen, Frederiks, Trip, Verwey und Tenkink am 11. November 1940 in Kraft setzten (VOBl. NL 1940, 631–633) und VO 71/1941 von Hooykaas vom 4. April 1941 (VOBl. NL 1941, 297–300). In Nürnberg gab Seyß-Inquart unumwunden zu, dass die Einführung von Wirtschaftsrichtern auf seine Initiative zurückzuführen gewesen war (Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 705). 93 Siehe Seyß-Inquarts VO 115/1942 vom 13. Oktober 1942, § 2, in: VOBl. NL 1942, 503.

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Rüstungsplanung und die angestrebte Großraumwirtschaft erschwert würde.94 In diesem Sinn sah der Leiter der Abteilung Preisbildung, Regierungsrat Dr. Carl Trabold, in der staatlichen Preispolitik den Zweck, durch eine Angleichung des niederländischen Preisniveaus an den deutschen Standard „die Voraussetzungen für einen gegenseitigen Waren- und Güteraustausch mit dem Deutschen Reich zu schaffen.“95 Auch dürfte auf Seiten des Reichskommissariats eine staatliche Preisregulierung mit dem Ziel verbunden gewesen sein, die Inflationsentwicklung in Grenzen zu halten, die namentlich durch die von Deutschland erzwungenen exorbitanten Staatsausgaben und durch das Einströmen großer Mengen von Reichskreditkassenscheinen und später von konvertiblen Reichsmark permanent drohte. Es versteht sich von selbst, dass sich sowohl die staatliche Lohn- als auch die Preispolitik nur auf den legalen Teil der niederländischen Volkswirtschaft beziehen konnte. Je mehr sich ab 1942 Schwarzmarkt und Schwarzarbeit ausbreiteten, desto mehr nahm der regulatorische Einfluss der Besatzungsmacht faktisch ab. Nur bedingt ließ sich in der zweiten Hälfte der Besatzungszeit die wachsende Schattenwirtschaft mithilfe von Verordnungen, Razzien oder Kontrollen bekämpfen. Die Besatzungsverwaltung blieb aber nicht bei der staatlichen Reglementierung von Wirtschaftsabläufen stehen. Sie griff auch direkt und indirekt in Besitzstände des besetzten Landes und seiner Bevölkerung ein. An diesem Punkt ging das Konzept der gelenkten Wirtschaft nahtlos in ein System staatlich organisierten Raubs über. Besonders in der zweiten Phase der deutschen Wirtschaftspolitik in den besetzten Niederlanden nahm diese Tendenz zu und wurde unter den Bedingungen des ‚totalen Krieges‘, den Goebbels in seiner berühmten Sportpalastrede vom 18. Februar 1943 ausrief,96 drastisch verschärft. Die gesamtwirtschaftlichen Folgen der deutschen Raubzüge waren jedenfalls gravierend: Spätestens ab 1942/43 führte der Übergang zu unverhohlener, rücksichtsloser Ausbeutung für so gut wie alle Gesellschaftsschichten zu einem Rückgang im Wohlstandsniveau. Nun kam es auch in jenen Branchen zu einem Einbruch, die bisher insbesondere dank deutscher Aufträge ihre Produktionskapazitäten und Absatzmärkte hatten halten oder gar steigern können. Schwarzmarkt und Schwarzarbeit breiteten sich aus; sie waren Ausdruck einer Schattenwirtschaft, die sich deutscher Kon­ trolle entzog und jegliche ökonomische Stabilität untergrub.97 94 So auch Klemann, Nederland 1938–1948, 160. 95 Trabold, Staatliche Preislenkung in den Niederlanden, 302. 96 Goebbels’ Rede wurde in der niederländischen Presse ausführlich behandelt, vielfach abgedruckt und in etlichen Zeitungen unter patriotisch angehauchten Überschriften wie „Tausende von großartigen Niederländern kämpfen im Osten!“ oder „Erweist Euch als wahrhaftiger [sic] Niederländer!“ (Utrechtsche Courant vom 19. Februar bzw. Dagblad van Rotterdam vom 20. Februar 1943) mit dem Aufruf zur Meldung zur Waffen-SS oder anderen bewaffneten NS-Verbänden verbunden. In einer wissenschaftlich verantworteten Edition ist sie abgedruckt in Goebbels-Reden, Bd. 2, Dok. 17, 172–208. Wie Goebbels in seinem Tagebuch festhielt, zeigte sich Seyß-Inquart Anfang März bei einem persönlichen Gespräch mit dem Propagandaminister „über den totalen Krieg, über unseren Kampf gegen den Bolschewismus und über die Notwendigkeit eines europäischen Aufbauprogramms“ als ein „begeisterter Anhänger meiner jüngsten Politik“, von deren Umsetzung in den besetzten Gebieten habe sich der Reichskommissar „außerordentlich viel“ versprochen; zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 7, 485 (6. März 1943). 97 Vgl. hierzu Klemann, Nederland 1938–1948, 249–265 und 331–338.

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An der Requirierung, Verwaltung und zum Teil auch dem Verkauf von Gütern und Vermögenswerten waren zum einen diverse Abteilungen des Reichskommissariats beteiligt, insbesondere die Abteilung Feindvermögen, das Devisenschutzkommando und die noch zu behandelnde Dienststelle Mühlmann. Dazu kamen all die Organisationen wie die Liro, die Wirtschaftsprüfstelle, die Vermögensverwaltungs- und Rentenanstalt, die Niederländische Grundstücksverwaltung oder die Deutsche Revisions- und Treuhand A. G., die unter der politischen Aufsicht des Reichskommissars für die systematische Enteignung der jüdischen Bevölkerung zuständig waren.98 Zum anderen nahmen verschiedene deutsche Institutionen wie die Vertreter des Sonderauftrags Linz und der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg an der Plünderung des Landes teil. Auch wenn deutsche Instanzen in Konkurrenz untereinander standen, ergab sich aus niederländischer Sicht zu Recht der Eindruck, in einem Netz gefangen zu sein, mit dem im Laufe der fünf Besatzungsjahre viele Bereiche des ökonomischen und kulturellen Lebens ‚abgefischt‘ wurden. In manchen Fällen zögerte Seyß-Inquart nicht, niederländische Instanzen einzuschalten, um im Bedarfsfall leichter über Eigentum verfügen und zugleich nach außen hin die nationalsozialistische Unterwanderung der niederländischen Wirtschaft tarnen zu können. Dies war etwa der Fall, als der Reichskommissar im Juni 1942 den Bürgermeister von Amsterdam Voûte schriftlich anwies, Aktien der Amstel Hotel Maatschappij im Wert von beinahe 40.000 Gulden auf Rechnung der Hauptstadt aufzukaufen. Als daraufhin der Generalsekretär für Innere Angelegenheiten um nähere Erläuterungen bat, machte Seyß-Inquart unmissverständlich klar, dass er Äußerungen von Zweifel, Kritik oder gar Widerspruch nicht zu dulden bereit war: Handschriftlich notierte er zu Frederiks Bitte um ein baldiges Antwortschreiben am Rand: „unnötig, weil ich es will!“99 Einmal mehr wies er mit dieser energischen Notiz darauf hin, dass der Reichskommissar der niederländischen Beamtenschaft keinerlei Rechenschaft schuldig zu sein glaubte. Auch in Eigentumsfragen waren einheimische Behörden lediglich Organe, derer sich Hitlers Statthalter zur Durchführung seiner Anordnungen bediente. Die Grundlagen für eine Ausbeutung der Ressourcen eines besetzten Landes wie der Niederlande kamen natürlich aus Deutschland. Ein wichtiges Dokument in diesem Zusammenhang stellt das Schreiben vom 26. August 1940 dar, in dem Göring unter dem entlarvenden Betreff Planmässige Ausnutzung der Wirtschaft der besetzten westlichen Gebiete für die deutsche Kriegswirtschaft kundtat: „Es ist eine staatspolitische Notwendigkeit, daß zur Erfüllung der für die weitere Kriegsführung zu stellenden Forderungen die Kapazitäten und Rohstoffe in den besetzten westlichen Gebieten planmässig und in stärkstem Umfange zur Entlastung der deutschen Rüstungsfertigung und zur Erhöhung der Kriegspotentiale eingesetzt werden.“ 100 Die Bindung der Vergabe deutscher Aufträge an die Rüstungsinspektion Niederlande und die ZAST waren frühe Schritte auf dem Weg einer nachhaltigen Instrumentalisierung der niederländischen Wirtschaft für die Zwecke deutscher Rüstung und Kriegsführung. Die Be98 Siehe hierzu oben, S. 329. 99 Marginalie von Seyß-Inquart (Hervorhebung im Original) auf Schreiben von Frederiks an Wimmer vom 6./7. Juli 1942, NIOD, 20/227. 100 BArch, R 43 II/675, Bl. 14.

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satzungsmacht griff jedenfalls in erkennbar ausbeuterischer Absicht immer unverhohlener in niederländische Besitzstände ein, je deutlicher sich ab der zweiten Besatzungsphase abzeichnete, dass die einheimische Bevölkerung nicht den in sie gesetzten Erwartungen auf eine gelenkte Selbstnazifizierung gerecht würde, und je mehr Widerstandsaktionen und militärische Rückschläge des Großdeutschen Reiches dem NS-Regime zusetzten. So forderte Seyß-Inquart 1942 zunächst einheimische Unternehmen auf, den zuständigen Besatzungsbehörden den Bedarf oder den Bestand an Arbeitskräften, Rohstoffen, Energieträgern und Produkten mitzuteilen.101 Hierauf aufbauend ermächtigte er nur wenig später Fischböck, Güter welcher Art auch immer „zur Benutzung“ oder zur „Inhaberschaft“ anzufordern, „wenn er es im öffentlichen Interesse für notwendig hält“. Dies könne der Generalkommissar für Finanz und Wirtschaft auch „zugunsten eines Dritten“ tun, und zwar „frei von allen darauf ruhenden Lasten und Rechten ausser den Deichlasten.“102 Damit waren die Grundlagen gelegt, um in den besetzten Niederlanden Güter zugunsten der deutschen Kriegswirtschaft, vielleicht bei Bedarf auch im Sinne von Klientelbegünstigung von NSB-Mitgliedern zu konfiszieren. Einen Kulminationspunkt der deutschen Bestrebungen zur Ausrichtung der niederländischen Wirtschaft auf die ökonomischen und militärpolitischen Bedürfnisse des Großdeutschen Reiches stellte eine Anordnung dar, die Fischböck Mitte März 1943 erließ. Während Seyß-Inquart sich zu diesem Zeitpunkt aus Anlass des fünften Jahrestags des Anschlusses Österreichs in seiner alten Heimat aufhielt,103 gab der Generalkommissar für Finanz und Wirtschaft bekannt, dass in den Niederlanden fortan nur noch jene Industriebetriebe zugelassen seien, „die kriegs- oder lebensnotwendig sind.“104 Alle anderen Betriebe mussten mit Schließung rechnen, insbesondere Unternehmen, die Luxusgüter produzierten. Somit wurde die gesamte niederländische Volkswirtschaft jetzt mehr als zuvor mit zunehmender Radikalität auf die deutsche Rüstungsproduktion hin ausgerichtet. Diese Tendenz wurde noch forciert durch Anordnungen, mit denen die Generalkommissare Schmidt und Ritterbusch 1943 die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Rekrutierung von Zwangsarbeitern schufen.105 Zum Erlass ihrer Anordnungen waren die Generalkommissare übrigens von Seyß-Inquart vor dessen Reise in die Alpen- und Donaugaue eigens ermächtigt worden – hatte der Reichskommissar doch am 19. Februar 1943 per Verordnung den Generalkommissaren für Finanz und Wirtschaft bzw. zur besonderen Verwendung die Vollmacht zu Maßnahmen erteilt, „die zur Sicherung der Erzeugung oder Verteilung von Gütern oder des Arbeitseinsatzes erforderlich sind.“ 106 Die Lenkung, Instrumentalisierung und Ausbeutung der niederländischen Volkswirtschaft erscheint somit wenig 101 VO 108/1942 vom 7. Oktober 1942, in: VOBl. NL 1942, 478 f. Bei den Strafandrohungen bei Zuwiderhandlung wurde neben Geldstrafe Zuchthaus oder Gefängnis angedroht (§ 2). Während hierfür in der niederländischen Übersetzung eine Höchstgrenze von fünf Jahren vorgeschrieben wurde, enthielt die deutsche Fassung keine Begrenzung. 102 VO 139/1942 vom 14. Dezember 1942, § 2 und 5, in: ebd., 605 f. 103 Laut Fernschreiben an Lammers vom 7. März 1943 (BArch, R 43 II/677, Bl. 152) war er von Gauleiter Eigruber (Oberdonau) eingeladen worden. 104 Veröffentlicht als VO 30/1943 vom 15. März 1943, hier Art. I, in: VOBl. NL 1943, 135 f. 105 Siehe hierzu den nächsten Abschnitt in diesem Kapitel. 106 VO 16/1943 vom 19. Februar 1943, § 1, in: VOBl. NL 1943, 78.

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überraschend als Ergebnis eines arbeitsteiligen Verfahrens unter der politischen Verantwortung des Reichskommissars. Eine erhebliche Belastung für die niederländische Volkswirtschaft stellten die sogenannten Besatzungskosten dar. Wie später der französische Hilfsankläger Charles Gerthoffer zutreffend vor dem Internationalen Militärgerichtshof feststellen sollte,107 gingen sie bei weitem über das Maß hinaus, das einer Besatzungsmacht nach der Haager Landkriegsordnung zur Bestreitung der Ausgaben für ihre Besatzungsarmee und -verwaltung zustand und liefen im Verbund mit anderen Methoden wirtschaftlicher Plünderung auf eine Ausbeutung des besetzten Landes hinaus. Seyß-Inquart selber hat nach dem Krieg zugegeben, dass die Besatzungskosten in den Niederlanden „aus rein optisch-politischen Gründen“ als „freiwillige Zahlungen“ getarnt und nicht ausschließlich für den Unterhalt derjenigen Einheiten oder Abteilungen von Wehrmacht, Polizei und Zivilverwaltung erhoben wurden, die im besetzten Land eingesetzt waren.108 Neben der erzwungenen Abgabe von Arbeitskräften und Lebensmitteln wurde das besetzte Land mit Besatzungskosten in der Gesamthöhe von 6,356 Milliarden Gulden109 also auch durch gigantische finanzielle Zahlungsverpflichtungen zu einer völkerrechtswidrigen Unterstützung der deutschen Rüstungsproduktion und damit letztlich der nationalsozialistischen Kriegsführung gezwungen. Dazu kamen zwischen 1940 und 1945 Ausgaben von 228 Millionen Gulden für den Unterhalt der deutschen Zivilverwaltung in den Niederlanden.110 Das NS-Regime bestand darauf, einen Teil der Besatzungskosten in Gold ausgezahlt zu bekommen. Damit fuhr man eine Beute ein, die inflationsresistent war und bei Bedarf für die Bedeckung kriegswirtschaftlicher Importe eingesetzt werden konnte. Nach dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges wurde die ohnehin gewaltige Dimension der zu leistenden Besatzungskosten noch einmal gesteigert. Anfang Mai 1942 wies Seyß-Inquart in Absprache mit dem Reichsfinanzministerium den Präsidenten der ‚Niederländischen Bank‘ Rost van Tonningen nämlich an, zusätzlich zu den regulären Besatzungskosten monatlich 50 Millionen Reichsmark an die Reichshauptkasse in Berlin zu überweisen;111 107 Vgl. seine Ausführungen in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 5, 619 f. Im Vorfeld hatte die niederländische Regierung in einem Bericht über die wirtschaftliche Plünderung des Landes festgehalten, „que l’Allemagne, en imposant les soi-disant ‚frais d’occupation‘ agissait tout-à-fait arbitrairement et sans tenir compte des clauses de la loi internationale.“ (ebd., Bd. 38, Dok. RF-123, 525) 108 Seyß-Inquart nach Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 82 und Ders., Denkschrift, Bl. 56 f. 109 Klemann, Die niederländische Wirtschaft von 1938 bis 1948, 102, Tab. 4.1. Vgl. auch Aalders, Geraubt!, 36–39. 110 Klemann, Die niederländische Wirtschaft von 1938 bis 1948, 102, Tab. 4.1. 111 Seyß-Inquart an Rost van Tonningen vom 2. Mai 1942, in: Correspondentie van Mr. M. M. Rost van Tonningen, Bd. 1, Dok. 303, 828. Obwohl Rost van Tonningen erklärtermaßen ein Anhänger nationalsozialistischer „Grossraumpolitik“ und „Grossraumwirtschaft“ war (siehe seinen Brief an den Reichskommissar vom 13. Januar 1943, in: ebd., Bd. 2, Dok. 71, 138 f.), zeigte er sich über Seyß-Inquarts Anordnung alles andere als begeistert. Nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus politischen Gründen war er über die Einführung von Kosten zur Mitfinanzierung des deutsch-sowjetischen Krieges enttäuscht. In einem Brief an Mussert vom 17. Juli 1942 wertete er diese Maßnahme als unerwünschten Ausdruck des Fortbestands des Kriegszustands zwischen Deutschland und den Niederlanden, während die NSB doch aus seiner Sicht alles tat, um mit der Gestellung von Kriegsfreiwilligen in Osteuropa von Deutschland als ein ‚germani-

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die Einhebung dieser unfreiwilligen Solidaritätsabgabe der Niederlande zum „Europäischen Krieg“112 wurde rückwirkend zum 1. Juli 1941 dekretiert. Als Begründung für eine solche Maßnahme gab Fischböck, der Anfang Februar 1942 im Auftrag Seyß-Inquarts in Berlin die Verhandlungen zu diesen sogenannten äußeren Besatzungskosten mit Schwerin von Krosigk geführt hatte, laut Protokoll eine Vermengung von ideologischen, wirtschaftlichen und kriegspolitischen Motiven an: „Die europäischen Völker führten einen gemeinsamen Kampf. Deutschland sei auf die Leistungen der anderen Länder angewiesen. […] Wenn Deutschland im wesentlichen die Menschen und das Blut hergebe, so sei es nicht mehr als recht und billig, wenn man die wirtschaftlichen Leistungen der anderen Länder als endgültige Beiträge ansehe.“ In Übereinstimmung mit Seyß-Inquart war Fischböck darauf aus, dieses Modell zum Vorbild für andere besetzte Länder zu nehmen.113 Ende 1943 wurde der Zwangsbeitrag zur Finanzierung des Krieges gegen die Sowjetunion verdoppelt, und zusätzlich wurden die regulären Besatzungskosten um 20 Millionen auf 120 Millionen Gulden pro Monat angehoben.114 Klemann schätzt, dass die Niederlande hierdurch bis Kriegsende gezwungen wurden, noch einmal 1,707 Milliarden Gulden ins Reich zu transferieren.115 Angesichts der schwindelerregenden Beträge, die die niederländische Volkswirtschaft zugunsten der deutschen Kriegsführung schädigten, schien es um einen vergleichsweise geringen Betrag zu gehen, als Wimmer unmittelbar nach dem ‚verrückten Dienstag‘ das niederländische Generalsekretariat für Finanzen ohne jede sachliche Begründung und ohne Hinweis auf den Verwendungszweck anwies, der deutschen Zivilverwaltung sofort einen „Kredit“ von 15 Millionen Gulden zur Verfügung zu stellen.116 Doch selbst dieser relativ kleine Betrag veranschaulicht, auf welche Weise das Reichskommissariat das besetzte Land ausbeutete, und zwar nicht erst beim Vormarsch der alliierten Truppen: unter Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung und mit einer räuberischen Dreistigkeit, die man sprachlich durch verharmlosende Begriffe wie „Kredit“ und „freiwillige Zahlung“ zu kaschieren versuchte. Die Reichsführung konnte sich in diesem Zusammenhang auf Seyß-Inquarts Zusage verlassen, dass die besetzten Niederlande die von Deutschland geforderten Besatzungskosten „unter allen Umständen“ aufbringen würden und es – Görings Darstellung nach – Aufgabe des Reichskommissariats sei, „diese Forderung mit allen Mitteln durchzudrücken und nicht etwa in irgendeiner Weise auf die Wünsche der Holländer einzugehen.“117 sches‘ Land anerkannt zu werden. Nicht zu Unrecht befürchtete er „schwere psychische Belastungen für unsere Kämpfer an der Front und die [Nationalsozialistische] Bewegung innerhalb unseres Volkes“, wenn auf deutscher Seite von „Kriegsbeute“ und „Besatzungskosten“ die Rede sei (ebd., Dok. 21, 58). Zu dem niederländischen Beitrag zum deutsch-sowjetischen Krieg siehe auch Klemann, Nederland 1938–1948, 152 f. 112 So die Formulierung von Seyß-Inquart im Schreiben an Schwerin von Krosigk vom 9. Februar 1942, IfZ, IMG-Dok. NG-4294. 113 Aktenvermerk Breyhans über die Besprechung vom 6. Februar 1942, ebd.; Hervorhebung im Original. 114 Vgl. Rost van Tonningen an Seyß-Inquart vom 18. Dezember 1943, NIOD, 169-170/95/81656-67. 115 Klemann, Die niederländische Wirtschaft von 1938 bis 1948, 102, Tab. 4.1. 116 Wimmer an Rost van Tonningen vom 7. September 1944, NIOD, 20/334. 117 So die Wiedergabe von Seyß-Inquarts Wortmeldung durch Göring auf der Besprechung vom 7. Oktober 1940 laut Protokoll von Dr. Bergmann, NIOD, 14/232.

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Im Vergleich zu den Bewohnern der anderen besetzten Länder in West- und Nordeuropa rangierte die niederländische Bevölkerung bei den Besatzungskosten denn auch am oberen Ende der Skala; höhere Pro-Kopf-Beträge wurden nur den Einwohnern von Norwegen abverlangt.118 Für den niederländischen Staatshaushalt führten die erzwungenen Abgaben in ihrer Summe rapide zu einem gewaltigen Defizit. Es wurde noch erhöht durch Ausgaben, die aus den Besonderheiten der Kriegs- und Besatzungssituation resultierten. Hierzu zählten etwa Kosten für den Wiederaufbau von Infrastruktur und zerstörten Städten oder Stadtteilen, für die Abwicklung der Demobilisierung der niederländischen Soldaten, für die Instandsetzung oder den Auf- oder Abbau von Verteidigungsanlagen, für die Räumung und Evakuierung bestimmter Gebiete, für den Unterhalt niederländischer Arbeiter im Ausland und ihrer Familien sowie für Entschädigungen für Zerstörungen, die durch militärische Operationen entstanden waren. Die niederländische Regierung lastete der Besatzungsmacht im Umfeld des Nürnberger Prozesses darüber hinaus nicht zu Unrecht noch Ausgaben an, die durch eine Aufblähung des Polizeiapparats und anderer staatlicher Behörden, die Einführung von Personalausweisen, erzwungene Anleihen oder die Errichtung genuin nationalsozialistischer Behörden wie des Generalsekretariats für Volksaufklärung und Künste verursacht worden waren.119 Durch diese und zahlreiche weitere kriegs- oder besatzungsbedingte Ausgaben wurde das Land in eine enorme Staatsverschuldung getrieben, die bis 1945 auf 223 Prozent des Nationaleinkommens auflief.120 Auf diese Weise sahen sich die Niederlande sozusagen gezwungen, ihre eigene Ausbeutung zu finanzieren.121 Was für den niederländischen Staatshaushalt desaströse Konsequenzen hatte, wurde in Berlin wenig überraschend positiv wahrgenommen. Göring zeigte sich „besonders dankbar“ für „die Erleichterung unserer Gold- und Devisennöte“, die die Zwangsabgabe aus den Niederlanden für das Reich bedeutete.122 Und in einem Bericht der Forschungsstelle für Wehrwirtschaft hieß es im Herbst 1943 anerkennend, die Niederlande seien das einzige besetzte Land, das nicht nur innere Besatzungskosten zum Unterhalt der dort stationierten deutschen Truppen zahle, sondern auch laufend einen Betrag an äußeren Besatzungskosten leiste, der letztlich der Kriegswirtschaft und Kriegspolitik des Großdeutschen Reiches zugutekam.123 Neben dem Staatshaushalt und Unternehmen waren auch zivilgesellschaftliche Organisationen unterschiedlichster Art, das exilierte Königshaus sowie Privatpersonen von massiven 118 Siehe die Ausführungen und Zahlen bei Klemann, Die niederländische Wirtschaft von 1938 bis 1948, 61 mit Tab. 2 und Ders., Nederland 1938–1948, 117, Tab. 4.6. Vgl. auch Boelcke, Die Kosten von Hitlers Krieg, 110, Tab. 30. 119 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 38, Dok. RF-123, 534 f. 120 Vgl. Klemann, Nederland 1938–1948, 152–157 und 181. Zur Verschuldung der Niederlande unter der deutschen Besatzung siehe auch Rinkefeil, Das niederländische Finanzwesen, 288, Kepper, Die Wirtschaft der Niederlande, 110 f. und Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 5, 624 unter Bezugnahme auf IMG-Dok. RF-126. 121 Boldorf, Neue Wege zur Erforschung der Wirtschaftsgeschichte Europas, 15. 122 Zit. nach: Aly, Hitlers Volksstaat, 169. 123 Die finanziellen Leistungen der besetzten Gebiete in vier Kriegsjahren, Anlage zum Bericht der Forschungsstelle für Wehrwirtschaft (Berlin) vom 29. Oktober 1943, Bl. 7, NIOD, 206/700-1-83.

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Eingriffen in Besitzbestände betroffen. In einigen Fällen ging es um kaum verhüllten Raub zugunsten des Reiches, in anderen Fällen wurde der Eingriff in bestehende Besitzbestände vom Regime im Sinne von ‚Gegnerbekämpfung‘ mit politisch-weltanschaulichen Motiven ‚begründet‘. In beiden Fällen widersprach die Konfiszierung oder gar Liquidierung von Privateigentum in eklatanter Weise der Haager Landkriegsordnung: In ihrem III. Abschnitt waren Plünderungen und das Einziehen von Privateigentum ausdrücklich verboten worden.124 Zusammen mit den Juden waren jene Personen, die das Regime als ‚deutsch-‘ oder ‚reichsfeindlich‘ einstufte, eine besondere Zielgruppe bei der Konfiszierung von Vermögensbeständen. Mit der Verordnung über die Behandlung feindlichen Vermögens schuf der Reichskommissar am 24. Juni 1940 in Anlehnung an das Reichsrecht125 frühzeitig die Möglichkeit, das Vermögen dieser Personen einzuziehen, ihre Auslandszahlungen zu unterbinden und die Verfügung über ihre Vermögenswerte oder Unternehmen einem Verwalter zu übertragen, der von Generalkommissar Fischböck einzusetzen war. Hierzu waren die entsprechenden Werte innerhalb von nur einer Woche bei der Deutschen Revisions- und Treuhand A. G. in Den Haag anzumelden – einer Einrichtung, die ja auch in die Arisierung involviert war. Für die Umsetzung der Verordnung vom 24. Juni wurde innerhalb des Reichskommissariats die Abteilung Feindvermögen geschaffen; sie stand ab Herbst 1940 unter der Leitung von Werner Schröder, der – wie an anderer Stelle bereits erwähnt – ab 1942 Seyß-Inquarts Beauftragter für die Judenverfolgung werden sollte. Mit der Einziehung des Vermögens von Personen oder Vereinigungen, „die deutsch- oder reichsfeindliche Bestrebungen gefördert haben, fördern oder von denen anzunehmen ist, dass sie solche Bestrebungen in Zukunft fördern werden“,126 beauftragte Seyß-Inquart sodann die deutsche Sicherheitspolizei. Die weitgefasste Formulierung, mit der er der Polizei eine Generalermächtigung erteilte, ließ den Besatzungsbehörden von vornherein erheblichen Spielraum, und die schon genannten Verordnungen über nichtwirtschaftliche Personenvereinigungen und Stiftungen weiteten die ohnehin großen Zugriffsmöglichkeiten auf nichtfaschistische Organisationen und deren Vermögensbestände aus. Von all diesen Möglichkeiten hat die Besatzungsmacht reichlich Gebrauch gemacht. In etlichen Fällen folgte auf die Beschlagnahmung von Vermögen das Verbot der betreffenden Organisationen. Auch die Besitzungen der königlichen Familie fielen unter die Rubrik „feindliches Vermögen“; deshalb erstreckte sich die Verordnung vom 24. Juni 1940 auch auf deren Grundstücke, Schlösser und sonstige Gebäude sowie weitere Vermögensbestände. Bemerkenswerterweise war elf Tage vorher der Präsident der Industrie- und Handelskammer Köln, der politisch und wirtschaftlich einflussreiche Bankier Kurt Freiherr von Schröder, mit der Verwaltung der königlichen Besitzungen betraut worden.127 Seyß-Inquarts Verordnung über die Behandlung 124 Siehe die Edition Laun (Hrsg.), Die Haager Landkriegsordnung, 89-93. 125 VO 26/1940 vom 24. Juni (in: VOBl. NL 1940, 66–76) und Verordnung über die Behandlung feindlichen Vermögens vom 15. Januar 1940 (in: RGBl. 1940/I, 191–195). Zur Behandlung von ‚Feindvermögen‘ in den Niederlanden siehe auch Aalders, Geraubt!, 189–191. 126 VO 33/1940 vom 4. Juli 1940, § 1, in: VOBl. NL 1940, 128. 127 Meiburg/Rest, Der Zugriff auf das wirtschaftliche Vermögen, 585. Schröder hatte sich schon vor der Macht-

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feindlichen Vermögens legalisierte somit nachträglich, was in der Praxis bereits in die Wege geleitet worden war. Einen Schritt weiter ging der Reichskommissar, als Königin Wilhelmina im Sommer des folgenden Jahres wiederholt in Rundfunkansprachen gegen die deutsche Besetzung ihres Landes Stellung bezog und dazu aufrief, an der Seite der Sowjetunion gegen das NS-Regime zu kämpfen: Nun holte sich Seyß-Inquart bei Hitler die Erlaubnis, das königliche Vermögen zu konfiszieren.128 Auf dieser Grundlage zog er im September 1941 alles Vermögen „der lebenden Mitglieder des Hauses Oranien-Nassau“ ein, das sich in den Niederlanden befand, und stellte es dem Wehrmachtbefehlshaber für „gemeinnützige Zwecke“ zur Verfügung.129 Es entsprach wohl seiner Vorstellung von Gemeinnützigkeit, dass die Wehrmacht die Schlösser Het Loo und Soestdijk als Lazarette nutzte.130 Auch wenn Seyß-Inquart sich nach dem Krieg gegen den Vorwurf zur Wehr setzte, er habe sich als Reichskommissar der Plünderung des königlichen Vermögens schuldig gemacht131 – nun ging es nicht mehr um eine treuhänderische Verwaltung, sondern um die „Verwertung des königlichen Kronvermögens“. Für diesen Zweck wurde mit dem Rechtsanwalt Dr. D. Bockamp ein Bevollmächtigter eingesetzt, der an die Stelle von Schröder trat. Bockamp hatte dafür zu sorgen, „daß das Vermögen in seiner Substanz aufgelöst wird und in Zukunft nicht mehr einen einheitlichen Vermögenskörper bildet.“132 In der Folgezeit scheint sich Seyß-Inquart aber nicht ausführlich mit der ‚Filetierung‘ und Liquidierung des königlichen „Feindvermögens“ beschäftigt zu haben – höchstwahrscheinlich wollte das NS-Regime hier wie bei der gesamten Feindvermögensverwaltung verhindern, dass alliierte Staaten vor einem möglichen Friedensschluss aus Vergeltung ähnliche Maßnahmen gegen deutsche Vermögensbestände vornehmen würden.133 Außerdem hätte sich der königliche Besitz im Falle eines deutschen Sieges als eine Trumpfkarte in Verhandlungen mit den Kriegsgegnern einbringen lassen. Eine solche taktische ‚Zurückhaltung‘ galt aus Sicht des NS-Regimes jedoch als überholt, nachdem die alliierten Truppen seit dem D-Day rasch an Terrain gewannen. Nun wurden Planungen intensiviert, die bis dahin offenbar nur ‚auf Sparflamme‘ entwickelt worden waren. Im Sommer 1944 jedenfalls gab Seyß-Inquart vor, wie das „ehemals königliche Vermögen“ ergreifung für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler ausgesprochen und zusammen mit Wilhelm Keppler in seiner Villa im Kölner Stadtwaldgürtel jene berühmte Geheimbesprechung zwischen Papen und Hitler arrangiert, auf der am 4. Januar 1933 die Weichen für eine Regierungsbeteiligung der NSDAP gestellt wurden. Seitdem war der bestens vernetzte Bankier ein „willfähriger Mitläufer und Vollstrecker der machtpolitischen Ansprüche der Nationalsozialisten“, etwa als Schatzmeister des Freundeskreises Heinrich Himmler (Soénius, Adolf Hitlers Kölner Treffen). 128 Siehe hierzu Bormann an Lammers vom 3. Juli (BArch, R 43 II/675a, Bl. 15), Fernschreiben ans Auswärtige Amt vom 9. Juli (PA AA, R 29678) und Lammers an Seyß-Inquart vom 18. Juli 1941 (BArch, R 43 II/1463, Bl. 108). 129 Seyß-Inquart an Lammers vom 13. September 1941 mit der entsprechenden Verlautbarung des Reichskommissars, BArch, R 43 II/1463, Bl. 109 f. 130 Fasseur, Wilhelmina, 337 f. 131 Seyß-Inquart, Schlussausfuehrungen, Bl. 60. 132 Aus einem Bericht vom 21. Januar 1943, zit. nach: Meiburg/Rest, Der Zugriff auf das wirtschaftliche Vermögen, 585. 133 Ähnlich Kreutzmüller, Händler, 134.

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zu zerschlagen und zugunsten Deutschlands zu kapitalisieren sei. 1) Der niederländische Staat sollte verpflichtet werden, einer Stiftung namens Kriegsschädenhilfe jährlich 100.000 Gulden für jene Immobilien zu überweisen, die man als „Staatseigentum“ betrachtete. Die Stiftung werde, so ordnete der Reichskommissar an, der Aufsicht von Generalsekretär Rost van Tonningen unterstellt, aber von der Reichsrechenkammer kontrolliert. Für die Leitung der Stiftung war der NSB-Mann J. W. Baron van Haersolte van Haerst vorgesehen – auf diese Weise konnte die Nationaal-Socialistische Beweging in die Verwaltung des königlichen Vermögens eingebunden werden, ohne dass Mussert eine unabhängige Verfügung über die entsprechenden Werte zugestanden wurde. 2) Das „Privateigentum des Hauses Oranien-Nassau“ sollte für zwölf Millionen Gulden an den niederländischen Staat verkauft werden, der Erlös sei ebenfalls der Stiftung Kriegsschädenhilfe zur Verfügung zu stellen. Vom Zwangsverkauf der „privaten“ Immobilien des niederländischen Königshauses ausgenommen wurden jedoch das Den Haager Stadtschloss Lange Voorhout und der bei Apeldoorn gelegene Palast Het Loo, der weiterhin von der Wehrmacht genutzt werden dürfe.134 Mit dieser Konstruktion, über die Seyß-Inquart schon Monate vorher mit Mussert Gespräche geführt hatte,135 sollten das Deutsche Reich, die NSB-Führung um Mussert und der ehrgeizige Rost van Tonningen gleichermaßen zufriedengestellt werden, das Reichskommissariat positionierte sich in dieser Angelegenheit als Scharnier zwischen den verschiedenen Interessentengruppen. Ganz offensichtlich aber ist die Zerschlagung des königlichen Vermögens nicht weit gediehen, und die genannte Stiftung scheint nicht gegründet, zumindest nicht in Aktion getreten zu sein. Der bald ausbrechende Septemberstreik, der anschließende Hungerwinter und die drohende Niederlage des Großdeutschen Reiches absorbierten alle Energien der Besatzungsverwaltung und ließen keinen Raum für eine Form der Liquidierung des königlichen Vermögens, die Seyß-Inquarts ausgeklügeltem System entsprochen hätte. Breite Kreise der niederländischen Bevölkerung waren ab 1941/42 besonders von der zwangsweisen Abgabe von Gebrauchsgegenständen betroffen.136 Radiogeräte, Textilien und Geschirr mussten zugunsten der Wehrmacht oder der deutschen Bevölkerung abgegeben werden – insbesondere, als die alliierten Luftangriffe auf das Reich zunahmen. Psychologisch besonders heikel und politisch brisant war die Requirierung von 50.000 Fahrrädern, um die der Chef des Generalstabs des Wehrmachtbefehlshabers Seyß-Inquart im Juli 1942 bat. Die Räder sollten der Wehrmacht im Falle einer Landung der Alliierten an der Küste zur „schnelleren Verschiebung von Reserven“ dienen.137 Der jüdischen Bevölkerung war schon zweieinhalb Wochen vorher durch eine Anordnung Rauters der Besitz von Fahrrädern und allem Zubehör

134 Darstellung nach Schreiben Seyß-Inquarts an Wimmer vom 5. August und Aktenvermerk Königliches Vermögen. Liquidation von Prof. Dr. Hans Spanner (Abteilung Rechtsetzung und Staatsrecht des Generalkommissariats für Verwaltung und Justiz) vom 30. August 1944, beide in NIOD, 20/9157. 135 Am 15. November 1943, 14. Januar und 25. Februar 1944 fanden in Haus Clingendael Besprechungen zwischen Seyß-Inquart und Mussert über diese Angelegenheit statt. Siehe Mussert an Seyß-Inquart vom 22. April 1944, Abschriften auf Deutsch und Niederländisch in: NIOD, 123/216, Mappe 14. 136 Aalders, Geraubt!, 51. 137 Aus dem Schreiben vom 9. Juli 1942 an Seyß-Inquart, zit. nach: De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/1, 60. Insgesamt gab es in den Niederlanden ca. vier Millionen Fahrräder; siehe ebd., Bd. 7/1, 62.

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untersagt worden.138 Nun sollte auch die nichtjüdische Bevölkerung verpflichtet werden, ein Fortbewegungsmittel an die Besatzungsmacht abzugeben, das neben seiner praktischen Funktion traditionell einen hohen Symbolwert hatte. Noch während der Beratungen innerhalb des Reichskommissariats über die Umsetzung der Wehrmachtsforderung wurde die Zahl unter der Hand verdoppelt. So ordnete Seyß-Inquart an, dass die Bürgermeister dafür zu sorgen hätten, innerhalb weniger Tage 100.000 Fahrräder abzuliefern. Er legte zwar Wert darauf, Räder von Berufstätigen, die für den Weg zur Arbeitsstätte nötig waren, von der Erfassung auszunehmen. Doch wie Bene Anfang August 1942 nach Berlin rapportierte, sorgte die Aktion für „einen grossen Wirbel“.139 In der Tat standen deren politische Kosten in keinem Verhältnis zum militärischen Nutzen. Obwohl sich das Regime letztlich mit knapp 53.000 Fahrrädern ‚begnügte‘, blieb bei der Bevölkerung die Überzeugung, „dass der Besatzer vor keiner Form von Raub zurückschrecken würde, wenn es darauf ankam.“140 Auch später noch sorgte die Befürchtung, die Besatzungsmacht könne erneut Fahrräder in Beschlag nehmen, für Unmut und Unruhe. So verwahrte sich Mussert im Februar 1944 bei Seyß-Inquart gegen die Registrierung und Requirierung dieses populären Fortbewegungsmittels mit dem Hinweis, dass „der Niederländer mit seinem Rad zusammengewachsen [ist]. Es gehört ebensosehr zu seinen Lebensnotwendigkeiten wie ein Paar Schuhe oder Holzschuhe.“141 Letztlich aber waren dem Reichskommissar in dieser Angelegenheit die Hände gebunden: Am 28. Juni 1943 hatte Hitler unzweideutig angeordnet, den Mangel an Fahrrädern, der durch „den umfassenden Arbeitseinsatz der Bevölkerung für die Rüstung“ im Reich entstanden war, „durch Inanspruchnahme von gebrauchsfähigen Fahrrädern aus den besetzten Gebieten“ zu decken.142 In den Niederlanden wurde diese Führeranordnung akut, als der Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, im Oktober 1944 anordnete, für die deutschen Soldaten alle Herrenräder zu beschlagnahmen; ausgenommen von dieser Forderung waren nur Räder, die die einheimische Bevölkerung für den Stellungsbau, für die Bedienung von Brücken und Schleusen oder für die Arbeit in der Industrie und der Landwirtschaft benötigte – also für Tätigkeiten, die als kriegswichtig und lebensnotwendig angesehen wurden.143 Da die Niederlande zu diesem Zeitpunkt wieder Kampfgebiet geworden waren, gab es für die Zivilverwaltung weder Grund noch Grundlage, um Einspruch gegen diese Maßnahme zu erheben. 138 Auf Niederländisch abgedruckt in: Het Volk. Socialistisch Dagblad vom 22. Juni 1942. 139 Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt von Anfang August 1942, PA AA, R 101102; der Posteingangsstempel des Auswärtigen Amts trägt den 14. August 1942 als Datum. 140 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 6/1, 65. 141 Mussert an Seyß-Inquart vom 10. Februar 1944, NIOD, 123/216, Mappe 31. 142 Zit. nach: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 259, 346. 143 Zit. aus einem Rundschreiben Rauters vom 16. Oktober 1944 nach: De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 37. In dem südlich von Alkmaar gelegenen Ort Heiloo verband Bürgermeister C. L. Swaalf, der der NSB und ihrer ‚Wehrabteilung‘ angehörte, unter Berufung auf eine Anordnung des Ortskommandanten von Haarlem den Aufruf zur Abgabe aller Fahrräder mit der Drohung, zehn Einwohner „als repressaille“ zu exekutieren, falls seinem Aufruf nicht vollständig Genüge getan werde. Siehe das Faksimile in: De Keizer/ Plomp (Hrsg.), Een open zenuw, 151.

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Wie ging Seyß-Inquart generell mit Forderungen aus Deutschland nach Eingriffen in niederländische Besitzstände um? In einigen Fällen kam er den Bedürfnissen des Reiches und seiner Rüstungsindustrie ohne weiteres entgegen und sorgte dafür, dass entsprechende Waren oder Materialien aus ‚seinen‘ Niederlanden nach Deutschland geliefert oder – wie im Falle der Requirierung von Fahrrädern – der Wehrmacht vor Ort zur Verfügung gestellt wurden. Seine bereitwillige Mitwirkung an der Lieferung von Materialien ins Reich wird beispielsweise an der Verordnung sichtbar, in der er im Juni 1941 die Abgabe von Gegenständen aus Metall anordnete; von der Abgabeverpflichtung ausgenommen waren liturgische Gerätschaften und Orgeln.144 Ein Jahr später forderte der Reichskommissar in seiner Metallgutverordnung jedoch, dass von nun an auch Kirchenglocken eingezogen würden.145 Damit kam er den Erwartungen des Deutschen Reiches nach, setzte sich zugleich aber dem voraussehbaren Protest kirchlicher Kreise aus. Der Utrechter Erzbischof De Jong teilte Seyß-Inquart im Namen des niederländischen Episkopats mit, dass die Bischöfe die Ortsgeistlichen angewiesen hätten, die Herausgabe der Glocken zu verweigern.146 In dem Rundschreiben an den Klerus seiner eigenen Diözese fügte De Jong allerdings hinzu, dass die Glocken dann widerstandslos abgegeben werden sollten, wenn von Seiten der Besatzungsmacht „unverhofft mit Zwang aufgetreten werde“ und man „der Übermacht weichen“ müsse.147 Damit wollte der Erzbischof verhüten, dass Priester wegen dieser Frage zu einer Gefängnis- oder einer Geldstrafe in unbeschränkter Höhe verurteilt würden, die Seyß-Inquart in § 5 der Metallgutverordnung bei Zuwiderhandlung angedroht hatte. Den Bischöfen wie auch dem Reichskommissar war bewusst, dass die Besatzungsmacht in dieser Frage am längeren Hebel saß. Vor diesem Hintergrund konnte es sich Seyß-Inquart leisten, mit seinen Verordnungen dem Metallbedarf der deutschen Rüstungsindustrie nachzukommen. Eine politische Gefährdung der deutschen Herrschaft sah er an dieser Stelle offensichtlich nicht. Dennoch stand außer Frage, dass die Umsetzung von Maßnahmen, die auf eine Plünderung der niederländischen Volkswirtschaft oder des Besitzes breiter Bevölkerungskreise hinausliefen, nicht frei von politischem Risiko war. Seyß-Inquart war bewusst, dass insbesondere eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung von Stabilität, Ruhe und Ordnung sowie für jene imaginierte Attraktivität war, ohne die die erhoffte Selbstnazifizierung von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Und nicht zuletzt im Interesse der Wehrmachtssoldaten und der Angestellten der deutschen Zivilverwaltung musste ihm daran gelegen sein, dass Nahrungsmittel und andere Konsumgüter in ausreichendem Maße innerhalb des besetzten Landes zur Verfügung standen.148 So finden sich in seiner Amtsführung Bemühungen, einzelne Bereiche der niederländischen Wirtschaft zu fördern und gegen Ansprüche aus dem Reich in Schutz zu nehmen. Gelegent144 VO 108/1941 vom 18. Juni 1941, in: VOBl. NL 1941, 471–477. 145 VO 79/1942 vom 21. Juli 1942, in: VOBl. NL 1942, 371–374. 146 De Jong an Seyß-Inquart vom 18. August 1942, in: Stokman (Hrsg.), Het verzet van de Nederlandsche bisschoppen, Dok. 50, 251 f.; siehe auch ebd., 135. 147 Aus De Jongs Rundschreiben vom 21. August 1942, zit. nach: ebd., Dok. 51, 252. 148 So auch Trienekens, Tussen ons volk en de honger, 61.

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lich warb er in deutschen Medien für einen schonenden Umgang mit der niederländischen Volkswirtschaft149 und erwirkte am 26. September 1941 bei Hitler die Anordnung, „dass aus den besetzten niederländischen Gebieten nichts mehr exportiert werden soll, sodass die in den Niederlanden produzierten landwirtschaftlichen Produkte zur Ernährung der Bevölkerung in den besetzten niederländischen Gebieten zur Verfügung stehen werden und die Selbsterhaltung der Niederlande dadurch gegeben wird.“150 Schon bald kamen zwar in deutschen Kreisen Zweifel auf, „ob die weitere Entwicklung der Versorgungslage im Reich die Einhaltung dieses Versprechens gestatten wird“.151 Doch selbst nachdem das Regime zu unverhohlener Ausbeutung übergegangen war, wandte sich der Reichskommissar in Einzelfällen dann gegen räuberische Forderungen aus dem Reich, wenn deren Erfüllung größeren politischen Schaden anzurichten drohte als wirtschaftlichen Gewinn versprach. Bereits im Winter 1941/42 wies Seyß-Inquart auf die Gefahr von Unruhen hin, als von deutscher Seite aus die Forderung erhoben wurde, bei der Bevölkerung, im Handel und in der Industrie der besetzten Niederlande Decken und Kleidungsstücke für die Soldaten an der Ostfront zu beschlagnahmen.152 Enormen wirtschaftlichen Schaden für die Niederlande und großen politischen Schaden für seine Politik befürchtete er auch, als Göring am 6. August 1942 vor hochrangigen NS-Funktionären wie Goebbels, Rosenberg, Sauckel, Funk und Vertretern der deutschen Besatzungsverwaltungen aus den besetzten Gebieten auf einer Sitzung im Reichsluftfahrtministerium im Namen Hitlers eine rücksichtslose wirtschaftliche Ausbeutung der nichtdeutschen Gebiete forderte und dabei explizit die Bereitschaft erklärte, den Hungertod der dortigen Bevölkerungen in Kauf zu nehmen. Denn ihn interessierten, so führte der wohlgenährte Reichsmarschall in Anwesenheit von Seyß-Inquart aus, nur die Menschen, die zugunsten der Deutschen für die Rüstung und die Ernährung nutzbar gemacht werden könnten. „Sie müssen soviel kriegen, daß sie gerade noch ihre Arbeit tun können. Ob die Herren Holländer Germanen sind oder nicht, ist mir dabei völlig gleichgültig […].“153 149 Vgl. zum Beispiel Seyß-Inquart, Wo steht die niederländische Landwirtschaft? (April 1941). 150 Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 1. Oktober 1941, PA AA, R 29678, Bl. 84451. Bene zufolge sollte sich diese Maßnahme „günstig auf die allgemeine Stimmung auswirken.“ Bei derselben Gelegenheit habe Hitler „seine grosse Befriedigung darüber zum Ausdruck gebracht, dass es bisher gelungen ist, die Niederlande als ein Selbstversorgungsgebiet zu organisieren“, und unter Anspielung auf den Februarstreik betont, „dass bei dem guten Funktionieren von Verwaltung und Wirtschaft die derzeitig schlechte Stimmung in den besetzten niederländischen Gebieten mit in Kauf genommen werden könne.“ (ebd.) 151 Undatierter Bericht (vermutlich von 1942) über die wirtschaftliche Situation in den von Deutschland besetzten Ländern, NIOD, 206/700-1-41. 152 Vgl. Klemann, Nederland 1938–1948, 481. 153 Zit. nach dem Protokoll aus: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 39, Dok. USSR-170, 386. Vgl. auch Görings Rede vom 4. Oktober 1942 zum Erntedankfest in: ebd., Bd. 38, Dok. RF-111, 521– 523. Zu der Sitzung vom 6. August 1942 siehe auch die Aktennotiz des Chefs der Ordnungspolizei und Stellvertretenden Reichsprotektors, SS-Oberstgruppenführer und Generaloberst der Polizei Kurt Daluege, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 205, 799 f. In Goebbels’ Worten ging es auf dieser Sitzung wie auch auf einer Besprechung mit den Gauleitern am Vortag unter anderem um die Frage, „ob es nicht angebracht erscheint, mit etwas roherer Hand in die Versorgung der besetzten Gebiete hineinzugreifen und dort herauszuholen, was überhaupt herausgeholt werden kann.“ In diesem Zusam-

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Als Göring dann forderte, dass aus den Niederlanden eine Million Tonnen Gemüse ins Reich zu liefern seien, meldete sich Seyß-Inquart mit dem Hinweis zu Wort, dass in diesem Land insgesamt nicht mehr als 800.000 Tonnen erzeugt würden. Er verband dies allerdings sogleich eilfertig mit dem Zusatz, „man werde alles liefern.“154 Auch verzichtete er auf neuerlichen Protest, als Göring insistierte, dass dem Reichskommissariat die Lieferung von einer Million Tonnen doch leicht fallen müsse. Damit beugte sich Seyß-Inquart zunächst einmal der Forderung des Reiches nach einer Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion als auch nach einem vollständigen Gemüseexport nach Deutschland. Gegen die von Göring geforderte Lieferung anderer Agrarprodukte wie Futtergetreide, Fleisch, Fett, Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Zucker, Käse und Gemüsesämereien legte Seyß-Inquart nicht einmal ansatzweise Widerspruch ein – obwohl die in Den Haag erstellte Denkschrift Die niederländische Ernährungswirtschaft in der europäischen Leistungsgemeinschaft nur zwei Tage vorher zu dem Ergebnis gekommen war, dass in den Niederlanden die Versorgungslage schlechter als im Reich sei und nur solange Leistungen aus einem besetzten Gebiet zu erwarten seien, „als die Versorgung mit Lebensmitteln eine geordnete ist.“155 Im Unterschied zu einigen anderen Teilnehmern, die während der Sitzung in Berlin immerhin den Versuch unternahmen, auf die Realitätsferne und praktische Undurchführbarkeit der Erwartungen und Forderungen der Reichsführung hinzuweisen, ist in den überlieferten Niederschriften von einem engagierten oder gar konfrontativen Auftreten Seyß-Inquarts nichts vermerkt. Immerhin unternahm er in der Folgezeit Vorstöße im Sinne einer Reduzierung der Abgabe von landwirtschaftlichen Produkten ans Reich. So ließ er Generalkommissar menhang kritisierte er, dass namentlich Hans Frank und Seyß-Inquart sich bisher zugunsten der von ihnen verwalteten Länder zu wenig um die Interessen des Reiches gekümmert hätten: „Frank ist heute polnischer als die Polen und Seyß-Inquart holländischer als die Holländer. Sie verwalten ihre Länder, als wenn sie ihnen gehörten und sie höchstpersönlich erobert hätten. In Wirklichkeit aber haben die Länder doch im Augenblick wenigstens gar keinen anderen Zweck, als der deutschen Kriegführung zu dienen. Wenn schon in Europa gehungert wird, so sollte zu allerletzt das deutsche Volk zum Hungern kommen. Jetzt ist es umgekehrt.“ Der Propagandaminister hielt es für ein „geradezu skandalöses Verfahren“, dass die Niederlande „unter ihrem König Seyß-Inquart zu wenig abliefern.“ (Zit. nach: Fröhlich [Hrsg.], Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 5, 257 f. [6. August 1942]). Noch vier Tage später empörte er sich über Seyß-Inquarts Haltung, die seiner Ansicht nach für „soviel Dummheit in der Führung und Verwaltung der besetzten Gebiete“ stand. Er bedauerte, „daß man dafür Leute eingesetzt hat, die nicht aus der alten nationalsozialistischen Parteigarde hervorgegangen, sondern gewissermaßen Exponenten einer milderen Richtung sind, die zwar äußerlich gesinnungsfest, innerlich aber vollkommen unsicher in der Handhabung der nationalsozialistischen Ideologie für die Praxis sind. Auch hier wäre es angebracht, dem Nationalsozialismus das Feld freizugeben. Wie die Erfahrung lehrt, werden schwierige Probleme auf die Dauer nur von echten Nationalsozialisten gelöst werden können“ – und dazu gehörte Seyß-Inquart, dem das Odium des ‚alten Kämpfers‘ fehlte, für ihn nicht (ebd., 289 [10. August 1942]). Allgemein zur nationalsozialistischen Agrar- und Ernährungspolitik siehe Volkmann, Landwirtschaft und Ernährung in Hitlers Europa, speziell zu den Niederlanden 395–398. 154 So seine eigene Darstellung in der Denkschrift vom Herbst 1945, Bl. 102. Der Wortlaut von Seyß-Inquarts Intervention wurde im Protokoll nicht wiedergegeben; hier ist nur „Zuruf Seyß-Inquart“ vermeldet (Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 39, Dok. USSR-170, 393). 155 BArch, R 43 II/1463a, Bl. 110 und 115.

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Schmidt bei einem Besuch in der Reichskanzlei im Februar 1943 die genannte Denkschrift mit dem Hinweis überreichen, die von Göring geforderten Ablieferungen an Deutschland würden die Ernährungslage in den Niederlanden stark belasten.156 Und den Reichsfeldmarschall bat Seyß-Inquart im Juni 1943 mit einem Verweis auf die „außerordentlichen Leistungen“, die die Niederlande im Gegensatz zu anderen besetzten Ländern wie Belgien in der Ernährungsfrage für das Reich erbracht hätten, um die Rückführung von bereits geliefertem Getreide sowie um einen dreimonatigen Aufschub bei der noch ausstehenden Lieferung von Fleisch.157 Derartige Bemühungen scheiterten jedoch rasch an mangelnder Unterstützung innerhalb der Reichsführung. Himmler ließ die Einwände des Reichskommissariats gegen die hohen deutschen Abgabeforderungen mit dem wenig zielführenden Vorschlag ins Leere laufen, Seyß-Inquart stehe es offen, beim Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft mit der Bitte vorstellig zu werden, Niederländern die landwirtschaftliche Nutzung von unbebauten Gebieten in Frankreich anzubieten.158 Und im Entwurf zu Görings Antwortschreiben an Seyß-Inquart war zwar davon die Rede, dass die Niederlande 25.000 Tonnen Hafer zurück­erhielten. Dies gelte aber nur unter der Bedingung, dass dieselbe Menge zu einem späteren Zeitpunkt nach Deutschland transportiert werde, und zwar in Form von Brotgetreide; dem gewünschten Aufschub der Fleischlieferungen erteilte der Reichsfeldmarschall gar eine Absage.159 Angesichts der Verschlechterung der Kriegslage war von Hitlers Versprechen vom September 1941, dass das Reich auf den Import von niederländischen Agrarprodukten verzichte, offenkundig nichts mehr übrig geblieben. Seyß-Inquart war klar, dass mit dem Übergang des Regimes zu einer unzweideutigen Ausbeutungspolitik in der nationalsozialistischen ‚Ernährungsschlacht‘ sein Handlungs- und Entscheidungsspielraum eingeschränkt war. Allenfalls in einer Politik der kleinen Schritte sah er die Möglichkeit, die Lebensmittelversorgung der niederländischen Bevölkerung gegen die exorbitanten Forderungen aus dem Reich zu sichern,160 während er gleichzeitig der einheimischen Bevölkerung gegenüber die Abgaben an Deutschland kleinredete und in Abrede stellte, „daß sie nicht unter allen Umständen erfüllt und sichergestellt werden können.“161 Erfolgreicher agierte Seyß-Inquart, als Göring angesichts der Zunahme der Bombardierungen deutscher Städte mit Hitlers Zustimmung ankündigte, allerlei Güter aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden zugunsten von bombengeschädigten Deutschen ins Reich transportieren lassen zu wollen. Im Sinne von „Hitlers Volksstaat“ (Götz Aly) ordnete der Reichsfeldmarschall, dessen Luftwaffe den alliierten Bombenangriffen schon lange nichts 156 Siehe den Aktenvermerk der Reichskanzlei vom 10. Februar 1943, ebd., Bl. 105. 157 Seyß-Inquart an Göring vom 10. Juni 1943, NIOD, 206/700-1-67. 158 Himmler an Herbert Backe vom 16. Februar 1943, BArch, NS 19/2860, Bl. 75. 159 NIOD, 206/700-1-67; der Entwurf trägt den 26. Juni 1943 als Datum. 160 Dazu gehörte, dass Backe als Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft während eines Aufenthalts in den Niederlanden im Juni 1944 zu einem Abkommen bewegt werden konnte, in dem sich Deutschland verpflichtete, im Austausch gegen Kartoffeln größere Mengen an Roggen in die Niederlande zu liefern. Siehe Klemann, Nederland 1938–1948, 464. 161 Seyß-Inquart, Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [19. Mai 1943], 133. Siehe auch Ders., Zum Erntedankfest, 176.

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mehr entgegenzusetzen hatte, im August 1943 an: „In Zukunft ist zum Ersatz der durch feindliche Terrorangriffe vernichteten Werte wie u. a. Wohnungseinrichtungsgegenstände, Möbel, Hausgerät, Wäsche, Bekleidung usw. der feindliche öffentliche und private Besitz in den besetzten Gebieten rücksichtslos heranzuziehen.“ Mit dieser Aktion wollte Göring vermutlich sein Renommee aufpolieren und seiner Marginalisierung innerhalb des nationalsozialistischen Machtapparats gegensteuern, die mit dem Aufstieg von Speer und von Himmler einherging. In dem Wissen, dass Hitler radikale Lösungen favorisierte, forderte er Seyß-Inquart auf, in den Niederlanden „sofort“ derartige Gegenstände „in größtmöglichem Umfang, lediglich unter Belassung des Allernotwendigsten zu erfassen und zu beschlagnahmen.“162 In einem Begleitbrief zu dieser Anordnung machte Göring deutlich, dass er mit seiner Forderung zugleich die niederländische Bevölkerung aus politischen Motiven abstrafen wollte: „Ganz besonders fällt hierbei wie in keinem anderen besetzten Gebiet das Verhalten der Bevölkerung Hollands ins Auge, welche in unverhohlener und hämischer Weise ihre Schadenfreude über die Auswirkung der Terrorangriffe auf das Reichsgebiet zeigt.“ Gestützt auf diese Behauptung erwartete Göring, „gerade in Holland die Verordnung rücksichtslos und, wenn es sein muss, mit größter Schärfe durchzuführen.“ Mit einer solchen Maßnahme wolle die Reichsführung die Voraussetzung schaffen, „daß in Zukunft auch die Bevölkerung der besetzten Gebiete die Auswirkung der feindlichen Terrorangriffe auf das Reichsgebiet fühlbar zu spüren bekommt; so wird ihr dann auch am ehesten ihre bis jetzt offengezeigte Schadenfreude vergehen.“163 Den Reichskommissar, der erst unlängst unter großem Aufwand den April-Mai-Streik hatte niederschlagen lassen und in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ mit der Umsetzung der deutschen Forderungen nach niederländischen Zwangsarbeitern zu kämpfen hatte,164 brachte diese Anordnung von höchster Stelle in eine außerordentlich schwierige Lage. Ihm war klar, dass die Durchführung eines derart hemmungslosen, obendrein politisch motivierten Raubzugs den Widerstand in der Bevölkerung weiter anheizen würde. Der Reichskommissar ging sogar davon aus, „daß diese Aktion aller Voraussicht nach die größte Erregung im niederländischen Volk hervorruft, die weit über das Maß hinausgeht, was wir in den letzten Monaten erlebt haben.“ Er wollte nicht ausschließen, „daß die niederländische Verwaltung von den Generalsekretären angefangen über die Bürgermeister ihre Tätigkeit einstellt und dass Streikbewegungen eintreten.“ Außerdem befürchtete er, für die Durchführung einer solch gigantischen Operation nicht genügend Exekutivkräfte zur Verfügung zu haben. Andererseits konnte Seyß-Inquart es sich nicht leisten, umstandslos eine Anordnung abzulehnen, die von Hitler gebilligt worden war. Um sich für seine Antwort an Göring Rückendeckung zu verschaffen, wandte sich der Reichskommissar an General Christiansen mit der Frage, ob zusätzlich zu deutschen Polizeieinheiten gegebenenfalls die Wehrmacht eingesetzt werden könne.165 Nach162 Göring an Seyß-Inquart vom 14. August 1943, BArch, NS 19/1556, Bl. 187. 163 Ebd., Bl. 186. 164 Siehe hierzu den folgenden Abschnitt in diesem Kapitel. 165 Seyß-Inquart an Christiansen vom 25. August 1943, BArch, NS 19/1556, Bl. 184 f.; die vorstehenden Zitate stammen aus der Edition von In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 459 III, 1197 f. Rauter zufolge wurde in dieser Angelegenheit sogar General Falkenhausen nach Den Haag eingeladen,

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dem er sich mit dem Wehrmachtbefehlshaber und den Generalkommissaren beraten hatte, teilte er Göring zwar mit, dass er Hitlers Wünschen entsprechen werde, und als Zeichen des Entgegenkommens bot er über Görings Anordnung hinausgehend an, ausgebombte deutsche „Volksgenossen“ in den Niederlanden unterzubringen – hierzu dachte er wohl weniger an die Umsiedlung von Niederländern als an die Option, Wohnungen von mittlerweile deportierten Juden in Gebrauch zu nehmen.166 Zugleich wies er aber ausführlich darauf hin, dass die Durchführung von Requirierungsmaßnahmen trotz der Unterstützung durch die Wehrmacht mangels ausreichender Einsatzkräfte schwierig würde, und er äußerte die Befürchtung, dass niederländische Verwaltungskräfte jegliche Mitarbeit verweigern und möglicherweise in den Untergrund abtauchen würden; auch der neuerliche Ausbruch von Streiks und Aufruhr könne nicht ausgeschlossen werden. Unverblümt führte Seyß-Inquart die erwarteten desaströsen politischen Konsequenzen vor Augen und stellte sogar das System der Zivilverwaltung in Frage: „Sicher ist, dass jede weitere politische Arbeit in diesem Raum hiedurch [sic] unmöglich gemacht wird und es eigentlich keinen Sinn mehr hat, dieses Gebiet durch die Institution eines Reichskommissars anders zu behandeln als die rein militärisch besetzten Gebiete.“ Anstelle von großangelegten Razzien schlug der Reichskommissar vor, die niederländischen Haushalte zur Abgabe von überschaubaren Mengen an Haushaltsgeräten zu verpflichten, und zwar nach Einkommen gestaffelt. Zusätzlich könne man im Handel Beschlagnahmungen durchführen und aus der laufenden Produktion Gegenstände entnehmen, die die ausgebombten Deutschen brauchen könnten. Dies alles halte er mit den zur Verfügung stehenden Exekutivkräften für durchführbar, und er sei überzeugt, dass sein Vorschlag zu weniger Auflehnung führen werde.167 Ganz offensichtlich blieb Seyß-Inquarts Argumentation nicht ohne Wirkung. Denn in seinem Antwortschreiben akzeptierte Göring im Kern die Vorschläge des Reichskommissars. Er ging zwar nicht auf dessen Angebot ein, ausgebombte Deutsche in niederländischen Wohnungen unterzubringen, hielt weiterhin eine „erzieherische Maßnahme“ als „Repressalie für die gerade immer von der Bevölkerung der Niederlande gezeigte Schadenfreude“ für sinnvoll und behielt sich ausdrücklich vor, zu einem späteren Zeitpunkt in Einzelfällen Requirierungsmaßnahmen zu verschärfen. Im Unterschied zu Seyß-Inquart schloss um die Haltungen der Zivilverwaltung in den Niederlanden und der Militärverwaltung von Belgien und Nordfrankreich aufeinander abzustimmen. Vgl. RIOD (Hrsg.), Het Proces Rauter, 80. 166 Zuvor hatte er bei Bormann angeregt, deutsche Bombenopfer im Warthegau oder in anderen „Ostgauen und Ostgebieten, in denen ein Eindeutschungsprozess vorzunehmen ist“, anzusiedeln. Mit diesem Vorschlag wollte er zum einen von ‚seinen‘ Niederlanden ablenken. Zum anderen wollte er aus der Not eine Tugend machen – sah er doch in den Folgen der alliierten Luftangriffe auf Deutschland „eine Gelegenheit, eine grosse Anzahl von Volksgenossen in diese Ostgaue zu bringen, die ansonsten vom Westen nach dem Osten nicht zu bringen sind.“ Seyß-Inquart an Bormann von 14. August 1943, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 452, 1182. 167 Seyß-Inquart an Göring vom 9. September 1943, BArch, NS 19/1556, Bl. 175–182 (Abschrift des HSSuPF vom 14. September 1943), hier zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 462, 1200–1206, Zitat 1202. Wohl gegen Görings abschätzige Äußerungen über die Niederlande und ihre Bevölkerung wies Seyß-Inquart auch darauf hin, dass aus seinem Sprengel bereits „ausserordentlich grosse Mengen an Hausgeräten“ aus „Judenwohnungen“ nach Deutschland verbracht und „den verschiedenen bombengeschädigten Gauen des Reiches zur Verfügung gestellt“ worden seien (ebd., 1203).

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der Reichsfeldmarschall auch aus, die in den Niederlanden lebenden Deutschen zu Spenden zugunsten der bombengeschädigten Deutschen im Reich aufzurufen; die Lasten sollten seiner Meinung nach ausschließlich der niederländischen Bevölkerung aufgebürdet werden. Entscheidend aber war für Seyß-Inquart, dass Göring seinen Vorschlag, eine niederländische Zwangsabgabe für deutsche Bombenopfer über ein einkommensabhängiges Umlagesystem, durch Beschlagnahmungen im Handel und durch „die dauernde Erfassung der laufenden Produktion ziviler Bedarfsartikel“ zu finanzieren, für „sehr zweckmässig“ hielt.168 Dabei blieb es fürs erste. Seyß-Inquart beschränkte sich darauf, Ritterbusch die Anweisung zu erteilen, sich mit Mussert über eine „freiwillige Aktion“ zugunsten der deutschen Bombenopfer ins Benehmen zu setzen, und gegen die Beteiligung von deutschen Parteigenossen hatte er – anders als Göring – „keinen Einwand“. Darüber hinaus beauftragte er die Polizei, ihm die Anschriften jener Niederländer mitzuteilen, bei denen „reichs- oder deutschfeindliches Verhalten“ festgestellt worden sei – dieser Personenkreis war von ihm in erster Linie als Opfer eventueller Zwangsmaßnahmen vorgesehen.169 Ansonsten jedoch unternahm der Reichskommissar keine nachweisbaren Schritte, und auch die Einquartierung von Bombengeschädigten in niederländischen Wohnungen blieb in engen Grenzen.170 Görings politisch gefährlichen Vorstoß vom Sommer 1943 konnte er einstweilen erfolgreich abblocken.171 Mit dem Vorrücken der alliierten Truppen im Sommer 1944 und der Befreiung von Teilen der Niederlande allerdings konnte sich Seyß-Inquart Forderungen nach der Beschlagnahme von Gütern in den Niederlanden, auf die das Reich Ansprüche erhob, nicht mehr in dem Maße verschließen wie noch im Jahr zuvor.172 Nachdem die Niederlande wieder unmittelbares Kriegsgebiet geworden waren, verstärkte sich der deutsche Druck. Nun kamen auch hier die sogenannten ARLZ-Maßnahmen zum Tragen, die für die Wehrmacht für den Fall eines Rückzugs vorgesehen waren: Je nach Situation und Gefährdung der eigenen Position sollten die deutschen Soldaten dafür Sorge tragen, dass dem Feind bei einer Eroberung eines besetzten Gebietes so wenige Arbeitskräfte, funktionstüchtige Infrastruktur, Maschinen, Industrieanlagen, Rohstoffe und Lebensmittel wie möglich in die Hände fielen. Dabei stellte der Buchstabe Z eine Abkürzung für Zerstörung dar, während die Begriffe ‚Auflockerung‘, ‚Räumung‘ und ‚Lähmung‘ für unterschiedliche Formen und Intensitätsgrade des Abbaus von Vorräten, Maschinen oder Anlagen standen und die Möglichkeit von deren Verlagerung nach Deutschland einschlossen.173 Ausdruck der gewandelten Situation war eine Vereinbarung, die Richard Fiebig als Vertreter von Speer in den Niederlanden im Herbst 1944 mit

168 Undatiertes Fernschreiben Görings an Seyß-Inquart, BArch, NS 19/3364, Bl. 26 (Posteingang: 25. September 1943). Ob Göring sein Antwortschreiben mit Hitler abgesprochen hat, ist nicht bekannt. 169 Rundschreiben Seyß-Inquarts an die Generalkommissare, Bene und Piesbergen vom 25. September 1943, ebd., Bl. 25. Siehe auch die Edition in In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 467 II, 1219 mit Anm. 4. 170 Vgl. Romijn, Burgemeesters, 406–410. 171 Dies hielt er sich nach dem Krieg denn auch zugute. Siehe Seyß-Inquart, Denkschrift, 64 f. 172 Zum Folgenden siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 74. 173 Weiß, ARLZ-Maßnahmen.

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der Heeresgruppe B traf. Ihr zufolge durfte sich die Wehrmacht aus den Vorräten wie auch aus der laufenden Produktion des besetzten Landes nach eigenem Ermessen bedienen. Die Durchführung oblag Feldwirtschaftskommandos, die in der Folge niederländische Städte und Orte durchkämmten. Einer ihrer Offiziere hielt Anfang Oktober mit Stolz fest, dass es gelungen sei, dank des „restlosen, anerkennenswerten Einsatzes“ seiner Männer „vor Einbruch des Gegners“ wertvolle Rohstoffe und Maschinen aus den Philipps-Werken in Eindhoven, Hilversum und Bussum abzutransportieren und anschließend die Fabrikanlagen des Hauptwerkes „nachhaltig zu zerstören“.174 Hein Klemann hat zwar darauf hingewiesen, dass der gesamtwirtschaftliche Schaden derartiger Maßnahmen in mancherlei Hinsicht begrenzt war: In allen Sektoren der niederländischen Industrie war während der Besatzungszeit so kräftig investiert worden und die Anzahl an Maschinen im Vergleich zur Vorkriegszeit derart deutlich gestiegen, dass trotz Plünderungen und gezielten Vernichtungen der Bestand an Maschinen bei Kriegsende immer noch höher war als vor dem Beginn des Westfeldzugs. Darüber hinaus blieben manche Branchen wie die Lebens- und die Genussmittelindustrie, der Bergbau und die Textilindustrie weitgehend von Zerstörungen und Plünderungen verschont, bei anderen Zweigen des produzierenden Gewerbes hielt sich der wirtschaftliche Schaden in Grenzen oder war auf einzelne Betriebe oder Regionen beschränkt. Und in einzelnen Fällen wurden in den letzten Kriegsmonaten Fabrikanlagen oder Maschinenparks von Unternehmen nach Deutschland transportiert, die durch Investitionen im Rahmen der oben dargestellten ‚Verflechtung‘ entstanden waren – deren Abtransport wurde vom Reich aus denn auch als legitim angesehen.175 Trotzdem bleibt festzuhalten, dass die Plünderung oder Zerstörung von Fabriken, Verkehrseinrichtungen, Rohstoffen und dergleichen mit keinem einzigen der Ziele in Übereinstimmung zu bringen war, die dem Besatzungsregime gestellt waren: Derartige Maßnahmen leisteten keinen Beitrag zur Nazifizierung der niederländischen Gesellschaft, bewirkten alles andere als eine Intensivierung der Bindung des besetzten Landes an das Großdeutsche Reich, und nur mit interpretatorischer Brachialgewalt ließe sich argumentieren, dass es hierbei um „Reichsinteressen“ gegangen sei, für deren Wahrung Seyß-Inquart ja Hitler gegenüber verantwortlich war. Die Plünderungen standen somit nicht nur im Widerspruch zum Völkerrecht, sondern waren auch mit den Zielsetzungen und Aufgabenstellungen nicht zu vereinbaren, die der Besatzungsmacht von Reichs wegen gestellt waren. Wie stand der Reichskommissar als Chef der deutschen Zivilverwaltung zu den Plünderungen der letzten Kriegsmonate? Seyß-Inquart trug dadurch zu Plünderungen bei, dass er Ende Oktober 1944 im Zusammenwirken mit Fiebig seinem Beauftragten für die Provinz Drenthe, Heinrich Sellmer, den Auftrag erteilte, niederländische Einzel- und Großhandelsgeschäfte leer zu räumen. Den ersten Zugriff auf die geplünderten Waren hatte die Wehrmacht, der Rest der ‚Aktion Sellmer‘ wurde nach Deutschland transportiert; einiges wurde auch für NS-Funktionäre wie Rauter abgezweigt. In dieser Kriegsphase ging das NS-Regime im großen Stil zur Ausräumung und 174 Unter Bezugnahme auf IMG-Dok. RF-132 aus dem Bericht des Feldwirtschaftsoffiziers beim Wehrmachtbefehlshaber in den Niederlanden vom 9. Oktober 1944, zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 5, 629. 175 Klemann, Nederland 1938–1948, 284–293.

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Demontage ganzer Fabrikanlagen über. Schätzungen zufolge wurden ab 1944 aus etwa 4.000 niederländischen Betrieben über 60.000 Maschinen nach Deutschland verbracht. Darüber hinaus wurden unterschiedlichste Rohstoffe und Fertigprodukte über die Grenze transportiert. Ein Großteil der niederländischen Lokomotiven, Eisenbahnwaggons und Werkstattwagen, Straßenbahnzüge, unzählige Mengen an Oberleitungen, Kabeln und Signalanlagen sowie 800 von 3.500 Kilometer Schienennetz verschwanden nach Deutschland. Bis im Dezember die Kanäle zufroren, wurden 165.000 Tonnen Produktionsmittel nach Deutschland verschifft, per Eisenbahn gelangten noch einmal 230.000 Tonnen ins Reich.176 Seyß-Inquart soll den gigantischen Abtransport niederländischer Güter unter Fiebigs Regie zwar als Ausdruck von „Metzgermethoden“ bezeichnet haben.177 Behindern konnte er die Aktionen, die mit Zustimmung von Speer und OKW rücksichtslos durchgeführt wurden, jedoch nicht, und vermutlich hat er ihre politische Opportunität, nicht aber deren Legitimität in Zweifel gezogen. Zu Beginn des Jahres 1945 rechtfertigte er jedenfalls in einer Rundfunkansprache den Abtransport von zivilen und militärischen Gütern ins Deutsche Reich mit dem Verweis auf vorgebliche Notwendigkeiten in „diesem totalsten aller Kriege“. In solch einem Krieg nämlich müsse alles, „was sich irgendwie verwenden lässt, als kriegswichtig und dem Kriegsinteresse dienend angesehen werden. Dazu gehören auch heute insbesondere im Hinblick auf die durch die Bombenangriffe im Reich hervorgerufene Mangellage jegliche Gegenstände des zivilen Bedarfs. Denn da heute im Reich […] alle Zivilpersonen ebenfalls für Kriegszwecke eingesetzt sind, ist deren Versorgung eine unbedingte Kriegsnotwendigkeit.“178 Mit anderen Worten: Der Reichskommissar war sich nicht zu schade, die Plünderungen als Reichsinteressen auszugeben. Abseits der propagandistischen Legitimierung eines aggressiven Raubverhaltens blieb ihm in der letzten Phase der Besatzungszeit nur der Kampf gegen jene Plünderungen, die nicht zugunsten von Wehrmacht oder ausgebombten Deutschen stattfanden. Anlass zum Eingreifen sah der Reichskommissar in dieser Hinsicht nachweislich in der Stadt Arnheim, die auf Befehl der Wehrmacht in der zweiten Septemberhälfte 1944 im Zusammenhang mit der Operation Market Garden evakuiert worden war.179 Hier erhielten zunächst deutsche Soldaten freie Hand für Plünderungen. Im November erteilte dann Seyß-Inquart den benachbarten deutschen Gauen die Erlaubnis, unter der Aufsicht des Beauftragten für Gelderland, Dr. Emil Schneider, den übrig gebliebenen Hausrat der Arnheimer Wohnungen für Bombengeschädigte im Reich in Beschlag zu nehmen. Die westdeutschen Gaukommandos gingen exzessiv vor: Aus Arnheimer Wohnungen und Betrieben wurden Güter in einem geschätzten Wert von 380 Millionen Gulden nach Deutschland transportiert, nur ganz wenige Wohnungen 176 Eichholtz, Institutionen und Praxis der deutschen Wirtschaftspolitik, 60 und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 76 f. Siehe auch Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 5, 630 f. unter Bezugnahme auf IMG-Dok. RF-134. 177 Aus einer Stellungnahme von Hirschfeld und Woltersom vom 18. Dezember 1945, rückübersetzt ins Deutsche nach De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 78. 178 Seyß-Inquart, Was nun?, 16. 179 Zum Folgenden siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 78–85 und Aalders, Geraubt!, 64–66.

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waren bei Kriegsende noch einigermaßen funktionstüchtig. Als ein über 300 Mann starkes Kommando aus Düsseldorf entgegen Seyß-Inquarts ausdrücklichem Verbot die Tresore von Arnheimer Banken und Handelsgesellschaften sprengte und dabei Güter im Wert von mehreren Millionen Gulden stahl, schalteten sich Seyß-Inquart und Himmler ein: Der Leiter der Hauptabteilung Justiz in Wimmers Generalkommissariat, Ministerialrat Dr. Karl Krug, wurde nach Berlin entsandt, um den Fall mit der Parteikanzlei zu besprechen, und die Sicherheitspolizei wurde beauftragt, bei den Beteiligten Hausdurchsuchungen vorzunehmen.180 Was auch immer aus diesen Interventionen geworden sein mag – die Episode zeigt, dass Seyß-Inquart selbst in jener Phase, in der sich das Ende des ‚Tausendjährigen Reiches‘ abzeichnete, gegen ‚wilde‘ Plünderungen eintrat. Wenig wahrscheinlich ist, dass er dies aus Sorge um die betroffene Bevölkerung oder das niederländische Gemeinwesen tat. Möglicherweise ging es ihm darum, gerade in dieser Phase Disziplinlosigkeit zu unterbinden, um die ‚Moral‘ von deutscher Zivilbevölkerung und kämpfender Truppe auf die Verteidigung des schrumpfenden Deutschen Reiches zu konzentrieren. Auf jeden Fall ist auffallend, dass Seyß-Inquart säuberlich differenzierte zwischen Einrichtungsgegenständen, deren Beschlagnahme zugunsten der deutschen Bevölkerung oder der Wehrmacht er mittlerweile als gerechtfertigt ansah, und Wertgegenständen, deren Plünderung zum privaten Nutzen einzelner Nationalsozialisten verboten blieb. Offenkundig hielt er den ‚politisch‘ begründeten Raub für legitim, während persönliche Bereicherung tabu blieb. Eigene Erwähnung schließlich verdient die relativ gut erforschte Plünderung des niederländischen Kunstmarkts. Hierfür war innerhalb des Reichskommissariats vor allem jene Behörde zuständig, deren Leitung Kajetan Mühlmann innehatte.181 Er war schon am 15. Mai 1940 – und damit noch vor der Ernennung Seyß-Inquarts zum Reichskommissar – nach Den Haag gereist. Es dürfte Seyß-Inquart nicht unangenehm gewesen sein, seinen langjährigen österreichischen Freund nach den gemeinsamen Aktivitäten in ihrem Heimatland und in Polen nun auch in den Niederlanden an seiner Seite zu wissen. Die Aufgabe von Mühlmanns Dienststelle bestand darin, Kunstwerke aus jüdischem, aber auch aus nichtjüdischem Besitz aufzuspüren, bei Bedarf zu konfiszieren oder aufzukaufen – Letzteres in der Regel unter dem Marktpreis. Bei der Suche nach wertvollen Kunstwerken oder -sammlungen wurden Mühlmann und sein Stab von niederländischen Kunsthändlern sowie von SD, Sipo und der Liro unterstützt. Bei der Verwaltung und dem fallweisen Verkauf von Kunstwerken arbeitete die Dienststelle Mühlmann mit verschiedenen Behörden des Reichskommissariats zusammen, insbesondere mit der Abteilung Feindvermögen. Durch die Lieferung an prominente NS-Politiker, Museen im Reich oder deutsche Dienststellen beteiligten sich die ‚Mühlmänner‘ an 180 Diesen Sachverhalt hielt Himmler nicht ohne polemischen Seitenhieb auf den inneren Zustand der NSDAP Martin Bormann vor. Siehe sein Schreiben vom 23. Februar 1945, in: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 1, Nr. 18327. Die überwiegend aus jüdischem Besitz stammenden Diamanten, die bei dieser Gelegenheit nach Berlin kamen, hielt der Reichsführer-SS bezeichnenderweise nicht für erwähnenswert. 181 Zu Mühlmann und seiner Dienststelle in Den Haag siehe Petropoulos, The Importance of the Second Rank, 197–200, Ders., Kunstraub und Sammelwahn, 181–183 und 186 f., Aalders, Geraubt!, 113–118 und Euwe, De Nederlandse kunstmarkt, passim.

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einem schwunghaften Kunsthandel. Dies wurde dadurch erleichtert, dass Mühlmann neben seinem Hauptbüro in Den Haag Niederlassungen in Berlin, Paris und Krakau unterhielt. Zu Mühlmanns Hauptkunden zählten Hitler sowie Göring, Himmler, Hans Frank und Dr. Fritz Todt. Doch auch nachgeordnete Funktionäre wie die Gauleiter August Eigruber (Oberdonau) und Erich Koch (Ostpreußen), Reichsstatthalter Schirach (Wien), Hitlers Chefadjutant Julius Schaub, Ernst Kaltenbrunner oder Hitlers Hoffotograf Heinrich Hoffmann wandten sich gerne an Seyß-Inquart oder Mühlmann, um ihre Begierde nach Raubkunst aus niederländischen Beständen zu artikulieren. Darüber hinaus wurden Auktionshäuser wie das Dorotheum (Wien) oder die Firmen von Adolf Weinmüller (München und Wien) und von Hans Lange (Berlin) von Mühlmann beliefert. Dessen Dienststelle konnte Provisionen von zehn bis 15 Prozent einstreichen. Es ist davon auszugehen, dass die ‚Mühlmänner‘ während der Besatzungszeit mindestens 1.114 Kunstwerke verkauften.182 Befördert wurde der Verkauf an Kunden im Reich, als im April 1941 die deutsch-niederländische Devisengrenze aufgehoben wurde. Dass die Dienststelle Mühlmann innerhalb des Besatzungsapparats eine hohe Bedeutung hatte, lässt sich schon daran ablesen, dass sie unmittelbar dem Reichskommissar Bericht erstattete, obwohl sie formell dem Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz eingegliedert war.183 Auch genoss sie in den Niederlanden Vorrang gegenüber dem Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, der in Frankreich nahezu ungehindert aktiv werden konnte.184 Persönlich eingeschaltet hat sich Seyß-Inquart besonders dann, wenn es darum ging, Kunstwerke für den ‚Führer‘ zu ergattern. Beim Kauf des niederländischen Teils der Kunstsammlung, die dem 1939 verstorbenen jüdischen deutsch-niederländischen Bankier Fritz Mannheimer gehört hatte, setzte der Reichskommissar nach einer entsprechenden Aufforderung durch die Reichskanzlei185 durch, dass seine Dienststelle Mühlmann Gemälde von Vermeer, Rembrandt und anderen alten Meistern für Hitler erwarb und der Kaufpreis von 5,5 Millionen Gulden weit unter dem Schätzpreis blieb. Wie in anderen Fällen wurde die Verkäuferseite durch die Drohung unter Druck gesetzt, dass Seyß-Inquart die Sammlung konfiszieren würde, wenn eine für ihn günstige Regelung ausbliebe. Mit dem vereinbarten Betrag setzte sich die Dienststelle Mühlmann gegen konkurrierende Bieter durch. Pikant hieran war nicht zuletzt, dass das Reichskommissariat Göring ausstach, dessen Angebot um zwei Millionen Gulden höher ausgefallen war.186 In diesem Zusammenhang ist Seyß-Inquarts Verweis auf Hitlers Anordnung zu sehen, dem Sonderauftrag Linz beim Ankauf von Kunstwerken zugunsten des zukünftigen ‚Führermuseums‘ Priorität einzuräumen.187

182 So die Schätzung von Petropoulos, The Importance of the Second Rank, 198 mit Anm. 108. Zur Zusammenarbeit mit Weinmüller siehe Hopp, Kunsthandel im Nationalsozialismus, 281–294. 183 Euwe, De Nederlandse kunstmarkt, 86. 184 Aalders, Geraubt!, 117. 185 Schwarz, Auf Befehl des Führers, 196 f. 186 Zum Verkauf der Mannheimer-Sammlung siehe Euwe, De Nederlandse kunstmarkt, 88 f., Petropoulos, Kunstraub und Sammelwahn, 186, Aalders, Geraubt!, 41 f. und Hopp, Kunsthandel im Nationalsozialismus, 287-294. Zu Mannheimer siehe den Eintrag von Jonker im Biografisch Woordenboek van Nederland. 187 Siehe seine Anweisung vom 10. November 1941, NIOD, 1/12.

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Bei der Befriedigung deutscher Ansprüche auf Bestände des niederländischen Kunstmarkts galt es für die Dienststelle Mühlmann denn auch, eine Hierarchie zu beachten.188 An ihrer Spitze stand unwidersprochen der ‚Führer‘. Er behielt sich bei der Einziehung von Kunstwerken sogenannter „Staatsfeinde“ das Entscheidungsrecht vor, und zwar mit der aufschlussreichen Begründung, „von vornherein jede mißbräuchliche [sic] Verwendung dieser Kunstwerke auszuschließen.“189 Mit dem Ziel, ‚wilde‘ Plünderungen des Kunstmarkts der besetzten Gebiete zu verhindern, sicherte Hitler dadurch seinem Beauftragten Dr. Hans Posse bzw. dessen Nachfolger Dr. Hermann Voß (ab 1943) Vorrang gegenüber allen anderen Nationalsozialisten. Tatsächlich wurden in den Niederlanden Schätzungen zufolge für die Belange des Linzer ‚Führermuseums‘ etwa 25 Millionen Gulden ausgegeben.190 Der Sonderauftrag Linz ließ allerdings genügend Kunstwerke übrig, sodass Mühlmann und seine Mitarbeiter einträgliche Geschäfte mit anderen ‚Interessierten‘ tätigen konnten. Insbesondere Göring sorgte dafür, dass er hier wie in anderen besetzten Ländern ausgiebig zum Zug kam. Er beschäftigte vor Ort Agenten, die in seinem Auftrag Verhandlungen führten und Ankäufe tätigten; gelegentlich reiste er sogar selber in die Niederlande, um lukrative Objekte zu begutachten. Görings Verbindung zur Dienststelle Mühlmann war in nationalsozialistischen Kreisen derart berüchtigt, dass sich sein Persönlicher Referent einmal zu der Aussage genötigt sah, Mühlmann tue nicht mehr als „den Herrn Reichsmarschall genau wie andere Persönlichkeiten aus Kenntnis seiner […] Tätigkeit manchmal über eventuell besonders interessierende Kunstangelegenheiten“ zu „unterrichten“.191 Dass es bei Göring und anderen Nationalsozialisten in Wahrheit nicht darum ging, sich „manchmal“ über „eventuell besonders interessierende Kunstangelegenheiten“ „unterrichten“ zu lassen, sondern um einen massiven Ausverkauf wertvoller Teile des niederländischen Kulturerbes, war auch der NS-Führung bekannt. Insgesamt war die Grenze zwischen ‚wilden‘ Plünderungen und der Erfassung, Konfiszierung oder Liquidierung jener Kunstwerke fließend, für die das NS-Regime durch Verordnungen zur Arisierung oder zur Beschlagnahme von ‚Feindvermögen‘ pseudorechtliche Grundlagen schuf. Die Dienststelle Mühlmann war auf dem ‚wilden‘ wie auf dem ‚legalen‘ Sektor tätig.

188 Siehe Aalders, Geraubt!, 335. 189 Lammers an den Chef des OKW, die Reichskommissare für Norwegen und die Niederlande sowie die Chefs der Zivilverwaltungen im Elsaß, in Lothringen und Luxemburg vom 18. November 1940, NIOD, 20/707. Zum ‚Führervorbehalt‘, den Hitler zum ersten Mal nach dem Anschluss Österreichs dekretiert hatte, siehe jetzt Schwarz, Auf Befehl des Führers, hier besonders 194–198. 190 Für die Durchführung ihrer Finanztransaktionen bedienten sich Posse und Voß eines Sonderkontos, das innerhalb des Reichskommissariats für diese Zwecke angelegt wurde. Siehe hierzu Euwe, De Nederlandse kunstmarkt, 116. Vgl. auch Iselt, „Sonderbeauftragter des Führers“. 191 Ministerialrat Dr. Friedrich Görnnert an Lammers vom 5. September 1942, NL-HaNA, 2.05.117/6659. Zu Görings Ansprüchen auf niederländische Kunstwerke siehe auch die Materialien in NIOD, 211. Alford, Hermann Göring and the Nazi Art Collection bleibt hinter dem Forschungsstand zurück; siehe hierzu die kritischen Rezensionen von Hanns C. Löhr und von Holger Löwendorf unter http://www.perspectivia.net/content/publikationen/francia/francia-recensio/2012-4/ZG/alford_loehr bzw. http://www.h-net. org/reviews/showrev.php?id=36107 [Zugriffe: 23. Dezember 2014].

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Neben dem Sonderauftrag Linz und der Dienststelle Mühlmann verbrachte der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg192 mit Duldung und Unterstützung des Reichskommissariats massenhaft Kulturgüter aus den Niederlanden ins Reich. Sein Hauptaugenmerk richtete er auf jene Bibliotheken, Archive und Verlage, die von den Nationalsozialisten als regimefeindlich eingeschätzt wurden; deren Bestände wurden vom Einsatzstab für den Aufbau der ‚Hohen Schule‘ in Frankfurt am Main in Beschlag genommen. Zu den Opfern des ERR zählten beispielsweise die niederländischen Rotary Clubs, Rosenkreuzer und vergleichbare liberal-humanistisch eingestellte oder okkulte Organisationen. Von Konfiskationen betroffen waren auch die Zeugen Jehovas, weil sie wegen ihrer „Kriegsdienstverweigerung“ als „Reichsfeinde“ betrachtet wurden.193 Eine besondere Zielgruppe des Einsatzstabs bildeten die Freimaurer: Ihr Vermögen wurde eingezogen, ihre Liegenschaften, Gebäude, Bibliotheks- und Archivbestände wurden beschlagnahmt und ihre Logen aufgehoben.194 Von dieser Beute wollte allerdings auch Seyß-Inquart profitieren. Gegenüber dem deutschen Finanzminister brüstete er sich 1944 damit, dass er dem NS-Regime durch die Liquidation des Freimaurervermögens weit über sechs Millionen Gulden gesichert habe, und er regte an, die konfiszierten Werte ebenso wie das „Judenvermögen“ „bestimmten Zwecken in den Niederlanden“ zuzuführen. Von einer Überweisung des Liquidationsbetrags ins Reich war hier nicht die Rede. Vielmehr lief sein Vorschlag darauf hinaus, dass das ehemalige Freimaurervermögen dem Arbeitsbereich der NSDAP in den Niederlanden zur Verfügung gestellt oder durch das Reichskommissariat für den Kauf von „Schatzanleihen des Reiches“ freigegeben werden sollte.195 Unter den herausragenden Kulturwerten, die sich der ERR für die Hohe Schule sicherte, war die Bibliothek Rosenthaliana. Sie umfasste ca. 30.000 Bände von Judaica und Hebraica und hatte sich bis dahin als Schenkung der jüdischen Familie Rosenthal im Eigentum der Stadt Amsterdam befunden. Zunächst griff das Reichssicherheitshauptamt zu: Im August 1941 ließ es die Bibliothek durch die Sicherheitspolizei beschlagnahmen und deren Räume versiegeln. Nachdem bald darauf aber ein Mitarbeiter des RSHA bei einer Inspektion vor Ort zu dem Ergebnis gekommen war, dass ein Großteil der Bücher aus der Bibliotheca Rosenthaliana bereits in der Zentralbibliothek des RSHA vorhanden sei und die Aufnahme weiterer jüdischer Bibliotheksbestände „nur die zwecklose Herbeischaffung von Dubletten und einer Unmenge von geistigem Schrott“ bedeute,196 kam Rosenbergs Einsatzstab zum Zug. Mit dem Abtransport ließ man sich jedoch Zeit: Erst nach der Landung der Alliierten in der Normandie wurde die Rosenthaliana in ein Depot nach Hungen bei Frankfurt transportiert. Nach

192 Zu dessen Aktivitäten in den besetzten Niederlanden siehe die Materialien in NIOD, Bestände 93a und 265 sowie die Darstellungen bei Manasse, Verdwenen archieven en bibliotheken, Kap. 2 und Aalders, Geraubt!, 99 ff. 193 So Seyß-Inquarts Formulierung nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 127. 194 Vgl. Rosenberg an Werner Schwier (Leiter des Referats Internationale Organisationen im Generalkommissariat z. b. V.) vom 22. August 1940, NIOD, 265/12. 195 Seyß-Inquart an Schwerin von Krosigk vom 11. März 1944, BArch, R 43 II/1463a, Bl. 43. 196 Aus dem Bericht von SS-Hauptsturmführer Friedrich Murawski (Amt VII des RSHA) vom 30. September 1941, zit. nach: Hoogewoud, Die Bibliotheca Rosenthaliana, 254.

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dem Krieg stellte Seyß-Inquart zwar die Behauptung auf, er habe den Abtransport dieser Bibliotheksbestände verhindert, wohlgemerkt „trotz Führerbefehl“.197 Die Wirklichkeit aber sah anders aus: Unter ausdrücklicher Berufung auf den Reichskommissar wies Wimmer im Sommer 1944 die Bitte des Amsterdamer Bürgermeisters Voûte zurück, den Abtransport dieser einmaligen Sammlung ins Reich rückgängig zu machen. Denn der ERR habe – so lautete die Auffassung des Reichskommissariats – die Aufgabe, Schrifttum zu beschlagnahmen, „welches für die planmässige geistige Bekämpfung des Judentums notwendig ist“, und „da gerade die Bibliotheca Rosenthaliana für die Forschungsaufgaben der Hohen Schule von besonderer Bedeutung ist, kann auf sie nicht verzichtet werden.“198 Ein vergleichbares Schicksal ereilte Bibliothek und Archiv des renommierten ‚Internationalen Instituts für Sozialgeschichte‘ (IISG) in Amsterdam, das seit seiner Gründung im Jahr 1935 ein Zentrum zur Erforschung und Dokumentation der Geschichte der Arbeiterbewegung war. Auch dessen Bestände, zu dem unter anderem Originaldokumente von Karl Marx, Friedrich Engels, August Bebel und des russischen Revolutionärs und Anarchisten Michail ­Alexandrowitsch Bakunin zählten, fielen der Beschlagnahme durch den ERR zum Opfer. Zwischen August 1943 und November 1944 wurden die Bestände nach Deutschland verfrachtet. Denn als „einmalige Zusammenstellung des Schrifttums des europäischen Marxismus“ waren sie – wie Rosenberg Seyß-Inquart erläuterte – „für unseren weltanschaulich-politischen Kampf unersetzlich“.199 Dass Bestände des Internationaal Instituut voor S­ ociale Geschiedenis, für die sich im Rahmen der ‚Gegnerbekämpfung‘ auch das Reichssicherheitshauptamt interessierte, nach Deutschland transportiert wurden, war aber Seyß-Inquarts Angaben aus der Nachkriegszeit zufolge ohne seine Zustimmung und ohne sein Wissen erfolgt.200 Auch diese Aussage war offenkundig mehr der eigenen Verteidigung als der Wahrheit verpflichtet. Denn während der Besatzungsjahre erkannte der Einsatzstab bei der Durchführung von Beschlagnahmeaktionen der „unerhört wertvollen Schätze“, die man in den Niederlanden „auf den Gebieten der Juden- und Freimaurerfrage“ entdeckte, den politischen Primat des Reichskommissars an. Der Leiter der ERR-Arbeitsgruppe Niederlande, Oberbereichsleiter August Schirmer, fühlte sich jedenfalls „strikt an das Tempo gebunden, das von Seiten des Reichskommissars bei der Behandlung der Judenfrage und der internationalen Organisationen vorgeschrieben wird. Dieses Tempo wird wiederum wesentlich bestimmt durch die politische Entwicklung, die sich nach übergeordneten Gesichtspunkten vollzieht und nicht durch Einzelaktionen gestört werden darf.“201 Seyß-Inquart seinerseits erhob gegen die Aktivitäten des ERR keine Einwände. Er hatte auch nichts dagegen, wenn Rosenbergs Leute 197 Siehe Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 62. 198 Wimmer an Voûte vom 27. Juli 1944, NIOD, 20/740. 199 Rosenberg an Seyß-Inquart vom 11. September 1944, IfZ, IMG-Dok. PS-091. Zu dieser Aktion siehe auch Bungert, Flucht, Vertreibung und Verschleppung, 98 f. 200 Seyß-Inquart, Denkschrift, handschriftliche Ergänzung zu Bl. 63. Siehe auch Steinbauers Ausführungen vor dem Nürnberger Gerichtshof nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 11, 579. 201 Zit. aus einem undatierten Bericht Schirmers nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 25, 254 f.

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Kunstgegenstände zugunsten der Hohen Schule oder der besetzten Ostgebiete „erfassten“, die vom Sonderauftrag nicht übernommen wurden.202 Am allerwenigsten legte der Reichskommissar der sogenannten Möbel-Aktion (‚M-Aktion‘) Steine in den Weg. Dadurch konnte der ERR zusammen mit dem Amt Westen von Rosenbergs Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete 1942/43 ohne viel Mühe in den besetzten Westgebieten Einrichtungsgegenstände aus 25.000 jüdischen Wohnungen für Ausgebombte im Reich oder deutsche Amtsstellen in Osteuropa in Beschlag nehmen – während im selben Zeitraum die Deportationszüge die beraubten Juden zu Zehntausenden in die Vernichtungslager transportierten.203 Dass der ERR in den Niederlanden all diese Aktionen relativ problemlos durchführen konnte, wussten dessen Mitarbeiter vor Ort zu schätzen. In ihren Monatsberichten hoben sie immer wieder hervor, dass hier die Zusammenarbeit mit anderen deutschen Dienststellen reibungslos funktioniere. Und voller Anerkennung hieß es im Februar 1943: „Es gibt keine Stelle, die es an dem nötigen Entgegenkommen fehlen liesse.“204 Nicht im Umfang und in der Brutalität, wohl aber in der Effizienz der Plünderung kultureller Werte, wirtschaftlicher Ausbeutung und der Judenverfolgung war Seyß-Inquarts Reichskommissariat innerhalb des Einflussbereichs des NS-Imperiums in einem erschreckenden Sinne vorbildlich. Die Nachkriegsaussage von Hans Fritzsche, einst Generalbevollmächtigter für die politische Organisation des Großdeutschen Rundfunks, Seyß-Inquart habe in den Niederlanden „jeden Kunstraub“ „sorgsam verhindert“,205 gehört somit ins Reich der Märchen. Ob und in welchem Umfang der Reichskommissar allerdings persönlich vom räuberischen Kunsthandel oder anderen Formen staatlich gedeckter Plünderung in ‚seinen‘ Niederlanden profitierte, ist eine offene Frage. Es ist belegt, dass er gelegentlich Gemälde und Grafiken angekauft hat.206 In seinem Besitz lassen sich denn auch etliche Gemälde namhafter alter niederländischer Meister sowie eine Reihe von Wandteppichen nachweisen. Auch hat es nicht an Behauptungen gefehlt, Seyß-Inquart habe aus dem Verkauf der Mannheimer-Sammlung einen Gewinn für sich gezogen, durch Börsengeschäfte mit öffentlichen Geldern ein Vermögen erworben und gewinnbringend Dollar-Bonds an die Deutsche Golddiskontbank verkauft.207 Darüber hinaus wurde sein Name im Zusammenhang mit den Ermittlungen genannt, die 1942 gegen Karl Lasch, einen der Distriktchefs im Generalgouvernement, geführt wurden: Demnach hatte Seyß-Inquart Einkäufe unterstützt, mit denen der frühere Gouverneur von Radom und von Galizien in Frankreich und in den Niederlanden illegal Luxuswaren erworben hatte und nach Polen hatte bringen lassen. Inwieweit Seyß-Inquart bekannt war, dass es

202 SS-Sturmbannführer Albert Schmidt-Stähler (Leiter der Hauptarbeitsgruppe Niederlande des ERR) an Karger (Liro) vom 14. Mai 1942, BArch, R 177/203. 203 Grimsted, Reconstructing the Record of Nazi Cultural Plunder, 253 mit Anm. 7 und Aalders, Geraubt!, Kap. 10. 204 NIOD, 93a/51; der Bericht datiert vom 3. März 1943. 205 Zit. nach: Springer (Hrsg.), Das Schwert auf der Waage, 218. 206 Siehe die Notiz in Het Vaderland, Morgenausgabe vom 1. Januar 1942 zu einer Ausstellung im Amsterdamer Reichsmuseum. 207 Siehe Petropoulos, Kunstraub und Sammelwahn, 297 f.

