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German Pages 895 Year 2007
Friedrich Ostermann Anwendungstechnologie Aluminium
Friedrich Ostermann
Anwendungstechnologie Aluminium 2., neu bearbeitete und aktualisierte Auflage Mit 577 Abbildungen und 111 Tabellen
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Professor Dr.-Ing. Friedrich Ostermann Aluminium Technologie-Service, Meckenheim [email protected]
Autor und Verlag danken der TRIMET ALUMINIUM AG, Essen, für die Unterstützung der Drucklegung dieses Buches.
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ISBN 978-3-540-71196-4 2. Auflage Springer Berlin Heidelberg New York ISBN 3-540-62706-5 1. Auflage Springer Berlin Heidelberg New York Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1998, 2007 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Sollte in diesem Werk direkt oder indirekt auf Gesetze, Vorschriften oder Richtlinien (z. B. DIN, VDI, VDE) Bezug genommen oder aus ihnen zitiert worden sein, so kann der Verlag keine Gewähr für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität übernehmen. Es empfiehlt sich, gegebenenfalls für die eigenen Arbeiten die vollständigen Vorschriften oder Richtlinien in der jeweils gültigen Fassung hinzuzuziehen. Satz: Marianne Schillinger-Dietrich, Berlin Herstellung: LE-TEX Jelonek, Schmidt & Vöckler GbR, Leipzig Einbandgestaltung: WMXDesign, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier
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Vorwort zur 2. Auflage
Seit dem Erscheinen der 1. Auflage von ANWENDUNGSTECHNOLOGIE ALUMINIUM im Jahre 1998 haben sich zahlreiche Entwicklungen in der Aluminiumkunde und Anwendungsforschung, im Einsatz des Werkstoffs und im wirtschaftlichen Umfeld der Hersteller und Verarbeiter vollzogen, denen bei der Neuauflage des Buches Rechnung getragen werden soll. Gleichzeitig bietet der kritische Rückblick auf die damalige Themenauswahl die Möglichkeit, die Schwerpunkte an den sichtbar gewordenen Entwicklungstrends neu auszurichten. Einerseits haben sich durch die Forderungen aus der Anwendungspraxis, aber auch durch die Weiterentwicklung von wissenschaftlichen Methoden und theoretischen Erkenntnissen in jüngster Zeit neue Einsichten und Perspektiven bei den Aushärtungsprozessen ergeben, die als wohl die wichtigste metallurgische Grundlage für Aluminiumkonstruktionswerkstoffe anzusehen sind, und deren Entdeckung vor genau 100 Jahren von Alfred Wilm patentiert wurde. In der Anwendungsforschung werden Konzepte für die Vorhersage des Verhaltens unter Crash-Bedingungen und Schwingbeanspruchung entwickelt, die zunehmend die metallphysikalischen Basisprozesse des plastischen Fließens und Bruchs einschließen. Daher wurde den metallkundlichen Prozessen ein breiterer Raum eingeräumt in der Absicht, durch verständliche Beschreibung die z.T. sehr komplexen Vorgänge im Werkstoff für den mit Anwendungsentwicklungen befaßten Werkstoffingenieur zugänglich zu machen. Im Vordergrund steht eine möglichst umfassende Dokumentation der beobachteten Phänomene des Werkstoffverhaltens und weniger dessen rechnerische Simulation, die anderen Werken* vorbehalten sein mögen. Berechnungskonzepte sind nur dann wirklich zuverlässig, wenn sie mit den metallphysikalischen Vorgängen in Einklang stehen. Andererseits ist in den vergangenen Jahren die Akzeptanz des Aluminiums als Leichtbauwerkstoff für den Fahrzeugbau so weit gestiegen, daß jeder Automobilhersteller heute Teile, Baugruppen oder vollständige Ka*)
z.B. Hirsch, J. (Hrg.): Virtual Fabrication of Aluminium Products. Microstructural Modeling in Industrial Aluminium Production. Weinheim: Wiley-VCH Verlag, 2006
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Vorwort zur 2. Auflage
rosserien aus diesem Werkstoff baut, ohne dessen generelle Tauglichkeit mehr in Frage zu stellen. Die gewonnenen Erfahrungen und das Interesse der Automobilindustrie sind deshalb auch die treibende Kraft für zahlreiche Entwicklungen und Innovationen in den Verarbeitungstechnologien, eine Rolle, die früher vor allem von der Luft- und Raumfahrtindustrie wahrgenommen wurde. Hinter all diesen Entwicklungen steht die Frage nach der Wirtschaftlichkeit solcher Anwendungen in einem wettbewerbsorientierten Markt, d.h. die Senkung der Verarbeitungskosten durch intelligente Vermeidung unnötiger Verarbeitungsschritte. Auch dieser Lösungsweg verlangt nach detaillierten Kenntnissen des Werkstoffverhaltens, das in der Beschreibung technologischer Verarbeitungsprozesse gegenüber der 1. Auflage des Buches stärker betont wird. Sorge bereitet die Kontinuität innovationsträchtiger Forschungs- und Entwicklungsarbeit. In jüngster Zeit hat sich ein struktureller Wandel in der deutschen Aluminiumindustrie eingestellt mit problematischen Folgen für Forschung und Innovation und damit letztlich für die Zukunft der Aluminiumindustrie in Deutschland. Mengenmäßig ist der deutsche Aluminiummarkt der größte in Europa und erreicht technologisch die größte Verarbeitungstiefe. Um so besorgniserregender ist der Umstand, daß die Industrie- und Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre bis in die Gegenwart zu einem Ausverkauf der Aluminiumhüttenindustrie geführt hat, die Initiator und wichtigster Förderer der Aluminiumforschung und Anwendungsentwicklung in diesem Lande war. Die Wertschöpfung in der Primärerzeugung war immer die wichtigste finanzielle Grundlage für die Aluminiumforschung. Mit der Übernahme der nationalen Aluminiumkonzerne durch ausländische Konzerne wandert die industriedominierte Aluminiumforschung als Quelle von Innovationen ab oder wird durch ausländische Forschungszentralen fremdgesteuert. Die notwendige Nähe des Forschers zum Anwender schwindet. Die für diesen Industriestandort fatale Energiepolitik in Vergangenheit und Gegenwart hat das Schließen zahlreicher Aluminiumhütten zu verantworten. Um so beachtenswerter ist die jüngste Initiative eines Privatunternehmers, eine bereits geschlossene Aluminiumhütte zu übernehmen und weiter zu betreiben. Die Rolle der Primärhütten kann durch die Sekundärhüttenindustrie nicht aufgefangen werden, die Wertschöpfung ist geringer und die Versorgungsbasis zu volatil. Ob ohne direkte und kontinuierliche Industriebeteiligung die Aluminiumforschung an den Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen aufgefangen werden kann, ist zweifelhaft, da die Kontinuität von Wissen und Erfahrung dort nicht gewährleistet werden kann. Ein Ausweg wäre ein ausschließlich der Aluminiumforschung und lehre gewidmeter Lehrstuhl. Zu denken gibt weiterhin, daß schon heute die aktive Beteiligung von Aluminiumfachleuten an der Steuerung der nationalen Industriellen Gemeinschaftsforschung und der internationalen
Vorwort zur 2. Auflage
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nalen Industriellen Gemeinschaftsforschung und der internationalen Normungsarbeit alles andere als lebhaft ist, und dadurch weder die eigenen Erfahrungen eingebracht noch die eigenen Interessen vertreten werden können. Es ist zu hoffen, daß die mittelständische Aluminiumindustrie diese Rolle als gemeinschaftliche Aufgabe zur Zukunftssicherung übernimmt. Ich hoffe, daß das Buch dazu beiträgt, über den fachlichen Diskurs hinaus die Faszination der Beschäftigung mit diesem Werkstoff auf Lehrende, Lernende und im Beruf stehende Ingenieure auszustrahlen. Das Potential des Werkstoffs ist keineswegs ausgeschöpft, und phantasievolle Kreativität, Nutzung und Fortentwicklung der Aluminium-Anwendungstechnologien werden den Erfolg bei heutigen und künftigen Produkten gewährleisten. Mein herzlicher Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen, die durch Informationen, Diskussionen und Bildmaterial zu diesem Buch beigetragen haben, Herrn Gerd Bulian für das fachkritische Lesen des Manuskriptes sowie meiner Frau für ihre Geduld, Ermutigung und liebevolle Unterstützung. Meckenheim, im Januar 2007
Friedrich Ostermann
Inhalt
Tabellenverzeichnis................................................................ XVII 1 Einführung...................................................................... 1.1 Der Wettbewerb der Werkstoffe in den Märkten ....................... 1.2 Innovationsgrundlagen ....................................................
1 1 3
2 Märkte und Anwendungen ................................................... 2.1 Aluminium im Automobilbau ............................................ 2.1.1 Aluminium im Antriebsbereich .................................. 2.1.2 Aluminium im Fahrwerksbereich ................................ 2.1.3 Aluminium im Karosseriebau .................................... 2.2 Aluminium im Nutzfahrzeugbau ......................................... 2.3 Aluminium im Schienenfahrzeugbau .................................... 2.3.1 Entwicklung aluminiumgerechter Baukonzepte ................ 2.3.2 Aluminiumwerkstoffe für die Schienenfahrzeugbau ........... 2.3.3 Schweißverbindungen im Schienenfahrzeugbau ............... 2.4 Aluminium im Schiffbau.................................................. 2.5 Aluminium im Flugzeugbau .............................................. 2.6 Architektur und Ingenieurbau ............................................ 2.7 Sonstige Anwendungsmärkte............................................. 2.7.1 Maschinen-, Apparate- und Werkzeugbau ...................... 2.7.2 Elektrotechnik ..................................................... 2.7.3 Verpackung ........................................................
9 10 13 22 27 41 46 47 51 53 58 61 67 72 72 74 75
3 Legierungsaufbau, Wärmebehandlung, Normen ......................... 3.1 Gefügebausteine der Aluminiumwerkstoffe............................. 3.1.1 Gefügematrix ...................................................... 3.1.2 Gitterfehler ......................................................... 3.1.3 Korngrenzen ....................................................... 3.1.4 Mischkristallbildung .............................................. 3.1.5 Primärphasen (Gußphasen) ....................................... 3.1.6 Sekundärphasen ................................................... 3.1.7 Warmverformungs-, Faser-, Erholungsund Rekristallisationsgefüge ..................................... 3.1.8 Poren................................................................ 3.1.9 Oxideinschlüsse ................................................... 3.2 Aufbau und Wärmebehandlung der Knetwerkstoffe ...................
79 80 80 83 91 94 100 100 110 111 112 112
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Inhalt 3.2.1 Unlegiertes Aluminium ........................................... 3.2.2 AlMn-Legierungen ................................................ 3.2.3 AlMg(Mn)-Legierungen .......................................... 3.2.4 AlCu(Mg,Si)-Legierungen........................................ 3.2.5 AlMgSi-Legierungen.............................................. 3.2.6 AlZnMg(Cu)-Legierungen........................................ 3.2.7 Sonstige Knetlegierungen......................................... 3.2.8 Durchführung von Wärmebehandlungen ........................ 3.3 Legierungsaufbau und Wärmebehandlung von Gußlegierungen ..... 3.3.1 Schmelze und Schmelzereinigung ............................... 3.3.2 Erstarrungsvorgang (Kristallisation) ............................. 3.3.3 Erstarrungsfehler .................................................. 3.3.4 Fließ- und Formfüllungsvermögen............................... 3.3.5 Aluminium-Gußlegierungen...................................... 3.3.6 Verarbeitungs- und Anwendungshinweise ...................... 3.3.7 Gießgerechte Gestaltung .......................................... 3.4 Einführung in die Normen über Aluminiumlegierungen ............... 3.4.1 Einführung in die Bezeichnungssysteme der Aluminiumwerkstoffe .......................................................... 3.4.2 Bezeichnungssystem für Knetlegierungen und deren Werkstoffzustände................................................. 3.4.3 Bezeichnungssystem für Formgußlegierungen, Gießverfahren und für die Werkstoffzustände von Formgußteilen .... 3.4.4 Halbzeugnormen................................................... 3.4.5 Garantierte und typische Eigenschaften ......................... 3.4.6 Legierungsauswahl – frei oder eingeschränkt?..................
113 115 117 131 138 157 168 170 185 186 189 196 200 201 207 209 209
4 Physikalische Eigenschaften.................................................. 4.1 Physikalischen Eigenschaften des Aluminiums......................... 4.1.1 Dichte............................................................... 4.1.2 Elektrische Leitfähigkeit .......................................... 4.1.3 Magnetische Eigenschaften....................................... 4.1.4 Wärmeleitfähigkeit ................................................ 4.1.5 Reflexions- und Emissionseigenschaften........................ 4.2 Physikalische Eigenschaften von Aluminiumoxid......................
221 221 222 223 223 223 224 225
5 Korrosionsverhalten von Aluminium ....................................... 5.1 Allgemeine Grundlagen ................................................... 5.1.1 Einflüsse auf das Korrosionsverhalten........................... 5.1.2 Korrosionsverhalten von Aluminium in Freibewitterung und Meerwasser.................................................... 5.2 Oxidschicht und Korrosionsmechanismus des Aluminiums .......... 5.2.1 Aufbau und Bedeutung der Oxidschicht......................... 5.2.2 Verstärkung der natürlichen Oxidschicht........................ 5.2.3 Beständigkeit der Oxidschicht.................................... 5.2.4 Korrosionsmechanismus ..........................................
227 227 228
210 212 215 218 218 220
229 232 232 234 234 236
Inhalt
XI
5.2.4 Freie und kritische Korrosionspotentiale ........................ 5.2.5 Stromdichte-Potentialkurven ..................................... 5.3 Einfluß der Legierungselemente ......................................... 5.3.1 Bedeutung der Gefügestruktur ................................... 5.3.2 Korrosionsbeständigkeit .......................................... 5.4 Erscheinungsformen der Korrosion bei Aluminium und seinen Legierungen ................................................................ 5.4.1 Lochkorrosion (LK) ............................................... 5.4.2 Selektive Korrosion (SK) ......................................... 5.4.3 Spannungsrißkorrosion (SpRK) .................................. 5.4.4 Interkristalline Korrosion unter Spannung ...................... 5.4.5 Spaltkorrosion ..................................................... 5.4.6 Kontaktkorrosion .................................................. 5.4.7 Korrosionsermüdung .............................................. 5.4.8 Reibkorrosion ...................................................... 5.4.9 Filiformkorrosion.................................................. 5.5 Beispiele für korrosionsgerechtes Konstruieren ........................
238 241 242 242 243
6 Mechanische Eigenschaften .................................................. 6.1 Statische mechanische Kennwerte ....................................... 6.2 Fließkurve, Verfestigung, Anisotropie, Verformbarkeit ............... 6.3 Bruchvorgang und Bruchverhalten....................................... 6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen ............. 6.4.1 Phänomenologie der Ermüdungsschädigung.................... 6.4.2 Zyklisches Spannungs-Dehnungsverhalten ..................... 6.4.3 Rißfortschrittsverhalten ........................................... 6.4.4 Dehnungs-Wöhlerkurve (ε/N-Kurve)............................ 6.4.5 Spannungs-Wöhlerkurve (S/N-Kurve) .......................... 6.4.6 Langzeitfestigkeit („Dauerfestigkeit“) von Aluminiumwerkstoffen......................................................... 6.4.7 Mittelspannungsempfindlichkeit ................................. 6.4.8 Einfluß von Kerben auf die Schwingfestigkeit ................. 6.4.9 Wirkung von Eigenspannungen auf die Schwingfestigkeit............................................................ 6.5 Einfluß hoher Dehngeschwindigkeit..................................... 6.6 Verhalten bei unterschiedlichen Temperaturen ......................... 6.6.1 Elastizitätsmodul bei unterschiedlichen Temperaturen ........ 6.6.2 Mechanische Eigenschaften bei tiefen Temperaturen .......... 6.6.3 Mechanische Eigenschaften bei höheren Temperaturen ....... 6.6.4 Umformbarkeitseigenschaften bei höheren Temperaturen..... 6.7 Einfluß des Spannungszustands .......................................... 6.7.1 Fließbedingungen (Fließhypothesen) ............................ 6.7.2 Fließortkurven ..................................................... 6.7.3 Grenzformänderung bei ebenem Spannungszustand ........... 6.7.4 Einfluß der Mehrachsigkeit auf die Duktilität ..................
246 246 248 252 255 256 258 263 271 272 272 279 280 286 298 318 321 334 337 344 350 353 355 359 364 368 376 377 378 380 384 388 388 391 394 397
XII
Inhalt
7 Gießverfahren .................................................................. 7.1 Stranggießverfahren ....................................................... 7.2 Formgießverfahren ........................................................ 7.3 Vergleich der Formgießverfahren ........................................
399 399 402 419
8 Walzen ........................................................................... 8.1 Walzprozeß................................................................. 8.2 Qualitätsmerkmale von Warm- und Kaltwalzblechen .................. 8.3 Oberflächenbeschichtete Walzfabrikate ................................. 8.4 Verbundhalbzeuge .........................................................
423 423 425 430 432
9 Strangpressen................................................................... 9.1 Strangpreßverfahren ....................................................... 9.2 Grundformen von Profilen und Werkzeugen............................ 9.3 Strangpreßbarkeit von Aluminiumlegierungen ......................... 9.4 Prozeßkette im Strangpreßwerk .......................................... 9.5 Strangpreßgerechte Profil- und Werkzeuggestaltung................... 9.6 Gestalten von Strangpreßprofilen ........................................ 9.6.1 Funktionalitätsgruppen ............................................ 9.6.2 Konstruktionen mittels Profilverbindungen ..................... 9.7 Sonderverfahren des Strangpressens von Aluminium .................. 9.7.1 Strangpressen nach dem „Conform“-Verfahren ................ 9.7.2 Hydrostatisches Strangpressen ................................... 9.7.3 Verbundstrangpressen............................................. 9.7.4 Warmbiegen von Profilen beim Preßvorgang...................
435 436 439 440 444 446 450 450 452 455 455 455 456 456
10 Schmieden von Aluminium ................................................... 10.1 Prozeß des Gesenkschmiedens ........................................... 10.2 Schmiedegesenke .......................................................... 10.3 Stofffluß und Faserverlauf ................................................ 10.4 Schmiedelegierungen, Vormaterial, Gefüge und Arbeitsablauf ...... 10.5 Gestalten von Schmiedeteilen ............................................
459 460 462 464 467 473
11 Kaltfließpressen von Aluminium ............................................ 11.1 Charakteristische Merkmale von Kaltfließpreßteilen................... 11.2 Aluminium für technische Fließpreßteile................................ 11.2.1 Vormaterial: Butzen ............................................... 11.2.2 Aluminiumlegierungen für das Kaltfließpressen................ 11.2.3 Alternative Ausgangszustände für das Kaltfließpressen ....... 11.3 Fließpreßverfahren......................................................... 11.3.1 Grundverfahren des Fließpressens ............................... 11.3.2 Werkzeuge für das Kaltfließpressen ............................. 11.3.3 Kraftbedarf beim Kaltfließpressen ...............................
475 475 477 477 479 481 484 484 487 487
12 Aluminiumblechumformung ................................................. 491 12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung ...................... 492
Inhalt
XIII
12.1.1 Werkstoffeigenschaften aus Zugversuchen ..................... 12.1.2 Werkstoffeigenschaften aus technologischen Prüfungen ...... 12.1.3 Biegefähigkeit ..................................................... 12.1.4 Rückfederung ...................................................... 12.1.5 Aluminiumlegierungen für Karosserieanwendungen .......... 12.2 Tribologisches Verhalten ................................................. 12.2.1 Reibungsmechanismus............................................ 12.2.2 Das Tribosystem Blech-Werkzeug-Schmierstoff............... 12.3 Scherschneiden ............................................................ 12.3.1 Trennvorgang beim Normalschneiden........................... 12.3.2 Genauschneiden ................................................... 12.3.3 Feinschneiden......................................................
492 493 502 509 511 516 516 518 525 526 531 533
13 Sondergebiete der Umformtechnik.......................................... 13.1 Weiterverarbeitung von Profilen und Rohren ........................... 13.1.1 Biegen und Biegeverfahren....................................... 13.1.2 Örtliche Querschnittsänderungen ................................ 13.1.3 Innenhochdruckumformen........................................ 13.2 Halbwarmumformen ...................................................... 13.3 Superplastische Umformung ............................................. 13.3.1 Mechanismen und Werkstoffe ................................... 13.3.2 Verfahren der superplastischen Blechumformung..............
535 535 536 542 545 547 549 549 552
14 Spanende Formgebung von Aluminium.................................... 14.1 Spanbildung ................................................................ 14.2 Spanformen bei Aluminiumwerkstoffen ................................ 14.3 Aluminiumwerkstoffe für Zerspanungszwecke ......................... 14.4 Zerspanbarkeit ............................................................. 14.5 Werkzeugverschleiß....................................................... 14.6 Schneidwerkstoffe für die Aluminiumzerspanung...................... 14.7 Kühlschmierstoffe ......................................................... 14.8 Oberflächen spanend bearbeiteter Al-Werkstoffe ...................... 14.9 Funkenerosive Bearbeitung...............................................
555 556 559 561 564 565 568 570 572 573
15 Oberflächenbehandlung ...................................................... 15.1 Reinigungsprozeß ......................................................... 15.2 Vorbehandlung............................................................. 15.3 Beschichtungen ............................................................ 15.3.1 Anodische Oxidation.............................................. 15.3.2 Metallische Beschichtungen aus wäßrigen Lösungen .......... 15.3.3 Verschleißfeste Oberflächen durch thermisches Spritzen...... 15.3.4 Beschichten mit organischen Stoffen (Lackieren) ..............
577 579 582 583 583 586 588 588
16 Schmelzschweißen von Aluminium ......................................... 591 16.1 Schweißeignung der Aluminiumwerkstoffe............................. 592 16.2 Eigenschaften von Aluminiumschweißverbindungen .................. 602
XIV
Inhalt
16.3 Schmelzschweißverfahren für Aluminium .............................. 607 16.3.2 Strahlschweißverfahren ........................................... 616 16.4 Schweißimperfektionen ................................................... 621 17 Widerstandsschweißen ........................................................ 17.1 Widerstandspunktschweißen (WPS) ..................................... 17.1.1 Verfahrensprinzip.................................................. 17.1.2 Übergangswiderstände der Fügeteiloberfläche.................. 17.1.3 Elektrodenverschleiß und Elektrodenreinigung................. 17.1.4 Schweißeignung von Legierungen ............................... 17.1.5 Maschinen und Elektroden........................................ 17.1.6 Festigkeitsverhalten von Aluminium-WPS-Verbindungen .... 17.2 Buckelschweißen ..........................................................
625 625 625 627 629 630 630 634 636
18 Mechanisches Fügen........................................................... 18.1 Merkmale mechanischer Fügetechniken................................. 18.2 Durchsetzfügen ............................................................ 18.3 Nieten ....................................................................... 18.3.1 Vollniete............................................................ 18.3.2 Blindniete .......................................................... 18.3.3 Schließringbolzen.................................................. 18.3.4 Stanzniet............................................................ 18.4 Schraubverbindungen ..................................................... 18.5 Festigkeitseigenschaften mechanisch gefügter Verbindungen.........
639 639 642 646 647 647 648 649 652 655
19 Sonderverfahren der Fügetechnik........................................... 19.1 Rührreibschweißen (Friction Stir Welding / FSW) ..................... 19.2 Reibschweißen ............................................................. 19.3 Explosivschweißen ........................................................ 19.4 Hartlöten....................................................................
659 659 664 668 669
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium ......................... 20.1 Gestaltungsgrundsätze..................................................... 20.2 Elastizitätsmodul und Leichtbau ......................................... 20.3 Schweißkonstruktionen ................................................... 20.3.1 Grundsätze zur Gestaltung von Schweißverbindungen ........ 20.3.2 Eigenspannungen in Schweißverbindungen..................... 20.3.3 Schwingfestigkeitsnachweis von Schweißverbindungen....... 20.3.4 Nachbehandlung zur Schwingfestigkeitsverbesserung .........
677 677 680 686 686 691 699 713
21 Sonderwerkstoffe............................................................... 21.1 Aluminiumpulvermetallurgie ............................................. 21.1.1 Herstellen von Legierungspulvern ............................... 21.1.2 Kompaktieren von Pulvern zu Formteilen....................... 21.1.3 Sprühkompaktieren................................................ 21.1.4 PM-Legierungen ...................................................
717 717 717 720 722 724
Inhalt
XV
21.2 Aluminiummatrix-Verbundwerkstoffe .................................. 22.2.1 Grundlagen und Eigenschaften................................... 21.2.2 Anwendungsbeispiele ............................................. 21.3 Aluminiumschaumwerkstoffe ............................................ 21.3.1 Metallschaumherstellung ......................................... 21.3.2 Eigenschaftsspektrum metallischer Schäume ................... 21.3.3 Anwendungsaspekte ..............................................
725 725 729 731 732 733 734
22 Gewinnung, Recycling, Ökologie ............................................ 22.1 Primäraluminium .......................................................... 22.1.1 Vorkommen, Bauxiterze .......................................... 22.1.2 Gewinnungsprozeß ................................................ 22.2 Sekundäraluminium ....................................................... 22.2.1 Ressourcen und Verwendung .................................... 22.2.2 Materialkreislauf („Recycling“).................................. 22.3 Versorgungslage in Deutschland ......................................... 22.4 Ökologische Betrachtungen .............................................. 22.4.1 Ökobilanzen (Life Cycle Assessment) .......................... 22.4.2 Energiefragen der Aluminiumgewinnung .......................
737 737 737 739 742 743 743 745 746 746 749
Anhang .............................................................................. 753 Literatur............................................................................. 803 Sachverzeichnis..................................................................... 871
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1.1 Einige vorteilhafte Gebrauchseigenschaften von Aluminium .....
2
Tabelle 2.1 Endverbrauch von Aluminiumhalbzeugen, Formguß, Folie und Pulver im Jahr 2004 ............................................................
9
Tabelle 2.1.1 Eigenschaften von Aluminium-Kolbenlegierungen..............
15
Tabelle 2.1.2 Aluminiumlegierungen für Zylinderköpfe ........................
16
Tabelle 2.1.3 Aluminiumlegierungen für Motorblöcke..........................
18
Tabelle 2.1.4 Legierungen von Halbzeugen und Hartloten für Wärmetauscher 21 Tabelle 2.1.5 Karosserieblechlegierungen für Motorhauben....................
28
Tabelle 2.1.6 Strangpreßlegierungen für Stoßfänger ............................
30
Tabelle 2.1.7 Merkmale der Audi Modelle A8 und A2..........................
34
Tabelle 2.1.8 Aluminiumlegierungen für Beplankungs- und Strukturteile ....
37
Tabelle 2.1.9 Karosserieblechlegierungen ausländischer Provenienz ..........
38
Tabelle 2.1.10 Fertigungsschema von Blechkarosserieteilen aus Stahl und Aluminium ......................................................................
41
Tabelle 2.2.1 Aluminiumlegierungen für Bordwandprofilsysteme.............
43
Tabelle 2.2.2 Äquivalente Mindestwanddicken ..................................
45
Tabelle 2.2.3 Mindestwanddicke für Tankkörper nach DIN EN 13094 .......
45
Tabelle 2.2.4 Für den Tankbehälterbau geeignete Aluminiumlegierungen ....
46
Tabelle 2.3.1 Aluminiumlegierungen für den Schienenfahrzeugbau...........
52
Tabelle 2.3.2 Mindesteigenschaften von Schweißverbindungen für den Schienenfahrzeugbau ..........................................................
54
Tabelle 2.4.1 Aluminium-Knetlegierungen für Anwendungen in tragenden Konstruktionen (n. Germanischer Lloyd, 2005) ..................................
60
Tabelle 2.4.2 Gußlegierungen, die dem Seewasserklima ausgesetzt werden können (n. Germanischer Lloyd, 2005) ...........................................
61
Tabelle 2.5.1 Ausgewählte Luftfahrtlegierungen ................................
63
XVIII
Tabellenverzeichnis
Tabelle 2.5.2 Zusammensetzung neuerer Flugzeugbaulegierungen ...........
65
Tabelle 2.5.3 Eigenschaften von Luftfahrtplattenwerkstoffen ..................
65
Tabelle 2.6.1 Aluminiumlegierungen für rollgeformte Trapezprofile .........
69
Tabelle 2.6.2 Konstruktionslegierungen nach DIN 4113-1 .....................
70
Tabelle 2.7.1 Knetlegierungen für den Formenbau ..............................
74
Tabelle 3.1.1 Gefügebausteine der Aluminiumlegierungen .....................
81
Tabelle 3.1.2 Übersicht über Art und Zahl der aktivierbaren Gleitsysteme....
82
Tabelle 3.1.3 Stapelfehlerenergie von Aluminium...............................
88
Tabelle 3.1.4 Hall-Petch-Konstanten .............................................
93
Tabelle 3.1.5 Thermophysikalische Eigenschaften von Legierungselementen
96
Tabelle 3.2.1 Zuordnung von AlMn-Legierungen zu Anwendungsbereichen . 116 Tabelle 3.2.2 AlSi-Knetlegierungen und ihre Anwendungsbereiche ........... 169 Tabelle 3.2.3 Kritische Abschreckgeschwindigkeit für Legierungen .......... 178 Tabelle 3.2.4 Wärmebehandlung aushärtbarer Konstruktionslegierungen ..... 183 Tabelle 3.3.1 Typische Aluminiumgußlegierungen ............................. 202 Tabelle 4.1.1 Physikalische Eigenschaften von Reinaluminium ............... 221 Tabelle 4.2.1 Physikalische Eigenschaften von Aluminiumoxid ............... 226 Tabelle 5.2.1 Typische Oxidschichtdicken von Aluminium .................... 233 Tabelle 5.2.2 Lochfraß-Potentialwerte von Aluminiumlegierungen ........... 240 Tabelle 5.3.1 Elektrochemische Potentialwerte intermetallischer Phasen ..... 243 Tabelle 5.3.2 Wirkung wichtiger Legierungselemente auf die Korrosionsbeständigkeit ........................................................ 243 Tabelle 5.3.3 Korrosionsbeständigkeit von Aluminiumlegierungen ........... 245 Tabelle 5.4.1 Spannungsreihe ausgewählter Metalle ............................ 259 Tabelle 5.4.2 Kontaktkorrosionsgefahr in verschiedenen Korrosionsumgebungen ......................................................................... 261 Tabelle 6.1.1 Wahre Bruchdehnung im Zug- und Torsionsversuch ........... 286 Tabelle 6.2.1 Koeffizienten der Fließkurvenextrapolationen .................. 291 Tabelle 6.4.1 Kennwerte für die zyklische Spannungs-Dehnungskurve ...... 348 Tabelle 6.4.2 Mikrostützwirkungskonstante s nach Neuber .................... 362 Tabelle 6.4.3 Ersatzstrukturlängen für einige Konstruktionswerkstoffe ....... 362
Tabellenverzeichnis
XIX
Tabelle 6.7.1 Streckgrenze und „wahre“ Bruchdehnung ermittelt an Zugproben mit verschiedenen Kerbgeometrien .............................. 398 Tabelle 7.2.1 Übersicht über Formgießverfahren für Aluminium .............. 403 Tabelle 7.3.1 Vergleich der verschiedenen Gießverfahren ..................... 420 Tabelle 9.3.1 Herstellbare Mindestwanddicken von Profilen .................. 441 Tabelle 9.3.2 Strangpreßbarkeit der Aluminiumwerkstoffe..................... 444 Tabelle 10.4.1 Schmiedelegierungen und ihre Verwendungszwecke .......... 468 Tabelle 10.4.2 Schmiedelegierungen der Klasse B .............................. 469 Tabelle 10.4.3 Schmiede- und Schmelztemperaturbereiche .................... 472 Tabelle 11.2.1 Fließpreßbarkeit von Legierungen ............................... 479 Tabelle 11.2.2 Festigkeitseigenschaften von kaltfließgepreßten Teilen ....... 480 Tabelle 12.1.1 Aluminiumblechlegierungen für den Karosseriebau ........... 513 Tabelle 12.1.2 Zusammensetzung von Aluminiumkarosserieblechlegierungen........................................................................... 514 Tabelle 12.1.3 Eigenschaften von Aluminiumkarosserieblechlegierungen .... 514 Tabelle 12.3.1 Versuchsergebnisse des Genauschneidverfahrens .............. 532 Tabelle 12.3.2 Feinschneidbarkeit von Aluminiumlegierungen ............... 534 Tabelle 13.1.1 Richtwerte für Biegefaktoren von Strangpreßlegierungen ..... 538 Tabelle 13.3.1 Superplastisch umformbare Aluminiumlegierungen ........... 552 Tabelle 14.3.1 Plattenwerkstoffe für Zerspanungszwecke ...................... 562 Tabelle 14.3.2 Eigenschaften von Pb-freien Automatenlegierungen........... 563 Tabelle 14.4.1 Überblick über die verschiedenen Zerspanbarkeitsgruppen ... 565 Tabelle 15.1 Oberflächenbehandlungsverfahren ................................. 578 Tabelle 15.3.1 Typische Dimensionen von anodischen Oxidschichten ........ 584 Tabelle 16.1.1 Relevante Faktoren für das Schweißen von Aluminium ....... 592 Tabelle 16.1.2 Gruppeneinteilung der Knetlegierungen bezüglich ihrer Schweißeignung ..................................................................... 595 Tabelle 16.1.3 Gruppeneinteilung der Gußlegierungen bezüglich ihrer Schweißeignung .................................................................... 595 Tabelle 16.1.4 Gruppeneinteilung für Schweißzusatzwerkstoffe ............... 598 Tabelle 16.1.5 Auswahl von Schweißzusatzwerkstoffen........................ 599
XX
Tabellenverzeichnis
Tabelle 16.1.6 Einfluß der Legierungsgehalte auf die Schweißrißempfindlichkeit ...................................................................... 600 Tabelle 16.2.1 Mindestfestigkeitswerte von Schweißverbindungen der Legierung EN AW-7020-T5 nach 3 Monaten RT-Auslagerung ........... 603 Tabelle 16.3.1 Vergleich zwischen gebräuchlichen Schweißverfahren ....... 615 Tabelle 16.4.1 Gruppeneinteilung der Schweißimperfektionen................. 622 Tabelle 19.1.1 Statische Festigkeitseigenschaften von FSW-Stumpfstoßverbindungen ........................................................................ 663 Tabelle 19.2.1 Reibschweißeignung von Aluminium ........................... 666 Tabelle 19.4.1 Legierungen und Schmelzdaten für Aluminium-Hartlote ...... 670 Tabelle 19.4.2 Beispiele für Knetlegierungen mit Angabe zur Lötbarkeit ..... 671 Tabelle 19.4.3 Eigenschaften von hartgelöteten Legierungen .................. 672 Tabelle 19.4.4 Flußmittel für das Hartlöten von Aluminium ................... 674 Tabelle 20.2.1 Vergleich typischer Konstruktionswerkstoffe bezüglich Dehngrenze und Elastizitätsmodul................................................. 680 Tabelle 20.2.2a Massenverhältnis Aluminium/Stahl von dünnwandigen Hohlstrukturen unter Torsionsbeanspruchung .................................... 682 Tabelle 20.2.2b Massenverhältnis Aluminium/Stahl von vollwandigen Hohlstrukturen unter Torsionsbeanspruchung .................................... 682 Tabelle 21.1.1 Löslichkeitsgrenzen von Legierungselementen durch rasche Erstarrung ................................................................... 719 Tabelle 22.1.1 Elementare Zusammensetzung der Erdkruste ................... 737 Tabelle 22.1.2 Zusammensetzung des Bauxits .................................. 738 Tabelle 22.1.3 Prozeßdaten für die Aluminiumelektrolyse ..................... 741 Tabelle 22.4.1 Europäisches Energieressourcenmodell für Aluminium ....... 750
1 Einführung
1.1 Der Wettbewerb der Werkstoffe in den Märkten Aluminiumanwendungen findet man auf fast allen Gebieten der Wirtschaft und des modernen Lebens. Sie reichen von der Architektur über Verkehr, Maschinenbau, Elektrotechnik und Verpackung bis hin zu Freizeit und Sport, Unterhaltung und Kommunikation, Kunst und Kultur. Auf den meisten dieser Anwendungsgebiete steht Aluminium in direktem Wettbewerb mit anderen Werkstoffen und muß sich gegenüber technischen und wirtschaftlichen Herausforderungen dieser Konkurrenten behaupten. Gesicherter Erfolg wird nur beschert, wenn ein Anwendernutzen deutlich erkennbar ist. Neben ästhetischen Gründen, Langlebigkeit, Servicefreundlichkeit und wirkungsvoller Recyclingfähigkeit wird der Anwendernutzen vorrangig an der Wirtschaftlichkeit und Zuverlässigkeit der Produkte gemessen. Die Herausforderung besteht deshalb darin, angesichts eines gegenüber anderen Werkstoffen höheren Materialpreises dennoch zu wettbewerbsfähigen Lösungen zu kommen. Daß dies gelingen kann, belegt offensichtlich die weltweite mengenmäßige Entwicklung der Aluminiumproduktion seit dem historischen Beginn der industriellen Aluminiumproduktion Ende des 19. Jahrhunderts, die in Bild 1.1 dargestellt ist und die jährlichen Erzeugungsmengen von Primäraluminium („Hüttenaluminium“) enthält. Der wesentliche Anteil der Aluminiumproduktion betrifft die sog. „westliche Welt“, die nicht nur Europa, Nord- und Südamerika, Australien und afrikanische Länder, sondern auch die GUS-Staaten, Japan und Südkorea umfaßt. Im letzten Jahrzehnt haben darüber hinaus rasante Entwicklungen in den sog. „östlichen Ländern“ begonnen, allen voran in China, wo die Produktion, Verarbeitung und Verwendung auf der Grundlage modernster „westlicher“ Technologien aufgebaut wird. Hinzuzurechnen ist noch ein erheblicher Anteil (2004: 7.800.000 t) von „Sekundäraluminium“ aus Recyclingkreisläufen, der in Deutschland und Europa bereits über 30% des Gesamtbedarfs abdeckt, s. unten und Kap. 21.
2
1 Einführung
Bild 1.1 Entwicklung der Weltaluminiumproduktion
Der offensichtliche Grund für die rasante Verbrauchsentwicklung sind die vielseitigen Gebrauchs- und Verarbeitungseigenschaften, durch die sich Aluminium gegenüber anderen Gebrauchsmetallen auszeichnet. Hierzu zählen die Eigenschaften in Tabelle 1.1. Tabelle 1.1 Einige vorteilhafte Gebrauchseigenschaften von Aluminium • •
Geringes spezifisches Gewicht: Vielfältige Herstellungsmöglichkeiten:
• •
Vielseitige Formgebungsmöglichkeiten: Gute Korrosionsbeständigkeit:
• •
Großes Festigkeitsspektrum: Ungiftig:
•
Hohe elektrische Leitfähigkeit:
•
Hohe Wärmeleitfähigkeit:
1/3 so hoch wie Stahl Gießen, Walzen bis zu 5 µm Dicke, Strangpressen, Schmieden, Kaltfließpressen, Ziehen Spanen, Tiefziehen, Streckziehen, Biegen, Stanzen u.a. durch Anodisieren und Beschichten noch zu verbessern von 70 bis 800 N/mm² verwendbar als Verpackungsstoff für Lebensmittel 2x so hoch wie Kupfer, wenn bezogen auf das gleiche Gewicht 3x so hoch wie Stahl
1.2 Innovationsgrundlagen
3
So wurde Aluminium nach Stahl zum wichtigsten Gebrauchsmetall. Die Zunahme des Aluminiumverbrauchs wurde getragen von der gesamtweltwirtschaftlichen Entwicklung nach dem Ende des 2. Weltkriegs, aber auch durch Substitution anderer Werkstoffe durch Ausschöpfung seines besonderen Eigenschaftsspektrums. Die herausragenden Eigenschaften – geringes Gewicht, hohe Korrosionsbeständigkeit und Lebensmittelverträglichkeit – sind die Grundlage für die Eroberung der Märkte Transport und Verkehr, Bauwesen und Verpackung, die zusammen mehr als 2/3 des Gesamtaluminiumbedarfs darstellen.1 Detailliertere Ausführungen zu anwendungstechnischen Entwicklungen in diesen Märkten enthält Kap. 2. Ohne Zweifel geht es auf allen Märkten – aber besonders auf dem bedeutenden Automobilsektor – um die Wahrung der Position der einzelnen Werkstoffgruppen, so daß weitere Substitutionen gegen äußerste Widerstände erkämpft werden müssen. Hierbei spielen immer neue Innovationen und die gezielte Weiterentwicklung und Beherrschung des „gewußt-wie?“ eine entscheidende Rolle. Allerdings gibt es auch nur wenige Anwendungsgebiete, in denen durch weitere Entwicklungen bei anderen Werkstoffen – z.B. bei den hochfesten Stählen, Magnesium sowie glas- und carbonfaserverstärkten Kunststoffen – Aluminiumanwendungen nicht resubstitutiert werden können. Damit dies nicht geschieht und die positiven Wachstumstrends andauern, sind Innovationen bei den Werkstoff- und Verarbeitungstechnologien unabdingbar. Darüber hinaus ist Kreativität bei den konstruktiven Konzepten gefordert, die sich zu einem harmonischen Dreiklang mit den Werkstoff- und Verarbeitungstechnologien gesellen müssen.
1.2 Innovationsgrundlagen Grundlage für die Entwicklung der Werkstoffeigenschaften ist die Kontrolle und gezielte Veränderung des Makro- und Mikrogefüges. Die Wahl des geeigneten Ausgangszustands sowie die bewußte Veränderung des Gefüges in der Verarbeitungsprozeßkette sind die Voraussetzung für bere1
Aktuelle statistische Zahlen findet man online in folgenden Datenbanken: Gesamtverband der dt. Al.-Industrie (GDA) European Aluminium Association (EAA) The Aluminum Association (AA) Australian Aluminium Council Aluminium Federation of South Africa Associação Brasileira do Alumínio (ABAL) World Bureau of Metal Statistics (WBMS) International Aluminium Institute (IAI)
www.aluinfo.de www.eaa.net www.aluminum.org www.aluminium.org.au www.afsa.co.za www.abal.org.br www.world-bureau.com www.world-aluminium.org.
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1 Einführung
chenbares Verhalten im Einsatz. Die Vielfalt der Veränderungsmöglichkeiten und ihre Nutzung für die Optimierung von Prozessen, Kosten und Bauteilverhalten sind Ressourcen für Innovationen. Neben der mechanischen ist vor allem die thermische Gefügebeeinflussung von Interesse. Aufgrund des relativ geringen Schmelzpunktes des Aluminiums kann das Gefüge bereits bei Temperaturen bis 250 °C starken Veränderungen unterworfen werden. Solche thermischen Prozesse lassen sich in geschlossene oder teilweise geschlossene Prozeßketten integrieren und damit weitere Freiheitsgrade für die Ausnutzung des Werkstoffpotentials gewinnen. Andererseits können durch notwendige thermische Prozeßstufen wie dem Aushärten von Klebstoffen oder organischen Beschichtungen Gefügeveränderungen verursacht werden, die auch zur Festigkeitssteigerung genutzt werden können, vorausgesetzt, der Werkstoff liegt zuvor in einem geeigneten Werkstoffzustand vor. Aus konstruktiver Sicht ist es weiterhin wünschenswert, das Verhalten während der Verarbeitung und vor allem während der Einsatzdauer vorherzusagen. Die Einsatzbedingungen stellen dabei häufig Anforderungen, die durch die üblichen Werkstoffkenndaten nicht befriedigt werden können, wie z.B. das Crash-Verhalten. Entscheidend dabei ist das Bruchverhalten, welches sensibel auf Gefügezustand und -veränderungen reagiert. Die Kenntnis des Bruchverhaltens – sei es unter statischer, dynamischer, schwingender oder korrosiver Beanspruchung – und seine Abhängigkeit von Gefügezuständen und Spannungszuständen ist eine wesentliche Grundlage für die verläßliche Vorhersage, Modellierung oder Simulation. Schwachstellen im Werkstoff oder Bauteil – wie Schweißverbindungen – stellen besonders hohe Anforderungen an Detailkenntnisse der Gefügeveränderungen, die durch den Schweißprozeß hervorgerufen wurden. Der Schwerpunkt der Anwendungstechnologie im Rahmen dieses Buches liegt daher auf einer verständlichen Darstellung des aktuellen Wissensstandes über z.T. sehr komplexe metallkundliche Vorgänge bei der Verarbeitung und beim Produkteinsatz. Die Kap. 3–6 sollen dieses Grundwissen vermitteln. Das Spektrum der Herstellungsverfahren für Aluminiumhalbzeuge und Formgußteile wird in den Kap. 7–11 erläutert. Dabei beschränken sich die Ausführungen auf diejenigen Aspekte, die für die Anwendung wichtig sind. Die Gestaltungsmöglichkeiten der Halbzeugformen und Formgußteile hängen entscheidend mit den Verfahrensprinzipien und ihren Grenzen zusammen. Berücksichtigung der verfahrensbedingten Freiheitsgrade in der Gestaltung von Vor- und Endformen bringt wirtschaftliche Vorteile. Die spanlosen und spangebenden Formgebungsverfahren in der Weiterverarbeitung von Halbzeugen sind in den Kap. 12–14 beschrieben. Sie gehören zu den Schlüsseltechnologien der Anwendungstechnik wie auch die
1.2 Innovationsgrundlagen
5
Fügeverfahren. Die Anwendbarkeit von Fügeverfahren dominiert die Werkstoffwahl, wirkt auf das Bauteilverhalten und entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit der Produktlösung. Eine kurze Einführung in die Oberflächenbehandlung enthält Kap. 15. Die für Aluminium geeigneten Fügeverfahren werden in den Kap. 16–19 beschrieben. Kapitel 20 befaßt sich mit konstruktiven Aspekten der Aluminiumanwendung, die einen möglichst hohen Gewinn an wirtschaftlichem Leichtbaugrad, aber gleichzeitig an Steifigkeit, Sicherheit und Zuverlässigkeit gewährleisten sollen. Es wird deutlich, daß der Erfolg einer konstruktiven Lösung nur durch Anwendung aluminiumgerechter Rahmenbedingungen gewährleistet ist, die in der Gestaltung und Fertigung notwendige Freiheitsgrade einräumen. In der Vergangenheit war die werkstofftechnische Ingenieuraufgabe meistens beschränkt auf eine „Insellösung“, d.h. in der arbeitsteiligen Wirtschaft wurde jeweils für eine bestimmte Teilaufgabe oder -funktion eine Lösung gesucht. Das Ziel solcher Arbeitsweise war erreicht, wenn die Lösung anforderungsgerecht und zu wettbewerbsfähigen Kosten produziert werden konnte. Dabei wurden vielfach die Erfahrungen mit anderen Werkstoffen zugrunde gelegt und auf die Aluminiumkonstruktion und -verarbeitung übertragen. Viele Aluminiumanwendungen scheiterten an starren räumlichen Vorgaben oder an bereits vorhandenen Fertigungseinrichtungen, die für die Aluminiumverarbeitung nicht geeignet waren. Für viele erfolgreiche Aluminiumanwendungen waren eine ganzheitliche werkstoffspezifische Arbeitsweise und in der Tat eine eigenständige Fertigung der Schlüssel zum Erfolg. Auf einen wirtschaftlichen Aspekt konstruktiv-konzeptioneller Arbeitsweise sei hier hingewiesen. Daß die Gesamtkosten eines Produktes die Summe aller Einzelkosten sind, ist eine triviale Aussage. Daß aber die Optimierung der Gesamtkosten nicht gleichbedeutend sein muß mit der Minimierung aller Einzelkosten, ist nicht immer einsichtig. So können höhere Kosten im Einzelfall dennoch zu einem wirtschaftlicheren Gesamtergebnis führen, wenn durch Synergieeffekte sich in anderen Bereichen Kosteneinsparungen ergeben. Da das Rohmetall Aluminium, d.h. das unverarbeitete Material, üblicherweise teurer ist als andere Rohmaterialien, ist das systematische Nachdenken über Synergieeffekte eine Grundvoraussetzung in der Aluminium-Anwendungstechnik. Die Aufgabe heißt also: werkstoffgerecht planen, konstruieren und fertigen. Die Konstruktions- und Fertigungspotentiale des Werkstoffs Aluminium sind in der Tat größer als bei anderen Werkstoffen. Die ausgezeichneten Gieß-, Strangpreß-, Schmiede- und Fließpreßeigenschaften des Werkstoffs ermöglichen Einsparungen von Fertigungsschritten durch endkonturnahe Vorformen, die nur noch geringer Nacharbeit bedürfen. Um das „near net shape“ Potential zu nutzen, sollte man sich immer über das unbedingt ein-
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1 Einführung
zuhaltende Toleranzspektrum Rechenschaft ablegen. Unnötige hohe Toleranzforderungen sollten möglichst konstruktiv vermieden werden. Eine besondere Faszination stellt weiterhin die formgebende Weiterverarbeitung von stranggepreßten Profilen dar. Traditionell werden Profile mit einheitlichen Querschnitten und möglichst engen Toleranzen über der geraden Profillänge verwendet. Dreidimensionale Querschnittsänderungen durch Kaltumformverfahren wie Biegen, hydromechanisches Umformen und lokales Fließpressen aber öffnen erst das ganze Spektrum der Formgebungsmöglichkeiten gerade in der Massenfertigung. Die Wahl des geeigneten „near net shape“ Ausgangsmaterials (im Sinne von Formguß oder Halbzeugformen) ist abhängig von der Legierungswahl und den Legierungseigenschaften sowie von den weiteren Formgebungsund Bearbeitungsprozessen. Bei Bauteilen aus hochfesten Legierungen kann manchmal aufgrund der ausgezeichneten Zerspanbarkeit und der Einsparung von Fügeoperationen die spangebende Formgebung aus einer massiven Walzplatte günstiger sein als aus konturnahen Strangpreßprofilen. Das Spektrum der werkstofflichen Möglichkeiten wird darüber hinaus durch zahlreiche Sonderwerkstofformen erweitert, die durch Pulvermetallurgie, Metallmatrix-Faser- und -Partikelverbunde, sowie durch Aluminiumschaumstoffe angeboten werden. Hierüber wird in Kap. 21 ein kurzer Überblick gegeben. Die Aluminiumwerkstoffwahl bei der Bauteilentwicklung ist eine anspruchsvolle Optimierungsaufgabe. Betrachtungen über Ressourcen, Gewinnung, Recycling und Ökologie in Kap. 22 schließen den Inhalt des Buches ab. Für ein Gebrauchsmetall mit hohem Einsatzvolumen sind diese Aspekte für langfristige Perspektiven wichtig. Tatsache ist, daß die Aluminiumgewinnung nach heutigen Technologiestandards einen hohen Energieeinsatz erfordert. Es ist aber auch unbestritten, daß das Recycling von Altschrotten aus ausgedienten Aluminiumprodukten eine wirtschaftlich attraktive industrielle Spartentätigkeit ist, und die Wiedergewinnung von „sekundärem“ Aluminium eine hohe Energieeinsparung ermöglicht. Zudem kann das wirtschaftliche Recycling von Aluminium auf eine über 100-jährige Tradition zurückgreifen, wie durch den Ausschnitt aus der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ aus dem Jahr 1893 belegt ist, der in Bild 1.2.1 wiedergegeben ist. Damals ging es um die Markteinführung von Aluminium-Küchengeschirr, die das gängige Kupfer- und Messinggeschirr ersetzen sollten. Heute geht es um die Eroberung des Automobilsektors, und der Recyclingprozeß spielt dabei eine ähnlich wichtige Rolle zur Wahrung der Ressourcen. Bereits heute deckt rezykliertes Aluminium mehr als 30% des Metallbedarfs in Deutschland und Europa.
1.2 Innovationsgrundlagen
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Bild 1.2.1 Ausschnitt aus einem Artikel in der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ aus dem Juli-Heft des Jahres 1893, in dem auf das wirtschaftliche Recycling von Altaluminium hingewiesen wird
Für vertiefendes Studium ist die im Text erwähnte Literatur in einer aktuellen, nach Kap. geordneten Literatursammlung am Ende des Buches zusammengestellt. Darüber hinaus sei auf eine Reihe von frei zugänglichen Internetdatenbanken hingewiesen2, die zum Inhalt dieses Buches ergänzende Informationen über metallkundliche und anwendungstechnische Aspekte bieten. Der Anhang enthält tabellarische Übersichten über ausgewählte Aluminiumlegierungen und deren physikalische und typische mechanisch-technologischen Eigenschaften sowie eine Normenübersicht. Bei der Angabe von Eigenschaften wurde weitgehend darauf verzichtet, genormte Eigenschaften wiederzugeben, da diese Änderungen unterworfen sind und sich der Konstrukteur verbindlich auf die jeweils gültigen genormten Werk2
Das Ausbildungsprojekt AluMatter: www.aluminium.matter.org.uk, und das anwendungsorientierte Aluminium Automotive Manual: www.eaa.net/aam.
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1 Einführung
stoffangaben und garantierten Mindesteigenschaften beziehen muß. Typische Werkstoffangaben dagegen sind für den Entwicklungsprozeß sinnvoller; sie geben das wirkliche Werkstoffverhalten – die gegenseitige Abhängigkeit von Festigkeit und Duktilität – richtiger wieder.
2 Märkte und Anwendungen
Die wichtigen Märkte in Deutschland und Europa mit ihren Mengenanteilen am Aluminiumverbrauch1 gehen aus Tabelle 2.1. hervor. Analysiert man den Werkstoffeinsatz in diesen Märkten, fällt auf, daß im Transportund Verkehrssektor, im Bauwesen sowie im Maschinenbau ein hoher Anteil des Aluminiumeinsatzes auf konstruktive, strukturelle Anwendungen entfällt mit entsprechenden hohen Anforderungen an Tragfähigkeit, Sicherheit und Langlebigkeit. Hier sind in besonderem Maße Kenntnisse der Aluminium-Anwendungstechnologie gefordert. Tabelle 2.1 Endverbrauch (in %) von Aluminiumhalbzeugen, Formguß, Folie und Pulver in verschiedenen Marktsegmenten in Deutschland und Europe im Jahr 2004 (Quelle: EAA, GDA) Marktsegment Transport und Verkehr Bauwesen Verpackung Maschinenbau, Elektrotechnik Sonstige Märkte Endverbrauch 2004 absolut
Europa, in % 36 26 17 14 7 8,9 Mio. t
Deutschland, in % 43 15 10 14 18 3,1 Mio. t
Die technologisch interessantesten Anwendungsmärkte für Aluminium aus der Sicht der Konstrukteure, Fertigungsingenieure und Werkstoffachleute sind heute zweifellos der Transport- und Verkehrssektor. Wie auf kaum einem anderen Gebiet spielt hier jedoch der Wettbewerbsstreit der Werkstoffe um Marktanteile, – und dieser Streit fördert Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen in allen technischen Disziplinen. Die neueren Entwicklungen hoch- und höchstfester Stahlwerkstoffe sind ein Beispiel 1
Der in volkswirtschaftlichen Statistiken verwendete Begriff „Verbrauch“ ist für Aluminium insofern irreführend, als der Werkstoff sich nicht verbraucht, sondern zu hohen Prozentsätzen durch Recyclingprozesse wieder gebrauchstauglich gemacht wird, s. Kap. 22.
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2 Märkte und Anwendungen
für die Herausforderungen in diesem Werkstoffwettbewerb. Substitution und Resubstitution sind das wechselvolle Spiel. Energieeinsparung als treibende Kraft für den Einsatz von Leichtbauwerkstoffen war in der Vergangenheit und wird auch in Zukunft eine wichtige Motivation sein. Längst aber scheint der Wettbewerb um wirtschaftlichste Lösungen des Leichtbaus die dominierende Rolle übernommen zu haben. Die Vielfältigkeit der Aluminiumanwendungen in den in Tabelle 2.1 genannten Marktsektoren macht es notwendig, Beispiele auszuwählen, die typisch für den Stand der Technik sind. Zudem erfordern die verschiedenen Bereiche des Verkehrssektors unterschiedliche Lösungsansätze bezüglich Werkstoffauswahl und Anwendungstechnologien. Aus diesem Grunde werden die nachfolgenden Betrachtungen für die einzelnen Verkehrsbereiche – Automobilbau, Nutzfahrzeugbau, Schienenfahrzeug- und Schiffsbau sowie Flugzeugbau – getrennt herausgestellt. Einige Betrachtungen zum Bauwesen und weiteren Anwendungsmärkten schließen dieses Kapitel ab. Die dargestellten Beispiele sollen das Interesse wecken, sich mit den werkstofflichen, gestalterischen und fertigungstechnischen Grundlagen zu befassen, die den Hauptteil dieses Buches ausmachen.
2.1 Aluminium im Automobilbau Unter den mengenmäßig bedeutenden Absatzmärkten für Aluminiumwerkstoffe gilt der Automobilsektor als derjenige mit dem größten Entwicklungspotential hinsichtlich Werkstoffbedarf und -technologien. Als Leichtbauwerkstoff für Motorkomponenten, Fahrwerk und Karosserie wurde Aluminium bereits über fast ein Jahrhundert in verschiedenen Fahrzeugmodellen serienmäßig2 verwendet, um anfänglich den Reifenabrieb zu verringern, später die Fahreigenschaften bei noch mangelhafter Motorentechnik und schließlich – seit den Ölkrisen der 70-ger Jahre und dem gestiegenen Umweltbewußtsein – den Energiebedarf und die Umweltbelastung zu reduzieren. Großserienproduktionen von Voll-Aluminium-Fahrzeugen waren jedoch vorübergehende Ausnahmeerscheinungen. Ein Beispiel ist der Dyna Panhard 1954, der bereits Werkstofftechniken verwendete, die auch heute noch z.T. Grundlagen des Aluminium-Karosseriebaus sind, s. Bild 2.1.1. Das Gewicht der 6-sitzigen, 4-türigen Limousine: 650 kg. Motorisierung: luftgekühlter 2-Zylinder-Motor mit 850 cm³. Maximale Geschwindigkeit: 140 km/h, Autobahndauergeschwindigkeit: 120 km/h. 2
Die Seriengrößen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts waren jedoch verglichen mit den heute üblichen relativ bescheiden.
2.1 Aluminium im Automobilbau
11
Karosserieblechwerkstoffe waren die Legierungen AlMg3, AlMg4 und AlMg5, z.T. in fließfigurenarmer Qualität. Fügetechnik der Karosserie: Punktschweißen. Dichtschweißen des Tanks aus 1,2 mm AlMg3 erfolgte mit Rollennahtschweißen (Baron 1954).
Bild 2.1.1 Dyna Panhard 1954 mit selbsttragender Blechkarosserie aus Aluminium
Während in den 70-, 80-er und auch noch in den 90-er Jahren die Motorentechnik erhebliche Fortschritte bei der Treibstoffbedarfsminderung machte und dadurch der Leichtbau, der gewöhnlich mit höheren Kosten verbunden ist, immer wieder nachrangig wurde, haben die zunehmenden Treibstoffpreise, die Gewichtszunahme der Fahrzeuge im vergangenen Jahrzehnt und die Emissionsgesetzgebungen in Europa und den USA den Leichtbau in den Vordergrund gerückt. Vor allem Sicherheits-, Qualitätsund Komfortverbesserungen der Fahrzeuge haben eine Gewichtsspirale ausgelöst, die beispielhaft für den VW-Golf in Bild 2.1.2 dargestellt ist. Ähnliche Verhältnisse gelten für alle Fahrzeugtypen und -klassen internationaler Hersteller. Gleichzeitig hat sich die Automobilindustrie im Jahr 1998 verpflichtet, den CO2-Ausstoß bis zu den Jahren 2008 und 2012 von derzeit ca. 180 bis 200 g/km auf 140 bzw. 120 g/km zu reduzieren, s. Bild 2.1.3. Dieses Ziel ist nach dem gegenwärtigen Stand der Technik nur durch erhebliche Gewichtsreduzierung der Fahrzeuge erreichbar. Änderungen der Antriebstechnik mit geringeren CO2-Emissionen, wie Hybrid- und Gasantriebe, Wasserstoffantrieb bzw. Brennstoffzellen, sind teilweise noch Zukunftsvisionen, führen in der Regel aber ebenfalls zu höheren Fahrzeuggewichten mit entsprechenden Einschränkungen der Fahrdynamik oder erfordern stärkere Motorisierung. Die Notwendigkeit des Leichtbaus wird durch diese Entwicklungen nicht überflüssig.
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2 Märkte und Anwendungen
Bild 2.1.2 Gewichtsentwicklung des VW-Golf zwischen 1975 und 2003 auf Basis einheitlicher Motorleistung (Quelle: v. Zengen, EAA)
Bild 2.1.3 Selbstverpflichtung der Automobilindustrie aus dem Jahr 1998 zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes (CEC: Europäische Kommission, ACEA: Dachverband der Europäischen Automobilhersteller) (Quelle: IKA, RWTH Aachen)
Jahrzehntelang war der Einsatz von Aluminium im Automobil weitgehend beschränkt auf Formgußanwendungen bei Kolben und Aggregategehäusen im Antriebsbereich sowie bei Rädern. Zwei Drittel der gesamten Aluminiumgießereiproduktion wurden und werden in diesen Markt geliefert. Im (west-)deutschen Automobilbau wurden 1955 knapp 14.000 t
2.1 Aluminium im Automobilbau
13
Leichtmetall eingesetzt, was etwa einem durchschnittlichen Aluminiumanteil von 2 % pro Fahrzeug (Gesamtproduktion an Fahrzeugen 1955: 718.400) entsprach (Annon. 1956). Im Jahre 2004 hat sich die Liefermenge an deutsche Automobilwerke auf etwa 750.000 t Aluminium erhöht, wovon Gußmaterial einen Anteil von etwa 75 % ausmacht. Bei einer Gesamtproduktion von 5,6 Mio. Fahrzeugen und unter Berücksichtigung von Fertigungsverschnitt entspricht dies einem durchschnittlichen Anteil von fast 10 % oder 110–120 kg/Fahrzeug. Nach amerikanischen Angaben beträgt im Jahr 2005 der durchschnittliche Aluminiumanteil pro Neufahrzeug 144,8 kg, eine Zunahme um 16 % seit 2002. In den vergangenen zehn Jahren hat sich der Aluminiumanteil am Fahrzeuggewicht daher annähernd verdoppelt. Dieser gewaltige Anstieg bedeutet eine deutliche Durchdringung des Motorenbaus (Zylinderkopf, Motorgehäuse und sonstige Antriebsaggregate), aber auch eine erheblich stärkere Verwendung von Aluminium in Fahrwerk und Karosserie. Angesichts des politischen Umfelds wird mit weiteren Steigerungen gerechnet, sofern die wachsenden Rohstoffpreise nicht nachteilige Auswirkungen haben. 2.1.1 Aluminium im Antriebsbereich In den vergangenen 50 Jahren hat sich Aluminium als Leichtbauwerkstoff im gesamten Antriebsstrang – im Motor und Getriebegehäuse, Wärmetauscher, Wärmeabschirmung, bei Flüssigkeitsleitungen sowie gelegentlich bei der Kardanwelle – etabliert. Kolben und Zylinderköpfe von Otto- und Dieselmotoren, Wärmetauscher und Wärmeabschirmbleche bestehen heute aus Aluminium, wie auch bereits etwa 50% der Zylinderblöcke. Neben dem geringen spezifischen Gewicht war die hohe Wärmeleitfähigkeit, Gießbarkeit und Korrosionsbeständigkeit des Werkstoffs in Verbindung mit werkstofftechnischen Entwicklungen der Warmfestigkeit, Wärmeausdehnung, Tribologie sowie der Gießtechnologie maßgebend für den Erfolg. Für eine ausführliche Darstellung des Entwicklungsstandes wird auf das Aluminium Automotive Manual (www.eaa.net/aam) verwiesen. Kolben
Kolben in Benzin- und Dieselmotoren sind extremen thermischen Belastungen ausgesetzt, die durch Spitzentemperaturen des Gases im Brennraum von 1800 bis 2600 °C und beim Auslaß von 500–800 °C gekennzeichnet sind. Sie müssen einem Gasdruck bis zu 75 bar in Benzinmotoren und bis zu 180 bar und mehr in turbogeladenen Dieselmotoren widerstehen. Die Wärmelast wird durch die Kolbenringe und durch die Öl-Spritz-
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2 Märkte und Anwendungen
kühlung soweit abgeführt, daß nur noch Spitzentemperaturen bis zu 300 °C vom Kolbenboden ertragen werden müssen (Röhrle 1994). Die Kontrolle der Wärmedehnung wird überwiegend durch eingegossene Stahlverstärkungen oder – bei Nutzfahrzeugmotoren – durch eingegossene Aluminiumoxidfaserverbunde gewährleistet. Die Wärmeausdehnung verringert sich mit zunehmendem Silizium-Gehalt. Abgesehen von geschmiedeten Kolben für Hochleistungsmotoren werden Kolben im Schwerkraftkokillenguß sowie durch Squeeze-Casting, s. Abschn. 7.1, hergestellt. Als Kolbenlegierungen dienen hypoeutektische, eutektische und hypereutektische AlSi-Legierungen mit 10 bis 18 % Si und geringen Beimengungen von Cu, Mg und Ni. Warmfestigkeit und Verschleißfestigkeit sind die wesentlichen Forderungen an den Kolbenwerkstoff. Die Komplexität der Kolben und der Legierungsgehalt der Kolbenlegierungen richten sich nach den jeweiligen Anforderungen und variieren mit den Spezifikationen der Hersteller. Kolbenlegierungen sind bis auf eine Ausnahme, der eutektischen Legierung AlSi12CuMgNi (EN AC-48000K-T5 bzw. T6, entspricht AA336), nicht in den europäischen Standards enthalten. Tabelle 2.1.1 enthält die Eigenschaftsmerkmale einiger typischer Kolbenlegierungen. Zylinderköpfe
Zylinderköpfe sind ebenfalls hohen mechanischen und thermischen Beanspruchungen ausgesetzt. Die Betriebstemperaturen erreichen 260 °C in Ottomotoren und höhere Temperaturen in Dieselmotoren. Hohe RT-Festigkeit und hoher Kriechwiderstand bei Betriebstemperatur sind gefordert, um optimale mechanische Bearbeitbarkeit, Formbeständigkeit und Dichtigkeit der Zylinderkopf-Zylinderblock-Fuge zu gewährleisten. Der Wechsel von Temperatur und mechanischer Belastung während des Betriebs führt zu thermomechanischer Werkstoffermüdung, weshalb – anders als bei Kolben – eine gewisse Duktilität des Materials erforderlich ist (Sehitoglu et al. 2002, Feikus 2001, Loeprecht et al. 2000). Die Komplexität der Zylinderkopfformen hat durch die moderne Vielventil- und Ventilsteuerungstechnik erheblich zugenommen, was die Beanspruchung des Materials speziell im brennraumseitigen Bereich des Zylinderkopfes weiter steigert. An die Gußlegierungen und Gießverfahren werden daher hohe Anforderungen gestellt, die neben den genannten Eigenschaften ein gutes Formfüllungsvermögen und Erstarrungsverhalten sowie eine porenarme Gußqualität gewährleisten müssen.
2.1 Aluminium im Automobilbau
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Tabelle 2.1.1 Eigenschaften von typischen Aluminium-Kolbenlegierungen für mittlere bis hohe Anforderungen (Quelle: Nüral) Merkmal bei Temperatur, °C
Eutektische Legierung AlSi12CuMgNi
Übereutektische Legierung AlSi18CuMgNi
gegossen geschmiedet gegossen geschmiedet Dehngrenze Rp0,2 [MPa] 20° 190 - 230 280 - 310 170 - 200 220 - 280 150° 170 - 220 230 - 280 150 - 190 200 - 250 200° 120 - 170 100 - 150 250° 80 - 110 90 - 120 80 - 120 100 - 140 300° 50 - 80 60 - 80 Zugfestigkeit Rm [Mpa] 20° 200 - 250 300 - 370 180 - 230 230 - 300 150° 180 - 230 250 - 300 170 - 210 210 - 260 200° 160 - 200 160 - 190 250° 100 - 150 110 - 170 110 - 140 100 - 160 300° 80 - 100 90 - 130 Bruchdehnung A5 [%] 20° 0,3 - 1,5 1-3 0,2 - 1,0 0,5 - 1,5 Biegewechselfestigkeit σbW [MPa] 20° 80 - 120 110 - 140 80 - 110 90 - 120 150° 70 - 110 90 - 120 60 - 90 70 - 100 250° 50 - 70 60 - 70 40 - 60 50 - 70 300° Elastizitätsmodul E [x1000 MPa] 20° 80 - 81 81 83 - 84 84 200° 73 - 74 75 - 76 250° 68 - 72 74 76 300° -6 Mittlerer linearer Wärmeausdehnungskoeffizient [1/Kx10 ] 20,5 - 21,5 18,5 - 19,5 18,5 - 19,5 20° - 200 °C 20,5 Wärmeleitfähigkeit [W/cmK] 20° 1,43 - 1,55 1,47 1,34 1,43 - 1,55
Eutektische Sonderlegierung AlSi12Cu4Ni2Mg gegossen 200 - 280 150 - 200 100 - 150 85 - 100 210 - 290 170 - 210 130 - 180 100 - 120 0,1 - 0,5 90 - 120 90 - 120 60 - 80 45 - 60 82 78 72 70 20,5 - 21,5 1,30 - 1,40
Als Gießverfahren für Zylinderköpfe wird überwiegend der Schwerkraftkokillenguß eingesetzt, wobei sehr komplexe innere Hohlräume und Kanäle durch Sandkerne eingebracht werden können. Als Variante wird das Rotacast®-Verfahren, das Kernpaket-Sandgußverfahren (CPS®-Verfahren) sowie neuerdings das Vollformgießen verwendet, s. Abschn. 7.1. Die Wahl der Gußlegierungen richtet sich nach den Anforderungen des jeweiligen Motortyps. Aus Kostengründen und bei mäßig hohen Anforderungen werden die Sekundärlegierungen AlSi6Cu4 und AlSi8Cu3 in den Wärmebehandlungszuständen F, T4 oder T5 eingesetzt sowie die Fe-ärme-
16
2 Märkte und Anwendungen
ren Varianten AlSi7Mg und AlSi10Mg(Cu) im Zustand T6 3. Wenn höhere Duktilitätsanforderungen gestellt werden, muß man auf die teueren, reineren Primärlegierungen AlSi7Mg0,3 oder AlSi9Mg zurückgreifen, deren Warmfestigkeit jedoch begrenzt ist. Neuere Legierungsentwicklungen auf Primäraluminiumbasis mit Cu- und Ni-Beimengungen bieten höhere Warmfestigkeiten und gutes Duktilitätsniveau, wie z.B. Legierung AlSi7MgCu0,5. Die chemische Zusammensetzung geeigneter Legierungen enthält Tabelle 2.1.2. Eine Wärmebehandlung mit abschließender Warmaushärtung ist erforderlich, um Eigenspannungen aus dem Gießprozeß abzubauen und die hohen Toleranzanforderungen bei der maschinellen Bearbeitung zu gewährleisten. Tabelle 2.1.2 Häufig und gelegentlich verwendete Aluminiumlegierungen für Zylinderköpfe. Zusammensetzung gemäß DIN EN 1706 mit Ausnahme der Legierung AlSi7MgCu0,5 Legierung EN AC-
Si
Fe
Cu
Mn
Mg
Ni
Zn
Ti
AlSi8Cu3
1)
7,5 - 9,5
0,8
2,0 - 3,5
0,15 - 0,65
0,05 - 0,55
0,35
1,2
0,25
AlSi6Cu4
2)
5,0 - 7,0
1,0
AlSi7Mg0,3 AlSi7Mg
3)
3,0 - 5,0
0,2 - 0,65
0,55
0,45
2,0
0,25
6,5 - 7,5 0,19
0,05
0,10
0,25 - 0,45
0,03
0,07
0,08 - 0,25
6,5 - 7,5 0,55
0,20
0,35
0,20 - 0,65
0,15
0,15
0,05 - 0,25
6,5 - 7,5 0,19 0,4 - 0,6
0,10
0,25 - 0,45
0,03
0,07
0,08 - 0,25
AlSi9Mg
9,0 - 10,0 0,19
0,05
0,10
0,25 - 0,45
0,03
0,07
0,15
AlSi10Mg(Cu)
9,0 - 11,0 0,65
0,35
0,55
0,25 - 0,45
0,15
0,35
0,15
AlSi7MgCu0,5
1)
4)
A380.2, VDS 226
2)
A319, VDS 225
3)
356.0
4)
nicht genormt
Aluminiummotorblöcke
Der Einsatz von Aluminium in Motorblöcken erlaubt – ähnlich wie bei Zylinderköpfen – eine Gewichtseinsparung bei den Gehäusen bis zu 50% gegenüber den Ausführungen in Grauguß. Zudem werden Kompatibilitätsprobleme zwischen Zylinderkopf und Motorblock infolge unterschiedlicher thermischer Ausdehnung gegenstandslos. Die kompakte Bauweise moderner Motoren erfordert eine sehr gute und gleichmäßige Wärmeableitung über die engen Brücken zwischen den Zylindern. Die Temperaturbeständigkeit des Materials muß bis mindestens 150 °C – im Bereich der Kurbelwellenlagerung bis 200 °C – gewährleistet sein. Von besonderer Bedeutung sind Anforderungen an den Verschleißwiderstand der Zylinderlaufflächen. 3
Die normgerechten Bezeichnungsweisen von Legierungen und WerkstoffZuständen sind in Abschn. 3.4 dargestellt.
2.1 Aluminium im Automobilbau
17
Im Laufe der Entwicklung haben sich verschiedene technische und wirtschaftliche Lösungskonzepte herausgestellt. Aus wirtschaftlichen Gründen wird die Herstellung von Motorblöcken mit dem Druckgießverfahren oder dem Schwerkraftkokillenguß unter Verwendung von preiswerteren Sekundärlegierungen EN AC-AlSi9Cu3(Fe) bzw. EN AC-AlSi8Cu3 und EN AC-AlSi6Cu4 vorgenommen. Wegen mangelnder Verschleißfestigkeit der Zylinderlaufflächen werden in diesen Fällen Zylinder aus Grauguß sowie seit einigen Jahren auch aus pulvermetallurgisch (s. Sprühkompaktieren, Kap. 21) hergestellten und stranggepreßten hoch Si-haltigen (27 – 32 % Si) Aluminiumlaufbuchsen beim Gießprozeß eingegossen, s. Bild 2.1.4. Das bei der Erstarrung ausgeschiedene primäre Silizium in Form von feinen Partikeln ist äußerst hart und verschleißfest.
Bild 2.1.4 Druckguß-Kurbelgehäuse des MB-V-6-Motors mit Zylinderlaufbuchsen aus PM-AlSi-Legierung (Quelle: DaimlerChrysler, 1998)
Nach einem anderen Verfahren wird der Motorblock im Niederdruckgießverfahren als Aluminium-Monoblock ohne eingegossene Elemente aus einer hypereutektischen AlSi17Cu4Mg-Legierung auf Primäraluminiumbasis hergestellt, wobei nach dem Bearbeiten und Honen der Zylinderlaufflächen die Primärsiliziumausscheidungen durch Anätzen oder neuerdings auch durch „elastisches Fertighonen“ gezielt freigelegt werden. Bei einer weiteren Methode werden im Squeeze-Casting-Verfahren hochporöse, zylindrische Pre-Forms aus gesinterten Si-Partikeln, mit oder ohne zusätzliche Al2O3-Fasern, unter Druck mit Aluminiumschmelze getränkt und so eine örtliche verschleißfeste Verbundmaterialschicht eingebracht (Lokasil®–Verfahren der Fa. KS Aluminium Technologie AG), s. Bild 2.1.5. Auch bei diesem Verfahren können kostengünstigere Sekundärlegierungen verwendet werden. Geeignete Legierungen für die Motorblockherstellung nach verschiedenen Verfahren s. Tabelle 2.1.3.
18
2 Märkte und Anwendungen
Bild 2.1.5 Mikrogefüge des „Lokasil“-Verbundwerkstoffs mit 25 % Si (links) und mit zusätzlich 5% Al2O3-Fasern (rechts)(Quelle: KS Aluminium Technologie AG) Tabelle 2.1.3 Häufig und gelegentlich verwendete Aluminiumlegierungen für Motorblöcke Legierung EN ACAlSi8Cu3
1)
AlSi6Cu4
2)
AlSi9Cu3(Fe)
AlSi17Cu4Mg 1)
Cu
Mn
Mg
Ni
Zn
Ti
7,5 - 9,5
0,8
2,0 - 3,5
0,15 - 0,65
0,05 - 0,55
0,35
1,2
0,25
5,0 - 7,0
1,0
3,0 - 5,0
0,2 - 0,65
0,55
0,45
2,0
0,25
0,55 0,10
0,05 - 0,55 0,25 - 0,45
0,55 0,03
1,2 0,07
0,25 0,08 - 0,25
6,5 - 7,5 0,55
0,20
0,35
0,20 - 0,65
0,15
0,15
0,05 - 0,25
16,0 - 18,0 0,3
4,0-5,0
0,15
0,5 - 0,65
0,10
0,10
0,20
4) 5)
Fe
8,0 - 11,0 1,3 2,0 - 4,0 6,5 - 7,5 0,19 0,05
3)
AlSi7Mg0,3 AlSi7Mg
Si
A380.2, VDS 226
2)
A319, VDS 225
3)
A380, VDS 226D
4)
nicht genormt
5)
nicht genormt
Motorblöcke werden heute auch sehr effizient mit dem CPS®-Verfahren (Kernpaketverfahren) hergestellt, einem speziellen, automatisierten Sandgießverfahren, das sich durch hohe Flexibilität des Formenbaus und der Gußteilgestaltung und durch besondere Erstarrungsbedingungen auszeichnet. Wärmetauscher
Aluminiumwärmetauscher haben in fast allen Automobilen den Buntmetallwärmetauscher aus Kostengründen und wegen der ca. 50-prozentigen Gewichtseinsparung verdrängt. Sie dienen in vielfältiger Weise zum Management der Wärme im Motor, Getriebe und Fahrgastraum. Hierzu gehören Wasserkühler, Ölkühler und Ladeluftkühler sowie Verdampfer, Verdichter und Heizerkern der Klimaanlage. Die überwiegende Zahl solcher Aggregate werden durch Rohr/Rippen- bzw. durch Profilrohr/Rippen-Konstruktionen dargestellt. Kühlmittel- oder luftführende Rohre, häufig mit inneren Lamellen zur Unterstützung laminarer Strömung, sind über Kopfund Bodenbleche mit den Kühlmittelkästen aus glasfaserverstärktem Po-
2.1 Aluminium im Automobilbau
19
lyamid oder aus Aluminium miteinander verbunden. Zur Verbesserung der Effizienz sind die Rohroberflächen mit gestanzten oder gewellten Kühlrippen umgeben, s. Bild 2.1.6.
Bild 2.1.6 Rohr/Rippen-Kühler am Beispiel eines Ladeluftkühlers. Rechts: schematische Prinzipdarstellung (Quelle: Corus Aluminium, Koblenz)
Die Schlüsseltechnologien des Aluminiumkühlerbaus sind die Verbindungstechnik für den Kühlerblock – bestehend aus Rohren, Rippen, Bodenblechen und Seitenteilen – und die Legierungstechnik. Beide Technologien sind aufeinander abgestimmt. Preiswerte Kühler beruhen auf mechanischer Verbindung zwischen runden oder ovalen Kühlrohren und gestanzten Rippenblechen. Nach dem Zusammenstecken des Kühlerblocks werden die Rohre mechanisch aufgeweitet. Ein Ausschnitt eines derartigen Klemmkühlers ist in Bild 2.1.7 dargestellt.
Bild 2.1.7 Mechanisch gefügter Rohr/Rippenkühlkörper (sog. Klemmkühler) bestehend aus ovalen Rohren und gestanzten Lamellen und Rohrbodenblechen
20
2 Märkte und Anwendungen
Für höchste Wärmeübertragungsleistung werden die Elemente des Kühlerblocks (Rohre, Wellenrippen und Bodenbleche) durch Hartlöten miteinander verbunden. Hartgelötete Wärmetauscher stellen heute den größten Anteil. Das Hartlot – Legierungen des Typs AlSi mit 8 bis 12 % Silizium – wird als Plattierschicht beim Walzen des Bandmaterials aufgebracht. Das rollgeformte Band wird entweder mittels HF-Rohrschweißen oder beim Lötprozeß zu dünnwandigen Rohren gefügt. Speziell für den Wärmetauscher werden auch dünnwandige Flachrohre mit inneren Rippen und Wandstärken bis herunter zu 0,5 mm stranggepreßt, s. Bild 2.1.8.
Bild 2.1.8 Stranggepreßte Wärmetauscherrohre (Quelle: Fa. Hydro Aluminium, Tonder)
Nach dem Zusammenstecken des gesamten Kühlblocks geschieht der Lötvorgang einerseits flußmittelfrei entweder mit dem Vakuumlötprozeß oder unter sauerstofffreier kontrollierter Stickstoff-Ofenatmosphäre (VAW-Prozeß) (Schoer et al. 1972) oder andererseits mit dem Nocolok®Prozeß, einem Hartlötprozeß mit nichtkorrosivem Flußmittel. Die Löttemperaturen von korrosionsresistenten Hartloten liegen etwa zwischen 590 °C und 620 °C (abhängig von der Lotzusammensetzung). Die hohen Löttemperaturen sowie die Anforderungen an die Korrosionsbeständigkeit schränken die Legierungswahl stark ein. Für Wärmetauscher geeignete Halbzeuglegierungen sind in DIN EN-683-2 („Finstock“) genormt und in Tabelle 2.1.4 zusammen mit gängigen Hartloten aufgelistet. Ein entscheidendes Kriterium ist die Korrosionsbeständigkeit der Rohrund Kühlrippenelemente der Wärmetauscher. Zur Verbesserung des Korrosionswiderstandes werden daher Plattierungen – z.B. Legierungen vom
2.1 Aluminium im Automobilbau
21
Tabelle 2.1.4 Legierungen von Halbzeugen und Hartloten für Wärmetauscher Numer. Bezeichnung Knethalbzeug...... EN AW-1050A EN AW-1200 EN AW-3003 EN AW-3103 EN AW-5005 EN AW-6063 EN AW-6951 Hartlote...... EN AW-4343 EN AW-4045 EN AW-4047A EN AW-4004 EN AW-4104
Bez. mit chem. Symbolen Solidus [°C] Liquidus [°C] EN AW-Al 99,5 EN AW-Al 99,0 EN AW-Al Mn1Cu EN AW-Al Mn1 EN AW-Al Mg1(B) EN AW-Al Mg0,7Si EN AW-Al MgSi0,3Cu
646 643 643 640 632 615 612
657 657 654 655 652 655 655
EN AW-Al Si7,5 EN AW-Al Si10 EN AW-Al Si12(A) EN AW-Al Si10Mg1.5 EN AW-Al Si10MgBi
577 577 577 554 552
613 591 582 569 568
Typ AlZn1 (EN AW-7072), s. Bild 5.2.7 – aufgebracht, die durch die stärkere Elektronegativität als Opferanode zum Schutz des Kernmaterials – z.B. EN AW-3003 (Al Mn1Cu) – dienen und den Korrosionsangriff auf weniger kritische Bereiche lenken, s. Bild 2.1.9. Weitere Angaben zur Elektronegativität enthält Abschn. 5.2.4.
Bild 2.1.9 Korrosionsgerechter Legierungsaufbau von Kühlrohr und Kühlrippe für hartgelötete Wärmetauscher (n. Corus Aluminium, Koblenz)
22
2 Märkte und Anwendungen
In den letzten Jahren wurden sog. „Long Life Alloys“ für Wärmetauscher entwickelt, die durch eine ausgewogene Kombination von Hartlot, Legierungszusammensetzung und Gefügeaufbau des Rohrmaterials in Abstimmung mit den thermischen Prozeßparametern des Hartlötvorgangs eine mindestens fünffache Lebensdauer unter den korrosiven Betriebsbedingungen ergeben. Auch hier dient eine abgestimmte Elektronegativität des endgültigen Gefüges zur Verbesserung des Korrosionsverhaltens des Werkstoffsystems (Miller et al. 2000). 2.1.2 Aluminium im Fahrwerksbereich Neben dem Antriebsstrang ist der Fahrwerksbereich die nächst wichtige Domäne für Leichtbaukomponenten aus Aluminium, das als Gußteil, Schmiedeteil, Strangpreß- oder Blechformteil und als Kaltfließpreßteil zur Anwendung kommt. Die Reduzierung ungefederter Massen verbessert den Fahrkomfort und natürlich das Fahrzeuggewicht durch sekundäre Einsparungen an Federungs- und Dämpfungselementen. Eine grobe Einteilung kann in Achsenhilfsrahmen, Achslenker und Achslager, Räder und Bremssystemkomponenten sowie Lenkungsbereich vorgenommen werden. Moderne Fahrwerkskonstruktionen bestehen aus einem starren Hilfsrahmen, an den Achsen und Federung/Dämpfung mittels Quer- und Koppellenker angebunden sind und der mit Schwingungsdämpfern an der Karosserie angebracht wird. Das Konstruktions- und Fertigungskonzept derartiger Hilfsrahmen richtet sich nach den jeweiligen Anforderungen der Fahrzeugmodelle und kann entweder aus integral gegossenen Formgußteilen oder aus Schweißkonstruktionen mit Blechformteilen, Rohrelementen, Strangpreßprofilen und/oder Gußteilen bestehen. Einen Hinterachsträger als integral gegossenes Sandgußteil zeigt Bild 2.1.10. Ein Beispiel ist die Hinterachse des BMW-5 – Bild 2.1.11 – die zur Hauptsache aus kaltgeformten Rohren aus Legierung AlMg3,5Mn-0/H111 (nicht genormte Sonderlegierung) mit Wanddicken von 3,5–4 mm mittels MIG-Schweißen zusammengesetzt ist. Die engen Toleranzen der 3Dgeformten Rohre werden durch Innenhochdruckumformen, s. Abschn. 13.1.3, gewährleistet. Bei einem Gewicht des Rahmens von etwa 11,5 kg wird gegenüber einer gleichwertigen Stahlausführung eine Gewichtseinsparung von 40% erreicht.