11.3 Gelenkte Wirtschaft

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hierbei um persönliche Bereicherung ging, geht aus den Ermittlungsakten allerdings nicht hervor. Noch weniger enthalten sie einen Hinweis auf die Frage, ob der Reichskommissar selber von diesen Einkäufen profitiert hat, die sogar nach den Maßstäben des räuberischen NS-Systems als betrügerisch galten.208 Vollkommen ungesichert sind Meldungen, die einige Zeitungen nach Kriegsende verbreiteten: In einem Versteck bei Nürnberg seien ausländische Wertpapiere im Wert von über fünf Millionen Reichsmark sowie 20.000 Schweizer Franken in Bargeld aufgefunden worden, „die Seyß-Inquart zur Zeit der angloamerikanischen Landung in Frankreich in Erwartung der deutschen Niederlage als ‚Notgroschen‘ in dem Versteck hinterlegen ließ.“209 Und die Österreichische Volksstimme, das Presseorgan der Kommunistischen Partei Österreichs, verbreitete im Dezember 1945 unter dem reißerischen Titel Die Juwelen Seyß-Inquarts. Wie ich sie gefunden habe die Mitteilung, Verwandte und Freunde des NS-Politikers hätten gegen Kriegsende Geld, Schmuckstücke, Aktien und andere Wertgegenstände aus dessen Dornbacher Villa an sich genommen.210 Der Wahrheitsgehalt dieser Meldung wurde jedoch nie verifiziert. Seyß-Inquart selber gab zu Protokoll, dass es sich bei den Geldbeträgen von 41.164 Reichsmark und 5.875 Gulden, die er zum Zeitpunkt der Gefangennahme mit sich geführt hatte, um „Dienstgelder des Deutschen Reiches“ gehandelt habe; diese unterschied er strikt von jenen 500 Reichsmark und 500 Gulden, die er ebenfalls bei seiner Verhaftung durch britische Soldaten bei sich gehabt hatte. Von Veruntreuung öffentlicher Gelder zu privaten Zwecken könne also keine Rede sein.211 Eine gesicherte Aussage darüber, aus welchen Quellen die Gelder stammten, die Seyß-Inquart während der Besatzungszeit für den Ankauf von Kunstwerken in Anspruch genommen hat, erlaubt der derzeitige Forschungsstand jedenfalls nicht. Das Gleiche gilt für die Frage, ob er die Gemälde oder Grafiken, die sich nachweislich in seinem Besitz befanden, für sein Büro im Reichskommissariat, für die Residenz Clingendael oder für seine Villa in Wien angeschafft 208 Siehe Oberstaatsanwalt Dr. Drath als Leiter der Anklagebehörde beim Sondergericht Breslau an Staatssekretär Freisler vom 9. Mai 1942, hier nach der Fotokopie in NIOD, BDC/H 570; für den Hinweis danke ich Richard Schuurman. Die Ermittlungen, die SS-Oberführer Schöngarth als Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD im Distrikt Krakau führte, sowie der Prozess gegen einen Distriktgouverneur waren an sich schon spektakulär. Sie erhielten vor dem Hintergrund der machtpolitischen Spannungen zwischen Himmler und Frank zusätzliche Brisanz. Schenk hält es für erwiesen, dass Hitler am 23. Mai 1942 auf einer Besprechung mit Lammers und Bormann Laschs Tod beschlossen habe. Tatsächlich kam der entmachtete NS-Politiker gut eine Woche später ums Leben. Ob er erschossen oder zum Selbstmord gezwungen wurde, ist nicht bekannt (Hans Frank, 259–268). 209 Kieler Nachrichten-Blatt der Militärregierung vom 20. Juni 1945 (BArch, ZSg. 103/8644). Ähnlich die Meldung im Hamburger Nachrichten-Blatt vom Vortag. Siehe auch den Tagebucheintrag vom 3. Mai 1945 in: Blauensteiner, Wien 1945, 336 f.: „In der Wiener Villa des Seyß-Inquart […] fand man versteckt Bündeln von Auslandsaktien im Wert von ca. 5 Millionen Reichsmark, 88 lose in Vorhangsäume eingenähte Brillanten, im Klavier versteckt 5.000 Hollandgulden in Banknoten. Im Garten fand man vergraben: 100 holländische Goldmünzen, Ringe, Halsketten, Armbänder etc., insgesamt 84 Posten mit zusammen rund 1.000 Einzelstücken.“ 210 Österreichische Volksstimme vom 8. Dezember 1945, ÖGZ-A, NL-61, DO 713, Mappe 329. 211 Eidesstattliche Erklärung Seyß-Inquarts vom 28. September 1946, ebd., DO 678, Mappe 152.

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hat. Vor dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gestand seine Verteidigung ohne nähere Angaben nur ein, der Reichskommissar habe in den Niederlanden wenige Bilder für Wien gekauft, und die habe er „auf dem freien Markt“ erstanden.212 In welchem Umfang hat Seyß-Inquart öffentliche Gelder für Repräsentationszwecke in Anspruch genommen, wie dies auch andere Vertreter einer Besatzungsmacht taten? Hat er sich unter Ausnutzung seiner Funktion als Reichskommissar persönlich bereichert? Inwieweit trifft seine Nachkriegsaussage zu, er habe „fuer sich persoenlich, obwohl sich die mannigfaltigsten Gelegenheiten ergaben, in Holland kein Bild gekauft [,] auch nicht schenken lassen bis auf 2–3 zeitgenoessische ­Stiche unbekannter Kuenstler“?213 Fest steht lediglich, dass keine zeitgenössische Quelle existiert, die ihm auch nur ansatzweise eine solch maßlose Sammelleidenschaft attestieren würde, wie sie für Hermann Göring oder Hans Frank belegt ist. Fest steht aber auch, dass das niederländische Kulturerbe unter Seyß-Inquarts Verantwortung Plünderungen ausgesetzt war. Von niederländischer Seite wurden zwar Versuche unternommen, zumindest die Ausfuhr von Werken zeitgenössischer Künstler zu unterbinden.214 Im Dezember 1942 konnte das Generalsekretariat für Volksaufklärung und Künste nach längeren Verhandlungen mit Berliner Stellen immerhin erreichen, dass hierfür fortan die Zustimmung der Zentralauftragsstelle eingeholt werden musste. Und Ende April 1943 wurde sogar ein ausdrückliches Verbot erlassen, zeitgenössische Kunst aus dem Land zu bringen. Doch in der Praxis zeitigten selbst diese bescheidenen Ansätze, den unfreiwilligen Export einheimischer Kunstwerke einhegen zu wollen, kaum positive Effekte. Denn zum einen waren damals bereits zahlreiche Kunstwerke ins Reich transportiert worden. Zum anderen war die Tätigkeit der ZAST auf diesem Gebiet wenig engagiert; ihre Mitarbeiter dürften im Allgemeinen gegen die Ausfuhr von Kunstwerken ebenso wenig Einwände erhoben haben wie die Angehörigen anderer deutscher Dienststellen. Ältere Kunstwerke fielen ohnehin nicht unter diese Regelung. Der rührigen Dienststelle Mühlmann konnten die weitgehend wertlosen Bestimmungen über die Reglementierung bzw. das Verbot der Ausfuhr zeitgenössischer Kunst jedenfalls kaum etwas anhaben. Sie war es auch, die am meisten von der Tatsache profitierte, dass Seyß-Inquart bereits im ersten Besatzungsjahr Pläne des Generalsekretariats für Unterricht, Künste und Wissenschaften zu Fall brachte, die Ausfuhr niederländischer Kulturgüter generell von der Zustimmung eines niederländischen ‚Monumentenrates‘ abhängig zu machen und eine Steuer auf Kunstwerke zu erheben, die das Land verlassen sollten. Eine solch weitgehende Mitsprache oder gar eine Einspruchsmöglichkeit einheimischer Kulturpolitiker oder -verwaltungen war nicht in seinem Sinne. Ihm lag daran, der Besatzungsmacht volle Entscheidungs- und Verfügungsfreiheit zu belassen. Dies schloss allerdings nicht aus, dass sich der Reichskommissar in Einzelfällen gegen die Ausfuhr niederländischer Kunstwerke einsetzte – etwa als Mussert bei ihm dagegen protestierte, dass die Sicherheitspolizei im September 1943 drei Gemälde des – wie Mussert betonte 212 Steinbauer am 19. Juli 1946 im Schlussplädoyer, zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 19, 93. 213 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 95. 214 Zum Folgenden siehe Euwe, De Nederlandse kunstmarkt, 35 und 51 ff.

11.4 Arbeitsdienst und Zwangsarbeit

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– „arischen“ Kunstmalers Jan Pieter Veth aus dem Dordrechter Museum mit der Begründung beschlagnahmt hatte, die Werke bezögen sich auf „jüdische Themen“. Gemeint waren Porträts, die Veth von Jozef Israëls, einem jüdischen niederländischen Künstlerkollegen, angefertigt hatte. Es ist belegt, dass sich Seyß-Inquart tatsächlich für den Verbleib der inkriminierten Werke eingesetzt hat. So bedankte sich der NSB-Führer im Frühjahr 1944 dafür, dass der Reichskommissar in dieser Angelegenheit seinen „geschätzten Einfluss“ geltend gemacht habe, und der Direktor des Rotterdamer Museums Boijmans und Beauftragte Musserts für das Museumswesen, Dirk Hannema, bestätigte nach dem Krieg, dass der Verbleib von Veths Werken in den Niederlanden auf eine entsprechende Anordnung Seyß-Inquarts zurückzuführen gewesen sei.215 Das Engagement des Reichskommissars zugunsten der Werke des 1925 verstorbenen Veth muss freilich nicht notwendigerweise dem Schutz des niederländischen Kunstpatrimoniums geschuldet gewesen sein. Es wird eher das Ergebnis einer Rücksichtnahme auf die NSB gewesen sein. Letztlich darf dieser Einzelfall ebenso wenig überschätzt werden wie die Tatsache, dass das ‚Ahnenerbe‘ archäologische Grabungen im niederländischen Küstengebiet betrieb.216 Solchen partikularen Initiativen lagen lediglich innenpolitische Rücksichtnahmen und die Absicht zugrunde, niederländisches Kulturgut für die Nachkriegsordnung in einem Großgermanischen Reich zu sichern. Ihnen steht gegenüber, dass Seyß-­ Inquart eine Mitwirkung niederländischer Stellen in der Frage der Ausfuhr von Kunstwerken abgewehrt hat, Rechtsvorschriften formuliert und durchgesetzt hat, die der Beschlagnahmung und Liquidierung von kulturellen Artefakten dienten, und der Dienststelle Mühlmann, dem Sonderauftrag Linz und dem Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg bei Aktivitäten den Rücken freihielt, die der Plünderung des niederländischen Kunstmarkts Vorschub leisteten. 11.4 Arbeitsdienst und Zwangsarbeit

Neben materiellen Werten machte sich das NS-Regime durch die Einführung des Arbeitsdienstes die Humanressourcen der Niederlande zunutze.217 Aus seiner Sicht erfüllte der Arbeitsdienst mehrere Funktionen: Er diente dem Wiederaufbau, entlastete die Arbeitslosenstatistik, bot ein Forum zu ideologischer Indoktrination und war damit als ein weiteres Instrument zur Nazifizierung der einheimischen Gesellschaft gedacht; nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges wurde er zusätzlich zur Vorbereitung auf einen Kriegseinsatz genutzt. Immer mehr in den Vordergrund trat im Laufe der Besatzungszeit eine weitere Funktion: die Förderung der deutschen Kriegswirtschaft. In diesem Rahmen wurde die einheimische Bevölkerung entweder im eigenen Land eingesetzt oder zum Arbeitsdient in Deutschland oder in anderen deutsch beherrschten Ländern aufgefordert bzw. verpflichtet. Das Spek­ 215 Mussert an Seyß-Inquart vom 21. Februar und vom 20. April 1944, NIOD, 123/216, Mappe 7 (Abschriften auf Deutsch und auf Niederländisch) und Aussage Hannemas in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 41, Dok. Seyß-Inquart-108, 383 und 388. Hannema führte Seyß-Inquarts Anordnung nicht auf Mussert, sondern auf seine eigene Intervention zurück. 216 Vgl. hierzu Beyen, Oorlog en verleden, 153–155. 217 Grundlegend ist nach wie vor die ausführliche, quellenfundierte Studie von Sijes, De Arbeidsinzet.

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Kapitel 11: Wirtschaftspolitik

trum der Tätigkeiten reichte von der Beschäftigung in Land- oder Forstwirtschaft über die Beseitigung von Kriegsschäden und die Instandsetzung von Infrastruktur unter Einschluss von Flugplätzen und Hafenanlagen bis zum Einsatz in der Rüstungswirtschaft und im Bau von militärischen Anlagen wie dem Atlantikwall, dem Westwall, unzähligen Bunkern oder Panzergräben. Insgesamt sind allein bis Sommer 1944 weit über 560.000 Niederländer nach Deutschland oder ins übrige deutsch besetzte Ausland verschickt worden.218 Die allgemeine Entwicklung der deutschen Politik der Rekrutierung von niederländischen Arbeitskräften war durch drei Tendenzen gekennzeichnet: Erstens überließ es die Besatzungsmacht anfangs teilweise den einheimischen Behörden unter dem kooperationsbereiten kommissarischen Generalsekretär für Soziale Angelegenheiten Verwey, einzelne Rechtsvorschriften zu erlassen und Aufrufe oder Einberufungen zum Arbeitsdienst vorzunehmen. Doch schon im ersten Besatzungsjahr übernahm das Reichskommissariat unter der fachlichen Federführung der Geschäftsgruppe (ab 1942: Hauptabteilung) Soziale Verwaltung immer mehr die Initiative und beschränkte die niederländischen Behörden im Laufe der folgenden vier Jahre auf die Ausführung der deutschen Politik. Zweitens griff das Reich seit der Ernennung Sauckels zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz ab 1942 stark in die Rekrutierung von Arbeitskräften der besetzten Länder ein. Damit wurde der politische Handlungsspielraum des Reichskommissars wie auf kaum einem anderen Politikfeld von Reichs wegen eingeschränkt. Parallel zum verstärkten Eingreifen deutscher Instanzen machte – drittens – das Moment der Freiwilligkeit Zwangsmaßnahmen Platz, die mithilfe der Sicherheitsorgane auf exzessive Weise, in wachsendem Umfang und mit zunehmender Brutalität durchgesetzt wurden. Wie im Folgenden deutlich wird, lassen sich in der deutschen Arbeitspolitik zwar einzelne Zäsuren ausmachen, die sukzessive zu einer Verschärfung führten. Die Radikalisierung, die für die Niederlande aus den drei Tendenzen resultierte, war aber nicht das Ergebnis von grundsätzlichen Änderungen, sondern das Resultat einer schleichenden Entwicklung.219 Bei der Werbung um Freiwillige für den Arbeitsdienst konnte das Regime zum einen auf Grenzgänger zählen, deren Zahl auf 67.000 geschätzt wird.220 Zum anderen wurden schon am 21. Juni 1940 arbeitslose Niederländer vom Generalsekretariat für Soziale Angelegenheiten öffentlich aufgefordert, sich zum Arbeitseinsatz in Deutschland zu melden, weil in dem überbevölkerten Land nicht in ausreichendem Maße Arbeitsplätze zur Verfügung stünden. Den Freiwilligen wurden regelmäßige Heimfahrten, eine gute Bezahlung und die gleichen Sozialleistungen in Aussicht gestellt, wie sie deutsche Arbeiter erhielten.221 Wenige Tage spä218 Hirschfeld, Der „freiwillige“ Arbeitseinsatz, 512. Hirschfeld zufolge fehlen Zahlen zur zweiten Hälfte von 1944 und für 1945. 219 So auch Hirschfeld, Die niederländischen Behörden und der „Reichseinsatz“, 177. 220 Klemann, Nederland 1938–1948, 268 f. Zum Folgenden vgl. auch Hirschfeld, Der „freiwillige“ Arbeitseinsatz, 500–505. 221 In einem Interview mit De Telegraaf stellte Verwey als Direktor des ‚Reichsdienstes für Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung‘ insbesondere Facharbeitern die Aufnahme einer Arbeit in Deutschland als eine Maßnahme dar, die sich „in Übereinstimmung mit der natürlichen Migration von den Niederlanden nach Deutschland“ befinde, wie sie bereits vor dem Ersten Weltkrieg bestanden habe (hier zit. nach: De Banier. Staatkundig Gereformeerd Dagblad vom 22. Juni 1940). Drei Monate später rührte auch

11.4 Arbeitsdienst und Zwangsarbeit

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ter jedoch wurde das Prinzip der Freiwilligkeit, auf dem der Aufruf der niederländischen Behörden basierte, relativiert und in gewisser Weise ins Gegenteil verkehrt: Wer sich weigerte, einen angebotenen Arbeitsplatz im Reich anzunehmen, ging der Arbeitslosenunterstützung verlustig und wurde aus dem öffentlichen Vermittlungs- und Arbeitsbeschaffungssystem ausgeschlossen; außerdem erhielten Familienangehörige keine Sozialhilfe mehr.222 Das erpresserische Junktim zwischen Arbeitslosenunterstützung und Entsendung nach Deutschland setzte Arbeitslose und ihre Angehörigen schwer unter Druck. Es war allerdings keine Erfindung der Besatzungsmacht. Eine vergleichbare Praxis war bereits in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre von den niederländischen Regierungen mit dem Ziel angewendet worden, die hohe Arbeitslosigkeit zu reduzieren, die eine Folge der Weltwirtschaftskrise und einer rigiden Deflationspolitik war. Nach dem Ende des Westfeldzugs hielten die niederländischen Arbeitsämter an der Vermittlung von Arbeitslosen und Arbeitssuchenden nach Deutschland fest. Immerhin war deren Anzahl unter Einschluss der demobilisierten Soldaten der niederländischen Armee mittlerweile auf schätzungsweise 450.000 bis 500.000 Menschen angestiegen, ihre Beschäftigung innerhalb des Landes erschien ausgeschlossen. Das Junktim begründete zwar noch keine Zwangsarbeit im engeren Sinne. Doch es nahm dem Arbeitsdienst bereits in den ersten beiden Besatzungsjahren den Aspekt der Freiwilligkeit. Um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu forcieren, wurde auf deutschen Druck hin von Verwey das niederländische Staatsarbeitsamt ins Leben gerufen.223 Diese Einrichtung, deren Leitung Verwey neben seiner Funktion als Generalsekretär übernahm, orientierte sich erkennbar am Vorbild der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Nürnberg: Wie die deutsche Reichsanstalt seit 1938, war das Rijksarbeidbureau keine Selbstverwaltungskörperschaft, sondern eine staatliche Behörde, die einem Ministerium eingegliedert war – hier dem Reichsarbeitsministerium,224 dort als Abteilung des Generalsekretariats für Soziale Angelegenheiten. Und wie im Deutschen Reich war mit dem Staatsarbeitsamt auch in den Niederlanden eine Institution vorhanden, die eine zentrale Aufsicht über die 37 (1944: 25) Bezirksarbeitsämter und 143 (154) örtlichen Dienststellen führte und nach ‚oben‘ wie nach ‚unten‘ hin in klare hierarchische Strukturen eingebunden war. Dies erleichterte der Besatzungsmacht den Zugriff auf niederländische Arbeitskräfte. Auch die Tatsache, dass in den Bezirksarbeitsämtern schon Ende 1941 ein vergleichsweise hoher Satz von 14,5 Prozent der Mitarbeiter der NSB angehörte, kam der deutschen Politik entgegen.225 Und schließlich vereinfachte Verweys Doppelfunktion als Generalsekretär für Soziale Angelegenheiten und als

Seyß-Inquart die Werbetrommel für die Aufnahme einer Arbeit im Reich mit dem Versprechen: „Der niederländische Arbeiter lebt in Deutschland unter guten Bedingungen und genießt die gleichen Rechte wie der deutsche Arbeiter.“ (Der Neuaufbau in Holland) 222 Vgl. den Artikel Geen steun bij weigeren werk in Duitschland [Keine Unterstützungleistungen mehr bei der Verweigerung einer Arbeit in Deutschland] in: De Courant vom 29. Juni 1940. 223 VO 166/1940 vom 24. September 1940, in: VOBl. NL 1940, 500–502. Siehe auch Hirschfeld, Der „freiwillige“ Arbeitseinsatz, 508 und Ders., Die niederländischen Behörden und der „Reichseinsatz“, 176. 224 Siehe Hitlers Erlass vom 22. Dezember 1938, in: RGBl. 1938/I, 1892. 225 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/2, 670 f.

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Kapitel 11: Wirtschaftspolitik

Generaldirektor des Staatsarbeitsamtes für die deutsche Besatzungsverwaltung die Kontrolle und Steuerung des niederländischen Arbeitsmarktes und der dortigen Arbeitsverwaltung. Die Kontrolle der einheimischen Behörden oblag innerhalb des Reichskommissariats insbesondere der Abteilung Arbeitseinsatzverwaltung mit ihren Fachberatern und Fachwerbern, die zur Geschäftsgruppe bzw. Hauptabteilung Soziale Verwaltung gehörte und ihrerseits den Generalkommissariaten für Finanz und Wirtschaft bzw. zur besonderen Verwendung eingegliedert war. Sie war praktischerweise im gleichen Gebäude untergebracht wie das Generalsekretariat für Soziale Angelegenheiten: Zunächst im Raamweg 91 zu Den Haag, später in der Prins Hendrikkade 108 in Amsterdam. Parallel zu den Bemühungen der niederländischen Behörden, die Arbeitslosigkeit durch die Förderung einer Arbeitsaufnahme ihrer Landsleute im westlichen Nachbarland Deutschland zu bekämpfen, ergriffen die deutschen Besatzungsbehörden in Den Haag seit dem Sommer 1940 eine Reihe von arbeitspolitischen Maßnahmen. Dazu gehört, dass Seyß-Inquart Ende Juli den Niederländischen Aufbaudienst ins Leben rief.226 Damit wollte er zweifellos verhindern, dass die gut 300.000 niederländischen Soldaten, die als Angehörige eines ‚germanischen‘ Volkes auf Befehl Hitlers im Juni 1940 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden waren,227 auf den ohnehin angespannten Arbeitsmarkt strömten. Wie es in seiner Verordnung pathetisch hieß, sollte der Nederlandsche Opbouwdienst den demobilisierten Soldaten als „Ehrendienst für Volk und Vaterland“ „die Gelegenheit zu nutzbringender Tätigkeit für die niederländische Volksgemeinschaft“ bieten (§ 1). Der Einfluss der „niederländischen Volksgemeinschaft“ auf diese Organisation blieb allerdings beschränkt. Denn in mehrfacher Hinsicht behielt sich Seyß-Inquart die Möglichkeit zur Steuerung und zu Eingriffen vor – ganz offensichtlich sah er damals in der ehemaligen Armee eine potenzielle Gefahrenquelle, die er seiner politischen Kontrolle unterwerfen wollte. So oblag es dem Reichskommissar, den jährlichen Haushaltsplan des Aufbaudienstes zu genehmigen (§ 3). Und er war es, der den Arbeitsleiter sowie den Verwaltungsdirektor ernannte und entließ und damit die Führung in starker Abhängigkeit von sich hielt (§ 2); die Herstellung eines Einvernehmens mit niederländischen Behörden in all diesen Fragen war nicht vorgesehen. Im Dezember wurde die Spitze des Aufbaudienstes ganz im Sinne des Führerprinzips dadurch ausgedünnt, dass Seyß-Inquart den Posten des Verwaltungsdirektors abschaffte;228 für einige Zeit führte der deutschfreundliche Major Jacob Nicolaas Breunese als Commandant, wie die militärisch konnotierte Bezeichnung für die Funktion des Arbeitsleiters auf Niederländisch lautete, alleine den Aufbaudienst. Ein langes Leben war der Organisation nicht beschieden: Bereits am 23. Mai 1941 löste der Reichskommissar den Niederländischen Aufbaudienst auf.229 Zum einen hatte sich mittlerweile herausgestellt, dass sich die frühere Armee nicht zu einer Keimzelle für militärischen 226 VO 71/1940 vom 30. Juli 1940, in: VOBl. NL 1940, 232 f. Die Verordnung trat rückwirkend zum 15. Juli in Kraft (§ 5) – einen Tag, nachdem die niederländische Armee aufgelöst worden war (Van Breen, De Nederlandsche Arbeidsdienst, 30). 227 Siehe hierzu und den Ausnahmen De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 8/1, Kap. 2. 228 VO 233/1940 vom 19. Dezember 1940, in: VOBl. NL 1940, 705 f. 229 VO 99/1941, in: VOBl. NL 1941, 376 f.

11.4 Arbeitsdienst und Zwangsarbeit

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Widerstand gegen die deutsche Besatzung entwickelt hatte. Zum anderen setzte Seyß-Inquart mit der sogenannten Arbeitsdienstverordnung am selben Tag ein wesentlich umfassenderes Instrument zur Rekrutierung von billigen Arbeitskräften für den Einsatz in den Niederlanden in Kraft. Mit der Arbeitsdienstverordnung gründete der Reichskommissar den schon mehrfach erwähnten Niederländischen Arbeitsdienst.230 Dieser richtete sich nicht auf die früheren Soldaten, sondern nach dem Vorbild des deutschen Reichsarbeitsdienstes (RAD) auf alle Niederländer und Niederländerinnen zwischen 18 und 25 Jahren; Freiwillige konnten sich bereits im Alter von 17 Jahren zum NAD melden (§ 3). Die jungen Erwachsenen wurden kollektiv verpflichtet, ein halbes Jahr lang „gemeinnützige Arbeiten“ zu verrichten. Auf diese Weise sollte „die niederländische Jugend zu einer sittlichen Arbeitsauffassung und insbesondere zur gebührenden Achtung der Handarbeit“ erzogen werden (§ 1). Die Ableistung des Arbeitsdienstes konnte zur Voraussetzung für die Wahrnehmung anderer Tätigkeiten werden (§ 4); auf diese Weise wurde dem NAD die Macht zugesprochen, die Aufnahme oder Fortsetzung eines Studiums, einer betrieblichen Ausbildung oder jeder wie auch immer gearteten beruflichen Tätigkeit zu erschweren oder gar zu sabotieren. Zu den Personengruppen, die vom Arbeitsdienst ausgeschlossen waren, gehörte neben rechtskräftig verurteilten oder für untauglich erklärten Niederländern die jüdische Bevölkerung (§§ 6 und 12); sie wurde zur Teilnahme an jenem „Ehrendienst am niederländischen Volk“ für unwürdig angesehen, den Seyß-Inquart im ersten Paragraf seiner Arbeitsdienstverordnung als das Wesen des NAD definierte. Anders als der Aufbaudienst war der Arbeitsdienst mit seinem Kommandanten, Generalarbeitsführer Lodewijk Alexander Cornelis de Bock, und seinem Stabschef Evert Ekker fest in den Händen von NSB-Mitgliedern; die Absicht, die jungen Niederländer und Niederländerinnen ideologisch auf den Nationalsozialismus hin auszurichten, war dem NAD somit von Anfang an inhärent.231 Die Ideologisierung und Politisierung dieser Organisation hob Seyß-Inquart unmissverständlich hervor, als er die niederländische Bevölkerung in seiner Rede vom 12. März 1941 auf die – zu diesem Zeitpunkt noch bevorstehende – Gründung des NAD vorbereitete. Im Concertgebouw pries er den Arbeitsdienst als „ein vorzügliches Mittel zur völkischen Ertüchtigung der Nation.“ Er sei „eine eminente Führerschulung“ und ein Privileg, das vom nationalsozialistischen Deutschland nur Völkern mit „germanischer Substanz“ eingeräumt werde.232 Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion trat neben die Ideologisierung eine Militarisierung der jungen Generation, die von deutscher Seite verhalten gefordert, aber 230 VO 97/1941 vom 23. Mai 1941, in: ebd., 370–375; sie wurde rückwirkend zum 1. Januar 1941 in Kraft gesetzt (§ 15). Siehe auch die Modifikation in VO 35/1942 vom 28. März 1942, in: VOBl. NL 1942, 178. Eine propagandistische zeitgenössische Kommentierung findet sich bei Knaus, Die niederländische Arbeitsdienstverordnung. Zur Geschichte des NAD vgl. Van Breen, De Nederlandsche Arbeidsdienst. Der Autor war selber zum Dienst verpflichtet worden, seine Darstellung genügt jedoch nicht in jeder Hinsicht wissenschaftlichen Ansprüchen. 231 Van Breen, De Nederlandsche Arbeidsdienst, 109 f. 232 Seyß-Inquart, Rede des Reichskommissars, 60.

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Kapitel 11: Wirtschaftspolitik

Abb. 18: Seyß-Inquart und General Christiansen inspizierten am 13. Juli 1941 den Reichsarbeitsdienst auf dem Sportplatz Houtrust zu Den Haag.

kräftig gefördert wurde. Demonstrativ hielt der Reichsarbeitsdienst bald nach dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges in Den Haag eine große Veranstaltung ab, auf der Seyß-Inquart in Anwesenheit von General Christiansen, Rauter, Mussert, Breunese und zahlreichen weiteren Vertretern deutscher und niederländischer Einheiten und Dienststellen den RAD als eine Vorbereitung auf den Dienst in der Wehrmacht, der NSDAP oder anderen Organisationen definierte, die den Kampf für den Fortbestand des Deutschen Reiches und den Aufbau eines „neuen Europas“ zu führen hätten.233 Der Reichskommissar vermied es zwar, die Mitglieder des Niederländischen Arbeitsdienstes unmittelbar zum Frontdienst aufzurufen, und der weitaus überwiegende Teil der Männer wurde in den Niederlanden eingesetzt. Aus Seyß-Inquarts Rede vom 13. Juli 1941 ging aber zweifelsfrei hervor, dass das NS-Regime vom NAD eine Beteiligung am deutschen Kampf gegen die Sowjetunion erwartete. Tatsächlich wurden im weiteren Verlauf des Krieges mehrere Hundert Männer des Niederländischen Arbeitsdienstes im Auftrag des RAD zum Einsatz an die Ostfront entsandt. Nach ihrer Rückkehr in die Niederlande wurden 400 von ihnen im November 1942 von Seyß-Inquart als „Soldaten der Arbeit“ gelobt, die im Kampf gegen „den Bolschewismus“ und „das Judentum“ einen Beitrag zur Verteidigung des „Abendlandes“ geleistet hätten.234 Ein halbes 233 Zu der Veranstaltung vom 13. Juli 1941 siehe DZN, Algemeen Handelsblad (BArch, R 4902/1499) und Het Vaderland (NIOD, KA I 3408) jeweils vom Folgetag mit der Wiedergabe von Seyß-Inquarts Ansprache. 234 DZN vom 13. November 1942. Die Reden, die Seyß-Inquart und Mussert bei dieser Gelegenheit hielten, wurden auch in anderen Zeitungen wie Het Nationale Dagblad vom 13. November 1942 wiedergegeben.

11.4 Arbeitsdienst und Zwangsarbeit

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Jahr später bezeichnete der Reichskommissar den NAD bei einem Appell im friesischen Leeuwarden in seiner Gesamtheit als eine „militärähnliche Formation“, der eine „soldatische Ordnung“ zugrunde liege, und rief die 1.000 angetretenen „Arbeitsmänner“ auf, im Kampf gegen die Verbündeten aus Ost und West gemeinsam mit Deutschland als „Kameraden“ „auch den letzten Einsatz für die Zukunft zu leisten“235 – nach nationalsozialistischer Diktion schloss dies ein, im Kampf das eigene Leben zu lassen. Schon diese Beispiele und Zitate zeigen, dass die Besatzungsmacht den NAD gezielt als Mittel zur Ideologisierung, Politisierung und Militarisierung der jungen Generation der niederländischen Gesellschaft einsetzte. Sie zeigen auch, dass die Verzahnung von deutschem und niederländischem Arbeitsdienst eng war – obwohl der NAD formell unabhängig von der deutschen Besatzungsverwaltung war, Seyß-Inquart zufolge eine „völkisch-niederländische Erziehung“ gewährleisten sollte236 und laut Arbeitsdienstverordnung dem Generalsekretariat für Allgemeine Angelegenheiten, also einer niederländischen Behörde, unterstand (§ 2). Im September 1944 wurde die Unabhängigkeit formell beseitigt, nachdem sich im Zusammenhang mit dem ‚verrückten Dienstag‘ – wie an anderer Stelle dargelegt237 – herausgestellt hatte, dass sich das Regime bei der Abwehr des Vormarschs der alliierten Truppen nicht auf den Niederländischen Arbeitsdienst hatte verlassen können: Nun wurde der NAD dem Reichsarbeitsdienst inkorporiert. Mit der Entlassung von De Bock und der Übernahme der Führung durch den deutschen Generalarbeitsführer Bethmann fand sozusagen eine späte Gleichschaltung statt. Gut ein Vierteljahr vor der Gründung des Niederländischen Arbeitsdienstes hatte Seyß-Inquart den Arbeitsämtern die Möglichkeit eröffnet, allen erwachsenen Niederländern und Niederländerinnen „für eine begrenzte Zeit“ einen bestimmten Arbeitsplatz innerhalb ihres Landes zuzuweisen.238 Diese Bestimmung bezog sich wohlgemerkt nicht nur auf Arbeitslose und Arbeitssuchende, sondern schloss auch Personen ein, die einer Erwerbstätigkeit nachgingen. Deren Arbeitgeber waren verpflichtet, die angeforderten Arbeitskräfte freizugeben. Damit führte die Besatzungsmacht eine Dienstverpflichtung ein, deren praktische Durchführung den einheimischen Behörden übertragen wurde. Die Verweigerung eines angeordneten Arbeitsplatzwechsels wurde in Verordnung 42/1941 als „Verbrechen“ qualifiziert und konnte mit Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr geahndet werden. Das relativ hohe Strafmaß hing damit zusammen, dass schätzungsweise 30 Prozent der Niederländer, die sich seit dem Beginn der Besetzung ihres Landes zum Arbeitsdienst in Deutschland gemeldet hatten, vorzeitig ihre Arbeitsstelle verlassen hatten und in die Niederlande zurückgekehrt waren – in den meisten Fällen aus Enttäuschung darüber, dass die Wirklichkeit nicht den Versprechungen entsprach, mit denen sie seinerzeit ins Reich gelockt worden waren.239 Da zu erwarten war, dass mit 235 Seyß-Inquart, An die Männer des Niederländischen Arbeitsdienstes, passim; der NAD-Appell fand am 4. April 1943 statt. 236 Seyß-Inquart, Rede des Reichskommissars, 61. 237 Siehe oben, S. 141. 238 VO 42/1941 vom 28. Februar 1941, in: VOBl. NL 1940, 152–154. 239 Hirschfeld, Die niederländischen Behörden und der „Reichseinsatz“, 178.

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Einführung einer formellen Arbeitsdienstverpflichtung der Prozentsatz an sogenannten ‚Kontraktbrechern‘ noch steigen würde, drohte Seyß-Inquart mit dem Übergang zu Zwangsarbeit gleich von Anfang an mit hohen Strafen.240 In einer Ausführungsvorschrift zu Verordnung 42/1941 wurde der in Frage kommende Personenkreis zwar von Generalsekretär Verwey auf Arbeitslose sowie auf jene beschränkt, die schon zu öffentlichen Arbeiten herangezogen worden waren. Es wurden aber auch Bettler sowie Personen, deren ‚gesellschaftlicher Nutzen‘ in Frage gestellt wurde, einbezogen.241 Insgesamt lag die Bedeutung dieser Bestimmungen darin, dass das Reichskommissariat den ersten Schritt in Richtung Zwangsarbeit gesetzt hatte. Damit waren ausbaufähige Grundlagen gelegt. Im März 1942 hob Seyß-Inquart in einer weiteren Verordnung die Beschränkung einer Arbeitsverpflichtung auf ein Einsatzgebiet innerhalb der besetzten Niederlande auf. 242 Auch wenn das Reich im Text nicht ausdrücklich genannt wurde, wurde mit Verordnung 26/1942 eine Rechtsgrundlage geschaffen, um fortan Niederländer zum Arbeitsdienst vorzugsweise in Deutschland zwingen zu können. Hierin ging der Reichskommissar bewusst darüber hinweg, dass die Haager Landkriegsordnung Dienstleistungen eines besetzten Landes „auf die Bedürfnisse des Besetzungsheers“ beschränkte und das Verbot enthielt, die einheimische Bevölkerung zur Teilnahme an „Kriegsunternehmungen gegen ihr Vaterland“ zu verpflichten. Eine Verpflichtung von Zivilbeschäftigten zum Arbeitsdienst in Deutschland war damit völkerrechtlich nicht zu begründen, und selbst für einen allfälligen Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen definierte die HLKO enge Grenzen und verbot jede „Beziehung zu den Kriegsunternehmungen“.243 Dass seine Verordnung dem Völkerrecht widersprach, scheint Seyß-Inquart nicht gestört zu haben. Ein anderer Aspekt hingegen entwickelte sich für ihn rasch zu einem Problem: die Tatsache, dass die Durchführung der Dienstverpflichtung jenseits der Landesgrenzen den niederländischen Arbeitsämtern auferlegt worden war. Mehrere Direktoren von Bezirksarbeitsämtern weigerten sich nämlich, mit ihrer Unterschrift unter die vorgesehenen Einberufungsbescheide die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass niederländische Beschäftigte, die eigentlich im eigenen Land gebraucht wurden, zu Zwangsarbeit in Deutschland verpflichtet wurden. Einige drohten gar mit Rücktritt. In ihrem Widerspruch zu Seyß-Inquarts Verordnung besaßen die Direktoren die Unterstützung von Erzbischof De Jong

240 Trotzdem bleiben die vielfältigen Formen der Verweigerung des Arbeitsdienstes (durch Untertauchen, [Selbst-]Verstümmelung, Rückkehr in die Heimat usw.) bis Kriegsende ein Problem, das im Laufe der Zeit eher zu- als abnahm. Daran konnten weder die Einweisung in Konzentrations- oder Arbeitserziehungslager noch die Androhung drakonischer Strafen wie Gefängnis bis zu fünf, in schweren Fällen bis zu zehn Jahren etwas ändern, wie sie Generalsekretär Schrieke (Allgemeine Angelegenheiten sowie Justiz) in seiner Verordnung zum Schutze des Niederländischen Arbeitsdienstes vom 7. Juni 1944 ankündigte (VOBl. NL 1944–1945, 65–67). 241 Hirschfeld, Der „freiwillige“ Arbeitseinsatz, 509. 242 VO 26/1942 vom 23. März 1942, in: VOBl. NL 1942, 155 f. Damit lief das Reichskommissariat der Entwicklung in Belgien und Nordfrankreich voraus, wo die Militärverwaltung eine vergleichbare Maßnahme erst Anfang Oktober 1942 anordnete (Wouters, De Führerstaat, 145). 243 Art. 52 und 6 der HLKO, zit. nach: Laun (Hrsg.), Die Haager Landkriegsordnung, 91 und 75.

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und waren sich der Solidarität des Personals ihrer Dienststellen sicher.244 Um dem Widerstand, der ihm in dieser Angelegenheit von Teilen der niederländischen Bürokratie entgegenschlug, den Wind aus den Segeln zu nehmen, bestimmte Seyß-Inquart am symbolträchtigen 1. Mai 1942, dass deutsche anstelle von niederländischen Behörden die Dienstverpflichtung aussprechen konnten.245 Nun übernahmen die deutschen Fachwerber die Verantwortung; diese Änderung wurde von den Arbeitsamtsdirektoren akzeptiert. Auf dieser Grundlage konnte die Besatzungsmacht auf die weitere Mitarbeit der niederländischen Arbeitsämter zählen und steuerte zugleich unmittelbar die Rekrutierung von Zwangsarbeitern in ihrem ‚Herrschaftsbereich‘. Zu Seyß-Inquarts Bestreben, den Widerstand aus den Reihen der Arbeitsämter zu entschärfen, gehörte auch der Verzicht, die gelegentlich geäußerten Drohungen wahr zu machen, renitente Arbeitsamtsdirektoren verhaften und in ein Konzentrationslager überstellen zu lassen. Wohl erwog Seyß-Inquart, jene Direktoren, die die deutsche Politik nicht mittrugen, „bei geeigneter Gelegenheit durch neue Kräfte nach und nach ersetzen zu lassen.“246 Die Regelung der Durchführung der Einberufung zur Zwangsarbeit bot ihm also auch noch die Perspektive, die niederländische Arbeitsbürokratie sukzessive zu nazifizieren. Im Verein mit niederländischen Generalsekretariaten sorgte Seyß-Inquart durch weitere Rechtsvorschriften dafür, dass der freie Arbeitsmarkt für Arbeitnehmer wie auch für Arbeitgeber immer mehr zugunsten einer Arbeitsverschickung nach Deutschland eingeschränkt wurde. So verpflichteten die Generalsekretäre Verwey und Schrieke im Februar 1942 alle männlichen Niederländer, unverheirateten Niederländerinnen und Staatenlosen zwischen 18 und 40 Jahren, die nicht aus eigener Kraft für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten, sich bei ihrem Arbeitsamt registrieren zu lassen247 – sie waren die bevorzugten Kandidaten für den ‚Reichs­einsatz‘. Einen Monat später ordneten dieselben Generalsekretäre an, dass die Anstellung von Arbeitskräften unter 40 Jahren der Zustimmung des zuständigen Bezirksarbeitsamtes bedurfte.248 Im März 1943 wurde die Altersbeschränkung durch eine Verordnung Seyß-Inquarts aufgehoben.249 Von nun an durften Arbeitgeber generell nur noch dann Arbeitnehmer, Lehrlinge, Volontäre oder Praktikanten einstellen oder entlassen, wenn die Zustimmung des zuständigen Arbeitsamtes vorlag. Diese Regelung galt nicht nur für Privatbetriebe, sondern auch für staatliche und sonstige öffentlich-rechtliche Einrichtungen. Wie bei derartigen Verordnungen üblich, waren hiervon lediglich die niederländischen Beamten sowie die Angehörigen der Dienststellen von Reichskommissariat, NSDAP, Wehrmacht, Waffen-SS und Deutscher Polizei in den Niederlanden ausgenommen. Schon vorher hatte Verwey, gestützt auf eine Generalermächtigung des Reichskommissars,250 unter Androhung von Gefängnishaft und Geldstrafen verfügt, dass in etlichen Berufsgruppen Entlassungen nur noch mit 244 Siehe hierzu Sijes, De Arbeidsinzet, 160–177 und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/2, 671–675. 245 VO 48/1942, in: VOBl. NL 1942, 219 f. 246 Aus einem Aktenvermerk vom 30. Mai 1942, zit. nach: Sijes, De Arbeidsinzet, 175. 247 VO 15/1942 vom 20. Februar 1942 in: VOBl. NL 1942, 72–75. 248 VO 32/1942 vom 14. März 1942, in: ebd., 168–170. 249 VO 20/1943 vom 1. März 1943, in: VOBl. NL 1943, 99­–106. 250 VO 8/1940 vom 11. Juni 1940, in: VOBl. NL 1940, 22.

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staatlicher Genehmigung zulässig waren, und während bisher die wöchentliche Regelarbeitszeit auf mindestens 36 Stunden festgesetzt gewesen war,251 durfte sie ab Februar 1942 nicht unter 48 Stunden sinken.252 Im Frühjahr desselben Jahres schuf Verwey die Möglichkeit, die Wochenarbeitszeit auf 54 Stunden zu erhöhen,253 im Sommer 1943 wurde der Rahmen für erwachsene Männer auf 72 Stunden, für Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren sowie für Frauen auf 56 Stunden ausgedehnt. Betriebe, die unterhalb dieser Grenzen blieben, mussten damit rechnen, ‚ausgekämmt‘, also zu einer Reduzierung ihrer Personalstärke verpflichtet zu werden, sodass die verbleibenden Arbeitskräfte die genannte Wochenstundenzahl erreichten, während die ‚überflüssig‘ gewordenen Arbeiter oder Angestellten für den ‚Reichseinsatz‘ oder für den Einsatz in ‚kriegswirtschaftlichen‘ Betrieben in den Niederlanden frei wurden.254 Zur staatlichen Reglementierung des niederländischen Arbeitsmarktes gehörte schließlich, dass Betriebe, die aus deutscher Sicht als irrelevant oder weniger wichtig für die Kriegsproduktion angesehen wurden, ihre Tätigkeiten einstellen mussten – ganzen Branchen drohte damit, für die Dauer des Krieges lahmgelegt zu werden.255 Mit dieser Bestimmung wurde geradezu künstlich Arbeitslosigkeit kreiert, die sich dann für den Arbeitsdienst abschöpfen ließ. Mit all diesen Maßnahmen sollte seit 1942 zum einen den Arbeitsämtern der Rücken freigehalten werden, um den enormen Anforderungen des Reiches nach niederländischen ‚Fremdarbeitern‘ nachkommen zu können. Zum anderen sollte die Funktionsfähigkeit der rüstungsrelevanten Wirtschaft der Niederlande einigermaßen gesichert werden – eine unmögliche wirtschaftspolitische Herkulesaufgabe angesichts der zunehmenden Zwangsverschickung von niederländischen Beschäftigten und des gleichzeitigen Untertauchens von fast ebenso vielen Niederländern. Die Einführung von Zwangsarbeit in den Niederlanden kann nicht losgelöst betrachtet werden von der Situation in Deutschland. Hier war seit der Eröffnung des Krieges gegen die Sowjetunion durch die massenhafte Einberufung deutscher Männer in die Wehrmacht und den erhöhten Bedarf an Rüstungsgütern aller Art ein enormer Mangel an Arbeitskräften entstanden, der aus Sicht der NS-Führung nicht mehr ausschließlich durch deutsche Frauen und Männer, Kriegsgefangene, ,Ostarbeiter‘ und jene Arbeitskräfte aus den besetzten Westgebieten gedeckt werden konnte, die mehr oder weniger freiwillig für den Arbeitsdienst im Reich rekrutiert worden waren. Nachdem der deutsche Vormarsch in der Sowjetunion im Winter 251 Siehe Verweys Verordnung vom 1. März 1941, veröffentlicht als VO 64/1941 in: VOBl. NL 1941, 262 f. 252 VO 14/1942 vom 20. Februar 1942, in: VOBl. NL 1942, 70–72, besonders § 1. 253 Vgl. die Mitteilung im Dagblad van Rotterdam vom 5. Mai 1942. 254 Vgl. hierzu Sijes, De Arbeidsinzet, 188 und 256 f. Zu den Rückwirkungen der Arbeitspolitik während der Besatzungszeit auf die Entwicklung des niederländischen Arbeitsmarktes siehe Klemann, Nederland 1938–1948, 431–436. 255 Vgl. VO 138/1942 vom 14. Dezember 1942, in: VOBl. NL 1942, 600–604 und die schon erwähnte Anordnung Fischböcks vom 15. März 1943 (VO 30/1943). Zu dieser Anordnung und ihren Folgen siehe Sijes, De Arbeidsinzet, 257–259. Alleine in der Metallindustrie, der Textilproduktion und der Nahrungsund Genussmittelherstellung nahm die Zahl von erzwungenen Betriebsschließungen sprunghaft zu: Waren 1941 51 niederländische Betriebe geschlossen worden, waren es im folgenden Jahr bereits 2.980, 1943 4.238 und 1944 4.333; siehe Klemann, Nederland 1938–1948, 272.

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1941/42 ins Stocken geraten war und klar geworden war, dass dieser Feldzug mitnichten zu einem ‚Blitzsieg‘ führen würde, schien es notwendig, die bisher zersplitterte Verantwortung für die Rekrutierung und den Einsatz von Arbeitskräften innerhalb des deutsch beherrschten Raumes zu zentralisieren mit dem Ziel, sie effektiver zu gestalten. Mit der Ernennung des Thüringer Gauleiters Fritz Sauckel zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz256 war die Grundlage gelegt, um den ‚Reichseinsatz‘ von einer Stelle aus zu organisieren. Sauckels Tätigkeitsfeld erstreckte sich auch auf die besetzten Gebiete, und in seiner unmittelbaren Unterstellung unter den Beauftragten für den Vierjahresplan besaß er ein Weisungsrecht gegenüber den Chefs der Zivilverwaltungen,257 also auch gegenüber Seyß-Inquart. Der ‚Führer‘ ließ nicht den geringsten Zweifel, dass er von seinem Generalbevollmächtigten ein rigoroses Vorgehen erwartete. Im August 1942 erklärte Hitler auf einer Besprechung, „daß die Frage der Arbeitskräftebeschaffung in jedem Fall und in jedem Umfang gelöst werden könne, und daß er Gauleiter Sauckel ermächtige, die dazu notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Er wäre mit jeder Zwangsmaßnahme einverstanden, falls diese Frage auf freiwilliger Basis nicht durchzuführen sei [,] und zwar nicht nur für den Osten, sondern auch für die besetzten westlichen Gebiete.“258 Damit galt seine Zusage vom 26. September 1941 nicht mehr, „dass von der geplanten zwangsweisen Überführung von niederländischen Arbeitskräften in das Reich abzusehen ist, da sich aus einer solchen Massnahme doch keine befriedigenden Ergebnisse entwickeln würden.“259 Die militärischen Ereignisse und rüstungswirtschaftlichen Engpässe, die sich seitdem aufgetan hatten, schufen für die Reichsführung eine hinreichende Begründung, auch die bisher verschonte Bevölkerung der Niederlande verstärkt zum ‚Arbeitseinsatz‘ nach Deutschland zu holen. Und selbst wer nicht zum Arbeitsdienst im Reich aufgerufen wurde, musste ab jetzt damit rechnen, für die Zwecke der deutschen Kriegsführung im eigenen Land zwangsverpflichtet zu werden. Denn am 8. September 1942 ordnete Hitler für das Gebiet der Heeresgruppe West „die Einführung der Dienstverpflichtung und des Verbotes, den Arbeitsplatz ohne Zustimmung der zuständigen Behörde zu wechseln“, an. Wer einer zugewiesenen Arbeitsstelle fernblieb, dem drohte der Entzug von Lebensmittelund Kleiderkarten.260 Es war kein Zufall, dass Seyß-Inquart mit seiner erwähnten Verordnung 26/1942 Zwangsarbeit in den Niederlanden nur zwei Tage nach Sauckels Ernennung zum Generalbevollmächtigten einführte. Seine Behörde hatte sich auf die verschärfte Politik des Reiches bei der Rekrutierung von Arbeitskräften wochenlang vorbereiten können. Seit Januar nämlich

256 Siehe Hitlers Erlass vom 21. März 1942 in: RGBl. 1942/I, 179. Für einen Überblick über die Verschärfung der Rekrutierung von Arbeitskräften ab 1942 siehe Umbreit, Die deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten, 211–224 und Herbert, Hitler’s foreign workers, 158–163. 257 Siehe Görings Durchführungsanordnung vom 27. März 1942, in: RGBl. 1942/I, 180. 258 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 38, Dok. R-124, 359; es handelt sich um das Protokoll einer Besprechung, die irgendwann zwischen dem 10. und 12. August 1942 stattfand. 259 So Hitler gegenüber Seyß-Inquart und Generalkommissar Schmidt, zit. nach dem Bericht von Otto Bene ans Auswärtige Amt vom 1. Oktober 1941, PA AA, R 29678, Bl. 84449 f. 260 Zit. nach: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 195, 282.

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war sie über die Absicht der Reichsführung zur Einführung einer Arbeitsdienstverpflichtung für Angehörige der besetzten Länder informiert gewesen. Seitdem war innerhalb des Reichskommissariats an Plänen gearbeitet worden, wie die Forderungen des Reiches nach der Rekrutierung von Arbeitskräften in den Niederlanden umgesetzt werden könnten. Im Februar erhielt Seyß-Inquart von Göring telefonisch den Auftrag, in den Niederlanden Zwangsarbeit einzuführen.261 Mit der Verkündung von Verordnung 26/1942 im Verordnungsblatt für die besetzten niederländischen Gebiete kam der Reichskommissar dieser Aufforderung nach und passte sein ‚Herrschaftsgebiet‘ in die geänderten Vorgehensweisen und Zuständigkeiten innerhalb des Reiches ein. Entsprechend Hitlers Erwartungen wurden in den Niederlanden in der Folgezeit massenhaft Aufrufe zum Arbeitseinsatz erlassen und ‚Betriebsauskämmungen‘ durchgeführt. Im Wege von sieben ‚Sauckel-Aktionen‘,262 die hier zwischen April 1942 und April 1943 stattfanden, wurden niederländische Arbeitskräfte von ihren bisherigen Arbeitsstätten abgezogen und zu Zwangsarbeit verpflichtet. Auf diese Weise wollte man innerhalb eines Jahres gut 254.000 Niederländer nach Deutschland verbringen. Während die erste Aktion das angestrebte Plansoll von 30.000 Personen erreichte, blieben die folgenden Aktionen weit hinter den deutschen Erwartungen zurück: Insgesamt konnte die Besatzungsmacht im Rahmen der sieben Aktionen nicht mehr als 163.600 Personen aufgreifen. Fast 36 Prozent der einberufenen Niederländer entzogen sich dem Arbeitsdienst dadurch, dass sie untertauchten oder sich krankschreiben ließen. Damit hatte sich das ‚Auskämmen‘ als unergiebig erwiesen. Nun ging das Regime zu einer neuen Rekrutierungspraxis über: Seit dem Frühjahr 1943 wurden im Rahmen der ‚Jahrgangsaktion‘ geschlossene Geburtsjahrgänge zum Arbeitsdienst einberufen.263 Sowohl Seyß-Inquart als auch die vier Generalkommissare verhielten sich zunächst ablehnend gegenüber dieser neuen Aktion. Sie befürchteten, dass ein solches Verfahren den ohnehin stärker gewordenen Widerstand zusätzlich anfachen und unter der Bevölkerung zu noch mehr Widerspruch führen würde. Dies galt umso mehr, als das Reichskommissariat schon im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Rücküberführung der ehemaligen niederländischen Soldaten in die Kriegsgefangenschaft mit Unruhen rechnete.264 Bei der Reichsführung allerdings fielen die Bedenken der deutschen Zivilverwaltung in Den Haag gegenüber der Absicht, ausländische Arbeitskräfte ins Reich zu bringen, nicht ins Gewicht. So forderte Göring am 28. April 1943 auf einer vierstündigen Besprechung in Berchtesgaden mit Hitlers Zustimmung die besetzten Gebiete zu höheren wirtschaftlichen Leistungen zugunsten des Großdeutschen Reiches auf, namentlich durch die stärkere Abgabe von Lebensmitteln und Zwangsarbeitern nach Deutschland. Ausdrücklich wurden die Niederlande vom Reichsfeldmarschall als eines jener Gebiete genannt, aus denen ganze Jahrgänge einzuziehen seien. Die Vertreter des Reichskom261 Siehe hierzu Sijes, De Arbeidsinzet, Kap. IV mit S. 159. 262 Siehe hierzu im Einzelnen ebd., 178–211. 263 Siehe hierzu ebd., Kap. VII. 264 Vgl. ebd., 268. Die Ablehnung der Wiedereinführung der Kriegsgefangenschaft für die demobilisierten niederländischen Soldaten entlud sich im April-Mai-Streik. Siehe hierzu oben, S. 94 ff.

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missariats versuchten zwar, die deutschen Forderungen abzuschwächen. Seyß-Inquart etwa schlug auf der Sitzung vor, nur gesunde Niederländer ins Reich zu entsenden, den Rest aber „für den internen Ausgleich in Holland“ zu verwenden. Und Fischböck trat dafür ein, unbeschäftigte Arbeitskräfte „in den holländischen Rüstungsbetrieben“ einzusetzen, „sofern sie nicht ins Reich gehen.“265 An der Entschlossenheit der Reichsführung, in den Niederlanden die Jahrgangsaktion ein- und rücksichtslos durchzuführen, konnten derartige Vorschläge aber nichts ändern. Gleich nach der Rückkehr in die Niederlande bemühte sich die Führung des Reichskommissariats, Görings Erwartungen und Sauckels Quoten so weit wie möglich gerecht zu werden. Die Behörden in Den Haag führten die demobilisierten niederländischen Soldaten wieder in die Kriegsgefangenschaft, schlugen den Widerstand gegen diese Maßnahme, den April-Mai-Streik, mit aller Brutalität nieder und leiteten die Jahrgangsaktion in die Wege. Zu deren Vorbereitung erließ Generalkommissar Schmidt, seit Herbst 1942 Beauftragter für den Arbeitseinsatz in den Niederlanden,266 am 6. Mai 1943 eine Anordnung, in der alle Männer zwischen 18 und 35 Jahren, die ihren Wohnsitz in den Niederlanden hatten, verpflichtet wurden, sich für „besondere Aufrufe“ (Art. I) bei ihrem Arbeitsamt registrieren zu lassen; lediglich deutsche Staatsangehörige, niederländische Beamte oder Angestellte sowie Geistliche und Ordensangehörige waren von der allgemeinen Meldepflicht ausgenommen.267 Diese Bestimmung bedeutete eine Verschärfung gegenüber der bisherigen Rechtslage: Bis dahin waren auf der Grundlage der oben erwähnten Verordnung von Verwey und Schrieke nur jene Niederländer, unverheirateten Niederländerinnen und Staatenlosen zwischen 18 und 40 Jahren zur Meldung verpflichtet gewesen, die nicht in der Lage gewesen waren, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Mit Schmidts Anordnung vom 6. Mai 1943 wurde zwar das meldepflichtige Lebensalter um fünf Jahre gesenkt, und Frauen waren im Gegensatz zur Praxis im Reich268 und zu den Bestimmungen der Verordnung von Verwey und Schrieke von der Mel265 Stenographische Niederschrift der Besprechung beim Reichsmarschall über Totale Kriegsmaßnahmen in den besetzten Gebieten, NIOD, 206/700-1-83, Zitate Bl. 65 und 103. 266 Sijes, De Arbeidsinzet, 193. 267 Veröffentlicht als VO 43/1943 vom 6. Mai 1943, in: VOBl. NL 1943, 173–176. Zu einer solchen Maßnahme war Seyß-Inquart von Sauckel bereits am 27. Januar 1943 aufgefordert worden; siehe Sijes, De Arbeidsinzet, 268. Mit einem an die Generalsekretäre Hirschfeld und Verwey gerichteten Schreiben vom 6. Mai 1943 verlieh Seyß-Inquart der Umsetzung der Verordnung besonderen Nachdruck (Abschrift in: NIOD, 185a/74). 268 Hier hatte Hitler vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Niederlage in Stalingrad und im Rahmen des „totalen Krieges“ bereits am 13. Januar 1943 per Erlass den umfassenden Einsatz von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung dekretiert (abgedruckt in: Moll [Hrsg.], Führer-Erlasse, Dok. 222, 311–313). Er war nicht nur durch die Einbeziehung von Frauen, sondern auch durch ein weiter gefasstes Altersspektrum umfassender als die Regelungen, die das Reichskommissariat im selben Jahr in den Niederlanden einführte (ähnlich Sauckels Verordnungen zur Reichsverteidigung vom 27. Januar 1943 und 10. Juni 1944, in: RGBl. 1943/I, 67 f. und 1944/I, 133 f.). Obwohl Seyß-Inquart im Januar 1942 einmal an eine Dienstverpflichtung von Niederländerinnen nach Deutschland gedacht hatte, blieben Frauen in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ von der Einführung eines verpflichtenden ‚Reichseinsatzes‘ verschont; siehe Sijes, De Arbeidsinzet, 389–397.

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depflicht ausgenommen. Zugleich aber wurde die Verpflichtung, sich registrieren zu lassen, von Schmidt auf alle männlichen Niederländer ausgeweitet, die in einem Arbeitsverhältnis standen. Sein Nachfolger Ritterbusch präzisierte im Juli 1943, dass in den Niederlanden keine Arbeitnehmer mehr beschäftigt werden durften, die zu den einzuberufenden Jahrgängen gehörten, Arbeitgeber wurden sogar verpflichtet, von sich aus „unverzüglich“ die Belegschaft ihres Betriebes auf Angehörige der betreffenden Jahrgänge hin zu ‚durchforsten‘ und diese „sofort“ dem zuständigen Arbeitsamt zu melden.269 Damit verfügte die Besatzungsmacht über mehrere Instrumente, um die anvisierten Jahrgänge für die Zwecke der Zwangsarbeit zu erfassen: die Verpflichtung der betroffenen Männer, sich selbst bei ihrem Arbeitsamt zu melden; die Verpflichtung der Arbeitgeber, die betroffenen Arbeiter oder Angestellten ihres Betriebs beim Arbeitsamt zu melden; und Razzien, in deren Rahmen ähnlich wie in Osteuropa nun auch in den Niederlanden arbeitsfähige Männer auf Anweisung von Seyß-Inquart von sogenannten Kontrollkommandos, deutscher Ordnungspolizei, dem Sicherheitsdienst, dem Arbeitskontrolldienst, aber auch von niederländischen Polizeieinheiten aufgegriffen und über die Lager Amers­foort und Ommen nach Deutschland oder in andere deutsch beherrschte Länder deportiert wurden.270 Dazu kam die Einführung einer neuen Bezugsscheinstammkarte, die zum Bezug von Lebensmittelkarten vorgelegt werden musste und eine ältere Stammkarte ablöste, die vor dem Westfeldzug unter der damaligen niederländischen Regierung eingeführt worden war. Da jeder Bürger die neue Bezugsscheinstammkarte beim zuständigen Einwohnermeldeamt persönlich beantragen musste, bot deren Einführung den Behörden einen exzellenten Filter, um Juden, ihnen bekannte Angehörige des Widerstands oder jene Männer aufzuspüren, die untergetaucht waren, um der Zwangsarbeit zu entkommen. Diese Personen standen vor einem Dilemma: Verzichteten sie auf die Beantragung der neuen Bezugsscheinstammkarte, konnten sie keine Marken für Lebensmittel oder sonstige wichtige Gebrauchsgüter des täglichen Bedarfs abholen und waren somit vom legalen Markt abgeschnitten. Aus Sicht der Besatzungsmacht war die Einführung der neuen Stammkarten insbesondere für die Jahrgangsaktion maßgeschneidert: Die jeweils aufgerufenen Geburtsjahrgänge konnten gleich bei der Anmeldung dieser Karte erfasst und rekrutiert werden, sofern sie nicht in der Lage waren, eine gültige Freistellung vorzulegen. Damit glaubte das Reichskommissariat, über eine vierfache Absicherung zu verfügen, um pro Jahrgang 10.000 arbeitsfähige Männer rekrutieren zu können. Die Aufrufe der ersten Geburtsjahrgänge führten dazu, dass gut 60 Prozent mehr Männer erfasst wurden als geplant. Die folgenden Aufrufe aber blieben so deutlich hinter den Erwartungen zurück, dass die Gesamtbilanz der ‚Jahrgangsaktion‘ mit dem niederländischen Historiker Benjamin Aäron (Ben) 269 Veröffentlicht als VO 66/1943 vom 9. Juli 1943 in: VOBl. NL 1943, 242 f., Zitate aus Art. II. 270 Zur Verfolgung von Untergetauchten und ‚Kontraktbrechern‘ siehe Sijes, De Arbeidsinzet, 296–314 und 400–406. Ab 1944 beteiligte sich auch die aus Freiwilligen gebildete ‚Arbeitseinsatzpolizei‘ am Aufspüren niederländischer Arbeitskräfte; siehe hierzu die entsprechende Anordnung Rauters vom 14. April 1944 in: RIOD (Hrsg.), Het Proces Rauter, 60. Razzien nahmen besonders seit September 1944 exzessive Formen an; zu den „Treibjachten“ vgl. Sijes, De Arbeidsinzet, 527–555 und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, Kap. 2.

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Sijes als ein „vollständiger Fehlschlag“ bezeichnet werden muss: Statt der anvisierten 170.000 Männer konnten im Frühjahr und Sommer 1943 insgesamt ‚nur‘ 54.000 Männer (31,8 Prozent) für den ‚Reichseinsatz‘ aufgegriffen werden.271 Erschwert wurde die konsequente Durchführung der Aktion nicht zuletzt dadurch, dass der organisierte Widerstand erfolgreich Anschläge auf Arbeitsämter und Einwohnermeldeämter verübte und personenbezogene Unterlagen vernichten konnte. Auch wurde das Kontrollsystem, das mit der Einführung der neuen Bezugsscheinstammkarte verbunden war, dadurch unterlaufen, dass es Widerstandsorganisationen gelang, Karten, Stempel und Siegel zu fälschen. Und schließlich weigerten sich in einigen Fällen einheimische Beamte, an einer effektiven Umsetzung der Rekrutierung der Jahrgangsaktion mitzuarbeiten.272 Obwohl sich abzeichnete, dass auch die Jahrgangsaktion auf erhebliche Schwierigkeiten stieß und nicht einmal ansatzweise die gewünschten Quoten erbrachte, sagte Seyß-Inquart Sauckel im August 1943 zu, weitere 150.000 niederländische Arbeitskräfte nach Deutschland zu ‚liefern‘ – allerdings nicht, wie von Sauckel gefordert, bis Ende des Jahres, sondern bis Juni 1944. Damit band er sein Versprechen an eine deutliche Ausdehnung des Rekrutierungszeitrahmens.273 Doch selbst dieses ‚gestreckte‘ Ziel wurde massiv verfehlt: Bis Dezember 1943 wurden nicht mehr als 11.470 Niederländer zur Zwangsarbeit nach Deutschland überstellt, zwischen Januar und Juli 1944 folgten in Summe weniger als 14.900 Personen. Wenn man bedenkt, dass Sauckel seine Forderungen für das Jahr 1944 auf eine Gestellung von 21.000 Personen pro Monat erhöht hatte, lag die ‚Erfolgsquote‘ für diese sieben Monate bei 10,1 Prozent. Für den gesamten Zeitraum, der zwischen dem Ende der Jahrgangsaktion und der Einstellung der Zwangsrekrutierung durch den Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz lag, war die Relation für Sauckel nicht besser: Zwischen September 1943 und Juli 1944 stand seiner Forderung nach 207.000 Niederländern die Zahl von 26.438 Personen gegenüber, die tatsächlich nach Deutschland entsandt wurden; dies entsprach einer Quote von gerade einmal 12,8 Prozent.274 Dem neuerlichen Scheitern deutscher Rekrutierungsmaßnahmen lagen mehrere Ursachen zugrunde.275 Zu ihnen ist zu zählen, dass sich weiterhin niederländische Männer vorzugsweise durch Untertauchen oder Krankschreibung scharenweise der Einziehung zum Arbeitseinsatz im Reich zu entziehen versuchten. Darüber hinaus trugen einheimische Behörden dazu bei, dass Rekrutierungen verzögert oder verhindert werden konnten. Auch erhielten derart viele Arbeitskräfte eine Freistellung, dass Seyß-Inquart seine Zusage an Sauckel vom August 1943 nicht einhalten konnte. ‚Zurückstellungen‘ betrafen nicht zuletzt Firmen, die für die Herstellung kriegs- oder lebenswichtiger Waren von deutschen Instanzen wie der Rüstungsinspektion, der Zentralauftragsstelle oder bestimmten Abteilungen des Generalkommissariats 271 Sijes, De Arbeidsinzet, 281 und 289 f. 272 Vgl. Romijn, Burgemeesters, 497–499. 273 Sijes, De Arbeidsinzet, 335 und 341. 274 Ebd., 366 und 398 unter Berufung auf zeitgenössische Angaben des niederländischen ‚Zentralbüros für Statistik‘. 275 Siehe hierzu ebd., Kap. IX.

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für Finanz und Wirtschaft ‚betreut‘ wurden. Die betreffenden Firmen wie auch die ‚betreuenden‘ deutschen Instanzen hatten ein Interesse daran, in ausreichendem Maße niederländische Arbeitskräfte im Land zu belassen. Da zunehmend mit einer alliierten Landung an der Nordseeküste gerechnet wurde, legte auch die Wehrmacht Wert darauf, für die Errichtung oder Instandhaltung von Verteidigungsanlagen innerhalb des besetzten Landes über genügend Arbeitskräfte verfügen zu können.276 Allen diesen zivilen und militärischen Einheiten und Dienststellen kam entgegen, dass es seit Sommer 1943 auf Reichsebene zu einer tiefgreifenden Änderung der deutschen Rüstungswirtschaftspolitik kam: Unter Speer gewann das Konzept der ‚Auftragsverlagerung‘ an Bedeutung. Es verfolgte das Ziel, die Produktion von kriegswirtschaftlich wichtigen Gütern vom Reich verstärkt in die besetzten Gebiete zu verlagern. In diesem Zusammenhang spielte das Abkommen eine wichtige Rolle, das Speer im September 1943 mit dem Industrieminister der Vichy-Regierung, Jean Bichelonne, abschloss. Hierin machte der deutsche Rüstungsminister die Zusage, dass in Zukunft keine französischen Arbeitskräfte mehr aus jenen Betrieben nach Deutschland verbracht würden, deren Waren direkt oder mittelbar der deutschen Kriegswirtschaft zugutekamen; sie wurden als ‚Sperr-Betriebe‘ vor Sauckels Zugriff geschützt. Im Gegenzug verpflichtete sich das Vichy-Regime, die Produktion der französischen Wirtschaft zu steigern und verstärkt auf die Bedürfnisse der deutschen Kriegswirtschaft hin auszurichten.277 Die Auftragsverlagerung konnte naturgemäß nicht parallel oder komplementär zum System der Zwangsarbeit betrieben werden. Sie trat geradezu notwendigerweise in Konkurrenz zur Rekrutierung von ‚Fremdarbeitern‘ für den Arbeitseinsatz in Deutschland und führte unvermeidlich zu einem Konflikt zwischen Speer und Sauckel.278 Mit Hitlers Rückendeckung konnte sich der Rüstungsminister behaupten, und das Modell der Sperr-Betriebe wurde bald von Frankreich auf die besetzten Westgebiete übertragen.279 Damit kam auch in den Niederlanden ein Konzept zum Tragen, das Seyß-Inquart unter dem Stichwort eines „internen Ausgleichs in Holland“ schon Ende April 1943 Göring gegenüber vorsichtig hatte anklingen lassen. Die Männer der Geburtsjahrgänge 1922 bis 1924 mussten zwar auch bei einer Anstellung in einem Sperr-Betrieb weiterhin damit rechnen, zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschickt zu werden. Ansonsten jedoch wurden deutsche Stellen angewiesen, aus diesen geschützten Betrieben „jede weitere Entziehung von Arbeitskräften“ zu unterlassen.280 Seyß-Inquarts Zusage vom August, nach Abschluss der Jahrgangsaktion 150.000 Niederländer ins Reich zu schicken, war somit in gewissem Sinne hinfällig geworden. Mit der 276 Siehe hierzu auch ebd., 510–527. 277 Vgl. Herbert, Hitler’s foreign workers, 275 ff. und Boldorf, Die gelenkte Kriegswirtschaft, 127. Scherner hebt hervor, dass das Konzept der ‚Auftragsverlagerung‘ schon seit Beginn des Westfeldzugs Teil der nationalsozialistischen Rüstungswirtschaft gewesen war und Speers Politik in dieser Hinsicht keinen substanziellen Neuansatz bedeutete (Europas Beitrag zu Hitlers Krieg mit Tab. 3, 81). 278 Siehe die Ausführungen von Sauckel und Speer vor dem Nürnberger Gerichtshof in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 128 f. und Bd. 16, 509 f. 279 Klemann, Nederland 1938–1948, 88. 280 Aus einem Rundschreiben von Oberregierungsrat Dr. Wilhelm Jütting (Hauptabteilung Soziale Verwaltung) vom 4. Februar 1944, zit. nach: Sijes, De Arbeidsinzet, 346.

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Einführung des Konzepts der Auftragsverlagerung wurden Sauckels Rekrutierungsbemühungen erheblich erschwert, unterlaufen und letztlich konterkariert. Welche Maßnahmen ergriff die Besatzungsmacht auf dem Gebiet der Zwangsarbeit, seit die Alliierten zur Befreiung der westeuropäischen Länder ansetzten? In den Niederlanden fanden in den letzten Kriegsmonaten drei Großaktionen statt, die der Rekrutierung von Zwangsarbeitern dienten: Razzien durch die Wehrmacht, die ‚Liese-Aktion‘ und der ‚Gemeindeeinsatz‘. Nach dem ‚verrückten Dienstag‘ und der Schlacht von Arnheim riegelten deutsche Soldaten in verschiedenen Teilen des Landes ganze Städte und Ortschaften ab und durchsuchten unter Beteiligung der deutschen Ordnungspolizei Haus für Haus nach arbeitsfähigen Männern. Bei Razzien, die zwischen September und Dezember 1944 durchgeführt wurden, wurden mindestens 120.000 Niederländer gefasst. Trotzdem blieb die ‚Ausbeute‘ der Razzien unterhalb aller Erwartungen. Wie bei allen vorherigen Aktionen zur Rekrutierung von Zwangsarbeitern erwies sich auch diesmal das Phänomen des Untertauchens als ein ernsthaftes Problem für die Besatzungsmacht. Obendrein gelang es einer nicht feststellbaren Zahl von Männern, nach ihrer Rekrutierung zu flüchten.281 Trotz Drohungen und einem brutalen Auftreten durch die Sicherheitskräfte konnten bei den Razzien in keiner Weise so viele Niederländer gefasst werden, dass der Bedarf an zwangsverpflichtetem Personal für Aufräumarbeiten nach alliierten Luftangriffen, für Arbeiten an Verkehrswegen oder an militärischen Verteidigungsanlagen oder für den Einsatz in der deutschen oder niederländischen Industrie und Landwirtschaft hätte gedeckt werden können. Für Seyß-Inquart, der nach wie vor für die Aufrechterhaltung von ‚Ruhe und Ordnung‘ in den Niederlanden verantwortlich war, brachten die Wehrmachtsrazzien ein weiteres Problem mit sich: In ihrem Gefolge waren auch Arbeitskräfte ergriffen worden, die dringend in den Niederlanden benötigt wurden, zum Beispiel Beamte und Verwaltungsangestellte, Polizisten, Feuerwehrleute oder Personal von rüstungsrelevanten Betrieben oder Firmen, die lebensnotwendige Produkte herstellten oder entsprechende Dienstleistungen erbrachten. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, erteilte der Reichskommissar Anfang Dezember 1944 zwei deutschen Parteifunktionären den Auftrag, eine Rekrutierungsmethode einzuführen, die durch die Einführung neuer Ausweise eine Unterscheidung zwischen jenen Arbeitskräften erlaubte, die im besetzten Land gebraucht wurden und deshalb zurückzustellen waren, und jenen Männern, die sofort und ohne jeden Vorbehalt zur Zwangsarbeit verpflichtet werden konnten.282 Für die östlichen und nördlichen Provinzen des Landes war der Bormann-Vertraute Pg. Schmerbeck zuständig, für die westlichen Provinzen Reichsamtsleiter Hermann Liese. Da Liese von Goebbels zum Generalbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz in den Niederlanden ernannt worden war, war er für die nach ihm benannte Aktion sowohl Seyß-Inquart als auch Goebbels als dem Reichskommissar für den totalen Kriegseinsatz gegenüber verantwortlich. Unter dem Datum des 14. Dezember 1944 gab Liese bekannt, dass in den Provinzen Nordholland, Südholland und Utrecht alle niederländischen und staaten281 Ebd., 552. 282 Zur Liese-Aktion siehe ebd., 559–600 und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 129–146.

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losen Männer zwischen 16 und 40 Jahren mit einem Aufruf zum Arbeitseinsatz zu rechnen hätten. Allerdings – und das war entscheidend – erhielten Arbeitskräfte, die unverzichtbar waren „für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Verwaltung sowie für die Weiterführung von Einrichtungen und landwirtschaftlichen und gewerblichen Betrieben, in denen lebenswichtige Aufgaben zu erfüllen oder kriegswichtige Aufträge durchzuführen sind“, einen besonderen „Rückstellungsausweis“.283 Intern sprach sich Seyß-Inquart übrigens dafür aus, etwa 500 Niederländern eine Freistellung zu gewähren, die „in ihrer politischen oder öffentlichen Stellungnahme für uns besonders nützlich waren“, denn ihr Abzug nach Deutschland hätte die eigene Arbeit und die ohnehin immer schwächer werdende Position der einheimischen Faschisten noch weiter erodiert.284 Auch bei dieser Rekrutierungsaktion blieb das Ergebnis bei weitem hinter den Erwartungen zurück: Von 650.000 Männern, mit denen die deutsche Verwaltung gerechnet hatte, kamen nur ca. acht Prozent dem Aufruf zur Meldung bei den zuständigen Fachberatern nach, und ein beachtlicher Teil der 50.000 Personen, die sich sehr wohl meldeten, beantragte Freistellungen oder tauchte unter.285 Die Umsetzung der Liese-Aktion wurde unter anderem dadurch erschwert, dass der organisierte Widerstand, die Exilregierung und Kirchenvertreter jetzt wie schon bei den vorherigen Rekrutierungsaktionen die niederländische Bevölkerung vor einer Meldung warnten.286 Einheimische Beamte und Unternehmer verweigerten die notwendige Mitarbeit an der Aktion oder tauchten ebenfalls unter. Die in Aussicht gestellten fälschungssicheren Freistellungsausweise ließen auf sich warten, provisorische Ausweise waren so unzureichend, dass sie bald nach ihrer Einführung von Widerstandskreisen nachgemacht wurden. Und weil in der Zwischenzeit etliche Wehrmachtssoldaten zum Einsatz in der Ardennenoffensive abkommandiert worden waren, fehlten der Besatzungsmacht in den Niederlanden Exekutivkräfte, um wieder größere Razzien durchzuführen und Zwangsmaßnahmen gegen jene Personen durchzusetzen, die der Meldepflicht nicht nachkamen. Es kam zwar weiterhin zur ‚Jagd‘ auf niederländische Arbeitskräfte, denn die Liese-Aktion trat nicht anstelle von Razzien, sondern war – wie Louis de Jong zutreffend schreibt – selbst Teil des rabiaten Razziasystems.287 Doch trotz der angestrengten Bemühungen von deutschen Beamten

283 Aus Lieses Bekanntmachung vom 14. Dezember 1944, zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 27, Dok. 1162-PS, 38 f. Für die anderen Provinzen wurde die Altersgrenze auf 50 Jahre festgelegt. Da am 14. Dezember die Aufgabenverteilung und die jeweiligen Zuständigkeiten verschiedener deutscher Instanzen noch nicht geklärt waren, wurde Lieses Anordnung der niederländischen Bevölkerung erst zwei Wochen später in einem Aufruf bekannt gemacht, der durch Anschläge und in der Presse verbreitet wurde; er ist als Faksimile abgedruckt in: Kok/Somers, Nederland in de Tweede Wereldoorlog, Bd. 2, 379. 284 Seyß-Inquart an Liese, die Generalkommissare und seine Beauftragten vom 19. Januar 1945, zit. nach: Sijes, De Arbeidsinzet, 588. Auffällig ist die Verwendung des Imperfekts. Ob Seyß-Inquart zu diesem Zeitpunkt ‚verdienten‘ Kollaborateuren keine Bedeutung mehr für die Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Ordnung in den Niederlanden beimaß? 285 Ebd., 583 unter Bezugnahme auf Angaben von Verwey. 286 Zu den vielfältigen Formen des Widerstands gegen die ‚Jahrgangsaktion‘ vgl. ebd., 291–296. 287 So De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 143.

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und Sicherheitskräften um die Entwicklung von fälschungssicheren Rückstellungsausweisen; und obwohl jenen Männern Strafen angedroht wurden, die der Meldepflicht nicht nachkamen – die effektive und systematische Kontrolle der einheimischen Bevölkerung, von der sich Seyß-Inquart eine zielgerichtetere Rekrutierung niederländischer Arbeitskräfte versprach als von den aufwändigen Wehrmachtsrazzien der Monate September bis Dezember 1944, blieb aus. Somit zeichnete sich schon zu Beginn des letzten Kriegsjahres ab, dass auch die Liese-Aktion scheitern würde. Daran konnte auch die Rundfunkansprache vom 7. Januar 1945 nichts ändern, in der Seyß-Inquart die deutschen Maßnahmen begründete und die Bevölkerung aufforderte, sich den Anordnungen der Besatzungsmacht zu beugen. Dass die niederländischen Zwangsarbeiter auch in der letzten Kriegsphase gnadenlos zugunsten der deutschen Wirtschaft und Kriegsführung ausgebeutet wurden, verschwieg der Reichskommissar. Er reduzierte die Razzien und die Liese-Aktion auf einen sicherheitspolitischen Aspekt: Angesichts des Vorrückens der alliierten Soldaten erfordere die Sicherheitslage des Reiches, die „wehrfähigen Männer aus den Räumen, die allenfalls in das Kriegsgeschehen einbezogen werden können, abzutransportieren“ – in dieser Darstellungsweise ging es den zivilen und militärischen Stellen der Besatzungsmacht also darum, die Bildung einer niederländischen Armee innerhalb des deutschen Machtbereichs zu verhindern. Seyß-Inquarts zynischer Hinweis, dass der Arbeitseinsatz in Deutschland doch nicht nur aus deutscher Perspektive notwendig und gerechtfertigt sei, sondern auch aus Sicht der betroffenen Niederländer „dem arbeitslosen Herumlungern in irgendwelchen Gefangenenlagern“ vorzuziehen sei und obendrein „menschliche Erkenntnisse und Erfahrungen“ vermittle,288 hat nachweislich – und kaum verwunderlich – die beabsichtigte Wirkung verfehlt. Vermutlich hat auch sein Versuch, Mitte Februar 1945 in den ausgehungerten westlichen Provinzen 12.000 Niederländer durch das Versprechen von größeren Lebensmittelrationen für einen „freiwilligen Arbeitseinsatz“ in der einheimischen Landwirtschaft zu gewinnen (und gleichzeitig 60.000 Personen zwangsweise zum Stellungsbau in den östlichen und nördlichen Provinzen zu verpflichten) nicht zum Ziel geführt.289 Mit dem sogenannten Gemeindeeinsatz schließlich wurden Niederländer 1944/1945 zu Zwangsarbeit im eigenen Land verpflichtet.290 Diese Aktion zielte darauf, die einheimische Bevölkerung zu Schanzarbeiten heranzuziehen, mit denen der Vormarsch der alliierten Armeen aufgehalten werden sollte. Bei der Durchführung des Gemeindeeinsatzes arbeiteten die deutsche Zivilverwaltung und die Wehrmacht Hand in Hand: Die Ortskommandanten waren verpflichtet, die gewünschte Anzahl an Arbeitskräften in ihrem jeweiligen Einsatzgebiet über die Beauftragten des Reichskommissars für die Provinzen und die Städte Amsterdam und Rotterdam bei den Bürgermeistern der betroffenen Gemeinden anzufordern. Diese Regelung entsprach dem Führererlass vom 18. Mai 1940, dem zufolge Forderungen der Wehrmacht im zivilen Bereich ja durch den Reichskommissar durchzuführen waren. In der 288 Seyß-Inquart, Was nun?, 18 f. und seine Verteidigung in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 721. 289 Siehe Sijes, De Arbeidsinzet, 595. 290 Siehe Romijn, Burgemeesters, Kap. 20.

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Abb. 19: „Seyß-Inquart sagt über den ‚Arbeitseinsatz‘: ‚Er bringt den betroffenen Personen und ihren Familien gewisse soziale Vorteile …‘“ Bissige Karikatur auf Seyß-Inquarts Rundfunkansprache Was nun?

Praxis hielten sich Kommandanten zwar nicht immer an die vereinbarte Aufgabenteilung. Trotzdem ließ die Regelung erkennen, dass das Reichskommissariat die Rekrutierung von niederländischen Arbeitskräften zum Bau von Stellungen und ähnlichem als eine Angelegenheit der Zivilverwaltung ansah und großen Wert darauf legte, auch unter den Bedingungen

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eines militärischen Ausnahmezustands involviert zu bleiben. Weder Reichskommissariat noch Wehrmacht nahmen beim Gemeindeeinsatz übrigens Rücksicht auf die Tatsache, dass der Einsatz der Bevölkerung eines eroberten Landes zum Bau von militärischen Anlagen, die der Kriegsführung des Besatzers dienten, gegen die Haager Landkriegsordnung verstieß, und es spielte für sie keinerlei Rolle, dass die Aktion im Widerspruch zur ‚Anweisung‘ von 1937 stand, die den niederländischen Beamten die Mitwirkung an jenen Anordnungen einer Besatzungsmacht verbot, die gegen die Interessen des Landes gerichtet waren. Für das besetzte Land und seine Bevölkerung wirkten sich all die Aktionen, mit denen die Besatzungsmacht eine Arbeitsverpflichtung durchzusetzen versuchte, in mehrfacher Hinsicht desaströs aus. Zunächst bedarf es keiner Erwähnung, dass die deutschen Maßnahmen für die betroffenen Personen und ihr familiäres oder sonstiges soziales Umfeld gravierende Konsequenzen hatten. Aber auch die niederländische Volkswirtschaft war von Zwangsarbeit betroffen, und zwar gleich in einer doppelten Weise: Zum einen wurden allein in den Jahren 1942 und 1943 knapp 242.000 Arbeitskräfte dem heimischen Arbeitsmarkt entzogen,291 und fast genauso viele Niederländer tauchten unter oder ließen sich krankschreiben, um dem Einsatz in Deutschland zu entgehen. Mit jedem eingezogenen Zwangsarbeiter verschwand also ein weiterer aus dem Arbeitsprozess,292 und an dieser Tendenz sollte sich bis Kriegsende nichts ändern. Noch ungünstiger fällt die Bilanz aus, wenn man die jüdischen Arbeitnehmer, die im Zuge der Arisierung aus dem Arbeitsleben gedrängt wurden, sowie die Studenten einbezieht, die 1943 nach der Weigerung, die erwähnte Loyalitätserklärung zu unterzeichnen, untertauchten.293 Addiert man diese Personen zu den zwangsweise rekrutierten Arbeitern, verschwanden durch die Zwangsmaßnahmen der Besatzungsmacht oder als Reaktion auf diese Maßnahmen gut 550.000 Arbeitskräfte aus der legalen Wirtschaft.294 Angesichts dieser Zahlen war von Seyß-Inquarts Versprechen vom Oktober 1940, „die Entlassungen in der niederländischen Wirtschaft auf die dringlichsten Fälle zu beschränken“,295 seit Einführung der Zwangsarbeit nichts übrig geblieben. Wie ist zusammenfassend Seyß-Inquarts Haltung und Vorgehen beim Arbeitsdienst zu beurteilen? Wie für andere Felder der deutschen Wirtschaftspolitik ist auch hier im Verlauf der Besatzungszeit eine Radikalisierung festzustellen, für deren Umsetzung innerhalb der Niederlande der Reichskommissar die Verantwortung trug. Sie führte von der Förderung eines freiwilligen Arbeitseinsatzes über mehr oder weniger subtilen wirtschaftlich-sozialen Druck auf Arbeitslose und Arbeitssuchende zu einer allgemeinen Arbeitsverpflichtung, die sich zunächst auf einen Einsatz innerhalb der besetzten Niederlande beschränkte, im März 1942 aber auf Deutschland und andere deutsch beherrschte Länder ausgeweitet wurde. Bei der Implementierung dieser Maßnahmen band Seyß-Inquart auf eine hochgradig instrumentalisierende Weise die einheimischen Behörden ein. Dabei kam ihm entgegen, dass er in Verwey 291 Klemann, Nederland 1938–1948, 271. 292 Klemann, Die niederländische Wirtschaft von 1938 bis 1948, 71. 293 Siehe oben, S. 93 f. 294 So die Berechnung von Klemann, Nederland 1938–1948, 275. 295 Seyß-Inquart, Der Neuaufbau in Holland.

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einem ausgesprochen kooperationsbereiten Generalsekretär begegnete. Darüber hinaus ermöglichte die Einrichtung des Staatsarbeitsamtes eine Zentralisierung der niederländischen Arbeitsverwaltung, die dem Reichskommissariat wiederum eine Kontrolle und Steuerung des niederländischen Arbeitsmarktes erleichterte. Zugleich arbeitete die deutsche Zivilverwaltung in Den Haag eng mit der Ministerialbürokratie im Reich, der Wehrmacht und diversen Sonderbeauftragten des ‚Führers‘ zusammen (Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan, Sauckel als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz, Goebbels als Reichskommissar für den totalen Kriegseinsatz). Diese Kooperation gewann vor allem an Bedeutung, als mit der Einführung von Zwangsarbeit Aktionen lanciert wurden, die der Rekrutierung von Hunderttausenden von niederländischen Arbeitskräften dienten. Zwei Dinge verband die Sauckel-Aktionen, die Jahrgangsaktion, die Wehrmachtsrazzien und die Liese-Aktion: Erstens lagen Initiative und Zielvorgaben jeweils beim Reich. Zweitens blieben bei allen Aktionen die Ergebnisse weit unter den deutschen Erwartungen und Forderungen. Dass in den Niederlanden nicht einmal ansatzweise die geforderten Rekrutierungsquoten erfüllt wurden, scheint Seyß-Inquarts Ansehen bei Hitler allerdings keinen Abbruch getan zu haben. Als überzeugter Nationalsozialist sah Seyß-Inquart im staatlich reglementierten Arbeitsdienst ein selbstverständliches Mittel, um die (Selbst-)Nazifizierung der niederländischen Gesellschaft voranzutreiten, der einheimischen Bevölkerung die – als Entgegenkommen verstandene – Gelegenheit zu bieten, sich an der Seite des Großdeutschen Reiches an der Verteidigung des „Abendlandes“ gegen die Sowjetunion und die westlichen Alliierten zu beteiligen und sich auf diese Weise beim Aufbau eines „neuen Europas“ in einer nationalsozialistischen Nachkriegsordnung zu profilieren. Noch in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs verbreitete Seyß-Inquart in dem ausgehungerten und schwer geplünderten Land über den Rundfunk die verquere Botschaft, die Einberufung von Niederländern zu Zwangsarbeit in Deutschland sei nicht nur der Sicherheitslage des Reiches geschuldet, sondern komme auch den Betroffenen zugute. Es besteht auch nicht der geringste Grund zu der Annahme, dass Seyß-Inquart an der Rechtmäßigkeit oder der Notwendigkeit von Zwangsarbeit zugunsten der deutschen Kriegswirtschaft gezweifelt hätte. Im Gegenteil: Im Rahmen seiner Möglichkeiten hat der Reichskommissar den Radikalisierungsprozess nationalsozialistischer Arbeitspolitik in ‚seinen‘ Niederlanden aktiv vorangetrieben und sich bemüht, die Vorgaben aus dem Reich bis hin zur Einführung einer Arbeitsdienstverpflichtung außerhalb des Landes umzusetzen. Auf seine Bereitschaft, die rücksichtslose Durchsetzung der angeordneten Maßnahmen zu erzwingen, weist die Tatsache hin, dass er im August 1943 Rauter ermächtigte, alle Personen, „die sich auf irgendeine Weise dem Arbeitseinsatz entziehen oder zu entziehen suchen oder überhaupt ihre Arbeitspflichten nicht ordnungsmäßig erfüllen“, in einem Konzentrationslager zu internieren. Wie lange sie festgehalten werden durften, ließ der Reichskommissar offen. Er wies den Höheren SS- und Polizeiführer lediglich an, dass ihnen „nach angemessener Zeit“ „freigestellt“ werde, „sich nunmehr dem Arbeitseinsatz zur Verfügung zu stellen.“296 Als Alter296 Seyß-Inquart an Rauter vom 3. August 1943, NIOD, 14/100.

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native blieb den Betroffenen nur der mindestens ebenso wenig angenehme Verbleib im Lager. Dass der Reichskommissar bei der Erfüllung der Forderungen aus dem Reich für eine harte Gangart eintrat, geht auch aus seiner Anweisung vom 22. Juni 1943 hervor.297 Hierin trieb er die Abteilung Arbeitseinsatz zu einem konsequenten Vorgehen an, um ausnahmslos alle niederländischen Männer der Geburtsjahrgänge 1917 bis 1924 aufzurufen und dem Reich „zur Verfügung“ zu stellen. Von jetzt an dürfe keine Rücksicht mehr auf Freistellungen genommen werden, die bisher von „so ziemlich allen Stellen, die derartige Arbeitskräfte beschäftigen“, reklamiert worden seien und die Rekrutierung von Arbeitskräften enorm erschwert hätten; „Schlüsselkräfte“ dürften „nur unter Anwendung schärfster Maßstäbe in Schlüsselstellungen in den Niederlanden zurückgelassen werden.“ Die Entscheidung über mögliche Freistellungen zog er an sich, sie wurde zur Chefsache. Sogar „die für die Rüstung zuständige[n] Stellen im Reich haben sich nicht unmittelbar an meine Arbeitseinsatzbehörde, sondern an mich als den vom Führer bestellten Vertreter der Reichsinteressen in den besetzten niederländischen Gebieten zu wenden.“ Aus Unzufriedenheit mit der Unzulänglichkeit der bis dahin ergriffenen Maßnahmen beanspruchte Seyß-Inquart also auch in der Frage der Rekrutierung von Zwangsarbeitern für Deutschland die politische Führung innerhalb ‚seiner‘ Niederlande. Nach dem Krieg versuchte er zu seiner Verteidigung zwar geltend zu machen, dass er sich „trotz energischer Vorstellungen aus dem Reich“ geweigert habe, weitere Jahrgänge zum Arbeitsdienst in Deutschland aufzurufen, als sich abzeichnete, dass die Jahrgangsaktion ebenso ein Fehlschlag war wie die vorangegangenen sieben Sauckel-Aktionen, und er habe sich nicht veranlasst gesehen, gegen ausufernde Freistellungen einzuschreiten.298 Dem steht gegenüber, dass Seyß-Inquart Sauckel im August 1943 – wie erwähnt – die Gestellung von 150.000 niederländischen Arbeitskräften bis zum Juni des folgenden Jahres zugesagt hatte und zwei Monate vorher die Frage der Freistellungen ungeduldig an sich gezogen hatte. Und seine einschlägigen Verordnungen und Anweisungen machen deutlich, dass für ihn das Bestreben im Vordergrund stand, mit aller Härte seinen Beitrag zur deutschen Rüstungsproduktion und zur Verteidigung des NS-Staates gegen die Alliierten zu leisten. Mit deren Vormarsch nahm sein Bestreben, der deutschen Kriegswirtschaft eindeutig Priorität einzuräumen, im folgenden Jahr noch zu. So wies Seyß-Inquart seine Beauftragten in den Provinzen, Amsterdam und Rotterdam im Sommer 1944 an, den Einsatz von Arbeitskräften so zu organisieren, dass die Beseitigung der Schäden von Luftangriffen nicht „andere wichtige Arbeiten, insbesondere in der Rüstung“ behindere.299 Bei dem eifrigen Engagement auf dem Gebiet der Arbeitsverpflichtung muss dem Reichskommissar zwar bewusst gewesen sein, dass die Deportierung von mehreren Zehntausenden von Arbeitskräften samt Begleiterscheinungen wie dem massenhaften Untertauchen arbeitsfähiger Männer zu politischer Destabilisierung, zu einer Stärkung von Widerstand und Wi297 NIOD, 1/12. 298 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 81 und seine Aussage in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 15, 720. 299 Fernschreiben Seyß-Inquarts an seine Beauftragten vom 21. August 1944, hier zit. nach der Ausfertigung für Wilhelm Schmidt (Limburg), NIOD, 86/434.

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dersetzlichkeit, zu sozialer Unruhe und zu schweren wirtschaftlichen Schäden für das besetzte Land führen musste und die deutschfreundlichen, kollaborationsbereiten Niederländer noch mehr in die politische Isolation trieb als manche andere Maßnahme des NS-Regimes. Denn in ihrem gigantischen Ausmaß betraf Zwangsarbeit jede Stadt, jedes Dorf, wenn nicht gar jede Familie unmittelbar. In diesem Bewusstsein hat Seyß-Inquart – wie berichtet – vereinzelt Versuche unternommen, die riesigen Forderungen des Reiches nach Arbeitskräften abzumildern oder deren Gestellung zeitlich zu strecken. Doch es ist mehr als zweifelhaft, dass für ihn hierbei der Schutz der niederländischen Volkswirtschaft, geschweige denn das Wohlbefinden der Betroffenen und ihrer Angehörigen ein Selbstzweck gewesen sein könnte. Vielmehr scheint er sich nach der Devise gerichtet zu haben, die Göring am 28. April 1943 für die Verwaltungschefs der besetzten Länder ausgab: „Sie dürfen sich nicht in der Richtung einstellen, dass Sie Treuhänder für die Völker sind, für deren Gebiet Sie eingesetzt worden sind, sondern Sie müssen sich als Treuhänder des deutschen Volkes fühlen, dass aus diesen uns durch Kampf zugewachsenen Gebieten das herausgeholt wird, was die Lebenslage des eigenen Volkes in irgendeiner Form verbessern kann.“300 Mit seiner Beteiligung an der Umsetzung der Forderungen aus dem Reich strafte Seyß-Inquart letztlich seine eigenen früheren Beteuerungen Lügen, dass das Großdeutsche Reich harmonische wirtschaftliche Beziehungen zu den Niederlanden anstrebe, im Rahmen der nationalsozialistischen Großraumwirtschaft an einer kooperativen „Arbeitsteilung“ interessiert sei und eine angemessene Versorgung der dortigen Bevölkerung sowie politische Selbstverwaltung garantiere. Vielmehr machte der Arbeitsdienst ab 1942 deutlich, dass die vorgeblichen „Reichsinteressen“ nicht länger mit der versprochenen entgegenkommenden Behandlung der ‚germanischen‘ Niederländer zu vereinbaren waren, denn Zwangsarbeit war Teil nationalsozialistischer Ausbeutungspolitik. Nach dem Krieg nahm Seyß-Inquart für sich in Anspruch, immer bestrebt gewesen zu sein, niederländische Arbeitskräfte im eigenen Land zu belassen. Denn er sei der Meinung gewesen, dass Niederländer mit ihrer individualistischen Grundeinstellung keine „Barackenmenschen“ und deshalb für den Einsatz in einem Arbeitslager nicht geeignet seien.301 Und sein Verteidiger behauptete in Nürnberg allen Ernstes, Seyß-Inquart habe im Rahmen des Möglichen „die Humanität gewahrt.“302 Aus der Kriegszeit aber gibt es keinen einzigen Beleg, dass Seyß-Inquarts gelegentliche Bemühungen um eine Reduktion der Anzahl an niederländischen Zwangsarbeitern einem Respekt vor Individualismus oder Humanität zu verdanken sein könnten. Sie werden vielmehr darauf zurückzuführen sein, dass er als Chef der Zivilverwaltung eines besetzten Gebietes allen Grund hatte, Speers Konzept der Auftragsverlagerung den Vorzug gegenüber Sauckels Konzept des Reichseinsatzes zu geben. Tatsache ist, dass Seyß-Inquart während der Besatzungszeit seine Stellung und Kompetenzen eingesetzt hat, um niederländische Arbeitskräfte im Dienste der deutschen Kriegswirtschaft zum Einsatz kommen zu lassen. Und wie die Erklärung der Frage von Freistellungen zur Chefsache zeigt, 300 Stenographische Niederschrift der Besprechung beim Reichsmarschall über Totale Kriegsmaßnahmen in den besetzten Gebieten, NIOD, 206/700-1-83, Bl. 15 f. 301 Protokoll des Verhörs durch Lieutenant colonel Oron J. Hale vom 25. Juli 1945, IfZ, ZS 300, Bd. IV. 302 Steinbauer zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 19, 91.

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hat er beim Arbeitsdienst versucht, die Fäden so weit wie möglich in der Hand zu behalten. Auch wenn sein Entscheidungsspielraum mit der Ernennung Sauckels zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz von Seiten des Reiches eingeschränkt wurde, fiel die Rekrutierung von niederländischen Zwangsarbeitern letztlich unter die politische Verantwortung des Reichskommissars. Wie auf allen anderen Politikfeldern hat Seyß-Inquart hierbei im Ganzen geschmeidig und loyal mit den zuständigen Stellen des Reiches zusammengearbeitet und seinen spezifischen Beitrag zur Radikalisierung der Ausbeutung niederländischen Human­ kapitals zugunsten von deutscher Rüstungsproduktion und nationalsozialistischer Kriegsführung geleistet.303

303 Deshalb war es nicht nur reine Selbstverteidigung, wenn Sauckel vor dem Nürnberger Gerichtshof bestätigte, dass die Zwangsverpflichtung von Niederländern zum Arbeitsdienst in Deutschland von seinen Mitarbeitern und Seyß-Inquart gemeinsam durchgeführt wurde. Siehe ebd., Bd. 3, 533.

Kapitel 12:

Nationalsozialistische Kultur- und Wissenschaftspolitik1

Seyß-Inquarts Kultur- und Wissenschaftspolitik ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Erstens stellte die Beschäftigung mit insbesondere Kultur einen jener Politikbereiche dar, auf denen er sich mit seiner ausgeprägten Affinität zur Kunst persönlich engagierte. Zweitens war Kultur- und Wissenschaftspolitik eng mit anderen Arbeitsfeldern verknüpft, die zum Kernbereich von Seyß-Inquarts Politik gehörten; dazu zählen insbesondere Nazifizierung, Gleichschaltung, wirtschaftliche Ausbeutung und die Ausschaltung von Juden aus allen Lebensbereichen. Drittens brachte der Reichskommissar in kulturpolitischen Äußerungen gerne auf eine grundsätzliche Weise sein Verständnis von Kultur, Geschichte, Gesellschaft und vom Verhältnis zwischen Deutschen und Niederländern zum Ausdruck. Die Beschäftigung mit Seyß-Inquarts Kultur- und Wissenschaftspolitik ermöglicht somit gleichermaßen Einblicke in das Selbstverständnis wie in die Amtsführung dieses Nationalsozialisten. 12.1 Konzeptionelle Grundlagen

Inwieweit die Begriffe ‚Kulturpolitik‘ und ‚Wissenschaftspolitik‘ überhaupt für die niederländische Geschichte zwischen 1940 und 1945 eine Berechtigung haben, bedarf der Klärung. Der niederländische Historiker Ivo Schöffer hat in Abrede gestellt, dass das Reichskommissariat ebenso wie die einheimischen Nationalsozialisten in den fünf Jahren der Besatzungszeit so etwas wie Kultur- oder Wissenschaftspolitik konsequent verfolgt hätten. Anstelle einer zen­ tralen Koordinierung oder Steuerung kultur- und wissenschaftspolitischer Maßnahmen stellte er lediglich persönliche Initiativen sowie sporadisch ergriffene Aktivitäten und Reaktionen auf bestimmte Ereignisse fest.2 Tatsächlich sind viele Initiativen, die von deutscher Seite angeregt oder implementiert wurden, im Sande verlaufen, und letztlich ist es dem Reichskommissariat im Bereich von Wissenschaft und Kultur ebenso wenig wie auf anderen Feldern der Besatzungspolitik gelungen, die niederländische Gesellschaft einer durchgreifenden Nazifizierung 1

Zum historischen Kontext siehe jetzt Trommler, Kulturmacht ohne Kompass, Kap. 5. Den Niederlanden wird hier allerdings keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. 2 Schöffer, Het nationaal-socialistische beeld, 105 f.