2.1 Aluminium im Automobilbau
23
Bild 2.1.10 Hinterachsträger in automatisiertem Sandguß aus Legierung EN ACAlSi7Mg für Volvo Modelle S60, V70 und XC70 Cross Country, SOP: 2003 (Quelle: Honsel GmbH & Co KG, Meschede)
Bild 2.1.11 Geschweißte Rohrrahmenkonstruktion als Hinterachsträger der BMW 5er-Modellreihe (Werksfoto BMW AG)
Ein Beispiel für die Verwendung von Blechformteilen ist der Hinterachshilfsrahmen der S-Klasse Modelle von DaimlerChrysler in Bild 2.1.12. Die Blechformteile bestehen aus 2,5 bis 3,5 mm dickem Warmwalzmaterial der Legierung EN AW-5454-0/H111, wiederum durch MIGSchweißen zusammengefügt. Auch hier wird bei einem Rahmengewicht von 12,5 kg eine Gewichtseinsparung von 40 % gegenüber einer Stahlausführung realisiert.
24
2 Märkte und Anwendungen
Bild 2.1.12 Hinterachshilfsrahmen der S-Klasse von DaimlerChrysler
Fahrwerkskomponenten aus Aluminium, wie Querlenker und Längslenker, sind traditionell die Domäne des Schmiedeteils oder auch des Gußteils. Aus wirtschaftlichen Gründen wurden derartige Lenker auch als Abschnitte von Profilen hergestellt. Beispiele für geschmiedete Koppellenker sind in Bild 2.1.13 dargestellt und bestehen aus der Legierung EN AW6082-T6.
Bild 2.1.13 Beispiele für geschmiedete Querlenker aus EN AW-6082-T6 (AlSi1MgMn-T6) (Quelle: Otto Fuchs Metallwerke)
Aluminiumräder haben sich vorwiegend aus Styling-Gründen einen bedeutenden Markt erobert und decken nach Schätzungen heute etwa 50% des Erstausrüstermarktes ab. Hierbei handelt es sich zu 90 % um Gußräder, die mit dem Niederdruck-Kokillengießverfahren hergestellt werden. Als Gußlegierungen werden die warmaushärtbare EN AC-AlSi7Mg0,3 Legierung sowie die nicht warmaushärtbare EN AC-AlSi11Mg Legierung ver-
2.1 Aluminium im Automobilbau
25
wendet. Wegen der hohen Duktilitätsanforderungen werden hauptsächlich Legierungen auf Primäraluminiumbasis eingesetzt. Ein bestimmtes Marktsegment (ca. 5 %) ist auch geschmiedeten Aluminiumrädern vorbehalten, die durch eine Folge von Schmiede- und Drückwalzoperationen hergestellt werden. Die Standardlegierung für Schmiederäder ist die aushärtbare Legierung EN AW-6082-T6 (AlSi1MgMn). Durch Kompromisse im Styling konnte der aufwendige Schmiedeprozeß vereinfacht, das Radgewicht deutlich verringert und die Kosten auf das Niveau von Gußrädern gebracht werden (Klein et al. 1996). Geschweißte zweiteilige Blechräder aus Aluminium, sog. Aluminiumbandräder, gehören zu den leichtesten Radausführungen. Trotz höherer Kosten als vergleichbare Stahlräder sind diese Räder von Interesse, weil sie die ungefederten Massen reduzieren und dadurch zum Fahrkomfort und zur Bodenhaftung beitragen. Hierbei wird die Felge aus widerstandspreßgeschweißtem Band walzprofiliert und mit der gezogenen Radschüssel durch MIG-Impulsschweißen verbunden. Als Werkstoff kommt vorzugsweise die Legierung EN AW-5454 (EN AW-AlMg3Mn) zum Einsatz. Beispiele für gegossene, geschmiedete und aus Walzmaterial hergestellte Leichtmetallräder zeigt Bild 2.1.14.
Bild 2.1.14 Aluminiumräder für PKW in drei verschiedenen Fertigungsvarianten: a) Gußrad (Fa. Montupet), b) Schmiedeleichtrad (Fa. Otto Fuchs Metallwerke), c) zweiteiliges Bandrad (Fa. Michelin-Kronprinz)
Verschiedene weitere Fertigungsvarianten wurden und werden verfolgt, z.B. die Fertigung des Felgenbetts durch Runden von Strangpreßprofilen. Aus umformtechnischer Sicht interessant ist das sogenannte „Spaltrad“. Hierbei wird von einer Ronde ausgehend die Schüssel kalt geprägt und das Felgenbett im Drückwalzverfahren durch Spalten und Auswalzen des Rondenrandes angeformt. Sieht man von dem Kaltprägevorgang des Radschüsselbereichs ab, ist der Fertigungsgang dem des Schmiederades verwandt. Das einteilige Spaltrad hat gegenüber dem geschweißten Blechrad
26
2 Märkte und Anwendungen
den fahrzeugtechnischen Vorzug des größeren Bremsenraums. Als Werkstoffe wurden aushärtbare Legierungen vom Typ 6082 bzw. 6061 verwendet. Trotz der offenkundigen Vorteile des einteiligen Spaltrades hat es sich bisher – vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen – nicht durchsetzen können. Die wichtigsten Herstellungsvarianten werden in Bild 2.1.15 bezüglich charakteristischer Merkmale miteinander verglichen.
Bild 2.1.15 Vergleich der Merkmale von PKW-Rädern nach verschiedenen Herstellungstechnologien. Vergleichsbasis: 6Jx15 ET45 Radlast 550kg (Quelle: Otto Fuchs Metallwerke, 1996)
Aus der Sicht der Werkstofftechnologie können künftig auch die Entwicklungen von Bremsscheiben aus partikelverstärktem Aluminium von Interesse werden, s. Abschn. 21.2, da sie ebenfalls die ungefederten Massen und den Verschleiß deutlich vermindern helfen. Auch der intensivere Einsatz von technischen Kaltfließpreßteilen im hochbeanspruchten Fahrwerksbereich ist denkbar. In einer Reihe von Fahrzeugmodellen wird seit Jahren erfolgreich die Lenkungsgelenkwelle aus Kaltfließpreßteilen – s. Kap. 11 – aus der Legierung EN AW-6351-T6 eingesetzt, s. Bild 2.1.16. Die komplexen Formgebungsmöglichkeiten von Aluminiumlegierungen mit mittleren bis hohen Festigkeiten durch Kaltfließpressen erlauben das Einsparen von Einzelteilen bei mehrteiligen Stahlkomponenten und somit von Fertigungsgängen.
2.1 Aluminium im Automobilbau
27
Bild 2.1.16 Kaltfließgepreßte Lenkungsgelenkwellenteile (Quelle: Raufoss)
2.1.3 Aluminium im Karosseriebau Neben Antrieb und Fahrwerk ist der Karosseriebau der Bereich, bei dem der Leichtbau mit Aluminium die größte absolute Gewichtsminderung am Fahrzeug erreichen kann: gegenüber der Stahlausführung von ca. 300 bis 350 kg lassen sich Einsparungen von ca. 35 bis 40 %, entsprechend 100 bis 140 kg erzielen. Die heutige Verwendung von Aluminium im Karosseriebau kann man grob unterteilen nach dem Einsatz − als bewegliche Anhängeteile (Türen, Hauben, etc.) − als feste Anschraubteile (Stoßfänger, Kotflügel, etc.) und − in der Struktur des Rohbauwagenkastens. Anhängeteile
Hauben und Türen sind selbsttragende, steife Bauteile, deren metallische Elemente aus mehreren Schalen und Rahmen oder Aggregateträgern zusammengesetzt sind. Insbesondere Motorhauben werden bei zahlreichen Klein-, Mittel- und Großserienfahrzeugen zur Gewichtsreduzierung des Vorderwagens in Aluminiumbauweise ausgeführt. Beispiel einer Motorhaube für ein Großserienfahrzeug zeigt Bild 2.1.17. An die Werkstoffe für Innen- und Außenschale werden unterschiedliche Anforderungen gestellt. Außenbleche müssen nach der Umformung vollkommen fließfigurenfrei sein und in den stärker verformten Randbereichen
28
2 Märkte und Anwendungen
noch mit engen Radien falzbar sein. Außerdem erfordert die notwendige Beulsteifigkeit eine möglichst hohe Festigkeit von > 200 N/mm². Aus Steifigkeitsgründen entspricht die Blechdicke etwa dem 1,45-fachen Wert einer vergleichbaren Stahlblechdicke, s. Kap. 20. Gegenüber der Außenschale wird die Innenschale stärker verformt und vom Material eine gute Streckziehbarkeit gefordert. Die Gewichtseinsparung gegenüber der Stahlausführung beträgt knapp 50%, – etwa 5 bis 10 kg/Stück je nach Haubengröße. Als Karosserieblechlegierungen kommen die in Tabelle 2.1.5 aufgeführten Legierungen zum Einsatz.
Bild 2.1.17 Aluminium-Motorhaube des Audi A6 (Quelle: Alcan / Novelis)
Tabelle 2.1.5 Karosserieblechlegierungen für Motorhauben Anwendung numer. Bezeichnung Bez. mit chem. Symbolen Blechdickenbereiche [mm] Außenblech EN AW-6016-T4 1) 2)
Innenblech
1) 2)
AA 6111-T4 EN AW-5052-0 EN AW-5754-0 EN AW-5182-0 EN AW-6181A-T4
EN AW-Al Si1,2Mg0,4
1,0 - 1,25
(Al Mg0,8Si0,9Mn) EN AW-Al Mg2,5 EN AW-Al Mg3 EN AW-Al Mg4,5Mn0,4 EN AW-Al Si1Mg0,8(A)
0,9 – 1,20 0,8 - 1,15 " " "
Die Legierung wird auch in einer schnell härtenden Variante „T4+“ geliefert vornehmlich in USA verwendet
2.1 Aluminium im Automobilbau
29
Türen bestehen ebenfalls aus der Außenschale und einem Türinnenteil, in das der Aggregateträger zur Aufnahme der Tür- und Fenstermechanik – häufig als Zulieferteil – montiert. Türinnenteil und Aggregateträger bestehen aus einer Schweiß- oder Schraubkonstruktion aus Blech-, Profilund/oder Gußformteilen. Ein Beispiel für einen Aggregateträger ist in Bild 2.1.18 gezeigt.
Bild 2.1.18 Innenteil der Fronttür des Audi A8 (D3) (Quelle: Wagon plc)
Eine weitere, auch in Stahltürausführungen eingesetzte Aluminiumkomponente ist das aus Strangpreßprofil bestehende Tür-Verstärkungsprofil als seitlicher Aufprallschutz. Verschiedene Ausführungsbeispiele zeigt Bild 2.1.19. Für den optimalen Energieverzehrs werden die Bauteile so
Bild 2.1.19 Tür-Verstärkungen als Seitenaufprallschutz aus Aluminium-Strangpreßprofilen (Quelle: Alusuisse (Alcan))
30
2 Märkte und Anwendungen
wohl hinsichtlich der Querschnittsgestaltung als auch der Legierungsauswahl und Wärmebehandlung speziell ausgelegt, z.B. EN AW-6082-T66. Anschraubteile
Als „Anschraubteil“ ist vor allem das Stoßfängersystem zu nennen, das bis zu mittleren Geschwindigkeiten von 16-18 km/h den gesamten Energieverzehr eines Zusammenstoßes bewältigen muß. Die Verwendung von Aluminium beim Stoßfängersystem hat einerseits den Vorteil der Gewichtsreduzierung, andererseits aber auch des höheren elastischen Verhaltens, das zur Schadensminderung und auch zur Insassen-schützenden Milderung der Stoßbeschleunigung (g-Wert) beiträgt, s. Abschn. 20.1. Das energieverzehrende System besteht im wesentlichen aus dem Stoßfängerbalken und den Befestigungselementen einschließlich sog. „Crashboxes“ bzw. hydraulischer oder Schaum-Stoßverzehrelemente. Stoßfängerbalken werden als Blechformteil sowie auch als Strangpreßprofil ausgeführt, bei letzterem häufig mit geschlossenem Querschnitt. Die Anwendung von Strangpreßprofilen hat den Vorteil, daß die Materialverteilung den Anforderungen entsprechend vorgenommen werden kann. Andererseits muß das stranggepreßte Profil über der Wagenbreite der Wagenstruktur angepaßt werden und unterschiedliche Steifigkeitsmerkmale aufweisen. Stranggepreßte Stoßfängerbalken werden daher einer z.T. starken Umformung unterzogen, s. Abschn. 13.1. Als Legierungen für stranggepreßte Stoßfänger werden überwiegend höherfeste AlZnMg-Legierungen verwendet. Für Stoßfängerprofile mit Mehrkammerquerschnitten werden wegen der besseren Strangpreßbarkeit auch AlMgSi-Legierungen eingesetzt. Eine Auswahl von Strangpreßlegierungen für Stoßfänger enthält Tabelle 2.1.6. Die Stoßfänger werden warmausgehärtet eingesetzt, wobei der spezielle Zustand T6, T7 den Anforderungen jeweils angepaßt wird.
Tabelle 2.1.6 Ausgewählte Strangpreßlegierungen für Stoßfänger Numer. Bezeichnung
Bez. mit chem. Symbolen
EN AW-7108 EN AW-7003 EN AW-6061 EN AW-6082 EN AW-6063
EN AW-Al Zn5Mg1Zr EN AW-Al Zn6Mg0,8Zr EN AW-Al Mg1SiCu EN AW-Al Si1MgMn EN AW-Al Mg0,7Si
2.1 Aluminium im Automobilbau
31
Rohbauwagen
Die Art der Verwendung von Aluminium in der Rohbauwagenstruktur ist abhängig von der Seriengröße, da bei Klein- und Mittelserien die Investitionen in den Werkzeug- und Vorrichtungsbau anderen Kostenkriterien unterliegen als bei Großserienfertigungen. Die Konstruktionskonzepte müssen sich daher an der beabsichtigten Seriengröße ausrichten. Die höchsten Investitionskosten entstehen bei Blechformteilen und setzen daher eine Großserienfertigung voraus. Auch Gußteile aus Dauerformen (Druckguß, Schwerkraftkokillenguß) erfordern eine mittlere Seriengröße. Die vergleichsweise geringsten Werkzeugkosten fallen bei Profilkonstruktionen an, sofern nicht durch zusätzliche Formgebung und Toleranzreduzierungen weitere Werkzeugkosten (z.B. für das Innenhochdruckumformen) entstehen. Man kann daher eine grobe Einteilung der Konstruktionskonzepte dergestalt vornehmen, daß bei Kleinserien vorzugsweise Profilkonstruktionen, bei Mittelserien Mischkonstruktionen aus Profilen und Formgußteilen und bei Großserien überwiegend Blechkonstruktionen verwendet werden. Diese Konstruktionskonzepte betreffen die in der Regel nicht sichtbare Tragstruktur des Vorderbaus und der Fahrgastzelle ohne Anbauteile. Bei allen drei Konzepten werden die Formgebungsmöglichkeiten so weit wie möglich ausgeschöpft, um die Teilezahl zu minimieren und so den Fügeaufwand gering zu halten.
Bild 2.1.20 Rohbauwagenstruktur des Ferrari 599 GTB Fiorano, SOP Okt. 2005 (Quelle: Alcoa)
Typisch für Kleinserienfahrzeuge sind z.B. der Ferrari F360 Modena und F430, der GTB Fiorano sowie der 612 Scagliatti, der BMW Z8, der Aston Martin Vanquish, der Lamborghini Gallardo, u.a.. Diese Fahrzeuge besitzen eine Tragstruktur des Rohbauwagens, die überwiegend aus gera-
32
2 Märkte und Anwendungen
den Strangpreßprofilabschnitten besteht, s. Bild 2.1.20. Die Formen der Dachlang- und Dachquerträger und des Windlaufs erfordern jedoch meistens ein 2D- oder 3D-Streckbiegen des Profils. Vereinzelt werden für besonders komplexe Strukturteile – wie der Anbindung zwischen A-Säule und Vorderbau – Gußteile eingesetzt. Die Verbindung der verschiedenen Strukturelemente erfolgt überwiegend mit dem MIG-Verfahren. Blecheile in den Schubfeldern werden mechanisch (durch Stanznieten, Clinchen, Blindnieten oder Fließbohrschrauben, s. Kap. 18) ohne oder mit gleichzeitiger Applikation von Strukturklebern verbunden. Für mittlere Seriengrößen von etwa 25.000 Stück/Jahr wurde das Audi Spaceframe Konzept ASF® entwickelt, das zum ersten Mal im Audi A8 (D2, SOP4 1994) verwirklicht wurde. Die Struktur besteht aus einer Mischung aus Strangpreßprofilen, Formguß- und Blechformteilen, die mittels MIG-Schweißen verbunden wurden. Als weitere Fügeverfahren wurden Stanznieten, Durchsetzfügen („Clinchen“) und Widerstandspunktschweißen eingesetzt. Auf dem gleichen Konstruktionskonzept beruhte der Audi A2 (SOP 1999), bei dem jedoch die Integration von Einzelteilen durch Formgußteile – wie z.B. bei der B-Säule – weiter entwickelt wurde. Als Fügeverfahren kamen ausschließlich MIG-Schweißen und Stanznieten sowie Laserstrahlschweißen zum Einsatz. Die Seitenwände wurden auf Großteilpressen einteilig hergestellt. Die überwiegend gebogenen und mit veränderten Querschnitten versehenen Strangpreßprofilteile wurden durch Innenhochdruckumformen geformt, geprägt, gestanzt und kalibriert. Ein typisches Beispiel für die Profilbearbeitung ist der Dachlängsträger des Audi A2, s. Bild 2.1.21. Mit den genannten Änderungen war es möglich, den Automatisierungsgrad der Rohbaufertigung gegenüber dem A8 (D2) von etwa 25% auf 80% zu erhöhen.
Bild 2.1.21 Durch Vorbiegen und Innenhochdruck umgeformtes Dachlängsträgerprofil mit Skizzen der veränderten Querschnitte, sowie mit Lochstanzungen und Prägungen (Quelle: Audi AG) 4
SOP = Serienanlauf (Start of Production)
2.1 Aluminium im Automobilbau
33
Ähnlich wie beim A2 wurde beim A8 der zweiten Generation (D3, SOP 2002), s. Bild 2.1.22, durch die Verwendung großer funktionsintegrierter Formgußteile die Teilezahl weiter reduziert und ein auf etwa 85% erhöhter Automatisierungsgrad der Rohbaufertigung erreicht. Die Fügetechnik schließt Stanznieten, MIG- und Laserstrahlschweißen sowie Laser-MIGHybridschweißen, und Rollenfalzen mit Kleben der Anhängeteile ein. Das Audi-AFS®-Konzept führt zu über 40% Gewichtseinsparung gegenüber einer vergleichbaren Stahlausführung. Ausführliche Beschreibungen der Konstruktion und Fertigung des A8(D3) findet man u.a. in (Ruch 2002, Mayer 2002, Venier 2002, Koglin 2002, Bangel 2003, von Zengen 2003).
Bild 2.1.22 Rohbauwagen des Audi A8 der zweiten Generation (D3) in photo- und computergraphischer Darstellung mit Angabe der wichtigsten Materialarten (Quelle: Audi AG)
34
2 Märkte und Anwendungen
Die Fortschritte im Konstruktions- und Fertigungskonzept der AudiASF®-Bauweise erkennt man an der folgenden tabellarischen Übersicht, Tabelle 2.1.7. Darüber hinaus profitierte der Audi A8 (D3) von der Entwicklung schnell warmaushärtender Blechwerkstoffe, s. Abschn. 3.2.5, die während der KTL-Einbrennlackierung ausreichende Festigkeitswerte erzielen. Dadurch wurde eine separate Warmaushärtungsstufe im Fertigungsprozeß der Karosserie überflüssig. Tabelle 2.1.7 Charakteristische Merkmale der Audi Modelle mit ASF®Spaceframes A8 (D2), A8 (D3) und A2 Modell SOP Gewicht [kg] 1) Gewichtseinsparung [%] Teilezahl Serie [Stck./Jahr] 2)
A8 (D2) 1994 249 k.A. 334 16.000
A2 1999 156 42 225 70.000
A8 (D3) 2002 277 41 260 25.000
Länge [mm] Breite [mm] Höhe [mm] Profilteilezahl Gußstückteilezahl Blechteilezahl Fügetechnik WPS/Zahl Stanznieten/Zahl Durchsetzfügen/Zahl MIG [m] Laser [m] Laser/MIG Hybrid [m] Falzen Kleben
5.034 1.880 1.436 47 50 237
3.826 1.673 1.553 22 20 183
5.051 1.894 1.444 59 31 170
500 1100 179 70 0 0 ja ja
0 1800 0 20 30 0 ja ja
0 2400 0 64 20 5 ja ja
1) 2)
inkl. Anbauteile, Türen, Hauben Planungsvorgaben
Im Vergleich zum Spaceframe-Konzept des Karosseriebaus für Kleinund Mittelserien ist die selbsttragende Blechbauweise in der Großserie üblich, – allerdings bis heute fast ausnahmslos der Stahlausführung vorbehalten. Eine aktuelle Ausnahme ist die Ganzaluminiumkarosserie des Jaguar XJ (SOP: 2002), die als Mittelserie konzipiert ist, aber auch als Testfall für die Großserienausführung dienen kann. Strangpreßprofile und
2.1 Aluminium im Automobilbau
35
Gußteile spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle (Komponentenzahl aus Profil und Formguß 7% bzw. 5%). Gegenüber der Ganzaluminiumausführung hat die Mischbauweise nach Meinung verschiedener Autobauer deutliche Vorteile in der Großserienfertigung. Sie erlaubt, die Gewichtsvorteile durch Leichtbauwerkstoffe dort wahrzunehmen, wo besondere Gewichtsprobleme bestehen, nämlich im Vorderwagenbereich. Ein Beispiel für dieses Baukonzept ist der BMW5 (E60, SOP 2003), dessen vorderer Rohbauwagen in Ganzaluminiumbauweise ausgeführt wird und mittels geeigneter Fügetechnik (Stanznieten, Kleben, PVC-Dichtmasse) mit der übrigen Stahlkarosserie verbunden wird, s. Bild 2.1.23. Einschließlich Motorhaube, vorderer Seitenwand und Stoßfängerbalken beträgt der Aluminiumanteil an der Rohkarosse 18%. Außer Strangpreßprofilen, und Blechformteilen wird ein druckgegossenes Federbeingehäuse (AlMg5Si2Mn-F – Magsimal59®) verwendet.
Bild 2.1.23 Teilansicht des Aluminiumvorderbaus des BMW5 (E60)
Ein anderes Mischbaukonzept wurde im neuen Audi-TT (SOP 2006) verwirklicht. Aufgrund der geringeren beabsichtigten Seriengröße (ca. 275 Fzge./Tag) wurde nicht nur der Vorderbau, sondern auch die Fahrgastzelle auf der Basis des Spaceframe-Baukonzeptes in Aluminium ausgeführt, wobei zugleich auf kostspieliges Profilbiegen und IHU-Kalibrieren weitgehend verzichtet wurde. Die Stahlkomponenten der Karosserie befinden sich im Heckbereich des Fahrzeugs und sind mit spezieller Verbindungs-
36
2 Märkte und Anwendungen
technik, s. Abschn. 18.3–4, mit der Spaceframe-Struktur der Fahrgastzelle verbunden. Mit Ausnahme der Seitentüren sind Außenflächen und Hauben in Aluminiumblechbauweise ausgeführt. Die Rohkarosserie besteht zu 69% aus Aluminium (31% Blech, 22% Guß, 16% Profile) und zu 31% aus Stahlblech bei einem Gewicht von 206 kg (ohne Anbauteile) (Bangel et al. 2006).
Bild 2.1.24 Innenansicht der Rohkarosserie des Audi-TT bestehend aus Stahlblechformteilen im Heckbereich (im Vordergrund, dunkler) und der AluminiumSpaceframe-Struktur mit aussteifenden Blechelementen (hellere Elemente)
Die Palette der Knet- und Gußlegierungen, die im Karosseriebau eingesetzt werden, wurden in den letzten Jahren durch zahlreiche Varianten erweitert. Die wichtigsten Blech-, Profil- und Gußlegierungen sind in Tabelle 2.1.8 zusammengestellt. Bei den Karosserieblechlegierungen ist zwischen den naturharten AlMg- und aushärtbaren AlMgSi-Legierungen hinsichtlich ihres Einsatzbereichs zu unterscheiden. Durch die Ausbildung von Fließfiguren bei der Umformung sind die AlMg-Legierungen nicht für sichtbare Außenhauteile geeignet. Wegen ihrer ausgezeichneten Umformbarkeit werden sie vornehmlich für schwierige Umformoperationen bei Innenteilen verwendet. Bei der Bedeutung des Marktes und bei den unter-
2.1 Aluminium im Automobilbau
37
schiedlichen Anforderungen an Festigkeit und Umformverhalten – z.B. ausreichendes Falzverhalten von Außenhautblechen in verfestigten Bereichen – wurden über die angegebenen AlMgSi-Legierungen hinaus zahlreiche herstellerspezifische Legierungsvarianten und Werkstoffzustände entwickelt. Das gleiche gilt für AlMgSi-Profilwerkstoffe, die für optimales duktiles Faltverhalten beim Crash-Vorgang ein feinkörniges Gefüge (Vanadium-Zusatz) mit nur geringfügigem interkristallinen Bruchverhalten (Mangan-Zusatz) und gegebenenfalls geringem Eisengehalt benötigen, s. Abschn. 6.2. Bei den Blechwerkstoffen ist außerdem auf die besonders auf den Karosseriebau abgestimmten Oberflächen (u.a. Rauhigkeit, Konversions- und Schmierstoffschichten) hinzuweisen, s. Kap 12. Tabelle 2.1.8 Aluminiumlegierungen im Anlieferungszustand für Beplankungsund Strukturteile der Rohkarosserie (Auswahl) Numer. Bezeichnung Blechwerkstoffe
Bez. mit chem. Symbolen
Anwendung
EN AW-6016-T4 1) AA 6014-T4 AA 6501-T4 AA 6106-T4 EN AW-5754-0/H111 EN AW-5042-0/H111 EN AW-5182-0/H111 EN AW-6181A-T4 Profilwerkstoffe EN AW-6060-T4/T6 AA 6014-T4/T6/T7 EN AW-6106-T4/T6 EN AW-6005A-T6 EN AW-6082-T6 Gußwerkstoffe EN AC-43000-T6 EN AC-42100-T6 NN (-F) 2)
EN AW-Al Si1,2Mg0,4 (Al MgSiV)
EN AW-Al Mg3 EN AW-Al Mg3,5Mn EN AW-Al Mg4,5Mn0,4 EN AW-Al Si1Mg0,8(A)
Außenblech Außenblech Außenblech Außenblech Innenblech Innenblech Innenblech Innenblech
EN AW-Al MgSi AA Al MgSiV EN AW-Al MgSiMn EN AW-Al SiMg(A) EN AW-Al Si1MgMn
Strukturteile Strukturteile Strukturteile Strukturteile Strukturteile
EN AC-Al Si10Mg EN AC-Al Si7Mg0,3 Al Mg5Si2Mn
Strukturteile Strukturteile Strukturteile
1) 2)
die Legierung wird auch in einer schnell-härtenden Variante T4+ geliefert nicht in EN genormt; Magsimal59®
Neben den angegebenen Blechlegierungen werden weitere Legierungen in der ausländischen Automobilindustrie eingesetzt, die im Inland bis heute jedoch keine wesentliche Rolle spielen. Diese Legierungen sind in Ta-
38
2 Märkte und Anwendungen
belle 2.1.9 aufgeführt. Die früher im Ausland für den Karosserieblechbau verwendeten AlCuMg-Legierungen (AA2002, AA2008, AA2036 und AA2038) haben gegenüber den AlMgSi- und AlMg-Legierungen völlig an Bedeutung verloren. Zu den in Japan entwickelten AlMg(Cu)-Legierungen AA5022 (früher KS5030) und AA5023 (früher KS5032) enthält Abschn. 3.2.3 weitere Ausführungen. Die AlMg(Cu)-Legierungen dürften auch im europäischen Karosseriebau künftig an Bedeutung gewinnen. Tabelle 2.1.9 Karosserieblechlegierungen ausländischer Provenienz numer. Bezeichnung AA 5022-0/T4 AA 5023-0/T4 AA 6009-T4 AA 6022-T4 AA 6111-T4
Bez. mit chem. Symbolen AA Al Mg4,5Cu0,3 AA Al Mg5,5Cu0,3 AA Al Si0,8Mg0,6CuMn AA Al Si1,3Mg0,6CuMn AA Al Si0,9Mg0,7CuMn
Anwendung Innen- & Außenblech Innen- & Außenblech Innenblech Außenblech Außenblech
Hohlprofile und Rohre aus Aluminiumlegierungen haben durch die Faltenbildung beim Crash ein günstiges Energieabsorptionsvermögen, das sich durch die Wahl der Querschnitte − z.B. Mehrkammerhohlprofile − den Anforderungen entsprechend einstellen läßt. Um die Höhe der Anfangsstoßkraft zur Verringerung der physiologischen Belastung der Passagiere gering zu halten, kann man eine weiche Zone in den Crash-Gliedern durch eine lokale T7-Wärmebehandlung, s. Bild 2.1.25, oder durch eine Formschwächung vorsehen.
Bild 2.1.25 Crash-Verhalten von Rohr-Profilkonstruktionen mit und ohne lokale Überhärtung (Ruch 1992)
2.1 Aluminium im Automobilbau
39
Strangpreßprofile für Spaceframes, sowie auch für andere konstruktive Anwendungen, bestehen in der Regel aus aushärtbaren Legierungen, die im warmausgehärteten Zustand für Kaltverformungen ungeeignet sind. Die Verwendung von kaltausgehärteten Legierungen setzt allerdings ein enges Toleranzspektrum der Fließkurve für reproduzierbares Rückfederungsund Eigenspannungsverhalten, d.h. eine gewisse Lagerfähigkeit voraus, s. hierzu den Abschn. 3.2.5 Verbesserung der Warmaushärtungskinetik durch Stabilisierungsglühen. Außerdem ist eine abschließende Warmauslagerung zur Erzielung höherer Festigkeitswerte erforderlich. Die Biegetechnik von Hohlprofilen ist für den Automobilbau ein wichtiges Fertigungsverfahren, an das hohe technische und wirtschaftliche Anforderungen gestellt werden. Kaltgebogene Profile enthalten Eigenspannungen, deren Höhe vom Grad der Biegeverformung und ihrer Verteilung über dem Querschnitt, von der Fließkurve des Materials und der Art des Biegeverfahrens abhängen. Die Störung der Eigenspannungsfelder z.B. durch Ausklinkungen, Bohrungen oder Schweißen kann zu geometrischen Formabweichungen führen. Die rechnerische Simulation von Eigenspannungen infolge von Biegevorgängen in unregelmäßigen Profilquerschnitten oder von Schweißoperationen hat in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Durch Halbwarmumformen oder besonders durch das Biegen von Profilen im Strangpreßvorgang bei Preßtemperatur lassen sich eigenspannungsarme Profile erzeugen, s. Kap. 9. Verbesserungen der Verformbarkeit von Profilen im T4 oder T6 Zustand lassen sich auch durch Rückbildungsglühungen erzielen, die z.T. auch in der Prozeßkette durchgeführt werden können, s. hierzu den Abschn. 3.2.5 Rückbildungsglühen zum Zwecke verbesserter Umformbarkeit. Für die Herstellung von Aluminium-Karosserieblechteilen werden grundsätzlich die gleichen Anlagen und Prozesse zugrunde gelegt wie für die Herstellung von Stahlkarosserien. Der Vorteil besteht in der Nutzung des vorhandenen Maschinenparks und des damit gebundenen Kapitals. Daraus resultieren erwartungsgemäß Kompatibilitätsprobleme, verursacht bei unbehandeltem, blanken Aluminium durch die empfindlichere Oberfläche, die undefinierte Oxidschicht, den höheren Bedarf an Schmierstoff, die z.T. geringere Umformbarkeit, die ungünstige Punktschweißbarkeit und das unterschiedliche chemische Verhalten bei den Vorbehandlungsstufen zum Lackieren. Diese Unterschiede zwingen zu einer Reihe von zusätzlichen Fertigungsschritten mit entsprechenden wirtschaftlichen Konsequenzen. Um bessere Ziehergebnisse zu erzielen, muß die Umformtechnik dem Werkstoff angepaßt werden, d.h. durch Maßnahmen, die den Werkstoff-
40
2 Märkte und Anwendungen
fluß im Werkzeug präzise steuern und die gefürchteten Abrieberscheinungen am Werkzeug sowie die Flitterbildung bei Stanzvorgängen vermeiden helfen. Die Tribologie (s. Abschn. 12.2) hat damit eine entscheidende Rolle in der Ziehteilfertigung mit den Forderungen: • Schützen der vorhandenen Oxidschicht • Trennung zwischen frischer (oxidfreier) Werkstückoberfläche und Werkzeug • genügend großer Reibbeiwert µ zur Steuerung des Materialflusses • Kostenreduzierung • geringe Umweltbelastung • Kompatibilität mit nachfolgenden Operationen (z.B. Kleben, Lackieren) • Prozeßsicherheit. Die Applikation von Trockenschmierstoffen und tribologisch aktiven Beschichtungen des Halbzeugs, die gleichzeitig weitere Funktionen in den nachfolgenden Lackierprozeßstufen übernehmen können, gehören mittlerweile zum Stand der Technik. Coil-Coating Systeme können die CrVI-freie Konversionsbehandlung, Anodisierung, Grundierung und Füller umfassen. Insgesamt läßt sich potentiell auf diese Weise eine Reihe von problematischen Fertigungsschritten einsparen, s. Tabelle 2.1.10 (Ostermann 1994). Die „Chemie“ bei Automobilproduzenten wird entlastet und auf die Prozeßstufe des Halbzeugs rückverlagert, wo die Prozeßführung bei der Beschichtung umweltfreundlicher durchgeführt und werkstoffspezifischer kontrolliert werden kann. Ohne gleichzeitige Anpassung der Werkzeugtechnik können diese Möglichkeiten jedoch nicht voll ausgeschöpft werden, da Beschädigungen der Beschichtung vermieden werden müssen. Ansatzpunkte für Verbesserungen sind Werkzeugbeschichtungen, die mit den Beschichtungssystemen des Halbzeugs kompatibel sind. Die Verwendung des Aluminiums als Leichtbauwerkstoff im Automobilbau stellt eine große Herausforderung an die Werkstofftechnik dar und hat bezüglich der technologischen Gewichtung mindestens die gleiche Bedeutung wie die Verwendung des Werkstoffs in der Luft- und Raumfahrt in früheren Jahren. Solche Umstände erhöhen den Innovationsdruck und führen gewöhnlich zu einer Entfaltung von Kreativität bei den beteiligten Ingenieuren und Wissenschaftlern.
2.2 Aluminium im Nutzfahrzeugbau
41
Tabelle 2.1.10 Fertigungsschema von Blechkarosserieteilen aus Stahl und Aluminium. Einsparung von Fertigungsstufen durch im Coil beschichtetes Aluminium Fertigungsstufen
Stahl
Aluminium Aluminium blank beschichtet
I. Preßwerk 1. Platinenschnitt 2. Entfetten und definiert Befetten 3. Karosserieteilziehen
X – X
X X X
X – X
II. Rohbau 1. Entfetten, Spülen, Trockenen 2. Rohbaumontage: Fügen 3. Nacharbeit (Schleifen)
– X X
X X X
– X –
III. Lackierung 1. Entfetten, Spülen..... 2. Phosphatieren, Nachbehandeln .... 3. KTL-Grundieren, Trockenofen 4. Füller, Trockenofen 5. Decklack, Trockenofen 6. Klarlack, Trockenofen
X X X X X X
X X X X X X
– – (X) X X X
2.2 Aluminium im Nutzfahrzeugbau Aluminium hat sich durch das geringe Gewicht von Komponenten (leichte Handhabbarkeit, weniger Personal), seine Witterungsbeständigkeit und dekorativen Oberflächenbeschichtungen für Bordwände (Profilsysteme), Ladebordwände (Profilschweißkonstruktionen), für Pritschenaufbauten und Kofferaufbauten (Blech / Profilsysteme / Schichtverbunde) mit Ausrüstungen für die Ladungssicherung seit Jahrzehnten im Nutzfahrzeugbau etabliert. Darüber hinaus gehören Druckluftbehälter, Treibstofftanks sowie Unterfahrschutz und Stoßfänger aus Aluminium zur Standardausrüstung. Auch geschmiedete und gegossene Räder werden zur Gewichtsreduzierung und – wegen der exakteren Laufeigenschaften – zur Schonung der Bereifung eingesetzt. Leichtbau mit Aluminium im Nutzfahrzeugbau beruht vor allem auf den gesetzlichen Beschränkungen der zulässigen Achslasten – und damit der Zuladungsgrenzen – und künftig sicherlich auch auf möglichen Treibstoffeinsparungen und Minderungen des CO2-Ausstoßes. Der Leichtbaugewinn kann je nach Größe und Art des Fahrzeugs zwischen 0,5 bis 2,5 t betragen.
42
2 Märkte und Anwendungen
Die Erhöhung der Nutzlast durch Leichtbau des Fahrzeugs ist von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung besonders für bestimmte Fahrzeugtypen, wie Tank- und Silofahrzeuge, s. Bild 2.2.1 und Schüttguttransporter, die regelmäßig oder häufig die Zuladungsgrenzen ausnutzen müssen. Die höheren Investitionskosten für Leichtbaufahrzeuge, Auflieger und Anhänger amortisieren sich dadurch in wenigen Jahren. Für den flexiblen Bordwandaufbau von Nutzfahrzeugen haben sich in der Vergangenheit zahlreiche Profilsysteme eingeführt. Einige Beispiele solcher Bordwandsysteme zeigt Bild 2.2.2 mit verschiedenartigen Lösungen der Profilverbindungen. Die Wanddicke der Systemprofile beträgt üblicherweise 25 oder 30 mm. Als Profilwerkstoffe werden je nach Beanspruchungskategorie die in Tabelle 2.2.1 angegebenen Legierungen verwendet.
Bild 2.2.1 Aluminium-Silofahrzeug (Hersteller: Fa. Spitzer, 2005)
Bild 2.2.2 Verbindungssysteme für Bordwandprofile. a) und b) Schnappverbindungen (Groß-Aluminium Snaplok®, bzw. Kaiser Aluminium), c) Einhängeprofil (VAW), d) mit Schraubkeilen (VAW), e) mit Wendelfeder (Alusingen). Nach (Koewius 1986)
2.2 Aluminium im Nutzfahrzeugbau
43
Tabelle 2.2.1 Aluminiumlegierungen für Bordwandprofilsysteme Leg.-Bez.
Chem. Symb.
Zustand
EN AW 6060 EN AW 6005 EN AW 6005A EN AW 6082
Al MgSi Al SiMg Al SiMg(A) Al Si1MgMn
T66 T6 T6 T6
Je nach Bauart finden bei Tank- und Silofahrzeugen entweder die freitragende Bauweise oder die Bauweise mit Tanks auf einem Fahrgestellrahmen („Brücke“) Anwendung. Im letzteren Fall einer Aluminiumrahmenkonstruktion besteht der Langträger aus einem Doppel-T-Träger, der jedoch am sog. „Schwanenhals“ in der Profilhöhe verjüngt ist. Die aluminiumgerechte Herstellung dieses Trägers ist eine Schweißkonstruktion aus zwei Strangpreßprofilen bestehend aus einem Ober- und Untergurt, wobei das untere T-Profil durch einen Biegevorgang dem Verjüngungsverlauf angepaßt ist, s. Bild 2.2.3. Das untere T-Profil enthält bereits die integrierte Nut und Schweißkantenvorbereitung für die Schweißverbindung. Die Lang- und Querträgerprofile werden üblicherweise in den Legierungen EN AW-6005A oder EN AW-6082 ausgeführt.
Bild 2.2.3 Schemazeichnung eines Langträgers für einen Sattelauflieger als Schweißkonstruktion aus zwei Strangpreßprofilen. Querträger sind im obigen Beispiel im Stegbereich des Langträgers über Laschen angeschraubt
44
2 Märkte und Anwendungen
Das Achsaggregat in üblicher Stahlbauweise wird über gegossene Luftfederstützen mit dem Fahrzeugrahmen durch Schrauben, Nieten oder Schweißen verbunden. Auch Aluminiumguß-Radnaben können zur Gewichtsreduzierung beitragen, s. Bild 2.2.4. Ein Beispiel für die selbsttragende Bauweise des Tanksattelanhängers zeigt Bild 2.2.5.
Bild 2.2.4 Luftfederstützen und Radnaben für Lastkraftwagen (Quelle: BPW Bergische Achsen KG)
Bild 2.2.5 Tanksattelauflieger-Fahrzeug in selbsttragender Aluminium-Bausweise, hergestellt von Fa. Schrader T.-A., Werk Ellinghaus
Tankfahrzeuge unterliegen den Sicherheitsvorschriften über den Transport gefährlicher Güter (ADR/GGVSE) und der Druckbehälterverordnung (seit 2003 in die harmonisierte europäische Druckgeräterichtlinie und Betriebssicherheitsverordnung überführt), da die Tanks mit einem Überdruck von max. 0,5 bar befüllt werden. Auslegung und Bau müssen sich nach den Vorschriften der DIN EN 13094:2004 (s. Tabelle Anh. A4) richten. Die Umsetzung der ADR/GGVSE Sicherheitsvorschriften in Konstruktionsvorgaben hat zu einer Festlegung von Mindestwanddicken der Tankkörper geführt. Als Referenz gelten nach der neuen EN 13094:2004 für
2.2 Aluminium im Nutzfahrzeugbau
45
Tanks aus Baustahl, die nicht zusätzlich durch eine Doppelhülle geschützt sind, Mindestwanddicken von 5 und 6 mm bei Tankdurchmessern bis zu 1,80 m bzw. über 1,80 m. Für Tanks aus anderen Werkstoffen muß eine äquivalente Wanddicke t1 in Abhängigkeit von Zugfestigkeit Rm,1 und Bruchdehnung A1 der verwendeten Werkstoffe nach der folgenden empirischen Beziehung errechnet werden: 2
Rm , 0 × A0 3 t1 = t 0 × × R A m ,1 1
(2.2.1)
wobei t0 die Wanddicke und Rm,0 und A0 die Zugfestigkeit und Bruchdehnung des Referenzwerkstoffs bedeuten. Als Grundlage gilt die Vorstellung ausreichender Arbeitsaufnahme (Verformungsenergie) beim Unfall bzw. Umstürzen eines beladenen Tankfahrzeugs. Für einige Aluminiumtankwerkstoffe sind nach Gl. (2.2.1) die äquivalenten Wanddicken in Tabelle 2.2.2 aufgeführt und mit Stahlwerkstoffen verglichen, wobei Baustahl mit einer Zugfestigkeit Rm,0 = 370 MPa und einer Bruchdehnung A0 = 27% als Referenzwerkstoff dient. Die äquivalente Wanddicke darf in keinem Fall die absolute Mindestwanddicke nach Tabelle 2.2.3 unterschreiten, die die frühere Berechnungsgrundlage war. Tabelle 2.2.2 Äquivalente Mindestwanddicken nach Gl. (2.2.1) Referenz Rostfreier EN AW-5083 EN AW-5186 EN AW-5059 0/H111 0/H111 0/H111 Stahl Baustahl 1.4301 (Rm,0, t0) Rm ·A [MPa]
370 · 0,27 500 · 0,45
Mindestwanddicke [mm]
6
275 · 0,16
275 · 0,24
330 · 0,24
10,4
7,9
7,0
3,4
Tabelle 2.2.3 Absolute Mindestwanddicke für Tankkörper nach DIN EN 13094: 2004 für verschiedene Werkstoffgruppen Durchmesser des Tankkörpers [m] ≤1,80 ≥1,80 1)
Mindestwanddicke des Tankkörpers Austenitische Sonstige Unlegiertes AluminiumStähle Stähle Aluminium legierungen [mm] [mm] [mm] [mm] 2,51) 3
3 4
6 8
4 5
für Tanks, die nicht gegen Beschädigung geschützt sind, muß die Wanddicke unabhängig vom verwendeten Werkstoff mindestens 3 mm betragen
46
2 Märkte und Anwendungen
Aluminiumlegierungen, die in DIN EN 14286:2004 (s. Tabelle Anh. A3) für die Verwendung in Tanks empfohlen werden, enthält Tabelle 2.2.4. Dabei handelt es sich ausschließlich um nicht aushärtbare Al-MgMn-Legierungen in weichen (Zustand 0, H111) oder verfestigten (Zustand H116, H321) Ausgangszuständen. Tabelle 2.2.4 Für den Tankbehälterbau geeignete Aluminiumlegierungen n. DIN EN 14286:2004. Angegebenen Eigenschaftswerte sind garantierte Mindestwerte Leg.-Bez. Chemische Symbole EN AW5754
Al Mg3
5454
Al Mg3Mn
Zustand Nenndicke Rm Rp0,2 A Biege[mm] [MPa][MPa] [%] radius bei 180° 3,0 - 6,0 190 80 21 t 0, H111 6,0 - 12,0 190 80 19 2t 3,0 - 6,0 215 85 19 t 0, H111 6,0 - 12,0 215 85 19 2t
5086
Al Mg4
0, H111
3,0 - 6,0 6,0 - 12,0
240 240
100 18 100 17
1,5t 3t
5182 5186
Al Mg4,5Mn0,4 Al Mg4,3Mn0,4Zr
0, H111
3,0 - 6,0 6,0 - 12,0
275 275
125 24 125 24
t 2t
0, H111
3,0 - 6,0 6,0 - 12,0
290 290
145 17 145 17
1,5t 4t
H116, H321 0, H111
3,0 - 6,0 6,0 - 12,0 2,0 - 40
305 305 330
220 12 220 12 160 24
3t 6t
5083 5383
Al Mg4,5Mn0,7 Al Mg4,5Mn0,7(A)
5059 1)
Al Mg5,5Mn0,8ZnZr
1)
Alustar®, noch nicht in DIN EN 14286:2004 enthalten
2.3 Aluminium im Schienenfahrzeugbau Aluminium als Leichtbauwerkstoff im Schienenfahrzeugbau geht auf eine lange Tradition zurück. Zwei technologische Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts haben das Fundament für den heutigen erfolgreichen Aluminiumleichtbau gelegt: die MIG- und WIG-Schweißtechnik in den 50-er und die Großprofil-Strangpreßtechnik in den 70-er Jahren. Diese Entwicklungen in Verbindung mit geeigneten Konstruktions- und Fertigungskonzepten haben diesem Werkstoff die tragende Rolle im Leichtbau von Wagenkästen für den Personen-Nah- und -Fernverkehr eingeräumt (Ostermann 1985). Der Aluminium-Schienenfahrzeugbau ist ein klassi-
2.3 Aluminium im Schienenfahrzeugbau
47
sches Beispiel für wirtschaftlichen Leichtbau mit Aluminium, und es ist lohnend, diese Entwicklungen kurz im folgenden nachzuzeichnen. 2.3.1 Entwicklung aluminiumgerechter Baukonzepte Als in den zwanziger und dreißiger Jahren die Stahl-Holz-Bauweise durch die Blech-Gerippebauweise abgelöst wurde, wurde neben Stahl bereits Aluminium als Beplankungsblech eingesetzt. Bild 2.3.1 enthält Beispiele für die Blech-Gerippe-Bauweise in Stahl und Aluminium aus den 60-er Jahren.
Bild 2.3.1 Schienenfahrzeugleichtbau in Blech-Gerippe-Bauweise
Später wurden gekantete Blechprofile und dann zunehmend Strangpreßprofile für das Traggerippe von Aluminiumwaggons verwendet. Gefügt wurde mit Hilfe der Niettechnik, bis sich in den sechziger Jahren die Lichtbogen-Schutzgasschweißtechnik durchsetzte und 1961 mit dem ET 202/210 der Köln-Bonner Eisenbahn das erste voll geschweißte Schienenfahrzeug unter Verwendung von Profilen aus der Legierung AlZn4,5Mg1 (EN AW-7020) gebaut wurde. Hierbei handelte es sich überwiegend um offene Strangpreßprofile. Allerdings war für diese Bauweise kennzeich-
48
2 Märkte und Anwendungen
nend, daß wegen der vielen kurzen Schweißnähte keine mechanisierte Schweißausführung möglich war. Kosteneinsparungen waren deshalb gegenüber der Stahlleichtbauweise nach gleichem Bauprinzip nicht zu realisieren. Bild 2.3.2 zeigt beispielhaft das Spektrum an Profilen für die Baureihe des ET 420/421, die Ende der 60-er Jahre entwickelt wurde.
Bild 2.3.2 Aluminium-Blech-Profil-Bauweise des ET 420/421 Nahverkehrswagens
Ein entscheidender Entwicklungsschritt war die Waggonbauweise mit Aluminium-Großstrangpreßprofilen in der Mitte der siebziger Jahre, die dem wirtschaftlichen Leichtbau mit Aluminium zum Durchbruch verholfen hat, s. Bild 2.3.3. Der wirtschaftliche Leichtbau von Rohbauwagenkästen mit Aluminium basiert auf dem Konstruktionskonzept mit „integralen Großstrangpreßprofilen“. Dieser Integralleichtbau unterscheidet sich von der früher verwendeten und heute noch im Stahlleichtbau üblichen BlechGerippe-Bauweise dadurch, daß steife Flächenelemente durch stranggepreßte Hohlfachplatten in Wagenlänge erzeugt werden, in die zusätzliche Elemente als Montagehilfe und sonstige Funktionsträger bereits integriert sind. Derartige Integralprofile werden ausschließlich aus warmausgehärteten Legierungen erzeugt und durch mechanisiertes Schweißen in Portalschweißanlagen verbunden. Durch die Einführung der Integralbauweise mit Großprofilen konnten die Fertigungszeiten und -kosten erheblich gesenkt werden, s. Bild 2.3.3. Die heutige Großprofilbauweise ist durch die Einsparungen an Fertigungs- und Montagearbeit so wirtschaftlich wie die Stahlleichtbauweise, jedoch mit kürzeren Fertigungszeiten und einem zusätzlichen Leichtbaugewinn.
2.3 Aluminium im Schienenfahrzeugbau
49
Bild 2.3.3 Einfluß der Integralbauweise mit Großprofilen auf die Entwicklung von Baukosten, Fertigungszeit und Wagengewicht im Vergleich zur üblichen Stahlbauweise (Aluminium-Zentrale 1992)
Der erste in Deutschland in Integralbauweise gebaute Waggon war der Bx-Wendezugwagen für das Rhein-Ruhrgebiet, Bild 2.3.4. An diesem Fahrzeug entstanden im Service zunächst eine Reihe von Schäden (Morotini 1986), die als vermeidbare werkstofftechnische Fertigungs- und Konstruktionsfehler bei der Instandhaltung behoben werden mußten. Bei der Entscheidung im Jahre 1987, den Mittelwagen des ICE-1, Bild 2.3.5, in Aluminium-Integralbauweise zu bauen, wurde auf diesen Erfahrungen aufgebaut und ein Gemeinschaftsexpertenteam der Aluminiumindustrie
Bild 2.3.4 Wendezugwagen Bx der DB, Baujahr 1979
50
2 Märkte und Anwendungen
beauftragt, die Entwicklung in allen aluminiumspezifischen Fragen zu begleiten (Ostermann 1992). Nach 15-jährigem Einsatz und einer Laufleistung, die einem 30-jährigen Fahrbetrieb entspricht, hat die ICE-1Bauweise sich ohne Mängel an der Aluminiumstruktur bewährt.
Bild 2.3.5 Mittelwagen des ICE-1 und Struktur des Wagenkastens aus Großstrangpreßprofilen, 1990. Bodenprofil (unten links) und C-Kanal-Befestigung (unten rechts)
Bild 2.3.6 Aluminiumwaggonbau in spantenloser, doppelwandiger Großprofilbauweise: Pendelzug „Pendolino“ ETR-460 (links) und ICE-2 (rechts) (Quellen: VAW aluminium AG und DUEWAG-Siemens)
2.3 Aluminium im Schienenfahrzeugbau
51
Bild 2.3.7 Innenansicht des ICE-2 Rohbauwagens (links), Kopfwagen des ICE-3 (rechts)
Die Doppelwandstruktur führt jedoch in weniger beanspruchten Bereichen – wie z. B. in Flächenbereichen des Wagendaches – zu einer Überdimensionierung, so daß die Festigkeitsanforderungen an den Profilwerkstoff gesenkt werden konnten. Damit ergab sich gleichzeitig die Möglichkeit, die herstellungsbedingten Mindestwanddickengrenzen der Großprofile durch Legierungsmaßnahmen herabzusetzen, s. hierzu Abschn. 9.3. 2.3.2 Aluminiumwerkstoffe für die Schienenfahrzeugbau Die Einführung der Großprofiltechnik ging einher mit der Einführung der Legierung EN AW-6005A-T5 (AlMgSi(A)). Die reduzierten Festigkeitsanforderungen führten im weiteren Entwicklungsverlauf zur Legierung EN AW-6106-T5 (AlMgSi0,5Mn). Neben diesen Strangpreßlegierungen werden im Schienenfahrzeugbau noch weitere Legierungen und Halbzeugformen verwendet, die für untergeordnete oder für spezielle, höhere Anforderungen sowie für Walz-, Schmiede- und Gußmaterialien eingesetzt werden. Sie sind in der nachfolgenden Übersicht zusammengestellt. Alle zugelassenen Legierungen sind schweißgeeignet. Für konstruktiv erforderliche dickwandige Querschnitte und insbesondere dort, wo eine Anhäufung von Schmelzschweißnähten nicht vermieden werden kann, wurde vielfach die Legierung EN AW-7020-T5 (AlZn4,5 Mg1) eingesetzt, die nach dem Schweißen im Bereich der Wärmeeinflußzone wieder aushärtet und daher hohe statische Festigkeitswerte bietet. Wegen der Neigung dieser Legierung zu Schichtkorrosion in der nicht thermisch nachbehandelten Wärmeeinflußzone und wegen der in der Wagenreinigung verwendeten aggressiven Reinigungsmittel waren z.B. beim Bx-Wagen Korrosionsschäden aufgetreten, die durch aufwendige ReKonstruktion und Legierungswechsel beseitigt werden mußten. Darüber hinaus sollte diese Legierung wegen der schlechteren Preßbarkeit möglichst nur in Form von offenen Profilquerschnitten verwendet werden. Die-
52
2 Märkte und Anwendungen
se Einschränkungen führten dazu, daß in neueren Schienefahrzeugkonstruktionen diese Legierung nicht mehr verwendet wird. Werkstoffe für den Schienenfahrzeugbau unterliegen Restriktionen, die durch Regelwerke der Bahngesellschaften – z.B. DIN 5513 (Werkstoffe für Schienenfahrzeuge: Aluminium und Aluminiumlegierungen) und regelwerksähnlichen Merkblättern wie DVS 1608 (Schmelzschweißen von Aluminium im Schienenfahrzeugbau) – festgelegt sind. Auf europäischer Ebene gelten für die Werkstoffwahl die Normen (s. Tabelle Anh. A3): − − − −
DIN EN 13981-1:2003 für Strangpreßerzeugnisse DIN EN 13981-2:2004 für Platten und Bleche prEN 13981-3 für Gußstücke prEN 13981-4 für Schmiedestücke
Die zugelassenen Legierungen und Halbzeuge sind in Tabelle 2.3.1 zusammengefaßt. Tabelle 2.3.1 Aluminiumlegierungen für den Schienenfahrzeugbau nach DIN EN 13981, Teile 1 bis 4. Zusammensetzung s. Anh. 1.1 und 2.1 numer. Bezeichnung EN AW-5454-0/H112 1) EN AW-5754-H112 2) EN AW-5083-H112 2) EN AW-6060-T66 3) EN AW-6063-T66 3) EN AW-6106-T6 3) EN AW-6005-T6 3) EN AW-6005A-T6 3) EN AW-6008-T6 3) EN AW-6061-T6 2) EN AW-6082-T6 2) EN AC-42000-T6 4) EN AC-43300-T6 EN AC-43000-T6 EN AC-21100 5) 1) 2) 3) 4) 5)
Bez. mit chem. Symbolen EN AW-Al Mg3Mn EN AW-Al Mg3 EN AW-Al Mg4,5Mn0,7 EN AW-Al MgSi EN AW-Al Mg0,7Si EN AW-Al MgSiMn EN AW-Al SiMg EN AW-Al SiMg(A) EN AW-Al SiMgV EN AW-Al Mg1SiCu EN AW-Al Si1MgMn EN AC-Al Si7Mg EN AC-Al Si9Mg EN AC-Al Si10Mg EN AC-Al Cu4Ti
nur als Walzmaterial Strangpreß-, Walz- und Schmiedematerial nur Strangpreßmaterial Sand- und Kokillenguß Kokillenguß
2.3 Aluminium im Schienenfahrzeugbau
53
2.3.3 Schweißverbindungen im Schienenfahrzeugbau Die statischen Festigkeitswerte von Schweißverbindungen an schweißgeeigneten Aluminiumlegierungen sind u.a. abhängig von der Legierung, der Wanddicke des Schweißstoßes, vom gewählten Zusatzdraht, vom Schweißverfahren und von den verwendeten Schweißparametern, s. Kap. 16. Bei verfestigten bzw. ausgehärteten Legierungen sinkt die Festigkeit im Bereich der Wärmeeinflußzone bis auf die Werte des weichen Zustandes des Grundwerkstoffs. Das Ausmaß der Festigkeitseinbuße ist abhängig von der Intensität der Wärmeeinbringung beim Schweißprozeß. Im Schienenfahrzeugbau wird überwiegend mit dem MIG-Verfahren gearbeitet. Andere Verfahren, wie z.B. das WIG-Helium-Gleichstromschweißen, das Doppeldrahtschweißen, das Laserstrahlschweißen oder das MIG-Hybridschweißen sind ebenfalls geeignet und bieten Vorteile in der Wärmeeinbringung und bei den Verbindungseigenschaften. Zunehmend werden heute Schweißverbindungen auch durch Rührreibschweißen (Friction Stir Welding FSW, s. Kap. 19) erzeugt. Aus Tabelle 2.3.2 gehen die statischen Festigkeitseigenschaften von einigen MIG-Schweißverbindungen an Profilwerkstoffen (n. DIN EN 13981-1) hervor. Zu der erst vor einigen Jahren für Schweißkonstruktionen des Schienenfahrzeugbaus zugelassenen Strangpreßlegierung EN AW-6005 ist kritisch anzumerken, daß diese Mn-freie Legierung sich zwar durch günstigeres Strangpreßverhalten für dünnwandigere, komplizierte Profilformen eignet, aber wegen Neigung zu interkristallinem Bruchverhalten und problematischer Kornkontrolle nicht für dickwandige, hochbelastete und kritische Schweißkonstruktionen eignet ist. Aus diesen Erfahrungen wurde die Legierung EN AW-6005A entwickelt und ist seit Jahrzehnten im Schienenfahrzeugbau eingeführt. Einen gewissen Fortschritt stellt die jüngere Entwicklung der Legierung EN AW-6008 dar, die sich durch ein feinkörnigeres Gefüge insbesondere für solche Profilkonstruktionen auszeichnet, in denen Korngrenzenanschmelzungen („micro-fissuring“) in der Schweißnaht problematisch sein könnten, s. Kap. 16 und Kap. 20. Bezüglich der Werte für weitere Legierungen für den Schienenfahrzeugbau wird auf DIN 5513-1989-02 (Werkstoffe für Schienenfahrzeuge; Aluminium und Aluminiumlegierungen) verwiesen. Die Qualitätssicherung in der Ausführung von Schweißarbeiten hat im Aluminium-Schienenfahrzeugbau einen hohen Stellenwert. Seit 1997 gibt es als Ersatz für DS 952 01 und DS 952 02 für das Schweißen im Schienenfahrzeugbau ein neues Regelwerk in Deutschland, die Normenreihe DIN 6700-Teil 1–6 (Schweißen von Schienenfahrzeugen und -fahrzeugteilen). Betriebe, die Schweißarbeiten in der Neufertigung oder in der Instandhaltung ausführen wollen, müssen ihre Eignung nach DIN 6700 Teil 2 nachgewiesen haben.
54
2 Märkte und Anwendungen
Tabelle 2.3.2 Mindesteigenschaften von Profilmaterial und Schweißverbindungen für den Schienenfahrzeugbau nach DIN EN 13981-T.1 Legierung
Grundwerkstoff
numer. Bezeichnung
Rp0,2 1)
EN AW-5754-H112 EN AW-5083-H112 1) EN AW-6060-T66 4) EN AW-6063-T66 2) EN AW-6106-T6 2) EN AW-6005-T6 3) EN AW-6005A-T6 3) EN AW-6008-T6 3) EN AW-6061-T6 3) EN AW-6082-T6 3) 1) 4)
Rm
[N/mm²] [N/mm²] 80 180 125 270 160 214 200 245 200 250 215 255 225 270 215 255 240 260 250 290
MIG-Stumpfstoß A
Rp0,2
Rm
[%] 14 12 8 8 8 8 8 8 9 8
[N/mm²] 80 125 65 75 95 90 115 115 115 125
[N/mm²] 180 270 110 130 160 160 165 165 175 185
Wanddicke < 15 mm, 2) Wanddicke < 10 mm, 3) Wanddicke < 5 mm Wanddicke < 3 mm
Die Schweißzusatzwerkstoffe müssen auf die jeweilige Legierung abgestimmt werden. Die Wahl der möglichen Zusatzwerkstoffalternativen ist jedoch durch die speziellen Forderungen der langlebigen Schienenfahrzeuge eingeschränkt, da bei Reparaturarbeiten auch noch nach vielen Jahren der verwendete Schweißzusatz bekannt sein muß. Verwechslungen von Schweißdrahtlegierungen, z.B. von AlMg4,5Mn und AlSi5, können zu minderwertigen Verbindungseigenschaften führen. Auf die Möglichkeit der Entstehung von Warmrissen bzw. sogenannten „Korngrenzenöffnungen“ an der Grenze zwischen Schweißgut und Wärmeeinflußzone bei EN AW-6005, EN AW-6005A und EN AW-6082 soll an dieser Stelle hingewiesen werden. Sie entstehen durch bevorzugtes Aufschmelzen von heterogenen Korngrenzenzonen und können durch die Wahl des Zusatzwerkstoffs AlSi5 und durch feinkörniges Gefüge des Grundwerkstoffs, s. Legierung EN AW-6008, weitgehend vermieden werden. Umfangreiche Untersuchungen haben gezeigt, daß die Existenz solcher Korngrenzenöffnungen im Normalfall die zulässigen Beanspruchbarkeitswerte auch in bezug auf die Schwingfestigkeit nicht erniedrigen (Schwellinger 1992, Borst et al. 1992). Im Rahmen der statistisch ermittelten Mindestfestigkeitswerte sind diese Effekte bereits summarisch berücksichtigt worden. Beim Auslegen von Profilquerschnitten lassen sich im Bereich der späteren Schweißnaht Badstützen, Positionierhilfen und Schiebesitze für den
2.3 Aluminium im Schienenfahrzeugbau
55
Toleranzausgleich anbringen. Diese Hilfsmittel sind wesentlich für die wirtschaftliche Fertigung. Andererseits müssen Forderungen an die Dimensionierung dieser Hilfsmittel im Zusammenspiel mit der Ausbildung der Schweißnaht beachtet werden mit dem Ziel, zusätzliche Kerbspannungen so weit wie möglich zu vermeiden. Weitere Leichtbaupotentiale
Die Integralbauweise mit Großstrangpreßprofilen hat jedoch zu Einbußen im erzielbaren Leichtbaugrad geführt, der sich gegenüber der Blech-Gerippe-Bauweise von 30–35 % auf 25–30 % im Verhältnis zu Stahlausführungen verringert hat. Die Gründe hierfür liegen in den gegenüber der Blech-Gerippe-Bauweise schwereren Integralprofilen, in den Grenzen der Strangpreßtechnik, der eingesetzten Schweißtechnik sowie bei den heute verwendeten Methoden des Festigkeitsnachweises und in den geltenden Lastannahmen. Die Ausschöpfung der vorhandenen Leichtbaupotentiale hängt daher sowohl von der Weiterentwicklung der Werkstofftechnik, als auch der konstruktiven Bemessungsmethoden, der Lastannahmen und der Fertigungstechnologien ab, insbesondere auf dem Gebiet geschweißter Profilkonstruktionen. Weitere Impulse für die Erhöhung des Leichtbaugrades geschweißter Aluminiumprofilkonstruktionen im Schienenfahrzeugbau können von fertigungstechnischen Verfahrensentwicklungen geschweißter Verbindungen erwartet werden. Die Erfahrung, daß die Schwingfestigkeitseigenschaften von Schweißverbindungen an Aluminiumkonstruktionswerkstoffen kaum von den Eigenschaften des Grundwerkstoffs beeinflußt werden, läßt vermuten, daß Eigenspannungen und geometrische Imperfektionen die Verbindungsfestigkeit stärker beeinflussen als die werkstofflichen Einflußfaktoren. Folglich ist zu erwarten, daß durch verbesserte Schweißverfahren, die die Kerbwirkungen reduzieren, und durch Nachbehandlungen der Schweißnaht auch günstigere Schwingfestigkeitswerte erzielt werden. Problematisch ist sicherlich die Einführung zuverlässiger Werte für verbesserte Eigenschaften nachbehandelter Schweißverbindungen in die entsprechenden Regelwerke. Wegen der zusätzlichen Kosten solcher Nachbehandlungen wird man sie nur dort einsetzen, wo der Gewinn an Sicherheit bzw. an Werkstoffausnutzung entsprechend groß ist. Perspektiven für den wirtschaftlichen Aluminiumeinsatz im Schienenfahrzeugbau ergeben sich aus der Doppeldraht-MIG-Schweißtechnik, der Laserstrahlschweißtechnik und auch aus der weiteren Entwicklung des FSW-Reibschweißens von Profilstößen (Midling et al. 1994), – ein Verfahren, mit dem verzugsarme Verbindungen mit hoher Schweißnahtgüte und ohne Zusatzwerkstoff an aushärtbaren AlMgSi-Werkstoffen erreicht werden können (s. Kap. 19). Dort, wo man aus preßtechnischen Gründen
56
2 Märkte und Anwendungen
bei Großprofilen an die Grenzen der herstellbaren Mindestwanddicke stößt, können mit dem Einsatz wirtschaftlicher Fügeverfahren Leichtbaugewinne durch kleinere, dünnwandigere Profile erzielt werden. Weitere Leichtbaupotentiale werden in Hybridstrukturen gesehen, bei denen Sandwichelemente in nicht hochbelasteten Bereichen des Wagenkastens die schwereren, integral versteiften Großprofile ersetzen (Zehnder 1997). Solche Bereiche befinden sich z.B. in den Dachbereichen und in der Seitenwand. Im Mittelpunkt der bisherigen Leichtbauanstrengungen mit Aluminium steht der Rohbauwagenkasten von Personenfahrzeugen im Nah-, Fern- und Schnellbahnverkehr. Betrachtet man jedoch die typische Gewichtsverteilung zwischen den Bereichen Aluminium-Rohbauwagen (30–33%), Laufwerke (30–50 %) und Innenausbau (20–40 %), so besteht bei Drehgestellen und Radsätzen grundsätzlich das größte Potential für Gewichtseinsparungen, da sie heute überwiegend in Stahl ausgeführt werden. Die Entwicklung einer entsprechenden Aluminium-Werkstofftechnik für den Fahrwerksbereich ist sicherlich noch eine interessante Herausforderung für die Zukunft. Der Einsatz von SiC-partikelverstärkten Bremsscheiben ist ein weiterer Leichtbauschritt mit neuerer Werkstofftechnologie, s. Abschn. 21.2. Gegossene Bremsscheiben aus SiC-partikelverstärktem AlSi7Mg wurden für den ICE-1 und ICE-2 entwickelt und erprobt, s. Bild 2.3.8. Jeder Wagen verfügt über 8 Bremsscheiben mit 640 mm Durchmesser und einem Stückgewicht von 120 kg in Grauguß bzw. von 76 kg in SiC-verstärktem Aluminiumguß (einschließlich einer Stahlnabe). Die durch AluminiumBremsscheiben erzielbare Gewichtsreduzierung entspricht ca. 350 kg pro Fahrzeug.
Bild 2.3.8 Bremsscheiben aus SiC-partikelverstärktem AlSi7Mg Guß für ICE-1 und ICE-2 (Quelle: Honsel AG)
2.3 Aluminium im Schienenfahrzeugbau
57
Reparaturerfahrungen mit der Integralbauweise
Selbst bei schienengebundenem Verkehr sind Kollisionen gelegentlich nicht zu vermeiden. Die Reparatur solcher Schäden an einer aus Hohlprofilen bestehenden Wagenstruktur bedarf einer sorgfältigen Analyse des Schadens und der Entwicklung eines geeigneten Reparaturkonzeptes. Die für die Integralbauweise typische Hohlprofilstruktur macht einen 1:1 Ersatz beschädigter Bereiche durch identische Ersatzprofile häufig schwierig, da die inneren Versteifungsstege nicht für den Schweißprozeß zugänglich sind. Außerdem müssen die Festigkeits- und gegebenenfalls Steifigkeitseinbußen an den Reparaturschweißstellen mit den Beanspruchungsforderungen in Einklang gebracht werden. Schäden an Seitenwänden, Dach oder Bodenplatte werden deshalb z.B. durch Heraustrennen der Schadensstelle freigelegt, durch einen eingeschweißten Rahmen versteift und durch ein Paßstück des Originalprofils geschlossen, wie in Bild 2.3.9 skizziert ist.
Bild 2.3.9 Reparatur einer integral versteiften Bodenplatte durch a) Heraustrennen der Schadstelle, b) Einschweißen eines Versteifungsrahmens und c) Einschweißen des Ersatzprofils (n. Fa. KAMMERHOFER GERT GmbH., Kaisheim)
Bei Schäden an hochbeanspruchten Längsträgern ist eine solche Vorgehensweise nicht geeignet. Deshalb sieht das Reparaturkonzept vor, den beschädigten Bereich herauszutrennen und durch Einschweißen von Plattenelementen wieder aufzubauen, wie in Bild 2.3.10 dargestellt ist. Diese Reparaturvorgehensweisen haben sich bewährt und sind wegen der guten Bearbeitbarkeit des Aluminiums auch vergleichsweise kostengünstig. Als Schweißverfahren wird üblicherweise das MIG-Verfahren eingesetzt. An die Schweißnahtvorbereitung, Schweißfolge und eventuelle Nachbehandlung werden hohe Anforderungen gestellt, damit Verzug und Aufbau von Eigenspannungen vermieden werden. Ein nachträgliches Richten sollte vermieden werden.
58
2 Märkte und Anwendungen
Bild 2.3.10 Reparaturverlauf an einem Langträger eines ICE-3 nach Kollision. a) Schadensbild, b) Heraustrennen des beschädigten Materials des Langträgers, c) und d) Wiederaufbau des Langträgers durch Einschweißen von Plattenelementen (Quelle: G. Kammerhofer, Siemens Verkehrstechnik, 2006)
2.4 Aluminium im Schiffbau Der Leichtbau von Schiffskörpern nicht kommerzieller Art in Aluminiumbauweise hat eine lange Tradition basierend auf der guten Korrosionsbeständigkeit und guten Verarbeitbarkeit des Werkstoffs. Von wirtschaftlicher Bedeutung ist der Aluminiumleichtbau jedoch erst bei Schiffen mit kommerzieller Bestimmung. Besondere Beachtung hat daher der Bau von Schnellfähren und Katamaranen für den Kurzstrecken-Seeverkehr gefunden, der seit mehr als einem Jahrzehnt weltweit in Ganzaluminiumbauweise ausgeführt wird. Solche Fähren in Stahlbauweise verbrauchten bisher bis zu 90% der Antriebsenergie für den Transport des Eigengewichts und nur etwa 10 bis 30% für die Nutzlast. Eine Gewichtsreduktion um 50–60% durch Aluminiumleichtbau spart daher erhebliche Mengen Treibstoff, verringert die Instandhaltung und verbessert die Transportleistung aufgrund höherer Geschwindigkeiten (Vollrath 1998). Bild 2.4.1 zeigt eine solche Schnellfähre in Katamaranbauweise. Wenn bisher der Schwerpunkt bei Schnellfähren und Katamaranen lag, dürften angesichts der steigenden Ölpreise in den nächsten Jahren zunehmend auch Frachtschiffe aus Aluminium gebaut werden.
2.4 Aluminium im Schiffbau
59
Bild 2.4.1 Schnellfähre Benchijigua Express (Teneriffa, La Gomera und La Palma). Es ist das größte Schiff aus Aluminium. Maximale Ladung 1.350 Passagiere und 341 Fahrzeuge. Länge: 126,7m | Breite: 30,4m | Tiefgang: 4,0m | Höchstgeschwindigkeit: 40kn | Bj.: 2005 | Werft: Austal Ships, Australia | Reeder: Fred Olsen & Co. © Coxy
Konstruktiv ist die Aluminiumbauweise überwiegend mit der Stahlbauweise identisch. Es handelt sich vornehmlich um eine Schweißkonstruktion aus Blechen und Blechformteilen, mit einem geringen Anteil an Strangpreßprofilen. Bild 2.4.2 gibt einen Eindruck von dieser Bauweise am Beispiel eines Katamarans.
Bild 2.4.2 Rohbau eines Katamarans in Aluminium-Leichtbauweise (Quelle: Corus Aluminium, Koblenz)
60
2 Märkte und Anwendungen
Der kommerzielle Schiffbau unterliegt den Regelungen und der Aufsicht der verschiedenen Regulierungsbehörden und Klassifikationsgesellschaften, wie DNV (Det Norske Veritas) oder GL (Germanischer Lloyd). Die für die Anwendung in tragenden Strukturen zugelassenen Knetlegierungen enthält Tabelle 2.4.1 (Germanischer Lloyd 2005). Die Zusammensetzung der Legierungen entsprechen den Angaben der DIN EN 5733:2003, jedoch weichen die mechanischen Mindestwerte von der Norm DIN EN 485-2:2004 ab. An Walzerzeugnissen aus den Legierungen der Reihe 5xxx in den verfestigten Zuständen H116, H32 oder H321 muß eine Prüfung der Beständigkeit gegen Schichtkorrosion und interkristalline Korrosion gemäß ASTM-G66 und ASTM-G67 durchgeführt werden. Tabelle 2.4.1 Aluminium-Knetlegierungen, Erzeugnisformen und Werkstoffzustände, die für Anwendungen in tragenden Konstruktionen empfohlen werden. (n. Germanischer Lloyd, 2005) Leg.-Bezeichnung GL AW-5059 („Alustar®“)
Bez. chem. Symbole AlMg5,5Mn0,8ZnZr
GL AW-5083 alternativ: GL AW-5383
AlMg4,5Mn0,7 alternativ: AlMg4,5Mn0,9
GL AW-5086
AlMg4
GL AW-5454
AlMg3Mn
GL AW-5754
AlMg3
GL AW-6005A
AlSiMg(A)
_
T6
1)
_
GL AW-6061
AlMg1SiCu
_
T6 1)
_
GL AW-6082 GL AW-6106 1)
AlSi1MgMn AlMgSiMn
Walzprodukte Profile _ O/H111 H112 H116 H321 O/H111 H112 H112 H116 H321 H112 O/H111 H112 H116 H32/H321 O/H111 H112 H112 H32/H321 O/H111 H112 H32/H321
T6/T651 _
H112
Schmiedestücke _
H112
_
_
H112
T6
1)
T6
T6
1)
_
Die Eigenschaften dürfen auch durch Abschrecken an der Presse erzielt werden
Aluminiumgußlegierungen werden im Schiffbau praktisch noch nicht für tragende Schweißkonstruktionen verwendet, sind aber in Qualitäten zugelassen, deren Cu-Gehalt geringer als 0,1 Gew.-% beträgt. Tabelle
2.5 Aluminium im Flugzeugbau
61
2.4.2 enthält die empfohlenen Gußlegierungen des Germanischen Lloyd mit Angaben über die Eignung bezüglich Seewasserbeständigkeit im ungeschützten Zustand. Die Zusammensetzung und Eigenschaften entsprechen der DIN EN 1706:1998. Weitere Informationen über Kneterzeugnisse und Gußstücke für Seewasseranwendungen finden sich in DIN EN 131951:2002 (s. Tabelle Anh. A3). Tabelle 2.4.2 Gußlegierungen, die ungeschützt dem Seewasserklima ausgesetzt werden können (n. Germanischer Lloyd, 2005) LegierungsBezeichnung
Bezeichnung mit Chem. Symbolen
Gießverfahren Zustand
Seewassereignung
EN AC-41000 Al Si2MgTi S, K F, T6 gut EN AC-42100 Al Si7Mg0,3 S, K, L T6, T64 gut EN AC-42200 Al Si7Mg0,6 S, K, L T6, T64 gut EN AC-43100 Al Si10Mg(b) S, K, L T6, T64 gut/mittelmäßig EN AC-44100 Al Si12(b) S, K, L, D F, T6, T64 gut/mittelmäßig EN AC-51000 Al Mg3(b) S, K, L F sehr gut EN AC-51300 Al Mg5 S, K, L F sehr gut EN AC-51400 Al Mg5(Si) S, K, L F sehr gut S – Sandguß, K - Kokillenguß, Niederdruckkokillenguß, D – Druckguß, L - Feinguß
Als Schweißverfahren werden traditionsgemäß MIG- und WIGSchweißen unter Argon und/oder Helium als Schutzgasen eingesetzt. Zunehmend gibt es jedoch auch Erfahrungen mit dem Einsatz des Rührreibschweißens (FSW, s. Abschn. 19.1) bei Schiffbauanwendungen.
2.5 Aluminium im Flugzeugbau Der erste bemannte Motorflug der Geschichte wird Karl Jatho am 18. August 1903 auf der Vahrenwalder Heide bei Hannover zugeschrieben – 4 Monate vor den Gebrüdern Wright in den USA. Noch waren die Fluggeräte eine Konstruktion aus Holz, Draht und Tuch, obwohl die Beschläge teilweise schon aus „Magnalium“ bestanden, einer Aluminiumlegierung mit etwa 10% Mg und einer Zugfestigkeit zwischen 18 und 24 kg/mm² im Zustand weich (Krüger 2006). In der Pionierzeit des Flugzeugbaus zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Entdeckung der Aushärtbarkeit von AlCuMnMg-Legierungen („Duralumin“) im Jahre 1906 durch Alfred Wilm (s.a. Abschn. 3.1.6) sowie die Entwicklung des ersten Ganzmetallflugzeugs „J1“5 im Jahre 1915 durch Hugo Junkers, Professor für Wärmetech5
Gebaut aus dünnem Eisenblech, bevor mit der J4 der Duralumin-Leichtbau begann.
62
2 Märkte und Anwendungen
nik an der TH Aachen, die entscheidenden Schritte zur heute noch grundlegenden Werkstofftechnologie des Flugzeugbaus.
Bild 2.5.1 Flugzeugbau in den 30er Jahren. Rohbau der Ju52, Junkers-Werke, Dessau (Quelle: Pletschacher 1989)
Auf dem fast hundertjährigen Entwicklungsweg zum Airbus A380 haben sich zwar die Grundprinzipien des Metalleichtbaus nicht wesentlich verändert, vgl. Bilder 2.5.1 und 2.5.2, und der Gewichtsanteil der Aluminiumwerkstoffe beträgt immer noch über 60%, aber Legierungen, Halbzeuge und Fertigungstechniken wurden wesentlich verfeinert und erweitert. Ziele der werkstofflichen Entwicklungen waren höhere Festigkeiten und Steifigkeiten und besonders die Verbesserung von Schadenstoleranzeigenschaften und Schweißbarkeit sowie eine verbesserte Kosteneffizienz. Im folgenden wird ein kurzer Überblick gegeben. Eine ausführliche Übersicht über die werkstofflichen Entwicklungen der Luft- und Raumfahrt geben z.B. Williams und Starke, Jr. (Williams et al. 2003). Höhere statische Festigkeiten können einerseits durch höhere Legierungsanteile – z.B. von Zn in AlZnMgCu- oder von Cu in AlMgSiCu-Legierungen – erzielt werden, anderseits müssen die nutzbaren Festigkeitseigenschaften abgestimmt werden auf weitere Eigenschaften, insbesondere auf die Beständigkeit gegen Spannungsrißkorrosion (SpRK) und interkristalline Korrosion (IK). So können die hohen Festigkeiten von vollausgehärteten AlZnMgCu-Legierungen im T6-Zustand nicht sicher ausgenutzt werden. SpRK- und IK-Korrosionsbeständigkeit werden erst durch eine gewisse Überhärtung abgesichert. AlZnMgCu-Legierungen werden daher nur noch im T7X-Zustand verwendet, s. Tabelle 2.5.1.
2.5 Aluminium im Flugzeugbau
63
Bild 2.5.2 Vordere Rumpfzelle des Airbus A380 (Quelle: Airbus Ind.; Corus Aluminium, Koblenz) Tabelle 2.5.1 Ausgewählte Luftfahrtlegierungen, zugehörige Halbzeugart und Verwendungszweck (Fridez 2004) Bez. Bez. mit chem. AA Symbolen 2024 Al Cu4Mg1
Zustand T351
Beispiele für Halbzeugart und Verwendungszweck Bleche und Platten für Flügelunterseite
2524 Al Cu4Mg1(A) 2026 Al Cu4Mg1Zr
T3/T351 T3511
Bleche und Platten für Rumpfbeplankung Stranggepreßte Versteifungsrippen für Flügel
6013 Al Mg1Si0,8CuMn T6 6056 Al Si1MgCuMn T78 T7X T74511
Bleche für Rumpfbeplankung Bleche für Rumpfbeplankung, höhere IKBeständigkeit als AA6013-T6 Platten für Holme und Flügeloberseite Platten für Flügeloberseite, gepreßte Stangen
7150 Al Zn6CuMgZr(A) T7751 T7951 7055 Al Zn8CuMgZr T79511
Platten für Flügeloberseite Stranggepreßte Versteifungsrippen für Flügel
7040 Al Zn6MgCuZr 7050 Al Zn6CuMgZr
Platten für Versteifungsrippen
T762/T76511 Strangpreßprofile für Rumpfversteifungsrippen und Bodenträger Platten für Querholme (spars) 7085 Al Zn7,5CuMgZr T7651 T7652/T7452 Schmiedeteile für Querholme Bleche und Platten für Flügeloberseite 7449 Al Zn8MgCuZr T79 Bleche und Platten für Rumpfbeplankung 7475 Al Zn5,5MgCu(A) T76/T7651
64
2 Märkte und Anwendungen
Im Flugzeugbau ist es üblich, tragende Bauteile und Paneele durch Zerspanen aus dicken Platten zu fertigen, um die Zahl von Verbindungen zu verringern, die immer ein gewisses Sicherheitsrisiko in sich bergen können und durch Materialdopplungen und notwendige Materialverstärkungen unerwünschte Zusatzgewichte bringen. Ein typisches Beispiel ist in Bild 2.5.3 dargestellt. Eine solche Bauweise verlangt gleichmäßige Festigkeitseigenschaften in allen Richtungen, insbesondere in der Dickenrichtung (short transvers Richtung, ST), und daher eine geringe Abschreckempfindlichkeit der Legierung, s. Kap. 3.2.8. Die neueren hochfesten AlZnMgCu-Legierungen verzichten daher auf Mn- und Cr-Gehalte zugunsten von Zr-Gehalten, s. Tabelle 2.5.2.
Bild 2.5.3 Aus hochfester dicker Walzplatte gefrästes Strukturteil (Quelle: Corus Aluminium Koblenz)
Weiterhin können die hohen Schadenstoleranzforderungen nur erfüllt werden, wenn eine ausreichend homogene Gefügequalität vorliegt und Primärphasenanteile und -partikelgröße sowie Mikroporosität und Oxidgehalt extrem eingeschränkt werden. Deshalb wurden die Si- und Fe-Gehalte bei den neueren AlCuMg- und AlZnMgCu-Legierungen drastisch eingeschränkt, s. Tabelle 2.5.2, und die Halbzeuge einer 100% zerstörungsfreien US-Prüfung sowie laufender Bruchzähigkeitsprüfungen unterzogen. Außerdem muß sichergestellt werden, daß der Abschreckvorgang über der gesamten Plattenfläche gleichmäßig erfolgt und keine „hot spots“ gebildet werden, die im fertig zerspanten Teil weiche Zonen hinterlassen. Einige charakteristische Festigkeitseigenschaften und Bruchzähigkeitswerte von Plattenmaterial ausgewählter Luftfahrtlegierungen enthält Tabelle 2.5.3. Eine Erläuterung zu den Rißorientierungen (L-T, T-L und S-L) von Bruchmechanikproben im Verhältnis zu den Halbzeugkoordinaten wird in
2.5 Aluminium im Flugzeugbau
65
Tabelle 2.5.2 Zusammensetzung neuerer Flugzeugbaulegierungen im Vergleich zu den traditionellen Legierungen AA2024, AA6061 und AA7075 AANo. 2024 2524 2026
Si
Fe
0.50 0.06 0.05
6061 0.400.8
Cu
Ti
0.50 3.8-4.9 0.30-0.9 1.2-1.8 0.10 0.12 4.0-4.5 0.45-0.7 1.2-1.6 0.05 0.07 3.6-4.3 0.30-0.8 1.0-1.6 ....
0.25 0.15 0.10
0.15 0.10 0.06 0.05-0.25 Zr
0.7
0.25
0.15
0.15
Mg
Cr
0.8-1.2 0.040.35
6013 0.6-1.0 0.50 0.6-1.1 0.20-0.8 0.8-1.2 0.10 6056 0.7-1.3 0.50 0.50-1.1 0.40-1.0 0.6-1.2 0.25 7075 0.40 0.50 1.2-2.0 0.30 2.1-2.9 0.180.28 7475 0.10 0.12 1.2-1.9 0.06 1.9-2.6 0.180.25 7040 0.10 0.13 1.5-2.3 0.04 1.7-2.4 0.04 7050 0.12 0.15 2.0-2.6 0.10 1.9-2.6 0.04 7150 0.12 0.15 1.9-2.5 0.10 2.0-2.7 0.04 7055 0.10 0.15 2.0-2.6 0.05 1.8-2.3 0.04 7085 0.06 0.08 1.3-2.0 0.04 1.2-1.8 0.04 7449 0.12 0.15 1.4-2.1 0.20 1.8-2.7 .... 1)
Sonstige1)
Zn
0.150.40
Mn
0.25 0.10 0.10-0.7 .... 5.1-6.1 0.20 5.2-6.2 0.06 5.7-6.7 5.7-6.7 5.9-6.9 7.6-8.4 7.0-8.0 7.5-8.7
0.06 0.06 0.06 0.06 0.06 ....
0.05-0.12 Zr 0.08-0.15 Zr 0.08-0.15 Zr 0.08-0.25 Zr 0.08-0.15 Zr 0.25 Ti+Zr
Andere Elemente 0.05 einzeln bzw. 0.15 gesamt, Rest Aluminium
Tabelle 2.5.3 Charakteristische mechanische Eigenschaften von Luftfahrtplattenwerkstoffen nach verschiedenen Literaturquellen AA-No. Zustand
Dicke mm 2024 T351 25 T851 100 6061 T6 75 6082 T651 30 7075 T651 35 T7351 25 7050 T7451 75 7150 T651 35 7055 T7951 35 7449 T7651 30 7049 T73 (Extr.) 76 KO82501) T7X51 30 1)
Rm Rp0,2 A KIc(L-T) KIc(T-L) KIc(S-L) MPa MPa % MPa√m MPa√m MPa√m 430 310 12 45 41 485 427 7 35 27 315 265 9 33 30 23 305 250 9 39 565 517 9 31 25 505 448 8 36 29 460 410 8 26 24 23 580 540 7 24 22 605 580 7 23 21 570 520 8 24 22 545 515 7 31 27 22 520 460 12 38,5 29,5 28,5
Werksbezeichnung Corus Aluminium, Koblenz
66
2 Märkte und Anwendungen
Bild 2.5.4 gegeben. Die L-T Probenlage ergibt gewöhnlich die höchsten, die S-L Probenlage die geringsten Bruchzähigkeitswerte.
Bild 2.5.4 Definition der Orientierungen von Bruchmechanikproben im Halbzeug: L = Walz-, Strangpreß- oder Schmiederichtung; T = Querrichtung; S = kurze Querrichtung (Dickenrichtung)
Die geometrischen Toleranzforderungen stellen hohe Ansprüche an die Eigenspannungsfreiheit der Walzplatten, um Verzug während der Zerspanung zu vermeiden. Um minimale Eigenspannungen und optimale Eigenschaften durch den Abschreckvorgang zu erzielen, muß ein bestimmtes Temperatur-Zeit-Profil eingehalten werden und die Platten anschließend in entsprechend ausgelegten Reckanlagen spannungsfrei gereckt werden, s. Bild 3.2.47. Die hochfesten Luftfahrtlegierungen der AlCuMg- und AlZnMgCu-Legierungssysteme sind mit den herkömmlichen Lichtbogen- und Laserstrahlschweißverfahren nicht schmelzschweißbar. Schweißkonstruktionen haben deshalb bei Flugzeugzellenstrukturen lange Zeit keine Rolle gespielt. Die vorherrschende Verbindungstechnik war das Nieten, meistens in Kombination mit Kleben oder Dichtmitteln. Mit der Entwicklung der schweißbaren höher festen AlMgSiCu-Legierungen (AA6013 und AA6056) bieten sich Möglichkeiten der Gewichts- und Kosteneinsparung bei der Herstellung von Rippenblechen für den Flugzeugrumpf durch Laserstrahlschweißen, s. Bild 2.5.5. In der Tat werden beim Airbus A318 und A380 Teile des Rumpfbauchs mit derart geschweißten Paneelen ausgerüstet. Auch das Rührreibschweißen (FSW, s. Abschn. 19.1) bietet für die Verbindung von Blech- und Profilelementen im Flugzeugbau noch weiteres Potential. Da bei diesem Verfahren die Solidus-Temperatur nicht überschritten wird, lassen sich auch nicht schmelzschweißbare Legierungen der 2xxx und 7xxx Gruppen mit diesem Verfahren stoffschlüssig verbinden.
2.6 Architektur und Ingenieurbau
67
Bild 2.5.5 Verbindung von Versteifungsrippen auf Blechfeldern durch Nieten (links) und Laserstrahlschweißen (rechts)
Im Bestreben, gegenüber den „traditionellen“ Aluminiumwerkstoffen weitere Gewichtseinsparungen zu erzielen, werden im modernen Flugzeugbau zunehmend kohlefaserverstärkte Kunststoffe und andere Verbundwerkstoffe eingesetzt. Zum ersten Mal im Airbus A380 wird ein Aluminium-Faserverbundwerkstoff verwendet, der unter dem Markennamen GLARE® hauptsächlich von der TU Delft entwickelt wurde. GLARE besteht aus mehreren, jeweils nur wenige Zehntel mm dicken Schichten aus Aluminium und einem Glasfaserlaminat. Ein Vorteil ist das gegenüber monolithischem Aluminiumblech günstigere Rißfortschrittsverhalten, nachteilig ist der geringere E-Modul (57.000 MPa) und der etwa 6-fache Preis.
2.6 Architektur und Ingenieurbau Nach dem Sektor Transport und Verkehr ist das Bauwesen der zweitwichtigste Anwendungsbereich für Aluminiumprodukte geworden. Dafür gibt es mehrfache Gründe: die sehr gute Witterungsbeständigkeit, eine breite Palette von dekorativen organischen und anorganischen Oberflächenbeschichtungen, niedrige Instandhaltungskosten, gute Verarbeitbarkeit – vor allem auch aus der Sicht des Handwerks – und nicht zuletzt die außergewöhnlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Strangpreßtechnik. Nicht von ungefähr ist daher der Bausektor für die Strangpreßwerke der wichtigste Abnehmermarkt. Fensterrahmen, Türen und Fassadenelemente stellen die Hauptanwendungsgebiete dar. Blechanwendungen findet man in der Form von walzblanken oder oberflächenveredelten, walzgeprägten oder rollgeformten Flächenelementen als Dach- und Wandverkleidung im Industriebau und behördlichen Objektbauten, aber auch an Kulturbauten. Ein Bei-
68
2 Märkte und Anwendungen
spiel von überregionaler Bedeutung ist das Imperial War Museums in Manchester, das vom Architekten Daniel Libeskind entworfen wurde, Bild 2.6.1, und dessen Dach- und Wandverkleidung aus Aluminium besteht.
Bild 2.6.1 Imperial War Museum, Manchester. Entwurf: Büro Daniel Libeskind, Berlin. Die sog. „Earth Shards“ sind mit Aluminium verkleidet. Projektleiter: Architekt Martin Ostermann. Fertigstellung: 2002 (Foto: F. Ostermann)
Die Dachverkleidungen sowie die Wandverkleidungen im Industriebau werden allgemein als rollgeformte Trapezprofile ausgeführt, die eine gewisse Tragfähigkeit zu erfüllen haben. Die Anforderungen an Konstruktion, Tragfähigkeit und den Nachweis der Gebrauchstauglichkeit von Aluminium-Trapezprofilen sind in DIN 18807, Teile 6–9, geregelt. Die bauaufsichtlichen Zulassungen von Bauprodukten obliegen dem Deutschen Institut für Bautechnik (DIBt), Berlin. Im Rahmen dieser Zulassungen werden den Bauprodukten die Legierungszusammensetzungen und Werkstoffzustände zugeordnet. Die am häufigsten für Trapezprofile eingesetzten Legierungen und Werkstoffzustände sind in Tabelle 2.6.1 enthalten. Die Wahl des geeigneten Werkstoffzustands ergibt sich aus den geforderten Festigkeits-, Stabilitäts- und Verbindungseigenschaften sowie aus den Anforderungen des Rollformprozesses. Nach DIN 18807-9 wird eine Mindest-0,2%-Dehngrenze von 165 N/mm² gefordert. Die wegen ihrer hohen Korrosionsresistenz vorwiegend eingesetzten Legierungen der Gruppe AlMn (EN AW-3xxx) erreichen das geforderte Festigkeitsniveau durch erhebliche Kaltverfestigung (sog. H-Zustände). Die verwendeten Blechdicken betragen typischerweise 0,5 bis 1,5 mm. Aus wirtschaftlichen Grün-
2.6 Architektur und Ingenieurbau
69
den wird bei geforderter Tragfähigkeit die Blechdicke durch ein Optimum zwischen Stützlänge und Flächengewicht bestimmt. Außer den in Tabelle 2.6.1 angegebenen Legierungen und Zuständen ist der Einsatz weiterer Legierungen und Werkstoffzustände möglich, sofern für die Produkte eine entsprechende Zulassung durch das DIBt erwirkt wurde. Tabelle 2.6.1 Aluminiumlegierungen für rollgeformte Trapezprofile für Dachund Wandverkleidungen (nach DIN 18807-9) Numerische Bezeichnung
Bezeichnung mit chem. Symbolen
Anwendbare Werkstoffzustände
EN AW-3103 EN AW-3004 EN AW-3005 EN AW-3105 EN AW-5005A
AlMn1 AlMn1Mg1 AlMn1Mg0,5 AlMn1Mg0,5 AlMg1(C)
H18, H28 H14, H34, H44, H46, H28 H16, H44, H48 H18, H28, H48 H18, H38, H48
Zur Bezeichnungsweise der Werkstoffzustände s. Abschn. 3.4.2
Gegenüber den Dach- und Wandverkleidungen stellen Ingenieurbaukonstruktionen gewöhnlich höhere Anforderungen an die Tragfähigkeit der Struktur und erfordern Legierungen mit höheren Festigkeitswerten und ausreichender Schweißbarkeit. Der konstruktive Ingenieurbau unterliegt einschlägigen Regelwerken zur Konstruktion, Bemessung und Herstellung, s. Stahlbaunormen DIN 18800, 18801, etc. Für die Auslegung von Aluminiumkonstruktionen und Aluminiumschweißkonstruktionen gilt die DIN 4113:2002 (s. Tabelle Anh. A4). Im Rahmen europäischer Vereinheitlichung wurde der Eurocode 9 (EC9) (prEN 1999-1-1:2004) entwickelt, der in Methodik und Umfang über den Rahmen der DIN 4113 deutlich hinausgeht. Der Entwurf ist z.Zt. noch in der Erprobung, mit der Einführung wird in 2007 gerechnet. Die Konstruktionslegierungen nach DIN 4113-1 mit Angabe der Halbzeug- oder Formgußart sowie der zugehörigen Werkstoffzustände enthält Tabelle 2.6.2. Die Angaben entsprechen weitgehend auch dem EC9 (zusätzlich dort enthalten: EN AW-5052, EN AW-5454, EN AW-8011A). Zu den herausragenden Ingenieurbauprojekten zählt der Brückenbau, der hierzulande als Stahlbaudomäne gilt. Dennoch gibt es einige Beispiele für den Aluminiumbrückenbau, die die Vorteile dieses Werkstoffs deutlich machen. Bild 2.6.2 zeigt die Schwansbellbrücke über den Datteln-HammKanal bei Lünen, die 1956 als Nietkonstruktion mit AlSi1MgMn-Profilen erbaut wurde und sich nach 50 Jahren in einem baulich ausgezeichneten Zustand befindet. Es wurde damals weder ein Korrosionsschutz aufge-
70
2 Märkte und Anwendungen
bracht, noch war eine Instandsetzung erforderlich. In Stahlausführung hätte die Brücke ein Eigengewicht von 60 t gehabt, die Gewichtseinsparung durch den Aluminiumleichtbau betrug somit 58 %!
Tabelle 2.6.2 Konstruktionslegierungen nach DIN 4113-1(2002-09) Numerische Bezeichnung
Bezeichnung mit Halbzeug bzw. Werkstoffchem. Symbolen Gießverfahren Zustand
EN AW-3103 EN AW-3004 EN AW-3005 EN AW-5005A
Al Mn1 Al Mn1Mg1 Al Mn1Mg0,5 Al Mg1(C)
EN AW-5049 EN AW-5754 EN AW-5083 EN AW-6060 EN AW-6063 EN AW-6005A EN AW-6106 EN AW-6061 EN AW-6082 EN AW-7020 EN AC-42100 EN AC-42200 EN AC-43000 EN AC-43300 EN AC-44200 EN AC-51300
Al Mg2Mn0,8 Al Mg3 Al Mg4,5Mn Al MgSi Al Mg0,7Si Al SiMg(A) Al MgSiMn Al Mg1SiCu Al Si1MgMn Al Zn4,5Mg1 Al Si7Mg0,3 Al Si7Mg0,6 Al Si10Mg(a) Al Si9Mg Al Si12 Al Mg5
W W W W, P, R
H18 H14, H24, H34, H16, H26, H36 H16, H18, H28 0/H111, H112, H12, H22, H32, H14, H24, H34 W 0/H111, H112, H14, H24, H34 W, P, R, Schm. 0/H111, H112, H12, H22, H32, H116 W, P, R, Schm. 0/H111, H112, H12, H22, H32, H14 P, R T6, T66 P, R T6, T66 P T6 P T6 W, P, R T6, T651 W, P, R, Schm. T6, T651, T61, T6151, T5 W, P, R T6, T651 K T6, T64 K T6, T64 K F K, S T6, T64(K) K, S F K, S F
W = Bleche, Platten; P = gepreßte Profile, Rohre, Stangen; R = gezogene Rohre; Schm. = Schmiedeteile; K = Kokillengußteile, S = Sandgußteile
Ein moderneres Beispiel für Aluminiumbrückenbau ist die ForsmoBrücke in Nordland, Norwegen, s. Bild 2.6.3, die eine ältere Stahlbrücke ersetzte und 1996 erbaut wurde. Hierbei handelt es sich um eine Schweißkonstruktion aus Blech- und Profilelementen, die in einem Fabrikationsbetrieb erbaut und im Straßentransport zur Baustelle gebracht wurde. Die Gewichtseinsparung soll erlaubt haben, die bestehenden Fundamente weiter zu nutzen und die Nutzlastgrenze zu erhöhen.
2.6 Architektur und Ingenieurbau
71
Bild 2.6.2 Die Schwansbellbrücke über den Hamm-Datteln-Kanal im Jahre 2006. Stützweite 44,20 m, Gesamtbreite 5,10 m, nutzbare Brückenbreite 4,50 m, Fahrbahnbreite 3,50 m. Brückengewicht: 25 t, Verkehrsgewichtzulassung bis 12 t (Quelle: W. Mader, GDA)
Bild 2.6.3 Aluminiumbrückenbau in Norwegen: Die Forsmo-Brücke (Quelle: Hydro Aluminium)
72
2 Märkte und Anwendungen
2.7 Sonstige Anwendungsmärkte Die besonderen Eigenschaften des Aluminiums erschöpfen sich nicht allein in den vorstehend betrachteten Anwendungsmärkten, in denen das geringe Gewicht, gutes Korrosionsverhalten, hohe Festigkeiten und Duktilität sowie die guten Formgebungs- und Verarbeitungseigenschaften die wesentliche Rolle spielen. Der nachfolgende kurze Überblick über weitere Anwendungsbereiche soll das tatsächlich größere Spektrum der nutzbaren Aluminiumeigenschaften beleuchten. 2.7.1 Maschinen-, Apparate- und Werkzeugbau Im Maschinen- und Apparatebau spielen neben der chemischen Beständigkeit und den mechanischen Eigenschaften vor allem die guten Formgebungsmöglichkeiten durch Gießen und Strangpressen sowie die hervorragende spanende Bearbeitbarkeit, s. Kap. 14, eine wesentliche Rolle. Die vergleichsweise geringen Werkzeugkosten beim Gießen und Strangpressen und die hohe Zerspanbarkeit sind Voraussetzung für die Verwendung des Werkstoffs auch bei geringen Seriengrößen. Neben den bekannten Profilsystemen für Maschinenrahmen werden vor allem vielfältige Funktionselemente (Hydraulik, Pneumatik) und Maschinenbauteile mit komplexen Geometrien mit Hilfe von Strangpreßprofilen ausgeführt, s. Bild 2.7.1. Zum Einsatz kommen je nach Herstellungsart und Bauteilanforderungen die verschiedenen Standardknet- und Gußlegierungen. Ein weiteres Anwendungsgebiet sind Werkzeugbauelemente, die vorwiegend aus spannungsarmen hochfesten Walzplatten durch spanende Bearbeitung hergestellt werden. Einerseits dienen sie dazu, die Massenkräfte bei schnellaufenden Werkzeugmaschinen zu reduzieren. Ein Beispiel ist in Bild 2.7.2 gezeigt. Andererseits werden die Walzplatten (und bei extremen Dickenabmessungen auch geschmiedete Platten) für den Bau von Spritzgußformen für die Kunstoffteileherstellung eingesetzt. Gegenüber Stahlformen bietet Aluminium eine um das 5- bis 10-fache kürzere Bearbeitungszeit und eine etwa 5-fach höhere Standzeit der Bearbeitungswerkzeuge. Hinzu kommt wegen der hohen Wärmeleitfähigkeit des Aluminiums gegenüber Stahl eine um etwa 50% kürzere Zykluszeit des Spritzvorgangs. An die Gefügequalität werden hohe Anforderungen gestellt, um den Ansprüchen der Oberflächenqualität der Spritzgußteile zu genügen. Als Legierungen kommen mittel- bis hochfeste Standard-Legierungen zum Einsatz sowie firmenspezifische Rezepturen, s. Tabelle 2.7.1.
2.7 Sonstige Anwendungsmärkte
73
Bild 2.7.1 Portalroboterachse aus EN AW-6060-T6 (Quelle: VAW/Corus Aluminium Bonn)
Bild 2.7.2 Werkzeugbauteile durch spanende Bearbeitung aus spannungsarmen, hochfesten Walzplatten hergestellt (Quelle: Alusuisse/Alcan)
Die Verschleißeigenschaften der Schneidkanten von Blasformen aus den genannten Legierungen lassen sich durch Aufhärtung mit Hilfe des Pulver-Plasma-Auftragschweißens (PPA-Schweißen) verbessern (Balachov et al. 2002, Dilthey et al. 2003).
74
2 Märkte und Anwendungen
Tabelle 2.7.1 Knetlegierungen für den Formenbau. Nominelle Zusammensetzung und Festigkeitsbereiche Rp0,2 2) [MPa]
A50 2) [%]
Nominelle Zusammensetzung
Markenname 1)
max. Dicke Rm 2) [MPa] [mm]
Al Zn7Mg2Cu2Zr
HOKOTOL
100 - 400
485 - 575 415 - 535 2 - 7,5
AlCu6MnMn0,2Zr0,2 WELDURAL 100 - 700
345 - 455 295 - 350 1,5 - 7,5
AlMg4Mn1Si1
200 - 260 105 - 155 2,5 - 16,5
1) 2)
GIGANTAL 100 - 1000
Fa. Corus Aluminium Koblenz gemessen in L-T Richtung bei 1/4 Plattendicke
2.7.2 Elektrotechnik Die hohe elektrische Leitfähigkeit bei geringem spezifischen Gewicht ist die wesentliche Grundlage für vielfältige Verwendungen von Aluminium als elektrischer Leiter (Hochspannungsleitungen, Stromschienen, etc.). Bild 2.7.3 zeigt den Querschnitt einer Verbundstromschiene für die Stromversorgung von U-Bahnen, s. auch Abschn. 9.7.3. Der metallurgische Verbund zwischen dem Aluminiumprofil und der Schicht aus abriebfestem Stahl wird beim Strangpreßvorgang erzeugt. Für diese stromleitende Verwendung werden Reinaluminium und sog. E-Al-Sorten eingesetzt, wie EN AW-EAl99,7 (1370), EN AW-EAl99,5 (1350), EN AW-EAl MgSi (6101) u.a., s.a. DIN EN 14121:2003 (s. Tabelle Anh. A3). In der Elektrotechnik spielt Aluminium aber auch für die konduktive und konvektive Wärmeleitung eine wichtige Rolle. Vor allem in der Form von Strangpreßprofilen kommt Aluminium für Elektronikkühlkörper und als Gehäuse von Elektromotoren zum Einsatz. Durch die Verrippung der Oberfläche dieser Bauelemente und gleichzeitig durch die exzellente Wärmeleitung wird eine spezifisch hohe Kühlleistung möglich. Für den Bau von Elektronikelementen wird höchstreines Aluminium mit Reinheitsgraden von 99,9999% (Kryal® der Fa. Hydro, ehem. VAW) verwendet. Eine weitere elektrotechnische Anwendung betrifft den Bau von Kondensatoren. Die hierzu notwendigen Folien in Dicken zwischen 70 und 150 µm erlauben aufgrund ihrer speziellen Textur Ätzkanäle senkrecht zur Folienoberfläche zu bilden und – nach der isolierenden Anodisierung – auf diese Weise die effektive Oberfläche um das 100-fache zu vergrößern. Bild 2.7.4 zeigt die Tunnelstruktur in einem Querschnitt durch eine Hochvolt-Ätzfolie nach dem Herausbeizen des metallischen Stützgerüstes.
2.7 Sonstige Anwendungsmärkte
75
Bild 2.7.3 Verbundstromschiene aus Aluminium und Stahl (Quelle: Fa. AlcanSingen)
Bild 2.7.4 REM-Aufnahmen einer Aluminiumätzfolie mit besonderer Textur zur Erzeugung einer maximalen Oberflächenvergrößerung für den Einsatz in Kondensatoren (Quelle: Hydro Aluminium (ehem. VAW aluminium AG, Bonn))
2.7.3 Verpackung Der Verpackungssektor ist für die Aluminium-Walzwerke der bisher größte singuläre Absatzmarkt. Entscheidend für den Einsatz als Verpackungsmaterial sind weniger das spezifische Gewicht des Aluminiums als vielmehr das für Mensch und Tier nicht-toxische Verhalten, die Undurchlässigkeit für Sauerstoff und andere Gase und die einzigartige walztechnische Verarbeitbarkeit. So können Walzbarren von 600 mm Dicke bis zu Folienstärken von ca. 6 µm gewalzt werden, entsprechend einer 100.000-fachen Oberflächenvergrößerung oder einem ebenso großen Abwalzgrad. Für Folien und flexible Verpackungsmaterialien wird Reinaluminium verwendet. Für starre Verpackungen (Dosen für Getränke, Fisch und Fleisch) werden Legierungen der AlMn-Gruppe 3xxx eingesetzt. Die verwendeten Legierungen müssen lebensmitteltauglich sein, was durch die
76
2 Märkte und Anwendungen
EN Normen DIN EN 602:2004 und prEN 14392:2003 (s. Tabelle Anh. A3) geregelt ist. Eines der fertigungstechnisch interessanten Verpackungsprodukte ist die zweiteilige Getränkedose, s. Bild 2.7.5. Der Dosenkörper wird aus einer 0,21–0,23 mm dicken Ronde mit 140 mm Durchmesser aus Legierung EN AW-3004 oder EN AW-3104 in 5 Stufen gezogen und abgestreckt. Die endgültige Wanddicke beträgt etwa 0,1 mm. Das Dosenband wird in hochverfestigtem Zustand H19 eingesetzt, in dem es nur 2–3 % Dehnung aufweist.
Bild 2.7.5 Zweiteilige Aluminiumdose mit Aufreißdeckel (Quelle: Alcan Göttingen)
Der Deckel mit der Aufreißlasche wird aus Legierung EN AW-5182H48 mit einer Bruchdehnung von maximal 5% gefertigt, s. Bild 2.7.6. Die Lasche wird durch einen Hohlniet befestigt, der über mehrere Stufen aus dem Deckel gezogen wird. Die letzte Stufe ist ein Prägevorgang, mit dem die Sollbruchrille in den Deckel eingebracht wird, bevor die Lasche durch abschließendes Zusammendrücken des Hohlniets befestigt wird, s. Bild 2.7.7. Die reproduzierbare Qualität des Aufreißverhaltens („Easy Opening“) verlangt eine extrem enge Dickentoleranz des gezogenen Deckels vor dem Prägevorgang. Dosenkörper und Deckel werden auf Schnelläuferpressen mit Hubzahlen zwischen 180 und 600 pro Minute gefertigt. Eine
2.7 Sonstige Anwendungsmärkte
77
sichere Fertigung muß gewährleistet sein, damit die Forderungen von maximal 3 ppm Ausfallrate beim Abfüller erfüllt werden können.
Bild 2.7.6 Dosendeckel EN AW-5182-H48 mit Hohlnietbefestigung der Aufreißlasche (Quelle: Alcan Göttingen)
Bild 2.7.7 Formgebungsschritte des Hohlniets eines Getränkedosendeckels mit Sollbruchstellen für die Aufreißlasche (Quelle: Wootton, E., Alcan, 1994)
3 Legierungsaufbau, Wärmebehandlung, Normen
Legierungsaufbau und Wärmebehandlung sind zunehmend wichtige Themenbereiche für den Fertigungstechniker und Konstrukteur, um das Potential des Werkstoffs Aluminium in der Verarbeitung und Anwendung differenzierter auszuschöpfen, als die Verwendung herkömmlicher Halbzeug- und Legierungszustände gewöhnlich ermöglicht. Solche Themen betreffen u.a. die beschleunigte Warmaushärtungskinetik, verbessertes Festigkeitsniveau nach Warmaushärtung, gleichbleibende Eigenschaften bei der Lagerung zwischen Anlieferung und Verarbeitung, Rückbildung der Kalt- oder Warmaushärtung zum Zwecke besserer Umformbarkeit. Durch gezielte Wärmebehandlungen im Fertigungsablauf können die Verarbeitbarkeitsgrenzen des Ausgangswerkstoffs und seines Werkstoffzustandes erweitert werden. Neuere Legierungsentwicklungen und Vorbehandlungen ermöglichen die Verkürzung von langen Wärmebehandlungszeiten, so daß solche Prozesse heute auch in mechanisierte Fertigungsabläufe integriert werden können. Der Konstrukteur trifft die für den Anwendungsfall geeignete Legierungsauswahl aufgrund der geforderten Gebrauchseigenschaften und deren Stabilität während der Produktlebensdauer. Je nach Legierungsart und Zustand liegt das zu verarbeitende Material jedoch häufig nicht in einem thermodynamisch stabilen Gleichgewichtszustand vor, und es ist abzuwägen, ob der vorliegende metastabile Zustand während der Einsatzdauer und unter den zu erwartenden mechanischen, thermischen und Umweltbelastungen ausreichende Stabilität aufweisen wird. Darüber hinaus umfaßt die Verarbeitung von Halbzeugen und Vormaterialien zu Endprodukten in vielen Fällen mechanische und thermische Behandlungsstufen, wie Schweißen, Kleben, Lackieren, Vorwärmen und Halbwarmumformen. Alle thermischen Prozesse können die Gefügestruktur und Eigenschaften des Grundwerkstoffs erheblich verändern, so daß die Kenntnisse dieser Einflüsse auch ein besseres Verständnis des Werkstoffverhaltens erlauben. Das Eigenschaftsprofil eines Werkstoffs wird durch die Legierungszusammensetzung, den Herstellungs- und Verarbeitungsprozeß und den Wärmebehandlungszustand bestimmt. Diese Faktoren wirken sich auf das Gefüge aus, das aus verschiedenen Bausteinen aufgebaut ist, deren Art,
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3 Legierungsaufbau, Wärmebehandlung, Normen
Größe, Menge und Verteilung unmittelbar und mittelbar auf Eigenschaften und Verhalten Einfluß nehmen. Das Gefüge besteht aus Elementen, deren Ausdehnungen im Nanometer- (nm) und Mikrometerbereich (µm) liegen und sich somit weitgehend einer äußerlichen, visuellen Beurteilung entziehen. Erst lichtmikroskopische, elektronenmikroskopische und röntgenographische Methoden in Verbindung mit entsprechenden Präparationstechniken bringen die Gefügebausteine zum Vorschein, die für die Verarbeitungs- und Gebrauchseigenschaften des Werkstoffs verantwortlich sind. Die Bedeutung dieser Gefügeelemente für die Werkstoffeigenschaften und die gezielte Beeinflussung des Gefügeaufbaus durch metallurgische, thermische und mechanische Prozesse zur Einstellung besonderer Verarbeitungs- und Gebrauchseigenschaften sind Gegenstand dieses Kapitels. Nach einer Beschreibung der gemeinsamen Gefügebausteine von Aluminiumlegierungen – in Abschn. 3.1 –, die das mechanische Verhalten steuern, werden in den Abschn. 3.2 und 3.3 der Aufbau der anwendungstechnisch wichtigen Gruppen von Knet- und Gußlegierungen sowie die allgemeinen und legierungsspezifischen Grundlagen der Wärmebehandlung erläutert. Abschn. 3.4 gibt eine Übersicht über die heute gültigen Legierungs- und Zustandsbezeichnungen.
3.1 Gefügebausteine der Aluminiumwerkstoffe Die wichtigsten Gefügebausteine, aus denen Aluminium und seine Legierungen aufgebaut sind, enthält Tabelle 3.1.1 und werden nachfolgend kurz beschrieben. Eingehendere Darstellungen findet man in der Fachliteratur, u.a. in (Altenpohl 1965, Altenpohl 1994, Hatch 1984, Grzemba et al. 1991, Kammer 2002) sowie in der Internet-basierten metallkundlichen Datenbank AluMatter der European Aluminium Association, EAA, unter www.eaa.net („Education“). 3.1.1 Gefügematrix Aluminium besitzt wie alle Metalle einen kristallinen Aufbau und hat ein kubisch flächenzentriertes (kfz) Raumgitter. Das bedeutet, die Atome sind in der Elementarzelle so angeordnet, daß sie die Ecken eines Würfels bilden mit einem Atom in der Mitte jeder Würfelfläche, Bild 3.1.1. Die kfz Gitterstruktur ist bei allen Temperaturen unterhalb der Solidustemperatur stabil, eine Allotropie wie bei Eisen und Titan gibt es nicht.
3.1 Gefügebausteine der Aluminiumwerkstoffen
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Tabelle 3.1.1 Gefügebausteine der Aluminiumlegierungen Gefügematrix
kfz-Kristallgitter
Gitterfehler
Leerstellen, Versetzungen, Stapelfehler, Kleinwinkelkorngrenzen, Korngrenzen, Phasengrenzen Legierungselemente auf Gitterplätzen (Substitutionsmischkristall), Elemente auf Zwischengitterplätzen (elementarer Wasserstoff) Intermetallische Phasen von Verunreinigungs- und Legierungselementen aus dem Erstarrungsprozeß beim Strangguß und Formguß Intermetallische Phasen aus thermischen Behandlungen – disperse Kornfeinungsphasen (Cr-, Mn-, Zr-, Ti-haltige Phasen) – Ausscheidungsphasen a) kohärente Phasen (Cluster, Guinier-Preston Zonen) b) teilkohärente, metastabile Phasen c) inkohärente Gleichgewichtsphasen an Legierungselementen verarmte Zonen an Korngrenzen, Primärphasen oder stabilen Sekundärphasen durch Warmumformung gestreckte Körner kristallographische Vorzugsorientierung der Körner, z.B. Würfeltextur durch Überhitzung entstandene, lokale Anschmelzungen, vorzugsweise an Korngrenzen und Korngrenzentripelpunkten durch Leerstellen-Cluster oder übersättigt gelösten Wasserstoff Einschlüsse aus der Elektrolyse und aus dem Gießprozeß
Mischkristall
Primärphasen
Sekundärphasen
Ausscheidungsfreie Zonen Fasergefüge Textur Anschmelzungen
Poren Karbide, Oxide
Die Länge einer Würfelkante der Elementarzelle ist die Gitterkonstante „a“ und beträgt bei Reinaluminium mit einem Reinheitsgrad von 99,99% unter Normalbedingungen a = 0,40496 nm, (s. Tabelle 4.1.1). Die Anordnung der Atome auf den {111} Ebenen (z.B. Ebene C-E-H in Bild 3.1.1) im kfz Raumgitter erfüllen die Bedingung für die dichteste Kugelpackung. Auf den Diagonalen der {100} Würfelflächen haben die Atome den kleinstmöglichen Abstand, nämlich a/2·√2. Die Versetzungsbewegung – der Mechanismus der plastischen Verformung – findet bevorzugt auf den {111} Ebenen in Richtung der Fächendiagonalen mit dem gering-
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3 Legierungsaufbau, Wärmebehandlung, Normen
sten Atomabstand statt. Es gibt 4 verschiedene Orientierungen für {111} Ebenen mit jeweils 3 verschiedenen Flächendiagonalen , d.h. insgesamt 12 verschiedene Gleitmöglichkeiten für Versetzungen im kfz-Gitter. Nach v. Mises müssen für plastische Verformbarkeit mindestens 5 Gleitsysteme aktivierbar sein. Eine Übersicht über Art und Zahl der Gleitsysteme von metallischen Werkstoffen enthält Tabelle 3.1.2.
Bild 3.1.1 Elementarzelle des kubisch flächenzentrierten Raumgitters. Zur Bezeichnung der Raumgitterebenen werden üblicherweise die Millerschen Indizes verwendet, die sich aus den ganzzahligen reziproken Achsabschnitten ergeben, z.B. (100) für die Fläche A-B-C-D. Analog werden die Bezeichnungen der Orientierungsrichtungen gebildet, z.B. [011] für die Flächendiagonale F-G Tabelle 3.1.2 Übersicht über Art und Zahl der aktivierbaren Gleitsysteme von metallischen Werkstoffen, nach (Dieter 1961) Kristallgitter
Metall (Beispiele)
Gleitebenen
Gleitrichtungen
Zahl der bei RT aktiven Gleitsysteme 48
krz
α-Fe, V, Nb, Ta, {110},{112}, {123} Cr, Mo, W
kfz
Al, Cu, Ni
{111}
12
hdp
Mg, α-Ti, Zn
{0001}, {10-10}, {10-11}
12 *)
*) abhängig von Metall, Temperatur und Verformungsgrad. Beispiel: unlegiertes Mg hat bei RT nur 3 aktive Gleitsysteme und daher eine begrenzte Plastizität
3.1 Gefügebausteine der Aluminiumwerkstoffen
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3.1.2 Gitterfehler Bedingt durch den Erstarrungsprozeß und die thermomechanische Weiterverarbeitung enthält der kristalline Aufbau von Metallen eine Reihe von Baufehlern im idealen Gitteraufbau nach Bild 3.1.1. Sie werden in nulldimensionale, ein-, zwei- und dreidimensionale Gitterfehler eingeteilt. Diese natürlichen Abweichungen vom idealen Kristallgitteraufbau haben große Auswirkungen auf das Eigenschaftsprofil des Materials und geben in ihrem Zusammenwirken eine Fülle von Möglichkeiten zur Veränderung der Eigenschaften des Grundmetalls. Leerstellen (nulldimensionale Fehlstellen)
Leerstellen sind nulldimensionale Kristallfehler (Punktfehler) und kennzeichnen das Fehlen von Atomen auf regulären Gitterpositionen. Der Gehalt an Leerstellen im Kristallgefüge wird durch thermodynamisches Gleichgewicht geregelt und beträgt für Aluminium bei Temperaturen um 500 °C ~ 10-2 %. Mit abnehmender Temperatur nimmt der Leerstellengehalt exponentiell sehr stark ab und zwar um bis zu 8 Größenordnungen bei Raumtemperatur (Altenpohl 1961, Altenpohl 1965, Altenpohl 1994). Durch Abschrecken von höheren Temperaturen, z.B. nach dem Lösungsglühen, wird eine Leerstellenübersättigung erzeugt, die alle thermisch aktivierten Prozesse signifikant beeinflußt. Über die Gleichgewichtskonzentration hinausgehende Leerstellengehalte werden weiterhin durch plastischen Verformung infolge von bestimmten Versetzungsbewegungen (Bewegung von Sprüngen in Schraubenversetzungen) erzeugt. Trotz ihrer geringen Konzentration (z.B. gegenüber dem Gehalt an Legierungs- und Verunreinigungselementen in technischen Legierungen) spielen Leerstellen bei der Wärmebehandlung eine überragende Rolle. Leerstellen steuern die Selbstdiffusion und beschleunigen die Diffusion von Legierungselementen bei Ausscheidungsprozessen. Die Beweglichkeit von Leerstellen ist erheblich größer als die von Gitteratomen bei der Selbstdiffusion: Die Aktivierungsenergie für Selbstdiffusion von Aluminium beträgt 1,28 eV, für die Diffusion von Leerstellen etwa 0,62 eV (Haasen 1994) bzw. für Doppelleerstellen 0,35 bis 0,40 eV (Altenpohl 1961). Beginnt die Selbstdiffusion in Aluminium bei normaler Leerstellenkonzentration erst bei ca. 160 °C, so werden Diffusionsvorgänge bei Leerstellenübersättigung bereits bei -50 °C beobachtet. Das Ausheilen von überschüssigen Leerstellen geschieht durch Diffusion zu sog. Leerstellensenken (Fremdatome, Versetzungen, Korngrenzen, Oberflächen) oder auch durch Kondensation zu Versetzungsringen („loops“). Bei Raumtemperatur dauert das Ausheilen von Leerstellen in
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3 Legierungsaufbau, Wärmebehandlung, Normen
Reinaluminium nur wenige Stunden, wird jedoch bereits durch sehr geringe Gehalte an Legierungselementen behindert. Andererseits kann ein Leerstellenüberschuß durch eine kurzzeitige Erwärmung auf mittlere Temperaturen (200 bis 250 °C) verringert werden. Besonders wirksam ist Magnesium infolge des großen Unterschieds der Atomradien von Magnesium und Aluminium. Bereits in geringen Mengen von z.B. 0,2 Gew.-% in binären Al-Mg Legierungen (Panseri et al. 1958) wird infolge der Bildung von Magnesium/Leerstellen-Komplexen mit hoher Bindungsenergie die Ausheilung von Leerstellen bei Raumtemperatur fast vollständig unterdrückt. Mg/Leerstellen-Komplexe sind relativ stabil und lösen sich erst bei höheren Temperaturen oberhalb 100 °C auf (Panseri 1958). Leerstellen ermöglichen das Klettern von Versetzungen bei Temperaturen über 180-190 °C. Die Auflösung der Mg/Leerstellen-Komplexe dürfte die Ursache für die deutliche Entfestigung von Al-Mg-Legierungen oberhalb von 100 °C sein (Altenpohl 1961). Außerdem verursacht die Wechselwirkung zwischen Mg, Leerstellen und Versetzungen die Lüdersdehnung und den Portevin-LeChatelier-Effekt (dynamische Reckalterung) bei AlMg-Legierungen, welche in Abschn. 3.2.3 ausführlicher behandelt werden. Leerstellen steuern die Kinetik der Ausscheidungsprozesse über den Diffusionsprozeß sowie bei der Bildung von Clustern und GP-Zonen, wenn sie zu deren Aufbau notwendig sind. In diesem Fall werden Leerstellen in Clustern und GP-Zonen gebunden und bei deren Auflösung wieder freigesetzt. Ob Leerstellen für die Keimbildung von Ausscheidungen erforderlich sind, hängt vom jeweiligen Legierungssystem und vom Legierungsgehalt ab. Leerstellenverarmung in Korngrenzennähe kann zur Ausbildung ausscheidungsfreier Zonen führen, wenn Leerstellen für die Keimbildung der Ausscheidungsphasen erforderlich sind. Die wesentliche Funktion von Leerstellen bei den Ausscheidungsprozessen und ihre empfindliche Wechselwirkung mit Legierungsatomen, und Spurenelementen ist von eminenter Bedeutung für die Entwicklung thermischer Prozesse und für die Legierungsentwicklung. Versetzungen (eindimensionale Fehlstellen)
Versetzungen sind linienförmige Fehlstellen im Kristallaufbau. Ihre Bewegung durch das Gitter bei plastischer Verformung ist die Grundlage der Plastizität der Metalle. Versetzungen bewegen sich unter Wirkung von Schubkräften auf bestimmten Gleitebenen und in bevorzugten Richtungen (s. Tabelle 3.1.3.). Die Höhe der für die Versetzungsbewegung erforderli-
3.1 Gefügebausteine der Aluminiumwerkstoffen
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chen Schubkräfte ist ein Maß für die Festigkeit bzw. den Verformungswiderstand des Metalls oder der Legierung. Kristallographisch unterscheidet man Stufenversetzungen und Schraubenversetzungen. In vereinfachter Weise kann man sich eine Stufenversetzung gedanklich durch Einschieben einer zusätzlichen halben Gitterebene ins Kristallgitter vorstellen, wie Bild 3.1.2 schematisch zeigt. Das Fußende dieser Halbebene erzeugt eine Verzerrung des umgebenden Raumgitters und stellt damit einen Ort höherer innerer Energie dar. Im Durchstrahlungselektronenmikroskop erscheinen Versetzungen infolge ihrer elastischen Störfelder als Kontrastlinien, s. z.B. Bild 3.1.5. Den Betrag der Verzerrung nennt man Burgersvektor. Eine Schraubenversetzung macht aus den Kristallebenen eine kontinuierliche Schraubenfläche. Ein in sich geschlossener Versetzungsring besteht aus Segmenten von Stufenversetzungen und von Schraubenversetzungen.
Bild 3.1.2. Schematische Darstellung der Bewegung einer Stufenversetzung auf einer Gleitebene durch ein Kristallgitter
Metalle haben selbst in weich geglühten Zuständen eine (eingewachsene) Versetzungsdichte von ρ ~ 10-7 cm/cm³. Die Versetzungsdichte erhöht sich mit dem Verformungsgrad durch Aktivieren von Versetzungsquellen. Versetzungsquellen sind innere Grenzflächen des Kristalls, wie Korngrenzen und Phasengrenzen sowie verankerte Versetzungen (FrankRead-Quellen). Bei plastischer Verformung reagieren Versetzungen miteinander, indem sie sich gegenseitig annihilieren oder durch Gleiten auf verschiedenen Gleitsystemen gegenseitig verankern und sogen. Kinken und Sprünge (engl. kinks, jogs) bilden. Wechselt eine Versetzung von einer Gleitebene auf eine andere, spricht man von Quergleitung („wavy glide“). Quergleiten von Versetzungen wird bei plastischer Verformung
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3 Legierungsaufbau, Wärmebehandlung, Normen
durch Hindernisse in der Gleitebene (stationäre Versetzungen, nicht schneidbare teil- oder inkohärente Sekundärphasen) und durch die Lage des Spannungstensors im Verhältnis zu den Orientierungen der Gleitsysteme erzwungen. Quergleitung ist der vorherrschende Gleitmodus von Versetzungen in Aluminium und seinen Legierungen und ist eine Vorbedingung für den Aufbau einer räumlichen Versetzungsstruktur. Eine weitere Vorbedingung ist die Verfügbarkeit von nicht ko-planaren Burgersvektoren (Kuhlmann-Wilsdorf et al. 1994), die durch Kondensation von Leerstellen in Versetzungsringen („loops“) bereitgestellt werden. Die Behinderung von Quergleitung führt zu planarem Gleitverhalten („planar glide“), verhindert oder verzögert die Bildung von Versetzungszellstrukturen, steigert die Verfestigungsrate und dadurch die plastische Stabilität. Die Steuerung des Quergleitverhaltens ist daher für die plastischen Eigenschaften von Aluminiumlegierungen von erheblicher Bedeutung. Quergleitung kann durch verschiedene Mechanismen behindert werden: 1. durch vorhandene schneidbare Ausscheidungsteilchen (Cluster, GPZonen), da der Gleitwiderstand durch den Schneidvorgang vermindert wird, wodurch weitere Versetzungsbewegung sich bevorzugt in der aktiven Gleitebene vollzieht (T4 Zustand in aushärtbaren Aluminiumlegierungen); 2. durch Aufspaltung von Versetzungen in Teilversetzungen, wodurch ein Fehler in der Stapelfolge der Gleitebenen entsteht. Allerdings spielt die Aufspaltung von Versetzungen bei Aluminium und seinen Legierungen höchstens eine untergeordnete Rolle (s. Abschn. Stapelfehler). 3. durch Verhinderung von Leerstellenkondensation zu Versetzungsringen, z.B. durch Mg/Leerstellenkomplexe mit hoher Bindungsenergie in AlMg-Legierungen (Kuhlmann-Wilsdorf 2000). Multiplikation der Versetzungen und Behinderung der Versetzungsbewegung verursachen eine Verfestigung, die für die makroskopische Stabilität der plastischen Verformung entscheidend ist. Plastische Stabilität bedeutet, daß der Fließwiderstand bezogen auf den momentanen Querschnitt, ausgedrückt durch die Fließspannung kf, mit dem Verformungsgrad steigt. Das Ausmaß der Verfestigung – das sog. Verfestigungsvermögen, s. Abschn. 6.2 – ist für das Umform- und Bruchverhalten eminent wichtig. Die Versetzungsdichte ρ ändert sich annähernd linear mit dem Verformungsgrad in den Bereichen niedriger und hoher Verformung, s. Bild 3.1.3. Die Abhängigkeit zwischen Fließwiderstand und Versetzungsdichte folgt einer Quadratwurzel-Beziehung: kf ~ ρ1/2.
3.1 Gefügebausteine der Aluminiumwerkstoffen
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Bild 3.1.3 Gesamtversetzungsdichte in Abhängigkeit von der Scherverformung bei Aluminium, nach (Zehetbauer 1993 und Nes 1998)
Stapelfehler (zweidimensionale Fehlstellen)
Im Aluminiumgitter entspricht die Stapelung der dichtgepackten {111} Gleitebenen der Reihenfolge ABCABC..., wobei die Ebenen A, B und C um jeweils a/6 in Richtung gegeneinander versetzt sind, s. Bild 3.1.4. Die Aufspaltung von Versetzungen ist im Aluminiumgitter allerdings wegen der hohen Stapelfehlerenergie, die zur Erzeugung eines Stapelfehlers erforderlich ist, gering, s. Tabelle 3.1.3.
Bild 3.1.4 Stapelfolge der dichtest gepackten Ebene im kfz Gitter: ABC. Nach jeder dritten Schicht folgt wieder eine Schicht in der ursprünglichen Lage A
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3 Legierungsaufbau, Wärmebehandlung, Normen
Fehler in der Stapelfolge werden als „Stapelfehler“ bezeichnet und werden durch Versetzungsreaktionen erzeugt, bei denen sich die Versetzungen in Teilversetzungen aufspalten, s. Bild 3.1.5. Ob sich ein Stapelfehler bildet, hängt von der Energiebilanz der Versetzungsaufspaltung und der Energie ab, die zur Erzeugung des Stapelfehlers aufgebracht werden muß. Die Breite der Aufspaltung ist umgekehrt proportional zur sog. Stapelfehlerenergie (Energie pro Flächeneinheit), die eine spezifische Eigenschaft des jeweiligen Metalls ist. Aluminium hat von allen wichtigen metallischen Grundwerkstoffen die höchste Stapelfehlerenergie, s. Tabelle 3.1.3. In reinem Aluminium konnten keine Stapelfehler röntgenographisch nachgewiesen werden (Seemann et al. 1961, Deléhouzée et al. 1967). Aus theoretischen Erwägungen treten Stapelfehler in krz-Gittern nicht auf (Friedel 1956).
Bild 3.1.5 Aufspaltung einer Versetzung in Teilversetzungen und Stapelfehler im kfz Gitter, nach (Hornbogen 1994) Tabelle 3.1.3 Stapelfehlerenergie von Aluminium im Vergleich zu anderen Metallen Metall/Legierung
Stapelfehlerenergie Lit., s.u. (10-7 J/cm²) Aluminium 200–250 [1, 2, 2] Nickel 80 [1] Kupfer 40–150 [1, 3] Messing CuZn10 25 [3] Messing CuZn20 10 [3] Messing CuZn30 7 [3] 18/8 CrNi Stahl 7–13 [1, 3] Magnesium 10 [4] [1] (Dieter 1961), [2] (Kammer 1998), [3] (Hornbogen 1994), [4] (Kammer 2000)
3.1 Gefügebausteine der Aluminiumwerkstoffen
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Je geringer die Stapelfehlerenergie und je breiter infolgedessen der Stapelfehler ist, desto mehr können sich die Versetzungen im Gitter nur auf ihrer bevorzugten Gleitebene bewegen (planares Gleitverhalten). Ein Quergleiten (von Schraubenversetzungen) ist dann nicht möglich oder tritt erst bei hohen Verformungsgraden und höheren Temperaturen auf. Versetzungshindernisse (z.B. Ausscheidungsphasen, Versetzungen, Korngrenzen) können dann nur mit höheren Schubkräften umgangen werden. Dadurch erhöht sich die Versetzungsdichte in den aktivierten Gleitebenen, was wiederum zu einer starken Verfestigungswirkung führt. Durch seine hohe Stapelfehlerenergie erklärt sich somit, daß unlegiertes Aluminium z.B. gegenüber Magnesium oder austenitischem Stahl ein geringeres Verfestigungsvermögen hat. Aus dem gleichen Grunde tritt bei Aluminium keine Zwillingsbildung auf – außer bei einigen höher legierten Werkstoffen unter extremen Bedingungen wie Stoßwellenbelastung bei –180 °C (Gray 1988) – , und es gibt deshalb bei diesem Werkstoff im unverformten Zustand keine größeren Unterschiede zwischen Stauch- und Streckgrenze und nur einen geringen Bauschinger-Effekt. Substitutionell gelöste Legierungselemente in kfz-Metallen können zwar die Stapelfehlerenergie reduzieren, was jedoch bei Aluminiumlegierungen mit üblichen Legierungsgehalten nicht erwartet wird (Seemann et al. 1961, Deléhouzée et al. 1967). Das bei Al-Mg-Legierungen beobachtete planare Gleitverhalten wird daher weniger auf höhere Stapelfehlerhäufigkeit zurückgeführt als vielmehr auf einen speziellen Mechanismus (KuhlmannWilsdorf 2000), nämlich auf die vorzugsweise Bindung der erzeugten Leerstellen an Mg-Atome, so daß deren Kondensation zu Versetzungsringen verhindert wird und dadurch die vorhandenen Burgervektoren auf die aktive Gleitebene beschränkt bleiben. Letzteres ist typisch für planares Gleitverhalten (Laird et al. 1970). Versetzungszellen, Ausheilen von Versetzungen
Versetzungsbewegung und gleichzeitige Zunahme der Versetzungsdichte bei plastischer Verformung führen zu gegenseitiger Verankerung der Versetzungen auf unterschiedlichen Gleitsystemen. Es bilden sich Versetzungsanhäufungen, die eine räumliche Struktur annehmen und kleine, unregelmäßige und versetzungsfreie Kristallbereiche einschließen, die sog. Versetzungszellen. Die Zellwände stellen Rotationsgrenzen zwischen den Versetzungszellen dar und sind gleichzeitig auch eine energetisch günstige Versetzungsanordnungen. Durch das ausgeprägte Quergleitverhalten von Aluminium und seinen Legierungen entstehen Versetzungszellen bereits im frühen Stadium der plastischen Verformung. Ein Beispiel für derartige Versetzungszellen zeigt Bild 3.1.6 für Al99,5, bei dem sich ausgehend
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3 Legierungsaufbau, Wärmebehandlung, Normen
vom rekristallisierten Zustand durch 5% plastische Verformung ausgeprägte Versetzungszellen gebildet haben. Mit zunehmendem Verformungsgrad nehmen der Zelldurchmesser ab und die Versetzungsdichte in den Zellwänden zu. Die Abmessungen der Zellen liegen je nach Verformungsgrad typischerweise zwischen 1 und 5 µm. Die zunehmende Versetzungsdichte in den Zellwänden führt zur Auslöschung einzelner Versetzungen. Dieser Prozeß wird durch sogen. Klettern von Versetzungen unterstützt, die bei ihrer Bewegung durch das Gitter übersättigte Leerstellen „aufgesaugt“ haben. Von Klettern spricht man, wenn eine (Stufen-) Versetzung durch Ansammlung von Leerstellen aus der Gleitebene herauswandert. Klettern von Versetzungen ist ein thermisch aktivierter Prozeß und dominiert daher besonders bei höheren Temperaturen (Kriechen, Erholungsglühen). Da sich Versetzungen mit umgekehrten Vorzeichen gegenseitig anziehen, fördert das Klettern die Ausheilung, d.h. die gegenseitige Auflösung und energetisch günstige Anordnung von Versetzungen im Kristall. Abhängig von Temperatur und Verformungsgeschwindigkeit ergibt sich bei weiterer Verformung ein Gleichgewichtszustand zwischen der Bildung neuer und der Vernichtung alter Versetzungen. Die Verfestigung wird dadurch geringer. Das Phänomen abnehmender Verfestigungsrate mit zunehmendem Verformungsgrad beruht also auf der energetisch günstigen Versetzungsanordnung in Zellstrukturen in Verbindung mit der Ausheilung von Versetzungen. Dieser Prozeß wird als dynamische Erholung oder dynamische Entfestigung bezeichnet. Dynamische Entfestigung bedeutet eine Lokalisierung der plastischen Verformung im Korngefüge, welche nach Erreichen eines kritischen Zustandes die Ausgangssituation für den statischen und dynamischen Bruchvorgang ergibt. Das vorstehend beschriebene Versetzungsverhalten ist typisch für Aluminium und Aluminiumlegierungen mit ausgeprägtem Quergleitcharakter („wavy glide“) aufgrund hoher Stapelfehlerenergie. Demgegenüber gibt es bestimmte Legierungen (Al-Mg) und Werkstoffzustände (T4), bei denen ein mehr planares Gleitverhalten („planar glide“) vorliegt, wodurch die Versetzungen auf ihre kristallographischen Gleitebenen beschränkt bleiben, d.h. koplanare Burgersvektoren haben. Dadurch kann die Zellbildung ganz oder teilweise unterdrückt werden, s. Abschn. Versetzungen und Bild 3.2.6. Anstelle dessen bilden sich sogen. Taylor-Strukturen (KuhlmannWilsdorf 2000), bei denen sich die Versetzungen in parallelen Gleitbändern anordnen, die im 3D-Raum eine isometrische Gitterstruktur aufbauen. Vermutlich trägt ein ähnlicher Mechanismus (Leerstellenbindung an Cluster und GP-Zonen) zu dem beobachteten planaren Gleitverhalten von kaltausgehärteten Legierungen bei, wie die Taylor-Struktur der Versetzungsanordnung in Bild 3.2.34 a) andeutet.
3.1 Gefügebausteine der Aluminiumwerkstoffen
1 µm Al99,5 - 5% kalt gereckt
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1 µm AlMg1,5 - 5% kalt gereckt
Bild 3.1.6 Versetzungszellbildung bei der Kaltverformung von Al99,5 und AlMg1,5, geglüht und 5% kalt gereckt (Quelle: B. Grzemba, VAW aluminium AG)
Kleinwinkelkorngrenzen (Subkorngrenzen)
Die bei höheren Temperaturen stattfindende Auflösung und energetisch günstigere Umordnung von Versetzungen führt zur schärferen Ausbildung der Versetzungswälle (Polygonisation). Zwischen benachbarten Zellen gibt es geringfügige Orientierungsunterschiede von < 4°. Man bezeichnet das Zellgefüge als Subkorngefüge und die Subkorngrenzen als Kleinwinkelkorngrenzen. Die Subkorngrößen betragen je nach Grad der Verformung und Glühtemperatur < 10 µm im Durchmesser. Sie lassen sich bei entsprechender Präparation im Lichtmikroskop erkennen. Die Subkorngröße beeinflußt die Festigkeit des Materials entsprechend der Hall-Petch-Beziehung (Hatch 1984), s. auch Abschn. 3.1.3. 3.1.3 Korngrenzen Korngrenzen begrenzen Kristallbereiche gleicher Gitterstruktur mit unterschiedlichen Orientierungen zueinander, die durch größere Winkelabweichungen als bei Subkorngrenzen und zusätzlich durch Drehung zwischen benachbarten Körnern beschrieben werden können. Körner entstehen zunächst als Gußkörner (s.a. Dendriten) bei der Erstarrung durch individuel-
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3 Legierungsaufbau, Wärmebehandlung, Normen
les Wachstum von Erstarrungskeimen in der Schmelze. Nach Homogenisierung, Warm- und Kaltumformung mit Zwischenglühungen oder anschließendem Weichglühen wird die ursprüngliche Kornstruktur durch Rekristallisation ersetzt. Rekristallisation in kaltverformten Legierungen ist ein thermisch aktivierter Prozeß von Keimbildung und -wachstum. Rekristallisationskeimbildung ist ein heterogener Prozeß, der typischerweise an Verformungsheterogenitäten im Gefüge beginnt, z.B. in Scherbändern und Verformungskonzentrationen an Primärphasen. In stark verformten technischen Legierungen spielen die Primärphasenpartikel die überragende Rolle bei der Rekristallisationskeimbildung (particle-stimulated nucleation (PSN)) (Marthinsen et al. 2003). Die Rekristallisationskeime stellen Versetzungszellen mit kritischem Energieinhalt dar. Die Keimbildungszahl nimmt mit zunehmendem Kaltverformungsgrad zu und die rekristallisierte Korngröße (bei ansonsten gleichen Glühbedingungen) entsprechend ab. Übliche Korngrößen in Kaltwalzprodukten von naturharten Legierungen betragen 25 µm oder weniger. Die kleinsten rekristallisierten Korngrößendurchmesser liegen bei etwa 0,5 µm (Hornbogen 1994 S. 95). Die atomare Unordnung der Korngrenzen bedeutet einen höheren Energieinhalt und höhere Diffusionsgeschwindigkeiten für Eigen- und Fremdatome. Korngrenzen sind daher bevorzugte Orte für Keimbildung und Wachstum von Fremdphasen. Versetzungen können die Korngrenzen nicht überwinden. Sie stauen sich an ihnen auf, und ihre Spannungsfelder aktivieren entsprechend orientierte Gleitsysteme in benachbarten Körnern. Auf diese Weise wird die Fließspannung von der Korngröße abhängig. Die Hall-Petch-Beziehung:
σy = σ0 + kd-1/2
(3.1.1)
gibt die Abhängigkeit der Fließgrenze (σy) von der Korngröße d an, wobei σ0 die Ausgangsspannung ist, die hauptsächlich durch innere Reibung (Peierls-Spannung) des Materials bestimmt wird. Der Koeffizient k stellt den Grad der Abhängigkeit der Fließspannung von der Korngröße dar. Aluminium und seine Legierungen haben im Vergleich zu Stahl eine deutlich geringere Abhängigkeit der Fließgrenze von der Korngröße. Bild 3.1.7 illustriert diese Korngrößenabhängigkeit der Fließspannung (bei 1,7% Dehnung) für eine Reihe von AlMg-Legierungen (Rossig 1971, Hirsch 1997). Tabelle 3.1.4 enthält einige Angaben zu Aluminiumwerkstoffen im Vergleich zu Stahl. In der geringeren Korngrößenabhängigkeit der Fließgrenze von Aluminium äußert sich das ausgeprägte Quergleitverhalten infolge seiner hohen Stapelfehlerenergie.
3.1 Gefügebausteine der Aluminiumwerkstoffen
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Bild 3.1.7 Hall-Petch Beziehung zwischen Fließspannung (bei 1,7% Dehnung) und Korngröße bei AlMg-Legierungen (Rossig 1971) sowie veröffentlicht in (Hirsch 1997) Tabelle 3.1.4 Hall-Petch-Konstanten für Reinstaluminium, Al-Mg-Legierungen und Stahl Legierung Al99,99 AlMg0,4 AlMg3 AlMg5 Fe
σ0 [MPa]
[MPa µm-1/2]
~ 10 30 87 115 70
68 83 87 132 670
k
Lit., s.u. [1] [2] [2] [2] [3]
[1] (Kammer 2002), [2] (Hirsch 1996), [3] (Conrad 1963)
Mit der Entwicklung neuer, extremer Umformmethoden unter der Bezeichnung „Severe Plastic Deformation“ (SPD), z.B. mit dem „EqualChannel Angular Pressing“ (ECAP) oder Dissimilar-Channel Angular Pressing (DCAP), öffnen sich Möglichkeiten, die Kornstruktur in den Nanobereich (ungefähr 100 bis 1000 nm) weiter zu verfeinern und dadurch ein neues Spektrum von Eigenschaften bei herkömmlichen Legierungen zu schaffen (Zehetbauer 2004). Obwohl die Kommerzialisierung solcher Pro-
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3 Legierungsaufbau, Wärmebehandlung, Normen
zesse noch erheblicher Entwicklungsanstrengungen bedarf, werden die Perspektiven der Werkstoffentwicklung durch die neuen Techniken zweifellos bereichert. 3.1.4 Mischkristallbildung Den Ersatz von Aluminiumatomen im Kristallgitter durch zulegierte Fremdatome bezeichnet man als Substitutionsmischkristallbildung und ihre Wirkung auf die Festigkeit als Mischkristallverfestigung. Es handelt sich dabei um eine homogene Lösung von Legierungselementen im Aluminiumgitter ohne die Bildung von Fremdphasen. Die Löslichkeit von Fremdatomen in homogener fester Lösung ist bei Aluminium allerdings begrenzt. Die unterschiedlichen Atomradien der Legierungsatome verzerren das Wirtsgitter und erschweren durch ihr Spannungsfeld die Versetzungsbewegung. Die Behinderung der Versetzungsbewegung steigert die Festigkeit. Die Modellvorstellung der Mischkristallwirkung auf die Versetzungsbewegung ist schematisch in Bild 3.1.8 dargestellt. Die Mischkristallfestigkeit nimmt mit steigendem Legierungsgehalt zu, s. z.B. den Einfluß von Mg als Legierungselement in Bild 3.2.4.
Bild 3.1.8 Modellvorstellung der Mischkristallbildung durch Substitution von Legierungsatomen im Wirtsgitter
Die Kristallisation des Mischkristalls erfolgt bei der Erstarrung durch Keimbildung und Keimwachstum. Zur Keimbildung dienen Kornfeinungsphasen, in technischen handelsüblichen Legierungen vorwiegend TiB2 Partikel, die in der Schmelze unlöslich sind und bei Knetlegierungen gezielt als Fremdkeime zur Erzielung eines feinen globulitischen Gußkorngefüges zugesetzt werden. Bei Knetlegierungen und untereutektischen Gußlegierungen erstarrt zunächst der α-Mischkristall überwiegend in dendritischer Form (s. Abschn. 3.3.2). (Bei der Erstarrung heterogener, über-
3.1 Gefügebausteine der Aluminiumwerkstoffen
95
eutektischer Al-Si-Gußlegierungen kristallisiert zuerst primäres Silizium, umgeben von Eutektikum.) Der Dendrit weist im Gußzustand zu seinen Grenzen hin eine steigende Konzentration (Kristallseigerung) von übersättigt gelösten Legierungselementen auf. Die Grenzen zu benachbarten Dendriten sind mit auskristallisierter Restschmelze bzw. Resteutektikum belegt. Hierbei handelt es sich um ein Phasengemisch aus α-Mischkristall und einem Netzwerk aus intermetallischen Phasen (sog. Primärphasen oder Gußphasen), bestehend aus Verbindungen des Aluminiums mit Verunreinigungselementen (Fe, Si) und Legierungselementen. Bei Knetwerkstoffen wird zur Verbesserung des Warmumformverhaltens durch eine Barrenhochglühung eine Einformung des Zellgefüges der intermetallischen Phasen und gleichzeitig ein Abbau der Kristallseigerung erreicht. Dabei kommt es zur Ausscheidung übersättigt gelöster Legierungselemente (Fe, Mn, Cr, Zr, V) in Form feiner intermetallischer Phasen als Sekundärausscheidungen, die thermodynamisch sehr stabil sind und durch nachträgliche Wärmebehandlungen nicht mehr verändert werden können. Bei der nachfolgenden Abkühlung der Barren bilden sich bei aushärtbaren Legierungen die Gleichgewichtsphasen des Legierungssystems als weiterer Typ von Sekundärausscheidungen. Angaben über die maximale Löslichkeit wichtiger Legierungselemente im flüssigen und festen Zustand, über die Atomradiendifferenz zu Aluminium, den Erstarrungstyp und die Lösungsenthalpie enthält Tabelle 3.1.5. Alle Legierungen mit nennenswerter Löslichkeit im flüssigen und festen Aluminium erstarren eutektisch, d.h. die Angabe der maximalen Löslichkeit eines Elementes bezieht sich auf die jeweilige eutektische Temperatur. Die Löslichkeit sinkt deutlich mit abnehmender Temperatur, s. Bild 3.1.9. Wegen ihrer extrem geringen Löslichkeit in flüssigem und festem Aluminium spielen Gase – mit Ausnahme von Wasserstoff – keine Rolle für die Legierungsbildung. Wasserstoff wird interstitiell gelöst, d.h. es besetzt Zwischengitterplätze. Seine Gleichgewichtskonzentration in defektarmen Legierungen ist äußerst gering (350 °C: 0,0012 cm³/100 g Al (Brandes et al. 1992), allerdings nimmt die Wasserstofflöslichkeit mit steigender Temperatur (600 °C: 0,030 cm³/100 g Al) und bei plastischer Verformung meßbar zu. Die Beweglichkeit des Wasserstoffs im Aluminiumkristallgitter ist bei Raumtemperatur hoch. Durch Reaktion mit korrosiver, chloridhaltiger Umgebung wird atomarer Wasserstoff an frischer metallischer Oberfläche gebildet und im Kristallgitter durch Leerstellen und Versetzungen eingefangen (s.a. Wasserstoffversprödung von Korngrenzen bei der Spannungsrißkorrosion von AlZnMg Legierungen, Abschn. 5.4.3). Die Wasserstoff-Leerstellen Komplexe sind bis hinauf zu einer Temperatur von 295 K stabil, sie lösen sich bei RT und höheren Temperaturen mit der Zeit auf, und sowohl der Wasserstoff als auch die Leerstellen heilen aus
96
3 Legierungsaufbau, Wärmebehandlung, Normen
(Zamponi 2004). Zur Bedeutung der Wasserstofflöslichkeit für die Porenbildung beim Gießen und Schweißen s. Abschn. 3.1.8 sowie Abschn. 3.3 und 15. Die gelegentlich beobachtete Bildung von Glühblasen bei der Wärmebehandlung von Aluminiumteilen bei höheren Temperaturen wird ebenfalls auf das Eindiffundieren von atomarem Wasserstoff zurückgeführt, der sich durch Reaktion des Metalls mit feuchter Ofenatmosphäre gebildet hat (Ibe et al. 1979). Tabelle 3.1.5 Löslichkeit und thermophysikalische Eigenschaften von Legierungselementen in Aluminium nach (Hatch 1984) Element Atomgewicht Al = 27,0
g/mol
Eutektische Eutektische Zu- Löslichkeit im (E), monotek- sammensetzung festen Zustand tische (M) und peritektische (P) Temperatur °C Gew.-% At. % Gew.-% At. %
Ag
107,9
570
E
B
10,8
660
E
0,022
0,054 φ*: kf = K. φn 97 93 95 0,006 0,006 0,006 451,7 432,3 427,7 0,297 0,300 0,293 kf = kfS - (kfS - kf0). exp(-m . φn) 89,6 85,9 86,9 275,7 263,9 264,2 12,15 12,09 12,30 0,938 0,948 0,947 kf = kf0 + (kf1 + Θ1. φ). (1 - exp(-Θ0. φ/ kf1)) 91,2 87,0 88,1 140,4 134,4 138,6 193,9 186,0 160,5 2829 2616 2641
Von besonderem Interesse für die Beschreibung des plastischen Verhaltens ist die sog. „senkrechte Anisotropie“, r. Sie ist definiert als das Verhältnis der logarithmischen Formänderungen in Breitenrichtung, ϕb, zur Dickenrichtung, ϕt, eines Zerreißstabes bei einer bestimmten Längsdehnung, ϕl , im Bereich der Gleichmaßdehnung: r=
ϕb ϕt
(6.2.7)
In modernen Prüfmaschinen kann der r-Wert kontinuierlich oder bei bestimmten Verformungsgraden ermittelt werden. Prüfbestimmungen enthält die Norm ISO 10 113. Bei einem Wert von r = 1 liegt isotropes Verhalten vor. Gut umformbare Aluminiumwerkstoffe liegen meistens in geglühten, rekristallisierten Zuständen vor, haben allerdings in diesen Zuständen rWerte < 1. In diesem Fall ist der Fließwiderstand in Blechdickenrichtung geringer als in Breitenrichtung, wodurch bei Streckziehvorgängen plastische Instabilität durch Einschnürung begünstigt wird. Der r-Wert ist texturabhängig und ändert sich folglich mit der Orientierung in der Blechebene. Er wird daher sowohl in Walzrichtung (WR, 0°), quer zur Walzrichtung (QR, 90°) als auch unter 45° zur Walzrichtung ermittelt. Den mittleren r-Wert, rm, erhält man gemäß
292 rm =
6 Mechanische Eigenschaften r0° + 2 ⋅ r45° + r90° 4
(6.2.8)
Beispiele für die Orientierungsabhängigkeit der senkrechten Anisotropie zeigt Bild 6.2.3. Kaltverfestigte Legierungen haben allgemein eine stärkere Orientierungsabhängigkeit als Legierungen in weich- oder lösungsgeglühten Zuständen. Allerdings hängt der r-Wert stark von den thermo-mechanischen Parametern des verwendeten Walzprozesses ab und ist deshalb produkt- bzw. herstellerabhängig, vgl. Tabelle A.1.6.
Bild 6.2.3 Senkrechte Anisotropie r in Abhängigkeit von der Orientierung zur Walzrichtung für verschiedene Legierungen bzw. Werkstoffzustände. Die r-Werte wurden bei der jeweiligen Gleichmaßdehnung ermittelt. WR = Walzrichtung, QR = quer zur Walzrichtung
Allgemein ist ein möglichst hoher und gleichmäßiger r-Wert in der Blechebene für gutes Umformverhalten vorzuziehen. Die Höhe und Verteilung des r-Wertes in der Blechebene hat Auswirkungen auf die Form der Fließortkurve und kann zur groben Bestimmung der Fließortkurve herangezogen werden. Bei größeren r-Wertunterschieden bilden sich beim Tiefziehen von Näpfen Zipfel und meßbare Schwankungen in der Wanddicke aus. Die Variation des r-Wertes in der Blechebene wird als ebene Anisotropie, ∆r, bezeichnet und ausgedrückt durch:
6.2 Fließkurve, Verfestigung, Anisotropie, Verformbarkeit
∆r =
r0° − 2 ⋅ r45° + r90° 2
293
(6.2.9)
Die ebene Anisotropie ∆r kann positive oder negative Werte annehmen, wodurch die Lage der Zipfel zur Walzrichtung bestimmt wird. Näheres hierzu s. einschlägige Fachliteratur, z.B. (Pöhlandt et al. 1990, König et al. 1995). Tabelle A.1.6 (Anhang) enthält r-, rm- und ∆r-Werte sowie die zugehörigen charakteristischen Werte der Fließkurven von einer Reihe verschiedener Aluminiumblechlegierungen. Verfestigungsverhalten
Verformungsverfestigung ist das Ergebnis von Versetzungsmultiplikation und der Anordnung der Versetzungen in bestimmten Strukturen. Mit der Zunahme der Versetzungsdichte und der Reaktion der Versetzungen untereinander wird der Fließwiderstand erhöht, gleichzeitig kommt es zu energetisch günstiger Anordnung und gegenseitiger Auslöschung von Versetzungen, was sich in einer Abflachung der Fließkurve äußert. Der Verfestigungsprozeß wird daher zunehmend überlagert von einem dynamischen Erholungsprozeß, s. a. Abschn. 3.1. Über die Evolution des Gefüges im Verlauf der Fließkurve von unlegiertem und niedriglegiertem Aluminium gibt es relativ gesicherte Vorstellungen, mit denen mathematische Modellierungen entwickelt werden konnten (Zehetbauer 1993, Nes et al. 2002). In Reinaluminium arrangieren sich bereits bei geringen Verformungsgraden die Versetzungen in einer Zellstruktur mit diskreter Zellgröße und Versetzungsdichte der Zellwände sowie mit einer geringen Versetzungsdichte im Zellinneren, s. a. Bild 3.1.6. Die Bildung von Versetzungszellen wird durch Quergleiten von Versetzungen begünstigt, das bei Aluminium aufgrund seiner hohen Stapelfehlerenergie besonders ausgeprägt ist. Mit zunehmender Verformung verringert sich die Zellgröße, die Versetzungsdichte im Zellinneren nimmt zu, bis durch dynamische Erholung ein Sättigungszustand eintritt. Im weiteren Verlauf erhöht sich die Versetzungsdichte der Zellwände und die Mißorientierung zwischen den Zellen nimmt bis zu einem Sättigungswert von 3–4° zu. Schließlich wandeln sich die Zellwände in konkrete Subkorngrenzen um. Der spezifische Vorgang der Umwandlung von Zellwänden in Subkorngrenzen ist umstritten, wird aber vermutlich durch Versetzungsklettern gesteuert, das durch die Zunahme der Leerstellendichte begünstigt wird. Abhängig von der Art der Kaltverformung bildet sich bei hohen Verformungsgraden eine diskrete Verformungstextur heraus. Durch Zulegieren von substitutionsmischkristallbildenden Elementen, z.B. in AlMg-Legierungen, wird das Verfestigungsverhalten deutlich ver-
294
6 Mechanische Eigenschaften
ändert, s. Bild 3.2.4. Verantwortlich hierfür ist eine Reihe von Faktoren. Als wichtigste werden die Bremswirkung der gelösten Fremdatome auf die Versetzungsbewegung, die Verringerung der freien Weglänge der Versetzungsbewegung und das planare Gleitverhalten trotz hoher Stapelfehlerenergie angesehen, wodurch gleichzeitig der dynamische Entfestigungsprozeß erschwert wird, Näheres s. Abschn. 3.1.2. In Gegenwart von Sekundärausscheidungsphasen hängt das Verfestigungsverhalten stark vom Kohärenzgrad und der Stabilität der Partikel ab (Cheng et al. 2003). Bei vollständiger Kohärenz (Cluster und GP-Zonen bei der Kaltaushärtung oder bei unvollständiger Warmaushärtung) schneiden Versetzungen die Ausscheidungszonen in der Gleitebene und vernichten dadurch deren blockierende Wirkung. Das Verfestigungsvermögen sollte dadurch abnehmen, was aber im Gegensatz zu dem tatsächlich beobachteten hohen Verfestigungsvermögen nach Kaltaushärtung (T4-Zustand) steht. Deshalb wird vermutet, daß bei der plastischen Verformung eine dynamische Ausscheidung an Versetzungen verursacht wird, die deren Bewegung behindert und außerdem die dynamische Entfestigung unterbindet (Deschamps et al. 1999). Im Kaltaushärtungszustand bzw. bei Teilaushärtung ist außerdem noch ein deutlicher Grad an Übersättigung gelöster Fremdatome vorhanden, wodurch der Fließwiderstand erhöht wird. Möglicherweise kann neben dem Versetzungsschneiden der Aushärtungszonen auch die Bindung von eingeschreckten Leerstellen an Cluster und GP-Zonen ein mehr planares Gleitverhalten erzeugen, s. Abschn. 3.1.2, Abschn. „Versetzungszellen“. Die Folge dieser Einflüsse ist ein hohes Verfestigungsvermögen sowie eine hohe Gleichmaßdehnung im Zustand T4. Mit zunehmendem Aushärtungs- und Entmischungsgrad nehmen diese Einflüsse ab. Im vollwarmausgehärteten Zustand (T6) ist das Verfestigungsvermögen am geringsten, obwohl die Ausscheidungsphasen noch schneidfähig sind. Mit dem teilweisen oder vollständigen Verlust der Kohärenz bei Überalterung (Zustand T7) wird der Übersättigungsgrad des αMischkristalls gering. Dadurch wird das Quergleitverhalten begünstigt, was wiederum dazu beiträgt, daß Versetzungen die Ausscheidungspartikel nun leichter „umgehen“ können. Dieser Vorgang erzeugt zunächst eine größere Versetzungsdichte, und der Fließwiderstand erhöht sich im frühen Stadium der Verformung, aber das Verfestigungsvermögen nimmt bei weiterer Verformung infolge des frühzeitigeren Einsetzens von dynamischer Entfestigung ab (Dumont et al. 2003). Ein Anzeichen hierfür ist die häufig überproportionale Abnahme der Zugfestigkeit im Verhältnis zur 0,2%Dehngrenze im Bereich der Überhärtung. Typisch für die Zunahme der dynamischen Entfestigung in überhärtetem Material ist auch die verringerte Gleichmaßdehnung, was durch einen
6.2 Fließkurve, Verfestigung, Anisotropie, Verformbarkeit
295
Vergleich der Spannungs-Dehnungskurven in Bild 6.2.4 deutlich wird und sich auch in dem niedrigeren Verfestigungsexponenten n in Bild 6.2.5 widerspiegelt. Die deutliche Zunahme der Brucheinschnürung Z bzw. der
Bild 6.2.4 Einfluß von Teilaushärtung (Zustand T64), Vollaushärtung (Zustand T6) und Überhärtung (Zustand T7X) auf die Spannungs-Dehnungskurve für AlMgSi0,5 (6060)-Legierungen. Während im Verlauf der Aushärtung die Brucheinschnürung zunimmt, verringern sich Gleichmaßdehnung und Bruchdehnung
Bild 6.2.5 Einfluß des Aushärtungsverlaufs auf die Abhängigkeit der wahren Bruchdehnung ϕBr und des Verfestigungsexponenten n von der 0,2%-Dehngrenze bei der Legierung 7075. Rundproben in Walzrichtung aus 35 mm dicken Walzplatten (Ostermann 1975)
296
6 Mechanische Eigenschaften
wahren Bruchdehnung ϕBr bei Überalterung steht in Gegensatz zum Verhalten der Gleichmaßdehnung oder des Verfestigungsvermögens. Verglichen bei gleicher 0,2%-Dehngrenze nimmt die Duktilität durch Überhärtung gegenüber dem kalt- bzw. teilausgehärtetem Werkstoffzustand erheblich zu. Hierbei handelt es sich um ein generelles Verhalten von aushärtbaren Legierungen, wie die Bilder 6.2.5 bis 6.2.7 zeigen. Die höhere Duktilität von überhärtetem Material als Folge der frühzeitig einsetzenden und verstärkten dynamischen Entfestigung wird jedoch begleitet durch eine plastische Instabilität, d.h. die Verformung konzentriert sich zunehmend auf kleinere Materialbereiche (nicht zu Verwechseln mit Dehnungslokalisierung in Gleitbändern) bis zum Eintritt des Bruchs. Man erkennt dieses Verhalten deutlich an der Spur der Meßlängenmarkierung auf der Probe D der überalterten Torsionsprobe aus Legierung EN AW-7075 in Bild 6.2.8. Die vorstehende Betrachtung der Verfestigungs- und Entfestigungsvorgänge bei der plastischen Verformung und ihre Abhängigkeit vom vorliegenden Feingefüge ist die Grundlage für die richtige Wahl des Werkstoffzustands für die Kaltumformung, aber auch für das Verständnis des Versagensverhaltens bei quasi-statischer, dynamischer und schwingender Beanspruchung. Die Behinderung des Quergleitmechanismus in AlMgLegierungen oder in kalt- bzw. teilausgehärteten Legierungen fördert die Lokalisierung der Verformung in Gleitbänder und verzögert das Eintreten dynamischer Erholung. Die Folgen sind ein stärkeres Verfestigungsvermögen und eine höhere Gleichmaßdehnung. Umgekehrt verringert ver-
Bild 6.2.6 Einfluß von Aushärtung und Überhärtung auf die Brucheinschnürung der Legierung AA6061 (AlMgSiCu) im Zugversuch; aus Daten von (Liu et al. 2004)
6.2 Fließkurve, Verfestigung, Anisotropie, Verformbarkeit
297
Bild 6.2.7 Brucheinschnürung Z = (F0 – F)/F0 in Abhängigkeit von der 0,2%Dehngrenze bei Kalt- und Warmaushärtung der Legierung AA6111, gemessen im Zugversuch an 1 mm dicken Blechproben. Punktierte Linien deuten eine lineare Skalierung für den jeweiligen Aushärtungsbereich an. Nach D.J. Lloyd (Lloyd 2003)
Bild 6.2.8 Torsionsproben (Meßlänge 120 mm, Durchmesser 7 mm) aus Walzplatten der Legierung EN AW-7075 in unterschiedlichen Aushärtungszuständen. A: teilausgehärtet bei 120 °C (~T63), B: voll ausgehärtet bei 120 °C (~T6), C: leicht überhärtet durch Stufenaushärtung 120°/175°C (~T79), D: stark überhärtet durch Stufenaushärtung 120°/175 °C (~T73). ϕmax entspricht der Vergleichsdehnung beim Probenbruch
298
6 Mechanische Eigenschaften
stärktes Quergleitverhalten das Verfestigungsvermögen, und der Prozeß der dynamischen Entfestigung beginnt frühzeitiger. Als Folge tritt lokal plastische Instabilität mit „diffuser“ Dehnungskonzentration (Einschnürung) ein, und die Duktilität (definiert als Brucheinschnürung) nimmt zu.
6.3 Bruchvorgang und Bruchverhalten Das allgemeine Bruchverhalten von Aluminium und seinen Legierungen entspricht dem für Metalle mit kfz-Gitter typischen duktilen Verhalten, d.h. der Bruchvorgang erfolgt nach einer plastischen Verformung und verläuft transkristallin. Die plastische Verformung kann zuvor das Gesamtvolumen erfassen oder unmittelbar vor dem Bruch in einer starken Lokalisierung auftreten. Transkristalliner spröder Spaltbruch tritt bei Aluminium wie bei den meisten Metallen mit kfz-Gitter – unabhängig von der Temperatur – nicht auf. Verformungsarmer, spröder Bruch kann bei stark heterogenem Gußgefüge auftreten, ist aber bei Knetlegierungen ausnahmslos auf interkristalline Bruchform oder Bruchanteile zurückzuführen und beruht in der Regel auf vermeidbaren Anomalien des Gefüges, z.B. infolge von groben Korngrenzenausscheidungen, ausgeprägten ausscheidungsfreien Korngrenzensäumen, Spannungsrißkorrosionsempfindlichkeit, Bleisprödigkeit oder Lotbrüchigkeit (Jiang et al. 2003, Deschamps et al. 2001). Zwischen den duktilen verformungsreichen und verformungsarmen Bruchformen gibt es jedoch gleitende Übergänge, die neben der Legierungsfestigkeit von zahlreichen Einflußfaktoren bestimmt werden. Im konkreten Fall ist das Bruchverhalten der Aluminiumwerkstoffe daher ein sehr komplexes Thema, da die vorablaufenden plastischen Prozesse, der Bruchvorgang selbst und der Energieverzehr beim Rißfortschritt (Bruchzähigkeit) von zahlreichen Einflußfaktoren abhängig sind: • • • •
vom Spannungs- und Dehnungszustand, von Temperatur und Verformungsgeschwindigkeit, von der Zusammensetzung sowie vom Makro- und Mikrogefüge und vom Verfestigungs- bzw. Aushärtungszustand.
Bei ungünstigem Zusammenwirken dieser Faktoren kann ein quasispröder, verformungsarmer Bruch auftreten. Aus anwendungstechnischer Sicht wird üblicherweise ein verformungsreicher, energieverzehrender Bruch gefordert. Sicherheitsteile – z.B. im Fahrwerksbereich – müssen Mißbrauch durch globale Verformung ertragen können und nicht durch sprödes Bruchverhalten versagen. Die Kenntnis der vorstehenden Einflußfaktoren auf das Bruchverhalten hat daher Bedeutung sowohl für die
6.3 Bruchvorgang und Bruchverhalten
299
Formgebung und Verarbeitung als auch für die Anwendung und das Einsatzverhalten von Aluminiumbauteilen. Im folgenden wird zunächst eine Übersicht über die wichtigsten makroskopischen und mikroskopischen Phänomene des Gewaltbruchs von Aluminiumlegierungen gegeben, die beim einachsigen Zugversuch auftreten und mit Legierungen, Gefüge und Zustand in Zusammenhang gebracht werden. Der Zugversuch ist die wichtigste praktische mechanische Werkstoffprüfung und die auftretenden Erscheinungen können zumindest qualitativ auf andere Beanspruchungsarten, z.B. auf den Biegevorgang oder die Blechverformung, übertragen werden. Das mechanische und Bruchverhalten unter mehrachsigen Spannungszuständen sowie unter erhöhten Beanspruchungsgeschwindigkeiten wird in den Abschn. 6.5 bzw. 6.7 beschrieben. Das Bruchverhalten aus der Sicht der quantitativen, linear-elastischen und elastisch-plastischen Rißbruchmechanik wird nur am Rande behandelt und geht über den vorgesehenen Rahmen des Buches hinaus. Makroskopische Bruchphänomene
Makroskopisch kann das Bruchverhalten der Aluminiumwerkstoffen nach verschiedenen Bruchtypen unterteilt werden, die sich in unterschiedlichen Bruchflächenausbildungen an Zerreißproben im normalen einachsigen Zugversuch darstellen, deren grundsätzliche Merkmale aber auch bei anderen quasi-statischen Bruchzähigkeitsuntersuchungen auftreten. Die verschiedenen Brucharten sind schematisch in Bild 6.3.1 dargestellt: • Typ A ist der klassische duktile Trennbruch, der sog. Trichter- oder Tassen-Kegel-Bruch (Cup-and-cone fracture), und wird überwiegend an Rundproben mit deutlicher Einschnürzone beobachtet. Dieser Einschnürbruch ist makroskopisch gekennzeichnet durch eine innere rauhe Bruchfläche senkrecht zur Zugrichtung (Richtung der Hauptnormalspannung), umgeben von glattflächigen Scherlippen mit ca. 45° Neigung zur Zugrichtung (Richtung der maximalen Schubspannung). Der Anriß beginnt in Probenmitte der Einschnürzone und breitet sich radial aus. Als auslösendes Bruchkriterium wird gemeinhin die maximal ertragbare Normalspannung angenommen. Die Bildung des Scherlippenrandes unterliegt einem maximalen Schubspannungskriterium. Beim Tassen-Kegelbruch handelt sich also um einen Mischbruch, der charakteristisch für niedrig legierte und sehr reine Werkstoffe sowie für warmausgehärtetes und überhärtetes Material mit handelsüblicher Reinheit ist, s. Bild 6.3.5. • Typ B ist der Scherbruch mit ca. 45° Neigung der Scherbruchfläche zur Probenachse. Dieser Bruchtyp entsteht häufig bei dünnwandigen Proben
300
6 Mechanische Eigenschaften
und nach nur schwacher Einschnürung. Als Bruchkriterium wird die maximal ertragbare Schubspannung zugrunde gelegt. Der Scherbruch ist typisch für das Verhalten von mittelfesten naturharten und von kaltausgehärteten bzw. teilausgehärteten Legierungen, s. Bilder 6.3.9 und 6.3.12. • Typ C entsteht infolge nahezu vollständiger Abgleitung bzw. Einschnürung und beschränkt sich auf Reinstaluminium oder sehr reine, niedrig legierte Werkstoffe. • Typ D ist charakteristisch für „sprödes“ Bruchverhalten mit geringer Dehnung und höchstens geringfügiger Einschnürung. Dieser Bruchtyp tritt häufig bei sehr heterogenen Gußlegierungen auf oder bei Walzplatten aus hochfesten Legierungen in Dickenrichtung (ST-Richtung). Der Bruchtyp D ist ein Extremfall des normalen Trennbruchs, Typ A.