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Kapitel 12: Nationalsozialistische Kultur- und Wissenschaftspolitik

und Gleichschaltung zu unterziehen. Erschwert wurde eine konsistente Kultur- und Wissenschaftspolitik vermutlich schon dadurch, dass es im Reichskommissariat keine Kulturabteilung gab, die auf diesem Gebiet eine Monopolstellung gehabt hätte. Vielmehr waren Kultur- und Wissenschaftspolitik auf Wimmers Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz und Schmidts Generalkommissariat zur besonderen Verwendung verteilt, und auch Vertreter von Reichszentralstellen wie das Propagandaministerium oder das Auswärtige Amt mischten sich immer wieder ein. Einer zentralen politischen Steuerung stand auch entgegen, dass der Reichskommissar die Pflege des Kulturlebens – wie noch gezeigt wird – ungeachtet eines deutschen Führungsanspruchs so weit wie möglich Vertretern der einheimischen Gesellschaft überlassen wollte. Damit wurde niederländischen Kollaborateuren ein größerer Spielraum gegenüber deutschen Behörden eingeräumt, als dies beispielsweise auf dem Gebiet der Judenverfolgung der Fall war. Und schließlich hatten Kultur und Wissenschaft für die deutsche Besatzungspolitik insgesamt gesehen einen geringeren Stellenwert als Themen wie die Rekrutierung von Arbeitskräften für das Reich und die Verfolgung der Jüdinnen und Juden – auch wenn Seyß-Inquart nicht müde wurde, die Bedeutung von Kultur und Wissenschaft für eine Selbstnazifizierung und die gewünschte Anbindung des Landes an das nationalsozialistische Deutschland zu betonen. All diese Beobachtungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Umgang der Besatzungsverwaltung mit Kultur und Wissenschaft von allgemeinen Zielen und Absichten getragen war, die programmatische Kohärenz und Konsistenz beanspruchten, und dass es unter deutscher Pa­tronage zur Gründung von kulturellen Institutionen gekommen ist, die ideologische Vorgaben oder Erwartungen des NS-Staates umzusetzen hatten. In diesem Sinn ist es meines Erachtens durchaus legitim, von einer nationalsozialistischen Kultur- und Wissenschaftspolitik zu sprechen. In mancherlei Hinsichten traten Seyß-Inquart und die Mitarbeiter, die innerhalb des Reichskommissariats für Kultur- und Wissenschaftspolitik zuständig waren, mit dem Anspruch auf, eine konzeptionelle Neuorientierung in die Niederlande zu bringen. Seyß-Inquarts Selbstverständnis nach beruhte sie auf den folgenden Prinzipien: 1) Wie alle anderen Aspekte menschlichen Lebens sollten Kultur und Wissenschaft im Sinne des Nationalsozialismus ideologisiert und fundamental an ‚rassischen‘ Gesichtspunkten ausgerichtet werden. Ganz in diesem Sinn forderte der Reichskommissar die Niederländer schon bei der Gründung des ‚Niederländischen Kulturkreises‘ als der ersten kulturellen Vereinigung, die in seiner Amtszeit nach nationalsozialistischen Grundsätzen ausgerichtet wurde, dazu auf, sich von einem „westlerischen Ästhetizismus“ abzuwenden. Stattdessen müsse „das kulturelle Leben eines Volkes“, wie er am 28. September 1940 bei der Gründungsveranstaltung des Nederlandsche Kultuurkring in den Räumlichkeiten der Kunstgesellschaft Pulchri Studio zu Den Haag erläuterte, „zutiefst in einer geschlossenen Weltanschauung begründet sein, die ihre Stärke wieder aus dem Wissen um das Volkstum schöpft und das Aufgehen in die Volksgemeinschaft fordert.“3 Bei der feierlichen Eröffnung des 3 Seyß-Inquart, Antwort des Reichskommissars, 20. In gekürzter Form nahm Seyß-Inquart seine Rede un-

12.1 Konzeptionelle Grundlagen

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Niederländischen Kulturrats, der ebenso wie der Kulturkreis ausschließlich eine beratende Funktion hatte und dessen Gründung per Verordnung am selben Tag wie die der Kulturkammer bekannt gegeben worden war,4 band Seyß-Inquart am 11. Februar 1942 Kunst explizit an Kernbegriffe nationalsozialistischer Ideologie wie „Blut“ und „Boden“, „Rasse“ und „Raum“. Für ihn standen all diese weltanschaulich aufgeladenen Elemente untereinander in einem unauflöslichen Zusammenhang, und der ranghöchste Nationalsozialist in den Niederlanden gab sich überzeugt: „Wo dieser Zusammenhang verloren geht oder überlagert wird von Einflüssen artfremder, also rassisch fremder Lebensgesetzlichkeiten, dort wird die echte, nämlich ihren Ursprüngen noch verbundene Kultur krank und das gesamte völkische Leben zersetzt.“5 Der nationalsozialistischen Kulturpolitik wies Seyß-Inquart in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, „das kulturelle Leben von allem zu reinigen, was offensichtlich Krankheit und Keim oder schon Auswuchs der Zersetzung und Zerstörung des nationalen Kulturbodens ist.“ Als überzeugter Nationalsozialist dachte er bei dieser ‚Reinigung‘ in erster Linie an die Juden, die er in der für das NS-System üblichen propagandistischen Biologisierung und Pathologisierung als „fremdrassische Parasiten im nationalen Kulturkörper“ diffamierte. Aber auch Deutschen oder Niederländern, die „unter dem Einfluss einer rassenfeindlichen Geistes- und Lebenshaltung“ stünden, sprach er die Fähigkeit ab, „wirklich deutsche oder niederländische Kunst schaffen“ zu können, und so plädierte er für die Förderung aller Bestrebungen, „die eigenständige Kultur wieder ausschliesslich zum Durchbruch“ kommen zu lassen.6 Hieraus ließen sich für die deutsche Kultur- und Wissenschaftspolitik in den Niederlanden grundsätzlich zwei miteinander korrespondierende Strategien ableiten: Politischer, beruflicher und sozialer Förderung erfreuten sich jene Künstler und Wissenschaftler, die sich dem Regime nicht in den Weg stellten oder es sogar aktiv unterstützten. Politischer und sozialer Exklusion waren demgegenüber jene ausgesetzt, die mit der nationalsozialistischen Kultur- und Wissenschaftspolitik nicht konform gingen. Ihnen wurde jede Möglichkeit genommen, sich in einem legalen Rahmen zu organisieren und zu artikulieren. 2) Gegenüber den niederländischen Kulturträgern, Wissenschaftlern und der gesamten Bevölkerung bemühte sich Seyß-Inquart den Anschein zu erwecken, dass das kulturelle und ter dem Titel Vor dem „Niederländischen Kultuurring“ in seine Redensammlung Vier Jahre in den Niederlanden auf (31–33); im Titel wie auch im Inhaltsverzeichnis wurde der Kultuurkring als Kultuurring orthografisch falsch wiedergegeben. Niederländische Pressestimmen über die Veranstaltung vom 28. September 1940 sind in NIOD, KA I 3408 zusammengetragen. Ein genuin nationalsozialistisches Kunstverständnis hatte Seyß-Inquart schon im März 1938 in der Wiener Hofburg in Anwesenheit von Goebbels artikuliert; siehe die Wiedergabe seiner Ansprache in der Neuen Freien Presse, Morgenblatt vom 31. März 1938. 4 Siehe VO 210/1941 vom 22. November 1941, in: VOBl. NL 1941, 898–900. Zur Gründung des Kulturrats siehe auch Schulten, Oudheid en Nieuwe Orde, 197–207. 5 Seyß-Inquart, Über die kulturelle Aufgabe des Staates, 4. Auch die Rede vom 11. Februar 1942 nahm Seyß-Inquart unter dem Titel Zur Einrichtung des Niederländischen Kulturrates in seinen Sammelband Vier Jahre in den Niederlanden auf (86–101). 6 Seyß-Inquart, Über die kulturelle Aufgabe des Staates, 9 f.

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wissenschaftliche Leben des Landes nicht einseitig von der Besatzungsmacht diktiert, sondern primär von (kooperationsbereiten) Angehörigen der eigenen Gesellschaft getragen würde; die Besatzungsverwaltung wolle nicht mehr als wohlmeinende ‚Schützenhilfe‘ leisten. Dabei drehte es sich – wie Seyß-Inquart am 28. September 1940 vor dem Kulturkreis ausführte – ausdrücklich nicht um Freiheit, Selbstständigkeit oder Unabhängigkeit des kulturellen Lebens in den Niederlanden; noch weniger war von Gleichberechtigung oder Gleichrangigkeit die Rede. Vielmehr sollte das deutsch-niederländische Verhältnis auch im Bereich der Kultur von einer „Kameradschaft“ unter Gleichgesinnten getragen sein. Eine solche Begrifflichkeit weckte einerseits Anklänge an Seyß-Inquarts ‚Politik der ausgestreckten Hand‘, ließ angesichts ihrer militaristischen Ladung aber zugleich das ungleiche Machtverhältnis zwischen beiden Ländern anklingen. Jedenfalls war für den Reichskommissar erst im Sinne von „Kameradschaft“ die Grundlage für „ein richtiges Zusammenklingen des niederländischen und deutschen Kulturlebens“ gegeben.7 Auch hinsichtlich des Niederländischen Kulturrats war die Weckung der Illusion einer gewissen Selbstständigkeit von niederländischen Kulturträgern bei gleichzeitiger ‚Schützenhilfe‘ durch die Besatzungsmacht maßgebend. So betonte Seyß-Inquart einerseits, dass der Nederlandsche Kultuurraad als „das kulturelle Gewissen der Nation“ „allein der Förderung und Entwicklung des niederländischen Kulturlebens“ zu dienen habe, und zwar mit dem Ziel, „dass die niederländische Kultur ohne wesentlichen Verlust an ihrer gesunden Substanz den Weg zu ihren völkischen Grundlagen und Quellen und damit den Weg durch den geistigen und politischen Umbruch unserer Zeit hindurch findet.“ Andererseits mussten seine Zuhörer es als einen Wink mit dem Zaunpfahl empfinden, wenn der Reichskommissar mit der ganzen Autorität seines Amtes dem Kulturrat das recht aufdringlich formulierte ‚Angebot‘ unterbreitete, seine „praktischen Erfahrungen in der Organisation“ und seine „wesentlichen Erfahrungen“ in der „geistesgeschichtlichen Betrachtung unserer Lage“ „gerne zur Verfügung“ zu stellen.8 Ein solches ‚Angebot‘ zurückzuweisen, war allenfalls in der Theorie möglich. Praktisch hatte die Besatzungsverwaltung die Lenkung des kulturellen und akademischen Lebens in den besetzten Niederlanden inne und trug dafür Sorge, dass nur völkisch und nationalsozialistisch orientierte Niederländer in diesem Bereich eine Rolle spielen konnten. Diesem Ziel diente auch die Niederländische Kulturkammer, in der unter dem nationalsozialistischen Präsidenten Goedewaagen alle einheimischen Kulturschaffenden im Rahmen einer Pflichtmitgliedschaft zusammengefasst waren. Wie Seyß-Inquart am 30. Mai 1942 auf deren Gründungsfeier im Den Haager Stadttheater unterstrich, sei auch im Fall der Kulturkammer die Initiative von niederländischer Seite ausgegangen. In diesem Sinn wertete er die Nederlandsche Kultuurkamer als Ausdruck „gemeinsamer Lebenskräfte“, die auf „der engen blutsmässigen und kulturellen Verbundenheit mit dem Reich“ gründen und damit „dem völkischen Gesetz unseres gemeinsamen germanischen Raumes“ entsprechen würden.9 Für das Reichskom7 Seyß-Inquart, Antwort des Reichskommissars, 20 f. 8 Seyß-Inquart, Über die kulturelle Aufgabe des Staates, 12 und 18 f. 9 Zit. nach: DZN vom 31. Mai 1942. Goedewaagen lehnte in seiner Ansprache eine zu weitgehende Einmischung von deutscher Seite in die Arbeit der Niederländischen Kulturkammer mit der Begründung ab,

12.1 Konzeptionelle Grundlagen

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missariat stellten Kulturkammer, Kulturrat und Kulturkreis autochthone Organisationen dar, die auf ihrem Gebiet zu einer gelenkten Selbstnazifizierung beizutragen hatten. Ihre Aktivitäten zielten auf jene niederländischen Kulturschaffenden, die sich dem Regime nicht in den Weg stellten. Für diesen Personenkreis gab es unter der deutschen Besatzung immerhin Ansätze zur Verbesserung der beruflichen oder sozialen Situation. Hierzu gehörten die Regelung von Mindesttarifen, der Titelschutz geistiger Schöpfungen oder die Einführung von Urlaubsregelungen. Auch derartige Ansätze waren Teil des Bemühens, die Kulturträger des Landes für eine genuin nationalsozialistische Kulturpolitik einzunehmen.10 Wer es jedoch wagte, gegen die Einrichtung nationalsozialistischer Kulturorganisationen zu protestieren, setzte sich der Gefahr aus, mit der Sicherheitspolizei in Konflikt zu kommen. So wurden Initiatoren einer Unterschriftenliste, in der sich im Februar 1942 über 1.900 Künstler bei Seyß-Inquart gegen die Einrichtung der Kulturkammer ausgesprochen hatten, verhaftet, einige von ihnen anschließend nach Amersfoort überstellt.11 3) Obwohl das Reichskommissariat mit einer ‚kameradschaftlichen‘ Haltung Niederländer für die Pflege eines autochthonen Wissenschafts- und Kulturlebens gewinnen wollte, ließ man keinen Zweifel, dass sich das kulturelle und wissenschaftliche Leben des Landes an Normen, Artikulationsformen und Organisationsprinzipien des nationalsozialistischen Deutschlands auszurichten und anzupassen hatte. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist schon, dass die vom Reichskommissariat angeregten oder gegründeten Kultur- oder Wissenschaftsorganisationen nach dem Führerprinzip aufgebaut waren. Letztlich strebte Seyß-Inquart neben einer gelenkten Selbstnazifizierung auch auf dem Gebiet der Kultur- und Wissenschaftspolitik eine Gleichschaltung der Niederlande an das hegemoniale Großdeutsche Reich an. Auf vielfältige Weise bemühte sich der Reichskommissar denn auch, NS-Deutschland als ein Vorbild zu präsentieren, das von den Niederländern in ihrem eigenen Interesse übernommen werden sollte. So setzte er sich dafür ein, dass immer wieder Kulturschaffende aus Deutschland in die Niederlande reisten, und öfters lud er persönlich namhafte Künstler wie den unter Nationalsozialisten geschätzten Komponisten Hans Pfitzner in sein ‚Herrschaftsgebiet‘ ein.12 In Einzelfällen scheute er sich nicht, mit der ganzen Autorität seines Amtes der niederländischen Kulturbürokratie recht deutlich die Aufführung von Werken zu ‚empfehlen‘, die Komponisten aus dem Großdeutschen Reich wie Franz Schmidt oder sein Jugendfreund Egon Kornauth geschrieben hatten.13 Auffallend ist, dass besonders Künstler aus der Ostmark bzw. den Alpen- und Donaugauen mit einer Einladung in die Niederlande bedacht „dass wir unsere eigenen Erfahrungen sammeln und aus unseren eigenen Fehlern lernen müssen.“ Zit. nach: Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 3. Juni 1942 (NIOD, KA I 3407). 10 Moll, Die deutsche Propaganda, 226 sieht hierin auch einen Ausdruck der Gleichschaltung des niederländischen Kulturlebens und seiner Ausrichtung am Reich. 11 Vgl. De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/2, 761–773. 12 Siehe sein Einladungsschreiben vom 19. April 1941 und Pfitzners Antwortschreiben vom 1. Juli 1941, ÖNB, Musiksammlung, F 68 Pfitzner 867/1. Mit dem Ehepaar Pfitzner hatte Seyß-Inquart schon vorher in Kontakt gestanden: Am 27. Dezember 1939 hatte er Mali Stoll zu ihrer Vermählung mit Pfitzner gratuliert (ebd., F 68 Pfitzner 2118/67). 13 Micheels, Muziek in de schaduw van het Derde Rijk, 207.

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wurden. Schon ziemlich zu Beginn seiner Amtstätigkeit in Den Haag formulierte Seyß-Inquart auf einer Dienstbesprechung nicht nur die Erwartung, „im Sinne der deutsch-holländischen Verständigung“ im Reich Aufklärung „über das holländische Kulturleben“ zu betreiben. Er äußerte auch den Wunsch, in Holland Konzerte mit den Wiener Philharmonikern, Aufführungen einer nicht näher bezeichneten Oper von Wolfgang Amadeus Mozart durch die Wiener Staatsoper und die Darbietung einer österreichischen Operette stattfinden zu lassen, und zwar „unter Auswertung der besonderen Beliebtheit, deren sich Wiener Musik in Holland erfreut […].“ Außerdem sollte in den Niederlanden eine Ausstellung über österreichische Malerei des 19. Jahrhunderts organisiert werden, während umgekehrt eine Ausstellung über „die holländische Malerei“ in Wien ins Auge zu fassen war. Darüber hinaus plante er die Einrichtung eines „deutsch-holländischen Hauses“ in Den Haag, „das als geistiger Mittelpunkt für den deutsch-holländischen Kulturaustausch […] sowie als Begegnungsort des Herrn Reichskommissars mit führenden politischen, wirtschaftlichen und künstlerischen Kreisen geeignet ist“. Bei allen kulturpolitischen Initiativen, die innerhalb seiner Behörde ergriffen würden, forderte Seyß-Inquart von seinen Angestellten „laufende Berichterstattung“. Auch wenn Seyß-Inquart in den folgenden fünf Jahren allenfalls punktuell in die Alltagsarbeit der deutschen Kulturpolitik eingriff, war die „künftige Entwicklung des holländischen Kulturlebens bezw. [sic] die deutsche Einwirkung auf dieses“ in den Grundzügen von Anfang an Chefsache.14 Die „deutsche Einwirkung“ auf das niederländische Kulturleben fand in etlichen ideologisch aufgeladenen Veranstaltungen Niederschlag, die eine eindeutige propagandistische Vermittlung von Kultur und Wissenschaft aus dem Großdeutschen Reich zum Ziel hatten. An zahlreichen Ausstellungseröffnungen, Konzert- oder Opernaufführungen nahm Seyß-Inquart persönlich teil, insbesondere wenn sich politische Prominenz oder namhafte Künstler aus dem Reich in den Niederlanden aufhielten oder die betreffende Veranstaltung an einem repräsentativen Ort stattfand. Dies war – um aus der Fülle der dokumentierten Termine einige Beispiele herauszugreifen – der Fall, als am 2. Oktober 1941 im Amsterdamer Concertgebouw in Anwesenheit von Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink und der Führerin der NS-Frauenschaft in den Niederlanden, Marietta de la Fontaine, die Ausstellung Frauen schaffen in Deutschland – Deutsche Frauen arbeiten für ihr Volk eröffnet wurde, die anschließend im nahe gelegenen Reichsmuseum zu sehen war.15 Etwa sechs Wochen später nahm der Reichskommissar im Mauritshuis zu Den Haag in Anwesenheit des Staatssekretärs im Reichspropagandaministerium, Dr. Leopold Gutterer, an der Eröffnung einer Ausstellung über das Buchwesen in Deutschland teil, wo Gutterers niederländisches ‚Pendant‘, Generalse­ kretär Goedewaagen, den Nationalsozialismus als „etwas Wichtiges, etwas Großes, etwas Achtunggebietendes“ propagierte, „das nur mit den geistigen Revolutionen der Völkerwande14 Zitate nach dem Protokoll über die Besprechung vom 25. Juni 1940 in NIOD, 14/91. An ihr nahmen neben Generalkommissar Schmidt Gesandtschaftsrat Wickel und ein Dr. Hübner teil, bei dem es sich vermutlich um den NS-affinen Schriftsteller und Journalisten Friedrich Markus Huebner handelt. Zu ihm vgl. Roland, Leben und Werk von Friedrich Markus Huebner. 15 Siehe unter anderem De Tijd, Abendausgabe vom 4. Oktober 1941.

12.1 Konzeptionelle Grundlagen

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rung, der Renaissance, der Aufklärung und der Romantik“ verglichen werden könne.16 Im April 1942 eröffnete Seyß-Inquart im Pulchri Studio eine Ausstellung über zeitgenössische niederländische Kunst, die anschließend auch in deutschen Städten gezeigt werden und damit die politisch gesteuerte kulturelle Annäherung zwischen beiden Ländern intensivieren sollte.17 Wenige Wochen später nahm er an einem der seltenen Auslandsgastspiele des Wiener Burgtheaters teil; auf seine Einladung hin war das Ensemble nach Den Haag und Amsterdam gereist.18 Und während in Stalingrad die VI. Armee unterging, besuchte Seyß-Inquart die Ausstellung Front der Kunst, die vom Luftgaukommando VI zusammengestellt worden war und seit 1940 in zahlreichen Städten des Rhein-Ruhr-Gebietes, in Amsterdam, Brüssel und Paris gezeigt wurde.19 Unter den musikalischen Veranstaltungen ragten Aufführungen der Wiener Staatsoper und des Wiener Philharmonischen Orchesters unter der Leitung von Generalmusikdirektor Hans Knappertsbusch heraus, die im Oktober 1940 im Rahmen der Wiener Kunstwoche in den Niederlanden stattfanden. Bei dieser Gelegenheit sprach Seyß-Inquart in Anwesenheit des Wiener Reichsstatthalters und Gauleiters Baldur von Schirach von „den Ewigkeitswerten der Kunst unserer gemeinschaftlichen germanischen Grundlage“ und brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Wiener Kunstwoche Deutsche und Niederländer in der Überzeugung zueinander bringen werde, „dass wir einen gemeinsamen Weg gehen können und dass wir trotz aller Schwierigkeiten zu einem gemeinsamen kulturellen Leben und zu einem Kulturaustausch kommen werden.“20 Eine ähnliche Botschaft verbreitete Seyß-Inquart, als am 19. November 1942 im Gebäude des ehemaligen ‚Königlichen Theaters‘ von Den Haag das Deutsche Theater in den Niederlanden mit einer Aufführung von Mozarts Don Giovanni feierlich eröffnet wurde. Eine solche Einrichtung war vorher innerhalb des NS-Regimes nicht unumstritten gewesen: Noch Ende Januar 1942 war Goebbels wohl aus Enttäuschung darüber, dass die 16 Zit. nach: Arnhemsche Courant vom 17. November 1941 über die Eröffnungsveranstaltung zur Ausstellung Das Deutsche Buch – Het Duitsche Boek vom 15. November. 17 Siehe Dagblad van Rotterdam, Mittagsausgabe vom 23. April 1942. 18 Vgl. DZN vom 21. Mai 1942 und von den folgenden Tagen, Rotterdamsch Nieuwsblad vom 26. Mai 1942 und das Interview mit Generalintendant Lothar Müthel in Het Volk. Socialistisch Dagblad vom 21. Mai 1942. 19 Siehe ÖNB-BA, S 49/39 und Schmidt, „Maler an der Front“, 642. 20 Zit. nach: DZN vom 18. Oktober 1940. Zur Wiener Kunstwoche siehe auch Beiträge in DZN vom 21. und 22. Oktober 1940. Zu den Wiener Philharmonikern in der NS-Zeit siehe Trümpi, Politisierte Orchester, besonders 304. Genau eine Woche vor der Gründung der Niederländischen Kulturkammer wurden Seyß-Inquart am 23. Mai 1942 in den Räumlichkeiten des Reichskommissariats von einer Delegation des Orchesters unter dem SS-Mann und Vorstandsmitglied Prof. Wilhelm Jerger der Goldene Ehrenring der Philharmoniker sowie die Nicolaimedaille in Silber überreicht, mit der an die Gründung des Orchesters durch Otto Nicolai im Jahr 1842 erinnert wurde. Siehe den Bericht sowie die Abbildungen der Auszeichnungen und der Verleihungszeremonie im Utrechtsche Courant vom 27. Mai 1942. Vgl. auch DZN vom 26. Mai 1942 sowie den Artikel des Reichsstatthalters und Gauleiters von Niederdonau Hugo Jury im Völkischen Beobachter vom 22. Juli 1942. Über sieben Jahrzehnte später haben sich die Wiener Philharmoniker entschlossen, Ehrungen für Seyß-Inquart, Schirach und weitere Nationalsozialisten abzuerkennen; siehe Kurier vom 22. Dezember 2013 (http://kurier.at/kultur/musik/wiener-philharmoniker-auszeichnungen-an-nazis-aberkannt/42.180.298, Zugriff: 23. Dezember 2014).

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Kapitel 12: Nationalsozialistische Kultur- und Wissenschaftspolitik

Mehrheit der ‚germanischen‘ Niederländer entgegen seiner Erwartung Nationalsozialismus und deutscher Besatzung abwartend bis feindlich gegenüberstand, der Meinung gewesen, dass „die Holländer eine so große kulturelle Unterstützung gar nicht verdient“ hätten. Weil aber Seyß-Inquart gedrängt habe und besonders die in den Niederlanden lebenden Deutschen „einen gewissen Anspruch“ auf Oper, Operette und Schauspiel in ihrer Muttersprache hätten, bewilligte der Propagandaminister schließlich „mit einem weinenden und einem lachenden Auge“ das Deutsche Theater in Den Haag.21 Hierfür dürfte auch ausschlaggebend gewesen sein, dass das Deutsche Theater ein Forum für nationalsozialistische Propaganda bot. Ganz in diesem Sinn nutzte der Reichskommissar die Eröffnungsfeier, um in Anwesenheit von Goebbels seine völkisch fundierte Auffassung zu wiederholen, dass Kultur aus „dem Boden“ und „dem Volk“ kommen müsse und seine Kulturpolitik darauf ausgerichtet sei, die angeblich verwandten Bevölkerungen der Deutschen und der Niederländer zueinander in Beziehung zu setzen. Dabei dürften sich die Niederländer von den Deutschen „sowohl die Aufnahme und künstlerische Gestaltung von Elementen ihres Wesens als auch Anregungen für das eigene Kunstschaffen“ erwarten.22 Während aber „die Aufnahme und künstlerische Gestaltung“ von niederländischer Kultur im nationalsozialistischen Deutschland begrenzt blieb, waren die „Anregungen“, die deutsche Wissenschaftler und Künstler zwischen 1940 und 1945 in den Niederlanden hinterließen, deutlich spürbar. Die Übernahme von nationalsozialistisch i­nspirierten Ausstellungen aus Deutschland, zahlreiche Konzert-, Vortrags- und Gastspielreisen von deutschen Wissenschaftlern und Kulturschaffenden sowie die Gründung des Deutschen Theaters führten jedermann vor Augen, dass für Seyß-Inquart das Kulturleben des Großdeutschen Reiches einen unhinterfragbaren Maßstab für das besetzte Land darstellte. Durch seine persönliche Teilnahme an derartigen öffentlichkeitswirksamen Auftritten, die über die Medien auf breiter Basis verbreitet wurden, nahm Seyß-Inquart aktiv an der Propagierung deutscher Kultur und Wissenschaft teil. Dazu kam, dass er gerne handverlesene Gäste, die dem NS-System zumindest freundlich gesinnt waren, zu Kulturveranstaltungen ins Hotel Kasteel Oud Wassenaar bzw. in seine Residenz Clingendael einlud. Namhafte Repräsentanten des Kulturlebens aus Deutschland, aus den Niederlanden sowie aus anderen als ‚germanisch‘ angesehenen Ländern oder aus verbündeten Staaten wie der deutsche Dirigent Eugen Jochum, die Frau des norwegischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers von 1920 Knut Hamsun, Museumsdirektor Dirk Hannema oder der Komponist Ermanno Wolf-Ferrari und dessen zweite Ehefrau Wilhelmine trugen sich bei diesen Gelegenheiten ins Gästebuch des Hauses ein; auch die Wiener Sängerknaben gastierten in der Residenz des Reichskommissars.23 Die propagandistische Signalwirkung war hier weniger ausgeprägt. Solche Zusam21 Zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 3, 207 (28. Januar 1942). Die Leitung des Deutschen Theaters übernahm der bisherige Intendant der Städtischen Bühnen in Freiburg i. Br., Dr. Wolfgang Nufer; siehe VB vom 2. Februar 1942 (BArch, R 43 II/677, Bl. 144) und Seyß-Inquarts Rundschreiben vom 12. Mai 1942 (NIOD, 14/114). 22 DAZ (BArch, R 43 II/677, Bl. 145), DZN und Het Nationale Dagblad (NIOD, KA I 3407), alle vom 20. November 1942. 23 Siehe die Einträge im Gästebuch (RMA, NG-C-2006-1) zum 14. November 1943 (Jochum), 20. März

12.1 Konzeptionelle Grundlagen

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Abb. 20: Das Ehepaar Seyß-Inquart mit Goebbels und General Hans-Wolfgang Reinhardt bei der feierlichen Eröffnung des Deutschen Theaters in Den Haag (19. November 1942).

menkünfte im kleinen Kreis taten eher Seyß-Inquarts persönlichen künstlerischen Interessen Genüge. Doch sie gehörten auch zum repräsentativen Gebaren des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete, und sie boten ihm eine weitere Möglichkeit, sich auf Reichsebene zu profilieren: Die Besuche namhafter Künstler in seiner Residenz unterstrichen Seyß-Inquarts Reputation und Attraktivität – umso mehr, als die betreffenden Künstler aus mehreren europäischen Ländern stammten, die in einem engen Verhältnis zum Großdeutschen Reich standen. Eine Profilierung in eigener Sache und die Propagierung von Kulturträgern und ihren Wertvorstellungen, die dem Nationalsozialismus positiv gegenüberstanden, ließen sich auf diese Weise elegant miteinander verbinden. Werbung für nationalsozialistische Kultur machte Seyß-Inquart übrigens sogar in Polen. Als er in der zweiten Oktoberhälfte 1941 anlässlich des zweiten Jahrestags der Errichtung des Generalgouvernements für einige Tage an seine frühere Wirkungsstätte zurückkehrte, nahm er in Krakau an einem Konzert der Philharmonie des Generalgouvernements sowie an der Vorstellung des Buches Deutscher Kampf im Osten im Rahmen der sogenannten Kriegsbuch1942 (Marie Hamsun), 5. Mai 1942 [?] (Hannema), 15. März 1943 (Wolf-Ferrari) und 23. März 1943 (Wiener Sängerknaben). Darüber hinaus hielt sich Seyß-Inquarts Jugendfreund Egon Kornauth mehrfach auf Clingendael auf (Einträge zum 29. April und 18. bis 26. Oktober 1941). Siehe auch Laurentius, De residentie van Seyss-Inquart.

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Kapitel 12: Nationalsozialistische Kultur- und Wissenschaftspolitik

woche teil.24 Außerdem nutzte er ein Interview mit der Krakauer Zeitung, dem Presseorgan der Regierung des Generalgouvernements, um Werbung für seine Politik in den Niederlanden zu machen.25 Insgesamt zielte Seyß-Inquart mit diesem Besuch in Polen weniger auf das Publikum in den Niederlanden – und am allerwenigsten auf die polnische Bevölkerung. Die Adressaten waren in erster Linie die Deutschen, denen er sich über die Krakauer Zeitung auch auf dem Gebiet der Kultur- und Wissenschaftspolitik als ein vorbildlicher NS-Funktionär präsentierte, dem die Verbundenheit mit der Politik des Großdeutschen Reiches am Herzen lag. 4) Während Kultur und Wissenschaft in den Niederlanden bis zum Einmarsch der Wehrmacht weitgehend von Privatpersonen und privatrechtlichen Vereinigungen getragen und gefördert worden waren und ein hohes Maß an Autonomie hatten beanspruchen können, verfolgte die Besatzungsverwaltung eine Politik aktiver Förderung durch den Staat.26 Denn im Staat manifestiere sich – wie Seyß-Inquart auf der Gründungsfeier des Niederländischen Kulturrats darlegte – nicht weniger als die „Nation“, und im nationalsozialistischen Staat komme die Einheit von der Partei als der „Willensträgerin der Nation“ und dem Verwaltungsapparat zum Ausdruck, der den „Willen“ der Nation zur Ausführung bringe, „um die Volksgemeinschaft Wirklichkeit werden zu lassen.“27 Wie oben dargelegt, leitete der Reichskommissar aus der vorgeblichen Notwendigkeit staatlicher Kulturförderung nicht nur die Berechtigung zur ‚Säuberung‘ des Kulturlebens von „artfremden“ Einflüssen ab. Positiv gesprochen implizierte sie für ihn auch die Verpflichtung, im Sinne seines völkisch begründeten Kulturverständnisses „den Kulturschaffenden und hier insbesondere wieder den jüngeren Generationen Aufgaben zu stellen, die aus der Gemeinschaft kommen und für die Gemeinschaft zu erfüllen sind.“28 Darüber hinaus beinhaltete staatliche Kulturpolitik eine Art von ‚Volkserziehung‘ im nationalsozialistischen Sinn – ging es Seyß-Inquart zufolge doch darum, „die gesamte kulturelle Schöpfung, die aus der Gemeinschaft des Volkes wuchs, wieder einzusetzen für die Gemeinschaft, als Mittel der Erziehung zur Gemeinschaft.“29 Die „Volksgemeinschaft“, der Staat und die Kulturträger wurden somit in eine unauflösliche Beziehung zueinander gesetzt. Das Konzept der ‚Volkserziehung‘ macht schon deutlich, dass die Grenzen zwischen staatlicher Kulturförderung und nationalsozialistischer Propaganda fließend waren – und es

24 Siehe Präg/Jacobmeyer (Hrsg.), Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen, 444, Krakauer Zeitung vom 26. Oktober 1941 und das Foto in Narodowe Archiwum cyfrowe, Sign. 2-3476. Das genannte Buch war von der Hauptabteilung Propaganda der Regierung des Generalgouvernements herausgegeben worden. 25 Krakauer Zeitung vom 25. Oktober 1941. 26 Vgl. etwa Janke, Regungen des neuen Geistes, 53 und die Ansprache, die Seyß-Inquart am 1. August 1941 anlässlich der Eröffnung der Ausstellung Westfälisch-niederrheinische Kunst der Gegenwart im Reichsmuseum hielt, nach DZN vom 3. August 1941. Die Kulturkammer übernahm höchst bereitwillig die deutsche Vorgabe, Kulturpolitik habe eine hoheitliche Aufgabe zu sein. In einer Selbstdarstellung unterstrich sie, „dass Kunst und Kultur Angelegenheiten und Aufgaben der Regierung“ seien (Waarom een Nederlandsche Kultuurkamer?, ohne Paginierung). 27 Seyß-Inquart, Über die kulturelle Aufgabe des Staates, 8. 28 Ebd., 10. 29 Ebd., 11.

12.2 Instrumente nationalsozialistischer Kultur- und Wissenschaftspolitik

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Seyß-Inquarts Grundverständnis nach wohl auch sein sollten. In dieser Hinsicht hatte es geradezu programmatischen Charakter, dass dem niederländischen Generalsekretariat für Volksaufklärung und Künste und der Kulturkammer mit Tobie Goedewaagen ein und dieselbe Person vorstand. Diese Personalunion verkörperte im wahrsten Sinn des Wortes die institutionelle Verklammerung von Propaganda und Kulturpolitik. Sie wurde noch dadurch erhöht, dass die Kulturkammer von Seyß-Inquart der Aufsicht des Generalsekretärs für Volksaufklärung und Künste unterstellt wurde.30 Angesichts von Goedewaagens Doppelfunktion als Generalsekretär und Kulturkammerpräsident musste diese Regelung in der Praxis auf eine enge Verzahnung von Ministerium und Kulturkammer hinauslaufen. Dabei ging es nicht um verwaltungstechnische Effizienz und administrative Synergieeffekte. Vielmehr ging es um das Bestreben, sicherzustellen, dass staatliche Kulturpolitik der gelenkten Selbstnazifizierung des besetzten Landes bestmöglich zugutekam. Obendrein entsprach die Personalunion auf der niederländischen Ebene dem Vorbild, das in Deutschland Goebbels mit seinen Ämtern des Propagandaministers und des Präsidenten der Reichskulturkammer gab.31 12.2 Instrumente nationalsozialistischer Kultur- und Wissenschaftspolitik

Für die Umsetzung seiner Kultur- und Wissenschaftspolitik bediente sich Seyß-Inquart einer Reihe von staatlichen, halb- und nichtstaatlichen Organisationen, die zum Teil in diesem Buch schon benannt worden sind. Der Reichskommissar gründete und begünstigte Institutionen wie Kulturkreis und Kulturrat, die auf konsultative Funktionen beschränkt waren. Ihnen war gemeinsam, dass sie allenfalls begrenzten Einfluss auf die staatliche Kultur- und Wissenschaftspolitik der Besatzungsjahre nehmen konnten, dass sie konsequent nach dem Führerprinzip strukturiert waren und dass sich ihre Anziehungskraft weitgehend auf kollaborationsbereite Niederländer beschränkte. Sie alle standen im Dienst einer gelenkten Selbstnazifizierung, weil ihre Aktivitäten von einheimischen Kulturträgern und -politikern innerhalb eines Rahmens getragen wurden, dessen Programmatik die Besatzungsmacht vorgab. Auf eine Selbstnazifizierung zielte auch Seyß-Inquarts frühzeitig lancierter Plan, im ganzen Land niederländisch-deutsche Kulturvereinigungen ins Leben zu rufen. Wie der Reichskommissar im November 1940 ankündigte, waren sie konzipiert als „die Plattform, auf der der Austausch der kulturellen Beziehungen zwischen dem deutschen und niederländischen Volk vor sich geht, welch letzterer ein wesentlicher Bestandteil der hier zu haltenden Linie ist […].“ Die von den örtlichen Kulturvereinigungen organisierten Veranstaltungen, in denen der kulturelle „Austausch“ stattfinden sollte, richteten sich vorwiegend an die einheimische Bevölkerung. Aus diesem Grund legte Seyß-Inquart den Nachdruck darauf, „den niederländischen Charakter nach Möglichkeit in den Vordergrund zu stellen.“ Doch genauso wie bei Kulturkreis oder Kulturrat war auch bei den Kulturvereinigungen von vornherein an eine politische Kontrolle und Steue30 VO 211/1941 vom 22. November 1941, § 28, in: VOBl. NL 1941, 912. 31 Ähnlich Moll, Die deutsche Propaganda, 226 und Hoffmann, NS-Propaganda, 203. Siehe auch Van Berkel, Tobie Goedewaagen, Kap. 6 bis 8.

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rung durch die Besatzungsverwaltung gedacht. Sie sollte von den Beauftragten des Reichskommissars in den Provinzen, Amsterdam und Rotterdam sowie von der Hauptabteilung Volksaufklärung und Propaganda von Schmidts Generalkommissariat wahrgenommen werden. Einer ihrer Referenten, Franz Wehofsich, hatte die Aufgabe, Seyß-Inquart „laufend unmittelbar zu unterrichten.“ Die Intention, die Kulturvereinigungen an die Bedürfnisse und Interessen der Besatzungsmacht anzubinden, kam auch in zwei weiteren Bestimmungen zum Ausdruck: Zum einen ordnete der Reichskommissar an, die einzelnen Ortsvereinigungen nach dem Führerprinzip aufzubauen. Zum anderen wurden der Arbeitsbereich der NSDAP in den Niederlanden sowie der Niederländische Kulturkreis, der unter der Leitung des überzeugten Nationalsozialisten Snijders stand, als der deutsche und der niederländische Träger der Kulturvereinigungen bestimmt.32 Aus dem Projekt der Kulturvereinigungen ging schließlich die Niederländisch-Deutsche Kulturgemeinschaft mit Sitz in Den Haag hervor. Sie wurde im Februar 1941 in der Rechtsform einer Stiftung gegründet und trat an die Stelle des Kulturkreises. Ihrer Satzung33 zufolge hatte sie die Aufgabe, durch Vorträge, Konzerte, Kurse, gesellige Zusammenkünfte, Reisen, Ausstellungen und ähnliche Veranstaltungen das kulturelle Leben in den Niederlanden sowie den Kulturaustausch zwischen Niederländern und in den Niederlanden lebenden Deutschen zu fördern (Art. 2).34 In Präsidium, Beirat und der Leitung ihrer örtlichen Vereinigungen waren sowohl Deutsche als auch Niederländer vertreten, die Mitgliedschaft stand „Personen niederländischen oder deutschen Volkstums“ ab dem Alter von 18 Jahren offen (Art. 7). Im Sinne des Führerprinzips wurde dem Präsidium, das ein Deutscher und ein Niederländer gemeinsam bildeten, eine fast schrankenlose Machtfülle gegeben: Es war berechtigt, die Satzung zu ändern, die Stiftung zu erweitern oder aufzulösen und Bestimmungen über deren Vermögen zu erlassen (Art. 16). Den Mitgliedern hingegen wurden in der Satzung keinerlei spezifische Vereinsrechte zugestanden, und eine Mitgliederversammlung, eine Rechenschaftspflicht des Präsidiums gegenüber der Mitgliederschaft, eine eigenständige Vereinstätigkeit der örtlichen Arbeitskreise oder andere Bestimmungen, die wenigstens ein Minimum an Transparenz und unabhängiger Kontrolle ermöglicht hätten, waren nicht vorgesehen. Derartiges passte nicht in Seyß-Inquarts Konzept. Denn wie andere kulturpolitische Organisationen, deren Gründung auf die Initiative des Reichskommissars zurückging, war die Niederländisch-Deutsche Kulturgemeinschaft nichts anderes als ein Transmissionsriemen für Nazifizierung und Selbstnazifizierung. Dazu trug auch bei, dass der deutsche Präsident vom Leiter des Arbeitsbereichs der NSDAP in den Niederlanden und der niederländische Präsident vom Vorsitzenden des Niederländischen Kulturkreises berufen und abberufen wurde (Art. 3). 32 Seyß-Inquart, Richtlinien für den Ausbau und die Tätigkeit der Niederländisch-Deutschen Kulturvereinigungen vom 10. November 1940, NIOD, 14/111. Siehe auch Wimmers Rundschreiben an die Leiter der Ministerialreferate und Abteilungen vom 13. Dezember 1940, ebd. 33 Statuten der Stichting „Nederlandsch-Duitsche Kultuurgemeenschap“. 34 Ähnlich bestimmte Willi Janke die Hauptaufgabe der Niederländisch-Deutschen Kulturgemeinschaft mit propagandistischer Absicht „in der Durchsetzung der Erkenntnis, daß Deutsche und Niederländer, aufbauend auf ihren völkisch bedingten Kulturwerten, gemeinsam das Artverwandte und Wesensfördernde in ihren Kulturbeziehungen pflegen müssen.“ (Regungen des neuen Geistes, 54)

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Der Erfolg solcher Bemühungen hielt sich in engsten Grenzen. Nicht einmal die Angestellten von Seyß-Inquarts Besatzungsbehörde konnten in nennenswertem Umfang motiviert werden, am deutsch-niederländischen Kulturaustausch teilzunehmen. So klagte Piesbergen im März 1941 darüber, dass in den vorangegangenen drei Monaten trotz des geringen Mitgliederbeitrags von 2,50 Gulden nur wenige Angestellte des Reichskommissariats der Aufforderung nachgekommen seien, den Kulturvereinigungen beizutreten.35 Ein freiwilliges Engagement blieb offenkundig weit hinter den Erwartungen zurück, die Seyß-Inquart mit der Förderung der kulturellen Beziehungen zwischen den angeblich „eng verwandten Völkern“ der Deutschen und Niederländer hegte. Neben Kulturkreis, Kulturrat und Kulturgemeinschaft erfreuten sich jene Organisationen besonderer Förderung, die erkennbar nach deutschen Vorbildern modelliert waren und es der Besatzungsverwaltung erlaubten, unmittelbar Kultur und Wissenschaft im besetzten Land zu steuern. Hierzu zählten die Niederländische Kulturkammer und das unter deutscher Besatzung neu eingerichtete Generalsekretariat für Volksaufklärung und Künste. Verstärkt wurde die Steuerung des niederländischen Kultur- und Wissenschaftsbetriebs im Geiste des Nationalsozialismus dadurch, dass Seyß-Inquart mithilfe seiner Verordnungen über die nichtwirtschaftlichen Personenvereinigungen und Stiftungen und über seinen Stillhaltekommissar dafür sorgte, dass ausschließlich nationalsozialistisch orientierte Organisationen Raum für Entfaltung erhielten. Oppositionelle, kirchliche und jüdische Organisationen hingegen wurden mit denselben Instrumenten bekämpft oder behindert. Die Einrichtung von genuin nationalsozialistischen Organisationen im Bereich von Kultur- und Wissenschaftspolitik war freilich in machtpolitische Konfigurationen des Großdeutschen Reiches eingebunden. Dies wird an zwei Institutionen besonders augenfällig: am Germanischen Forschungsinstitut und an der Reichsstiftung Niederlande. Zur Gründung des Germanischen Forschungsinstituts, das Seyß-Inquart am 1. April 1942 aus der Taufe hob, war zunächst eine Abstimmung mit Alfred Rosenberg erforderlich, seit 1934 Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP und von Hitler mit dem Aufbau der Hohen Schule in Frankfurt betraut. So teilte Seyß-Inquart dem nunmehrigen Reichsminister für die besetzten Ostgebiete am 22. Dezember 1941 seine Absicht mit, in den Niederlanden eine „germanische“ Akademie ins Leben zu rufen. Zugleich regte er an, ähnliche Institutionen auch „in den übrigen germanischen Ländern“ zu gründen, die dann in einer Dachorganisation zusammengefasst werden sollten.36 Wesentlich schwieriger war es für Seyß-Inquart und seine Mitarbeiter in Den Haag, eine Abgrenzung zu wissenschaftspolitischen Institutionen der SS wie namentlich dem ‚Ahnenerbe‘ zuwege zu bringen. Zu diesem Zweck setzte sich der Leiter der Hauptabteilung Wissenschaft, Volksbildung und Kulturpflege in Wimmers Generalkommissariat, der aus Österreich 35 Rundschreiben vom 17. März 1941, NIOD, 14/112. 36 Dies alles verband er mit den „besten Wünschen gerade für Ihre so wichtige Arbeit im Osten.“ (NIOD, 20/614)

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stammende SS-Hauptsturmführer Friedrich Plutzar, Anfang Februar 1942 mit SS-Obersturmführer Dr. Hans Ernst Schneider ins Benehmen, der zu Beginn der Besatzungszeit für das ‚Ahnenerbe‘ in den Niederlanden tätig gewesen war, mittlerweile aber in das Ahnenerbe-Zentralreferat Germanischer Wissenschaftseinsatz in Berlin befördert war.37 Als Vertreter des Reichskommissars ging es Plutzar darum, bei den Plänen zu einem Germanischen Forschungsinstitut in den Niederlanden „jede Überschneidung mit den Arbeiten und Zielen der Forschungs- und Lehrgemeinschaft ‚Das Ahnenerbe‘ zu verhindern […]. Er möchte im Gegenteil von vornherein die gemeinsame Klärung beider Forschungsinstitute und möglichst auch auf einigen Gebieten eine Zusammenarbeit.“38 Doch auf Seiten der SS tat man sich mit Seyß-Inquarts Plänen schwer. In dessen Germanischem Forschungsinstitut sah man eine unerwünschte Konkurrenz, und mit Argusaugen betrachtete Schneider Mitte Mai 1942 auf einer Tagung der Germanischen Arbeitsgemeinschaft in Hannover die unterstellte Absicht des Reichskommissars, über dieses Institut unabhängig von der SS „eigene Verbindungen“ zu niederländischen Nationalsozialisten aufzubauen. Man befürchtete, niederländische Wissenschaftler würden Seyß-Inquarts Forschungsinstitut für „nationalistische Bestrebungen“ nutzen, die der großgermanischen Ideologie des SS-Komplexes abträglich sein würden. Dies alles war für Schneider „eine Entwicklung, die unseren Wünschen zuwiderlaufe.“39 Denn eine solche Entwicklung konterkarierte die Ambitionen des Reichssicherheitshauptamts, die ‚Volkstumsfrage‘ in den ‚germanischen‘ Ländern zu monopolisieren, wie sie zu dieser Zeit auch in der Germanischen Leitstelle zum Ausdruck kamen. Der Geschäftsführer des ‚Ahnenerbes‘, SS-Standartenführer Wolfram Sievers, hielt denn auch das Germanische Forschungsinstitut für überflüssig. Wenn man schon einheimische Wissenschaftler einbinden wolle, solle man die ‚Völkische Arbeitsgemeinschaft‘ (Volksche Werkgemeenschap) erweitern, in der bereits kooperations- oder kollaborationsbereite Niederländer völkisch orientierte Wissenschaft betrieben.40 37 Zur Biografie Schneiders, dem nach dem Krieg unter dem Decknamen Hans Werner Schwerte bis zu seiner Enttarnung 1995 eine zweite Karriere in der Bundesrepublik Deutschland gelang, siehe die Zusammenfassung bei Jäger, Schneider. Zu seiner Tätigkeit in den Niederlanden vgl. Lerchenmüller, Hans Ernst Schneiders/Hans Schwertes Niederlande-Arbeit, 1120–1140 und Henkes/Rzoska, Volkskunde und „Volkstumspolitik“ der SS, besonders 305–323. 38 So die Darstellung in einer Aktennotiz Schneiders vom 6. Februar 1942, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 115, 640. Auch Bene betonte in seinem Bericht ans Auswärtige Amt vom 8. Juli 1942, dass die Arbeit des Germanischen Forschungsinstituts die „Belange der allgemeinen weltanschaulichen Schulung bezw. [sic] des Ahnenerbes“ nicht tangiere. „Wo doch Überschneidungen vorkommen sollten, werden gegenseitige Abstimmungen vorgenommen werden.“ (PA AA, R 99208, Bl. E 554075) 39 Protokoll über die erste Tagung der Germanischen Arbeitsgemeinschaft in Hannover vom 13. bis 15. Mai 1942, BArch (ehem. BDC), Ordner 993, Dr. Hans Schneider 15.12.1909, Bl. 177. Zu dieser Tagung siehe auch Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS, 182 ff. 40 Aktennotiz von Sievers vom 17. Juli 1942, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 118, 645. Der Einfluss von NSDAP bzw. SS auf die Volksche Werkgemeenschap war zwischen den Generalkommissaren Schmidt und Rauter umstritten. Spätestens nach Schmidts Tod im Juni 1943 dominierte der Griff des SS-Apparats auf diese Organisation; als ‚Germanische Arbeitsgemeinschaft Niederlande‘ (Germaansche Werkgemeenschap Nederland) wurde sie offiziell ins ‚Ahnenerbe‘ inkorporiert. Siehe hierzu In ’t Veld, Inleiding, 269 ff. und Schulten, Oudheid en Nieuwe Orde, 203 ff.

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Der Reichsführer-SS war jedoch nicht daran interessiert, wegen dieser Angelegenheit mit dem Reichskommissar in Konflikt zu geraten. In diesem Sinn erteilte Himmler im Frühjahr 1942 nach einem Gespräch mit Seyß-Inquart die Anordnung, „dass das Ahnenerbe die Arbeiten dieses Germanischen Instituts in den Niederlanden weitgehend unterstützen sollte.“41 Seine Mitarbeiter in Berlin blieben Seyß-Inquarts Plänen gegenüber jedoch reserviert. Gottlob Berger meinte Rauter auf einen Befehl Himmlers hinweisen zu müssen, „dass die wissenschaftliche Forschung im germanischen Raume in erster Linie Sache der SS zu sein hätte“ und „die federführende Dienststelle hierbei das Ahnenerbe sei.“42 Rauter konterte zwar mit dem Hinweis auf Himmlers Entscheidung, dass das Germanische Forschungsinstitut „ohne weiteres in diesem niederländischen Raum die wissenschaftliche Forschungsarbeit durchführen könne.“ Und er unterstrich Himmlers Ansicht, „dass das Ahnenerbe ohne weiteres in diesem Germanischen Forschungsinstitut mitarbeiten könne, wo es unsere Linie durchzusetzen hätte“, und sah in der Mitarbeit von SS-Offizieren wie Schneider und Sturmbannführer Dr. Wolfgang Ispert, dem Leiter der Forschungsstelle Volk und Raum, die Gewähr für „ein loyales Zusammenarbeiten“ zwischen ‚Ahnenerbe‘ und Reichskommissariat.43 Nachdem aber in der Zwischenzeit von Bormann die oben behandelte Anordnung A 54/42 erlassen worden war,44 die dem Reichsführer-SS auf Anweisung Hitlers die Alleinzuständigkeit „für Verhandlungen mit allen germanisch-völkischen Gruppen in Dänemark, Norwegen, Belgien und den Niederlanden“ im Bereich der Partei zugesprochen hatte, und Berger kurz darauf per Stabsbefehl bekannt gegeben hatte, dass Himmler das ‚Ahnenerbe‘ mit der „Durchführung sämtlicher wissenschaftlich-forschenden Aufgaben und Arbeiten im Rahmen der großen Gesamtaufgaben der Schutzstaffel“ betraut hatte,45 brachte Schneider im Oktober einmal mehr die Position des ‚Ahnenerbes‘ zum Ausdruck, wenn er die Befürchtung äußerte, dass das geplante Germanische Forschungsinstitut im Laufe der Zeit „unter Führung des niederländischen Staates oder der NSB kommt. Das wäre aber für uns gänzlich indiskutabel. Ein Institut [,] was sich mit dem Germanischen beschäftigt, kann nur unter deutscher SS-Leitung stehen, denn die SS ist heute die einzige Organisation, die sich im Gegensatz zu allen anderen Staats- und Parteidienststellen ausdrücklich mit den gemeingermanischen Aufgaben zu beschäftigen hat“. Hieraus wiederum leitete er das Ziel, vielleicht auch den Anspruch ab, „wesentliche Einflussnahme auf dies[es] Institut zu gewinnen.“46 41 Rudolf Brandt an Sievers vom 4. Juni 1942, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 168, 745. Vermutlich geht die Anordnung auf eines der Gespräche zurück, die Himmler während seines Aufenthalts in den Niederlanden (16. bis 20. Mai 1942) mit Seyß-Inquart geführt hatte. Möglicherweise wiederholte der Reichsführer-SS seine Zusage Seyß-Inquart gegenüber am Rande der Begräbnisfeierlichkeiten für Reinhard Heydrich am 9. Juni im Haus der Flieger zu Berlin, das dem RSHA zur Verfügung stand; siehe die Hinweise im Schreiben Rauters an Himmler vom 10. Juni und an Berger vom 27. Juni 1942, in: ebd., Dok. 173, 751 bzw. Dok. 186, 773. 42 Berger an Rauter vom 24. Juni 1942, zit. nach: ebd., Dok. 182, 769. 43 Rauter an Berger vom 27. Juni 1942, zit. nach: ebd., Dok. 186, 773. 44 Siehe hierzu oben, S. 150–156. 45 Zit. nach: Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS, 175. 46 Schneider an Rauter vom 2. Oktober 1943, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 229, 832 f.

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Tatsächlich vermochte sich das Germanische Forschungsinstitut gegen den SS-Komplex, der innerhalb des NS-Staates auf allen Gebieten kontinuierlich an Macht gewann, nicht durchzusetzen.47 Die meisten kooperations- oder kollaborationsbereiten niederländischen Wissenschaftler waren bereits mit der genannten ‚Völkischen Arbeitsgemeinschaft‘ verbunden, auf die die SS einen starken Einfluss ausübte. Für eine alternative – und damit per se konkurrierende – Organisation war in den besetzten Niederlanden kaum Platz. Ebenso wenig wie Himmler in dieser Angelegenheit einen Konflikt mit Seyß-Inquart wollte, wollte dieser einen Konflikt mit Himmler. Man brauchte einander für Fragen, die vom Regime als wichtiger angesehen wurden wie insbesondere die im Sommer 1942 anlaufende Deportation der Juden. Beide NS-Politiker scheinen sich einig gewesen zu sein, dass ein gutes Verhältnis nicht durch die Wissenschaftspolitik in den Niederlanden beeinträchtigt werden durfte. Der Reichsführer-SS akzeptierte die Existenz des Germanischen Forschungsinstituts, während der Reichskommissar die Dominanz hinnahm, die die SS mithilfe des ‚Ahnenerbes‘ und ihres Einflusses auf die Volksche Werkgemeenschap über das niederländische Wissenschaftssystem ausübte. Die deklarierte Bereitschaft zu Kooperation zwischen SS und Reichskommissariat kam auch in der Satzung des Germanischen Forschungsinstituts zum Ausdruck. Hier verpflichtete sich die Stiftung ausdrücklich zu „Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen ähnlicher Zielsetzung“, wenn es darum ging, „die Werte und Wesenszüge des germanischen Menschen, seine Auseinandersetzung mit der Umwelt, die Formen seiner Gemeinschaftsbildung […] und seine Geschichte vom niederländischen Raum her zu erforschen und darzustellen.“ 48 Die Möglichkeiten, ein solches Programm umzusetzen, waren allerdings begrenzt. Die finanzielle Ausstattung des Instituts war knapp bemessen, und für die gesamte Besatzungszeit lassen sich nur zwei Institutsbesprechungen nachweisen. Auf der ersten Besprechung vom 27. Januar 1943 unterstrich der anwesende Reichskommissar noch einmal, dass sich sein Institut in keiner Weise als Konkurrenz zu gleichartigen nationalsozialistischen Organisationen sehe. Denn das Germanische Forschungsinstitut wolle „sich den im ‚Ahnenerbe‘ und Amt Rosenberg laufenden Arbeiten und dort auch schon geleisteten Forschungen zuordnen und diese Arbeit jederzeit unterstützen. Der Herr Reichskommissar wünscht, dass hier gemeinsame Arbeit betrieben werde.“49 Im Protokoll über die zweite Besprechung vom 2. Mai 1944 musste man sich eingestehen, dass in der Zwischenzeit kaum Forschungsarbeiten durchgeführt worden waren. Für manche anvisierte Themen wurden – mehr als zwei Jahre nach der Gründung des Instituts – „noch keine geeigneten Mitarbeiter gefunden“, andere Themen wie ein Vergleich zwischen französischen und niederländischen „Kolonisationsmethoden in Ost-Indien“ wurden „auf Grund der damit verbundenen heiklen politischen Gegenwartsfragen“ zurückgestellt.50 Als Gründe für die Stagnation des Instituts führte Plutzar die zunehmende Zahl 47 So auch In ’t Veld, Inleiding, 275 und Beyen, Oorlog en verleden, 182–185. 48 Art. 2 der Stiftungsurkunde in: NIOD, 20/633. Vgl. mit Plutzars undatierten Richtlinien für die Forschung und Auswertung, NIOD, 77/21. 49 Zit. aus Schneiders Aktenvermerk vom 29. Januar 1943 nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 310, 936. Siehe auch das Protokoll in NIOD, 77/21. 50 NIOD, 20/633.

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an Einberufungen zur Wehrmacht an, und unter niederländischen Wissenschaftlern sei seit dem Frühjahr 1943 im Anschluss an die Verhaftung von Studenten, deren Verpflichtung zur Abgabe einer Loyalitätserklärung, der Verfrachtung von Studierenden zum Arbeitseinsatz in Deutschland und der Schließung von Universitäten eine verstärkte Zurückhaltung in der Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen festzustellen.51 Das Germanische Forschungsinstitut erwies sich somit wissenschaftspolitisch als Totgeburt. Konflikte mit Instanzen des Großdeutschen Reiches blieben auch bei einer weiteren Organisation nicht aus: der Reichsstiftung Niederlande, die Seyß-Inquart im Winter 1943 zum Zweck der „Pflege und Förderung der deutsch-niederländischen Beziehungen“ per Erlass ins Leben rief. Sie war entsprechend dem Führerprinzip gänzlich vom Reichskommissar abhängig: Einzig er bildete den Vorstand, und als solcher besaß nur er die Vertretungs- und Verfügungsberechtigung.52 Er war es auch, der die Mitglieder des Kuratoriums und der Verwaltung bestimmte. Die Aufgabe der Stiftung sah die Satzung, die vom Reichskommissar mit einer beträchtlichen zeitlichen Verzögerung am 1. April 1944 in Kraft gesetzt wurde, „vorzugsweise“ in der Errichtung von Schulen und „sonstigen Anstalten“, und zwar durch den Erwerb, den Bau und eine zweckmäßige Einrichtung von geeigneten Immobilien.53 Die Auseinandersetzungen zwischen Den Haag und Berlin entzündeten sich bei der Reichsstiftung jedoch weniger an der ideologischen Grundausrichtung, sondern an der Finanzfrage. So sprach sich Reichsfinanzminister Schwerin von Krosigk in aller Entschiedenheit gegen Seyß-Inquarts Absicht aus, das Stiftungskapital von 50 Millionen Reichsmark aus Mitteln zu bilden, die die Besatzungsverwaltung durch ‚Ersparnisse‘ erwirtschaftet habe.54 Krosigk zufolge handelte es sich bei diesen Geldern um Besatzungskosten, die als solche grundsätzlich dem Reich zustünden und deshalb der Reichskasse zuzuführen seien. Für ihn galt es zu verhindern, „daß Reichsmittel auf dem Umwege über die Stiftung außerhalb des Reichshaushalts und damit unkontrolliert verausgabt werden, Ersparnisse bei den künftigen Haushalten ohne weiteres der Stiftung zugewiesen werden, Einnahmen aus der Verwertung beschlagnahmten volks- und reichsfeindlichen oder Judenvermögen[s] der Stiftung zufließen […].“55 In dem Disput, der über mehrere Monate hinweg geführt wurde, bestand Seyß-Inquart unter Berufung auf eine angebliche Zusage Hitlers darauf, die Reichsstiftung aus „Ersparnissen“ seines Reichskommissariats zu bestücken, und in einem recht scharfen Ton kündigte er an, er werde die bereits überwiesenen Beträge „ohne einen ausdrücklichen 51 Plutzar in seinem Bericht über den Stand der Arbeiten im Germanischen Forschungsinstitut vom 20. Oktober 1943, ebd. 52 VO 2/1943 vom 26. Januar 1943, § 1 und 2, in: VOBl. NL 1943, 43. 53 Siehe die Satzung vom 1. April 1944, BArch, R 43 II/1463a, Bl. 87 sowie Materialien in NIOD, 20/701 und in NL-HaNA, 2.09.16/524. 54 Siehe Seyß-Inquart an Lammers vom 2. Februar 1943, BArch, R 43 II/1463a, Bl. 6 und Aktenvermerk der Reichskanzlei vom 4. April 1943, ebd., Bl. 17. 55 So die Darstellung im Schreiben von Lammers an Seyß-Inquart vom 6. Juni 1943, ebd., Bl. 19 f. Der Chef der Reichskanzlei fasste hierin die Stellungnahme des Finanzministers zusammen. Siehe dessen Schreiben an Lammers vom 19. Mai 1943, NL-HaNA, 2.09.16/524, Bl. 382536 f. Für den Hinweis auf diesen Bestand danke ich Dr. Tessel Pollmann (Utrecht).

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Führerbefehl nicht mehr zurückgeben.“56 Im Sinne eines Kompromisses kam man schließlich überein, dass Seyß-Inquart die bis zum 31. März 1943 erzielten „Überschüsse“ seiner Verwaltung einschließlich des „Juden- und Feindvermögens“ der Reichsstiftung zuführen durfte, während künftige „Ersparnisse“ des Reichskommissariats allenfalls mit Zustimmung des Reichsfinanzministers der Reichsstiftung zur Verfügung gestellt wurden.57 Diese Übereinkunft lief darauf hinaus, dass die Reichsstiftung in keiner Weise aus deutschen Haushaltsmitteln finanziert wurde, sondern ausschließlich dem besetzten Land aufgebürdet wurde. Ihr Kapital, das der Geschäftsführer Hans Piesbergen für das erste Geschäftsjahr auf über 61 Millionen Gulden bezifferte,58 bestand denn auch vor allem aus Geldern, die das NS-Regime Juden und ‚Reichsfeinden‘ entzogen hatte. In dieser Hinsicht war die Reichsstiftung Niederlande mit dem Deutschen Hilfswerk vergleichbar, das Terboven in Oslo errichtete.59 In beiden Fällen legten die Reichskommissare Wert darauf, unabhängig vom Reich über die Verwendung der Stiftungsgelder verfügen zu können. In den Niederlanden wurde eine Kontrolle seitens des Reiches durch die Satzung stark eingeschränkt. Zwar unterlag die Reichsstiftung der Prüfung durch den Reichsrechnungshof. Doch die laufenden Prüfungen wurden der Rechnungskontrollstelle der Präsidialabteilung des Reichskommissars übertragen, die Prüfberichte waren dem vom Reichskommissar bestellten Kuratorium vorzulegen. Der Chef der Reichskanzlei und der Reichsfinanzminister mussten sich damit begnügen, „über die beabsichtigte Verwendung von Stiftungsmitteln“ unterrichtet zu werden – und das nicht einmal automatisch, sondern „nach näherer Anordnung des Reichskommissars.“60 Damit hatte Seyß-Inquart das erreicht, was er sich von Anfang an zum Ziel gesetzt hatte: Er konnte das Stiftungskapital aus Mitteln bilden, die er in den Niederlanden durch die Verfolgung von Juden und sonstigen ‚Reichsfeinden‘ ‚erwirtschaftet‘ hatte, und er konnte die Kon­trollmöglichkeiten von Seiten des Reiches denkbar gering halten. Er behielt also in jeder Hinsicht die Fäden in der Hand. In den Genuss von Förderungen durch die Reichsstiftung kamen erwartungsgemäß ausschließlich nationalsozialistische Institutionen, und zwar vorwiegend deutsche Organisationen. So erhielten im Geschäftsjahr 194361 die Niederländisch-Deutsche Kulturgemeinschaft, die unweit von Heythuizen gelegene Motorschule des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) Heibloem, das Heim Lebensborn in Nimwegen, der Volk und Reich Verlag, die Deutsche Informationsbibliothek in Amsterdam sowie eine Bergarbeitersiedlung im grenznahen Städtchen Heerlen Zuwendungen, in dem Seyß-Inquart anlässlich von Hitlers 54. Geburtstag vor Tausenden von niederländischen und deutschen Nationalsozialisten den „Siegeswillen“ von Deutschen und Niederländern bis 56 57 58 59 60 61

Seyß-Inquart an Lammers vom 10. Juni 1943, BArch, R 43 II/1463a, Bl. 23. Seyß-Inquart an Lammers vom 4. April 1944, ebd., Bl. 84 f. Siehe die Bilanz, die Piesbergen am 28. Juni 1944 der Reichskanzlei vorlegte: ebd., Bl. 93–98, hier Bl. 98. Siehe hierzu Bajohr, The Holocaust and Corruption, 129. Satzung vom 1. April 1944, Art. 5 und 9, BArch, R 43 II/1463a, Bl. 87. Siehe den deutschen Haushaltsplan (undatierte Abschrift) und die leicht abweichende niederländische Balans vom 18. Mai 1944, als Abschriften in NL-HaNA, 2.09.16/524. Demnach hatte die Reichsstiftung bis Ende März 1944 insgesamt mehr als zwei Millionen Gulden ausgegeben.

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zum „Endsieg“ beschworen hatte.62 Außerdem wurden 91.000 Gulden für den Ankauf von Grundstücken in Amsterdam für die NSDAP verwendet und ein Honorar für die schließlich nicht realisierte Reichsschule auf Schloss Soestdijk gezahlt. 1944 erhielten auch die Deutsche Schule in Hengelo, Mütter- und Säuglingsheime in Amsterdam und Rotterdam, die Forschungsstelle Volk und Raum sowie der Völkische Verlag Westland, dessen Gründung Seyß-Inquart 1941 angeregt hatte,63 Zuwendungen der Reichsstiftung; ferner wurde der Stiftung ‚Niederländische Literatur‘ ein Darlehen gewährt.64 Mit dieser Förderungspolitik wurden von der Reichsstiftung Partei- und SS-Instanzen gleichermaßen bedacht, niederländische oder gemischte deutsch-niederländische Einrichtungen hingegen kamen nur punktuell und marginal zum Zug. Die sich rasch verschärfende Kriegssituation ließ der Stiftung allerdings kaum Spielraum für eine nachhaltige, konsequent verfolgte Umsetzung des Stiftungszwecks, der „Pflege und Förderung der deutsch-niederländischen Beziehungen“. Faktisch hat die Reichsstiftung ebenso wenig wie das Germanische Forschungsinstitut Seyß-Inquart die Möglichkeit zu einer eigenständigen, konsistenten Kultur- und Wissenschaftspolitik gegeben. Ihr Potenzial hätte sie allenfalls entfalten können, wenn sich der Kriegsverlauf zugunsten Deutschlands entwickelt hätte. Beide Institutionen aber traten erst in Funktion, als die Wende militärisch irreversibel war. Dessen ungeachtet zeugen Germanisches Forschungsinstitut und Reichsstiftung von Seyß-Inquarts Bestreben, sein Reichskommissariat im Hinblick auf die ‚wissenschaftliche‘ und kulturpolitische Beschäftigung mit dem niederländischen Raum aus dezidiert nationalsozialistischer Sicht strategisch gut zu positionieren. Seine diesbezüglichen Ambitionen gingen sogar noch weiter: Mit der Zeitschrift Westland fungierte er ab 1943 als Herausgeber einer Hochglanzzeitschrift, die sich zum Ziel setzte, die deutschen und indigenen ‚Westforscher‘ in einem von ihm kontrollierten Medium zusammenzubringen und deren Anschauungen oder ‚Erkenntnisse‘ jenseits fachwissenschaftlicher Kreise zu popularisieren.65 Bemerkenswert ist, dass das Spektrum dieser Zeitschrift über die Niederlande hinausreichte. Es schloss auch Flandern sowie die Wallonie ein, in der nach nationalsozialistischer Interpretation „Reichsromanen“ oder „romanisierte Germanen“ lebten,66 und selbst Teile von Frankreich sowie die neutrale Schweiz wurden in Westland behandelt. In all diesen Fällen ging es der Zeitschrift darum, den ‚germanischen‘ Charakter der betreffenden Bevölkerungen herauszustellen. Dies sowie der frankophobe und antibritische Ton der meisten Westland-Artikel machen deutlich, dass Seyß-Inquarts Zeitschrift nichts anderes als ein Propagandainstrument des NS-Regimes war und letztlich für die Legitimierung der deutschen Besatzung der Länder des ‚Westraums‘ und deren Einbindung in den Orbit des Großdeutschen Reiches instrumentalisiert wurde. Diese Zielsetzung stellte Seyß-Inquart in dem einzigen Beitrag, den er selber für die Zeit62 Seyß-Inquart, Zu Führers Geburtstag 1943, 159. 63 Beyen, Oorlog en verleden, 226 f. 64 Bilanzen der Reichsstiftung vom 13. Oktober 1944 und vom 12. Januar 1945, NL-HaNA, 2.09.16/524. 65 Siehe hierzu Zondergeld, „Nach Westen wollen wir fahren!“ 66 Zu diesem Konzept vgl. Grunert, Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen, Kap. 5.

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schrift verfasst hat, unmissverständlich klar: Demnach liege die zentrale Aufgabe von Westland darin, dass sich deren Beiträge „vor allem mit den völkischen, geistigen und kulturellen Erscheinungen dieses Raumes und mit der von ihr in diesem Zusammenhang zu betrachtenden Landschaft zu befassen haben, eine politische Aufgabe aber insofern erfüllen, als in einer Zeit, in der alle Kräfte zur Behauptung der näheren und weiteren Gemeinschaften herangezogen werden müssen, alle geistigen, kulturellen und völkischen Werte diesen Gemeinschaftsaufgaben zu dienen haben.“67 Wie wichtig dieses Anliegen war, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass Westland in üppiger Aufmachung erschien, als andere Periodika wegen Papiermangels schon lange nur noch in eingeschränktem Maße veröffentlicht werden durften oder gar ihr Erscheinen einstellen mussten. Dass neben deutschen Historikern, Geografen, Volkskundlern und Vertretern anderer Disziplinen auch einheimische regimeaffine Persönlichkeiten wie Rost van Tonningen, Hannema oder Fredrik Ernst Müller hier publizierten, verweist noch einmal auf Seyß-Inquarts Anliegen, den Anschein zu erwecken, unter seiner Ägide werde das kulturelle und wissenschaftliche Leben durch ein ‚kameradschaftliches‘ Verhältnis zwischen Besatzern und Besetzten bestimmt. 12.3 Zugriff auf Schulen und Hochschulen

Die Doppelgleisigkeit zwischen den Bemühungen um eine (Selbst-)Nazifizierung auf der einen und Repression auf der anderen Seite, die die Politik des Reichskommissariats auf vielen Gebieten kennzeichnete, kam auch im Umgang der Besatzungsverwaltung mit den niederländischen Hochschulen zum Ausdruck, und auch hier gingen Inklusion und Exklusion Hand in Hand. So gingen von deutscher Seite Bestrebungen aus, Forschung und Lehre an den sechs Universitäten und vier weiteren Hochschulen des Landes68 unter inhaltlichen und organisatorischen Gesichtspunkten an nationalsozialistischen Grundsätzen und Interessen auszurichten und mit entsprechend ideologisch eingestelltem Personal zu besetzen. Von Anfang an war geplant, in den Niederlanden typisch nationalsozialistische Disziplinen wie Rassenkunde, Rassenhygiene und ähnliches einzuführen. Eine ‚Säuberung‘ unter dem wissenschaftlichen Personal der niederländischen Hochschulen nach rassistischen Gesichtspunkten begann schon mit der Einführung der Ariererklärung im ersten Besatzungsjahr, und wie oben dargestellt, wurde Juden ab 1941 der Zugang zum Studium und das Ablegen von Prüfungen drastisch erschwert und schließlich untersagt. Gegen Proteste, die Studenten und Professoren wie die erwähnten Leidener Juristen Telders und Cleveringa gegen die Entlassung jüdischer Dozenten 67 Seyß-Inquart, Zum Geleit [Westland]. 68 Bis zum Beginn der deutschen Besatzung gab es in den Niederlanden die staatlichen Universitäten Leiden, Utrecht und Groningen, die von der Hauptstadt getragene Universität Amsterdam, die Katholische Universität Nimwegen und die kalvinistisch orientierte Freie Universität in Amsterdam. Dazu kamen die Technische Hochschule Delft, die Landwirtschaftshochschule in Wageningen, die Niederländische Wirtschaftshochschule in Rotterdam, die Katholische Wirtschaftshochschule in Tilburg und die (protestantische) Theologische Hochschule in Kampen.

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vorbrachten, stellte sich Seyß-Inquart taub. Mehr noch: Er ließ den Protest durch die zeitweilige Schließung der Universität Leiden und der Technischen Hochschule Delft brechen und die regimekritischen Professoren verhaften. Auf seine ausdrückliche Anweisung hin wurden Telders, Cleveringa und der Ökonom Julius Herman Boeke, der es gewagt hatte, die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik zu kritisieren, aus ihren Ämtern entlassen.69 Während die Besatzungsmacht den Ausschluss von Juden aus den Hochschulen rasch, energisch und insgesamt gesehen recht reibungslos durchführte, stießen politisch motivierte ‚Säuberungen‘ allerdings an Grenzen: Angesichts des „schwachen intellektuellen Zuschnitts“70 der Nationaal-Socialistische Beweging konnte nur ein bescheidener Teil der vakant gewordenen Professuren mit Mitgliedern der niederländischen Kollaborationspartei besetzt werden: Im Februar 1944 standen 136 entlassenen Professoren nicht mehr als 43 Neuberufungen gegenüber.71 Dagegen wurden NSB-Mitglieder in etlichen Fällen in das Amt des Kurators eingesetzt, das Seyß-Inquart Mitte August 1941 mit Verordnung 153/1941 der Aufsicht des Generalsekretärs für Erziehung, Wissenschaft und Kulturverwaltung unterstellt hatte. Dies war etwa in Leiden der Fall, wo alle Kuratoriumsmitglieder durch Parteimitglieder ersetzt wurden, nachdem sie aus Protest gegen die Ernennung des niederländischen Faschisten Raimond Nazaire de Ruyter van Steveninck zum Vorsitzenden des Kuratoriums dieser Universität von ihren Ämtern zurückgetreten waren.72 Summa summarum ist dem Reichskommissariat der angestrebte Aufbau eines genuin nationalsozialistischen Hochschulwesens mit ‚deutschfreundlichem‘ bzw. nationalsozialistisch eingestelltem Personal, das die Hauptabteilung Erziehung und Kirche des Generalkommissariats für Verwaltung und Justiz unter ihrem Leiter Dr. Heinrich Schwarz in einem Memorandum vom Sommer 1940 als eines der deutschen universitätspolitischen Ziele formuliert hatte,73 nicht einmal ansatzweise gelungen. Die deutsche Hochschulpolitik geriet denn auch rasch in ein anderes Fahrwasser: Ab der zweiten Besatzungsphase war sie in einem hohen Maße von Repression gekennzeichnet. Wie an anderer Stelle dargelegt, reagierte die Besatzungsmacht sowohl nach dem Februarstreik von 1941 als auch im Umfeld des April-Mai-Streiks von 1943 auf Proteste von Dozenten und Studenten mit dem Erlass von Verordnungen, die Autonomie und Freiheit der niederländischen Hochschulen substanziell aushöhlten, das Führerprinzip an die Stelle kollegialer Entscheidungsprozeduren setzten und den Studienbetrieb erheblich beeinträchtigten oder gar zum Erliegen brachten. Dazu kamen die Verhaftung Hunderter Studenten als Vergeltung für Anschläge auf deutsche Einrichtungen oder auf niederländische Kollaborateure

69 Vgl. Knegtmans, Professoren van de stad, 362 ff. und Hirschfeld, Die Universität Leiden unter dem Nationalsozialismus, 574–576. Siehe auch oben die Hinweise in Kap. 3.1, 3.2 und 8.1. 70 Hirschfeld, Die Universität Leiden unter dem Nationalsozialismus, 571. 71 Vgl. Knegtmans, Onderwijspacificatie in de Nieuwe Orde, 287 unter Bezugnahme auf eine Mitteilung vom 12. Februar 1944. Lektorenstellen hingegen waren mit Kollaborateuren leichter zu besetzen: Von 16 Stellen, die aus politischen Gründen frei wurden, waren bis zu diesem Zeitpunkt immerhin 15 neu besetzt worden (ebd.). 72 Vgl. Hirschfeld, Die Universität Leiden unter dem Nationalsozialismus, 571. 73 Siehe hierzu ebd., 569.

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sowie die Einziehung von Studierenden zum Arbeitseinsatz in Deutschland. Im März 1943 wurden die Studenten vom Reichskommissar verpflichtet, nach dem Ablegen der Abschlussprüfung „eine bestimmte Zeit im Rahmen des Arbeitseinsatzes zu arbeiten“. Zugleich wollte man durch die Einführung eines Numerus clausus politisch unliebsame Studenten von den Hochschulen fernhalten.74 Nicht zufällig wurden diese Bestimmungen einen Tag, nachdem die oben genannte Loyalitätserklärung für alle Studierenden zur Pflicht gemacht worden war, erlassen. Da ein überwältigend großer Teil der Studentenschaft die Abgabe der Erklärung verweigerte, wurden noch im Mai ungefähr 2.900 Studenten nach Deutschland verbracht, wo sie in Rüstungsbetrieben oder in Krankenhäusern eingesetzt wurden.75 Die Einführung eines obligatorischen Arbeitsdienstes und die Ausschaltung von kritischen und oppositionellen Studenten gingen hier in zeitlicher und in sachlicher Hinsicht Hand in Hand. An einen normalen Lehr- und Forschungsbetrieb an den niederländischen Hochschulen war ab dem Frühjahr 1943 jedenfalls nicht mehr zu denken: Einige Hochschulen wurden bzw. blieben geschlossen, Tausende von Studenten wurden zu Zwangsarbeit herangezogen oder gingen in den Untergrund, viele Dozenten kamen der Lehrtätigkeit gar nicht oder nur in begrenztem Umfang nach. Seyß-Inquarts Drohung, die betreffenden Professoren sofort und ohne Pension zu entlassen,76 verpuffte weitgehend wirkungslos. Makulatur blieb auch der Plan, die zwangsweise geschlossene Universität Leiden als eine gründlich nazifizierte ‚Germanische Universität‘ wieder zu eröffnen. Solche Überlegungen waren im April 1943 von Wimmer nach dem Misserfolg der Loyalitätserklärung ins Gespräch gebracht worden, damit „neue und alte Frontkämpfer den Ton angeben und der SS-Gedanke maßgeblich sich durchzusetzen in der Lage sein“ werde.77 Seyß-Inquart verhielt sich anfangs zurückhaltend, kam aber Ende Oktober mit General Christiansen und Reichswissenschaftsminister Rust, der damals die Reichsschule Valkenburg besichtigte,78 überein, die älteste Universität des Landes in eine ‚Frontuniversität‘ umzuwandeln. Deren Lehrkörper und Studentenschaft sollte vorzugsweise aus Soldaten bestehen, ihr Lehrangebot neben traditionellen Fächern auch Themen wie „Nordische Kultur- und Geisteswissenschaft“ umfassen. Dass nur zwei Wochen vorher auf einer Chefbesprechung der Beschluss gefasst worden war, die anderen niederländischen Hochschulen bis auf die Universität von Amsterdam zu schließen,79 zeigte, in welche Richtung die deutsche Hochschulpolitik in den besetzten Niederlanden ging: Ab der zweiten, besonders aber ab der dritten Besatzungsphase wurde das einheimische Hochschulwesen existenzbedrohenden Restriktionen unterworfen, während in Leiden eine nazifizierte Universität aufgezogen werden sollte, die in ihrer Struktur, ihrem Personal und ihrem Lehrplan 74 75 76 77

VO 27/1943 vom 11. März 1943, in: VOBl. NL 1943, 125–127. Siehe Knegtmans, Die Universität von Amsterdam, 99. Rundbrief des Reichskommissars vom 21. Juni 1943, NIOD, 20/460. Siehe den Bericht von Wimmer an Seyß-Inquart vom 20. April 1943, NIOD, 20/457 sowie die konzise Darstellung bei Hirschfeld, Die Universität Leiden unter dem Nationalsozialismus, 579 ff. Siehe auch Beyen, Oorlog en verleden, 179 f. 78 Siehe Bericht in DZN vom 30. Oktober 1943 (BArch, ZSg. 103/5519). 79 Ritterbusch an Wimmer vom 16. Oktober 1943, NIOD, 20/465.

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ausschließlich deutschen Bedürfnissen zu entsprechen hatte. Aus der ‚Frontuniversität‘ ist nichts geworden, die Repression hingegen war für unzählige niederländische Angehörige der Intelligenzschicht Realität. Nach nationalsozialistischen Maßstäben wollte Seyß-Inquart auch die Volks- und Mittelschulen ausrichten. Dazu gehörte der erwähnte Ausschluss von jüdischen Schülerinnen und Schülern sowie jüdischer Lehrpersonen aus allen nichtjüdischen Schulen. Dazu gehörte auch, dass der Staat massiv in die Besetzung von Lehrerstellen eingriff. So wies Seyß-Inquart den zuständigen Generalsekretär Van Dam an, eine Verordnung80 zu promulgieren, in der dieser sich ermächtigte, die Kandidaten zu genehmigen oder abzulehnen, die ein städtischer Magis­trat oder der betreffende Schulvorstand vorschlugen, und auch die Entlassung von Lehrkräften bedurfte von nun an der Genehmigung durch den Generalsekretär für Erziehung, Wissenschaft und Kulturverwaltung. Diese Regelungen erstreckten sich sowohl auf die öffentlichen Schulen als auch auf die freien Schulen, die überwiegend in kirchlicher Trägerschaft waren. Mit ihrer Hilfe wollte Seyß-Inquart sicherstellen, „dass künftig bei der Auswahl der Lehrer eine mir ausreichende Gewähr für ihr loyales Verhalten gegenüber der Besatzungsmacht gegeben ist.“81 Zu Beginn des Jahres 1942 wurden die Bestimmungen verschärft durch zwei Verwaltungsanordnungen, die diesmal vom Reichskommissar selber erlassen wurden. In der einen wurden die Eingriffsmöglichkeiten des Generalsekretärs bei der Ernennung von Lehrpersonen beschleunigt: Sollten die eingereichten Kandidatenlisten zweimal abgelehnt werden, ging das Recht zur Ernennung von Lehrern ohne weitere Mitwirkung anderer Gremien unmittelbar auf den Generalsekretär über.82 In der anderen wurde der Generalsekretär ermächtigt, über einen Beauftragten und einen Beirat Lehrer, Schulleiter oder Schulinspektoren zu entlassen, deren Amtsführung „dem Interesse einer gedeihlichen Entwicklung des niederländischen Schulwesens entgegensteht.“83 Schulleitungen, die sich diesen Maßnahmen widersetzten, wurden „Zwangsmaßnahmen“ angedroht,84 und tatsächlich wurden Vertreter der protestantischen Kirche, die sich gegen die Umsetzung der Verwaltungsanordnungen in ihren Schulen zu stellen versuchten, im Frühjahr 1942 mit ausdrücklicher Zustimmung des Reichskommissars von der Sicherheitspolizei verhaftet und mehrere Wochen lang im Polizeilichen Durchgangslager Amersfoort festgehalten. Außerdem ergriff die Besatzungsverwaltung 80 VO 73/1941 vom 8. April 1941, in: VOBl. NL 1941, 301–304. Siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/1, 362 f. 81 Aus dem Brief von Seyß-Inquart an Van Dam vom 5. April 1941, zit. nach: De Pater, Het schoolverzet, 65, Anm. 2. 82 VO 4/1942 vom 9. Januar 1942, in: VOBl. NL 1942, 10. Siehe auch Van Dams Verwaltungsanordnung vom 13. November 1942, als VO 125/1942 abgedruckt in: ebd., 533–535. 83 VO 5/1942 vom 9. Januar 1942, § 1, in: ebd., 11. Diese radikale Bestimmung wurde von Seyß-Inquart durch eine Verwaltungsanordnung vom 19. Juni 1942 dadurch etwas abgemildert, dass neben der Entlassung für „leichtere Fälle“ die Suspendierung als eine Sanktionsmöglichkeit eingeführt wurde (VO 68/1942, in: ebd., 325). Zu den beiden Verwaltungsanordnungen Seyß-Inquarts vom 9. Januar 1942, ihrer Umsetzung und ihren Folgen siehe auch De Pater, Het schoolverzet, 102–110, 116–136 und 157–166. 84 Heinrich Schwarz an seinen Vorgesetzten Wimmer vom 7. Mai 1942, NIOD, 20/419.

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die Gelegenheit, widerspenstige evangelische Schulorganisationen wie den ‚Schulrat für die Schulen mit der Bibel‘ und die ‚Vereinigung für christliche Volkserziehung‘ aufzulösen.85 All diese Verordnungen schufen die rechtlichen Voraussetzungen, um oppositionelle Pädagogen oder missliebige Beamte der Schulverwaltung aus dem niederländischen Schulsystem zu entfernen und an ihrer Stelle verstärkt Kollaborateure in Schuldienst und -verwaltung einzuschleusen. Auch wenn besonders die konfessionellen Schulen die Bestimmungen zu unterlaufen versuchten oder sie schlichtweg ignorierten,86 wurde mit solchen Maßnahmen über kurz oder lang eine Politisierung und Nazifizierung des gesamten Schulsystems der besetzten Niederlande angestrebt. Zu der Ausrichtung auf das nationalsozialistische Deutschland gehörte auch die Zensur von Lehrmitteln: Der Gebrauch von Schulbüchern, die von Juden verfasst worden waren, wurde unter Verbot gestellt; aus anderen Büchern wurden Passagen gestrichen oder überklebt, die man als antideutsch betrachtete; und es wurden neue Schulbücher in Auftrag gegeben, die den ideologischen Vorgaben des NS-Regimes entsprachen.87 Zur Nazifizierung des niederländischen Schulwesens passte schließlich, dass Van Dam im September 1941 – wiederum in enger Absprache mit dem Reichskommissar – die Anordnung erteilte, dass im siebten Schuljahr pro Woche drei Stunden Deutschunterricht verpflichtend zu erteilen waren, während Englisch und Französisch gänzlich vom Stundenplan gestrichen wurden.88 Besonderen Schikanen waren die freien Schulen ausgesetzt, deren Leitung und Lehrkörper in vielen Fällen aus Angehörigen religiöser Ordensgemeinschaften bestanden. Schon in einer seiner frühen Verordnungen hatte sich Seyß-Inquart die Möglichkeit vorbehalten, Anstellung und Entlassung von Beamten und Angestellten zu regeln, und dies schloss ausdrücklich die freien Schulen ein.89 Um diese Schulen gegenüber dem öffentlichen Schulwesen, auf das die Besatzungsverwaltung insbesondere über das Generalsekretariat für Erziehung, Wissenschaft und Kulturverwaltung Einfluss nahm, zurückzudrängen, verordnete Van Dam am 19. Februar 1941 im Auftrag des Reichskommissars, dass Ordensangehörige im Schuldienst nur noch 60 Prozent ihres Gehalts ausgezahlt bekämen90 – eine Maßnahme, die Seyß-Inquart in seiner Rede in Amsterdam vom 12. März scheinheilig damit rechtfertigte, dass die Be85 Vgl. De Pater, Het schoolverzet, 108 f. 86 Siehe Knegtmans, Jan van Dam, 1099 f. 87 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 5/1, 342–344. Im Hinblick auf den Geschichtsunterricht zielte Van Dam Beyen zufolge weniger auf eine Nazifizierung des niederländischen Schulwesens als auf eine ‚Entsäulung‘ der Gesellschaft und eine großgermanische Perspektivierung des Unterrichts (Oorlog en verleden, 196 f.). Inwieweit dieser Befund generell für Van Dams Schulpolitik geltend gemacht werden kann, kann hier nicht untersucht werden. 88 Da anfangs geeignete Lehrbücher fehlten, konnte die Maßnahme erst ab 1942 umgesetzt werden (Knegtmans, Jan van Dam, 1102 und De Pater, Het schoolverzet, 166–168). Im Sommer 1942 wurden die Schulen aufgefordert, den Deutschunterricht auf fünf Stunden pro Woche zu erhöhen (De Jong, Het Konink­ rijk, Bd. 5/1, 344 f.). 89 VO 137/1940 vom 13. September 1940, in: VOBl. NL 1940, 425 f. 90 Siehe Stokman (Hrsg.), Het verzet van de Nederlandsche bisschoppen, 54 mit 57. Diese Maßnahme hatten Seyß-Inquart, Van Dam, Wimmer und Heinrich Schwarz am 8. Februar 1941 bei einem Treffen im Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz vereinbart. Siehe Knegtmans, Onderwijspacificatie in de Nieuwe Orde, 258.

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troffenen doch „nach ihrem Gelübde in Armut leben wollen“ und das eingesparte Geld nun für die Einstellung von Junglehrern genutzt werden könne.91 Zwei Tage später ordnete Van Dam – wiederum unter dem Druck des Reichskommissars – an, dass Geistliche und Angehörige klösterlicher Gemeinschaften nur noch an reinen Ordensschulen oder an Schulen, deren Lehrkörper zum überwiegenden Teil aus Klerikern bestand, die Leitung innehaben durften; alle anderen Geistlichen hatten mitten im laufenden Schuljahr ihre Leitungsfunktionen niederzulegen.92 Und im Juli wurde der Generalsekretär für Erziehung, Wissenschaft und Kulturverwaltung von Seyß-Inquart ermächtigt, Bedingungen für eine weitere staatliche Subventionierung der Schulen in freier Trägerschaft festzulegen. Fortan war Van Dams Zustimmung zu Lehrplänen und Lehrmitteln erforderlich, und auf diese Weise konnte der nationalsozialistische Staat unmittelbaren Einfluss auf den nichtstaatlichen Unterricht nehmen. Mehr noch: Der Generalsekretär erhielt das Recht, bei Bedarf einen Bevollmächtigten zu ernennen, der in nichtstaatlichen Schulen für ‚Ruhe und Ordnung‘ sorgte und eine Schule gegebenenfalls auf unbestimmte Zeit schließen konnte.93 Mit seinen Angriffen auf die freien Schulen hebelte das NS-Regime einen innergesellschaftlichen Kompromiss aus, der 1917 nach heftigen Auseinandersetzungen eines jahrelangen ‚Schulstreits‘ zwischen den konfessionellen Parteien auf der einen und Liberalen sowie Sozialdemokraten auf der anderen Seite in Form der sogenannten ‚Befriedung‘ erreicht worden war. Er beinhaltete die gleichberechtigte Stellung und gleichwertige Finanzierung von öffentlichen und freien Schulen sowie die verfassungsmäßig garantierte Freiheit des Unterrichts.94 Indem unter Seyß-Inquart die Schulen in kirchlicher Trägerschaft finanziell schlechtergestellt wurden, kirchliche Angestellte aus dem Schuldienst verbannt werden konnten und der Staat sich das Recht anmaßte, unmittelbar in die Ausrichtung des Unterrichts der freien Schulen einzugreifen und kirchliche Schulen nach Gutdünken zu schließen, unternahm das Reichskommissariat unter Mitwirkung des niederländischen Generalsekretariats den Versuch, den nationalen Grundkonsens zu untergraben, den die ‚versäulte‘ Gesellschaft fast ein Vierteljahrhundert vorher erzielt hatte. An die Stelle der ‚Befriedung‘ trat unverhohlen das Bestreben, das niederländische Schulwesen zu nazifizieren. Hierbei wusste sich Seyß-Inquart einig mit Van Dam, der zwar nicht Mitglied der Nationaal-Socialistische Beweging war, aber schon vor seiner Ernennung zum Generalsekretär Vorschläge zu einer Angleichung des niederländischen Schulwesens an die ‚Neue Ordnung‘ entwickelt hatte und ab November 1940 als Generalsekretär den staatlichen Zugriff auf das Netz an konfessionellen Schulen energisch 91 Seyß-Inquart, Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP [12. März 1941], 61 f. Ähnlich argumentierte er nach dem Krieg in seiner Denkschrift, Bl. 22. 92 Siehe die Bemerkungen von Stokman in Het verzet van de Nederlandsche bisschoppen, 54 f. Insgesamt wurden in den niederländischen Volks- und Mittelschulen 48 Direktoren entlassen, die als Geistliche der katholischen Kirche angehörten. Dem stand allerdings gegenüber, dass fast ebenso viele Geistliche in Schulleitungen verblieben. Siehe Knegtmans, Onderwijspacificatie in de Nieuwe Orde, 260. 93 VO 137/1941 vom 25. Juli 1941, in: VOBl. NL 1941, 559 f. 94 Vgl. Wielenga, Die Niederlande, 47. Siehe Art. 200 des niederländischen Grundgesetzes in der Fassung von 1938 nach De Boer/Sap, Constitutionele bronnen, 288 f. Zum vorangegangenen Schulstreit und seinem historischen Kontext siehe Margry/Te Velde, Contested rituals.

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vorantrieb,95 und auch innerhalb der NSB gab es zahlreiche Kräfte, die für eine Nazifizierung des einheimischen Schulwesens eintraten. Vergeblich wandte sich Erzbischof De Jong wiederholt an Seyß-Inquart mit der Warnung, die ergriffenen Maßnahmen würden aus Sicht des niederländischen Epis­kopats „die konstitutionell verbürgten Rechte von Priestern und Religiösen“ antasten, den „Schulfrieden“ im Lande stören und zu einem neuerlichen „Schulkampf“ führen.96 Einen allgemeinen Schulkampf hat es allerdings nicht gegeben.97 Denn die Besatzungsmacht war sich des Mobilisierungspotenzials bewusst, das die Bischöfe unter den Katholiken besaßen, und die Kirchenvertreter aller Konfessionen hatten allen Grund, das Repressionspotenzial der Besatzungsmacht in Rechnung zu stellen. Weder die Kirchen noch das Reichskommissariat hatten ein Interesse an einer konfrontativen Zuspitzung der Schulpolitik, Seyß-Inquart setzte eher auf eine allmähliche Zersetzung der konfessionellen Schulen und schrittweise Nazifizierung der staatlichen wie der kirchlichen Schulen. Noch weniger aber hat es einen Dialog zwischen Kirchen und Reichskommissariat gegeben. Die kirchlichen Proteste verhallten ohne Resonanz. Parallel zu den Bemühungen um eine Nazifizierung des niederländischen Schulwesens förderten der Reichskommissar und seine Behörde gezielt das deutsche Schulwesen in den Niederlanden. An anderer Stelle ist dargelegt worden, wie sehr sich Seyß-Inquart um die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten bzw. Reichsschulen in den Niederlanden gekümmert hat, um mit ihrer Hilfe innerhalb der deutschen, zum Teil auch der niederländischen Jugend eine nationalsozialistische Elite heranzuziehen.98 Dazu kam ein gezielter Ausbau der Deutschen Schulen im Land. Hatte es hiervon zu Beginn der Besatzungszeit nicht mehr als acht Einrichtungen gegeben, die von der Volksschule bis zur Oberschule reichten, gab es zwei Jahre später landesweit schon 50 Deutsche Schulen, in denen 10.000 Kinder von 160 deutschen Lehrkräften und 120 niederländischen Hilfslehrern nach nationalsozialistischen Maßstäben unterrichtet wurden.99 Der Ausbau des deutschen Schulwesens wurde dadurch gefördert, dass niederländischen Schülern schon im Sommer 1940 die Möglichkeit eröffnet wurde, der gesetzlich vorgeschriebenen Schulpflicht durch den Besuch einer deutschen Lehranstalt nachzukommen, die „der Aufsicht der zuständigen deutschen Behörde“ unterstand.100 Im Oktober desselben Jahres entzog Seyß-Inquart niederländischen Stellen jede weitere Mitwirkungsmöglichkeit, indem er die Deutschen Schulen seiner Aufsicht und Verwaltung unterstellte. Dies schloss jene Deutschen Schulen ein, die bisher von beiden Staaten gemeinschaftlich getragen 95 Vgl. Knegtmans, Jan van Dam, 1094 ff. 96 De Jong an Seyß-Inquart vom 19. und 24. März 1941, in: Stokman (Hrsg.), Het verzet van de Nederlandsche bisschoppen, Dok. 14 und 16, 192 f. bzw. 194–198. Zum Widerspruch gegen die staatlichen Eingriffe in die freien Schulen siehe auch De Pater, Het schoolverzet, Kap. II. Mit „Religiösen“ waren die Angehörigen von Ordensgemeinschaften gemeint. 97 Ähnlich Stokman in Het verzet van de Nederlandsche bisschoppen, 60. Louis de Jong meint demgegenüber von einem „neuen Schulstreit“ sprechen zu können (Het Koninkrijk, Bd. 5/1, 362). 98 Siehe hierzu oben, S. 156–162. 99 Zahlen nach: De Pater, Het schoolverzet, 166 f. 100 VO 122/1940 des Generalsekretärs für Unterricht, Künste und Wissenschaften Van Poelje vom 29. August 1940, § 1, in: VOBl. NL 1940, 390 f.

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Abb. 21: Seyß-Inquart (hinter dem Dienstwagen stehend) beim Besuch der Deutschen Schule in Heerlerheide am 22. November 1940.

worden waren. Mit Nachdruck wurden die niederländischen Behörden vom Reichskommissar aufgefordert, bei der Bereitstellung von Gebäuden und Baugrundstücken für den Ausbau des Netzes an Deutschen Schulen „größtmögliches Entgegenkommen“ an den Tag zu legen – plante er doch angesichts des beachtlichen Umfangs an deutschem Besatzungspersonal Neugründungen mit dem Ziel, dass „möglichst alle Kinder deutscher Eltern in den Niederlanden eine deutsche Schulbildung erhalten können“. Niederländische Lehrer mussten damit rechnen, über kurz oder lang aus dem Dienst an Deutschen Schulen entlassen zu werden. 101 Besonders in der Anfangszeit betonte Seyß-Inquart zwar, dass sowohl deutsche als auch niederländische Lehrkräfte dafür zu sorgen hätten, „dass die zukünftigen Generationen im gleichen Geist aus der Wurzel des gleichen germanischen Erbes weiter [sic] an dem begonnenen Werk arbeiten, um so das gewaltige Geschehen der Gegenwart in seinem Erfolg für alle Zeit zu sichern.“102 Doch er betonte, dass die Deutschen Schulen in erster Linie eine „deutsche Aufgabe“ zu erfüllen hätten. Niederländische Schüler waren hier nur dann zugelassen, wenn sie deutsche Vorfahren hatten und – wie es 1943 im Entwurf zu einer Rede des Reichskommissars hieß – „irgendwie unmittelbar zum Deutschen Reich hinstreben“, d. h. eine ausgepräg101 Rundschreiben des Reichskommissars vom 9. Oktober 1940, NIOD, 20/1795. 102 Zit. nach: Mitteilungen des Deutschen Nachrichtenbüros vom 16. Dezember 1940 (BArch, R 4902/1499). Siehe auch DZN vom selben Tag.

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te Sympathie für den Nationalsozialismus hegten. Deshalb war den Deutschen Schulen in zweiter Linie neben der deutschen auch eine „germanische Aufgabe“ gestellt – mussten sie doch „Vorspann des niederländischen Schulwesens sein“, d. h. mittel- und langfristig zur Nazifizierung der niederländischen Gesellschaft beitragen. Dabei sollte „das deutsche Schulprinzip“ mit seiner völkischen Verwurzelung als Maßstab dienen. Aus Seyß-Inquarts Sicht war dies notwendig, weil sich das als unvölkisch gebrandmarkte Schulwesen der Niederlande in den vergangenen hundert Jahren am „Westen und der Fremde“ orientiert und damit „die Wurzeln aus dem heimatlichen Germanien herausgezogen“ habe.103 Durch den demonstrativen Besuch Deutscher Schulen unterstrich der Reichskommissar die Bedeutung, die er diesen Einrichtungen in seinem ‚Herrschaftsbereich‘ beimaß.104 Und selbstverständlich besuchte seine Tochter Dorothea die Deutsche Schule in Den Haag.105 12.4 Seyß-Inquart und die reichsdeutsche Kulturpolitik – die Deutsche Akademie

Bei allem Engagement in den Niederlanden blieb es für Reichsminister Seyß-Inquart ein Anliegen, auch auf Reichsebene präsent zu sein. Auf dem Gebiet der Kulturpolitik bot sich ihm vor allem eine Chance, als nach dem Tod des bayerischen Ministerpräsidenten Ludwig Siebert (gest. 1. November 1942) der Posten des Präsidenten der Deutschen Akademie neu zu besetzen war. Mit der Umwandlung in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft durch einen Führer­ erlass vom November 1941 hatte diese 1925 gegründete Einrichtung „in erster Linie die Erforschung und Pflege der deutschen Sprache im Inlande und ihre Förderung und Verbreitung im Auslande“ zum Ziel.106 Hinter der harmlos klingenden Formulierung verbarg sich nichts anderes als die Mission, gestützt auf die hegemoniale Position des NS-Staates in Kontinentaleuropa nationalsozialistische Kulturpolitik zu propagieren. Die Entscheidung über einen neuen Akademiepräsidenten zog sich allerdings über ein Jahr lang hin. Erst am 7. Dezember 1943 wurde Seyß-Inquart, seit Oktober 1938 Ehrenmitglied der Akademie, von Hitler zu

103 Der vermutlich von Wimmer verfasste Entwurf zu Seyß-Inquarts Rede befindet sich in NIOD, 20/595, Hervorhebungen im Original. Ob der Reichskommissar die Rede am Abend des 6. Februar 1943 in der zitierten Form im Festsaal der Volksschule zu Den Haag gehalten hat, konnte nicht eruiert werden. Laut Arbeitsfolge der Hauptabteilung Erziehung und Kirchen des Generalkommissariats für Verwaltung und Justiz vom 21. Januar 1943 waren für diese Veranstaltung auch die Professoren Herbert Jankuhn, Walter von Stokar, Gerhard Kallen, Hans Kauffmann und Franz Petri als Referenten eingeplant (NIOD, 20/2227). 104 Siehe zum Beispiel DZN vom 22. Oktober und vom 7. Dezember 1940 zu Rotterdam bzw. Amsterdam sowie Algemeen Handelsblad vom 25. November 1940 mit Abb. 21 in diesem Buch zu Heerlerheide. 105 Telefonat mit Dorothea Seyß-Inquart vom 28. August 2009. Aus Sicherheitsgründen wurde die Schule später in das bei Herzogenbusch gelegene Kloster Sterksel verlegt. Weil in „Feindsendern“ das Gerücht verbreitet wurde, der Widerstand plane eine Entführung der Tochter des Reichskommissars, wurde dort für Dorothea der Wachdienst verstärkt; siehe das Schreiben des BdS vom 23. Juni 1943, NIOD, 77/1182. Vgl. auch die Falschmeldung in der Nationalzeitung (Basel) vom 5. Mai 1943 (BArch, ZSg. 117/1248). 106 RGBl. 1941/I, Bd. 1, 717 f. (15. November 1941). Zum Folgenden siehe auch Michels, Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut, 162–188.