Bild 6.3.1 Schematische Darstellung der bei Aluminiumknetlegierungen und Gußlegierungen vorkommenden Brucharten. Typ „A“: Normalbruch (Tassen-Kegelbruch), Typ „B“: Scherbruch, Typ „C“: Abschnürbruch, Typ „D“: Sprödbruch
Der duktile Trennbruch wird durch eine lokale Einschnürung des Materialquerschnitts eingeleitet. Die Einschnürung beginnt in der Zugprobe bei Höchstlast und wird durch eine örtliche geometrische oder – bei technischen Werkstoffen – durch eine werkstoffliche Inhomogenität ausgelöst (Considère 1885, Havner 2004). Nach einem Vorschlag von Considère aus dem Jahre 1885 beginnt die Einschnürung von Zugproben, wenn die Verfestigung σw/dϕ den Wert der Fließspannung σw (wahre Spannung, kf) erreicht (s. Abschn. 6.2, Gl. (6.2.6a) σw/dϕ = σw ). Eine geringfügige geometrische oder werkstoffliche Inhomogenität führt dann zu einer plastischen Instabilität, da das Verfestigungsvermögen die Querschnittsminderung nicht mehr ausgleicht.
6.3 Bruchvorgang und Bruchverhalten
301
Lokalisierung der plastischen Verformung als Vorstufe zum duktilen Bruch
Der duktile Trennbruch durchläuft mehrere Stadien. Der Ausgangspunkt ist bei Beginn der Einschnürung die Lokalisierung der plastischen Verformung, die auf unterschiedlichen Skalierungsebenen entstehen kann: auf der mikroskopischen Skala als kristallographisch orientierte Gleitbänder in einzelnen Körnern, auf der makroskopischen Skala als Scherband über mehrere Körner und Kornlagen hinweg. Bild 6.3.2 zeigt grobe Gleitstufen an der Oberfläche der hochfesten Legierung EN AW-7075 auf Reinstbasis und in handelsüblicher Reinheit. Die Orientierung der intensiven Scherbänder über größere Materialquerschnitte hinweg muß nicht explizit mit der kristallographischen Natur der individuellen Körner in Beziehung stehen, sondern wird durch die makroskopischen Gesetze der Mechanik (Schmidsches Schubspannungsgesetz) gesteuert. Die Entwicklung solcher Scherbänder wurde an AlMg-Werkstoffen von Korbel et al. eingehend untersucht (Korbel et al. 1986-a, Korbel et al. 1986-b).
a)
b)
Bild 6.3.2 Lokalisierung von Verformung (Gleitstufen und Scherbänder) in der Einschnürzone von zuvor chemisch polierten Zerreißproben aus Legierung AlZn5,5MgCu-TMT (7075) in zwei Reinheitsvarianten. a) Legierung auf Reinheitsbasis 99,99%, b) technische Legierung (Probenachse vertikal) (Ostermann 1975)
Lochbildung und Lochwachstum
Die Bildung grober Gleitbänder hängt ursächlich mit dynamischer Entfestigung zusammen (s. Abschn. 6.2) und hat in technischen Legierungen ihren Ursprung an eingebetteten intermetallischen Phasen, die durch die Verformung der umgebenden Matrix zertrümmert werden oder deren Bindung zur Matrix aufgebrochen werden. Hierunter zählen die gröberen Primär-
302
6 Mechanische Eigenschaften
phasen (1–40 µm) und die feineren Sekundärphasen bzw. Dispersionsphasen (20 nm–0,2 µm). Die spröden Primärphasenpartikel brechen je nach Größe, Art und Form bereits bei geringer Kaltverformung. Untersuchungen haben gezeigt, daß bereits nach 5 bis 10 % Verformung etwa 40 bis 50 % aller Primärphasenpartikel in ausgehärteten Legierungen fragmentiert sind, wobei die gröberen bereits nach 1 bis 2 % Verformung gebrochen sind (Stone et al. 1974). Für die Intensität des Partikelbruchs spielen die Legierungsart und -festigkeit eine Rolle. Nach neueren Vorstellungen wird der Schädigungsprozeß durch die Matrixfestigkeit bestimmt: bei weichen, niedrig festen Legierungen findet hauptsächlich eine Trennung der Bindung Partikel/Matrix statt, dagegen bei mittel- und hochfesten Legierungen überwiegend ein Bruch der spröden Partikel (Balasundaram et al. 2003, Franciosi et al. 2004). Durch weitere Verformung kommt es in beiden Fällen zur Bildung von Hohlräumen und zu deren Wachstum. Das laterale Wachsen der Hohlräume wird durch einen mehrachsigen Spannungszustand – z.B. im Kern der Einschnürzone einer glatten Zugprobe, im Einflußbereich von Kerbspannungen oder vor einer Rißfront – beschleunigt. Bei einer ungekerbten oder schwach gekerbten Zugprobe beginnt die Lochbildung daher in Probenmitte, wo sich innerhalb der Einschnürzone ein hydrostatischer Zugspannungszustand ausbildet. Die Hohlraumbildung beginnt bei den gröbsten Partikeln bzw. der größten Partikelanhäufung. Danach folgt eine Auswahlphase, bei der die jeweils größte Schädigung durch das Partikelfeld fortschreitet und sich die Hohlräume zum Trennbruch vereinigen. Je gröber diese intermetallischen Phasen vorliegen, desto größer sind die Lochdurchmesser und um so früher beginnt das Reißen der dazwischen liegenden Ligamente. Das Reißen der Ligamente geschieht bei duktilen Werkstoffen durch Abschnüren, bei hochfesten, weniger duktilen Legierungen auch durch Abscheren entlang von Gleitebenen, wodurch das Lochwachstum bei weiterer Dehnungszunahme gestört wird, und der Bruch vorzeitig einsetzt. Als kritische Faktoren für das Lochwachstum haben sich weiterhin die Form und die Art der Verteilung der Partikel erwiesen. Die Brucheinschnürung ist daher nicht nur vom Volumenanteil an intermetallischen Fremdphasen, sondern auch von der Anordnung und Größenverteilung und insbesondere von der Zahl der gröbsten Partikel im kritischen Probenquerschnitt abhängig. Durch die jeweiligen Warm- und Kaltumformprozesse bei der Halbzeugherstellung sind die aus der Erstarrungsseigerung stammenden Primärphasen zeilenförmig gestreckt, s. Beispiel in Bild 6.3.3. Die unterschiedliche Anordnung dieser Phasen in den Orientierungsrichtungen des Halbzeugs oder Bauteils ist Ursache für eine Anisotropie der Bruchdehnungs- und Brucheinschnürungswerte in Längs- (L-), Quer- (T- bzw. TL- oder LT-) und Kurzquer- (ST-) Richtung.
6.3 Bruchvorgang und Bruchverhalten
303
Bild 6.3.3 Längsschliff durch den Faserverlauf eines Schmiedeteils aus Legierung EN AW-6082-T6 mit zeilenförmiger Anordnung von AlFeSi und Mg2Si Primärphasen
Mikroskopisch ist für den duktilen Bruch die Waben- oder Grübchenstruktur der Bruchfläche charakteristisch, s. Bild 6.3.4a, die makroskopisch ein rauhes Bruchbild ergibt. Am Grunde der einzelnen Waben kann man die lochbildenden, z.T. fragmentierten Phasenpartikel erkennen, Bild 6.3.4b.
a)
b)
Bild 6.3.4 Stereoelektronenmikroskopische (REM) Aufnahme des duktilen Wabenbruchs an Zerreißproben aus einem Schmiedeteil der Legierung EN AW-6082T6. Im Innern der Waben sind die teilweise zertrümmerten intermetallischen Primärphasenpartikel erkennbar
Die Grübchengröße ist kennzeichnend für die Größe der Fremdphasenpartikel, aber auch für die Duktilität der Matrix und die Bruchart. Feinere, flache und gestreckte Grübchen charakterisieren den Scherbruch von Scherbändern, da bei der Hohlraumbildung die hydrostatische Komponente gering ist. Sehr feine, etwa 1 µm große Grübchen ergeben sich beim
304
6 Mechanische Eigenschaften
Bruch von Gleitebenen und Gleitbändern auf kristallographisch orientierten Bruchflächen. Bild 6.3.5 zeigt einen solchen Fall bei der hochreinen und hochfesten Legierung X7075-T6. Gegenüber den technisch reinen Qualitäten ist die Wabenstruktur der Bruchfläche um mehr als eine Größenordnung feiner (Grübchendurchmesser zwischen 0,5 und 1 µm) und wird wahrscheinlich durch die Lochbildung der wesentlich feineren Dispersionsphasen (z.B. Al6Mn, Al7Cr und Al3Zr) bestimmt.
a)
b)
Bild 6.3.5 Hochreine und hochfeste Legierung X7075-T6. a) Gleitbandriß an der Oberfläche in der Nähe der Scherlippe einer Zerreißprobe (Lichtoptische Aufnahme). b) Feine Wabenbildung auf den Scherbruchflächen (REM Aufnahme) (Ostermann 1975)
Mittel- und höherfeste Aluminiumwerkstoffe mit erheblichen Korngrenzenausscheidungen – z.B. bei höher legierten AlMgSi-Legierungen nach unzureichender Abkühlung von der Lösungsglühtemperatur – neigen zu einem Mischbruch mit transkristallinen und interkristallinen Bruchanteilen. Fraktographisch zeichnen sich auf der Bruchfläche neben duktiler Wabenstruktur Ausscheidungsphasen auf den glatten Korngrenzenflächen ab, vgl. Bild 6.3.6.a und b. Bei hochfesten, warmausgehärteten Legierungen und nach Überhärtung nimmt die Neigung zu Korngrenzenbruch zu, s. Bild 6.3.6.c. Mit zunehmendem interkristallinem Bruchanteil wird die Brucheinschnürung eingeschränkt. Ausscheidungsfreie Zonen (AFZ, s. Abschn. 3.1.6) an Korngrenzen begleiten meistens den Prozeß der Korngrenzenausscheidung bei aushärtbaren Legierungen und erhöhen ebenfalls den interkristallinen Bruchanteil. Man findet fraktographisch eine sehr feine flache Wabenstruktur auf den
6.3 Bruchvorgang und Bruchverhalten
a)
b)
305
c)
Bild 6.3.6 Stereoelektronenmikroskopische Aufnahmen typischer Bruchflächen von duktilen und spröden Werkstoffzuständen: a) duktiler, fast vollständig transkristalliner Wabenbruch (AlMg1Si0,5Mn0,5-T6), b) verformungsarmer Mischbruch mit transkristallinen und interkristallinen Anteilen (AlMg1Si0,5-T6), c) verformungsarmer Mischbruch mit hohen interkristallinen Anteilen (hochfeste Legierung EN AW-7075-T6) (Quelle der Bilder a. und b. Scharf et al. 1982)
Korngrenzen, s. Bild 6.3.7, ähnlich wie beim Gleitbandbruch. Es handelt sich hierbei um einen grundsätzlich duktilen, jedoch wegen des geringen Verformungsvolumens um einen energiearmen Bruchvorgang, der sich auch negativ auf die Verformbarkeit und die Zähigkeitseigenschaften auswirkt. Die negative Wirkung ausscheidungsfreier Zonen ist um so größer, je schmaler die Zone und je härter die Kornmatrix ist. Demnach wirkt sich eine ungenügende Abschreckung nach der Lösungsglühung besonders negativ auf das Bruchverhalten bei maximaler Warmaushärtung (T6 Zu-
Bild 6.3.7 „Duktiler“ Korngrenzenbruch entlang ausscheidungsfreier Zonen bei Mn-freier AlMg1Si0,5-T6 Legierung. Das Material für die verwendeten Kerbschlagproben wurde lösungsgeglüht und an Luft abgekühlt, wodurch ein relativ breiter ausscheidungsfreier Saum entlang der Korngrenzen entsteht (Scharf et al. 1982)
306
6 Mechanische Eigenschaften
stand) aus. Bei starker Überhartung (T7 Zustand) nimmt die Matrixhärte ab, und die Dicke der ausscheidungsfreien, weichen Korngrenzenzonen zu, was zusammengenommen die Brucheinschnürung verbessert, s. Bilder 6.2.4 bis 6.2.7 in Abschn. 6.2. Der interkristalline Bruchanteil verringert sich dadurch tendenziell, ist aber deutlich höher als im teilausgehärteten Zustand bei gleicher Streckgrenze. Der bei Aluminiumlegierungen untypische spröde, verformungslose Bruch ist meistens gekennzeichnet durch vollständig interkristalline Bruchverläufe. Ein Beispiel für diese Versagensart ist der Spannungsrißkorrosionsbruch von Legierungen der Gattung AlZnMg(Cu), bei dem die Kohärenz der Körner durch die gleichzeitige Wirkung von Zugspannungen und eindiffundierendem Wasserstoff aufgehoben wird. Bild 6.3.8 stellt einen solchen interkristallinen Bruch von einer SpRK-empfindlichen, hochreinen AlZnMg-Variante dar.
Bild 6.3.8. Verformungsloser interkristalliner Sprödbruch bei AlZn5Mg3 (Basis Al99,9) als Folge von Spannungsrißkorrosion) (Quelle: B. Grzemba, VAW aluminium AG, Bonn)
Der Einschnürbruch
Der Einschnürbruch, Typ A in Bild 6.3.1, entsteht durch Bildung, Wachstum und Koaleszenz der Hohlräume, d.h. durch Einschnüren oder Abscheren der Matrixligamente zwischen den Hohlräumen. Die dadurch rauh bis faserig erscheinende Bruchfläche verläuft senkrecht zur Hauptnormalspannung. Die Bildung der Scherlippen beim Tassen-Kegel-Bruch geschieht in dem Moment, in dem sich ausgehend von dem inneren Trennbruch intensive Scherbänder unter ca. 45° Neigung bilden, einen kritischen Wert der Schubspannung überschreiten und unter der Wirkung der Normalspan-
6.3 Bruchvorgang und Bruchverhalten
307
nungskomponente aufreißen. Der kritische Dehnungsbetrag für das Auslösen des Scherbruchs ist abhängig vom Werkstoffzustand und Gefüge sowie von geometrischen Einflüssen und vom Spannungszustand. Der Einschnürbruch kennzeichnet den duktilen Trennbruch und herrscht bei höherfestem, warmausgehärtetem und überhärtetem Material (Legierungen der Gruppen 2xxx, 6xxx, 7xxx) vor. Charakteristisch ist die Lochbildung an spröden Fremdphasen, sowie Lochwachstum und Koaleszenz. Bei der Warmaushärtung und Überhärtung erreicht das Verfestigungsvermögen ein Minimum. Nach (Tetelmann et al. 1967) begünstigt geringes Verfestigungsvermögen das Lochwachstum. Geringere Phasenanteile und Partikelgrößen, gleichmäßige Verteilung sowie große Partikelabstände verbessern die Brucheinschnürung. Bei hochfesten, voll warmausgehärteten Legierungen (T6 Zustand) wird das Lochwachstum durch Gleitbandbruch der Matrixligamente zwischen den Hohlräumen begrenzt. Auch interkristalline Bruchanteile wirken sich beim Einschnürbruch aus und reduzieren die Brucheinschnürung. Der quantitative Wert der Brucheinschnürung reagiert bei vergleichbarer Legierungsfestigkeit und Zustand sensibler auf die Qualität der Gefügeausbildung als die Bruchdehnung. Problematisch für die Aussagekraft der Brucheinschnürung ist, daß der Energieverzehr beim Einschnürbruch sehr unterschiedlich ausfallen kann. Korngrenzenbruch erfolgt je nach Anteil und Art (vgl. Bilder 6.3.6 und 6.3.7) energiearm und wird durch den Wert der Brucheinschnürung nur ungenügend angezeigt. Auch der Gleitbandbruch ist energiearm. Außerdem fördert ein mehrachsiger Spannungszustand den interkristallinen Bruchanteil (Pardoen et al. 2003) und evtl. auch den Gleitbandbruchmodus. So ist es möglich, daß trotz normgerechter Bruchdehnung, befriedigender Gleichmaßdehnung und deutlich vorhandener Einschnürung der Energieverzehr des eigentlichen Bruchvorgangs gering ist und der Rißfortschritt in einem Konstruktionsbauteil verformungsarm bis spröde verlaufen kann. Der Grund ist, daß der Energieverzehr des lokalen Bruchvorgangs durch die Größe der plastischen Zone an der Rißfront bestimmt und dadurch in seiner Wirkung beim Rißfortschritt vervielfacht wird (Zehnder et al. 2000). Bessere Auskunft über den Energieverzehr beim Gewaltbruch gibt daher die Messung eines Bruchenergiewertes, z. B. durch einen Schlagbiegeversuch oder Kerbschlagbiegeversuch (Scharf et al. 1982), den Aufreißversuch (Navy Tear Test nach Kahn), s. Bild 6.3.15, oder auch linearelastische (KIc, Kc) und elastisch-plastische Bruchzähigkeitswerte, z.B. die Messung des J-Integrals, letztere allerdings mit einem höheren Prüfaufwand. Die Rißzähigkeit, KIc, von 2xxx und 7xxx Legierungen ist bei vergleichbarer 0,2%-Dehngrenze höher für teilausgehärtete Zustände als für überhärtete Zustände (Develay 1972), in denen diese Legierungen eine
308
6 Mechanische Eigenschaften
deutliche Tendenz zu interkristallinen Bruchanteilen haben (Rosenfield et al. 1973). Dieses Verhalten würde sich nicht als Schlußfolgerung aus den höheren Brucheinschnürungswerten im T7 Zustand ableiten lassen, vgl. z.B. Bild 6.2.5 in Abschn. 6.2. Im Gegensatz zu warmausgehärteten Legierungen haben kaltausgehärtete Legierungen weniger Korngrenzenausscheidungen und geringere Neigung zu interkristallinen Bruchanteilen. Sie sind auch aus diesem Grunde duktiler bzw. besitzen eine hohe Rißzähigkeit. Der Scherbruch
Der Scherbruch, Bild 6.3.9, bei Zugproben unter 45° wird ebenfalls durch Lochbildung und Lochwachstum ausgelöst, die sich nach dem Beginn der Einschnürung durch Lokalisierung der Verformung in einem kritischen Scherbandbereich entwickeln (engl. „void sheeting“) (Sarkar et al. 2004, Bron et al. 2004). Allerdings sind gegenüber dem duktilen Trennbruch bei vergleichbaren Fremdphasenanteilen und Größenverteilungen der Partikel die Löcher kleiner und in Abscherrichtung teilweise elliptisch ausgezogen. Die geringere Wabengröße ist vermutlich mit dem geringeren hydrostatischen Spannungszustand und mit der Lokalisierung der Verformung in dem relativ schmalen kritischen Scherband zu erklären.
Bild 6.3.9 Scherbruch einer Zugprobe aus 2mm dickem Blech der Legierung AA6111-T4. Die Probe wurde geätzt, um die Scherbandbildung im Korngefüge sichtbar zu machen (Quelle: Sarkar et al. 2004)
Der Scherbruch ist typisch für das Versagen von mittelfesten naturharten AlMg-Legierungen, z.B. EN AW-5754-0 und EN AW-5182-0, sowie von kaltausgehärteten bzw. teilausgehärteten Legierungen und entsteht nach vergleichsweise hoher Gleichmaßdehnung, Ag, die in diesen Fällen auf behinderte dynamische Entfestigung zurückgeführt wird (s. Abschn.
6.3 Bruchvorgang und Bruchverhalten
309
6.2). Nachdem die Gleichmaßdehnungsgrenze überschritten ist und die Einschnürung beginnt, setzt dynamische Entfestigung ein und es kommt zur Bildung von groben Gleitbändern und von Scherbändern. Bei AlMgLegierungen werden durch dynamische Reckalterung (PLC-Effekt, s. Abschn. 3.2.3) diffuse Scherbänder über dem Probenquerschnitt ausgelöst, die als werkstoffliche und geometrische Inhomogenität den Einschnürvorgang und gleichzeitig den Scherbruch einleiten. Das durch hohe Gleichmaßdehnung gekennzeichnete höhere Verfestigungsvermögen hemmt zudem Lochwachstum und -koaleszenz (Tetelmann et al. 1967), wodurch das Scherbruchkriterium als Bruchkriterium bevorzugt wird. Außerdem haben kaltausgehärtete Legierungen eine geringere Neigung zu interkristallinem Bruch als warmausgehärtete. Diese Merkmale erklären, daß bei aushärtbaren Legierungen im T6- und T7-Zustand der Tassen-Kegel-Bruch, jedoch im T4-Zustand und bei mittelfesten AlMg-Legierungen der Scherbruch vorherrschen. Bei geringerem Volumenanteil von Fremdpartikeln, z.B. in Legierungen mit reinerer Metallbasis, tritt bei niedrig legierten Werkstoffen der Bruch als eine vollständige Abgleitung bzw. als Tassen-Kegelbruch mit hoher Einschnürung ein (Sarkar et al. 2001). Bei aushärtbaren Legierungen im Zustand T4, z.B. 2024-T4, ist weniger das geringere Partikelvolumen als der größere Partikelabstand für die verbesserte Duktilität maßgebend, wodurch ein größeres Lochwachstum möglich ist, bevor Koaleszenz durch Abschnüren oder Mikroscherbruch einsetzt (Nakai et al. 2000). In jedem Fall wird auch in Legierungen mit Scherbruchmodus durch geringere Anteile an Fremdphasen die Duktilität und Bruchzähigkeit verbessert, s. z.B. (Staley et al. 1977). Übergang vom Normalbruch zum Scherbruch
Wenn auch vorstehend die Zuordnung der beiden Brucharten zu Legierungsgruppen und werkstofflichen Zuständen vorgenommen wurde, ist festzustellen, daß beide Brucharten in ein und demselben Material auftreten können. Teirlinck et al. (Teirlinck et al. 1988) haben gezeigt, daß durch Überlagerung des Bruchvorgangs mit entsprechend hohem hydrostatischen Druck der Bruchmodus von einem vollkommen spröden, interkristallinen Bruch über den verformungsreichen Scherbruch bis zum völlig duktilen, plastischen Abschnürbruch verändert werden kann. Wichtige Einflußgrößen, die einen Übergang von einem zum anderen Bruchmodus verursachen können, sind − −
Spannungszustand, Primärphasenanteil,
310
− −
6 Mechanische Eigenschaften
Temperatur und Verformungsgeschwindigkeit.
Spannungszustand. Bei scharf gekerbten Zugproben herrscht im Kerbgrund ein mehrachsiger Spannungszustand. Es entsteht im Kerbgrund zunächst ein Anriß senkrecht zur Hauptnormalspannung. Bei weiterem Rißverlauf wechselt der Bruchmodus zu einem Scherbruch unter 45°, s. z.B. (El-Magd et al. 2001). Bild 6.3.10 zeigt schematisch den Übergang zwischen den beiden Brucharten bei einer scharf gekerbten Flachprobe. Die Rißfront wechselt dabei aus einem ebenem Dehnungszustand (Normalbruchfläche) in einen ebenen Spannungszustand (Scherbruchfläche). Dieser Übergang ist abhängig vom Verhältnis der Größe der plastischen Zone im Rißgrund zur Materialdicke. Bei Legierungen der Festigkeits- und Bruchzähigkeitsklasse EN AW-2024-T4 findet der Übergang bei einer Materialdicke von etwa 5 bis 10 mm statt.
Bild 6.3.10 Übergang zwischen Normalbruch und Scherbruch am Beispiel einer scharf gekerbten Blechprobe aus einer mittel- bis hochfesten Legierung (schematisch). REM Bilder zeigen die gröbere und feinere Wabenstruktur in den beiden Bruchzonen
Primärphasenanteil. Der Gehalt an Primärphasen hat Einfluß auf den Bruchmodus. Bei niedrigem Partikelgehalt und großem Partikelabstand überwiegt bei niedrig- bis mittelfesten Legierungen der Einschnürbruch, bei hohem Partikelgehalt und geringem Partikelabstand der Scherbruch-
6.3 Bruchvorgang und Bruchverhalten
311
modus, wie Untersuchungen an der Legierung AlMg3 mit niedrigem und hohen Fe-Gehalt zeigen (Sarkar et al. 2001), s. Bild 6.3.11.
Bild 6.3.11 Einfluß von Kaltverformung auf die Brucheinschnürung von 2mm dickem Walzmaterial aus Legierung AlMg3 (AA5754-0) mit unterschiedlichem FeGehalt nach (Sarkar et al. 2001)
Temperatureinfluß. Bei Temperaturen über 100 °C nehmen die 0,2Dehngrenze und das Verfestigungsvermögen ab, der dynamische Entfestigungsprozeß nimmt zu. Gleichzeitig werden aber Bruchdehnung und Brucheinschnürung durch den stabilisierenden Einfluß der Verformungsgeschwindigkeit auf die Fließspannung deutlich erhöht, vgl. Abschn. 6.6. Als Folge ändert sich der bei niedrigen Temperaturen typische Scherbruch in einen Einschnürbruch. Dieses Verhalten ist in Bild 6.3.12 für die naturharte, kaltverfestigte Legierung EN AW-5083-H116 dargestellt (Clausen et al. 2004), gilt jedoch auch für deren weiche Zustände (Heller 1988).
Bild 6.3.12 Wechsel von Scherbruch zu Einschnürbruch bei unterschiedlichen Temperaturen bei Legierung EN AW-5083-H116, nach (Clausen et al. 2004)
312
6 Mechanische Eigenschaften
Verformungsgeschwindigkeit. Bei hoher Verformungsgeschwindigkeit nimmt die Duktilität von Aluminiumlegierungen generell zu. (Eine Ausnahme sind einige hochfeste AlZnMgCu-Legierungen). Bei mittelfesten AlMg-Legierungen geschieht eine signifikante Zunahme der Brucheinschnürung allerdings erst bei Verformungsgeschwindigkeiten deutlich über 1 s-1, s. Bild 6.5.7. Gleichzeitig wechselt der Bruchmodus von Scherbruch zu Einschnürbruch, s. Bild 6.3.13 (Clausen et al. 2004). El-Magd et al. (ElMagd et al. 2001) und Hooputra et al. (Hooputra et al. 2004) ermittelten Fließkurven im Hochgeschwindigkeitszug- und -stauchversuch an den Legierungen EN AW-6061-T6, EN AW-6082-T6 und EN AW-7108-T6 und fanden bei Dehnraten über 25 s-1 nach anfänglich positiver Dehnratenempfindlichkeit, s. Abschn. 6.7, eine negative Dehnratenempfindlichkeit bei höheren Verformungsgraden und damit eine abnehmende Fließspannung, was sie auf adiabatische Erwärmung durch die plastische Arbeit zurückführten. Der Übergang von positiver zu negativer Dehnratenempfindlichkeit entlangt der Fließkurve scheint abhängig von der Dehngeschwindigkeit zu sein, d.h. ϕ ≈ > 0,5 bei 30 s-1 und ϕ ≈ > 0,2 bei 100 s-1.
Bild 6.3.13 Wechsel von Scherbruch zu Einschnürbruch durch hohe Dehngeschwindigkeit bei Legierung EN AW-5083-H116, nach (Clausen et al. 2004)
Zusammenfassend ist festzuhalten, • daß die Bruchform (duktiler Trennbruch, Scherbruch) und das Bruchverhalten (transkristallin, interkristallin) sowie der Bruchmechanismus (Lochbildung, Gleitbandbruch) im einachsigen Zugversuch mit unterschiedlichen Legierungen und Werkstoffzuständen beobachtet werden
6.3 Bruchvorgang und Bruchverhalten
313
können und wichtige Hinweise für die qualitative Beurteilungen bzgl. Duktilität und Verformbarkeit geben, • daß die Duktilitätswerte des einachsigen Zugversuchs aber nicht auf die Verhältnisse bei mehrachsigen Spannungszuständen übertragbar sind – hierzu wären Kerbzug- oder Kerbbiegeversuche und elastisch-plastische Bruchmechanikversuche aussagekräftiger –, • daß die Einflüsse von Temperatur und Verformungsgeschwindigkeit bei der Übertragung der unter „normalen“ Bedingungen gemessenen Brucheigenschaften auf praktische Anwendungsfälle berücksichtigt werden müssen, • daß die Verwendung von Bruchkriterien (kritische Normalspannung, maximale Schubspannung, Brucheinschnürung) aus dem Zugversuch für die FE-Berechnung von Sicherheitskomponenten problematisch ist. Versagenskriterien
Die Festlegung und Ermittlung des jeweils zutreffenden Versagenskriteriums ist nach den vorstehenden Betrachtungen noch problematisch. Für den duktilen Trennbruch sind mittlerweile zahlreiche rechnerische Modellierungen verfügbar. Die rechnerischen Ansätze gehen zurück auf die Modellierung von Lochbildung und -wachstum von McClintock (McClintock 1968), Gurson (Gurson 1977), Needlemann und Tvergaard (Needleman et al. 1984, Needleman et al. 1987, Tvergaard 1990), die viele der metallurgischen und mechanischen Einflußgrößen berücksichtigen. Verfeinerungen durch Berücksichtigung der Partikelform, Größenverteilung, interkristalliner Rißanteile sowie ausscheidungsfreier Zonen wurden entwickelt (Agarwal et al. 2003, Zehnder et al. 2000, Jain et al. 1999, Pardoen et al. 2003, Dumont et al. 2004, Wen et al. 2005). Die eingehende Behandlung dieser Thematik geht jedoch über den Rahmen dieses Buches hinaus, und es wird auf die angegebene Fachliteratur verwiesen. Für den Fall des Scherbruchs, der bei vielen praktisch eingesetzten, duktilen Aluminiumlegierungen den vorherrschende Bruchmodus darstellt, gibt es noch deutliche Ambivalenzen. Der Stand der Anwendbarkeit der verschiedenen Bruchkriterien für die FE-Modellierung nach heutigen Design Codes (ABAQUS, LS-DYNA, PAM-CRASH, CrachFEM) wurde von Wierzbicki et al. (Wierzbicki et al. 2005) analysiert. Sie untersuchten sieben verschiedene Bruchkriterien und kalibrierten sie durch Untersuchungen an Plattenmaterial der Legierung AA2024-T351. Für mehr Sicherheit in den Schlußfolgerungen wäre es wünschenswert, die gleichen Untersuchungen und Analysen auch an einer mittelfesten Legierung, z.B. EN AW5754-0 zu wiederholen.
314
6 Mechanische Eigenschaften
Da viele Leichtbaustrukturen aus dünnwandigen Bauteilen bestehen, ist die zuverlässige Bestimmung eines Bruchkriteriums mit Flachzugproben von erheblicher Bedeutung für die FE-Modellierung. Aus diesem Grunde wurde vorgeschlagen, mit Hilfe der Bruchfestigkeit, Rbr, und der Gleichmaßdehnung, Ag, – s. Bild 6.1.1 – aus Werten des Spannungs-Dehnungsdiagramms ein Bruchkriterium, CFS (critical fracture strain), zu berechnen, das die „wahre“ Bruchdehnung in Dickenrichtung wiedergibt. Es wurde dabei angenommen, daß im Bereich der Gleichmaßdehnung die Dehnungen in Breiten- und Dickenrichtung proportional sind, die „wahre“ Fließspannung und die Breitendehnung nach beginnender Einschnürung konstant bleiben (Yeh et al. 1999). Ag R CFS = − ln br (1 − ) 2 Rm
(6.3.1)
mit Rbr, Rm und Ag als Bruchfestigkeit, Zugfestigkeit und Gleichmaßdehnung entsprechend den Definitionen in Bild 6.1.1, Abschn. 6.1. Eine modifizierte Form unter Berücksichtigung von Breiten- zu Dickeneinschnürung entsprechend dem Anisotropiewert, r, führt zu folgender Beziehung: R /R CFS = − ln br m 1 − 1+ r (1 + Ag )
(6.3.2)
Beide Beziehungen, Gl. (6.3.1) und (6.3.2), ergeben annähernd die gleichen Werte. Bei vernachlässigbarer Anisotropie (r ≈ 1) sowie bei geringem Wert von Ag (Ag 107 LW) wurden bei glatten Proben jedoch systematisch auch Rißausgangsorte unterhalb der Oberfläche festgestellt (Pyttel et al. 2006). Ermüdungsschädigung durch wechselnde Lasten werden häufig verschärft durch örtliche Überbeanspruchung, z.B. an konstruktiven, fertigungs- oder korrosionsbedingten Kerben, sowie durch Unregelmäßigkeiten einer Schweißnahtausführung, s. Kap. 16. Für die ingenieurmäßige Berechnung der Lebensdauer von Bauteilen oder Konstruktionen unter wechselnder oder schwingender Beanspruchung wurden Konzepte und Regelwerke entwickelt, die in Kap. 20 unter Berücksichtigung konstruktiver
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
319
Maßnahmen behandelt werden. Als Grundlage dafür sollen im vorliegenden Kapitel die werkstofflichen Grundlagen der Schwingfestigkeit im Vordergrund stehen. Für Berechnungen der Lebensdauer von Komponenten oder Konstruktionen werden einerseits die möglichst genaue Festlegung der Betriebsbeanspruchung benötigt und andererseits Angaben für die betreffende Legierung, die die Lebensdauer in Abhängigkeit von der Beanspruchungshöhe und -art wiedergeben. Hierzu werden sog. Wöhlerkurven an Proben oder Bauteilen ermittelt, die je nach Beanspruchungsart entweder als spannungskontrollierte oder als dehnungskontrollierte Wöhlerkurven ermittelt werden (benannt nach August Wöhler, 1819–1914, Begründer der Schwingfestigkeitsprüfung im Eisenbahnwesen). Wegen der meistens geringen Querschnittsabmessungen der Prüfkörper wird die im Wöhlerversuch ermittelte Bruchlastwechselzahl hauptsächlich durch die Anrißbildung bestimmt. Dies gilt besonders im Bereich hoher Lastwechselzahlen, wo bis zu 99% der Lebensdauer durch die Vorgänge der Anrißbildung bestritten werden. Bei hohen Spannungsausschlägen und folglich kürzerer Lebensdauer ist der Anteil der Anrißphase an der Gesamtlebensdauer kürzer als bei geringen Spannungsausschlägen und hoher Bruchlastwechselzahl. Außerdem bilden sich bei höheren Spannungsausschlägen gewöhnlich mehrere Anrisse, von denen sich einige zu einem Hauptriß vereinigen können. Bei größeren Bauteilquerschnitten oder Konstruktionen und auch bei Material mit scharfen Oberflächenkerben kann jedoch weniger die Anrißbildung als die Dauer des „stabilen“ Rißfortschritts für die Lebensdauer ausschlaggebend sein. Neben der Wöhlerkurve ist daher die Ermittlung des Rißfortschrittsverhaltens für die Lebensdauerberechnung wichtig, die heute üblicherweise auf der Grundlage der linear-elastischen Bruchmechanik durchgeführt wird, s. Abschn. 6.4.3. Für die Bestimmung der noch erträglichen Größe eines Anrisses in einer Konstruktion (engl. damage tolerant design) mit Hilfe der Methoden der linear-elastischen und elastisch-plastischen Bruchmechanik geben die Rißzähigkeitseigenschaften der Werkstoffe Auskunft. Im Rahmen dieses Buches muß allerdings auf eine eingehende Behandlung dieser Thematik verzichtet und der Leser auf die einschlägige Fachliteratur und bestimmte Regelwerke (prEN 1999-1-3: 2005. Bemessung und Konstruktion von Aluminiumtragwerken, Teil 1-3: Ermüdungsbeanspruchte Tragwerke] verwiesen werden Die Entstehung des Schwingfestigkeitsversagens ist also durch zwei Stadien gekennzeichnet: die Anrißphase und die stabile Rißfortschrittsphase, die schließlich in den (instabilen, plötzlichen) Restbruch mündet. Nach Forsyth wird diese Einteilung des Schwingungsbruchvorgangs als
320
6 Mechanische Eigenschaften
„Stage I“ und „Stage II“ Crack Growth bezeichnet (Forsyth 1962). Die Unterteilung des Ermüdungsbruchvorgangs in die beiden Stadien ist in sofern von Bedeutung, als ihnen unterschiedliche Mechanismen zugrunde liegen und diese durch die metallurgischen Eigenschaften des Materials, die Dimensionen des Bauteils, durch die Art der Beanspruchung und die Lage des Anrisses zur Hauptbeanspruchungsrichtung auf unterschiedliche und manchmal gegenläufige Weise zum Bruchvorgang und damit zur Lebensdauer des Bauteils beitragen. Bild 6.4.1 illustriert nach Laird schematisch diese Stadienfolge des Ermüdungsbruchs von Metallen (Laird 1967). Merkmal des Stadium I ist eine kristallographisch orientierte Rißlage auf Ebenen, die in einem definierten Zusammenhang mit den primären Gleitsystemen des Materials stehen. Im Stadium II folgt der Riß überwiegend einer Richtung senkrecht zur Hauptnormalspannung und ist bei duktilen Werkstoffen auf der Bruchfläche durch charakteristische Rastlinien gekennzeichnet. Der Übergang vom Stadium I (Anrißphase) zum Stadium II (Rißfortschritt) ist hauptsächlich von der Höhe des Spannungsausschlags ∆σ (= 2·σa, σa = Spannungsamplitude) bzw. der auf den Anriß wirkenden Spannungsintensität ∆K abhängig, aber auch vom spezifischen, durch das Gefüge beeinflußten Gleitverhalten.
Bild 6.4.1 Die Stadien des Ermüdungsbruchs nach C. Laird (Laird 1967)
Um das Schwingfestigkeitsverhalten der verschiedenen Aluminiumlegierungen und Werkstoffzustände sowie Einflüsse durch Verarbeitungsmaßnahmen besser einordnen zu können und um eine Verständnisgrund-
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
321
lage für die verschiedenen Lebensdauerberechnungskonzepte zu haben, werden zunächst in Abschn. 6.4.1 die charakteristischen Merkmale des Ermüdungsverhalten von Aluminium zusammengefaßt und eine Verbindung zwischen den zugrundeliegenden Mechanismen und charakteristischen Gefügemerkmalen aufgezeigt. Die Grundlage der Anrißbildung und des Rißfortschritts bildet das zyklische Verformungsverhalten des Werkstoffs, das sich vom quasi-statischen Dehnungsverhalten hinsichtlich der Versetzungsreaktionen unterscheidet und üblicherweise durch die zyklische Spannungs-Dehnungskurve dargestellt wird, s. Abschn. 6.4.2. Die zyklische Spannungs-Dehnungskurve bildet die Verbindung zwischen der Spannungs- und Dehnungswöhlerlinie des Werkstoffs. 6.4.1 Phänomenologie der Ermüdungsschädigung Das zyklische Verformungsverhalten von Aluminium und seinen Legierungen ist in zahlreichen grundlegenden Untersuchungen an Einkristallund Bikristallproben untersucht worden, da sich hierdurch sekundäre Einflüsse von Korngrenzen, Textur, Dispersions- und Verunreinigungsphasen ausschalten lassen. Die Übertragung dieser Erkenntnisse auf polykristalline, technische Legierungen ist jedoch wegen der zahlreichen Einflußfaktoren sehr komplex. Es müssen sowohl die Höhe der Spannungs- oder Dehnungsamplituden als auch die gegebene Legierungszusammensetzung, Korngröße, Textur, Warmverformungsgefüge, Grad der Vorverfestigung, Gegenwart verschiedener Gefügeelemente und – bei aushärtbaren Legierungen – der Ausscheidungszustand berücksichtigt werden. Alle diese Faktoren haben Auswirkung auf das spezifische Gleitverhalten und auf die Art von Versetzungsreaktionen, die das örtlich eintretende Ereignis der Anrißbildung vorbereiten. In reinem, unlegiertem Aluminium und in einphasigen Legierungen ist das zyklische Verformungsverhalten bei niedrigen Dehnungs- oder Spannungsamplituden gekennzeichnet durch Reaktionen von Versetzungen mit Punktfehlern (Leerstellen, Legierungsatome) in den aktiven, primären Gleitsystemen, bei höheren Amplituden dominiert die Wechselwirkung zwischen Versetzungen (Chicois et al. 1986). In ausgehärteten Legierungen treten dazu die Versetzungsreaktionen mit den Ausscheidungsphasen und verändern sich mit dem Ausscheidungszustand (Starke et al. 1989). In technischen Legierungen werden diese lokalen plastischen Vorgänge in aller Regel durch Primärphasen oder andere Spannungs- oder Dehnungskonzentrationen ausgelöst (s. unten). Im folgenden werden die grundsätzlichen Vorgänge und die einwirkenden Gefügeeinflüsse betrachtet, um eine
322
6 Mechanische Eigenschaften
qualitative Beurteilung der Auswirkungen von Wärmebehandlungen und Verarbeitungsschritten zu ermöglichen. Grundlegende zyklische Verformungsvorgänge in Aluminium und Aluminiumlegierungen
Unter der Wirkung von wechselnden Zug- und Druckspannungen werden zunächst diejenigen Gleitsysteme aktiviert, in denen durch günstige Orientierung zur Hauptbeanspruchungsrichtung die kritische Schubspannung für Versetzungsgleiten überschritten wird. Die dadurch erzeugten Gleitvorgänge sind besonders an der freien Proben- oder Bauteiloberfläche wegen der nur partiellen Verformungsbehinderung ausgeprägt. Die Hin- und Herbewegung von Versetzungen durch die Dehnungsumkehr verursacht in der äußeren Kornlage Versetzungsreaktionen und -vervielfältigung, die in den aktivierten Gleitebenen dichte Ansammlung von Versetzungsringen, Versetzungsdipolen und Leerstellen hinterlassen. Schließlich kommt es zu Versetzungsaufstauungen an Hindernissen, wie Versetzungswällen, Korngrenzen sowie Dispersions- und Primärphasenpartikeln. Durch die ausgeprägte Neigung des Aluminiums zum Versetzungsquergleiten werden im unlegierten und niedrig legierten Werkstoff Versetzungszellstrukturen erzeugt, die in Reinaluminium bereits nach ersten Lastwechseln nachweisbar sind und nach einem geringen Prozentsatz der Bruchlastwechselzahl eine stabile Größe annehmen. Ihre Abmessungen nehmen in einphasigen Legierungen mit wachsender Dehnungsamplitude ab. Die Zellwände werden mit zunehmender Zahl von Dehnungswechseln diskreter. Gleichzeitig fördern die erzeugten Leerstellen das Klettern von Versetzungen und deren energetisch günstigere Anordnung in Subkorngrenzen. Somit finden neben zyklischen Verfestigungsvorgängen zunehmend auch dynamische Erholungsvorgänge statt. Einigkeit herrscht darüber, daß die Anrißbildung durch Erreichen eines kritischen Zustandes in den zyklisch erzeugten Zellwänden oder Subkorngrenzen den grundsätzlichen Schädigungsmechanismus der Materialermüdung von unlegiertem, homogenen Aluminium darstellt (Zhai et al. 1996). Der Bruchverlauf ist demnach grundsätzlich transkristallin. Mit höherem Legierungsgehalt, z.B. bei mittelfesten AlMg-Legierungen, und besonders bei ausscheidungsgehärteten Legierungen wird die Versetzungszellbildung dadurch verzögert, daß durch niedrigere Stapelfehlerenergie oder durch Versetzungsschneiden von kohärenten Ausscheidungen das Quergleiten behindert wird. Es herrscht ein mehr (quasi-)planares Gleitverhalten vor. Das Schneiden von kohärenten Ausscheidungen führt zu deren Rückbildung. Der Gleitwiderstand verringert sich, wodurch die Versetzungsreaktionen in der aktiven Gleitebene zunehmen. Die Kine-
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
323
tik der Versetzungsbewegung in den Gleitbändern wird durch die Interaktion von Versetzungen mit gelösten Legierungselementen beeinflußt (Kaschner et al. 2002). Das Hin- und Hergleiten von Versetzungen in den aktivierten Gleitebenen erhöht die Versetzungsdichte, verursacht Verfestigung und löst Gleitvorgänge in benachbarten Gleitebenen aus, die sich zu Gleitbändern mit hoher Versetzungsdichte vereinigen, s. die nachfolgende Beschreibung des Phänomens der „persistenten Gleitbänder“. In diesen Gleitbändern laufen zyklische Verfestigungs- und Entfestigungsprozesse ab, und man beobachtet eine dafür typische Zellstruktur in diesen bis zu wenigen µm dicken Gleitbändern (Forsyth 1963, Stubbington et al. 1966). Die Konzentration von Versetzungen in Gleitbändern wird als Vorstufe für die Bildung von Schwingungsanrissen angesehen. Die Rißausbreitung erfolgt in den Gleitbändern (Lindigkeit 1979). Der insbesondere bei ausgehärteten Legierungen häufig auch beobachtete interkristalline Anriß im Stadium I weist eher auf eine geschwächte Konstitution der Korngrenzen hin. Auch durch korrosiven Einfluß in diesem Stadium kann der Rißverlauf interkristallinen Charakter haben. Persistente Gleitbänder
Anfänglich zyklische Verfestigung mit anschließender Entfestigung wurde bei zahlreichen Untersuchungen von unverformten Ein- und Vielkristallen aus Reinaluminium, u.a. von (Snowden 1963, Ryum et al. 1996, Ryum et al. 1996, El-Madhoun et al. 2003) und aus aushärtbaren AlCu-Legierungen (Abel et al. I 1966, Abel et alt. II 1966, Morris et al. 1989) im Kurzzeitund Langzeitfestigkeitsbereich festgestellt. Die Gleitbänder treten in der äußeren Kornlage an die Oberfläche und erzeugen Extrusionen und Intrusionen, die als „persistente Gleitbänder“ bezeichnet werden (PSB, engl. persistent slip bands). Das Auftreten solcher PSB ist jedoch abhängig von Legierungsart, Legierungsgehalt und Werkstoffzustand. Wie bereits erwähnt, entwickelt unlegiertes, weichgeglühtes Aluminium infolge seines ausgeprägten Quergleitverhaltens sehr schnell eine mehr oder weniger grobe Versetzungszellstruktur, die bereits nach wenigen Lastwechseln abgeschlossen ist. Persistente Gleitbänder sind bei Reinaluminium nicht so ausgeprägt wie bei Legierungen und werden – wenn überhaupt – erst gegen Ende der Lebensdauer beobachtet. Im Gegensatz dazu bilden sich in ausscheidungsgehärteten Legierungen ausgeprägte PSB, wie Bild 6.4.2 am Beispiel einer AlZnMg-Legierung illustriert (Forsyth 1963). Die Mikrostruktur solcher PSB zeigt eine charakteristische Versetzungsstruktur, die durch eine leiternartige Anordnung von parallelen Zellwänden beschrieben werden kann. Das Zellinnere ist gefüllt mit unregel-
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6 Mechanische Eigenschaften
mäßig angeordneten Versetzungen. Während sich die zyklische Verformung in den PSB konzentriert, weist die umgebende Matrix kaum Verformungsmerkmale auf. Dichte und Intensität der Dehnungskonzentration in den Gleitbändern sind abhängig vom Ausscheidungszustand. (Für einen weitergehenden, allgemeinen Überblick über charakteristische Eigenschaften und über Reaktionen von Versetzungen und Punktdefekten innerhalb von persistenten Gleitbändern bei Metallen sei auf die einschlägige Literatur verwiesen, z.B. (Basinski et al. 1992, Eßmann et al. 1996).
Bild 6.4.2 Lichtmikroskopische Aufnahme von persistenten Gleitbändern auf der Oberfläche einer ausgehärteten AlZn7,5Mg2,5-Legierung (Quelle: P.J.E. Forsyth, 1963)
Einfluß des Aushärtungszustands auf die Schädigungsentwicklung
Verschiedene Aushärtungszustände (z.B. T4, T6, T7) haben je nach Grad der Kohärenz der Ausscheidungen unterschiedliche Einflüsse auf das zyklische Verformungs- und Schwingfestigkeitsverhalten. In Legierungen mit kohärenten Ausscheidungen (z.B. T4 Zustand) schneiden Versetzungen die Zonen und lösen diese durch weitere Hin- und Herbewegung auf. Dadurch verlieren die Ausscheidungen ihre gleitbehindernde Wirkung, die jedoch durch zunehmende Verfestigung bis zum Erreichen eines Sättigungswertes kompensiert wird. Aus der anfänglich dichten Schar feiner Gleitbänder entwickeln sich zum Ende der Lebensdauer hin grobe, persistente Gleitbänder. Durch die Rückbildung der GP-Zonen in den Gleitbändern dürfte sich das Gleitverhalten jedoch innerhalb der Gleitbänder dem des Reinaluminiums angleichen, d.h. die Rückstellkräfte der Versetzungshindernisse sind gering. Diese Vermutung scheint sich durch den ähnlich
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
325
geringen Bauschinger-Effekt von weichgeglühtem Reinaluminium und von kaltausgehärteten Legierungen zu bestätigen (Abel et al. I 1966, Sonsino 1983). Planares Gleitverhalten ist theoretisch verbunden mit stärkeren Rückstellkräften an Versetzungshindernissen und bewirkt eine intensivere Reversibilität der Versetzungsbewegung, wodurch der Aufbau einer stabilen, nicht reversiblen Versetzungsstruktur verzögert wird (Starke et al. 1989). Man erwartet in diesem Fall einen verstärkten Bauschinger-Effekt. Der nur gering ausgeprägte Bauschinger-Effekt von GP-Zonen-gehärtetem Aluminium steht dazu im Widerspruch und läßt vermuten, daß die Reversibilität der Versetzungsbewegung in den Gleitbändern durch Versetzungsreaktionen mit den gelösten Legierungselementen eingeschränkt wird. Eine Analogie mit dem planaren Gleitverhalten von Metallen mit niedriger Stapelfehlerenergie ist daher problematisch. Durch Kaltaushärtung (T4 Zustand) entstandene GP(I)-Zonen sind kleiner (1–2 nm) und leichter von Versetzungen zu schneiden als durch Warmaushärtung (T6 Zustand) erzeugte GP(II)-Zonen oder teilkohärente Ausscheidungen mit Größen von 10–20 nm (s. Abschn. 3.1). Als Folge davon ist mit zunehmendem Aushärtungsgrad das zyklische Verformungsverhalten durch eine Vergröberung und höhere Versetzungsdichte der Gleitbänder gekennzeichnet (Clark et al. 1964, Duva et al. 1988). Die Heterogenität des erzwungenen quasi-planaren Gleitverhaltens hängt vom Grad der Kohärenz, von der Zonen- oder Partikelgröße und vom Volumenanteil ab. Die feine Gleitbandstruktur im T4-Zustand wird mit zunehmender Warmaushärtung gröber. Verschiedene Autoren berichten von ausscheidungsfreien Zonen in den groben Gleitbändern in warmausgehärteten Legierungen, die durch erneutes Aushärten wieder mit Ausscheidungen gefüllt werden können. Die Vergröberung der Gleitbandstruktur, d.h. die stärkere Lokalisierung der Verformung infolge von Teil- oder Vollaushärtung bei der Warmauslagerung ist demnach eher gradueller Natur und beruht nicht auf einer grundlegenden Änderung des Mechanismus. Die Auswirkungen auf die Anrißbildung und letztlich auf die Schwingfestigkeit hängen von der Verteilung, Zahl und Feinheit der sich bildenden PSB und vom Entfestigungsprozeß innerhalb der PSB ab. Das feinere quasi-planare Gleitverhalten von kaltausgehärtetem Material äußert sich in einer hohen zyklischen Verfestigung und in einer graduellen Entfestigung vor Beginn der Anrißbildung. Dagegen setzt bei voll warmausgehärtetem Material die Entfestigung sehr spät ein, löst aber wegen der höheren Versetzungsdichte in den gröberen Gleitbändern eine frühzeitigere plastische Instabilität aus als bei kaltausgehärtetem Material. Diese plastische Instabilität in den groben Gleitbändern führt dann unmittelbar zur Anrißbildung. Durch volle Warmaushärtung (T66 Zustand) nimmt zwar sowohl die
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6 Mechanische Eigenschaften
statische Festigkeit als auch die Schwingfestigkeit gegenüber dem kaltbzw. teilausgehärteten Material zu, allerdings verringert sich das Verhältnis von ertragbarer Schwingfestigkeitsamplitude zur statischen Zugfestigkeit, z.B. für Legierungen EN AW-6063 und 6082 bei 5x105 LW und R = 1 von σa/Rm ≈ 0,4 für den Zustand T64 (teilausgehärtet) auf σa/Rm ≈ 0,3 für den Zustand T66 (Jiang et al. 2003). Die Instabilität der Ausscheidungen in aushärtbaren Aluminiumlegierungen wird häufig als Begründung für das gegenüber anderen Werkstoffen niedrigere Verhältnis der Schwingfestigkeit zur Zugfestigkeit angeführt. Bei mechanistischer Betrachtungsweise sind jedoch die kinetischen Abläufe der Vorgänge von zyklischer Verfestigung und plastischer Instabilität in den Gleitbändern bestimmend für den zeitlichen Beginn der Rißbildung und unterliegen den Einflüssen des Gefügezustandes. Mit dem Verlust der Ausscheidungskohärenz durch Überalterung (T7 Zustand) nimmt die Partikelgröße zu und der Partikelabstand vergrößert sich (bleibt aber um ein Mehrfaches geringer als der Abstand zwischen den sog. Dispersionsphasen, s. unten). Der Übersättigungsgrad gelöster Legierungselemente hat sich deutlich verringert. Dichte und Aufstauung von Versetzungen an den nicht mehr schneidfähigen Ausscheidungsphasen verstärken sich, die Rückstellkräfte dieser Versetzungshindernisse nehmen zunächst zu, was sich in einem höheren Bauschinger-Effekt zeigt (Abel et al. I 1966). Versetzungen werden an den Hindernissen zu verstärktem Quergleiten gezwungen, wodurch die Versetzungsdichte zunimmt. Nach Untersuchungen an Al-4%Cu Einkristallen verstärkt sich dadurch anfänglich die Verfestigungsrate (Abel et al. II 1966). Das Verformungsverhalten wird homogener, und dynamische Entfestigung sowie die Entwicklung nicht reversibler Versetzungsstrukturen dürften sich beschleunigen. Im Ergebnis sollte demnach eine Überhärtung (T7 Zustand) die Anrißbildung verzögern und sich positiv auf die Lebensdauer auswirken. Schwingfestigkeitsergebnisse, ermittelt an 150 mm dicken Platten aus Legierung 7050T6 und -T7 in ST-Richtung (Lin et al. 1998), scheinen diese Schlußfolgerung zu bestätigen, wenn auch die Effekte relativ gering sind. Allerdings wurden auch gegenteilige Trends gefunden. Diese können damit in Zusammenhang stehen, daß durch Überalterung weichere ausscheidungsfreie Säume an den Korngrenzen entstehen können oder sich verbreitern, die bei entsprechend günstiger Lage zur Hauptbeanspruchungsrichtung zusätzliche Orte für Dehnungslokalisierung und Anrißbildung darstellen. Da dieser Effekt entscheidend durch Rekristallisationsgrad und Korngröße mitbestimmt wird, sind Voraussagen über den Einfluß des Aushärtungszustandes auf den Ermüdungsvorgang allein auf der Basis von Versetzungsmechanismen problematisch, sondern müssen den tatsächlich vorliegenden Gefügezustand mitberücksichtigen.
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
327
Einfluß von Dispersionsphasen
Die bei der Barrenglühung entstehenden, thermisch stabilen Dispersionsphasen in Mn-, Cr- und Zr-haltigen Legierungen bewirken ebenfalls ein homogeneres Verformungsverhalten. Sie können von Versetzungen nicht geschnitten, sondern nur umgangen werde. Die in Bild 6.4.2 dargestellten groben PSB in AlZnMg-Legierungen können durch MnAl6-Dispersionen sehr stark verfeinert werden, wodurch sich signifikante Verbesserungen der Lebensdauer ergeben (Kim et al. 1998). Auf gleiche Weise wirken die Dispersionsphasen in der AlMgSi-Legierung EN AW-6082-T6, wo die Bildung von groben Gleitbändern wirksam unterdrückt wird (Jiang et al. 2003). Einfluß von Primärphasen
Eine weitere Ursache für die Entwicklung von lokalen Dehnungskonzentrationen stellen spröde, intermetallische Phasen in technischen Legierungen dar, die in ihrem unmittelbaren Umfeld Spannungskonzentrationen erzeugen, s. Bild 6.4.6. Auf diese Weise beschleunigen Primärphasen das Erreichen eines kritischen Gleitbandzustandes und verringern dadurch die Lebensdauer. Hinzu kommt, daß gröbere Primärphasen durch die vorhergehende Warm- und Kaltverformung aufbrechen, die Fragmente durch die Schwingbeanspruchung sich gegeneinander in der Matrix verschieben und so zu verschärfter Gleitbandbildung beitragen oder bereits Anrisse darstellen können. Bekanntlich wirken sich feinere, homogen verteilte Primärphasen, die z.B. durch schnellere Erstarrung des Gußvormaterials, durch höhere Durchknetung bei der Warmumformung oder auf pulvermetallurgischem Wege erzielt werden können, sowie geringere Volumenanteile an Primärphasen in Legierungen auf reinerer Basis positiv auf die Schwingfestigkeit oder Lebensdauer aus. Einfluß von Kaltverfestigung – Bauschinger-Effekt
Die Wirkung einer mechanischen Vorverfestigung auf das zyklische Spannungs-Dehnungsverhalten hängt von der Stabilität der erzeugten Versetzungsstruktur ab. Alle Metalle zeigen bei Dehnungsumkehr im statischen Versuch eine mehr oder weniger starke Erniedrigung der Fließgrenze – der sog. Bauschinger-Effekt. Dieser erstreckt sich über die gesamte Fließkurve und bedeutet, daß die durch einsinnige Verformung erzeugte Versetzungsanordnung bei einer Dehnungsumkehr nicht stabil ist (Haasen 1994). Es findet eine Versetzungsbewegung in entgegengesetzter Richtung statt, die eine Umordnung der Versetzungsstruktur ermöglicht. Selbst eine stabile Sättigungshysterese (s. Abschn. 6.4.2) bedeutet nicht, daß es in einem ge-
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6 Mechanische Eigenschaften
gebenen Dehnungszyklus keine verfestigenden Versetzungsreaktionen mehr gibt; es bedeutet nur, daß Bauschinger-Effekt und dynamische Entfestigung stark genug sind, um die Verfestigung zu kompensieren (Avery et al. 1963). Obwohl die grundlegenden Versetzungsmechanismen bei statischer und zyklischer Verformung gleich sind, unterscheiden sich die resultierenden Versetzungsstrukturen deutlich. Bei hohen plastischen Dehnungsamplituden (εa,p > 0,002) entwickeln sich Zellstrukturen, die bei vergleichbarer plastischer Gesamtdehnung gröbere Dimensionen haben als nach einsinniger, quasi-statischer Verformung (Plumbridge 1970). Versetzungsstrukturen in kaltverfestigtem, niedrig legiertem bzw. unlegiertem Aluminium gleichen sich bei Dehnungsumkehr denen von weichgeglühtem Material an. Die durch höhere Kaltverformungsgrade erreichte Verfestigung wird bis zum Erreichen der Sättigungshysterese (s. Bild 6.4.7) weitgehend rückgängig gemacht. Kaltverfestigte Aluminiumlegierungen unterliegen daher einer zyklischen Entfestigung. Ein solches Verhalten ist typisch für naturharte Aluminiumlegierungen. Die Gegenwart von Dispersionsphasen scheint jedoch das sich einstellende Versetzungszellgefüge und damit den Grad der Entfestigung zu beeinflussen. Bei Legierungen mit MnAl6-Dispersionen wird ein positiver Effekt der Kaltverfestigung auf die Schwingfestigkeit oder Lebensdauer erzielt, wie aus der Lage der Wöhlerkurven der Legierung EN AW-3004 (AlMn1Mg1) in den Zuständen weich und halbhart in Bild 6.4.3 zu ent-
Bild 6.4.3 Einfluß von Kaltverfestigung auf das Umlaufbiegeverhalten ungekerbter und gekerbter Proben aus einer AlMn1Mg1-Legierung (AA3004) (n. Alcoa)
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
329
nehmen ist. Der gleiche Effekt, eine ca. 3-fache Lebensdauersteigerung durch Kaltverfestigung, wurde auch bei der AlMg4,5Mn-Legierung (AA5083, Mn-Gehalt des Versuchsmaterials 0,3%) beobachtet, wobei die Höhe des Kaltverfestigungsgrades zwischen 10 und 70% praktisch keine Rolle spielte. Bei dem kaltverfestigten Material fanden Laird und Krause zudem nach anfänglicher zyklischer Entfestigung eine zyklische Verfestigung, die sie auf dynamische Reckalterung durch den Mg-Gehalt der Legierung zurückführten (Laird et al. 1970). Die dynamische Reckalterung wirkte sich besonders bei hohen Lastwechselzahlen und mit zunehmendem Kaltverfestigungsgrad deutlich stärker aus als bei weichgeglühtem Material und verursachte dadurch ein den ferritischen Stählen analoges Dauerfestigkeitsverhalten. Der Bauschinger-Effekt ist bei Aluminiumwerkstoffen allgemein deutlich schwächer ausgeprägt als bei Stahlwerkstoffen. Streckgrenze und Stauchgrenze sind annähernd gleich. Nach Sonsino (Sonsino 1983) ist die Stauchgrenze einer um 5% gereckten, kaltausgehärteten Legierung AlCu4Mg1-T4 (EN AW-2024) nahezu identisch mit der Stauch- und Streckgrenze des unverformten Materials. Die Legierung AlCu4Mg1-T4 verhält sich im unverformten Zustand zyklisch verfestigend, nach einer Kaltverformung tritt jedoch eine zyklische Entfestigung ein, wobei die Werte des unverformten Materials leicht unterschritten werden. Dies wirkt sich im Kurzzeitschwingfestigkeitsbereich um 10³ Lastwechsel in einer geringfügig verkürzten Lebensdauer aus. Verallgemeinernd läßt sich daher feststellen, daß die Schwingfestigkeit durch eine Kaltverfestigung bei den naturharten, technisch relevanten Legierungen eher positiv beeinflußt wird. Bei aushärtbaren Legierungen treten gegenüber dem Ausgangszustand durch moderate Kaltverformung keine gravierenden Veränderungen ein (Pedersen et al. 2004). Einfluß der Korngröße
Der Korngrößeneinfluß auf das zyklische Verformungsverhalten – ebenso wie auf die Schwingfestigkeit und auf das Rißfortschrittsverhalten – wird bestimmt durch diejenigen Schädigungsmechanismen, deren Entwicklung und Wirksamkeit direkt oder mittelbar mit der Ausdehnung der aktiven Gleitsysteme (begrenzt durch den Korndurchmesser), mit der Behinderung von Gleitvorgängen über Korngrenzen hinweg in die benachbarten Körner (Quergleitverhalten) und mit der Konsistenz der Korngrenzen (Schwächung durch Belegung mit interkristallinen Phasen oder durch Wasserstoffversprödung) in Zusammenhang stehen, aber auch mit der Interaktion zwischen Ermüdungsanrissen und Korngrenzen (kristallographische Kurzrisse mit Abmessungen der Korngröße). Gemeinhin wird durch Feinkör-
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6 Mechanische Eigenschaften
nigkeit der Fließwiderstand erhöht, das plastische Verformungsverhalten homogener und die Duktilität verbessert. Bei Neigung zu interkristallinem Bruchverhalten kann jedoch eine feinere Korngröße unter Schwingbeanspruchung negative Auswirkungen haben, wenn die Ausdehnung der plastischen Zone oder des Spannungsfelds eines Ermüdungsanrisses sich über mehrere Körner erstreckt und die Chancen für eine Rißbildung an geschwächten Korngrenzen sich erhöhen. Es ist auch beobachtet worden, daß in duktilen Werkstoffen Korngrenzen das Wachsen von Kurzrissen behindern. Der Korngrößeneinfluß auf das zyklische Verhalten und generell auf das Ermüdungsverhalten von Aluminium und seinen Legierungen ist daher sehr komplex und muß sehr differenziert betrachtet werden. In früheren Untersuchungsreihen wurde bei unlegiertem Aluminium und in spannungskontrollierten Wöhlerversuchen im Bereich der Langzeitfestigkeit kein Korngrößeneinfluß festgestellt (Pelloux 1969), dagegen zeigte sich im mittleren und kurzen Zeitfestigkeitsbereich (< 105 Lastzyklen) eine Zunahme der Bruchlastwechselzahl bei feinkörnigem Material (Thompson et al. 1971). Dieser Effekt wurde entsprechend den Coffin-Manson Gesetzmäßigkeiten (s. Abschn. 6.4.4) mit der verbesserten Duktilität des feinkörnigen Materials erklärt. Im Gegensatz dazu wurde bei neueren Versuchen an technisch reinem Aluminium (Turnbull et al. II 1995, Ryum et al. 1996) und bei der Legierung AlMg3 (EN AW-5754) (Turnbull et al I 1995) auch ein Korngrößeneinfluß auf die Langzeitfestigkeit entsprechend der Hall-Petch-Beziehung (s. Abschn. 3.1.3) gefunden. Außerdem scheint die zyklische Spannungs-Dehnungskurve ebenfalls der Hall-PetchBeziehung zu gehorchen (El-Madhoun et al. 2003). Die nur geringe Korngrößenabhängigkeit der Schwingfestigkeit von unlegiertem und niedrig legiertem Aluminium wird darauf zurückgeführt, daß die zyklische Beanspruchung sich vornehmlich in der Bildung von Versetzungszellstrukturen auswirkt und die Blockierung der Versetzungsbewegung in Gleitbändern durch Korngrenzen keine Rolle spielt. Letzteres kann man jedoch bei solchen Legierungen und Werkstoffzuständen erwarten, die – wie in Bild 6.4.2 gezeigt – zu mehr planarem Gleitverhalten neigen. Die Schwingfestigkeit bzw. Lebensdauer von höher legierten und ausgehärteten Werkstoffen in den Zuständen T4 bis T6 dürften demnach empfindlicher auf Änderungen der Korngröße reagieren, im überhärteten Zustand T7 dagegen weniger korngrößenabhängig sein. Es ist außerdem zu berücksichtigen, daß Korngrößeneinflüsse auf das Schwingfestigkeitsverhalten häufig durch andere, wirksamere Gefügemerkmale, z.B. Primärphasen, oder durch ausscheidungsfreie Korngrenzensäume (s. oben) überlagert werden.
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
331
Anrißbildung
Der Übergang von persistenten Gleitbändern zu kristallographisch orientierten Ermüdungsanrissen des Stadium I ist das eigentliche Kernproblem der Schwingfestigkeitsforschung seit über 50 Jahren. Die Bestimmung von Anrissen, ihre Lage, Ausdehnung und der Übergang zum Stadium II ist experimentell äußerst schwierig und nur zeitraubend zu ermitteln. Die Anrißbildung ist daher Gegenstand verschiedenster Modellvorstellungen über Bruchmechanismen, die auf Abgleitungsfolgen in konjugierten Gleitebenen an der Oberfläche beruhen, auf der Schwächung der an der Kornoberfläche austretenden Gleitebenen durch Belegung mit Atmosphärilien während der Reversionsvorgänge oder auf der Erzeugung von Spannungskonzentrationen an den Oberflächenkerben der Gleitbandintrusionen. Ermüdungsanrisse – auch als Kurzrisse bezeichnet – haben eine Ausdehnung in der Größenordnung von wenigen µm bis zu Kornabmessungen. Außerdem durchläuft der Anriß verschieden ausgedehnte innere Spannungsfelder. Es wird deutlich, daß Anrißbildung und -wachstum von den vorliegenden Gefügezuständen erheblich beeinflußt werden. Entscheidend ist zweifellos die rein mechanische Ursache des Ermüdungsanrisses, da auch im Hochvakuum kein grundsätzlich anderes Verhalten gefunden wird, obwohl bekanntlich eine deutliche Verbesserung der Schwingfestigkeit und langsameres Rißfortschrittsverhalten beobachtet wird. Einleuchtend ist auch der energetische Ansatz, der von einer kritischen Größe der inneren Energie der Gleitbänder durch Akkumulation von Kristallfehlern durch die fortdauernden reversiblen und nicht reversiblen Versetzungsbewegungen ausgeht (Venkataraman et al. 1990). So wurde durch Positronenspektroskopie festgestellt, daß im Gegensatz zu statischen Bruchflächen die Rißflanken von Schwingungsrissen eine hohe Konzentration (∼ 4 ppm) von Leerstellen-Clustern enthalten (Egger et al. 2004). Dieser Befund erklärt vielleicht auch die gelegentlich beobachtete Porenbildung im Zusammenhang mit dem Entstehen des Schwingungsanrisses (Zhai et al. 1995). Der zum Anriß führende Grenzverformungszustand in den Gleitbändern könnte auch durch einen kritischen Wert des HystereseEnergieinhalts ∆σ ·∆ε gegeben sein, und damit ein Bezug zum SWT-Schädigungsparameter hergestellt werden, s. Abschn. 6.4.4. Viele Beobachtungen haben gezeigt, daß der kristallographische Anriß typischerweise entlang der zyklisch erzeugten Gleitbänder und Subkorngrenzen verläuft. Das Beispiel in Bild 6.4.4 zeigt deutlich die kristallographische Natur des Ermüdungsanrisses im Stadium I bei einer hochfesten AlZnMgCu-Legierung auf Reinstaluminiumbasis, bei der die durch eine Kaltverformung erzeugten Gleitbänder durch die abschließende Warmaushärtung mit Ausscheidungen belegt und im Längsschliff durch Anätzen sichtbar wurden.
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6 Mechanische Eigenschaften
Bild 6.4.4 Schwingfestigkeitsbruch mit Sekundärriß entlang von Gleitbändern im Stadium I. Längsschliff mit Sekundärriß. Legierung 7075 (Basis Al 99,99), stranggepreßt, Zustand lösungsgeglüht, abgeschreckt, stabilisiert 10 min./120 °C, kaltverformt 15 % und warmausgelagert bei 120 °C bis zum Härtemaximum. (Quelle: F. Ostermann)
Neben dem kristallographischen Anriß wurde in zahlreichen Studien ein interkristalliner Anriß beobachtet, der vermutlich auf die hohe Spannungskonzentration an den Auftrefforten von PSB an den Korngrenzen, s. Bild 6.4.5, oder auf zyklische Dehnungskonzentration in ausscheidungsfreien Korngrenzensäumen zurückzuführen ist (Pedersen et al. 2004). Interkristalline Rißanteile treten häufig bei AlMgSi-Legierungen mit Si-Überschuß und mit niedrigem Dispersionsgehalt auf (Jiang et al. 2003), aber auch bei solchen Legierungen, die durch Zusammensetzung und Wärmebehandlung eine Neigung zu Spannungsrißkorrosion haben, z.B. AlZn Mg(Cu)-Legierungen nach Kalt- oder Warmaushärtung bei 120 °C. Interkristalline Rißanteile dürften demnach vor allem dann auftreten, wenn die Korngrenzen durch Ausscheidungsphasen, ausscheidungsfreie Korngrenzensäume oder durch umgebungsbedingte Wasserstoffabsorption geschwächt sind. Die Neigung zu interkristallinen Rißanteilen im Stadium I beschleunigt die Rißbildung und führt folglich zu niedrigeren Schwingfestigkeiten. Untersuchungen von Bomas (Bomas 1981) bestätigen, daß durch nicht ausreichende Abschreckung nach dem Lösungsglühen bei der Legierung EN AW-6005A die Schwingfestigkeit deutlich reduziert wird, s.a. Abschn. 3.2.5.
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
333
Bild 6.4.5 PSB-Anriß erzeugt Korngrenzenanriß in der Legierung EN AW-6063T6 nach 1,9x104 Lastwechseln. SEM Aufnahme, [n. K. Pedersen]
In technischen Aluminiumlegierungen entstehen Ermüdungsanrisse im Gefüge fast immer an Stellen örtlicher Spannungskonzentrationen durch Gefügeinhomogenitäten. Hierzu zählen bei Knetlegierungen insbesondere die Primärphasen (s. oben) (Grosskreutz et al. 1969). Bei Gußlegierungen sind die auslösenden Gefügeinhomogenitäten abhängig vom sekundären Dendritenarmabstand (DAS, kontrolliert durch die Erstarrungsgeschwindigkeit). Bei geringem DAS (< 28 µm) wirken sich in AlSi7Mg die interdendritischen, eutektischen Si-Ausscheidungen aus, bei gröberem DAS vor allem oberflächennahe Poren und Oxideinschlüsse (Zhang et al. 2000). Diese Spannungskonzentrationen lösen je nach Kornorientierung weit unterhalb der Streckgrenze Gleitvorgänge aus, die schließlich zum Anriß führen können, s. Bild 6.4.6. Die höhere Schwingfestigkeit von Legierungen,
Bild 6.4.6 Ermüdungsrißentstehung an einer Primärphase in Legierung 2024-T4. Lichtmikroskopische Aufnahme des Anrißortes (Grosskreutz et al. 1969)
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6 Mechanische Eigenschaften
die auf reiner Metallbasis mit nur geringem Verunreinigungsanteil von Si und Fe oder auf Reinstbasis (Al99,99) erschmolzen wurden, belegt diese Tatsache. Die Anrißbildung in kommerziellen Knetlegierungen ist seit langem Gegenstand kontroverser Diskussionen. Manche Autoren gehen davon aus, daß durch die Knetprozesse der Warm- und Kaltumformung bereits rißähnliche Mikrodefekte – z.B. durch Bruch von Primärphasen – existieren, die bei Schwingbeanspruchung oberhalb der „Dauerfestigkeitsgrenze“ zum sofortigen Rißfortschritt führen (Kitagawa et al. 1976, Miller 1993, Halliday et al. 2003). Solche Mikrodefekte sollten jedoch im gesamten Materialvolumen verteilt sein, wo sie bei günstiger Orientierung infolge der hohen örtlichen Spannungskonzentration ebenfalls Anrisse verursachen müßten. Andererseits ist die Rißbildung bei Aluminium und seinen Knetund Gußlegierungen immer, auch im Hochvakuum, beschränkt auf die Materialoberfläche (Bathias et al. 2001) – ein Umstand, der auf die durch die freie Oberfläche begünstigten Gleitvorgänge als notwendigen Rißbildungsprozeß hindeutet. Bei Gußwerkstoffen spielt neben der Homogenität des Gefüges die Existenz von Poren an der Oberfläche oder im oberflächennahen Bereich eine wichtige Rolle für die Schwingfestigkeit (Sonsino et al. 1991). Dabei erfolgt die Anrißbildung immer an der größten vorhandene Pore, selbst wenn im übrigen Querschnitt noch großvolumigere Poren vorhanden sein sollten (Gao et al. 2004). Die theoretischen Modellvorstellungen über die Phase der Anrißbildung werden zunehmend genauer und berücksichtigen auch verschiedene Gefügeeinflußfaktoren (Walgraef 2002, Chan 2003, Déprés et al. 2004). Es ist damit zu rechnen, daß in absehbarer Zeit auch für reale Konstruktionswerkstoffe der Rißbildungsprozeß und die anfänglichen Rißgrößen für die weitere bruchmechanische Ermittlung der Lebensdauer von Bauteilen rechnerisch zugänglich wird.
6.4.2 Zyklisches Spannungs-Dehnungsverhalten Das zyklische Spannungs-Dehnungsverhalten wird an glatten, ungekerbten Zugprobestäben ermittelt, indem die Probe mit einer konstanten ZugDruck-Dehnungsamplitude εa,t beaufschlagt und der resultierende Spannungsausschlag σa gemessen wird, s. Bild 6.4.7. Beim Durchlaufen eines Dehnungszyklus mit plastischen Dehnungsanteilen entsteht eine Spannungs-Dehnungs-Hysterese, die sich nach einer gewissen Zahl von Dehnungswechseln als Sättigungshysterese herausbil-
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
335
Bild 6.4.7 Veränderung des Spannungsausschlags, σa, bei konstanter Dehnungsamplitude εa,t mit der Zahl der Dehnungswechsel für (a) einen zyklisch verfestigenden und (b) einen zyklisch entfestigenden Werkstoff
det, s. Bild 6.4.8. Die Gesamtdehnungsamplitude εa,t setzt sich aus dem elastischen, εa,e und dem plastischen Dehnungsanteil εa,p zusammen:
εa,t = εa,e + εa,p
(6.4.1)
Der Wert A (σa/εa,t) der Sättigungshysterese ergibt ein Wertepaar der zyklischen Spannungs-Dehnungskurve.
Bild 6.4.8 Sättigungshysterese (links) und zügige und zyklische Spannungs-Dehnungskurven (rechts) eines zyklisch verfestigenden Werkstoffs
336
6 Mechanische Eigenschaften
Die zyklische Spannungs-Dehnungskurve wird mit sog. dehnungskontrollierten Versuchen ermittelt, wobei verschiedene Proben mit unterschiedlich hohen, aber konstanten Dehnungsamplituden εa,t beaufschlagt werden. Alternativ und kostengünstiger kann die gesamte zyklische Spannungs-Dehnungskurve auch durch stufenweise Änderung der Dehnungsamplitude, dem sog. Incremental Step Test, an einer einzigen Probe ermittelt werden (Landgraf et al. 1969). Die zyklische Spannungs-Dehnungskurve unterscheidet sich deutlich von der quasi-statischen SpannungsDehnungskurve des Zugversuchs, die nur mit dem ersten ¼-Zyklus der Spannungs-Dehnungs-Hysterese identisch ist. Abhängig von der stattfindenden zyklischen Verfestigung oder Entfestigung liegt die zyklische Spannungs-Dehnungskurve über oder unter der statischen SpannungsDehnungskurve. Ein Beispiel für das zyklische Verfestigungsverhalten der Blechwerkstoffe EN AW-5083-H111 und EN AW-6082-T6 ist in Bild 6.4.9 wiedergegeben. Ob eine zyklische Verfestigung oder Entfestigung vorliegt, ist abhängig von der Legierung und vom Werkstoffzustand. Nicht kaltverfestigte Aluminiumlegierungen in geglühten oder ausgehärteten Zuständen verhalten sich zyklisch verfestigend, kaltverfestigte naturharte Legierungen dagegen zyklisch entfestigend (s. oben).
Bild 6.4.9 Zyklische Spannungs-Dehnungskurven von EN AW-5083-H111 und EN AW-6082-T6. Flachproben 5 mm dick. (nach: C. Sonsino und Morgenstern, Fh.-Inst. für Betriebsfestigkeit (LBF), Darmstadt, 2003)
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
337
Beim Erreichen der Sättigungshysterese bildet sich eine stabile Versetzungsstruktur heraus, deren Dimensionen von der jeweils angelegten Amplitude abhängig sind. Typisch für alle naturharten, nicht ausgehärteten Aluminiumlegierungen ist, daß unabhängig vom Grad der vorherigen Kaltverfestigung die zyklische Spannungs-Dehnungskurve nahezu identisch ist. Dieses Verhalten wird wiederum mit der ausgeprägten Neigung zum Quergleiten von Versetzungen infolge hoher Stapelfehlerenergie des Aluminiums begründet. Mit Hilfe der Ramberg-Osgood Beziehung (Ramberg et al. 1943) kann die Spannungsdehnungskurve im Bereich geringer plastischer Dehnungen für statische (“zügige”) und zyklische Beanspruchung durch die Beziehungen 6.4.2.a bzw. 6.4.2.b abgebildet werden: zügig: ε =
σ
σ + E K
1
n
(6.4.2.a)
bzw. zyklisch: ε a,t
σa
σ = + a E K'
1
n'
(6.4.2.b)
mit n und n’ als Verfestigungsexponenten und K und K’ als Festigkeitskonstanten, jeweils für die zügige bzw. zyklische Spannungsdehnungskurve. Für die Legierungen EN AW-5083-H111 und EN AW-6082-T6 sind die zugehörigen Werte in Bild 6.4.9 eingetragen. 6.4.3 Rißfortschrittsverhalten Die Rißausbreitung unter Schwingbeanspruchung ist seit langem Gegenstand der Werkstofforschung, weil mit Hilfe der gefundenen Gesetzmäßigkeiten die Auslegung von Bauteilen und Strukturen sicherer gemacht werden kann und Inspektions- und Wartungsmaßnahmen definiert werden können. Im folgenden wird das grundsätzliche Rißfortschrittsverhalten von Aluminiumlegierungen behandelt. Einen wichtigen Einfluß auf dieses Verhalten haben jedoch die Umgebungsbedingungen, die ausführlich in Abschn. 5.4.7 – Korrosionsermüdung – beschrieben werden. Rißfortschrittskurve
Das Rißfortschrittsverhalten kann sehr gut mit den Methoden der linearelastischen Bruchmechanik beschrieben werden, da der Rißfortschritt bei
338
6 Mechanische Eigenschaften
einem Spannungsniveau geschieht, bei dem das Bauteil global nur elastisch beansprucht wird. Für die Berechnung des Rißfortschrittverhaltens werden Angaben über die Rißfortschrittsgeschwindigkeit pro Lastwechsel, da/dN, in Abhängigkeit von der Schwingbreite der Spannungsintensität ∆K benötigt, wobei a = Rißtiefe, N = Lastwechsel bedeuten. Die Schwingbreite der Spannungsintensität ∆K ist abhängig von der Schwingbreite der auf das rißbehaftete Bauteil wirkenden äußeren Spannung ∆σ = 2·σa und eine Geometriefunktion Y, die die Rißform und -lage im Bauteil berücksichtigt. Für einen elliptischen Anriß in einem unendlich ausgedehnten Körper ist Y = 1. ∆K = ∆σ ⋅ 2πa ⋅ Y
(6.4.3)
Die Geometriefunktion Y ist in einschlägigen Tabellenwerken enthalten (Rooke et al. 1976, Newman et al. 1983, Murakami 1987). Bruchmechanische Kompakt-Zugprobe, Rißverlauf und daraus abgeleitete Rißfortschrittsgeschwindigkeit, da/dN, als Funktion der Schwingbreite der Spannungsintensität, ∆K, sind in Bild 6.4.10 schematisch dargestellt.
Bild 6.4.10 Schematische Darstellung der Rißfortschrittsprüfung und der ermittelten Rißfortschrittsgeschwindigkeit, da/dN, als Funktion der Schwingbreite der Spannungsintensität, ∆K, bei konstantem R-Verhältnis
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
339
Die Rißfortschrittskurve kann man in drei Teilbereiche unterteilen. Bereich I betrifft sehr geringe Rißfortschrittsraten, deren Abhängigkeit von ∆K einem unteren Grenzwert ∆K0 (engl.: threshold stress intensity, ∆Kth) zustrebt, unterhalb dessen kein Rißfortschritt stattfindet (s. hierzu auch Abschn. Kurzrißproblematik). Im mittleren Bereich II folgt die Kurve bei doppellogarithmischer Auftragung einem linearen Verlauf, der nach P. Paris (Paris et al. 1961) mit der Beziehung Gl. (6.4.4) dargestellt werden kann: da m = A ⋅ (∆K ) dN
(6.4.4)
wobei A eine Konstante und m die Neigung der Tangente darstellt, s. Bild 6.4.10. Der Bereich III kennzeichnet den Bereich zunehmend instabilen Rißwachstums, das dem Grenzwert der bruchmechanisch definierten Rißzähigkeit Kc bzw. KIc beim abschließenden Gewaltbruch zustrebt. Der Rißfortschritt im Bereich I folgt den kristallographisch orientierten Gleitbändern korrespondierend mit den Beobachtungen zur Anrißbildung. Im Bereich II der Rißfortschrittskurve ist die Bruchfläche durch sog. Rastlinien gekennzeichnet. Das fraktographische Erscheinungsbild der Ermüdungsrißfläche im Bereich II ist beispielhaft im Bild 6.4.11 wiedergeben. Der Rißverlauf ist im allgemeinen transkristallin, kann jedoch bei entsprechend gestörter Ausbildung der Korngrenzen oder durch korrosive Einflüsse auch partiell oder vollständig interkristallinen Verlauf nehmen. Die Bruchfläche im Bereich III ist wie beim statischen Bruch durch Grübchenbildung gekennzeichnet.