12.4 Seyß-Inquart und die reichsdeutsche Kulturpolitik

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Sieberts Nachfolger ernannt.107 In sein Amt eingesetzt wurde er am 10. Februar 1944 durch Goebbels, dessen Ministerium die Aufsicht über die Deutsche Akademie führte. Der Grund für die beachtliche Verzögerung lag zum einen sicherlich darin, dass in dieser Kriegsphase die Deutsche Akademie und die Förderung deutscher Sprache für die Reichspolitik alles andere als vorrangig waren. Zum anderen war die Frage der Besetzung des Präsidentenpostens zwischen verschiedenen Reichsressorts, die mit Kultur- und Propagandapolitik befasst waren, umstritten; entsprechend zahlreich waren Alternativkandidaten. Rosenberg schlug Gauleiter Paul Giesler (München-Oberbayern) vor, der in Bayern Siebert als Ministerpräsident nachgefolgt war. Goebbels brachte Prof. Dr. Heinrich Hunke ins Spiel, einen Ministerialdirigenten seines Propagandaministeriums, stieß damit aber beim Auswärtigen Amt auf erbitterten Widerstand. Hier hatte man „entschiedene Bedenken“ gegen die Ernennung eines führenden Beamten von Goebbels’ Ministerium und schlug stattdessen den langjährigen Präsidenten der Reichsschrifttumskammer Hanns Johst oder „einen im Ausland bekannten Gelehrten“ vor wie den Münchener Historiker und Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Prof. Dr. Karl Alexander von Müller.108 Lammers und Bormann hielten Konstantin von Neurath für „die geeignetste Persönlichkeit“,109 während aus dem Kreis der Senatoren der Akademie heraus Anfang Dezember 1942 der ehemalige deutsche Botschafter in Italien, Ulrich von Hassell, als „allen anderen etwa in Frage kommenden Persönlichkeiten weitaus überlegener Kandidat“ favorisiert wurde.110 Die Nominierung eines konservativen Beamten, der übrigens insgeheim zum Kreisauer Kreis gehörte, hatte aber offensichtlich keinen Rückhalt unter den radikalen Nationalsozialisten des Hauses. Einige Wochen später behauptete jedenfalls der Vizepräsident der Akademie, Prof. Dr. Walther Wüst, in einem Telegramm an Hitler, der Senat habe einstimmig dafür plädiert, den ‚Führer‘ um die Ernennung von Reichsstatthalter Franz Ritter von Epp (Bayern) zum Präsidenten und von Reichsstatthalter Schirach (Wien) zu dessen Stellvertreter zu ersuchen.111 Wüst selber wiederum, der Rektor der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität und dank einer außergewöhnlichen Ämterhäufung einer der „wichtigsten Multifunktionäre im wissenschaftlichen Bereich des NS-Staates“ war,112 wurde von Dr. Karl Haushofer ins Spiel gebracht. Noch etli107 BArch, R 43 II/1232a, Bl. 192. Weitere Kandidaten, die von Goebbels ins Auge gefasst bzw. vorgeschlagen wurden, waren sein Staatssekretär Gutterer, der Bildhauer Arno Breker sowie die Industriellen Alfried Krupp von Bohlen und Halbach und Albert Vögler; siehe Michels, Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut, 164. Angesichts des recht engen Verhältnisses erstaunlich spät gratulierte Himmler Seyß-Inquart zur Ernennung: Erst am 26. Dezember 1943 schickte der Reichsführer-SS ein Gratulationstelegramm an den Reichskommissar (BArch, NS 19/836, Bl. 174). 108 Weizsäcker an Lammers vom 31. Dezember 1942, BArch, R 43 II/1232a, Bl. 164. Nach einem Aktenvermerk Lammers’ vom 26. Januar 1943 über einen Vortrag bei Hitler genoss SS-Gruppenführer Johst auch die Unterstützung von Himmler (ebd., Bl. 175). 109 Aktenvermerk Lammers’ vom 19. November 1942, ebd., Bl. 149. 110 Schreiben vom 4. Dezember 1942, ebd., Bl. 150. 111 Fernschreiben Wüsts an Hitler vom 23. Januar 1943, ebd., Bl. 171. Beide Kandidaten waren bereits Mitglieder des Senats der Deutschen Akademie. 112 Schreiber, Walther Wüst, 178. Die politischen Auseinandersetzungen um die Besetzung der Präsidentschaft der Deutschen Akademie fehlen hier ebenso wie ein Hinweis auf Wüsts Kandidatur. Schreiber weist je-

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Kapitel 12: Nationalsozialistische Kultur- und Wissenschaftspolitik

che andere nationalsozialistisch orientierte Personen wurden der Reichskanzlei benannt; unter den Bekanntesten waren Hans Frank und der Leiter der Kanzlei des ‚Führers‘, Reichsleiter Philipp Bouhler; beide wurden allerdings von Hitler „glatt abgelehnt“.113 Überhaupt konnte sich der ‚Führer‘ monatelang nicht zu einer Entscheidung durchringen. Nach langem Stillstand tauchte im Herbst 1943 erstmals Seyß-Inquarts Name in den Akten auf, und zwar als Kandidat Goebbels’. Dass nach Sieberts Tod fast ein Jahr vergangen war, ehe Seyß-Inquart als potenzieller Akademiepräsident benannt wurde, ist ein Beleg dafür, dass er für keinen der nationalsozialistischen Spitzenfunktionäre erste Wahl war. Er wurde vielmehr als ein Kompromisskandidat eingebracht, auf den sich alle in Frage kommenden Ressorts nach zähem Tauziehen und langem Stillstand einigen konnten. Entscheidend für seine Ernennung aber war, dass er Hitlers Zustimmung fand. So notierte Goebbels Ende Oktober zufrieden in seinem Tagebuch, der ‚Führer‘ sei mit diesem Vorschlag „sehr einverstanden“. Er selber gab sich überzeugt, Seyß-Inquart sei „die beste Lösung“, weil er „immerhin ein Mann von internationalem Ruf und großem Format [ist]“.114 Etwa sieben Wochen später wurde der Reichskommissar für die besetzten Niederlande von Hitler dann offiziell mit der Übernahme der Präsidentschaft betraut. Aus Sicht des NS-Regimes erwies sich Seyß-Inquart durchaus als ein erfolgreicher Präsident. Bereits wenige Monate nach seiner Amtseinführung kam die Reichskanzlei zu dem Ergebnis, die Deutsche Akademie befinde sich „in einem erfreulichen Aufstieg.“115 Schon die Budgetierung schien für ihn zu sprechen: Entsprechend einer Absprache mit dem Reichspropagandaministerium wurde der Haushalt der Akademie im ersten Jahr seiner Amtszeit um knapp ein Drittel erhöht; gegenüber 1942 kam es sogar zu einer Steigerung um mehr als das Doppelte.116 Auch in inhaltlicher Hinsicht bemühte sich Seyß-Inquart, von der Reichsspitze als ein erfolgversprechender Präsident wahrgenommen zu werden. So entsprachen seine Bestrebungen, die Deutsche Akademie ganz in den Dienst nationalsozialistischer Ideologie und doch nach, dass Seyß-Inquart sich dafür einsetzte, dass Wüst die Stellvertretung der Präsidentschaft behielt (ebd., 284 und 311 unter Bezugnahme auf Schreiben von Seyß-Inquart an Rust und ans Auswärtige Amt vom 23. Mai und 16. Juni 1944). 113 Aktennotiz von Lammers über Vortrag bei Hitler vom 26. Januar 1943, BArch, R 43 II/1232a, Bl. 175 f. 114 Zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 10, 190 (27. Oktober 1943); siehe auch ebd., 248 (7. November 1943). Michels spricht im Zusammenhang mit Seyß-Inquart von einer „Verlegenheitslösung“ (Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut, 165). Dass Goebbels in dem zitierten Tagebucheintrag das Wort „immerhin“ gebrauchte, dürfte darauf hindeuten, dass Seyß-Inquart auch für ihn nicht der in jeder Hinsicht ideale Kandidat war. 115 Aktenvermerk vom 23. Mai 1944, BArch, R 43 II/1232a, Bl. 200 unter Bezugnahme auf Seyß-Inquarts Tätigkeitsbericht vom 28. März, ebd., Bl. 198 f. 116 1942: 4.873.000 RM, 1943: 6.211.000 RM, 1944: 9.050.000 RM. Mit ihrem Budget übertraf die Deutsche Akademie 1944 den Gesamtetat der Preußischen Akademie für Wissenschaft um das 18-Fache! Siehe Fuhrmeister, Das Kunsthistorische Seminar der Universität München, 180. Abweichende Zahlen bei Schreiber, Walther Wüst, 204, Anm. 246; demnach standen der Deutschen Akademie 1944 sieben Millionen RM zur Verfügung. Dank der Budgetsteigerung, die angesichts der ungünstigen Kriegssituation als beachtlich gesehen werden muss, wuchs der Mitarbeiterstab der Akademie im In- und Ausland im Frühjahr 1944 auf rund 1.000 Personen; siehe Michels, Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut, 166.

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Kriegspolitik zu stellen, zweifellos den Vorstellungen der Reichs- und Parteiführung. In einem Zeitungsinterview leugnete der designierte Präsident zwar am Tag vor seiner Amtseinführung trotz der Unterstellung der Akademie unter Goebbels’ Ministerium, dass seine Tätigkeit der Propagierung nationalsozialistischer Ideologie gewidmet sei: „Die Deutsche Akademie ist kein Instrument für deutsche Propaganda im Ausland.“117 Wenig später jedoch redete Seyß-Inquart Klartext, als er dem Reichsfinanzminister mitteilte, dass die Aufgabe der Akademie unter seiner Präsidentschaft in der „Beeinflussung des politischen Vorfeldes im Ausland, aber auch in den wissenschaftlich tätigen Kreisen des Inlandes“ liege. Dabei achte er darauf, dass die Akademie „nach aussenhin den streng wissenschaftlichen Charakter bewahrt, um gerade dadurch unsere Mitarbeiter im Ausland in der subjektiven Unbefangenheit und daher inneren Aufgeschlossenheit zu erhalten.“118 Und den Senatoren erläuterte Seyß-Inquart, dass die Akademie sich nicht auf reinen Sprachunterricht beschränke, sondern über die Vermittlung der deutschen Sprache letztendlich eine politisch-propagandistische Funktion zu erfüllen habe – gehe es ihr doch „um eine Einführung in die gesamte deutsche Kultur auf dem Wege über die Sprache, um einen geistigen Brückenschlag vom fremden zum deutschen Volkstum und damit letztlich um eine Aufgabe von hoher politischer Verantwortung […].“119 Besonders die Antrittsrede, die Seyß-Inquart am 10. Februar 1944 in Anwesenheit von prominenten NS-Funktionären wie Goebbels, Franz Xaver Schwarz, Max Amann, Reichsarbeitsminister Franz Seldte und Gauleiter Giesler hielt, war vollkommen auf nationalsozialistische Ideologie und Propaganda ausgerichtet.120 In der Großen Aula der Münchener Universität band er den Kulturbegriff dezidiert an Wörter wie „Blut“, „Erbgut“, „Volkstum“, „Rasse“, „Boden“ und „Raum“ und schloss „deutschschreibende Juden“ wie namentlich Jakob Wassermann und Franz Werfel aus seinem Verständnis deutscher Kultur aus. Persönlichkeiten der deutschen Philosophie- und Literaturgeschichte hingegen wie Herder, Fichte, Kant, Lessing, Leibnitz, Hegel, Schiller und Goethe nahm er in Anspruch, um eine angebliche Überlegenheit deutscher Kultur zu behaupten. Seinem rassistisch konnotierten Kulturverständnis nach war das nationalsozialistische Deutschland berechtigt und aufgerufen, innerhalb Europas eine Vorbild- und Vorreiterfunktion einzunehmen, und der Kulturpolitik wies der neue Akademiepräsident in diesem Zusammenhang eine wichtige propagandistische Aufgabe zu. Im Zeichen des ‚totalen Krieges‘ hatten die Tätigkeiten der Deutschen Akademie für ihn sogar unmittelbar politische Relevanz: „Das Ansehen und die Werte deutscher Kulturschöpfungen müssen gerade jetzt besonders hervorgehoben werden, um der feindlichen,

117 Aus der Brüsseler Zeitung vom 9. Februar 1944, zit. nach: Fuhrmeister, Das Kunsthistorische Seminar der Universität München, 182. 118 Seyß-Inquart an Schwerin von Krosigk vom März 1944, aus BArch, R 2/4780, zit. nach: ebd. 119 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Vl. HA NL Schnee, H., 36, Bl. 25. 120 Seyß-Inquart, Antrittsrede des Präsidenten der Deutschen Akademie, passim. Die Ansprachen, die bei Seyß-Inquarts Amtseinführung gehalten worden sind, wurden nicht nur in einer Broschüre der Deutschen Akademie abgedruckt, sondern auch in der deutschen und niederländischen Presse breit wiedergegeben. Bereits am Vortag wurde der Inhalt von Seyß-Inquarts Antrittsrede der Presse zur Verfügung gestellt; siehe BArch, R 4902/1499.

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Kapitel 12: Nationalsozialistische Kultur- und Wissenschaftspolitik

vor allem jüdisch-bolschewistischen Kulturzersetzung und Entartung kraftvoll entgegentreten zu können.“ Es gelte, sowohl den „Amerikanismus“ als auch den „Bolschewismus“ mit alternativloser Radikalität zu bekämpfen, denn Seyß-Inquart gab sich überzeugt: „Heute ist der Verlierer der Vernichtete.“ Die Brutalität eines Weltanschauungskriegs und die Judenverfolgung fanden für Seyß-Inquart somit ihre Legitimität in der unterstellten Notwendigkeit, das „Abendland“ unter deutscher Führung gegen die verbündeten Alliierten aus Ost und West zu verteidigen. Es gehe jedoch nicht ausschließlich um Deutschland. Vielmehr sei Deutschlands Schicksal „das Schicksal Europas“, und Deutschland kämpfe „für die Freiheit des deutschen und europäischen Menschen“. Am Rande wies er zwar darauf hin, dass die Deutsche Akademie „auf die besondere Eigenart der Völker Rücksicht nehmen“ müsse, und die „europäische Gemeinschaft“ beruhe darauf, dass „jedem europäischen Volk […] die Freiheit gegeben [ist], nach seiner Art zu leben […].“ Seine kategorische Einbindung der Akademie in die weltanschauliche und militärische Auseinandersetzung mit den ‚Feindmächten‘ aber ließ keinerlei Zweifel daran, dass Seyß-Inquart letztlich deutscher Kultur, Politik und Kriegsführung eine hegemoniale Rolle innerhalb Europas zuwies. Und sein ganzes Wirken als Reichskommissar in den Niederlanden falsifizierte seine propagandistisch motivierte Aussage, das Großdeutsche Reich gewähre oder lasse jedem europäischen Volk die Freiheit, „nach seiner Art zu leben“. Zusammengenommen leistete Seyß-Inquart in seiner Antrittsrede als Akademiepräsident einen unmissverständlichen Beitrag zur Instrumentalisierung und Propagierung von Kultur zu politisch-militärischen Zwecken.121 Damit bewegte er sich im Rahmen der Ziele, die er vor seinem Amtsantritt mit dem Propagandaministerium abgesprochen hatte, und lag voll und ganz auf der Linie von Goebbels, der in seiner Ansprache auf der Einführungsfeier Sprache und Kultur als „Waffe im Kampf der Anschauungs- und Vorstellungswelten“ charakterisierte.122 Akademiemitarbeiter wie der Germanist Dr. Walter Kunze, der in einem Aufsatz über Die Spracharbeit der Deutschen Akademie Sprache als „einen berufenen Vorkämpfer für die neue Ordnung des europäischen Großraumes“ bezeichnete,123 versprachen, Seyß-Inquarts ideologisch-propagandistische Bestrebungen innerlich mitzutragen und in ihrer Arbeit umzusetzen. Seyß-Inquarts Tätigkeit als Präsident war von dem ambitionierten Wunsch getragen, die Deutsche Akademie mit Rückendeckung des Propagandaministers von einem bloßen Instrument der Sprachförderung zu einer „Zentralorganisation auswärtiger Kulturpolitik“ aufzuwerten, deren Arbeit sich nicht primär an breite Massen, sondern an die Eliten des Auslands wandte.124 Außerdem legte Seyß-Inquart Wert darauf, die Aktivitäten der Akademie stärker

121 Treffenderweise brachte der Arnhemsche Courant am 11. Februar 1944 die Mitteilung über die Einführungsveranstaltung unter der Überschrift Zum deutschen Schwert auch das deutsche Wort. 122 Goebbels, Ansprache, 21. In seinem Tagebuch bescheinigte der Propagandaminister Seyß-Inquart, eine „ausgezeichnete Rede“ gehalten zu haben, die „sicherlich im Ausland einen tiefen Eindruck machen“ werde (zit. nach: Fröhlich [Hrsg.], Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 11, 278 [11. Februar 1944]). 123 Aus dem Jahrbuch der deutschen Sprache von 1944, zit. nach: Jäger, Disziplinen-Erinnerung – Erinnerungs-Disziplin, 104, Anm. 158. 124 Michels, Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut, 167.

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wissenschaftlich zu untermauern und diese Einrichtung somit auf das Niveau einer wissenschaftlichen Akademie anzuheben. In dieser Ausrichtung allerdings legte sich Goebbels quer. In einem persönlichen Gespräch mit Seyß-Inquart kritisierte der Propagandaminister Ende April 1944, dass die Deutsche Akademie unter Seyß-Inquarts Präsidentschaft ihre Aktivitäten „zu sehr auf das Forschungsgebiet verlagert“ habe. Seiner Einschätzung nach gelang es ihm, Seyß-Inquart davon zu überzeugen, dass es nicht die Aufgabe der Akademie sein könne, eigenständige Forschungen durchzuführen, sondern die Ergebnisse von Forschungen, die an Universitäten und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen betrieben werde, „in der wirkungsvollsten und psychologisch geschicktesten Weise an die internationale Öffentlichkeit zu bringen.“125 Während also Seyß-Inquart der Deutschen Akademie eine wissenschaftliche Fundierung geben wollte, war Goebbels primär an einer propagandistischen Ausrichtung und entsprechenden Instrumentalisierung dieser Einrichtung interessiert. Dass in beiden Fällen die NS-Ideologie den Maßstab für die Arbeit der Akademie bildete, war unter den beiden Politikern natürlich unbestritten.126 Insgesamt ließ die anspruchsvolle politische Tätigkeit in den Niederlanden Seyß-Inquart kaum Zeit, sich am Tagesgeschäft der Deutschen Akademie aktiv zu beteiligen. Wie er im Frühjahr 1944 Reichserziehungsminister Rust mitteilte, überließ Seyß-Inquart die laufenden Geschäfte seinem Stellvertreter Wüst.127 Mit Wüst blieb er von Den Haag aus in Kontakt, etwa als er Ende März 1944 seinem Stellvertreter eine Zusammenarbeit mit dem Germanischen Forschungsinstitut in Den Haag vorschlug. In dem Bestreben, die Deutsche Akademie wissenschaftlich auszurichten, wies er einer solchen Kooperation die Aufgabe zu, im Sinne nationalsozialistischer Rassenideologie zu untersuchen, ob „eine Verschiedenheit zwischen den kontinental-germanischen Völkern und den atlantischen seegermanischen Völkern festzustellen ist.“ Dabei ging Seyß-Inquart von der als „Tatsache“ bezeichneten Betrachtung aus, „daß die Niederländer in der heutigen Auseinandersetzung, von ihrem Standpunkt aus, nicht so sehr den Kampf zwischen uns und dem Bolschewismus sehen, als einen Kampf zwischen uns als Mittel- oder Ostgermanen gegen die Engländer als Westgermanen […].“128 Mit anderen Worten: Vor dem Hintergrund einer alliierten Landung, die man nicht zu Unrecht befürchtete, sollte aus der Kooperation von Germanischem Forschungsinstitut und Deutscher Akademie mit pseudowissenschaftlichen Mitteln eine mentale Abwehr gegen Großbritannien 125 Zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 12, 189 (26. April 1944). 126 Auch in den folgenden Wochen blieb Goebbels kritisch gegenüber Seyß-Inquarts Amtsführung als Präsident der Deutschen Akademie. Am 22. Juni 1944 schrieb er sogar in sein Tagebuch, Seyß-Inquart komme ihm „etwas rebellisch“ vor (zit. nach: ebd., 512) – die Divergenzen in der Ausrichtung der Tätigkeiten der Akademie waren also offensichtlich nicht ausgeräumt, vermutlich hielt Seyß-Inquart an seinem Konzept einer wissenschaftlichen Ausrichtung der Deutschen Akademie fest. Wenig später aber konstatierte der Propagandaminister anlässlich einer neuerlichen Begegnung mit Seyß-Inquart ohne nähere Erläuterungen „eine absolute Übereinstimmung“ (zit. nach: ebd., Bd. 13, 114 [14. Juli 1944]). 127 Siehe Jäger, Disziplinen-Erinnerung – Erinnerungs-Disziplin, 103, Anm. 184 unter Bezugnahme auf ein Schreiben Seyß-Inquarts an Rust vom 9. Mai 1944. 128 Seyß-Inquart an Wüst vom 29. März 1944, NIOD, 20/616. Vgl. auch Seyß-Inquart an Wimmer vom 6. April 1944, ebd.

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Kapitel 12: Nationalsozialistische Kultur- und Wissenschaftspolitik

hervorgehen. Weil aber das Germanische Forschungsinstitut – wie oben erwähnt – kaum jemals wissenschaftlich tätig geworden ist, ist aus diesem Projekt nichts geworden. Obwohl sich Seyß-Inquart persönlich kaum um die Deutsche Akademie kümmern konnte, war die Übernahme der Präsidentschaft für ihn eine Gelegenheit, über die Niederlande hinaus Kulturpolitik zu betreiben. In seiner Antrittsrede machte er deutlich, dass er für alle deutsch beherrschten Gebiete am Anspruch des Großdeutschen Reiches auf kulturelle, politische und militärische Hegemonie in Kontinentaleuropa unbeirrt festhielt. Damit befand er sich in Übereinstimmung mit der gesamten Reichsführung, die den ‚totalen Krieg‘ bis zum ‚Endsieg‘ durchfechten wollte. Vor diesem Hintergrund empfahl sich Seyß-Inquart über die Deutsche Akademie für eine mögliche weitere Karriere auf Reichsebene.

Kapitel 13:

Exkurs: ‚Europa‘, ‚Abendland‘ und reichspolitische Ambitionen

Seine Führungstätigkeit in der Deutschen Akademie und im Alpenverein1 sind Belege dafür, dass Seyß-Inquart auch nach der Ernennung zum Reichskommissar Wert darauf legte, ungeachtet seiner vielfältigen Aufgaben in den Niederlanden weiterhin im Deutschen Reich verankert zu sein und dort wahrgenommen zu werden. An manchen Punkten ist deutlich geworden, dass er seine Amtsführung in den Niederlanden als vorbildlich für das Reich, für andere besetzte Gebiete oder gar für den gesamten deutschen Einflussbereich gesehen wissen wollte, und die erwähnte Mitwirkung an jener Intrige, die 1943 zum Sturz von Frick als Innenminister führte, zeigt, dass er auch hinter den Kulissen gerne einen Fuß in der Reichspolitik hatte. In Deutschland wiederum stießen Seyß-Inquarts reichspolitische Ambitionen auf offene Ohren. Von Hitler wurde der Reichskommissar zeitweilig als Kandidat für die Stelle eines Gauleiters von München-Oberbayern angesehen. Auch wenn die Gespräche, die der ‚Führer‘ hierüber mit ihm führte, letztlich im Sande verliefen, zog Hitler nur wenige Tage nach der Niederschlagung des April-Mai-Streiks eine Berufung Seyß-Inquarts in das Reich in Erwägung, weil er beeindruckt war, wie sein Statthalter in Den Haag es bewerkstelligt hatte, „teils mit Elastizität, teils aber auch mit Härte“ mit den Niederlanden „fertig zu werden“.2 Seyß-Inquart war auch ein gern gesehener Redner auf Zusammenkünften hochrangiger Vertreter der Staats- und Parteiführung. So zählte er beispielsweise neben Himmler, Ley und anderen führenden Parteigenossen zu den Referenten, die für den 10. Dezember 1940 zu einer Tagung der Reichs- und Gauleiter in Berlin eingeladen waren.3 Und im Oktober 1943 gehörte er neben Hitler, Goebbels, Himmler, Rosenberg, Keitel und anderen führenden Nationalsozialisten zu den ausgewählten Funktionären, die sich vor dem Hintergrund der ungünstig verlaufenden militärischen Entwicklung auf einer ‚Befehlshabertagung‘ in Bad Schachen über die Zukunft des Nationalsozialismus, des Großdeutschen Reiches und des 1 2

3

Vgl. hierzu Koll, Aufbau der „Volksgemeinschaft“, 144 f. So die Wiedergabe durch Goebbels in dessen Tagebucheintrag vom 9. Mai 1943, zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 8, 249. Laut ebd. zog Hitler Seyß-Inquart als „den überlegenen Taktiker“ Terboven vor, dessen „Holzhackermethoden“ für den Gauleiterposten weniger vorteilhaft wären. Siehe Fernschreiben Bormanns an Rosenberg vom 6. Dezember 1940, in: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 2, Dok. 25068.

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Kapitel 13: Exkurs: ‚Europa‘, ‚Abendland‘ und reichspolitische Ambitionen

europäischen Kontinents auslassen durften.4 Dazu kamen repräsentative Verpflichtungen, die der Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete im Zusammenhang mit seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ von Amts wegen im Namen des Reiches wahrnahm. Hierzu gehörte, dass er am 9. Juni 1941 als „Vertreter des Führers und des Reiches“ an der Beisetzung des früheren deutschen Kaisers Wilhelm II. teilnahm, der seit 1920 in Haus Doorn (Provinz Utrecht) gelebt hatte.5 Und im Sommer 1943 war es seine Aufgabe, im Namen Hitlers auf den Trauerfeierlichkeiten für den tödlich verunglückten Generalkommissar Fritz Schmidt im Schloss von Münster eine Ansprache zu halten und am Sarg einen Kranz niederzulegen.6 Reichspolitisches Engagement kommt vor allem in einer Reihe von Initiativen und Stellungnahmen zum Ausdruck, die Seyß-Inquart in der ‚niederländischen Periode‘ seiner Laufbahn entwickelt hat. Dazu gehört der Vorstoß, den deutschsprachigen Teil der Schweiz – mehr oder weniger nach dem Vorbild der Ostmark – für einen Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland zu gewinnen. Erste Schritte hatte Seyß-Inquart schon im Dezember 1939 unternommen. Kurz nach Weihnachten bedankte sich Himmler dafür, dass Seyß-Inquart ihm einen „recht interessanten Bericht über die Schweiz“ zugeschickt hatte. Der Bericht enthalte zwar „eine ganze Anzahl sehr richtiger Erkenntnisse“, wie Himmler hinzufügte, für deren Propagierung aber sei der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen.7 Obwohl sich der Reichsführer-SS im Hinblick auf eine Annektierung von Teilen der neutralen Schweiz erkennbar zurückhaltend verhielt, ließ Seyß-Inquart nicht locker. Sowohl von Krakau als auch von Den Haag aus leitete er an Himmler, Bormann und Göring weiterhin Berichte und Denkschriften weiter, die ihm der aus Österreich stammende Rechtsanwalt Dr. Joseph Franz Barwirsch zugespielt hatte. Stets bedankte sich Himmler artig und wies in höflicher Routine darauf hin, dass er die Unterlagen mit Interesse gelesen habe.8 Weitere Aktivitäten, die auf der Grundlage von Barwirschs Berichten zu einem Anschluss Schweizer Kantone an das Großdeutsche Reich hätten führen können, scheint aber weder er noch einer der anderen Adressaten aus dem Kreis der Reichsführung unternommen zu haben. Warum sich Seyß-Inquart über mehrere Monate hinweg ohne Aussicht auf Erfolg für eine Initiative stark machte, die jenseits rhetorischer Floskeln keine positive Reaktion, geschweige denn Interesse unter führenden NS-Funktionären zu wecken vermochte, ist nicht eindeutig zu beantworten. Höchst unwahrscheinlich ist, dass er für sich selber die Option eröffnen wollte, in angeschlos4 5

6 7 8

Vgl. Seyß-Inquart, Unsere Aufgabe. Siehe die entsprechende Anordnung Keitels vom 31. Mai 1941, BArch, R 43 II/675a, Bl. 14. Zur Beisetzung Wilhelms II. siehe Domarus (Hrsg.), Hitler, Bd. 4, 1723 sowie den Ausschnitt aus dem melodramatischen Bericht auf Polygoon Hollands Nieuws vom 9. Juni 1941, abrufbar unter http://www.geschiedenis24.nl/speler.program.7063271.html [Zugriff: 23. Dezember 2014]. Vgl. DZN sowie National-Zeitung (Essen) vom 3. Juli 1943 (BArch, ZSg. 103/5519) und Frankfurter Zeitung vom 4. Juli 1943. Vorher hatte Seyß-Inquart einer Trauerfeier für Schmidt in Den Haag beigewohnt; siehe Het Nationale Dagblad vom 30. Juli 1943 (NIOD, KA I 3409). Himmler an Seyß-Inquart vom 28. Dezember 1939, DÖW, 23042/1. Seyß-Inquart an Himmler vom 27. April 1940 und vom 21. Mai 1941 (BArch, NS 19/836, Bl. 126 bzw. 147) mit Himmlers Antwortschreiben vom 3. Mai 1940 und 30. Mai 1941 (ebd., Bl. 127 bzw. 126). Zu dem Schriftverkehr siehe auch Huf an das IfZ vom 1. Dezember 1977 (DÖW, 23042/1).

Kapitel 13: Exkurs: ‚Europa‘, ‚Abendland‘ und reichspolitische Ambitionen

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senen Schweizer Kantonen das Amt eines Reichsstatthalters zu übernehmen – hatte er doch als Reichskommissar in den Niederlanden vermutlich eine höhere, prestigeträchtigere und einflussreichere Position inne. Wollte er für Barwirsch, den er 1939 über Vermittlung von Dr. Ernst Hoffmann kennengelernt hatte, mit dem er sich mehrfach traf und von dem er auch mit geheimdienstlichen Informationen etwa über die Truppenstärke und die Verteidigungsstellung der Schweizer Armee versorgt wurde, den Posten eines deutsch-schweizerischen Gauleiters schaffen?9 Oder ging es ihm darum, sich bei der Reichsführung mit außenpolitischen Vorschlägen ins Gespräch zu bringen, die von seiner großdeutschen Gesinnung Zeugnis ablegten und seine Erfahrungen als Fachmann für Anschlüsse deutschsprachiger Gebiete in Erinnerung brachten? Immerhin wurde er vorsichtiger, nachdem er im Mai 1941 über das Auswärtige Amt informiert worden war, dass Barwirsch als unsicherer Kantonist betrachtet wurde, der möglicherweise mit dem britischen Geheimdienst in Verbindung stehe. Er bat sogar Heydrich, die Gerüchte über Barwirsch zu überprüfen. Danach jedenfalls scheint er Himmler nicht mehr mit Schweizplänen seines Gewährsmanns belästigt zu haben. Dafür legte er dem Reichsführer-SS im Januar 1943 ein bizarres Dokument vor, das offenkundig zur Weiterleitung an Hitler gedacht war: „Gedanken über die militärische Lage und die Zweckmässigkeit der weiteren Aktionen“, die aus militärischer Sicht meilenweit von der damaligen Realität entfernt waren.10 Angesichts des Debakels der deutschen Armee bei Stalingrad war schon Seyß-Inquarts Einschätzung absurd, die Sowjetunion werde „in absehbarer Zeit nicht mehr über den entsprechenden Menschenersatz für die Kriegsführung“ verfügen. Völlig realitätsfern war auch seine Überzeugung, dass Deutschland die Möglichkeit zu einer „Niederwerfung der bolschewikischen Militärmacht“ habe und zugleich das Potenzial besitze, mit einer begrenzten Anzahl an Divisionen „die Engländer und Amerikaner aus Französisch[-]Nordafrika hinauszuwerfen.“ Seyß-Inquart erachtete es nicht einmal für ausgeschlossen, „sowohl auf dem bolschewistischen Kriegsschauplatz als auch in Vorderasien und Ägypten methodisch alle Widerstände niederkämpfen zu können.“ Im Anschluss an einen Sieg in Nordafrika hielt er sogar ein Ausscheiden der USA aus dem Weltkrieg für denkbar, weil man dort die Aussichtslosigkeit eines Landungsmanövers an der Westküste einsehen wer-

9

Zu Barwirsch und seiner Verbindung zu Seyß-Inquart siehe Bundschuh, „Gau Schweiz – Anschluss erwünscht“, der sich auf Akten des Schweizerischen Bundesarchivs stützt. Siehe auch die Angaben im Beweisantrag des Rechtsanwalts Dr. Hans Perner vom 10. August 1979, DÖW, 23042/1. Barwirsch wandte sich mit seinen Vorschlägen auch an führende SS-Offiziere wie Kaltenbrunner, Walter Schellenberg und Gestapo-Chef Heinrich Müller. Im Dezember 1946 wurde er in Chur bei einem Hochverratsprozess zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt, nutzte aber 1954 einen Zahnarztbesuch, um sich nach Österreich abzusetzen. Siehe Neue Zürcher Zeitung vom 27. Juni 1975 (Wienbibliothek im Rathaus, Tagblattarchiv, TP 2448). Übrigens wurde das RSHA auch von anderen intriganten Nationalsozialisten mit Vorschlägen bedacht, zumindest die deutschsprachigen Teile der Schweiz zu annektieren. Siehe Black, Ernst Kaltenbrunner, Vasall Himmlers, 135 f. 10 Seyß-Inquart an Himmler vom 19. Januar 1943, BArch, NS 19/836, Bl. 156-162, hier zit. nach der Ausgabe In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 300, 921-923. Der Brief war auf einer Schreibmaschine mit extra großen Buchstaben getippt worden, wie sie Seyß-Inquart in der Regel für Briefe an den kurzsichtigen Hitler verwendete (ebd., Anm. a, 921).

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de. In diesem Punkt liegt die einzige Botschaft begründet, die in sachlicher Hinsicht ernst genommen werden konnte: Offenbar wollte Seyß-Inquart sein eigenes ‚Herrschaftsgebiet‘ durch den Vorschlag geschützt wissen, dass das Deutsche Reich zwar kurzfristig den Krieg gegen die Sowjetunion zur „Stabilisierung der Abwehrfront im Osten“ führe, den Schwerpunkt der militärischen Operationen aber auf die Fronten in Afrika und Westeuropa legen solle, dadurch letztlich Amerika aus dem Krieg drängen würde und nach einem Sieg in Afrika und im Westen in der Lage sein werde, „den Bolschewismus solange zu bekämpfen, bis er zusammenbricht“. Die Entwicklung eines solchen Szenarios kann durchaus von der Angst des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete vor einer Landung der westlichen Alliierten an der Atlantik- oder Nordseeküste getrieben gewesen sein. Es kann ihm aber auch darum gegangen sein, durch die Zeichnung eines ausgesprochen optimistischen Bildes Hitler nach dem Mund zu reden. Wollte er sich mit der Verbreitung von Siegeszuversicht beim ‚Führer‘ entgegen aller strategischen Vernunft einschmeicheln? Möglicherweise standen für ihn eher psychologische Momente im Vordergrund als eine nüchterne Betrachtung der gegebenen Situation, wenn er sich in der extrem kritischen Lage vom Jahresbeginn 1943 im Stil eines Politschranzen an den ‚Führer‘ wandte. Er selber konzedierte, sein Elaborat sei „vielleicht […] unsinnig und steht mit den tatsächlichen Verhältnissen im Widerspruch“. Wie bei seinem ‚Bewerbungsbrief‘ an Himmler vom 10. Mai 194011 sorgte er jedenfalls dafür, dass er sich in einer sensiblen historischen Situation auf Reichsebene ins Gespräch brachte. In beiden Fällen benutzte er den Reichsführer-SS als Mittler zu Hitler, und in beiden Fällen war der Wortlaut nicht dazu angetan, vom Adressaten in sachlicher Hinsicht für bare Münze genommen zu werden. Auffallend ist, dass das bizarre Schreiben vom Januar 1943 trotz seiner gravierenden Realitätsferne Seyß-Inquarts weiterer Karriere nicht geschadet hat. Es verschaffte ihm zwar diesmal keine neue Stelle. Es führte aber auch nicht dazu, dass er auf Reichsebene nicht mehr ernst genommen wurde. Offenbar hatte er wieder einmal beim ‚Führer‘ den richtigen Ton getroffen. Dies scheint auch für seine Gedanken zur Lage zu gelten, die wohl im Frühjahr 1944 Hitler erreichten12 und trotz inhaltlicher Abweichungen dieselbe Grundtendenz aufweisen: die Zuversicht, dass die deutschen Truppen sich durchsetzen würden, dass weder die „Ostvölker“ noch Briten und Amerikaner in der Lage seien, sich gegen Deutschland zu behaupten, und dass die Aussicht bestünde, die Westmächte aus dem Krieg hinauszudrängen. Diese Denkschrift war nicht nur ebenso unrealistisch wie der Brief an Himmler vom Januar 1943, sondern auch in sich widersprüchlich: Einerseits forderte Seyß-Inquart, „daß der Kampf durchgestanden werden muß und ein Gedanke an ein Nachgeben gar nicht in Frage kommt, wie immer sich auch die Lage an den Fronten entwickeln sollte.“ Andererseits plädierte er dafür, zur Entlastung des Kampfes gegen die Westmächte mit der Sowjetunion ein Abkommen zu schließen. Auch eine „Verständigungsmöglichkeit“ mit den Westmächten wollte er nicht aus11 Siehe oben, S. 111–113. 12 Darauf deutet Bormanns handschriftlicher Vermerk auf der Vakatseite hin, er habe die Niederschrift am 21. Mai 1944 von Hitlers Chefadjutanten Julius Schaub zurückerhalten. Die Zitate aus dieser Denkschrift stammen aus IfZ, ED 18, Bd. 1.

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schließen und regte sogar an, zum Status Quo des April 1940 zurückzukehren – also die unmittelbare Herrschaft über die seitdem eroberten Beneluxländer und Frankreich, Norwegen und Griechenland aufzugeben. Die Gedanken zur Lage fanden zwar keinerlei Eingang in die strategischen Überlegungen von Reichs- oder Wehrmachtsführung, das Manuskript wurde von Bormann stillschweigend zur Ablage an das Hauptarchiv der NSDAP weitergeleitet und dadurch unauffällig ‚beerdigt‘. Aber weder die Realitätsferne noch die inneren Widersprüche dieser Denkschrift oder die Tatsache, dass die Bereitschaft zu einem Waffenstillstand mit einer der ‚Feindmächte‘ Hitlers kompromissloser Linie zuwiderlief, haben nachweisbar Seyß-Inquarts Ansehen bei der Reichsführung geschadet, geschweige denn seine Karriere beeinträchtigt. Neben abstrusen strategischen Überlegungen behandelte Seyß-Inquart in seinen Gedanken zur Lage ein Thema, dem er sich auch in zahlreichen öffentlichen Reden und publizierten Artikeln intensiv gewidmet hat: die Entwicklung einer genuin nationalsozialistischen Vorstellung von ‚Europa‘ und ‚Abendland‘. Als politisches Fernziel, als „Generalidee“ des Großdeutschen Reiches bestimmte er die „Einigung Europas bis zum Ural“. In völligem Gegensatz zum Vernichtungs- und Weltanschauungskrieg, den das NS-Regime seit Jahren durchführte und dessen wahren Charakter Seyß-Inquart an anderer Stelle sehr wohl betonte,13 behauptete er in den Gedanken zur Lage, dass es nicht darum gehe, „große Räume durch Vernichtung der Völker zu erobern, sondern die Völker und Länder Europas zu einer organischen Gemeinschaft zu vereinigen“. Wie in seiner Antrittsrede als Präsident der Deutschen Akademie setzte er den „Existenzkampf Deutschlands“ mit dem „Kampf um Europas Erhaltung“ gleich, und hieraus wiederum leitete er „die Rechtfertigung für jedwede Maßnahme“ ab, „die notwendig ist, diesen Erfolg zu erreichen“. Dass Seyß-Inquart solche Gedanken in geheimen Memoranden wie auch in der Öffentlichkeit immer wieder artikulierte, deutet darauf hin, dass seine Beiträge zur Gestaltung einer kontinentaleuropäischen Großraumordnung unter Führung des Großdeutschen Reiches zu seinem Bestreben gehörten, sich auf Reichsebene zu profilieren. Mit seinen europapolitischen Stellungnahmen beteiligte er sich an einem Diskurs, der von NS-Politikern, aber auch von regimenahen Intellektuellen und Publizisten gepflegt wurde.14 Auch vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Seyß-Inquart gelegentlich europapolitische Vorstellungen entworfen. Nach dem Anschluss des Sudetenlandes beispielsweise hatte er die Deutschen als „das Volk der europäischen Mitte“ bestimmt, „das den Westen Europas verteidigt“, weil kein Volk bei der Abwehr von Mongolen, Magyaren, Türken und der „russischen Dampfwalze“ „mehr Blutopfer für Europa und das Abendland gebracht“ habe als die Deutschen, und sie seien es gewesen, „die den Ansturm der Bolschewiken auf die abendländische Gesinnung“ zurückgeschlagen hätten.15 Doch mit der Übernahme des Reichskommissariats 13 So dozierte Seyß-Inquart am 14. Juli 1944 vor HJ-Führern, dass das „Zusammentreffen der Rassen und Weltanschauungen […] die Unerbittlichkeit des Krieges ergibt, der damit ein Vernichtungskrieg wird.“ (Worum es geht, 8) 14 Allgemein hierzu: Elvert, Mitteleuropa!, ab 219, Neulen, Europa und das 3. Reich, Kletzin, Europa aus Rasse und Raum sowie Mazower, Hitler’s Empire, Kap. 17. Siehe auch Longerich, Propagandisten im Krieg, Kap. A.III. 15 Hieraus leitete der damalige Reichsstatthalter den „unabdingbaren Anspruch“ ab, „die Ordnung des uns

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in den Niederlanden nahm Seyß-Inquarts Beschäftigung mit dem ‚Europa‘-Thema an Umfang und Intensität deutlich zu. Als eine mittel- bis langfristige Zielorientierung trat es bei ihm wie bei vielen anderen Nationalsozialisten in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit der territorialen Expansion Deutschlands im Zweiten Weltkrieg an die Stelle der Errichtung eines Großdeutschen Reiches, das mit den Anschlüssen von deutschsprachigen Gebieten in den Jahren 1938/39 erreicht worden war. Wie Mark Mazower zutreffend festgestellt hat, ging es für das NS-Regime nun nicht mehr um das Recht auf nationale Selbstbestimmung und eine Revision der Versailler Ordnung auf der Grundlage von ‚völkischen‘ Prinzipien. Seit der Zerschlagung der Tschechoslowakei und insbesondere seit dem Überfall auf Polen ging es vielmehr um die Legitimierung der unerbittlichen Jagd nach ‚Lebensraum‘ und um die propagandistische Begründung der Herrschaft über nichtdeutsche Bevölkerungen.16 Schon eine bloße Auswahl an Quellen lässt erkennen, dass Seyß-Inquart am nationalsozialistischen Europadiskurs aktiv teilgenommen hat. Dabei ist eine Entwicklung zu erkennen, die sich den politischen Ereignissen anpasste. Anfangs betonte Seyß-Inquart, dass das niederländische Volk aufgerufen sei, als „gleichberechtigter höchst leistungsfähiger Partner“ am Aufbau einer nationalsozialistischen Ordnung in Europa mitzuarbeiten,17 und im Sinne seiner ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ tat er so, als wenn die Besatzungsmacht den Niederländern die Möglichkeit zu einer freien Entscheidung lassen würde und sich selbst auf die Beobachtung beschränken wolle, wie sich die einheimische Bevölkerung zum „großeuropäischen Raum“ verhalten werde; davon werde es „wesentlich abhängen, welchen Platz und welche Bedeutung das Schicksal in Zukunft den Niederlanden einräumen wird.“ Außerdem versuchte er in den ersten Monaten seiner Amtstätigkeit in Den Haag, das „neue Europa“ durch die Aussicht schmackhaft zu machen, dass Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen auf der Grundlage von „solidarischer Zusammenarbeit aller“ der Vergangenheit angehören würden, ja dass sich nach der Beseitigung von „national-wirtschaftlichen Hemmungen“ ein „rasch heraufkommender Wohlstand“ einstellen werde. Seyß-Inquart gab sich überzeugt, dass diese Entwicklung „den europäischen Völkern, nicht zuletzt den zahlenmäßig kleinen, die größten Möglichkeiten für ihre technischen, wirtschaftlichen und verkehrsmäßigen Leistungen“ eröffne.18 Seit dem Überfall auf die Sowjetunion stellte Seyß-Inquart Abwehr und Bekämpfung ‚des Bolschewismus‘ in den Vordergrund der Aufgaben, die ‚Europa‘ unter der Führung von Hitlers Großdeutschem Reich zu lösen habe. Bei dem Kampf „gegen den bolschewistischen Osten“ ging es ihm zufolge um „einen biologischen wie ideologischen Daseinskampf, in dem gegebenen Lebensraumes zu übernehmen zum Wohle Aller, die guten Willens innerhalb desselben leben wollen.“ Aus dem Manuskript zu der Ansprache, die Seyß-Inquart am 29. November 1938 im ehemals mährischen Troppau/Opava gehalten hat (Bl. 6 f., BArch, N 1180/62). Eine gekürzte Zusammenfassung findet sich in dem Artikel Es gilt, das ewige Deutschland zu bauen. Dr. Seyß-Inquart bei der Kundgebung in Troppau, in: Neue Freie Presse vom 30. November 1938. 16 Mazower, Hitler’s Empire, 53 f. 17 Seyß-Inquart, Versammlung der AO der NSDAP, 27. 18 Ebd., 29 f. und 26.

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Abb. 22: Am 27. Juni 1941 rief der Reichskommissar die niederländische Bevölkerung auf dem Amsterdamer Museumplein zur „kämpferischen Behauptung unseres abendländischen, also europäischen Geistes“ an der Seite Deutschlands auf.

das deutsche Volk seine geschichtliche Sendung, immer der Wall gegen den Osten zu sein, wieder zu bewähren hat.“19 Für Seyß-Inquart stellte dieser Kampf sogar eine Gelegenheit dar, die angeblich ohnehin vorhandene ethnische Bindung zwischen Deutschen und Niederländern zu festigen. Denn seit seiner Rede vom 27. Juni 1941 auf dem Amsterdamer Museumplein, die von der National-Zeitung als „ein Bekenntnis zum europäischen Freiheitskampf gegen den bolschewistischen Weltfeind“ gefeiert wurde,20 rief der Reichskommissar die niederländische Bevölkerung immer wieder dazu auf, sich zur Verteidigung des ‚Abendlandes‘ an der Seite Deutschlands am Krieg gegen die Sowjetunion zu beteiligen. Bemerkenswert ist, dass sich sein Begriff von Bolschewismus weder explizit an den Kollektivierungen festmachte, die die KPdSU seit der Oktoberrevolution mit aller Gewalt durchgesetzt hatte, noch an den ‚Säuberungen‘, mit denen Stalin im Laufe der Dreißigerjahre sein Terrorregime etabliert hatte. Dabei hätte es vor dem Hintergrund der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der traditionell liberalen Gesellschaftsordnung der Niederlande nahegelegen, zu versuchen, die Bevölkerung gegen die umfassende Sozialisierung von Privateigentum und das totalitäre Willkürregime des sowjetischen Diktators zu gewinnen. Stattdessen lud Seyß-Inquart den 19 Seyß-Inquart, Worum es geht, 19. 20 National-Zeitung (Essen) vom 29. Juni 1941 (NIOD, KA I 3411). Zu dieser Rede siehe oben, S. 88 f.

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Bolschewismus-Begriff mit einem diffusen ethnischen Gehalt auf: In einer Zeit, in der es „um die kämpferische Behauptung unseres abendländischen, also europäischen Geistes“ gehe, befinde man sich „in einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod mit einem Bolschewismus, der nicht mehr eine Abart des uns geläufigen und von uns überwundenen Marxismus oder Kommunismus, sondern die Lebensform der innerasiatischen Massen ist, die durch den sie beherrschenden Steppengeist ohne Gestaltung der Einzelpersönlichkeiten in kaum faßbaren Energien vor allem immer wieder gegen ihre westlichen Nachbarn getrieben werden.“21 In der oft bemühten, kuriosen Vokabel vom „Steppenerlebnis“ verschmolzen für ihn die „slawisch-mongoloiden Völker“ mit „dem Bolschewismus“ und „den Juden“ zu einer als unheilvoll wahrgenommenen Trias, die es zu bekämpfen gelte.22 Es sei das Verdienst des ‚Führers‘ und der NSDAP, die Ausbreitung dieses Phänomens verhindert zu haben; auf diese Weise habe sich das NS-Regime, wie Seyß-Inquart anlässlich von Hitlers 54. Geburtstag in Heerlen ausführte, die Verteidigung des „europäischen Abendlandes“ zu eigen gemacht.23 Welche Folgen eine Niederlage im Kampf gegen den ‚Bolschewismus‘ unweigerlich nach sich ziehen würde, führte Seyß-Inquart auf der erwähnten ‚Befehlshabertagung‘ in Bad Schachen aus: Würde Deutschland den Krieg gegen die Sowjetunion verlieren, bedeutete dies „das Ende Europas, das Ende der europäischen, das Ende der abendländischen Kultur.“ Von hier aus fand der ‚totale Krieg‘ für Seyß-Inquart und den illustren Kreis seiner Zuhörer seine existenzielle Berechtigung.24 Nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten kam zur Abwehr des ‚Bolschewismus‘ der Kampf gegen ‚den Amerikanismus‘ hinzu. Seyß-Inquart ließ es sich nicht nehmen, auch die multiethnischen USA mit einer ‚völkischen‘ Definition zu überziehen. Demnach lebe jenseits des Atlantischen Ozeans „ein Mischvolk unorganischer Art […] mit starkem jüdischen und ne­ groiden Einschlag.“25 Im Kern aber stand der Begriff ‚Amerikanismus‘ bei Seyß-Inquart für eine fundamentale Kritik an einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die dem Individualismus anstelle der ‚Volksgemeinschaft‘ verpflichtet sei. In diesem Sinn verleumdete Seyß-Inquart die USA als „Reinkultur des Großkapitalismus“ und „Mitspieler des Bolschewismus“. In dieser Eigenschaft schickten sich die USA an, „ebenfalls über Europa hereinzubrechen“,26 sie wurden von Seyß-Inquart als ebenso „europafeindlich“ eingestuft wie die Sow­ jetunion.27 Durch die Unterstellung, dass sowohl die USA als auch die Sowjetunion von Juden beherrscht seien,28 ließ sich der Krieg gegen Ost und West mit Antisemitismus amalgamieren. 21 Seyß-Inquart, Zum Geleit [Westland]. 22 Seyß-Inquart, Unsere Aufgabe, 15. 23 Seyß-Inquart, Zu Führers Geburtstag 1943, 155. 24 Seyß-Inquart, Unsere Aufgabe, 16. Fast wörtliche Wiedergabe in: Ders., Antrittsrede des Präsidenten der Deutschen Akademie, 40. Zu der ‚Befehlshabertagung‘ am Bodensee siehe auch die Zusammenfassung der dort gehaltenen Vorträge in IfZ, ED 34. 25 Seyß-Inquart, Unsere Aufgabe, 17. Ähnlich Ders., Zum 9. November, 190. 26 Aus Seyß-Inquarts Rede auf dem 11. Jahrestag der NSB, zit. nach DAZ vom 15. Dezember 1942. 27 Seyß-Inquart, Antrittsrede des Präsidenten der Deutschen Akademie, 41 f. 28 Siehe auch seine Ausführungen am 1. August 1943 in Weert, in: Seyß-Inquart, Zur Vereidigung der Niederländischen Landwacht, 167.

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Angesichts einer so konstruierten Frontstellung kamen Europa und Deutschland nicht nur geografisch, sondern auch politisch in der Mitte zwischen Ost und West zu stehen. Im Grunde war eine solche Positionierung nicht neu: In der Zwischenkriegszeit hatten auch liberale und konservative Zirkel dafür geworben, das ‚Abendland‘ sowohl vor der kommunistischen Sowjetunion als auch vor den kapitalistischen USA zu bewahren; Deutschland wurde in diesem Zusammenhang gerne die besondere Aufgabe zugeschrieben, ‚Kultur‘ gegen westlich-dekadente ‚Zivilisation‘ und einen kulturell inferioren slawischen Osten zu verteidigen.29 Auch Seyß-Inquart hatte im April 1930 bei einem Vortrag vor dem Deutschen Klub in Wien die Ansicht vertreten, Europa sei einer doppelten Bedrohung durch „russischen Bolschewismus und amerikanischen Kapitalismus“ ausgesetzt. Im Unterschied zu seinen europapolitischen Vorstellungen der Vierzigerjahre hatte der Verweis auf eine Einkreisung durch Sowjetunion und USA damals dazu gedient, die Forderung nach einem Anschluss Österreichs an Deutschland gegen die Bestimmungen der Pariser Vorortverträge von 1919 zu untermauern, weil seiner Meinung nach nur die Bildung „möglichst großer Volksgebilde“ die Chance bot, im „Kampf gegen Amerikanismus und Bolschewismus“ zu bestehen.30 Während des Zweiten Weltkriegs erfuhr die These von der Frontstellung Europas zwischen Ost und West eine enorme Zuspitzung: Nun ging es nicht mehr um eine Revision der Versailler Ordnung durch den Gegenentwurf eines Zukunftsprojekts politischer und wirtschaftlicher Art, sondern in erster Linie um die Behauptung in einer militärischen Auseinandersetzung, die in ihrer historischen Dimension unvergleichlich war. Seyß-Inquart zufolge behauptete sich das nationalsozialistische Großdeutschland in diesem Krieg nicht nur um seiner selbst willen, sondern kämpfte für den ganzen europäischen Kontinent. Wie er 1943 ausführte, stand Europa zwischen „dem Bolschewismus der osteuropäisch-innerasiatischen Massen und dem sich formenden Amerikanismus der westlichen Hemisphäre […]. In Gegenüberstellung mit diesem Osten und diesem Westen lernen wir die Mannigfaltigkeit der Volkspersönlichkeiten des vielgegliederten europäischen Kontinents […] als die besondere europäische Eigenart erkennen und empfinden und erwächst in uns das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, soweit wir Europäer sind, das heißt soweit unsere Vorfahren und wir als Angehörige der in Europa in völkischer Geschlossenheit wirksam und verwandt gewordenen Rassen den Gang der europäischen Geschichte miterlebt und mitgeformt haben.“31 Die doppelte Frontstellung gegen Ost und West diente Seyß-Inquart also zur Beschwörung eines europäischen Gemeinschaftsbewusstseins, für das das Großdeutsche Reich als Vorkämpfer auftrat und der Nationalsozialismus sozusagen der ideologische Kitt war. In dieser Sichtweise sprach Seyß-Inquart dem NS-Regime eine weltgeschichtliche ‚Mission‘ zu, die man zum Wohle des ganzen europäischen Kontinents durchführen dürfe und 29 Vgl. Bailey, Between Yesterday and Tomorrow, 32–36. 30 Arthur Seyß-Inquart, Oesterreichs Schicksalsstunde, ÖStA/AdR, Gauakte Arthur Seyß-Inquart, Nr. 15547, Bl. 17 und 30. 31 Seyß-Inquart, Zum Geleit [Westland]. Ähnlich äußerte sich Seyß-Inquart an anderen Stellen, etwa am 29. Januar 1943 (Zum 10. Jahrestag der Machtübernahme, 115 ff.) oder auf der ‚Befehlshabertagung‘ in Bad Schachen am 12. Oktober 1943 (Unsere Aufgabe, 23 f.).

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geradezu müsse. Dabei befand er sich vollkommen in Übereinstimmung mit der NS-Propaganda.32 Von ihr übernahm er auch die absurde These, das Großdeutsche Reich sei von der Sowjetunion, Großbritannien und Amerika in den Zweiten Weltkrieg gezwungen worden, weil „die Feinde Deutschlands […] kein starkes Reich neben sich dulden wollten.“33 Analog zur Darstellung des Westfeldzugs als einen Krieg, der Deutschland aufgezwungen worden sei,34 wurden auf diese Weise auch der Angriffskrieg des nationalsozialistischen Staates auf die Sowjetunion und seine Folgen wahrheitswidrig in einen Defensivkrieg uminterpretiert, um dem deutschen Vernichtungskrieg einen Anschein von Legitimität zu verleihen. Noch ein weiteres rhetorisches Element aus der offiziellen Sprachregelung des NS-Regimes griff Seyß-Inquart in Reden oft auf: Dass es in diesem Krieg nur Sieger oder „Vernichtete“ geben könne und eine Niederlage Deutschlands den Untergang Europas mit sich bringen werde. So konstruierte er einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Europa, Deutschland und Nationalsozialismus, wenn er seinen Zeitgenossen einzuhämmern versuchte: „Wenn Europa bestehen soll, muß Deutschland bestehen. Wenn Deutschland bestehen soll, dann muß das nationalsozialistische Deutschland siegen.“35 Schließlich deckte sich Seyß-Inquarts Auffassung vollkommen mit der NS-Politik, wenn er Jüdinnen und Juden prinzipiell aus dem Europabegriff ausklammerte – bestimmte er den Kontinent doch als „die Heim- und Schutzstätte der arisch bestimmten Volkspersönlichkeiten und ihrer arteigenen aus ihrer rassischen Substanz entwickelten Kulturen“.36 So wie er die jüdische Bevölkerung aus dem Begriff des ‚niederländischen Volkes‘ herausdefinierte und in seinen Verordnungen als Reichskommissar deren Segregation systematisch verfolgte, ließ der glühende Antisemit Seyß-Inquart den Jüdinnen und Juden auch in Europa keinen Platz – weder definitorisch noch physisch. Aus dem als unausweichlich und legitim angesehenen Kampf des Großdeutschen Reiches und seiner Verbündeten gegen Juden sowie gegen Ost und West leitete Seyß-Inquart eine rassistisch und geopolitisch begründete Aufteilung in vier „Welträume“ ab, die „bestimmte Rassengruppen der Menschheit umfassen, bestimmte Lebens- und Gemeinschaftsformen bilden und Träger bestimmter Weltanschauungen sind“. Für den europäischen Kontinent relevant waren unter den Bedingungen der deutschen Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg der „osteuropäisch-innerasiatische Raum“, „die westliche Hemisphäre“ und das deutsch beherrschte Europa. Dazu kam „der großostasiatische Raum“, der allerdings ohne unmittelbaren Bezug zu Europa war und unausgesprochen der Achsenmacht Japan anheimgestellt wurde.37 Aus 32 Vgl. hierzu auch Mazowers Kommentar zu dem Aufsatz, den Goebbels am 25. Februar 1945 in der Zeitschrift Das Reich unter dem Titel Das Jahr 2000 veröffentlichte, in: Hitler’s Empire, 554. 33 Zitate nach der Hauptausgabe der Strassburger Neuesten Nachrichten vom 20. September 1943 (BArch, ZSg. 103/8644) aus einer Rede, die Seyß-Inquart anlässlich einer Rundreise durch das Elsass auf Einladung von Gauleiter Robert Wagner in Colmar gehalten hat. 34 Siehe oben, S. 199. 35 Zit. nach der Hauptausgabe der Strassburger Neuesten Nachrichten vom 20. September 1943 (BArch, ZSg. 103/8644). 36 Seyß-Inquart, Idee und Gestalt des Reiches, 31. 37 Seyß-Inquart, Antrittsrede des Präsidenten der Deutschen Akademie, 39 f. Ergänzend führte er am 10. Februar 1944 aus: „Alle anderen Räume haben, weltpolitisch betrachtet, nicht gestaltende Kraft.“ (ebd., 40) Ähnlich

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dieser geopolitisch begründeten Aufteilung der Welt muss die Schlussfolgerung gezogen werden, dass Reichskommissar Seyß-Inquart die frühere niederländische Kolonie Ostindien unausgesprochen dem fernöstlichen Bündnispartner überließ, nachdem dessen Armee 1942 Niederländisch-Ostindien erobert hatte. Die Anerkennung japanischer Ansprüche war für Seyß-Inquart offenbar wichtiger als die Rücksichtnahme auf die Interessen der niederländischen Bevölkerung, in der das frühere Kolonialreich auch während der deutschen Besatzung lebendig blieb.38 Mit dem Verzicht auf Niederländisch-Ostindien nahm er aus globalpolitischen Gründen in Kauf, dass die niederländischen Faschisten innerhalb der einheimischen Gesellschaft einmal mehr isoliert wurden. Die „Mannigfaltigkeit der Volkspersönlichkeiten des vielgegliederten europäischen Kontinents“, die Seyß-Inquart in der angeführten Quelle aus dem Jahr 1943 ausdrücklich anerkannte, lässt sich immerhin als Hinweis verstehen, dass das NS-Regime sich zumindest mit propagandistischen Mitteln bemühte, nach dem Fiasko von Stalingrad seine Europapropa­ ganda gegenüber anderen europäischen Ländern zu modifizieren: In der zweiten Kriegshälfte unternahm das Regime den taktisch motivierten Versuch, nichtdeutsche Länder verstärkt zu einem gemeinsamen Kampf gegen die östlichen und westlichen Alliierten zu gewinnen.39 Ganz in diesem Sinn wurden die niederländischen Kollaborateure von deutscher Seite ermahnt, „die grossgermanische Idee vorläufig zugunsten der gesamteuropäischen Zusammenarbeit zurückzustellen“,40 und in Bad Schachen unterstrich Seyß-Inquart die „Fülle an Kulturmannigfaltigkeiten“, die Europa als „die Heimat der arischen Rasse“ auszeichne.41 Er musste aber auch eingestehen, dass die nationalsozialistische Europapolitik auf weitgehende Ablehnung stieß, weil ein großer Teil der nichtdeutschen Völker „noch wenig innere Bereitschaft“ Ders., Worum es geht, 17 und Ders., Zum 9. November, 187. Rabl hingegen leitete in der Denkschrift zur Neuordnung Europas und zur künftigen Verfassung eines Großreichs unter Führung der europäischen Nordvölker vom Dezember 1942 aus der Abgrenzung von europäischem Bewusstsein, ‚Amerikanismus‘ und ‚Bolschewismus‘ eine Aufteilung der Welt in die Einflusszonen Europa, Ostasien und Amerika ab. In Europa bildeten die „nordisch bestimmten Länder“ den „Kernraum“, zu seinem „Lebensraum“ gehörten Sibirien, der Nahe Osten und Afrika. Zu dieser Denkschrift siehe Tönsmeyer, Das Dritte Reich und die Slowakei, 45. 38 Siehe hierzu Foray, Visions of Empire in the Nazi-Occupied Netherlands. 39 Ähnlich Grunert, Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen, 94 f. Zum nationalsozialistischen Europadiskurs nach Stalingrad vgl. Neulen, Europa und das 3. Reich, 37–46. Der Direktor des Deutschen Instituts für Außenpolitische Forschung, Dr. Friedrich Berber, brachte die nach Stalingrad leicht modifizierte Europapolitik des Auswärtigen Amtes ebenfalls 1943 in einer halboffiziellen Publikation auf eine prägnante Formel, die von den nichtdeutschen Staaten als ein Appell zur Mitarbeit an einer europäischen Neuordnung unter Führung der Achsenmächte verstanden werden sollte: „Europa bedarf ebensosehr der starken Einigung nach außen wie der freien Entwicklungsmöglichkeit seiner Glieder in bunter Mannigfaltigkeit im Innern.“ (Berber, Europa als Erbe und Aufgabe, 12) 40 Zit. nach Schreiben von Rost van Tonningen an Rauter vom 15. Mai 1943, in: Correspondentie van Mr. M. M. Rost van Tonningen, Bd. 2, Dok. 123, 215. 41 Seyß-Inquart, Unsere Aufgabe, 18; ähnlich ebd., 23 und Ders., Worum es geht, 21. Siehe auch die Rede, die er am 7. November 1943 vor deutschen und niederländischen Nationalsozialisten im Utrechter Tivoli gehalten hat: „Wir würden aufhören Europäer zu sein, wenn wir unsere Berufung nicht mehr darin sehen würden, diesen Blütenreichtum der arteigenen und blutgebundenen Kulturen der europäischen Völker zu erhalten und zu fördern.“ (Seyß-Inquart, Zum 9. November, 193)

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zur Mitarbeit am Aufbau einer europäischen Ordnung unter deutscher Führung zeige.42 Trotz der rhetorischen Anerkennung von „Kulturmannigfaltigkeiten“ und ähnlichen Begriffen war auch nach Stalingrad von der Gleichberechtigung, die Seyß-Inquart zu Beginn der Besatzungszeit den Niederländern für ihre Stellung in Europa in Aussicht gestellt hatte, nichts zu merken; für das NS-Regime hatte die Anerkennung der „Kulturmannigfaltigkeiten“ offenbar nicht mehr als propagandistische Bedeutung.43 Das gilt auch für die „Europa-Charta“, die Seyß-Inquart im November 1943 auf einer Reise durch den Gau Weser-Ems in groben Umrissen als jene Grundlage verkündete, auf der in der Zukunft das Zusammenleben der „europäischen Nationen“ geregelt werden sollte. In dieser Charta war zwar nicht nur von der „Verpflichtung für alle zur Verteidigung und zum Aufbau des gemeinsamen Lebensraums“ die Rede, sondern auch von „der Freiheit für jedes Volk, nach seiner eigenen Art zu leben“.44 Doch praktische Konsequenzen hatte dieses Gerede nicht: Auch nach der Kapitulation der VI. Armee dachte das nationalsozialistische Deutschland nicht ernsthaft daran, den Bevölkerungen der besetzten Gebiete Gleichberechtigung oder Selbstständigkeit zuzugestehen. Jedenfalls hat das Regime weder in den Niederlanden noch in irgendeinem anderen deutsch beherrschten Land auch nur ansatzweise aus der theoretischen Anerkennung von Gleichberechtigung oder einer „Mannigfaltigkeit der Volkspersönlichkeiten“ praktische Konsequenzen gezogen. Bis Kriegsende blieb die ausschließlich instrumentalisierende Ausrichtung der angeschlossenen und besetzten Gebiete auf die wirtschaftlichen, militärischen und sonstigen Bedürfnisse des Deutschen Reiches maßgeblich für nationalsozialistische Europapolitik. Dementsprechend blieb der Führungsanspruch Deutschlands uneingeschränkt aufrecht. Mehr noch: Die NS-Propaganda verbreitete weiterhin die These, „dass Deutschland die einzige Macht ist, der kraft ihres europäischen Auftrages die Rettung des Abendlandes anvertraut ist.“45 In einer Rede, die am 11. März 1945 im Rundfunk übertragen wurde, verstieg sich Seyß-Inquart sogar zu der These, die Nationalsozialisten seien die „Abendländer und verantwortliche Träger europäischer, klassischer und humanistischer Kultur“,46 und bis in die letzte Kriegsphase hinein gab er sich überzeugt, dass sich alle nichtdeutschen Völker über kurz oder lang der europäischen ‚Mission‘ des Großdeutschen Reiches anschließen würden

42 Seyß-Inquart, Unsere Aufgabe, 13. Ähnlich seine selbstkritischen Reflexionen in Worum es geht, 43: „Wir haben den Satz verkündet: ‚Deutschland kämpft für Europa‘. Dieser Satz wurde nicht geglaubt, da Europa meint, dass Deutschland für ein von Deutschland beherrschtes Europa kämpft.“ Dennoch gab er sich am 14. Juli 1944 bei dieser Ansprache vor HJ-Führern zuversichtlich, dass das Großdeutsche Reich „in den künftigen Krisen der Weltpolitik von den europäischen Staaten und Völkern als Ordnungs- und Machtfaktor anerkannt und zunehmend geschätzt und gesucht werden wird.“ (ebd., 44) 43 Dies gab Seyß-Inquart nach dem Krieg selber zu; siehe Einige Bemerkungen zur Lage, Bl. 14. 44 Aus De Residentiebode vom 30. November 1943 (NIOD, KA I 3409) rückübersetzt ins Deutsche; auch im Dagblad van Rotterdam vom selben Tag und anderen niederländischen Zeitungen ist diese Passage zu finden. In der ansonsten ausführlichen Darstellung der Brüsseler Zeitung vom 24. November 1943 (NIOD, KA I 3409) hingegen blieb sie ausgespart. 45 K. H. Gerfertz, Unausweichbare Entscheidung unter Bezugnahme auf die Rede, die Seyß-Inquart am 20. April 1944 zu Hitlers 55. Geburtstag in Nimwegen gehalten hatte. 46 Seyß-Inquart, Warum Nationalsozialismus?, 7.

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– sofern sie nicht dem gemeinsamen Druck von ‚Amerikanismus‘ und ‚Bolschewismus‘ unterliegen wollten. Dabei liege es an den „kleinen Völkern“ wie den Niederländern, durch „Leistung“ im Sinne der deutschen Erwartungen das „Vertrauen“ Deutschlands zu erwerben und erst dadurch zu „Gleichberechtigung“ und „Freiheit“ im ‚Neuen Europa‘ zu gelangen.47 Der Krieg stellte für ihn geradezu ein willkommenes Mittel dar, um die „Leistung“ einzelner Völker beim Aufbau Europas unter nationalsozialistischen Vorzeichen und unter hegemonialer Führung des Großdeutschen Reiches sichtbar werden zu lassen. So entstehe „das neue Europa […] aus den Beziehungen, die das in Großdeutschland zusammengefaßte deutsche Volk unter Führung Adolf Hitlers in diesem Existenzkampf um Europa zu den einzelnen europäischen Völkern und Staaten findet. […] In der Mitte dieses künftigen Europas und als Mittelpunkt steht das Reich, und mit diesem Reich wächst das neue Europa.“48 Die Auseinandersetzung mit der ‚Europa‘-Thematik war für Seyß-Inquart sicherlich Teil seines Bemühens, die niederländische Bevölkerung von der angeblichen Notwendigkeit des Nationalsozialismus zu überzeugen. Seine Beiträge erschienen aber nicht nur in niederländischen Medien, sondern in noch größerem Umfang in deutschen Druckerzeugnissen. Gezielt ins Reich hinein propagierte Seyß-Inquart beispielsweise die These, „daß im künftigen Aufbau Europas mit den Niederländern gerechnet werden kann“ und das von ihm verwaltete Land durch seine Wirtschaft und den „Arbeitseinsatz“ einen „relativ sehr großen Beitrag […] zum Kampf um ein neues Europa“ leiste.49 Eine Empfehlung seiner eigenen Tätigkeit als Reichskommissar verband er auf diese Weise mit einem Wunschbild von der politischen Zukunft Europas, in dem sich ‚seine‘ Niederlande ihren besonderen Platz verdienen würden. Dass Seyß-Inquart bei seiner Tätigkeit in den Niederlanden das Reich im Blick hatte, erhellt nicht zuletzt auch aus der Tatsache, dass er die Sammlung von Reden, die er zwischen 1940 und 1944 gehalten hatte, nicht als Reichskommissar, sondern unter der Verfasserangabe „Reichsminister Seyss-Inquart“ publizierte – obwohl der Titel Vier Jahre in den Niederlanden nicht mit seiner Funktion als Reichsminister, sondern mit seiner Tätigkeit als Reichskommissar in sachlichem Zusammenhang stand. Sein Bestreben, in Deutschland als Fachmann für die Zukunft Europas anerkannt zu werden, kam besonders in der Broschüre Idee und Gestalt des Reiches zum Ausdruck, die spät im Jahr 1943 oder Anfang 1944 in Druck erschien. Bei dem Reich, dessen Konturen Seyß-Inquart hier entwarf, handelte es sich im Kern um ein „nordisches Reich“. Es wurde als Zusammenschluss aller „germanischen Völker“ unter deutscher Führung gedacht. Als „Gemeinschaft des Schicksals“ gebe dieses Reich Europa die Richtung vor, denn in Europa müsse es so sein, dass das Reich „den bestimmenden Einfluss auf die europäische Ordnung“ ausübe.50 Obwohl viele Ausführungen zum Reich, zu Europa und zum Verhältnis zwischen Reich und Europa sehr vage blieben, betrachtete Seyß-Inquart seine Broschüre offenbar als einen ernst47 Seyß-Inquart, Zu Führers Geburtstag 1944, 215 und 217. 48 Seyß-Inquart, Unsere Aufgabe, 22 f. 49 Interview mit dem Deutschen Nachrichtenbüro vom 27. Mai 1944 (BArch, R 4902/1499). 50 Seyß-Inquart, Idee und Gestalt des Reiches, 14, 22–24 und 34. Zu diesem Reichskonzept vgl. auch Ders., Worum es geht, 11 f. und 45.

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Kapitel 13: Exkurs: ‚Europa‘, ‚Abendland‘ und reichspolitische Ambitionen

zunehmenden Beitrag zur nationalsozialistischen Europapolitik. Jedenfalls verschickte er Idee und Gestalt des Reiches an Nationalsozialisten wie Karl Hermann Frank und Dr. Paul Heigel, für dessen Ernennung zum Direktor der Österreichischen Nationalbibliothek er sich nach dem Anschluss Österreichs eingesetzt hatte.51 Mit seinen europapolitischen Texten bot Seyß-Inquart keine originären Ansätze. Im Großen und Ganzen bewegte er sich in den Bahnen, die auch von anderen Nationalsozialisten propagiert wurden. Trotzdem bot ihm die Beteiligung an der Debatte über die Zukunft Europas die Möglichkeit, sich für höhere Weihen in Stellung zu bringen. Dazu trug zweifellos auch bei, dass alle seine öffentlichen Beiträge zur ‚Europa‘-Thematik mit dem Verweis auf die ideologischen Grundlagen und Zielsetzungen des Nationalsozialismus vermischt waren: „Volksgemeinschaft“ und „völkischer Sozialismus“ als „die Gemeinschafts- und Gesellschaftsform der nordisch bestimmten Menschen Europas“,52 Führerprinzip und die Gliederung der Welt und einzelner Staaten nach rassischen Gesichtspunkten und den Bedürfnissen von „Lebensraum“. Auch mit Durchhalteparolen, mit denen er nach Ausrufung des ‚totalen Kriegs‘ zu ‚Endkampf‘ und ‚Endsieg‘ anspornte, empfahl er sich auf Reichsebene.53 Dies alles blieb nicht ohne Resonanz. Der Berliner Journalist Rolf Brandt zeichnete von Seyß-Inquart das Bild eines Nationalsozialisten, „der in seiner Person den immanenten europäischen und den Reichsgedanken“ verkörpere und „in seinem Innern die unvergängliche Synthese des Germanentums mit dem europäischen Gedanken“ trage.54 Gewichtiger war das Urteil des Reichspropagandaministers: Goebbels hielt den Reichskommissar für einen seriösen Kandidaten für eine politische Funktion auf Reichsebene – bezeichnete er Seyß-Inquart im November 1943 doch als „einen klugen Politiker, der zweifellos größere Aufgaben erfüllen könnte, als die, die Niederlande zu verwalten.“55 Die Gelegenheit zu „größeren Aufgaben“ erhielt Seyß-Inquart allerdings erst kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, als Hitler ihn in seinem Politischen Testament zum Reichsaußenminister im Kabinett von Großadmiral Karl Dönitz bestimmte. Wie noch zu zeigen sein wird, hatte diese Ernennung für Seyß-Inquart jedoch ausschließlich virtuellen Charakter. Kriegsende und Kapitulation Deutschlands ließen ihm faktisch keinen Raum zu irgendwelchen „größeren Aufgaben“.56

51 Seyß-Inquart an Frank vom 21. Februar 1944 (ÖGZ-A, NL-96, DO 1105, Mappe 21) und an Heigel vom 5. April 1944 (ÖNB-HAN, Autogr. 514/3-1). Weitere Unterlagen zu Seyß-Inquarts Korrespondenz mit Frank über Idee und Gestalt des Reiches befinden sich im Nationalarchiv der Tschechischen Republik; für diesen Hinweis danke ich Jiří Vybíhal (Jihlava). 52 So seine Formulierung in: Worum es geht, 23. 53 Siehe hierzu unten, Kap. 14.4. 54 Berliner Lokal-Anzeiger vom 29. Juni 1944, Tagesausgabe (BArch, R 8034/III-443, Bl. 46). 55 Zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 10, 221, Eintrag vom 2. November 1943. Ähnlich der Eintrag vom 11. Februar 1944, in: ebd., Bd. 11, 278. 56 Siehe hierzu Kap. 14.5.

Kapitel 14:

Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

Eine besondere Herausforderung stellte sich Reichskommissar Seyß-Inquart, seit sich die militärische Lage 1942/43 gegen NS-Deutschland zu kehren begann. Nun musste man auch in den besetzten Niederlanden verstärkt mit einem Angriff der Alliierten rechnen, und Bombenangriffe führten jedermann die Verwundbarkeit der Besatzungsmacht vor Augen. Vor allem mit der Operation Overlord und dem raschen Vormarsch der alliierten Truppen seit der spektakulären Landung in der Normandie änderten sich für den Reichskommissar die politischen Rahmenbedingungen. Nazifizierung und Gleichschaltung büßten gegenüber der militärischen Verteidigung des ‚Herrschaftsgebietes‘ an Bedeutung ein. Welche Rolle kam in diesem Zusammenhang der Zivilverwaltung zu, und welche Politik verfolgte Seyß-Inquart in jener Phase des Zweiten Weltkriegs, die in den Untergang des Großdeutschen Reiches mündete?1 14.1 Zivilverwaltung unter Kriegsbedingungen

Schon nachdem der deutsche Vormarsch in der Sowjetunion im Winter 1941/42 zum Stehen gekommen war, nahm die Nervosität auf deutscher Seite zu. In der Militär- und Reichsführung wie auch in Seyß-Inquarts Reichskommissariat ging die Befürchtung um, dass die Alliierten eine Invasion an der Nordseeküste unternehmen und Luftangriffe intensivieren würden. Vor diesem Hintergrund wurde ab 1942 eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, mit denen eine Sicherung der besetzten niederländischen Gebiete für das nationalsozialistische Deutschland erreicht werden sollte. Die Maßnahmen, die im Folgenden untersucht werden, blieben nicht ohne Einfluss auf das Verhältnis zwischen ziviler und militärischer Macht: Spätestens in dem Augenblick, in dem die Niederlande wieder zum Kriegsgebiet werden würden, gab es Gründe, den Vorrang der Zivilverwaltung, wie er in Hitlers Erlass vom 18. Mai 1940 definiert worden war, in Frage zu stellen. Wie agierte Seyß-Inquart im Angesicht dieser Herausforderungen? Eine Vorsichtsmaßnahme war die Verlegung der niederländischen Behörden und der untergeordneten deutschen Dienststellen der Zivilverwaltung ins Landesinnere; sie wurde von 1

Allgemein zu den Entwicklungen des letzten Kriegsjahres in Deutschland und Europa siehe Kershaw, Das Ende, Keller, Volksgemeinschaft am Ende und Bessel, Germany 1945, für die Niederlande De Jong, Het Koninkrijk, Bde. 10a und 10b.

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

Seyß-Inquart Ende 1942 angeordnet.2 Die meisten Abteilungen bezogen in östlich gelegenen Ortschaften wie Apeldoorn, Almelo, Hengelo und Delden Quartier. Seit September 1944 verlegten auch Wimmer und Rauter, die Seyß-Inquart in der Zwischenzeit für den Fall eines alliierten Angriffs auf die Niederlande zu seinen Stellvertretern ernannt hatte, den Schwerpunkt ihrer Tätigkeiten nach Apeldoorn.3 Umstritten war, ob sich auch der Reichskommissar mit seinem Stab prophylaktisch zurückziehen sollte. Die persönliche Sicherheit dieses hochrangigen NS-Funktionärs mochte zunächst einmal für diese Option sprechen, denn vor feindlichen Bodentruppen wäre Seyß-Inquart in den östlichen Landesteilen besser geschützt gewesen als an der Küste. Vor alliierten Bombenangriffen aber war er – wie sich zeigen sollte – auch im Landesinneren nicht sicher: Mehrfach wurde seine Unterkunft in Apeldoorn von britischen Kampfflugzeugen angegriffen.4 Es war aber vor allen Dingen die negative politische Signalwirkung, die für einen Verbleib Seyß-Inquarts in Den Haag ins Feld geführt werden konnte: Ein Rückzug des Reichskommissars in Gebiete, die im Bedarfsfall eine rasche Evakuierung ins Reich erlaubt hätten, wäre schlecht mit der Absicht des Regimes vereinbar gewesen, bis zum Endsieg oder der vollständigen Vernichtung zu kämpfen. Es handelte sich also um eine hochsensible politische Frage. Deshalb sprach sich Generalkommissar Schmidt schon im Frühjahr des ersten Jahres, in dem mit einer Landung der Alliierten gerechnet werden musste, dafür aus, „das Verbleiben des Reichskommissars vom Führer selbst“ entscheiden zu lassen.5 Seyß-Inquart selber hielt seinen Verbleib in Den Haag für „eine unumgängliche politische Notwendigkeit.“6 Andernfalls würde ihm – so befürchtete er – „die Verwaltung in den Niederlanden aus den Händen kommen“.7 Vermutlich bei seiner Audienz am 1. Oktober 1942 erwirkte er bei Hitler denn auch die Zustimmung, weiterhin mit seinem Stab in Den Haag bleiben zu dürfen. Zu seiner Sicherung wurden in der Folgezeit auf dem Terrain von Landgut Clingen­dael ein großzügig dimensionierter Bunker und eine Polizeikaserne gebaut, die notfalls einem ganzen Bataillon Platz geboten hätten.8

2 Romijn, Burgemeesters, 402 f. 3 Seyß-Inquart an die Obersten Reichsbehörden vom 10. Oktober 1944, BArch, NS 6/352, Bl. 23. Zur Ernennung von Wimmer und Rauter zu Seyß-Inquarts Stellvertretern siehe unten, S. 544. 4 Jacht op Seyss Inquart, in: Trouw. Speciale uitgave voor de Zaanstreek vom 24. November 1944 (NIOD, Coll. 556, Kart. 81). Mit Bedauern wurde hier festgehalten, dass Seyß-Inquart unverletzt geblieben war. 5 Schmidt an Bormann vom 11. April 1942, zit. nach: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 1, Nr. 15568. 6 Seyß-Inquart an Himmler vom 23. Januar 1943, BArch, NS 19/2860, Bl. 122. 7 Fernschreiben Seyß-Inquarts an Himmler vom 14. November 1942, BArch, NS 19/1986, Bl. 1. Auch Bene fand es „viel sympathischer“, in Den Haag zu bleiben. Siehe sein Schreiben an Luther vom 22. April 1942, PA AA, R 27632, Bl. 64. 8 Fernschreiben Seyß-Inquarts an Himmler vom 11. November 1942, BArch, NS 19/1986, Bl. 1. Bosma zufolge war der sogenannte ‚Seyß-Inquart-Bunker‘ (siehe Abb. 23) größer als der Bunker, über den Hitler unterhalb der Reichskanzlei verfügte (De schaduwstad, 130). In technischer Hinsicht war die Anlage bestens ausgerüstet, genügte höchsten Ansprüchen des Luftschutzes und bot Seyß-Inquart und seinem Stab die Möglichkeit, die Amtsgeschäfte im Bedarfsfall selbst über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Bei der erwähnten Kaserne handelt es sich um die heutige Prinses Julianakazerne.

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Abb. 23: Der ‚Seyß-Inquart-Bunker‘ auf Gut Clingendael.

Außerdem wurde 1942/43 die militärische Sicherung des Stützpunkts Scheveningen-Clingendael intensiviert, der die Haager Innenstadt mitsamt den Regierungs- und Verwaltungsgebäuden sowie die Residenz des Reichskommissars gegen ein alliiertes Landungsmanöver schützen sollte. Auch dies war eine Voraussetzung für den Verbleib Seyß-Inquarts in Den Haag. Nachdem die Stützpunktfrage, wie noch gezeigt werden wird, gelöst war, bestätigte der ‚Führer‘ am 10. Februar 1943 Himmler gegenüber in der ‚Wolfsschanze‘: „Reichskommissar will u[nd] muss dableiben.“9 Tatsächlich blieb Den Haag für Seyß-Inquart bis Kriegsende der bevorzugte Ort für die Erledigung seiner Amtsgeschäfte. Allerdings bezog er auf Landgut Spelderholt bei Beekbergen eine zweite Residenz im Landesinneren, die nahe bei den bereits verlegten Büros des Reichskommissariats gelegen war und ebenso wie das Landgut Clingen­ dael mit einem Bunkersystem bestückt wurde. Die Familie des Reichskommissars allerdings kehrte 1944 vorsichtshalber in die Alpen- und Donaugaue zurück. Wien und Mattsee im Salzburger Land, wo die Familie bereits vor dem Krieg oft die Sommerferien verbracht hatte, waren für Gertrud und Dorothea sicherer als die Niederlande.10 9 Aus Himmlers Vortragsnotiz, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 329, 958. 10 Übrigens waren auch in Österreich Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Aus den Niederlanden wies Seyß-Inquart am 5. September 1944 seine Frau an, in der Wiener Villa „das Bemerkenswerteste aus den Glaskasten“ zu räumen (NIOD, Coll. Doc. I, vorläufige Sign.: Aanwinst 1879). Offenbar befanden sich in der Iglauer Straße 15 Gegenstände von materiellem Wert oder Dokumente, die den Alliierten nicht in

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

Einem Volkssturm, dessen Bildung nach deutschem Vorbild Generalkommissar Ritterbusch Anfang 1945 anregte, verweigerte Seyß-Inquart die Zustimmung – das Reservoir an Deutschen, die man hierfür in den Niederlanden hätte rekrutieren können, war viel zu gering.11 Dafür aber hatte der Reichskommissar frühzeitig die Weichen für die Mobilisierung einheimischer Faschisten für den Fall einer feindlichen Invasion gestellt. Ritterbuschs Amtsvorgänger Schmidt konnte im Frühjahr 1942 Mussert für den Plan gewinnen, NSB-Mitglieder als Hilfspolizisten einzusetzen.12 Dieser Plan versprach beiden Seiten Vorteile: Die NSB erhielt eine Gelegenheit, ihre Nützlichkeit für das nationalsozialistische System und das Deutsche Reich unter Beweis zu stellen, und Rauter wurden zusätzliche Einsatzkräfte unterstellt. Offenbar erhob die Reichsführung keine Einwände, denn am 21. Mai 1942, nur wenige Tage nach einem längeren Besuch Himmlers in den Niederlanden, erließ Seyß-Inquart eine Verordnung, mit der eine „Freiwilligen-Hilfspolizei“ gegründet wurde.13 Ihr konnten nur Männer zwischen 18 und 45 Jahren angehören, die als „körperlich, geistig und moralisch tauglich“ angesehen wurden. Eine weitere Einstellungsvoraussetzung war, dass der Hilfspolizist „die europäische Neuordnung bejaht und ihr nach besten Kräften zu dienen bereit ist.“ (§ 2) Die Attraktivität der Hilfspolizei wurde dadurch erhöht, dass ihre Angehörigen für die Dauer der Dienstzeit in ihrem Zivilberuf Kündigungsschutz und eine Arbeitsplatzgarantie genossen und in der Ausübung ihres hilfspolizeilichen Dienstes die gleichen Rechte und Pflichten besaßen wie ordentliche Polizeibeamte (§§ 7 und 8). Außerdem hatten sie bzw. ihre Hinterbliebenen im Falle gesundheitlicher Schäden oder im Todesfall wie die Beamten der staatlichen Polizei, der Rijkspolitie, Anspruch auf Heilfürsorge oder Rentenzahlung (§ 10). Die Gründung der Hilfspolizei zielte zwar nicht ausschließlich auf einen Einsatz bei einer alliierten Landung. Ihr Personal konnte aber im Landungsfall die deutschen Exekutivkräfte entlasten. Die Kosten für die Hilfspolizei wurden übrigens dem niederländischen Staat oder einer Gemeinde aufgebürdet (§ 15). Der Staat hatte darüber hinaus für den Unterhalt der Technischen Nothilfe aufzukommen, die Seyß-Inquart im Dezember 1944 mit der Maßgabe ins Leben rief, unter Rauters Führung in Notfällen wie nach Luftangriffen technische Hilfe zu leisten, Schäden zu beseitigen und „den normalen Zustand“ wiederherzustellen.14 Während niederländische Kollaborateure eingeladen wurden, im Rahmen der Hilfspolizei die Ordnung im Sinne der deutschen Besatzungsmacht aufrechtzuerhalten, wurde der Rest der Bevölkerung vom Reichskommissar aufgefordert, bei Kampfhandlungen mit alliierten

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die Hände fallen durften. Auf jeden Fall schwante Seyß-Inquart, dass sein Besitz im Falle einer deutschen Niederlage konfisziert würde. Siehe Fernschreiben Rauters an Himmler vom 22. Februar 1945, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 647, 1481–1483 mit Anm. 1 zur Datierung. In seiner Antwort vom Folgetag sprach sich auch Himmler gegen die Aufstellung eines Volkssturms in den Niederlanden aus. Durch die Bildung einer solchen Formation befürchtete der SS-Komplex eine Stärkung des Parteiapparats, aus der man wiederum eine Schwächung der eigenen Position ableitete (Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 1, Nr. 18315). Schmidt an Bormann vom 11. April 1942, zit. nach: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 1, Nr. 15568. VO 57/1942, in: VOBl. NL 1942, 283–289, geändert durch VO 67/1942 vom 19. Juni 1942, in: ebd., 324. Siehe VO 48/1944 vom 5. Dezember 1944, in: VOBl. NL 1944-1945, 107–109, hier § 1, 108.

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Soldaten alle Befehle der Wehrmacht „genauestens zu befolgen“. Dies sei eine „Pflicht“, jede Widersetzlichkeit werde mit Waffengewalt „sofort energisch und rücksichtslos unterdrückt […].“15 Wie verschiedentlich in diesem Buch gezeigt, hatte Seyß-Inquart schon in den vorangegangenen Jahren mit diversen Rechtsvorschriften die Grundlagen für die Niederschlagung von Widerstand gelegt, seit dem Februarstreik von 1941 war das gewaltsame Vorgehen gegen Dissidenz und Opposition fester Bestandteil deutscher Besatzungspolitik gewesen. Angesichts der wachsenden Gefahr einer alliierten Invasion wurde nun die Befugnis zur gnadenlosen Repression vom SS- und Polizeiapparat auf die Angehörigen der Wehrmacht ausgedehnt. Besonders stark engagiert hat sich Seyß-Inquart beim Bau bzw. bei der Verstärkung von Verteidigungsanlagen. Sein fortifikatorisches Engagement beschränkte sich nicht auf das Gebiet ‚seiner‘ Niederlande. Beim Bau des Westwalls war er zumindest streckenweise auch unmittelbar in die Sicherung des Reichsgebiets involviert. Grundlage war ein Befehl Hitlers vom 30. August 1944, in dem Seyß-Inquart beauftragt wurde, zusammen mit Ritterbusch für den Abschnitt zwischen dem Ijsselmeer und Nimwegen ein „Volksaufgebot“ aufzustellen.16 Für die südlicher gelegenen niederländischen Provinzen wurden der Gauleiter von Düsseldorf, Friedrich Karl Florian, und der Stellvertretende Gauleiter von Essen, Fritz Schleßmann, mit der Erfassung und dem zwangsweisen Einsatz von Zivilarbeitern betraut. Eine ähnliche Aufgabenteilung nach geografischen Gesichtspunkten dekretierte der ‚Führer‘ für die „rein militärischen Aufgaben“: Wehrmachtbefehlshaber Christiansen wurde beim Westwall nur die Zuständigkeit für die nördlichen Provinzen zugesprochen, während die Gebiete zwischen Nimwegen und Roermond anderen Wehrmachtsteilen anvertraut wurden. Übrigens war Seyß-Inquart ursprünglich in den Aufbau der Weststellung, deren Herzstück der Westwall war, gar nicht vorgesehen gewesen.17 Erst zweieinhalb Wochen nach dem entsprechenden Führerbefehl gab Generaloberst Alfred Jodl als Chef des Wehrmachtführungsstabes bekannt, dass Seyß-Inquart die verantwortliche Leitung für den Ausbau der Weststellung übertragen werde – allerdings wieder nur in einem begrenzten Gebiet, nämlich in dem kleinen Bereich zwischen Maastricht bis westlich von Aachen.18 Ob Seyß-Inquarts nachträgliche Einbindung in die Weststellung auf eigene Interventionen zurückzuführen ist, lässt sich nicht beweisen. Sie entsprach aber voll und ganz seinem allgemeinen Bestreben, sich auch in einer Phase, in der sein ‚Herrschaftsgebiet‘ erstmals seit Mai 1940 wieder unmittelbar von militärischen Operationen betroffen war, nicht an den Rand drängen zu lassen. Sie kam sei-

15 Bekanntmachung des Reichskommissars vom 29. Januar 1944, NIOD, 20/1381. 16 Befehl über Herstellung der Verteidigungsbereitschaft des Westwalls, in: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 355, 448–450; siehe auch die beiden Fernschreiben vom 1. September 1944, IfZ, Fd 40, Bd. 2, 285–292. 17 In Hitlers Befehl über Ausbau der deutschen Weststellung vom 20. August 1944 wurde er nicht erwähnt; siehe Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 349, 442 f. 18 Siehe Jodls Fernschreiben vom 7. September 1944, IfZ, Fd 40, Bd. 2, Bl. 279. Bei den rein militärischen Aufgaben blieb es bei der Zuständigkeit des Wehrkreiskommandos VI; im Unterschied zu Seyß-Inquart wurde Christiansen somit nicht in der Änderung von Hitlers Befehl vom 20. August 1944 berücksichtigt.

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

nem Ehrgeiz entgegen, in der vitalen Frage der Reichsverteidigung sichtbare Verantwortung zu übernehmen. Noch deutlicher trat dieser Ehrgeiz im Kontext des Atlantikwalls zutage, zu dem auch der Küstenstützpunkt Scheveningen-Clingendael gehörte. Die Verstärkung des Atlantikwalls war Ende Oktober 1943 von Generalfeldmarschall Rundstedt, dem Oberbefehlshaber West, dringend empfohlen worden. Wenige Tage später ordnete Hitler in seiner Weisung Nr. 51 einen Ausbau der Verteidigungsanlagen im Küstenbereich an, mit der Überwachung der entsprechenden Maßnahmen wurde Generalfeldmarschall Erwin Rommel betraut.19 In keiner Weise war Seyß-Inquart gewillt, den Atlantikwall in seiner Gesamtheit Wehrmachtsinstanzen zu überlassen. Insbesondere den Stützpunkt Scheveningen-Clingendael sah er als eine Aufgabe an, die ihn als Reichskommissar unmittelbar betraf. Die Sicherheit dieses Stützpunktes war für ihn eine der Voraussetzungen dafür, dass er als Chef der Zivilverwaltung auch bei zunehmender alliierter Invasionsgefahr in Den Haag verbleiben konnte. Und dieses politische Ziel rechtfertigte in seinen Augen das Engagement in einer Frage, deren militärische Relevanz von niemandem geleugnet werden konnte. Schon Monate bevor Rundstedt seinen Bericht an Hitler schickte, war Seyß-Inquart in Himmler ein Verbündeter erwachsen, der eine Gelegenheit sah, in dieser Frage den Einfluss der Wehrmacht zu beschneiden. Schon im Dezember 1942 hatte der Reichsführer-SS Hitler schriftlich darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Sitz des Reichskommissars „von uns festungsmässig ausgebaut“ werde, und bei der Gelegenheit um die Genehmigung von Panzerabwehrkanonen mit einem Kaliber von 7,5 cm gebeten. Dabei war es wohlgemerkt noch nicht um Scheveningen, sondern lediglich um den angrenzenden Stützpunkt Clingendael gegangen.20 Ganz offenkundig erhob der ‚Führer‘ keine Einwände, denn zu Jahresende legte Himmler Rauter nahe, sich mit dem Ausbau und der Verteidigung dieses Stützpunkts beauftragen zu lassen.21 Der Höhere SS- und Polizeiführer Nordwest teilte den Wunsch seines Vorgesetzten wohl umgehend Seyß-Inquart mit. Dieser bestätigte Himmler gut eine Woche später, dass der Stützpunkt Clingendael ausgebaut und mit einer Besatzung von 450 Mann aufgestockt werde. Mit voller Absicht umging er damit die Wehrmachtsführung, und mit aggressivem Selbstbewusstsein bestimmte er diese Angelegenheit als eine Gemeinschaftsaufgabe für SS und sich selbst: „Ungeachtet und unangefochten durch irgendwelche Befehle von militärischer Seite her werde ich mit Rauter und T[z]schoppe diesen Stützpunkt aufbauen und bin auch der Unterstützung der für uns interessanten militärischen Stellen, also des Abschnittskommandeurs und des Pionierstabes, sicher, sofern diese nicht durch ein höheres Kommando an dieser Unterstützung gehindert werden. In diesem Fall würde ich mich dann an Sie wenden mit der Bitte, eine entsprechende Führerentscheidung bzw. Führerweisung zu erwirken.“22 Eine 19 Siehe hierzu Heber, Der Atlantikwall, Bd. 1, 394–422 und 434. 20 Himmler an Hitler vom 12. Dezember 1942, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 1, Dok. 278, 888. 21 August Meine (Persönlicher Stab des Reichsführers-SS) an Rauter vom 31. Dezember 1942, in: ebd., Dok. 291, 908. 22 Seyß-Inquart an Himmler vom 8. Januar 1943, BArch, NS 19/2860, Bl. 121. Den erwähnten Posten des

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Führer­entscheidung war aber gar nicht nötig, da sich der Reichsführer-SS ohnehin Hitlers Rückendeckung gesichert hatte. Himmler sah sich zwar nicht in der Lage, für den Stützpunkt Clingendael ein größeres Kontingent an ausgebildeten SS-Männern zu entsenden. Er erklärte sich aber bereit, ein Ausbildungsbataillon der Polizei nach Den Haag zu verlegen.23 Bald darauf folgte der zweite Schritt. Auf derselben Besprechung in der ‚Wolfsschanze‘, auf der Hitler bestätigte, dass Seyß-Inquart in Den Haag verbleiben solle, erwirkte Himmler die Zusage, „dass wir nicht nur den Stützpunkt Klingental [sic], sondern auch den Stützpunkt Scheveningen übernehmen, ihn ausbauen und verteidigen.“ Mit Hitlers Zustimmung ernannte er Rauter am Tag darauf zum Befehlshaber des Stützpunkts und beauftragte ihn, mit aller Kraft die Stützpunkte Scheveningen und Clingendael auszubauen.24 Dank seines Immediatzugangs beim ‚Führer‘ hatte Himmler mithilfe einer intriganten Salamitaktik der Wehrmacht an einem sensiblen Punkt des Atlantikwalls originäre militärische Sicherungsaufgaben entrissen und sie seinen Polizei- und SS-Kräften zugeschanzt. Dies wiederum traf bei Seyß-Inquart nicht auf ungeteilte Zustimmung. Hatte der Reichskommissar sich noch im Januar 1943 gegen „irgendwelche Befehle von militärischer Seite“ ausgesprochen, machte er im Februar einen halben Rückzieher. Bei Himmler meldete er Bedenken gegen die vollständige Unterstellung des Stützpunktes unter Rauter an und plädierte dafür, „daß die unmittelbare militärische Führung doch in die Hände eines Mannes gelegt werden muß, der über eine weitgehende u[nd] zw[ar] unmittelbar aus diesem Krieg gewonnene Erfahrung verfügt.“25 Deutlicher konnte er dem Höheren SS- und Polizeiführer die notwendige militärische Erfahrung nicht absprechen, nach Lage der Dinge kam für „die unmittelbare militärische Führung“ wohl nur ein Wehrmachtsoffizier in Frage. Es irritierte ihn auch, dass Himmler nicht für eine ausreichende Anzahl an ausgebildeten SS- und Polizeileuten sorgen konnte und lediglich ein Polizeiausbildungsbataillon bereitstellen wollte; vor diesem Hintergrund lag die weitere Einbindung der Wehrmacht auf der Hand. Die Unstimmigkeiten zwischen Himmler und Seyß-Inquart haben aber weder in dieser Frage noch im Allgemeinen ihr Verhältnis beeinträchtigt. Gut ein Jahr später sprach der Reichsführer-SS Seyß-Inquart seinen „besonders herzlichen Dank“ für dessen „tatkräftige soldatische Mitarbeit am Ausbau des Stützpunktes Clingendaal-Scheveningen [sic]“ und am Ausbau der Ijssel-Stellung aus.26 Seyß-Inquart

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Abschnittkommandeurs hatte zu diesem Zeitpunkt Oberst Josef Pausinger inne, der sich 1941/42 als Kommandeur des Infanterieregiments 727 in Weißrussland bei der Judenverfolgung hervorgetan hatte (siehe Lieb, Täter aus Überzeugung?, 542 f.). Dessen Funktion übernahm später der SS-Offizier Erwin Tzschoppe. Himmler an Seyß-Inquart vom 19. Januar 1943, BArch, NS 19/2860, Bl. 27. Himmler an Rauter vom 11. Februar 1943, BArch (ehem. BDC), SS-HO 1776. Siehe auch Himmler an Seyß-Inquart vom 13. Februar 1943 unter Bezugnahme auf einen neuerlichen Vortrag bei Hitler vom Vortag, BArch, NS 19/2860, Bl. 131. Seyß-Inquart an Himmler vom 15. Februar 1943, NIOD, Coll. Doc. I, 1564, Mappe A, Bl. 896. Himmler an Seyß-Inquart vom 12. Februar 1944, BArch, NS 19/2860, Bl. 138. Die Erwähnung der Ijssel-Stellung steht im Zusammenhang mit einer Flottille, mit deren Aufbau zum Schutz des Ijsselmeeres gegen alliierte Landungsversuche Rauter 1943 von Himmler beauftragt worden war. Auch hier blieb die Wehrmacht außen vor, denn für die Flottille waren ausschließlich Angehörige der deutschen und niederländischen Wasserschutzpolizei sowie Freiwillige der Waffen-SS vorgesehen. Siehe den Bericht von

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wiederum suchte die Abstimmung mit der Wehrmacht. Sie wurde von ihm einbezogen in die Gründung der Verbindungsstelle Küstenausbau, an deren Spitze er zwei Mitarbeiter aus Fischböcks Generalkommissariat setzte: Oberregierungsrat Dr. Friedrich Wilhelm Heinemann, Leiter der Hauptabteilung Gewerbliche Wirtschaft, und Walter Münster, Leiter der Abteilung Siedlung und Bauten und seit Oktober 1942 Räumungskommissar für den Bereich des Stützpunktes Scheveningen-Clingendael.27 Rückblickend betrachtet müssen die Streitigkeiten zwischen militärischen und zivilen Instanzen bei der Sicherung von Den Haag zwar insoweit als unerheblich angesehen werden, als der Stützpunkt im Verlauf des Krieges von Seyß-Inquart gar nicht entsprechend der ursprünglichen Planung dazu genutzt werden konnte, einen feindlichen Angriff in Den Haag ‚auszusitzen‘. Sie lassen aber erkennen, wie sehr sich der Reichskommissar bemühte, auch angesichts der drohenden Invasion alliierter Truppen in allen Fragen federführend beteiligt zu sein – unter Einschluss der militärischen Sicherung des Verwaltungszentrums der besetzten Niederlande. Die Auseinandersetzung zwischen Militär- und Zivilverwaltung28 wird noch deut­licher bei einer Dienstanweisung des Wehrmachtbefehlshabers und zwei Verordnungen des Reichskommissars, die für den Fall einer alliierten Landung ausgearbeitet wurden. Den ersten Schritt in diesem Zusammenhang setzte General Christiansen mit dem Entwurf einer Dienstanweisung für den Chef der Zivilverwaltung. Hierin legte er im Mai 1943 fest, dass er selber im Fall von „Angriffshandlungen des Feindes auf den niederländischen Raum“ „vorübergehend die vollziehende Gewalt“ übernehme. Damit hätte sich der Wehrmachtbefehlshaber in den Niederlanden über den Apparat der Zivilverwaltung gestellt. Er bestimmte sogar ausdrücklich, dass ihm der Chef der Zivilverwaltung in einem solchen Fall „persönlich und unmittelbar“ unterstellt sei und „nach seinen Weisungen die gesamte zivile Verwaltung in den Niederlanden“ zu leiten habe; für polizeiliche Belange wiederum sei der Höhere SS- und Polizeiführer zuständig.29 Seyß-Inquart wurde in diesem Szenario nicht viel Spielraum belassen. Hatten der Reichskommissar und Himmler wenige Wochen zuvor die Wehrmacht im Zusammenhang mit dem Stützpunkt Scheveningen-Clingendael ausgebootet und mit einer Rauter unterstellten Flotille im Rahmen der erwähnten Ijssel-Stellung eine konkurrierende Marine­ einheit aufgebaut, kam nun sozusagen die Retourkutsche. Ihr Makel war allerdings, dass sie nur schwer in Übereinstimmung zu bringen war mit Hitlers Anordnung vom 20. Mai 1940, dass der Wehrmachtbefehlshaber „bei militärischer Bedrohung der niederländischen Gebiete“ nach Möglichkeit seine Anordnungen über den Reichskommissar zu leiten habe.30 Auch

27

28 29 30

Daluege vom 1. Februar 1943, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 314, 940 sowie ebd., Dok. 354, 355 und 372. Siehe Seyß-Inquarts Rundschreiben vom 14. März 1944, NIOD, 14/129. Zu Münsters Tätigkeit beim Stützpunkt, die im Zusammenhang mit der Anlage des Atlantikwalls die Evakuierung von Zehntausenden von Anwohnern und die Zerstörung von Häusern und Infrastruktur implizierte, siehe auch Bosma, De schaduwstad. Siehe hierzu auch Paulsen, Reichskommissar vs. Wehrmachtbefehlshaber. Der als „geheim“ klassifizierte Entwurf datiert vom 5. Mai 1943 (BArch, NS 19/1501, Bl. 19 f.). Zit. nach: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 29, 121.