Bild 6.4.11 Rastlinien im Stadium II eines Ermüdungsbruchs bei der Aluminiumlegierung EN AW-7020-T5
340
6 Mechanische Eigenschaften
Ähnlich wie bei der spannungskontrollierten Wöhlerkurve ist die Lage der Rißfortschrittskurve abhängig von dem Beanspruchungsverhältnis R = Kmin /Kmax. Die Ursache dieser Abhängigkeit ist auf den Einfluß der Rißschließung beim Entlastungszyklus zurückzuführen, der von der jeweiligen Mittelspannung abhängig ist. Führt man die experimentelle Ermittlung der Rißfortschrittskurve mit einem Oberwert der Spannungsintensität Kmax durch, wird die Rißfortschrittskurve unterhalb des entsprechenden ∆KWertes unabhängig vom R-Wert, s.a. [prEN 1999-1-3:2005]. Zur rechnerischen Vereinfachung – und um den Besonderheiten realer Rißfortschrittskurven einzelner Legierungen Rechnung zu tragen – wird die Rißfortschrittskurve in Sekantenzüge mit den Steigungen mi unterteilt. Durch abschnittweise Integration der Gl 6.4.4 über der Rißverlängerung (a0 → a) und durch Ersetzen von ∆K aus Gl. (6.4.3) kann die Lastwechselzahl N für die Rißverlängerung durch die Schwingbreite der äußeren Beanspruchung ∆σ errechnet werden. Ein Beispiel für die Wirkung des Beanspruchungsverhältnisses R auf die Rißfortschrittskurve zeigt Bild 6.4.12 für die Strangpreßlegierung EN AW-6005A-T6, wobei die Last in Strangpreßrichtung („L“) wirkt und Rißverlauf quer („T“) dazu verläuft (s.a. die Definition der Orientierungen bei Rißzähigkeitsprüfungen in Bild 2.5.4).
Bild 6.4.12 Rißfortschrittskurven für die Strangpreßlegierung EN AW-6005A-T6 (L-T) für die Spannungsverhältnisse R = 0,1 und R = 0,5. Die Datenpunkte sind dem Eurocode 9 entnommen [prEN 1999-1-3:2005]
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
341
Der Schwellwert ∆K0 ist abhängig vom Spannungsverhältnis, von den Umgebungsbedingungen und der Prüftemperatur. ∆K0 ist aber auch abhängig vom Gleitverhalten des Werkstoffs. Unlegiertes Aluminium (z.B. AA1100-0) mit ausgeprägtem Quergleitverhalten hat einen deutlich höheren ∆K0 -Wert als kaltausgehärtetes Material mit quasi-planarem Gleitverhalten (z.B. AA2024-T4) (McKittrick et al. 1981). Im Übergang zum Paris-Bereich, dem Stadium II, schneiden sich jedoch die Rißfortschrittskurven und das Material mit planarem Gleitcharakter hat gegenüber dem Material mit Quergleitverhalten ein deutlich günstigeres Rissfortschrittsverhalten. In Bild 6.4.13 sind weitere Rißfortschrittskurven verschiedener Halbzeuglegierungen dargestellt, für die die Daten ebenfalls dem Eurocode 9 entnommen wurden [prEN 1999-1-3:2005]. Die graphische Übertragung unterstellt dabei jeweils einen kontinuierlichen Kurvenzug in Analogie zur üblichen Repräsentation von Rißfortschrittsdaten. Die einzelnen Kurven unterscheiden sich hauptsächlich im Bereich geringer Rißfortschrittsgeschwindigkeiten im Schwellbereich, also im Bereich des kristallographischen Rißfortschritts. Die Abweichungen einzelner Datenpunkte von den kontinuierlichen Kurvenzügen deuten darauf hin, daß im Einzelfall werkstoffliche und versuchstechnische Einflußgrößen das tatsächliche Verhalten verändern können, z.B. durch Reaktion mit den Umgebungsbedingungen.
Bild 6.4.13 Rißfortschrittskurven von verschiedenen Halbzeuglegierungen für R = 0,1 und für zwei verschiedene Beanspruchungsrichtungen. Die Datenpunkte sind dem Eurocode 9 entnommen [prEN 1999-1-3: 2005]
342
6 Mechanische Eigenschaften
Im mittleren Bereich der Rißfortschrittskurve hat sich bei Vergleichen verschiedener Werkstoffarten herausgestellt, daß die Abhängigkeit da/dN von ∆K vor allem vom Elastizitätsmodul des Werkstoffs beeinflußt wird (Schwalbe 1980). Im Vergleich zu Stählen zeigt Aluminium wegen des geringeren E-Moduls demnach ein schnelleres Rißwachstum bei vergleichbaren Spannungsintensitäten ∆K. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Aluminiumkomponenten gegenüber vergleichbaren Stahlkomponenten eine geringere Lebensdauer durch das Rißwachstum erfahren müssen. Da die Bauteile zunächst nach der geringeren Steifigkeit und den niedrigeren schwingfestigkeitsbedingten Festigkeitswerten dimensioniert werden müssen, sind die den Rißfortschritt bestimmenden Spannungsintensitäten ebenfalls geringer, was im Einzelfall zu niedrigeren Rißfortschrittsgeschwindigkeiten des Aluminiumbauteils gegenüber dem Stahlteil führen kann. Metallurgische Aspekte des Rißfortschritts
Beim Aufweiten eines Risses im Werkstoff bildet sich durch hohe Spannungskonzentration im Rißgrund eine plastische Zone aus. Die Ausdehnung rp der plastischen Zone ist abhängig von dem im Rißgrund herrschenden Dehnungs- und Spannungszustand, der Spannungsintensität ∆K und der lokalen Fließspannung und reicht etwa bis zu dem Ort, an dem der Spannungsabfall die zyklische Dehngrenze Rp0,2’ unterschreitet. Nach (Knott 1973) kann die Ausdehnung rp der zyklisch erzeugten plastischen Zone unter ebenem Dehnungszustand an der Rißspitze ausgedrückt werden durch: ∆K r p = 0,033 R p0,2 '
2
(6.4.5)
Die Art der Gleitvorgänge, die zur Ausbildung der plastischen Zone führen, hat ähnlich wie im Stadium I (Anrißbildung) einen Einfluß auf den Rißfortschritt. Während planares Gleitverhalten die Rißbildung beschleunigt (s. oben), wird im Gegensatz dazu der Rißfortschritt verlangsamt. Dieses Verhalten wird besonders bei Versuchsdurchführung im Vakuum deutlich, weil – legierungsabhängig – der Umgebungseinfluß auf das Rißfortschrittsverhalten den eigentlichen Bruchvorgang überlagert. E.A. Starke Jr. u. Mitarb. untersuchten teilausgehärtetes und überaltertes Plattenmaterial der Legierung AA7475 mit zwei verschiedenen Korngrößen (18 µm und 80 µm) unter Laborluft und im Vakuum, s. Bild 6.4.14 (Carter et al. 1984). Dabei zeigte das teilausgehärtete Material mit grobem, planarem Gleitcharakter günstigeres Rißfortschrittsverhalten als das überal-
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
343
terte Material mit feinerem, homogenerem Quergleitcharakter. Besonders deutlich wirkt sich der mikrostrukturelle Unterschied zwischen Unter- und Überalterung im Schwellwertbereich der Spannungsintensität (da/dN zwischen 10-11 und 10-8 m/Zyklus) aus, wie auch Versuche an Luft und im Vakuum an der Legierung AA7049 bestätigten (Fonte et al. 2001). Darüber hinaus verhält sich das grobkörnige Material günstiger als das feinkörnige, vor allem im teilausgehärteten Zustand. Als Ursache wird die stärkere Reversibilität der Versetzungsbewegung in Legierungen mit planarem Gleitverhalten angesehen, wodurch Versetzungsaufstauungen an Hindernissen in der plastischen Zone beim Entlastungszyklus eher aufgelöst werden als in Legierungen mit ausgesprochenem Quergleitverhalten (Starke et al. 1989). Man nimmt an, daß bei feinkörnigem Material durch die Blockade der Korngrenzen der planare Gleitcharakter innerhalb der plastischen Zone sich nicht voll auswirken kann (Lindigkeit et al. 1979), wogegen bei dem grobkörnigen Material in Bild 6.4.14 die Gleitlängen etwa der vier- bis fünffachen Ausdehnung der plastischen Zone entsprechen. Das Verhältnis von Ausdehnung der zyklischen plastischen Zone zur Korngröße ist auch bei anderen Werkstoffen mit planarem Gleitcharakter ein deutlicher Einflußfaktor auf das Rißfortschrittsverhalten (Hornbogen et al. 1976).
Bild 6.4.14 Rißfortschrittsverhalten der Legierung 7475 in teilausgehärtetem und überaltertem Zustand mit zwei unterschiedlichen Korngrößen in Laborluft und im Vakuum mit R = 0,1, nach E.A. Starke Jr. et al. (Carter et al. 1984)
344
6 Mechanische Eigenschaften
Al-Si-Mg-Gußlegierungen verhalten sich grundsätzlich ähnlich wie Knetlegierungen, allerdings spielt dabei die Homogenität des Gefüges eine überragende Rolle. Grobe DAS und Si-Partikel bewirken infolge der Rißschließeffekte höhere Schwellwerte ∆Kth für Langrisse und geringere Rißfortschrittsgeschwindigkeit da/dN im niedrigen ∆K-Bereich (Lados et al. 2006). Kurzrißproblematik
Das Wachsen eines Ermüdungsanrisses im Stadium I und darüber hinaus ist abhängig vom Überschreiten eines Schwellwertes der Spannungsintensität ∆K an der Rißfront. Die physikalische Vorstellung dabei ist, daß die plastischen Gleitvorgänge vor der Rißfront intensiv genug sind, sich über die blockierenden Wirkungen von Korngrenzen, Phasen, etc. hinaus auszudehnen. Der Schwellwert der Spannungsintensität für den Rißfortschritt im Übergang von Stadium I zu Stadium II ist jedoch nicht identisch mit ∆K0 – dem sog. Threshold Stress Intensity Wert, ∆Kth –, der mit Hilfe von Rißfortschrittsmessungen von Langrissen im Stadium II ermittelt wird. Im Gegensatz zum Rißfortschrittsverhalten von Langrissen zeichnen sich Kurzrisse dadurch aus, daß sie anfänglich eine hohe Wachstumsgeschwindigkeit haben, die mit zunehmender Spannungsintensität ∆K abnimmt, zum Stillstand kommt oder ein Minimum durchläuft und anschließend in das „normale“ Verhalten von Langrissen übergeht. Aus diesem ungewöhnlichen Verhalten und der Beobachtung, daß Kurzrisse sich wie kurze, von Kerben ausgehende Risse verhalten, wurde geschlossen, daß Kurzrisse in einem lokalen inneren Spannungsfeld wachsen, das sich dem durch äußere Beanspruchung erzeugten Spannungsfeld überlagert. Die Quelle dieses inneren Spannungsfeldes können mikrostrukturelle Kerben oder Versetzungsaufstauungen sein sowie die Spannungskonzentration durch Extrusionen und Intrusionen von PSB an einer ungekerbten Oberfläche. Wächst der Anriß über das innere Spannungsfeld hinaus, wird die äußere Beanspruchung für den weiteren Rißverlauf maßgebend. Als grundlegendes Werkstoffverhalten wird jedoch das Rißfortschrittsverhalten von Langrissen angesehen. Sind Größe und Verlauf der inneren Spannungsfelder bekannt, läßt sich durch Überlagerung mit der äußeren Beanspruchung das Rißfortschrittsverhalten der Kurzrisse aus dem Langrißverhalten ermitteln (Sadananda et al. 1997). 6.4.4 Dehnungs-Wöhlerkurve (ε/N-Kurve) Die Abhängigkeit der Lebensdauer N von der Dehnungsamplitute εa,t wird als dehnungskontrollierte Wöhlerkurve bzw. als Dehnungswöhlerlinie be-
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
345
zeichnet und – wie das zyklische Spannungs-Dehnungs-Diagramm – an ungekerbten Proben, die mit konstanten Dehnungsamplituden beaufschlagt werden bei R = εa,t,min /εa,t,max = -1 ermittelt. Zur besseren analytischen Aussagefähigkeit der Wöhlerkurven sollte der einzelne Versuch am Ende der Anrißphase abgebrochen werden. Dehnungsgesteuerte Wöhlerkurven werden vor allem bei Lebensdauerberechnungen im Kurzzeitfestigkeitsbereich ( 105 wird der plastische Dehnungsanteil εa,p an der Dehnungsamplitude εa,t so gering, daß die (logarithmisch) lineare Abhängigkeit der Anrißlastwechselzahl von der elastischen Dehnungsamplitude εa,e maßgebend ist. In diesem Lastwechselbereich sind Dehnungs- und Spannungswöhlerlinie (S/N-Kurve) identisch, d.h. die Neigung der elastischen Dehnungswöhlergeraden b und der Spannungswöhlerlinie 1/k sind identisch:
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
b=
1 k
347
(6.4.11)
Mit diesen Gesetzmäßigkeiten der Dehnungswöhlerkurve (ε/N-Kurve) war die Hoffnung verbunden, eine durchgängige Darstellung der (Kurzzeit-) Ermüdung ausgehend vom Zugversuch bis hin zur S/N-Kurve zu erreichen. Der Vorzug der Dehnungswöhlerkurve ist zudem die scheinbar geringere Streuung der Einzelwerte gegenüber der S/N-Kurve. Die ε/NKurven von verschiedenen Knet- und Gußlegierungen in Bild 6.4.16 scheinen einen Bezug zur „wahren“ Dehnung εf (= ϕbr) im Zugversuch zu bestätigen. Im Kurzzeitfestigkeitsbereich sind die duktileren Werkstoffe den weniger duktilen Werkstoffen überlegen. In Bild 6.4.16 ist aber auch zu erkennen, daß im höheren Zeitfestigkeitsbereich das ε/N-Verhalten der kalt- und warmausgehärteten (T4, T6) Werkstoffe günstiger als das von nicht aushärtbaren Werkstoffen ist. Trotz des quasi-planaren Gleitverhaltens, das die Anrißbildung beschleunigen soll, verhalten sich diese Legierungen im hohen Zeitfestigkeitsbereich günstiger, wenn auch nicht im gleichen Verhältnis der statischen Zugfestigkeiten. Die Auswertungen der ε/N-Kurven nach Coffin-Manson für eine Reihe von Knet- und Gußlegierungen enthält Tabelle 6.4.1. Weitere Daten für die zyklische Spannungs-Dehnungskurve und zugehörige ε/N-Kurven findet man in der einschlägigen Literatur, z.B. in (Boller et al. 1987).
Bild 6.4.16 Dehnungswöhlerlinien für ausgewählte Knet- und Gußwerkstoffe nach Literaturangaben, s. Tabelle 6.4.1
348
6 Mechanische Eigenschaften
Tabelle 6.4.1 Werkstoffkennwerte für die zyklische Spannungs-Dehnungskurve und Dehnungswöhlerkurve verschiedener Legierungen aus Literaturangaben und Neuauswertung1) Werk- Zustand Rp0,2 Rm stoff [Mpa] [Mpa]
ϕbr
Rp0,2' [Mpa]
n' (+)
E K' σf' [Mpa] [Mpa] [Mpa]
εf '
b (-)
c (-)
Lit.
0,092
0,613
[5]
2)
1100
H12
97
110
2,09
69
0,159 69050 184
159 0,467
2024
T4
303
476
0,43
421
0,120 70327 888
631
2024
T4
280
455
0,27
430
0,106 76000 831
724 0,257
0,098
0,901
[7]
5083
H111
175
303
0,39
270 0,0562 74000 392
689
6,28
0,120
1,14
[1]
0,33
(222) 0,129 70500 494
---
(0,109) (0,910) [6]
5083
H111
---
---
451 0,490
0,143
1,110
[3]
6082
T6
303
308 (0,53)
317 0,0351 70000 394
994
199
0,159
1,644
[2]
6082
T6
310
355
0,43
305
0,057 75000 435
489
0,43
0,067
0,78
[4]
6082
T6
348
383
0,61
359
0,046 74550 478
554 5,375
0,068
1,208
[5]
7020
T6
---
---
0,23
(348) 0,087 69000 598
545 0,347
0,129
1,481
[3]
7075
T6
469
579
0,41
535
7075
0,097 71016 978
745
---
(0,115) (1,185) [6]
T6
498
576
0,12
494
0,07
71900 787
709
0,12
0,056
0,75
42100 T6
227
265
0,04
233
0,072 75000 364
278
0,04
0,07
0,46
[4]
44100 F
104
168
0,13
122
0,120 76000 257
228
0,13
0,10
0,48
[4]
Aluminiumgruppe
---
---
---
---
0,09
1,9x Rm
0,28
0,11
0,66
[8]
1) 2)
---
---
[8]
Daten in ( ) neu ausgewertet. Datenquelle: ([1] Fh.-Inst. LBF 1997; [2] Fh.-Inst. LBF 2002; [3] Kosteas et al. 1989); [4] Grubisic et al. 1986; [5] Boller et al.; [6] Endo et al. 1969; [7] Wellinger et al. 1971; [8] Meggiolaro et al. 2004)
Die Ähnlichkeit der ε/N-Kurven verschiedenster Metalle und Legierungen hat dazu geführt, einheitliche, für alle Werkstoffe bzw. Werkstoffgruppen gültige Coffin-Manson-Parameter b und c zu definieren, um so das Verhalten unter zyklischer Dehnungsbeanspruchung vorhersagen zu können. Gleichzeitig wurden die Parameter σ’f und ε’f durch statistische Auswertungen mit der Zugfestigkeit Rm bzw. der Einschnürung ϕbr in Beziehung gesetzt, manchmal auch für ε’f ein einheitlicher Wert festgelegt. In einer neueren Bewertung von 724 Datenreihen von Stählen, 81 von Aluminium- und 15 von Titanlegierungen und der verschiedenen Schätzansätze (Meggiolaro et al. 2004) wurden mit Hilfe der Median Methode (statistische Mittelwertbildung) die Eckwerte der Coffin-Manson-Parameter neu angepaßt, s. Tabelle 6.4.1. Darüber hinaus wurden für die S/NKurve die Werte bei 103 und 105 Lastwechsel für die Gruppe der Aluminiumlegierungen mit 0,82·Rm bzw. 0,45·Rm ermittelt. Derartige verallgemeinernde Festlegungen sind nützlich für die erste Abschätzung des Schwingfestigkeitsverhaltens von Komponenten, sollten aber nicht für endgültige konstruktive Berechnungen zugrunde gelegt wer-
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
349
den, da sie im Zweifelsfall zu nicht-konservativen oder auch zu übermäßig konservativen Ergebnissen führen können. Darüber hinaus haben solche einheitlichen Festlegungen den Mangel, daß sie keine Beurteilung erlauben, wie metallurgische Einflußgrößen, z.B. Reinheitsgrad, Ausscheidungszustand (T4, T6, T7, etc) und Porosität, das Schwingfestigkeitsverhalten beeinflussen. Mit Hilfe der zyklischen Spannungs-Dehnungskurve und der Dehnungswöhlerlinie wurde ein sog. Schadensparameter definiert, der insbesondere für die Abschätzung des Wöhlerverhaltens von gekerbten Proben und Bauteilen anhand der ε/N-Wöhlerkurve von ungekerbten Proben nützlich ist. Der Schadensparameter wurde ursprünglich von Topper, Wetzel und Morrow vorgeschlagen (Topper et al. 1969), obwohl heute die Bezeichnung des Schadensparameters PSWT nach Smith, Watson und Topper (Smith et al. 1970) üblich ist. Der Schadensparameter PSWT basiert auf der Neuber-Regel für die nichtlineare Spannungs- und Dehnungsverteilung in gekerbten Querschnitten und ist im Abschn. 6.4.7 „Einfluß von Kerben auf die Schwingfestigkeit“ näher erläutert. Der Parameter PSWT ist definiert als der geometrische Mittelwert aus Spannungs- und Dehnungsamplitude und Elastizitätsmodul: PSWT = (σ a ⋅ ε a,t ⋅ E ) 1 / 2 [MPa]
(6.4.12)
Bild 6.4.17 Schadensparameter PSWT ermittelt an ungekerbten Zug-Druckproben bei R = -1 für verschiedene Aluminiumlegierungen. Die neueren Daten für EN AW-6082 und 5083 beziehen sich auf 5% Spannungsabfall als Abschaltkriterium und entsprechen etwa der Anrißlebensdauer NA. Für die anderen Daten gilt die Bruchlastwechselzahl
350
6 Mechanische Eigenschaften
Die Abhängigkeit der Lastwechselzahl NA von der Höhe des Schadensparameters PSWT folgt einem ähnlichen Verlauf wie die ε/N-Kurve. Beispiele für einige Aluminiumknetlegierungen enthält Bild 6.4.17. Die Konstruktionslegierungen EN AW-6082-T6 und EN AW-5083-H111 haben einen deutlich günstigeren Schadensparameter bei mittleren und hohen Lastwechseln als das sehr duktile, niedrig legierte und kaltverfestigte AA1100H12 (Al99,0Cu). 6.4.5 Spannungs-Wöhlerkurve (S/N-Kurve)
Die Abhängigkeit der Anrißlastspielzahl NA von der Spannungsamplitude, σa (oder von der Schwingbreite der Lastspannungen, ∆σ = 2⋅σa ), wird als Spannungs-Wöhlerkurve (S/N-Kurve) bezeichnet. Es gelten die Begriffsdefinitionen lt. Bild 6.4.18. Es ist üblich, die gesamte Wöhlerkurve in drei Teilbereiche einzuteilen: • Kurzzeitfestigkeit (bis 104 LW) • Zeitfestigkeit (104 bis 106 LW • Langzeitfestigkeit (Dauerfestigkeit, über 5·106 LW). Bei doppellogarithmischer Koordinateneinteilung wird die Wöhlerkurve im Bereich der Zeitfestigkeit annähernd geradlinig, was die rechnerische Behandlung erleichtert. Die Zeitfestigkeitsgerade ist bei gegebenem Spannungsverhältnis R durch die Steigung 1/k und durch einen charakteristischen Schwingfestigkeitswert, ∆σC / NC , eindeutig gekennzeichnet. Die Zeitfestigkeitsgerade läßt sich demnach durch folgende Gleichung darstellen: ∆σ C N i = N C ⋅ ∆σ i
k
(6.4.13)
Für den rechnerischen Nachweis geht man davon aus, daß für den Fall konstanter Lastamplituden ab einer Lastspielzahl von 5x106 LW die Langzeitfestigkeit („Dauerfestigkeit“) erreicht ist, obwohl Aluminiumlegierungen im allgemeinen keine ausgeprägte Dauerfestigkeitsgrenze haben (Ausnahme: verfestigte AlMg-Legierungen mit ausgeprägtem Portevin Le Chatelier Effekt). Nach Eurocode EC9 [prEN 1999, 1-3:2004] gilt die Dauerfestigkeitsgrenze ab 5·106 LW definitionsgemäß für konstante Lastamplituden. Für Betriebsfestigkeitsrechungen mit unterschiedlichen Lastamplituden gilt die Dauerfestigkeitsgrenze erst ab 1·108 LW, wobei allerdings die Zeitfestigkeitsgerade mit einer geringeren Neigung (k2 = k1 + 2)
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
351
zwischen 5·106 LW und 1·108 LW verlängert wird. Auf diese Weise werden auch geringere Spannungsamplituden zur genaueren Lebensdauerbestimmung im Rahmen von Betriebsfestigkeitsrechnungen herangezogen. Bei Verwendung der in Bild 6.4.18 dargestellten Definitionen und der doppelt-logarithmischen Auftragungsart der Wöhlerlinie spricht man auch von normierter Wöhlerkurve, die als Basis für die Aufnahme in Berechnungsregelwerke vereinbart worden ist.
Bild 6.4.18 Kenngrößen der Schwingfestigkeit in der Darstellung als SpannungsWöhlerkurve
Generell ist die experimentelle Ermittlung der Schwingfestigkeitsdaten von spannungsgesteuerten Wöhlerversuchen mit erheblichen Streuungen behaftet. Bild 6.4.19 zeigt ein Beispiel für die Streuung der Lastspielzahlen N bei gegebener Schwingbreite ∆σ für Konstruktionslegierungen der Gruppe Al-Mg-Si-T6 (6xxx). Außer den natürlichen Streuungen der Werte einzelner Versuchreihen wirken sich hierbei metallurgische Unterschiede, Probengröße, Oberflächenbeschaffenheit und auch Versuchsdurchführung (Anriß oder Bruch als Abschaltkriterium) aus. Voraussetzung für eine zuverlässige Berechnung der Lebensdauer anhand einer Wöhlerkurve ist deshalb, daß aufgrund einer genügend großen Probenzahl einer Versuchsserie eine statistische Auswertung erfolgen konnte, um für verschiedene Lasthorizonte nicht nur die mittlere Überlebenswahrscheinlichkeit (Pü = 50%), sondern auch eine sichere Grenze der Überlebenswahrscheinlichkeit (z.B. Pü = 97,7% entsprechend dem Mittelwert abzüglich der 2-fachen Standardabweichung, x -2s) zu ermitteln.
352
6 Mechanische Eigenschaften
Bild 6.4.19 Streubereich der S/N-Wöhlerdaten von 279 ungekerbten Axialproben der Gruppe AlMgSi im Zustand T6 bei R = 0, nach einer Literaturdatenauswertung von A. Hobbacher (persönl. Mitteilung). Eingezeichnet sind die S/N-Kurve und die charakteristischen Daten des EC9 für die Gruppe der 5xxx und 6xxx Legierungen unter Berücksichtigung des fatigue enhancement factors fR) = 1,2 (s. Kap. 20)
Bei der rechnerischen Verwendung der Daten ist darauf zu achten, ob die angegebenen Lastspielzahlen sich auf einen Anriß oder auf den Bruch der Probe beziehen. Im Bereich der Kurzzeitfestigkeit spielt der Rißfortschritt vom Anriß zum Bruch der Probe eine wesentliche Rolle im Verhältnis zum Langzeitfestigkeitsbereich, wo Anriß- und Bruch-Wöhlerlinien zusammenlaufen. Ältere Versuchsreihen mit den üblichen Kleinproben beruhen meistens auf dem Bruchkriterium. Neuere Versuchsreihen weisen dagegen manchmal sowohl die Anrißkurve als auch die Bruchkurve aus. Die Neigung der Anriß-Wöhlerlinie ist geringer als die der Bruch-Wöhlerlinie (kAnriß > kBruch). Typische Werte für ungekerbte Proben aus Strangpreßlegierungen 6xxx sind für die Bruch-Wöhlerlinie k = -7 und für die Anriß-Wöhlerlinie k = -8 bis -9. Bild 6.4.20 enthält aus neueren Arbeiten Wöhlerdaten für die Legierungen EN AW-6082-T6 und EN AW-5083-H111, und zwar für ungekerbte und scharf gekerbte Proben (Morgenstern u. Kotowski 2003). Beide Legierungen haben ungefähr die gleiche Zugfestigkeit Rm, unterscheiden sich jedoch erheblich in der Dehngrenze Rp0,2. Gegenüber der ursprüngli-
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
353
chen Darstellung (punktierte Kurven) wurden für die Wöhlerkurven in Bild 6.4.20 analog zum EC9 der Knickpunkt der Kurven bei ND = 5·106 LW sowie für die ungekerbten Proben die Steigung k = -7 gewählt. Für die scharf gekerbten Proben der Legierung EN AW-6082-T6 lagen sowohl Daten über die Bruch-Lastspielzahl als auch über die Anriß-Schwingspielzahl vor. Die Steigung der Anrißwöhlerlinie ist mit k* = -5,0 entsprechend niedriger als die der Zeitfestigkeitsgeraden für Probenbruch mit k = -3,2.
Bild 6.4.20 Beispiel für normierte Wöhlerkurven für die Aluminium-Konstruktionswerkstoffe EN AW-6082-T6 und EN AW-5083-H111. Blechdicke 5 mm, Prüffrequenz f = 30 s-1 (Datenquelle: Morgensten und Kotowski 2003). Punktierte Linien entsprechen der Datenquelle
6.4.6 Langzeitfestigkeit („Dauerfestigkeit“) von Aluminiumwerkstoffen
Abgesehen vom Flugzeugbau wurden Maschinen- und Ingenieurbaukonstruktionen früher dauerfest und weitgehend unter dem Gesichtspunkt vorwiegend ruhender Belastung ausgelegt. Die in Deutschland maßgebenden Regelwerke (DIN 4113, DVS 1608 u.a.) gehen deshalb von vorwiegend ruhenden Lasten aus und berücksichtigen variable oder zeitabhängige
354
6 Mechanische Eigenschaften
Zusatzbelastungen in den Kennwerten für die zulässigen Beanspruchungen. Der Nachweis ausreichender Langzeitfestigkeit, insbesondere von Schweißkonstruktionen, wird erbracht durch einen Vergleich der Nennspannungen2 in gefährdeten Bereichen mit den Dauerfestigkeitswerten, σD bei 107 Lastwechseln, vermindert um Sicherheitsbeiwerte (in der Regel S = 1,5). Die Langzeitfestigkeit („Dauerfestigkeit“), σD, unterstellt unbegrenzt ertragbare Lastwechsel bei Beanspruchungsamplituden bis zur Höhe von σD. Die ursprüngliche Vorstellung, daß bei Beanspruchung unterhalb der „Dauerfestigkeit“ keine Schädigung des Werkstoffs entsteht, wird heute nicht mehr aufrechterhalten. Man geht vielmehr davon aus, daß bei solchen Beanspruchungen entstandene Risse oder rißähnliche Gefügedefekte nicht bis zum vollständigen Bruch fortschreiten, sondern durch Korngrenzen oder andere Gefügeelemente blockiert werden. Der Begriff „Dauerfestigkeit“ ist historisch geprägt durch das Verhalten der ferritischen Baustähle, deren Schwingfestigkeit bei Lastspielzahlen über etwa 1x106 hinaus konstant ist, d.h. eine entsprechend hohe Lastamplitude dauerhaft ertragen werden kann. Heute weiß man, daß dieses Verhalten eher die Ausnahme als die Regel ist und daß die Schwingfestigkeit der Konstruktionswerkstoffe (auch der Stähle) allgemein bei Lastspielzahlen zwischen 106 und 109 weiter abnimmt (Bathias 1999, Bathias et al. 2001). Auch aus diesen Gründen findet die Lebensdauerabschätzung mit den Methoden der Betriebsfestigkeit zunehmende Anwendung. Die Langzeitfestigkeit („Dauerfestigkeit“) von Aluminium-Konstruktionslegierungen (definiert z.B. als Schwingfestigkeit bei 107 Lastwechseln) nimmt mit steigender statischer Festigkeit zu (~ 0,4xRp0,2), gleichzeitig jedoch auch die Kerbempfindlichkeit, wie im Bild 6.4.21 dargestellt ist. Eine neuere Datenanalyse findet man in der FKM-Richtlinie von 1999 (Hänel et al. 1999) mit methodisch geschätzten Wechsel- und Schwellfestigkeiten unter Zug-Druck-, Biege- und Scherbeanspruchung für alle genormten Aluminiumlegierungen. Gleichermaßen gültig für Knet- und Gußlegierungen wird die Wechselfestigkeit bei 1·106 LW aus der genormten MindestZugfestigkeit Rm durch einen konstanten „Wechselfestigkeitsfaktor“ fw,σ = 0,30 errechnet, d.h. σw,z-d = 0,30·Rm , der einer Überlebenswahrscheinlichkeit von Pü = 97,5% entsprechen soll. Dabei wird als normierte Wöhlerlinie eine einheitliche Steigung der Zeitfestigkeitsgeraden von k = 5, sowie 2
Nennspannungen sind die sich aus den äußeren Kräften und Momenten ergebenden nominellen Spannungen im gefährdeten Querschnitt des Bauteils ohne Berücksichtigung von spannungserhöhenden Singularitäten, wie Kerben, Schweißnähten, etc.. Der Nennspannungsnachweis verwendet „zulässige Spannungen“ für Kerbfälle, die in entsprechenden Regelwerken oder Richtlinien als Kerbfallklassen (sog. FAT-Klassen) angegeben sind, s. Kap. 20.
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
355
eine Steigung im „Dauerfestigkeitsbereich“ zwischen 1·106 und 1·108 von k = 15 angenommen.
Bild 6.4.21 Abhängigkeit zwischen Dauerfestigkeit und statischer Festigkeit von verschiedenen Aluminiumlegierungen geordnet nach zunehmender 0,2-Dehngrenze
Im Vergleich zu Aluminiumwerkstoffen ist bei den Baustählen das Verhältnis von Wechselfestigkeit zur Zugfestigkeit deutlich höher, d.h. nach FKM-Richtlinie σw,z-d = 0,45·Rm. Dieser Umstand bedeutet jedoch nicht, daß der erreichbare Leichtbaugrad mit Aluminiumwerkstoffen zu Lasten der Ermüdungsfestigkeit der Konstruktionen geht. Dies hängt ursächlich damit zusammen, daß Aluminiumkonstruktionen überwiegend nach Steifigkeitsgesichtspunkten ausgelegt werden müssen, infolge dessen die Lastspannungen geringer sind. 6.4.7 Mittelspannungsempfindlichkeit
Eine Besonderheit der Aluminiumwerkstoffe ist die deutliche Abhängigkeit der ertragbaren Schwingungsamplituden von der Mittelspannung. Diese Mittelspannungsempfindlichkeit, M, wird definiert als Differenz zwischen den ertragbaren Spannungsamplituden bei wechselnder und schwellender Belastung im Verhältnis zur Mittelspannung bei Schwellbelastung:
356
M=
6 Mechanische Eigenschaften
σ a ( R =−1) − σ a ( R =0 ) σ m ( R =0 )
(6.4.14)
wobei σa = Spannungsamplitude, σm = Mittelspannung und R = Spannungsverhältnis σu/σo Aus dem Spannungsverhältnis R und der Spannungsamplitude σa errechnet sich die Mittelspannung σm ; sie nimmt mit steigendem R-Wert zu. Die Mittelspannungsempfindlichkeit steigt mit zunehmender Festigkeit des Werkstoffs. Trägt man die Mittelspannungsempfindlichkeit gegenüber der Zugfestigkeit der Werkstoffe auf, erkennt man eine deutlich höhere Mittelspannungsempfindlichkeit der Aluminiumwerkstoffe gegenüber den Stahlwerkstoffen, s. Bild 6.4.22. Nach W. Schütz ist die Streubreite von M etwa ±15% im Lastspielbereich zwischen 105 und 106 und bis zu einem Kerbspannungsfaktor von Kt = 5,5 unabhängig von der Kerbschärfe. Nach neueren Untersuchungen an MIG-Schweißverbindungen der Legierungen AlSi1MgMn-T6 und AlMg4,5Mn0,7-H111 (Morgenstern und Kotowski 2003) ist die Mittelspannungsempfindlichkeit des Grundwerkstoffs, der WEZ und des Schweißgutes unabhängig von der Lastspielzahl (zwischen N = 104 und 107 LW) und von der Kerbschärfe (zwischen Kt = 1,0 und 11,2).
Bild 6.4.22 Abhängigkeit der Mittelspannungsempfindlichkeit von der Festigkeit für verschiedene metallische Werkstoffe (n. W. Schütz und C. Sonsino, Fh.-Inst. für Betriebsfestigkeit, LBF, Darmstadt)
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
357
Mittelspannungsunempfindlichkeit, d.h. M = 0, würde bedeuten, daß die ertragbare Spannungsamplitude σa (bei gegebener Bruchlastwechselzahl) unabhängig von der Mittelspannung σm bzw. unabhängig vom R-Wert ist. Welchen Einfluß die Mittelspannungsempfindlichkeit auf die Lebensdauer bei relativ eigenspannungsarmen geschweißten Kleinproben haben kann, zeigt das Bild 6.4.23. Der Einfluß der Mittelspannung kann die Lebensdauer um mehr als eine Größenordnung verändern. Im vorliegenden Beispiel wird dieser Effekt unterhalb von R = 0,25 besonders deutlich.
Bild 6.4.23 Einfluß der Mittelspannung auf die Bruchlastspielzahlen von Stumpfschweißverbindungen. Legierungen: EN AW-5251, EN AW-5083 und EN AW6082. Datenbasis: BS CP 118
Beim rechnerischen Nachweis der Schwingfestigkeit einer AluminiumKonstruktion muß diese R-Abhängigkeit berücksichtigt werden, da eine unsachgemäße Wahl der Schwingfestigkeitswerte unsichere oder überkonservative Konstruktionsauslegung ergeben würde. Bei kompletten Datensätzen in Form von Haigh-, Smith-, Goodman- oder Moore-Kommers-Jasper (MKJ)-Diagrammen ist dies implizit enthalten. Ein Beispiel für den Strangpreßwerkstoff 6005A gibt Bild 6.4.24. In vielen Fällen liegen Schwingfestigkeitswerte bei reiner Wechselbeanspruchung, also bei R = -1, vor. Die R-unabhängige Übertragung dieser Ergebnisse auf Situationen mit positiver Mittelspannung kann unkonservativ sein, wenn die Probekörper für die Wöhlerversuche relativ eigenspannungsfrei waren. Diese Situation ist vielfach bei kleinen und dünnwandigen Prüfkörpern gegeben. Andererseits möchte man die bei Schwellbeanspruchung (R = 0) ermittelten Werte auf andere niedrigere
358
6 Mechanische Eigenschaften
Bild 6.4.24 MKJ-Diagramm für die Legierung EN AW-6005A-T6. Kurve A: Grundwerkstoff bis 10 mm Dicke; Kurve D: MIG-Stumpfschweißnaht, nicht abgearbeitet, ohne Wärmebehandlung nach dem Schweißen. Kurven beruhen auf Mittelwerten (Pü = 50 %)
Spannungsverhältnisse übertragen können, ohne eine zu konservative Auslegung zu riskieren. Näherungswerte erhält man durch Ausnutzen der geometrischen Beziehungen im Moore-Kommers-Jasper-Diagramm (MKJ), s. Bild 6.4.25. Der „virtuelle“ R-Wert, Rv, ist definitionsgemäß der Kehrwert der Mittelspannungsempfindlichkeit, M. Die strichpunktierte Linie
Bild 6.4.25 Geometrische Beziehungen im MKJ-Diagramm
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
359
gibt näherungsweise die Höhe der ertragbaren Spannungsamplitude bei unterschiedlichen R-Werten an; ihre Neigung kennzeichnet die Mittelspannungsempfindlichkeit M. Diese Darstellung hat Gültigkeit nicht nur für Grundwerkstoffwerte, sondern auch für verschiedenartige Schweißverbindungen, s. Bild 20.3.13, und schließt implizit eine weitgehende Unabhängigkeit der Mittelspannungsempfindlichkeit M vom Spannungsverhältnis R ein. 6.4.8 Einfluß von Kerben auf die Schwingfestigkeit
Kerben verursachen örtliche Spannungserhöhungen und verringern dadurch die Schwingfestigkeit des Bauteils. Die Formzahl Kt 3) einer Kerbe gibt die mit Hilfe der Elastizitätstheorie errechnete, gegenüber der Nennspannung σnenn erhöhte Kerbspannung σmax im Kerbgrund an:
σmax = Kt · σnenn
(6.4.15)
Selbst bei elastischer Nennspannung im Kerbquerschnitt wird bei duktilen Werkstoffen und schärferen Kerben die Fließgrenze im Kerbgrund überschritten, wodurch durch Plastifizierung ein Spannungsabbau von σmax auf σa stattfindet, s. Bild 6.4.26. Im Falle einer Wechselbeanspruchung entspricht σa der Spannungsamplitude und εa,t der Gesamtdehnungsamplitude im Kerbgrund. Als Fließkurve des Werkstoffs muß dann die zyklische Spannungs-Dehnungskurve zugrunde gelegt werden (Diagramm rechts im Bild 6.4.26). Die Abminderung der theoretischen Kerbspannung durch Plastifizierung wird durch die Kerbwirkungszahl Kf beschrieben, die durch das Verhältnis der Dauerfestigkeit des ungekerbten Stabes, σD, zur Dauerfestigkeit des gekerbten Stabes, σDK, definiert ist: Kf =
σD , d.h. Kf < Kt σ DK
(6.4.16)
Die Kerbwirkungszahl Kf ist von der Formzahl Kt abhängig. Bild 6.4.27 enthält eine empirisch ermittelte Referenzkurve, die auf Literaturangaben für einige mittelfeste Konstruktionslegierungen beruht. Mit Hilfe der Referenzkurve kann für eine gegebene Formzahl Kt ein Näherungswert für die Kerbwirkungszahl Kf entnommen werden. Der Streubereich zeigt allerdings an, daß Kf gewissen werkstofflichen Einflußgrößen unterworfen ist, die vermutlich mit dem Gefügezustand (Aushärtungsgrad, Reinheitsgrad, 3
Für die Bezeichnung der Kerbformzahl wird im folgenden die international übliche Bezeichnung Kt anstelle von αk gewählt. Gleiches gilt für die übrigen Größen Kf , Kσ , Kε der Kerbspannungslehre.
360
6 Mechanische Eigenschaften
Bild 6.4.26 Nennspannung σnenn, theoretischen Kerbspannung σmax und durch Plastifizierung des Kerbgrunds reduzierte Kerbspannung σa durch eine Kerbe mit Kerbradius ρ (links). Neuber-Regel für den Fall einer elastischen Nennspannungsamplitude (rechts)
Textur, etc.) zusammenhängen. Die Referenzkurve gilt für R = -1 und N = 5·106 LW. Für Fälle, in denen die Wöhlerkurven auf Schwingspielzahlen für den Anriß (z.B. 5% Steifigkeitsabnahme) beruhen, scheint der Kf-Wert weitgehend unabhängig von der Lastwechselzahl N und daher auch auf den Zeitfestigkeitsbereich anwendbar zu sein (Morgenstern et al. 2004). Wenn auch die statistische Sicherheit dieser Aussage noch weiterer Bestätigung bedarf, so ist doch mit einem annähernd konstanten Kf-Wert über einem größeren Lastwechselbereich (z.B. N > 105 LW) auszugehen.
Bild 6.4.27 Kerbwirkungszahlen Kf in Abhängigkeit von der Formzahl Kt nach verschiedenen Literaturquellen für die Legierungen AlSi1MgMn (EN AW-6082) und AlMg4,5Mn0,7 (EN AW-5083)
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
361
Für die Berechnung der Kerbwirkungszahl Kf aus der Formzahl Kt wurde das Mikrostützwirkungskonzept entwickelt. Es geht zurück auf den Vorschlag von Neuber (Neuber 1936), daß ein hochbeanspruchtes Werkstoffelement am Kerbgrund durch Einbindung in seine quasi-starre Umgebung gestützt wird. Durch diese Mikrostützwirkung wird die theoretische linearelastische Vergleichsspannung des Werkstoffelementes über einer fiktiven Strukturlänge ρ* durch eine mittlere Spannung ausgeglichen, wodurch die Kerbwirkung reduziert wird, s. Bild 6.4.26. Die Höhe dieser mittleren Spannung im Kerbgrund ergibt sich gegenüber der linear-elastischen Maximalspannung durch Ersetzen des realen Kerbradius ρ mit einem fiktiv vergrößerten Kerbradius ρf nach Gl. (6.4.18):
ρf = ρ + s·ρ*
(6.4.18)
Die dimensionslose Konstante s richtet sich nach der Belastungsart (Zug, Biegung, Schub, Torsion), Probenform (Flach- oder Rundprobe) und der anzuwendenden Festigkeitshypothese (Tresca, von Mises), s. Tabelle 6.4.2. Die fiktive Strukturlänge ρ* gilt als Werkstoffkonstante und ist daher abhängig von den Werkstoffeigenschaften, u.a. invers von der Dehngrenze (Neuber 1968b). Sie wird experimentell an scharf gekerbten Proben entweder nach dem Ansatz von Neuber (Neuber 1968a, b) oder nach Radaj (Radaj 1995) ermittelt:
2
ρ K ρ * = t − 1 nach Neuber s K f
2
ρ K − 1 ρ * = t − 1 nach Radaj s K f − 1
(6.4.19)
(6.4.20)
Einige nach den Ansätzen von Neuber und Radaj ermittelten Werte von
ρ* für die Werkstoffe AlSi1MgMn-T6 und AlMg4,5Mn0,7-H112 aus neueren Untersuchungen (Morgenstern et al. 2004) sind in Tabelle 6.4.3 wiedergegeben. Neben Grundwerkstoffwerten (GW) wurden auch Werte für das Schweißgut (SG) und die Wärmeeinflußzone (WEZ) von MIGSchweißnähten gemessen. Mit dem aus Gl. (6.4.18) ermittelten fiktiven Kerbradius ρf läßt sich nun für gegebene Kerbradien ρ mit Hilfe von FEM Rechnungen oder mit analytischen Ansätzen die Kerbwirkungszahl Kf in Analogie zur theoretischen Formzahl Kt errechnen.
362
6 Mechanische Eigenschaften
Tabelle 6.4.2 Mikrostützwirkungskonstante s nach Neuber Festigkeitshypothese
Normalspannungshypothese Schubspannungshypothese
Zug- & Biegung Torsion und Schub Rundstäbe mit Flachstäbe mit Kerben, Löchern umlaufender Kerbe und Kehlen 2 2 1
Gestaltänderungsenergiehypothese
2
2 −ν 1 −ν
1
2,5
5 − 2ν + 2ν 2
1
2 − 2ν + 2ν 2
Tabelle 6.4.3 Ersatzstrukturlängen für einige Konstruktionswerkstoffe Kt
Kf
Neuber
11,2 11,2 11,2 10,2 10,2
4,00 4,33 3,60 4,35 3,91
0,19 0,16 0,24 0,27 0,35
ρ [mm] (FEM) (σD/σDK) ρ* [mm] AlSi1MgMn-T6 GW AlSi1MgMn WEZ AlSi5 SG AlMg4,5Mn0,7-H112 GW AlMg4,5Mn SG
0,07 0,07 0,07 0,15 0,15
Radaj
ρ* [mm] 0,30 0,23 0,40 0,39 0,54
Die Ermittlung der Ersatzstrukturlängen erfordert eine hohe Anzahl von Einzelproben sowie die Erfassung der Anrißlebensdauer bei scharf gekerbten Proben, um über eine ausreichende Wahrscheinlichkeitsanalyse die Lage der Wöhlerlinien und daraus die Kerbwirkungszahl mit genügender Genauigkeit zu bestimmen. Immerhin zeigen die Daten in Tabelle 6.4.3 eine gewisse Konsistenz mit den metallurgischen und mechanischen Eigenschaften der untersuchten Legierungen und ihrer verschiedenen Zustände, obwohl einige Werte um etwa 10% zu hoch erscheinen. Weitere systematische Untersuchungen der für den praktischen Gebrauch typischen Gefügezustände häufig verwendeter Legierungen bzw. Halbzeuge wären wünschenswert für die Verwendung der Ersatzstrukturlänge als Grundlage für die Abschätzung der Kerbwirkungszahl unterschiedlicher Kerbfälle. Eine solche Referenzdatenbank würde es erlauben, weitere Erkenntnisse über den Gefügeeinfluß zu erlangen. Mit Hilfe der Kerbwirkungszahl Kf läßt sich die Lebensdauer von gekerbten Bauteilen auf der Grundlage von S/N-Kurven oder ε/N-Kurven ungekerbter Proben mit guter Zuverlässigkeit abschätzen. Die Berechnung von Bauteillebensdauern mit Dehnungswöhlerlinien hat den praktischen Vorteil, daß die Dehnungen in kritischen (Kerb-) Querschnitten eines Bau-
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
363
teils gemessen bzw. rechnerisch oder mit FEM ermittelt werden können, und über die zyklische Spannungs-Dehnungskurve aus der Dehnungswöhlerlinie die zu erwartende Lebensdauer abgeschätzt werden kann. Dieses Örtliche Berechnungskonzept wird als Kerbgrundkonzept oder Kerbdehnungskonzept bezeichnet. Die Lebensdauerberechnung bei elastisch-plastischer Beanspruchung im Kerbgrund mit Hilfe von Dehnungswöhlerlinie und zyklischer SpannungsDehnungskurve beruht auf der Neuber-Regel (Neuber 1961): Kt = (Kσ ⋅ Kε)1/2
(6.4.21)
wobei Kσ = σa /σnenn und Kε = εa,t /εnenn und σnenn = Nennspannung (Zugkraft/Netto-Kerbquerschnitt) σa = wahre Kerbspannung im Kerbgrund εnenn = σnenn /E, wenn die Nenndehnung σnenn im elastischen Bereich ist, sonst aus zyklischer Spannungs-Dehnungskurve zu entnehmen εa,t = wahre Dehnung im Kerbgrund. Bei Schwingfestigkeitsberechnungen wird die Formzahl Kt in Gl. (6.4.21) durch die entsprechende Kerbwirkungszahl Kf ersetzt.
ε a ,t σ K f = a σ nenn ε nenn
1/ 2
(6.4.22a)
bzw.
K f (σ nenn ⋅ ε nenn ⋅ E )
1/ 2
= (σ a ⋅ ε a ,t ⋅ E )
1/ 2
(6.4.22b)
Wenn bei hohen Lastspielzahlen (ab etwa 105 LW) sich Nennspannungen und -dehnungen im elastischen Bereich befinden, reduziert sich diese Gleichung zu
K f ⋅ σ nenn = (σ a ⋅ ε a ,t ⋅ E )
1/ 2
(6.4.23)
Gleichung (6.4.22b) bezieht das Nennspannungsverhalten eines gekerbten Körpers auf das tatsächliche Spannungs-Dehnungs-Verhalten des Werkstoffs an der kritischen Stelle im Kerbgrund. Man kann Gl. (6.4.22b) auch interpretieren als Index für gleiche Ermüdungsschädigung in einem gekerbten und ungekerbten Probekörper, d.h. bei R = –1 werden im ungekerbten und gekerbten Probekörper Anrisse bei gleicher Schwing-
364
6 Mechanische Eigenschaften
spielzahl erzeugt, wenn Kf··(σnenn·εnenn·E)1/2 für den gekerbten Probekörper gleich (σa·εa,t·E)1/2 für den ungekerbten Probestab ist. Das bedeutet, daß gekerbte und ungekerbte Probendaten in der gleichen Wöhlerkurve aufgetragen werden können bzw. daß Wöhlerdaten für ungekerbte Proben verwendet werden können, um die Lebensdauer von gekerbten Proben abzuschätzen. Nach Smith, Watson und Topper (Smith et al. 1970) wird (σa·εa,t·E)1/2 als Schadensparameter PSWT bezeichnet, siehe auch Abschn. 6.4.4. Ein Beispiel für Schadensparameter-Wöhlerlinien, die auf der Basis von Dehnungswöhlerlinien berechnet wurden, zeigt Bild 6.4.17. Mit Hilfe der Referenzkurve für Kf in Bild 6.4.27 läßt sich damit beispielsweise die Anrißwöhlerlinie für gekerbte Proben (Kt = 11,2) der Legierung EN AW6082-T6 in Bild 6.4.20 rechnerisch ermitteln. Die Ergebnisse sind leicht konservativ gegenüber den gemessenen Daten. 6.4.9 Wirkung von Eigenspannungen auf die Schwingfestigkeit Örtlich vorgenommene Kaltverfestigungen, die Druckeigenspannungen in der Oberfläche erzeugen, haben bei allen Legierungen und Festigkeitsniveaus erhebliche Verbesserungen der Schwingfestigkeit oder der Lebensdauer zur Folge. Dieser Effekt wird im Flugzeugbau und im Maschinenbau angewendet, z.B. durch Aufweiten von Löchern („Coining“, auch als Reparaturmethode bei vorgeschädigten Löchern), beim Walzen von Gewinden, durch Festwalzen, Hämmern oder Kugelstrahlen („Shot Peening“) der Oberfläche. Untersuchungsergebnisse liegen aus zahlreichen Veröffentlichungen vor, u.a. (Speakman 1970, Hirsch et al. 1984, Wagner et al. 1992, Zhang et al. 2003, Rodopoulos et al. 2004). Es ist üblich, Eigenspannungen, σe , als Mittelspannungen zu betrachten, die sich den äußeren Lastspannungen überlagern. Der Grund für die positive Wirkung von örtlichen Druckeigenspannungen wird in einer Verringerung der Ober- und Mittelspannung um den Betrag der Druckspannung gesehen, wodurch sich die Lebensdauer verlängert bzw. höhere Spannungsamplituden ertragen werden können, s. Bild 6.4.25. Da die Mittelspannungsempfindlichkeit mit zunehmender Legierungsfestigkeit steigt, sollten die positiven Auswirkungen von Druckeigenspannungen auf die Schwingfestigkeit ebenfalls mit der Legierungsfestigkeit zunehmen. Andererseits wird Zugeigenspannungen genau die gegenteilige Wirkung zugeschrieben. Durch den Schrumpfungsprozeß beim Erstarren von Schmelzschweißnähten bilden sich beispielsweise in einer Schweißnaht Zugeigenspannungen aus, die besonders bei dicken Bauteilquerschnitten durch Behinderung des Verzugs wirksam sind. Nach allgemeiner Auffassung führt dann die Überlagerung von Zugeigenspannungen, σe, und äußeren Lastspannun-
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
365
gen, ∆σ, zu einer örtlich höheren Belastung mit entsprechend negativer Wirkung auf die Lebensdauer bzw. auf die Höhe der ertragbaren Spannungsamplitude. Die Überlagerung von Eigenspannungen und Lastspannungen wird nach diesen Vorstellungen begrenzt durch die statische oder zyklische Fließgrenze des Materials. Beim Überschreiten der Fließgrenze werden die Eigenspannungen durch örtliches plastisches Fließen vermindert. Bild 6.4.28 zeigt schematisch, wie bei gegebener Lastamplitude sich eine konstante Mittelspannung bzw. ein konstanter, positiver R-Wert einstellt, wenn (σe + ∆σ) ≥ Rp0,2 wird. Wenn also mit signifikanten Zugeigenspannungen in einem Bauteil gerechnet wird, sollte deshalb von einem höheren R-Wert ausgegangen werden, als den tatsächlichen Beanspruchungen entspricht. Andererseits zeigen diese Überlegungen, daß Eigenspannungen nur solange wirksam sein können, solange sie nicht durch örtliche oder globale Plastifizierung sowie durch thermischen Spannungsabbau reduziert oder beseitigt werden.
Bild 6.4.28 Überlagerung von Zugeigenspannungen und Lastspannungen
Zur Illustration mögen einige Untersuchungsergebnisse von Benedetti et al. (2004) über die Wirkung und Stabilität von Druckeigenspannungen durch Kugelstrahlen (Glasperlen 0,15 mm Ø und Almenintensität B6010N) von 4 mm dickem stranggepreßten Material der Legierung EN AW6082-T5 dienen. Bild 6.4.29 zeigt die positive Wirkung des Kugelstrahlens auf die Schwingfestigkeit. Die beiden Zeitfestigkeitsgeraden treffen sich etwa bei 104 LW und bei ∆σ ≈ 270 MPa, was annähernd der statischen und zyklischen 0,2%-Dehngrenze des Grundwerkstoffs entspricht (Rp0,2 = 280 ± 5 MPa). Die hierfür verantwortlich gemachten Druckeigenspannungen wurden röntgenographisch nach chemischem Abtrag von Oberflächenschichten ermittelt. Bild 6.2.30 gibt den Verlauf der Eigenspannungen mit zunehmendem Abstand von der Oberfläche im Ausgangszustand und nach
366
6 Mechanische Eigenschaften
10000 Lastwechseln bei ∆σ = 248 MPa (entsprechend einer Oberspannung von σo = 0,9xRp0,2) und R = 0,1 wieder. Druckeigenspannungen existieren in einer schmalen Oberflächenschicht von ca. 200 µm und werden durch die (relativ hohe) Schwellbeanspruchung in Oberflächennähe um etwa 10 % vermindert, der etwas tiefer liegende Spitzenwert dagegen bleibt unverändert. Die Stabilität der Eigenspannungen bzw. das Ausmaß des Eigenspannungsabbaus sind abhängig von der Höhe der Oberspannung bei Schwellbeanspruchung, aber auch von der Intensität der Kugelstrahlbehandlung. Der Abbau der Eigenspannungen bei Schwingbeanspruchung geschieht im frühen Stadium der Belastung und mündet mit zunehmender Lastspielzahl in einen stabilisierten Zustand. Eine eingehende Betrachtung des Eigenspannungsabbaus durch Schwingbeanspruchung wurde u.a. von Zhuang und Halford vorgenommen (Zhuang et al. 2001).
Bild 6.4.29 Verbesserung der Schwingfestigkeit von EN AW-6082-T5 durch Kugelstrahlen. Vier-Punkt-Biegeprüfung mit R = 0,1. Nach (Benedetti et al. 2004)
Durch Kugelstrahlen wird die Werkstückoberfläche plastisch stark verformt. Dabei können Umformgrade bis zu etwa 40 % erreicht werden (Zhuang et al. 2001). Die dadurch bewirkte Kaltverfestigung äußert sich in einer Härtesteigerung, deren Verlauf jedoch eine mindestens doppelt so große Tiefenausdehnung hat, als der Druckspannungszone entspricht, vgl. Bilder 6.4.30 und 6.4.31. Die im vorliegenden Fall gemessene Oberflächenhärte entspricht einer Erhöhung der Zugfestigkeit des Grundwerkstoffs um ca. 50% und läßt einen hohen Kaltverfestigungsgrad erwarten. Nach den Schilderungen des zyklischen Spannungs-Dehnungsverhalten in Abschn. 6.4.2 ist demnach oberflächlich mit einer amplitudenabhängigen
6.4 Schwingfestigkeitsverhalten von Aluminiumwerkstoffen
367
zyklischen Entfestigung zu rechnen, die zum Abbau der Druckeigenspannungen im oberflächennahen Bereich beigetragen haben wird.
Bild 6.4.30 Verlauf der durch Kugelstrahlen erzeugten Eigenspannungen im Abstand von der Oberfläche. Legierung EN AW-6082-T5 (Rp0,2 = 280 MPa, Rm = 300 MPa, A = 13%), Korngröße ~ 200 µm (Benedetti et al. 2004)
Bild 6.4.31 Verlauf der Mikrohärte der Legierung EN AW-6082-T5 im Abstand von der Oberfläche durch Kugelstrahlen mit Almenintensität B60-10N (Benedetti et al. 2004)
368
6 Mechanische Eigenschaften
Eine rein mechanische Betrachtung der Wirkung von Druckspannungen in der Materialoberfläche auf die Schwingfestigkeit bzw. Lebensdauer ist jedoch nicht hinreichend, um die experimentellen Ergebnisse in Bild 6.4.29 zu erklären. Da Druckeigenspannungen sich besonders im Bereich hoher Bruchlastwechselzahlen positiv auf die Lebensdauer auswirken, wird vor allen Dingen die Anrißbildung (Stage I) verzögert. Wirkungen auf die Rißschließung und folglich verzögerter Rißfortschritt sind nicht auszuschließen, dürften jedoch geringere Bedeutung für die Lebensdauer haben. Als wichtigste Ursache wird die hohe Versetzungsdichte in der gestrahlten Oberflächenschicht angesehen, durch die die Gleitprozesse behindert werden, die als Vorstufe zur Anrißbildung angesehen werden (Wohlfahrt 1997). Im Falle der warmausgehärteten Legierung EN AW6082-T5 dürfte die zwangsweise Aktivierung zahlreicher Gleitsysteme eine kritische Gleitbandbildung hinauszögern. Auch aus Untersuchungen an festgewalzten Proben aus der Legierung EN AW-5083-H112 ist zu schließen, daß weniger die Druckeigenspannungen als vielmehr eine möglichst thermisch und mechanisch stabile Kaltverfestigung der Oberflächenschicht für die Verbesserung der Schwingfestigkeit verantwortlich sein dürfte (Juijerm et al. 2004).
6.5 Einfluß hoher Dehngeschwindigkeit Die üblicherweise bei Raumtemperatur „quasi-statisch“ ermittelten mechanischen Eigenschaften ändern sich bei hohen Beanspruchungsgeschwindigkeiten. Während die mechanischen Eigenschaften im Zugversuch bei Dehngeschwindigkeiten von dε/dt ≈ 1x10-4 [s-1] bestimmt werden, werden bei hoher schlagartiger Beanspruchung (z.B. beim Crash) Dehngeschwindigkeiten von 1 bis etwa 102 [s-1] und darüber hinaus gemessen. Bei der Zerspanung können Verformungsgeschwindigkeiten von 103 bis zu 105 [s-1] auftreten (Shatla et al. 2001). Die verschiedenen Aluminiumwerkstoffe reagieren z.T. unterschiedlich auf derartig hohe Beanspruchungsgeschwindigkeiten. Festigkeitswerte (Rm, Rp0,2), Fließspannung (kf(ϕ)), Verfestigungsrate (dσ /dϕ, n) und Verformbarkeitswerte (Ag, A5, Z) werden je nach Legierungsart und Werkstoffzustand sowohl positiv wie negativ verändert. Kenntnisse über den genauen Einfluß von Dehngeschwindigkeit auf das Fließ- und Bruchverhalten der Aluminiumlegierungen ist daher von Bedeutung für den Einsatz in Sicherheitskomponenten und für die Modellierung des Crash-Verhaltens, aber auch für die Umform- und Zerspanungstechnik. Darüber hinaus ist die Empfindlichkeit des Fließverhaltens gegenüber der Dehngeschwindigkeit
6.5 Einfluß hoher Dehngeschwindigkeit
369
auch für das Verständnis des Bruchvorgangs von Bedeutung, da durch die vorablaufende Lokalisierung der Gleitvorgänge in der Einschnürzone und in Scherbändern hohe örtliche Scherdehnungsraten entstehen können, und durch die dort entstehende Umformwärme eine lokale adiabatische Temperaturerhöhung stattfindet, die die dynamische Entfestigung beschleunigt. Es ist vorab darauf hinzuweisen, daß eine plötzliche Erhöhung der Dehngeschwindigkeit während eines Verformungsvorgangs – z.B. während eines Zugversuchs – in der Regel eine Erhöhung der Fließspannung zur Folge hat, s. „Backofen Step-Test“ (Backofen 1964). Dagegen kann sich die Fließspannung bei kontinuierlichen Verformungsprozessen, die hier betrachtet werden, unter unterschiedlich hohen Formänderungsgeschwindigkeiten sowohl positiv als auch negativ verändern. Einfluß der Dehngeschwindigkeit auf die Fließspannung
Für die meisten Aluminiumwerkstoffe gilt, daß mit zunehmender Formänderungsgeschwindigkeit, dϕ/dt = ϕ& , sowohl die Fließspannung kf als auch die Verfestigungsrate dσ / dϕ zunehmen. Das Fließverhalten in Abhängigkeit von der Dehnrate wird häufig mit der nachstehenden Beziehung wiedergegeben:
k f = C ⋅ ϕ n ⋅ ϕ& m
(6.5.1)
mit kf = Fließspannung, C = Werkstoffkonstante, ϕ = Formänderungsgrad, n = Verfestigungsexponent, ϕ& = Dehngeschwindigkeit und m = Exponent, der den Grad der Abhängigkeit der Fließspannung (bei gegebenem Verformungsgrad) von der Dehngeschwindigkeit – die sog. Dehnratenempfindlichkeit – angibt. Die Konstanten C, n und m sind temperaturabhängig. Bei konstanter Temperatur und gegebenem Verformungsgrad ϕ ergibt sich m aus: ∂ log k f m = ∂ log ϕ&
T ,ϕ
(6.5.2)
Ein positiver m-Wert bedeutet Erhöhung des Fließwiderstands durch Zunahme der Dehngeschwindigkeit, ein negativer m-Wert eine Abnahme des Fließwiderstands. Der m-Wert ist temperaturabhängig und steigt deutlich bei höheren Temperaturen, bei denen er zur Stabilisierung des Fließverhaltens beiträgt und die Rolle des abnehmenden Verfestigungsexponenten n übernimmt, s. Abschn. 6.6.4. Über einem weiten Bereich der Dehngeschwindigkeiten (von 10-5 bis etwa 10² [s-1]) ergibt sich bei Aluminiumlegierungen andererseits eine weitgehend lineare Abhängigkeit der Fließspannung vom Logarithmus der
370
6 Mechanische Eigenschaften
Dehngeschwindigkeit, s. Bilder 6.5.1 und 6.5.2. Dieses Verhalten gilt im übrigen auch bei höheren Temperaturen (Oosterkamp et al. 2000). In diesem Bereich kann die Fließspannungsabhängigkeit kf(ϕ) von der Dehnrate bei gegebener plastischer Dehnung ϕ nach folgender Beziehung angesetzt werden: k f (ϕ ) ≅ k f 0 (ϕ ) + k f 1 (ϕ ) log ϕ&
(6.5.3)
Eine weitere allgemeingültige Aussage betrifft den absoluten Grad der Dehnratenempfindlichkeit m der Fließeigenschaften. Im Gegensatz zu Stahlwerkstoffen ist der Geschwindigkeitseinfluß bei allen Aluminiumwerkstoffen vergleichsweise gering. Bild 6.5.1 zeigt den deutlich höheren Geschwindigkeitseinfluß auf die (untere) Streckgrenze eines kohlenstoffarmen Stahls im Vergleich zur Fließspannung (gemessen bei 18% Scherverformung) von AA1100-0 (entspr. EN AW-Al99,0Cu weich). (Die zugrundeliegenden Scherspannungs-Scherdehnungswerte können nach v. Mises in Vergleichsspannungs-Dehnungswerte umgerechnet werden, indem die Scherspannung mit √3 multipliziert und die Scherdehnung und ScherDehngeschwindigkeit durch √3 dividiert werden.) Oberhalb von 103 bis 104 [s-1] nimmt die Fließspannung von Aluminium deutlich zu, was auf einen Wechsel der Verformungsmechanismen (visko-plastisches oder adiabatisches Verformungsverhalten) hindeutet (Lee et al. 2000).
Bild 6.5.1 Abhängigkeit der (Scher-) Fließspannung von der (Scher-) Dehngeschwindigkeit für einen kohlenstoffarmen Stahl (Campbell et al. 1970) und für Aluminium AA1100-0 (entspr. EN AW-Al99,0Cu) (Gilat et al. 2002) bei Raumtemperatur
6.5 Einfluß hoher Dehngeschwindigkeit
371
Die häufig angetroffene Feststellung, daß die Dehnratenempfindlichkeit von Aluminium bei Raumtemperatur mit zunehmendem Legierungsgehalt abnimmt (Green et al. 1970), wird allerdings durch die Daten der Legierungen EN AW-7108-T79 und AW-6005A-T6 (Oosterkamp et al. 2000) und AW-6005A-T6 (Børvik et al. 2005) in Bild 6.5.2 nicht gestützt. Offensichtlich spielen Legierungsart und Werkstoffzustand eine Rolle.
Bild 6.5.2 Abhängigkeit der Fließspannung (bei angegebenem Verformungsgrad in %) von der Dehngeschwindigkeit für Reinstaluminium und verschiedene Legierungen. Datenquellen: offene Symbole (Green et al. 1970), volle Symbole (Oosterkamp et al. 2000), + nach (Børvik et al. 2005)
Einen Sonderfall stellen die AlMg-Legierungen dar, die eine negative Dehnratenempfindlichkeit besitzen, d.h. bei denen mit zunehmender Dehngeschwindigkeit der Fließwiderstand sinkt. Dieses Verhalten wird auf den Mechanismus der dynamischen Reckalterung (PLC-Effekt) zurückgeführt (Naka et al. 1999, Wagenhofer et al. 1999), s. auch Abschn. 3.2.3. Bild 6.5.3 zeigt, daß die Fließkurve der Legierung AlMg4,5Mn0,4 (EN AW-5182-0/H111) mit zunehmender Dehnrate zwischen 0,007 und 250 s-1 leicht abnimmt, jedoch bei gleichzeitiger Zunahme der Bruchdehnung. Meßwerte der Fließspannung (bei 5% Dehnung) für die verfestigte Legierung AlMg4,5Mn0,7-H116 (EN AW-5083) über einem großen Dehnratenbereich zeigt Bild 6.5.4 (Clausen et al. 2004). Der Dehnrateneinfluß auf
372
6 Mechanische Eigenschaften
die Fließspannung scheint bei dem verfestigtem Material etwas stärker ausgeprägt als bei dem weichem Material in Bild 6.5.3. Erst bei sehr hohen Dehngeschwindigkeiten um 103 [s-1] nimmt die Fließspannung wieder deutlich zu, was auf eine Änderung des plastischen Verformungsmechanismus hindeutet.
Bild 6.5.3 Fließkurven der Legierung EN AW-5182-0/H111 bei unterschiedlichen Dehnraten, ermittelt im Zugversuch mit Extensiometer bei niedrigen Dehnraten bzw. mit DMS und Funkenkamera bei 250 s-1 (Quelle: S. Keller, HydroAluminium, Bonn)
Bild 6.5.4 Meßwerte der Fließspannung für die Legierung EN AW-5083-H116 (AlMg4,5Mn0,7) über einem großen Bereich von Dehnraten bei Raumtemperatur. Werte in Walzrichtung (Clausen et al. 2004)
6.5 Einfluß hoher Dehngeschwindigkeit
373
Die mit Ausnahme der AlMg-Legierungen positive Dehnratenempfindlichkeit der Aluminiumlegierungen erstreckt sich vermutlich aber nur über einen bestimmten Anfangsbereich der Fließkurve. Hooputra et al. (Hooputra et al. 2004) und El-Magd et al. (El-Magd et al. 2001) ermittelten Fließkurven im Stauchversuch bei den ausgehärteten Legierungen EN AW-7108-T6 bzw. EN AW-6082-T6 und EN AW-6061-T6 und fanden bei Dehnraten von 10² [s-1] eine negative Dehnratenempfindlichkeit bei plastischen Stauchgraden von ϕ > 0,2. Als Grund vermuten die Autoren die Auswirkung adiabatischer Erwärmung in den Scherzonen mit zunehmendem Verformungsgrad, da die Umformwärme bei den hohen Geschwindigkeiten nicht mehr an die Umgebung der Scherzonen abgeführt werden kann, und dadurch der dynamische Entfestigungsprozeß beschleunigt wird. Allerdings vertreten Børvik et al. (Børvik et al. 2005) durch Auswertung von Beschußversuchen die Auffassung, daß Aluminiumlegierungen durch ihre wesentlich höhere Wärmeleitfähigkeit im Vergleich zu Stählen weniger zu adiabatischer Scherbandbildung und thermoplastischer Instabilität neigen. Einfluß von Vorverfestigung auf die Dehnratenempfindlichkeit
Untersuchungen an reinem, unlegierten Aluminium mit verschiedenen Kaltverformungsgraden bis etwa zum halbharten Zustand haben gezeigt, daß unterschiedliche Kaltverformungsgrade praktisch keinen Einfluß auf die Dehnratenempfindlichkeit der Fließspannung bei Dehngeschwindigkeiten zwischen 10-4 und 4.103 [s-1] haben (Karnes et al. 1966). Ein Vergleich der Ergebnisse in den Bildern 6.5.3 und 6.5.4 legt nahe, daß bei AlMgLegierungen ein gewisser Effekt der Vorverfestigung auf die Dehnratenabhängigkeit der Fließspannung besteht, obwohl die veröffentlichte Datenbasis dürftig ist. Einfluß der Dehngeschwindigkeit auf die Duktilität
Das Duktilitätsverhalten bei unterschiedlichen Dehnraten ist in den Bildern 6.5.5 und 6.5.6 am Beispiel der Legierung AlSiMg(A) (EN AW-6005AT6) wiedergegeben. Das Verhalten stimmt sehr gut mit anderen Untersuchungsergebnissen überein (Oeser et al. 2000) und kann als typisch für AlMgSi-Legierungen angesehen werden. Danach nehmen sowohl die Bruchdehnung als auch die Brucheinschnürung mit der Dehngeschwindigkeit zu. Das gleiche Verhalten wurde auch in den verschiedenen Zonen von MIG-Schweißverbindungen an der Legierung AlSiMg(A)-T6 mit Schweißzusatzwerkstoff AlMg4,5MnZr festgestellt (Oeser et al. 2000). AlZnMg(Cu)-Legierungen weichen von diesem Verhalten ab, wie Bild 6.5.7 andeutet. Während die Bruchdehnung A5 von der Dehngeschwindigkeit annähernd unabhängig ist, wird die Duktilität – gemessen als Bruch-
374
6 Mechanische Eigenschaften
einschnürung – mit zunehmender Dehnrate deutlich geringer, ohne daß man allerdings von einer Versprödung sprechen kann. Auffallend ist weiterhin, daß die Brucheinschnürung im Zustand T7 eine größere Abhängigkeit von der Dehnrate zeigt als im Zustand T6.
Bild 6.5.5 Spannungs-Dehnungskurven eines ca. 6 mm dicken Strangpreßprofils der Legierung EN AW-6005A-T6, geprüft in Preßrichtung mit unterschiedlichen Dehnungsgeschwindigkeiten. Zugversuche: niedrige Geschwindigkeiten servohydraulisch, hohe Geschwindigkeiten mit Split Hopkinson Bar (Børvik et al. 2005)
Bild 6.5.6 Einfluß der Dehngeschwindigkeit auf die mechanischen Eigenschaften der Legierung EN AW-6005A-T6 (Quelle: Hydro Aluminium)
6.5 Einfluß hoher Dehngeschwindigkeit
375
Bild 6.5.7 Einfluß der Dehngeschwindigkeit auf die mechanischen Eigenschaften der Legierung EN AW-7108.70-T6 und T7 (Quelle: Hydro Aluminium)
Die im Bild 6.5.6 unterstellte lineare Abhängigkeit der wahren Bruchdehnung ϕbr vom Logarithmus der Dehngeschwindigkeit trifft nicht auf AlMg-Legierungen zu. Eine deutliche Zunahme der Duktilität tritt erst ab einer Dehnrate von etwa 0,1 [s-1] auf, wie die in Bild 6.5.8 dargestellten Ergebnisse zeigen (Clausen et al. 2004).
Bild 6.5.8 Einfluß der Dehngeschwindigkeit auf die wahre Bruchdehnung ϕbr der Legierung EN AW-5083-H116 bei Raumtemperatur, n. (Clausen et al. 2004). Schraffur deutet den Streubereich der Meßwerte an
376
6 Mechanische Eigenschaften
Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Duktilität der aushärtbaren und naturharten Aluminiumwerkstoffe bei Raumtemperatur mit zunehmender Formänderungsgeschwindigkeit zunimmt. Diese Aussage betrifft die wahre Bruchdehnung ϕbr und wohl auch die Gleichmaßdehnung Ag. Eine Ausnahme stellt die Legierungsgruppe 7xxx dar. Das Duktilitätsverhalten ist ein wichtiges Kriterium für den Einsatz dieser Legierungen in Sicherheitskomponenten, wie z.B. in Crash-energieverzehrenden Bauteilen. Allerdings ist festzuhalten, daß die veröffentlichte Datenbasis nach wie vor mangelhaft ist, um außer der allgemeinen Aussage detaillierte Voraussagen über den Einfluß zahlreicher praktisch bedeutsamer Werkstoffparameter, insbesondere über den Einfluß von Zusammensetzung, Gefüge und Werkstoffzustand (T4, T6X, T7X) zu treffen. Da die Sicherheitskomponenten eines Fahrzeuges häufig durch Kaltformgebung einen Grad an Kaltverfestigung erfahren haben, wäre es weiterhin von Interesse, das Verhalten von kaltverfestigten Werkstoffen genauer zu ermitteln. Außerdem finden sich in der Literatur Hinweise darauf, daß der Spannungs- und Dehnungszustand die Dehnratenempfindlichkeit erheblich und z.T. im entgegengesetzten Sinn verändern können (Rashkeev et al. 2002).
6.6 Verhalten bei unterschiedlichen Temperaturen Das mechanische Verhalten von Aluminium und seinen Legierungen bei tiefen, mäßig erhöhten und hohen Temperaturen hat praktische Bedeutung in vielen industriellen Anwendungsbereichen, in der Kältetechnik, im Bau von Flüssiggasbehältern, im Automobilbau, insbesondere im Motoren- und Fahrwerksbereich, im Pumpen- und chemischen Apparatebau, sowie bei den äußeren Strukturen von Überschallflugzeugen. Von besonderer Bedeutung sind die Zähigkeits- und Festigkeitseigenschaften bei tiefen Temperaturen sowie die Warmfestigkeit und Standzeit unter dauernd einwirkenden Belastungen (Zeitstandfestigkeit) bei moderaten und höheren Temperaturen. Für die Knetwerkstoffe ist darüber hinaus das verbesserte Umformverhalten bei mittleren und hohen Temperaturen eine wichtige Voraussetzung für die Formgebung. Eine Unterteilung in verschiedene Temperaturbereiche ist insofern sinnvoll, als die vorherrschenden plastischen Verformungsmechanismen sich gründlich ändern, wobei es allerdings zwischen den Temperaturbereichen gleitende Übergänge gibt. Bei tiefen Temperaturen bis hin zu Raumtemperatur (RT) und etwas darüber hinaus, entsprechend T/TS < 0,4 mit TS = Schmelztemperatur [K], herrscht Versetzungsgleiten auf kristallographischen Gleitebenen vor, und die Frage ausreichender Duktilität ist von besonderer Bedeutung. Bei höheren Temperaturen bis etwa 300 °C (0,4
6.6 Verhalten bei unterschiedlichen Temperaturen
377
> T/TS < 0,6) nehmen Diffusionsprozesse zu, die das Klettern von Versetzungen sowie eine Instabilität des Ausscheidungsgefüges bewirken können, wodurch Kriechvorgänge begünstigt werden und der dynamische Entfestigungsprozeß zunehmenden Einfluß auf die Fließspannung und Duktilität gewinnt, s. a. Abschn. 13.2 Halbwarmumformung. Schließlich verringern hohe Temperaturen im Bereich 0,6 > T/TS < 0,8 den Fließwiderstand weiter, der Verformungsprozeß wird durch Selbstdiffusion und dynamische Rekristallisationsvorgänge kontrolliert, Fließspannung und Bruchdehnung unterliegen einer zunehmenden Dehnratenempfindlichkeit und Kriechvorgänge und Plastizität werden durch Korngrenzengleiten beherrscht, s. Abschn. 13.3 Superplastizität. Für viele Anwendungsbereiche im praktisch wichtigen Temperaturbereich oberhalb von RT bis zu etwa 0,5.TS ist daher die Belastbarkeit von Komponenten nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Kurzzeitwarmfestigkeit, sondern auch hinsichtlich ausreichender Langzeitstabilität gegen Kriechvorgänge zu überprüfen. Anders als bei Raumtemperatur, bei der die genormten Festigkeitsangaben auf statistischen Auswertungen beruhen, liegen den Angaben bei tiefen und hohen Temperaturen überwiegend nur Auswertungen von individuellen Versuchsreihen zugrunde. Die nachfolgend berichteten mechanischen Eigenschaften sind daher keine Normwerte, sondern als typische Werte aufzufassen, und sollten daher für konstruktive Berechnungszwecke nur als Anhaltswerte dienen.
6.6.1 Elastizitätsmodul bei unterschiedlichen Temperaturen
Der Elastizitätsmodul E ändert sich durch Faktoren wie Reinheitsgrad, Legierungszusammensetzung, Kaltumformgrad, Textur und Aushärtungszustand nur in begrenzter Weise, jedoch deutlich mit der Temperatur. Auch die Art der Meßtechnik ist von Bedeutung. Die in diesem Buch verwendeten Angaben beziehen sich auf Auswertungen von quasi-statischen Zugversuchen. Für Raumtemperaturwerte des Elastizitätsmoduls findet man Angaben zu Reinstaluminium in Tabelle 4.1, für Knetlegierungen in Tabelle A.1.2 (Anhang) sowie für Gußlegierungen in Tabelle A.2.2 (Anhang). Die Tabellen enthalten ebenfalls Angaben zum Gleitmodul G, der mit dem Elastizitätsmodul über die Querkontraktionszahl ν verbunden ist: G=
E 2(1 + ν )
(6.6.1)
Der Temperatureinfluß auf den Elastizitätsmodul ist für die meisten Standardlegierungen annähernd unabhängig von den genannten anderen
378
6 Mechanische Eigenschaften
Einflußfaktoren und kann daher mangels spezifischer Meßwerte näherungsweise durch einen Relativwert zum Raumtemperaturwert entsprechend dem Kurvenverlauf in Bild 6.6.1 angesetzt werden. Eine Ausnahme ist die 1% Fe- und 1% Ni-haltige warmfeste Legierung AA-2618, deren Werte in Bild 6.6.1 gestrichelt angegeben ist. Die Legierungen AA2618 bzw. EN AW-2618A beruhen auf der ursprünglichen Legierung RR58, die für besondere Warmfestigkeitsanforderungen im Antriebbereich (Rolls Royce) und für die Struktur des Überschallflugzeugs Concord entwickelt wurde, wo bei Geschwindigkeiten von Mach 2+ Temperaturen bis zu 130 °C in der äußeren Struktur entstehen können (Robinson et al. 2003).
Bild 6.6.1 Einfluß der Prüftemperatur auf den Elastizitätsmodul von Aluminium und seinen Legierungen. Die Angaben sind Relativwerte bezogen auf den Wert bei Raumtemperatur, ERT = 100%. Tieftemperaturwerte nach (Angermayer 1992), Hochtemperaturwerte nach Eurocode 9 [prEN 1999-1-2, 2004]. Gestrichelte Kurve: 2618-T61 nach (Robinson et al. 2003)
6.6.2 Mechanische Eigenschaften bei tiefen Temperaturen
Die mechanischen Eigenschaften von Aluminium und seinen Guß- und Knetlegierungen werden allgemein bei tiefen Temperaturen günstiger, siehe Bild 6.6.2. Diese Aussage gilt für die Festigkeitseigenschaften und meistens auch für die Duktilitäts- und Zähigkeitseigenschaften von Knet- und Gußlegierungen, siehe Bild 6.6.3 (Kassem 1974). Ein Sprödbruchverhalten bei Unterschreiten bestimmter Temperaturgrenzen wie bei ferritisch/martensitischen Stählen gibt es bei Aluminiumlegierungen grundsätzlich nicht. Bei den sehr hochfesten Legierungen der Gruppe AlZnMgCu, z.B. Legierung EN AW-7075-T6, beobachtet man eine gewisse Abnahme der
6.6 Verhalten bei unterschiedlichen Temperaturen
379
der Duktilität und Bruchzähigkeit bei tiefen Temperaturen, wie aus den Bildern 6.6.2 und 6.6.3 zu entnehmen ist.
Bild 6.6.2 Typische Festigkeitseigenschaften einiger Aluminiumkonstruktionslegierungen bei tiefen Temperaturen, nach (Alcoa 1962) und (Mori 1958)
Bild 6.6.3 Verlauf der Bruchzähigkeit von verschiedenen Aluminiumknet- und gußlegierungen bei tiefen Temperaturen. Beanspruchung in Walz- bzw. Gießrichtung, Rißverlauf in Querrichtung. Nach (Kassem 1974)
Charakteristisch ist die geringere Zunahme der 0,2-Dehngrenze mit abnehmender Temperatur im Vergleich zum Verlauf der Zugfestigkeit. Dieses Verhalten ist gleichbedeutend mit einem höheren Verfestigungsvermögen, d.h. einer höheren Gleichmaßdehnung, und erklärt die Zunahme der
380
6 Mechanische Eigenschaften
Bruchdehnung bei tieferen Temperaturen. Ebenso wie die Bruchdehnung nimmt auch die Brucheinschnürung mit abnehmender Temperatur zunächst zu, allerdings erfolgt bei AlMg-Legierungen bei Temperaturen unterhalb von –100 °C eine geringfügige Abnahme der Brucheinschnürung (Nielsen 1961, Durham 1961). Trotz der geringeren Brucheinschnürung wurde in bruchmechanischen Untersuchungen an dicken Platten der Legierung AlMg4,5Mn0,7 (EN AW-5083) bei -196 °C eine deutliche Zunahme der Bruchzähigkeit gegenüber Raumtemperatur nachgewiesen, was gleichzeitig auch für entsprechende Schweißverbindungen gilt (Zinkham et al. 1974, S. 462–466, Blauel et al. 1982), vgl. auch Bild 6.6.3. 6.6.3 Mechanische Eigenschaften bei höheren Temperaturen Warmfestigkeit
Die Warmfestigkeit nach kurzzeitiger Vorwärmung auf die Prüftemperatur hat Bedeutung bei einer evtl. unbeabsichtigten Erwärmung einer Konstruktion, z.B. im Falle eines Brandes. Maßgebend für die Standsicherheit bei der erhöhten Temperatur ist die Warmdehngrenze, die in Bild 6.6.4 für verschiedene Knetlegierungen in Relation zu den RT-Werten dargestellt ist. Weichgeglühte, verfestigte und stabilisierte (H3X-Zustände) sowie warmausgehärtete Werkstoffe sind bei kurzzeitiger (1/2 – 2 h) Vorwärmung bis etwa 100 °C thermisch praktisch stabil. Bei höheren Temperaturen nehmen die Festigkeitseigenschaften aufgrund von Entfestigungs- und Überhärtungsvorgängen kontinuierlich ab.
Bild 6.6.4 Kurzzeitwarmdehngrenze von Aluminiumlegierungen. Relativwerte für Rp0,2 bei zweistündiger Vorwärmung auf die Prüftemperatur, nach [Eurocode 9:2004], Werte für 2219-T6 und 2618-T6 nach (Engström et al. 1993)
6.6 Verhalten bei unterschiedlichen Temperaturen
381
Bei längerer Haltezeit auf Prüftemperatur kommt es bereits bei 100 °C und zunehmend mit höheren Temperaturen zu einem weiteren Abfall der Warmfestigkeitseigenschaften. Warmfestigkeitsangaben zu verschiedenen Legierungen mit einer Vorwärmzeit bis zu 10.000 h findet man u.a. in (Kammer 2002, Engström et al. 1993 und Kaufman 1999). Von den aushärtbaren Legierungssystemen haben die 7xxx Legierungen die geringste Warmfestigkeit. Die höchsten Warmfestigkeitswerte zeigen die Legierungen AA-2219 und AA-2618, wobei nach Bild 6.6.4 die erstere Legierung hohe Werte oberhalb von 250 °C und letztere Legierung unterhalb von 250 °C besitzen. Kriechfestigkeit
Die metallphysikalischen Grundlagen des Kriechprozesses von unlegiertem Aluminium (und weiteren einphasigen Metallen) wurden kürzlich einer gründlichen Quellenanalyse unterzogen und können als weitgehend gesichert angenommen werden (Kassner et al. 2000). Die unter praktischen Gesichtspunkten relevanten Kriecheigenschaften – Zeitdehngrenzen und Zeitstandfestigkeit – von Aluminium-Konstruktionslegierungen sind allerdings bisher nicht sehr intensiv untersucht worden. Insbesondere fehlen Angaben über Zeitdehngrenzen für 0,1 bis 1% Kriechdehnung bei langen Standzeiten. Zeitstandfestigkeitsangaben für die Knetlegierungen EN AW1100, -3003, -3103, -5049, -5056A, -5251, -5454, -5754, -6061, -6063, und -6082 wurden aufgrund vorhandener Versuchsdaten von Sandström mit Hilfe verschiedener Methoden (Larsen-Miller, Orr-Sherby-Dorn, Manson-Succop, Sud-Aviation) neu interpretiert (Sandström 1993, Sandström 1996). Aus dieser Quelle sind im Bild 6.6.5 beispielhaft Zeitstandfestigkeitskurven für die Legierungen 3003, 5454, 6082 und 6061 dargestellt. Die angegebenen Zeitstandfestigkeitskurven haben Mittelwertcharakter, und die verwendeten Werte sind mit einer Streubreite behaftet. Daher wird für eine rechnerische Verwendung der Daten auf die Originalquelle verwiesen (Sandström 1996). Der relativ flache zeitliche Verlauf der Zeitstandfestigkeit der AlMn1Cu-Legierung EN AW-3003-0 und 3003-H12 weist auf die stabile Gefügestruktur durch die thermisch stabilen Al6Mn-Dispersionsteilchen hin, s. Abschn. 3.2.2. Demgegenüber fällt der stärkere zeitliche Abfall der Zeitstandfestigkeit bei AlMg-Legierungen sowie bei den AlMgSi-Legierungen auf, der auf eine gewisse thermische Instabilität des Gefüges schließen läßt, s. hierzu Abschn. 3.2.3. Bei den „naturharten“ Legierungen wirkt sich eine Kaltverfestigung positiv auf die Zeitstandfestigkeit aus und zwar um so mehr, je thermisch stabiler das Gefüge ist. Bei den mittelfesten AlMg-Legierungen ist dieser Effekt jedoch auf den Temperaturbereich bis 150 °C beschränkt, vgl. Bild 6.6.5.
382
6 Mechanische Eigenschaften
Bild 6.6.5 Zeitstandfestigkeit von Al1MnCu (EN AW-3003-0 und -H12), AlMg3Mn-0 und -H14/H34), AlSi1MgCu (EN AW-6061-T6) und AlSi1MgMn (EN AW-6082-T6), nach (Sandström 1996). Gestrichelte Kurvenabschnitte entsprechen Extrapolationen über experimentelle Datenbasis hinaus
Gegenüber den nicht aushärtbaren Legierungen und den Legierungen des AlZnMg(Cu)- und AlMgSi-Systems haben die AlCuMg-Legierungen ein deutlich höheres Warmfestigkeitspotential, s. Bild 6.6.6. Dies gilt vornehmlich für Legierungsvarianten mit erhöhtem Cu-Gehalt, z.B. AA2219 mit 6% Cu, und auch für die Legierung AA2618 bzw. EN AW-2618A mit reduziertem Cu-Gehalt, aber gleichzeitigem Gehalt von je 1% Ni und Fe, die als stabile intermetallische Verbindung FeNiAl9 im Gefüge vorliegen. Die FeNiAl9-Phase verteilt sich auf Partikel-Cluster, die sich auf die interdendritischen Bereiche des Gußmaterials mit Partikelgrößen zwischen
6.6 Verhalten bei unterschiedlichen Temperaturen
383
~1–3 µm erstrecken. Diese Bereiche sind deutlich härter als die umgebende Matrix, in der allerdings auch globulare Partikel von Mg2Si mit etwa gleicher Partikelgröße vorhanden sind (Robinson et al. 2003). Für die Warmaushärtung ist die S’-Phase verantwortlich. Der metallphysikalische Grund für die höhere Warmfestigkeit ist allerdings noch ungeklärt, da Partikelgröße und Verteilung der intermetallischen Verbindungen nicht auf einen allein wirksamen Orowan-Mechanismus schließen lassen. Der relativ hohe Volumenanteil an intermetallischen Phasen bewirkt im übrigen gegenüber den AlCuMg-Standardlegierungen (EN AW-2017, EN AW2024) eine niedrigere Bruchzähigkeit und schlechteres Rißfortschrittsverhalten. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung von Überschallflugzeugen wurde in den letzten Jahren verstärkt die Entwicklung warmfester, bruchzäher Legierungen durch Silberzusätzen zu AlCuMg-Legierungen untersucht (Polmear et al. 1999, Pantelakis et al. 1999, Somoza et al. 2000, Skrotzki et al. 2001, Lumley et al. 2002, Raviprasad et al. 2003). Durch den Ag-Zusatz bildet sich in AlCuMg-Legierungen bei der Warmaushärtung die thermisch relativ stabile Ω-Phase, die im Gefüge sehr fein verteilt ist und selbst bei langen Warmauslagerungszeiten ihre Gitterkohärenz beibehält (Lumley et al. 2000). Verbesserte Kriecheigenschaften bei hohen Bruchzähigkeitswerten werden außerdem dadurch erzielt, daß die Keimbildung der Ω-Phase während des Kriechvorgangs stimuliert wird, wenn das Material in teilausgehärtetem Zustand vorliegt (Lumley et al. 2000, Skrotzki et al. 2001, Lumley et al. 2002, Lumley et al. 2002, Lumley et al. 2003, Lumley et al. 2004).
Bild 6.6.6 Zeitstandfestigkeit von AlCu-Legierungen, dargestellt in Abhängigkeit vom Larson-Miller Parameter P = T·(20 + log t) mit der Prüftemperatur T in [K] und der Zeit t in [h], nach (Polmear et al. 1999)
384
6 Mechanische Eigenschaften
Da gerade im unteren Bereich des nutzbaren Temperaturspektrums gesicherte Daten über das Kriechverhalten gefordert werden, ist eine Erweiterung der Datenbasis wünschenswert. Auch sollten dabei Verunreinigungseffekte aufgeklärt werden, die z.B. durch den vermehrten Einsatz von Umschmelzmaterial auftreten und das Kriechverhalten negativ beeinflussen können. Bekannt ist die versprödende Wirkung geringer Verunreinigungen von Blei (> 20 ppm) in AlMgSi-Legierungen, die sich erst unter kriechähnlichen Belastungszuständen bei Temperaturen um 100 °C zeigt und die Standzeit reduziert, s. Bleisprödigkeit Abschn. 3.1. Schon geringe Mengen von Kupfer in der Legierung (∼ 0,25 Gew.-%) sollen diesen Versprödungseffekt beheben (Woodward 1995). Es ist nicht auszuschließen, daß die deutlich günstigeren Kriecheigenschaften der Legierung 6061-T6 gegenüber der Legierung 6082-T6 in Bild 6.6.5 auf diesen Effekt zurückzuführen sind. 6.6.4 Umformbarkeitseigenschaften bei höheren Temperaturen
Gegenüber den konstruktionsrelevanten Warm- und Kriechfestigkeiten spielen für die Warmformgebung bei mittleren und hohen Temperaturen vor allem ein günstiges plastisches Fließverhalten und – damit zusammenhängend – die deutlich erhöhten Duktilitätsgrenzen die wesentliche Rolle. Man unterscheidet hierbei das sog. Halbwarmumformen bei mittleren Temperaturen zwischen etwa 150 °C und 300 °C, bei dem noch keine Rekristallisationsprozesse auftreten (s. Abschn. 13.2), vom eigentlichen Warmumformen (Warmwalzen, Strangpressen, Schmieden) bei hohen Temperaturen zwischen 350 und 550 °C. Das Fließverhalten bei mittleren und hohen Temperaturen läßt sich ebenso wie bei RT durch die Gln. 6.5.1 und 6.5.2 darstellen. Allerdings nimmt mit steigender Temperatur der Einfluß der Verfestigung – gegeben durch den Verfestigungskoeffizienten n – ab, gleichbedeutend mit der Abnahme der Gleichmaßdehnung Ag, s. Abschn. 6.2, Gl. (6.2.6). Die Spannungs-Dehnungskurven in Bild 6.6.7 machen dies deutlich. Dennoch erhöht sich die Bruchdehnung ganz erheblich im Temperaturbereich der Halbwarmumformung, wie der Verlauf der Spannungs-Dehnungskurven in Bild 6.6.7 und die Fließkurven in Bild 6.6.8 belegen. Der Grund hierfür ist der zunehmende Einfluß des Exponenten m der Formänderungsgeschwindigkeit ϕ& (Dehnratenempfindlichkeit). Der m-Wert nimmt mit steigender Temperatur zu und übernimmt die Funktion des n-Wertes zur Stabilisierung des plastischen Dehnungsverhaltens. Gleichzeitig ändert sich das Bruchverhalten vom Scherbruch zum Einschnürbruch (Heller 1988), s.a. Bild 6.3.12 (Clausen et al. 2004).
6.6 Verhalten bei unterschiedlichen Temperaturen
385
Bild 6.6.7 Spannungs-Dehnungskurven der Legierung EN AW-5182-0 bei höheren Temperaturen im Bereich der Halbwarmumformung. Blechdicke 1 mm, anfängliche Dehnungsrate 0,0028 s-1 (Abe 1994)
Bild 6.6.8 Fließkurven der Legierung EN AW-5182-0 bei unterschiedlichen Temperaturen, ermittelt im instrumentierten hydraulischen Tiefungsversuch an Blechen (Dicke ca. 1 mm) mit einer Formänderungsgeschwindigkeit von 0,002 s-1 (Heller 1988)
Die Verbesserung der Umformbarkeit wird im Verhalten der Bruchdehnung A in Bild 6.6.9 besonders deutlich, die bei der Legierung EN AW5182-0 mit zunehmender Temperatur auf mehr als das 4-fache des RTWertes ansteigt. Es ist allerdings zu berücksichtigen, daß bei höheren Formänderungsgeschwindigkeiten dieser positive Effekt der Verformungstemperatur geringfügiger ausfällt, s. Bild 6.6.10. Mit steigender Geschwin-
386
6 Mechanische Eigenschaften
digkeit erhöht sich der Fließwiderstand bei gleichzeitiger Abnahme der Duktilität, wie durch die Fließkurven im Bild 6.6.11 verdeutlicht wird.
Bild 6.6.9 Bruchdehnung A, n-Wert und m-Wert der Legierung EN AW-5182-0 in Abhängigkeit von der Prüftemperatur bei einer konstanten Formänderungsgeschwindigkeit von 0,002 s-1 (Heller 1988)
Bild 6.6.10 Einfluß von Temperatur und Formänderungsgeschwindigkeit auf die Bruchdehnung der Legierung EN AW-5182-0 (Heller 1988)
Das in vorstehenden Abbildungen dargestellte Verhalten der Legierung EN AW-5182-0 gilt analog für andere naturharte Aluminiumlegierungen. Bei ausgehärteten Werkstoffen ist jedoch je nach Ausgangszustand, Höhe der Temperatur und der Vorwärmzeit mit einer Minderung der Festigkeitswerte gegenüber dem Ausgangszustand zu rechnen. Die Duktilitätsverbesserungen bei der Verformung im Halbwarmbereich sind besonders ausgeprägt bei den höher legierten AlMg-Legierungstypen (Heller 1988, Li et al. 2003).
6.6 Verhalten bei unterschiedlichen Temperaturen
387
Bild 6.6.11 Einfluß der Formänderungsgeschwindigkeit auf die Lage und Ausdehnung der Fließkurve der Legierung EN AW-5182-0 bei einer Prüftemperatur von 300 °C. Fließkurven ermittelt im instrumentierten, hydraulischen Tiefungsversuch an Blechen mit ca. 1 mm Dicke (Heller 1988)
Die Warmumformung durch Walzen, Strangpressen und Schmieden erfolgt bei Temperaturen zwischen 350 und 550 °C. Die für den Halbwarmbereich dargestellten Verhaltensweisen der Werkstoffe gelten hier analog. Mit zunehmender Temperatur nimmt jedoch der Einfluß der Formänderungsgeschwindigkeit auf die Lage der Fließkurve zu, wie für weiches, unlegiertes Aluminiums Al99,5 in den Bildern 6.6.12 und 6.6.13 exemplarisch dargestellt ist. In doppel-logarithmischer Darstellung ergibt sich entsprechend Gl. (6.5.1) bei gegebenem Formänderungsgrad ϕ und konstanter Temperatur T ein linearer Zusammenhang zwischen log kf und log ϕ& . Bild 6.6.13 illustriert diesen Zusammenhang für Al99,5-0.
Bild 6.6.12 Einfluß von Temperatur und Formänderungsgeschwindigkeit auf die Warmfließkurven von Al99,5-0 (nach Bühler u.a.)
388
6 Mechanische Eigenschaften
Bild 6.6.13 Abhängigkeit der Fließspannung kf für Al99,5-0 von der Formänderungsgeschwindigkeit bei konstantem Formänderungsgrad ϕ = 1,0 und verschiedenen Temperaturen (nach Bühler u.a.)
Warmfließkurven für verschiedene Aluminiumlegierungen findet man in der einschlägigen Literatur, z.B. (Kammer 1996, Doege et al. 1986), u.a., sowie für einige aushärtbare Legierungen im Anhang A.1.8.
6.7 Einfluß des Spannungszustands 6.7.1 Fließbedingungen (Fließhypothesen)
Beim einachsigen Zugversuch setzt Fließen ein, wenn die angelegte Spannung σ die Fließspannung kf erreicht, vgl. Abschn. 6.1. Die Bedingung σ = kf wird als Fließbedingung bezeichnet. Damit bei mehrachsigem Spannungszustand Fließen des Werkstoffs eintreten kann, muß eine Kombination aller Spannungen die Fließspannung kf überschreiten. In diesem Fall setzt Fließen also nicht schon dann ein, wenn die größte Zug- oder Druckspannung erreicht worden ist. Die Voraussetzungen für das Eintreten des Fließens sind dann gegeben, wenn eine aus den Spannungen des mehrachsigen Spannungszustandes berechnete Vergleichsspannung σv den Wert der Fließspannung kf erreicht:
σv = kf
(6.7.1)
6.7 Einfluß des Spannungszustands
389
Zur Ermittlung der Vergleichsspannung σv sind zwei Fließhypothesen gebräuchlich
• die Schubspannungshypothese nach TRESCA und • die Gestaltänderungsenergiehypothese nach v. MISES. Nach der Schubspannungshypothese setzt im Werkstück dann Fließen ein, wenn die Schubspannung τmax einen kritischen Wert k, die Schubfließgrenze des Werkstoffs, erreicht. Betrachtet man den Mohrschen Spannungskreis für die Ebene, in der die größte und die kleinste Normalspannung herrschen (σ1 = σmax bzw. σ3 = σmin), so ist die größte an dieser Stelle im Werkstück auftretende Schubspannung τmax gleich dem Radius des Mohrschen Kreises, d.h. gleich der Schubfließgrenze k des Werkstoffs, s. Bild 6.7.1. Definitionsgemäß folgt daraus das allgemeine Fließkriterium der Schubspannungshypothese: Fließen setzt ein, wenn die Differenz zwischen der größten und kleinsten Hauptnormalspannung (σmax - σmin) = kf ist.
Bild 6.7.1 Mohrsche Spannungskreise für den allgemeinen Fall σ1 > σ2 > σ3
Aus der Darstellung der Spannungen (σ1 > σ2 > σ3) im Mohrschen Spannungskreis folgt:
τmax = ½(σ1 – σ3) = k
(6.7.2a)
bzw.
τmax = ½(σmax – σmin) = k
(6.7.2b)
Nach der Schubspannungshypothese gilt für den Sonderfall des einachsigen Zugversuchs (σ1 = σmax, σ2 = σ3 = σmin = 0 ) das Fließkriterium σv =
390
6 Mechanische Eigenschaften
σ1 = 2τmax = 2k = kf. Entsprechend gilt für den Torsionsversuch (σ1 = σmax, σ3 = σmin = - σ1 , σ2 = 0) σv = 2σ1 = 2τmax = 2k = kf. Aus der Darstellung in Bild 6.7.1 ist weiterhin zu erkennen, daß die Lage des Mittelpunktes des Mohrschen Kreises für die Höhe der maximalen Schubspannung, d.h. für das Einsetzen des Fließens, unerheblich ist. Daraus ergibt sich auch, daß die mittlere Normalspannung σm
σm =
1
3
(σ 1 + σ 2 + σ 3 )
(6.7.3)
keinen Einfluß auf den Fließbeginn besitzt. Die mittlere Normalspannung bezeichnet den hydrostatischen Anteil des Spannungszustandes. Der hydrostatische Spannungsanteil, σm, wirkt sich zwar nicht auf den Fließbeginn, jedoch erheblich auf den Bruchvorgang und die Duktilität aus, s. Abschn. 6.7.4 und Abschn. 6.3. Gegenüber der Schubspannungshypothese stellt die Gestaltänderungsenergiehypothese von v. MISES das gesamte Spannungssystem in Rechnung. Nach v. MISES setzt Fließen dann ein, wenn die elastische Gestaltänderungsenergie einen kritischen Wert erreicht. Mit σ1 > σ2 > σ3 ergibt sich die Vergleichsspannung σv , bei der Fließen einsetzt, zu: σv = kf =
[
]
1 (σ 1 − σ 2 )2 + (σ 2 − σ 3 )2 + (σ 3 − σ 1 )2 . 2
(6.7.4a)
und unter Verwendung der mittleren Normalspannung σm zu:
σv = kf =
[
]
3 (σ 1 − σ m )2 + (σ 2 − σ m )2 + (σ 3 − σ m )2 . 2
(6.7.4.b)
d.h. für den Fall des einachsigen Zugversuchs (σ1, σ2 = σ3 = 0) wird σv = kf = σ1 und für den Torsionsversuch (σ1 = -σ3, σ2 = 0, τmax = σ1) σv = kf = σ1. √3 = τmax. √3. Der sog. Mehrachsigkeitsgrad T wird definiert als Verhältnis der mittleren Normalspannung σm zur Vergleichsspannung σv:
σm /σv = T
(6.7.5)
Für den Sonderfall des einachsigen Zugversuchs (σ1 , σ2 = σ3 = 0) ergibt sich ein Mehrachsigkeitsgrad T = σm /σv = 1/3. Eine höhere Mehrachsigkeit entsteht im Zugversuch in der Einschnürzone, durch den Einfluß von Kerben (T ≈ 0,5 ÷ 1,5) oder vor der Rißfront angerissener Proben (T ≈ 3 ÷ 5). Für den Fall des Torsionsversuchs (σ1 = -σ3 , σ2 = 0) gilt T = σm /σv = 0.
6.7 Einfluß des Spannungszustands
391
Die Vergleichsformänderung ϕv ist nach der Schubspannungshypothese die dem Betrag nach größte logarithmische Formänderung und wird als logarithmische Hauptformänderung bezeichnet:
ϕv = {|ϕ1|, |ϕ2|, |ϕ3|}max
(6.7.6)
d.h. für den Fall des einachsigen Zugversuchs (ϕ1, ϕ2 = ϕ3 = -ϕ1/2) ist ϕv = ϕ1 und für den Torsionsversuch (ϕ1 = -ϕ3, ϕ2 = 0) mit der Scherung γmax = ϕ1 - ϕ3 = 2ϕ1 gilt ϕv = ϕ1= γmax/2. Nach der Gestaltänderungsenergiehypothese ergibt sich die Vergleichsformänderung ϕv aus ϕv =
2 2 ( ϕ1 + ϕ 22 + ϕ32 ) 3
(6.7.8)
d.h. für den einachsigen Zugversuch (ϕ1, ϕ2 = ϕ3 = -ϕ1/2) ist ϕv = ϕ1 und für den Torsionsversuch (ϕ1 = -ϕ3, ϕ2 = 0) mit γmax = ϕ1 - ϕ3 = 2ϕ1 gilt ϕv = 2ϕ1/√3 = γmax/√3. Weiterhin gilt das Gesetz der Volumenkonstanz: ϕ1 + ϕ 2 + ϕ3 = 0 bzw. ∑ ϕ = 0
(6.7.9)
6.7.2 Fließortkurven
Der Ort des Fließbeginns unter einem gegebenem räumlichen Spannungszustand wird durch werkstoffspezifische Fließflächen definiert. Für den Fall des ebenen Spannungszustandes (σ3 = 0), der insbesondere für die Blechumformung von Bedeutung ist, geben sog. Fließortkurven an, bei welchen Spannungskombinationen von σ1 und σ2 Fließen einsetzt. Fließortkurven werden experimentell für konstante plastische Dehnungsbeträge, z.B. εpl = 0,002 entsprechend dem Fließbeginn im einachsigen Zugversuch, ermittelt. Für den Sonderfall eines in der Blechebene isotropen Werkstoffs lassen sich die Fließortkurven nach den Fließkriterien von TRESCA und v. MISES errechnen und sind in Bild 6.7.2 dargestellt. Für isotrope Werkstoffe genügt demnach die Fließkurve für die Berechnung des Umformverhaltens unter mehrachsiger Beanspruchung. Anders ist es bei anisotropen Werkstoffen, die durch Texturen und Vorzugsrichtungen des Fließwiderstandes in der Blechebene, s. z.B. die Fließkurven in Bild 6.2.1, gekennzeichnet sind und eine mehr oder minder starke Abweichung von diesen Idealformen zeigen (Banabic 2000). In diesem Fall be-
392
6 Mechanische Eigenschaften
nötigt man die experimentell ermittelte Fließortkurve, die die geometrische Lage des Fließbeginns genauer festlegt.
Bild 6.7.2 Fließortkurven für den ebenen Spannungszustand (σ3 = 0) eines isotropen Werkstoffs
Für die experimentelle Ermittlung der Fließortkurve von Blechwerkstoffen werden verschiedene Prüfverfahren verwendet, s. z.B. (Barlat et al. 1997, Vegter et al. 1999, Green et al. 2004). Einige Versuchsmethoden mit ihrer idealen geometrischen Lage auf der Fließortkurve sind in Bild 6.7.3 angegeben. Der äquibiaxiale Zugversuch wird mit einer Kreuzprobe durchgeführt, die gleichzeitig in zwei Achsenrichtungen mit gleicher Dehnungsrate gezogen wird. Im Falle einer einachsig wirkenden Zugbeanspruchung bei gleichzeitig starrer Einspannung der beiden anderen Achsschenkel der Kreuzprobe erhält man die Fließkurve im ebenen Dehnungszustand. Alternativ kann der ebene Dehnungszustand auch in einer Zugprobe mit kurzer Meßlänge, breiter Schulter und kleinen Übergangsradien erzeugt werden. Der Fließort „reine Scherung“ kann mit einer Zugscherprobe bestimmt werden. Zahlreiche rechnerische Ansätze zur Modellierung der Fließortkurven von anisotropen Werkstoffen, gekennzeichnet durch den Anisotropiewert „r“ (s. Abschn. 6.2), wurden in der Vergangenheit auf der Basis des Ansatzes von Hill (Hill 1948) für Aluminiumwerkstoffe weiterentwickelt (Barlat et al. 1989, Hill 1990). Die Abweichung der experimentell ermittelten Fließortkurve von der für isotrope Werkstoffe (v. Mises) ist für die rechnerische Simulation von Blechumformprozessen erheblich, wie die Beispiele in den Bildern 6.7.4 und 6.7.5 zeigen.
6.7 Einfluß des Spannungszustands
393
Bild 6.7.3 Bestimmung der Fließortkurve für den ebenen Spannungszustand durch einige verschiedene experimentelle Versuchsmethoden
Bild 6.7.4 Experimentelle und theoretische Fließortkurve für 1,2 mm Bleche aus Legierung AA1145-0 nach Green et al. (2004). Experimentelle Werte für den Fließbeginn bei εpl = 0,002 und rechnerische Modellierung nach Barlat und Lian (1989) im Vergleich zum isotropen Fließverhalten nach v. Mises. Relative Meßwerte in Walzrichtung (Index 0°) und quer zur Walzrichtung (Index 90°)
394
6 Mechanische Eigenschaften
Bild 6.7.5 Experimentelle und theoretische Fließortkurve für Karosseriebleche aus Legierung EN AW-5182-0 nach Vegter et al. (1999). Experimentelle Werte und rechnerische Modellierung nach den Methoden von Vegter et al. (1999) und Barlat et al. (1989)
6.7.3 Grenzformänderung bei ebenem Spannungszustand
Als Grenzformänderung wird in der Umformtechnik die Verformbarkeitsgrenze bezeichnet, bei der unter den gegebenen Spannungs- und Dehnungszuständen plastische Instabilität durch lokales Einschnüren beginnt, womit in der Blechumformung die Versagensgrenzen vorgegeben sind. Im einachsigen Zugversuch gilt nach dieser Definition die (wahre) Gleichmaßdehnung als Formänderungsgrenze. Bei äquibiaxialer Dehnung (z.B. bei hydraulischer Tiefung) zeigt der gleiche Werkstoff eine deutlich größere, bei ebenem Dehnungszustand eine deutlich geringere Grenzformänderung. Diese Zusammenhänge in einem einzigen Diagramm darzustellen, ist das Verdienst von Keeler (Keeler et al. 1964) und Goodwin (Goodwin 1968). Das Grenzformänderungsdiagramm (GFD) nach Keeler und Goodwin ist für den Fall eines isotropen Blechmaterials schematisch in Bild 6.7.6 dargestellt. Die Grenzformänderungskurve für Versagen durch lokale Einschnürung unterstellt für den jeweiligen Umformprozeß einen proportionalen Dehnungspfad, d.h. ϕ2/ϕ1 = konst.. Nach Beginn der Einschnürung folgt der Dehnungspfad jedoch annähernd der Gesetzmäßigkeit ebener Dehnung bis zum Bruch, d.h. ϕ2 ≈ 0, angedeutet durch den strichpunktierten Dehnungspfadverlauf bis zur Bruchgrenze in Bild 6.7.6. Die experimentelle Bestimmung der GF-Kurven für Versagen durch Einschnüren und durch
6.7 Einfluß des Spannungszustands
395
Bruch ist in Abschn. 12.1 näher erläutert. Die Form und Lage der Grenzformänderungskurven sind abhängig von der jeweiligen Legierung, Anisotropie, Gefüge und Werkstoffzustand. Der Abstand zwischen den Grenzkurven für Einschnürung und Bruch ist ein Maß für die plastische Stabilität des Umformvorgangs und daher auch ein Maß für die Duktilität des Materials in Abhängigkeit vom herrschenden Dehnungszustand. In der Nähe gleichmäßiger biaxialer Streckung ist die Einschnürdehnung am geringsten, bei höher legierten Aluminiumwerkstoffen kann der Bruchvorgang sogar ohne nennenswerte Einschnürdehnung auftreten, s. Bilder 6.7.7 und 6.7.8.
Bild 6.7.6 Schematisches Grenzformänderungsdiagramm (GFD) nach Keeler und Goodwin für ein Blech mit orthotroper Isotropie unter ebenem Spannungszustand (σ3 = 0). Die Formänderung in Dickenrichtung, ϕ3, ergibt sich aus dem Prinzip der Volumenkonstanz
Die Grenzkurve für Bruch folgt einem annähernd linearen Verlauf über dem Gesamtbereich negativer und positiver Nebenformänderungen ϕ2. Dieser Verlauf wird durch die in Bild 6.7.7 dargestellten experimentellen Ergebnisse an unlegiertem Aluminium (AA1100-0) und den naturharten AlMg-Legierungen (AA5182-0) bestätigt. Demgegenüber zeigen kaltausgehärtete Werkstoffe eine komplexere Grenzkurve für Bruch, die der Form der GF-Kurve für Einschnürung ähnlich ist, s. Beispiel der Legierung AA6111-T4 in Bild 6.7.8. Der Scherbruch ist allerdings sowohl für AA5182-0 und AA6111-T4 die vorherrschende Bruchart. Vermutlich sind für den unterschiedlichen Verlauf der Grenzkurve für Bruch die unterschiedlich starken Auswirkungen des Dehnungszustands auf den Verformungsmechanismus verantwortlich, z.B. durch intensivere Bildung von
396
6 Mechanische Eigenschaften
Bild 6.7.7 Grenzformänderungskurven für den Beginn der Einschnürung und für Bruch der Werkstoffe AA1100-0 und AA5182-0, n. Takuda et al. (Takuda et al. 2000). Blechdicke 1,0 mm
Bild 6.7.8 Grenzformänderungskurven für den Beginn der Einschnürung und Bruch des Werkstoffs AA6111-T4 nach Jain et al. (Jain et al. 1999). Blechdicke 0,9 mm
6.7 Einfluß des Spannungszustands
397
Scherbändern, die bei der Legierung AA6111-T4 beobachtet wurden (Jain et al. 1999). Für die rechnerische Modellierung der Grenzkurve für Bruch scheint daher ein einheitliches Bruchkriterium, das experimentell bestimmbare Anteile verschiedener Bruchkriterien (maximale Zugspannung, maximale plastische Verformungsarbeit und maximale Schubspannung) enthält, diesem unterschiedlichen Bruchverhalten Rechnung zu tragen (Han et al. 2003). Mit Hilfe neuartiger Röntgentomographie lassen sich zerstörungsfrei die Keimbildung von Hohlräumen an Phasen und deren Wachstum in verschiedenen Stadien der Verformung ermitteln. Die Ergebnisse an mehreren Aluminiumlegierungen zeigen, daß die Lochbildung nur schwach, dagegen das Lochwachstum stark von der Größe der Nebenformänderung ϕ2 – d.h. vom hydrostatischen Spannungsanteil – abhängt (Maire et al. 2004). Dadurch erklärt sich die mit zunehmendem ϕ2 abnehmende „wahre“ Bruchdehnung ϕbr, s. Bilder 6.7.6–6.7.8. 6.7.4 Einfluß der Mehrachsigkeit auf die Duktilität
Der Mehrachsigkeitsgrad T, vgl. Abschn. 6.7.1, wie er z. B. in der Einschnürzone und im Nettoquerschnitt von gekerbten Zugproben vorliegt, beeinflußt die Duktilität, ausgedrückt durch die „wahre“ Bruchdehnung ϕbr, vgl. Abschn. 6.1. Der Spannungszustand in diesem Fall kann nach Bridgman (Bridgman 1952) annähernd als Funktion des Kerbradius R und des Radius des Nettoquerschnitts rn (s. Bild 6.1.2) berechnet werden durch:
T = σm/σv. = 1/3 + ln(rn/2R + 1)
(6.7.10)
Mit zunehmendem hydrostatischen Spannungsanteil (σm) nehmen die Zahl der Lochbildungen an Primärphasen sowie vor allem das Lochwachstum zu. Als Folge verringert sich die „wahre“ Bruchdehnung. Liu et al. (Liu et al. 2005) untersuchten dieses Verhalten an unterschiedlich gekerbten Zugproben von zwei warmausgehärteten Legierungen, einer AlMgSiCu- (entsprechend AA6061) und einer AlCuMg-Legierung. Gleichzeitig wurden die Primärphasenanteile durch schnelle (~ 100 °C/s, Index „F“) und langsame (5 °C/s, Index „S“) sowie durch eine extensivere, stufenweise (Index „E“) und normale (Index „T“) Lösungsglühung verändert. Entsprechend änderten sich Festigkeits- und Duktilitätswerte nach der Warmaushärtung, wie in Tabelle 6.7.1 wiedergegeben ist. Bild 6.7.9 zeigt die Meßergebnisse der „wahren“ Bruchdehnung in Abhängigkeit vom Mehrachsigkeitsgrad T für beide Legierungen in den verschiedenen Wärmebehandlungszuständen. Liu et al. konnten nachweisen, daß die Sensibi-
398
6 Mechanische Eigenschaften
lität der Duktilität in bezug auf die Mehrachsigkeit vom Volumenanteil an Primärphasen abhängt. D.h., je duktiler der Grundwerkstoff, je geringer der Primärphasenanteil und je schneller die Abschreckung ist, desto weniger empfindlich reagiert der Werkstoff auf den hydrostatischen Spannungsanteil. Ähnliche Einflüsse ergaben sich bei der Bestimmung der Bruchzähigkeit KIc. Tabelle 6.7.1 Streckgrenze und “wahre” Bruchdehnung ϕbr einer AlCuMg- und einer AlMgSiCu-Legierung ermittelt an ungekerbten und gekerbten Zugproben mit verschiedenen Kerbgeometrien (Liu et al. 2005) Legierung / Behandlung Al-Cu-Mg EF TF TS Al-Mg-Si-Cu EF TF TS
Rp0,2 ϕbr gemessen bei einer Mehrachsigkeit T = σm/σv [MPa] ungekerbt 0,54 0,65 0,74 0,86 0,93 1,06 353 298 258
0,289 0,237 0,249
0,266 0,211 0,218
0,229 0,162 0,150
0,200 0,186 0,143 0,124 0,137 0,118
0,178 0,116 0,100
0,176 0,108 0,087
292 259 225
0,341 0,275 0,288
0,332 0,241 0,246
0,295 0,198 0,187
0,272 0,259 0,178 0,166 0,172 0,153
0,246 0,154 0,130
0,228 0,133 0,108
Bild 6.7.9 Einfluß der Mehrachsigkeit T auf die „wahre“ Bruchdehnung ϕbr bezogen auf die Bruchdehnung bei T = 0,54 für gekerbte Proben der maximal warmausgehärteten Legierungen Al-4,6Cu-0,65Mg-0,22Mn und Al-1,12Mg-0,57Si0,25Cu-0,22Cr (AA6061) mit unterschiedlichen Bedingungen bei der Lösungsglühung und Abschreckung (s. Text), nach (Liu et al. 2005)
7 Gießverfahren
Der Weg von der Schmelze zum Knetmaterial oder Formgußteil basiert auf grundlegend verschiedenen Gießmethoden. Vormaterial für das Walzen, Strangpressen oder Schmieden wird heute überwiegend mit dem halbkontinuierlichen „Wasserguß“-Stranggießverfahren hergestellt. Für die Herstellung von Kaltwalzband und Drahtvormaterial werden zudem kontinuierlich arbeitende Bandgießanlagen verwendet. Aluminiumformgußteile werden dagegen mit zahlreichen unterschiedlichen Gießverfahren hergestellt, die z.T. durch firmenspezifische Varianten noch bereichert werden. Die mit diesen Verfahren herstellbaren Legierungen unterliegen z.T. verfahrensbedingten Einschränkungen. Die Formgießverfahren unterscheiden sich darüber hinaus in Bezug auf Gestaltungsfreiheit, Mindestwanddicke, Gefügequalität, Serientauglichkeit und Wirtschaftlichkeit. Im folgenden werden die wichtigsten Gießverfahren kurz erläutert und mit einem Verfahrensvergleich abgeschlossen.
7.1 Stranggießverfahren In den frühen Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts wurde das Ausgangsmaterial für die Halbzeugherstellung in Form des Barrengusses erzeugt, wobei dickwandige Gußeisenkokillen zum Einsatz kamen. Ein Technologischer Zeitensprung gelang 1936 Walter Roth bei den Vereinigten Leichtmetallwerken, Bonn, durch die Entwicklung des „Wasserguß“-Verfahrens, s. Patentschrift in Bild 7.1.1. Die Legierungsschmelze wurde dabei kontinuierlich in eine kurze, wassergekühlte Ringkokille gefüllt, die mit einem absenkbaren Fußblock auf dem Gießtisch abgeschlossen wurde. Im Kontakt mit der kalten, befetteten Kokillenwand erstarrt eine dünne Schale, die den „Sumpf“ umschließt – s. Schemaskizze in Bild 7.1.2 – und beim langsamen Absenken des Gießtisches (80 bis 140 mm/min.) und beim kontinuierlichen Nachspeisen des Kokillenraums über eine Gießrinne die direkte Berührung zwischen Schmelze und Kühlwasser verhindert. Die weitere Abkühlung des Barrens erfolgt durch direkten Kontakt zwischen Kühlwasser und Barrenoberfläche.
400
7 Gießverfahren
Bild 7.1.1 Patentschrift des Dr. Walter Roth, VLW, Bonn aus dem Jahr 1936
Auf diese Weise wird gegenüber der früher verwendeten, ungekühlten Barrenkokille eine schnelle Erstarrung bis zum Blockkern erreicht. Das Ergebnis ist ein über den gesamten Querschnitt feinkörniger, dichter, poren- und lunkerfreier Barren. Das Stranggießverfahren nach W. Roth beherrscht heute weltweit die Aluminiumbarrenproduktion. Natürlich haben weitere Entwicklungen stattgefunden mit dem Ziel, den Gießablauf wirtschaftlicher zu gestalten und durch verbesserte Temperaturführung das Gußgefüge zu verfeinern. Üblich ist ein Keramikaufbau auf der Kokille („Hot Top“), der den Temperaturgradienten reduziert und dadurch zu einem flacheren Sumpf für ein gleichmäßigeres Gefüge über dem Barrenquerschnitt führt. Weiterhin wird das notwendige Trennmittel als Öl/Luft-Gemisch zugeführt, um die Wärmeabfuhr an der Kokillenwand zu verringern und dadurch eine möglichst dünnere Randschale und eine glatte Oberfläche zu erzeugen. Damit kann vielfach auf das Abdrehen der Barrenoberfläche von Rundbarren vor dem
7.1 Stranggießverfahren
401
Strangpressen verzichtet werden. Solche Weiterentwicklungen werden unter den Markennamen Airsol-Veil®, Airglide® und AirslipTM vertrieben (Brockmann 2005).
Bild 7.1.2 Schema des konventionellen Stranggießverfahrens nach W. Roth
Rundbarren als Einsatzmaterial für das Strangpressen oder Schmieden und Rechteckbarren für das Walzen von Platten, Blechen und Bändern werden im Mehrfachguß hergestellt, s. Bild 7.1.3. Typische Gießanlagen für Mehrfachguß arbeiten mit Kokillenbatterien für 12 bis 96 Rundbarren. Die Gießlängen variieren zwischen 3 und 7 m, in Ausnahmefällen bis zu 10 m. Rundbarrendurchmesser betragen zwischen 75 und 700 mm. Die größten Walzbarrenformate haben Abmessungen bis etwa 600x2200x8700 mm und ein Gewicht bis zu 30 t. Walzbarrengießanlagen haben eine Kapazität bis zu 90 t pro Abguß. Alternativ zum Strangguß wird Vormaterial für Bleche und Bänder auch mit kontinuierlichen Gießanlagen hergestellt (z.B. Hunter-Douglas Twin Role Caster oder Hazelett Belt Caster). Mit diesen Verfahren wird die Warmwalzstufe übergangen und das Gießband direkt oder nach einer Abkühlstrecke dem Kaltwalzgerüst zugeführt, s. auch Abschn. 8.1. Vorteile dieser Verfahren sind neben Kosteneinsparungen – bis zu 60% der Walzkosten – die wesentlich schnellere Erstarrung als bei großen Stranggußblöcken, die zu einem feineren Gußgefüge führt, besonders im Hinblick auf Primärphasen. Der bisher bestehende Nachteil ist vor allem die gieß-
402
7 Gießverfahren
technische Beschränkung auf relativ niedrig legierte, naturharte Werkstoffe. Eine Erweiterung der Legierungspalette ergibt sich künftig möglicherweise mit dem Rheocasting, dem Bandgießen mit halberstarrter Schmelze.
Bild 7.1.3 Mehrfachgießanlage für Rundbarren mit Gießrinnen vor dem Anguß (Quelle: Gautschi)
7.2 Formgießverfahren Neben den traditionellen Formgießverfahren, Sandguß, Schwerkraftkokillenguß und Druckguß, wurden in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche weitere Gießverfahren und Verfahrensvarianten entwickelt und in die Gießereipraxis eingeführt. Gemeinsames Ziel aller dieser Entwicklungen sind die Verbesserung der Prozeßsicherheit, der Gußteileigenschaften und die Erweiterung der Einsatzbereiche unter Berücksichtigung von Mindestseriengröße und Herstellkosten. „Rapid Prototyping“ − also die schnelle serienausführungsähnliche Herstellung von Einzelstücken − ist eine weitere Motivation für die Entwicklung der Gießverfahren. Grundsätzlich kann man die Gießverfahren in Verfahren mit “verlorenen“ Formen und in solche mit Dauerformen einteilen (von Zengen, 1992), s. Tabelle 7.2.1. Die neueren Verfahrensvarianten der klassischen Sand-, Kokillen- und Druckgießverfahren sind gekennzeichnet durch Maßnahmen zur turbulenzarmen Formfüllung und verwenden zur Verbesserung des
7.2 Formgießverfahren
403
Formfüllungs- und Speisungsverhaltens Drücke von weniger als 1 bar bis zu 100 bar und mehr. Unterdruck (oder „Vakuum“) bei der Formfüllung soll Gasaufnahme und Oxideinschlüsse verringern. Hohe Drücke sollen während der Erstarrungsphase das Speisungsverhalten und die Vermeidung von Schrumpfporosität unterstützen. Tabelle 7.2.1 Übersicht über die wichtigsten Formgießverfahren für Aluminium, nach (von Zengen 1992) Verlorene Formen Sandguß Grünsandguß (u.a. Cosworth®) KernpaketVerfahren NiederdruckSandguß® Vollformguß Feinguß
Dauerformen Kokillenguß Druckguß SchwerkraftStandardkokillenguß druckguß NiederdruckVakuumdruckguß kokillenguß VACURAL® Gegendruckguß „Indirektes“ Precocast® Squeeze-Casting „Direktes“ PORAL® Squeeze-Casting Thixoguß
Sandguß
Das Sandgießen erfolgt in hand- oder maschinengeformte ton- oder harzgebundene Sandformen aus natürlichen oder synthetischen Formstoffen. Die Formstoffe werden weniger stark verdichtet als beim Sandgießen von Gußeisen, damit die Entgasung bei dem geringeren hydrostatischen Druck der leichteren Aluminiumschmelze gewährleistet ist. Bei den Modellen müssen deshalb größere Radien vorgesehen werden. Andererseits verhindert die lockerere Verdichtung die Warmrißneigung von empfindlichen Legierungen. Der Gießvorgang wird im allgemeinen an Atmosphäre ohne besondere Oxidationsschutzmaßnahmen durchgeführt. Das Verfahren eignet sich für Kleinserien und besonders für die Prototypenherstellung. Wenn die Formen auf modernen Formautomaten mit automatischer Sanddosierung und Verdichtung hergestellt werden, ist Sandguß auch für große Serienproduktion wirtschaftlich (z.B. Cosworth®Verfahren“, „Disamatic®“, „Core-Package-System®“). Fachgerecht erzeugter Sandguß ist wärmebehandelbar und schweißbar. Wegen der im Verhältnis zum Kokillenguß langsameren Erstarrung sind die Festigkeitswerte etwas geringer. Wanddicken sollten über 3 – 4 mm liegen. Bauteilgrößen werden kaum durch Maschinenkapazitäten begrenzt. Ein wichtiger Vorzug der Sandgießverfahren ist die große Gestaltungsfreiheit. Hinterschneidungen, Bohrungen und Formhohlräume sind durch eingelegte
404
7 Gießverfahren
Sandkerne herstellbar. Ein weiterer Vorzug ist die relativ einfache Änderungsmöglichkeit bzw. Anpassung der Geometrie, was insbesondere bei der Prototypenherstellung wichtig ist. Solche Änderungen verursachen bei Dauerformen erhebliche Kosten. Die Sandformherstellung geschieht nach verschiedenen Verfahren, z.B. dem Seihatsu-Hochdruck-Verfahren, bei dem der in die Form gefüllte feuchte Sand (Grünsandguß) mit Preßluft durchströmt und danach mechanisch oder hydraulisch verdichtet wird. Anschließend werden – falls erforderlich – die Kerne aus harzgebundenem Sand und evtl. mit einer Keramikschlichte überzogen in die Form gelegt und die Form geschlossen. Bild 7.2.1 gibt einen Eindruck von der Komplexität des Formenaufbaus.
Bild 7.2.1 Sandkernsatz für eine Zylinderkopf-Sandgußform (Rover, Langbridge). (Campbell 1994)
Verschiedene Sandgießverfahrensvarianten wurden großserientauglich weiterentwickelt und unterscheiden sich vornehmlich durch die Art der Formfüllung mit Schmelze und durch die Kontrolle des Erstarrungsablaufs. Beim konventionellen Sandguß geschieht die Formfüllung durch Schwerkraftgießen über den Eingießkanal – analog zum Schwerkraftkokillenguß, s. Bild 7.2.8. Die Schmelze strömt von unten in den Formhohlraum. Die Form des Eingießkanals ist so gestaltet, daß beim Eingießen eine möglichst turbulenzfreie Strömung erreicht wird, um Spritzerbildung zu vermeiden. Spritzerbildung der dünnflüssigen Aluminiumschmelze geschieht bereits bei Strömungsgeschwindigkeiten von 500 mm/s, was einer freien Fallhöhe von nur 13 mm entspricht. Die auf den Spritzern gebildeten Oxidteilchen können zu Gefügeinhomogenitäten und zur Minderung der mechanischen Eigenschaften führen.
7.2 Formgießverfahren
405
Cosworth®-Sandgußverfahren
Das Cosworth®-Verfahren ist ein Niederdruck-Sandgießverfahren, das für Automobilgußteile und größere Serienstückzahlen entwickelt wurde. Die Schmelze wird mittels einer elektromagnetischen Pumpe aufwärts in die Gießform gefördert, s. Bild 7.2.2. Durch programmierbare Steuerung der Pumpenleistung kann eine der jeweiligen Form angepaßte Formfüllungsweise eingestellt werden. Mit der gleichen Formfüllungsmethode arbeitet auch das DISAmatic®-Verfahren, das sich vom Cosworth®-Verfahren durch eine kastenlose Sandformherstellung unterscheidet.
Bild 7.2.2 Schema des Cosworth® Niederdruck-Sandgieverfahrens (Quelle J. Campbell, Birmingham)
Kernpaket-Verfahren (Core-Package-System CPS®)
Das CPS®-Verfahren ermöglicht wie das Cosworth®-Verfahren einen sehr komplexen Formenaufbau, der sich insbesondere für den Motorengehäuseguß eignet, s. Bilder 7.2.3 und 7.2.4. Die Form wird vor dem Abguß mit
Bild 7.2.3 Sandformteile beim CPS®-Gießverfahren (Quelle: Hydro Aluminium (ehem. VAW))
406
7 Gießverfahren
Bild 7.2.4 Vier-Zylinder-Motorblock, hergestellt mit dem CPS®-Verfahren (Quelle: Hydro Aluminium (ehem. VAW))
inertem Gas gespült und die Formfüllung erfolgt im Schwerkraftgießen. Nach dem Füllen der Form wird der Formkasten um 180° gedreht, so daß sich das zuerst eingefüllte, kältere Material am Boden des Formhohlraums befindet, und eine gerichtete Erstarrung erfolgen kann. Auf diese Weise wird die Nachspeisung gesichert. Niederdruck-Sandguß®
Mit Niederdruck-Sandgießen® wird ein Sonderverfahren der HonselWerke AG, Meschede, bezeichnet, mit dem dünnwandige, dem Druckguß ähnliche Gußteile kostengünstig vorentwickelt werden können. Das Verfahren ähnelt dem Cosworth-Verfahren, indem die Form von unten steigend gefüllt wird. Der Füllvorgang ist vom Niederdruck-Kokillengießen übernommen worden. Mit einem Gasüberdruck (∆p < 1 bar) im Schmelzeraum des unter der Gießform angeordneten Warmhalteofens wird die Schmelze in die Form gedrückt, s. Bild 7.2.5. Auch hier kann die Formfüllung turbulenzarm durch einen der jeweiligen Gußteilform optimal angepaßten und mikroprozessorgesteuerten Druckaufbau vorgenommen werden. Die Aufrechterhaltung des Überdrucks sorgt während der Erstarrungsphase für eine Unterstützung der Nachspeisung.
7.2 Formgießverfahren
407
Bild 7.2.5 Schema des Niederdrucksandgießverfahrens der Fa. Honsel AG, Meschede
Vollformgießen
Zur Gruppe der Sandgießverfahren mit verlorenen Formen ist auch das sog. „Vollformgießen“ zu zählen. Es wurde bereits vor fast 40 Jahren bekannt (Verfahrenspatent 1958 von H. F. Shroyer), gewinnt aber für Aluminium erst in den letzten Jahren industrielle Bedeutung. Der Verfahrensablauf ist in Bild 7.2.6 schematisch dargestellt. Das Werkstück wird als Gießmodell aus expandierbarem Polystyrol (EPS) erstellt und mit dem Einguß und Anschnitt, ebenfalls aus Polystyrol, durch Klebstoff zusammengefügt, mit keramischer Schlichte überzogen und anschließend in binderfreiem Sand eingebettet. Durch Vibration des Formkastens wird der lose Sand in alle Öffnungen des Modells gefüllt. Beim Eingießen der Schmelze vergast das Polystyrol und entweicht durch den Schlichtemantel in den Formsand. Der Gießvorgang ist abgeschlossen, wenn die Schmelze den Hohlraum des EPS-Modells ausfüllt hat und erstarrt ist. Mit Hilfe der Klebtechnik lassen sich komplizierte Formen mit Hinterschneidungen und Bohrungen in einem einteiligen Gießmodel herstellen. Kleinere, auch unterschiedliche Gießmodelle können zu Trauben zusammengesetzt werden, so daß der Anteil an Umlaufmetall (Angüsse etc.) klein gehalten werden kann.
408
7 Gießverfahren
Die Abbildungs- und Maßgenauigkeit ist hoch, vorausgesetzt, daß die EPS-Modelle durch die Verdichtung im Rüttelprozeß nicht verbogen werden. Aushebeschrägen sind nicht notwendig. Die gießbaren Mindestmaße für Wanddicken und Bohrungen sind teilespezifisch und hängen entscheidend vom Formfüllungsverhalten des Formsandes ab. Die beim Vergasen abgegebene Wärme muß durch eine höhere Gießtemperatur ausgeglichen werden. Dadurch steigt allerdings die Gefahr der Gasaufnahme der Schmelze und der Gasporosität im Gußteil. Die mechanischen Eigenschaften von Vollformgußteilen sind ähnlich denen von Sandgußteilen.
Bild 7.2.6 Verfahrensschritte beim Vollformgießen
Feinguß (Wachsausschmelzverfahren) Beim Feingießen werden in metallischen Dauerformen durch Spritzgießen Wachsmodelle hergestellt, die zu Trauben montiert und dann durch mehrfaches Tauchen in einer keramischen Masse mit einem Mantel überzogen werden, s. Bild 7.2.7. Die Dicke des Mantels beträgt mindestens 7 mm, um eine genügende Eigenfestigkeit zu erhalten. Die Wachsmodelle werden ausgeschmolzen; die Form wird gebrannt. In die noch heiße Form wird abgegossen. Das Verfahren wird vorwiegend für kleinere Gußstücke mit großer Maßgenauigkeit und hoher Oberflächengüte verwendet. Durch Einsatz von Robotern können auch Feingußteile mit größeren Abmessungen vergossen werden.
7.2 Formgießverfahren
409
Bild 7.2.7 Werkzeuge für die Herstellung von Feingußwachsmodellen (links) und Tauchbeschichtung der Wachsmodelle mit Keramikschlämme (rechts) (Quelle: J. Campbell, Birmingham)
Schwerkraftkokillenguß
In der Regel werden als Dauerformen Kokillen aus Gußeisen mit Lamellengraphit oder Warmarbeitsstählen verwendet. Hohlräume, Bohrungen etc. können durch eingelegte Sandkerne und durch Metallkerne („Schieber“) erzeugt werden, s. Bild 7.2.8. Kokillengußstücke haben gegenüber
Bild 7.2.8 Schema einer Form für den Schwerkraftkokillenguß
410
7 Gießverfahren
Sandguß den Vorteil der wesentlich schnelleren Erstarrung, verbunden mit einem feineren Gefüge und höheren Festigkeiten, höherer Maßgenauigkeit, Schweiß- und Anodisierbarkeit. Das Kokillengießen findet breite Anwendung bei der Herstellung von Rädern und Fahrwerksteilen. Beim Schwerkraftkokillenguß erfolgt die Formfüllung ausschließlich unter dem Einfluß der Schwerkraft. Niederdruck-Kokillenguß
Beim Niederdruck-Kokillenguß wird die Schmelze unter einem geringen Gas-Überdruck durch ein Steigrohr in die oberhalb der Schmelze angeordnete Kokille gedrückt und erstarrt unter diesem Druck, s. Bild 7.2.9. Mit diesem Verfahren kann in nahezu idealer Weise eine gerichtete Erstarrung der Gußstücke verwirklicht werden. Die langsame Formfüllung vermeidet Turbulenzen. Mit dem Niederdruck-Kokillengießverfahren werden PKWRäder, Zylinderköpfe und Motorblöcke hergestellt.
Bild 7.2.9 Verfahrensschema des Niederdruck-Kokillengießens
Gegendruck-Kokillenguß
Eine Variante zum Niederdruck-Kokillengießverfahren ist das Gegendruck-Kokillengießen (Firmenbezeichnung „Precocast“), bei dem die Formfüllung und Erstarrung unter einem Differentialdruck bis etwa 10 bar erfolgt. Hierbei stehen sowohl die Gießform als auch die Ofenkammer unter Druck. Die Formfüllung erfolgt durch Absenken des Drucks in der Formkammer. Der Verfahrensablauf ist in Bild 7.2.10 dargestellt. Die Ver-
7.2 Formgießverfahren
411
fahrensvorteile sind geringere Porosität der Gußstücke und damit bessere mechanischen Eigenschaften. Außerdem sorgen die höheren Erstarrungsgeschwindigkeiten für ein feineres Gefüge.
Bild 7.2.10 Ablaufschema des Gegendruck-Gießverfahrens („PreCoCast“)
Druckguß
Beim Druckgießen wird die Schmelze unter hohem Druck und hoher Geschwindigkeit in Dauerformen aus Warmarbeitsstahl gepreßt (eigentlich gespritzt oder gesprüht). Das Verfahren erlaubt bei hoher Taktfrequenz die Herstellung komplizierter und dünnwandiger Gußteile mit hoher Maßgenauigkeit und glatter Oberfläche. Die Gußstücke erfordern sehr geringe Nacharbeiten und sind zum Teil einbaufertig. Bei entsprechender Legierungsauswahl – z.B. EN AC-51200 (Al Mg9) – ist eine Oberflächenveredlung möglich. Die Einschränkungen in der Formgestaltung sind größer als beim normalen Schwerkraftkokillenguß, da das Verfahren ohne einlegbare Sandkerne durchgeführt werden muß. Das Verfahrensschema – horizontaler Kaltkammerguß – ist in Bild 7.2.11 dargestellt. Für das Druckgießen eignen sich besonders Legierungen der Typen AlSi, AlSiCu und AlMg. Zur Vermeidung von „Kleben“ des Gußteils in der Form wird ein erhöhter Fe-Gehalt verwendet. U.a. aus eben diesem Grunde werden vorzugsweise Sekundärgußlegierungen verwendet. Von Nachteil ist die geringe Duktilität von Druckgußteilen, die sich aus dem verfahrensbedingt relativ hohen Gasgehalt ergibt. Aus dem gleichen Grunde sind Schweißen und Wärmebehandeln wegen der Poren- und Blasenbildung im allgemeinen nicht möglich. Verbesserungen sind in diesem Zusammenhang durch Optimierung der Formschlichtung und vor allem durch das Thixogießen, das Vakuumdruckgießen und das indirekte Squeeze-Casting, bei dem eine Nachverdichtung des Gußstückes während der Erstarrung durchgeführt wird, erreicht worden.
412
7 Gießverfahren
Bild 7.2.11 Schema einer Horizontal-Kaltkammer-Druckgießmaschine
Direktes Squeeze-Casting
Beim direkten Squeeze-Casting − auch Squeeze Forming oder Flüssigschmieden genannt − wird die Schmelze in genau dosierter Menge in die Unterhälfte der Gießform chargiert. Danach senkt sich die Oberhälfte der Gießform in die Schmelze, wobei ein hoher Druck aufgebracht wird, unter dem die Schmelze erstarrt. Der Verfahrensablauf ist in Bild 7.2.12 schematisch dargestellt.
Bild 7.2.12 Ablaufschema des direkten Squeeze Casting Prozesses (GKN Squeeze Forming). Schritt 1: Einfüllen der dosierten Schmelzemenge in die Gießform. Schritt 2: Schließender Form und Erstarrung unter Preßdruck. Schritt 3: Entformen
Durch die Drucküberlagerung beim Erstarrungsprozeß und die dadurch erzwungene Nachspeisung wird die Bildung von Lunkern, Schrumpfporosität und vor allem von Warmrissen vermieden, so daß auch warmriß-
7.2 Formgießverfahren
413
empfindliche Knetlegierungen vergossen werden können. So können mittel- und hochfeste Legierungen vom Typ AlSi1MgMn (EN AW-6082) und AlZn5,5MgCu (EN AW-7075) erfolgreich gegossen und wärmebehandelt werden. Beispiele für derartige Teile zeigt Bild 7.2.13. In allen Fällen handelt es sich um relativ dickwandige Teile, die in der Form gleichmäßig erstarren und eine Nachspeisung aus dem vorhandenen Volumen ermöglichen. Der hohe Arbeitsdruck setzt robuste, hydraulisch angetriebene Maschinen voraus, die eher den Schmiedepressen als den Gießmaschinen vergleichbar sind.
Bild 7.2.13 Mit dem direkten Squeeze Casting Verfahren hergestellte Formteile aus Aluminiumknetlegierungen (Quelle: J. Campbell, Birmingham)
Methodisch verwandt ist das Thixoschmieden, also das Gesenkformen im halbflüssigen Zustand. Auch mit diesem Verfahren ist es möglich, Knetlegierungen, z.B. die Legierung DIN EN AW-6082, zu formen und durch die Einstellung des thixotropen Zustands eine gute Formfüllung bei niedrigen Pressenkräften zu erzielen (Siegert 2001). Die Voraussetzung ist eine exakte Temperaturführung bei der Aufheizung in den thixotropen Zustand (Temperaturkontrolle ± 2–3 °C). Informationen zur Thixotropie s. Abschn. Thixocasting. Indirektes Squeeze Casting
Das indirekte Squeeze-Casting-Verfahren – auch als UBE-Verfahren bekannt – ist von der Maschinentechnik und von den Verfahrensmerkmalen dem (vertikalen) Kaltkammer-Druckgießverfahren zuzuordnen. Durch große Anschnitte wird eine genau dosierte Menge Metallschmelze langsam (ca. 0,5 m/s gegenüber 30 m/s beim konventionellen Druckguß) und lami-
414
7 Gießverfahren
nar in den Formhohlraum gepreßt. Durch den großen Querschnitt des Anschnitts kann während der Erstarrung nachgespeist werden. Die Erstarrung erfolgt unter hohem Druck (bis 1150 bar). Auf diese Weise werden porenarme und druckdichte Gußstücke hergestellt, die wärmebehandelbar und schweißbar sind. Bild 7.2.14 zeigt den Verfahrensablauf am Beispiel einer UBE-Vertikalgießmaschine.
Bild 7.2.14 Ablaufschema (Schritte 1 bis 4) für den indirekten Squeeze Casting Prozeß (System: UBE)
Es werden hohe Festigkeiten, vor allem auch hohe Bruchdehnungen erreicht, so daß sich das Verfahren auch für Sicherheitsteile (Räder, Radträger, Lenkgehäuse) anbietet. Prinzipiell können mit dem Verfahren auch Knetlegierungen vergossen werden, bei denen Bruchdehnungen bis 10% erreicht werden. Die Gußstücke sind dekorativ anodisierbar. Je nach Maschinenbauart sind Gußstücke mit Gewichten bis zu 40 kg herstellbar. Wegen der hohen Investitionskosten eignet sich das Verfahren nur für große Stückzahlserien. Durch Einlagern von Faserwerkstoffen (Al2O3-, Bor-, Siliziumkarbid-, Stahl-, Kohlenstoff-, Glasfasern u.a.) ist es möglich, Aluminiumgußwerkstoffe zu verstärken, d.h. Zugfestigkeit, 0,2%-Dehngrenze, Elastizitätsmodul und Warmfestigkeit zu erhöhen. Indirektes Squeeze-Casting ist geeignet zur Herstellung von partikel-, kurz- und langfaser- sowie keramikschaumverstärkten Werkstücken. Die partielle Verstärkung mit Faservorformlingen ist mit diesem Verfahren z.B. bei der Muldenrandverstärkung von LKW-Dieselmotorkolben Stand der Technik. PORAL
Das PORAL-Verfahren wird auf Horizontal-Kaltkammer-Druckgießmaschinen durchgeführt, wobei durch langsame, ruckfreie Führung des Gießkolbens eine turbulenzfreie Formfüllung angestrebt wird. Es ist somit dem
7.2 Formgießverfahren
415
UBE-Verfahren verwandt. Auf diese Weise erhält man poren- und gasarme Gußstücke, die wärmebehandelbar und schweißbar sind und eine gegenüber Schwerkraftkokillenguß deutlich verbesserte Bruchdehnung besitzen. Pore-Free-Verfahren
Eine andere Möglichkeit, Porositäten zu vermindern, besteht darin, den Formhohlraum mit einer Sauerstoffatmosphäre zu füllen (Pore-Free-Verfahren). Die in Reaktion der Schmelze mit dem Sauerstoff entstehende geringe Menge an Oxiden wird feinverteilt im Gußstück eingelagert. VACURAL-Druckguß
Das VACURAL-Verfahren – eine firmenspezifische Entwicklungsvariante des Vakuumdruckgußverfahrens – wurde gemeinsam von den Firmen Müller-Weingarten, VAW und Ritter Aluminium entwickelt. Mit diesem Verfahren in der Variante AVDC (Alcoa Vacuum Die Casting) wurden und werden vielfältige Strukturteile für den Karosseriebau, z.B. für die Audi-Spaceframe®-Bauweise hergestellt, s. Bild 2.1.22. Bei dem Verfahren wird die Evakuierung des Formhohlraumes und der Gießkammer während des Formfüllungsvorgangs aufrechterhalten. Dadurch wird die erforderliche Metallmenge über ein Steigrohr aus dem Warmhalteofen in die Gießkammer gesaugt und die Luft im Formhohlraum sowie die beim Kontakt zwischen Schmelze und Formwand entstehenden Gase abgeführt. Der Gasgehalt des Gußstücks wird dadurch auf Bruchteile der Gehalte herkömmlicher Druckgußteile reduziert. Bild 7.2.15 zeigt das Schema einer VACURAL-Anlage.
Bild 7.2.15 Aufbau einer VACURAL-Gießanlage (Quelle: VAW aluminium AG, Bonn)
416
7 Gießverfahren
VACURAL-Teile sind wärmebehandelbar und schweißbar und zeichnen sich bei entsprechender Legierungswahl durch hohe statische und dynamische Festigkeitseigenschaften bzw. durch gute Verformbarkeit und Zähigkeit aus. Beispiele aus Versuchsgüssen zeigt Bild 7.2.16. Gegenüber den charakteristischen Vorzügen des herkömmlichen Druckgusses, nämlich Dünnwandigkeit, Maßhaltigkeit und hohe Produktivität müssen nur geringe Zugeständnisse gemacht werden. Die Verwendung von Schiebern in der Form zur Erzeugung von Bohrungen, Durchbrüchen oder Hinterschneidungen stoßen allerdings bei der Vakuumtechnik auf Schwierigkeiten.
Bild 7.2.16 Duktilitätstests an wärmebehandelten VACURAL-Druckgußteilen aus AlSi7Mg0,3-F (Quelle: VAW aluminium AG, Bonn)
Thixo-Casting
Eine weitere Sonderform des Druckgießens stellt das Thixogießen dar (Erz 1990, Gabathuler et al. 1992). Thixotropie ist eine Eigenschaft von bestimmten, halberstarrten Metallschmelzen, sich bei Abwesenheit äußerer Kräfte als hochviskoser Festkörper zu verhalten, unter der Wirkung von Scherkräften aber eine um mehrere Größenordnungen niedrigere Viskosität anzunehmen. Voraussetzung dazu ist ein globulitisch, nicht dendritisch vorerstarrter α-Mischkristallphasenanteil von 50 bis 60 %. Unter dem Begriff „Thixocasting“ – im Gegensatz zu „Thixoforging“ – wird das Einfüllen eines thixotropen Rohlings in eine geschlossene Gußform verstanden. Dagegen wird beim Thixoforging der Rohling in eine Gesenkformhälfte gelegt und durch Schließen des Gesenks die Bauteilform erzeugt. Beide Verfahren werden auch unter dem Begriff „Thixoforming“ zusammengefaßt.
7.2 Formgießverfahren
417
Beim Thixoforming wird ein Vormaterial mit feinem globulitischen Korngefüge benötigt, bei dem bei Prozeßtemperatur die α-Mischkristallphase von angereicherter Restschmelze umgeben ist. Diese Forderungen an das Ausgangsgefüge für den Thixoformprozeß schränkt z.Zt. die verarbeitbare Legierungspalette ein. Verarbeitet werden bisher fast ausschließlich Legierungen des Typs AlSi7Mg (A356 und A357), die ein ausreichend großes Erstarrungsintervall besitzen, um den richtigen Festkörperanteil der Schmelze zuverlässig einstellen zu können. Bis zu ca. 50 mm Durchmesser kann geeignetes Vormaterial durch Strangpressen erzeugt werden. Kostengünstiger und in den Abmessungen flexibler ist die Herstellung des Vormaterials mit dem Horizontalstrangguß in Verbindung mit elektromagnetischem Rühren der erstarrenden Schmelze. Bild 7.2.17 zeigt einen Weg zur Herstellung von thixotropem Gußvormaterial auf (Gabathuler et al. 1992).
Bild 7.2.17 Gefüge von Strangguß und Thixogußvormaterial aus Legierung AlSi7Mg0,3 (A356) (Quelle: Alusuisse)
Der Verfahrensablauf des Thixocasting ist schematisch in Bild 7.2.18 dargestellt. Es werden zunächst die mit Horizontalstrangguß erzeugten Barren in Abschnitte entsprechend dem Abgußgewicht geteilt und anschließend induktiv auf eine geeignete Temperatur im Solidus-LiquidusPhasengebiet erhitzt, so daß sich ein Restschmelzeanteil von ca. 35 % einstellt. Dann wird der thixotrope Bolzenabschnitt in die Füllkammer einer Druckgußmaschine eingelegt und mit Gießkolbendruck in die Kokille gepreßt. Bild 7.2.19 gibt einen Eindruck von der Scherfestigkeit des richtig vorgewärmten thixotropen Gußmaterials. Thixogußteile erreichen höhere Bruchdehnungswerte und deutlich höhere Schwingfestigkeitseigenschaften als konventionelle Kokillen-, Sand-
418
7 Gießverfahren
und Druckgußteile, s. Bild 7.2.20 (Gabathuler et al. 1993). Wegen der hohen Bruchdehnungen und wegen der statischen und dynamischen Festigkeiten scheinen Thixogußteile besonders für die Herstellung von Sicherheitsteilen geeignet zu sein.
Bild 7.2.18 Gesamtschema des Thixocasting Prozesses (Quelle: Alusuisse)
Bild 7.2.19 Duktilitätskontrolle des vorgewärmten thixotropen Materials (Altenpohl et al. 1996)
7.3 Vergleich der Formgießverfahren
419
Bild 7.2.20 Mechanische Eigenschaften von Thixoguß aus AlSi7Mg0,3 im Vergleich zu Kokillen-, Sand- und Druckguß (Gabathuler et al. 1993)
Die geringere Gießtemperatur bietet wirtschaftliche Vorteile, da die Gießform thermisch weniger belastet wird. Außerdem sind geringere Taktzeiten möglich, da weniger Wärme abgeführt werden muß. Druckdichtigkeit des Gefüges und geringere Aushebeschrägen verringern den Bedarf für mechanische Nacharbeit. Nachteilig ist der gegenüber der normalen Gußlegierung höhere Preis für das Thixo-Vormaterial. Ein weiterer Kostenfaktor ist die aufwendigere Qualitätssicherung, da neben der Durchstrahlungsprüfung eine metallographische Gefügekontrolle hinsichtlich Porosität erforderlich ist. In bezug auf die Gestaltungsmöglichkeiten des Formgußteils gelten die gleichen Freiheiten und Einschränkungen wie bei normalen Druckguß.
7.3 Vergleich der Formgießverfahren Die beschriebenen Grundtypen der verschiedenen Gießverfahren unterscheiden sich in einer ganzen Reihe von Merkmalen, so daß jedes Verfahren seine Berechtigung für gegebene Anforderungsprofile hat. In der Tabelle 7.3.1 sind die verschiedenen Verfahren (mit Ausnahme des Feingusses) bezüglich wichtiger Kriterien gegenübergestellt. Über die aufgelisteten Kriterien hinaus gibt es Unterschiede im Hinblick auf die Legierungsauswahl, die bei einigen Verfahren beschränkt sind. Abgesehen von Thixogußlegierungen sind vor allem die Druckgußlegierungen Einschränkungen unterworfen, die prozeßbedingt sind. Wegen des notwendig höheren Fe-Gehaltes kommen hier überwiegend Sekundärlegierungen („Umschmelzlegierungen“) zum Einsatz. Andererseits kann sich aus den Anforderungen an das Bauteilverhalten ergeben, daß nur Primäraluminiumlegierungen mit geringen Verunreinigungen eingesetzt werden können,
Tabelle 7.3.1 Vergleich der verschiedenen Gießverfahren
420 7 Gießverfahren
7.3 Vergleich der Formgießverfahren
421
z.B. für PKW-Gußräder. In den EN-Normen für Gußlegierungen wird diesem Umstand bei der Legierungsbezeichnung Rechnung getragen. Im Übrigen sind die zu erwartenden mechanischen Eigenschaften nicht nur legierungsabhängig, sondern auch bauteil- und verfahrensabhängig.
8 Walzen
Fast alle gewalzten Flachprodukte müssen durch Trenn-, Umform-, Fügeund Oberflächenbehandlungsverfahren bearbeitet werden, um zu einem gebrauchstauglichen Endprodukt zu werden. Dabei spielen die Werkstoffeigenschaften eine herausragende Rolle, die jedoch maßgeblich durch den Walzprozeß bestimmt werden. Aus anwendungstechnischer Sicht ist daher ein Grundverständnis für den Walzprozeß notwendig.
8.1 Walzprozeß Ein Walzwerk besteht in der Regel neben den eigentlichen Warm- und Kaltwalzgerüsten aus einer Gießerei für Strangguß-Walzbarren, Barrensägen und -fräsen zum Besäumen der Walzbarren und zum Entfernen der Gußhaut, Öfen zum Homogenisieren der Gußblöcke und zum Anwärmen auf Walztemperatur, Schopfscheren, Kastenöfen zur Wärmebehandlung von Coils oder Durchlauföfen zum Wärmebehandeln von Walzbändern sowie weiteren Adjustageeinrichtungen, Bandreckanlagen, Rollenricht-, Längs- und Querteilanlagen. Zahlreiche Walzwerke verfügen heute weiterhin über Veredlungsbetriebe, in denen die Bänder einer Oberflächenbehandlung und -beschichtung in Coil-Coating-Anlagen unterzogen werden. Warmwalzen Die Warmwalzstrecke stellt zusammen mit den peripheren Anlagen einen hohen Investitionsaufwand dar und besitzt eine erhebliche Produktionskapazität von z.B. 800.000 Jahrestonnen. Moderne Großwalzwerke verarbeiten Barren mit Gewichten bis über 30 Tonnen, 8700 mm Länge, 2200 mm Breite und 600 mm Dicke. Größere Barrendicken sind zwar möglich, führen aber zu ungünstigen Gefügequalitäten (Wortberg 1992). In der Regel wird die erste Warmwalzstufe in einem reversierenden Vorwalzgerüst (Warmwalzquarto, auch Breakdown-Gerüst genannt) vorgenommen. Die Walzrichtung wird nach jedem Stich umgekehrt, bis die Plattenenddicke oder Warmbandenddicke erreicht wird. Warmwalzstichabnahmen
424
8 Walzen
betragen bis zu 30 mm (Scharf 1994). Bei Bandwalzwerken schließt sich eine Tandemwarmwalzstrecke an, s. Bild 8.1.1.
Bild 8.1.1 Warmbandherstellung mit einem reversierenden Warmwalzquarto und einem dreigerüstigem Warmwalztandem (Woodward 1994)
Bandgießen Um die hohen Kapitalbindungs- und Produktivitätsmerkmale moderner Warmwalzstraßen zu umgehen, werden verschiedene Verfahren des Bandgießens eingesetzt. Dabei wird ein Gießband in Dicken zwischen 3 und 20 mm erzeugt, s. Bild 8.1.2, das anschließend unmittelbar oder nach Zwischenlagerung mit Kaltwalzgerüsten auf Enddicke abgewalzt wird (Buxmann 1994). Bänder und Bleche aus Bandgießanlagen unterscheiden sich von den mit Warmwalzvorstufe erzeugten Kaltwalzprodukten verfahrensbedingt durch eine eingeschränkte Legierungspalette und durch besondere Eigenschaften, die sich aus dem hohen Übersättigungszustand der Legie-
Bild 8.1.2 Beisiel für den Aufbau einer kontinuierlichen Gießbandwalzstraße (Woodward 1994)
8.2 Qualitätsmerkmale von Warm- und Kaltwalzblechen
425
rungselemente je nach Dicke des Gießbandes ergeben. Aushärtbare Legierungen und solche mit mehr als 3% Mg-Gehalt lassen sich üblicherweise nicht auf Gießbandanlagen verarbeiten, so daß derartige Produktionsanlagen nur den unteren Festigkeitsbereich von Walzhalbzeug abdecken können. Kaltwalzen Das erkaltete Warmband wird anschließend auf ein- oder mehrgerüstigen Kaltwalzanlagen entweder reversierend oder kontinuierlich („Konti-Walzstraße“) in mehreren Stichabnahmen auf Endmaß abgewalzt. Die Jahreskapazität einer modernen, zweigerüstigen Kalttandemstraße für Feinband kann je nach Produktmix zwischen 300.000 und 400.000 jato betragen (Wortberg 1992). Je nach Legierungszusammensetzung oder Endbanddicke müssen eventuell Zwischenglühungen vorgenommen werden, um die erforderliche Verformbarkeit des Materials zu gewährleisten. Bild 8.1.3 zeigt schematisch die Walzenanordnung in einer eingerüstigen bzw. Tandem-Kaltwalzanlage. Wegen der hohen Walzendrücke werden Quartogerüste oder sogar 6-Walzengerüste verwendet, bei denen die Durchbiegung der im Durchmesser kleinen Arbeitswalzen mit großen Stützwalzen ausgeglichen wird.
Bild 8.1.3 Kaltwalzstrecke mit reversierendem Kaltwalzquarto bzw. Kaltwalztandem (Woodward 1994)
8.2 Qualitätsmerkmale von Warm- und Kaltwalzblechen Bezüglich der mechanischen Eigenschaften und Grenzabmaße von Blechen und Bändern aus Aluminium und Aluminiumknetlegierungen wird auf die einschlägigen Normen verwiesen, s. Anh. A3.
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8 Walzen
Planlage Die erreichbaren Planheitstoleranzen und besonders die Dickentoleranzen sind abhängig vom Fließwiderstand der Legierungen, den Walzbreiten, den Stichabnahmen und von der Dicke. Das Dickenprofil über der Walzbreite und die Ebenheit des Bandes wird durch die Beherrschung der mechanischen und thermischen Formänderungen der Walzen bestimmt. Der Walzdruck wird vom Ständer über die Walzenlager auf die Walze und sodann auf das Walzgut übertragen und führt zu elastischen Durchbiegungen der Walzen. Dadurch entstehen konvexe Walzspalte über der Walzbreite, die zu unterschiedlichen Walzgraden über der Bandbreite führen. Die Folge sind Unplanheit und Eigenspannungen in der Bandebene, die in Bild 8.2.1 schematisch dargestellt sind.
Bild 8.2.1 Auswirkungen von Walzendurchbiegung auf die Planlage. Gedanklich wird das Walzband in schmale Streifen getrennt, die sich entsprechend der unterschiedlichen Dickenabnahme in ihrer Länge unterscheiden (Woodward 1994)
Als Gegenmaßnahme verwendet man neben Stützwalzen (Quarto) einen balligen Schliff der Walzen mit einer Mittenüberhöhung (Bombage). Als weitere Maßnahme werden Druckzylinder zwischen die Lager der Stützund Arbeitswalzen vorgesehen, s. Bild 8.2.2. Die Temperaturerhöhung durch die Umformwärme im Walzspalt erzeugt zusätzlich einen „thermischen Ballen“ der Walze, der durch Aufspritzen von Kühlmittelemulsionen verringert wird. Die Kontrolle und Regelung dieser Vorgänge während des Walzvorgangs ist von entscheidender Bedeutung für die Einhaltung der Planheitstoleranzen. Eine direkte, mechanische Banddickenmessung während des
8.2 Qualitätsmerkmale von Warm- und Kaltwalzblechen
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Bild 8.2.2 Beispiel für Walzprofilregelung durch Biegen der Arbeitswalzen (Woodward 1994)
Walzvorgangs scheidet bei den hohen Walzgeschwindigkeiten von 1000 bis 2000 m/min aus. Man hilft sich durch indirekte Messung des Banddruckes über eine Segmentwalze, da verlängerte bzw. verkürzte Bandzonen einen unterschiedlichen Auflagedruck auf die Segmentwalze ausüben. Die Meßwerte werden auf Bildschirmen sichtbar gemacht und als Stellwerte zur Regelung der Kühlmittelzufuhr verwendet, s. Bild 8.2.3.
Bild 8.2.3 Automatisches Planheitskontrollsystem. 1: Walzenbiegeregler, 2: Meßwalze für Bandeigenspannungen, 3: Signalübertragung, 4: Kontrollgerät, 5: Anzeige des Planheitsprofils, 6: Walzenkühlung (Woodward 1994)
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8 Walzen
Oberflächenbeschaffenheit Die Oberfläche von Blechen und Bändern kann eine Reihe von Merkmalen aufweisen, die für die Verarbeitung und für die Gebrauchseigenschaften Bedeutung haben. Die Oberflächenmerkmale werden ganz wesentlich durch die Fließvorgänge im Walzspalt bestimmt. Wie in Bild 8.2.4 dargestellt ist, gibt es im Walzspalt einen Ort entlang der Kontaktfläche Walze/Walzgut, an dem die Geschwindigkeit des Walzgutes, vx , der Oberflächengeschwindigkeit der Walze, v , gleich ist. Dieser Ort wird als Fließscheide bezeichnet, weil das Walzgut davor mit der Geschwindigkeit v1 langsamer und danach mit v2 schneller als die Walzengeschwindigkeit v fließt. Die Austrittsgeschwindigkeit v2 ergibt sich aus dem Gesetz der Volumenkonstanz: v2 /v1 = h1/h2. An dieser Stelle kann es zu Adhäsion von Aluminium an der Stahloberfläche der Walze kommen („Kleben“). Die Beschleunigung des Walzgutes zum Auslauf des Walzspaltes hin verursacht bei zu hohen Stichabnahmen unter Umständen schuppenförmiges Aufreißen der Oberfläche.
Bild 8.2.4 Fließen im Walzspalt. Ausbildung der Fließscheide
Walzöle haben die Aufgabe, für eine zuverlässige Trennung zwischen Walzgut und Walze und für gleichmäßige Reibungsverhältnisse im Walzspalt zu sorgen. Darüber hinaus müssen Walzöle eine gute Selbstreinigungswirkung besitzen und beim Glühen rückstandslos verdampfen („fettfrei Glühen“). Als Walzöle wird Petrol mit bestimmten Additiven verwendet. Die Topographie der Walzenoberfläche, z.B. der Walzenschliff, über-
8.2 Qualitätsmerkmale von Warm- und Kaltwalzblechen
429
trägt sich auf die Bandoberfläche und gibt ihr ein anisotropes Reibungsverhalten (sog. „mill-finish“ Oberflächen). Durch entsprechend präparierte Dressierwalzen werden spezielle dekorative und funktionale Oberflächenstrukturen erzeugt (s. Abschn. 12.3 Tribologie). Entfettete Bänder erhalten häufig eine extrem dünne DOS-Sprühschicht von 5 bis 15 mg/m², die ein wirkungsvolles Trennmittel gegen Reibschweißdefekte zwischen den Coil-Lagen darstellt. Gefügeentwicklung Das globulitische Korngefüge des Stranggußbarrens wird durch den Warmwalzvorgang in Dickenrichtung gestaucht und in Walzrichtung gestreckt, s. Bild 8.2.5. Dadurch ergibt sich eine Richtungsabhängigkeit der mechanischen Eigenschaften, denen in den einschlägigen Normenwerken für Walzprodukte Rechnung getragen wird. Insbesondere bei dicken Warmwalzplatten wird zwischen der Walzrichtung (L), der Querrichtung (LT) und der Dickenrichtung (ST) unterschieden, s. Bild 2.5.4. Bruchdehnungs- und Bruchzähigkeitswerte reagieren besonders empfindlich auf die Orientierung zur Walzrichtung. Dieser Tatbestand hängt hauptsächlich mit den bei der Erstarrung des Gußbarrens entstandenen Primärphasen zusammen, die durch den Walzprozeß zeilenförmig ausgestreckt werden.
Bild 8.2.5 Prozeßkette der Aluminium-Kaltbandherstellung und die Entwicklung des Kaltbandgefüges in Bezug auf Korngefüge, Partikelanordnung und Textur (n. L. Löchte, Hydro Aluminium Bonn)
430
8 Walzen
Im allgemeinen rekristallisiert das warmverformte Gefüge bei den Warmwalztemperaturen infolge der eingebrachten Verformungsenergie. Wegen der unterschiedlichen Verformungsgrade und Verformungsgeschwindigkeiten zwischen Oberfläche und Mitte des Walzgutes kann das rekristallisierte Korn über der Dicke des Warmbandes unterschiedlich ausgebildet sein. Dagegen reichen die Temperaturerhöhungen beim Kaltwalzprozeß für eine Rekristallisation nicht aus. Temperaturführung, Umformgrade und Umformgeschwindigkeit im Warmwalzprozeß sind neben der Legierungszusammensetzung und der Barrenhochglühung die wichtigen Parameter, die die Kornorientierung und Korngröße bestimmen. Die technologischen Eigenschaften von kaltgewalzten Feinblechen werden dadurch ganz wesentlich mitbestimmt.
8.3 Oberflächenbeschichtete Walzfabrikate Aluminiumerzeugnisse können durch zahlreiche Oberflächenbehandlungsverfahren mit dekorativen und technisch funktionalen Oberflächen versehen werden. Zu den wichtigsten Behandlungsverfahren zählen die anodische Oxidation (Anodisieren, „Eloxieren“) und die Beschichtung mit organischen Stoffen. Besonders kaltgewalzte Banderzeugnisse eignen sich für das Anodisieren und Beschichten im wirtschaftlich arbeitenden und abwasserarmen Banddurchlaufverfahren. Eine derartige Anlage für das Bandlackieren zeigt Bild 8.3.1.
Bild 8.3.1 Coil-Coating Anlage (Quelle: Alcan Deutschland GmbH)
8.3 Oberflächenbeschichtete Walzfabrikate
431
Die Vorzüge einer Bandbeschichtung gegenüber der Stückbeschichtung sind vor allem die sehr gut steuer- und regelbare Walzenauftragstechnik mit nur geringfügigen Übereinsatzmengen an Beschichtungsstoffen (Lackausnutzung 96–98% gegenüber 30–50% bei Stückbeschichtung), die geringen Umweltbelastungen für Luft (durch thermische bzw. reaktive Nachverbrennung der Lösungsmittelgase, deren Wärmeinhalt als Prozeßwärme genutzt wird) sowie für Wasser (durch den gegenüber Spritzverfahren wesentlich verringerten Wasserverbrauch) bzw. der Einsatz von No-Rinse-Vorbehandlungsverfahren, die das Austragen von Gefahrstoffen in die Spülkreisläufe vermeiden und die Abwasserbehandlung vereinfachen. Weitere Vorzüge des Bandbeschichtens sind die Flexibilität des Verfahrens, mit der sehr spezifische Anwenderforderungen erfüllt werden können: • schneller Wechsel des Beschichtungssystems, • einseitige und beidseitige Beschichtung des Bandes mit unterschiedlichen Beschichtungstypen, • beidseitige Beschichtung des Bandes mit gleichen Beschichtungstypen, aber mit unterschiedlicher Dicke, • beidseitige Beschichtung des Bandes mit unterschiedlichen Farben, sowie • Streifenlackierung, wenn die Beschichtung nur in bestimmten Bereichen der Oberfläche notwendig ist. Durch die in engen Grenzen steuerbare Vorbehandlung erhält das Bandmaterial eine gleichmäßige Oberfläche mit definierten Eigenschaften, die die Voraussetzung für die Haftung organischer Beschichtungen, wie Lacke und Klebstoffe schaffen und dem Verbund dadurch zuverlässige mechanische (Steinschlag) und chemische Resistenz (Korrosion) verleihen. Der Einsatz konversionsbeschichteter Aluminiumbleche und -bänder ist sinnvoll, wenn die Klebtechnik als bevorzugte Fügetechnik verwendet werden soll. Konversionsbeschichteter Aluminiumbleche können jedoch auch schmelz- und punktgeschweißt sowie durch Punktschweißkleben und entsprechende mechanische Fügetechniken verbunden werden. Die Konvertierung bietet bei der Ziehteilherstellung nur geringfügige tribologische Vorteile, so daß eine Befettung mit Schmierstoffen, z.B. durch Wachse, vorgesehen werden muß. Da die Konversionsschicht durch saure oder alkalische Entfettungsbäder angegriffen wird, müssen Schmierstoff und Klebstoff aufeinander abgestimmt werden, wozu besondere Systeme auf Epoxidharzbasis und entsprechendes Know-how für den Einsatz notwendig sind.
432
8 Walzen
Die Europanorm DIN EN 1396:1997 legt die Anforderungen für bandbeschichtete Bleche und Bänder aus Aluminium und Aluminiumlegierungen im Dickenbereich bis 2 mm für allgemeine Anwendungen fest.