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für Seyß-Inquarts Amtsverständnis und Ehrgeiz stellte Christiansens Dienstanweisung eine Herausforderung dar, die er in der ersten Hälfte des Jahres 1944 ganz im Sinne des ‚Führers‘ mit zwei Verordnungen parierte: dem Kampfzonenerlass und dem Erlass über den Ausnahmezustand. Die Dienstanweisung gehörte somit zu einem machtpolitischen Tauziehen zwischen Zivil- und Militärverwaltung, bei dem sich der Reichskommissar letztlich auch für die letzten Kriegsmonate erhebliche Mitsprache für seinen ‚Herrschaftsbereich‘ sicherte. Christiansens Dienstanweisung wurde durch gewiefte Schachzüge Seyß-Inquarts konterkariert; sie ist nie in Kraft getreten. Sehr wohl in Kraft getreten ist der Erlass über die Verwaltung in der Kampfzone. Er datiert vom 21. Februar 1944 und bildete die Grundlage für die Aufrechterhaltung der Zivilverwaltung unter Kriegsbedingungen.31 Seine Bestimmungen garantierten beiden Seiten für die Gebiete, in denen es in Frontnähe zu militärischen Operationen kommen würde, Kompetenzen und Handlungsspielräume. Zum einen war die Zivilverwaltung gehalten, die Anordnungen durchzuführen, die der Wehrmachtbefehlshaber oder befugte nachgeordnete Dienststellen oder Truppenführer im zivilen Bereich in den Kampfzonen an sie richteten (§§ 4 und 5). Zum anderen wurde ausdrücklich statuiert, dass die bestehende Verwaltungs- und Gerichtsorganisation aufrechtblieb und alle Dienststellen des Reichskommissariats ihre Tätigkeiten „gemäss den bestehenden Vorschriften“ weiterhin auszuführen hätten. Auch der Arbeitsbereich der NSDAP in den Niederlanden blieb vom Kampfzonenerlass unberührt (§ 1). Eine Umorganisation der Zivilverwaltung und der deutschen Parteiorganisation oder gar deren Unterordnung unter die Wehrmacht wurde vom Reichskommissar somit in keiner Weise in Erwägung gezogen. Zu seinen Stellvertretern in den gegebenenfalls zu errichtenden Kampfzonen ernannte Seyß-Inquart die Generalkommissare Rauter und Wimmer. Während der Höhere SS- und Polizeiführer mit der Wahrnehmung aller polizeilichen Angelegenheiten betraut wurde, amtierte Wimmer als der allgemeine Vertreter des Reichskommissars (§ 2). Diese Regelung bot dem Reichskommissariat mehrere Vorteile: Generell sicherte sie der Zivilverwaltung und ihrem Chef Einfluss auch in den Gebieten, in denen es nach einer Landung der Alliierten zu Kampfhandlungen kommen würde; der Wehrmachtbefehlshaber konnte also nicht, wie er im Entwurf seiner Dienstanweisung vorgesehen hatte, die gesamte vollziehende Gewalt umstandslos an sich ziehen. Zweitens übertrug Seyß-Inquart dem Generalkommissar für Verwaltung und Justiz als seinem Vertrauten für den Bereich der Kampfzonen alle Befugnisse, die ihm selbst als Reichskommissar zustanden, und ermächtigte seinen Duzfreund Wimmer, in seinem Namen Rechtsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften zu erlassen und den deutschen und niederländischen Dienststellen Weisungen zu erteilen. Drittens band er den SS-Komplex auch in jenen Gebieten ein, in denen es zu Kriegshandlungen kommen würde – Himmler hatte in diesem Punkt keinen Grund, mit Seyß-Inquart unzufrieden zu sein. In seinen Grundzügen war Seyß-Inquarts Kampfzonenerlass nicht nur mit Hitlers Anordnung vom 20. Mai 1940 zu vereinbaren. Er trug auch der Tatsache Rechnung, dass der ‚Führer‘ am 17. Januar 1944 den Oberbefehlshaber West Rundstedt zwar ermächtigt hatte, 31 VO 3/1944, abgedruckt in: VOBl. NL 1944–1945, 7–9.

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„mit sofortiger Wirkung einen von ihm festgelegten Bereich an den belgischen und französischen Küsten ganz oder teilweise zur ‚Kampfzone‘ zu erklären“; nach dieser Weisung waren alle nichtmilitärischen Dienststellen für den Bereich der Kampfzonen an Rundstedts Anordnungen gebunden.32 Elf Tage später wurde die Verfügung auf die Niederlande ausgeweitet – aber mit einer wichtigen Ausnahme: Im Gebiet des Reichskommissariats war die Armee nicht befugt, den Dienststellen der Zivilverwaltung Anordnungen zu erteilen. Die hier stationierten Dienststellen und Einheiten der Wehrmacht wurden von ihrem Oberbefehlshaber verpflichtet, Anordnungen, die in den Kampfzonen die Zivilverwaltung betrafen, ausschließlich an Seyß-Inquart zu richten, der dann für die Umsetzung zu sorgen hatte.33 Damit wurde die politische Verantwortlichkeit des Reichskommissars einmal mehr von Hitler unterstrichen. Zugleich wurde der Unterschied zwischen der Militärverwaltung in Frankreich und Belgien einerseits und der Zivilverwaltung in den Niederlanden andererseits noch einmal hervorgehoben; nicht einmal angesichts der Invasionsgefahr zeigte Hitler Bereitschaft, seinen politischen Vertreter in den ‚germanischen‘ Niederlanden dem Militär unterzuordnen. Vor diesem Hintergrund konnte Seyß-Inquart im Februar seinen Kampfzonenerlass in Kraft setzen. Die Sonderstellung der Zivilverwaltung in den Niederlanden hatte grundsätzlich allerhöchste Rückendeckung. Diese Entwicklungen setzten dem Tauziehen zwischen zivilen und militärischen Instanzen allerdings kein Ende. Es ging auf Reichsebene wie auch innerhalb der Niederlande weiter und reichte hier bis in den Erlass über den Ausnahmezustand, der am 12. Mai 1944 in Kraft gesetzt wurde.34 In ihm reklamierte der Reichskommissar unzweideutig für sich das Recht, den Ausnahmezustand auszurufen und bei Bedarf wieder aufzuheben, „sofern es die militärische Lage erfordert“. Dies tat er zwar „auf Antrag des Wehrmachtbefehlshabers in den Niederlanden“ (§§ 1 bzw. 12). Die Entscheidung darüber, ob dessen Antrag stattgegeben wurde, lag aber bei ihm als dem Vertreter des ‚Führers‘ in den Niederlanden – der Chef der Zivilverwaltung saß somit in einer militärisch äußerst relevanten Frage am längeren Hebel. Vertretern seiner Behörde war die Durchsetzung von Forderungen vorbehalten, die der Wehrmachtbefehlshaber oder nachgeordnete Wehrmachtsdienststellen oder -kommandanten zur Durchführung ihres militärischen Auftrags im zivilen Bereich stellten (§ 5). Neben Seyß-Inquart selber waren dies Wimmer, der hier wie im Kampfzonenerlass als allgemeiner Vertreter des Reichskommissars benannt wurde, Rauter, der auch hier wieder ermächtigt wurde, den Reichskommissar in allen polizeilichen Angelegenheiten zu vertreten, und die Beauftragten für die Provinzen und die Städte Amsterdam und Rotterdam (§§ 5 und 7). Im Umkehrschluss bedeutete diese Regelung, dass General Christiansen nicht die von ihm gewünschte Befugnis zugesprochen 32 Zit. nach: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 291, 384. 33 Zit. nach: ebd., Dok. 298, 391. 34 VO 15/1944 vom 12. Mai 1944, VOBl. NL 1944–1945, 37–43. Um im Zusammenhang mit dem Kampfzonenerlass und dem Erlass über den Ausnahmezustand Konflikte zu vermeiden, legte Lammers Wert auf das Einvernehmen mit Himmler und Keitel; sollte eine einvernehmliche Lösung ausbleiben, müsse eine Führerentscheidung herbeigeführt werden. Siehe Lammers an Seyß-Inquart vom 25. Februar 1944, BArch, NS 19/1501, Bl. 5.

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bekam, aus eigener Macht den Ausnahmefall zu verhängen, und nur in Einzelfällen durfte die Wehrmacht deutschen oder niederländischen Dienststellen der Zivilverwaltung unmittelbar Weisungen erteilen. Generell war es nicht die Armee, sondern das Reichskommissariat, das unter den Bedingungen des Ausnahmezustands gegenüber staatlichen Behörden, Gerichten und sogar dem Personal von medizinischen Berufen in den Niederlanden ein Weisungsrecht besaß, und nur die Zivilverwaltung hatte die Befugnis, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften zu erlassen (§ 8). Wie beim Kampfzonenerlass ging es Seyß-Inquart beim Erlass über den Ausnahmezustand darum, nicht nur die Arbeit, sondern auch die Suprematie der Zivilverwaltung so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. In diesem Sinn legte er fest, dass „das bestehende Recht und die bestehende Verwaltungs- und Gerichtsorganisation des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete und der ihm angegliederten Dienststellen sowie die der niederländischen Dienststellen“ während des Ausnahmezustands in Kraft blieben, und wie im Kampfzonenerlass blieb der Arbeitsbereich der NSDAP in den Niederlanden durch den Erlass vom 12. Mai 1944 unberührt (§ 11). Konsequenterweise wurden die bisher geltenden Verfahrensvorschriften für die Ahndung aller Aktivitäten, die den Alliierten zugutekommen konnten, „die Wehrkraft des Grossdeutschen Reiches oder seiner Verbündeten“ beeinträchtigten oder die Durchführung militärischer Operationen der Wehrmacht be- oder verhinderten, aufrecht erhalten. Damit blieben die ordentlichen Gerichte des Reichskommissariats im Spiel. Ebenso wie die Standgerichte der Wehrmacht und von SS und Polizei wurden sie durch Seyß-Inquarts Erlass ermächtigt, bei Widersetzlichkeit gegen Anordnungen der Besatzungsmacht, bei „Störung der öffentlichen Ordnung“ und bei einer Schädigung des Arbeitslebens oder der Versorgungslage im Ausnahmezustand Todesurteile oder Zuchthausstrafen nicht unter zehn Jahren zu verhängen (§§ 2–4). Durch diese Bestimmungen hatte Seyß-Inquart die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das Reichskommissariat bis in die letzte Kriegsphase hinein weiterhin maßgeblich die Politik in den Niederlanden bestimmen konnte.35 Dies hatte er geschickt vorbereitet: Schon im Vorfeld hatte er sich in Schreiben an Himmler, Bormann und Lammers dagegen ausgesprochen, die vollziehende Gewalt im Falle einer Landung der Alliierten an der Nordseeküste für die gesamten Niederlande automatisch auf die Wehrmacht übergehen zu lassen. Die Übernahme von Aufgaben der Zivilverwaltung durch die Armee für größere Teile oder gar die Gesamtheit der Niederlande konnte seiner Meinung nach ausschließlich von Hitler dekretiert werden, weil nur er „auf Grund der Gesamtlage überblicken kann, ob die Niederlande zum größeren Teil Kampfschauplatz werden oder nicht.“36 Dass er selber dank seines Immediat35 So auch In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Anm. 2 zu Dok. 513. 36 Seyß-Inquart an Himmler vom 7. März 1944, BArch, NS 19/1501, Bl. 8; ähnlich Seyß-Inquart an Christiansen vom 3. April 1944 (ebd., Bl. 13 f.). Erwartungsgemäß hatte Himmler „keine Bedenken“ gegen Seyß-Inquarts Überlegungen (Schreiben an Lammers vom 11. März 1944, ebd., Bl. 9), und Christiansen blieb kaum etwas anderes übrig als zur Kenntnis zu nehmen, „dass voraussichtlich die vollziehende Gewalt nicht mehr in der alten Form übernommen wird, sondern dass Reichskommissar und Wehrmachtbefehlshaber nebeneinander an der gemeinsamen Aufgabe werden arbeiten müssen“ (so Rauter an Himmler vom 11. April 1944, ebd., Bl. 11).

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zugangs zum ‚Führer‘ in dieser Frage einen größeren Einfluss ausüben konnte als der Wehrmachtbefehlshaber, brauchte gar nicht erst ausgesprochen zu werden. Mit der starken Position, die dem Reichskommissariat im Falle eines Ausnahmezustands ohne grundsätzliche strukturelle Änderungen die Weiterarbeit erlaubte und eine Unterordnung der Zivilverwaltung unter General Christiansen unterlief, setzte sich Seyß-Inquart auf der ganzen Linie durch. Drei Tage vor Bekanntgabe seines Erlasses über den Ausnahmezustand einigten sich Seyß-Inquart, Keitel und Reichskabinettsrat Hermann von Stutterheim als Vertreter von Lammers grundsätzlich auf die Vorstellungen des Reichskommissars.37 Lediglich im Detail bestand das Oberkommando der Wehrmacht auf Änderungen des ursprünglichen Entwurfs. So forderte Keitel etwa die Ersetzung des Begriffs „Kriegsrecht“ durch „Ausnahmezustand“ und reklamierte für das OKW ein Mitspracherecht bei der Festlegung des Zeitpunkts, zu dem Hitler im Bedarfsfall die Übernahme der vollziehenden Gewalt in den gesamten Niederlanden durch Christiansen vorgelegt werde. Auch setzte Keitel durch, dass der Reichskommissar den Ausnahmezustand erst auf Antrag des Wehrmachtbefehlshabers verhängen durfte.38 Zu diesen Zugeständnissen konnte sich Seyß-Inquart leicht verstehen. Sie hatten weitgehend kosmetischen Charakter, er selber blieb nach dem Erlass über den Ausnahmezustand Herr des Verfahrens. Mehr noch: Auch nach der Verkündung dieses Erlasses hielt die Zivilverwaltung den Druck auf die Wehrmacht in den Niederlanden aufrecht. Drei Tage nach dessen Verkündung forderte Seyß-Inquart General Christiansen auf, möglichst rasch für die Einrichtung von Militärstandgerichten zu sorgen, um neben den ordentlichen Gerichten, zivilen Sondergerichten und den SS- und Polizeigerichten bei einer alliierten Landung „vor allem Streikhandlungen und passive Resistenz und Schädigung der Versorgungslage“ juristisch effektiv ahnden zu können. Auch die Wehrmacht wurde somit in die Verantwortung genommen, um mit möglichen Widerstandsaktionen im wahrsten Sinn des Wortes kurzen Prozess zu machen.39 Nicht zu Unrecht war für Rauter aus Sicht der Zivilverwaltung die Einbindung der Wehrmachtsgerichtsbarkeit in die Aburteilung von Resistenz eine politische Notwendigkeit. Würde nämlich die Verfolgung von Widerstand durch die anderen Instanzen des deutschen Justizapparats nicht ausreichend sein, habe die Wehrmachtsführung einen Vorwand, „um möglichst rasch die vollziehende Gewalt übernehmen zu können.“40 Dies zu 37 Aktenvermerk von Rudolf Brandt vom 11. Mai 1944 über die Besprechung vom 9. Mai, ebd., Bl. 23. 38 Keitel an Seyß-Inquart vom 10. Mai 1944, zit. nach: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 544, 1343. 39 Seyß-Inquart an Christiansen vom 15. Mai 1944, BArch, NS 19/3403, Bl. 165. Rauter zufolge verfolgte Seyß-Inquart mit der Forderung nach baldiger Einrichtung von Militärstandgerichten die Absicht, „die Wehrmacht an diesem Ausnahmezustand zu interessieren und zu aktivieren“ (Fernschreiben an Himmler vom 27. Mai 1944, zit. nach: In ’t Veld [Hrsg.], De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 554, 1364). 40 Fernschreiben Rauters an Himmler vom 23. Mai 1944, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 549, 1352; siehe auch Rauters Schreiben an Himmler vom 15. Mai 1944, in: ebd., Dok. 545, 1344–1346. Auf Rauters Wunsch hin beauftragte Himmler seinen Verbindungsoffizier im Führerhauptquartier, SS-Brigadeführer Hermann Fegelein, sofort mit der zuständigen Stelle der Wehrmacht im Führerhauptquartier Kontakt aufzunehmen, wenn die Militärstandgerichte nicht gleichzeitig mit der Verhän-

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verhindern, war das gemeinsame Ziel von Rauter und Seyß-Inquart. Noch in einem weiteren Punkt zogen der Reichskommissar und der Höhere SS- und Polizeiführer im Zusammenhang mit der Umsetzung des Erlasses über den Ausnahmezustand an einem Strang: Seyß-Inquart ersuchte den Wehrmachtbefehlshaber, Rauter im Falle von örtlich begrenzten „Feindaktionen“ im niederländischen Raum Soldaten und ganze Stabseinheiten zur Verfügung zu stellen, damit SS und Polizei „für die Ruhe und Ordnung im rückwärtigen Gebiet“ sorgen könnten, während die Wehrmacht im Gefechtsgebiet den Rücken frei habe.41 Diese Aspekte flossen in die Dienstanweisung zur Durchführung des Erlasses des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete über den Ausnahmezustand ein, die Seyß-Inquart am 26. Mai 1944 für den Dienstgebrauch bekannt gab.42 Hierin wurden nicht nur die wichtigsten Bestimmungen von Seyß-Inquarts Erlass vom 12. Mai noch einmal wiedergegeben. Die Dienstanweisung erinnerte auch die Wehrmacht an die Verpflichtung, sofort nach Verhängung des Ausnahmezustands Militärstandgerichte einzurichten und dem HSSuPF militärische Kräfte „für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung“ zur Verfügung zu stellen. Und schließlich brachte der Reichskommissar noch einmal unmissverständlich seine Grundhaltung zum Ausdruck, dass „feindliche Angriffsoperationen auf den europäischen Westen […] nicht unbedingt zur Übernahme vollziehender Gewalt durch den Wehrmachtbefehlshaber in den Niederlanden“ führen müssten und ein Ausnahmezustand erst dann in Frage komme, wenn die Gesamtheit der Niederlande betroffen sei; örtlich begrenzte kriegerische Auseinandersetzungen hingegen rechtfertigten Seyß-Inquart zufolge nicht die Verhängung des Ausnahmezustands und die damit verbundene Ausweitung von Kompetenzen für die Wehrmacht. Es ging Seyß-Inquart mit seiner Dienstanweisung denn auch darum, „im Invasionsfall die zivile Verwaltung des Reichskommissars, wenn auch in beschränktem Umfang [,] bestehen zu lassen.“ Immerhin verpflichtete er seine Stellvertreter und die Beauftragten für die Provinzen und die Städte Amsterdam und Rotterdam, die Anordnungen der befugten Wehrmachtsdienststellen dann umzusetzen, wenn General Christiansen auf der Durchführung seiner Forderungen beharren würde. Doch in der Praxis war dieses Entgegenkommen wertlos: Faktisch blieb die Zivilverwaltung federführend, nachdem Seyß-Inquart am 4. September 1944 von seiner Selbstermächtigung zur Verhängung des Ausnahmezustands Gebrauch gemacht hatte.43 Wie in Norwegen war die militärische Führung rechtzeitig an gung des Ausnahmezustands eingerichtet werden sollten. Siehe SS-Obersturmbannführer Horst Bender (SS- und Polizeirichter, Leiter der Abteilung III im Kommandostab Reichsführer-SS) an Fegelein vom 11. Juni 1944, in: ebd., Dok. 560, 1370. 41 Seyß-Inquart an Christiansen vom 15. Mai 1944, BArch, NS 19/3403, Bl. 165. 42 NIOD, 20/9132. Über diese Dienstanweisung hatten Seyß-Inquart, Christiansen und Rauter seit dem Inkraftsetzen des Erlasses über den Ausnahmezustand verhandelt; siehe Rundschreiben Rauters vom 26. Mai 1944, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 553, 1362. 43 Siehe den Text in BArch, ZSg. 103/5515, auf Niederländisch unter anderem in Het Vaderland und Het Nationale Dagblad bekannt gemacht, jeweils Ausgaben vom 5. September 1944. Am selben Tag übrigens kündigte die Exilregierung im niederländischen Staatsblad die Verhängung des Belagerungszustands in jenen Gebieten an, die in der Folgezeit von Alliierten und den ‚Inländischen Streitkräften‘ befreit würden; siehe Romijn, Burgemeesters, 571.

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den Rand gedrängt worden, in beiden ‚germanischen‘ Ländern war die nationalsozialistische Zivilverwaltung bestrebt, solange und soweit wie möglich die Fäden in der Hand zu halten.44 Die Aufrechterhaltung der Suprematie der Zivilverwaltung bis in die letzte Kriegsphase hinein geschah auf ausdrücklichen Wunsch Hitlers. Dieser empfing Ende Januar 1945 Terboven und anschließend Seyß-Inquart.45 Nachdem man sich über die militärische Lage und die vermeintlichen politischen Optionen unterhalten hatte, wurde Seyß-Inquart beauftragt, dem ‚Führer‘ „beeilt Vorschläge für eine Vereinfachung der Wehrmachtverwaltung und über sonstige Einsparungsmaßnahmen im Bereich der Wehrmacht zu unterbreiten.“ 46 Auf dieser Grundlage gab Hitler nach einem neuerlichen Gespräch mit Seyß-Inquart Anfang Februar die Weisung aus, „dass die Militärverwaltung in den Niederlanden im Einvernehmen mit dem Reichskommissar handeln solle.“47 Damit war mehr gemeint als eine bloße Einbeziehung der Zivilverwaltung in die deutsche Niederlandepolitik unter den Bedingungen des militärischen Ausnahmezustands. Vielmehr erhielt Seyß-Inquart am 5. Februar per Führer­ er­lass die Vollmacht, alle Dienststellen, die Wehrmacht, Waffen-SS und Polizei innerhalb der Niederlande besaßen, mit dem Ziel zu „überprüfen“, „durch einen rationellen Einsatz von Menschen und Mitteln, durch Stillegung, Zusammenlegung oder Einschränkung aller nicht unbedingt zur Kriegführung nötigen Aufgaben und durch Vereinfachung der Organisation die Höchstzahl von Soldaten zur Abgabe an die Front freizustellen.“ Ausgenommen von Seyß-Inquarts Prüfbefugnis waren nur die Kommandostellen der Truppenführung. Die letztendliche Entscheidung über Seyß-Inquarts „Verbesserungsvorschläge“ lag im Zweifelsfall bei Keitel bzw. Himmler. Trotz dieser Einschränkungen bedeutete der Führererlass die Bestätigung, dass der Reichskommissar gegenüber der Wehrmacht eine herausgehobene Position behielt. Seine Befugnisse für die besetzten Teile der Niederlande gingen denn auch über die – an sich schon weit gefassten – Kompetenzen hinaus, die den Reichsverteidigungskommissaren zustanden: Während Seyß-Inquart seine Prüffunktion eigenverantwortlich durchführen durfte und Vertreter von Wehrmacht, Waffen-SS und Polizei lediglich „zu beteiligen“ waren,48 mussten sich die Gauleiter, die in Deutschland in Personalunion als Reichsverteidigungskommissare fungierten, die gleiche Aufgabe in paritätisch besetzten gemischten Kommissionen mit militärischen Befehlshabern teilen.49 Als Chef einer nationalsozialistischen Zivilverwal44 So auch Umbreit, Die deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten, 99 f. 45 Das Treffen zwischen Hitler und Seyß-Inquart fand am 29. Januar 1945 statt; siehe Besymenski, Die letzten Notizen von Martin Bormann, 105. Seyß-Inquart selber hat irrtümlich mehrfach den 1. Februar angegeben und nur von einem statt zwei Treffen mit Hitler berichtet; siehe z. B. Seyß-Inquart, Ein Nachwort, Bl. 28 und den Brief an seine Familie vom 9. Januar 1946, ÖGZ-A, NL-96, DO 1105, Mappe 27. 46 Bormann an Goebbels vom 1. Februar 1945, zit. nach: Akten der Partei-Kanzlei, Teil I, Bd. 1, Nr. 18299. 47 Zit. nach der Anordnung Seyß-Inquarts vom 14. Februar 1945, NIOD, 14/129. Dieses Treffen, das für Seyß-Inquart die letzte Begegnung mit Hitler darstellte, fand am 4. Februar statt; siehe Besymenski, Die letzten Notizen von Martin Bormann, 106. 48 Das Vorstehende stammt aus Hitlers Erlass vom 5. Februar 1945, zit. nach: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 386, 480. Siehe auch Absalon, Die Wehrmacht im Dritten Reich, 304 sowie Lammers an Himmler vom 6. Februar 1945, in: In ’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland, Bd. 2, Dok. 643, 1476. 49 Siehe Hitlers Erlass vom 10. Dezember 1944, in: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 377, 469 f. Zu den

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tung erhielt Seyß-Inquart somit einen beachtlichen Einfluss auf Planungen zur Dislozierung und zum Einsatz der bewaffneten Verbände. Letztlich lag die politische Botschaft von Hitlers Erlass vom 5. Februar – wie Lammers unmissverständlich hervorhob – darin, dass „die in den Niederlanden zu verfolgende politische Linie ausschließlich von Reichskommissar Seyss-Inquart zu bestimmen sei und dass sich alle in den Niederlanden tätigen militärischen und zivilen deutschen Dienststellen, auch soweit sie dem Reichskommissar nicht unterstehen, uneingeschränkt an die vom Reichskommissar festgelegte politische Linie zu halten haben.“50 Damit machte der ‚Führer‘ deutlich, dass er in diesem Gebiet selbst angesichts des unaufhaltsamen Vormarschs der alliierten Armeen am Primat der Zivilverwaltung festhielt.51 So blieb in den Niederlanden das Reichskommissariat die entscheidende politische Instanz, ihm wurden Partei und Wehrmacht untergeordnet. Dies machte einen weiteren Unterschied zum Reich aus, wo die Gauleiter als Reichsverteidigungskommissare besonders in der letzten Kriegsphase den Einfluss der NSDAP ausweiten konnten. Seyß-Inquart selber war allerdings klug genug, aus Hitlers Weisung keine Berechtigung zu einer umfassenden politischen Kontrolle über die bewaffneten Verbände abzuleiten. So warnte er die Generalkommissare davor, „dass die zivile Verwaltung sich in die Verantwortung der Militärverwaltung eindrängt. Es darf auch nicht der leiseste Anschein einer Aufsichtsverwaltung durch die zivilen Stellen erweckt werden […].“ Hitlers Weisung sei eher eine Grundlage dafür, „jenes Einvernehmen in der Durchführung der Verwaltung sicherzustellen, das dem übereinstimmenden Willen der beiden vollzugsausübenden Befehlsträger in den Niederlanden, des Wehrmachtbefehlshabers in den Niederlanden und des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete, entspricht.“52 Faktisch hatte Seyß-Inquart keine Gelegenheit, von seiner Prüfkompetenz Gebrauch zu machen. Nach dem Scheitern der Ardennenoffensive ließ die militärische Entwicklung so gut wie keinen Raum für eine rationale Planung von Einsparpotenzialen bei den bewaffneten Verbänden; Vorschläge von Reichskommissar Seyß-Inquart zur Optimierung des Einsatzes bewaffneter Verbände sind nicht überliefert. Den Kollaps und die Kapitulation des Deutschen Reiches konnte Hitlers Erlass vom 5. Februar 1945 nicht einmal ansatzweise aufhalten. Ungeachtet seiner faktischen Bedeutungslosigkeit reiht er sich aber in eine allgemeine Entwicklung ein, die die letzte Phase der deutschen Besatzungspolitik in den Niederlanden kennzeichnet: Obwohl das Land in der zweiten Jahreshälfte 1944 wieder Kriegsgebiet geworden war, tat Seyß-Inquart alles, um bis zum Ende in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ eine Kompetenzverlagerung von der zivilen auf die militärische Macht zu verhindern. Hierin wusste sich der machtbewusste Reichskommissar mit Hitler einig und von ihm gestützt. Der Glaube an die Reichsverteidigungskommissaren in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs vgl. jetzt Keller, Volksgemeinschaft am Ende, Kap. 2.4. 50 Fernschreiben Lammers an Himmler vom 23. Februar 1945, BArch, NS 19/2429, Bl. 129. Gegen In ’t Veld (Inleiding, 420) ist festzuhalten, dass sich diese Anordnung nicht in erster Linie an den SS-Komplex, sondern an die Wehrmacht richtete. 51 Ähnlich In ’t Veld, Inleiding, 346. 52 Anordnung Seyß-Inquarts vom 14. Februar 1945, NIOD, 14/129.

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

Erfüllung einer nationalsozialistischen Mission, die seit dem Führererlass vom 18. Mai 1940 die Leitlinie seiner Tätigkeit als Chef der Besatzungsverwaltung in den besetzten Niederlanden gewesen war, verband ihn bis in den Untergang mit seinem ‚Führer‘. 14.2 Überflutungen und Politik der ‚verbrannten Erde‘

Bei den Auseinandersetzungen zwischen zivilen und militärischen Machtträgern konnte sich Seyß-Inquart dank Hitlers Unterstützung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Maße behaupten, das die Handlungsfreiheit der Wehrmacht in gravierender Weise einengte; die Installierung einer Militärverwaltung, die mit der Übernahme der vollziehenden Gewalt durch die Wehrmacht im Gefolge der Verhängung des Ausnahmezustands denkbar gewesen wäre, vermochte er 1944/45 erfolgreich zu verhindern. Dies hieß allerdings nicht, dass der Reichskommissar die Verantwortung für die militärischen Operationen, die die Wehrmacht in den Niederlanden durchführte, übernahm, und dies war auch weder die Absicht seiner Erlasse über die Einrichtung von Kampfzonen und über die Verhängung des Ausnahmezustands noch die des Führererlasses vom 5. Februar 1945. Deren Ziel lag darin, den Dienststellen der Zivilverwaltung trotz Kriegszustand weiterhin die Möglichkeit zu einer weitreichenden politischen und administrativen Tätigkeit zu sichern, Seyß-Inquart eine Suprematie über die Wehrmacht zu gewährleisten und dem SS-Komplex die Möglichkeit offenzuhalten, hinter der Front umfassend an der Bekämpfung jeglichen Widerstands mitzuwirken. Trotzdem steht außer Frage, dass der Reichskommissar über die Planungen und Aktionen informiert war, mit deren Hilfe die deutsche Armee die alliierten Truppen bekämpfte. Zu den militärischen Optionen, von denen die Wehrmacht in den Niederlanden Gebrauch machte, gehörten gezielte Überflutungen. Dieses Mittel war freilich keine Erfindung der Besatzungsmacht – schon die niederländische Armee hatte im Herbst 1939 begonnen, ganze Landstriche unter Wasser zu setzen, um einen befürchteten Vormarsch deutscher Truppen zu be- und verhindern.53 Nun wurde dasselbe Instrument von der Besatzungsmacht eingesetzt. Entsprechende Planungen waren in deutschen Militärkreisen schon frühzeitig erwogen worden,54 kamen aber erst ab 1944 großflächig zum Tragen. Seyß-Inquart besaß hierüber genaue Kenntnis. So wurden er und die Generalkommissare beispielsweise am 15. Februar 1944 in Hilversum von General Christiansen darüber informiert, dass die Wehrmacht zwei Wochen später mit großräumigen Inundationen beginnen werde.55 Den Spitzen der Zivilverwaltung war auch bewusst, dass durch das Salzwasser der Nordsee wertvolle Landbauflächen zerstört würden, die für die Versorgung der einheimischen Bevölkerung, der deutschen Besatzung und den Export ins Reich gebraucht wurden. So nahm Rauter emotionslos zur Kenntnis, dass 53 Siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 2, 126–130. 54 Siehe Plehwe, Die Überflutungen in den Niederlanden. Plehwe war seinerzeit als Generalstabsoffizier in den Niederlanden stationiert gewesen und verfasste in den Sechzigerjahren diese Darstellung auf Anregung von Percy Ernst Schramm für die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; sie ist nicht frei von exkulpatorischen Zügen. 55 Siehe Rauters Fernschreiben Nr. 5169 an Himmler vom 16. Februar 1944, BArch, NS 19/1501, Bl. 2.

14.2 Überflutungen und Politik der ‚verbrannten Erde‘

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die Wehrmacht beabsichtige, im Laufe des März 1944 insgesamt 77.000 Hektar Ackerland und 58.000 Hektar Weideland unter Wasser zu setzen. Die einzige Konsequenz, die der Generalkommissar hieraus zog, war, dass das Reich fortan auf die Einfuhr landwirtschaftlicher Produkte aus den Niederlanden verzichten und die Versorgung der hier stationierten Soldaten mit Nahrungsmitteln übernehmen müsse. Die Legitimität der Überflutungen an sich zweifelte er mit keinem Wort an.56 Wie Seyß-Inquart damals über diese Frage dachte, ist nicht überliefert. Er selber hat nach Kriegsende die Behauptung aufgestellt, es sei seiner Initiative zu verdanken gewesen, dass „ein Grossteil der Befehle“ zur Überflutung ganzer Landstriche rückgängig gemacht worden sei; auf diese Weise habe gut die Hälfte der ursprünglich anvisierten Flächen vor Überflutungen bewahrt werden können.57 Diese Behauptung lässt sich zwar nicht belegen, und wie noch gezeigt werden wird, stand er Inundationen in den letzten Kriegsmonaten mitnichten derart ablehnend gegenüber, wie seine Nachkriegsaussage suggerierte. Im Gegenteil: Im Frühjahr 1945 hat er wiederholt Überflutungen als Abschreckungsmittel eingesetzt. Andererseits ist belegt, dass Seyß-Inquart jenen Plünderungen und Zerstörungen ‚seiner‘ Niederlande distanziert gegenüberstand, die aus seiner Sicht dem langfristigen Ziel des Aufbaus einer nationalsozialistischen Gesellschaft nicht förderlich sein konnten und damit in gewisser Weise politisch sinnlos waren. Hierzu gehört, dass der Reichskommissar der Zerstörung der Häfen von Amsterdam und Rotterdam, die auf Befehl Hitlers im September 1944 von Sprengkommandos der Wehrmacht in Angriff genommen wurde, Einhalt gebieten konnte.58 Auch in diesem Zusammenhang nahm er nach Kriegsende für sich in Anspruch, Schlimmeres verhütet zu haben. So sei es seiner Intervention und des Einspruchs seines Beauftragten für die Provinz Südholland Schwebel bei General Christiansen zu verdanken gewesen, dass in Rotterdam die Hälfte der beabsichtigten Sprengungen unterblieben sei. Er selber habe sich seinerzeit geweigert, an den Sprengungen teilzunehmen, von den Details habe er nicht einmal Kenntnis gehabt. Und dass die Bergwerke im limburgischen Kohlerevier beim Vorrücken der britischen Armee nicht in ihrer Substanz zerstört, sondern im Sinne der ARLZ-Maßnahmen nur für einige Zeit „gelähmt“ wurden, führte er vor dem Nürnberger Gerichtshof auf eine entsprechende Anfrage von ihm bei Speer zurück.59 In einem ähnlichen Sinn äußerten sich etliche seiner früheren Weggefährten. So sagte Schwebel in Nürnberg aus, Seyß-Inquart habe dafür gesorgt, dass die Installierung von Zeitminen in öffentlichen Gebäuden durch die Wehrmacht unterbunden worden sei,60 und der 56 Aktenvermerk Rauters für Himmler und Erich Naumann vom 16. März 1944, IfZ, IMG-Dok. NO-1336. 57 Absurderweise warf er im selben Atemzug den Alliierten vor, durch die Bombardierung von Dämmen auf der Insel Walcheren im Oktober 1944 viel nachhaltigere Zerstörungen angerichtet zu haben als alle Flutungen zusammengenommen, die die Besatzungsmacht durchgeführt hätte. Siehe Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 106 f. 58 Vgl. Klemann, Nederland 1938–1948, 355 und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 8–10. 59 Siehe seine Aussagen in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 18 f. und 29. Eine ausdrückliche Bitte Seyß-Inquarts, auf die Sprengung von Schleusen und Dämmen zu verzichten, ist für die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs bezeugt; siehe unten, S. 572. 60 Siehe ebd., 253. Um welche öffentlichen Gebäude es sich handelte, geht aus Schwebels Aussage nicht hervor.

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

schon erwähnte Erwin Tzschoppe, zwischen September und November 1944 als SS-Oberführer Kommandeur des Küstenverteidigungsabschnitts Nord (Holland), gab gut ein Jahr nach Kriegsende zu Protokoll, dass es Seyß-Inquart in der letzten Phase der deutschen Besatzung um „die Erhaltung des Stadtbildes [von] Den Haag und Scheveningen“ gegangen sei und der Reichskommissar sich persönlich um „die Sicherung des Eigentums und der Ernährung der Zivilbevölkerung“ bemüht habe.61 In ihrer ebenso übertriebenen wie durchschaubaren Schönfärberei, die in einem krassen Widerspruch zu Seyß-Inquarts Mitwirkung an den Raubzügen des NS-Regimes in den Niederlanden und zu seiner Mitverantwortung für den Hungerwinter steht, gibt diese Erklärung eine allgemeine Tendenz wieder, die sich in zahlreichen Nachkriegsaussagen zu Seyß-Inquarts Einstellung in der letzten Phase der Besatzungsgeschichte findet. Demnach sei der Reichskommissar bestrebt gewesen, Zerstörungen zu vermeiden, die für das NS-Regime politisch keinen Gewinn hätten darstellen können oder gar kontraproduktiv gewesen seien. Zu den nicht überprüfbaren Quellen, die eine solche Haltung belegen sollen, zählt auch die Aussage des Generals der Kavallerie Philipp Kleffel. Ihm zufolge hätten er selber in seiner damaligen Funktion als stellvertretender Kommandeur der 25. Armee und Seyß-Inquart im Frühjahr 1945 Hitler in einem Brief „um die Einstellung der Kämpfe zur Vermeidung einer schweren Schädigung des Landes und zur Vermeidung einer Hungerkatastrophe“ ersucht62 und angeregt, die Niederlande zu räumen; die frei werdenden Soldaten hätten an anderen Stellen eingesetzt werden sollen. Eine Antwort habe er, so ergänzte Seyß-Inquart, nicht erhalten.63 In dieselbe Richtung weisen Berichte, dass Seyß-Inquart die Ausweitung der Strategie der ‚verbrannten Erde‘, die Hitler am 19. März 1945 mit seinem sogenannten Nero-Befehl für das Reichsgebiet anordnete,64 im Hinblick auf die Niederlande abgelehnt habe. Tatsächlich ist eine solche Strategie in keinem der besetzten westeuropäischen Länder konsequent und flächendeckend umgesetzt worden. Welche Rolle aber spielte Seyß-Inquart hierbei? Speer zufolge war der Reichskommissar eigens per Auto zu ihm nach Oldenburg gereist, um ihm im persönlichen Gespräch mitzuteilen, er wolle die Zerstörung des Landes durch massive Überflutungen nicht zulassen. Vom Rüstungsminister habe Seyß-Inquart dann die Zustimmung erhalten, dass er für den zivilen Bereich davon absehen könne, in seinem ‚Herrschaftsgebiet‘ den Nero-Befehl auszuführen.65 Anschließend habe der Reichskommissar von Generaloberst Johannes Blaskowitz, dem Kommandeur der Heeresgruppe H, die Zusage erwirkt, dass auch 61 Seine eidesstattliche Erklärung vom 21. Mai 1946 ist abgedruckt in: ebd., Bd. 41, Dok. Seyß-Inquart-112, 391 f. 62 Steinbauer unter Bezug auf IMG-Dok. Seyß-Inquart-111, zit. nach: ebd., Bd. 17, 461 f. 63 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 132. 64 Der Nero-Befehl, mit dem Hitler die Zerstörung der militärisch nutzbaren Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie aller Sachwerte befahl, die den Alliierten von Nutzen sein konnten, ist abgedruckt in: Moll (Hrsg.), Führer-Erlasse, Dok. 394, 486 f. Einige Tage später wurde der Nero-Befehl mehrmals durch Hitler leicht relativiert; siehe ebd., Dok. 398, 489 f. und Dok. 400, 491. Zum historischen Kontext im Rahmen von „Endphaseverbrechen“ des NS-Regimes siehe Arendes/Wolfrum/ Zedler (Hrsg.), Terror nach innen. 65 Speer, Erinnerungen, 462. Seyß-Inquarts eigene Ausführungen zum Treffen vom 1. April 1945 finden sich in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 19.

14.3 Verhandlungen mit der Gegenseite

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die Wehrmacht in den Niederlanden einem entsprechenden Befehl „ausweichen“ werde. 66 Diese Haltung sei von General Christiansen unterstützt worden, den der Reichskommissar auf der Rückreise nach Den Haag in dessen Hauptquartier in Hilversum aufgesucht habe. Hirschfeld, dem Seyß-Inquart am Ostermontag über die Gespräche mit Speer, Blaskowitz und Christiansen berichtete, hatte den Eindruck, dass der Reichskommissar ernsthaft alles daransetzen wolle, „um das Land vor dem Untergang zu bewahren.“67 Verlässliche Quellen über Seyß-Inquarts Gespräche mit Speer, Blaskowitz und Christiansen von Ostern 1945 über die Verweigerung der Anwendung der Politik der ‚verbrannten Erde‘ in den Niederlanden gibt es nicht. Eine offene Frage ist, ob die Nachricht über seine Fahrt nach Oldenburg bis zu Hitler gedrungen ist. Fakt ist, dass der ‚Führer‘ seinem Reichskommissar in den Niederlanden nach dem Erlass des Nero-Befehls weiterhin Vertrauen entgegenbrachte. Immerhin hat er ihn vier Wochen nach dessen Treffen mit Speer zum Außenminister im Kabinett Dönitz bestimmt. Offen ist auch, aus welchen Gründen sich Seyß-Inquart, Speer und andere NS-Funktionäre wie Karl Hermann Frank68 der Strategie der ‚verbrannten Erde‘ verweigert bzw. widersetzt haben wollen, obwohl sie gegen die ARLZ-Maßnahmen oder manche anderen Maßnahmen, die auf eine Beraubung, Plünderung, Schädigung und Zerstörung von Land und Leuten hinausliefen, keinen Einspruch erhoben, und obwohl alle ein eminentes Interesse daran hatten, den Vormarsch der Alliierten zu stoppen und den Niedergang Deutschlands und des NS-Regimes aufzuhalten. Verspürten sie ungeachtet der Brutalität, mit der die Nationalsozialisten in der Vergangenheit aufgetreten waren, eine Art von Verantwortungsbewusstsein gegenüber der betroffenen Bevölkerung? Sahen sie den militärischen und/oder politischen Nutzen der ‚verbrannten Erde‘ nicht ein oder war er ihnen in Relation zu den Kosten zu gering? Oder spekulierten sie darauf, im Falle einer deutschen Niederlage eine Ablehnung des Nero-Befehls zu ihrer Verteidigung geltend machen zu können? 14.3 Verhandlungen mit der Gegenseite69

Dieselben Fragen stellen sich im Hinblick auf die Gespräche und Verhandlungen, die Seyß-Inquart und einzelne seiner hierzu beauftragten Mitarbeiter seit Mitte Dezember 1944 zunächst mit niederländischen Spitzenbeamten, dann mit Vertretern der Exilregierung und zum Schluss mit den Alliierten führten. Letztendlich sind solche Fragen nicht zu beantworten, da auch hierzu belastbare Dokumente fehlen. Auch wenn die Motivationsfrage offenblei66 Aussage von Hans Max Hirschfeld vor dem Nürnberger Gerichtshof nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 237 f. Siehe auch seine Ausführungen in: Ders., Verantwoordelijkheid van Dr. A. Seyss Inquart. 67 Tagebucheintrag zum 2. April 1945, NIOD, 212a/2d, Bl. 81. Nach dem Nürnberger Prozess kam auch Fritzsche zu dem Ergebnis, Seyß-Inquart habe sich redlich bemüht, „die Interessen des ihm anvertrauten Landes zu wahren“, und durch die Weigerung, in seinem Verantwortungsbereich die Politik der ‚verbrannten Erde‘ zur Durchführung kommen zu lassen, habe der Reichskommissar die Niederlande „vor viel Schlimmerem“ bewahrt (zit. nach: Springer [Hrsg.], Das Schwert auf der Waage, 218 f.). 68 Vgl. Küpper, Karl Hermann Frank, 381. 69 Vgl. auch Neuman, Arthur Seyss-Inquart, Kap. 16.

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

ben muss – die überlieferten Quellen erlauben immerhin, den Inhalt der Gespräche mit der Gegenseite zu rekonstruieren und eine Reihe von Fragen zu beantworten, die Seyß-Inquarts Politik in der letzten Kriegsphase betreffen: Welche Bedeutung räumte er der Lösung des Hungerproblems ein, nachdem immer deutlicher geworden war, dass Deutschland unfähig war, die katastrophale Versorgungslage in den Griff zu bekommen? Wie weit kam er der Gegenseite in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs entgegen, und wie stellte sich in seiner Politik seit dem Winter 1944 das Verhältnis zwischen der Beschaffung von Lebensmitteln und Brennstoffen, den fortgesetzten Zerstörungen des Landes und einem Waffenstillstand oder gar einer Kapitulation dar? Dass Seyß-Inquart an Gesprächen mit der Gegenseite gelegen war, erhellt daraus, dass er mit Schwebel im Februar 1945 per Erlass einen Sonderbevollmächtigten ernannte, der von ihm den Auftrag bekam, zwecks „Zusammenfassung der Verwaltungsangelegenheiten in den Provinzen Nordholland, Südholland und Utrecht“ Verhandlungen mit den niederländischen Dienststellen im hungernden westlichen Teil des Landes zu führen.70 Im Hinblick auf die Versorgungslage waren Generalsekretär Hirschfeld und Louwes, der Generaldirektor für Ernährung, die bevorzugten Ansprechpartner für Schwebel und später für Seyß-Inquart. Die Nationaal-Socialistische Beweging hatte sich demgegenüber in den Augen der Besatzungsverwaltung diskreditiert, nachdem ein unerwartet großer Teil ihrer Mitglieder und Funktionäre am ‚verrückten Dienstag‘ geflüchtet war, und die Flügelkämpfe an der Parteispitze, die im Winter 1944/45 in der Absetzung der beiden Stellvertretenden Parteiführer Rost van Tonningen und Van Geelkerken kulminierten,71 waren nicht dazu angetan, auf Seiten des Reichskommissariats das Vertrauen in die Kollaborationspartei zu stärken. Mussert gegenüber lehnte es Seyß-Inquart im Februar 1945 sogar explizit ab, der NSB eine bevorzugte Rolle bei der Verteilung von Nahrungsmitteln zuzugestehen. Er rang sich lediglich zu der Zusage durch, Mittel zur Verfügung zu stellen, die die Möglichkeit böten, „wenigstens die Mitglieder der Bewegung gegen den Hungertod zu schützen.“ Doch selbst dieses minimale Entgegenkommen musste Seyß-Inquart zurückziehen, nachdem Mitarbeiter des Reichskommissariats Bedenken geäußert hatten.72 Somit blieben nur die Vertreter der niederländischen Staatsverwaltung übrig, um das drängende Problem der Anfuhr von Lebensmitteln und Brennstoffen in Angriff zu nehmen. Die Initiative, die einen intensivierten Kontakt zwischen der Führung des Reichskommissariats und niederländischen Spitzenbeamten auslöste, war die Gründung der ‚Zentralen Reederei für Ernährung‘ am 5. Dezember 1944. Wie oben dargestellt,73 stand sie ausschließ70 NL-HaNA, 2.11.23.02/172. 71 Siehe oben, Kap. 7.4. 72 So die Darstellung von Mussert im Brief an Seyß-Inquart vom 3. März 1945, NIOD, 123/253, Mappe 7. Bitter beklagte sich der Leider über die Zurücksetzung der niederländischen durch die deutschen Nationalsozialisten – obwohl bisher immer „die Schicksalsverbundenheit und die Gleichberechtigung der Nationalsozialisten“ behauptet worden sei. 73 Siehe oben, S. 105 f. Siehe auch Hirschfelds Tagebucheintrag zum 1. und 5. Dezember 1944, NIOD, 212a/2d, Bl. 29.

14.3 Verhandlungen mit der Gegenseite

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lich unter niederländischer Verwaltung, und ihre Schiffe durften – so lautete Seyß-Inquarts Zugeständnis – nicht von deutscher Seite requiriert werden. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass der westliche Teil der Niederlande relativ ungehindert über das Ijsselmeer mit Waren versorgt werden konnte. Mit der Gründung der Reederei brach der Kontakt zu Hirschfeld und Louwes keineswegs ab. Ab Mitte Dezember kam es mehrfach zu persönlichen Begegnungen, zu denen beide Seiten bei Bedarf weitere Vertraute und Mitarbeiter hinzuzogen. Hierbei wurden alle drängenden politischen Probleme sowie die militärische Entwicklung angesprochen. Im Mittelpunkt aber stand die Versorgungsproblematik, zu deren Lösung Seyß-Inquart die einheimischen Behörden dringend nötig hatte.74 Anerkennend vermerkte Hirschfeld in seinem Tagebuch, der Reichskommissar habe bei den Gesprächen zu erkennen gegeben, dass er sich intensiv mit den Sachfragen auseinandersetzte und sichtbar dazu beitragen wollte, die Hungersnot zu bekämpfen. Auf deutscher Seite meinte der Generalsekretär jedenfalls ein Verantwortungsgefühl ausgemacht zu haben.75 Auch in anderen Punkten kam Seyß-Inquart der niederländischen Seite entgegen.76 So stellte er Anfang Januar 1945 bei einem der Gespräche in Aussicht, die niederländische Polizei nicht mehr für deutsche Zwecke einzusetzen, und ausdrücklich hieß er gut, dass sich die Kirchen, die während der Besatzungszeit immer wieder prononciert gegen seine Politik Stellung bezogen hatten, mit ihrem Interkerkelijk Overleg und einer konfessionsübergreifenden Hilfsorganisation für eine Notversorgung der Bevölkerung an den Bemühungen beteiligten, Lebensmittel in die westlichen Provinzen des Landes zu bringen. In anderen Punkten wiederum, die wie der Arbeitseinsatz im Reich oder die Unterstellung der niederländischen Polizei unter den deutschen SS- und Polizeiapparat seit 1942/4377 in hohem Maße von Entscheidungen auf Reichsebene abhängig waren, war Seyß-Inquart nicht zu Konzessionen bereit. Bei solchen Themen bot er nicht einmal an, sich bei Sauckel, Speer oder Himmler im Sinne seiner niederländischen Gesprächspartner zu verwenden. Umgekehrt waren die niederländischen Gesprächspartner nicht bereit oder in der Lage, den Eisenbahnerstreik für beendet zu erklären, der ja seit September 1944 mit Billigung der Londoner Exilregierung den Transport von Lebensmitteln und Kohle über Land behinderte. Ausgesprochen vage blieb bei den Gesprächen das Projekt einer „Neutralisierung“ des besetzten Teils der Niederlande, das Seyß-Inquart Mitte Dezember erstmals zur Diskussion stellte. Offenbar hoffte er, die Versorgungslage durch „eine gewisse Wiederherstellung von Machtverhältnissen im Westen des Landes“ verbessern zu können. Sollte die verstärkte Übertragung 74 Siehe Hirschfelds Tagebucheintrag zum 14. Dezember 1944 (ebd., Bl. 30 f.) sowie sein Manuskript Verantwoordelijkheid van Dr. A. Seyss Inquart vom Dezember 1945. Noch während der Besatzungszeit entstanden, diente das Tagebuch Hirschfeld zweifellos dazu, sich für den absehbaren Fall einer deutschen Niederlage vom Vorwurf der Kollaboration frei halten zu können. Da von deutscher Seite keine Protokolle überliefert sind, ist sein Tagebuch trotzdem eine wichtige Quelle für Seyß-Inquarts Besprechungen mit den niederländischen Beamten. Zu diesen Verhandlungen siehe auch Fennema/Rhijnsburger, Dr. Hans Max Hirschfeld, 127 ff. 75 NIOD, 212a/2d, Bl. 31, Eintrag zum 15. Dezember 1944. 76 Zum Folgenden siehe den Tagebucheintrag Hirschfelds zum 7. Januar 1945, ebd., Bl. 36 f. 77 Vgl. hierzu Romijn, Burgemeesters, Kap. 16.

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

von Befugnissen an niederländische Instanzen von allen Seiten respektiert werden, bestehe die Aussicht, dass sich die Wehrmacht nicht weiter zur Durchführung von Überflutungen gezwungen sähe.78 Ob der Reichskommissar ernsthaft an eine Übertragung exekutiver Funktionen an niederländische Politiker oder Beamte gedacht hat? Und was konnte eine „Neutralisierung“ der westlichen Niederlande für die deutsche Kriegsführung und die Frage nach einem Waffenstillstand bedeuten? Von seinen Gesprächspartnern vom Winter 1944/45 wurde Seyß-Inquarts Gedanke einer „gewissen Wiederherstellung von Machtverhältnissen im Westen des Landes“ jedenfalls trotz seiner Vagheit aufgegriffen. Mitte Januar schlugen Hirschfeld und Woltersom dem Reichskommissar vor, dass sie selber und der Rotterdamer Bürgermeister Müller in enger Abstimmung mit dem Bürgermeister von Amsterdam Voûte und anderen Ratgebern Aufgaben in der Wirtschafts- und Verkehrspolitik übernehmen würden. Dabei sollte von deutscher wie von niederländischer Seite „die Politik“ außen vor bleiben. Mit anderen Worten: Eine ‚unpolitische‘ autochthone Rumpfregierung aus Fachleuten und gemäßigten Faschisten sollte Aufgabenfelder übernehmen, die mit der Behebung der akuten Versorgungskrise im Zusammenhang standen.79 Tatsächlich wurden Hirschfeld zufolge er selber und Müller knapp eine Woche später von Seyß-Inquart für die westlichen Provinzen mit begrenzten Vollmachten ausgestattet.80 Viel ausrichten konnten sie freilich nicht: Das NS-Regime ließ den niederländischen Persönlichkeiten keinen Spielraum für eine eigenständige Verwaltung oder Politik, die über die Organisierung von Lebensmitteltransporten hinausging. Nach dem Scheitern der Ardennenoffensive zeichnete sich im Zusammenhang mit dem weiteren Vormarsch der alliierten Truppen im Laufe des Frühjahrs obendrein ab, dass weder das Mandat noch die Autorität von Hirschfeld, Müller oder Woltersom ausreichten, um die zukünftige Entwicklung der Niederlande zu gestalten. Ein Kontakt zur Exilregierung – und hierüber zu den Alliierten – wurde unausweichlich. In diesem Sinn führte Schwebel am 7. und 10. April 1945 im Auftrag des Reichskommissars erste Sondierungsgespräche, fünf Tage später traf sich Seyß-Inquart erstmals persönlich mit zwei Vertrauensmännern der niederländischen Regierung: dem Widerstandskämpfer Junker Pieter Jacob Six und Abraham Jan Theodoor van der Vlugt, seit 1933 finnischer Generalkonsul in Den Haag und Mitglied von Interkerkelijk Overleg.81 Beiden Seiten war bewusst, dass auf niederländischer wie auf deut78 Tagebucheinträge Hirschfelds zum 14. Dezember 1944 und zum 7. Januar 1945, NIOD, 212a/2d, Bl. 30 und 37. 79 Tagebucheintrag Hirschfelds zum 16. Januar 1945, ebd., Bl. 40 f. Siehe auch Romijn, Burgemeesters, 597 f. 80 Tagebucheintrag Hirschfelds zum 22. Januar 1945, NIOD, 212a/2d, Bl. 43. De Jong will hierin die Absicht Seyß-Inquarts sehen, eine niederländische Interimsregierung aufzubauen (Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 330–338). 81 Zum Folgenden siehe die Aktennotiz über das Treffen vom 12. April 1945, NIOD, 183/105 und die Textwiedergabe in: Van Hilten, Van capitulatie tot capitulatie, 290–293. Siehe auch Bl. 8 des Fernschreibens Nr. 329 der Vertrauensmänner vom selben Tag, NIOD, 183/101. Am folgenden Tag traf man sich noch zweimal, um die Ergebnisse des Vortags in einer für beide Seiten akzeptablen Aktennotiz zusammenzufassen; siehe das Protokoll zum 13. April 1945, NIOD, 183/105. Die von Seyß-Inquart genehmigte Fassung ist abgedruckt in: Van Hilten, Van capitulatie tot capitulatie, 293–295 (ohne Quellenbeleg). Berichte über

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scher Seite Kompromisse unvermeidbar waren, um die Zahl an zivilen Opfern in der Endphase des Zweiten Weltkriegs möglichst gering zu halten. Bei dem Gespräch am 12. April erklärte Seyß-Inquart denn auch, Hilfsaktionen seine „volle Unterstützung“ zuteilwerden zu lassen – allerdings nur, „soweit dies vom militärischen Standpunkt aus möglich sein würde.“ Auch sagte er zu, dass die Besatzungsmacht von jetzt an Überflutungen, Zerstörungen, die Hinrichtung von Gefangenen und die Durchführung von Razzien einstellen würde. Dies war jedoch an die Voraussetzung gebunden, dass die Alliierten auf die Fortführung von Angriffen auf das Küstengebiet von Nord- und Südholland verzichteten und vor der sogenannten Grebbelinie Halt machten. Denn die deutschen Behörden in den Niederlanden hätten von Seiten des Reiches den Auftrag, die Küste samt Hinterland zu halten, und diesen Auftrag würden Zivilverwaltung und Wehrmacht „unter allen Umständen“ ausführen. Wenn seine Bedingungen von den Alliierten erfüllt würden, sei er sogar zu einem „inoffiziellen Waffenstillstand“ bereit. Die niederländischen Vertreter wiederum, nach deren Auffassung „der Krieg für Deutschland bereits definitiv verloren“ war, stellten in Aussicht, dass „nach Möglichkeit“ keine Attentate mehr auf deutsche Behörden oder die Wehrmacht verübt würden. Sie erhielten schließlich vom Reichskommissar die Zusage, dass die Deutschen es unterstützen würden, wenn sich Niederländer aus den besetzten Teilen des Landes mit den Alliierten und mit niederländischen Behörden bzw. Regierungsvertretern in den befreiten Landesteilen ins Benehmen setzen würden. Obwohl dieser Passus nicht in die von Seyß-Inquart genehmigte Fassung der Aktennotiz über die Besprechung vom 12. April aufgenommen wurde, stand außer Frage, dass der Inhalt dieses Gespräches sowohl die Exilregierung als auch die politische und militärische Führung der Alliierten erreichte – und dies war für Seyß-Inquart auch der Sinn des Gespräches mit Six und Van der Vlugt. Auf den ersten Blick signalisierte der Reichskommissar am 12. April 1945 ein gewisses Entgegenkommen. Bei näherer Betrachtung allerdings stellt sich seine Haltung als starr dar. Es ist zwar nicht auszuschließen, dass sein Bestreben, die Lebensmittellieferungen zu befördern und Überflutungen zu vermeiden, aufrichtig gemeint war. Es wurde aber der Verteidigung der Küste unzweideutig untergeordnet. Die Loyalität gegenüber der Reichsführung und die Wahrung dessen, was er für die „Reichsinteressen“ hielt, besaßen für den Reichskommissar auch angesichts der sich abzeichnenden Niederlage absolute Priorität, und diese Botschaft wurde auf alliierter Seite mit großer Sorge zur Kenntnis genommen. Seyß-Inquarts Zugeständnisse waren denn auch an zahlreiche Bedingungen geknüpft, die in der aktuellen Kriegslage von der gegnerischen Seite kaum zu erfüllen waren. Wollten die Alliierten ins Ruhrgebiet vorstoßen und Deutschland definitiv und mit möglichst wenig Verlust an Zeit und weiteren Opfern besiegen, konnten sie auf die Eroberung der holländischen Küste schlechterdings nicht verzichten. Damit wiederum blieben Inundationen für den Reichskommissar eine „militärische Notwendigkeit“.82 Hinter dessen Konzilianz verbarg sich also nichts anderes als der die Gespräche, die Schwebel am 7. und 10. April mit Van der Vlugt geführt hatte, befinden sich ebenfalls in NIOD, 183/105. 82 Zit. aus Schwebels Aktenniederschrift zum Gespräch vom 12. April 1945 nach: Van Hilten, Van capitulatie tot capitulatie, 292 (ohne Quellenbeleg).

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

Versuch, die Gegenseite zu erpressen und durch eine unverhüllte Drohung von Angriffen auf das holländische Küstengebiet abzuhalten. In diesem Licht erscheint seine Bereitschaft, die Bemühungen der Gegenseite um eine Bekämpfung der Hungerkatastrophe zu unterstützen, letztlich als ein politisches Druckmittel, um den militärischen Zusammenbruch zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern. Die Gegenseite hatte allen Grund, die Belastbarkeit von Seyß-Inquarts Entgegenkommen kritisch zu hinterfragen. Wenige Tage nach dem Gespräch mit Six und Van der Vlugt ordnete der Reichskommissar entsprechend seiner Zusage vom 12. April zwar an, dass Hinrichtungen vorerst nicht vollstreckt würden. Hiervon nahm er allerdings „besonders krasse Fälle“ aus, 83 und dazu schien aus deutscher Sicht zu gehören, dass in Amsterdam weiterhin unbewaffnete Zivilisten exekutiert wurden, die nicht an Anschlägen auf deutsche Einrichtungen beteiligt gewesen waren. Ein derartiges Vorgehen, das in der deutschen Haltung nicht den erhofften Neuansatz erkennen ließ und die willkürliche Repressionspolitik der vorangegangenen Monate fortschrieb, veranlasste die Vertrauensmänner zu der Frage, „ob der Herr Reichskommissar sich in dieser Angelegenheit wohl genügend Geltung verschaffen kann bezw. [sic] genügend informiert wird.“84 Auch die Tatsache, dass die Wehrmacht Deiche sprengte und Schleusen, Pumpen und weitere Einrichtungen der Verkehrs- oder Versorgungsinfrastruktur zerstörte, war für die Niederländer Grund für Zweifel an Seyß-Inquarts Durchsetzungsfähigkeit oder Aufrichtigkeit. Schwebel unterstrich zwar am 20. April, dass auf niederländischer Seite keinerlei Zweifel an der Fähigkeit des Reichskommissars und des Wehrmachtbefehlshabers zu bestehen brauchte, „den von ihnen zugesagten Verpflichtungen zur Bewerkstelligung der besprochenen Regelungen vollstens nachzukommen.“85 Was aber war eine solche Behauptung wert, wenn weiterhin Exekutionen von Unschuldigen stattfanden und sowohl das Reichskommissariat als auch die Wehrmacht an Inundationen festhielten? Auf dem Nürnberger Prozess hat Seyß-Inquart zwar versucht, die Verantwortung für die von ihm so genannten „Kampfflutungen“ ausschließlich der Wehrmacht zuzuschieben.86 Tatsächlich aber wollte nicht nur Christiansen, sondern auch er selber noch am 25. April weitere Flutungen nicht ausschließen.87 Eine entschiedene Ablehnung von Hitlers Politik der ‚verbrannten Erde‘, die Seyß-Inquart und sein Sitznachbar im Nürnberger Gerichtssaal Albert Speer nach dem Krieg für sich beide in Anspruch nahmen, lässt sich aus solch einer Drohung nicht ablesen. In der Verquickung seiner Zusage zur Unterstützung von Lebensmittellieferungen einerseits und der Androhung von Überflutungen andererseits nahm der Reichskommissar eine harte Haltung 83 Schwebel an Van der Vlugt vom 16. April 1945, NIOD, 183/106. 84 Van der Vlugt an Schwebel vom 19. April 1945, NIOD, 183/107. Ähnlich seine Klage über „die Willkür und die Disziplinlosigkeit der untergeordneten Instanzen“ im Schreiben an Seyß-Inquart vom 29. April 1945, NIOD, 183/110. 85 Protokoll der Besprechung zwischen Schwebel und Van der Vlugt vom 20. April 1945, NIOD, 183/105. 86 Siehe seine Aussage in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 19. 87 Fernschreiben Seyß-Inquarts vom 25. April 1945, NIOD, 183/101. Ganz im Sinne von Seyß-Inquart stellte Christiansen noch einmal unmissverständlich klar: „Deutsche militärische Abwehrmassnahmen einschliesslich Flutungen richten sich ausschlieszlich [sic] nach Verhalten der alliierten Truppen.“ Siehe Schwebel an Van der Vlugt vom 25. April 1945, NIOD, 183/105.

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ein, und zwar ungeachtet der Aussichtslosigkeit weiteren militärischen Widerstands gegen die erdrückende Übermacht der alliierten Armeen. Bei dem Gespräch mit den Vertrauensmännern der niederländischen Regierung ging es ihm denn auch letztlich darum, den Alliierten den fanatischen Willen der Besatzungsmacht zum ‚Endkampf‘ in der ‚Festung Holland‘ zu signalisieren und sie vor Angriffen auf ‚seine‘ Niederlande abzuschrecken. Erst unter dieser Voraussetzung war Seyß-Inquart bereit, Maßnahmen der Gegenseite zur Organisierung der Einfuhr von Lebensmitteln zu unterstützen. Zu seiner harten, unnachgiebigen Haltung gehört auch, dass er es in seinen Gesprächen mit niederländischen Beamten und den Vertrauensmännern vermied, eine Kapitulation zu thematisieren. Über die Erörterung von Regelungen zur Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Brennstoffen wollte er nicht hinausgehen. Dies begründete er mit dem Standpunkt, dass man in den Niederlanden solange „gehorsam“ gegenüber der Reichs- und Wehrmachtsführung zu sein habe, wie es in Deutschland eine „Autorität“ gebe. Erst wenn die Niederlande durch den Kriegsverlauf völlig vom Reich abgeschnitten worden wären, hätte er sich wohl frei gefühlt, über eine Kapitulation für sein ‚Herrschaftsgebiet‘ zu verhandeln, ohne befürchten zu müssen, von Hitler, Bormann, Himmler oder dem OKW zur Rechenschaft gezogen und möglicherweise wegen Hochverrat aus dem Amt entlassen oder gar hingerichtet zu werden.88 Die Option einer Kapitulation kam erst zur Sprache, nachdem gegen Ende April 1945 bekannt geworden war, dass Himmler hinter Hitlers Rücken den Versuch unternommen hatte, Verhandlungen über eine Separatkapitulation mit den Westmächten aufzunehmen.89 Diese Nachricht scheint Seyß-Inquart ermutigt zu haben, gegenüber den niederländischen Vertrauensmännern eine mögliche Kapitulation der in den Niederlanden eingesetzten deutschen Truppen zu erwähnen. Doch auch diesmal blieben seine Ausführungen derart kryptisch, dass sie keine realistische Perspektive boten.90 Seyß-Inquart gehörte zu jenen intransigenten Nationalsozialisten, die bis zum bitteren Ende weiterkämpfen wollten, solange sie sich an Weisungen oder Befehle der Reichs- und Wehrmachtsführung gebunden fühlten. Neben einem extrem dogmatischen Verständnis von Loyalität gegenüber Hitler wird Seyß-Inquarts unnachgiebiger Haltung auch die Absicht zugrunde gelegen haben, die niederländische Regierung, die Widerstandsbewegungen und die Führung der alliierten Streitkräfte zu spalten: in ein moderates Lager, das angesichts der Androhung großflächiger Überflutungen zumindest vorläufig auf weitere Angriffe auf die besetzten Teile der Niederlande verzichten wollte, und in jene, die konsequent die Niederlage des NS-Reiches vorantreiben wollten

88 In diese Richtung ging seine Hypothese: „Nach und nach werden wir vielleicht wohl unsere eigene[n] Könige.“ Seyß-Inquart zit. nach: Tagebucheintrag Hirschfelds zum 2. April 1945, NIOD, 212a/2d, Bl. 81 mit handschriftlicher Ergänzung. Konkrete Überlegungen zu einem solchen Szenario hat der Reichskommissar nicht entwickelt. 89 Siehe hierzu Longerich, Himmler, 745–752. 90 Vgl. den Bericht Van der Vlugts und das Protokoll der Vertrauensmänner über die Besprechung vom 28. April 1945, NIOD, 183/88 und 105. In der Wahrnehmung der Vertrauensmänner ging es Seyß-Inquart darum, mit seinen Ausführungen zur Kapitulationsthematik eine „Fassade“ gegenüber der Reichsund Wehrmachtsführung aufzubauen, hinter der „Übergangsmaßnahmen“ vorbereitet werden konnten.

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

und dazu bereit waren, die Zerstörung weiter Teile der Landschaft und noch mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung in Kauf zu nehmen. Zu Letzteren zählte Winston S. Churchill, der umgehend vom niederländischen Premierminister Dr. Pieter Sjoerd Gerbrandy über den Inhalt von Seyß-Inquarts Gespräch mit Six und Van der Vlugt informiert wurde. Auf den Erpressungsversuch des Reichskommissars ließ sich der britische Premierminister nicht ein, denn für ihn stand fest: „It was not for Seyss Inquart to dictate us.“ Siegesbewusst begründete er am 15. April seine konsequente Haltung mit den Worten: „It is a terrible thing to let an ancient state like the Dutch be blotted out; but of course Seyss Inquart may not dare to carry out his threats. He might yield to ourselves and we have undoubtedly the power to inflict all penalties […] upon the German forces in Western Holland who are now hopelessly cut off. This is not a matter for half measures but for hard choice between yes and no. In three months we can have all we want anyhow, the only difference will be, does Holland live or die?“91 Einen Tag später gab Churchill im britischen Kriegskabinett bekannt, die Antwort auf Seyß-Inquarts ‚Angebot‘ eines Verzichts der Alliierten auf Angriffe auf die besetzten Niederlande gegen die Unterstützung von internationalen Hilfslieferungen durch das Reichskommissariat mit den USA und der Sowjetunion abzustimmen.92 Im Hinblick auf die dramatische Versorgungssituation waren sich alle Alliierten einig, mit der Besatzungsmacht Verhandlungen aufzunehmen. Es war allerdings nicht unumstritten, ob hierfür der Reichskommissar der geeignete Gesprächspartner sei. Unter den Sachverständigen des Alliierten Oberkommandos gab es Stimmen, die dafür eintraten, mit Blaskowitz, seit 10. April Oberbefehlshaber der ‚Festung Holland‘, Verhandlungen aufzunehmen.93 Der Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Europa, der amerikanische General Dwight D. Eisenhower, entschied sich jedoch für Seyß-Inquart als Verhandlungspartner. Angesichts des grassierenden Hungers drängte der General zur Eile und erbat sich zur Bekämpfung der humanitären Katastrophe „as free a hand as ­possible“.94 Tatsächlich erhielt er am 23. April von den Combined Chiefs of Staff die Vollmacht, mit den zuständigen Stellen im besetzten Teil der Niederlande Verhandlungen über die Lieferung von Lebensmitteln aufzunehmen.95 Vom Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte, nicht jedoch von Seyß-Inquart, ging denn auch die Initiative aus, das Versorgungsproblem im direkten Kontakt zwischen Reichs91 Fernschreiben Churchills an Außenminister Anthony Eden vom 15. April 1945, zit. nach: Faassen/Stevens (Hrsg.), Documenten betreffende de Buitenlandse politiek van Nederland, Periode C, Bd. 8, Den Haag 2004, Dok. 363, 580. 92 War Cabinet Minutes zur Sitzung vom 16. April 1945, NA, CAB 195/3. Schon seit September 1944 waren Hilfsmaßnahmen für die besetzten Teile der Niederlande zwischen der niederländischen Exilregierung, der britischen und der amerikanischen Führung diskutiert worden; sie wurden aber aus unterschiedlichen Gründen nicht durchgeführt. Siehe hierzu Moore, The Western Allies and Food Relief. 93 Major J. B. J. Huisman (SHAEF – Psychological Warfare Divison), Notiz Relief for Holland vom 25. April 1945, IfZ, OMGUS ISD, 5/261-3/20. Demnach hatten G-2 (Intelligence) und G-3 (Organization and Training) des Assistant Chief of Staff (ACOS) Bedenken gegenüber der Aufnahme von Verhandlungen mit Seyß-Inquart. 94 Eisenhower an AGWAR (Adjutant General, War Department) for Combined Chiefs of Staff, undatiert, ebd. 95 Siehe hierzu De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/2, 1332–1335.

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kommissariat und Alliierten zu behandeln. Am 25. April 1945 ließ Eisenhower Seyß-Inquart über niederländische Kanäle per Fernschreiben ankündigen, dass man in Kürze mit dem Abwurf von Lebensmitteln aus der Luft beginnen werde. Hieraus entwickelte sich eine Rettungsaktion, die von der amerikanischen Luftwaffe unter der Bezeichnung Chowhound, von der britischen Luftwaffe unter dem Namen Manna durchgeführt wurde.96 Außerdem lud Eisenhower den Reichskommissar, General Christiansen und einen Admiral der deutschen Kriegsmarine zu „an immediate meeting“ ein; hierfür sicherte er freies Geleit zu.97 Blaskowitz scheint befürchtet zu haben, dass der Abwurf von Lebensmittelpaketen an Fallschirmen von den Alliierten zu militärischen Zwecken genutzt werden könnte; obendrein könnten unter der hungernden Bevölkerung Chaos und Streitigkeiten beim Einsammeln und bei der Verteilung der Lebensmittel entstehen. Deshalb bat Schwebel Van der Vlugt, über die Regierung in London beim Alliierten Oberkommando darauf hinzuwirken, dass die Luftbrücke in der geplanten Form abgesagt würde.98 Trotzdem erklärte sich Seyß-Inquart nach Rücksprache mit der Wehrmacht mit dem Abwurf von Lebensmitteln einverstanden und versprach, dafür zu sorgen, dass die alliierten Flugzeuge nicht beschossen würden.99 Zur Vorbereitung eines Treffens mit Angehörigen des Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHAEF) ernannte er am gleichen Tag Schwebel zu seinem Sonderbevollmächtigten. Dieser hatte die Aufgabe, zusammen mit Plutzar im Vorfeld Protokollfragen und die Tagesordnung abzuklären – und dabei deutlich zu machen, dass der Reichskommissar ausschließlich über Hilfsmaßnahmen, nicht jedoch über einen Waffenstillstand oder eine Kapitulation zu verhandeln gewillt sei.100 Als Zeichen guten Willens ermächtigte Seyß-Inquart im Einvernehmen mit Christiansen in den Tagen vor dem Treffen mit den SHAEF-Vertretern Louwes und zwei weitere Niederländer, in den befreiten Provinzen über die Lieferung von Lebensmitteln und Brennstoffen zu unterhandeln. Den Schiffen, mit denen auf dieser Grundlage Waren in die westlichen Provinzen gebracht werden sollten, sicherte er nur im Prinzip freie Fahrt zu. Deutschen Instanzen war nämlich vorbehalten, „aus sicherheitspolizeilichen oder militärischen Gründen“ Kontrollen durchzuführen.101 96 Die Bezeichnung Operation Manna war eine spitzfindige Antwort auf die nationalsozialistische Judenverfolgung – erinnerte die Royal Air Force hiermit doch an jene Stelle im zweiten Buch Mose, der zufolge Jahwe dem Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten Brot zur Stärkung vom Himmel regnen ließ (Ex 16). Zu dieser Rettungsaktion siehe auch Zimmermann, Pflicht zum Untergang, 341. 97 NIOD, 183/101 (fehlerhafte Abschrift). 98 Neuman, Arthur Seyss-Inquart, 331 f. und De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/2, 1339 f. 99 Fernschreiben Seyß-Inquarts an das Alliierte Oberkommando vom 26. April 1945, NIOD, 183/113. Van Hilten zufolge hatte Seyß-Inquart seine Antwort über Van der Vlugt bereits in der Nacht des 25. April übermittelt (Van capitulatie tot capitulatie, 296). 100 Fernschreiben Seyß-Inquarts Nr. 369 vom 26. April 1945, NIOD, 183/102. Die Präliminarien wurden bei einer Besprechung festgelegt, zu der sich die beiden Mitarbeiter des Reichskommissariats und zwei Wehrmachtsoffiziere als Vertreter von General Blaskowitz am 28. April 1945 in Achterveld mit alliierten Offizieren trafen. Siehe hierzu Van Hilten, Van capitulatie tot capitulatie, 297–302 sowie das Kort resumé van de besprekingen in bevrijd gebied en te London, naar aanleiding van de voorstellen van den Rijkscommissaris, NIOD, 183/92, Eintrag zum 28. April 1945. 101 Seyß-Inquart an Louwes vom 27. April 1945, NIOD, 183/113.

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Die von Eisenhower angeregte Besprechung zwischen zivilen und militärischen Repräsentanten der Besatzungsmacht, Vertretern des Alliierten Oberkommandos und der niederländischen Exilregierung fand am 30. April 1945 statt.102 An diesem Montag trafen Seyß-Inquart und Schwebel im Schulgebäude des östlich von Amersfoort gelegenen Örtchens Achterveld unter anderem auf die Generäle Walter Bedell Smith (Eisenhowers Generalstabschef ), Francis W. Guignand (Montgomerys Generalstabschef ), Charles Foulkes (Kommandierender General des 1. Kanadischen Korps’), Iwan Susloparow (Sowjetische Militärmission in Frankreich) und auf Prinz Bernhard, den Oberbefehlshaber der niederländischen Befreiungsarmee (‚Inländische Streitkräfte‘). Dass Prinz Bernhard in dem Mercedes vorfuhr, den bisher der Reichskommissar mit dem Kennzeichen RK 1 verwendet hatte, war ein kleines Symbol für die Machtverhältnisse.103 Den Schwerpunkt der Begegnung bildete die Organisierung der Lebensmittelhilfe. An den Modalitäten für die Beschaffung von Nahrungsmitteln, Brennstoffen und Medikamenten aus der Luft, über Land und über die See arbeiteten die Mitarbeiter beider Seiten während des ganzen Nachmittags in den Räumen der katholischen Volksschule von Achterveld. Im Bewusstsein des nahenden Sieges kündigte Bedell Smith gegenüber Seyß-Inquart an, dass jede Behinderung der Lufthilfe, weitere Überflutungen oder sonstige Zerstörungen des Landes unnachsichtig verfolgt würden. Von der Drohung, nach Kriegsende zur Verantwortung gezogen zu werden, ließ sich Seyß-Inquart allerdings nicht einschüchtern. Er blieb bei der intransigenten Haltung, die er bereits gegenüber den Vertrauensmännern der niederländischen Regierung eingenommen hatte, und kündigte eine verbissene Verteidigung des niederländischen Territoriums mit der Gegendrohung an, „dass der deutsche Soldat seine Pflicht tun werde. Bei der Erfüllung seiner militärischen Pflicht werde er sich nicht von der Frage leiten lassen, was später mit ihm geschehen könne.“104 Auch jetzt lehnte es der Reichskommissar ab, über eine Kapitulation für den Bereich ‚seiner‘ Niederlande zu verhandeln, solange er hierzu nicht ausdrücklich durch das Reich autorisiert werde oder solange die Reichsführung in Funktion sei. Erst nach dem offiziellen Ende der Besprechung ließ Seyß-Inquart über Schwebel erkunden, ob er auf alliierter Seite als ein Partner akzeptiert werde, der im Namen des Reiches Waffenstillstands- oder Kapitulationsverhandlungen führen könnte, möglicherweise mit dem Ziel, einen Separatfrieden mit den Westmächten zu vermitteln.105 Wollte 102 Zum Folgenden siehe auch De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/2, 1352–1360, Van Hilten, Van capitulatie tot capitulatie, 302–306 und Crosswell, Beetle, Kap. 36. 103 Van der Zijl, Bernhard, 339. Siehe auch Fasseur, Juliana & Bernhard, 116. 104 Tagebucheintrag Hirschfelds zum 1. Mai 1945, NIOD, 212a/2d, Bl. 115. Hirschfeld hatte zwar nicht am Treffen von Achterveld teilgenommen, war aber am Folgetag von niederländischen Teilnehmern über den Inhalt informiert worden. In anderen Diktionen, aber mit dem gleichen Tenor sind die Äußerungen von Bedell Smith und Seyß-Inquart wiedergegeben in: De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/2, 1357 und in Schwebels Gedächtnisprotokoll, abgedruckt in: Van Hilten, Van capitulatie tot capitulatie, 303 f. Bedell Smiths eigener Darstellung nach, die wenig Wert auf eine detaillierte und präzise Wiedergabe seiner Verhandlungen vom 30. April 1945 legt, antwortete Seyß-Inquart auf den Hinweis, dass die Folgen seiner Verweigerung von Kapitulationsverhandlungen für ihn persönlich hart würden und mit seiner Hinrichtung enden könnten: „Das läßt mich kalt.“ (General Eisenhowers sechs große Entscheidungen, 253) 105 Siehe De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/2, 1358 unter Berufung auf eine Nachkriegsaussage von Schwebel.

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er mit solch einer Option seine Haut zu retten versuchen und durch entsprechende Verhandlungen für sich eine ähnliche Immunität erreichen, wie sie Karl Wolff zur selben Zeit in den Verhandlungen mit Allen W. Dulles mit Blick auf Norditalien gelang?106 Sah er eine Möglichkeit, nach dem Scheitern von Himmlers Verhandlungsversuch seinerseits Verhandlungen zu führen, die – mit Genehmigung der Reichs- und Wehrmachtsführung – das Kriegsende beschleunigen konnten? Wollte er sich in den letzten Kriegstagen – wohl noch in Unkenntnis von Hitlers Politischem Testament und seiner Bestimmung zum Außenminister – für ein Amt auf Reichsebene qualifizieren? In diese Richtung weist jedenfalls, dass sich Seyß-Inquart per Fernschreiben „an den Führer“ wandte,107 nachdem Bedell Smith auf Schwebels Frage nicht ablehnend reagiert hatte. Ihm lag nicht nur daran, seine Verhandlungen in Achterveld als „sehr positiv“ darzustellen. Er hob auch hervor, dass Bedell Smith ihm „auf Grund höheren Auftrages“ Waffenstillstandsverhandlungen angeboten habe. Obwohl er hierzu eine ablehnende Haltung eingenommen habe, sei ihm „völlig unverlangt jederzeitige Wiederaufnahme des Gespräches“ angeboten worden. Dieser Darstellung zufolge war die Initiative zu möglichen Verhandlungen also nicht von ihm, sondern von Eisenhowers Vertreter ausgegangen. Dessen Angebot war aus seiner Sicht nicht nur für die Situation in den Niederlanden von Bedeutung. Es bot auch die Aussicht auf „ernsthafte Besprechungen über allgemeine Fragen im Reichsinteresse“. Vor diesem Hintergrund bat Seyß-Inquart um nähere Weisungen, „gegebenenfalls um Vollmacht“. Postwendend erhielt er vom neuen Staatsoberhaupt Dönitz den Auftrag, den Kontakt zu den Alliierten aufrechtzuerhalten: „Jede mögliche Sondierung in dem angedeuteten Sinne schnellstens erwünscht.“108 Näheres sollte wohl in Flensburg besprochen werden, wo Seyß-Inquart am 3. Mai mit Hitlers Nachfolger und der neuen Reichsregierung zusammentraf. Insgesamt gesehen kam Seyß-Inquarts Bereitschaft, mit niederländischen Beamten, den Vertrauensmännern der Exilregierung und den Alliierten über die Organisierung von Lebensmittellieferungen zugunsten der einheimischen Bevölkerung zu verhandeln, viel zu spät; der Reichskommissar hinkte der Entwicklung hinterher. De Jong unterstellt sogar, dass der Reichsminister die Möglichkeit gehabt hätte, mehr für die hungernde Bevölkerung zu tun, sie aber nicht genutzt habe, und zwar mit Absicht: Es sei ihm nämlich darum gegangen, die Bewohner der westlichen Provinzen für den Eisenbahnerstreik zu bestrafen und die Streikenden so unter Druck zu setzen, dass die niederländische Regierung zur Einstellung des Streiks aufrufen würde.109 Ob Seyß-Inquarts Haltung in der Ernährungsfrage tatsächlich einem zynischen Kalkül entsprang oder ob Hirschfelds Eindruck zutrifft, dass der Reichskommissar ernsthaft daran mitwirken wollte, die Hungerkatastrophe des letzten Kriegswinters zu beheben – es führt kein Weg an der Feststellung vorbei, dass das Reichskommissariat keine Beiträge zu einer effektiven Lösung des Versorgungsproblems leistete. Größere Initiativen gingen 106 Zu Wolff und der sogenannten Operation Sunrise siehe Von Lingen, SS und Secret Service. 107 BArch, R 62/9, Bl. 4; das Fernschreiben datiert vom 2. Mai 1945. Ähnlich der Tenor des Fernschreibens Blaskowitz’ ans OKW (Eingang: 4. Mai 1945), NA, GFM 33/2726, Serial 6523. 108 Aus Dönitz’ Fernschreiben vom 2. Mai 1945, zit. nach: Steinert, Die 23 Tage der Regierung Dönitz, 176. 109 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/1, 193 f.

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auf diesem Gebiet vielmehr vom niederländischen ‚Interkirchlichen Bureau für Noternährung‘ (IKB), vom Internationalen Roten Kreuz und von der ‚Zentralen Reederei für Ernährung‘ aus, in den letzten anderthalb Kriegswochen dann vom Alliierten Oberkommando. Der Reichskommissar tat nicht mehr, als solchen Initiativen unter eingeschränkten Bedingungen Unterstützung zuzusagen, und er verknüpfte seine Zusage mit der Androhung und der Rechtfertigung von weiteren nachhaltigen Zerstörungen des Landes. Dazu kommt, dass die Angehörigen der Waffen-SS und ihre Familien bei der Zuteilung von Nahrungsmitteln und Brennmaterial privilegiert wurden. So beschlossen die zivilen und militärischen Spitzen der Besatzungsverwaltung am 9. Januar 1945 auf einer Besprechung unter dem Vorsitz des Reichskommissars, Inhabern eines sogenannten Frontkämpferberechtigungsscheins, der von einem deutschen Wirtschaftsamt ausgestellt worden war, zwei statt einer Notkarte für den Bezug von Lebensmitteln zuzugestehen. Außerdem hatte jede „Frontkämpferfamilie“ Anspruch auf Holz- und Torfscheine, und in den Städten der westlichen Provinzen waren „Frontkämpfer-Familienküchen“ einzurichten, die offenbar auch jenen Deutschen offenstehen sollten, die nicht unmittelbar zur kämpfenden Truppe gehörten.110 Die Verteilung von Nahrungsmitteln und Brennstoffen nach politischer Opportunität und militärischer Utilitarität stand in einer gewissen Tradition: Schon im November 1942 hatte Seyß-Inquart den Familienmitgliedern von Angehörigen der Wehrmacht, der Waffen-SS, der Freiwilligen Legion Niederlande, des NSKK und des Reichsarbeitsdienstes neben arbeits- und versorgungsrechtlichen Absicherungen zusätzliche Lebens- und Genussmittel sowie Kohlen zugesprochen.111 Anfang 1945 lag der Akzent jedoch nicht mehr auf der Bevorzugung von möglichst großen Kontingenten niederländischer Kollaborateure, sondern von Deutschen, und unter den Bedingungen des Hungerwinters gewann die Privilegierung bei der Zuteilung von ohnehin knappen lebenswichtigen Ressourcen zusätzliche Brisanz. Mit solchen Maßnahmen trug das Reichskommissariat unter aktiver Mitwirkung Seyß-Inquarts noch einmal zur Verschärfung der dramatischen Ernährungssituation der einheimischen Bevölkerung bei. Lässt sich Seyß-Inquarts Passivität hinsichtlich einer energischen und effektiven Bekämpfung der Hungerkatastrophe aus einem Bestreben erklären, die Versorgungsproblematik als eine Art von politischem Schutzschild gegen alliierte Angriffe auf sein ‚Herrschaftsgebiet‘ einzusetzen? Resultierte seine Haltung aus der Priorität, die er bis zuletzt der Verteidigung des besetzten Landes und insbesondere der Küste gegen alliierte Angriffe um jeden Preis einräumte? Oder mangelte es ihm angesichts des allgemeinen Zerfalls von politischen und Verwaltungsstrukturen an der Autorität, um eine Priorität für Lebensmittellieferungen gegen Wehrmacht, SS, Polizei und andere „NS-Desperados“112 durchzusetzen – trotz der umfangreichen Kompetenzen, die er sich zuvor auf dem Verordnungsweg für die Kampfzonen 110 Alles nach Fernschreiben Rauters an Himmler vom 10. Januar 1945, BArch, NS 19/2429, Bl. 119 f. Himmler begrüßte die angeordneten Maßnahmen in seinem Antworttelegramm vom Folgetag „in jeder Weise“ (ebd., Bl. 121). 111 VO 122/1942 vom 20. November 1942, in: VOBl. NL 1942, 519–522. 112 So Kershaws treffende Bezeichnung für fanatisierte Nationalsozialisten, die 1944/45 jeglichen Gedanken an eine Aufgabe des Widerstands gegen die feststehende Kapitulation von sich wiesen (Das Ende, 530).

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und den Ausnahmezustand gesichert hatte? In die Irre führt jedenfalls die Darstellung, die er selber nach dem Krieg von seiner Rolle gegeben hat. Nun versuchte er sich nachträglich als ein verantwortungsvoller Politiker zu stilisieren, der aus eigener Initiative das Kriegsende beschleunigt habe. So hielt er sich „die in diesem Krieg wohl einzig dastehende Tat“ zugute, dass er sich – „sobald seine Verantwortung gegenueber dem Reich es zuliess“ – direkt mit den „Feinden der Besetzungsmacht [sic]“ in Verbindung gesetzt habe, „um die nun unausweichliche Hungerkatastrophe zu beenden“, und damit habe er „praktisch die Liquidierung des Besatzungsregimes“ eingeleitet.113 In Wirklichkeit war er zwischen Winter 1944 und Frühjahr 1945 keineswegs die treibende Kraft bei der Bekämpfung des Hungers gewesen, und mit seiner hartnäckigen Weigerung, aus eigener Verantwortung für die Niederlande in Verhandlungen über einen Waffenstillstand oder eine Kapitulation einzutreten, sowie mit seiner Androhung von Überflutungen trug er eher zur Verlängerung statt zur Beendigung des Zweiten Weltkriegs bei. Seine Nibelungentreue zum untergehenden Regime und seine erpresserische Politik qualifizierten ihn wieder einmal als nationalsozialistischen Hardliner, der sich durch Radikalität und Intransigenz profilieren wollte. Dabei stand der Untergang schon lange vor Seyß-Inquarts Verhandlungen mit den Vertretern der Gegenseite fest. Sogar innerhalb der Regierung Dönitz gab es kurz nach Kriegsende Stimmen, die selbstkritisch, wenn auch in behördensprachlicher Untertreibung zu dem Ergebnis kamen, die militärische Gesamtlage Deutschlands sei damals „derart ungünstig“ gewesen, „dass die Alliierten den totalen Sieg in absehbarer Zeit durchaus als sicher in Rechnung stellen konnten.“114 Es musste Seyß-Inquart im Frühjahr 1945 klar sein, dass die Kapitulation Deutschlands wie auch die eigene Verhaftung nur noch eine Frage der Zeit sein konnten. Mit der Waffenruhe, die am Morgen des 5. Mai für die Niederlande, Nordwestdeutschland und Dänemark in Kraft trat, war die deutsche Besatzung faktisch beendet – auch wenn deutsche Heckenschützen an einigen Orten weiterhin Blutbäder anrichteten. Formell endete Seyß-Inquarts Funktion in den Niederlanden, als das Alliierte Oberkommando die Zivilverwaltung am 6. Mai Blaskowitz mit dem Auftrag unterstellte, eine Übergabe des Landes an die niederländische Regierung vorzubereiten.115 Nicht das Reich, sondern die Alliierten beendeten Seyß-Inquarts Karriere. 14.4 Durchhalteparolen

Parallel zu den Verhandlungen mit der Gegenseite propagierte der Reichskommissar in den letzten Kriegsmonaten unermüdlich Durchhalteparolen. Sie stehen nur augenscheinlich im Gegensatz zu seiner Bereitschaft, die Einfuhr von Nahrungsmitteln und Brennstoffen unter bestimmten Bedingungen zu erleichtern und auf diese Weise den Hungertod weiterer Zivilisten zu vermeiden. Sie sind vielmehr in engem Bezug zu seiner Weigerung zu sehen, für die 113 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 106. Ähnlich seine Darstellung des Treffens von Achterveld vor dem Nürnberger Gericht: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 24. 114 Anlage zur Tagesmeldung vom 12. Mai 1945, BArch, R 62/9, Bl. 8. 115 Blaskowitz an Seyß-Inquart vom 6. Mai 1945, NL-HaNA, 2.05.87/517.

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

Niederlande vor dem Ende einer deutschen Regierung und ohne ausdrückliche Vollmacht seitens der Reichsführung einen Waffenstillstand oder eine Kapitulation zu verhandeln. Im letzten Kriegsjahr nahmen Aufrufe des Reichskommissars zum bedingungslosen Einsatz an Häufigkeit und Entschiedenheit zu. Sie waren allerdings mitnichten auf die Agoniephase beschränkt. Schon an der Jahreswende 1941/42 verband Seyß-Inquart in einem Beitrag für die Deutsche Zeitung in den Niederlanden Siegeszuversicht mit der Forderung nach „dem Einsatz der letzten Kräfte“, um „dem deutschen Volk“ im Bündnis mit den Achsenpartnern und zusammen mit den „Völkern des germanischen Europas“ dauerhaft „die Weltgeltung“ zu erkämpfen.116 Nach der Niederlage von Stalingrad wurden solche Aufrufe mit größerer Nachdrücklichkeit erlassen. So warnte Seyß-Inquart die Angehörigen des Reichskommissariats im Frühjahr 1943 vor einer „schwachen Haltung“ und forderte von den Deutschen in den Niederlanden einen „unerschütterlichen Widerstandswillen“. Noch immer aber grundierte er seine Stellungnahme mit der Zuversicht auf einen deutschen Endsieg, indem er die Kapitulation der VI. Armee als „ein Ereignis im notwendig wechselnden Kriegsgeschehen“ bagatellisierte, dessen Ergebnis leicht rückgängig gemacht werden könne.117 Je mehr sich im weiteren Verlauf des Krieges die militärische Lage für das Deutsche Reich verschlechterte, desto mehr streute Seyß-Inquart die Möglichkeit einer Niederlage in seine Durchhalteparolen – mit dem Ziel, die Anhänger des NS-Systems noch kurz vor der alliierten Landung in der Normandie auf einen „Kampf von mitleidloser Härte“ einzuschwören und Freund wie Feind eine „erbarmungslose“ Verteidigung der deutschen Position in den Niederlanden anzukündigen. In diesem Sinn gab er die Parole aus: „[…] im Bewusstsein, dass im Falle einer Niederlage die Welt für uns nicht lebenswert ist, fassen wir alle Kräfte zusammen, um der Entscheidung mit Vertrauen entgegenzusehen.“118 Knapp einen Monat nach dem D-Day rief Seyß-Inquart vor allem die Jugend zum „fanatischen Einsatz für Deutschland“ auf und appellierte an die Bereitschaft, für den ‚Endsieg‘ das eigene Leben zu opfern: „Mögen wir sterben, Deutschland muss leben.“119 Den siebten Jahrestag des Anschlusses Österreichs nahm der Reichskommissar im März 1945 zum Anlass, über Radio Hilversum erneut insbesondere die Jugend zum „fanatischen Kampf- und Opfer­

116 Seyß-Inquart, Mit Adolf Hitler für das Neue Europa! 117 Undatiertes Rundschreiben Seyß-Inquarts vom Frühjahr 1943, NIOD, 14/115. Mit diesem Rundschreiben setzte der Reichskommissar die Forderung von Lammers um, die deutschen Beamten und Angestellten auf ihre „Verschwiegenheitspflicht“ aufmerksam zu machen, um ‚defätistischen‘ Äußerungen einen Riegel vorzuschieben. Siehe Lammers an die Obersten Reichsbehörden und die dem ‚Führer‘ unmittelbar unterstellten Dienststellen vom 22. April 1943, hier nach ebd. 118 Seyß-Inquart am 14. Mai 1944 anlässlich der Vereidigung von über 370 Schwestern des Deutschen Roten Kreuzes im Arnheimer Konzerthaus Musis Sacrum, zit. nach: DZN vom 15. Mai 1944 (BArch, ZSg. 103/8644). Ähnlich sein Beitrag zum Jahreswechsel 1943/44 in der DZN, in dem er „jedem Feind“ einen „fanatischen Kampfeswillen […] für Führer und Reich“ ankündigte (Seyß-Inquart, 1944). Siehe auch Ders., Unsere Aufgabe, 11 und 29. 119 Seyß-Inquart, Worum es geht, 5 und 50. Siehe auch Ders., Zum 9. November, 206: „Es ist nur wichtig, daß wir durchhalten und daß wir siegen.“

14.4 Durchhalteparolen

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willen“ aufzufordern,120 und Hitlers letzten Geburtstag benutzte er als eine Gelegenheit, um noch einmal unverbrüchliche Treue zu ‚Führer‘ und Nationalsozialismus zu manifestieren und zum ‚Endkampf‘ aufzurufen. Während er auf eine Antwort der Alliierten auf sein Gespräch mit den Vertrauensmännern der niederländischen Regierung wartete, unterstrich er am 19. April 1945 im Pulchri Studio zu Den Haag, dass es besser sei zu kämpfen als zu kapitulieren. So kam er trotz der aussichtslosen militärischen Situation zu dem Ergebnis: „Unsere Aufgabe hier ist der militärische Widerstand, das Festhalten dieser militärischen Position des Reiches.“ Denn man habe in den Niederlanden „unerschütterlich“ „die Sache des Reichs“ zu vertreten und als Nationalsozialist zugleich „die Echtheit unserer Gesinnung“ unter Beweis zu stellen. Angesichts von Hitlers Forderung, dem Gegner unter keinen Umständen zu weichen, konnte Seyß-Inquarts Aufforderung, sich „in kühler Entschlossenheit und mit aufgerissenen Herzen“ hinter den ‚Führer‘ zu stellen, von den Zeitgenossen kaum anders verstanden werden als ein Aufruf, bis zum Tod die „Aufgabe als Kämpfer zu erfüllen“.121 Bis in die letzten Kriegswochen hinein propagierte der Reichskommissar also die angebliche Rechtmäßigkeit der NS-Ideologie und der großdeutschen Expansion, die dem Drang nach ‚Lebensraum‘ entspreche. In diesem Sinn hielt er es im März 1945 für die Aufgabe eines jeden Nationalsozialisten, dass „wir Elemente und Kräfte in unserem Lebensraum zurückdrängen und aus demselben fernhalten, die aus ihrem Wesen heraus unsere Gemeinschaft zu zersetzen und aufzulösen geeignet sind. […] Daher ist der Nationalsozialismus die unabdingbare Grundlage, die uns die Kraft und Weisheit gibt, nicht nur unsere Existenz und Freiheit zu behaupten, sondern auch die uns gegebenen Anlagen zur vollen Entfaltung unserer menschlichen Werte zu bringen.“122 Vor diesem Hintergrund schien jeder Widerstand gegen die Alliierten geboten, ein Durchhalten um jeden Preis notwendig. Erst nach Hitlers Selbstmord verzichtete Seyß-Inquart darauf, weiter zum sinnlosen Widerstand gegen die alliierten Truppen anzustacheln. In einem Aufruf vom 2. Mai, der nicht nur an die deutsche Zivilbevölkerung, sondern ausdrücklich auch an die deutschen Soldaten in der vom Reich abgeschnittenen ‚Festung Holland‘ gerichtet war, war nur noch die Rede vom Glauben an Deutschland und an „das deutsche Volk“ als dem Vermächtnis Hitlers, der im Kampf gefallen sei und einen „Heldentod“ erlitten habe – einer direkten Aufforderung, den Kampf fortzusetzen, enthielt sich der Reichskommissar jetzt zum ersten Mal. Im Unterschied zu seinen vorherigen Stellungnahmen war der Tenor des Aufrufs ausgesprochen defensiv, und mit der Behauptung, Hitlers Geist werde in allen Deutschen weiterleben, war

120 Seyß-Inquart, Warum Nationalsozialismus?, 12. 121 Zit. aus dem (sprachlich fehlerhaften) Manuskript in: NIOD, Coll. Doc. I, 1564, Mappe B; die DZN veröffentlichte am 21. April 1945 nur Ausschnitte von Seyß-Inquarts Rede. Für die niederländische Presse siehe den Bericht in der Abendausgabe des Algemeen Handelsblad vom 23. Mai 1945 (NIOD, KA I 3407). Eine vergleichbar bornierte Bunkermentalität hatte Seyß-Inquart am 10. März 1945 in der Rede zum siebten Jahrestag des Anschlusses Österreichs zum Ausdruck gebracht: „Ein eherner Beharrungswille lässt uns alles ertragen, nur kein kampfloses, aber schmähliches Ende.“ (Warum Nationalsozialismus?, 6 f.) 122 Seyß-Inquart, Warum Nationalsozialismus?, 9 f.

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

sein Inhalt auf eine fernere Zukunft gerichtet, nicht auf die aktuelle militärische Situation.123 Seyß-Inquart nahm Abstand von der bisher üblichen aggressiven, bellizistischen Hetze gegen die Alliierten. Damit stellte er sich offenbar darauf ein, dass die neue Reichsregierung unter Dönitz für die nächste Zeit nur noch ein Ziel hatte: den Krieg so rasch wie möglich zu beenden. Bis zu diesem Punkt aber hielt Seyß-Inquart unbeirrt am Glauben an eine historische Notwendigkeit des Nationalsozialismus fest und propagierte Loyalität gegenüber dem Regime, obwohl die militärische Lage für Deutschland im letzten Kriegsjahr immer hoffnungsloser wurde. Auch dies zeigt, dass sich Seyß-Inquart bis zum Ende als ein nationalsozialistischer Hardliner positionierte. Ebenso wenig wie bei der Artikulation von europapolitischen Vorstellungen kam es ihm dabei auf inhaltliche Originalität an. Vielmehr griff er Perspektiven und Begriffe auf, deren Verbreitung in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs von jedem NS-Funktionär erwartet wurde, der eine verantwortliche Position innehatte. Die überlieferten Quellen lassen keinen Zweifel, dass Seyß-Inquart diese Aufgabe aus Überzeugung wahrgenommen hat. 14.5 Designierter Außenminister im Kabinett Dönitz

Seyß-Inquarts fanatische Bindung an das NS-Regime wurde dadurch ‚belohnt‘, dass der langjährige Reichsminister ohne Geschäftsbereich kurz vor Kriegsende von Hitler zum Reichs­ außenminister ernannt wurde. Er trat damit an die Stelle von Ribbentrop und gehörte – als einziger Österreicher – zu jenem erlesenen Kreis von „ehrenhaften Männern“, denen der ‚Führer‘ am frühen Morgen des 29. April 1945, dem Tag vor seinem Suizid, im Politischen Testament die Verpflichtung auferlegte, „den Krieg mit allen Mitteln weiter fortzusetzen“, den „Ausbau eines nationalsozialistischen Staates“ auch nach seinem Tod weiter voranzutreiben, auf eine „peinliche Einhaltung der Rassegesetze“ zu achten und sich vor allen Dingen dem „unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum“, zu verschreiben. Neben Seyß-Inquart sollten die folgenden Nationalsozialisten der geschäftsführenden Reichsregierung angehören: Dönitz (Reichspräsident, Kriegsminister und Oberbefehlshaber der Kriegsmarine), Goebbels (Reichskanzler), Bormann („Parteiminister“), Giesler (Innenminister), Funk (Wirtschaftsminister), Herbert Backe (Landwirtschaftsminister), Dr. Otto Georg Thierack (Justizminister), Dr. Gustav Adolf Scheel (Kultusminister), Dr. Werner Naumann (Propagandaminister), Schwerin von Krosigk (Finanzminister), Dr. Theodor Hupfauer (Arbeitsminister) und Karl-Otto Saur (Rüstungsminister). Außerdem gehörten dem Kabinett der niederschlesische Gauleiter Karl August Hanke als Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, die Generalfeldmarschälle Ferdinand Schörner und Robert Ritter von Greim als Oberbefehlshaber von Heer bzw. Luftwaffe sowie Robert Ley als Leiter der Deutschen Arbeitsfront an.124 123 DZN und Het Vaderland vom 2. Mai 1945. 124 BArch, N 1128/23; als Faksimile ist Hitlers Politisches Testament abrufbar unter http://www.ns-archiv.de/

14.5 Designierter Außenminister im Kabinett Dönitz

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Was mag Hitler bewogen haben, Seyß-Inquart mit dem Außenressort zu betrauen? War es die persönliche Loyalität, die Seyß-Inquart dem ‚Führer‘ gegenüber in der Öffentlichkeit wie auch in Vieraugengesprächen immer wieder zum Ausdruck gebracht hatte? War es die Tatsache, dass Seyß-Inquart in den zurückliegenden Jahren jeden Schwenk und alle Radikalisierungstendenzen der nationalsozialistischen Politik loyal mitgetragen, in seinen Verantwortungsbereichen in Wien, Krakau und Den Haag jeweils umgesetzt und in Einzelfällen sogar auf Reichsebene aktiv mitgestaltet hatte? Gaben die unbestreitbaren politischen und administrativen Fähigkeiten sowie das diplomatische Geschick den Ausschlag, das Seyß-Inquart wiederholt bei Verhandlungen mit Gleichgesinnten wie auch mit Gegnern an den Tag gelegt hatte? Wollte der ‚Führer‘ die notorische Weigerung seines Reichskommissars in den Niederlanden honorieren, sich in der letzten Kriegsphase auf Kapitulationsverhandlungen mit den Alliierten einzulassen? Die Entscheidung für Seyß-Inquart kam nicht völlig unerwartet. Aus der Reichsführung hatte Seyß-Inquart schon geraume Zeit vorher Signale empfangen, dass ein Wechsel an der Spitze des Auswärtigen Amtes nicht ausgeschlossen war. Ende Januar 1945 vertraute ihm ­Goebbels im persönlichen Gespräch an, dass Ribbentrop für eine erfolgreiche Fortführung des Krieges „gänzlich ungeeignet“ sei, ihm fehle „die nötige Elastizität“, während der Propa­ gandaminister Seyß-Inquart im selben Eintrag seines Tagebuchs als einen „klugen politischen Kopf“ bezeichnete.125 Wie oben dargelegt,126 stattete Hitler seinen Reichskommissar wenige Tage später mit Vollmachten aus, die diesen für die Niederlande in gewisser Weise über die Wehrmacht stellten und ihm eine politische Stärke beimaßen, die reichsweit ihresgleichen suchte. Und zweifellos sind Seyß-Inquarts demonstrative Bestrebungen, auf Reichsebene präsent zu sein und sich besonders in reichs- und außenpolitischen Belangen zu profilieren,127 von der Reichsführung wahrgenommen worden. Ob allerdings Seyß-Inquart bereits unmittelbar nach Hitlers Selbstmord von seiner Designierung erfahren hat, ist nicht eindeutig feststellbar. 1966 haben Schwerin von Krosigk und der Adjutant von Dönitz, Korvettenkapitän Walter Lüdde-Neurath, übereinstimmend behauptet, Seyß-Inquart habe wie alle anderen Mitglieder der geschäftsführenden Reichsregierung erst in Nürnberg von seiner Ernennung zum Außenminister erfahren.128 Dem steht gegenüber, dass Bormann und Goebbels am 1. Mai 1945 aus der Reichskanzlei heraus per Fernschreiben Dönitz nicht nur über Hitlers Tod informierten, sondern auch ausdrücklich die Ernennung von Dönitz zum Reichspräsidenten, von Goebbels zum Reichskanzler, von

personen/hitler/testament/politisches-testament.php [Zugriff: 23. Dezember 2014]. Den Namen des Finanzministers hat Hitler als Schwerin-Crossigk angegeben. Zur Beurteilung des Testaments vgl. Steinert, Die 23 Tage der Regierung Dönitz, 339. In diesem Zusammenhang wenig ergiebig ist Bloch, Ribbentrop, 428. 125 Zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 15, 242 (28. Januar 1945). 126 Siehe oben, S. 548 f. 127 Vgl. Kap. 13. 128 Siehe deren Briefe an Jules Huf vom 11. bzw. 1. Juni 1966, NIOD, Coll. Doc. I, vorläufige Sign.: Aanwinst 1879.

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

Bormann zum Parteiminister und von Seyß-Inquart zum Außenminister anführten.129 Damit aber ist nicht erwiesen, dass der Inhalt dieses Telegramms zum damaligen Zeitpunkt Seyß-Inquart erreichte. Tatsache ist, dass Dönitz sich weigerte, Seyß-Inquart als Außenminister zu akzeptieren. In seinen Augen war Seyß-Inquart, wie Schwerin von Krosigk 1966 formulierte, „zu keinem Zeitpunkt etwas anderes als Reichskommissar in den Niederlanden.“ Stattdessen erwog der Großadmiral zunächst, die Leitung des Auswärtigen Amtes Konstantin von Neurath als einer Person zu übertragen, die „nicht mit der deutschen Außenpolitik der letzten Jahre belastet war.“130 Nachdem der Außenminister der Jahre 1932 bis 1938 aber nicht auffindbar war, bat Dönitz Schwerin von Krosigk, neben den Ämtern des Leitenden Ministers und des Finanzministers auch noch das Auswärtige Amt zu übernehmen.131 Dass Dönitz sich gegen einen Außenminister Seyß-Inquart entschied, dürfte nicht in erster Linie darauf zurückzuführen sein, dass Schwerin von Krosigk in der Führung eines Reichsressorts bereits jahrelang Erfahrung gesammelt hatte. Es ging eher darum, dass das neue Staatsoberhaupt Wert darauf legte, sein Kabinett nach eigenen Maßstäben zusammenzusetzen und Personen, die als politisch ‚kontaminierte‘ Nationalsozialisten Verhandlungen mit den Alliierten nur erschweren konnten, aus seiner Regierung fernhalten wollte. Ob aus politischen, militärisch-strategischen oder persönlichen Gründen – Seyß-Inquart gehörte nicht zu den Männern seines Vertrauens, von denen Dönitz sich einen positiven Beitrag zur Beendigung des Zweiten Weltkriegs erhoffte. Für Seyß-Inquart blieb es damit bei der Designierung durch Hitler. Gelegenheit, als Reichsaußenminister zu amtieren, erhielt er nicht. Wohl kam er in den letzten Kriegstagen in seiner bisherigen Funktion mit der neuen Reichsregierung zusammen. Am 2. Mai 1945 wurde dem „Reichskommissar Niederlande, der mit Erfolg für seinen Raum Versorgung der holländischen Zivilbevölkerung ausgehandelt hat“, der Befehl erteilt, sich sofort nach Norddeutschland auf den Weg zu machen. 132 Da er vom Alliierten Oberkommando kein freies Geleit erhielt, fuhr Seyß-Inquart am folgenden Tag per Schnellboot zur Marinekriegsschule in Flensburg-Mürwik, wo die verbliebene zivile und militärische Führung des Rumpfreiches über Wege aus dem Krieg beratschlagte. Hierzu stellten sich neben Seyß-Inquart Karl Hermann Frank für das Reichsprotektorat, Werner Best für Dänemark und Josef Terboven für Norwegen ein. Bemerkenswerterweise war Seyß-In129 Siehe Lüdde-Neurath, Regierung Dönitz, 47. Zu diesem Fernschreiben siehe auch Kraus, Karl Dönitz und das Ende des „Dritten Reiches“, 13. Die jüngste Studie zu Dönitz konzentriert sich ausschließlich auf eine Wertung von dessen militärischer Laufbahn, während die Tätigkeit als Staatsoberhaupt und Regierungschef nicht thematisiert wird: Hartwig, Großadmiral Karl Dönitz. 130 So Dönitz in seinen Memoiren (Zehn Jahre und zwanzig Tage, 439). 131 Ernennungsschreiben Dönitz’ vom 2. Mai 1945, BArch, R 62/11a, Bl. 132. Staatssekretär im Auswärtigen Amt wurde Steengracht, der dieses Amt schon unter Ribbentrop ausgeübt hatte. Zur Zusammensetzung des Außenministeriums unter Schwerin von Krosigk siehe Steinert, Die 23 Tage der Regierung Dönitz, 156. Dem Bericht von Lüdde-Neurath zufolge hat Schwerin von Krosigk zunächst gezögert, das Amt des Außenministers zu übernehmen. Er habe jedoch zugesagt, „weil andere Kandidaten nicht greifbar waren.“ (Regierung Dönitz, 82) 132 Lüdde-Neurath, Tagesniederschrift vom 2. Mai 1945, NIOD, Coll. Doc. I, 1564, Mappe B. In seinen Memoiren hat Dönitz den Befehl auf den 1. Mai datiert (Zehn Jahre und zwanzig Tage, 443).

14.5 Designierter Außenminister im Kabinett Dönitz

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quart der einzige Chef der Zivilverwaltung eines besetzten Gebietes, der ohne einen Vertreter der Wehrmacht angereist war.133 Dass er weder von Blaskowitz noch von Christiansen oder einem anderen hochrangigen Wehrmachtsgeneral oder Admiral nach Flensburg begleitet wurde, unterstreicht einmal mehr, dass er auch in militärisch relevanten Fragen für die besetzten Teile der Niederlande sprach, und dieser Anspruch wurde von der neuen Regierung scheinbar ebenso anerkannt wie früher von Hitler. Dabei war Seyß-Inquart kurz vorher noch von der Wehrmachtsführung zugutegehalten worden, dass er sich in seiner Amtsführung auf Aufgaben der Zivilverwaltung beschränke. Im internen Schriftverkehr wurde er positiv Terboven gegenübergestellt, der in heftigen Auseinandersetzungen mit der Wehrmacht stand. So äußerte Jodl im März 1945 die Ansicht, der Reichskommissar in Norwegen habe es nach dem Vorbild seines Kollegen Seyß-Inquart, „der auch keine solchen Ambitionen hat“, zu unterlassen, sich in originär militärische Angelegenheiten einzumischen.134 Offenbar schätzte es die Militärführung, dass Seyß-Inquart es vermied, sich mit der Generalität und Admiralität anzulegen. Dies hatte er auch gar nicht nötig, weil er seinem Reichskommissariat – wie oben gezeigt135 – seit 1944 mit Hitlers Billigung und Unterstützung den Primat gegenüber der Wehrmacht gesichert hatte. Auf dieser Grundlage vertrat er auch gegenüber der geschäftsführenden Reichsregierung alleinverantwortlich die ‚Festung Holland‘. Bei den Besprechungen in Flensburg ging es Dönitz darum, die Vertreter des geschmolzenen Reiches in den noch besetzten Gebieten in die Überlegungen und die Entscheidung über die Beendigung des Krieges einzubinden und zugleich – wie Lüdde-Neurath im Rückblick treffend formulierte – sicherzustellen, „daß keiner dieser Herren angesichts des Führerwechsels ‚ausbreche‘ und den Krieg vielleicht auf eigene Faust fortsetzte […].“136 Vermutlich wollte der neue Reichspräsident nicht zuletzt ausloten, inwieweit seine Autorität nach Hitlers Tod von den verbliebenen Funktionsträgern des kollabierenden NS-Regimes anerkannt wurde. In der Mürwiker Marine­kriegsschule nahm Seyß-Inquart an drei Besprechungen mit Dönitz und weiteren Vertretern der Führung des Reiches unter Einschluss von Keitel und Jodl teil; gelegentlich war auch Himmler anwesend. Der Erinnerung von Schwerin von Krosigk zufolge war Seyß-Inquart völlig ruhig und gab sich keinerlei Illusion hin, „weder über die allgemeine noch über die eigene Lage“.137 Von ihm selber sind leider keine Aufzeichnungen über den Aufenthalt in Flensburg vorhanden. In den Berichten, die sehr wohl überliefert sind, ist an keiner Stelle die Rede davon, dass Seyß-Inquart von Hitler zum Reichsaußenminister bestellt worden war. Ob die Verfügungen des Politischen Testaments und Dönitz’ abweichende Personalentscheidungen überhaupt thematisiert wurden, lässt sich mangels geeigneter Quellen nicht überprüfen. Fest steht, dass Seyß-Inquart über die Verhandlungen in Achterveld Bericht erstattete. Deren Ergebnis wurde als „zufriedenstellend“ zur Kenntnis genommen. Zu Plänen, 133 Lüdde-Neurath, Regierung Dönitz, 76–80. 134 Aus einem Schreiben an Keitel, zit. nach: Paulsen, Reichskommissar vs. Wehrmachtbefehlshaber, 167. 135 Siehe Abschnitt 1 in diesem Kapitel. 136 Lüdde-Neurath, Regierung Dönitz, 75. 137 Schwerin von Krosigk an Jules Huf vom 11. Juni 1966, NIOD, Coll. Doc. I, vorläufige Sign. Aanwinst 1879.

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

den Westmächten eine Teilkapitulation anzubieten und eine Gesamtkapitulation möglichst lange hinauszuzögern, um im Osten so viele Deutsche wie möglich vor der Roten Armee zu retten, äußerte sich Seyß-Inquart skeptisch. Seiner durchaus zutreffenden Einschätzung nach war die Zusammenarbeit unter den Verbündeten so eng, dass sie von ihrer Forderung nach einer bedingungslosen Gesamtkapitulation nicht abrücken würden. Trotzdem kamen Seyß-Inquart und seine Gesprächspartner überein, weiterhin Versuche zu unternehmen, eine Teilkapitulation bei den westlichen Alliierten zu erreichen. Eine „honorige Ueberleitung“ der Niederlande an die Alliierten oder Vertreter der niederländischen Regierung wollte man nicht ausschließen – war man doch davon überzeugt, dass sie dem Reich „einen kleinen Kredit“ einräumen würde. Gleichzeitig hielt man am „Kampfauftrag“ fest, lehnte aber weitere Überflutungen des Landes ab.138 Wie Dönitz vor dem Nürnberger Gericht bestätigte, entsprach diese Entscheidung einer Bitte des Reichskommissars, den Befehl zur Sprengung aller Schleusen und Deiche zu widerrufen und den Befehl zur Entladung der vorgesehenen Sprengstellen zu erteilen.139 Damit endeten die Amtsgeschäfte des Reichskommissars Arthur Seyß-Inquart. Von der weiteren Entwicklung war er abgeschnitten. Dönitz’ Auftrag, in die Niederlande zurückzukehren, um die gefassten Beschlüsse umzusetzen,140 konnte er nicht nachkommen, weil ein Boot wegen schlechten Wetters und stürmischer See nicht auslaufen konnte. Als Seyß-Inquart den Versuch unternahm, sich ohne die Zusage freien Geleits auf dem Landweg durch feindliches Gebiet nach Den Haag durchzuschlagen, hatte sich die vereinbarte Teilkapitulation der Niederlande erübrigt. Denn in der Zwischenzeit war der besetzte Teil des Landes entsprechend der Forderung des britischen Feldmarschalls Bernard L. Montgomery am 4. Mai in die Kapitulation des nordwestdeutschen Raumes und Dänemarks einbezogen worden. Auch hier hatten ab dem Morgen des 5. Mai die Waffen zu schweigen.141 Damit ging nach fast genau fünf Jahren die deutsche Besatzung der Niederlande zu Ende. Für Seyß-Inquart begann der letzte Abschnitt seines Lebens, der über Verhaftung, Internierung und Nürnberger Prozess zur Hinrichtung am 16. Oktober 1946 führte. 14.6 Festnahme und Internierung

Die aussichtslose Lage stellte für Seyß-Inquart offenbar keinen Grund dar, sich den Alliierten zu stellen. Er wurde vielmehr beim riskanten Versuch, auf dem Landweg in die Niederlande zurückzukehren, in Hamburg verhaftet, und zwar von Soldaten der Royal Welch Fusiliers.142 138 Lüdde-Neurath, Tagesniederschrift vom 3. Mai 1945, NIOD, Coll. Doc. I, 1564, Mappe B. Ähnlich Ders. an Jules Huf vom 1. Juni 1966, NIOD, Coll. Doc. I, vorläufige Sign.: Aanwinst 1879 und Ders., Regierung Dönitz, 78. 139 Siehe Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 13, 355. 140 Siehe Lüdde-Neurath, Tagesniederschrift vom 4. Mai 1945, NIOD, Coll. Doc. I, 1564, Mappe B. 141 Siehe die Kapitulationsurkunde und den OKW-Befehl vom 4. Mai 1945 in: Lüdde-Neurath, Regierung Dönitz, Anlagen 11–13. 142 Glover/Riley, „That Astonishing Infantry“, 216. Siehe auch Kroniek van de Week vom 11. Mai und De

14.6 Festnahme und Internierung

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Bei diesem britischen Regiment handelte es sich um eine Einheit, die nach der Glorreichen Revolution 1689 von dem oranischen Statthalter Wilhelm III. gegründet worden war und somit originellerweise einen Bezug zur englisch-niederländischen Geschichte aufwies, die doch unter Seyß-Inquart hatte ausgeblendet werden sollen. Begünstigt wurde die Festnahme dadurch, dass Seyß-Inquart mit seiner Schirmmütze, dem langen Ledermantel, der bewaffneten Begleitung durch den SD und seiner unverwechselbaren Physiognomie leicht auszumachen war. Im Unterschied zu vielen anderen Nationalsozialisten hat Seyß-Inquart nicht den Versuch unternommen, sich zu verkleiden und unterzutauchen. Auch den Einsatz einer Giftkapsel scheint er nicht erwogen zu haben. Dass seine Festnahme nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, stand Seyß-Inquart in den letzten Kriegstagen deutlich vor Augen. Angeblich hat er in Mürwik Speer, der in Dönitz’ Kabinett als Wirtschaftsminister fungierte, anvertraut: „Gleich nach meiner Rückkehr werde ich verhaftet.“143 Ob sich Seyß-Inquart tatsächlich so geäußert hat oder ob Speer in seinen Erinnerungen den befreundeten Reichskommissar nachträglich zu einem pflichtbewussten Politiker stilisieren wollte, der unter widrigen Umständen und ohne Rücksicht auf seine Person standhaft seinem Auftrag nachzukommen versucht habe, lässt sich nicht überprüfen. De Jong nimmt eher an, dass Seyß-Inquart in Flensburg die Vermutung geäußert habe, er werde verhaftet, wenn Verhandlungen mit den Alliierten scheitern würden; demnach rechnete er immerhin damit, in die Niederlande zu gelangen und die Möglichkeit zu Gesprächen mit der Gegenseite zu haben.144 Wie auch immer – für die Alliierten, die in den Tagen der Besprechungen in der Mürwiker Marinekriegsschule kurz vor dem Ziel einer Gesamtkapitulation standen, war ein Mann wie Arthur Seyß-Inquart mittlerweile kein Gesprächspartner mehr, auf den man hätte Rücksicht nehmen müssen. Die Tatsache, dass der Reichskommissar kein freies Geleit zugesichert bekam, deutete schon darauf hin, dass man auf Seiten der Sieger des Zweiten Weltkriegs an Verhandlungen mit ihm kein Interesse hatte, und die mittlerweile vereinbarte Waffenruhe zum 5. Mai machte den Reichskommissar überflüssig. Zu der „honorigen Ueberleitung“, die man in Flensburg ins Auge gefasst hatte, kam es nicht. Der Regimewechsel in den Niederlanden fand ohne Seyß-Inquart statt. Nachdem die Besatzung des Wagens, mit dem Seyß-Inquart von Flensburg nach Den Haag hatte zurückkehren wollen, in Hamburg festgenommen und entwaffnet worden war, wurde der einst mächtige Reichskommissar als Kriegsgefangener in das Hotel Atlantic verbracht. In diesem traditionsreichen Gebäude an der Außenalster, das von der britischen Armee bis 1950 als Offiziersunterkunft benutzt wurde, wurde Seyß-Inquart noch am Tag seiner Festnahme kanadischen Soldaten übergeben.145 Waarheid. Volksblad in Nederland, Leidener Ausgabe vom 12. Mai 1945. Ein offizieller Bericht über die Festnahme von Seyß-Inquart durch das 6. Bataillon des genannten Regiments konnte nicht ausgemacht werden. Mehrere Anfragen an das Royal Welch Fusiliers Regimental Museum in Caernarfon wurden bis zur Drucklegung dieses Buches nicht beantwortet. 143 Zit. nach: Speer, Erinnerungen, 498. Demnach fügte Seyß-Inquart mit Blick auf die Niederlande „melancholisch“ hinzu: „Dort ist mein Platz.“ 144 De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 10b/2, 1367, Anm. 1. 145 Vgl. Huf, Wie was Seyss-Inquart?, Nr. 5, 34.

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

Abb. 24: Seyß-Inquart mit bisherigen Leibwächtern am Eingang des Hotels Atlantic unter Bewachung durch Angehörige der britischen Militärpolizei. Kurz danach wurde er kanadischen Soldaten zur Überführung nach Hengelo übergeben.

Am 8. Mai wurde er mit einem Militärflugzeug in die Niederlande gebracht. Am Flughafen von Hengelo wurde er von einer Einheit der kanadischen Militärpolizei in Empfang genommen und ins nahe gelegene Schloss Twickel bei Delden überstellt.146 Obwohl er selber diesen Ort während der Besatzungszeit nur höchst selten aufgesucht hatte, war ihm das Gebiet unweit der deutschen Grenze nicht unbekannt: In der zweiten Kriegshälfte waren hier einige Ämter des Reichskommissariats untergebracht gewesen, und kurz nach dem ‚verrückten Dienstag‘ hatte Seyß-Inquart seinen Stab unter Einschluss seines Persönlichen Sekretärs, des pensionierten Hauptmanns Heinisch, in das Schloss Twickel 146 The Times vom 9. Mai, Veritas. Dagblad voor Delft en omstreken vom 11. Mai 1945 und die Fotografien von Seyß-Inquarts Ankunft auf dem Militärflughafen Hengelo, Library and Archives Canada – Bibliothèque et Archives Canada, PA-134423 und PA-176572. Keinen Beweis gibt es für Seyß-Inquarts Behauptung, er sei nach der Festnahme in Hamburg auf seine Bitte hin mit Zustimmung von Montgomerys Hauptquartier in die Niederlande gebracht worden, wo er sich – sozusagen auf ‚seinem‘ Territorium als Reichskommissar – offiziell habe verhaften lassen (Denkschrift, Bl. 1 und seine Aussage nach Thomas J. Dodd, Interrogation Division Summary vom 5. September 1945, BArch, All.Proz. 2 F/20/926 K [Rolle 111, FC 6172 P], Bl. 3). Unbewiesen ist auch die Behauptung von Gertrud Seyß-Inquart, ihr Mann sei auf Befehl von Montgomery hin nach London verbracht worden (Huf, „Hij vond het fijn in Holland“, 9). Sie wird zwar durch zeitgenössische Medienberichte gestützt (vgl. Keesings Historisch Archief, Nr. 727 vom 21. bis 27. Mai 1945, 6300 unter Berufung auf die Daily Mail), kann aber nicht belegt werden. Ähnlich unzureichend ist die Beweislage zu einer mutmaßlichen Internierung in London im Fall von Kaltenbrunner; siehe Black, Ernst Kaltenbrunner, Vasall Himmlers, 286, Anm. 8.

14.6 Festnahme und Internierung

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Abb. 25: Lageplan von Schloss Twickel vom 21. April 1945. Nach der Gefangennahme wurde Seyß-Inquart in einem Zelt beim Wasserturm (links unterhalb der Bildmitte) untergebracht.

verlegt.147 In der Zwischenzeit hatte sich das Blatt freilich gewendet: Nach der Befreiung Anfang April 1945 hatte die 1. Kanadische Armee in Delden ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Seyß-Inquart sah sich gezwungen, mit einem der gut bewachten Zelte Vorlieb zu nehmen, die ganz in der Nähe des Schlossparks errichtet worden waren. Hier wurde er mehrmals verhört, unter anderem von General Henry Duncan Graham Crerar, dem Befehlshaber der 1. Kanadischen Armee.

147 Nach Angaben von Herrmann Harster war Heinisch im Ersten Weltkrieg Seyß-Inquarts Vorgesetzter gewesen; auf dieser Grundlage habe sich „ein Treueverhältnis“ zwischen den beiden Männern entwickelt (NIOD, Coll. Doc. I, 248-0638A/a2, Bl. 3, Befragung durch De Jong und Cohen vom 14. April 1949 im Hamburger Hotel Reichshof ). Informationen verdanke ich auch Aafke Brunt (E-Mail vom 3. August 2009) und ihrem Artikel Het laatste oorlogsjaar op Twickel. Bei der Befreiung des Schlosses erschoss Heinisch seine Frau, sein Enkelkind und sich selbst. Zur Situation auf Schloss Twickel bei Kriegsende siehe den Untersuchungsbericht des Centrale Vermogensopsporingsdienst [Zentraler Dienst zur Ermittlung von Vermögen] von 1947/48, NIOD, Coll. Doc. II, 708.

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Kapitel 14: Seyß-Inquart und die Agonie des NS-Systems

Anschließend wurde Seyß-Inquart in den luxemburgischen Ort Bad Mondorf transportiert. Er war der erste mutmaßliche Kriegsverbrecher, der ins Central Continental Prisoner of War Enclosure 32 eingeliefert wurde.148 Dieses Lager, das im mondänen Palace Hotel untergebracht war, stand unter amerikanischer Leitung, das Kommando über die Gefangenen führte der US-Oberst Burton C. Andrus. Hier wurden alle ehemaligen NS-Größen zusammengebracht, derer die Alliierten habhaft werden konnten. Auf diesen Umstand ist die despektierliche Bezeichnung Ashcan zurückzuführen, die amerikanische Soldaten dem Mondorfer Lager gaben. Bis August 1945 waren in diesem ‚Ascheimer‘ 52 führende Nationalsozialisten interniert.149 Diejenigen von ihnen, die die Siegermächte als mutmaßliche Hauptkriegsverbrecher vor Gericht stellen wollten, wurden am 12. August 1945 nach Nürnberg verbracht. Im Gefängnistrakt des dortigen Justizpalastes begann im Herbst das letzte Kapitel von Seyß-Inquarts Biografie – und zugleich der ersten Versuch der Weltgeschichte, unsägliche Verbrechen aufzuarbeiten.

148 Dolibois, Patterns of Circles, 87. Der aus Luxemburg stammende John E. Dolibois hatte während des Zweiten Weltkriegs als Offizier in der amerikanischen Armee gedient. Nach dem Krieg gehörte er zu dem Team, das in Bad Mondorf die einstigen NS-Größen verhörte. 149 Zum Lager in Bad Mondorf siehe Mazower, Hitler’s Empire, 535–537 mit Abb. 37 sowie Ulf Schmidt in seiner Biografie über Karl Brandt, der ebenfalls in Bad Mondorf einsaß (Hitlers Arzt Karl Brandt, 514516). Zu den Einrichtungen, die die amerikanische Besatzungsmacht abgesehen von Bad Mondorf in Wiesbaden, Heidelberg, Freising, Kassel und Frankfurt am Main zur Befragung von Nationalsozialisten benutzten, vgl. Oron J. Hale, Report on historical interrogations of German prisoners of war and detained persons, datiert vom 20. Dezember 1945, IfZ, Fh 51.

Kapitel 15: Der Nürnberger Prozess. Verteidigung – Urteil – Hinrichtung

In Nürnberg war Arthur Seyß-Inquart einer von 24 führenden Repräsentanten des Dritten Reiches, die von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs als Hauptkriegsverbrecher angeklagt wurden. Mit Hans Frank (Generalgouvernement), Alfred Rosenberg (besetzte Ostgebiete), Konstantin von Neurath und Wilhelm Frick (beide Reichsprotektorat) stand er als einer der Leiter einer nationalsozialistischen Verwaltung vor Gericht, die das Deutsche Reich ab 1939 in annektierten oder besetzten Gebieten Europas installiert hatte. Im Gefängnistrakt des Nürnberger Gerichtsgebäudes, der ebenso wie zuvor das Gefangenenlager in Bad Mondorf dem resoluten Kommando von Oberst Andrus unterstand, war Seyß-Inquart in Zelle 14 untergebracht, im Gerichtssaal saß er auf der Anklagebank zwischen Papen und Speer. Vor Eröffnung des Verfahrens hatte es auf die Frage, welche Einzelpersonen und NS-Organisationen sich vor dem internationalen Gericht zu verantworten haben würden, divergierende Antworten gegeben. Bekannt ist beispielsweise, dass Seyß-Inquart von der britischen Regierung anfangs nicht als Hauptkriegsverbrecher, sondern eher als Kandidat für einen möglichen Prozess in den Niederlanden gesehen wurde – auch wenn der Stellvertretende Premierminister Clemens R. Attlee im Sommer 1944 bemängelte, dass die Namen von Seyß-Inquart und Papen auf Listen für einen internationalen Prozess fehlten: „I should have thought they were well qualified for inclusion.“1 Die Vereinigten Staaten hingegen hatten sehr wohl die Absicht, Seyß-Inquart in Nürnberg anzuklagen, weil seine Amtsführung dem amerikanischen Verständnis der Verschwörung zur Vorbereitung eines Angriffskriegs zu entsprechen schien.2 Parallel zur Beschaffung und Bearbeitung von Dokumenten und der Ermittlung von potenziellen Zeugen hatten die alliierten Behörden in dem halben Jahr zwischen Kriegsende und Prozessbeginn somit knifflige prozedurale Probleme zu lösen, wenn die Urteile auf überzeugende Weise mit dem NS-System abrechnen, sich in Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Kriterien befinden und die Grundlage für die Gestaltung einer möglichst friedlichen Nachkriegsordnung bilden sollten. Zu den Problemen, die von den alliierten Juristen und ihren Stäben im Vorfeld zu lösen waren, gehörte es, alleine unter den 52 Personen, die in Bad 1

Treatment of Major Enemy War Criminals, das Attlee am 26. Juni 1944 für das War Cabinet anfertigte, NA, CAB 66/51/45, Bl. 196 bzw. 27707. 2 Smith, Der Jahrhundert-Prozeß, 235.

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Kapitel 15: Der Nürnberger Prozess

Abb. 26: Seyß-Inquart im Nürnberger Gerichtssaal zwischen Papen (li.) und Speer (re.). Aufnahme vom 4. Dezember 1945.

Mondorf interniert worden waren, eine Auswahl zu treffen. Dazu kamen NS-Größen, die aus dem sowjetischen Einflussbereich nach Nürnberg überstellt werden mussten (Erich Raeder) oder in einem anderen Lager gefangen gehalten wurden (Albert Speer und Hjalmar Schacht auf Schloss Kransberg).3 Die Liste der Angeklagten, auf die sich die Alliierten nach längeren Sondierungen einigen konnten, wurde erst am 29. August 1945 veröffentlicht.4 Am Vormittag des 18. Oktober 1945 wurde den mutmaßlichen Hauptkriegsverbrechern, die sich zu diesem Zeitpunkt im Gewahrsam der Siegermächte befanden, im Gebäude des Alliierten Kontrollrats die Anklageschrift überreicht; hierzu waren sie eigens in die frühere Reichshauptstadt Berlin gebracht worden.5 Seyß-Inquart musste sich in allen vier Anklagepunkten verantworten: Gemeinsamer Plan oder Verschwörung, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Humanität.6 Außerdem war er sozusagen automatisch mitangeklagt als Angehöriger von nationalsozialistischen Organisationen, die 3 Grunenberg, Die Wundertäter, 44. Diesem nördlich von Frankfurt am Main gelegenen Verhörzentrum wurde die englische Bezeichnung für ‚Mülleimer‘ verpasst: Dustbin. Es korrespondierte schon terminologisch mit Ashcan in Bad Mondorf. 4 Siehe hierzu Weinke, Die Nürnberger Prozesse, 27–30 und Overy, Die Verhöre. 5 Siehe den Bericht in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 1, 26–28 mit 128. 6 Siehe die Anklageschrift mit Anhängen in: ebd., 29–99; zu Seyß-Inquart in Anhang A, ebd., 82.

Kapitel 15: Der Nürnberger Prozess

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von der Anklage als verbrecherisch eingestuft wurden: Als Reichsminister ohne Geschäftsbereich hatte Seyß-Inquart formell der Reichsregierung angehört, als Gruppen- bzw. Obergruppenführer der SS.7 Während des Prozesses allerdings stellte Seyß-Inquart in Abrede, jemals an einer Sitzung des Reichskabinetts, das während des Krieges gar nicht mehr zusammengetreten war, oder des Geheimen Reichsverteidigungsrats teilgenommen zu haben,8 und in seinem Urteil lehnte es das Gericht schließlich ab, die Reichsregierung als verbrecherische Organisation zu bezeichnen.9 Was seine Mitgliedschaft in der SS betraf, hob Seyß-Inquart während der Verhandlungen hervor, dass er in Himmlers Organisation einen reinen Ehrenrang gehabt habe, nicht jedoch als Kommandeur aktiv geworden war.10 Die Einzelklage gegen ihn als Reichsstatthalter, Stellvertretenden Generalgouverneur und Reichskommissar wog allerdings schwer genug. Hierauf musste er seine Verteidigung ausrichten. Über seine Haltung bei Entgegennahme der Anklageschrift berichtete Thomas J. Dodd, der als Angehöriger der amerikanischen Anklagevertretung Seyß-Inquart mehrfach in dessen Nürnberger Gefängniszelle verhört hatte: „Seyss-Inquart was obviously upset but appeared despondent and dejected.“11 Nach mehrmonatiger Vorbereitung wurde das Hauptverfahren am 20. November 1945 im Schwurgerichtssaal des Nürnberger Justizpalastes eröffnet. Drei Hauptkriegsverbrecher fehlten auf der Anklagebank: Das Verfahren gegen den Großindustriellen Gustav Krupp von Bohlen und Halbach wurde aus gesundheitlichen Gründen ausgesetzt, Robert Ley hatte am 25. Oktober in seiner Gefängniszelle Selbstmord begangen, und Martin Bormann hatte nicht aufgespürt werden können; dass er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr am Leben war, war den Behörden nicht bekannt. Das Verfahren gegen die verbleibenden 21 führenden Nationalsozialisten aus Verwaltung, Partei, Wirtschaft und Militär sowie gegen ausgewählte NS-Organisationen wurde von den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich durchgeführt, die mit dem Londoner Viermächteabkommen vom 8. August 194512 die Rechtsgrundlage für den historisch einmaligen Prozess schufen. Anderen Ländern, insbesondere den ehemals besetzten Ländern, wurde keine eigene Anklagevertretung eingeräumt – ein Umstand, der in der niederländischen Presse mitunter kritisiert und bedauert wurde.13 In Übereinstimmung mit Artikel 5 des genannten Abkommens wurde das Königreich der Niederlande vom britischen Außenministerium eingeladen, belastendes Material über die deutsche Besatzung zusammenzutragen und dem Gericht Zeugen zu benennen, die gegen 7 Siehe die Anklageerhebung in: ebd., 107–111. 8 Ebd., Bd. 15, 694. 9 Siehe ebd., Bd. 1, 310. Der sowjetische Anklagevertreter, Generalmajor Ion Timofeevich Nikitchenko, gab allerdings eine abweichende Stellungnahme zu Protokoll; siehe ebd., 310 f. 10 Ebd., Bd. 15, 691 und Bd. 16, 25. 11 Zit. nach: Dodd/Bloom (Hrsg.), Letters from Nuremberg, 174. 12 Abgedruckt in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 1, 7–9. 13 Siehe etwa Elseviers Weekblad vom 22. Juni 1946 und den Artikel Gevallen grootheden (beide in NL-HaNA, 2.05.117/6659), den Prof. Dr. Jan Hendrik Willem Verzijl am 29. Juli 1946 veröffentlicht hatte. Der Jurist Verzijl war seinerzeit als eine der ‚indonesischen‘ Geiseln in Buchenwald interniert gewesen und begleitete den Nürnberger Prozess vor Ort. Zu ihm siehe den Artikel von Roelofsen im Biografisch Woordenboek van Nederland.

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Seyß-Inquart aussagen konnten. In den Verhandlungen selbst war es dann die französische Regierung, die die Anklage gegen den einstigen Reichskommissar vorbrachte; sie war entsprechend der Arbeitsaufteilung unter den vier Siegermächten für die westeuropäischen Länder zuständig.14 Wie alle anderen Angeklagten erklärte Seyß-Inquart sich zu Beginn des Verfahrens für nicht schuldig.15 Die Anklage gegen ihn wurde in der Nachmittagssitzung des 16. Januar 1946 von Leutnant Henry K. Atherton begründet, einem der amerikanischen Hilfsankläger.16 Sein Fall wurde dann zwischen dem 10. und 14. Juni verhandelt:17 Dreieinhalb Sitzungstage lang „würfelte [er] um Leben und Freiheit.“18 Am 19. und 22. Juli fand Steinbauers Schlussplädoyer statt,19 nach den Schlusserklärungen der Angeklagten am 31. August vertagte sich das Gericht bis zur Urteilsverkündung.20 Nach insgesamt 218 Verhandlungstagen mit 403 öffentlichen Sitzungen fällte es am 1. Oktober 1946 zwölf Todesurteilte, verhängte sieben Haftstrafen von unterschiedlicher Dauer und sprach drei Angeklagte frei.21 Arthur Seyß-Inquart gehörte zu denen, die zum Tod verurteilt wurden.22 Diese Entscheidung stand während der Beratungen des Richterkollegiums allerdings nicht von vornherein fest; eine lebenslange Haftstrafe galt in seinem Fall nicht als ausgeschlossen. Auch auf die Frage, in welchen der vier Anklagepunkte er für schuldig zu befinden war, hatten die Richter im Laufe des September 1946 keine einheitliche Antwort. Umstritten war vor allem, ob die Beweise für eine Verurteilung in den ersten beiden Anklagepunkten ausreichend wären.23 Schließlich sprach das Gericht Seyß-Inquart vom Vorwurf des Gemeinsamen Plans oder der Verschwörung frei – also von dem Anklagepunkt, der ihn ursprünglich für die Vereinigten Staaten in besonderem Maße als Kandidaten für ein internationales Gerichtsverfahren hatte erscheinen lassen. Schuldig gesprochen wurde er wegen Verbrechen gegen den Frieden, wegen Kriegsverbrechen und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ausdrücklich verwies das Gericht in der Urteilsbegründung darauf, dass Seyß-Inquarts Politik für „unbarmherzigen Terror“, für wirtschaftliche Ausbeutung unter Einschluss der Rekrutierung von „Sklavenarbeitern“, für Judenverfolgung und aktive Mitwirkung am Holocaust sowie für den vorsätzlichen Bruch des Völkerrechts stand. Schwerer als die Tätigkeiten in Österreich und Polen wog, dass Seyß-In14 Vgl. Plantinga, The Nuremberg trials. 15 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 1, 102. 16 Ebd., Bd. 5, 378-398. 17 Siehe die Protokolle in: ebd., Bd. 15, 664–726 und Bd. 16, 7–260. 18 Steinbauer, Ich war Verteidiger in Nürnberg, 158. 19 Abgedruckt in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 19, 55–95 und 111–125. 20 Seyß-Inquarts Schlusswort ist abgedruckt in: ebd., Bd. 22, 456–460. Wesentlich umfangreicher – und damit vor Gericht nicht zugelassen – waren seine Schlussausfuehrungen, die mit einer handschriftlichen Widmung vom 23. August 1946 für die Sekretärin Ruth Mobiltz in ÖGZ-A, NL-61, DO 677, Mappe 148a aufbewahrt werden. 21 Weinke, Die Nürnberger Prozesse, 54 und Zentgraf, „Nürnberg“ in Vergangenheit und Gegenwart, 10. Siehe auch die Bilanz, die der Gerichtshof selber in seinem Urteil aufmachte: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 1, 189-386. 22 Siehe den Strafausspruch nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 1, 413. 23 Vgl. Smith, Der Jahrhundert-Prozeß, 236 f.

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quart in seiner Funktion als Reichskommissar ein „wissender und freiwilliger Teilnehmer an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit war, die während der Besetzung der Niederlande begangen wurden.“24 Seine Tätigkeit in Den Haag hat ihm im wahrsten Sinn des Wortes das Genick gebrochen. Noch am Tag der Urteilsverkündung legte der Alliierte Kontrollrat fest, dass Seyß-Inquart und die anderen Todeskandidaten am Mittwoch dem 16. Oktober zu exekutieren waren.25 Von den anderen Nationalsozialisten, die zum Tod am Strang verurteilt wurden, war Bormann verständlicherweise gar nicht anwesend, und Hermann Göring entzog sich in der Nacht vor der Exekution durch Selbstmord der Hinrichtung. Mit den restlichen neun Todeskandidaten wurde Seyß-Inquart am frühen Morgen des 16. Oktober 1946 in der Sporthalle des Nürnberger Justizpalastes gehängt, und zwar als Letzter der Hauptkriegsverbrecher. Mit seinem Tod endete nicht einmal anderthalb Jahre nach der Kapitulation Deutschlands ein Gerichtsprozess, der trotz manch abweichender Auffassungen unter den vier Ländern, die die Anklage trugen, dank straffer Verfahrensführung zügig durchgeführt werden konnte. An der justiziellen Aufarbeitung der Verbrechen, für die Seyß-Inquart geradezustehen hatte, beteiligten sich naheliegenderweise die Nachkriegsregierungen von Österreich sowie der Niederlande, und auch das Polish War Crimes Office führte im Namen der polnischen Exilregierung in London den einstigen Stellvertretenden Generalgouverneur auf einer Liste von NS-Funktionären, denen nach dem Krieg der Prozess gemacht werden sollte.26 Die österreichische Regierung beauftragte noch vor Beginn des Nürnberger Prozesses auf sowjetischen Wunsch hin eine Kommission, belastendes Material gegen vier namhafte Kriegsverbrecher zusammenzutragen, die im Zusammenhang mit dem Anschluss Österreichs eine wichtige Rolle gespielt hatten: Seyß-Inquart, Ernst Kaltenbrunner, Baldur von Schirach und Guido Schmidt.27 Da Schmidt nicht von den Alliierten angeklagt wurde, wurde vor dem Wiener Volksgericht ein Gerichtsverfahren gegen den früheren Außenminister durchgeführt.28 Für die anderen drei genannten Nationalsozialisten sowie für Franz von Papen wurde der Staatssekretär und spätere Bundesminister für Justiz, Dr. Josef Gerö, Anfang Dezember 1945 vom österreichischen Kabinett ermächtigt, beim Internationalen Militärgerichtshof einen Auslieferungsantrag zu stellen.29 Ob allerdings ein formelles Ersuchen gestellt wurde, 24 Siehe Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 22, 654–657, Zitat 657. 25 Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialistischen Partei Österreichs vom 2. Oktober 1946. Die für das Gerichtsurteil entscheidende Funktion Seyß-Inquarts als Reichskommissar in den Niederlanden wurde in dem Artikel Das Urteil von Nürnberg eigenartigerweise nicht vermeldet. 26 IPN Warschau, GK 159/95. 27 Siehe 30. Sitzung der Provisorischen Regierung vom 12. September 1945, in: Enderle-Burcel/Jeřábek (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Bd. 3, 25 f. und 38. Auf Kriegsverbrecherlisten erschienen auch andere Österreicher, die im Dienst des NS-Regimes gestanden hatten: Alois Brunner, Sepp Dietrich, die damals noch lebenden Mitglieder von Seyß-Inquarts Anschlusskabinett und die ostmärkischen Gauleiter. Siehe DÖW, Akt 50000. 28 Vgl. Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt. Dieses Verfahren endete mit einem Freispruch. 29 Siehe 40. Sitzung der Provisorischen Regierung vom 12. September 1945, in: Enderle-Burcel/Jeřábek (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Bd. 3, 363.

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ist nicht erwiesen. Im Staatsamt für Justiz wurde zwar eine Note mit der Bitte an den Nürnberger Gerichtshof entworfen, eine Befragung von Angeklagten wie Seyß-Inquart durch eine österreichische Untersuchungskommission zuzulassen und Seyß-Inquart sowie Kaltenbrunner nach Beendigung des Verfahrens in Nürnberg für einen Hochverratsprozess in Wien an Österreich auszuliefern – „u[nd] z[war] gleichgültig, ob sie in Nürnberg nun freigesprochen oder verurteilt werden sollten […].“30 Doch auf britischer Seite wurde während des Verfahrens festgehalten, „that no such request has been made to the Allied Council.“31 Nicht ganz zu Unrecht wies Seyß-Inquarts Verteidiger in Nürnberg im Mai 1946 darauf hin, dass aus juristischer Sicht eine Auslieferung alles andere als wahrscheinlich war.32 Für die österreichische Regierung dürfte es denn auch primär um ein politisches Signal gegangen sein: Im Sinne der Moskauer Deklaration vom 1. November 194333 wollte sie deutlich machen, dass sich die Zweite Republik zusammen mit den Alliierten von ihrer NS-Vergangenheit distanzierte und an der Strafverfolgung von führenden Nationalsozialisten interessiert war. In diesem Sinn führte Gerö ein Gespräch mit Robert H. Jackson, dem amerikanischen Chefankläger beim Internationalen Militärgerichtshof. Anschließend stellte der Justizminister klar, dass aus österreichischer Sicht auf eine Auslieferung verzichtet werden könne, „wenn der Nürnberger Schuldspruch sich auf alle österreichischen Anklagepunkte erstreckt.“34 Nachdem dann Seyß-Inquart und Kaltenbrunner in Nürnberg zum Tode verurteilt worden waren, wollte die Bundesregierung in diesen beiden Fällen nur noch auf einer Auslieferung bestehen, wenn sie begnadigt werden sollten.35 Wie in diesem Kapitel noch gezeigt wird, ist es hierzu nicht gekommen. Auch in den Niederlanden liefen während des Nürnberger Prozesses Vorbereitungen zu einem Auslieferungsantrag für den Fall, dass Seyß-Inquart vom Internationalen Militärgerichtshof nicht zu der Strafe verurteilt werden würde, die Regierung und Öffentlichkeit für geboten hielten. Im Den Haager Justizministerium erwartete man zwar, dass der ehemalige Reichskommissar zu einer sehr hohen Strafe verurteilt würde, vorzugsweise zur Todesstrafe. Man wollte aber gerüstet sein, wenn sich die Nürnberger Richter im Hinblick auf Seyß-Inquarts Politik in den Niederlanden für nicht zuständig erklären würden. In diesem Fall sprach sich der niederländische Ministerrat an demselben Tag, an dem Steinbauer in Nürnberg den zweiten Teil seines Schlussplädoyers für Seyß-Inquart hielt, dafür aus, einen Auslieferungsan30 WStLA, Volksgericht beim Landesgericht für Strafsachen Wien: A1, Vg 1 Vr 7447/47, Arthur Seyß-Inquart, Bl. 195. 31 DÖW, Akt 21688/7. Etwas vorschnell berichtete eine österreichische Zeitung im Frühjahr 1946 unter Berufung auf englische Korrespondenten, dass der Militärgerichtshof einem Auslieferungsantrag der Republik Österreich stattgegeben habe: Neues Österreich. Organ der demokratischen Einigung vom 20. April 1946 (ÖGZ-A, NL-61, DO 713, Mappe 330). 32 Steinbauer, Zur Frage der Auslieferung. 33 Auszugsweise, annotiert und in deutscher Übersetzung abgedruckt unter anderem in: Verosta (Hrsg.), Die internationale Stellung Österreichs, Dok. 22, 52 f. 34 Aus dem Protokoll zur 17. Ministerratssitzung vom 16. April 1946 zit. nach: Enderle-Burcel/Jeřábek (Hrsg.), Protokolle des Ministerrates der Zweiten Republik. Kabinett Leopold Figl I, Bd. 2, 9. 35 Siehe 39. Ministerratssitzung vom 8. Oktober 1946 nach: ebd., 264.

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trag zu stellen.36 Vorher wollte man durch Absprachen mit der Regierung in Wien sicherstellen, dass Österreich nicht ebenfalls einen derartigen Antrag stellen würde. Denn in niederländischen Justizkreisen ging man davon aus, dass die dortige Regierung „nur mäßig“ an einer Auslieferung von Seyß-Inquart interessiert sei, „da das österreichische Beweismaterial relativ schwach zu sein scheint, sodass es keine Garantie gibt, dass das Urteil, zu dem ein allfälliges österreichisches Gericht kommen würde, der Verbitterung gerecht würde, die in unserem Lande in breiten Bevölkerungskreisen gegen die in Frage stehende Person besteht.“37 Derartige Überlegungen wurden hinfällig, nachdem das Nürnberger Gericht über Seyß-Inquart die Todesstrafe verhängt hatte. Wodurch zeichnete sich in Nürnberg Seyß-Inquarts Gefängnisalltag aus? Nur selten ist in den überlieferten Quellen von Besuchen durch Gertrud und Dorothea oder andere vertraute Personen die Rede. Häufig hingegen wurden die mutmaßlichen Hauptkriegsverbrecher vor Prozessbeginn wie auch während des Verfahrens Verhören unterzogen. In erster Linie befragten Seyß-Inquart Vertreter der Anklagebehörde des Internationalen Militärgerichtshofs, um seinen Lebenslauf, seine Karriere innerhalb des NS-Systems, seine politische Verantwortung sowie seine Amtsführung in Wien, Krakau und Den Haag im Hinblick auf eine Verurteilung als Hauptkriegsverbrecher einschätzen zu können. Als Zeuge wurde er gelegentlich auch vom Landesgericht Wien sowie von der tschechoslowakischen Regierung befragt.38 Zu Seyß-Inquarts Alltag im Gefängnis gehörte darüber hinaus die Ausfertigung von eidesstattlichen Erklärungen zugunsten ehemaliger Mitarbeiter oder befreundeter Persönlichkeiten, die ihrerseits mit einem Prozess rechnen mussten. Dazu zählten Friedrich Wimmer, Jürgen von der Wense, Heinrich Schwarz, Gero Reuter und Heinrich von Srbik; auch seinen früheren Chauffeur versah Seyß-Inquart mit einer solchen Erklärung.39 Für die Wiener Opernsängerin Esther Réthy und ihren Ehemann, der im Verdacht stand, den ungarischen Pfeilkreuzlern verbunden gewesen zu sein, beantwortete Seyß-Inquart einen Fragenkatalog.40 Welchen Wert der ‚Persilschein‘ eines mutmaßlichen Hauptkriegsverbrechers haben konnte, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass nicht einmal Wimmer als einstiger Staatssekretär in Österreich, Regierungspräsident in Regensburg, Generalkommissar in den Niederlanden und SS-Brigadeführer zu einer angemessenen Haftstrafe verurteilt wurde und glimpflich durch das Entnazifizierungsverfahren kam. Die meiste Zeit, die Seyß-Inquart in der Gefängniszelle verbrachte, nahm natürlich die Vorbereitung des Gerichtsverfahrens in Anspruch. Wie bekannt, übernahm Gustav Steinbau36 17. Ministerratssitzung vom 22. Juli 1946, Bl. 3, NL-HaNA, 2.02.05.02/388. Für den Hinweis danke ich Ilse Raaijmakers (Utrecht). 37 Bericht an den kommissarischen Generalsekretär im niederländischen Justizministerium Hooykaas vom 17. Juli 1946, Bl. 2, NL-HaNA, 2.09.56/60. Der Bericht weist Parallelen zu Verzijls erwähntem Artikel Gevallen grootheden auf. 38 WStLA, Volksgericht beim Landesgericht für Strafsachen Wien: A1, Vg 1 Vr 7447/47, Arthur Seyß-Inquart, Bl. 363–370 sowie Steinbauer an den Generalsekretär des IMG, Brigadegeneral William L. Mitchell, vom 31. Mai 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 713, Mappe 326. 39 Alle Erklärungen in: ÖGZ-A, NL-61, DO 714, Mappe 337. 40 Ebd., DO 713, Mappe 326 und ebd., DO 714, Mappe 335.

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er seine Verteidigung. Die Wiener Rechtsanwaltskammer hatte zwar ihre Mitglieder von der moralischen Verpflichtung entbunden, Österreicher vor Gericht zu vertreten, die die österreichische Staatsbürgerschaft „durch ihre hohe Stellung im Deutschen Reich“ verspielt hatten.41 Doch am 12. November 1945 war Steinbauer vom ersten Nachkriegspräsidenten der Kammer, Dr. Emmerich Hunna, informiert worden, dass er auf Wunsch von General Eisenhower neben sechs anderen Kollegen als einer der potenziellen Verteidiger für Seyß-Inquart im Gespräch sei. Am folgenden Tag erhielt Steinbauer von einem amerikanischen Major die Mitteilung, dass die Wahl auf ihn gefallen war, wieder einen Tag später reiste er nach Nürnberg.42 Somit hatte Seyß-Inquarts Anwalt nicht einmal eine Woche Zeit, um sich auf den bald beginnenden Monsterprozess vorzubereiten. Ab Januar 1946 unterstützte ihn seine Tochter Rosa-Maria bei den Schreibarbeiten, später stieß eine weitere Sekretärin dazu.43 Seinem prominenten Mandanten war Steinbauer nicht erst in Nürnberg begegnet: Beide hatten seinerzeit in Wien Rechtswissenschaften studiert, und nach erfolgreich bestandener Promotion hatten Steinbauer und Seyß-Inquart am selben Tag, dem 23. August 1921, das Gelöbnis auf die Verfassung abgelegt.44 Eine Zeit lang waren ihre Kanzleien in Wien kaum 300 Meter voneinander entfernt gewesen.45 Außerdem hatte Steinbauer wie sein Mandant der Deutschen Gemeinschaft angehört, die nach dem Ersten Weltkrieg vehement für die Vereinigung von Deutschland und Österreich eingetreten war.46 Spätestens mit dem ‚Anschluss‘ vom März 1938 jedoch trennten sich ihre Wege: Während Seyß-Inquart sich mit Haut und Haaren dem NS-Regime verschrieb, wurde der christlich-sozial eingestellte Steinbauer seiner eigenen Darstellung zufolge unmittelbar nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Österreich „wegen meiner antinationalsozialistischen Einstellung“ sechs Wochen lang in „Schutzhaft“ genommen und als „politischer Gegner des Systems“ am 31. Dezember 1938 aus der Anwaltsliste gestrichen. Obwohl er im März 1940 wieder zur Advokatur zugelassen wurde und bis 1944 als Strafverteidiger vor dem Sondergericht Wien und Militärgerichten tätig war, betrachtete er sich als ein Opfer der ‚Säuberungen‘, die unter Reichsstatthalter Seyß-Inquart durchgeführt worden waren.47 41 So Het Parool vom 8. November und De Tijd vom 15. November 1945. 42 Steinbauer an das Generalsekretariat des IMG vom 5. Oktober 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 713, Mappe 326. 43 Steinbauer an das Generalsekretariat des IMG vom 10. September 1946 (ebd.). Von sich aus bot Gerhard Weise (Berlin-Neukölln) dem IMG die Übernahme der Verteidigung Seyß-Inquarts an. Seinem eigenen Bekunden nach tat er dies als „ein deutscher Rechtsanwalt, der stets ein Kämpfer gegen den Nationalsozialismus war“ (ebd., Mappe 330). Vermutlich handelte es sich hierbei um den früheren Vorsitzenden der Deutschnationalen Volkspartei, mit dem die NSDAP in den Dreißigerjahren in Konflikt geraten war. Ein Antwortschreiben des IMG ist nicht erhalten. 44 So Steinbauer in seinem Lebenslauf, ebd., DO 717, Mappe 352. 45 Seyß-Inquarts Kanzlei war Am Hof 5, Steinbauers Kanzlei befand sich bis 1927 in der Jordangasse. Siehe beispielsweise Wiener Adreßbuch. Lehmanns Wohnungsanzeiger für Wien, 36. Jg., Wien 1925, Bd. 1, 1718 bzw. 1800. 46 Vgl. Rosar, Deutsche Gemeinschaft, 33. 47 Steinbauer in seinem Lebenslauf, ÖGZ-A, NL-61, DO 717, Mappe 352. Vgl. Reiter-Zatloukal/Sauer, Advokaten 1938, 329 mit der vernachlässigbaren Korrektur, dass Steinbauer bereits im Dezember 1939

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Die Entscheidung für Steinbauer ging also offenkundig nicht auf Seyß-Inquart zurück – obwohl den Angeklagten laut Artikel 23 des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs das Recht zustand, einen Anwalt ihrer Wahl in Vorschlag zu bringen, und obwohl Seyß-Inquart in seinem Abschiedsbrief an Steinbauer angab, er hätte ihn seinerzeit ausgesucht.48 Auf jeden Fall arbeitete er vor den Verhandlungen wie auch während des Prozesses mit Steinbauer höchst kooperativ zusammen, als gelernter Rechtsanwalt pflegte er ein geradezu kollegiales Verhältnis zu seinem Verteidiger. Bei der Auswahl von Zeugen und entlastenden Dokumenten sowie bei der Festlegung der Verteidigungsstrategie arbeiteten die beiden österreichischen Juristen sozusagen auf gleicher Augenhöhe zusammen, und Seyß-Inquart scheint Wert darauf gelegt zu haben, wichtige Entscheidungen nicht ohne Steinbauers Zustimmung zu treffen. So trat er einmal an seinen Verteidiger mit der Frage heran, ob Schuschnigg zu seinen Gunsten aussagen würde: Menschlich empfinde er ihn als seinen Kronzeugen – „aber was sagt der Verstand?“49 In Steinbauers Nachlass finden sich auch etliche Notizen, in denen Seyß-Inquart seinem Anwalt konkrete Textänderungen vorschlug und aus seiner Sicht Richtigstellungen anmahnte. Bei der Vorbereitung des Schlussplädoyers zum Beispiel verwahrte sich Seyß-Inquart dagegen, Hitler einen „femininen Einschlag“ anzudichten. Stattdessen könne ihn Steinbauer ruhig als einen „dämonischen Psychopathen“ bezeichnen.50 Auch drängte er seinen Verteidiger, „die Geschichte der Deutschen Oesterreichs“ ausführlich darzulegen. Sie solle nur dann zusammengefasst werden, „wenn es gar nicht anders geht.“51 Diese und andere Anregungen seines Mandanten setzte Steinbauer um, über kontroverse oder gar hitzige Diskussionen ist nichts überliefert. Während es zwischen Kaltenbrunner und seinem Verteidiger, dem erzkonservativen Katholiken Dr. Kurt Kauffmann, unüberbrückbare Differenzen gab,52 teilte Seyß-Inquart mit seinem Anwalt eine gemeinsame Vergangenheit im katholisch-großdeutschen Milieu der Ersten österreichischen Republik; dies war vermutlich einer konstruktiven Arbeitsatmosphäre in Nürnberg förderlich. Insgesamt konnte

wieder als Rechtsanwalt hatte arbeiten dürfen. Nach dem Krieg fungierte Steinbauer unter anderem als Verlassenschaftskurator für Glaise-Horstenau, der im Juli 1946 im Lager Langwasser bei Nürnberg verstorben war (siehe die Unterlagen zu dem Gerichtsverfahren vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien als Volksgericht mit Urteil vom 15. Dezember 1950 in: ÖGZ-A, NL-61, DO 714, Mappe 332 und ebd., DO 713, Mappe 325). Im Nürnberger Ärzteprozess (erster Nachfolgeprozess) vertrat er den österreichischen Internisten Dr. Wilhelm Beiglböck, der in Dachau medizinische Versuche an KZ-Insassen durchgeführt hatte; Steinbauers Unterlagen zu diesem Prozess befinden sich im Archiv des Karl von Vogelsang-Instituts (Wien). 48 Siehe Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 1, 17 und Seyß-Inquart an Steinbauer vom 14. Oktober 1946, in: Neuman, Arthur Seyss-Inquart. Het leven van een Duits onderkoning, 371. 49 Handschriftliche Notiz für Steinbauer vom 14. April 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 715, Mappe 338. 50 Handschriftliche Notiz für Steinbauer vom 25. Juni 1946, ebd., DO 678, Mappe 150. In Steinbauers Schlussplädoyer findet sich die Beschreibung Hitlers als „dämonischer Psychopath“ in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 19, 66. 51 Handschriftliche Notiz für Steinbauer vom 10. Juli 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 715, Mappe 338. 52 Siehe Black, Ernst Kaltenbrunner, Vasall Himmlers, 291 ff., zusammenfassend Ders., Ernst Kaltenbrunner: „Wir sind noch viel zu weich gewesen …“, 146 ff.

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Abb. 27: Letzte Seite von Seyß-Inquarts Brief vom 20. Juli 1946 mit Unterschriften bzw. Stellungnahmen von einigen seiner Mitgefangenen.

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Seyß-Inquart mit Steinbauer – wie er selber einmal formulierte – „wohl zufrieden sein.“53 Der Angeklagte schätzte, dass er in seinem katholisch-konservativen Anwalt „eine eigenbewußte Persönlichkeit“ an seiner Seite habe. Er nahm Steinbauer ausdrücklich in Schutz, als Mitangeklagte und deren Rechtsvertreter meinten, dessen „negative Ausführungen“ über das NS-System stellten „eine Belastung für die Angeklagten dar [,] und so ausschließlich negativ wäre nicht alles gewesen, sondern vieles nur eine Folge des Krieges, der aber eine Folge der unausweichlichen Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus gewesen wäre.“54 In einem vierseitigen handgeschriebenen Brief an seine Mitgefangenen vom 20. Juli 1946 kritisierte Seyß-Inquart zwar an Steinbauers Schlussplädoyer die Formulierung, dass nicht die Anschluss­idee an sich, sondern „die Einführung eines Systems, das seine Verwirklichung vermutlich auf immer verschüttete“, verbrecherisch war – hierin wollte er keine sachliche Feststellung, sondern eine negative Wertung sehen, die er nicht mit seinem Anwalt teilte. Zugleich aber unterschrieb Seyß-Inquart den Tenor von Steinbauers Ausführungen und erklärte seinen Mitgefangenen: „Wir dürfen uns heute nichts vormachen, wir haben Fehler gemacht, jedenfalls haben wir unsere geschichtliche Aufgabe nicht erfüllt.“55 Noch deutlicher geht seine eigene Haltung aus einer Notiz hervor, in der er sich von Steinbauers Schlussplädoyer „tief beeindruckt“ zeigte: „Sie wissen [,] wie ich Ihren persönlichen und politischen Standpunkt anerkenne. Sie haben von diesem ausgehend das Äußerste herausgeholt, was Sie für meine Verteidigung sagen können. Ihre Worte haben aber auch allgemeine Bedeutung vom deutschen Standpunkt. Sicher läßt sich dies und jenes gegenargumentieren, auch war die Lage auf die Dauer ohne Krieg gesehen nicht so aussichtslos. Aber es gehört zur Abrundung und Plastik des geschichtlichen Bildes, daß dem Nationalsozialismus, wie er praktisch entartete, von Oesterreich her die Schatten klar vor Augen gestellt werden. Nur diese Methode kann Heil für die Zukunft bringen. Ich bin aber wirklich bewegt, wie Sie das Anschlußproblem geschichtlich und ideologisch dargestellt haben, das ist sehr tapfer. Eine richtige Verteilung des ideellen Lichtes und der Schatten der tatsächlichen Politik macht Ihre Worte über die aktuelle prozessuale Wirkung hinaus dauernd bedeutungsvoll.“56 Die Schwerpunkte, die aus diesem Zitat hervorgehen, sind bezeichnend für die Grundlinien von Seyß-Inquarts Verteidigungsstrategie vor dem Militärtribunal: Der Akzent liegt auf Österreich und der deutschen Frage, die Niederlande werden mit keinem Wort erwähnt. Folgt man Hans Fritzsche, hat ihm Seyß-Inquart während des Prozesses einmal anvertraut: 53 Brief an seine Familie vom 14. März 1946, Fotokopie in ÖGZ-A, NL-96, DO 1105, Mappe 27. 54 Handschriftliche Notiz für Steinbauer vom 3. Juli 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 678, Mappe 150. 55 Ebd., DO 715, Mappe 338; Hervorhebung im Original. Zu denen, die wenigstens ihre Paraphe auf Seyß-Inquarts Brief setzten, zählten Rosenberg, Sauckel, Schirach, Keitel und Jodl. Papen zeigte sich „sehr dankbar für die historische Rechtfertigung des Anschlusses“, und Kaltenbrunner unterschrieb „jedes Wort“ (siehe Abb. 27). Das Zitat aus Steinbauers Schlussplädoyer stammt aus Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 19, 75. 56 Handschriftliche Notiz für Steinbauer vom 25. Juni 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 678, Mappe 150; Hervorhebung im Original. Siehe auch sein undatiertes handschriftliches Schreiben an Steinbauer, in dem er nach Abschluss von Beweisaufnahme und Kreuzverhören seinem Verteidiger als Kollege und Angeklagter gleichermaßen „allerherzlichsten Dank“ aussprach (ebd., DO 715, Mappe 338).

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„Ich weiß, daß mein Strick aus holländischem Hanf gedreht wird. Aber ich halte es für meine Aufgabe, hier die Vorgeschichte des Anschlusses zu klären. Vorwürfe aus anderen Gebieten interessieren mich nicht. Sie fallen in sich zusammen, sobald neue Konflikte in der Welt entstehen und sobald man meine Tätigkeit nicht mehr durch die Brille des Hasses betrachtet.“57 Obwohl Seyß-Inquart in der Gefängniszelle eigens die relativ umfangreiche Denkschrift über seine Tätigkeit als Reichskommissar verfasst hat, standen für seine Verteidigungslinie in der Tat nicht die fünf Jahre im Vordergrund, die er in den Niederlanden verbracht hatte.58 Vielmehr legte er Wert darauf, vom Gerichtshof als großdeutscher Idealist wahrgenommen zu werden, der mit dem Kampf gegen die Nachkriegsordnung der Verträge von Versailles und Saint-Germain ein vollkommen legitimes Anliegen verfolgt habe: sich für das eigene Volk einzusetzen und an der Beseitigung von Diskriminierungen teilzunehmen, für die ausgerechnet diejenigen die politische Verantwortung trügen, die jetzt über ihn und andere Figuren aus der untergegangenen Führung des Großdeutschen Reiches zu Gericht saßen. Solch eine Darstellung kann als nicht anderes als eine Provokation gegenüber den Alliierten aufgefasst werden. Besonders die westlichen Siegermächte mussten sich darüber hinaus dadurch provoziert fühlen, dass Seyß-Inquart für sich und das NS-Regime in Anspruch nahm, „den demokratischen Weg des Selbstbestimmungsrechtes“ der Völker eingeschlagen zu haben.59 Sein Engagement für den ‚Anschluss‘, in dessen Realisierung er „das Wehen des Mantels Gottes“ gespürt haben will,60 und seine Beteiligung am Aufbau der ‚Neuen Ordnung‘ resultierten jedenfalls seinem Selbstverständnis nach aus der vorgeblichen Notwendigkeit eines „Kampfes auf Leben und Tod des deutschen Volkes“.61 Auch seine Politik in den Niederlanden meinte Seyß-Inquart mit einer ‚nationalen‘ Einstellung begründen zu können, für die er bei den Richtern um Verständnis warb: „Die deutsche Politik war damals die Politik des Erhaltungskampfes des deutschen Volkes, geführt von der nationalsozialistischen Partei; aber das materielle Wesen war nicht die Durchsetzung von 25 Punkten des Parteiprogramms, sondern die Durchfechtung dieses Existenzkampfes.“62 Die Bindung an den Nationalsozialismus wollte er von hierher als 57 Zit. nach: Springer (Hrsg.), Das Schwert auf der Waage, 220. Ebd. 215 kommentierte Fritzsche Seyß-Inquarts Verteidigungsstrategie folgendermaßen: „Die gefährlichsten der gegen ihn erhobenen Vorwürfe bezogen sich auf seine Tätigkeit als Reichskommissar in den Niederlanden. Merkwürdigerweise sah dieser kluge Mann das nicht ein. Ihm lag der Fall seiner Heimat Österreich am Herzen […].“ Das Hanf-Bonmot ist vielfach übernommen und abgewandelt worden, etwa vom früheren österreichischen Bundespräsidenten Miklas; siehe Neuman, Arthur Seyss-Inquart, 117. 58 Symptomatisch hierfür ist die Gewichtung in Steinbauers Schlussplädoyer: In den publizierten Protokollen sind ‚Anschluss‘ und Aufbau der Ostmark 18 Druckseiten gewidmet, die fünfjährige Tätigkeit in den Niederlanden wird auf 22,5 Seiten behandelt. Seyß-Inquarts Beiträge zur Zerstörung der Tschechoslowakei und zum Aufbau des Generalgouvernements waren der Verteidigung nur eine halbe Druckseite wert. 59 Seyß-Inquart, Schlussausfuehrungen, Bl. 1. 60 Ebd., Bl. 75. 61 Seyß-Inquart am 31. August 1946 in seinem Schlusswort, zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 22, 458. 62 Zit. nach: ebd., Bd. 16, 34. Die erwähnten 25 Punkte beziehen sich auf das Programm der NSDAP von 1920; es ist abgedruckt in: Mommsen (Hrsg.), Deutsche Parteiprogramme, 547–550. In dem Typoskript Ein Nachwort kleidete Seyß-Inquart seinen großdeutschen Idealismus in die geschraubte Formulierung:

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sekundär erscheinen lassen, während es ihm im Kern um eine berechtigte Verteidigung deutscher Bedürfnisse gegangen sei – auch in den Niederlanden. Was die Rechtfertigung seiner Tätigkeit als Reichskommissar vor Gericht betrifft, lassen sich zusammenfassend sechs Argumentationsstränge ausmachen, die zum Teil bereits in vorangegangenen Kapiteln angesprochen bzw. analysiert worden sind – und die dabei bereits in vielen Fällen der Gegenüberstellung mit der Realität nicht standgehalten haben. 1) Sein Handlungsspielraum in den Niederlanden sei denkbar begrenzt gewesen: Viele Befehle und Anordnungen seien von Wehrmacht bzw. Reichszentralstellen ausgegangen, andere Maßnahmen hätten in der Verantwortung der einheimischen Behörden gelegen. Vor diesem Hintergrund habe er selber kaum die Möglichkeit gehabt, eigenständige Akzente zu setzen. 2) Auf Wehrmacht und Polizei sowie SS habe er keinen unmittelbaren Einfluss gehabt, sie hätten in den besetzten Niederlanden weitestgehend unabhängig vom Reichskommissariat agiert. 3) Etliche exzessive Maßnahmen, die von deutschen Zentralinstanzen unter Einschluss von SS und SD oder von namhaften Persönlichkeiten aus dem Umfeld der Reichsführung wie Heydrich, Himmler, Göring und gar Hitler angeordnet worden waren, habe er verschiedentlich abzumildern versucht. 4) Er sei davon ausgegangen, dass die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung beispielsweise im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Zwangsarbeitern „überholt sind und in einem modernen Krieg nicht anzuwenden“ seien.63 Mit Blick auf das Völkerrecht sei ihm zu keinem Zeitpunkt der Gedanke gekommen, „rechtswidrig zu handeln oder gar sich strafbar zu machen“, in seiner Amtsführung sei er „stets gutgläubig“ gewesen.64 Überhaupt habe die Kriegs- und Besatzungssituation besondere Maßnahmen erfordert, die der deutschen Politik in den Niederlanden unweigerlich einen harten Charakter verliehen hätten.65 „Letztlich war es der in mir lautgewordene kategorische Imperativ: Grossdeutschland und der Existenzkampf des deutschen Volkes, der in der mir zumindest damals in solcher Unbedingtheit eigenen Wertordnung mich handeln oder nicht handeln liess.“ (Bl. 4) 63 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 16, 13. Ähnlich argumentierten auch andere Angeklagte; siehe Fiedler, Der Schutz von Kulturgütern, 74. In seiner Denkschrift vom 2. Oktober 1945 legte Seyß-Inquart dar, schon im Ersten Weltkrieg sei die HLKO nicht „anwendbar“ gewesen, und im Zweiten Weltkrieg sei die Zivilbevölkerung „ein Teil des Kriegspotentials“ gewesen – mit der Folge, dass sie „eine aehnliche Behandlung wie sonstige Kriegsmittel“ erfahren habe. Er verstieg sich sogar zu dem absurden Vorwurf, die niederländische Bevölkerung und die Exilregierung in London hätten durch die Unterstützung von Widerstandsgruppen gegen die HLKO verstoßen. Hieraus glaubte der frühere Reichskommissar ableiten zu dürfen: „Soweit die Besatzungsmacht genoetigt war, gegen diese Erscheinungen aufzutreten, hatte die niederl[ändische] Bevoelkerung keinen Anspruch auf die Schutzbestimmungen der Haager Landkriegsordnung oder anderer voelkerrechtlicher Bestimmungen.“ (Bl. 12–14) Selbst angesichts einer drohenden Verurteilung durch den IMG gab sich Seyß-Inquart somit nach Kriegsende radikaler, als es Werner Best (Die deutschen Aufsichtsverwaltungen, 29), Kurt O. Rabl (Die Verwaltung, Bl. 13) oder Rudolf Kroiß (Die Verwaltung des Reichskommissars, 32) in der Besatzungszeit gewesen waren. 64 So Steinbauer im Schlussplädoyer, zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 19, 84. Abweichend von der Stellungnahme seines Mandanten konzedierte Steinbauer allerdings vor dem Internationalen Militärtribunal, dass die Geltung der HLKO „auch für die Niederlande angenommen werden [muß].“ (ebd., 85) 65 Zumindest ungeschickt war es, wenn Seyß-Inquart vor einem internationalen Gerichtshof, der sich als

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5) Dessen ungeachtet sei er immer um das Wohl des besetzten Landes besorgt gewesen und habe niederländischen Institutionen und Individuen Entfaltungsmöglichkeiten gelassen, ohne eine gezielte Nazifizierung anzustreben: „In den Niederlanden wurde kein Mensch zu einem politischen Bekenntnis gezwungen oder in seiner Freiheit und seinem Vermögen beschränkt, weil er während der Besetzung eine dem Reich oder dem Nationalsozialismus feindliche Gesinnung hatte, ohne sich feindselig zu betätigen.“66 6) Der Völkermord an den Juden schließlich sei ihm während der Besatzungszeit nicht bekannt gewesen, erst nach Kriegsende habe er die wahre Bedeutung der ‚Endlösung‘ erfahren. Während Steinbauer und Seyß-Inquart bei allen anderen Punkten argumentativ an einem Strang zogen, traten bei den Stellungnahmen zur Judenverfolgung Unterschiede zwischen Anwalt und Angeklagten zutage. Steinbauer erkannte immerhin an, dass die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in deren Ermordung mündete, exkulpierte seinen Mandanten gleichwohl durch die Behauptung, dies alles sei ausschließlich auf das Konto „einer besonderen Henkersgruppe Himmlers“ gegangen.67 Seyß-Inquart hingegen ging in seiner Schlusserklärung mit keiner Silbe auf die Tatsache des millionenfachen Massenmordes an den Juden ein, dessen schockierende Dimension doch während des Prozesses durch Myriaden von Dokumenten, Zeugenbefragungen und durch Filmvorführungen deutlich geworden war. Außerdem fehlte bei ihm eine überzeugende Distanzierung von den Deportationen. Besonders übel muss bei den Richtern angekommen sein, dass Seyß-Inquart die Deportationen der jüdischen Bevölkerung in eine Reihe mit der Vertreibung von Deutschen seit 1944 stellte.68 Seine Einlassungen zur Judenverfolgung ließen jede Einsicht in den verbrecherischen Charakter der nationalsozialistischen Politik vermissen. Sie folgten der konsequent durchgehaltenen Strategie, vor Kriegsende nichts von der systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung gewusst zu haben,69 und leisteten einer politisch intendierten Relativierung des Holocaust Vorschub. Noch aufschlussreicher für Seyß-Inquarts Rechtfertigung und sein Selbstverständnis nach der Gefangennahme in Hamburg als die Äußerungen im Gerichtssaal sind zahlreiche Notizen und Abhandlungen sowie einzelne Privatbriefe, die von der historischen Forschung noch

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Ausdruck des Völkerrechts verstand und durch den Nürnberger Prozess nicht zuletzt völkerrechtliche Grundlagen für die Zukunft schaffen wollte, im Schlusswort in Abrede stellte, dass die HLKO oder andere völkerrechtliche Verträge die internationale Politik und Kriegsführung beeinflussen könnten (siehe ebd., Bd. 22, 459). Zit. nach: ebd., 455. Ähnlich in seinen Schlussausfuehrungen, Bl. 46–52. So Steinbauer im Schlussplädoyer, zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 19, 117. Seine gespielt ignorante Haltung gegenüber dem von ihm mitgetragenen Holocaust fasste Seyß-Inquart in die Erklärung, „daß ich gegen die Evakuierung [sic] der Juden ernste menschliche und rechtliche Bedenken hatte. Heute muß ich mir sagen, daß es für die Evakuierungen größeren Ausmaßes und auf die Dauer doch grundsätzlich eine Berechtigung zu geben scheint, denn solche treffen heute mehr als zehn Millionen Deutsche, die in ihren bisherigen Wohnsitzen viele Jahrhunderte lang gesiedelt hatten.“ Zit. nach: ebd., Bd. 22, 458. Denselben deplatzierten Vergleich brachte Seyß-Inquart in seinen Schlussausfuehrungen (Bl. 66) aufs Tapet. Auch hier war lediglich von der „Evakuierung“, nicht aber von der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung die Rede. In diesem Typoskript sprach Seyß-Inquart gar von einer „moralischen Rechtfertigung fuer solche Dauerevakuierungen“! Vgl. oben, Kap. 8.4.

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nicht ausgewertet worden sind. In den Grundlinien decken sie sich natürlich mit den Ausführungen, die Seyß-Inquart und sein Strafverteidiger während der Verhandlungen im Nürnberger Schwurgerichtssaal gemacht haben. Sie bieten aber in etlichen Punkten eine Vertiefung, die der Öffentlichkeit bis jetzt verborgen geblieben ist. Mitunter gehen sie über das hinaus, was er und Steinbauer im Verlauf des Prozesses von sich gegeben haben. Zum Teil von Hand, zum Teil mit der Schreibmaschine geschrieben, sind sie wesentlich unmittelbarer als die elaborierten Erinnerungen, die einzelne seiner Mitangeklagten im Abstand von mehreren Jahren publiziert haben,70 ihnen fehlt jede nachträgliche Bearbeitung. Der Wert dieser Quellen ist somit für seine eigene Biografie wie auch für die Geschichte des Nürnberger Prozesses hoch zu veranschlagen. Was lässt sich aus ihnen ablesen? Einen persönlich gehaltenen Einblick in den Gefängnisalltag und die Art, wie Seyß-Inquart die Situation hinter Gittern wahrnahm und geistig und seelisch verarbeitete, geben die überlieferten Texte nur selten. In dem Typoskript Zelle 14 brachte er zum Ausdruck, dass er „die Weltabgeschiedenheit und das klösterliche Schweigegebot“ schätzte. Dies ermögliche „Besinnlichkeit“ und gebe die Gelegenheit, zu sich selbst zu kommen. Der Prozess der Selbstbesinnung wurde unterstützt durch Bücher, die ihm der amerikanische Militärseelsorger, der Franziskanerpater Sixtus O’Connor, in die Gefängniszelle brachte; Seyß-Inquarts eigenen Worten nach führe solche Lektüre „aus der Tiefe des Glaubens oder der Betrachtung der geschichtlichen Vorgaenge zu innerer Klarstellung“.71 Zu seiner Lektüre zählten Bücher über Augustinus und über Italien zur Zeit des Heiligen Franz von Assisi.72 Hierüber hinausgehend lässt sich der Korrespondenz mit Familienangehörigen73 entnehmen, dass Seyß-Inquart im Gefängnis gerne Bücher über Religionsphilosophie, aber auch belletristische Werke klassischer Bildung und zeitgenössischer Literatur las wie Erzählungen von Adalbert Stifter sowie Werke von Hölderlin, Gottfried Keller und Knut Hamsun. In seinem Abschiedsbrief empfahl er seinen Angehörigen neben Goethes Faust als ein „Büchlein von Mut“ das Märchen Gockel und Hinkel von Clemens Brentano – ein Werk, das von antijüdischen Stereotypen getragen ist.74 Aus den Privatbriefen geht schließlich auch hervor, dass Seyß-Inquart versuchte, seine Englischkenntnisse aufzufrischen. Die überwiegende Zahl an Abhandlungen, die Seyß-Inquart in seiner Zelle verfasste, hatte eher politischen Charakter. In ihnen räsonierte er über die Vergangenheit, versuchte, seinen Weg zum und im Nationalsozialismus zu rechtfertigen, nahm das untergegangene Regime in Schutz und feilte an seiner eigenen Verteidigung vor Gericht. Er machte sich aber auch Gedanken über die Zukunft Deutschlands, Österreichs und der Weltpolitik. 70 Vgl. etwa Speer, Erinnerungen und Schirach, Ich glaubte an Hitler. 71 Seyß-Inquart, Zelle 14, Bl. 6; der Text ist auf den 8. Juli 1946 datiert. 72 Seyß-Inquart an seinen früheren Pfarrer in Wien-Dornbach, Bruno Spitzl, vom 1. August 1946, zit. nach: Neuman, Arthur Seyss-Inquart. Het leven van een Duits onderkoning, 370 f. 73 Zum Folgenden siehe die Fotokopien und Abschriften in ÖGZ-A, NL-96, DO 1105, Mappe 27. Der Verbleib der Originalbriefe ist unbekannt. 74 Vgl. Seyß-Inquart an seine Familie vom 16. Oktober 1946, Bl. 5 (ebd.) mit Puschner, Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik, 396–406 und Krüger, Katastrophen, 89–92.

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Zu den Rückblicken und Selbstrechtfertigungen zählt die mehrfach erwähnte Denkschrift, die Seyß-Inquart am 2. Oktober 1945 fertigstellte; mit ihren 134 Blättern ist sie der umfangreichste dieser Texte. Hier wie auch in zahlreichen anderen Abhandlungen wiederholte Seyß-Inquart die ideologischen Konstanten, die schon immer für sein politisches Denken maßgeblich gewesen waren: ein ‚völkisches‘ Politikverständnis, einen großdeutschen Nationalismus und die These, dass der NS-Staat vor der historischen Herausforderung gestanden habe, den europäischen Kontinent vor dem Kommunismus zu ‚retten‘. Gerne betonte er in seiner schriftlichen Produktion die ‚Verdienste‘, die das Dritte Reich ungeachtet einiger „Extremerscheinungen“ wie „Rassenstandpunkt und dessen Durchsetzung, Auf-, eigentlich nur Nachruestung, einseitige Durchsetzung des Lebensraums, aussenpolitische Unberechenbarkeit“ erworben habe. Hierzu zählten aus seiner Sicht die Abschaffung eines als unfruchtbar angesehenen Parlamentarismus, die erfolgreiche Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit der Dreißigerjahre und die Konsolidierung der deutschen Wirtschaft sowie die Schaffung einer „Volksgemeinschaft“, die „die Menschen hilfsbereiter zueinander machte.“ Zu den positiv bewerteten Leistungen des NS-Staates zählte Seyß-Inquart auch die Beseitigung der als diskriminierend erfahrenen Bestimmungen der Pariser Vorortverträge von 1919 und „den Zusammenschluss der im geschlossenen Siedlungsgebiet wohnenden Deutschen“, also vor allem die Anschlüsse von Österreich und des Sudetenlandes. Gegenüber all diesen „Leistungen“ traten seiner Darstellung nach „die negativen Erscheinungen zurueck bzw. wurden als Uebergangserscheinungen der Sturm- und Drangperiode angesehen.“ Seyß-Inquart nahm auch „die Totalitaet der Bewegung“ in Schutz – die radikale und blutige Unterdrückung aller Gegner der NSDAP durch Staat und Partei hatte in ihm noch immer einen Befürworter.75 Schließlich griff Seyß-Inquart die üblichen Propagandafloskeln aus der Zeit vor der deutschen Kapitulation wieder auf, wenn er den Zweiten Weltkrieg in einen rein defensiven Akt uminterpretierte: 1939 habe „das deutsche Volk“ (nicht etwa die Staats- und Militärführung des Großdeutschen Reiches!) geglaubt, „seine Gleichberechtigung und Selbstbestimmung in einer unvermeidlichen Auseinandersetzung mit der alten Feindkonstellation verteidigen zu muessen.“76 Stärker als vor Gericht griff Seyß-Inquart in seinen Notizen die Alliierten an und unterstellte ihnen, kaum anders verfasst zu sein oder agiert zu haben als das nationalsozialistische Deutschland.77 So meinte er, dass in der Zwischenkriegszeit in ganz Mittel- und Ost­europa eine Abkehr vom parlamentarisch-demokratischen System festzustellen gewesen sei, und die Sowjetunion sowie das amerikanische Präsidialsystem bezeichnete er als „autoritär“. Die UdSSR war ihm auch ein Beweis dafür, dass ein autokratisches System nicht per se ein „Verbrechen“ sei. Die Verfolgung politischer Gegner erachtete er als Normalität – den vom austrofaschistischen Regime in die Illegalität getriebenen Nationalsozialisten sei es vor dem ‚Anschluss‘ ja nicht anders ergangen.78 Die Konzentrationslager des NS-Regimes scheint er nicht 75 Seyß-Inquart, Einige Bemerkungen zur Lage, Bl. 7 f.; der Text stammt vom Juli 1945. 76 Seyß-Inquart, Der deutsche Weg, Bl. 15. 77 Sofern nicht anders vermerkt, stammt das Folgende aus Seyß-Inquarts handschriftlichen Notizen in: ÖGZ-A, NL-61, DO 715, Mappe 338a. 78 Seyß-Inquart, Schlussausfuehrungen, Bl. 14.

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von den sogenannten Anhaltelagern unterschieden zu haben, in denen die österreichischen Sicherheitsbehörden unter Dollfuß und Schuschnigg zunächst Nationalsozialisten, nach den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen vom Februar 1934 auch Sozialdemokraten und Kommunisten eingesperrt hatten. Die Konzentrationslager wollte er jedenfalls nicht als Spezifikum der nationalsozialistischen Herrschaft gelten lassen: Sie seien „keine deutsche Erfindung“, auch im britischen Einflussbereich seien sie anzutreffen. Seyß-Inquart verstieg sich gar zu der Behauptung, Konzentrationslager würden bei einem Wechsel des politischen Systems „immer“ eingesetzt und bildeten „einen humanen Ausweg“, weil ein solches Lager im Gegensatz zu Guillotine oder Genickschuss keine irreversiblen Tatsachen schaffe, sondern lediglich unerwünschte Personen „vorübergehend ausschaltet, um sie nach Stabilisierung wieder ins bürgerliche Leben einzuordnen.“79 In dieser grotesken Darstellungsweise wurden die Konzentrationslager des Dritten Reiches zu schlichten Internierungslagern umdefiniert, ihr Charakter als gigantische Vernichtungslager wurde wider besseres Wissen vollkommen negiert. Mit solchen ‚Argumenten‘ versuchte Seyß-Inquart, das NS-Regime zu relativieren und in systemischer Hinsicht zu ‚normalisieren‘. Hierdurch wiederum wurden die Alliierten implizit auf eine Stufe mit dem Dritten Reich gestellt und die Ankläger von Nürnberg in gewisser Weise mit auf die Anklagebank gesetzt. Zu einer überzeugenden Distanzierung von Adolf Hitler und vom Nationalsozialismus in seiner Gesamtheit vermochte sich Seyß-Inquart nicht durchzuringen. Er kam zwar im September 1946 einmal halbherzig zu dem Ergebnis, dass der ‚Führer‘ „das von ihm selbst geschaffene Grossdeutschland und die Lebensgrundlagen des deutschen Volkes vernichtet hat.“80 Doch dieser Gedanke wurde nicht vertieft, und in seiner Schlusserklärung vor dem Internationalen Militärgerichtshof hatte Seyß-Inquart sich ausdrücklich zu dem großen Idol seines Lebens bekannt: „Für mich bleibt er der Mann, der Großdeutschland als eine Tatsache in die deutsche Geschichte gestellt hat. Diesem Manne habe ich gedient. Was dann kam? Ich vermag nicht heute ‚Kreuziget ihn!‘ zu rufen, da ich gestern ‚Hosianna‘ gerufen habe.“ 81 Auch nach dem Untergang des Deutschen Reiches hielt Seyß-Inquart somit an ‚Führer‘ und Nationalsozialismus fest. Er konzedierte zwar angesichts der deutschen Kapitulation, dass die NSDAP mit ihrem „Versuch einer eigenständigen Ordnung für den deutschen Raum“ gescheitert war. Doch auch diese Feststellung führte ihn nicht zu einer Abkehr vom Nationalsozialismus. Denn das Scheitern resultierte für ihn aus „dem inneren Widerspruch zwischen der Idee und ihrer Verwirklichung“, nicht jedoch aus der „Idee“ an sich.82 Nicht einmal

79 Ähnlich Seyß-Inquart, Verteidigungsschema, Bl. 16. Ansätze zu einem differenzierten und wissenschaftlich verantworteten Vergleich bietet der Sammelband Jahr/Thiel (Hrsg.), Lager vor Auschwitz. 80 Seyß-Inquart, Ein Nachwort, Bl. 6. Ähnlich ebd., Bl. 22: „Hitler ist gescheitert.“ In gewisser Weise zurückgenommen wurde dieses apodiktische Urteil durch die These, dass „die Wiederherstellung der Souveraenitaet und Einheit des deutschen Volkes“ eine historische Leistung Hitlers gewesen sei (ebd., Bl. 35). 81 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 22, 460. Bis in die Formulierungen hinein weitgehend identisch mit Seyß-Inquarts Schlussausfuehrungen, Bl. 76, Verteidigungsschema, Bl. 25 und Ein Nachwort, Bl. 5 und 47 f. 82 Undatierte handschriftliche Notiz, ÖGZ-A, NL-61, DO 715, Mappe 338a.

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für die eingestandenen „Extremerscheinungen“ fand er in seinen zahlreichen Abhandlungen und Notizen ein Wort der Entschuldigung. Ihm lag vielmehr daran, die nationalsozialistische Politik selbst in ihren radikalsten Erscheinungsformen nachträglich zu begründen und zu verteidigen. Dies trifft auch – und in besonders krasser Form – auf Seyß-Inquarts Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Judenverfolgung zu. Von einer Distanzierung ist in seinen Nachkriegsnotizen und -abhandlungen keine Spur zu finden. Im Gegenteil, ihm lag daran, durch eine vorgeblich „offene und leidenschaftslose Pruefung des Judenproblems“ Antisemitismus als eine historisch gerechtfertigte ‚Antwort‘ auf die soziale und nationale Situation in Österreich in den mittel- und osteuropäischen Ländern darzustellen.83 So hielt Seyß-Inquart Deportationen nach wie vor für gerechtfertigt, um „das Problem der Ueberfremdung“ einer „praktischen Loesung“ zuzuführen. Dass die antijüdischen Maßnahmen des NS-Regimes in einen „negativen, exzessiven Antisemitismus aus[arteten]“, nahm er in dem Typoskript Der deutsche Weg als schlichte historische Tatsache hin.84 In pseudoobjektiven Formulierungen warb er um Verständnis dafür, dass „eine antisemitische Bereitschaft“ „fallweise in einen aktiven und radikalen Antisemitismus“ umschlagen konnte, „sobald und solange das jüdische Element in diesem Teile Europas in Erscheinung trat.“ Ein „radikaler Antisemitismus“, an dessen Entfaltung Seyß-Inquart in Österreich, Polen und den Niederlanden aktiv beteiligt gewesen war, wurde in dieser Darstellung als eine natürliche, wenn nicht gar geschichtlich notwendige soziale Verhaltensweise interpretiert. Schlimmer noch: Der jüdischen Bevölkerung, die ihr nichtjüdisches Umfeld als eine Art Parallelgesellschaft unterwandert und herausgefordert hätte, wurde die Schuld für ihre eigene Verfolgung in die Schuhe geschoben!85 Die von den Juden ausgehende Bedrohung, die Seyß-Inquart durch die Täter-Opfer-Umkehrung konstruierte, wurde in seiner Darstellung durch die Kriegssituation verschärft. Er genierte sich nicht, „die Vernichtungstat Hitlers und Himmlers“ als Reaktion auf eine „furchtbare Gefahrenlage“ zu präsentieren, in die „das deutsche Volk“ durch den Zweiten Weltkrieg geraten sei.86 Noch weiter getrieben wurde die Täter-Opfer-Umkehrung in dem Typoskript Auschwitz, das zwar nicht namentlich gekennzeichnet ist, in Inhalt und Diktion aber eindeutig Seyß-Inquart zugeordnet werden kann und sich nicht ohne Grund im Nachlass seines Strafverteidigers befindet.87 Eingangs rang sich der Verfasser zwar zu dem Eingeständnis durch, „Millionen gemordeter Juden durch die Gaskammern in Auschwitz, Maidanek [sic] und Treblinka waren und sind die schauerlichste Anklage, der gegenueber jede Verteidigung versagen muss83 Seyß-Inquart, Das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, Bl. 7 f.; am 8. September 1945 übergab Seyß-Inquart das im Juli verfertigte Typoskript in einer englischen Übersetzung an Thomas J. Dodd (Seyß-Inquart, The German Right of Self-Determination, dort Bl. 9–11). Inhaltlich und zum Teil wörtlich identisch mit Ders., Schlussausfuehrungen, Bl. 28–32. 84 Seyß-Inquart, Der deutsche Weg, Bl. 16 f.; der Text datiert vom 18. August 1946. 85 Seyß-Inquart, Einige Bemerkungen zur Lage, Bl. 20 f. 86 Seyß-Inquart, Schlussausfuehrungen, 31. 87 ÖGZ-A, NL-61, DO 678, Mappe 152 (Durchschlag); hieraus stammen die folgenden Zitate.

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te.“ In kaum zu überbietender Pervertierung der tatsächlichen Verhältnisse aber wurde im Folgenden die jüdische Bevölkerung selbst für den Holocaust verantwortlich gemacht: „Die Henkersknechte bei der geschaeftsmaessig vollzogenen Toetung von Millionen Juden waren selbst Juden [,] die hiefuer als Entlohnung einen Prozentanteil an der Beute erhielten.“ Sie seien es gewesen, die ihre Leidensgenossen in den Konzentrationslagern bewacht, in die Gaskammern geführt und den Leichen die Goldzähne aus den Mündern gebrochen hätten, „gewiss in eifriger Aufmerksamkeit, ihre Prozentanteile sicherzustellen.“ Damit nicht genug: Das angebliche Profitstreben der Juden, das Seyß-Inquarts Darstellung zufolge die „geschäftsmäßig vollzogene Tötung von Millionen Juden“ erst möglich gemacht hatte, wurde als Resultat einer ‚rassischen Veranlagung‘, eines angeborenen „Defekts“ vorgestellt. Denn die Juden seien beim Massenmord an ihren „Volks-[,] Rasse- und Glaubensgenossen“ ihrem „Wesenszug“ gefolgt, „der ja das Judentum immer wieder in einen Gegensatz zu der uebrigen Welt bringt: die Hemmungs- und Bodenlosigkeit im Fall der Erraffung von Guetern, der Tanz um das goldene Kalb, um auf diesem Weg zu jener schmerzlich vermissten Geltung zu kommen, der das Judentum seit eh und jeh [sic] zustrebt.“ In solch einer extrem zynischen Verdrehung der historischen Tatsachen war für eine selbstkritische Analyse kein Platz, geschweige denn für ein Schuldeingeständnis. Auf seine eigene Mitwirkung am Holocaust ging Seyß-Inquart hier wie in allen anderen Abhandlungen aus der Internierungszeit mit keinem Wort ein. Stattdessen schob er Verantwortung auf die Reichsführung ab. Bei dem „ganz kleinen Kreis von Personen“, die an den Fingern abgezählt werden könnten, handele es sich um „im Guten [sic] oder Boesen auserwaehlte Menschen, die aus einer besonderen Veranlagung und Einstellung heraus gehandelt haben, mag ihr Verhalten auch noch so unfassbar erscheinen“. Sie hätten es verstanden, die Juden bei ihrem erwähnten „Defekt“ zu packen und zu „Vollstreckern und Helfershelfern dieser Millionenmorde“ zu machen. Der Verfasser glaubte sogar zu dem Ergebnis kommen zu dürfen, dass die Juden, die an der Ermordung ihresgleichen mitgewirkt hätten, „mit der Vernichtung der Millionen Juden viel mehr zu tun [haben] als alle Angeklagten auf der Anklagebank“ des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals. Dieses ungeheuerliche Narrativ stellt eine gigantische Geschichtsverfälschung dar. Es zielte auf eine Relativierung des Holocaust, weil dieser Genozid in Seyß-Inquarts Darstellung seine Wurzel in dem angeblich historisch gerechtfertigten Antisemitismus hatte und im wesentlichen von dessen Opfern durchgeführt wurde. Zugleich diente es dem Verfasser dazu, sich selbst von jeder Verantwortung für den millionenfachen Massenmord auszunehmen. Verantwortung wurde ausschließlich auf den kleinen Kreis der Reichsführung und auf die Juden als angebliche Exekutoren delegiert. Im selben Atemzug wurden die Täter aus der Gesellschaft des Großdeutschen Reiches und von ‚befreundeten‘ Ländern entlastet, die als Wachmannschaften der Konzentrationslager oder in anderen Funktionen an der systematischen Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung teilgenommen hatten. Denn Seyß-Inquart zufolge handelten die „notwendigerweise vorhandenen zahlreichen Helfer und Vollstrecker […] immer aus einem allgemeinen psychologischen Motiv, das in irgendeiner Weise seine Wurzel im gemeinsamen Charakter als [sic] im Wesen dieser Voelker-[,] Rassen- oder Glauben[s]gruppe haben muss, die hier handelnd auftraten. Sie handelten in der ihnen beige-

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brachten Meinung, im Sinne einer falschverstandenen Wertordnung religioesen, voelkischen oder sozialen Impulsen zu folgen, die ihnen gebietet, die gesamte Gruppe ihrer Feinde zu vernichten.“ Der Holocaust erschien in dieser Sichtweise nicht als ein perfekt organisiertes Massenverbrechen jenes Regimes, an dem Seyß-Inquart selber höchst engagiert und auf relativ einflussreichen Posten mitgewirkt hatte. Er erschien als ein schicksalhaftes, tragisches Ereignis, das nicht zu vermeiden gewesen sei, weil sowohl die Juden mit ihrem „Defekt“ als auch deren Gegner mit ihrer „Wertordnung“ und ihrem „Impuls“, „die gesamte Gruppe ihrer Feinde zu vernichten“, ihrer jeweiligen ‚natürlichen‘ Veranlagung folgten. Mit der Abhandlung Auschwitz leistete Seyß-Inquart somit eine radikale, wahrheitswidrige Bagatellisierung des Holocaust, die in der Pervertierung der tatsächlichen Geschichte der Judenvernichtung allenfalls durch die grundsätzliche Leugnung des Holocaust hätte übertroffen werden können. Auch wenn dieses Dokument nicht die Ankläger und Richter des Nürnberger Gerichtshofs erreichte und am allerwenigsten an die Öffentlichkeit gelangte, macht Auschwitz besonders deutlich, dass sich Seyß-Inquart im unverbrüchlichen Bekenntnis zum Antisemitismus von den meisten anderen Angeklagten absetzte, die ihre antisemitische Einstellung leugneten oder kaschierten oder behaupteten, „ihn angesichts der Radikalisierung der antijüdischen Politik wieder abgelegt zu haben.“88 Seyß-Inquart blieb radikaler Antisemit, und zwar buchstäblich bis zum letzten Atemzug. Welche Überlegungen nun stellte Seyß-Inquart zur Zukunft an? Zunächst ist festzuhalten, dass sich der einstige Reichskommissar während Internierung und Prozess keine Gedanken über die zukünftige Entwicklung der Niederlande machte. Mit der Rückkehr der königlichen Familie und der legitimen Regierung aus dem Exil in Großbritannien war klar, dass das Land, das Seyß-Inquart fünf Jahre lang verwaltet hatte, wieder ein selbstständiger, unabhängiger Nationalstaat sein würde wie vor 1940. Das unter seiner Führung angestrebte Naheverhältnis hatte ausgedient, die angeblich ‚germanischen‘ Niederländer verfielen in eine ausgesprochen antideutsche Haltung. Auch wenn die niederländische Außenpolitik in den ersten drei bis vier Nachkriegsjahren keine klaren Konturen aufwies und zwischen Restauration als Kolonialmacht, Neutralität, europäischer Kooperation und Konzepten internationaler Sicherheit schwankte89 – die Zeit der deutschen Besatzung gehörte unwiederbringlich der Vergangenheit an. Hier hatte ein Seyß-Inquart nichts mehr zu bestellen.90 Umso mehr beschäftigte ihn die Zukunft seines eigenen großen politischen Lebensziels, der staatlichen Vereinigung aller Deutschsprachigen. Seyß-Inquart gab sich zuversichtlich, dass der Anschlussgedanke bestimmend bleiben werde. Der Zweite Weltkrieg habe das „Be88 Weckel, „Jüdische Rache“?, 77. 89 Vgl. Hellema, Neutraliteit & Vrijhandel, Kap. 3: Impasse [Sackgasse]. 90 Dass schon der Familienname fortan in den Niederlanden stigmatisiert war, musste 1987 Arthurs Enkel Helmut Seyß-Inquart erfahren: Obwohl nach dem Krieg geboren, wurde ihm eine Mitarbeit in der Amsterdamer Anne-Frank-Stiftung mit der ‚Begründung‘ verwehrt, der Name Seyß-Inquart stehe für einen Kriegsverbrecher, der mit Anne Frank unter keinen Umständen in Verbindung gebracht werden dürfe. Siehe die Meldungen im nieuw israelietisch weekblad vom 17. April und in De Telegraaf vom 13. April 1987 sowie seine eigene Darstellung in: Sichvrovsky (Hrsg.), Schuldig geboren, 145 f.