8.4 Verbundhalbzeuge Unter dem Sammelbegriff „Verbundhalbzeuge“ werden in der Regel stoffschlüssige Verbunde von unterschiedlichen Legierungen, Metallen und von Metallen mit Nichtmetallen verstanden. Es handelt sich dabei im wesentlichen um plattiertes Halbzeug, um Schichtverbunde von Walzmaterial mit organischen Stoffen („Sandwich“) sowie um Verbunde von Walzmaterial mit metallischen Kernen, die aus profilierten Bändern, Stegen oder geschäumten Metallen bestehen können. Walzplattiertes Halbzeug
Walzplattiertes Halbzeug wird in der Warmwalzstrecke hergestellt, in dem das Kernmaterial einseitig oder beidseitig mit dem Plattierwerkstoff gemeinsam abgewalzt wird. Die Plattierschichtdicke beträgt dabei etwa 3 bis 7 % der Dicke des Kernmaterials. Als Plattierwerkstoffe werden entweder reine, unlegierte Aluminiumqualitäten oder Legierungen verwendet, die entweder einen Korrosionsschutz des Kernwerkstoffs bewirken sollen (z.B. bei kupferhaltigen, hochfesten Luftfahrtblechen, bei Fassadenblechen oder bei Wärmetauschermaterial) oder den Kernwerkstoff mit einer Lotplattierung versehen sollen. Da es sich hierbei in jedem Fall um unterschiedliche Aluminiumbasislegierungen handelt, muß durch entsprechende Temperaturführungen bei der Herstellung und bei der Verarbeitung dafür gesorgt werden, daß kein diffusionsgesteuerter Konzentrationsausgleich zwischen Plattierschicht und Kernwerkstoff erfolgt. Eines der wichtigsten Anwendungsgebiete für lotplattiertes Material ist die Herstellung von Wärmetauschern, speziell von Wasser- und Ölkühlern für den Fahrzeugbau. Die Lotlegierung besteht aus einer naheutektischen AlSi12-Legierung, die für das Hartlöten geeignet ist. Schichtverbunde mit Kunststoffkern
Aluminium-Kunststoff-Sandwichplatten haben bei gleicher Biege- oder Beulsteifigkeit ein erheblich geringeres Flächengewicht als massive metallische Plattenelemente und werden daher als Leichtbauwerkstoffe im Verkehrs- und Transportsektor, in der Architektur sowie bei transportablen Geräten und Einrichtungen verwendet. Außer den Steifigkeitsvorzügen ist
8.4 Verbundhalbzeuge
433
die Körperschalldämpfung und evtl. auch die Wärmedämmung ein kennzeichnendes Merkmal für die Verwendung derartiger Sandwichplattenelemente. Der Aufbau derartiger Sandwichplatten besteht in zwei Aluminiumdecklagen, zwischen die entweder ein Schaumkern oder ein kompakter Kunststoffkern – häufig Polypropylen – eingebracht und dabei miteinander verklebt werden. Die für die Bindung Metall/Kunststoff wichtige Oberflächenvorbehandlung erfolgt meistens durch Bandbeschichtungs- oder Bandanodisieranlagen. Aus diesem Grunde werden derartige Sandwichplatten häufig gleichzeitig mit einem dekorativen oder funktionalen Außenfinish versehen. Die plastische Umformbarkeit derartiger Verbundplatten zu gebogenen oder gar räumlichen Gebilden ist abhängig von der Dicke des Verbundes und der Verformbarkeit des Deckschichtmaterials. Das relativ dünne Verbundmaterial HYLITE® der Fa. Hoogovens mit einer Dicke von 1,2 mm und einem 0,2 mm dickem Deckschichtmaterial aus EN AW-5182-0 benötigt einen Biegeradius von 4–5 mm und kann ähnlich wie massives Karosserieblech zu Blechformteilen gezogen werden. Für das dickere ALUCOBOND® der Fa. Alcan-Singen werden z.B. Mindestbiegeradien von 15xDicke empfohlen. Engere Radien oder andere Formen werden durch spanende Bearbeitung von Gehrungen vorbereitet. Andererseits sind für derartige Plattensysteme umfangreiche Zusatzelemente, Beschläge, Profile und Befestigungsmethoden entwickelt worden, so daß eine relativ große gestalterische Freiheit besteht. Die hohe Steifigkeit von Verbundplatten ist ein großer Anreiz für deren Verwendung in Leichtbaustrukturen für den Transport und Verkehrssektor. Durch sinnvoll gestaltete Verbindungsschnittstellen zu Profilsystemen ist man auch in der Lage, Kräfte gleichmäßig in die Plattenflächen einzuleiten. Für den Einsatz im Flugzeugbau wurden von TNO und TU Delft, verschiedene mehrschichtige Aluminium-Faser-Verbundblechwerkstoffe entwickelt: ARALL® (Aramidfaser verstärktes Aluminium) und GLARE® (Glasfaser verstärktes Aluminium), die sich durch hohe Resistenz gegenüber Ermüdungsrißfortschritt auszeichnen, s. Abschn. 2.5. Leichtbauplatten mit Metallkern
Eine Alternative zu den Aluminium-Kunstoff-Sandwichplatten sind die noch leichteren Leichtbauplatten mit Metallkernen in der Form von Wellenkernen (z.B. METAWELL®) oder Honigwaben (Honeycomb, z.B. ALUCORE®), die mit den Deckblechen verklebt sind. Auch Verbundplatten mit Aluminiumschaumkern zählen zu dieser Kategorie.
434
8 Walzen
Bild 8.4.1 Leichtbauplatten mit Metallkernen: Honeycomb (links), Metawell (rechts)
9 Strangpressen
Neben dem Formgießen ist das Strangpressen das wirtschaftlichste Formgebungsverfahren für Aluminium. Kein anderer Konstruktionswerkstoff kann durch Strangpressen so günstig und in so komplexe Querschnittsformen geformt werden wie Aluminium und seine Legierungen. Die Gestaltungsgrenzen werden jedoch beeinflußt durch − − − −
die Wahl der Legierung (Fließvermögen beim Strangpressen), die verfügbare Preßkraft und Auslegung der Strangpresse, werkzeugtechnische Gesichtspunkte (Voll- und Hohlprofile) und wirtschaftliche Überlegungen (Ausbringung, Menge).
Die Herausforderung besteht für den Konstrukteur darin, möglichst viele Funktionen durch Integration geeigneter Formenelemente in einem Querschnitt zu vereinigen, um Fertigungsschritte und Fügeoperationen zu vermeiden. In diesem Sinne kann das Strangpressen unter die „near net shape“-Verfahren eingereiht werden. Durch stranggepreßte Hohlprofile kann man besonders leichte, torsionssteife Tragstrukturen erzielen. Anders als bei walzprofilierten und rollgeformten Profilen lassen sich Materialdopplungen und Fügestellen vermeiden und große Wanddickenunterschiede und Hinterschneidungen erzeugen. Das Material kann im Profilquerschnitt funktionsgerecht verteilt werden. Andererseits ist der Querschnitt über der Preßlänge unveränderlich, so daß die Integration von Funktionen immer auch unter dem Gesichtspunkt des Profilgewichtes gegenüber anderen fertigungstechnischen Lösungen abgewogen werden muß. Die relativ niedrigen Werkzeugkosten und die hohe Produktionsleistung des Strangpressens erlauben auch die wirtschaftliche Herstellung von kurzen Formteilen durch Abtrennen vom gepreßten Strang mittels Stanzen oder Sägen, zumal sich Aluminiumlegierungen gegenüber anderen Metallen wesentlich günstiger zerspanen lassen. Eine Voraussetzung für optimales Gestalten von Strangpreßprofilen ist ein Verständnis für den Strangpreßprozeß, das Fließen des Werkstoffs durch das formgebende Werkzeug und die Strangpreßeigenschaften der Legierungen. Unerläßlich ist aber trotzdem die gleichzeitige Abstimmung mit dem Profilhersteller.
436
9 Strangpressen
Im folgenden wird ein kurzer Überblick über die wesentlichen Merkmale des Strangpreßprozesses, das Verhalten der Aluminiumwerkstoffe sowie Hinweise zu prozeßgerechter Profilgestaltung gegeben. Weitere Details über die Verfahrenstechnik findet man in der einschlägigen Literatur, z.B. (Bauser et al. 2001)
9.1 Strangpreßverfahren Konstruktionsprofile werden heute überwiegend im „direkten“ Strangpreßverfahren hergestellt, bei dem ein auf ca. 450°–500°C angewärmter Stranggußbolzen mit einem hydraulisch getriebenen Preßstempel durch die formgebende Matrizenöffnung des Werkzeugs gepreßt wird, s. Bild 9.1.1. Der austretende Profilstrang wird durch Luftgebläse, Wasser-Luftnebel oder Wasser („Wasserwelle“) abgekühlt bzw. abgeschreckt und anschließend auf einer Reckbank gereckt und erforderlichenfalls gerichtet. Abschließend erfolgen das Zuschneiden des Strangs auf die gewünschte Länge und danach die gegebenenfalls erforderliche Warmaushärtung.
Bild 9.1.1 Schema des „direkten“ Strangpreßverfahrens (Woodward 1994)
Unter „indirektem“ Strangpressen versteht man ein Verfahren, bei dem der Preßstempel mit dem Werkzeug gegen den Preßbolzen in den Rezipienten hineingepreßt wird, s. Bild 9.1.2. Der Vorteil besteht in der Vermeidung der großen Reibungsverluste zwischen Bolzen und Rezipienten, so daß die installierte Preßkraft vollständig für den Umformvorgang genutzt werden kann. Die Temperaturführung ist gleichmäßiger über dem Strang, was zu gleichmäßiger Gefügeausbildung führt. Der überwiegende Nachteil besteht darin, daß die maximale Profilgröße (umschriebener Kreis) im Verhältnis zum direkten Strangpressen – bei sonst gleicher Pressenauslegung – geringer ist, da sich das Werkzeug außerhalb des Rezi-
9.1 Strangpreßverfahren
437
pienten befindet. Das indirekte Strangpressen wird vorwiegend zur Herstellung schwerpreßbarer Stangen in Bohr- und Drehqualität verwendet.
Bild 9.1.2 Schema des indirekten Strangpressens (Woodward 1994)
Um nahtlose Rohre mit dem Strangpressen herstellen zu können, verwendet man das Verfahren mit stehendem oder mitlaufendem Dorn, der am Stempel befestigt ist, s. Bild 9.1.3. Der Dorn durchstößt den Preßbolzen und bildet zusammen mit der Matrize die Innen- und Außenkontur des Rohres. Bei größeren Abmessungen der Bolzen und Rohre geht man auch von einem vorgelochten bzw. Hohlbarren aus. Die Querschnittsgestaltungsmöglichkeiten sind gegenüber den anderen Strangpreßverfahren beschränkt.
Bild 9.1.3 Schema des Pressens von nahtlosen Rohren mit mitlaufendem Dorn (Woodward 1994)
Der Grad der in der Werkzeugmatrize erfolgten Umformung ergibt sich aus dem sogenannten Verpressungsverhältnis, d.h. dem Verhältnis der Querschnitte des Stranggußbolzens, Fo, und des Profils, F1. Das Gußgefüge des Bolzens wird entsprechend dem Umformgrad in Preßrichtung ge-
438
9 Strangpressen
streckt. Sofern beim Preßvorgang keine Rekristallisation stattfindet, ergibt sich somit ein Fasergefüge. Für sehr breite und flache Profile können rechteckige Preßbolzen verwendet werden. Hierzu muß der Rezipient die entsprechende Form besitzen und jeweils ausgetauscht werden.
Bild 9.1.4 Definitionen: Bolzenquerschnitt F0, Profilquerschnitt F1 und umschriebener Kreis D0 bei Rundbolzen (Woodward 1994)
Ein typischer Werkzeugaufbau für das direkte Strangpressen ist in Bild 9.1.5 dargestellt. Die hohen Preßdrücke auf die formgebende Matrize werden durch Stützwerkzeug und Druckplatte auf den Gegenhalter übertragen und verhindern ein elastisches Verbiegen der Matrizenteile und damit zusammenhängende Änderungen der Form- und Lagetoleranzen.
Bild 9.1.5 Typischer Werkzeugaufbau für direktes Strangpressen (Woodward 1994)
9.2 Grundformen von Profilen und Werkzeugen
439
9.2 Grundformen von Profilen und Werkzeugen Unter dem Gesichtspunkt einer Einteilung der Querschnittsgestaltung nach preßtechnischem Schwierigkeitsgrad unterscheidet man drei Grundformen: Vollprofile, Halbhohlprofile und Hohlprofile, s. Bild 9.2.1. Zu den Vollprofilen zählen Stangen und einfache geometrische Querschnittsformen ohne eingeschlossene Flächen. Schwierigere Profilformen mit nicht vollständig geschlossenen hohlen Querschnitten werden als Halbhohlprofile bezeichnet. Vollprofile und Halbhohlprofile werden mit ebenen Flachmatrizenwerkzeugen gepreßt.
Bild 9.2.1 Drei Grundtypen von Strangpreßprofilen (Woodward 1994)
Hohlprofile haben eine oder mehrere vollständig geschlossene Hohlkammern. Die Außenkontur wird wiederum von der Matrize geformt. Für die Erzeugung der Innenkontur der Hohlprofile benötigt man einen oder mehrere Dorne, die sich über Brücken auf der Matrize abstützen, wie in Bild 9.2.2 dargestellt ist.
Bild 9.2.2 Herstellen von Hohlprofilen mit einem Brückenwerkzeug (Woodward 1994)
Der Stranggußbolzen muß sich beim Preßvorgang an diesen Brücken in mehrere Materialstränge teilen, die sich in den dahinter liegenden Kammern („Schweißkammern“) wieder vereinigen und durch die Öffnung zwischen Dorn und Matrize zum Profil geformt werden. Die Verbindung der Materialteilstränge erfolgt durch Preßschweißen. Da die Schweißkammern
440
9 Strangpressen
mit Metall gefüllt sind und somit kein Luftsauerstoff Zutritt hat, findet keine Oxidhautbildung statt. Bei über Brücke gepreßten Hohlprofilen sind die immer vorhandenen Strangpreßnähte nur durch Gefügeuntersuchungen sichtbar zu machen. Dennoch ist mit geringeren Bruchdehnungswerten quer zur Preßnaht zu rechnen. Sind funktionsbedingt hohe Beanspruchungen bei einem Hohlprofil quer zur Strangpreßrichtung zu erwarten, sollten die Strangpreßnähte in Bereiche geringerer Belastung verlegt werden. In diesem Fall ist eine Abstimmung mit dem Halbzeughersteller unumgänglich.
9.3 Strangpreßbarkeit von Aluminiumlegierungen Die Strangpreßbarkeit ist gekennzeichnet durch den maximal erreichbaren Umformgrad, den Fließwiderstand bei Preßtemperatur und durch die höchste Austrittsgeschwindigkeit des Strangs aus dem Werkzeug bei gegebener Querschnittsgeometrie. Die Umformbarkeit der Legierung bestimmt die Gestaltungsfreiheit des Profilquerschnitts und die herstellbare Mindestwanddicke. Die erreichbare Preßgeschwindigkeit ist maßgebend für die Herstellkosten. Die Strangpreßbarkeit einer Legierung wird in erster Linie beeinflußt von der Art und Menge der Legierungselemente. Legierungen mit gleichem Festigkeitsniveau bei Raumtemperatur können deutlich unterschiedliche Fließwiderstände bei Preßtemperatur besitzen. Bild 9.3.1 illustriert diese Verhältnisse am Beispiel eines offenen Profils mit einem umschriebenen Kreis von 220 mm. Die herstellbare Mindestwanddicke ist in Abhängigkeit vom Strangpreßbarkeitsindex für verschiedene Legierungen dargestellt. Man erkennt, daß die aushärtbaren AlMgSi-Legierungen im Verhältnis zu den nicht aushärtbaren AlMn und Al99,5 annehmbare Mindestwanddicken ermöglichen, dabei aber − nach entsprechender Wärmebehandlung − deutlich höhere Festigkeitseigenschaften bei Raumtemperatur haben. Darüber hinaus haben Profilform, -art und -größe sowie die Art und Kapazität der Presse erheblichen Einfluß auf die erreichbare Ausformung, Austrittsgeschwindigkeit und erzielbare Mindestwanddicke. Tabelle 9.3.1 enthält Angaben über die Strangpreßbarkeit von genormten Legierungen unterschiedlicher Festigkeitsklassen. Man erkennt den großen Einfluß der Legierungszusammensetzung auf die erzielbare Mindestwanddicke. Mit dem „umschriebenen Kreis“, d. h. mit der Größe des zu pressenden Profils, wird gleichzeitig die erforderliche Pressengröße und Preßkapazität festgelegt. Außerdem muß das Verpressungsverhältnis F1/F0, also das Verhältnis des Profilquerschnitts zum Bolzendurchmesser (bzw. Rezi-
9.3 Strangpreßbarkeit von Aluminiumlegierungen
441
pientendurchmesser) für die Beurteilung der Herstellbarkeit des Profils berücksichtigt werden.
Bild 9.3.1 Strangpreßbarkeit, Mindestwanddicke und Festigkeit als Kriterien für die Legierungswahl am Beispiel eine offenen Profils mit dem umschriebenen Kreis von 220 mm (Stören et al. 1994)
Tabelle 9.3.1 Herstellbare Mindestwanddicken von Profilen aus unterschiedlichen Legierungen in Abhängigkeit vom umschriebenen Kreis und von der Pressenkapazität (Hufnagel 1988) Legierungsbez. EN AWAl 99-99,9 AlMgSi (6060) AlMn1 (3103) AlMg1 (5005) AlSi1MgMn (6082)
AlMg3 (5754) AlMg5 (5019) AlCu4MgSi (2017) AlCu4Mg1(2024) AlZn5,5MgCu (7075) Pressenkapazität [MN] 1)
Profilumschriebener Kreisdurchmesser [mm] typ 1) 25 50 75 100 150 200 250 300 350 400 450 a 0,8 1 1,2 1,5 2 2,5 2,5 3 4 4 5 b 0,8 1 1,2 1,5 2 2,5 2,5 3 4 4 5 c 1 1 1,5 2 2,5 2,5 2,5 4 5 5 6 a b c a b a
1 1 2 1 1 1,2
a
2 2
1,2 1,2 1,5 1 1 1,2
1,2 1,5 2 1,2 1,2 1,2
1,5 2 2 1,5 1,5 1,5
2 2 3 2 2 2,5
2,5 3 3 10 25
2,5 2,5 4 2,5 2,5 3 5
3 3 4 3 3 5
4 4 5 4 4 5
4 4 5 4 4 6
5 5 6 5 5 7
6 50
8
12 12 14 80
35
a: Voll- und Halbhohlprofile, b: Hohlprofile mit gleichmäßiger Wanddicke, c: Hohlprofile mit ungleichmäßiger Wanddicke
6 6 6 6 6 8
442
9 Strangpressen
Die Grenzen des erreichbaren Verpressungsverhältnisses sind abhängig von der Legierung, der Werkzeugart, Profilform, dem Umformgrad und von den Reibungsbedingungen im Preßkanal sowie von den Preßbedingungen (Preßgeschwindigkeit und Preßtemperatur). Die Grenzen sind schematisch im Bild 9.3.2 dargestellt (Breme et al. 1988). Der Steigerung der Preßtemperatur sind legierungsabhängige Grenzen gesetzt, da es infolge adiabatischer Aufheizung durch die Umformarbeit im Bereich der Werkzeugeinlaufkanten zu Anschmelzungen kommen kann, die nicht nur ein Aufrauhen der Profiloberfläche, sondern auch eine Beeinträchtigung der mechanischen und chemischen Eigenschaften des Profils zur Folge haben können.
Bild 9.3.2 Grenzen der Strangpreßbarkeit bei gegebener Maschinenkapazität und durch Anschmelzungen verursachte Gefügeschädigung (Breme et al. 1988)
Der Metallfluß im Rezipienten und im Preßkanal der Matrize steuert die Ausbildung des Gefüges im Profil. Bild 9.3.3 gibt einen Eindruck von den Fließverhältnissen beim Werkzeugeinlauf. Als Folge der Reibung an der Rezipientenwand und an der Matrize bilden sich Zonen mit hohen Scherungen und „tote“ Zonen aus. An den Einlaufkanten des Preßkanals sind die Scherungen am größten und führen häufig zu einer rekristallisierten Randzone an der Profiloberfläche, die auch zu Grobkornbildung neigt (→ siehe auch Mikrorißanfälligkeit beim Schmelzschweißen von AlMgSiLegierungen). Es muß dafür Sorge getragen werden, daß die Werkzeuggravur vollständig gefüllt werden kann, um Untermaße − insbesondere an innenliegenden Verrippungen bei Hohlprofilen − zu vermeiden. Diese Forderung
9.3 Strangpreßbarkeit von Aluminiumlegierungen
443
Bild 9.3.3 Metallfluß beim direkten Strangpressen
gilt in besonderer Weise für das Erzeugen optimaler Preßschweißnähte in den Schweißkammern und den anschließenden Preßkanälen. Die Reibungskräfte an den Laufflächen im Preßkanal und an der Einlaufkante der Matrize haben einen erheblichen Einfluß auf den Fließwiderstand und die Preßkräfte. Sie sind somit aber auch für die Steuerung des Metallflusses nutzbar. Das Anbringen von Brems- und Entlastungsgeometrien (Einlaufradien und -schrägen, Freischnitte etc.) dienen dem Werkzeugbauer zur Optimierung des Preßwerkzeugs, um verwindungsfreie, gerade Profilstränge und eine möglichst hohe Preßgeschwindigkeit bei guter Oberflächenrauhigkeit zu erzielen, s. Bild 9.3.4.
Bild 9.3.4 Steuerung des Metallflusses durch Änderungen des Preßkanals (Woodward 1994)
444
9 Strangpressen
Tabelle 9.3.2 enthält für eine Anzahl von Aluminiumlegierungen Angaben zum maximalen Verpressungsverhältnis. Gleichzeitig wird für die verschiedenen Legierungen eine Kenngröße für die „Verpreßbarkeit“ aufgelistet, die als relativer Wert im Verhältnis zur Strangpreßbarkeit der Legierung 6060 bzw. 6063 (Faktor = 100) angegeben wird. Tabelle 9.3.2 Strangpreßbarkeit der Aluminiumwerkstoffe (Hufnagel 1988) Legierungsbezeichnung
EN AWAl99,5 1350 AlMn1Cu 3003 AlMgSi 6060 AlMg1SiCu 6061 AlZn4,5Mg1 7020 AlMg2Mn0,8 5049 AlMg3 5754 AlMg4Mn 5086 AlMg4,5Mn 5083 AlCu4MgSi(A) 2017 AlCu4Mg1 2024 AlZn5,5MgCu 7075 1)
2)
Gruppe Mittlere Max. Austritts- Max. Ver- Relative geschwindigkeit pressungs- VerPreß[m/min.] temperatur verhältnis preß1) barkeit 2) [°C] A B C F0/F1 1 1 2 3 3 3 3 4 4 4 5 5
420 100 450 70 460 - 480 80 450 - 530 15 480 - 500 12 450 15 460 6 460 5 430 - 460 3 430 4 420 2 420 2
80 60 50 12 8 10 5 4 2 3 1,5 1
60 40 40 6 4 5 3 2 1 2 1 0,75
1000 500 400 200 200 100 80 60 50 60 50 60
160 120 100 60 30 50 60 - 80 25 20 20 15 9
A = Stangen, B = einfache Profile mit gleichmäßiger Wanddicke, C = verwickelte Querschnitte gegenüber Leg. EN AW-6060; Index nach van Horn, Lang; u.a.
9.4 Prozeßkette im Strangpreßwerk Die grundsätzlichen Prozeßschritte bei der Herstellung von Strangpreßprofilen sind dem Ablaufschema in Bild 9.4.1 zu entnehmen. Die Gefügeentwicklung des Profils beim Strangpressen macht deutlich, daß sowohl die Kornstruktur als auch die Textur legierungsabhängig sind. Durch die reibungsbedingten hohen Temperaturen im Preßkanal bildet sich eine rekristallisierte Oberflächenzone aus, deren Ausdehnung von der Menge der Dispersionsbildner abhängig ist, s. Abschn. 3.1.6. Aus wirtschaftlichen Erwägungen strebt der Strangpresser an, die Zahl der Fertigungsschritte so weit wie möglich zu reduzieren. Die Zahl der
9.4 Prozeßkette im Strangpreßwerk
445
notwendigen Fertigungsschritte ist abhängig vom Legierungstyp und von den Anforderungen an die Qualität des Profils. Auch unter diesem Gesichtspunkt gilt die Regel: je besser die Strangpreßbarkeit der gewählten Legierung, desto geringer sind die notwendigen Fertigungsschritte.
Bild 9.4.1 Prozeßkette des Strangpressens von Aluminiumlegierungen (n. K. Asboell, Hydro Aluminium)
Die Mehrzahl der Konstruktionsprofile wird aus aushärtbaren Legierungen hergestellt. Hierzu zählen insbesondere die Legierungen der AlMgSiGruppe (EN AW-6xxx). Aus Kostengründen wird die Wärmebehandlung möglichst in den Strangpreßprozeß integriert, um Prozeßschritte einzusparen. Die Wärme des Strangpreßprozesses wird daher gleichzeitig als Lösungsglühung genutzt, s. schematische Prozeßdarstellung in Bild 9.4.2. Die Abschreckung erfolgt dann beim Austritt des Profilstranges aus dem Werkzeug bzw. aus dem Auslauf im Gegenhalter durch ein Luftgebläse. Intensivere Abschreckung kann man mit einem Luft-Wasser-Gemisch oder durch Wasserspritzdüsen bzw. mit den Durchlauf des austretenden Profils durch einen Wasserkasten (sog. „Wasserwelle“) erzielen. Die Wahl der Abschreckmethode richtet sich nach der Abschreckempfindlichkeit der Legierung, der Form des Profils und nach den geforderten Festigkeitseigenschaften. Je höher der Legierungsgehalt, je komplexer die Profilform und je höher die geforderten Festigkeitswerte, um schroffer muß die Abschreckung sein.
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9 Strangpressen
Bild 9.4.2 Temperaturverhältnisse beim Strangpressen (Quelle: Alcan-Singen)
Bei zu geringer Abschreckgeschwindigkeit werden die aushärtenden Phasen vorzeitig ausgeschieden, wodurch die optimalen Eigenschaften nicht mehr erreicht werden können, s. Bild 3.2.41. Am geeignetsten für das Abschrecken an der Presse sind die Legierungen des Typs AlMgSi mit Festigkeitswerten von Rm ≤ 260 N/mm² und die Legierung AlZn4,5Mg1 (EN AW-7020). Die Legierungen EN AW-6005A und EN AW-6082 sind ein Grenzfall, bei denen man aufgrund der Profilgeometrie und der Festigkeitsforderungen gezwungen sein kann, die Wasserwelle zu benutzen. Bei besonderen Anforderungen an Festigkeit und Zähigkeit wird die Legierung EN AW-6082-T6 (Rm = 310 N/mm²) einer vollständigen Wärmebehandlung unterzogen, bestehend aus Lösungsglühen, Abschrecken und Warmauslagerung. Nach dem Abkühlen des Strangs werden durch Recken die Geradheitstoleranzen verbessert und − wenn erforderlich − auch die Winkeltoleranzen eingestellt. Das Richten ist nach wie vor ein manueller Prozeß, der zeit- und kostenaufwendig ist. Es ist daher auch aus Kostengründen notwendig, die Profilgestaltung und die Werkzeugausführung so zu wählen, daß bereits nach dem Pressen ein möglichst toleranzgenaues Profil vorliegt.
9.5 Strangpreßgerechte Profil- und Werkzeuggestaltung Eine optimale Profilgestalt zu suchen, ist nicht nur als konstruktive Aufgabe zur Erfüllung der Gebrauchseigenschaften und Funktionen zu verstehen, sondern auch das Streben nach optimaler Strangpreßbarkeit. Hierzu kann der Konstrukteur bereits einen erheblichen Beitrag leisten, wenn er
9.5 Strangpreßgerechte Profil- und Werkzeuggestaltung
447
den besonderen Bedingungen des Strangpreßvorgangs, d.h. der Führung der Metallströme im Werkzeug und der Beanspruchung des Werkzeugs, Rechnung trägt. Der Führung des Metallstroms durch die Werkzeuggravur soll möglichst mit geringem Widerstand und mit möglichst gleichmäßig über der Werkzeugfläche verteiltem Druck geschehen. (Die Vorgänge sind analog zu den Prinzipien der Strömungslehre). Daraus ergibt sich die Forderung nach einer Anordnung der Matrizendurchbrüche auf eine Weise, daß der Flächenschwerpunkt des Profilquerschnitts in Matrizenmitte liegt. Ist wegen ungleichmäßiger Massenverteilung über dem Querschnitt diese Forderung nur ungenügend zu erfüllen, kann man bei entsprechenden Größenverhältnissen mehrere Stränge symmetrisch um die Matrizenmitte anordnen. Im Extremfall arbeitet man auch mit Entlastungssträngen zum Ausgleich der Massenverteilung über der Fläche der Matrize. Letzteres ist jedoch unwirtschaftlich, reduziert die auspreßbare Stranglänge und ist auf das Strangpressen von schwerpreßbaren, hochfesten Legierungen beschränkt. Der Beanspruchbarkeit des Werkzeugs sind hinsichtlich elastischer Durchbiegung und Bruch Grenzen gesetzt. Wenn auch heute standardmäßig die Werkzeugkonstruktion und -berechnung mit FE-Methoden erfolgt, so sind doch beim Entwurf des Profils einige einfache Faustregeln hilfreich. Beispielsweise sollte bei der Gestaltung von Halbhohlprofilen die „Zungen“-Länge des U-Profils begrenzt werden, um den Bruch des Werkzeugs zu vermeiden, Bild 9.5.1. Bei einfachen U-Profilen muß nach einer Faustregel die Zungenlänge „l“ kleiner als die dreifache Öffnungsbreite „b“ (l < 3·b) sein. Bei Öffnungsbreiten von b < 3 mm sollte das “Zungenverhältnis” l:b kleiner als 2:1 sein. Bei komplizierteren Querschnittsformen ist die Zungenfläche „A“ auf den dreifachen Wert des Quadrats der Öffnungsbreite „b“ (A < 3·b² ) zu begrenzen.
Bild 9.5.1 Begrenzung der „Zungen“-Länge und -Fläche bei einem Halbhohlprofil (U-Profil) (Quelle: Vocational TALAT, Modul B6, 1999)
448
9 Strangpressen
Überall dort, wo es die Funktion nicht verlangt, sind scharfe Ecken und Kanten zu vermeiden und Radien von 0,5 bis 1 mm vorzusehen. Rippen sollten sich konisch nach außen verjüngen, s. Beispiel in Bild 9.5.2.
Bild 9.5.2 Gestalten von Strangpreßprofilen: Radien und konische Rippenform begünstigen die Strangpreßbarkeit des Profils (Stören et al. 1994)
Die folgenden in Bild 9.5.3 illustrierten Gestaltungsregeln, durch die ein Profil strangpreßgerechter ausgelegt wird, sollten beherzigt werden: Ein Profil ist dann strangpreßgerecht gestaltet, wenn es 1. 2. 3. 4. 5.
eine gleichmäßige Wanddicke und abgerundete, einfache Formen hat, symmetrisch ist, einen möglichst kleinen umschriebenen Kreis und keine tiefen, schmalen Öffnungen hat.
Vorzuziehen ist weiterhin: 6. ein Vollprofil anstelle eines Hohlprofils (niedrigere Werkzeugkosten, höhere Preßgeschwindigkeit, kleinere Mindestwanddicke), 7. ein Hohlprofil anstelle eines Vollprofils mit tiefen Öffnungen (bessere Maßhaltigkeit) 8. Verstärken schwacher Eckpunkte (Verzug) 9. Vermeiden von Spitzen (Gefahr von Welligkeit und Rißbildung).
9.5 Strangpreßgerechte Profil- und Werkzeuggestaltung
449
Bild 9.5.3 Neun (9) Regeln zur strangpreßgerechten Profilgestaltung (SAPA 1986)
Kostensenkende Maßnahmen bei der Gestaltung und Herstellung von Strangpreßprofilen kann man wie folgt zusammenfassen: Materialkosten einsparen durch: • möglichst geringes Profilgewicht − Mindestwanddickenbegrenzung beachten − Querschnittsform optimieren − Legierungsfestigkeit abstimmen • möglichst kleinen umschriebenen Kreis − Werkzeugkosten sparen − Mindestwanddicken sind abhängig von der Profilgröße Fertigungskosten einsparen durch: • möglichst hohe Preßgeschwindigkeit − optimale Querschnittsform (offen/hohl/einfach) − Legierungsfestigkeit abstimmen − Abhängigkeit von Pressenkapazität •
möglichst geringe Nacharbeit − optimale Profilform finden, um Richtarbeit zu vermeiden − an der Presse abschrecken − nicht zu enge Toleranzen fordern
•
möglichst hohe Losgröße − Mindestliefermenge beachten
450
9 Strangpressen
Bei Beachtung der vorstehenden Regeln wird man auf jeden Fall technisch und wirtschaftlich günstige Lösungen erhalten.
9.6 Gestalten von Strangpreßprofilen Eine optimale Strangpreßprofilkonstruktion zeichnet sich dadurch aus, daß möglichst viel Funktionen im Profilquerschnitt integriert wurden, um Fertigungskosten und Material zu sparen. Gleichzeitig wird eine solche Konstruktion auch nur soviel Forderungen an geometrische Toleranzen stellen, wie unbedingt notwendig, um den Aufwand an Richtarbeit und Nacharbeit gering zu halten. Angaben zu den Toleranzgrenzen enthalten die einschlägigen Normen DIN EN 755:1997 und DIN EN 12020:2001, s. Anh. Tabelle A3. 9.6.1 Funktionalitätsgruppen Bei der fast unbegrenzten Gestaltungsvielfalt von Strangpreßprofilen ist eine gewisse systematische Einteilung der Formgebungsmöglichkeiten in 6 Funktionalitätsgruppen hilfreich, die in den Bildern 9.6.1 bis 9.6.6 dargestellt sind und als Checkliste verstanden werden sollen.
Bild 9.6.1 Funktionalitätsgruppe I: Gestalten von Profiloberflächen (Quelle: R. Gitter, Alcan-Singen)
Bild 9.6.2 Funktionalitätsgruppe II: Montagehilfen und punktuelle Befestigungen (Quelle: R. Gitter, Alcan-Singen)
9.6 Gestalten von Strangpreßprofilen
451
Bild 9.6.3 Funktionalitätsgruppe III: Linienförmige Verbindungen (Quelle: R. Gitter, Alcan-Singen)
Bild 9.6.4 Funktionalitätsgruppe IV: örtliche Verstärkungen (Quelle: R. Gitter, Alcan-Singen)
Bild 9.6.5 Funktionalitätsgruppe V: statisches Tragverhalten (Quelle: R. Gitter, Alcan-Singen)
Bild 9.6.6 Funktionalitätsgruppe VI: geometrische Ausformungen (Quelle: R. Gitter, Alcan-Singen)
452
9 Strangpressen
Eine beispielhafte Integration von zahlreichen Funktionen in eine Profilkonstruktion zeigt Bild 9.6.7. Es handelt sich um den Dachlangträger eines Schienenfahrzeugwaggons, in dem nicht weniger als 11 verschiedene Funktionen in der Profilgestaltung verwirklicht worden sind.
Bild 9.6.7 Beispielhafte Integration von verschiedenen Funktionen in die Profilkonstruktion eines Dachlangträgers im Waggonbau (Quelle: R. Gitter, AlcanSingen)
9.6.2 Konstruktionen mittels Profilverbindungen Durch die Formgebungsmöglichkeiten des Strangpressens kann man gleichzeitig Verbindungsfunktionen in den Strangpreßprofilquerschnitt integrieren, wodurch kostengünstige Fügeoperationen erreicht werden. Diese Möglichkeit kann man wiederum dazu verwenden, Profile mit kleinerem umschriebenen Kreis herzustellen und zu verbinden. Dadurch erhält man geringere Werkzeugkosten und Wanddicken, höhere Preßgeschwindigkeiten und engere Toleranzen. Beispiele für solche integrierten Profilverbindungen sind in den Bildern 9.6.8 bis 9.6.14 dargestellt.
9.6 Gestalten von Strangpreßprofilen
453
Bild 9.6.8 Konstruktionslösung zur Senkung von Profilkosten und -toleranzen mittels Profilverbindungen von kleineren und offenen Profilen (Quelle: SAPA 1986)
Bild 9.6.9 Wie 9.6.8, jedoch mit Profilverbindungen, die zusätzliche Verbindungsfunktionen erfüllen (Quelle: SAPA 1986)
Bild 9.6.10 Wie zuvor, jedoch Verbindung kleinerer Profile mit zusätzlichem Hilfsprofil über Steckverbindung (Quelle: SAPA 1986)
454
9 Strangpressen
Bild 9.6.11 Wie Bild 9.6.8, jedoch mit nicht lösbaren Profilverbindungen durch Kaltverformen von angepreßten Verbindungselementen (Quelle: SAPA 1986)
Bild 9.6.12 Kostengünstige Verbindungen mittels Schrauben (Quelle: SAPA 1986)
Bild 9.6.13 Profilverbindungen durch lösbaren und nicht lösbare Schnappverbindungen (Quelle: SAPA 1986)
Bild 9.6.14 Lösbare Schnappverbindungen (Quelle: SAPA 1986)
9.7 Sonderverfahren des Strangpressens von Aluminium
455
9.7 Sonderverfahren des Strangpressens von Aluminium 9.7.1 Strangpressen nach dem „Conform“-Verfahren Beim sogenannten Conform-Verfahren wird der Preßdruck nicht durch einen Stempel, sondern durch ein Reibrad erzeugt. In einer Nut im Reibrad wird in Drehrichtung das zu verpressende Ausgangsmaterial, z.B. Gießdraht, mit einem Durchmesser von 12 bis 32 mm zugeführt. Ein in die Nut eingeschwenkter „Druckschuh“ verringert den Nutquerschnitt kontinuierlich und sperrt ihn schließlich ganz ab, s. Bild 9.7.1. An dieser Stelle ist das Strangpreßwerkzeug angebracht, das als offene Matrize für Vollprofile oder als Brückenwerkzeug für Hohlprofile ausgeführt sein kann. Die Reibung zwischen Nut und zugeführtem Draht führt zur Erwärmung und gleichzeitig zum Aufbau eines hohen Preßdruckes. Die erzielbaren Verpressungsverhältnisse variieren mit der Legierungszusammensetzung. Bei Reinaluminium kann man Verpressungsverhältnisse bis 200 : 1 erreichen. Wesentliche Vorteile des Conform-Verfahrens sind das kontinuierliche Strangpressen ausgehend von Drahtvormaterial-Coils und die schnelle Umrüstung auf andere Abmessungen. Wegen des begrenzten Durchmessers des Ausgangsmaterials lassen sich nur Profile mit entsprechend geringem umschriebenen Kreis herstellen. Anwendungsbeispiele sind dünnwandige Rohre für die Wärmetauscherindustrie (Automobilkühler) und Glasabstandsleisten für die Fensterindustrie.
Bild 9.7.1 Strangpressen nach dem Conform-Verfahren
9.7.2 Hydrostatisches Strangpressen Das hydrostatische Strangpressen, bei dem der hydrostatische Preßdruck über einen Öl- oder Wassermantel auf den Preßbolzen ausgeübt wird, hat
456
9 Strangpressen
Vorteile bei der Erzeugung von Verbundwerkstoffen mit unterschiedlichen Fließeigenschaften. Es spielt aber für die Aluminiumverarbeitung heute keine bedeutende Rolle. Hydrostatisches Strangpressen wird z.B. für die Herstellung von Elektrokabelummantelungen (Aluminiumkern mit Kupferummantelung) verwendet. 9.7.3 Verbundstrangpressen In Sonderfällen wird die Herstellung von Verbunden von Aluminiumprofilen mit anderen Werkstoffen direkt in den Strangpreßvorgang integriert. Ein Beispiel sind Stromschienen für den U-Bahn-Bereich, die einerseits eine hohe elektrische Leitfähigkeit und andererseits eine hohe Abriebfestigkeit und werkstoffliche Kompatibilität mit den Gleitschuhen der Stromabnehmer benötigen. Für diesen Anwendungszweck werden Verbundstromschienen aus Aluminiumprofil mit einer Auflage von rostfreiem Stahl hergestellt, s. Bild 2.7.3. Die Herstellung geschieht auf einer normalen Strangpresse, wobei dem Werkzeug − das aus Gründen der unterschiedlichen Wärmeausdehnung zwischen Aluminium und Stahl als symmetrisches Zweifachwerkzeug ausgeführt ist − durch ein Vorwerkzeug das Stahlband von außen zugeführt wird. Die Verbindung zwischen Stahlband und Aluminiumprofil ist eine Preßschweißverbindung, die während des Strangpreßvorgangs entsteht, und einen guten Stromkontakt zwischen beiden Werkstoffpartnern sichert.. 9.7.4 Warmbiegen von Profilen beim Preßvorgang In zahlreichen Fällen, in Sonderheit im Automobilbau, werden gebogene Strangpreßprofile benötigt, die mit Hilfe verschiedener Biegeverfahren hergestellt werden, s. Abschn. 13.1.4. Die erreichbaren Biegeradien sind begrenzt durch die Verformbarkeitsgrenzen des Materials im Anlieferungszustand, der üblicherweise bei aushärtbaren Legierungen der T4-Zustand ist. Die natürlichen Toleranzschwankungen der Fließgrenze des Materials wirken sich dabei auf die Biegetoleranzen aus, weshalb bei engen Toleranzforderungen häufig das vorgebogene Profil noch einer Kalibrierung durch Innenhochdruckumformen unterworfen wird. Günstige Toleranzen lassen sich durch Warmbiegen erreichen, was am zweckmäßigsten direkt an der Strangpresse aus der Preßhitze stattfinden kann, wenn am Pressenauslauf bestimmte mechanische Vorkehrungen getroffen werden. In den letzten Jahren haben insbesondere die Entwicklungen einer derartigen Biegetechnik an der Universität Dortmund Aufmerksamkeit gewonnen
9.7 Sonderverfahren des Strangpressens von Aluminium
457
(Kleiner 1999, Klaus et al. 2004). Das Verfahrensprinzip sieht eine mechanische Ablenkung des Strangs nach dem Austritt aus dem Werkzeug vor, s. schematische Skizze in Bild 9.7.2. Durch Steuerung der Ablenkmechanik lassen sich grundsätzlich räumlich (3D) gebogene Profile mit unterschiedlichen Radien in einem Strang erzeugen.
Bild 9.7.2 Prinzip des Warmbiegens an der Presse nach Kleiner
10 Schmieden von Aluminium
Gesenkschmiedeteile aus Aluminiumknetlegierungen werden in der Luftfahrt, im Fahrzeugbau und in vielen anderen Gebieten des Maschinenbaus vor allem in solchen Anwendungsfällen verwendet, bei denen ein Höchstmaß an Sicherheit gegen Versagen durch Mißbrauch, durch Stoßbelastung und durch schwingende Beanspruchung gewährleistet sein muß. Im Automobilsektor zählen hierzu Fahrwerksteile – wie Räder, Querlenker, Längslenker, Achslager und Naben-, Lenkungs- und Bremsteile. Die hohe Bauteilintegrität wird beim Gesenkschmieden dadurch erzielt, daß durch den Materialfluß im Gesenk ein dichtes Fasergefüge entsteht, das bei richtiger Auslegung des Schmiedeteils, des Gesenks und des Schmiedeprozesses höchste mechanische Eigenschaften in Richtung der Hauptbeanspruchungen besitzt. Festigkeit, Bruchdehnung, Zähigkeit und Schwingfestigkeit sind bei Beanspruchung in der Faserrichtung am höchsten. Beispiele für Anwendungen im Fahrzeugbau finden sich in den Bildern 2.1.12 und 2.1.13. Den offensichtlichen Vorteilen des Gesenkschmiedens stehen die Kosten für die Gesenke gegenüber. Zur wirtschaftlichen und gegenüber Stahl und Aluminiumguß wettbewerbsfähigen Herstellung von Aluminiumgesenkschmiedeteilen müssen Seriengrößen von etwa 30.000 Stück angestrebt werden, da sich in diesem Fall auch die kostensenkende Investition von verketteten, vollautomatischen Anlagen lohnt. Die Aufgabe besteht darin, die Formgebungsmöglichkeiten des Schmiedens auszuschöpfen, höchste Bauteileigenschaften zu erzielen und dabei die Herstellungskosten und den Aufwand für die Endbearbeitung möglichst gering zu halten. Um dieses Ergebnis zu erreichen, sind Grundkenntnisse über den Schmiedeprozeß, seine Freiheitsgrade und seine Grenzen notwendig. Nach wie vor findet man eine der umfassendsten Darstellungen des Aluminiumschmiedens in der Arbeit von MeyerNolkemper (Meyer-Nolkemper 1979). Weitere spezifische Informationen einschließlich der garantierten Werkstoffkennwerte von Vorzugslegierungen und konstruktiver Hinweise enthält die Schmiedenorm DIN EN 586, Teil 1:1997 (Lieferbedingungen); Teil 2:1994 (Eigenschaften); Teil 3:2001 (Toleranzen und konstruktive Hinweise).
460
10 Schmieden von Aluminium
10.1 Prozeß des Gesenkschmiedens Unter dem Begriff Gesenkschmieden wird eine Gruppe von Verfahren der Massivumformtechnik verstanden, die wie das Warmwalzen und Strangpressen zu den Verfahren der Warmumformung mit dem Verfahrensmerkmal „Druckumformen“ gehören, bei denen der bei hohen Temperaturen niedrigere Fließwiderstand und die höhere Duktilität des Werkstoffs ausgenutzt werden. Die Formgebung erfolgt in Gesenkformen (gebundenes Umformen) aus Warmarbeitsstahl, in die ein Gravur zur Erzeugung einer definierten Werkstückgeometrie eingebracht wurde. Zu den Verfahren des Gesenkschmiedens zählen das Anstauchen im Gesenk, das Formpressen ohne Grat und das Formpressen mit Grat, s. Bild 10.1.1. Für die klassische Herstellung von Aluminiumgesenkschmiedeteilen wird überwiegend das Formpressen mit Grat eingesetzt. Die für die Formgebung notwendigen Preßkräfte bzw. Umformarbeit werden in hydraulischen (kraftgebundenen) Schmiedepressen oder in mechanisch getriebenen (weg- oder arbeitsgebundenen) Pressen oder Hämmern aufgebracht.
Bild 10.1.1 Verfahren des Gesenkschmiedens im engeren Sinne: Anstauchen, Formpressen ohne Grat und Formpressen mit Grat (Lange 1988)
Beim Füllen von Schmiedegravuren kann man folgende 3 Grundtypen von Vorgängen unterscheiden: s. Bild 10.1.2 1. Stauchen: Verminderung der Ausgangshöhe 2. Breiten: seitliches Verdrängen des Werkstoffs von innen nach außen 3. Steigen: Ausfüllen tiefer Hohlräume. Alle diese Vorgänge beginnen mit dem Stauchen des Vormaterials. In der nächsten Stufe legt sich das Material an die formgebenden Gravurwände
10.1 Prozeß des Gesenkschmiedens
461
an, bevor es endlich die gesamte Gravur ausfüllt. Überschüssiges Material wird in die Gratbahn gequetscht.
Bild 10.1.2 Grundtypen von Vorgängen beim Füllen von Schmiedegravuren (Lange 1988)
Bzgl. der Fließeigenschaften von Aluminium und seinen Legierungen bei hohen Temperaturen s. Abschn. 6.6.4 sowie Anhang A.1.8. Die Schmiedetemperaturen für Aluminium und seine Legierungen liegen zwischen 350 und 500 °C, einem Temperaturbereich, in dem die Fließspannung kf mit zunehmender Temperatur sinkt, aber zunehmend stark von der Formänderungsgeschwindigkeit ϕ& abhängt. Wenn sich die Formänderungsgeschwindigkeit im Temperaturarbeitsbereich um eine Zehnerpotenz ändert, erhöht sich die Fließspannung etwa um den Faktor 1,25–1,32 (Meyer-Nolkemper 1979). Bei gegebener Stempelgeschwindigkeit vwz ist die Formänderungsgeschwindigkeit ϕ& abhängig von der momentanen Dicke h des gestauchten Werkstoffvolumens. Für den Idealfall des homogenen Stauchens gilt der folgende Zusammenhang zwischen Stempelgeschwindigkeit und Formänderungsgeschwindigkeit: ϕ& =
v wz h
(10.1.1)
Bei Gesenkschmiedeteilen mit unterschiedlichen Querschnitten in der Werkzeuggravur ist die Formänderungsgeschwindigkeit – und folglich auch die Fließspannung – im Werkstück örtlich verschieden hoch. Zum
462
10 Schmieden von Aluminium
Beispiel herrscht in der Gratbahn aufgrund der geringen Dicke eine höhere Formänderungsgeschwindigkeit als im übrigen Werkstück, die sich in einem örtlich größeren Fließwiderstand auswirkt und so die Gravurfüllung begünstigt, vgl. Bild 10.1.1. Kleine Umformgeschwindigkeiten führen zu geringeren Kräften und damit zu geringerer Umformarbeit. Das Schmieden mit niedrigen Umformgeschwindigkeiten ist deshalb in zweifacher Hinsicht für die Temperaturverhältnisse im Schmiedestück vorteilhaft: die Temperaturzunahme während das Umformens bleibt gering, und die Zeitspanne zum Temperaturausgleich im Werkstück wird größer. Die Umformgeschwindigkeiten sind so zu wählen, daß keine örtlichen Überhitzungen entstehen, d.h. es muß genügend Zeit zum Temperaturausgleich während des Umformens bleiben. Entsprechend der Pressenwahl können die Bär- oder Stößelgeschwindigkeiten und damit die Umformgeschwindigkeiten in weiten Grenzen schwanken. Die Auftreffgeschwindigkeit liegt beim Schmieden in Hämmern zwischen 5 und 6 m/s. Beim Schmieden in hydraulischen Pressen betragen die Preßgeschwindigkeiten dagegen nur ca. 0,1 m/s, beim sog. Kriechumformen („Isothermes Schmieden“) noch wesentlich weniger, um die Fließspannungen klein zu halten. In Hämmern und mechanischen Pressen werden daher kleinere Schmiedestücke mit einfacher Gestalt aus gut umformbaren Legierungen geschmiedet. Große, kompliziert gestaltete Schmiedestücke sowie schwer umformbare Legierungen werden in hydraulischen Pressen geschmiedet.
10.2 Schmiedegesenke Gesenkarten
Je nach Größe, Form und Stückzahl des Werkstücks kann man zwischen drei Arten von Gesenken wählen: • • •
Einfach-Gesenk: Gesenk mit einer einzelnen Gravur Mehrfach-Gesenk: mehrere gleiche Gravuren in einem Gesenk Mehrstufengesenke: mehrere Umformstufen eines Werkstückes in einem Gesenk.
Bild 10.2.1 illustriert die Elemente eines Einfach-Schmiedegesenkes, das aus einem Block aus Warmarbeitsstahl besteht (Lange 1988). Die Gravur wird durch Spanen, Einsenken, Erodieren oder elektrochemischen Abtrag gefertigt. Die Oberfläche der Gravur weist nach dem Polieren eine Rauhtiefe von ca. 3 µm auf. Durch die im Vergleich zu Stahl fehlende Zunder-
10.2 Schmiedegesenke
463
schicht und niedrigere Fließspannung von Aluminiumwerkstoffen wird die Gravuroberfläche auf dem Werkstück sehr gut abgebildet.
Bild 10.2.1 Elemente von Schmiedegesenken (Lange 1988)
Gesenkteilung
Die Lage der Gesenkteilung beeinflußt den Stofffluß und damit den Faserverlauf des Schmiedestückes sowie die Lage des Schmiedegrates am Schmiedestück. Häufig muß ein abgewogener Kompromiß gefunden werden, der die z.T. sich widersprechenden Forderungen (Werkzeugkosten ⇔ Werkstückeigenschaften) berücksichtigt. Die Lage der Gesenkteilung beeinflußt auch die Toleranzen des Schmiedestückes. Vier Gestaltungsregeln für die Teilung von Schmiedegesenken sind zu beachten (Erläuterungen s. Bild 10.2.2): • symmetrische Gesenkteilung: Der Werkstoffaufwand pro Werkstück wird bei gegebener Seitenschräge am geringsten. • ebene Teilung: Die Gesenkblockhöhe wird am niedrigsten, die mechanische Bearbeitung wird erleichtert. • fließgerechte Teilung soll das Fließen des Werkstoffes erleichtern. • bearbeitungsgerechte Teilung zur Vereinfachung der spanenden Bearbeitung bzw. des Entfernens des Grates. Darüber hinaus muß berücksichtigt werden, daß der Schmiedegrat eine potentielle Schwachstelle für den Fall darstellt, daß in diesem Bereich hohe Schwingbeanspruchungen übertragen werden (z.B. durch wechselnde
464
10 Schmieden von Aluminium
oder schwellende Biegespannungen). Die Lage des Schmiedegrates und damit die Lage der Teilungsebene muß daher auch beanspruchungsgerecht vorgenommen werden.
Bild 10.2.2 Regeln für die Wahl der Gesenkteilung (Lange 1988)
10.3 Stofffluß und Faserverlauf Der Stofffluß im Gesenk ist maßgebend für den Faserverlauf und wird durch die abgestimmte geometrische Vorform des Vormaterials (möglichst genaue Dosierung in allen Teilbereichen der Gravur), die Fließspannung und die tribologischen Verhältnisse in den Kontaktzonen geregelt. Bild 10.3.1 illustriert den Stofffluß im geschlossenen Gesenk (ohne Grat) und im Gesenk mit Gratspalt. Beim Schmieden im geschlossenen Gesenk verbleibt das gesamte Material in der Gravur des Gesenkes und füllt sie vollständig aus. Daraus ergibt sich die Forderung nach einer exakten Massegleichheit zwischen Vormaterial und Fertigteil. Beim Schmieden mit Grat wird mit einem Übereinsatz von Material gearbeitet, wobei das überschüssige Material in die Gratbahn oder Gratmulde gequetscht wird. Die Geometrie der Gratbahn spielt eine wichtige Rolle bei der Formfüllung und beeinflußt die Schmiedekräfte. Das Schmieden mit Grat erleichtert die Do-
10.3 Stofffluß und Faserverlauf
465
sierung des Vormaterials, so daß einfachere Vorformen verwendet werden können.
Bild 10.3.1 Schmieden mit und ohne Grat (Johne 1969)
Besondere Auswirkungen auf den Stofffluß haben die Wahl der Gesenkradien und die Gesenkteilung. Bei günstiger Wahl der Radien legt sich der Werkstoff bei der Umformung an die Rundung der Gravur an und steigt an der Wand nach oben. Bei zu kleinen Gesenkradien schießt der Werkstoff bei entsprechenden Umformgeschwindigkeiten über die Rundungen hinaus, hebt also von der Gravuroberfläche ab und wird an anderer Stelle wieder umgelenkt. Die dadurch entstehende Schmiedefalte („Stich“) ist ein unangenehmer Schmiedefehler, der erst bei der Endkontrolle nach dem Beizen festgestellt werden kann und das Schmiedestück in aller Regel unbrauchbar macht. Bild 10.3.2 erläutert, wie die Größe der Abrundungsradien der Gravur den Stofffluß beeinflußt. Die Auswirkung der Gesenkteilung auf den Stofffluß bei der Formgebung ist beispielhaft in Bild 10.3.3 illustriert. Das Bild zeigt, wie der Faserverlauf durch günstigeren Stofffluß bei Verlegung der Teilungsebene aus der Bauteilmitte an die Werkstückoberkante verbessert werden kann. Der Ausschnitt der modifizierten Gesenkteilung zeigt einen gleichmäßigeren Faserverlauf in der Ausrundung, der in Bereichen hoher Spannungen günstige mechanische Eigenschaften (insbesondere Schwingfestigkeit) erzeugt. Das Anschneiden von Fasern durch spanende Nacharbeit sollte daher unter dem Gesichtspunkt guter Schwingfestigkeit in Bereichen hoher Spannungen vermieden werden.
466
10 Schmieden von Aluminium
Bild 10.3.2 Stofffluß bei verschieden großen Gesenkradien. Entstehen einer Schmiedefalte (Lange 1988)
Bild 10.3.3 Einfluß der Gesenkteilung auf den Stofffluß (Meyer-Nolkemper 1979)
Reibung und Schmierung
Der Stofffluß und auch die erforderlichen Preßkräfte werden besonders durch die Reibung in den Kontaktzonen zwischen Werkstück und Gravuroberfläche beeinflußt. Die Reibbeiwerte beim Schmieden von Alumini-
10.4 Schmiedelegierungen, Vormaterial, Gefüge und Arbeitsablauf
467
umwerkstoffen sind relativ groß, da Aluminium keine trennende Zunderschicht besitzt. Als Schmierstoff werden auf die Gesenktemperatur abgestimmte Emulsionen von Graphit in Öl oder in Wasser verwendet. Ohne Schmierstoff ergeben sich Reibbeiwerte von µ ~ = 0,48 nahe der Haftreibung (µ = 0,5). Mit Graphit als Schmierstoff liegt µ zwischen 0,06 und 0,15. Die Zahlenwerte gelten unter der Voraussetzung, daß der Schmierfilm beim Umformen erhalten bleibt. Bei größeren Gleitwegen können sich höhere Reibbeiwerte einstellen. Die Neigung der Kontaktfläche zur Stößelrichtung spielt eine Rolle in der Überwindung der Reibung. Am einfachen Fall des Stauchens eines axialsymmetrischen Zylinders kann man zeigen, daß durch eine leichte Kegelform der Stauchbahn die Reibung fast gänzlich ausgeschaltet wird, wenn der Tangens des Winkels α der Bodenschräge der Stauchbahn gleich dem Wert des Reibungskoeffizienten µ ist, vgl. Bild 10.3.4. Auf diese Weise ist es möglich, Einfluß auf die Fließrichtung des Werkstoffs zu nehmen.
Bild 10.3.4 Kegelstauchversuch nach Siebel und Pomp (Lange 1988)
10.4 Schmiedelegierungen, Vormaterial, Gefüge und Arbeitsablauf Grundsätzlich können alle Aluminium-Knetlegierungen und Gußlegierungen für die Warmformgebung durch Schmieden genutzt werden. Aus technischen und wirtschaftlichen Gründen werden jedoch meistens nur ausgewählte Knetlegierungen für Schmiedezwecke (Vorzugslegierungen, Klasse A) eingesetzt. Diese Gründe orientieren sich an den technischen und funktionellen Anforderungen in den wichtigen Anwendungsgebieten der Ver-
468
10 Schmieden von Aluminium
kehrstechnik und des Maschinenbaus, wo Formteile mit hohen Sicherheitsansprüchen benötigt werden, s. Tabelle 10.4.1. Tabelle 10.4.1 Typische Schmiedelegierungen und ihre Verwendungszwecke. Vorzugslegierungen nach DIN EN 573-Teil 4 (2004) und DIN EN 586-Teil 3 (2001) Legierungsbezeichnung
Liefer- Schmied- Anwendungsbereiche zustand barkeit (Beispiele)
EN AW-5754 Al Mg3
H112
schwer
EN AW-5083 Al Mg4,5Mn0,7 H112
schwer
EN AW-6082 Al Si1MgMn
T6
leicht
EN AW-2024 Al Cu4Mg1
T4
schwer
EN AW-2014 Al Cu4SiMg
T6
schwer
EN AW-7075 Al Zn5,5MgCu
T6, T73 schwer
Schiffbau, chem. Apparatebau, dekorativ anodisierbar Schiffbau, chem. Apparatebau, hohe Korrosionsbeständigkeit Standardlegierung für den Fahrzeug-, Schiff- und Maschinenbau hochbeanspruchte Teile im Fahrzeug-, Flugzeug- und Maschinenbau höher beanspruchte Teile im Fahrzeug-, Flugzeug- und Maschinenbau höchstbeanspruchte Teile im Flugzeug- und Maschinenbau
Die in Tabelle 10.4.1 enthaltenen Legierungen unterteilen sich in nicht aushärtbare und aushärtbare Legierungen. Die nicht aushärtbaren Legierungen, AlMg3 und AlMg4,5Mn0,7 werden bevorzugt, wenn Schweißbarkeit, dekorative Anodisierbarkeit und hohe Korrosionsbeständigkeit gefordert werden. Der warmgeformte Zustand wird mit H112 (s. Abschn. 3.4.2) bezeichnet und entspricht annähernd dem Zustand „weich“. Eine Festigkeitssteigerung kann nur durch Verfestigung mit Kaltumformung erreicht werden (die jedoch wiederum Auswirkungen auf andere Eigenschaften, wie Bruchdehnung, Korrosionsbeständigkeit und thermische Stabilität haben kann). Für Konstruktionszwecke werden vorzugsweise aushärtbare Legierungen verwendet, die durch Warmaushärten (T6- bzw. T73-Zustände) auf hohe und höchste Festigkeitswerte gebracht werden. Eine Ausnahme ist die Legierung AlCu4Mg1 (EN AW-2024-T4), die bei hohen Festigkeitswerten gleichzeitig hohe Duktilitäts- und Zähigkeitsansprüche erfüllt. Typische mechanisch-technologische Eigenschaften dieser Vorzugslegierungen sind in Tabelle A.1.2 (Anhang) enthalten und beziehen sich auf Eigenschaften in Faser- (L-) Richtung. Für garantierte Mindestfestigkeitseigenschaften wird auf die Norm verwiesen (DIN EN 586: Teil 2). Weitere Schmiedelegierungen, die nur in begrenzteren Mengen hergestellt werden, werden nach DIN EN 586-3:2001 der Klasse B mit nicht
10.4 Schmiedelegierungen, Vormaterial, Gefüge und Arbeitsablauf
469
festgelegten Eigenschaften zugeordnet und sind in Tabelle 10.4.2 aufgelistet. Typische Festigkeitseigenschaften sind (teilweise) in Tabelle A.1.2 enthalten. Garantierte Werte enthalten die Luftfahrt-Werkstoffnormen. Darüber hinaus wurden gerade für den Automobilsektor spezielle Legierungen entwickelt (Becker et al. 1995/96). Tabelle 10.4.2 Schmiedelegierungen der Klasse B mit nicht in DIN EN 5862:1994 festgelegten (Mindest-)Eigenschaften Legierungsbezeichnung Al 99,5 EN AW-1050A Al Cu6BiPb EN AW-2011 Al Cu4MgSi(A) EN AW-2017A Al Cu2,5NiMg EN AW-2031 Al Cu6Mn EN AW-2219 Al Cu2Mg1,5Ni EN AW-2618A Al Si12,5MgCuNi EN AW-4032 Al Mg5 EN AW-5019 Al Mg3Mn EN AW-5454 Al MgSi EN AW-6060 Al SiMg(A) EN AW-6005A Al Mg1SiCu EN AW-6061 EN AW-7010 EN AW-7012 EN AW-7020
Al Zn6MgCu Al Zn6Mg2Cu Al Zn4,5Mg1
Lieferzustand H112 T4, T6 T4 T6 T6 T6 (F) H112 H112 T6 T6 T6 T6 T6 T6
Schmiedbarkeit leicht schwer schwer schwer schwer schwer schwer schwer schwer leicht leicht leicht schwer schwer schwer
Schmiedevormaterial, Zwischenformen und Vordosierung
Als Schmiedevormaterial werden sowohl Stranggußbarrenabschnitte als auch Abschnitte von stranggepreßten Stangen und Profilen verwendet. Im ersteren Falle liegt ein mehr globulitisches Korngefüge, bei stranggepreßtem Ausgangsmaterial dagegen bereits ein Warmverformungsgefüge (Fasergefüge) in Preßrichtung vor. Für das Vormaterial gelten die Normen EN 603-Teil 1-3 (Strangpreßmaterial) und EN 604-Teil 1-2 (Gußvormaterial). Je nach Form des Schmiedeteils kann es notwendig sein, ausgehend von den gewöhnlich geometrisch einfachen Formen des Vormaterials Zwischenformen in Vorgesenken und/oder eine Vordosierung des Materials vorzunehmen, um die Gravur des Gesenkes beim Umformvorgang möglichst durch einen gleichmäßigen Werkstofffluß zu füllen. Diese Vordosierung des Materials wird je nach Teilgeometrie mit einem Vorgesenk erreicht, wobei das überschüssige Material in die Gratbahn gequetscht und abgetrennt wird. In ungünstigen Fällen kann dadurch das Verhältnis von
470
10 Schmieden von Aluminium
unbearbeitetem Rohteilgewicht zu Einsatzgewicht (Ausbringungsverhältnis) bis unter 25% fallen. Neuerdings werden auch Stranggußbarren mit komplexeren Vorformen als Schmiedevormaterial vorgestellt (Sterzl 2004). Sowohl technische als auch wirtschaftliche Erwägungen sind maßgebend für die einzuschlagende Fertigungsroute und richten sich zudem nach der beabsichtigten Fertigungslosgröße. Schmiedegefüge
Das typische Schmiedegefüge ist ein Warmverformungsgefüge bestehend aus in Stoffflußrichtung langgestreckten Körnern („Fasern“), die ein Netzwerk aus Subkorngrenzen (Polygonisationsgefüge) enthalten. Die Kornstreckung ist abhängig von der Art des Vormaterials (Strangguß- oder Strangpreßmaterial und vom lokalen Formänderungsgrad. Durch den Verformungsprozeß stellt sich eine Vorzugorientierung des Korngefüges ein, das sich ähnlich wie beim Strangpressen – s. Bild 9.4.1 – in einer Textur äußert, die sich in höheren Festigkeitswerten längs zur Faserrichtung auswirkt. Es handelt sich um denselben Effekt, den man bei stranggepreßten Stangen als „Preßeffekt“ bezeichnet. Bei Gesenkschmiedeteilen unterscheidet man daher Längswerte „L“ (parallel zur Faserrichtung) und Querwerte „T“ (quer zur Faserrichtung). Je nach Kornstreckung ergibt sich auch eine mehr oder minder starke zeilenförmige Anordnung der Primärphasenpartikel, die durch den Umformprozeß teilweise fragmentiert werden, s. Bild 10.4.1.
Bild 10.4.1 Schmiedeteil aus EN AW-6082-T6. Zeilenförmige Anordnung von (fragmentierten) Primärphasen (links). Kornverlauf um einen Radius (rechts). Vergröberte Primärphasen durch Ä tzung nach Murakami
Das angestrebte Fasergefüge kann auch durch Rekristallisationsvorgänge beim Schmiedevorgang beeinträchtigt werden, die – vornehmlich an der Oberfläche – zur Grobkornbildung führen. Letzteres Phänomen wird her-
10.4 Schmiedelegierungen, Vormaterial, Gefüge und Arbeitsablauf
471
vorgerufen durch die Reibungs- und Schervorgänge zwischen Werkstück und Gravur und die dadurch verursachte Temperaturerhöhung. Bild 10.4.2 illustriert an einem typischen Beispiel ein derartiges Mischgefüge. Maßgebend ist dabei die Umformgeschwindigkeit. Es besteht also eine recht komplexe Abhängigkeit des Schmiedegefüges von der geometrischen Form, der Art des Vormaterials, der Legierungszusammensetzung, dem Fließvermögen der Legierung, den Prozeßparametern des Schmiedevorgangs und der Werkzeugauslegung.
Bild 10.4.2 Korngefüge nach Makroätzung im Querschliff eines (spanend bearbeiteten) Schmiedeteils aus EN AW-6082-T6
Anders als beim Schmieden von Stahl ist das Temperaturintervall zwischen geeigneten Schmiedetemperaturen und der Solidustemperatur bei Aluminiumlegierungen relativ gering, so daß bei ungenügender Temperaturkontrolle die Gefahr von Anschmelzungen und dadurch verursachten irreversiblen Gefügeschädigungen gegeben ist. Andererseits ist das Schmieden von Aluminiumwerkstoffen in dieser Hinsicht einfacher als bei den meisten anderen Werkstoffen. Die Gesenke lassen sich bis auf Umformtemperatur vorwärmen, ohne daß ihre Warmfestigkeit unzulässig beeinträchtigt wird. Auf diese Weise kann man eine Abkühlung der Schmiedestücke beim Umformen verhindern, insbesondere, wenn bei hochfesten Legierungen und großen Werkstücken langsame Preßgeschwindigkeiten erforderlich sind („isothermes Schmieden“). Tabelle 10.4.3 enthält Angaben zu den Schmelz- und Schmiedetemperaturen der Vorzugslegierungen.
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10 Schmieden von Aluminium
Tabelle 10.4.3 Schmiede- und Schmelztemperaturbereiche von Schmiedelegierungen (Vorzugslegierungen Klasse A) Legierungsbezeichnung EN AW-5754 EN AW-5083 EN AW-2024 EN AW-2014 EN AW-6082 EN AW-7075
Legierungstyp
Schmelzbereich [°C]
Schmiedebereich [°C]
nicht aushärtbar
595 – 645 580 – 640 500 – 640 505 – 640 575 – 650 475 – 635
410 – 460 410 – 460 400 – 440 410 – 460 430 – 500 350 – 450
Al Mg3 Al Mg4,5Mn0,7 Al Cu4Mg1 Al Cu4SiMg Al Si1MgMn Al Zn5,5MgCu
aushärtbar
Arbeitsablauf beim Schmieden
Der Arbeitsablauf des Schmiedens in einzelnen Schritten, ausgehend von Strangguß- oder Strangpreßvormaterial, ist in Bild 10.5.1 dargestellt. Der Gesamtablauf kann in die Grundabschnitte Formgebung, Wärmebehandlung und Kontrolle unterteilt werden.
Bild 10.4.3 Arbeitsablauf beim Gesenkschmieden (Quelle: Alcan-Singen)
Schmiedeteile aus aushärtbaren Legierungen erfordern nach dem Schmieden eine separate Wärmebehandlung, bestehend aus Lösungsglühen, Abschrecken und anschließender Kalt- bzw. Warmauslagerung. Nach
10.5 Gestalten von Schmiedeteilen
473
dem Abschrecken werden die Teile in einem Kalibrierschlag zwischen 1 bis 3 % kalt gestaucht, um Verzug und Eigenspannungen zu beseitigen. Die Qualitätskontrolle beginnt bereits bei der Herstellung des Vormaterials und schließt die Kontrolle der chemischen Zusammensetzung, von Gefügefehlern, Oxideinschlüssen und Materialtrennungen ein. Die Endkontrolle beinhaltet Kontrolle der Maße, der Oberfläche im Hinblick auf Schmiedefalten und Grobkorn (Makroätzung) sowie der stichprobenartig ermittelten Festigkeitswerte.
10.5 Gestalten von Schmiedeteilen Beim Entwurf von Schmiedeteilen müssen gewisse Gestaltungsregeln eingehalten werden, die den Stofffluß und prozeßbedingte Gestaltungsgrenzen berücksichtigen. Beispielsweise sind Hinterschneidungen nur mit erheblichem Werkzeugaufwand zu erzielen. Rippen, Seitenwände und Bodendicken sowie deren Schrägen und Rundungen unterliegen Beschränkungen, die zusammen mit erzielbaren Toleranzen in DIN EN 586-Teil 3 ausführlich erläutert werden. Bei der Auslegung von Schmiedeteilen ist darauf zu achten, daß Kerben und große Steifigkeitssprünge vermieden werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Teile Sicherheitsansprüchen und schwingender Beanspruchung genügen müssen, was der Regelfall ist. Die in Bild 10.5.1 plakativ dargestellten Fälle sollen daran erinnern, daß gerade durch die Formgebungsmöglichkeiten des Schmiedens konstruktive Kerben vermieden werden können (Lowak et al. 1992).
Bild 10.5.1 Gestalten von Schmiedeteilen für hohe Schwingbeanspruchungen (Quelle: Otto-Fuchs Metallwerke)
Ein Praxisbeispiel aus der früheren Entwicklung eines Radschwenklagers für einen PKW macht deutlich, welche Bedeutung Kerben in hochbeanspruchten Bauteilen für die erzielbare Lebensdauer haben können, s.
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10 Schmieden von Aluminium
Bild 10.5.2. Dies gilt insbesondere immer dann, wenn solche Kerben durch spanende Bearbeitung an Paß- und Anlageflächen entstehen, wo die Schmiedefaser angeschnitten wird. Durch das Entschärfen der konstruktiven und Bearbeitungskerben wurde bei dem dargestellten Bauteil die gleiche Schwingfestigkeit wie bei dem zu ersetzenden Stahlschmiedeteil aus hochfestem Ck45 erreicht. Die verwendete Legierung war zunächst eine hochfeste Legierung des Typs AlZnMgCu0,5, die in der letzten Baustufe durch die mittelfeste, weniger kerbempfindliche und korrosionsbeständige Legierung AlSi1MgMn (EN AW-6082-T6) ersetzt wurde. Dabei wurde gegenüber dem baugleichen Stahlschmiedeteil eine Gewichtsersparnis von 50 % verwirklicht (Ostermann et al. 1978).
Bild 10.5.2 Entwicklungsstufen eines geschmiedeten Aluminiumschwenklagers (Ostermann et al. 1978)
11 Kaltfließpressen von Aluminium
11.1 Charakteristische Merkmale von Kaltfließpreßteilen Das Kaltfließpressen von Aluminium und Aluminiumlegierungen ist aus umformtechnischer und aus anwendungstechnischer Sicht eine hochinteressante Fertigungstechnik mit drei wesentlichen Merkmalen; (1) die große Formenvielfalt, s. Bild 11.1.1, (2) die nahezu endkonturgenaue Fertigung von Funktionsflächen und (3) das hohe Ausbringungsverhältnis (häufig mehr als 85%) von Einsatzgewicht zu Fertigteilgewicht. Obwohl die Mehrheit der Produktion den Bereich Tuben und Dosen bedient, sind besonders die Herstellmöglichkeiten technischer Fließpreßteile für Anwendungen in der Fahrzeug-, Elektro- und Maschinenbautechnik interessant. Bild 11.1.2 zeigt als technisch anspruchsvolles Beispiel die Sicherheitslenksäulen für den PKW-Bau sowie Anwendungsbeispiele aus dem Bereich der Elektrotechnik.
Bild 11.1.1 Formenbeispiele für technische Kaltfließpreßteile aus Aluminium und Aluminiumlegierungen
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11 Kaltfließpressen von Aluminium
Bild 11.1.2 Beispiele für Kaltfließpreßteile (a) Sicherheitslenksäulen für den PKW-Bau (Quelle: Raufoss); (b) in der Elektro- und Elektronikindustrie (Quelle: Amefo)
Die obigen Formenbeispiele können aus einem Rohling – dem Butzen – in einem Arbeitsgang durch überwiegend axiale Materialverdrängung in oder entgegen der Preßrichtung erzeugt werden. Die wichtigsten Gestaltungsmerkmale von Kaltfließpreßteilen sind: • • • • • • • • •
kreiszylindrischer, ovaler oder rechteckiger Querschnitt voller oder hohler Querschnitt dünne, dicke, abgesetzte oder konifizierte Wände voller oder gelochter Boden, 10 bis 25% dicker als die Wand Boden mit Flanschen, Ausprägungen, Zapfen, Ohren, Auskehlungen und Versteifungen einfache oder mehrfache Wände Wände innen und/oder außen mit versteifenden Rippen schraubenförmige Wandrippen und -nuten (nur bis zum Selbsthemmungswinkel) keine Hinterschneidungen (Ausnahme: durch Querfließpressen)
Die Gestaltungsmöglichkeiten von Kaltfließpreßteilen lassen sich ganz erheblich erweitern, wenn das Fließpressen im Zusammenhang mit anderen Verarbeitungsverfahren gesehen wird. Hierzu zählen sowohl die spanenden als auch die umformenden Bearbeitungsverfahren. Ein Beispiel für die geschickte Kombination von Kaltfließpressen und spanender Drehbearbeitung ist in Bild 11.1.3 dargestellt (Asbøll et al. 1991, Kretz 1992). Durch Wand- und Bodennuten oder -wulste im fließgepreßten Rohteil las-
11.2 Aluminium für technische Fließpreßteile
477
sen sich in einer Aufspannung bei der Drehbearbeitung Durchbrüche in Wand und Boden erzielen.
Bild 11.1.3 Seitliche Durchbrüche durch Kombination von Kaltfließpressen und Drehbearbeitung. (a) Fließpreßteil, (b) nach Zerspanen (Quelle: Kretz, Alutec)
Die Kombination mit spanlosen und spanenden Formgebungsverfahren bietet eine solche Fülle an Gestaltungsmöglichkeiten, daß der Konstrukteur und Fertigungstechniker sich herausgefordert fühlen sollte, seine ganze Phantasie und Kreativität einzusetzen. Mit dem Innenhochdruckumformen von Kaltfließpreßteilen können z.B. Nebenformelemente (Hinterschneidungen) quer zur Preßrichtung des Fließpreßteils hergestellt werden (Ostermann 1992, Siegert 1992, Kretz 1992, Schlosser 1992, Kretz 1995), Schlosser 1995). Durch Halbwarm- und Warmumformen können die Formänderungsgrenzen der Legierungen deutlich erweitert werden und ähnlich den Formgußteilen ganze Bauteilgruppen zu einem Bauteil vereinigt werden. Der Wegfall von Fügeoperationen und damit verbundenen Schwachstellen ist vor allem für komplexe Sicherheitsteile von großem Interesse.
11.2 Aluminium für technische Fließpreßteile 11.2.1 Vormaterial: Butzen Das Erreichen einer nahezu einbaufertigen Endform von Kaltfließpreßteilen setzt eine präzise Dosierung des Vormaterials voraus. Butzen oder
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11 Kaltfließpressen von Aluminium
Ronden in Reinaluminiumqualitäten werden aus gewalzten Bändern oder aus Gießband gestanzt, das mit einem Kalibrierwalzstich mit engen Toleranzen versehen wird. Legierungsbutzen, die nicht nach diesen Verfahren hergestellt werden können, werden aus Stangenvormaterial gesägt, das über Stranggießen und Strangpressen und mit einem abschließenden Kalibrierzug erzeugt wird. Spezifikationen über die Beschaffenheit von gestanzten oder gesägten Butzen aus Aluminiumhalbzeug sind der DIN EN 570:1994 zu entnehmen. Um die Preßkräfte gering, die Werkzeugstandzeiten und das Fließvermögen des Werkstoffs hoch zu halten, werden die Butzen in der Regel durch Weichglühen in einen Zustand geringster Festigkeit gebracht. Dabei ist gleichzeitig über dem Butzenquerschnitt ein regelmäßiges faseriges oder feinkörniges Gefüge anzustreben. Mischgefüge kann durch örtlich unterschiedliche Fließeigenschaften zu Form- und Toleranzfehlern am Fließpreßteil führen. Neben den engen Grenzabmaßen und dem fließpreßgeeigneten Werkstoffzustand ist die Beschaffenheit der Butzenoberfläche für den Fließpreßprozeß von erheblicher Bedeutung, da sie als Schmierstoffträger besondere Ansprüche zu erfüllen hat. Bei den üblichen, hohen Umformgraden zwischen 50 und 95 % und der dadurch sich entsprechend vergrößernden Oberfläche muß ein genügendes Schmierstoffangebot vorliegen. Die Butzenoberfläche wird deshalb durch Scheuern, Strahlen oder Trommeln aufgerauht. Bei mittel- bis hochfesten Aluminiumlegierungen und größeren Umformgraden ist eine Konversionsschicht aus Zinkphosphat, Kalziumaluminat oder Aluminiumfluorid als Schmierstoffträger notwendig. Als Schmierstoffe werden verwendet: • Zinkstearat und -behenat (nicht wasserlöslich) • Alkaliseifen (wasserlöslich) • flüssige Schmierstoffe auf Ölbasis (wasserlöslich). Hauptsächlich aus Umweltschutzgründen sind wasserlösliche Schmierstoffe wie Alkaliseifen und flüssige Schmierstoffe auf Ölbasis von Interesse. In Konkurrenz zu Zinkstearat und -behenat stehen heute Fabrikate auf Paraffinbasis mit optimaler Wasserlöslichkeit ohne chlorierte Lösungsmittel und Schwermetallseifen, sowie wasserlösliche, lösemittelfreie Schmiermittel auf Alkaliseifenbasis oder flüssige Schmierstoffe auf Ölbasis. Die Wahl der Art, Menge und Aufbringung des Schmierstoffs wird an anderer Stelle ausführlich behandelt (Schlosser 1992).
11.2 Aluminium für technische Fließpreßteile
479
11.2.2 Aluminiumlegierungen für das Kaltfließpressen Grundsätzlich eignen sich zum Kaltfließpressen alle Rein- und Reinstaluminiumsorten sowie Aluminiumlegierungen nach DIN EN 573-Teile 1–4:2004. Hinzu kommen eine Vielzahl von Werkslegierungen und Sonderwerkstoffen für spezielle Anwendungsfälle. Eine Auswahl von naturharten und aushärtbaren Legierungen für das Kaltfließpressen mit einer breiten Festigkeitsskala von 100 bis 600 N/mm²enthält Tabelle 11.2.1. Tabelle 11.2.1 Fließpreßbarkeit und Verwendbarkeit von Legierungen (nach DIN EN 573) für das Kaltfließpressen Legierungsbezeichnung EN AWNumerisch Chem. Symbol 1098 Al99,98 1050A Al99,5 1200 Al99,0 3103 AlMn1 5310 Al99,98Mg0,5 5754 AlMg3 5049 AlMg2Mn0,8 6060 AlMgSi 6061 AlMg1SiCu 6082 AlSi1MgMn 2017A AlCu4MgSi(A) 7020 AlZn4,5Mg1 7075 AlZn5,5MgCu 6012 AlMgSiPb 2007 AlCu4PbMgMn 2011 AlCu6BiPb 1)
Aushärtbarkeit naturhart naturhart naturhart naturhart naturhart naturhart naturhart aushärtbar aushärtbar aushärtbar aushärtbar aushärtbar aushärtbar aushärtbar aushärtbar aushärtbar
Fließpreß- Verwendungsmerkmale barkeit 1) 1 1 1 1,8 1,5 2,6 2,5 1,4 1,7 1,8 2,6 1,9 2,8 1,8 2,0 2,6
Glänzqualität
Glänzqualität
nur T4 Zustand verwenden nur T6 Zustand verwenden nur T6/T7 Zustd. verwenden Pb-Zusatz für Kurzspäne Pb-Zusatz für Kurzspäne Pb-Zusatz für Kurzspäne
Vielfaches von kf bei ϕ = 1,0 für EN AW-1050A im Ausgangszustand weich
Rein- und Reinstaluminium sind die weichsten Aluminiumsorten mit dem größten Formänderungsvermögen, d.h. es können sehr hohe Umformgrade erzielt werden. Mit zunehmendem Verfestigungsvermögen und steigendem Legierungsgehalt vermindert sich die Umformbarkeit. Tabelle 11.2.1 gibt weiterhin einen qualitativen Überblick über die Kaltfließpreßeignung der verschiedenen Legierungen. Die Angaben basieren auf einem Vergleich der Fließspannungen kf bei einem Umformgrad von ϕ = 1,0 aus Torsionsversuchen an den verschiedenen Legierungen. Die Zahlenangaben
480
11 Kaltfließpressen von Aluminium
sind ein Vielfaches des entsprechenden Wertes für Reinaluminium Al99,5. Zahlenwerte >1 bedeuten zunehmend schwierigere Fließpreßbarkeit. Außerdem wird unter Verwendungsmerkmalen darauf verwiesen, daß einige Legierungen nur in dem angegebenen Zustand eingesetzt werden sollen (s. hierzu auch die speziellen Angaben in Kap. 3 und Kap. 5). Die Festigkeitseigenschaften von Kaltfließpreßteilen aus nicht aushärtbaren („naturharten“) Legierungen sind abhängig von der Ausgangsfestigkeit der weich geglühten Butzens und vom jeweiligen Grad der Umformung, sofern sie keiner thermischen Nachbehandlung unterzogen werden. Da über dem Längsschnitt des Fließpreßteils die verschiedenen Zonen gestaltbedingt unterschiedliche Umformgrade erfahren können, liegt deshalb im Regelfall ein inhomogener Festigkeitszustand vor. Durch Härtemessungen oder durch eine Analyse der Umformgrade im Teil kann man mit Hilfe der entsprechenden Fließkurven des Materials grobe Anhaltswerte über das Festigkeitsniveau (Rp0,2) in den verschiedenen Zonen gewinnen. Hierzu wird auf die im Anhang A.1.7 enthaltenen Fließkurven bzw. auf entsprechende andere Literaturquellen (DGM 1987) verwiesen. Tabelle 11.2.2 gibt einige Anhaltswerte für die Festigkeit von kaltverfestigten Fließpreßteilen aus nicht aushärtenden Legierungen. Tabelle 11.2.2 Typische Festigkeitseigenschaften von kaltfließgepreßten Teilen aus nicht aushärtbaren Legierungen Legierungsbezeichnung Numerisch EN AW-1098 EN AW-1050A EN AW-1200 EN AW-3103 EN AW-5310 EN AW-5754 EN AW-5049
Rp0,2 Rm A5 Chem. Symbol [MPa] [MPa] [%] Al99,98 80 100 6 Al99,5 100 120 4 Al99,0 110 130 4 AlMn1 145 170 4 Al99,98Mg0,5 110 140 4 AlMg3 215 265 4 AlMg2Mn0,8 210 250 4
HB 30 40 45 50 45 70 70
Fließpreßteile aus aushärtbaren Legierungen, die aus weich geglühten Butzen hergestellt wurden, müssen einer kompletten Wärmebehandlung bestehend aus Lösungsglühen, Abschrecken und Kalt- bzw. Warmauslagern unterzogen werden, um die vollen Festigkeitsniveaus auszuschöpfen, s. Abschn. 3.8. Die daraus resultierenden typischen Festigkeitseigenschaften sind im Anhang, Tabelle A.1.2, enthalten. Die Lösungsglühung von Fließpreßteilen kann jedoch zu Rekristallisation führen, wobei die Gefahr von Grobkorn zu berücksichtigen ist. Grobkorn wird vor allem in den Zonen der Zwischenböden erwartet, da hier der
11.2 Aluminium für technische Fließpreßteile
481
Umformgrad in der Regel am geringsten ist. Weiterhin wird durch die Lösungsglühung und das nachfolgende Abschrecken ein Eigenspannungszustand erzeugt, der bei dünnwandigen Teilen zu Verzug führt und Richtoder Kalibriervorgänge notwendig machen kann. Verzug kann auch während der nachfolgenden Zerspanung dickwandiger Teile auftreten. Das Eigenspannungsniveau wird zwar durch eine Warmaushärtung um ca. 10 bis 30% vermindert, jedoch nicht vollständig reduziert. Bei Fließpreßteilen aus aushärtbaren Legierungen, bei denen die nach der Wärmebehandlung vorliegenden Eigenspannungen nicht toleriert werden können, muß man andere Fertigungswege beschreiten, die nachfolgend beschrieben wird. 11.2.3 Alternative Ausgangszustände für das Kaltfließpressen Verarbeitung im Zustand „frisch abgeschreckt“
Nach dem Lösungsglühen und Abschrecken liegen aushärtbare Legierungen in einem übersättigten, instabilen Gefügezustand vor, der sich ähnlich wie der Gefügezustand nach Weichglühen durch niedrige Festigkeitswerte und hohe Duktilität auszeichnet und für Kaltformgebungen eignet. Gegenüber dem weichen, stabilen Zustand ist jedoch der Zeitpunkt der Verarbeitung von Bedeutung, da der Fließwiderstand nach kurzer Zeit bei Raumtemperatur deutlich zunimmt und gleichzeitig das Umformvermögen abnimmt. Die Zunahme des Fließwiderstandes ist eine Folge beginnender Ausscheidungshärtung, die bei den meisten Aluminiumlegierungen nach ca. 1 Stunde nach dem Abschrecken einsetzt. Die Geschwindigkeit der Kaltaushärtung ist jedoch abhängig von der Art und Konzentration der Legierungselemente. Im Vergleich zum weichen Zustand ist der übersättigte, frisch abgeschreckte Gefügezustand außerdem gekennzeichnet durch ein etwas stärkeres Verfestigungsvermögen. Kaltfließpressen im Zustand „frisch abgeschreckt“ ist bei Berücksichtigung des Zeitfaktors durchaus eine Alternative zum Verarbeiten im Zustand „weich“. Der Vorzug dieser Fertigungsalternative liegt im Vermeiden einer Lösungsglühung mit den beschriebenen Problemen des Verzugs, da nach dem Fließpressen bei einigermaßen homogenen Fließverhältnissen ein von Eigenspannungen weitgehend freies Fließpreßteil vorliegt. Gleichzeitig liegt ein verfestigtes, teilweise faseriges Gefüge vor. Anschließende Kalt- oder Warmaushärtung verbessert das Festigkeitsniveau und bei bestimmten Legierungen die Korrosionseigenschaften. Der Einfluß der Kaltverfestigung auf das Aushärtungsverhalten ist jedoch legierungsabhängig, s. hierzu die Ausführungen in den Abschn. 3.2.4 bis 3.2.6.