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wusstsein der Schicksalsverbundenheit im deutschen Volk“ sogar noch verstärkt. Vor allem „ausserhalb der Reichsgrenzen“, also besonders in Österreich und im Sudetenland, werde die Bevölkerung „nur jener politischen Parole folgen, von der sie die unbedingte und radikale Durchsetzung ihrer voelkischen Lebensnotwendigkeiten und vor allem ihres Zusammenschlusses“ erwarten könne. In „einem rechtzeitigen Zusammenschluss, der nicht imperial gegen die kleinen Voelker der europ[äischen] Mitte gerichtet ist,“ sah Seyß-Inquart geradezu „die Voraussetzung fuer eine organische Entwicklung in der europaeischen Mitte“. Die staatliche Vereinigung aller Deutschsprachigen sei obendrein die Erfüllung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wie es US-Präsident Wilson im Ersten Weltkrieg proklamiert hatte.91 Das ‚völkische‘ Grundverständnis, das Seyß-Inquart hier einmal mehr zum Ausdruck brachte, lässt keine Wandlungen gegenüber der Zeit vor der deutschen Kapitulation erkennen. Und nach wie vor schloss sein Begriff von ‚Deutschland‘ Österreich und das Sudetenland ein. In einem seiner Typoskripte hielt er es sogar für „schwer vorstellbar“, „dass Deutschland ohne Pommern und Schlesien leben kann“.92 Für die Nachkriegsordnung ging es Seyß-Inquart aber nicht nur um die Rettung des Anschlussgedankens auf ‚völkischer‘ Grundlage. Auch der Nationalsozialismus oder „voelkische Sozialismus“93 hatte seiner Ansicht nach mitnichten abgedankt. Dieser bleibe vielmehr für die Deutschsprachigen die einzige politische Option, weil der Kommunismus vollkommen ausscheide und es fraglich sei, „ob die Wesensart des Deutschen die liberaldemokratische Ordnung“ zulasse.94 Wie schon in früheren Elaboraten95 stand Deutschland also für Seyß-Inquart zwischen Ost und West, und der Nationalsozialismus erschien ihm auch jetzt als die ideale Alternative zu Kommunismus und parlamentarischer Demokratie. Er sah zwar ein, dass die NSDAP nach der deutschen Kapitulation als „Formkraft des deutschen Volkes“ ausscheide. Nationalsozialistische Teilorganisationen wie die Deutsche Arbeitsfront und der Reichsnährstand jedoch könnten weitergeführt werden.96 Solche Aussagen zeigen einmal mehr, dass sich Seyß-Inquart nach der Festnahme in keiner Weise vom Nationalsozialismus getrennt hat. Sie gingen freilich über ein individuelles Glaubensbekenntnis hinaus. Auch wenn seine Abhandlungen aus der Internierungszeit nicht veröffentlicht wurden, waren seine Prognosen zur weiter bestehenden Relevanz nationalsozialistischer Ideen an die Bevölkerungen in Deutschland, Österreich und im Sudetenland gerichtet. Zugleich stellten sie eine Mahnung an die Siegermächte dar, die zukünftige politische Entwicklung nicht über die Köpfe der deutschsprachigen Bevölkerung in den Gebieten des ehemaligen Großdeutschen Reiches hinweg zu konzipieren. Ihm war natürlich bewusst, dass die deutschsprachige Bevölkerung nach der Niederlage im Krieg nicht völlig autonom über ihre 91 Seyß-Inquart, Das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, Bl. 16 f. und 22. Fast wortgleich Ders., Einige Bemerkungen zur Lage, Bl. 23. 92 Seyß-Inquart, Der deutsche Weg, Bl. 16. 93 So seine Formulierung in ebd., Bl. 19. 94 Seyß-Inquart, Einige Bemerkungen zur Lage, Bl. 19. 95 Vgl. oben, Kap. 13. 96 Seyß-Inquart, Einige Bemerkungen zur Lage, Bl. 18 f.

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Zukunft entscheiden konnte – war sie doch seit Mai 1945 „das Schiebegewicht im Kraefteausgleich der Weltmaechte“. Aber Seyß-Inquart setzte seine Hoffnungen darin, die Alliierten würden die Weichen so stellen, dass „dieser Raum und seine Bewohner in eigener Verantwortung und Behauptungsfaehigkeit selbst das Gleichgewicht bewahren helfen“. Um dies zu erleichtern, drängte er auf außenpolitische Neutralität – die Deutschen sollten sich in Zukunft „aus jedem Weltkonflikt“ heraushalten.97 Darüber hinaus spekulierte Seyß-Inquart, dass die Allianz zwischen der Sowjetunion und den drei westlichen Siegermächten nicht lange halten würde. So jedenfalls ist sein Hinweis auf „jene Trennungslinie“ zu verstehen, „die immer mehr zu einer Front zwischen den Demokratien und dem Bolschewismus zu werden scheint.“98 Ob er sich von einem Auseinanderfallen des Bündnisses größere Aussichten auf politische Eigenständigkeit für Deutschland versprach? Wie auch immer – bis zu seiner Hinrichtung erwiesen sich alle diesbezüglichen Spekulationen als trügerisch. Erst ein halbes Jahr später zeichnete sich mit dem Scheitern der Konferenz der vier alliierten Außenminister in Moskau der Bruch zwischen Ost und West deutlich ab. Den Kalten Krieg hat Seyß-Inquart erahnt, nicht jedoch erlebt. Wie aber sollte die innere Struktur von Nachkriegsdeutschland konkret aussehen? Überlegungen hierzu entwickelte Seyß-Inquart in dem Text, den er einen Tag vor seiner Schlusserklärung vor dem Nürnberger Gerichtshof unter der Überschrift Utopia in die Schreibmaschine tippte oder tippen ließ.99 Als Staatsgebiet wollte Seyß-Inquart den „Umfang des Reiches wie am 13.3.1938 mit Ausnahme von Ostpreussen“ bestimmt wissen. Die bipolare Ordnung der Welt würde allerdings zu einer Teilung zwischen den Siegermächten führen: Während der östliche Teil von Deutschland und von Europa unter Einschluss der Tschechoslowakei unter sowjetischem Einfluss stehen werde, würden im Westen die demokratischen Systeme den Ton angeben. Ein parlamentarisches Mehrparteiensystem lehnte Seyß-Inquart auch für den westlichen Teil Deutschlands explizit ab – würde ein solches System doch „Einbruchsmoeglichkeiten fuer bolschewistische oder destruktive Infiltration“ bieten. Stattdessen plädierte er für eine Einheitspartei.100 Eine solche Staatspartei, der er in seinem Typoskript vom 30. August 1946 keinen Namen gab, umschrieb er durchgängig mit dem Begriff „politische Organisation“. Durch den expliziten Verzicht auf den Parteibegriff wollte Seyß-Inquart wohl deutlich machen, dass es ihm um mehr ging als um einen Zusammenschluss und eine Interessenvertretung von Gleichgesinnten im organisationstechnischen Sinn. Die „politische Organisation“ bestimmte er vielmehr als den „Traeger der politischen Meinungs- und Willensbildung“, sie sollte ihm die organisatorische Manifestation der ‚Volksgemeinschaft‘ sein. Es ist davon auszugehen, dass ihm hierbei die NSDAP vorschwebte, die ihrem Selbstverständnis nach zwischen ‚Bewegung‘ und ‚Partei‘ gependelt war.101 97 Seyß-Inquart, Der deutsche Weg, Bl. 3 f. 98 Ebd., Bl. 1. 99 ÖGZ-A, NL-61, DO 678, Mappe 152. Hierauf beziehen sich die folgenden Ausführungen. 100 Keine zwei Wochen vorher hatte Seyß-Inquart noch ein Einparteiensystem abgelehnt, sofern „die Totalitaet der vaterlaendischen Gesinnung im Sinne der fundamentalen Reichsaufgaben“ sichergestellt sei (Der deutsche Weg, Bl. 18). 101 Vgl. Jagschitz, Von der „Bewegung“ zum Apparat.

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Ungeachtet der Teilung in ein östliches und ein westliches Deutschland, die sich in den folgenden Jahren tatsächlich in der Bildung der Sowjetischen Besatzungszone einerseits und der Bi- bzw. Trizone andererseits niederschlagen und schließlich in die Gründung von DDR und BRD münden sollte, wollte Seyß-Inquart in Utopia an nationaler Einheit festhalten, denn er bestimmte: „Das Reich ist ein Einheitsstaat, Reichsrecht geht vor Landesrecht.“ Für sein imaginiertes Reich sah er einen Reichspräsidenten als „Staatsfuehrer“ vor, der in allgemeiner, direkter und geheimer Wahl auf vier Jahre gewählt werden sollte. Ihm als dem Chef der Exekutive sprach Seyß-Inquart weitreichende Machtbefugnisse zu: Der Reichspräsident ernannte und entließ die Minister, ihm oblag die Richtlinienkompetenz, und er war oberster Befehlshaber der Armee. Die Funktion eines Reichskanzlers war nicht vorgesehen, unausgesprochen sollte der Staatsführer offenbar genauso die Ämter von Kanzler und Präsident in sich vereinigen, wie dies Hitler seit dem Tod von Paul von Hindenburg im Jahr 1934 getan hatte. Anklänge an das nationalsozialistische Führerprinzip sind nicht zu übersehen, erst recht nicht bei der Bestimmung, dass analoge Prinzipien auf den untergeordneten Ebenen der Staatsverwaltung zum Tragen kommen sollten: Auch in den zehn Ländern, in den Gauen [sic] sowie in den Kreisen und autonomen Gemeinden, in die Seyß-Inquart sein Deutsches Reich untergliedert wissen wollte, sollte ein „allein verantwortlicher Verwaltungsfuehrer“ an der Spitze stehen; ihm sei „ein ausfuehrender oder beratender Mitarbeiterkreis“ zuzuteilen. Für die Spitze der Landesverwaltungen empfahl Seyß-Inquart das Amt eines Landeshauptmanns, für die Spitze der Gauverwaltungen die Funktionen eines Gauhauptmanns. Die Kreise schließlich sollten von einem Kreishauptmann geführt werden, die Gemeinden von einem Bürgermeister. Die Aufsicht des Reiches gegenüber Ländern und Gauen nahmen Reichsstatthalter bzw. Regierungspräsidenten wahr. Die Reichsstatthalter, Landeshauptleute, Landesleiter der Staats­partei sowie die Präsidenten von berufsständischen Organisationen sollten einen etwa 50 Personen umfassenden Reichsrat konstituieren. Dieser habe die Regierung zu beraten, seine Beschlüsse waren jedoch nicht als bindend gedacht. Als Vertretungskörperschaften für die unterschiedlichen Ebenen des projektierten Deutschen Reiches sollte die Bevölkerung auf der Grundlage eines direkten, geheimen und allgemeinen Mehrheitswahlrechts alle vier Jahre einen Reichstag, einen Landtag, einen Gautag sowie einen Gemeinde- oder Kreisrat wählen. Deren Kompetenzen und politische Einflussmöglichkeiten allerdings waren gering: Die parlamentarischen Gremien traten in Seyß-­ Inquarts Konzeption nur zweimal im Jahr zusammen, und zwar für maximal sechs Wochen; lediglich für die Finanzverwaltung von Ländern und Gauen sollte ein Ständiger Ausschuss gebildet werden. In dieser Konstruktion glichen die Vertretungskörperschaften eher mittelalterlich-frühneuzeitlichen Ständeversammlungen als modernen Parlamenten. Der vergleichsweise geringe Stellenwert der parlamentarischen Gremien geht auch daraus hervor, dass sie nach Utopia lediglich zur Verabschiedung des Staatshaushalts und zur Zustimmung „zu allen Grundsatzgesetzen“ befugt waren. Im Fall der Verweigerung dürfe die Regierung die von ihr vorgeschlagene Maßnahme nicht durchführen. Änderungsvorschläge der Parlamente jedoch müssten von der Regierung nicht befolgt oder beachtet werden. Für den Reichstag schloss Seyß-Inquart ein Misstrauensvotum gegen den Reichspräsidenten oder Kabinettsmitglieder

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dezidiert aus. Die Land- und Gautage seien zwar immerhin befugt, den Landes- bzw. Gauhauptmann zu wählen, und deren Beschlüsse waren für die Landes- bzw. Gauverwaltung bindend. Doch auch ihnen wurde kein Misstrauensvotum zugesprochen, weder ein Landesnoch ein Gauhauptmann konnte abberufen werden. Insgesamt gesehen waren die parlamentarischen Körperschaften nicht als Träger der staatlichen Souveränität konzipiert. Als „das politische Gewissen der Nation“ fungierten in Seyß-Inquarts Vorstellung denn auch nicht die Parlamente, sondern die erwähnte Staatspartei. Zum Justizwesen seines Nachkriegsdeutschlands erwähnte Seyß-Inquart nur die Verwaltungsgerichtsbarkeit; einen Verfassungsgerichtshof, Zivil- oder andere Gerichte tauchen in Utopia nicht auf. Seyß-Inquarts Vorstellungen nach sollte es Verwaltungsgerichtshöfe für das Reich und für die einzelnen Länder geben. Aber auch die Zuständigkeit des Reichsverwaltungsgerichts war eng begrenzt: Der Reichsregierung sprach Seyß-Inquart das Recht zu, in bestimmten Fällen Gerichtsverfahren „jederzeit ausser Streit [zu] stellen.“ Soweit er sich überhaupt zur Judikative äußerte, war ihr nicht der Status einer unabhängigen Staatsgewalt zugedacht. Für gesellschaftliche Selbstorganisation außerhalb der Einheitspartei und der staatlichen Organe schließlich ließ Seyß-Inquart in Utopia noch weniger Platz. Sogar „die Organisation der Leibesübungen, der Jugend usw.“ blieb dem Staat vorbehalten. Damit wollte Seyß-Inquart zwar „das freie Organisationsrecht“ für Kirchen und andere weltanschauliche Gruppierungen nicht grundsätzlich in Frage stellen. Es galt für ihn allerdings nur, soweit sich deren Aktivitäten „im Gesamtrahmen halten.“ Was auch immer das konkret heißen sollte – Pluralismus und zivilgesellschaftliche Autonomie waren in Seyß-Inquarts Programm so gut wie ausgeschlossen. Alles war der staatlichen Verwaltung unterstellt. In dem Modell, das Seyß-Inquart in Utopia entwarf, blieb einiges ungeklärt. Einer Vertiefung hätte z. B. das Verhältnis zwischen Landeshauptmann und Reichsstatthalter oder zwischen Gauhauptmann und Regierungspräsident bedurft. Auch die Beziehung zwischen Staat und Einheitspartei blieb in vielerlei Hinsicht unausgegoren. Seyß-Inquart selber hat in seinem Text einige Fragezeichen angebracht, etwa zur Frage, ob der Kreishauptmann Reichs- oder Landesbeamter sein solle. Der Geist, der Utopia beseelte, ist aber recht klar erkennbar: Er war autoritären und totalitären Politikvorstellungen verpflichtet. In vielen Funktionsbezeichnungen, in der Übernahme des Führerprinzips für alle Ebenen der Staatsverwaltung, in dem Bekenntnis zum Einparteiensystem und in der extrem starken Betonung der Exekutive lehnte sich Seyß-Inquart an Prinzipien an, die dem NS-System eigen gewesen waren. Auch die Bildung einer „Wohlfahrtsorganisation“ nach dem Vorbild der NSV lässt keinen Zweifel an der nationalsozialistischen Orientierung, die Seyß-Inquart seinem Nachkriegsdeutschland verpassen wollte: Sie sollte befugt sein, alle nichtstaatlichen Fürsorgeorganisationen „in Notfaellen befehlsweise“ außer Funktion zu setzen oder möglicherweise sogar aufzuheben. Keinen Zweifel an seiner Gesinnung ließ Seyß-Inquart, wenn er eine uniformierte ‚Bereitschafts‘-Einheit forderte. Worauf auch immer sich deren Einsatzfelder beziehen sollten – dass er ausdrücklich die SA als Vorbild nannte, ist ein Beleg dafür, dass er Deutschland auch in Zukunft mit Elementen aus der NS-Zeit durchsetzt wissen wollte. Unwesentliche Elemente wie den Reichsrat

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oder berufsständische Organisationen schmuggelte Seyß-Inquart vermutlich aus dem austrofaschistischen System in sein Modell hinein – erinnert sein Reichsrat doch an jenen Staatsrat, dem er selber 1937/38 angehört hatte. In ihrer Mischung aus autoritären und totalitären Elementen war Utopia nach den Worten ihres Autors dazu gedacht, „die ideale politische Organisation des deutschen Volkes“ zu skizzieren. In dem Versuch, für alle Staatsgewalten, das Wahlsystem und die Einheitspartei eine möglichst kohärente, umfassende Funktionsbeschreibung zu präsentieren, mutet der Text wie der Rohentwurf zu einer Verfassung für den Nachfolgestaat des Großdeutschen Reiches ohne Hitler an. Hier wie bei allen anderen Abhandlungen, die in ihrer Summe einen beachtlichen Umfang hatten, drängt sich die Frage auf, welchen Zweck Seyß-Inquart mit seiner schriftlichen Produktion in der Haft verfolgte. Wollte er sich in der Beschäftigung mit ‚völkischem‘ Gedankengut und Nationalsozialismus gegenüber sich selber rechtfertigen? Waren die Texte für eine spätere Veröffentlichung gedacht? Setzte Seyß-Inquart darauf, mit einer Haftstrafe davonzukommen, nach einiger Zeit rehabilitiert zu werden und in der Nachkriegszeit wieder eine Rolle spielen zu können? Sah er sich womöglich als Mitglied oder Berater einer verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung? Und spekulierte der verhinderte Reichs­außenminister mit der Auffrischung seiner Englischkenntnisse auf eine Funktion, für die der Verkehr mit den westlichen Alliierten wichtig hätte sein können? Die Vermutung, dass Seyß-Inquart mit seinen Texten auch eine Außenwirkung erzielen wollte, wird gestützt durch die Tatsache, dass eine ausführliche schriftliche Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Zukunft mit dem Tag der Verkündung des Todesurteils durch den Nürnberger Gerichtshof weitgehend erlosch. Seit dem 1. Oktober 1946 rückte für ihn die Vorbereitung auf die Hinrichtung in den Mittelpunkt. Wie lässt sich das Verständnis von politischer Verantwortung zusammenfassen, das Seyß-Inquart in der Internierungszeit zum Ausdruck gebracht hat? Im Kreuzverhör wie in seinen Abhandlungen bekannte er sich durchaus zu der Tatsache, dass er im NS-System politische Verantwortung übernommen hatte. Dies bedeutete nicht nur, dass er nach wie vor zu seiner eigenen Politik in Wien, Krakau und Den Haag stand. Es schloss auch – wie mehrfach gezeigt – ein, dass er sich nicht von nationalsozialistischer Ideologie und Herrschaft distanzierte. „Er wollte nicht einer von denen sein, die den Nazis zur Macht verholfen und die Früchte ihres Erfolges geerntet hatten und nun ihre Verantwortung buchstäblich abzustreifen versuchten“ – wie dies in der Wiedergabe des amerikanischen Gefängnispsychiaters Gustav M. Gilbert bei „billigen Politikern“ wie Frick oder Ribbentrop der Fall war.102 Auch bemühte sich Seyß-Inquart zu vermeiden, sich selber durch die Belastung von anderen Mitangeklagten oder ehemaligen Mitarbeitern, die noch am Leben waren, zu entlasten. Besonders auffällig ist dies im Hinblick auf Rauter, dem in Den Haag der Prozess gemacht werden sollte. Bei seiner Vernehmung achtete Seyß-Inquart darauf, die besonders brutalen Seiten der deutschen Besatzung wie die Judenverfolgung oder Geiselerschießungen nicht einseitig Himmlers Vertreter 102 Gilbert, Nürnberger Tagebuch, 373. Gilbert bezog sich hier auf ein Gespräch, das er am 12. Juni 1946 mit Seyß-Inquart in dessen Gefängniszelle geführt hatte.

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in den Niederlanden in die Schuhe zu schieben, und in Abhandlungen hob er hervor, dass er sich in manchen Fällen zusammen mit Rauter beim Reichsführer-SS um eine Abschwächung von harten Maßnahmen eingesetzt habe, deren Ausführung von Seiten des Reiches gefordert worden sei.103 Seyß-Inquart wurde allerdings nervös, als er erfuhr, dass Rauter ins Nürnberger Justizgebäude gebracht worden war. Allem Anschein nach befürchtete er, sein früherer Generalkommissar für das Sicherheitswesen werde ihn als den Chef der Zivilverwaltung in den besetzten Niederlanden belasten. Sogleich bat er Steinbauer, die Strafverteidiger, die bei Rauters Vernehmung anwesend sein würden, zu Gegenfragen zu seinen Gunsten zu bewegen. Denn „Rauter muß zu einer Entlastung führen, wenn er entsprechend befragt wird, da ich ihn auch nicht belaste.“104 Von der Anerkennung seiner Verantwortung führte für Seyß-Inquart – wie für die Mehrheit der anderen Angeklagten – kein Weg zu einem wie auch immer gearteten Schuldbewusstsein; Zeichen von Reue ließ er an keiner Stelle erkennen.105 In einer Abhandlung, die er während der Beratungen des Nürnberger Richterkollegiums für Gilbert anfertigte, gestand er zwar ein, dass während des Gerichtsverfahrens „Unmenschlichkeiten“ offenbar geworden waren, denen man „fassungslos“ gegenüberstehe. Im gleichen Augenblick aber tat er so, als hätten er und seine Mitangeklagten hiermit nichts zu tun gehabt: Er spüre „ein Wollen, mit dem wir nie etwas gemein hatten und dem gegenüber wir heute nur die eine Beruhigung haben, dass wir auch in den Zeiten des Unglücks in vorderster Reihe stehen.“106 Sogar die konzedierten „Unmenschlichkeiten“, für die er unausgesprochen wohl Hitler, Himmler und vielleicht Heydrich verantwortlich machen wollte, waren für ihn also kein Anlass, sich für die unsäglichen Verbrechen des NS-Regimes zu entschuldigen, für das er selber auf prominenten Positionen tätig gewesen war. Für seinen Teil lehnte er es jedenfalls ausdrücklich ab, sich für Verbrechen zu entschuldigen, die er und seinesgleichen zu verantworten hatten. Sauckel bestärkte er kurz vor der Hinrichtung in dem Glauben, das Richtige getan zu haben: „Daß ein Führerbefehl vorlag, kann uns, die wir den Mut und die Kraft hatten, in diesem Existenzkampf unseres Volkes in erster Reihe zu stehen, die Verantwortung nicht abnehmen. Wir bekennen uns dazu. Unsere Gegner haben Deutschland besiegt und vernichten nun die führenden Männer. Ob das gerecht und klug ist, ist eine andere Frage, aber wir werden uns selbst in unserer Leistung für das deutsche Volk nicht kleiner machen.“ Dem Todesurteil wollte er einen politischen Sinn abgewinnen, als er seine Leidensgenossen zu einem aufrichtigen Gang zum Schafott zu bewegen versuchte: „Sind wir in den Tagen des Triumphes in den ersten Reihen gestanden, so haben wir den Anspruch, im Unglück in vorderster Reihe zu stehen. Mit 103 Siehe besonders seine Denkschrift und die Schlussausfuehrungen, passim. 104 Handschriftliche Notiz für Steinbauer vom 19. Juli 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 713, Mappe 326. 105 Ähnlich die Beobachtung über Seyß-Inquart von Oberst Andrus: I Was the Nuremberg Jailer, 102 f. Ungeachtet der Tatsache, dass Seyß-Inquart sich im Nürnberger Gefängnis im Gegensatz zu Kaltenbrunner dem Christentum zuwandte, macht sich in diesem Punkt einmal mehr eine Parallele zwischen den beiden österreichischen Hauptkriegsverbrechern bemerkbar; vgl. Black, Ernst Kaltenbrunner: „Wir sind noch viel zu weich gewesen …“, 148 f. 106 Seyß-Inquart, Verteidigungsschema, Bl. 26; der Text ist auf den 9. September 1946 datiert.

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unserer Haltung helfen wir, die Zukunft unseres Volkes wieder aufzubauen.“107 Aus solchen Worten scheint noch einmal durch, dass Seyß-Inquart dem Nationalsozialismus nach wie vor die Berechtigung zu einer historisch dimensionierten Missionierung zusprach. Die Niederlage des Großdeutschen Reiches erschien in dieser Sicht nicht als geschichtlicher Schlussstrich unter ein verbrecherisches Regime, sondern als historisch kontingentes und potenziell reversibles Resultat militärischer Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund legte er sich selber und den anderen Todeskandidaten nahe, dem eigenen Schicksal mit einem heroischen Fatalismus zu begegnen. In einer solchen Haltung traf die nüchterne Einsicht in die Unausweichlichkeit der Exekution auf das unbeirrte Festhalten an den politischen Idealen, denen Seyß-Inquart seine ganze Laufbahn verschrieben hatte. Für ein Schuldeingeständnis oder gar eine Entschuldigung gegenüber den unzähligen Opfern des NS-Regimes und seiner eigenen Politik war hier kein Platz. Entsprechend den Schwerpunkten der oben skizzierten Verteidigungsstrategie galt Seyß-Inquarts Empathie denn auch ausschließlich der deutschsprachigen Bevölkerung in Deutschland und Österreich: Auf deren Schicksal habe er sein ganzes politisches Leben hin ausgerichtet. Seyß-Inquarts bornierte, politisch motivierte Einseitigkeit hat schon der amerikanische Armeearzt Dr. Douglas M. Kelley festgestellt, der neben Gilbert als Gefängnis­ psychiater in Nürnberg tätig war und fünf Monate lang die Gelegenheit hatte, Interviews mit den Gefangenen zu führen: „In diesem eisigen, in sich gekehrten Individuum hatte offenkundig nur Gefühl für die Leiden des deutschen Volkes Raum. Mitleid für die ungezählten Tausende Österreicher, Polen und Holländer, die unmittelbar auf Grund seiner Befehle zugrundegegangen waren, kannte dieses verhärtete Herz nicht.“108 Nicht einmal gegenüber seiner Familie äußerte Seyß-Inquart Zeichen von Mitleid mit den Opfern seiner Politik. Aus den Briefen an Gertrud und die Töchter Ingeborg und Dorothea109 geht zwar die aufrichtige Sorge eines liebenden Ehemanns und Vaters um Wohlergehen und Zukunft seiner Angehörigen hervor. Sie sind aber ebenso frei von Reue wie seine öffentlichen Stellungnahmen vor Gericht oder sein Schriftverkehr mit Steinbauer. Die Privatbriefe stehen somit in einem ungeheuren Spannungsverhältnis zu der Tatsache, dass Seyß-Inquart durch seine Amtsführung als hochrangiger NS-Funktionär an der Vernichtung von Millionen von Menschenleben, an 107 Seyß-Inquart an Sauckel vom 13. Oktober 1946, aus dem Tagebuch, das der Nürnberger Gefängnisarzt Dr. Ludwig Pflücker 1952 in der Waldeckischen Landeszeitung publizierte, zit. nach: Shelliem (Hrsg.), Als Gefängnisarzt im Nürnberger Prozess, 57 f. Der Originalbrief konnte nicht ausfindig gemacht werden. 108 Kelley, 22 Männer um Hitler, 199. Zu Seyß-Inquart hieß es weiter: „[…] soweit ich ihn beobachten konnte, blieb er überzeugt, daß alles, was er getan hatte, zum Besten Deutschlands gewesen sei. Der Ausgang des Krieges brach nicht im geringsten seine Zuversicht.“ 109 Siehe die Materialien in ÖGZ-A, NL-96, DO 1105, Mappe 27 und Bl. 1 von Seyß-Inquarts handschriftlichem Abschiedsbrief an seine Familie vom 16. Oktober 1946 (ebd.). Sohn Richard war als Offizier in russische Kriegsgefangenschaft geraten und zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden (De Jong, Twee gesprekken, 130); seinem Schicksal galt in den Privatbriefen Seyß-Inquarts besondere Sorge. Im Frühjahr 1955 sollte er zu den Ersten gehören, die auf Grundlage eines Vertrags zwischen Österreich und der Sow­ jetunion freigelassen wurden und in ihr Heimatland zurückkehren konnten (De Telegraaf vom 6. Juni 1955).

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der Zerstörung von Hunderttausenden von Familien und dem Ruin eines ganzen Landes an maßgeblicher Stelle aktiv beteiligt war. Befürchtete er, dass ein Wort der Reue oder Anteilnahme für die Opfer des NS-Regimes in einem von der Zensur kontrollierten Privatbrief als Schuldeingeständnis gewertet und im Prozess gegen ihn verwendet werden könnte? Hinderte ihn die emotionale Distanziertheit und Kälte, die ihm Major Kelley in seinem oberflächlichen Psychogramm attestierte, an einem Bekenntnis persönlicher Schuld? Wahrscheinlicher ist, dass seine Weigerung, eigene Schuld an den monströsen Verbrechen des nationalsozialistischen Systems gegenüber sich selbst, seiner Familie und dem Rest der Welt einzugestehen, damit zusammenhing, dass Seyß-Inquart die Legitimität des Nürnberger Gerichtshofs und seines Statuts110 grundsätzlich in Frage stellte. Unter den Angeklagten stand er nicht allein, wenn er dem alliierten Militärtribunal jegliche rechtliche Grundlage absprach. Weil die Anklage in seiner Wahrnehmung nicht durch das Völkerrecht gedeckt war, empfand er das Verfahren in Nürnberg als einen eklatanten Verstoß gegen den Rechtssatz „Nullum crimen sine lege“. Auch hielt er es aus politischer Sicht für unmöglich, eine Gesellschaft wie die deutsche „nur durch Gerichtssprüche [–] also im nachhinein [–] zu regulieren.“ Der internationalen Gemeinschaft sprach er denn auch dezidiert die Befugnis ab, sich zum Richter über Deutschland und die nationalsozialistische Regierung zu machen. Man müsse die Frage stellen, „was denn diese Nationen bis 1933 für das deutsche Volk gemacht haben, um sich heute zum Richter aufwerfen zu können“ – ein mehr oder weniger dezenter Hinweis auf die Benachteiligungen, denen Deutschland und Österreich durch die Pariser Vorortverträge ausgesetzt gewesen waren. Auch die Behauptung, dass Großbritannien, Frankreich und Italien 1938 das Münchner Abkommen mit Deutschland abgeschlossen hatten, obwohl sie besser über die politischen Zusammenhänge und den Inhalt von Hitlers Mein Kampf informiert gewesen seien als er, diente Seyß-Inquart dazu, die Siegermächte in eine Mitverantwortung für die gewaltsamen Entwicklungen in Europa nach der Machtergreifung in Deutschland zu zwingen – und von hier ausgehend deren Berechtigung zu untergraben, über ihn und seine Mitangeklagten zu richten. Besonders im Hinblick auf den Anschluss Österreichs wollte er einem Gerichtshof der Siegermächte keinerlei Rechtmäßigkeit zugestehen. Wieder einmal unter ausdrücklicher Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker kam er zu dem Ergebnis: „Hier versagten Demokratien, daher [haben sie] kein Recht [,] sich zum Richter ab 1933 aufzuwerfen!“111 Steinbauer wollte denn auch in dem Umstand, „daß es immer ein Prozeß der Sieger über die Besiegten sein wird“, „eine der Schwächen“ des Nürnberger Verfahrens sehen.112 Seyß-Inquarts Ablehnung des Internationalen Militärgerichtshofs reichte argumentativ tiefer als das damals weitverbreitete Schlagwort von der ‚Siegerjustiz‘. Mit seinen Mitangeklagten teilte er zwar Görings Aussage, das Verfahren in Nürnberg sei nichts anderes als „ein politischer Prozeß der Sieger, und Deutschland wird gut daran tun, sich das klarzumachen!“113 110 Das Statut ist abgedruckt in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 1, 10-18. 111 Das Vorstehende nach der handschriftlichen Notiz in ÖGZ-A, NL-61, DO 715, Mappe 338a. 112 Aus dem Schlussplädoyer, zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 19, 123. 113 Zit. nach: Gilbert, Nürnberger Tagebuch, 375.

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Seyß-Inquart beschränkte sich aber nicht auf die simple, vordergründige Tatsache, dass die Mächte, die den Krieg gewonnen hatten, über die Vertreter des NS-Staates, die den Krieg verloren hatten, zu Gericht saßen. Seine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Nürnberger Gerichts gründeten auf der Annahme, dass die eigentliche Ursache für den Aufstieg des Nationalsozialismus, für Judenverfolgung und Zweiten Weltkrieg in der Politik der Alliierten seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zu suchen sei. Damit drehte er sozusagen den Spieß um: Deutschland (ab 1938 mit Österreich) habe sich unter Adolf Hitler nur wieder genommen, was dem Land 1918/19 unter Verstoß gegen das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker genommen worden sei. Dass Angehörige der deutschen Staats- und Militärführung nun auf der Anklagebank saßen, mutete in dieser Wahrnehmung europäischer Geschichte wie ein neuerliches historisches Unrecht an. Schließlich war die Tatsache, dass die Alliierten übereingekommen waren, die Behandlung von Kriegsverbrechen auf die Kriegsführung der Achsenmächte zu beschränken, einer der Gründe, warum Seyß-Inquart die Legitimität des Internationalen Militärgerichtshofs prinzipiell ablehnte und nicht bereit war, eigene Schuld zu bekennen. Ausdrücklich hielt er im September 1946, also zwischen Ende des Verfahrens und Urteilsverkündung, fest: „Nur bei Erfuellung der Pruefung ‚Tu quoque‘ [,] also bei objektiver Eroerterung des Verhaltens beider Seiten, haette ich mich zum Bekenntnis unserer Fehler gedraengt gesehen [,] und zwar ueber die Feststellung der tatsaechlichen Irrtuemer hinaus“. Da nun die Alliierten durch die Ausklammerung eigener Kriegsverbrechen (wie etwa des Bombenkriegs der westlichen Verbündeten auf deutsche Städte oder des Massakers an Tausenden von polnischen Offizieren durch den sowjetischen Geheimdienst bei Katyn) nicht an einer unparteiischen Beurteilung der Zeit zwischen 1933 und 1945 interessiert seien, fühlte er sich befugt zu fragen, was „ein pater peccavi schon bedeuten“ könne? Ein individuelles Schuldbekenntnis der Angeklagten könne „nur als eine bekannte subjektive Fehlhaltung“ gewertet werden, habe aber „keine objektive Beweiskraft“. Vor diesem Hintergrund komme es für einen überzeugten Nationalsozialisten auch im Angesicht des Todes nur darauf an, in der Öffentlichkeit „ein klares und offenes Bekenntnis zu den eigenen Ideen und Motiven“ abzulegen.114 Die fundamentale Ablehnung des Internationalen Militärgerichtshofs hinderte Seyß-Inquart allerdings nicht daran, sich der Verhandlungsführung in dem Prozess beinahe konstruktiv zu stellen. Seine Formulierungen waren wie eh und je geschliffen und wohlüberlegt, ihm kam zugute, dass ihm als Rechtsanwalt Gerichtsverfahren nicht fremd waren. Obwohl weder er noch Steinbauer über Erfahrungen mit der angloamerikanischen Praxis des Kreuzverhörs verfügten, bemühte er sich, bei den Fragen der Anklagevertreter keine Antwort schuldig zu bleiben. Hierin setzte er sich beispielsweise von Ribbentrop ab, und im Gegensatz zu Rudolf Heß, der sich in Nürnberg als Psychopath gebärdete, stellte er sich dem Verfahren wohl in der Hoffnung, durch eine offensive und juristisch kompetent erscheinende Verteidigung möglichst glimpflich davonzukommen. Dies bedeutet freilich in keiner Weise, dass ihm an einer wahrheitsgemäßen Darstellung seiner Tätigkeiten in Wien, Krakau und Den Haag gelegen war. Im 114 Seyß-Inquart, Ein Nachwort, Bl. 4.

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Gegenteil, beim juristischen Kampf ums Überleben gründete seine Verteidigung an vielen Stellen auf einer grotesken Verzeichnung der historischen Realität, auf der Leugnung von positiv nicht Beweisbarem wie dem Wissen um den Holocaust und auf der Delegierung von Verantwortung an Institutionen wie Wehrmacht und Reichssicherheitshauptamt oder an Personen, die wie Hitler, Himmler und Heydrich bereits tot waren. Für ihn war das Verfahren vor dem Internationalen Militärgerichtshof keine legitime Veranstaltung zu historischer und juristischer Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit. Seinem eigenen Auftreten vor Gericht legte er vielmehr einen Pragmatismus zugrunde: „[…] ich habe […] dieses Tribunal niemals innerlich als ein wirkliches Gericht ueber mich anerkannt. Ich wollte nur meine Verantwortung geben und dieses Verfahren als eine Gelegenheit zur Darlegung und Klarstellung be­nuetzen, soweit mir dies moeglich bzw. es ueberhaupt in dieser Veranstaltung moeglich war.“115 Mit der angeblich sachlichen „Darlegung und Klarstellung“ trug Arthur Seyß-Inquart dazu bei, die negative Perzeption des Internationalen Militärgerichtshofs in der deutschen und österreichischen Öffentlichkeit und Rechtswissenschaft zu präformieren.116 In der Betonung eines großdeutschen Idealismus als Begründung für den Anschluss an den Nationalsozialismus und der Ungerechtigkeit der Pariser Vorortverträge, in der Relativierung oder gar Leugnung des Holocaust und in der eigenen Entlastung durch eine einseitige Belastung von vorgesetzten Instanzen oder des SS-Komplexes, der als ‚Staat im Staate‘ eine besondere Verantwortung für die Brutalisierung der deutschen Politik im Laufe des Zweiten Weltkriegs auf sich geladen habe, lieferte er überdies Argumentationshilfen, die bei Bedarf anderen Nationalsozialisten und Mitläufern zugutekommen konnten, die sich in Zukunft vor Gerichten zu verantworten haben würden.117 Seine eigenen Mitarbeiter hoffte er dadurch vor strafrechtlicher Verfolgung schützen zu können, dass er in Nürnberg die politische Verantwortung übernahm: „Wer mit mir gegangen ist, kann sich heute auf mich berufen, er kann seine Rechtfertigung auf meiner Verantwortung“ und auf der Verurteilung aufbauen.118 In vielen der Abhandlungen schließlich, die Seyß-Inquart in der Gefängniszelle verfasst hat, bemühte er sich, eine Orientierung für die Nachkriegsordnung anzubieten. In diesem Sinn ist Seyß-Inquart den Nürnberger Prozess als Politiker angegangen, dessen Verteidigungsstrategie bewusst Maßstäbe für die Mit- und Nachwelt bereitstellte. Welche Gefühle und Erwartungen Seyß-Inquart in den Monaten zwischen Festnahme und Hinrichtung mit seinem eigenen Schicksal verband, ist schwer auszumachen. Wie zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, war selbst unter den Richtern die Entscheidung zwischen einer (le115 Ebd., Bl. 3. Ähnlich der Brief an seine Familie vom 15. Juni 1946, Fotokopie in ÖGZ-A, NL-96, DO 1105, Mappe 27. 116 Zur Wahrnehmung von NS-Prozessen durch die Öffentlichkeit in den Besatzungszonen bzw. den beiden deutschen Teilstaaten vgl. Osterloh/Vollnhans (Hrsg.), NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. 117 Tatsächlich brachten Verteidiger in den Nachfolgeprozessen neben dem Rekurs auf einen ‚Befehlsnotstand‘ Aspekte vor, die Seyß-Inquart und Mitangeklagte vor dem IMG zur Sprache gebracht hatten. Vgl. hierzu die Ausführungen von Alexa Stiller auf der Tagung Forschungen zur NS-Justiz nach 1945 – Eine Zwischenbilanz nach Felz, Bericht. Zum Verhältnis zwischen IMG und den folgenden amerikanischen Militärtribunalen vgl. Priemel/Stiller (Hrsg.), NMT. 118 Seyß-Inquart an seine Familie vom 16. Oktober 1946, Bl. 9 f., ÖGZ-A, NL-96, DO 1105, Mappe 27.

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bens-)langen Gefängnisstrafe und der Todesstrafe nicht ausgemacht. Als erfahrener Politiker und versierter Jurist musste Seyß-Inquart aber klar sein, dass an einen Freispruch oder eine geringe Haftstrafe in seinem Fall nicht zu denken war. Bereits ein knappes halbes Jahr vor Kriegsende hatte er seiner Frau von Spelderholt aus geschrieben: „[…] ein Lebenskünstler würde ich sein, wenn ich nach dem Krieg in Pension gehe.“119 Nachdem die kurz zuvor begonnene Ardennenoffensive gescheitert war, sank die Aussicht auf ein ruhiges Rentnerleben, mit der Anklageerhebung in Nürnberg erlosch sie vollends. Während des Prozesses scheint sich Seyß-Inquart denn auch keinen Illusionen hingegeben zu haben, dass ihn eine schwere Strafe erwartete.120 In der Erinnerung des deutschen Gefängnisarztes Dr. Ludwig Pflücker hatte sich Seyß-Inquart schon lange vor der Urteilsverkündung mit seinem Schicksal abgefunden und „in Ruhe“ den Spruch des Gerichts erwartet.121 Am Tag vor der Urteilsverkündung war er mit seinem Verteidiger zuversichtlich, dass er von der Planung eines Angriffskrieges und einer Verschwörung zur Zerstörung des unabhängigen Österreich freigesprochen würde; damit hätte vielleicht die Aussicht bestanden, lebend das Gefängnis zu verlassen. Einen Tag später war diese Hoffnung zerplatzt. Steinbauer zufolge nahm sein Mandant das Todesurteil „mit grösster Ruhe entgegen“. Am 2. Oktober 1946 verlieh Seyß-Inquart seinem bevorstehenden Tod eine geschichtliche Dimension, wenn er seinem Verteidiger erklärte, „dass die Sache ein historisches Geschehen sei, das seinen Lauf nehmen müsse. Er freue sich, dass er in der österreichischen Frage seiner Heimat gegenüber nicht als Verräter aufscheine, es sei dies mein Verdienst und er wäre froh, dass er mich als Vertreter genommen hätte, denn ein anderer, Amerikaner oder Deutscher, hätte dies nicht mit solchem Verständnis vorbringen können.“122 Er selber und Personen, die mit ihm im Gefängnis verkehrt hatten, führten die Ruhe und Gelassenheit, mit der Seyß-Inquart dem Tod entgegensah, besonders auf eine Rückbesinnung auf den katholischen Glauben zurück. Seinen eigenen Angaben zufolge nahm er sonntags an Messfeiern teil, die von Pater Sixtus zelebriert wurden. Hier las er regelmäßig auf Deutsch, wie er betonte, das Evangelium vor, und wenn Papen verhindert war, sprang er auch noch als Ministrant ein.123 Pflücker sah in der Hinwendung zum Katholizismus das „Herzensbedürf-

119 Arthur an Gertrud Seyß-Inquart vom 19. Dezember 1944, NIOD, Coll. Doc. I, vorläufige Sign.: Aanwinst 1879. 120 So auch rückblickend Speer, Erinnerungen, 517. 121 Zit. nach: Shelliem (Hrsg.), Als Gefängnisarzt im Nürnberger Prozess, 51 zum 29. September 1946. In Übereinstimmung mit seiner Weigerung, nach der Niederlage Deutschlands „Hosianna“ zu rufen, soll er Pflücker gesagt haben: „Wenn man im Glück in der ersten Reihe saß, kann man im Unglück sich nicht zu drücken versuchen.“ (ebd.) 122 Steinbauer an Gertrud Seyß-Inquart vom 26. Oktober 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 717, Mappe 353. Am 10. Oktober 1946 schrieb Seyß-Inquart an Pater Spitzl, ihn erfülle „eine grosse, ja fast heitere Ruhe.“ (ebd., DO 678, Mappe 153) Schon am 1. August hatte Seyß-Inquart Spitzl mitgeteilt, er sei „völlig ruhig und gefasst. Und [ich] glaube [,] nichts an meiner Haltung verloren zu haben. Ich wahre und bekenne meinen Standpunkt, wenn er auch in manchem fehlerhaft war. Aber nicht in allem.“ (zit. nach: Neuman, Arthur Seyss-Inquart. Het leven van een Duits onderkoning, 370) 123 Seyß-Inquart an Pater Spitzl vom 1. August 1946, in: Neuman, Arthur Seyss-Inquart. Het leven van een Duits onderkoning, 371. Diese Angaben werden bestätigt durch Andrus, I Was the Nuremberg Jailer, 108 f.

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nis“ eines Mannes, der „sich völlig innerlich gewandelt“ habe,124 und Steinbauer bestätigte, Seyß-Inquart sei „versöhnt mit seinem Herrgott und versehen mit den Tröstungen seiner Kirche“ gestorben.125 Speer zufolge hatte Seyß-Inquart seinen Todestag in seinem Kalender mit einem Kreuz versehen.126 Was aber sagen die Abhandlungen und Notizen, die Seyß-Inquart im Gefängnis verfasst hat, über seine Haltung zum Katholizismus aus? Verschiedentlich hat Seyß-Inquart in der Gefangenschaft betont, dass er ununterbrochen der römisch-katholischen Kirche angehörte; angeblich hat er nach dem Anschluss Österreichs über eine Zwischenperson sogar weiterhin den Kirchenbeitrag geleistet.127 Bormann und Himmler hätten zwar während des Krieges auf einen Austritt gedrängt. Doch seiner eigenen Darstellung nach entschied Hitler, „daß in dieser Sache nicht auf mich eingewirkt werden dürfe.“128 Glauben betrachtete Seyß-Inquart fundamental als eine Frage des Gewissens, Religion galt für ihn als Privatsache; außer den Gläubigen selbst gehe sie nur noch dessen Beichtvater etwas an. In diesem Sinn habe er in den Niederlanden niemals geduldet, „daß das persönliche Bekenntnis meiner Mitarbeiter irgendeine Rolle spielt.“ Als Reichskommissar habe er auch nie an „mystischen SS-Gottesdiensten“ teilgenommen, die er mit seinem Katholizismus nicht habe vereinbaren können. Mit der Individualisierung von Religiosität ging für Seyß-Inquart einher, dass er den Kirchen als Institutionen jede Berechtigung zu einer Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft absprach. Den politischen Katholizismus lehnte er prinzipiell ab, die katholische Soziallehre spielte in seinen Schriften so gut wie keine Rolle. Als abschreckendes Beispiel stand ihm das austrofaschistische Regime vor Augen, in dem die katholische Kirche zwischen 1933/34 und 1938 mit dem Staat eine Symbiose eingegangen war.129 Ausdrücklich forderte Seyß-Inquart, die Kirche müsse sich „bewußt damit begnügen [,] daß ihre Freiheit gewahrt bleibt, sonst aber dem Staat lassen, was des Staates ist.“ Dies gereichte seiner Meinung nach auch der Kirche zum Vorteil: „Je mehr die Kirche aus tagespolitischen Dingen gedrängt wird, umso stärker wird sie als Glaubensgemeinschaft.“ 130 In seiner eigenen Politik sei es neben dem Nachgeben „bestimmter antikirchlicher Tendenzen“ der NS-Bewegung genau diese Sicht gewesen, von der er sich als Reichsstatthalter bzw. Reichskommissar habe leiten lassen.131 Doch nicht nur die Kirchen sollten politisch abstinent 124 Zit. nach: Shelliem (Hrsg.), Als Gefängnisarzt im Nürnberger Prozess, 51 zum 29. September 1946. 125 Steinbauer, Ich war Verteidiger in Nürnberg, 61. 126 Speer, Spandauer Tagebücher, 25 (17. Oktober 1946). Seyß-Inquarts Kalender ist nicht überliefert. 127 So De Jong, Het Koninkrijk, Bd. 4/1, 60. 128 Handschriftliche Notiz für Steinbauer vom 21. Juni 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 715, Mappe 338. Soweit nicht anders angegeben, stammt das Folgende aus der handschriftlichen Notiz, die Seyß-Inquart drei Tage später für seinen Anwalt anfertigte (ebd.). 129 Vgl. Tálos, Das austrofaschistische Herrschaftssystem, Kap. III.4. Unter den illegalen Nationalsozialisten hatte der politische Katholizismus im Austrofaschismus als ein weltanschaulicher Gegner gegolten, der erbittert bekämpft wurde; siehe Thorpe, Pan-Germanism and the Austrofascist State, 110. 130 In einem vergleichbaren Sinn äußerte sich Seyß-Inquart am 9. September 1946 in seinem Verteidigungsschema, Bl. 20. 131 Seyß-Inquarts Ablehnung eines religiös fundierten politischen Engagements musste in der Notiz für Steinbauer vom 24. Juni 1946 als Begründung dafür herhalten, dass er in den Niederlanden das Jesuitenkloster Valkenburg in Beschlag hatte nehmen lassen, weil es eine „Verehrungsstätte“ von Pater Friedrich Mucker-

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leben. Auch den Einzelnen rief Seyß-Inquart auf, seinen Glauben nicht zur Grundlage für politisches Engagement zu machen. Denn er forderte, „daß der persönl[iche] Glauben mit der Betätigung in der völkischen Gemeinschaft nichts zu tun haben soll.“ Ob von Kirchen oder von einzelnen Gläubigen getragen – in einem „Konfessionalismus“, also einem kirchlich motivierten politischen Engagement, sah Seyß-Inquart eine Gefahr für die Einheit der „völkischen Gemeinschaft“.132 Wie in seinem gesamten politischen Denken stand die „völkische Gemeinschaft“ auch in seinem Verständnis von Religion im Mittelpunkt. Im September 1946 etwa waren ihm Christentum und „Volksbewusstsein“ die „geistigen Kraefte, die zur Behauptung des Abendlandes […] aufgerufen werden muessen“.133 Wie sich diese Aussage mit seiner Forderung nach der Verbannung des Glaubens aus der politischen Arena vertrug, sei dahingestellt. Entscheidend ist, dass Christentum und „Volksbewusstsein“ für Seyß-Inquart auf das engste aufeinander bezogen waren. Dies wird besonders deutlich in seiner Vorstellung von einem ‚germanischen Christentum‘, das er in der Abhandlung Über Religion und Weltanschauung gegen den Protestantismus in Stellung brachte. Seyß-Inquart glaubte, „dass das Christentum der mittelalterlichen Germanen und vor allem Deutschen nicht die Zwiespältigkeit aufweist, die uns aus jenem Christentum entgegenkommt, das sich immer mehr auf das alte Testament und die Psalmen der Propheten zurückzieht.“134 Unter „Zwiespältigkeit“ oder „Weltaufgespaltenheit“ verstand er eine – für ihn minderwertige – Theologie, die er in pseudophilosophischer Diktion der „Lebenseinheit“ gegenüberstellte. Demnach liege die Ordnung der Dinge „im Weltbild der Lebenseinheit offenbar vor dem Menschen.“ Bei der „Weltaufgespaltenheit“ hingegen liege das Weltbild „als Offenbarung vor ihm, die Wahrheit wird ihm von Gott, also von oben geoffenbart.“ Dieser Unterschied führe bei den Menschen zu unterschiedlichen Lebenseinstellungen: „Der Mensch der Lebenseinheit sucht nicht nach einer abstrakten, absoluten Wahrheit, die ein für allemal und für jeden einzelnen und unter allen Umständen gilt, mann gewesen sei, einem der führenden kirchlichen Gegner des NS-Regimes; ähnlich ‚argumentierte‘ Seyß-Inquart in seinen Schlussausfuehrungen, Bl. 51. Dass es dem Reichskommissar damals um den Aufbau einer Reichsschule gegangen war, in der eine genuin nationalsozialistische Ausbildung der Jugend an die Stelle kirchlicher Erziehung treten sollte (siehe oben, S. 156–162), überging Seyß-Inquart hier vollkommen. 132 Ähnlich ebd., Bl. 25–28. In dieser Argumentation schloss Seyß-Inquart an die Position an, die er im Prinzip in seiner Karriere als NS-Funktionär eingenommen hatte. Als Reichsstatthalter hatte er im April 1938 in seiner Rede im Berliner Sportpalast, die auch vom Rundfunk gesendet worden war, schneidig folgende religionspolitische „Grundsätze“ aufgestellt: „1.) Wir werden nie dulden, dass Gott und der Glaube als Argument in die irdischen Auseinandersetzungen hineingezogen wird. 2.) Wir werden nie mehr dulden, dass das deutsche Volk durch Konfessionen gespalten wird. 3.) Wenn die Schicksalsstunde der Nation schlägt, wenn alle anzutreten haben, dann hat auch der gläubige Katholik und der gläubige Protestant zuerst und zuletzt immer nur deutsch zu sein.“ (BArch, N 1180/21, im Manuskript Bl. 7) Und als Reichskommissar hatte er sich im April 1943 gegen einen „politischen Konfessionalismus“ ausgesprochen und von Kirchen und Gläubigen politische Enthaltsamkeit gefordert: „[…] im politischen Raum darf der Glaube nicht mißbraucht werden.“ (Seyß-Inquart, Zu Führers Geburtstag 1943, 157 f.) 133 Seyß-Inquart, Ein Nachwort, Bl. 11. 134 Seyß-Inquart, Über Religion und Weltanschauung, Bl. 10.

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die daher die Träger dieser Ideen anderen Anschauungen gegenüber unduldsam machen muss und deren erstes Erfordernis die Demut ist: credo quia absurdum. Für den Menschen der Lebenseinheit kann die Wahrheit nicht geoffenbart werden, sie kann nur durch Einsicht erlebt werden und sie gilt in diesem Erleben; ihr erstes Erfordernis ist nicht die Demut, sondern das Suchen nach dem Sinn des Lebens und der Einsatz für dieses.“135 Solche Überlegungen scheinen fernöstlicher Spiritualität zu entstammen, sind aber in Wirklichkeit Ausdruck eines rassistisch fundierten Religionsverständnisses. Sie sind in doppelter Weise verstörend: Erstens war Seyß-Inquart ein fanatischer Nationalsozialist, der sich in seiner politischen Karriere als extrem „unduldsam“ gegenüber anderen Anschauungen verhalten hatte, der auch noch im Gefängnis nicht von der „abstrakten, absoluten Wahrheit“ des Nationalsozialismus Abstand nehmen wollte, und der bis zuletzt jede Einsicht in den zutiefst verbrecherischen und unchristlichen Charakter seiner Politik verweigerte. Er selber jedenfalls verkörperte in keiner Weise sein Konzept der „Lebenseinheit“, dem in seiner Abhandlung Über Religion und Weltanschauung erkennbar alle Sympathien galten. Zweitens gab es keinen Grund, die Definition der „Zwiespältigkeit“ auf den Protestantismus zu beschränken. Die Bedeutung, die Martin Luther sowie Johannes Calvin und Huldrych Zwingli – gerade im deutschen Sprachraum – für die Entwicklung der Volkssprache im kirchlichen Leben hatten, hätte eigentlich Anlass geboten, die protestantischen Denominationen mit der Vokabel vom „Volksbewusstsein“ zu assoziieren. In seinen kuriosen religionsphilosophischen und kirchengeschichtlichen Reflexionen jedoch wertete Seyß-Inquart den über- und internationalen Katholizismus, der bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil am Latein als der länderübergreifenden Sprache festgehalten hat, zu einer ‚völkischen‘ Religion um: „Wenn ich vom Christentum spreche, dann verstehe ich [hierunter] die katholische und apostolische Kirche, denn in dieser sehe ich die wirkende Kraft [,] nicht im Protestantismus, Calvinismus oder Puritanismus.“ Als ‚Begründung‘ fügte er an, dass sich nur im Katholizismus die ideale Relation zwischen dem Individuum und der „Gemeinschaft“ finde: „Ebenso wie das Volksbewusstsein sagt auch der Katholizismus, dass nicht die Persoenlichkeiten die Gemeinschaft bilden, sondern die Gemeinschaft schafft die Persoenlichkeit. Der Einzelne und die [von] Gott geschaffene Gemeinschaft, keines besteht fuer sich allein.“136 In dieser Sichtweise, die ungeachtet ihrer religiösen Ausrichtung Anklänge an die nationalsozialistische Vorstellung von der ‚Volksgemeinschaft‘ enthält, war der Katholizismus mit seinem rassistischen Weltbild kompatibel. Seyß-Inquarts Verständnis vom ‚germanischen Christentum‘ wirft allerdings Fragen auf: Handelte es sich hierbei um eine katholische gewendete Theologie der ‚Deutschen Christen‘ oder um eine Anlehnung an eine der völkisch-religiösen Bewegungen, die sich neben den großen christlichen Kirchen in den vorangegangenen Jahrzehnten ausgebreitet hatten?137 Griff Seyß-Inquart mit seinen Reflexionen wissentlich oder unwissentlich auf den österreichischen Bischof Alois Hudal zurück, der in den Dreißigerjahren versucht hatte, Christentum mit Nationalsozialismus 135 Ebd., Bl. 7 f. 136 Seyß-Inquart, Ein Nachwort, Bl. 13 und 15. 137 Vgl. hierzu Bergen, Twisted Cross und Puschner/Vollnhans (Hrsg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus.

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in Übereinstimmung zu bringen?138 Stand Seyß-Inquart auf dem Boden des römisch-katholischen Katholizismus? Er selber äußerte sich ohne nähere Erläuterungen kritisch über „die Wirksamkeit der heutigen Erscheinungsform des Katholizismus“, traute ihr aber zu, beim Neuaufbau jene „geistige, sittliche und soziale Einheit“ zu befördern, die notwendig sei, um „den abendlaendischen Geist“ gegen die kommunistische Ideologie, den „Mythos des Ostens“, zu behaupten.139 Mit der Beschränkung der katholischen Kirche auf Seelsorge, Liturgie und karitative Aufgaben und der Ablehnung eines politischen Katholizismus distanzierte er sich von Traditionen, die im 19. und 20. Jahrhundert entstanden waren, die auch in Deutschland und Österreich weite Verbreitung gefunden hatten, und die für die christdemokratischen Parteien im Europa der Nachkriegszeit leitend waren.140 Gravierender war, dass seine kategorische Weigerung, Reue zu zeigen, mit keiner Form von Christentum zu vereinbaren war. Was er Pater Sixtus kurz vor seiner Hinrichtung gebeichtet hat,141 entzieht sich jeder Nachprüfbarkeit. Ein öffentliches Schuldeingeständnis, das der unermesslichen Dimension der Verbrechen des NS-Regimes angemessen gewesen wäre und auch nach katholischer Auffassung Voraussetzung für die Absolution ist, ist jedenfalls bis zur Hinrichtung ausgeblieben. Eine letzte Möglichkeit, der Vollstreckung der Höchststrafe zu entgehen, stellte rechtlich gesehen nur noch ein Gnadengesuch dar, denn eine Berufung gegen das Urteil des Internationalen Militärgerichtshof war nicht zulässig. Weil Seyß-Inquart aber während des Prozesses jegliches Zeichen von Reue vermieden hatte, konnte er nicht selber ein solches Gesuch einreichen – dies wäre nachträglich als Schuldeingeständnis interpretiert worden.142 Um dies zu vermeiden, hat Steinbauer unter seinem Namen Gnadengesuche eingereicht, und zwar beim Alliierten Kontrollrat, bei Königin Wilhelmina und bei Papst Pius XII. Das wichtigste Gesuch war an das einzige Gremium gerichtet, das nach den Statuten des Nürnberger Gerichts143 überhaupt für eine Umwandlung der Todes- in eine Haftstrafe in Frage gekommen wäre: an den Alliierten Kontrollrat in Berlin. Zu diesem Gesuch, das er am 4. Oktober 1946 beim Generalsekretariat des Internationalen Militärgerichtshofs einreichte,144 fühlte sich Steinbauer vor allem durch den Freispruch vom ersten Anklagepunkt be138 Hudal, Die Grundlagen des Nationalsozialismus, besonders 18. Zu Hudal siehe Klieber, Der Grazer Diözesane und Anima-Rektor Alois Hudal, vor allem 16-28. 139 Seyß-Inquart, Ein Nachwort, Bl. 15 und 20. 140 Vgl. Kaiser, Christian Democracy, Kap. 5 und Gehler/Kaiser/Wohnout (Hrsg.), Christdemokratie in Europa. 141 Andrus, I Was the Nuremberg Jailer, 186 und Huf, Wie was Seyss-Inquart?, Nr. 5, 37. 142 So Gertrud Seyß-Inquart nach: Huf, Wie was Seyss-Inquart?, Nr. 5, 36. 143 Siehe Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 1, 18 (Art. 29). 144 ÖGZ-A, NL-61, DO 701, Mappe 259; hieraus stammen die folgenden Zitate und Darlegungen. Die Reinschrift des Gesuchs hatte Steinbauer zwei Tage vorher mit Seyß-Inquart besprochen; siehe sein Schreiben an Gertrud Seyß-Inquart vom 26. Oktober 1946 in: ebd., DO 717, Mappe 353. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Seyß-Inquart selber den Text aufgesetzt hat. Auf jeden Fall ist davon auszugehen, dass alle drei Gnadengesuche mit seiner Billigung versandt worden sind. Steinbauer schreckte nicht davor zurück, den amerikanischen Anklagevertreter beim IMG, Thomas J. Dodd, zu bitten, „to use your influence with the Control Council for mitigating the death sentence into imprisonment.“ (Schreiben vom 3. Oktober 1946, ebd., DO 701, Mappe 259)

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rechtigt. Aber auch bei den anderen drei Punkten, die ja zum Schuldspruch geführt hatten, könnten „Milderungsumstaende“ geltend gemacht werden, weil das Gericht nach Steinbauers Einschätzung vieles falsch bewertet hatte. Die Argumente, die Steinbauer zu Seyß-Inquarts Entlastung anführte, waren nicht neu. Im wesentlichen griff das Gnadengesuch auf Ausführungen zurück, die bereits während des Prozesses vorgebracht worden waren – etwa dass Seyß-Inquart sich am 11. März 1938 geweigert hatte, Göring per Telegramm um den Einmarsch deutscher Truppen zu bitten und man ihm im Zusammenhang mit den Überfällen der Wehrmacht auf Polen und die Niederlande nicht nachweisen könne, dass er an einem Angriffskrieg teilgenommen habe. Auch die bekannte These, dass Seyß-Inquart stets unter dem Druck der Reichsführung gehandelt habe und sich in den Niederlanden um eine Abmilderung von brutalen Maßnahmen des Reiches bemüht habe, fehlte nicht.145 Schließlich findet sich im Gnadengesuch erneut der Versuch, Verantwortung für radikale Maßnahmen auf Wehrmacht und SS abzuwälzen. Widerlich wirkten die Behauptungen, dass Seyß-Inquart nach dem Anschluss Österreichs in maßgeblicher Weise die Emigration von 90.000 Juden ermöglicht habe und die deutschen Konzentrationslager in den Niederlanden „als am wenigst[en] exzessiv betrachtet“ werden müssten. Die ungeheuerliche Quintessenz, Seyß-Inquart sei „ein Mann mit reinen Haenden geblieben“, sprach den schon damals bekannten Quellen Hohn. Vor diesem Hintergrund ist nicht erstaunlich, dass der Alliierte Kontrollrat das Gnadengesuch ablehnte.146 Absehbar erfolglos blieben auch die beiden anderen Gnadengesuche, von denen sich Steinbauer und Seyß-Inquart wohl diplomatischen Druck auf den Alliierten Kontrollrat versprachen. Das Gesuch an die niederländische Königin mit der unglaubwürdigen Behauptung, Seyß-Inquart sei „ein Irregefuehrter, der der diabolischen Propaganda der Nazifuehrung unterlegen ist“,147 war mindestens ebenso ein Verzweiflungsakt wie die Eingabe nach Berlin. Nichts berechtigte zu der Annahme, Wilhelmina könne und wolle sich beim Alliierten Kon­ trollrat für den ehemaligen Reichskommissar verwenden, der fünf Jahre lang im übertragenen Sinn in ihrem Bett gelegen und maßgeblich zum Niedergang ihres Landes beigetragen hatte. Die Ansprachen, die die Monarchin und Premierminister Willem Schermerhorn am 27. Juni 1945 bei der Vereidigung der ersten Nachkriegsregierung gehalten hatten,148 hatten nicht den geringsten Ansatzpunkt für Bereitschaft zu einer wie auch immer gearteten Begnadigung Seyß-Inquarts geboten, und die fundamental antideutsche Stimmung im befreiten Land hätte ihr keinerlei Spielraum für die Befürwortung der Begnadigung des Mannes gelassen, der wie kein anderer die deutsche Besatzungsherrschaft verkörperte. Die niederländische Presse, die 145 Wörtlich hieß es hierzu im Gnadengesuch an den Alliierten Kontrollrat: „Die wirtschaftliche Ausbeutung und der zwangsweise Arbeitseinsatz erfolgte ueber Befehl der Reichszentralstelle. Seyss-Inquart trachtete in Durchfuehrung dieser Auftraege die Interessen der Niederlaender zu wahren und setzte niemals Bra­ chialgewalt in einem die Ordnung stoerenden Umfang ein.“ 146 Siehe den Bescheid der Quadripartite Commission for the detention of Major War Criminals vom 15. Oktober 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 701, Mappe 259. 147 ÖGZ-A, NL-61, DO 701, Mappe 259. 148 Abgedruckt unter dem Titel Herstel en vernieuwing.

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über eine Meldung von Agence France Presse auf das Gnadengesuch aufmerksam wurde, hatte hierfür nur Spott und Verachtung übrig.149 Trotz allem bestand Seyß-Inquart auf einem Gnadengesuch an die Königin – mit der ‚Begründung‘, er habe im Hungerwinter 1944/45 alles getan, „um dem niederländischen Volk das Schlimmste zu ersparen.“ Nachdem Seyß-Inquart und Steinbauer mit den niederländischen Vertretern beim Nürnberger Gerichtshof, Oberst Baron A. M. van Tuyll van Serooskerken und Major J. J. M. Witlox, gesprochen hatten, wurde das Gnadengesuch tatsächlich per Sonderkurier nach Den Haag geschickt. Über dessen weiteres Schicksal berichtet Neuman auf der Grundlage einer Mitteilung von Witlox Folgendes: „Über das Justizministerium kam es in den Ministerrat, wo ein Gutachten für Königin Wilhelmina formuliert wurde. Ein paar Tage danach erhielten Van Tuyll und Witlox vom Justizministerium den Auftrag, Seyß-Inquart mitzuteilen, daß Königin Wilhelmina keinen Anlaß sehe, das Gnadengesuch in Erwägung zu ziehen. Sie ließen diese Botschaft durch Pater Sixtus überbringen, der sich seiner Aufgabe so taktvoll und freundlich wie möglich entledigte.“150 Das einzige ‚Zugeständnis‘ des Ministerrats lag darin, die Hinrichtung nicht durch den Strang, sondern durch eine Kugel vollziehen zu lassen, denn Erschießen sei eher mit der „niederländischen Rechtsauffassung“ in Übereinstimmung zu bringen als Erhängen.151 Ob die Monarchin diese Anregung tatsächlich nach Berlin weitergeleitet hat oder nicht – faktisch ließ sich der Alliierte Kontrollrat bei der Exekutionsart nicht durch Feinheiten der „niederländischen Rechtsauffassung“ leiten: In Übereinstimmung mit dem Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs wurde Seyß-Inquart durch den Strang hingerichtet. Wie die anderen zum Tod verurteilten Hauptkriegsverbrecher starb er durch die Exekutionsart, der man traditionell jede Würde absprach. Schließlich wollte Steinbauer den Heiligen Stuhl einspannen, um den Alliierten Kontrollrat zu einer Begnadigung seines Mandanten zu bewegen. Ein Gesuch an Papst Pius XII. mochte größere Erfolgsaussichten bieten als das Gesuch an Königin Wilhelmina. Vielleicht war Steinbauer bekannt, dass der Vatikan unter maßgeblicher Beteiligung von Hudal, dem Rektor der ‚deutschen Nationalkirche‘ in Rom Santa Maria dell’Anima, viele Nationalsozialisten aus Deutschland und Österreich sowie Faschisten aus anderen europäischen Ländern bei der Flucht über die ‚Klosterroute‘ bzw. ‚Rattenlinie‘ nach Lateinamerika unterstützte.152 Möglicherweise wusste er auch, dass der Papst nicht abgeneigt war, sich in Einzelfällen für die Begnadigung verurteilter NS-Politiker einzusetzen, wie dies bei Arthur Greiser, Albert Forster und Hans Frank 149 Siehe beispielsweise Het Vrije Volk. Democratisch-Socialistisch Dagblad und Het Nieuwsbald van het Zuiden vom 7. bzw. 8. Oktober 1946. 150 Neuman, Arthur Seyss-Inquart, 377. 151 87. Ministerratssitzung vom 7. Oktober 1946, Bl. 2, NL-HaNA, 2.02.05.02/388. 152 Siehe hierzu Steinacher, Nazis auf der Flucht, besonders Kapitel Das Netzwerk des Vatikans. Es ist nicht bekannt, ob Seyß-Inquart oder Steinbauer Hudal persönlich kannten. Dessen oben erwähntes Buch Die Grundlagen des Nationalsozialismus (1937) muss den beiden österreichischen Katholiken geläufig gewesen sein. Tatsache ist, dass Hudal im ersten Jahrgang der großdeutsch bis nationalsozialistisch ausgerichteten Zeitschrift Die Warte publiziert hatte (Christentum und Abendland), die Seyß-Inquart im Januar 1936 zum Organ des Österreichisch-Deutschen Volksbunds gemacht hatte (Rosar, Deutsche Gemeinschaft, 84 und Die Warte vom August 1938, 2).

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der Fall war.153 Steinbauer wandte sich nicht unmittelbar an den Papst, sondern ersuchte den Erzbischof von München und Freising, Michael Kardinal von Faulhaber, um Intervention bei Pius XII. Damit erkor er einen deutschen Kirchenfürsten zum Fürsprecher, der einerseits in den zurückliegenden Jahren immer wieder dem NS-Regime die Stirn geboten hatte und zu den Mitinitiatoren und Mitverfassern der päpstlichen Enzyklika Mit brennender Sorge (1937) gezählt hatte. Andererseits stand Faulhaber im Ruf eines national-konservativen Bischofs, der sich gegen eine pauschale Verurteilung von NSDAP-Mitgliedern einsetzte und dem amerikanischen Entnazifizierungsverfahren mit Kritik begegnete.154 Ob Steinbauer Versuche unternommen oder zumindest erwogen hat, mit Hudal in Kontakt zu treten oder für sein Anliegen einen Bischof aus Österreich zu gewinnen, ist nicht bekannt. Dass in den Niederlanden kein Kirchenvertreter zur Unterstützung eines Gnadengesuchs in Rom bereit sein würde, wird ihm jedenfalls klar gewesen sein. Sein Gesuch an den Papst lief im Kern darauf hinaus, zu unterstreichen, dass Seyß-Inquart Katholik sei und es verstanden habe, „viele Uebergriffe der Nazis gegen die kath[olische] Kirche in seiner Amtszeit zu verhindern“. Unter Rekurs auf eine Aussage von Pater Sixtus fügte Steinbauer noch hinzu, dass Seyß-Inquart „voll auf dem Boden unserer kath[olischen] Kirche [steht] und […] mit den Troestungen der Religion versehen seinem Schicksal mit grosser Ruhe entgegen[sieht].“155 Unterstreichungen lassen darauf schließen, dass Faulhaber dieses Gesuch gelesen hat.156 Ob er es aber nach Rom weitergeleitet hat, lässt sich nach dem derzeitigen Forschungsstand nicht feststellen. Die Akten des Erzbischöflichen Archivs von München-Freising geben hierauf keinen Hinweis, weder ein Brief an den Papst noch eine entsprechende Aktennotiz sind überliefert.157 Weitere Recherchen werden erst nach Öffnung der einschlägigen Akten zum Pontifikat von Pius XII. im Vatikanischen Geheimarchiv möglich sein, die Papst Franziskus I. angekündigt hat.158 Es wäre jedenfalls nicht erstaunlich, wenn sich der Münchener Kardinal nicht mit einem so gut wie aussichtslosen Gesuch für einen Politiker belastet hätte, der sich entgegen Steinbauers Insinuationen in Österreich, Polen und den Niederlanden an der kirchenfeindlichen Politik des NS-Regimes beteiligt hatte. Nachdem die drei Gnadengesuche abgelehnt oder gar nicht erst in Erwägung gezogen bzw. zur Kenntnis genommen worden waren, war Seyß-Inquarts Schicksal definitiv besiegelt. Am Morgen des 5. Oktober erhielt er zum letzten Mal Besuch von seinem Strafverteidiger, vier Tage später verabschiedete sich Steinbauer kurz vor seiner Abreise nach Wien per Brief vom Todeskandidaten in Zelle 14 mit der Bitte, ihm „ein gutes Andenken zu bewahren.“159 Im Abschiedsbrief versuchte Seyß-Inquart, seine Familie mit der Aussage zu trösten, dass er ein außergewöhnliches und erfülltes Leben habe führen dürfen und in „gelassener Ruhe“ von der 153 Epstein, Model Nazi, 330 f. 154 Vgl. Fitschen, Faulhaber, Sp. 608–612. 155 Steinbauer an Faulhaber vom 5. Oktober 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 716, Mappe 351. 156 Schreiben von Dr. Peter Pfister (Archiv des Erzbistums München und Freising) vom 1. April 2009. 157 Helmut Kempfer (Erzbischöfliches Sekretariat München) an Jules Huf vom 3. Oktober 1967 (ÖGZ-A, NL96, DO 1113, Mappe 30) und Hürten (Bearb.), Akten Kardinal Michael von Faulhabers, Bd. 3, 261, Anm. 4. 158 Jansen, Denkwürdige Dokumente. 159 Steinbauer an Seyß-Inquart vom 9. Oktober 1946, ÖGZ-A, NL-61, DO 717, Mappe 352.

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Welt scheide. Eine allerletzte Chance zur Umkehr ließ er in diesem Brief ungenutzt verstreichen, erklärte er doch seinen Angehörigen im Angesicht des nahenden Endes: „Ich brauche nichts zu widerrufen, es ist wirklich so, unerschüttert durch letzte Entscheidungen.“ Und mit der gleichen Intransigenz, mit der er während seiner politischen Laufbahn wie auch vor dem Nürnberger Gerichtshof die Vereinigung von Deutschland und Österreich stets als historisch richtig und notwendig dargestellt hatte, verabschiedete er sich von Frau und Kindern in der Zuversicht, „daß in der künftigen Gestaltung dieser Frage [,] ja des Schicksals des deutschen Volkes […] mein Zeugnis Wirkung haben wird.“ Er blieb dabei: Mit seinen politischen Anliegen habe er richtig gelegen und werde auch für die zukünftige Entwicklung der deutschen Frage richtigliegen. Seinen eigenen Tod verstand er als „hoffentlich letzten Akt der Tragödie des zweiten Weltkrieges. Ich gehöre zu den Gefallenen.“160 Wie seinen Schicksalsgenossen wurde dem selbsternannten Märtyrer des großdeutschen Gedankens in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 1946 die Henkersmahlzeit serviert, und von Pflücker erhielten die Todeskandidaten eine Injektion, die einem raschen, relativ schmerzlosen Tod förderlich sein sollte. Dem Gefängnisarzt übergab Seyß-Inquart auch den ihm zugeteilten Tabak für die überlebenden „Kameraden“ und bat ihn, Sauckel noch einmal „ein Wort des Trostes“ zu übermitteln.161 Pater Sixtus nahm ihm die Beichte ab und versah ihn mit den Sterbesakramenten, und kurz vor der Hinrichtung wurde ihm und den anderen Todeskandidaten von Oberst Andrus noch einmal das Urteil des Militärgerichtshofs vorgelesen.162 Anschließend wurden die neun zu exekutierenden Nationalsozialisten zum Schafott geführt, das in derselben Nacht in der Sporthalle des Nürnberger Justizpalastes errichtet worden war. Dort erwartete sie in der Person von John C. Woods ein Henker der amerikanischen Armee, der in den zurückliegenden anderthalb Jahrzehnten rund 300 Hinrichtungen durchgeführt hatte.163 Die buchstäblich letzten Schritte, die Seyß-Inquart in seinem Leben tat, hat Steinbauer, der selber nicht an der Hinrichtung teilgenommen hat, später in einem Buch folgendermaßen beschrieben: „Als letzter [der noch lebenden, zum Tod verurteilten Hauptkriegsverbrecher] betrat Seyß-Inquart das Schafott. Ruhig und infolge seiner Fußverletzung etwas mühsam, stieg er die dreizehn Todesstufen hinauf. Oben nahm ihm der Nachrichter164 die Brille ab und setzte ihm die schwarze Haube auf, die ihm, sowie den anderen vorher, für immer das Licht der Erde nehmen sollte. ‚Ich hoffe, daß diese Hinrichtung der letzte Akt der Tragödie dieses zweiten Weltkrieges ist und daß eine Lehre daraus gezogen wird, so daß der Friede und das Verständnis unter den Völkern verwirklicht wird. Ich glaube an Deutschland!‘“165 Mit diesem 160 Seyß-Inquart an seine Familie vom 16. Oktober 1946, Bl. 8 f. und 4, ÖGZ-A, NL-96, DO 1105, Mappe 27. Den Brief, der vermutlich das letzte Schriftstück seines Lebens war, hat Seyß-Inquart eigenhändig auf sechs Uhr morgens datiert – auf einen Zeitpunkt, an dem er bereits seit über drei Stunden tot war. Es ist davon auszugehen, dass er das elfseitige Schreiben mehrere Stunden vorher verfasst hat, ehe die unmittelbaren Vorbereitungen auf die Hinrichtung ihn in Beschlag nahmen. 161 Shelliem (Hrsg.), Als Gefängnisarzt im Nürnberger Prozess, 70 f. 162 Andrus, I Was the Nuremberg Jailer, 193. 163 So die Angaben nach ebd. 164 Veraltetes Synonym für Scharfrichter. 165 Steinbauer, Ich war Verteidiger in Nürnberg, 386 f.; ähnlich Andrus, I Was the Nuremberg Jailer, 197. Das

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säkularen Glaubensbekenntnis, mit dem Seyß-Inquart bereits seine Schlusserklärung vor dem Nürnberger Gerichtshof abgeschlossen hatte,166 beendete er sein Leben. Um 2.45 Uhr öffnete sich für ihn die Falltür, zwölf Minuten später erklärten ihn die Ärzte für tot.167 Anschließend machte ein amerikanischer Armeefotograf von allen Leichen Fotografien.168 Die körperlichen Überreste wurden nicht in einem Grab beigesetzt, sondern im Krematorium des Münchener Ostfriedhofs verbrannt.169 Die Urnen wurden dann unter strenger Bewachung nach München-Solln verbracht, wo die Asche der Gehenkten in den Conwentzbach verstreut wurde, einen kleinen Seitenarm der Isar.170 Im Hinblick auf den Umgang mit den sterblichen Überresten der Hauptkriegsverbrecher ist einmal überspitzt festgestellt worden: „Nie in der Geschichte haben Sieger ihre besiegten Gegner so gewissenhaft beseitigt.“ 171 Die Alliierten verfolgten allerdings keine ‚damnatio memoriae‘, wie sie die Nationalsozialisten ihrerseits im Hinblick auf die Verschwörer des 20. Juli 1944 angestrebt hatten172 – ging es den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs doch nicht zuletzt darum, mit dem Nürnberger Prozess eine kritische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in die Wege zu leiten. Das Verstreuen der Asche diente vielmehr dazu, einen Wallfahrtsort für Nationalsozialisten zu verhindern. In diesem Sinn blieben der Ort, an dem die Asche verstreut wurde, und der Name des Conwentz­ bachs lange Zeit geheim. In den Niederlanden waren der Nürnberger Prozess und insbesondere die Verurteilung und Hinrichtung des früheren Reichskommissars von der Presse aufmerksam verfolgt und breit kommentiert worden.173 Het Nieuwsblad van het Noorden titelte zu den Urteilen des Gerichtshofs: „Die Niederlande können zufrieden sein“,174 und der Journalist G. A. Knepflé, der für die Nachrichtenagentur ANP den Nürnberger Prozess verfolgt hatte, fasste ein halbes Jahr nach Seyß-Inquarts Hinrichtung die Berichterstattung in seinem Land dahingehend zusammen, dass das Todesurteil über den früheren Reichskommissar und dessen Vollstreckung „das Rechtsgefuehl der hollaendische[n] Bevoelkerung befriedigt hat. […] Fast ohne Ausnahme waren alle Artikel ­voellig frei von alle[n] Gefühle[n] von Rache und Haß.“175 Die Zerstörungen, für die Seyß-­ Inquart die Verantwortung getragen hatte, sollten das Land allerdings noch lange beschäftigen.

Zitat wird auch vom bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Wilhelm Hoegner verbürgt, der der Hinrichtung auf Wunsch der amerikanischen Regierung beigewohnt hatte; siehe den Artikel Ich sah wie sie gehängt wurden aus dem Stern vom 30. Januar 1966, 58 (ÖGZ-A, NL-96, DO 1105, Mappe 25). 166 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 22, 460. Der gleiche „Grundsatz“ findet sich auch am Ende seines Typoskripts Der deutsche Weg, Bl. 19. 167 Heydecker/Leeb, Der Nürnberger Prozeß, 523. 168 Andrus, I Was the Nuremberg Jailer, 198. 169 Heydecker/Leeb, Der Nürnberger Prozeß, 524. 170 Dietzfelbinger/Täubrich, Der Schwurgerichtssaal 600. 171 Darnstädt, Der Zweite Weltkrieg, 128. 172 Vgl. beispielsweise Krusenstjern, „daß es Sinn hat zu sterben – gelebt zu haben“, 522 zu Adam von Trott zu Solz. 173 Burckhardt, Rückblende, 272. 174 Het Nieuwsblad van het Noorden vom 3. Oktober 1946. 175 Knepflé an Steinbauer vom 15. Februar 1947, ÖGZ-A, NL-61, DO 717, Mappe 353.

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Zusammenfassung

Nachdem Arthur Seyß-Inquart sich in Österreich und Polen im Sinne des NS-Regimes bewährt hatte, wurde er zum Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete ernannt. In dieser Funktion bestimmte er maßgeblich die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden. Für seine politische Karriere wiederum bildete die Zeit zwischen Mai 1940 und Mai 1945 den Höhepunkt. Dank der unmittelbaren Unterstellung unter Hitler hatte er hier formell weder gleichrangige Konkurrenten wie Joseph Bürckel noch Vorgesetzte wie Hans Frank, die in den beiden vorangegangenen Jahren in Österreich bzw. Polen der Entfaltung seiner Fähigkeiten und Ambitionen enge Grenzen gesetzt hatten. Deshalb lässt sich Seyß-Inquarts Selbstverständnis als nationalsozialistischer Politiker anhand programmatischer Aussagen wie auch anhand der Amtsführung für keine Phase seiner Biografie so gut nachzeichnen wie für die niederländische Phase. Zugleich erlaubt eine Konzentration auf den höchsten Repräsentanten des Großdeutschen Reiches in Den Haag, Ziele und Praktiken der einzigen nationalsozialistischen Zivilverwaltung in einem der besetzten westeuropäischen Länder zu analysieren. Wie lässt sich Seyß-Inquarts Tätigkeit in den Niederlanden zusammenfassend beurteilen? Im Großen und Ganzen gelang es dem Reichskommissar, die gesamte Besatzungszeit über die Fäden der deutschen Politik in der Hand zu behalten und seine Position gegen Ansprüche insbesondere aus dem Partei- und dem Sicherheitsapparat zu verteidigen.1 Gegenüber der Wehrmacht vermochte er seine Kompetenzen sogar in der letzten Phase zu behaupten, in der die Niederlande erneut zum Kampfgebiet wurden. Die Wahrung seiner im Prinzip unangreifbaren Position im polymorphen Machtgefüge des NS-Systems ist aus drei Gründen beachtenswert: Erstens verfügte Seyß-Inquart innerhalb der NSDAP nicht über eine ‚Hausmacht‘, und seine Beziehungen zur SS hingen eher von seinem engen Verhältnis zu Heinrich Himmler als von einem tragfähigen Netzwerk innerhalb des Führungskorps’ der Schutzstaffel ab. Obwohl er mehrmals an Reichs- und Gauleitertagungen teilgenommen und sich regelmäßig mit hochrangigen SS-Offizieren ausgetauscht hat, fehlte ihm letztlich der ‚Stallgeruch‘ eines ‚alten Kämpfers‘ und eines kampfbewährten SS-Mannes. Zweitens griff das Deutsche Reich in der zweiten Kriegshälfte mit der Forderung nach hohen Abgabequoten von Lebens1

Ähnlich In ’t Veld, Inleiding, 422.

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mitteln, Gebrauchsgütern und Arbeitskräften immer stärker unmittelbar in die Niederlande ein; dadurch verlagerte sich ein beträchtlicher Teil der politischen Initiativen von Den Haag nach Berlin. Drittens gab es in den Niederlanden wie in anderen Teilen des NS-Imperiums Machtgruppierungen, die unter dem gemeinsamen Dach des Nationalsozialismus für divergierende Interessen, Ziele und Herrschaftsmethoden eintraten, sich auf mehr oder weniger subtile Weise gegenseitig behinderten oder gar bekämpften und um eine bevorzugte oder dominierende Stellung innerhalb der deutschen Besatzungsverwaltung rivalisierten; namentlich die Generalkommissare Rauter und Schmidt sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Aus der positionellen Schwäche, die der Mangel einer ‚Hausmacht‘, Eingriffe des Reiches in die Verwaltung der besetzten Niederlande und divergierende Partikularinteressen innerhalb des deutschen Behördenapparats für Seyß-Inquart zweifellos mit sich brachten, wurde gelegentlich die Schlussfolgerung gezogen, das Reichskommissariat sei nicht in der Lage gewesen, eine einheitliche Politik zu verfolgen.2 Tatsächlich verschlechterten sich die Rahmenbedingungen für eine konzise, sorgfältig implementierte und systematisch koordinierte Politik spätestens seit der Wende in der militärischen Großwetterlage des Zweiten Weltkriegs von 1942/43, und besonders in den letzten Kriegsmonaten griffen Improvisation und Chaos angesichts der allgemeinen Desintegration von Reich und Regime immer mehr um sich. Dem steht gegenüber, dass Seyß-Inquart die kontinuierlichen Bestrebungen partikularer NS-Gruppierungen nach Ausdehnung der eigenen Macht und Kompetenzen durchgängig im Zaum halten konnte, ohne seine hegemoniale Stellung in den Niederlanden jemals substanziell in Gefahr zu bringen. Die Antagonismen zwischen deutschen NS-Funktionären wie Schmidt und Rauter oder zwischen niederländischen Faschisten wie Mussert und Rost van Tonningen trugen gerade dazu bei, ungeachtet des kontinuierlichen Machtzuwachses des SS-Komplexes die Entstehung einer Monopolposition innerhalb seines Machtbereichs zu verhindern, und bis zuletzt stand der politische Führungsanspruch des Reichskommissars gänzlich außer Frage. Darüber hinaus verstand es Seyß-Inquart, überspannte Forderungen des Reiches in einigen Fällen abzuschwächen oder deren Einlösung in die Länge zu ziehen. In den meisten Fällen jedoch sorgte er dafür, dass Forderungen des Reiches geschmeidig in den Niederlanden umgesetzt wurden – auch dann, wenn sie die wirtschaftliche Situation des besetzten Landes angriffen und die Ablehnung des Regimes durch die Bevölkerung noch mehr verstärkten, als dies von Anfang an der Fall gewesen war. Seyß-Inquart war somit einerseits ein loyaler verlängerter Arm der NS-Führung. Andererseits machte er von Spielräumen Gebrauch, die ihm sein Amt von vornherein boten. Dies konnte dazu führen, dass – oft über Wochen und Monate hinweg – in direkten Verhandlungen mit den betreffenden Reichszentralinstanzen über eine für alle beteiligten Stellen akzeptable Lösung korrespondiert oder konferiert wurde. Sofern seine eigene Machtposition nicht tangiert wurde, trachtete Seyß-Inquart durchgängig danach, mit allen nationalsozialistischen Gruppierungen im Reich wie auch im besetzten Gebiet konstruktiv und produktiv zusammenzuarbeiten, um die deutsche Herrschaft 2

Vgl. insbesondere Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 154 und 156 und Van der Heijden, Grijs verleden, 183.

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unter Vermeidung oder wenigstens Begrenzung von internen Friktionen zu stabilisieren und die niederländische Gesellschaft zum Nationalsozialismus zu führen. Hierfür lassen sich aus Seyß-Inquarts Sicht drei Gründe anführen: Erstens brachte es das Amt des Reichskommissars mit sich, dass er wie alle anderen Leiter einer nationalsozialistischen Zivilverwaltung in hohem Maße in arbeitsteilige Prozeduren eingebunden war, die grundsätzlich die Notwendigkeit der Kooperation nach vielen Seiten hin mit sich brachten – in vertikaler wie in horizontaler Ausrichtung. Zweitens erforderte die Tatsache, dass sich die Reichsführung während des Krieges nicht definitiv über die Zukunft der Niederlande im ‚neuen Europa‘ festlegen wollte, eine konzeptionelle Offenheit, die nur durch die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Machtgruppierungen denkbar war. Drittens war es seine positionelle Schwäche, die Seyß-Inquart zu einer möglichst konfliktfreien, auf Kooperation angelegten Umsetzung nationalsozialistischer Politik drängte. Auf jeden Fall suchte der Reichskommissar von sich aus zu keinem Zeitpunkt die Konfrontation mit Repräsentanten von NSDAP, SS und Wehrmacht. Konflikte innerhalb des NS-Systems wie bei der Auslegung von Bormanns Anordnung A 54/42 und den Diskussionen um die Germanische Leitstelle oder die Reichsschulen suchte er eher zu lösen als aus Prestigegründen zu verschärfen. Seine Amtsführung zeichnete sich denn auch durch das Bestreben aus, alle nationalsozialistischen Machtgruppierungen so weit wie möglich in den Aufbau der intendierten ‚Neuen Ordnung‘ einzubinden. Dies bezog sich nicht nur auf Reichszentralstellen und die deutschen Nationalsozialisten in den Niederlanden. Das durchaus wechselvolle Verhältnis zur Nationaal-Socialistische Beweging zeugt von Seyß-Inquarts grundsätzlicher Bereitschaft und seinem Willen, auch die einheimischen Faschisten – wenn auch unter deutscher Leitung – in die Bestrebungen um Nazifizierung und Gleichschaltung einzubinden. Beim Umgang mit deutschen Instanzen und Nationalsozialisten und mit einheimischen Kollaborateuren kam ihm die Autorität, die von vornherein mit dem Amt des führerunmittelbaren Reichskommissars verbunden war, ebenso zugute wie sein diplomatisches Geschick, divergierende Interessen auszugleichen und in die Gesamtpolitik des Reichskommissariats zu integrieren. Die Einbindung unterschiedlicher Kräfte wurde auch dadurch erleichtert, dass Seyß-Inquart bei anstehenden Entscheidungen in der Regel Stellungnahmen und Einschätzungen von betroffenen oder fachlich zuständigen Personen oder Einrichtungen einholte, ohne dadurch auch nur im geringsten das Führerprinzip auszuhöhlen. Mithilfe des klassischen Herrschaftsprinzips ‚divide et impera‘ verstand es Seyß-Inquart, die polymorphen Strukturen des ‚prekären Staates‘ zu nutzen, um seine eigene Position als nationalsozialistische ‚Zwischengewalt‘ zu stabilisieren: Unter Berufung auf das Führerprinzip war es letztlich der Reichskommissar, der bei divergierenden Interessen, Standpunkten oder Planungen die Leitlinien der deutschen Besatzungspolitik in den Niederlanden vorgab und für deren Umsetzung die Gesamtverantwortung trug. In seiner Fähigkeit, verschiedene Machtgruppierungen in eine Gesamtpolitik zu integrieren und so gegeneinander auszutarieren, dass trotz des unaufhaltsamen Aufstiegs des SS-Komplexes im Reich wie in den Niederlanden keine dieser Gruppierungen seinen politischen Führungsanspruch in Frage stellen konnte, ist sicherlich einer der Gründe zu sehen, warum Seyß-Inquart den ganzen Krieg über fest im Sattel saß. In hohem Maße trug dazu auch seine

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persönliche Bindung an Hitler bei. Er war offenkundig einer der wenigen Österreicher, die der ‚Führer‘ persönlich schätzte, und immerhin war er unter den Österreichern der einzige frühere ‚Brückenbauer‘, dem trotz des Spagats zwischen Austrofaschismus und Drittem Reich nach dem Anschluss Österreichs nachhaltig der Aufstieg innerhalb des nationalsozialistischen Regimes gelang. Dass Seyß-Inquart Hitlers Vertrauen genoss, geht nicht nur aus der Ernennung zum Außenminister kurz vor Kriegsende hervor. Auch die Tatsache, dass er zu dem kleinen Kreis von NS-Funktionären gehörte, die in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1941 vom ‚Führer‘ persönlich von dem unmittelbar bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion informiert wurden,3 weist auf das Vertrauensverhältnis zwischen Hitler und Seyß-Inquart hin. Dazu kommt, dass sich der ‚Führer‘ öfters anerkennend über Seyß-Inquart und die Politik geäußert hat, die sein Statthalter in den Niederlanden geführt hat. So stellte er seinen Reichskommissar in Den Haag als ein Vorbild dar, als er im Februar 1942 mit dem Gedanken spielte, in Belgien die Militär- durch eine Zivilverwaltung zu ersetzen; hier brauche man eine Persönlichkeit wie Seyß-Inquart, und das hieß für Hitler „an extraordinarily clever man, as supple as an eel, amiable – and at the same time thick-skinned and tough.“4 Drei Monate später hob der ‚Führer‘ Seyß-Inquart noch einmal bei einem seiner Tischgespräche lobend hervor: Dass der Reichskommissar es vermocht habe, Mussert zur Eidesleistung auf ihn „als Chef aller Germanen“ zu bewegen, sei ein Beweis dafür, dass die aus Wien stammenden Nationalsozialisten „als Diplomaten“ „besonders wertvoll“ seien. Für „bemerkenswert“ hielt der ‚Führer‘ auch „die Art des Wieners, geschichtlich zu denken“ und meinte damit wiederum Seyß-Inquart: Hatte dieser Hitler doch darauf hingewiesen, dass Belgien „vor 150 Jahren noch unsere Provinz“ gewesen sei – und damit ein Argument vorgebracht, mit dem sich aus nationalsozialistischer Sicht auch in Belgien die Einrichtung eines Reichskommissariats begründen ließ. Im Hinblick auf das Reichskommissariat in den Niederlanden jedenfalls war Seyß-Inquart für Hitler die ideale Besetzung: „Bei der Größe des Reichs und der Vielzahl seiner Talente sei es wichtig, den richtigen Mann an den richtigen Fleck zu stellen. Den brutalen dorthin, wo nur ein solcher fertig werden könne, und dorthin, wo auch eine rücksichtsvollere Hand es schaffe, einen Mann dieser Art.“5

3

4 5

Darauf deutet jedenfalls hin, dass Seyß-Inquart neben Himmler, Ley und anderen Parteigenossen anwesend war, als der ‚Führer‘ ein „langes Gespräch über Krieg und Kriegführung“ führte (Witte u. a. [Bearb.], Der Dienstkalender Heinrich Himmlers, 175 mit Anm. 28 unter Bezugnahme auf das Tagebuch des Verbindungsbeamten des Auswärtigen Amtes im Führerhauptquartier, SS-Oberführer Walther Hewel). Für Seyß-Inquarts Behauptung vom September 1946, er habe Hitler damals in einem Vieraugengespräch sowie in Denkschriften vor einem Zweifrontenkrieg gewarnt (Ein Nachwort, Bl. 45), gibt es keinerlei Beleg. Obendrein ist solch eine Aussage nicht glaubwürdig, hätte er sich hiermit doch entgegen seinem sonstigen Streben ins politische Abseits manövriert. Hier zit. nach der englischen Übersetzung in: Trevor-Roper (Hrsg.), Hitler’s Table Talk, 260 (27. Februar 1942). Zit. nach: Picker (Hrsg.), Hitlers Tischgespräche, 360 (20. Mai 1942). Seyß-Inquart spielte damit auf den Umstand an, dass die belgischen Provinzen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Teil der Habsburgermonarchie gewesen waren. Zur Herauslösung Belgiens aus dem habsburgischen Reich in der ‚Sattelzeit‘ (Reinhart Koselleck) siehe Koll, ‚Die belgische Nation‘.

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Seyß-Inquart wiederum hat vom Anschluss Österreichs bis über den Untergang des Deutschen Reiches hinaus eine vorbehaltlose Vasallentreue gegenüber seinem ‚Führer‘ an den Tag gelegt. In den Niederlanden hat er – wie zuvor schon in Österreich und Polen – in der Öffentlichkeit wie auch in vertraulichen Gesprächen immer wieder Loyalität gegenüber Hitler bekundet und zugleich von anderen eingefordert. Natürlich gehörten Loyalitätsbekundungen für jeden NS-Funktionär zum propagandistischen Standardrepertoire, und der Logik des Führerprinzips entsprechend waren Person und Politik Adolf Hitler unter Nationalsozialisten sakrosankt. Trotzdem stellt sich die Frage, ob Seyß-Inquarts Haltung zum ‚Führer‘ aus einer tiefen persönlichen Überzeugung hervorging oder Ergebnis eines politischen Kalküls war. Kwiets Vermutung, dass Seyß-Inquarts Loyalitätsbekundungen im Kern strategischer Natur waren, weil das Fehlen einer ‚Hausmacht‘ seine Karriere innerhalb des NS-Systems unweigerlich an Hitler band,6 ist ebenso wenig von der Hand zu weisen wie beweisbar. Tatsache ist, dass Seyß-Inquart in den Niederlanden nur daran interessiert war, die Machtstellung, mit der er durch den Führererlass vom 18. Mai 1940 betraut worden war, zu halten. Nach einer Ausdehnung des territorialen Umfangs ‚seiner‘ Niederlande oder einer Ausweitung seiner Machtstellung hat er nicht gestrebt. Dass sich Seyß-Inquart als ein loyaler Statthalter seines ‚Führers‘ in Den Haag verstand und positionierte, schloss allerdings nicht aus, dass er seine Tätigkeit als Reichskommissar als Bewährung für eine herausragende politische Stellung auf Reichsebene zu nutzen versuchte. Nicht zuletzt seine aktive Teilnahme am nationalsozialistischen Europadiskurs verrieten Ambitionen auf die Übernahme des Auswärtigen Amtes. Für den Aufstieg in die ‚erste Reihe‘ des NS-Regimes aber war bedingungslose Loyalität gegenüber dem ‚Führer‘ der einzig erfolgversprechende Weg. Wie die meisten anderen NS-Funktionäre sah Seyß-Inquart nicht einmal nach Kriegsende Grund für Zweifel an Hitler und den Zielen des Nationalsozialismus. In den Stellungnahmen, die er während der Internierung in Bad Mondorf und Nürnberg von sich gegeben hat, hat er von den Zielen, die ihn während seiner politischen Laufbahn essenziell geleitet hatten, in keiner Weise Abstand genommen. Sein Festhalten am ‚Führer‘ im Angesicht der Todesstrafe lässt zwei Schlüsse zu, die durchaus kompatibel sind: 1) Seyß-Inquart wollte von Zeitgenossen und Nachwelt als ‚aufrechter Nationalsozialist‘ wahrgenommen werden, der in allen Situationen in eiserner Konsequenz und ungeachtet seines eigenen Schicksals an Hitlers Person, Ideologie und Regime festhielt. 2) Er empfand selbst nach dem Untergang des NS-Regimes eine persönliche Bindung an den ‚Führer‘ jenes Reiches, das einst seine großdeutschen Ambitionen zur Erfüllung gebracht zu haben schien. Wenn Seyß-Inquart sich aber schon nach dem Krieg nicht von Hitler lossagte, ist die Annahme, dass er in den Jahren vor der Kapitulation Deutschlands bedingungslos zu seinem ‚Führer‘ stand, nicht aus der Luft gegriffen. In der Gesamtbetrachtung jedenfalls kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich während seiner Tätigkeit als Reichskommissar in seinem Verhältnis zu Hitler strategische Überlegungen und die persönliche Überzeugung von einer geschichtlichen ‚Mission‘, die der Nationalsozialismus unter Adolf Hitler angeblich zu erfüllen hatte, ergänzten. 6 Kwiet, Reichskommissariat Niederlande, 91.

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Strategische Bedeutung kam jedenfalls der Pflege des Verhältnisses zu anderen Nationalsozialisten aus dem Kreis der Reichsführung zu. Die überlieferte Korrespondenz etwa mit Lammers und Bormann lässt erkennen, dass Seyß-Inquart stets an der Aufrechterhaltung eines positiven, von gegenseitigem Respekt getragenen Verhältnisses interessiert war.7 Besondere Bedeutung kommt dem symbiotischen Verhältnis zu Himmler zu, von ihm profitierten beide Seiten: Für Himmler stellte die Platzierung einer ‚seiner‘ Gruppenführer auf einem einflussreichen Posten im besetzten Europa eine Möglichkeit dar, seine Machtbasis für die Zeit nach dem erwarteten Endsieg oder gar nach dem Tod Hitlers zu festigen. Seyß-Inquart wiederum konnte dank der Rückendeckung durch den Reichsführer-SS seine positionelle Schwäche kompensieren. Wie in Kapitel 5.3 gezeigt, scheute Seyß-Inquart politische Auseinandersetzungen mit den genannten Persönlichkeiten und ihren Dienststellen nicht, wenn er befürchtete, dass seine Position, Kompetenzen und Macht als Reichskommissar in Gefahr gerieten. Doch sachliche Differenzen hinderten ihn nicht an einem verbindlichen und betont freundschaftlichen Umgang. Auch in diesen Fällen lässt sich freilich nicht bestimmen, in welcher Relation strategische Überlegungen zu persönlichen Sympathien standen. Auffallend ist immerhin, dass Seyß-Inquarts Verhältnis zu anderen NS-Granden wie Göring und Goebbels zurückhaltender war. Waren hierbei – auf welcher Seite auch immer – persönliche Momente ausschlaggebend? Oder legte Seyß-Inquart dem Netzwerk, das er innerhalb des Großdeutschen Reiches aufbaute, eine Differenzierung nach Nationalsozialisten zugrunde, deren Stellung und entscheidender Einfluss während des Krieges zunahm oder zumindest auf gleich hohem Niveau blieb, und jenen Politikern, die im Laufe der Zeit an Macht einbüßten (Göring) oder nicht durchgängig an zentralen Entscheidungen mitwirkten (Goebbels)? Wie auch immer die Antwort ausfallen mag – die Einbindung in einflussreiche Netzwerke war ein weiterer Faktor, der zur Stabilisierung von Seyß-Inquarts Position innerhalb des NS-Regimes beitrug und seine Amtsführung in den Niederlanden im allgemeinen erleichterte. Einer effizienten Umsetzung seiner Politik sollte auch zugutekommen, dass der Reichskommissar Personen seines Vertrauens nach Den Haag mitnahm, die in der Regel aus der Ostmark stammten und ihm bereits in Österreich, teilweise auch in Polen zu Dienst gewesen waren. Hierzu zählen insbesondere die Generalkommissare Wimmer und Fischböck sowie Mühlmann, Rabl und Wehofsich. Selbst im Fall von nachgeordneten Beamten wie Regierungsrat Dr. Karl Kramsall setzte sich Seyß-Inquart nachweislich für eine Versetzung in sein ‚Herrschaftsgebiet‘ ein.8 Nationalsozialisten, mit denen Seyß-Inquart seit längerem bekannt oder gar befreundet war, agierten weitgehend im Hintergrund und wurden von Zeitgenossen kaum wahrgenommen. Wegen ihrer oft wichtigen Beiträge zur Besatzungspolitik waren sie aber vermutlich ebenso wichtig für Seyß-Inquart wie Rauter oder Schmidt, die im Mai 1940 von Seiten der SS bzw. der NSDAP in die Niederlande entsandt worden waren. Zusammengenommen pflegte Seyß-Inquart die gesamte Besatzungszeit über ein reich differenziertes System an formellen und informellen Beziehungen: Es reichte ‚nach oben‘ in die Reichsführung 7 8

Ähnlich In ’t Veld, Inleiding, 85. Siehe das Schreiben des Reichsministeriums des Innern vom 22. Oktober 1940, BArch, R 1501/7938.

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wie ‚nach unten‘ zu Angestellten, die ihm durch persönliche Loyalität verbunden waren bzw. aufgrund ihrer Dienststellung in einem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnis zu ihm standen. Schließlich wurde das Ensemble an machtorientierten Beziehungen, die Seyß-Inquart seiner Politik nutzbar machte, durch Kollaborateure wie die Funktionäre der faschistischen Parteien, durch Technokraten wie Lentz, die ihre fachlichen Kenntnisse von sich aus dem NS-Regime andienten, und durch einheimische Beamte ergänzt, die aus unterschiedlichen Gründen mit den Deutschen zusammenarbeiteten. Mindestens so stark wie in Wien und Krakau erwies sich Seyß-Inquart in Den Haag als engagierter und talentierter Netzwerker. Seine Verankerung in den Strukturen des NS-Systems wurde darüber hinaus durch die Übernahme von Ämtern wie der Leitung des Deutschen Alpenvereins (seit 1938) und der Deutschen Akademie (seit 1944) vertieft. Der politische Einfluss solcher Ämter war faktisch zwar fast genauso gering wie beim Amt eines Reichsministers ohne Geschäftsbereich und eines Mitglieds des Großdeutschen Reichstags. Diese Funktionen erweiterten aber seine persönlichen Verbindungen, und da Organisationen wie Alpenverein und Deutsche Akademie in der NS-Ära hochgradig politisiert waren, erhöhte Seyß-Inquart durch die Übernahme von Leitungsfunktionen sein politisches Prestige im Großdeutschen Reich. Seinem Ansehen förderlich waren auch typisch nationalsozialistische Auszeichnungen wie das Goldene Ehrenzeichen der NSDAP, Totenkopfring und Julleuchter sowie Ehrendegen des Reichsführers-SS.9 In der Summe waren das Ausbalancieren von verschiedenen nationalsozialistischen und faschistischen Gruppierungen, unbedingte Loyalität gegenüber Hitler, die Pflege eines über die Regelung von Sachfragen hinausgehenden guten Verhältnisses zu anderen Politikern der Partei- und Reichsführung, der Aufbau eines Netzwerkes, mit dessen Hilfe er sich auf allen Ebenen des nationalsozialistischen Staates verankerte, sowie die Akkumulation von Ehren­ ämtern und Auszeichnungen geeignet, Seyß-Inquarts Position innerhalb des polymorphen Machtgefüges des NS-Systems bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu behaupten. Dadurch konnte er den Mangel an ‚Hausmacht‘ und originärem ‚Stallgeruch‘ in einer der etablierten Großorganisationen des Deutschen Reiches wie NSDAP, SS, staatlicher Verwaltung oder Wehrmacht ausgleichen und im Verein mit der Autorität, die das führerunmittelbare Amt des Reichskommissars von vornherein mit sich brachte, seine positionelle Schwäche als ‚Newcomer‘ ausgleichen. In machtpolitischer Hinsicht waren diese Aspekte nicht nur wichtig, weil Seyß-Inquart kein ‚alter Kämpfer‘ war, sondern auch, weil er kein Charisma entfaltete. Auch wenn öffentliche Auftritte wie bei den Massenveranstaltungen vom 12. März oder 27. Juni 1941 oder bei festlichen Zusammenkünften von deutschen oder niederländischen Nationalsozialisten imposant inszeniert waren – Seyß-Inquart wirkte wie ein nüchterner Anwalt und sachlich orientierter Funktionär, der zwar über Charme verfügte, sich aber nicht als Volkstribun stilisieren konnte oder wollte. Auffallend ist, dass der Kontakt zu oder die Zusammenarbeit mit deutschen Zivil- oder Militärverwaltungen in anderen besetzten Ländern auf der Führungsebene des Reichskom9

Siehe die entsprechenden Unterlagen in BArch (ehem. BDC), SSO Arthur Seyß-Inquart und WStLA, Personalakten des Gaues Wien 31.205: Arthur Seyß-Inquart.

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missariats nicht ausgeprägt war. Obwohl Seyß-Inquart sich immer wieder mit Fragen einer europäischen Einheit unter deutscher Führung auseinandergesetzt hat, beschränkte sich das Tätigkeitsfeld seiner Behörde auf die Niederlande. Hierin musste sich der Reichskommissar geradezu bestätigt fühlen, als an der Jahreswende 1942/43 die Initiative von Karl Hermann Frank am Einspruch der Partei- und der Reichskanzlei scheiterte, einen Erfahrungsaustausch unter nationalsozialistischen Besatzungsverwaltungen zu organisieren. Nicht einmal zwischen der Militärverwaltung in Belgien und Nordfrankreich mit Sitz in Brüssel und dem Reichskommissariat in Den Haag gab es zur Lösung vergleichbarer Probleme eine institutionalisierte Koordination; die beiden benachbarten Territorialverwaltungen arbeiteten eher neben- als miteinander. Hierbei mag auch eine Rolle gespielt haben, dass sich die Zivilverwaltung in den Niederlanden entsprechend dem Auftrag, den Hitler Seyß-Inquart im Mai 1940 mit auf den Weg gegeben hatte, von Anfang an stärker auf die Kernanliegen der NS-Ideologie konzentrierte, als dies bei der Militärverwaltung in Brüssel der Fall war. Mit Blick auf die Niederlande gehörten hierzu insbesondere die Neutralisierung oder Ausschaltung weltanschaulicher Konkurrenten in der ‚versäulten‘ Gesellschaft, die stufenweise Privilegierung und Monopolisierung der NSB innerhalb des niederländischen Parteienspektrums, die Abschaffung parlamentarischer Vertretungskörperschaften und demokratischer Formen politischer Entscheidungsfindung, die Einführung des Führerprinzips sowie die Verfolgung und Eliminierung von Juden, Sinti und Roma – also von Bevölkerungsgruppen, die dem propagierten Selbstverständnis nach im Widerspruch zu jenem ‚germanischen‘ Charakter standen, den die Nationalsozialisten aus ihrer rassistischen Perspektive heraus den Niederländerinnen und Niederländern unterstellten. Schließlich war Seyß-Inquart bestrebt, die Niederlande durch Gleichschaltung möglichst eng an das Deutsche Reich zu binden und deren Wirtschaft auf die Bedürfnisse des Großdeutschen Reiches auszurichten. Mit diesen Schwerpunkten der politischen Arbeit wollte der Reichskommissar ‚seine‘ Niederlande in eine Neuordnung Europas unter deutscher Führung einbauen. Dies tat er entsprechend allgemeiner, oftmals vager Vorstellungen wie auch mancher konkreter Vorgaben aus dem Reich. Darüber hinaus lieferte er in Reden und Schriften Beiträge, die den hegemonialen Anspruch Deutschlands auf dem europäischen Kontinent untermauern sollten. Praktische Verwaltungsarbeit und die Entwicklung und Propagierung von konzeptionellen Perspektiven waren in seiner Tätigkeit als Reichskommissar zwar keineswegs gleichrangig, gingen für ihn aber Hand in Hand. Auf allen Aufgabenfeldern, die im Vorstehenden detailliert untersucht worden sind, legte der promovierte Jurist Seyß-Inquart Wert darauf, den Maßnahmen der Besatzungsmacht rechtliche Grundlagen zu verschaffen. Dank der Rechtsetzungskompetenz seines Amtes hebelte er allmählich das Rechts- und Verfassungssystem des niederländischen Königreichs aus und schuf im Laufe der Zeit eine genuin nationalsozialistische Rechtsordnung, die selbst der Mitwirkung am Holocaust und an brutalen Repressionsmethoden einen legalen Anstrich geben sollte. Durch die sukzessive Nazifizierung der gesamten Rechtsordnung des besetzten Landes konnte der ‚Normenstaat‘ den ‚Maßnahmenstaat‘ camouflieren, der gleichwohl unter der Hand kontinuierlich an Gewicht zunahm – in den Niederlanden wie im gesamten deutschen Herrschaftsbereich. In den Bemühungen um die Etablierung der ‚Neuen Ordnung‘

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ging das Reichskommissariat über eine bloße Aufsicht über die einheimischen Behörden hinaus – griff doch die deutsche Zivilverwaltung nicht nur kontrollierend, sondern aktiv steuernd in politische Prozesse des besetzten Landes ein. Nach dem erkennbaren Scheitern der Strategie der Selbstnazifizierung im Februarstreik von 1941 nahmen die aktiven Eingriffe des Reichskommissariats, dessen Personalbestand bis zum ‚verrückten Dienstag‘ laufend anstieg, an Umfang und Intensität zu. Im Verlauf der fünf Besatzungsjahre war die Politik, die das NS-Regime unter Seyß-Inquart in den Niederlanden geführt hat, durch Radikalisierung und Brutalisierung gekennzeichnet. Diese Tendenz lässt sich auf zwei Politikfeldern besonders deutlich nachzeichnen: der Judenverfolgung und der Bekämpfung von Widerstand. Die Verfolgung der Jüdinnen und Juden offenbart eine Entwicklung von gesellschaftlicher Stigmatisierung und Isolierung über wirtschaftliche Verarmung bis zur Deportation fast der gesamten jüdischen Bevölkerung in die Vernichtungslager in den besetzten Ländern Osteuropas. Bei der Bekämpfung des Widerstands, der sich erst im Laufe der zweiten Phase der Besatzungszeit so organisierte, dass er zu wirkungsvollen Sabotageaktionen in der Lage war, waren für die Besatzungsmacht in den ersten Monaten vereinzelte zielgerichtete Einsätze der Sicherheitsbehörden ausreichend, um ‚Ruhe und Ordnung‘ zu wahren. Seit dem Februarstreik jedoch intensivierte das Reichskommissariat das Vorgehen gegen Dissidenz und Opposition. Durch Geiselnahmen und Geiselerschießungen, die Verhängung des Standrechts, Massenexekutionen, die Silbertannen-Aktion und die brutale Niederschlagung des April-Mai-Streiks von 1943 wurde ein Terrorregime etabliert, in dem Willkür und blutige Repression von tatsächlichen oder vermeintlichen Widersachern des Regimes im Mittelpunkt standen. Somit wurde im Laufe der Zeit aus der ‚Politik der ausgestreckten Hand‘ eine ‚Politik der zuschlagenden Faust‘. Selbst in der Wirtschaftspolitik lässt sich die Tendenz zur Radikalisierung ablesen: Ging es Seyß-Inquart in der ersten Besatzungsphase darum, die niederländische Volkswirtschaft so zu stärken, dass sie bald nach dem Fünf-Tage-Krieg wieder leistungsfähig war und zugleich die einheimische Bevölkerung gegenüber den Deutschen nicht schlechtergestellt war, rückten seit 1941/42 immer mehr die ungehemmte organisierte Ausbeutung von Land und Leuten sowie staatlich implementierter Raub in den Vordergrund. Im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung war Seyß-Inquarts Amtsführung durch Doppelgleisigkeiten gekennzeichnet. So konnte an vielen Stellen deutlich gemacht werden, dass gleichermaßen ‚Zuckerbrot‘ und ,Peitsche‘ zu den Instrumentarien seiner ‚Herrschaft‘ gehörten. Die fundamentale Ambivalenz seiner Amtsführung war von Anfang an in dem Auftrag eingeschrieben, mit dem er im Mai 1940 von Hitler in die Niederlande entsandt worden war: auf der einen Seite die „Reichsinteressen“ zu wahren, auf der anderen Seite die dortige Gesellschaft für eine – von der Besatzungsverwaltung gelenkte – Selbstnazifizierung und Bindung an das Deutsche Reich zu gewinnen. Reichten Anreize zur Kollaboration nicht aus, übte die Besatzungsverwaltung in zunehmender Intensität Druck und Zwang aus. Doch selbst die ‚Peitsche‘ wurde differenziert eingesetzt: Repressive Mittel, mit denen er die deutsche Herrschaft behaupten zu müssen glaubte, setzte Seyß-Inquart in unterschiedlichen Dosierungen ein. In manchen Fällen milderte er Wünsche, Vorgaben oder Revanchegelüste anderer Ver-

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treter des NS-Regimes ab, in anderen Fällen hingegen entschied er sich für Härte oder unterstützte jene Entscheidungsträger im Reich oder in seinem eigenen Machtbereich, die für ein scharfes Vorgehen votierten. In manchen Situationen verband der Reichskommissar die machtgestützte Autorität seines Amtes mit Konzilianz, während er sich in etlichen anderen Situationen als ein Heißsporn gerierte, der sich durch einen Beitrag zur Radikalisierung der deutschen Politik als Hardliner profilierte und von der Reichsführung erkennbar als nationalsozialistischer ‚Musterknabe‘ wahrgenommen werden wollte. Wie unter Berücksichtigung seines Verhältnisses zu den niederländischen Kirchen und im Kontext des Ärzteprotests deutlich geworden ist, setzte Seyß-Inquart die ganze Bandbreite, die zwischen ‚Zuckerbrot‘ und ‚Peitsche‘ aufgetan werden konnte, flexibel je nach Situation ein. Damit fand er innerhalb der Reichsführung durchaus Zustimmung und Anerkennung. So kam Goebbels 1943 zu dem Ergebnis: „Ich habe den Eindruck, daß die Behandlung der Bevölkerung eines besetzten Gebietes verhältnismäßig am besten in den Niederlanden gehandhabt wird. Seyß-Inquart versteht es meisterhaft, mit Zuckerbrot und Peitsche abzuwechseln und harte Maßnahmen mit einer großen Elastizität durchzuführen.“10 Seyß-Inquart brachte jedenfalls die Bereitschaft und die Fähigkeit zur raschen Anpassung an unterschiedliche Vorgaben aus dem Reich und an die jeweiligen Situationen vor Ort mit; persönliche Anpassungsfähigkeit vermochte er in politische Flexibilität umzuwandeln. Bei der Radikalisierung der deutschen Besatzungspolitik scheint Brutalität für Seyß-Inquart wohlgemerkt kein Selbstzweck gewesen zu sein. Vielmehr ging es ihm darum, gesetzte Ziele auf möglichst effizientem Wege zu erreichen. Dabei war die Anwendung von Gewalt im Umgang mit der niederländischen Bevölkerung für ihn solange hinnehmbar, wie die erkennbaren Vorteile mögliche Nachteile aufzuwiegen versprachen. Befürchtete er in bestimmten Situationen, dass die Bilanz bei der Anwendung brutaler Mittel für die Besatzungsmacht negativ auszufallen drohte, scheute er sich selbst gegenüber Hitler und Himmler nicht, für Mäßigung zu plädieren. Seine Skepsis gegenüber der Wiedereinführung der Kriegsgefangenschaft für die niederländischen Soldaten im April 1943, seine widerstrebende Haltung gegenüber Görings Absicht, zugunsten ausgebombter Familien auf Reichsgebiet ganze Wohnungseinrichtungen aus den Niederlanden abzutransportieren, oder das durchgängig instrumentelle Verhältnis zur Politik von Geiselnahmen und -erschießungen können als Beispiele für Seyß-Inquarts Bestreben gewertet werden, gewaltsame Eingriffe in Besitzstände oder das Leben der Bevölkerung des besetzten Landes funktional an politisch definierte Ziele zu bin10 Zit. nach: Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 9, 447 (8. September 1943). Zur Begründung seiner Einschätzung tat Goebbels einen Griff in die Geschichte: „Man merkt ihm doch die gute Habsburger Schule an. Die Österreicher haben jahrhundertelang einen Vielvölkerstaat zusammenhalten müssen. Dabei haben sie sich eine große Übung in der Behandlung von Völkern auch in kritischen Situationen erworben.“ (ebd.) Dieses Zitat ist umso bemerkenswerter, als der Propagandaminister zweieinhalb Jahre vorher Seyß-Inquart vorgeworfen hatte, den Februarstreik nicht hart genug unterdrückt zu haben und mit einer „weichen Hand“ zu regieren (zit. nach: ebd., Bd. 1, 206 [10. August 1941]). 1942 begann Goebbels seine Einschätzung zu revidieren, als er Seyß-Inquart nicht ohne Anerkennung „eine zurückhaltende Politik“ attestierte, „die zwar nicht ganz nationalsozialistisch, aber immerhin brauchbar ist.“ (zit. nach: ebd., Bd. 3, 317 [15. Februar 1942])

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den. Seine Amtsführung als Reichskommissar lief denn auch darauf hinaus, stets der Politik die Oberhand über polizeiliche und militärische Aktionen zu sichern. Dabei definierte für ihn die NS-Ideologie die Ziele, Zweckrationalität im Sinne eines an Effizienz orientierten Vorgehens entschied über die einzusetzenden Mittel. Ungeachtet seines instrumentellen und gelegentlich retardierenden Verhältnisses zu Gewalt bleibt festzuhalten, dass Seyß-Inquart nicht nur die Gesamtverantwortung für die zunehmende Brutalisierung und Radikalisierung der deutschen Besatzungspolitik zwischen 1940 und 1945 trug, sondern hierzu auch immer wieder eigene Beiträge geleistet hat. Außerdem darf nicht außer Betracht gelassen werden, dass Entscheidungen, die zu einer Brutalisierung führten, für den Reichskommissar – wiederum im Sinne von Zweckrationalität – ein Mittel sein konnten, die Machtverteilung innerhalb des Apparates der Besatzungsverwaltung zu beeinflussen. Vor dem Hintergrund von Seyß-Inquarts umfassender Verantwortung für die deutsche Besatzung ist abschließend zu fragen, wie die geschichtliche Bilanz der nationalsozialistischen ‚Herrschaft‘ ausfällt, durch die das Königreich der Niederlande zum ersten und einzigen Mal von einer ausländischen Macht besetzt wurde. Seyß-Inquart selber meinte nach Kriegsende zu dem Ergebnis kommen zu dürfen, dass es ihm nicht nur gelungen sei, entsprechend Hitlers Auftrag die „Reichsinteressen“ gewahrt zu haben. Er verstieg sich sogar zu der Behauptung, „die biologische Erhaltung der Bevoelkerung und die physikalische Erhaltung des Landes“ gesichert zu haben.11 Dabei überging er wissentlich die historisch unvergleichlichen materiellen Schäden und die Zigtausenden von Toten und Verletzten, die die deutsche Besatzung unter der einheimischen Zivilbevölkerung nicht nur durch die Zerstörungen des Fünf-Tage-Kriegs gefordert hat. Er selber stand in Den Haag der Verwaltung eines Regimes vor, das allzu oft keinerlei Bindung an das damals geltende Völkerrecht erkennen ließ, das mit dem reichhaltigen Spektrum zwischen ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ die Niederlande in die nationalsozialistische ‚Neue Ordnung‘ hineinzwingen wollte und dessen Auftreten in steigendem Maße von Radikalisierung und Brutalisierung gekennzeichnet war. Obwohl er selber – abgesehen von Schießübungen12 – offenkundig nicht ein einziges Mal von der Schusswaffe Gebrauch gemacht hat, hinterließ er eine Spur der Verwüstung, die in der niederländischen Geschichte einmalig geblieben ist. Statt das besetzte Land näher an Deutschland zu binden, bewirkte die Besatzungszeit mittel- und langfristig das genaue Gegenteil: Über Jahrzehnte hinweg belastete die Politik des Reichskommissariats das deutsch-niederländische Verhältnis.13 Am allerwenigsten ist es Seyß-Inquart gelungen, das zentrale Ziel der Gewinnung der einheimischen Gesellschaft für den Nationalsozialismus zu erreichen; schon frühzeitig entpuppte sich seine Hoffnung auf eine Selbstnazifizierung der ‚germanischen‘ Niederländer als eine Illusion, die ihn geradezu zum Opfer seiner eigenen rassistischen Vorstellungen machte. Somit war seine Tätigkeit in Den Haag bei Kriegsende sogar entsprechend der Maßstäbe der eigenen Ideologie und Ansprüche gescheitert. 11 Seyß-Inquart, Denkschrift, Bl. 3. 12 Siehe Beeldbank WO2, Verzetsmuseum Friesland, Sign. 123390. 13 Vgl. hierzu Wielenga, Vom Feind zum Partner.

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Vor dem Hintergrund seiner Amtsführung und Machttechniken stellt sich die Frage, wie Reichskommissar Seyß-Inquart aus Sicht der Täterforschung zusammenfassend beschrieben werden kann. Obwohl ihm intellektuelle, persönliche und politische Wendigkeit nicht abgesprochen werden kann, gehörte er nicht zu den „willigen Konformisten“, die sich dem NS-Regime vorwiegend aus Gründen von Opportunität oder Utilitarität andienten. Er war auch kein „Exzeßtäter“, der darauf bedacht gewesen wäre, persönlich Hand an die Opfer seiner Politik zu legen.14 Bei Seyß-Inquart handelte es sich vielmehr um einen gebildeten, intelligenten, ideologisch vollkommen überzeugten Nationalsozialisten, der für Deutschland, die Niederlande und das restliche Kontinentaleuropa in einer nach ‚völkischen‘ Gesichtspunkten aufgebauten ‚Neuen Ordnung‘ das einzig zukunftsfähige Ordnungsmodell für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zwischen Kommunismus und Kapitalismus sehen wollte. In der starken ideologischen Fixierung liegt meines Erachtens der Grund für den Umstand, dass Intelligenz und Nüchternheit mit einer erstaunlichen Naivität und Borniertheit einherging: Sie hilft zu verstehen, warum der Leiter einer repressiv auftretenden Besatzungsmacht bis in die letzten Kriegswochen hinein die Selbstnazifizierung der einheimischen Bevölkerung prinzipiell für möglich hielt. Den Dienst am Aufbau einer nationalsozialistischen Ordnung hat der ehrgeizige Schreibtischtäter bis in den Untergang hinein in den Mittelpunkt seiner politischen Laufbahn gestellt; innerhalb dieses Rahmens schlossen sich Karrierismus und ideologisch begründeter Idealismus nicht aus. Entgegen der Darstellung von Wolfgang Rosar ist festzuhalten, dass Seyß-Inquart nicht in die Besatzungsherrschaft über die Niederlande ‚hineingeschlittert‘ ist und zu der Politik ‚gezwungen‘ wurde, die er während des Zweiten Weltkriegs verfolgt hat.15 Vielmehr ist an vielen Stellen deutlich geworden, dass er höchst freiwillig, ausgesprochen engagiert und mit großem persönlichen Ehrgeiz an der Durchsetzung der ‚Neuen Ordnung‘ beteiligt war und zahlreiche Ermessens- und Handlungsspielräume genutzt hat, die ihm sein Amt bot. Dies schloss den systematischen und weitreichenden Einsatz von Gewalt ein, ihr kalkulierter Gebrauch schien ihm ein legitimes Instrument nationalsozialistischer Besatzungspolitik. In diesem Sinn war Seyß-Inquart kein Getriebener des Systems, sondern trug seinerseits aktiv zur Radikalisierung deutscher Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg bei. Ein distinguiertes Auftreten, eine gepflegte Erscheinung und eine gewählte Ausdrucksweise in Wort und Schrift dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Reichskommissar in der Lage und bereit war, das besetzte Land Gewalt, Zerstörung und Barbarei in einem Ausmaß auszusetzen, das in der niederländischen Geschichte singulär war. Ein ausgeprägtes Kulturbewusstsein und der instrumentelle Gebrauch von exzessiver Gewalt schlossen sich für solch einen Überzeugungstäter in keiner Weise aus. Aus Seyß-Inquarts Sicht handelte es sich allenfalls um verschiedene Seiten derselben Münze, mit der die ‚Neue Ordnung‘ aufgebaut werden sollte. Obwohl Position und Karriere dieses ‚Austronazis‘ in vielerlei Hinsichten einzigartig waren, verbanden ihn die Mischung aus ideologischem Fanatismus, kühler Rationalität und Ge14 Vgl. die Typologie bei Paul/Mallmann, Sozialisation, Milieu und Gewalt, 17 f. 15 Rosar, Deutsche Gemeinschaft, 341.

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waltbereitschaft mit der „Generation des Unbedingten“.16 Auch die Herkunft aus einem bildungsbürgerlichen Umfeld weist Parallelen zu vielen anderen radikalisierten und fanatisierten Schreibtischtätern auf. Anders als ein großer Teil des Führungskorps’ des ‚Schwarzen Ordens‘, den Michael Wildt eingehend untersucht hat, gehörte Seyß-Inquart zwar jener Generation an, die aktiv am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte. Doch für den Tätertypus, der in seiner unerbittlichen Fixierung auf die Durchsetzung des Nationalsozialismus die Alterskohorte von Hitler und Seyß-Inquart mit der von Himmlers Gefolgsleuten verband, spielten generationelle Unterschiede letztlich eine untergeordnete Rolle. Das NS-Regime eröffnete Angehörigen aller Generationen Chancen zur Profilierung, die bis zur letzten Konsequenz zum Aufbau der ‚Neuen Ordnung‘ bereit waren. Mit den „Unbedingten“ verstand sich Seyß-Inquart als Teil einer Avantgarde, die sich berufen fühlte, mit missionarischem Eifer, eschatologischem Ernst und nie dagewesener Brutalität Deutschland und Europa auf ‚völkischer‘ Grundlage radikal neu aufzubauen. Mit ihnen empfand er sich keineswegs als rückwärtsgewandt. Im Gegenteil, er sah sich als Angehöriger einer gesellschaftlichen Elite, die im Besitz einer nachhaltigen Perspektive für die Zukunft sei – einer Perspektive, die allen anderen Ideologien überlegen sei und mit allen Mitteln durchgesetzt werden dürfe und müsse. In diesem Sinn rief er einmal aus: „Ein neues Zeitalter steigt herauf; weder ein pazifistisches noch ein imperialistisches Zeitalter, sondern ein Zeitalter der starken, selbstbewussten, jungen und emporstrebenden Nationen. Das Zeitalter der Völker und ihrer unveräusserlichen Rechte.“17 Er selber wollte dieses Zeitalter an führender Stelle mitgestalten. Vor diesem Hintergrund kann Seyß-Inquart weder als Verbrecher im kriminologischen Sinn noch als Psychopath betrachtet werden. Er war vielmehr ein geschickt agierender Politiker, der die Etablierung der ‚Neuen Ordnung‘ als historische Herausforderung seiner eigenen Zeit empfand. Aus seiner Sicht war die Teilnahme am Nationalsozialismus nicht Ausdruck jener „Banalität des Bösen“, die Hannah Arendt in den Sechzigerjahren Eichmann zugeschrieben hat,18 sondern unumgänglich, um ein nach rassistischen Gesichtspunkten geordnetes Europa als das zentrale, zielstrebig zu verfolgende Ziel deutscher Politik zu realisieren. Mit sozialer Benachteiligung oder einer prekären finanziellen Situation kann sein nationalsozialistisches Engagement nicht erklärt werden. Denn wie viele andere Angehörige der „Generation des Unbedingten“ gehörte auch Seyß-Inquart zu jenen „Arrivierten aus der Mitte und der Spitze der Gesellschaft“,19 die den Weg von einem revisionistisch eingestellten großdeutschen Nationalismus der Zwischenkriegszeit zum Nationalsozialismus beschritten und ihren spezifischen Beitrag zu Genozid und unsäglicher Gewaltherrschaft geleistet haben. Als ‚Zwischengewalt‘ spielte Seyß-Inquart in seiner Funktion als Reichskommissar eine 16 Wildt, Generation des Unbedingten. In einem vergleichbaren Sinn spricht Ingrao von „Intellektuellen der Tat“ (Hitlers Elite, 384). 17 Seyß-Inquart am 21. April 1939 auf der Schlusskundgebung der Ersten Großdeutschen Rechtswahrertagung in Leipzig, zit. nach dem Manuskript in BArch, N 1180/62, Bl. 10. 18 Arendt, Eichmann in Jerusalem. 19 Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten?, 25.

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wichtige Rolle in der Geschichte der deutschen Besetzung Europas im Zweiten Weltkrieg. Wie seine Kollegen auf vergleichbaren Posten war zwar auch er weniger unersetzlich als die Angehörigen des engsten Kreises um Hitler. Aber für die Umsetzung der nationalsozialistischen Politik waren solche Figuren mit ihrem fanatischen Engagement und der Bereitschaft, jede Radikalisierung und Brutalisierung von Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus mitzutragen, essenzielle Pfeiler des Gesamtsystems. In diesem Sinn zählte schon der Vertreter der amerikanischen Anklage beim Internationalen Militärgerichtshof Sidney S. Alderman Seyß-Inquart ausdrücklich zu jenen „gefährlichen Männern“, die ihre Macht „zügellos“ eingesetzt hatten, „um die Unabhängigkeit und Freiheit anderer zu überrennen. Sie waren mehr als Tyrannen, die eine kleine Herde einschüchterten; sie waren sehr schlaue Tyrannen. Sie paarten Macht mit Betrug, Drohungen mit gesetzlichen technischen Mitteln und abwegigen Manövern, und verbargen Falschheit hinter einer scheinheiligen Maske.“20 Vor demselben Gerichtshof wurde Arthur Seyß-Inquart zur Verantwortung gezogen. Hier zeigte er sich als intransigenter Nationalsozialist. Dass ihn der großdeutsche Nationalismus, den er in den Mittelpunkt seiner Verteidigung vor Gericht stellte, im Zusammenwirken mit einem unbändigen persönlichen Ehrgeiz zur Mittäterschaft an ungeheuren Verbrechen geführt hatte, wollte er nicht einsehen, zumindest nicht eingestehen. Mit keinem Wort gab er ein Zeichen von Reue von sich, eine Distanzierung von Hitlers Regime lag ihm fern. Im Gegenteil, auch für die Zukunft sah er im Nationalsozialismus die maßgebliche politische Orientierung für Deutschland. Für die Verurteilung zum Tod durch den Strang ausschlaggebend waren vor allem die Verbrechen, die unter seiner Führung zwischen 1940 und 1945 in den Niederlanden begangen worden waren. Mit guten Gründen wurde ihm hierfür im Oktober 1946 vom Internationalen Militärgerichtshof die Rechnung präsentiert.

20 Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 2, 471.

Abkürzungsverzeichnis

ADAP Akten zur deutschen auswärtigen Politik ANP Algemeen Nederlandsch Persbureau AO Auslandsorganisation der NSDAP AÖAW Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ARLZ Auflockerung, Räumung, Lähmung, Zerstörung BArch Bundesarchiv (Berlin und Koblenz) BBC British Broadcasting Corporation BDC Berlin Document Center (Berlin) BdS Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Best. Bestand BGBl. Bundesgesetzblatt für den Bundesstaat Österreich BRD Bundesrepublik Deutschland CNV Christelijk Nationaal Vakverbond Coll. Doc. Collectie Documentatie DAF Deutsche Arbeitsfront DAZ Deutsche Allgemeine Zeitung DDR Deutsche Demokratische Republik DÖW Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Wien) DZN Deutsche Zeitung in den Niederlanden EMRFZ Erich Maria Remarque-Friedenszentrum (Osnabrück) ERR Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg GBl. Ö Gesetzblatt für das Land Österreich HJ Hitlerjugend HLKO Haager Landkriegsordnung HSSuPF bzw. HSSPF Höherer SS- und Polizeiführer HUA Het Utrechts Archief (Utrecht) IfZ Archiv des Instituts für Zeitgeschichte (München) IISG Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (Amsterdam) IKB Interkerkelijk Bureau voor Noodvoedselvoorzieningen IKO Interkerkelijk Overleg

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Abkürzungsverzeichnis

IKRK Internationales Komitee vom Roten Kreuz IMG Internationaler Militärgerichtshof IPN Instytut Pamięci Narodowej (Warschau) KB Koninklijke Bibliotheek (Den Haag) KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KZ Konzentrationslager Liro Lippmann, Rosenthal & Co. N. V. Naamloze Vennootschap [Aktiengesellschaft] NA The National Archives (Kew) NAD Niederländischer Arbeitsdienst / Nederlandsche Arbeidsdienst NAF Niederländische Arbeitsfront / Nederlandsche Arbeidsfront NGV Niederländische Grundstücksverwaltung / Nederlandsche Administratie van Onroerende Goederen NIOD NIOD. Instituut voor Oorlogs-, Holocaust- en Genocidestudies (Amsterdam) NIVO Nederlandsche Instelling voor Volksche Opvoeding NL-HaNA Nationaal Archief (Den Haag) NRK Het Nederlandsch Roode Kruis NSB bzw. N. S. B. Nationaal-Socialistische Beweging NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSKK Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps NSNAP Nationaal-Socialistische Nederlandsche Arbeiderspartij NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt NVV Nederlandsch Verbond van Vakverenigingen NSWG Nederlandsche Socialistische Werkgemeenschap ÖGZ-A Österreichische Gesellschaft für Zeitgeschichte, Archiv (Wien) OKH Oberkommando des Heeres OKW Oberkommando der Wehrmacht ÖNB Österreichische Nationalbibliothek (Wien) ÖNB-BA Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Austria (Wien) ÖNB-HAN Österreichische Nationalbibliothek, Sammlung der Handschriften, Nachlässe und Autographen (Wien) ÖStA/AdR Österreichisches Staatsarchiv: Archiv der Republik (Wien) ÖStA/AVA Österreichisches Staatsarchiv: Allgemeines Verwaltungsarchiv (Wien) PA AA Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin) Pg. Parteigenosse PTT Staatsbedrijf der Posterijen, Telegrafie en Telefonie RAD Reichsarbeitsdienst RDG Reichsdeutsche Gemeinschaft RFSS Reichsführer-SS RGBl. Reichsgesetzblatt RIOD Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie (Amsterdam)

Abkürzungsverzeichnis

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RKF Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums RKWV Rooms-Katholiek Werklieden Verbond RMA Rijksmuseum Amsterdam RMI Reichsministerium des Innern RSHA Reichssicherheitshauptamt SA Sturmabteilung SD Sicherheitsdienst SDAP Sociaal Democratische Arbeiders Partij SHAEF Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force Sipo Sicherheitspolizei Slg. Sammlung SOkAO Státní okresní archiv Olomouc (Olmütz) SS Schutzstaffel SWA Simon Wiesenthal Archiv (Wien) UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken VB Völkischer Beobachter VO Verordnung VOBl. NL Verordnungsblatt für die besetzten niederländischen Gebiete – Verordeningenblad voor het bezette Nederlandsche gebied VOBl. PL Verordnungsblatt des Generalgouverneurs für die besetzten polnischen Gebiete – Dziennik rozporządzeń Generalnego Gubernatora dla okupowanych polskich obszarów VVRA Vermögensverwaltungs- und Rentenanstalt WA Weerafdeling ZAST Zentralauftragsstelle z. b. V. zur besonderen Verwendung

Abbildungsverzeichnis

Umschlag Seyß-Inquart auf einer Rednertribüne. Quelle: Beeldbank WO2 – Verzetsmuseum Friesland, Sign. 123393. Abb. 1 Seyß-Inquart am 5. März 1938 in Linz. Quelle: ÖNB-BA, Sign. H 4806/2. Abb. 2 Das österreichische ‚Anschlusskabinett‘ vom 12. März 1938. Quelle: ÖNB-BA, Sign. H 4860. Abb. 3 Karte von Polen ab September 1939. Quelle: Hans Umbreit, Deutsche Militärverwaltungen 1938/39. Die militärische Besetzung der Tschechoslowakei und Polens (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd. 18), Stuttgart 1977, S. 101; Bearbeitung: Ursula Németh. Abb. 4 Seyß-Inquart mit Himmler in Przemyśl (Januar 1940). Quelle: Narodowe Archiwum Cyfrowe, Sign. 2-5750. Abb. 5 Seyß-Inquart bei seiner Rede in Amsterdam am 27. Juni 1941 (I). Quelle: Max Freiherr Du Prel (Hrsg.): Die Niederlande im Umbruch der Zeiten. Alte und neue Beziehungen zum Reich […], Würzburg/Den Haag 1941, nach S. 128. Abb. 6 Seyß-Inquart bei seiner Ansprache in Hengelo am 19. Mai 1943. Quelle: Beeldbank WO2 – NIOD, Stapf Bilderdienst, Sign. 62622. Abb. 7 Seyß-Inquarts ‚Bewerbungsschreiben‘ an Himmler vom 10. Mai 1940. (a+b) Quelle: BArch, NS 19/836, Bl. 130. Abb. 8 Seyß-Inquart im ‚Felsennest‘ am 25. Mai 1940. Quelle: Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv, Sign. hoff-30523 (restauriert). Abb. 9 Führererlass über die Ausübung der Regierungsbefugnisse in den besetzten Niederlanden vom 18. Mai 1940. Quelle: Reichsgesetzblatt, Jg. 1940, Teil I, Nr. 87, Berlin 1940, S. 778. Abb. 10 Besichtigung des Hafens von Rotterdam im Juni 1940. Quelle: NL-HaNA, Collectie Spaarnestad, Porsche, Sign. SFA 2020291. Abb. 11 Antrittsrede des Reichskommissars im Rittersaal zu Den Haag am 29. Mai 1940. Quelle: Beeldbank WO2 – NIOD, Sign. 57211.Handschriftlicher Abb. 12 Eintrag von Himmler im Gästebuch von Haus Clingendael. Quelle: RMA, Sign. NG-C-2006-1. Abb. 13 Festakt zum zehnjährigen Jubiläum der NSB in Utrecht (14. Dezember 1941).

Abbildungsverzeichnis

Abb. 14 Abb. 15

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Quelle: Beeldbank WO2 – NIOD, M.E.F. Sagers/N.V. Polygoon/V.N.J., Sign. 42025. Zeitgenössische Karikatur auf Seyß-Inquart und Mussert. Quelle: Atlas van Stolk, Rotterdam, Collectie Jordaan, Sign. 2332. Auszug aus der Verordnung über die Beschäftigung Deutscher in jüdischen Haushaltungen vom 19. Dezember 1940. Quelle: Verordnungsblatt für die besetzten niederländischen Gebiete, o.O. [Den Haag] 1940, S. 701. Abb. 16 Seyß-Inquart bei seiner Rede vom 12. März 1941 im Amsterdamer Concertgebouw. Quelle: Beeldbank WO2 – NIOD, Sign. 41802. Abb. 17 Androhung von Repressalien gegen die niederländische Zivilbevölkerung. Quelle: Beeldbank WO2 – NIOD, Sign. 104675. Abb. 18 Inspizierung des Reichsarbeitsdienstes am 13. Juli 1941. Quelle: Beeldbank WO2 – NIOD, Sign. 76682. Abb. 19 Zeitgenössische Karikatur zu Seyß-Inquarts Haltung zur Zwangsarbeit. Quelle: Beeldbank WO2 – NIOD, Sign. 182396. Abb. 20 Feierliche Eröffnung des Deutschen Theaters in Den Haag am 19. November 1942. Quelle: Beeldbank WO2 – NIOD, Sign. 50017. Abb. 21 Seyß-Inquart beim Besuch der Deutschen Schule in Heerlerheide am 22. November 1940. Quelle: NL-HaNA, Collectie Spaarnestad, ANP, Sign. SFA 222000561. Abb. 22 Seyß-Inquart bei seiner Rede in Amsterdam am 27. Juni 1941 (II). Quelle: Beeldbank WO2 – NIOD, Stapf Bilderdienst, Sign. 76345. Abb. 23 Der ‚Seyß-Inquart-Bunker‘ auf Gut Clingendael. Quelle: Haags Gemeentearchief, http://www.haagsebeeldbank.nl/, Fotobüro Thuring, Sign. 0.80955. Abb. 24 Seyß-Inquart unmittelbar nach der Festnahme in Hamburg. Quelle: Beeldbank WO2 – NIOD, Sign. 62072. Abb. 25 Lageplan des Hauptquartiers der Ersten kanadischen Armee auf Schloss Twickel. Quelle: Huisarchief Twickel, Inv.-Nr. 2986. Abb. 26 Seyß-Inquart im Nürnberger Gerichtssaal (4. Dezember 1945). Quelle: NL-HaNA, Best. 2.24.01.05, Inv.-Nr. 901-1910 (Lizenz CC-BY-SA). Abb. 27 Auszug aus Seyß-Inquarts handschriftlichem Brief an seine Mitangeklagten vom 20. Juli 1946. Quelle: ÖGZ-A, NL-61, DO 715, Mappe 338.

Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Arthur Seyß-Inquart

1.2 Veröffentlichte Schriften (in chronologischer Reihenfolge):

Weg und Ziel, in: Die Warte. Deutsche Blätter aus Österreich für Geschichte, Literatur und Wirtschaft 2 (1937), Folge 7, 1 f. Selbstverwaltung in der Ostmark, in: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht 6 (1939), H. 1 vom 1. Januar 1939, 9–11 Der Weg zum 11. März, in: Grenzbote. Deutsches Tagblatt für die Karpathenländer, 69. Jg., Folge 69 vom 11. März 1939, 5 Aus Anlass der Übernahme der Regierungsgewalt. Den Haag, 29. Mai 1940, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 7–12 1. Bericht über die Lage und Entwicklung in den besetzten niederländischen Gebieten. Berichtszeit 29. Mai bis 19. Juli 1940, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg, 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Bd. 26, Nürnberg 1947, Dok. PS-997, 413–429 Versammlung der AO der NSDAP. Den Haag, 26. Juli 1940, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 13–30 Das neue Europa – ein Ziel, kein Dogma! Geleitworte der Reichsminister Seyss-Inquart und Funk zur Utrechter Messe, in: Deutsche Zeitung in den Niederlanden vom 5. September 1940 Vorwort des Reichskommissars, in: Die Aktion. Kampfblatt für das Neue Europa, Holland-Sondernummer, 2. Jg., Oktober 1940, 1 Übernahme der AO in den Arbeitsbereich Niederlande der NSDAP (Teilwiedergabe). Utrecht, 27. Oktober 1940, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 34–36 Der Neuaufbau in Holland. Eine Unterredung mit Reichskommissar Dr. Seyß-Inquart, in: National-Zeitung vom 29. Oktober 1940 (R 8034/III-443, Bl. 57) Wie steht es in den Niederlanden? „VB.“-Gespräch mit Seyß-Inquart, in: Völkischer Beobachter vom 1. Dezember 1940 (BArch, R 4902/1499, Bl. 1063)

1. Arthur Seyß-Inquart

637

Zur geistigen und politischen Situation der Niederlande, in: Europäische Revue 17 (1941), 713 f. Antwort des Reichskommissars Reichsminister Dr. A. Seyß-Inquart, in: Nederlandsche Kultuur Kring. Rede des Vorsitzers Prof. Dr. G.A.S. Snijder, in der ersten Versammlung in ’s-Gravenhage, mit der Antwort des Reichskommissars Reichsminister Dr. A. Seyss-Inquart, Lübeck 1941, 20–22 Vor dem „Niederländischen Kultuurring“, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 31–33 Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP. Amsterdam, 12. März 1941, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 37–66 Rede des Reichskommissars Pg. Dr. Seyss-Inquart, gehalten am 12. März 1941 in Amsterdam, hrsg. vom Schulungsamt des Arbeitsbereiches der N.S.D.A.P. in den Niederlanden, Den Haag 1941 Rede van den Rijkscommissaris Rijksminister Dr. Seyss-Inquart, gehouden op Woensdag 12 Maart 1941 in het Concertgebouw te Amsterdam voor het Arbeitsbereich der N.S.D.A.P. in de Nederlanden, o. O. o. J. [1941] Wo steht die niederländische Landwirtschaft? NS.-Landpost-Interview mit dem Reichskommissar, Reichsminister Dr. Seyß-Inquart, in: NS.-Landpost vom 4. April 1941 Kundgebung auf dem Museumplein in Amsterdam am 27. Juni 1941, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 67– 79 Aus Anlass der 10. Jahresversammlung der NSB (Nationaal-Socialistische Beweging). Utrecht, 14. Dezember 1941, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 80–85 Toespraak van den Rijkscommissaris Reichsminister Dr. Seijss-Inquart, in: De veertiende december 1941 beslissend voor de toekomst van ons volk, Utrecht o. J. [1941], 16–22 Mit Adolf Hitler für das Neue Europa! Neujahrsaufruf des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete, in: Deutsche Zeitung in den Niederlanden vom 31. Dezember 1941, 1 Zum Geleit, in: Walter Söchting (Hrsg.): Das Niederlandbuch. Sammlung deutscher und niederländischer Arbeiten, Frankfurt a. M. 1942, V Zum Geleit, in: Volk und Reich. Politische Monatshefte 18 (1942), 315 f. Die politische Aufgabe des Reichskommissars, in: Reich – Volksordnung – Lebensraum. Zeitschrift für völkische Verfassung und Verwaltung 2 (1942), 9–14 Bruno Brehm zum 50. Geburtstag, in: Ernst Schremmer (Hrsg.): Buch des Dankes. Bruno Brehm zum fünfzigsten Geburtstag. Festgabe der sudetendeutschen Heimat im Auftrage des Gauleiters und Reichsstatthalters Konrad Henlein, Karlsbad/Leipzig 1942, 8–10 Blick auf die Niederlande, in: Völkischer Beobachter vom 1. Januar 1942 Über die kulturelle Aufgabe des Staates. Rede, gehalten anlässlich der Einsetzung des Niederländischen Kulturrates in Den Haag am 11.2.42, o. O. o. J. [1942] Zur Einrichtung des Niederländischen Kulturrates. Den Haag, 11. Februar 1942, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/ Wien 1944, 86–101

638

Quellen- und Literaturverzeichnis

Aus Anlass der Errichtung der Niederländischen Arbeitsfront. Den Haag, 1. Mai 1942, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/ Wien 1944, 102–106 Aus Anlass der 11. Jahresfeier der NSB. Amsterdam, 13. Dezember 1942, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 107– 113 Idee und Gestalt des Reiches, o. O. o. J. Zum Geleit, in: Westland. Blätter für Landschaft, Geschichte und Kultur an Rhein, Mosel, Maas und Schelde, hrsg. vom Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete Reichsminister Dr. Arthur Seyss-Inquart, Folge 1, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1943, [3] Zum 10. Jahrestag der Machtübernahme. Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP. Den Haag, 29. Januar 1943, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 114–126 An die Männer des Niederländischen Arbeitsdienstes. Arbeitsdienstappell, Leeuwarden, 4. April 1943, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 148–152 Zu Führers Geburtstag. Heerlen, 20. April 1943, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 153–162 Versammlung des Arbeitsbereiches der NSDAP. Hengelo, 19. Mai 1943, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 127– 147 Zur Vereidigung der Niederländischen Landwacht. Weert, 1. August 1943, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 163–169 Zum Erntedankfest. Groningen, 3. Oktober 1943, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 170–184 Unsere Aufgabe. Vortrag, gehalten auf der Befehlshabertagung in Bad Schachen am 12. Oktober 1943, hrsg. vom NS-Führungsstab des Oberkommandos der Wehrmacht („Nur für den Dienstgebrauch“), o. O. o. J. [1943] Zum 9. November. Utrecht, 7. November 1943, in: Arthur Seyß-Inquart: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 185–208 1944. Reichsminister Seyss-Inquart zum Jahreswechsel, in: Deutsche Zeitung in den Niederlanden vom 31. Dezember 1943 Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944 Antrittsrede des Präsidenten der Deutschen Akademie Reichsminister Dr. Arthur Seyss-Inquart, in: Deutsche Akademie: Reden aus Anlaß der Amtseinführung des Präsidenten der Deutschen Akademie Reichsminister Dr. Seyss-Inquart, o. O. o. J. [München 1944], 23–48 Zu Führers Geburtstag, Nimwegen, 20. April 1944, in: Ders.: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Amsterdam/Berlin/Prag/Wien 1944, 209–222 Worum es geht. Worte an die Führer der H.J. nach einer Ansprache in der Akademie für Jugendführung am 14. Juli 1944, o. O. 1944

1. Arthur Seyß-Inquart

639

Absolut sicher und gelassen. Reichsminister Seyss-Inquart über die militärische Situation in den Niederlanden […], in: Deutsche Zeitung in den Niederlanden, Jg. 5, Nr. 107 vom 30. September/1. Oktober 1944, 1 Ter opheldering. De visie van een Duitsch nationaal-socialist, in: Volk en Vaderland. Nationaal-socialistisch weekblad, 13. Jg., Nr. 1 vom 5. Januar („Louwmaand“) 1945, 1 Was nun? Fragen in ernster Stunde an das niederländische Volk, Rundfunkansprache des Reichskommissars Dr. Seyss-Inquart am 7. Januar 1945, o. O. o. J. [1945] Warum Nationalsozialismus?, Sonderdruck aus der „Deutschen Zeitung in den Niederlanden“ [vom 10./11. März 1945], o. O. o. J. [1945] Reichsminister Dr. Frick 65 Jahre, in: Deutsche Zeitung in den Niederlanden, Jg. 2, Nr. 277 vom 12. März 1945, 1 f. 1.2 Unveröffentlichte Manuskripte und Typoskripte (in chronologischer Reihenfolge):

Nationale Arbeit der Hochschüler (Brief an Egon) [„aus den Septembertagen 1910“], in: Ders.: Denkversuche [24. Oktober 1911], Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Arthur Seyß-Inquart, H.I.N. 205.784/14, Bl. 4–13 Oesterreichs Schicksalsstunde [8. April 1930], ÖStA/AdR, Gauakte Arthur Seyß-Inquart, Nr. 15547 Ist ein österreichisches Harzburg möglich? [1931], IfZ, IMG-Dok. PS-3630 Oesterreich – Ostmark. Vortrag gehalten im Wirtschaftsrat der Deutschen Akademie in Berlin am 12. Oktober 1938, BArch, N 1180/59 Gedanken zur Lage, o. O. o. J. [1943 oder 1944], IfZ, ED 18, Bd. 1 Über Religion und Weltanschauung [1945 oder 1946], ÖGZ-A, NL-96, DO 1105, Mappe 26 Einige Bemerkungen zur Lage. Im Juli 1945, ÖGZ-A, NL-61, DO 678, Mappe 152 Denkschrift ueber die Taetigkeit des Reichskommissars fuer die besetzten niederlaendischen Gebiete [2. Oktober 1945], ÖGZ-A, NL-61, DO 714, Mappe 335a Embargo auf dem Iysselmeer, Nürnberg, 13. November 1945, ÖGZ-A, NL-61, DO 714, Mappe 336 Das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen [Juli 1945], ÖGZ-A, NL-61, DO 678, Mappe 152 Zelle 14 [8. Juli 1946], ÖGZ-A, NL-61, DO 678, Mappe 152 Der deutsche Weg [18. August 1946], ÖGZ-A, NL-61, DO 678, Mappe 152 Schlussausfuehrungen des Angeklagten Dr. Arthur Seyss-Inquart [23. August 1946], ÖGZ-A, NL61, DO 677, Mappe 148a The German Right of Self-Determination, handed to Mr. Dodd on the 8th September 1945, BArch, All.Proz. 2 F/20/926 K (Rolle 111, FC 6172 P) Ein Nachwort, Nürnberg [4., 10., 22. und 28. September 1946], ÖGZ-A, NL-61, DO 678, Mappe 152 und ebd., DO 714, Mappe 336 Verteidigungsschema. Materialien zum eigenen Beweisvorbringen. Herrn Dr. Gilbert zur Erinnerung an Angeklagten Zelle Nr. 14 [9. September 1946], NL-HaNA, 2.14.08/1158, Bl. 53–95

640

Quellen- und Literaturverzeichnis

2. Andere Manuskripte und Typoskripte

Antwoord aan Seyss-Inquart, o. O. o. J. [Januar 1945], NIOD, Coll. illegale pamfletten en brochures, IP 6.37 (Mikrofiche 24) Best, Werner: Die deutschen Aufsichtsverwaltungen in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Norwegen, Dänemark und im Protektorat Böhmen und Mähren. Vergleichende Übersicht von Ministerialdirektor Dr. Werner Best, Kriegsverwaltungschef, o. O. o. J. [1941], KB, Sign. 984C17 Cleveringa, Rudolph: Rede van Prof. Dr. Cleveringa, namens de Juridische Faculteit als decaan gehouden naar aanleiding van het ontslag van Prof. Mr. E. M. Meyers als Hoogleeraar aan de Rijksuniversiteit te Leiden op dinsdag 26 nov[ember] 1940, NIOD, Coll. Illegale pamfletten en brochures, 28.2 (Mikrofiche 68) Hirschfeld, Hans Max: Verantwoordelijkheid van Dr. A. Seyss Inquart e[n] a[nderen], NIOD, Coll. Doc. I, 1564, Mappe B, Anlage XXVII Linge, Heinz: Hitlers Terminkalender, IfZ, F 19 Rabl, Kurt O.: Die Verwaltung in den besetzten niederländischen Gebieten. Grundlagen und bisherige Ergebnisse, BArch, R 83 Niederlande/39 (Film 76870) Rajakowitsch, Erich: Zusammenfassende Darstellung der Entwicklung bezüglich Hortung des jüdischen Vermögens, SWA, Mappe Erich Rajakowitsch 23 Snijder, Geerto Aeilko Sebo: Gesprekken met Seyss-Inquart, NIOD, 463, Kart. 1, Mappe GAS Snijder Steinbauer, Gustav: Zur Frage der Auslieferung der Kriegsverbrecher an Oesterreich, NIOD, Coll. Doc. I, 1564, Mappe B Wat nu …? Een bange vraag voor velen, doch niet voor ons!, o. O. o. J. [1945], NIOD, Coll. illegale pamfletten en brochures, IP 6.34 (Mikrofiche 24) 3. Sonstige unveröffentlichte Quellen Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (Amsterdam): Jan van Zutphen: 40c Henk Sneevliet: 683 NIOD. Instituut voor Oorlogs-, Holocaust- en Genocidestudies (Amsterdam): Coll. Affiche/Lithografie: 1202 Coll. BDC (Berlin Document Center): H 570 Coll. Doc. I, vorläufige Signatur: Aanwinst 1879 Coll. Doc. I, 248-0476 (Richard Herman Robert Franz Fiebig): a2 Coll. Doc. I, 248-0638A (Dr. Hermann Harster): a2 Coll. Doc. I, 1564 (Dr. Arthur Seyß-Inquart) Coll. Doc. II, 708 (Rijkscommissariaat) Coll. 556 (Oorlogskranten) KA (Knipselcollectie) I: 3403, 3407, 3408, 3409, 3410, 3411, 3412 1 (Wehrmachtbefehlshaber in den Niederlanden): 11, 12

3. Sonstige unveröffentlichte Quellen

641

14 (Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete): 91, 99, 100, 101, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 129, 141, 146, 232 20 (Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz) 24, 102, 227, 297, 334, 368, 419, 453, 457, 460, 465, 487, 586, 595, 602, 608, 614, 616, 633, 701, 707, 740, 760, 768, 818, 1048, 1072, 1381, 1410, 1412, 1485, 1517, 1541, 1545, 1561, 1795, 1815, 1936, 2302, 2111, 2121, 2227, 2316, 2386, 2390, 9128, 9132, 9137, 9151, 9157 39 (Generalkommissariat für Finanz und Wirtschaft): 2216, 2297 77 (Generalkommissariat für das Sicherheitswesen [Höherer SS- und Polizeiführer NordWest]): 21, 1181, 1182, 1264 86 (Beauftragte des Reichskommissars): 434 91 (Deutsche Krankenkasse für die Niederlande): 9a 93a (Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg): 51 123 (Nationaal-Socialistische Beweging): 113, 216, 252, 253, 816, 976 169-170 (Rost van Tonningen): 95/81656-67 183 (College van Vertrouwensmannen der Nederlandschen Regeering 1944–1945): 88, 92, 101, 102, 105, 106, 107, 110, 113 185a (Vrij Nederland): 74 186 (Nationaal Comité): 1 B 59, 15 K 205j (Collectie gevangenissen en kampen): 5 206 (Speciaal Best. Moskou – Osobyi): 700-1-41, 700-1-67, 700-1-83 210 (Berlin Document Center): H 218 211 (Göring, H. W.) 212a (H. M. Hirschfeld): 2d, 2e 265 (Rosenberg Files): 12 266 (Office of Chief of Counsel for Warcrimes – Berlin Document Center): BBT 720, BBT 2914 (NG-2631), BBT 3021 (NG 365), BBT 3134 (NG 1233) 267 (International Military Tribunal Neurenberg): 109 270d (Proces Rajakowitsch) 463 (Collectie In ’t Veld) Rijksmuseum Amsterdam: NG-C-2006-1 Bundesarchiv Berlin: Ehem. BDC: DS, Sammelliste 65 Ordner 993, Dr. Hans Schneider 15.12.1909 (Slg. „Research“) PK, L 258 SSO Arthur Seyß-Inquart (Slg. „Research“) SS-HO 1771 (Slg. „Research“) SS-HO 1776 (Slg. „Research“) SS-HO 5624 (Slg. „Research“) NS 6 (Partei-Kanzlei der NSDAP): 352, 335

642

Quellen- und Literaturverzeichnis

NS 10 (Persönliche Adjutantur des Führers und Reichskanzlers): 65 NS 19 (Persönlicher Stab Reichsführer-SS): 836, 1501, 1543, 1549, 1550, 1556, 1558, 1696, 1983, 1986, 1993, 1997, 2429, 2520, 2860, 3167, 3363, 3364, 3403, 3519, 3565 R 43 II (Neue Reichskanzlei): 140, 606, 647, 647b, 675, 675a, 677, 1232a, 1340, 1463, 1463a R 52 II (Kanzlei des Generalgouvernements): 174, 175, 176, 177, 225 R 62 (Geschäftsführende Reichsregierung Dönitz): 9, 11a R 177 (Feindvermögensverwaltung in den besetzten Niederlanden): 203 R 901 (Auswärtiges Amt): 48008, 58953 R 1501 (Reichsministerium des Innern): 7938 R 4902 (Deutsches Auslandswissenschaftliches Institut): 1499 R 8034 (Reichslandbund): III-443 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Berlin): Vl. HA NL Schnee, H.: 36 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin): R (Auswärtiges Amt des Deutschen Reiches): 27510, 27630, 27632, 27666, 29678, 99208, 99310, 99428, 99429, 100857, 100876, 101102, 101338, 102895, 103450, 103801 Nationaal Archief (Den Haag): 2.02.05.02 (Raad van Ministers): 388 2.05.117 (Code-Archief van het Ministerie van Buitenlandse Zaken): 6659 2.05.87 (Ministerie van Buitenlandse Zaken na de bevrijding: Tweede Haags Archief ): 517 2.09.16 (Nederlands Beheer Instituut): 524 2.09.56 (Ministerie van Justitie: Waarnemend Secretaris-Generaal en Raadadviseur, mr. J. P. Hooykaas): 60 2.11.23.02 (Rijksbureau voor de Voedselvoorziening in Oorlogstijd, Afdeling Algemene Zaken): 172 2.13.91 (Ministerie van Defensie): 355 2.14.08 (Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie): 94, 157 2.21.183.83 (Collectie jhr. mr. A. W. L. Tjarda van Starkenborgh Stachouwer): 6 The National Archives (Kew): CAB (The Cabinet): 195/3, 66/51/45 FO (Foreign Office): 1019/44 GFM (German Foreign Ministry): 33/2726 Bundesarchiv Koblenz: All.Proz. (Alliierte Prozesse): 2 F/20/883 K (Rolle 68, FC 6128 P), 2 F/20/926 K (Rolle 111, FC 6172 P) N 1128 (Nachlass Adolf Hitler): 23 N 1180 (Nachlass Arthur Seyß-Inquart): 1, 2, 3, 21, 25, 26, 50, 51, 53, 56, 58, 62 ZSg. 103 (Presseausschnitt-Sammlung Lauterbach): 5515, 5519, 8644 ZSg. 117 (Presseausschnitt-Sammlung Hauptarchiv der NSDAP): 1248 Institut für Zeitgeschichte (München): ED 18, ED 34, ED 116

3. Sonstige unveröffentlichte Quellen

643

Fd 40 Fh 51 G 01 IMG-Dokumente: NG-049, NG-365, NG-1441, NG-1475, NG-1477, NG-1492, NG-2350, NG-4294, NG-4619, NG-5078, NO-481, NO-1336, NO-5322, PS-091, PS-1163, PS-3393, PS-3594, PS-3649, PS-3653 OMGUS: ISD, 5/261-3/20 ZS 300 Státní okresní archiv Olomouc (Olmütz/Olomouc): Německé státní gymnazium, M 5-34: 85, 86, 87, 89 Všeobecná pětitřidní chlapecká obecná škola německá v Olomouci: M 5-15/3 Erich Maria Remarque-Friedenszentrum (Osnabrück): A7 1941.23.08 A7 1941.18.08 A7 1943.02.06 Library and Archives Canada – Bibliothèque et Archives Canada (Ottawa): PA-134423, PA-176572 Het Utrechts Archief (Utrecht): 1423 (Archief van de Synode en de Algemene Synodale Commissie van de Nederlandse Hervormde Kerk): 2150, 2152, 2154, 2155, 2156, 2180 Instytut Pamięci Narodowej (Warschau): GK 159/95 Narodowe Archiwum cyfrowe (Warschau): 2-3476 Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Wien): A 974/264 Archiv der Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte (Wien): NL-61/Gustav Steinbauer: DO 674, DO 677, DO 678, DO 701, DO 713, DO 714, DO 715, DO 716, DO 717 NL-96/Jules Huf: DO 1102, DO 1103, DO 1105, DO 1113 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Wien): 12638, 21065/71, 21561/6a, 21561/7, 21688/7, 23042/1, 50000 Österreichische Nationalbibliothek (Wien): Bildarchiv Austria: S 49/39 Sammlung der Handschriftensammlung, Nachlässe und Autografen: Autogr. 514/3-1, Autogr. 1019 Musiksammlung: F 68 Pfitzner 867/1, F 68 Pfitzner 2118/67 Österreichisches Staatsarchiv/Allgemeines Verwaltungsarchiv (Wien): Justizministerium I, Fundbuch 134 Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik (Wien): Gauakte Arthur Seyß-Inquart

644

Quellen- und Literaturverzeichnis

Ministerkorrespondenz Seyss-Inquart, 84b, 85 Bundeskanzleramt, Präsidium, Korrespondenz 1924-1940 Bundeskanzleramt, Präsidium, MG, 150789-I/1938 Simon Wiesenthal Archiv. Dokumentationszentrum des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes (Wien): Mappe Erich Rajakowitsch Universitätsarchiv Wien: Promotionsprotokoll der Juridischen Fakultät, M 32.8, Nr. 342 Wienbibliothek im Rathaus (Wien): Tagblattarchiv, TP 2448 Wiener Stadt- und Landesarchiv (Wien): Personalakten des Gaues Wien 31.205: Arthur Seyß-Inquart Volksgericht beim Landesgericht für Strafsachen Wien: A1, Vg 1 Vr 7447/47, Arthur Seyß-Inquart 4. Periodika und Filme Algemeen Handelsblad Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialistischen Partei Österreichs Arnhemsche Courant Baseler Nachrichten B.B.C. Berliner Lokal-Anzeiger Brüsseler Zeitung Bukarester Tageblatt Dagblad van Rotterdam De Banier. Staatkundig Gereformeerd Dagblad De Courant. Het Nieuws van den Dag De Nederlander De Residentiebode De Rotterdammer De Telegraaf De Tijd. Dagblad voor Nederland De Unie de Volkskrant De Waarheid. Volksblad in Nederland De Westlander Delftsche Courant Der Standard Deutsche Allgemeine Zeitung

Deutsche Zeitung in den Niederlanden Deutsches Volksblatt Die Warte. Deutsche Blätter aus Österreich für Geschichte, Literatur und Wirtschaft Die Welt Doesburgsche Courant Elseviers Weekblad Frankfurter Zeitung Grazer Volksblatt Hamburger Fremdenblatt Hamburger Nachrichten-Blatt Hamer Het Joodsche Weekblad Het Nationale Dagblad Het Nieuwsblad van het Noorden Het Parool Het Vaderland. Staat- en Letterkundig Nieuwsblad Het Volk. Socialistisch Dagblad Het Vrije Volk. Democratisch-Socialistisch Dagblad Keesings Historisch Archief Kieler Nachrichten-Blatt der Militärregierung Krakauer Zeitung

5. Sonstige gedruckte Quellen, Quelleneditionen und Memoiren

Kroniek van de Week Kurier Mährischer Grenzbote Mitteilungen des Verbandes deutsch-arischer Rechtsanwälte Österreichs Nationalzeitung (Basel) National-Zeitung (Essen) Nederland in Oorlogstijd Neue Freie Presse Neue Zürcher Zeitung Neues Österreich. Organ der demokratischen Einigung New York Herald Tribune nieuw israelietisch weekblad Nieuwe Rotterdamsche Courant Nieuwe Venlosche Courant Nieuwsblad van Friesland Nieuwsblad van het Noorden Nieuwsbulletin van „Klein maar dapper“ Österreichische Volksstimme Polygoon Hollands Nieuws

645

Radio Oranje. Orgaan voor Strijdend Nederland Reichspost. Unabhängiges Tagblatt für das christliche Volk Rheinische Landeszeitung Rotterdamsch Nieuwsblad Strassburger Neueste Nachrichten Tages-Post The Times Tiroler Anzeiger Trouw. Speciale uitgave voor de Zaanstreek Utrechtsch Nieuwsblad Utrechtsche Courant Veritas. Dagblad voor Delft en omstreken VN-Nieuws. Speciaal Bulletin van Vrij Nederland Volk en Vaderland Völkischer Beobachter Vrijheid Warschauer Zeitung Wiener Neueste Nachrichten Wiener Zeitung

5. Sonstige gedruckte Quellen, Quelleneditionen und Memoiren Akademische Sektion „Wien“ des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (Hrsg.): Festschrift zur Feier des 40-jährigen Bestandes der Akademischen Sektion „Wien“ des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, Wien o. J. [1928] Akademische Sektion Wien des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (Hrsg.): Jahresbericht für d[as] Jahr 1920, in: Mitteilungen d[er] Akad[emischen] S[ektion] Wien d[es] Deutsch[en] u[nd] Österr[eichischen] Alpenvereines, 22. Jahrgang, o. O. [Wien] 1921, Nr. 1 Akademische Sektion Wien des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (Hrsg.): Jahresbericht für das Jahr 1923, in: Mitteilungen der Akademischen Sektion „Wien“ des Deutsch[en] u[nd] Österr[eichischen] Alpenvereins, 25. Jahrgang, o. O. [Wien] 1924 Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP. Rekonstruktion eines verlorengegangenen Bestandes. Regesten, Teil I, bearb. von Helmut Heiber, 2 Bde., München u. a. 1983, Teil II, bearb. von Peter Longerich, 2 Bde., München u. a. 1992 Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945. Aus dem Archiv des Auswärtigen Amts, Serie C: Das Dritte Reich: Die Ersten Jahre, Bd. 5.1: 5. März bis 25. Mai 1936, Göttingen 1977; Serie D (1937–1945), Bd. 1: Von Neurath zu Ribbentrop (September 1937 – September 1938),

646

Quellen- und Literaturverzeichnis

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5. Sonstige gedruckte Quellen, Quelleneditionen und Memoiren

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6. Interviews und Korrespondenz

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Register

A Aalders, Gerard 223, 262, 264 Alberti von Enno, Albrecht 35 Alderman, Sidney S. 630 Althaus, Ernst 226 Aly, Götz 447 Amann, Max 199, 517 Andrus, Burton C. 576, 577, 615 Arendt, Hannah 629 Atherton, Henry K. 580 Attlee, Clemens R. 577 Augustinus 591 Aus der Fünten, Ferdinand 353 Aust, Herbert 161 B Backe, Herbert 568 Baelde, Robert 390 Bakels, Floris Bertold 180 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 457 Barth, Karl 257 Barwirsch, Joseph Franz 522, 523 Bauer, Hans 366 Bebel, August 457 Bechinie, Ludwig 50 Bedell Smith, Walter 562, 563 Beiglböck, Wilhelm 585 Békessy, János 35 Bene, Otto 21, 22, 23, 92, 132, 133, 134, 153, 174, 177, 240, 243, 266, 286, 290, 293, 309, 334, 349, 354, 364, 370, 404, 406, 443, 536 Bennekers, Christoffel 390 Benzler, Felix 133 Berber, Friedrich 531 Berger, Gottlob 147, 148, 149, 150, 158, 160, 162, 173, 286, 303, 306, 319, 501

Berger, Peter 239 Best, Werner 18, 121, 164, 215, 216, 233, 355, 570, 589 Bethmann, Walter Ludwig 133, 139, 141, 467 Bichelonne, Jean 476 Blaskowitz, Johannes 552, 553, 560, 561, 565, 571 Blomquist, Wilhelm 154 Blum, Léon 118 Bockamp, D. 441 Bodenschatz, Karl 119 Boeke, Julius Herman 507 Boere, Heinrich 397 Bohle, Ernst-Wilhelm 173, 174, 175, 403, 404, 406 Böhmcker, Hans 332, 344, 348, 349, 350, 352, 370, 372 Böhme, Franz 49 Bolle, Arved H.C. 104 Bormann, Martin 119, 128, 129, 130, 131, 132, 143, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 162, 163, 164, 165, 167, 174, 176, 177, 194, 203, 246, 260, 281, 283, 286, 289, 299, 301, 310, 343, 367, 368, 369, 424, 425, 449, 453, 459, 477, 501, 515, 522, 524, 525, 545, 559, 568, 569, 570, 579, 581, 608, 619, 622 Botz, Gerhard 58 Bouhler, Philipp 516 Brandt, Karl 576 Brandt, Rolf 534 Brehm, Bruno 211 Breitenthaler, Karl 52 Breker, Arno 515 Brentano, Clemens 591 Breunese, Jacob Nicolaas 464, 466

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Register

Brunner, Alois 581 Bühler, Albert 420 Bühner, Friedrich 315 Büler, Alfred 329 Bürckel, Joseph 56, 57, 59, 67, 111, 117, 617 Butting, Otto 173 C Cahn, Ernst I. 78, 80 Calmeyer, Hans Georg 338, 342, 348, 372 Calvin, Johannes 610 Carp, Johan Herman 192, 283, 284, 285, 289, 293, 302 Christiansen, Friedrich 79, 92, 94, 95, 96, 123, 126, 135, 139, 140, 145, 178, 180, 198, 262, 264, 269, 309, 385, 387, 390, 392, 402, 448, 466, 508, 539, 542, 543, 544, 545, 546, 547, 550, 551, 553, 558, 561, 571 Churchill, Winston 560 Cleveringa, Rudolph 82, 409, 506, 507 Clodius, Carl 423 Codreanu, Corneliu Zelea 111 Cohen, Adolf Emile 109, 132 Colijn, Hendrikus 72, 73, 74, 212, 213, 214, 240, 418 Colijn-Groenenberg, Helena 240 Conring, Hermann 99, 348 Coolen, Antoon 199 Crerar, Henry Duncan Graham 575 Croïn, Constant Charles Adolphe 266, 267, 268, 270, 271 D Daluege, Kurt 445, 542 De Bock, Lodewijk Alexander Cornelis 141, 465, 467 De Bönninghausen, Ernst 228 De Bruijn, Adrianus Cornelis 247 Debusmann, Ernst-Rüdiger 161 De Jong, Johannes 261, 265, 444, 468, 512

De Jong, Louis 20, 109, 111, 129, 362, 478, 512, 556, 563, 573 De Joode, Albert 242 De la Fontaine, Marietta 492 De Marchant et D’Ansembourg, Maximilianus Graf 232, 233, 282 De Monchy, Salomon Jean René 75 Deppner, Erich 397 De Quay, Jan Eduard 236, 238, 239 De Rijke, Wilhelmus 179 De Ruyter van Steveninck, Raimond Nazaire 507 De Spinoza, Baruch 81 De Vlugt, Willem 228 De Vos van Steenwijk, Jacob Evert Baron 228 De Wilde, Jacob Adriaan 72 Dietrich, Otto 119 Dietrich, Sepp 581 Dodd, Thomas J. 579, 594, 611 Dolibois, John E. 576 Dollfuß, Engelbert 37, 39, 593 Domarus, Max 111 Dönitz, Karl 14, 534, 553, 563, 565, 568, 569, 570, 571, 572, 573 Dorpmüller, Julius 139 Dulles, Allen W. 563 E Eichmann, Adolf 264, 347, 353, 354, 360, 363, 373, 629 Eigruber, August 436, 454 Einthoven, Louis 235, 238, 239 Eisenhower, Dwight D. 560, 561, 562, 563, 584 Ekker, Evert 465 Engelbrecht, Willem Bernard 272 Engels, Friedrich 457 Eskelhoff Gravemeyer, Kuno Henricus 262, 264

Register

F Faber, Klaas Carel 397 Faure, Edgar 91 Feenstra, Jacob Eduard 316 Fegelein, Hermann 546 Feldmeijer, Johannes Hendrikus 148, 297, 298, 301, 302, 304, 309, 310, 396, 397 Fentener van Vlissingen, Frederik Hendrik 248 Fichte, Johann Gottlieb 517 Fiebig, Richard 133, 135, 431, 450, 451, 452 Fischböck, Hans 49, 56, 60, 128, 129, 165, 166, 170, 178, 328, 329, 330, 331, 332, 348, 366, 367, 411, 415, 417, 420, 423, 427, 433, 436, 438, 440, 470, 473, 542, 622 Flesche, Alfred 331 Florian, Friedrich Karl 539 Forster, Albert 61, 197, 613 Foulkes, Charles 562 Fraenkel, Ernst 144 Frank, Anne 596 Frank, Hans 23, 61, 63, 66, 67, 68, 69, 113, 117, 120, 127, 130, 132, 143, 163, 173, 183, 199, 207, 264, 325, 360, 446, 454, 459, 460, 516, 577, 613, 617 Frank, Karl Hermann 126, 163, 164, 360, 534, 553, 570, 624 Franzen, J. W. 377 Franziskus I., Papst (Jorge Mario Bergoglio) 614 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich-Ungarn 31 Franz von Anjou, Herzog 159 Franz von Assisi 591 Frederiks, Karel Johannes 194, 230, 242, 324, 340, 433, 435 Freisler, Roland 185 Frick, Wilhelm 17, 50, 60, 142, 143, 144, 163, 347, 521, 577, 601 Friedrichs, Helmuth 149, 176, 279

683

Fritzsche, Hans 458, 553, 587, 588 Fuld, Edgar 331 Fullriede, Fritz Wilhelm 385 Funk, Walther 420, 421, 423, 445, 568 G Gayda, Virginio 111 Gerbrandy, Pieter Sjoerd 103, 560 Gerö, Josef 581, 582 Gerthoffer, Charles 86, 437 Giesler, Paul 515, 517, 568 Gilbert, Gustave M. 601, 602, 603 Glaise von Horstenau, Edmund 24, 40, 45, 46, 49, 56, 585 Globocnik, Odilo 45, 65 Goebbels, Joseph 23, 51, 80, 98, 100, 101, 143, 167, 254, 285, 365, 425, 434, 445, 477, 482, 489, 493, 494, 495, 497, 515, 516, 517, 518, 519, 521, 530, 534, 568, 569, 622, 626 Goedewaagen, Tobie 221, 224, 252, 253, 255, 295, 490, 492, 497 Göring, Hermann 14, 45, 46, 47, 48, 50, 54, 60, 67, 87, 114, 116, 118, 127, 132, 133, 355, 363, 369, 385, 414, 415, 416, 417, 419, 422, 425, 428, 429, 430, 431, 435, 438, 439, 445, 446, 447, 448, 449, 450, 454, 455, 460, 471, 472, 473, 476, 482, 484, 522, 581, 589, 604, 612, 622, 626 Greiser, Arthur 17, 61, 143, 183, 613 Grillparzer, Franz 30 Grohé, Josef 127, 172 Grote, Friedrich Franz Graf 146, 147 Grotius, Hugo 220 Guignand, Francis W. 562 Gürtner, Franz 182 Gutterer, Leopold 492, 515 H Habicht, Theodor 35, 38 Hácha, Emil 111

684

Register

Hagemann, Walter 417 Halder, Franz 115 Hammarskjöld, Hjalmar 407 Hamsun, Knut 494, 591 Hamsun, Marie 495 Hanke, Karl August 568 Hannema, Dirk 461, 494, 495, 506 Harster, Herrmann 109, 177, 575 Harster, Wilhelm 269, 271, 352, 353, 360, 370, 389, 390 Haushofer, Karl 515 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 517 Heigel, Paul 36, 534 Heinemann, Friedrich Wilhelm 542 Heinisch 574, 575 Heißmeyer, August 156, 157, 158, 160, 162 Hellwig, Werner 245 Henlein, Konrad 111, 211 Herder, Johann Gottfried 517 Herweyer, Willem Arie 251, 252, 289 Heß, Rudolf 45, 50, 128, 165, 174, 605 Heydrich, Reinhard 61, 64, 67, 114, 186, 240, 347, 350, 363, 371, 372, 400, 403, 405, 501, 523, 589, 602, 606 Hierl, Konstantin 139, 140, 141 Hilberg, Raul 363 Himmler, Heinrich 14, 17, 23, 46, 50, 58, 61, 64, 65, 67, 78, 80, 92, 93, 95, 96, 98, 101, 111, 112, 113, 114, 116, 118, 128, 129, 130, 131, 132, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 165, 173, 176, 177, 186, 187, 188, 193, 203, 205, 206, 211, 239, 243, 260, 268, 275, 277, 287, 288, 289, 294, 296, 297, 298, 299, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 314, 315, 316, 318, 319, 342, 343, 347, 352, 364, 365, 367, 369, 372, 373, 374, 377, 379, 380, 381, 388, 389, 393, 396, 397, 398, 399, 400, 401, 406, 425, 441, 447, 448,

453, 454, 459, 501, 502, 515, 521, 522, 523, 524, 537, 538, 540, 541, 542, 543, 544, 545, 546, 548, 555, 559, 563, 564, 571, 579, 589, 590, 594, 601, 602, 606, 608, 617, 620, 622, 626, 629 Hirschfeld, Gerhard 20, 203, 332 Hirschfeld, Hans Max 103, 105, 214, 217, 224, 236, 248, 292, 415, 424, 433, 452, 473, 553, 554, 555, 556, 562, 563 Hitler, Adolf 13, 14, 15, 17, 18, 27, 35, 39, 42, 43, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 63, 66, 69, 70, 72, 74, 75, 76, 77, 80, 92, 93, 94, 95, 96, 98, 111, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 121, 122, 123, 126, 127, 128, 129, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 143, 146, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 157, 163, 164, 166, 167, 169, 171, 172, 176, 178, 183, 194, 195, 197, 201, 203, 204, 207, 210, 212, 216, 220, 226, 239, 240, 242, 243, 244, 246, 256, 260, 275, 276, 279, 280, 281, 282, 283, 285, 287, 288, 289, 290, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 303, 306, 307, 308, 310, 311, 319, 325, 330, 355, 358, 359, 364, 365, 369, 370, 371, 381, 386, 387, 392, 396, 397, 398, 399, 402, 403, 406, 409, 414, 416, 421, 422, 435, 441, 443, 445, 447, 448, 449, 450, 451, 454, 455, 459, 463, 464, 471, 472, 473, 476, 482, 499, 501, 503, 504, 514, 515, 516, 521, 522, 523, 524, 525, 526, 528, 532, 533, 534, 535, 536, 539, 540, 541, 542, 543, 544, 545, 546, 548, 549, 550, 551, 552, 553, 558, 559, 563, 567, 568, 569, 570, 571, 585, 589, 593, 594, 599, 601, 602, 604, 605, 606, 608, 617, 620, 621, 622, 623, 624, 625, 626, 627, 629, 630 Hoegner, Wilhelm 616 Hoffmann, Ernst 523 Hoffmann, Gabriele 255 Hoffmann, Heinrich 22, 454 Höhn, Reinhard 355 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 591

Register

Holz, Gebhard 170 Hooykaas, Johannes Petrus 179, 191, 433 Hoßbach, Friedrich 47 Hudal, Alois 610, 611, 613, 614 Hueber, Franz 56 Huebner, Friedrich Markus 492 Huf, Jules 21 Huizinga, Johan 210, 386, 407, 408, 409 Huizinga, Leonhard 210 Huizinga-Schölvinck, Auguste 408 Hunke, Heinrich 515 Hunna, Emmerich 584 Hupfauer, Theodor 568 I Ibsen, Henrik 32 In ´t Veld, Joris 228 In ´t Veld, Nanno Klaas Charles Arie 134, 296 Ispert, Wolfgang 501 Israëls, Jozef 461 J Jackson, Robert H. 582 Jacobi, Kurt 231 Janke, Willi 238, 254, 498 Jankuhn, Herbert 514 Jansa, Alfred 49 Jansens, Saskia 402 Jansonius, Jan Louis 310 Jerger, Wilhelm 493 Jochum, Eugen 494 Jodl, Alfred 539, 571, 587 Joëls, Michel 75 Johst, Hanns 515 Jordaan, Leendert Jurriaan 291 Juliana, Kronprinzessin der Niederlande 74, 157 Jury, Hugo 56, 163, 493 K Kallen, Gerhard 514

685

Kaltenbrunner, Ernst 46, 52, 298, 454, 523, 574, 581, 582, 585, 587, 602 Kammler, Hans 158 Kant, Immanuel 517 Kantor, Siegfried 36 Kauffmann, Hans 514 Kauffmann, Kurt 585 Keitel, Wilhelm 48, 187, 188, 387, 402, 429, 521, 544, 546, 548, 571, 587 Keller, Gottfried 591 Kelley, Douglas M. 603, 604 Kemper, Wilhelm 161 Keppler, Wilhelm 46, 47, 49, 56, 57, 441 Kerrl, Hanns 260 Kershaw, Ian 17 Kersten, Gerrit Hendrik 258 Klausner, Hubert 45, 51 Klebel, Ernst 36 Kleffel, Philipp 552 Klemann, Hein 323, 413, 418, 426, 438, 451 Klopfer, Gerhard 355 Knappertsbusch, Hans 493 Knepflé, G.A. 616 Knoblauch, Kurt 260 Knolle ,Friedrich 268, 298, 390 Koch, Erich 127, 454 Kogon, Eugen 78 Kohn, Alfred 78, 80 Koot, Henri 400 Kornauth, Egon 31, 491, 495 Koselleck, Reinhart 620 Kramsall, Karl 622 Kranenburg, Roelof 407 Kretzschmann, Max 428 Kroiß Rudolf, 168, 199, 422, 589 Krüger, Friedrich-Wilhelm 64, 130 Krug, Karl 187, 453 Krupp von Bohlen und Halbach, Gustav 515, 579 Kühn, Ernst 328 Kuipers-Rietberg, Helena 258

686

Register

Kunze, Hildegard 373 Kunze, Walter 518 Kupers, Evert 247 Kwiet, Konrad 20, 108, 114, 198, 283, 621 L Lages, Willy 349 Laman Trip, Albert Dominicus 76 Lammers, Hans Heinrich 69, 119, 136, 137, 138, 143, 154, 155, 163, 164, 172, 194, 226, 246, 279, 281, 283, 288, 289, 299, 406, 425, 459, 515, 544, 545, 546, 549, 622 Landfried, Friedrich 333 Lange, Hans 178, 454 Langoth, Franz 35, 45, 52 Lasch, Karl 458, 459 Laurentius, Victor 206 Lehmann, Rudolf 355 Leibnitz, Gottfried Wilhelm 517 Lennhoff, Eugen 24 Lentz, Jacobus Lambertus 219, 623 Leopold, Josef 44, 45, 46, 48, 51 Lessing, Gotthold Ephraim 517 Ley, Robert 247, 260, 521, 568, 579, 620 Liese, Hermann 477, 478, 479, 482 Lijphart, Arend 234, 235 Likus, Rudolf 282 Linthorst Homan, Johannes 236, 238, 239 Lohmann, Walter 47 Lohse, Hinrich 127 Longerich, Peter 362 Lorenz, Werner 151, 199 Louwes, Stephanus Louwe 103, 105, 554, 555, 561 Lucardie, W. J. 272 Lüdde-Neurath, Walter 569, 570, 571 Luther, Martin (Auswärtiges Amt) 132, 244, 309, 354, 363 Luther, Martin (Reformator) 610

M Mannheimer, Fritz 454, 458 Marx, Karl 457 May, Robert 331 Mazower, Mark 526 Menghin, Oswald 45, 56 Miklas, Wilhelm 41, 588 Mitchell, William L. 583 Mobiltz, Ruth 580 Mojert, Paul Heinrich 332, 420 Moll, Martin 123, 221 Montgomery, Bernard L. 562, 572, 574 Moses 561 Mosley, Oswald 111 Mozart, Wolfgang Amadeus 492, 493 Muckermann, Friedrich 609 Mühlmann, Kajetan 67, 166, 169, 204, 435, 453, 454, 455, 456, 460, 461, 622 Müller, Fredrik Ernst 105, 232, 289, 302, 313, 314, 316, 506, 556 Müller, Heinrich 137, 138, 316, 523, 556 Müller-Lehning, Hans Werner 241, 280 Münster, Walter 128, 330, 542 Mussert, Anton Adriaan 111, 139, 140, 153, 156, 166, 192, 236, 243, 245, 257, 260, 271, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 318, 319, 320, 366, 425, 426, 442, 443, 450, 460, 461, 466, 538, 554, 618, 620 Mussolini, Benito 39 Müthel, Lothar 493 N Napoleon Bonaparte 213 Naumann, Erich 188, 266, 380, 395, 396 Naumann, Werner 568 Nebig, Max 78

Register

Neubacher, Hermann 35, 45 Neuman, Johannes Hendricus 19, 20, 399, 613 Neumann, Erich 423 Neumann, Franz 143 Neumayer, Rudolf 56 Nicolai, Otto 493 Nikitchenko, Ion Timofeevich 579 Nockemann, Hans Emil 74, 75 Nufer, Wolfgang 494 O O’Connor, Sixtus 591, 607, 611, 613, 614, 615 Op ten Noort, Julia A. 161 Oud, Pieter Jacobus 171 Overy, Richard J. 415 P Paulsen, Peter 67 Pausinger, Josef 541 Pembaur, Walter 41, 44 Petri, Franz 514 Pfitzner, Hans 491 Pflücker, Ludwig 603, 607, 615 Pfrimer, Walter 34 Philipp II., König von Spanien 159 Piek, Carel 222, 272 Piesbergen, Hans H. 23, 216, 329, 349, 499, 504 Pius XII., Papst (Eugenio Pacelli) 611, 613, 614 Planetta, Otto 37 Plekker, Simon Lambertus Antonius 228 Plutzar, Friedrich 500, 502, 561 Posse, Hans 455 Posthuma, Folkert Evert 295 Posthumus, Nicolaas Wilhelmus 129 Presser, Jacques 353, 375 Q Quisling, Vidkun 111, 282, 285, 289

687

R Rabl, Kurt O. 84, 126, 198, 216, 231, 234, 411, 531, 589, 622 Raeder, Erich 578 Rainer, Friedrich 37, 45 Rajakowitsch, Erich 331, 332, 347 Randermann, Friedrich 184 Rauter, Hanns Albin 14, 22, 23, 75, 79, 80, 87, 92, 96, 97, 98, 101, 105, 125, 129, 130, 131, 132, 142, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 152, 153, 154, 158, 165, 166, 167, 170, 171, 175, 176, 177, 178, 186, 187, 203, 252, 254, 263, 264, 265, 268, 269, 275, 276, 277, 280, 286, 287, 288, 290, 292, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 318, 319, 326, 340, 342, 344, 347, 348, 349, 352, 354, 355, 360, 361, 362, 365, 367, 368, 372, 373, 379, 384, 387, 388, 389, 391, 393, 394, 395, 396, 397, 398, 399, 400, 401, 402, 406, 442, 448, 451, 466, 474, 482, 500, 501, 536, 538, 540, 541, 542, 543, 544, 546, 547, 550, 601, 602, 618, 622 Rediess, Friedrich Wilhelm 130 Reinhardt, Hans-Wolfgang 495 Reinthaller, Anton 45, 56 Rembrandt: siehe Van Rijn, Rembrandt Harmenszoon Réthy, Esther 583 Reuter, Gero 266, 267, 269, 272, 583 Reydon, Hermannus 295 Riedweg, Franz 147, 148 Ringeling, Cornelis 215, 416 Ritterbusch, Wilhelm 101, 129, 150, 176, 177, 232, 275, 281, 299, 300, 301, 313, 314, 315, 318, 436, 450, 474, 538, 539 Romijn, Peter 192, 218 Rommel, Erwin 145, 540 Rosar, Wolfgang 628

688

Register

Rosenberg, Alfred 133, 163, 435, 445, 454, 456, 457, 458, 461, 499, 515, 521, 577, 587 Roskam, Evert Jan 225 Rost Van Tonningen, Meinoud Marinus 22, 98, 110, 214, 222, 239, 240, 245, 247, 249, 275, 277, 280, 282, 283, 287, 302, 304, 309, 312, 313, 314, 315, 316, 319, 320, 366, 369, 420, 424, 433, 437, 442, 506, 554, 618 Rouenhoff, Gerhard 150 Ruberg, Bernhard 173, 175 Rust, Bernhard 158, 160, 508, 519 Ruys, Willem 390 S Sauckel, Fritz 170, 412, 445, 462, 471, 472, 473, 475, 476, 477, 482, 483, 484, 485, 555, 587, 602, 615 Saur, Karl-Otto 568 Schacht, Hjalmar 578 Schaub, Julius 454, 524 Scheel, Gustav Adolf 568 Schellenberg, Walter 523 Schermerhorn, Willem 612 Schiedermair, Rolf 378 Schiller, Friedrich 30, 517 Schirmer, August 457 Schlegelberger, Franz 182, 185 Schleßmann, Fritz 539 Schmerbeck 477 Schmidt, Franz 491 Schmidt, Friedrich 65, 177, 243 Schmidt, Fritz 75, 92, 98, 101, 128, 129, 130, 131, 132, 142, 146, 152, 154, 165, 166, 170, 173, 174, 175, 176, 178, 194, 195, 203, 221, 233, 242, 243, 246, 247, 250, 253, 254, 262, 264, 275, 276, 279, 280, 281, 283, 285, 286, 288, 289, 290, 298, 302, 306, 319, 355, 362, 372, 386, 387, 389, 392, 436, 447, 471, 473, 474, 488, 492, 498, 500, 522, 536, 538, 618, 622

Schmidt, Guido 46, 581 Schmitz, W. 430 Schneider, Emil 452 Schneider, Hans Ernst 500, 501 Schöffer, Ivo 487 Schokker, H. C. 433 Scholten, Paul 82, 261, 262 Scholtens, Arend Lubbertus 215, 432 Scholtz-Klink, Gertrud 492 Schöngarth, Karl Eberhard 318, 365, 396, 401, 459 Schörner, Ferdinand 568 Schramm, Percy Ernst 550 Schrieke, Jacobus Johannes 142, 180, 189, 190, 191, 192, 217, 252, 261, 262, 296, 468, 469, 473 Schröder, Werner 348, 349, 352, 440 Schumann, Otto 378 Schuschnigg, Kurt 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 54, 585, 593 Schwarz, Franz Xaver 32, 132, 151, 157, 158, 174, 517, 583 Schwarz, Heinrich 507, 510 Schwebel, Ernst August 99, 227, 551, 554, 556, 557, 558, 561, 562, 563 Schwerin von Krosigk, Johannes Ludwig Graf 136, 138, 423, 438, 503, 568, 569, 570, 571 Schwerte, Hans Werner: siehe Schneider, Hans Ernst Seiffert, Werner 184 Seldte, Franz 378, 517 Sellmer, Heinrich 99, 451 Seyffardt, Hendrik Alexander 295, 304, 305, 306 Seyß-Inquart, Auguste 29, 30 Seyß-Inquart, Dorothea 206, 514, 537, 583, 603 Seyß-Inquart, Emil 29, 30, 31 Seyß-Inquart, Gertrud 19, 33, 35, 109, 117, 206, 362, 495, 537, 574, 583, 603, 611 Seyß-Inquart, Hedwig 30

Register

Seyß-Inquart, Helmut 596 Seyß-Inquart, Henriette 30 Seyß-Inquart, Ingeborg 603 Seyß-Inquart, Irene 30 Seyß-Inquart, Richard jun. 603 Seyß-Inquart, Richard sen. 30, 33 Seyß-Inquart, Robert 30 Siebert, Ludwig 143, 514, 515, 516 Sievers, Wolfram 500 Sijes, Benjamin Aäron 347, 348, 475 Six, Franz Alfred 67 Six, Pieter Jacob 556, 557, 558, 560 Skubl, Michael 42, 50, 56 Slob, Wouter 316 Slomp, Frederik 258 Smit, Adalbert 242 Sneevliet, Hendricus Josephus 184 Snijder, Geerto Aeilko Sebo 120, 196, 210, 498 Snouck Hurgronje, Aarnout Marinus 403, 416 Söchting, Walter 358 Speer, Albert 135, 412, 430, 431, 448, 450, 452, 476, 484, 551, 552, 553, 555, 558, 573, 577, 578, 608 Spitzen, Dirk Gerard Willem 232, 433 Spitzl, Bruno 591, 607 Stalin, Josef 100, 527 Starhemberg, Ernst Rüdiger 38 Steengracht von Moyland, Gustav Adolf Baron 570 Steinbauer, Gustav 19, 21, 32, 53, 67, 104, 106, 362, 374, 402, 460, 484, 580, 582, 584, 585, 587, 588, 589, 590, 591, 602, 603, 604, 605, 607, 608, 611, 612, 613, 614, 615 Steinbauer, Rosa-Maria 584 Stein, Edith 265 Steiner, Felix 303 Stifter, Adalbert 591 Stoll, Mali 491

689

Stoß, Veit 67 Stuckart, Wilhelm 55, 122, 355, 378 Stüler, Carl 231, 339 Susloparow, Iwan 562 Swaalf, C. L. 443 Swart, Koenraad Wolter 69, 148 T Tavs, Leopold 48, 51 Teixeira De Mattos, Louis Frederik 207 Telders, Benjamin Marius 81, 82, 506, 507 Tenkink, Jan Coenraad 252, 340, 433 Terboven, Josef 88, 111, 114, 116, 126, 127, 130, 132, 137, 153, 155, 163, 164, 181, 221, 327, 504, 521, 548, 570, 571 Thiel, Robert 148, 150, 263 Thierack, Otto Georg 568 Thomas, Georg 415, 579 Thorbecke, Johan Rudolph 231 Timmler, Markus 200 Tiso, Jozef 111 Todt, Fritz 267, 454 Trabold, Carl 433, 434 Trienekens, Gerard 107 Trip, Leonardus Jacobus Antonius 249, 420, 421, 424, 426, 427, 433 Tschadesch, Viktor 36 Tuka, Vojtech 111 Tulp, Sybren 79 Tzschoppe, Erwin 540, 541, 552 U Uiberreuther, Sigfried 53 V Van Berckel, A. L. M. 284 Van Brienen van de Groote Lindt, Marguérite Baronin 204 Van Dam, Jan 82, 93, 156, 324, 326, 327, 372, 407, 509, 510, 511 Van de Loo, Felix 264

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Register

Van der Oye, Alexander Baron Schimmelpenninck 390, 391 Van der Vegte, Willem Lucianus Zion 232 Van der Vlugt, Abraham Jan Theodoor 556, 557, 558, 560, 561 Van der Zee, Tjerk 247 Van Dijk, Jannes Johannes Cornelis 264 Van Geelkerken, Cornelis 92, 280, 281, 283, 287, 299, 301, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 318, 319, 554 Van Genechten, Robert 179, 192, 289 Van Haersolte van Haerst, J. W. Baron 442 Van Kleffens, Eelco Nicolaas 199 Van Loghem, Johannes Jacobus 81 Van Loon, Johannes 73 Van Lynden, Willem Jacob Baron 272 Van Megchelen, P. J. 252 Van Poelje, Gerrit Abraham 215, 512 Van Rappard, Ernst Hermann 110, 242, 243 Van Ravenswaay, Cornelis 228, 289 Van Rijckevorsel, Augustinus Bernardus Gijsbertus Maria 261 Van Rijn, Rembrandt Harmenszoon 454 Van Rijs, Cornelius 432 Van Roon, Ger 258 Van Rosenthal, Lodewijk Hendrik Nicolaas Bosch Ridder 222, 232, 456 Van Schelven, Aart Arnout 160 Van Severen, Joris 111 Van Sonsbeeck, Willem George Alphonse 231 Van Starkenborgh Stachouwer, Alidius W. L. T. 403, 404 Van Tuyll van Serooskerken, A. M. Baron 613 Van Vloten, Frederik Willem 222 Van Waterland, Albert: siehe De Joode, Albert Veltjens, Josef 127, 133, 425, 429 Vermeer, Jan 454 Versteeg, Hendrik Johan 79 Verwey, Robert Antony 219, 247, 432, 433, 462, 463, 468, 469, 470, 473, 478, 481 Verzijl, Jan Hendrik Willem 579, 583

Veth, Jan Pieter 461 Viehoff, Frans Frederik 179, 180 Visser, Lodewijk Ernst 74 Vögler, Albert 515 Vollmer, Bernhard 23, 159, 160 Von Bardolff, Carl Freiherr 45 Von Blomberg, Sibylle 147 Von Blomberg, Werner 45, 47, 48 Von Brauchitsch, Walther 48 Von Burkersroda, Graf Julius Zech 199 Von dem Bach-Zelewski, Erich 129 Von der Wense, Jürgen 103, 583 Von Epp, Franz Ritter 515 Von Falkenhausen, Alexander 121, 122, 198, 392, 448 Von Faulhaber, Michael Kardinal 614 Von Frijtag Drabbe Künzel, Geraldien 181, 186 Von Fritsch, Werner 48 Von Goethe, Johann Wolfgang 517, 591 Von Greim, Robert Ritter 568 Von Hassell, Ulrich 515 Von Hindenburg, Paul 599 Von Inquart, Johann Heinrich Ritter 29 Von Karger, Walter 331 Von Küchler, Georg 121 Von Langen-Keffenbrink, Hans Wolfgang Freiherr 170 Von Limburg Stirum, Otto Ernst Gelder Graf 390, 391 Von Lippe-Biesterfeld, Prinz Bernhard 74, 157, 193, 400, 562 Von Müller, Karl Alexander 515 Von Neurath, Konstantin 45, 47, 48, 139, 515, 570, 577 Von Papen, Franz 36, 46, 47, 49, 441, 577, 578, 581, 587, 607 Von Plehwe, Friedrich-Karl 550 Von Ribbentrop, Joachim 48, 50, 132, 133, 152, 174, 199, 244, 282, 354, 403, 404, 406, 568, 569, 570, 601, 605

Register

Von Rundstedt, Gerd 443, 540, 543, 544 Von Schirach, Baldur 159, 454, 493, 515, 581, 587 Von Schröder, Kurt Freiherr 440, 441 Von Schrötter, Robert Louis Leopold Freiherr 415, 416 Von Sint-Aldegonde, Philipp Marnix 159, 160 Von Srbik, Heinrich 407, 408, 583 Von Srbik, Johanna 408 Von Stokar, Walter 514 Von Stülpnagel, Otto 392 Von Stutterheim, Hermann 546 Von Thadden, Eberhard 334, 360 Von Treitschke, Heinrich 159 Von Trott zu Solz, Adam 616 Von Unruh, Walter 216 Von Weizsäcker, Ernst 46, 152, 309, 346 Von Wühlisch, Heinz-Hellmuth 385, 398 Vorrink, Jacobus Jan 240 Voß, Hermann 455 Voûte, Edward John 105, 228, 435, 457, 556 W Wächter, Otto Gustav 37 Wagner, Josef 170 Wagner, Robert 530 Wassermann, Jakob 517 Weber, Max 118 Wedeven, Jan 179, 180 Wehofsich, Franz 166, 498, 622 Weigel, W. 267, 271 Weinmüller, Adolf 454 Weise, Gerhard 584 Werfel, Franz 517 Wessel, Horst 52 Wickel, Felix William 354, 492 Wiehl, Emil 203, 330 Wildt, Michael 17, 629 Wilhelm I. von Oranien-Nassau 159 Wilhelm III. von Oranien-Nassau 573

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Wilhelmina, Königin der Niederlande 74, 77, 115, 230, 441, 611, 612, 613 Wilson, Woodrow 34, 597 Wimmer, Friedrich 23, 24, 60, 68, 93, 109, 128, 129, 156, 165, 166, 177, 178, 184, 186, 187, 189, 191, 192, 214, 233, 264, 268, 269, 270, 271, 280, 292, 306, 326, 341, 348, 353, 355, 360, 371, 372, 394, 401, 408, 438, 453, 457, 488, 499, 508, 510, 514, 536, 543, 544, 583, 622 Winkelman, Henri Gerard 74, 76, 121, 212, 215, 416 Wintersteiger, Anton 50 Witlox, J. J. M. 613 Witscher, Otto 331 Woermann, Ernst 309 Wohlthat, Helmuth C. H. 133, 249, 423 Wohnout, Helmut 41 Wolf-Ferrari, Ermanno 494, 495 Wolf-Ferrari, Wilhelmine 494, 495 Wolff, Karl 56, 306, 563 Woltersom, Herman Louis 248, 249, 452, 556 Woods, John C. 615 Woudenberg, Hendrik Jan 245, 246, 247, 432 Wüst, Walther 515, 516, 519 Z Zaaijer, J. 131 Zernatto, Guido 42, 46, 48 Zondervan, Arie Johannes 304 Zöpf, Wilhelm 347, 349 Zwingli, Huldrych 610

Christiane rothl änder

die anfänge der Wiener ss

Das Buch behandelt die Gründung der ersten österreichischen SS-Einheit, des SS-Sturms 77 in Wien, und ihres Ausbaus zur 11. SS-Standarte. Führerkorps, soziale Zusammensetzung, Aufbau, interne Organisation und Finanzierung der Wiener SS werden ebenso untersucht wie ihre Stellung zur Politischen Führung und SA sowie ihre Entwicklung zur Terrortruppe. Beleuchtet werden weiters die Flucht der Wiener SS-Angehörigen aus Österreich nach dem Parteiverbot und der Aufbau der »SS-Legion« in Deutschland. 2012. 653 S. 85 S/w-Abb. Gb. 170 x 240 mm. ISbN 978-3-205-78468-5

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