482
11 Kaltfließpressen von Aluminium
Die Voraussetzung für diese Fertigungsalternative ist die Notwendigkeit einer weitgehend verketteten Fertigungslinie, d.h. einer Integration der Lösungsglühbehandlung in den Fertigungsablauf. Das Fließverhalten lösungsgeglühter und abgeschreckter Aluminiumlegierungen in Abhängigkeit von der Lagerzeit wird durch die Torsionsfließkurven dargestellt, die im Anhang A.1.7 wiedergegeben sind (Ostermann 1974). Verarbeitung im Zustand „stabilisiert“
Die vollen Aushärtungswerte bei der Warmauslagerung nach einer Kaltverformung kann man erhalten, wenn das Material nach dem Abschrecken durch eine kurzzeitige Vorauslagerung bei entsprechenden Temperaturen „stabilisiert“ wird. Ein stabilisierter Ausgangszustand ist insbesondere für die mittelfesten AlMgSi-Legierungen von besonderem Interesse, s. Abschn. 3.2.4, kann aber auch bei anderen Legierungstypen positive Festigkeitswirkung haben. Die Erklärung für diesen Stabilisierungseffekt ist darin zu sehen, daß durch die Teilauslagerung die Keimbildung der für die Warmaushärtung maßgebenden Ausscheidungsphasen ausreichend stattgefunden hat und sich somit der Einfluß der Versetzungsanhäufungen infolge der plastischen Verformung auf die Keimbildung nicht mehr auswirken kann. Auf diese Weise ist man in der Lage, hochfeste Fließpreßteile mit hoher Genauigkeit und ohne Verzugsrisiko bei nachfolgender Zerspanung herzustellen. Verarbeitung im Zustand „kaltverfestigt“
Diesen Ausgangszustand wird man dann berücksichtigen, wenn es sich um naturharte, nicht aushärtbare Legierungen handelt und man im Fließpreßteil eine gewisse Mindestfestigkeit und gleichmäßigere Festigkeitswerte erzielen möchte. Da die Abhängigkeit des Fließwiderstandes kf vom Umformgrad ϕ einer parabolischen Funktion entspricht, wirkt sich nach einer Vorverfestigung die weitere Umformung nicht mehr so stark härte- bzw. festigkeitssteigernd aus. Voraussetzung für den Einsatz solcher Ausgangszustände ist die für die gewünschte Formgebung ausreichend verbliebene Umformbarkeit. Gegenüber dem Warmformgebungszustand sind verfestigte Werkstoffzustände durch vorgeschriebene Festigkeitseigenschaften eindeutig definiert.
11.2 Aluminium für technische Fließpreßteile
483
Verarbeitung im Zustand „warmausgehärtet“
In Sonderfällen kann auch warmausgehärtetes Vormaterial eingesetzt werden. Diese Alternative wird man dann berücksichtigen, wenn sehr hohe Festigkeitswerte ohne zusätzliche Wärmebehandlung sowie enge Toleranzen erreicht werden sollen. Hierfür sind besonders die niedrigfesteren Varianten der Legierungsgruppe AlMgSi (EN AW-6xxx) geeignet, da gute Gebrauchseigenschaften, insbesondere die Korrosionseigenschaften, auch nach starker Kaltverfestigung im warmausgehärteten Zustand vorliegen. Voraussetzung allerdings ist, daß für die Formgebung eine ausreichende Umformbarkeit, befriedigende Werkzeugstandzeiten und genügende Maschinenkapazität gegeben sind. Die aushärtbaren Legierungen der Gruppen AlCuMg (EN AW-2xxx) und AlZnMgCu (EN AW-7xxx) sollten aus Gründen verläßlicher Gebrauchseigenschaften nur in vorgeschriebenen Aushärtungszuständen verwendet werden. Man wird diesen Ausgangszustand dann wählen, wenn es sich um kompakte, dickwandige Teile handelt, an die hohe Festigkeits- und Präzisionsforderungen gestellt werden und eine nachfolgende Zerspanung notwendig ist. hÄnlich wie bei kaltverfestigtem Vormaterial ist auch das Verfestigungsvermögen warmausgehärteter Legierungen deutlich geringer als in den weicheren Zuständen „weich“ oder „abgeschreckt“, so daß eine gleichmäßigere Härteverteilung als Endergebnis vorliegt.
Bild 11.2.1 Einfluß des Verarbeitungszustandes auf Gefüge und Festigkeitswerte von Kaltfließpreßteilen aus Legierung 6060-T6. a) fließgepreßt im Zustand weich mit anschließender T6-Wärmebehandlung (Rp0,2/Rm/A5 = 263/296/11); b) fließgepreßt im Zustand T6 (Rp0,2/Rm/A5 = 310/322/6) (Becker 1987).
484
11 Kaltfließpressen von Aluminium
11.3 Fließpreßverfahren 11.3.1 Grundverfahren des Fließpressens Die Grundverfahren des Fließpressens lassen sich unterteilen • nach der Richtung des Stoffflusses bezüglich der Wirkrichtung der Maschine in Vorwärts-, Rückwärts- und Querfließpressen, • nach der Werkstückgeometrie in Voll-, Hohl- und Napffließpressen. Daraus ergeben sich die Verfahrensvarianten Voll-Vorwärts-, Voll-Rückwärts-, Hohl-Vorwärts-, Hohl-Rückwärts- sowie Napf-Vorwärts-, NapfRückwärts- und das Voll-Quer- und das Hohl-Quer-Fließpressen. Die Bilder 11.3.1 und 11.3.2 skizzieren diese verschiedenen Verfahren, Abläufe und Werkzeugelemente. Neben Kombinationen dieser Grundverfahren können auch Fließpreßverfahren mit anderen Massivumformvorgängen wie Stauchen, Formpressen, Prägen, Verjüngen und Abstreckgleitziehen
Bild 11.3.1 Werkzeugelemente und Grundverfahren des Fließpressens. (a) VollVorwärts-, (b) Voll-Rückwärts-, (c) Hohl-Vorwärts-, (d) Hohl-Rückwärts-, (e) Napf-Vorwärts-, (f) Napf-Rückwärts-Fließpressen. (1) Stempel, (2) Preßbüchse (Aufnehmer), (3) Werkstück, (4) Auswerfer, (5) Gegenstempel, (6) Dorn (feststehend)
11.3 Fließpreßverfahren
485
Bild 11.3.2 Werkzeugelemente und Grundverfahren des Querfließpressens (a) Voll-Quer-Fließpressen, (b) Napf-Quer-Fließpressen. (1) Stempel, (2) Oberpreßbüchse, (3) Werkstück, (4) Unterpreßbüchse, (5) Gegenstempel, (6) Dorn
kombiniert werden. Alle Fließpreßverfahren lassen sich sowohl bei Raumtemperatur (Kaltfließpressen) als auch nach Erwärmen auf eine werkstoffund verfahrensspezifische Arbeitstemperatur (Halbwarm-, Warmfließpressen) durchführen. Die Verfahren unterscheiden sich z.T. erheblich in dem Reibungsanteil an der Gesamtpreßkraft und in der Homogenität des Stoffflusses. Z. B. ist der Reibungsanteil beim Vorwärts-Fließpressen durch Reibung zwischen Butzen und Preßbüchsenwand deutlich größer als beim Rückwärts-Fließpressen (vgl. direktes und indirektes Strangpressen, Abschn. 9.1). Bei den vier Grundverfahren Voll-Vorwärts-, Voll-Rückwärts-, Hohl-Vorwärtssowie Hohl-Rückwärts-Fließpressen bildet sich nach anfänglichem instationärem Materialfluß beim Anpressen ein homogener, stationärer Materialfluß heraus, wie durch das Gitterliniennetz in Bild 11.3.3 dargestellt ist (Siegert 1995).
Bild 11.3.3 Werkstofffluß beim Voll-Vorwärts-Fließpressen. FEM-Ergebnisse
486
11 Kaltfließpressen von Aluminium
Demgegenüber ist die Verteilung der Formänderung für das NapfRückwärts-Fließpressen deutlich inhomogen, d.h. es handelt sich um einen instationären Vorgang, s. Bild 11.3.4. Größtwerte für die Formänderung werden im Bereich der Stempelkante erreicht. Die Formänderungsverteilung über dem Querschnitt beim Quer-Fließpressen ist ebenfalls inhomogen. Die größten Formänderungen treten in der Fließscheide auf. Bei zweiseitiger Krafteinleitung fließt der Werkstoff am gleichmäßigsten in die Nebenformelemente, da keine starren Werkstoffbereiche und schroffen Geschwindigkeitsgradienten auftreten.
Bild 11.3.4 Inhomogene Formänderungsverteilung beim Napf-Rückwärts-Fließpressen
Interessant in bezug auf die Erweiterung des herstellbaren Formenspektrums sind die Kombinationen mehrerer Grundverfahren des Fließpressens in einen einzelnen Verfahrensablauf. Unterschieden wird hierbei nach Verfahrenskombinationen, die in zeitlicher Folge gesteuert nacheinander ablaufen, und in solche, die gleichzeitig, ungesteuert stattfinden. Bei gesteuert nacheinander ablaufenden Teilvorgängen wird der Werkstofffluß zwangsweise über die Bewegung der Aktivteile bestimmt. Für alle Kombinationen gilt, daß bei gleichzeitigem unbehinderten Fließen die benötigte Kraft kleiner oder höchstens gleich der Kraft für den Vorgang ist, der die geringere Kraft erfordert (Prinzip des kleinsten Zwanges). Bei unterschiedlichen relativen Querschnittsänderungen εF der Teilvorgänge ergibt sich die Gesamtpreßkraft für die Kombination aus dem Kraftbedarf des Teilvorgangs mit geringerem εF. Der Umformvorgang ist
11.3 Fließpreßverfahren
487
somit selbstregelnd. Es wird zu jedem Zeitpunkt ein Minimum an Umformleistung benötigt. (Schlosser 1995) 11.3.2 Werkzeuge für das Kaltfließpressen Aufgrund der hohen Kosten für Verfahrens- und Werkzeugentwicklung ist das Fließpressen nur für hohe und mittlere Stückzahlen geeignet. Demnach müssen die Fließpreßwerkzeuge so ausgelegt sein, daß sie hohe Standmengen erreichen. In der Praxis werden vorwiegend Werkzeugsysteme eingesetzt, die aus genormten Grundgestellen und den werkstückspezifischen Aktivteilen (Wechselteile) bestehen. Dies sind vor allem Preßstempel, Preßbüchse (meist als Armierungsverband) und Gegenstempel/Auswerfer. Werkzeuge für Aluminium-Fließpreßteile werden vor allem auf Verschleiß beansprucht. Werkzeugbruch spielt beim Fließpressen von Aluminium als Versagenskriterium meist nur bei schwer verpreßbaren, höherfesten Aluminiumwerkstoffen eine Rolle. Die Forderungen nach technischen Fließpreßteilen aus schwer preßbaren Aluminiumlegierungen sind nur mit hochbeanspruchbaren, geometrisch schwierigen Werkzeugen zu erfüllen. Aufgrund der Belastungen werden von den Werkzeugwerkstoffen Festigkeit, Härte, Zähigkeit und Verschleißbeständigkeit gefordert. Die Auswahl eines Werkstoffs stellt deshalb immer einen Kompromiß dar. Für Kaltfließpreßwerkzeuge werden vorwiegend Werkzeugstähle eingesetzt. Dafür sprechen die geringeren Stoff- und Verarbeitungskosten, die höheren Zähigkeits- und Zugfestigkeitswerte. Hartmetalle werden dann vorteilhaft verwendet, wenn hoher Verschleißwiderstand verlangt ist, wie z.B. bei Werkzeugen für große Serien oder eng tolerierten Werkstücken. In diesem Falle ist eine Armierung der Hartmetallmatrize erforderlich. 11.3.3 Kraftbedarf beim Kaltfließpressen Für die Auslegung der Fließpreßwerkzeuge und für die Beurteilung der erforderlichen Maschinenkapazität müssen die zu erwartenden Umformkräfte bekannt sein. Sie werden bei Verfahren mit quasi-stationärem Stofffluß mit guter Näherung aus der Fließkurve kf(ϕ), dem Umformgrad εFmax = (F0F1)/F0 bzw. ϕmax = ln (F0/F1), dem umzuformenden Materialvolumen V und dem Umformwirkungsgrad η, der die Reibungsverluste im Werkzeug berücksichtigt, ermittelt. Die Grundverfahren Voll-Vorwärts-, Voll-Rück-
488
11 Kaltfließpressen von Aluminium
wärts-, Hohl-Vorwärts- sowie Hohl-Rückwärts-Fließpressen gehören zu den Fließpreßverfahren mit quasistationärem Stofffluß, d.h. die Formänderungsverteilung im Werkstückquerschnitt ist bis auf örtliche Abweichungen homogen. Für die Ermittlung der Preßkräfte wird die effektive Umformarbeit Weff für das umgeformte Volumen V und für den dazu erforderlichen Stempelweg hst wie folgt berechnet. Die ideelle Verformungsarbeit Wid, die zum Erreichen des notwendigen Verformungsgrades ϕmax aufgebracht werden muß, ergibt sich durch Integration der Fläche unter der Fließkurve bis zum Verformungsgrad ϕmax und dem umgeformten Volumen V: ϕ max
Wid =V ⋅ ∫ k f (ϕ ) ⋅ dϕ
(11.3.1)
0
bzw. entsprechend dem Ludwikschen Fließgesetz Gl. (6.2.4.b) Wid =V ⋅
k f max ⋅ ϕ max
(11.3.2)
1+ n
Die tatsächlich aufzuwendenden Umformarbeit Weff erhält man unter Berücksichtigung eines Umformwirkungsgrades η
η=
Wid , Weff
(11.3.3)
der bei Aluminiumlegierungen und bei guten Schmierverhältnissen etwa 0,7 bis 0,8 beträgt (Roczyn 1992). Somit erhält man Weff, woraus sich mit dem Stempelweg hst und V = hst·F0 ein Wert für die maximale Stempelkraft Pst, max errechnen läßt: Pst ,max =
Weff hst
= F0 ⋅
k f ,max ⋅ ϕ max 1 ⋅ η 1+ n
(11.3.4)
Wegen der möglichen Ungenauigkeiten mit der Anwendung der Beziehung ϕmax = ln(F0/F1) durch die unterschiedlichen Verformungsgrade im Boden und in der Wand von Fließpreßteilen kann auch die vereinfachte Annahme einer mittleren Fließspannung kf,m, aus dem entsprechenden Bereich der Fließkurve bereits brauchbare Anhaltswerte für den notwendigen Kraftbedarf geben:
11.3 Fließpreßverfahren
Pst ,max = F0 ⋅ k f ,m ⋅
F ⋅ ln 0 η F1 1
489
(11.3.5)
Die Grundverfahren Napf-Vorwärts-, Napf-Rückwärts- als auch das Quer-Fließpressen gehören zu den Fließpreßverfahren mit instationärem Stofffluß, wobei vorrangig das Napf-Rückwärts-Fließpressen angewendet wird. Beim Napf-Rückwärts-Fließpressen wird der Werkstoff durch das Eindringen des Stempels zuerst axial gestaucht, legt sich dabei radial an die Preßbüchsenwand an und fließt dann durch den formgebenden Ringspalt zwischen Stempel und Aufnehmer entgegen der Stempelbewegung entlang der Preßbüchsenwand ab. Wegen des inhomogenen Umformvorganges läßt sich der Formänderungszustand nur angenähert nach der Beziehung ϕmax = ln (F0/F1) beschreiben. In der Praxis wird als Vergleichskennwert meistens die relative Querschnittsänderung εF max = (F0 - F1)/F0 herangezogen, sofern keine detaillierte FEM-Berechnung durchgeführt wird. Für die Ermittlung des Kraftbedarfs beim Fließpressen gibt es in der einschlägigen Literatur zahlreiche weitere, teils theoretische, teils empirische Ansätze, Tabellen und Nomogramme, s. z.B. (Geiger 1988).
12 Aluminiumblechumformung
Im Unterschied zur Massivumformung hat die Blechumformung zum Ziel, aus einem Flachprodukt ein räumliches Gebilde herzustellen, ohne die Blechdicke wesentlich zu verändern. Die Formänderung findet daher primär in der Blechebene unter ebenem Spannungszustand statt. Die Grundverfahren der Blechumformung sind das Tiefziehen und Streckziehen sowie das Biegen (Abkanten, Bördeln), bei denen sich Stauch- und Streckverformungen in der Blechebene bzw. über der Blechdicke vollziehen und sich unterschiedliche Dehnungszustände und -abläufe einstellen. Da Spannungs- und Dehnungszustände die Fließ- und Brucheigenschaften des Werkstoffs beeinflussen, ist Umformbarkeit (Tiefziehbarkeit, Streckziehbarkeit und Biegefähigkeit) als Werkstoffeigenschaft ein komplexes Thema, s. Abschn. 6.7 und 12.1. Die notwendigen Umformkräfte werden durch das Werkzeugsystem (Matrize, Stempel und Niederhalter) in die Werkstückplatine eingebracht und führen durch die Formänderungen zu Relativbewegungen zwischen Werkzeug und Werkstück unter unterschiedlichen Anpreßdrücken. Die dort herrschenden Reibungsverhältnisse werden bestimmt durch die Grenzflächen- und Gleiteigenschaften von Werkstoff und Werkzeug und wirken gerade bei Aluminiumwerkstoffen erheblich auf das Umformergebnis, wie in Abschn. 12.2 erläutert wird. Zudem ist der Werkzeugaufbau und die Pressensteuerung von entscheidender Bedeutung für die Steuerung des Werkstoffflusses beim Umformvorgang. Letztlich wird vor und nach dem Umformprozeß ein Trennvorgang durch Schneiden oder Beschneiden erforderlich, wobei weder ein übermäßiger Grat noch eine Flitterbildung entstehen sollte, um zusätzliche Maßnahmen zu vermeiden und um die nachfolgenden Operationen von Oberflächenbehandlung und Montage nicht zu beeinträchtigen, s. Abschn. 12.3. Die vorstehend erläuterte Problemsituation der Blechumformung von Aluminiumlegierungen wird im folgenden behandelt, ohne auf die heute in der industriellen Blechformteileherstellung übliche und erprobte FE-Simulation näher einzugehen. Hierzu wird auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen. Das gleiche gilt für Sonderverfahren der Blechumformtechnik wie Drücken, Innenhochdruckumformung und hydromechanisches Tief-
492
12 Aluminiumblechumformung
ziehen, die jedoch in Sonderfällen für die Aluminiumblechverarbeitung in Einzel- und Kleinserien durchaus Bedeutung haben können.
12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung 12.1.1 Werkstoffeigenschaften aus Zugversuchen Eine Reihe von wichtigen Kennwerten für die Blechumformung wird aus dem Zugversuch gewonnen. Hierzu zählen die 0,2%-Dehngrenze Rp0,2, die Zugfestigkeit Rm, die Gleichmaßdehnung Ag, die aus dem Spannungs-Dehnungsdiagramm ermittelte Fließkurve kf = f(ϕ) mit den Materialkennwerten K und n entsprechend der Ludwik-Holloman Beziehung kf = K·ϕ n (s. Gl. (6.2.4b)) oder mit dem 4-Parameter Ansatz von Voce, s. Abschn. 6.2. Durch die jeweils auf bestimmte Anwendungsforderungen abgestimmte Prozeßkette des Warm- und Kaltwalzens einschließlich der Zwischen- und Endglühungen erhält das Blechmaterial Texturen, die in der Blechebene unterschiedliches Fließverhalten bewirken, s. Abschn. 8.2. Diese Anisotropie der Eigenschaften wird durch den r-Wert, der sog. „senkrechten Anisotropie“, gekennzeichnet, der in der Regel unter 0°, 90° und 45° zur Walzrichtung (WR) in der Blechebene ermittelt und aus dem die mittlere senkrechte Anisotropie rm nach Gl. (6.2.8) und die ebene Anisotropie ∆r nach Gl. (6.2.9) berechnet wird. Details der Ermittlung und Bedeutung der genannten Kennwerte sind in den Abschn. 6.1 und 6.2 beschrieben. Für eine Reihe von Aluminiumlegierungen sind diese an verschiedenen Chargen unterschiedlicher Dicken, Werkstoffzustände und Hersteller ermittelten Werte in Tabelle A.1.6 im Anhang aufgelistet und in Bild 6.2.3 dargestellt. Ein Vergleich der einzelnen Datensätze reflektiert die Bandbreite der Anisotropie, die sich bei verschiedenen Legierungen, Fertigungsabläufen und Werkstoffzuständen einstellen können. Die ebene Anisotropie ∆r kann bei Tiefziehprozessen zu Zipfelbildung führen, was gleichbedeutend ist mit einer Blechdickenreduzierung und geringerem Fließwiderstand in Zipfelrichtung. Als allgemeine Feststellung gilt, daß die Walztextur bei verfestigten Zuständen (H-Zustände) Zipfel in der 45°-Lage zur WR erzeugt, die Rekristallisationstextur dagegen in 0°/90°-Lage zur WR. Auch der unterschiedliche Fließwiderstand kf in 0°und 90°-Lage wirkt auf die Zipfelhöhe. Es gilt, daß bei kf 0° < kf 90° die Zipfelhöhe h0° > h90° ist und umgekehrt (Yoon et al. 1998). Der Einfluß der Anisotropie auf die Dehnungsverteilung beim Umformprozeß muß bei rechnerischen Modellierungen des Umformprozesses berücksichtigt werden. Mit Hilfe von aluminiumspezifischen Fließkriterien von Barlat et al. (1997, 2003) und einem kommerziellen FE-Code (z.B.
12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung
493
LS-DYNA, PAM-STAMP) lassen sich Art und Größe der Zipfelbildung aus den im Zugversuch gemessenen r-Werten (Yoon et al. 1998) bzw. die Dehnungsverteilung und Rückfederung von komplexeren Ziehteilen mit guter Genauigkeit vorhersagen (Yoon et al. 2006), wobei in letzterem Fall allerdings noch die werkstoffspezifische Fließortkurve vorliegen muß, s. Abschn. 6.7.2. 12.1.2 Werkstoffeigenschaften aus technologischen Prüfungen Obwohl der einachsige Zugversuch eine Reihe von umformtechnisch relevanten Werkstoffkennwerten ergibt, sind die Verformbarkeitsgrenzen unter den Spannungs- und Dehnungszuständen des Tief- und Streckziehens bisher nur mit zusätzlichen Annahmen über den Bruchmechanismus und mit hohem Rechneraufwand daraus zu ermitteln. Aus diesem Grunde sind für die Durchführung von FE-Simulationen in der Blechumformung, aber auch für die Beurteilung der Werkstoffeignung und für die betriebliche Qualitätskontrolle einfache Prüfmethoden erforderlich, die den Technologien der Blechumformung verwandt sind. Hierzu zählen der Näpfchenziehversuch nach Swift und der Erichsen Tiefungsversuch sowie der Beulversuch zur Ermittlung des Grenzformänderungsdiagramms. Tiefziehprüfung (Näpfchenziehversuch nach Swift)
Beim Näpfchen-Tiefziehprüfung nach Swift werden aus dem zu prüfenden Blech Ronden mit stufenweise verändertem Durchmesser (D0 = 55, 60, 65, 70 mm) gestanzt und in einer Zieheinrichtung zu einem zylindrischen Napf mit flachem Boden und mit einem konstanten Stempeldurchmesser von d0 = 33 mm gezogen, s. Bild 12.1.1. Es wird der maximal tiefziehbare Rondendurchmesser D0,max ermittelt, woraus sich durch Bezug auf den Stempeldurchmesser d0 das Grenzziehverhältnis βmax = D0,max / d0 ergibt. Die Niederhalterkraft FN ist so einzustellen, daß in der Umformzone unter dem Niederhalter keine Falten entstehen und andererseits die Stempelkraft möglichst gering gehalten wird. Die Grenze der Tiefziehbarkeit ist erreicht, wenn gerade noch ein vollständiger Napf gezogen werden kann, ohne daß ein Anriß im Napfboden auftritt. Faltenbildung und Bodenreißer begrenzen den Arbeitsbereich für ein optimales Ziehverhalten in Abhängigkeit von der Niederhalterkraft, wie schematisch in Bild 12.1.2 dargestellt ist. Voraussetzung ist eine möglichst geringe Reibung zwischen Ronde, Ziehring und Niederhalter durch ausreichende Schmierung.
494
12 Aluminiumblechumformung
Bild 12.1.1 Näpfchenziehversuch nach Swift für Blechdicken bis 3 mm. D0 = Rondendurchmesser, d0 = Stempeldurchmesser, t0 = Blechdicke der Ronde, rSt = Stempelkantenradius, FSt = Stempelkraft, FN = Niederhalterkraft, dm = Matrizendurchmesser, rm = Matrizenradius
Bild 12.1.2 Arbeitsbereich für erfolgreiches Napfziehen mit Niederhalter
Als Werkstoffauswahl für gute Tiefziehbarkeit ist ein ausgewogenes Verhältnis von Festigkeit gegen Bodenreißer und geringem Fließwiderstand in der Umformzone im Flanschbereich unter dem Niederhalter und an der Matrizenziehkante anzustreben. Allgemein geeignet sind daher niedrig- und mittelfeste Legierungen im Zustand verfestigt (H12–H14). Allerdings haben auch hoch verfestigte Legierungen, z.B. Legierung 3004H19 für die Herstellung des Dosenkörpers (s. Bild 2.7.5), gute Tiefziehbarkeit und bieten dadurch auch im nicht verfestigten Bodenbereich höhere Festigkeitswerte. Aus kontinuumsmechanischen Gesichtspunkten wirkt
12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung
495
auch ein hoher r-Wert der senkrechten Anisotropie günstig auf das Grenzziehverhältnis, da der Fließwiderstand in Blechdickenrichtung möglichst groß gegenüber dem Fließwiderstand in der Blechebene sein sollte. Ein Blick auf die Blechkennwerte in Anhang A.1.6 macht deutlich, daß der rWert und der für die Zipflichkeit maßgebende ∆r-Wert bei derselben Legierung durch gezielte Einstellung des thermomechanischen Fertigungsablaufs in einem größeren Toleranzbereich eingestellt werden kann. Allerdings ist auch festzuhalten, daß der r-Wert von Aluminiumlegierungen im allgemeinen < 1 beträgt, wogegen Tiefziehqualitäten von Stahlwerkstoffen durchaus r-Werte deutlich >1 aufweisen können. Im Vergleich zu Stahl hat die Optimierung des r-Wertes für die Tiefziehfähigkeit eine geringere Bedeutung; demgegenüber ist einem gleichmäßigen r-Wert im Hinblick auf geringe Zipflichkeit (∆r → 0), und auf homogenes Dehnungsverhalten in der Blechebene für gleichmäßige Wanddicken der Vorzug zu geben. Bei geeigneter Werkstoffwahl sind Grenzziehverhältnisse βmax von 1,8 bis 2,1 im Erstzug erreichbar. Größere Napftiefen können fertigungstechnisch durch weitere Folgezüge, durch Stülpziehen oder durch Abstrecken erhalten werden. Dazu wird auf die einschlägige Literatur verwiesen, z.B. (Lange 1990). Tiefungsversuch nach Erichsen
Die Bestimmung der Erichsentiefung IE dient zur Prüfung der Streckziehbarkeit eines Blechmaterials. Anders als die Swift Tiefziehprüfung ist der Erichsen Tiefungsversuch eine genormte Blechprüfung nach DIN EN ISO 20482:2003. Bei dem Tiefungsversuch nach Erichsen wird ein zu prüfender Blechstreifen zwischen dem ringförmigen Niederhalter und der Matrize fest eingespannt, so daß ein Nachfließen verhindert wird, s. Bild 12.1.3. Anschließend wird der Kugelstempel in die kreisförmige Prüffläche des Materials gepreßt und die Tiefung solange fortgeführt, bis ein Durchriß auf der Kalottenoberfläche sichtbar wird. Die Eindringtiefe des Stempels (in mm) bis zum Anriß wird als Erichsen-Tiefungswert IE (Indice Erichsen) bezeichnet. Will man die Erichsen-Tiefungswerte zum Vergleich der Umformbarkeitseigenschaften verschiedener Legierungen, Chargen und Werkstoffe heranziehen, muß man zwei Einflüsse auf das Prüfergebnis berücksichtigen. Zum einen ist die ausreichende Schmierung zwischen Stempel und Platine von großem Einfluß auf die erzielbare Tiefung. Der in Kuppennähe entstandene Riß ist ein gutes Indiz für ausreichende Schmiermittelwirkung. Andererseits ist die Erichsentiefung stark von der Dicke der Platine abhängig. Sie nimmt mit wachsender Blechdicke deutlich zu, vgl. Bild 12.1.4. Aus dieser Tatsache läßt sich folgern, daß bei Streckziehbeanspruchungen
496
12 Aluminiumblechumformung
mit einer größeren Blechdicke auch ein günstigeres Streckziehergebnis erzielt werden kann. (Diese Blechdickenabhängigkeit der Streckziehbarkeit wird allerdings von manchen Autoren aufgrund von Beulversuchen zur Bestimmung der LDH – Limiting Draw Height – nicht bestätigt.)
Bild 12.1.3 Prinzipskizze des Erichsen Tiefziehversuchs
Bild 12.1.4 Einfluß der Blechdicke auf die Erichsentiefung verschiedener Legierungen und Werkstoffzustände (nach verschiedenen Quellen)
12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung
497
Die Streckziehbarkeit verschiedener Aluminium- und Stahlwerkstoffe wurde sowohl mit Erichsentiefung als auch mit dem hydraulischen Tiefungsversuch analysiert (Breidohr 1988) und eine einfache empirische Formel für die Streckziehbarkeit entwickelt, die auf Kennwerten des Zugversuchs aufbaut und die Bedeutung des Verfestigungsvermögens und der Anisotropie für die Streckziehbarkeit hervorhebt. Die Formel für den Streckziehwert „S“ ist in Bild 12.1.5 angegeben. In der Gewichtung der Einflüsse auf die Streckziehbarkeit von Aluminiumwerkstoffen überwiegt das Verfestigungsvermögen den rmin-Einfluß mit 2 zu 1. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Streckziehbarkeit, gemessen im Erichsen-, hydraulischen oder auch mechanischen LDH-Tiefungsversuch, der Verformbarkeitsgrenze unter äquibiaxialer Dehnung entspricht, bei anderen Dehnungsverhältnissen jedoch andere Grenzwerte annimmt, wie das Grenzformänderungsdiagramm in Bild 6.7.6 angibt.
Bild 12.1.5 Korrelation von Streckziehwert S mit der hydraulischen und Erichsentiefung. Hydraulische Tiefung: Matrizendurchmesser ds = 52 mm; Matrizenkantenrundung rz = 4 mm). Zugfestigkeit Rm, 0,2%-Dehngrenze Rp0,2, mittlerer Verfestigungsexponent nm = (n0° + 2n45° + n90°)/4, Mindestwert der senkrechten Anisotropie rmin. Nach Breidohr (1988)
498
12 Aluminiumblechumformung
Bild 12.1.4 gibt weiterhin Auskunft darüber, daß der für das Streckziehen günstigste Werkstoffzustand der rekristallisierte, weichgeglühte Zustand ist. Kaltverfestigte Zustände haben eine geringere Streckziehbarkeit. Auf die Möglichkeit verbesserter Tiefziehbarkeit durch partielle Erwärmung der Platine wird in Abschn. 13.2 Halbwarmumformen hingewiesen. Der hydraulische Tiefungsversuch sowie die Erichsentiefung beanspruchen das Material in äquibiaxialer Weise, wodurch sich höhere log. Formänderungen als im einachsigen Zugversuch ergeben. Es liegt daher nahe, die Fließkurve des Blechmaterials mit Hilfe des hydraulischen Tiefungsversuchs z.B. nach Panknin (Panknin 1964) oder mit dem Erichsen-Tiefungsversuch nach Bauer (Bauer et al. 1992) zu ermitteln. Bild 12.1.6 enthält Beispiele für derart gewonnene Fließkurven im Vergleich zu solchen aus dem Zugversuch. Besonders auffällig ist die gegenüber dem einachsigen Zugversuch wesentlich größere Formänderung unter äquibiaxialer Beanspruchung für kaltverfestigtes Material am Beispiel der Legierung AlMg1-H24. Häufig wird kaltverfestigtes Aluminiummaterial zu Unrecht als „spröde“ bezeichnet. Die unterschiedliche Lage der Fließkurven aus einachsigen und biaxialen Versuchen wird verursacht durch die Mehrachsigkeit beim Tiefungsversuch und durch die Anisotropie des Materials.
. Bild 12.1.6 Fließkurven ermittelt aus dem hydraulischen Tiefungsversuch (HT) und aus dem Erichsen Tiefungsversuch (ET) im Vergleich zur Fließkurve aus dem Zugversuch (ZV) für verschieden Legierungen. Datenquellen: AlSi1,2Mg0,4-T4 nach Siegert et al. (Siegert et al. 1994), Al99,5-0 und AlMg1-H24 nach Bauer (1992)
12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung
499
Grenzformänderungsschaubilder
Eine Möglichkeit, die Formänderungsgrenzen eines Blechwerkstoffs in Abhängigkeit verschiedener Dehnungszustände in einem einzigen Diagramm darzustellen, bietet das Grenzformänderungsschaubild nach Keeler und Goodwin. Das Grenzformänderungsdiagramm, GFD, und der Bezug zu umformtechnischen Prozessen des Tief- und Streckziehens sowie die auftretenden Bruchmechanismen sind bereits detaillierter in Abschn. 6.7.3 beschrieben worden; es soll im folgenden im Hinblick auf die experimentelle Ermittlung und Anwendungsgesichtspunkte näher erläutert werden. Im Grenzformänderungsdiagramm wird bei unterschiedlichem Dehnungsproporz die Formänderung ϕ in der Blechebene bis zum Moment des Einschnürbeginns sowie ggf. bis zum Bruch als Kurve in einem Koordinatensystem zwischen größter Formänderung, ϕ1, und kleinster Formänderung, ϕ2, dargestellt. Zum Erstellen des GFD werden Platinen unterschiedlicher Geometrie eingesetzt. Um verschiedene Formänderungszustände zu erreichen, kommen kreisrunde Platinen zum Einsatz und solche mit halbkreisförmigen seitlichen Aussparungen mit unterschiedlichen Radien und verschieden breiter Taille. Unterschiedliche Breiten und Ausschnittradien der Platinen bewirken verschiedene Spannungszustände in der Blechebene, die wiederum unterschiedliche Hauptformänderungen ϕ1 und ϕ2 erzeugen. Anschließend wird auf die Blechplatinen ein definiertes Kreisraster aufgebracht. Die Platine wird fest eingespannt, und mit einem Halbkugelstempel von etwa 100 mm Durchmesser eine Beule soweit geformt, bis ein Riß auftritt. Der Anriß erfolgt in der Scheitelnähe der Kalotte, da in diesem Bereich die Blechdicke den niedrigsten Wert erreicht. Nach dem Ausspannen werden die zu Ellipsen verformten Kreisraster in der Umgebung des Anrisses ausgewertet. Der Ablauf der Prüfung ist schematisch in Bild 12.1.7 dargestellt. Als Grenzlinie wird der Beginn der Einschnürung in das Grenzformänderungsdiagramm eingetragen. Bild 12.1.8 zeigt zwei Beispiele für Feinbleche aus den Karosserieblechlegierungen AlSi1,2Mg0,4 (EN AW-6016T4) und AlMg4,5Mn0,4 (EN AW-5182-0/H111). Der praktische Nutzen des Grenzformänderungsdiagramms ergibt sich aus der Beurteilung von Umformgraden bei realen Ziehteilen, bei denen in kritischen Zonen zuvor ebenfalls definierte Kreisraster aufgebracht wurden. Gleichzeitig kann man bei einem Vergleich der Umformgrade die Sicherheit vor Reißern, d.h. die Ziehsicherheit beurteilen. Andererseits lassen sich für die FE-Simulation des Umformvorgangs im Abgleich mit dem GFD die Werkstoffgrenzwerte entnehmen.
500
12 Aluminiumblechumformung
Bild 12.1.7 Verfahrensschritte bei der Erstellung von Grenzformänderungsschaubildern
Bild 12.1.8 Grenzformänderungsschaubilder für die Karosserieblechlegierungen AlSi1,2Mg0,4 und AlMg4,5Mn0,4. Hauptformänderung in WR
Bei komplexeren oder mehrstufigen Ziehvorgängen gilt jedoch die Einschränkung, daß die Grenzlinie des GFD nur unter der Bedingung zutreffend ist, daß der Formänderungsweg (strain path) durch ein konstantes Verhältnis ϕ1/ϕ2 gekennzeichnet ist, da sich sonst je nach Formänderungsweg unterschiedliche Grenzen ergeben. Gleichfalls gilt das GFD nur unter der Annahme isotroper Eigenschaften (r = 1). Versuchswerte von Blechen
12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung
501
mit anisotropen Eigenschaften sollten daher die Lage der Hauptformänderung zur Walzrichtung angeben. Aus Bild 12.1.8 geht hervor, daß für das Beispiel EN AW-6016-T4 der Minimalwert der Hauptformänderung ϕ1 nicht bei ebener Dehnung (ϕ2 = 0) auftritt, sondern in Richtung der ϕ2Achse verschoben ist. Der Grund hierfür kann u.a. in einer Vorverformung des anisotropen Materials liegen, wie die experimentellen Untersuchungen von Graf & Hosford (Graf et al. 1993) als plausibel erscheinen lassen. Auszugsweise sind einige dieser Grenzformänderungskurven mit ihren Dehnungspfaden nach einer Darstellung von Stoughton und Yoon (Stoughton et al. 2005) in Bild 12.1.9 wiedergegeben. Die Komplexität der Einflüsse auf die Grenzformänderungskurve hat dazu geführt, dehnungspfadunabhängige spannungsbasierte Grenzformänderungskriterien zu entwickeln (Stoughton et al. 2005, Butuc et al. 2006).
Bild 12.1.9 Experimentell von Graf und Hosford (1993) ermittelte Grenzformänderungskurven des Blechwerkstoffs AA2008-T4 (AlCuMg0,4Si), der entsprechend den angegebenen Dehnungspfaden unterschiedlichen Vorverformungen unterworfen worden war. Auszugsweise Wiedergabe nach einer Darstellung von Stoughton and Yoon (2005)
Diese Erkenntnisse bestätigen die früheren Feststellungen von Müschenborn und Sonne (Müschenborn et al. 1975) an Stahlwerkstoffen. Aus den in Bild 12.1.10 schematisch dargestellten Einflüssen des „strain-path“
502
12 Aluminiumblechumformung
kann man qualitative Hinweise für die Auslegung von Werkzeugen und Ziehprozessen entnehmen, um ein möglichst gutes Ziehverhalten des Werkstoffs zu erreichen. Als Beispiel erzielt man gemäß Bild 12.1.10 durch einen anfänglichen Umformschritt mit hohen Tiefziehanteilen (Pfad ACD) im nachfolgenden Streckziehprozeß wesentlich höhere Gesamtumformgrade als umgekehrt (Pfad AEF) (Müschenborn et al. 1975).
Bild 12.1.10 Einfluß des Dehnungspfades auf die Veränderung der Grenzformänderungskurve sowie auf die maximal erreichbaren Formänderungen bei der Wahl verschiedener Formänderungsstrategien nach (Müschenborn et al. 1975)
In Analogie zur Erichsentiefung bzw. zum hydraulischen Tiefungsversuch ist zu erwarten, daß bei äquibiaxialer Dehnung (ϕ1 = ϕ2) die Grenzformänderung dickenabhängig ist. Bei Stahl wird auch für den ebenen Dehnungszustand (ϕ2 = 0) eine deutliche Dickenabhängigkeit festgestellt, die jedoch bei Aluminiumwerkstoffen bisher nicht in signifikanter Weise beobachtet wurde (s. Bemerkung zu LDH oben). Ob hierfür die geringere senkrechte Anisotropie verantwortlich ist, wurde noch nicht eingehend untersucht. 12.1.3 Biegefähigkeit Die Biegefähigkeit von Blechen zum Zwecke des Abkantens und des Bördelns (bzw. Falzens) stellt hohe Anforderungen an die Duktilität des Materials. Gefüge, Grundwerkstoffestigkeit, Blechdicke und ggf. Vorverformung haben erheblichen Einfluß auf die Biegefähigkeit, die als blechdickenbezogener Mindestbiegeradius, ri,min/t, (ri = Innenradius und t =
12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung
503
Ausgangsblechdicke) bei gewähltem maximalen Biegewinkel (φ max = 90° oder 180°) definiert werden kann. Für die Beurteilung der Biegefähigkeit wird allgemein der Biegefaktor f = ri,min/t für φ max = 90° angesetzt. Biegefaktoren für unterschiedliche Legierungen, Werkstoffzustände und Blechdicken findet man in der Literatur, z.B. (Reiprich et al. 1963, Nielsen 1974, Hufnagel 1984) sowie in anderen Quellen. Zur „Information“ sind ri,min-Werte für verschiedene Blechdickenbereiche und für φ max = 90° oder 180° auch in die Normen für Bänder, Bleche und Platten (DIN EN 485-2) übernommen worden. Problematisch ist nach wie vor, daß die tabellierten Daten häufig keine Auskünfte über die tatsächlichen, charakterisierenden Grundwerkstoffeigenschaften enthalten und deshalb nur als Anhaltswerte dienen können und in der Regel sehr konservativ sind. Demgegenüber enthält Tabelle A.1.6 für zahlreiche Legierungen, relevante Dicken und Werkstoffzustände Versuchsergebnisse mit Bezug zur Probenorientierung (0° und 90° zur WR) und zu anderen Werkstoffdaten und erlaubt dadurch eine etwas sicherere Beurteilung der Biegefähigkeit von Vergleichsmaterial. Wegen der Unsicherheit des Datenmaterials hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Biegefähigkeit auf werkstoffliche Kennwerte zu beziehen, die eine Interpretation von Gefügeeinflüssen ermöglichen. Es ist naheliegend, den Biegefaktor mit der Brucheinschnürung im einachsigen Zugversuch in Verbindung zu bringen. Von Datsko und Yang (Datsko et al. 1960) stammt der Ansatz für eine 90° Biegung f =
ri,min t
=
C − 1 für Z < 20% Z
(12.1.1)
mit Z = Brucheinschnürung in % und C = ≈ 50, bzw. für Z > 20% f =
ri, min t
=
(100 − Z )2 200 ⋅ Z − Z
2
=≈
60 −1 Z
(12.1.2)
Daß der Biegefaktor f bei duktileren Legierungen grundsätzlich der Beziehung nach Gl. (12.1.2) folgt, wurde u. a. durch Akeret bestätigt (Akeret 1978). Jedoch ist die Genauigkeit der Voraussage gerade in dem technologisch wichtigen Bereich von f < 1 nicht genügend, was darauf schließen läßt, daß weitere Einflußfaktoren berücksichtigt werden müssen. Ein Faktor könnte die Dickenabhängigkeit des Biegefaktors zumindest für größere Blechdickenbereiche sein, wie aus verschiedenen älteren Datenquellen (s. oben) zu entnehmen ist. Nach Messungen der Biegedehnung mit Dehnmeßstreifen an der Legierung AA6010-T4 bei Dicken zwischen 2 und 5 mm wurden jedoch nahezu identische Vergleichsdehnungswerte bei glei-
504
12 Aluminiumblechumformung
chem bezogenen Biegeradius ri/t und keine Dickenabhängigkeit des kritischen Dehnungswertes gemessen (Ismar et al. 1997). Diese Versuche wurden interessanterweise durch kontinuierliches Biegen von Blechstreifen über eine Kreisevolvente mit abnehmendem Radius vorgenommen, wodurch die Probenzahl gegenüber den üblichen Biegeversuchen mit festen Biegeradien erheblich reduziert werden kann. Nach Akeret (1978) läuft der Versagensmechanismus beim Biegen von Aluminiumblechen in vier Stadien ab: 1) Bildung einer Orangenhaut, 2) Bildung von Riefen parallel zur Biegeachse, 3) Vertiefen vereinzelter Riefen und schließlich 4) Scherbruch beginnend am Grunde des gröbsten Riefentals. Die Bedeutung der anfänglichen Orangenhautbildung für die Versagensentwicklung wurde auch von Lloyd et al. (2002) hervorgehoben, die eine Vergrößerung des Biegewinkels für den Fall fanden, daß der Biegeversuch unterbrochen und die Oberflächenrauhigkeit vor der Wiederaufnahme des Biegeversuchs wegpoliert wurde. Die anfängliche Rauhigkeit ist die Auswirkung von Kornrotation infolge der plastischen Anpassungsprozesse in der äußeren Kornlage und nimmt im Stadium 3 durch die Bildung von intensiven Gleitbändern in den Körnern zu, bis im Übergang zum Stadium 4 die Kornverwölbungen und Gleitbänder sich zu makroskopischen Scherbändern parallel zur Biegeachse verbinden. Schließlich reißen einzelne Scherbänder auf und verbinden sich entlang der Biegeachse zum Anriß (Lloyd et al. 2002). Aus qualitativen Gründen ist die Biegefähigkeit auf den Übergang vom Stadium 2 zum Stadium 3 begrenzt. Die Genauigkeit der Ermittlung eines zulässigen Biegefaktors leidet jedoch u.a. gerade an der subjektiven Beurteilung dieses Übergangs. Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, daß reinere, Fe-ärmere Legierungen eine größere Biegefähigkeit besitzen. Außerdem kann bei reineren Legierungen eine höhere Vorverfestigung ohne Einbuße der Biegefähigkeit ertragen werden als bei solchen mit üblichem Reinheitsgrad. Nach Untersuchungen an AA5754 und AA6111 (Sarkar et al. 2000, Sarkar et al. 2001, Lievers et al. 2003, Sarkar et al. 2004) findet bei der Verformung durch Vorverfestigung und beim Biegevorgang eine bevorzugte Lochbildung an den zahlreicheren und gröberen intermetallischen AlFe-Phasen statt, die außerdem durch Fragmentierung innere Anrisse bilden können, s. auch Abschn. 6.3 für weitere Erläuterungen zum duktilen Bruchverhalten. Hierdurch wird die Bildung grober Scherbänder und letztlich deren Aufbrechen gefördert. Der Bruch verläuft transkristallin, kann jedoch bei bestimmten Legierungen auch einen erheblichen interkristallinen Anteil aufweisen (Chien et al. 2004). Erwartungsgemäß wirken sich Volumen und Größe der Phasenpartikel um so stärker aus, je höher die Grundwerkstoffestigkeit ist. Die in Walzrichtung zeilenförmig angeordneten Phasen vermitteln darüber hinaus eine ungleichmäßige Biegefähigkeit in
12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung
505
der Blechebene, die quer zur Walzrichtung geringer als in Walzrichtung ist. Über diese Gefügemerkmale und den Einfluß einer Vorverfestigung hinaus ist bei den aushärtbaren AlMgSi-Legierungen eine optimale Einstellung des Kaltaushärtungszustandes T4 eine Voraussetzung für gute Biegefähigkeit (Lloyd et al. 2002). Der Biegeprozeß setzt die Zugseite einem ebenen Dehnungszustand (ϕ2 = 0) aus. Ein Bezug zum Grenzformänderungsdiagramm FLD ist allerdings problematisch, da infolge der Stützwirkung durch den Dehnungsgradienten über der Blechdicke deutlich mehr Dehnung in der äußeren Schicht erzeugt wird, als nach dem Verhalten im Zugversuch zu erwarten wäre. Insbesondere bei duktilen Legierungen bildet sich bei engen Biegeradien ein diffuser Einschnürbereich aus, bevor durch plötzliche Bildung von makroskopischen Scherbädern und deren Aufreißen das Versagen eintritt. Betrachtet man jedoch den Unterschied zwischen den Grenzformänderungskurven für Einschnürung und Bruch in den Bildern 6.7.7 und 6.7.8 für die Legierungen AA5182-0 und AA6111-T4, so kann man Rückschlüsse auf die unterschiedliche Biegefähigkeit der beiden Legierungen ziehen. Vermutlich beruht der geringe Abstand zwischen GFDEinschnürung und GFDBruch bei dem Werkstoff AA6111-T4 wenigstens teilweise auf einer Neigung zu interkristallinem Bruchverhalten. Die experimentelle Ermittlung von Biegefaktoren kann mit verschiedenen Methoden erfolgen. Als Beispiele sind in Bild 12.1.11 das 90°-Biegen um definierte Biegekantenradien ri durch a) lineare Stempelbewegung und b) Schwenkbewegung des Biegekopfes schematisch dargestellt. (Auf das kontinuierliche Biegen mit Kreisevolvente wurde bereits oben hingewiesen.) Das Querkraftbiegen nach Bild 12.1.11 (a) ist dem Abkanten in der Blechumformung verwandt und dient auch als Vorbiegen für das Falzen. (Die Biegedaten in Tabelle A.1.6 wurden mit dieser Methode erstellt.) Dabei muß ein definierter Spalt uz eingehalten werden, der nach Oehler et al. (1993) aus der empirischen Beziehung
u z = t + 0,02 10 ⋅ t
(12.1.3)
errechnet wird. Der Nachteil dieses einfachen Versuchsaufbaus besteht in der Schwierigkeit, ein sensibles Kraft-Biegewinkel-Diagramm aufzunehmen, um den Anrißaugenblick zu erfassen. Die Auswertung erfolgt daher über visuelle und mit einer gewissen subjektiven Fehlertoleranz behaftete Beurteilung der äußeren Oberfläche der gebogenen Probe. Beim Schwenkbiegen, Bild 12.1.11 (b), wie auch bei den in Bild 12.1.12 dargestellten 3-Punkt-Biegeverfahren ist durch geeignete meßtechnische Ausrüstung des Versuchsaufbaus durch einen definierten Lastabfall – z.B. 7% – der Anrißbiegewinkel objektiv bestimmbar.
506
12 Aluminiumblechumformung
Der Faltversuch nach DIN 50111 (zurückgezogen) bzw. DIN EN ISO 7438 kann entsprechend Bild 12.1.12 (b) für den Nachweis der Umformbarkeit bei Blechwerkstoffen gut verwendet werden, wenn gewisse Verfahrensprozeduren, wie beim DC-Bend Test [DaimlerChrysler Prüfanweisung Plättchenbiegeversuch PAPP PWT 4101, Ausg. 03.05.2006] eingehalten werden.
Bild 12.1.11 Verfahren zur Ermittlung des minimalen Biegeradius ri,min durch a) lineare Stempelbewegung und b) Schwenkbiegen
Bild 12.1.12 Drei-Punkt-Biegeversuche: a) Biegen im Gesenk, b) Faltversuch nach DIN 50111
12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung
507
Falzen
Der Falzprozeß erfolgt in Werkzeugen unter Pressen und wird in zwei bzw. drei Operationen aufgeteilt, s. Bild 12.1.13. In der ersten Operation werden die Kanten in den Außenradien mit einer 90°-Biegung angestellt (Abkanten). In einer zweiten Operation werden die Kanten um 45° angekippt (Biegen um 135°, Vorfalzen). In der dritten Operation wird der Falz zugedrückt (Biegen um 180°, Fertigfalzen).
Bild 12.1.13 Verfahrensablauf beim Falzen
Das Falzen von Aluminiumkarosserieblechteilen ist ein kritischer Biegeprozeß, in dem enge Biegeradien gefordert werden. In der Regel erfolgt das Falzen an dem Außenblech, das aus einer ausgehärteten (T4 Zustand) Legierung besteht und in den Randzonen durch den vorhergehenden Ziehprozeß verfestigt ist. Ausgehärtete Aluminiumlegierungen weisen gegenüber Stahl ein anderes Umformverhalten auf. Die im Zusammenhang mit Stahlblechen gemachten Erfahrungen lassen sich daher nur bedingt auf Aluminiumbleche übertragen. Während bei Stahlblechen der Falz zugedrückt werden kann, müssen bei bestimmten Aluminiumlegierungen ggf. größere Radien gewählt werden, um Anrisse zu vermeiden. Die Ausbildung des Falzes führt zum sog. „Tropfenfalz“. Der Verfahrensablauf des Abbiegens um 90° entspricht, auch bzgl. des Ziehspaltes, dem Biegevorgang nach Bild 12.1.11.a). Beim Vorfalzen ist man bestrebt, den Radius, der sich beim vorangegangen Abbiegen ergibt, beizubehalten. Das Vorfalzen mit einer bei der Stahlverarbeitung üblichen um 45° geneigten Arbeitsfläche hat sich bei Aluminiumkarosserieblechen als ungeeignet erwiesen, weil es die Biegedehnung auf den am abgebogenen Schenkel vorhandenen Radius konzentriert und diesen verkleinert bzw. staucht. Die Arbeitsfläche wird daher mit einem Radius versehen, der von der Flanschhöhe abhängig ist, s. Bild 12.1.14. Dadurch wird der abgebogene Schenkel wie bei einem Bördelvorgang gerundet. Zur Berücksichtigung der Rückfederung des Biegeschenkels wird der Stempel mit einer Einlaufschräge (Winkel β) versehen. Um den Randwulst („Tropfenfalz“)
508
12 Aluminiumblechumformung
beim Fertigfalzen beizubehalten, kann der Stempel mit einer Schräge versehen werden, deren Winkel α zur Horizontalen je nach Blechdicke und kleinstzulässigem Innenbiegeradius variiert werden kann. Zur Sicherung einer abdruckfreien Ausbildung der Falzkante, die in den meisten Fällen eine Sichtfläche darstellt, muß der Umformvorgang beim Fertigfalzen im Bereich der Falzkante ungeführt, d.h. ohne Werkzeugkontakt, erfolgen. Versuche mit festem Anschlag haben gezeigt, daß beim Falzen entlang einer konvexen Kontur die Falzkante zum Teil stark angestaucht wird.
Bild 12.1.14 Verfahrensablauf des Vor- und Fertigfalzens von Aluminiumkarosserieblechen (Quelle: IfU, Univ. Stuttgart)
Durch die bei Aluminiumkarosserieteilen gegenüber Stahlblechteilen etwa 1,5-fach vergrößerte Blechdicke wirken Sichtfugen zwischen Anbauteilen – z.B. zwischen Kotflügel und Türen – breiter als beim Stahlkarosseriebau üblich. Das gilt um so mehr, wenn die Biegeeigenschaften des Materials enge Biegeradien nicht erlauben und sog. Tropfenfalze hergestellt werden müssen. Die unterschiedlichen Radien sind besonders beim Zusammenbau von Aluminium- und Stahlanbauteilen stilistisch unerwünscht. Zur Minderung dieser Unterschiede wird der sog. Keilfalz verwendet, der annähernd die gleichen Fugenverhältnisse gestattet wie beim Stahlkarosseriebau, s. Bild 12.1.15. Keilfalz, Normalfalz und Tropfenfalz erfordern jedoch unterschiedliche Mindestbiegeradien f = ri,min/t von 0,4, 0,6 bzw. 0,8 und stellen daher unterschiedlich hohe Ansprüche an die Duktilität des Materials, zumal wenn je nach Bauteilart der Bördelbereich zuvor erheblichen Verformungen ausgesetzt wurde. Die notwendige Werkstoffqualität muß demnach sehr sorgfältig auf die Anforderungen des Falzkonzeptes sowie auf die Festigkeits- und Steifigkeitsforderungen abgestimmt werden. Aus diesem Grunde werden heute verschiedene aushärtbare Karosserie-
12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung
509
blechqualitäten der AlMgSi-Gruppe mit annähernd gleichen Festigkeitswerten angeboten.
Bild 12.1.15 Für Aluminiumkarosserieteile gebräuchliche Falzarten mit unterschiedlichen Sichtfugenradien
12.1.4 Rückfederung
Die Höhe der Rückfederung, d.h. die elastische Formänderung bei Entlastung nach erfolgter plastischer Formgebung, ergibt sich aus dem Verhältnis von Fließspannung zu Elastizitätsmodul des Werkstoffes. Sie wirkt sich vor allem bei Formgebungen mit Biegeanteilen aus und muß durch gezielte werkstoff- und werkzeugtechnische Maßnahmen kompensiert werden. Grundsätzlich nimmt die Rückfederung bei gegebenem Elastizitätsmodul mit der 0,2%-Dehngrenze, Rp0,2, dem Verfestigungsexponenten, n, der Vorverformung und dem Biegeradius, ri, zu, wie in den Bildern 12.1.16 und 12.1.17 beispielhaft deutlich wird. Wenn auch der Rechenaufwand noch relativ groß ist, können mit Hilfe von numerischen FE-Modellierungen Rückfederungen nach Biege- und Tiefziehprozessen vorhergesagt werden (Lia et al. 2002, Yoon et al. 2002, Doege et al. 2002, Asnafi 2001). Die Rückfederung kann teilweise oder gänzlich unterbunden werden, wenn durch einen überlagerten Streckvorgang die 0,2%-Dehngrenze im gesamten Biegequerschnitt überschritten wird. Dies kann z.B. durch einen Gegenhalter beim Abbiegen eines Flansches erreicht werden, wobei das Blech zwischen Stempel und Gegenhalter eingespannt wird, s. Bild 12.1.18. Das Abbiegen mit Gegenhalter bietet sich vor allem bei gekrümmten Biegelinien an.
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12 Aluminiumblechumformung
Bild 12.1.16 Einfluß von 0,2%-Dehngrenze, Verfestigungsexponent und Biegeradius auf die Rückfederung nach 90° Biegung von zwei Karosserieblechlegierungen. Blechdicke t = 1,25 mm, Biegeachse parallel zu WR, keine Vorverformung (Quelle: IfU, Univ. Stuttgart)
Bild 12.1.17 Einfluß von Biegeradius und 0 bis 15% Vorverformung auf die Rückfederung von AlSi1,2Mg0,4-T4 mit 1,25 mm Blechdicke nach 90° Biegung. Schraffur: Grenzbereich für das Auftreten von Scherbändern und Anrissen (Quelle: IfU, Univ. Stuttgart)
12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung
511
Bild 12.1.18 Abbiegen mit Gegenhalter. ri = Innenbiegeradius, rSt = Stempelkantenradius, t = Blechdicke
12.1.5 Aluminiumlegierungen für Karosserieanwendungen
Karosserieteile aus Aluminiumblech stehen in dauerndem Wettbewerb mit Stahlfeinblechen; sie werden nicht nur hinsichtlich ihrer fahrzeugtechnischen Funktionen beurteilt, sondern auch in bezug zur Produktivität und Produktionskosten. Aluminiumkarosseriebleche sind daher durch eine eng ausgewogene Balance zwischen erforderlichen Festigkeiten und Umformbarkeiten geprägt. Der heutige Stand der Karosserieblechtechnik ist das Ergebnis langjähriger Erfahrungen und Optimierungen sowohl in der Herstellung als auch in der Konstruktion und Verarbeitung. Wegen dieser besonderen Situation sollen die Karosserieblechlegierungen etwas eingehender beschrieben werden als für die standardmäßigen Halbzeuglegierungen notwendig erscheint. Bei den Karosserieblechqualitäten unterscheidet man Aluminiumlegierungen, die zur Bildung von Fließfiguren neigen, und solche, die frei von diesem Phänomen sind. Die Fließfigurenbildung während der Kaltumformung läßt sich im Spannungs-Dehnungsschaubild durch den Dehngrenzeneffekt (Lüders-Dehnung, Fließfiguren Typ „A“) sowie durch Spannungssprünge im Verlauf der Fließkurve (Portevin-Le-Chatelier-Effekt, dynamische Reckalterung, Fließfiguren Typ „B“) feststellen. Die Ursachen für die Bildung von Fließfiguren sind in Abschn. 3.2.3 behandelt worden. AlMgMn- und AlMg-Legierungen haben gute Umformbarkeitseigenschaften, neigen aber im rekristallisierten, versetzungsarmen Zustand zu Fließfiguren vom Typ „A“, welche sich nadel- oder flammenförmig über große Blechbereiche erstrecken können (sog. Lüdersbänder), s. Bild 3.2.9. Dieses Verhalten ist für dekorative Oberflächenansprüche unerwünscht, da die Fließfiguren deutlich auf polierten und lackierten Oberflächen in Erscheinung treten. Fließfiguren des Typs „A“ lassen sich durch eine thermomechanische Behandlung (z.B. Vorverformung durch Nachwalzen oder Rollenrichten) in Verbindung mit einem etwas gröberen Korngefüge besei-
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12 Aluminiumblechumformung
tigen; man erhält bedingt fließfigurenfreie, sog. „fließfigurenarme“ (ffa) Werkstoffqualitäten (internationale Bezeichnung „ssf“ = stretcher strain free). Auch Fließfiguren vom Typ „B“ zeichnen sich bei Umformgraden oberhalb von ca. 10% auf der lackierten Oberfläche ab und müssen bei Sichtteilen vermieden werden. Deshalb sind AlMgMn- und AlMgLegierungen für dekorative Anwendungen wie Außenhautteile im Karosseriebau in „ffa“- bzw. „ssf“-Qualität nur bedingt geeignet. Dagegen sind kaltausgehärtete AlMgSi-Legierungen fließfigurenfrei und genügen den hohen Oberflächenqualitätsanforderungen, sofern das sog. „Roping“ durch gezielte thermomechanische Herstellungsstrategie unterbunden wird. Roping ist eine texturbedingte Oberflächenaufrauhung in Form von langgestreckten Hügeln und Tälern mit Höhenunterschieden von 10 bis 30 µm und einer Länge von 5 bis 50 mm, die sich bei Verformung quer zur Walzrichtung ergeben, in Walzrichtung ausgedehnt sind und eine unregelmäßige Verteilung haben (Baczynski et al. 2000), s. Bild 12.1.19.
Bild 12.1.19 Roping-Erscheinungen an der Walzoberfläche (links), durch Kornätzung (Mitte) sowie Roping-freies Material nach Kornätzung (rechts). Legierung EN AW-6016. RD = Walzrichtung (Quellen: Corus (Bild links) und VAW Bonn)
Tabelle 12.1.1 gibt eine Übersicht über gängige und neuere Karosserieblechlegierungen einschließlich einiger vorzugsweise im Ausland eingesetzter Legierungen (AA6111, AA5022, AA5023) und enthält Bemerkungen über die Fließfigurenneigung und den Anwendungsbereich. In den frühen Entwicklungsstadien der 70-er Jahre wurden auch aushärtbare AlCuMg-Legierungen für den Karosseriebau entwickelt, die im europäischen und japanischen Automobilbau aus Gründen der mangelnder Kompatibilität mit den nachfolgenden Beschichtungsprozessen bei der Teilefertigung keine Bedeutung erlangt haben und durch die Legierungsgruppen 2 und 3 verdrängt wurden. Der Vollständigkeit halber seien sie hier erwähnt: AA2002-T4, AA2008-T4, AA2036-T4, AA2038-T4.
12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung
513
Tabelle 12.1.1 Aluminiumblechlegierungen für den Karosseriebau Legierungsgruppe
Legierungsbez. FließEN AW- bzw. figuren 4) AA Gruppe 1: Al99,5 1050A-0 keine Gruppe 2: AlMg(Mn,Cr) 5052-0 (ffa) (A), B nicht aushärtbar 5754-0 /H111 A , B 5182-0 /H111 A , B keine 6) 5182- ffa 5) 5019-0/H111 A, B AlMg6,5-0 7) A, B Gruppe 3: AlMgSi(Cu,Mn) AA6014-T4 1) Keine AA6501-T4 2) keine aushärtbar 3) keine 6016-T4 AA6022-T4 keine AA6111-T4 keine keine 6181A-T4 Gruppe 4: AlMgCu AA5022 B bedingt aushärtbar AA5023 B 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)
Anwendungsbereiche (Beispiele) Wärmeabschirmung Karosserieinnenteile Karosserieinnenteile Karosserieinnenteile Innen- u. Außenteile Karosserieinnenteile Karosserieinnenteile Struktur- u. Außenteile Fußgängerschutz Innen- u. Außenteile Innen- u. Außenteile Karosserieaußenteile Karosserieinnenteile Innen- u. Außenteile Innen- u. Außenteile
Ac-300 sowie Ac-170, Markenbez. der Fa. Novelis; z.B. Ac-118-T4 (Novelis); auch in stabilisiertem Zustand T4* lieferbar, z.B. Ac-121-PX (Novelis); A, B = Fließfigurentyp; ffa = fließfigurenarm (international „ssf“); Hydro 5919-D, Markenbez. der Fa. Hydro; in seltenen Fällen, abhängig von Bauteilgeometrie, Fließfiguren Typ B; in Entwicklung, Fa. Hydro
In den Tabellen 12.1.2 und 12.1.3 wird ein Überblick über die nominellen chemischen Zusammensetzungen (Mittel der Grenzwerte der Hauptlegierungselemente) sowie über die typischen mechanischen Kennwerte der häufig in der Automobilindustrie eingesetzten und einiger neu entwickelten Aluminium-Karosserieblechlegierungen gegeben. Die AlMgSi-Legierungen erfahren bei den üblicherweise abschließenden Lackierungen mit Einbrenntemperaturen zwischen 180 und 205 °C (Gesamtdauer etwa 30 min.) eine Warmaushärtung (Bake-hardening). Zur Verbesserung der Lagerungsbeständigkeit und der Aushärtungskinetik wurden besondere stabilisierte Zustände entwickelt (in diesem Buch als „T4*“ bezeichnet), s. hierzu Abschn. 3.2.5 und Bild 3.2.25.
514
12 Aluminiumblechumformung
Tabelle 12.1.2 Nominelle Zusammensetzung von Aluminiumkarosserieblechlegierungen Bezeichnung Nominelle Zusammensetzung EN AW- (AA) in Gew.-% Si Cu Mn Mg Cr Gruppe 1: Al99,5 1050A ----- ----- ----- ----- ----Gruppe 2: AlMg(Mn,Cr) ----- ----- ----- 2,5 0,2 5052 nicht aushärtbar 5754 ----- ----- 0,2 3,0 0,1 ----- ----- 0,4 5182 4,5 --------- ----- 0,3 5019 4) 5,3 ----AlMg6,5 5) ----- ----- 0,3 6,5 ----0,5 ----- 0,1 0,6 ----Gruppe 3: AlMgSi(Cu,Mn) AA6014 1) 0,4 AA6501 2) ----- 0,15 0,4 ----aushärtbar 1,2 ----- ----- 0,4 ----6016 1,1 ----- ----- 0,4 ----6116 1,2 0,7 0,2 0,6 ----AA6022 0,9 ----- ----- 0,7 ----AA6111 0,9 0,8 6181A 3) Gruppe 4: AlMgCu AA5022 ----- 0,3 ----- 4,5 ----(bedingt) AA5023 ----- 0,3 ----- 5,5 ----aushärtbar 1) Ac-300/Ac-170; 2) Ac-118; 3) Ecodal 608 = Markenbez. Fa. Novelis; 4) Hydro 5918-D = Markenbez. Fa. Hydro; 5) in Entwicklung, Fa. Hydro
V ------------------------0,1 -----------------------------
Tabelle 12.1.3 Typische mechanische Eigenschaften von Aluminiumkarosserieblechlegierungen Ag Rp0,2 A5 Bezeichnung Rm EN AW- (AA) [MPa] [MPa] [%] [%] Gruppe 1: Al99,5 1050A-0 80 40 40 28 Gruppe 2: AlMg(Mn,Cr) 5052-0 190 90 28 24 nicht aushärtbar 5754-0 210 100 28 19 5182-0 280 140 30 23 5182-ffa 270 125 28 20 5019-0 290 150 31 24 AlMg6,5-0 330 160 32 25 90 25 *) 22 Gruppe 3: AlMgSi(Cu,Mn) AA6014-T4 ***) 195 135 70 aushärtbar 25 *) 22 AA6501-T4 210 100 26 *) 22 6016-T4* 257 148 26 **) 22 AA6022-T4 n.b. AA6111-T4 275 160 28 22 6181A-T4 235 125 25 Gruppe 4: AlMgCu AA5022 300 155 30 n.b. (bedingt) AA5023 275 135 30 28 aushärtbar *) A80mm-Wert, gemessen quer zur WR; **) A50mm; ***) Ac-170-PX („T4*“), n.b. = nicht bekannt
nm --0,25 0,30 0,30 0,31 0,30 0,32 0.31 0,28 0,26 0,27 0,25 0,28 0,26 0,29 0,30
rm --0,85 0,68 0,75 0,75 0,67 0,75 0.80 0,60 0,70 0,60 0,67 0,56 0,65 0,68 0,65
12.1 Werkstoffeigenschaften für die Blechumformung
515
Blechoberfläche
Die Standardwalzoberfläche von Aluminiumblechen und -bändern ist die sog. „mill-finish“-Oberfläche mit relativ geringen Rauheitswerten. Sie wird mit tangential geschliffenen Walzen erzeugt und weist dadurch eine gerichtete Rauhigkeit auf, die parallel und quer zur Walzrichtung tribologisch unterschiedliches Verhalten erzeugt. Schmiermittel in den langgestreckten Rauhigkeitstälern werden unter dem Druck der Werkzeugoberflächen herausgequetscht, ohne daß sich ein hydrostatischer Druck aufbauen kann. Diese Oberflächenstrukturen neigen eher zu Abrieb und Adhäsion des Aluminiums am Werkzeug und führen zu einer Richtungsabhängigkeit der Reibungskoeffizienten. Deshalb hat man ähnlich wie bei Stahlfeinblechen besondere Oberflächen mit ungerichteter Rauheit entwickelt. Für die Erzeugung isotroper Oberflächen werden die Walzen durch Elektroerodieren präpariert und in einem Dressierstich auf die Bandoberfläche aufgeprägt. Mikrotopographien der mill-finish und elektroerodierten Walzoberfläche zeigt Bild 12.1.20 am Beispiel der Karosserieblechlegierung AlMg4,5Mn0,4 (EN AW-5182-0).
Bild 12.1.20 REM-Aufnahmen von Oberflächenfeinstrukturen auf Blechen der Legierung AlMg4,5Mn0,4-0 (EN AW-5182-0). a) mill-finish, b) erodiert (Quelle: Hydro Aluminium, ehem. VAW Aluminium AG)
Abgesehen von unterschiedlichen Oberflächenfeinstrukturen werden Aluminiumbänder und -bleche mit speziellen Beschichtungen geliefert, die auf die spezifischen Anforderungen des Transports, der Umformung und weiteren Verarbeitung abgestimmt sind. Hierzu zählen Konversionsschichten für die Lack- und Klebstoffhaftung sowie Beölung und Trockenschmierstoffschichten und ggf. elektrisch leitende und nicht-leitende Pri-
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12 Aluminiumblechumformung
mer, ohne und mit speziellen Gleitmitteladditiven, die im Coil-CoatingVerfahren herstellerseits aufgetragen werden.
12.2 Tribologisches Verhalten Neben den Umformeigenschaften des Werkstoffs spielen die tribologischen Verhältnisse in den Kontaktzonen zwischen Blech und Werkzeug eine entscheidende Rolle für die Verfahrensgrenzen des Umformprozesses. Die Reibung in den verschiedenen Kontaktzonen beeinflußt das Fließen des Werkstoffs im Werkzeug und wird zur Steuerung des Umformvorgangs gezielt ausgenutzt. Das gesamte Tribosystem besteht aus der Blechoberfläche, der Werkzeugoberfläche und dem Schmierstoff. Der Schmierstoff verhindert Abrieb und Verschleiß an den Werkstück- und Werkzeugoberflächen und soll insbesondere bei Aluminiumziehteilen Adhäsion an der Werkzeugoberfläche und Riefen auf der Blechoberfläche vermeiden. Gleichzeitig ist man bemüht, den Bedarf an Schmierstoff so gering wie möglich zu halten und den Schmierstoff in die weiteren Prozeßstufen zu integrieren bzw. seine Entfernung ohne Aufwand an Betriebskosten und unbedenklich für die Umwelt durchzuführen. 12.2.1 Reibungsmechanismus
Die tribologischen Bedingungen bei der Blechumformung lassen sich charakterisieren durch • mäßige Geschwindigkeiten in der Relativbewegung zwischen Werkstück- und Werkzeugoberfläche, • allgemein niedrige Drücke in der makroskopischen Kontaktzone, • relativ große Kontaktflächen zwischen Werkstück und Werkzeug. Unter solchen Bedingungen können sowohl flüssige und pastöse als auch trockene Schmierstoffe zur Verringerung der Reibungskräfte zwischen den Metalloberflächen verwendet werden. Die niedrigen Relativgeschwindigkeiten erfüllen nicht die Bedingungen für das Auftreten und die Aufrechterhaltung hydrodynamischer Schmierverhältnisse beim Einsatz flüssiger Schmierstoffe. Auf der mikroskopischen Ebene aber findet man Zonen, die durch einen dünnen Schmierfilm getrennt sind, und solche mit direktem metallischen Kontakt. Das Ausmaß des metallischen Kontaktes hängt von einer Reihe von Faktoren ab, unter denen die Oberflächenrauhigkeit, die mikrotopo-
12.2 Tribologisches Verhalten
517
graphische Oberflächenstruktur und die Schmiermittelmenge die wichtigsten sind. Im Augenblick der Berührung zwischen der Werkzeugoberfläche und der weicheren Blechoberfläche beschränkt sich der Kontakt auf wenige Rauhigkeitsspitzen, die wegen der lokal hohen spezifischen Flächenpressung eingeebnet werden. Dadurch baut sich in dem in den Rauhigkeitstälern eingeschlossenen flüssigen Schmierstoff ein hydrostatischer Druck auf, wodurch der Druck des Werkzeugs auf die Blechoberfläche übertragen wird. Überschüssiger Schmierstoff wird gleichzeitig aus den Talmulden des Rauheitsprofils herausgequetscht, zwischen die abgeflachten Rauhigkeitsspitzen hindurchgepreßt, und es bildet sich ein dünner Grenzflächenfilm aus, der aus tribochemischen Reaktionsprodukten und anderen Substanzen besteht (z.B. metallische Seifen). Während des Ziehvorgangs bauen sich durch die Relativbewegung zwischen Werkzeug- und Blechoberfläche im Grenzflächenfilm zwischen den abgeflachten Spitzen und der Werkzeugoberfläche Schubspannungen auf. Reißt der Grenzflächenfilm durch die Relativbewegung der Oberflächen oder durch zu hohen Druck des Werkzeugs, entsteht direkter metallischer Kontakt. Es kommt zu Adhäsion des Blechwerkstoffs am Werkzeug infolge örtlicher Preßschweißprozesse. Bei weiterer Relativbewegung werden diese metallischen Brücken abgerissen und haften entweder am Werkzeug oder brechen als Abriebpartikel los. In diesem Moment ist die Schmierung zusammengebrochen. Die mechanistischen Vorstellungen der Reibungsvorgänge sind in Bild 12.2.1 schematisch wiedergegeben (Balbach 1988).
Bild 12.2.1 Reibungsmechanismen beim Ziehprozeß (Quelle: IfU, Univ. Stuttgart)
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12 Aluminiumblechumformung
Zur Vermeidung oder Minderung metallischer Reibung und von Abrieb beim Ziehprozeß ist eine Grenzflächenschmierung notwendig und folglich auch die Aufrechterhaltung eines hydrostatischen Drucks in den Rauhigkeitstälern der Blechoberfläche. Die EDT-Oberfläche (Bild 12.1.19) mit einer muldenförmigen, isotropen Oberflächenfeinstruktur für ein ausreichendes Schmierstoffreservoir und mit Aufnahmekapazität für Abriebpartikel ist deshalb der „mill-finish“ Oberfläche vorzuziehen. 12.2.2 Das Tribosystem Blech-Werkzeug-Schmierstoff Reibungsverhalten des Blechwerkstoffs
Um das Reibungsverhalten zu modellieren und die tribologischen Parameter zu ermitteln, sind zahlreiche Prüfverfahren entwickelt worden. Die meisten dieser Verfahren bauen auf Reibversuchen mit Blechstreifen auf, die durch zwei Ziehbacken, bestehend aus Niederhalter und Ziehring, hindurchgezogen werden. Durch Steuerung und Erfassen der Flächenpressung und der Durchzugskräfte kann der Reibungskoeffizient errechnet werden. Streifenziehversuche werden je nach Aufgabenstellung mit oder ohne eine Umlenkung des Blechstreifens durchgeführt. Die Umlenkung soll das Ziehen über eine Ziehkantenrundung simulieren.
Bild 12.2.2 Reibverhalten und Adhäsionsneigung von Karosserieblechlegierungen im Streifenziehversuch ohne Umlenkung. Mill-finish-Oberfläche, Schmierstoff: Oest PlatinolV711/80, Ziehgeschwindigkeit vz = 2 mm/s (Mössle 1983)
12.2 Tribologisches Verhalten
519
Bild 12.2.2 zeigt Ergebnisse von Streifenziehversuchen ohne Umlenkung an den Blechwerkstoffen EN AW 5052-0, EN AW-5182-0 und EN AW-6016-T4 mit „mill-finish“-Oberfläche (Mössle 1983). Die Anisotropie des Reibungsverhaltens senkrecht und parallel zur Walzrichtung wird deutlich. Man sieht, daß das Auftreten von Kaltverschweißungen unter den gewählten Bedingungen bereits bei relativ niedrigen Niederhalterdrücken erfolgt und von der Orientierung der Streifenziehrichtung zur Walzrichtung abhängig ist. Weiterhin erkennt man die Abhängigkeit der Ziehkräfte bei gegebenem Niederhalterdruck von der Orientierung zur Walzrichtung. Die Streifenziehversuchswerte in Bild 12.2.3 sind ein Beispiel für das tribologische Verhalten verschiedener Oberflächenpräparationen beim Karosseriewerkstoff AlSi1,2Mg0,4-T4. Es wird deutlich, daß von Blechen mit „EDT“ (elektroerodiert) und „Lasertex“ (lasertexturiert) Oberflächen wesentlich höhere Flächenpressungen ohne Abrieb und Adhäsion ertragen werden als von Blechen mit „mill-finish“-Oberflächen.
Bild 12.2.3 Einfluß der Oberflächenfeinstruktur auf das Reibverhalten der Legierung Al Si1,2Mg0,4-T4 (EN AW-6016-T4). Schmierstoff Mineralöl M100, Ziehgeschwindigkeit vz = 100 mm/s. (Quelle: IfU, Univ. Stuttgart)
Werkzeugoberfläche
Für das Ziehen von Aluminiumkarosserieteilen werden die gleichen Werkzeugwerkstoffe verwendet wie für die Herstellung von Stahlziehteilen (Schuler GmbH: 1996) und Werkzeugstahleinsätze als Ziehkanten, Ziehleisten und Schneidkanten. Zur Vermeidung von Adhäsionserscheinungen
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12 Aluminiumblechumformung
soll die Werkzeugoberfläche in kritischen Kontaktzonen eine mittlere Rautiefe von Rz ≤ 1 µm und einen Profilleeregrad von λp ≥ 0,46 (λp = Rp/Rt, mit Rp = Glättungstiefe und Rt = Rauhtiefe) aufweisen. Besonders wirksam kann die Adhäsionsneigung von Aluminium und der Reibbeiwert durch Oberflächenbehandlungen des Werkzeugs beeinflußt werden. Bild 12.2.4 zeigt Beispiele für die unterschiedliche Adhäsionsgrenze bei verschiedenen Werkzeugoberflächenbehandlungen (Mössle 1983). Plasmanitirieren und PVD- oder CVD-Beschichtungen mit TiN und VN auf Werkzeugstählen haben sich besonders für die Aluminiumverarbeitung als geeignet erwiesen (Podgornik et al. 2006). Auch DLCSchichten auf Werkzeugstählen haben ausgezeichnete Anti-Adhäsionseigenschaften und hohe Standzeiten selbst bei trockener Reibung (Enke 1997, Taube 1998, Sato et al. 2000). Welche Art der Oberflächenbehandlung im Einzelfall geeignet ist, richtet sich nach den technischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten, wie z.B. der Größe des Werkzeugs.
Bild 12.2.4 Einfluß der Werkzeugoberfläche auf das Reibverhalten von AlMg0,4Si1,2-T4 mit mill-finish-Oberfläche. Streifenziehversuch ohne Umlenkung, vz = 2 mm/s, Schmierstoff Oest Platinol V711/80 (Mössle 1983)
Schmiermittel
Erfolgreiches Ziehen von Blechformteilen hängt entscheidend von der Wahl des Schmierstoffsystems und seiner Auftragung auf Blechplatine und Werkzeug ab. Im Preßwerk geschieht die gleichmäßige und reprodu-
12.2 Tribologisches Verhalten
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zierbare Befettung der Blechplatine vorwiegend mit dem Walzenauftragsverfahren. In besonderen Fällen kann es darüber hinaus notwendig sein, eine lokale Druckschmierung an kritischen Stellen im Werkzeug selbst vorzunehmen. Für die Aluminiumblechumformung steht eine große Zahl von speziellen Schmierstoffen, z.B. auf der Basis legierter Mineralöle, zur Verfügung. Ein wichtiger Faktor bei der Auswahl ist die dynamische Viskosität des Schmierstoffs, die druckabhängig und in besonderer Weise temperaturabhängig ist. Messungen der Temperaturverläufe beim Ziehprozeß haben an der Ziehkantenrundung Temperaturerhöhungen um 10 bis 15 °C ergeben, die die Viskosität erniedrigen und in kritischen Umformoperationen zu einer unzureichenden Schmierung führen können. In Zusammenhang mit Schmierstoffauftrag, Entfernung und Entsorgung können bis zu 15% Prozeßkosten anfallen. In dem Bemühen, den Schmierstoffeinsatz sowie Umweltprobleme zu reduzieren, wurden Trockenschmierstoffe eingeführt, die durch Coil-Coating aufgetragen werden. Solche Trockenschmierstoffe sind häufig den herkömmlichen Mineralölschmierstoffen bzgl. des Umformverhaltens überlegen und können durch Beizbehandlung oder alkalische Entfettung im Verlauf der Weiterbearbeitung entfernt werden (Furrer et al. 2001). Auf Borsäure-Trockenfilme als umweltverträgliche Alternative zu wachsbasierten Trockenschmierstoffen hat Rao et al. hingewiesen (Rao et al. 2001). Reibzonen beim Tiefziehen
Die Reibzonen beim Tiefziehen und beim Karosserieteilziehen sind in Bild 12.2.5 schematisch dargestellt. Die Anforderungen an das Reibverhalten in diesen Reibzonen können je nach Ziehteilart und Umformverfahren sehr unterschiedlich sein. Beim Tiefziehen wird eine geringe Reibung unter dem Niederhalter (Zone 1) und an der Ziehringrundung (Zone 2) benötigt, um die Ziehkräfte zu reduzieren. An der Stempelkante (Zone 3) und Stempelmantelfläche (Zone 4) verlangt man eine möglichst hohe Reibung, um über den Stempel hohe Kräfte in die Zarge einleiten zu können. Müssen im Ziehteilboden eines Karosserieteils besondere Bereiche durch Streckziehen ausgezogen werden, sind an der Stempelstirn (Zone 5) niedrige Reibungswerte einzustellen. Zur Steuerung des Werkstoffflusses bei unregelmäßigen Ziehteilen, wie z.B. Karosserieteilen, kann eine höhere Reibung in bestimmten Partien des Niederhalters (Zone 6) notwendig sein, die man mit lokal höherer Flächenpressung oder auch mit Bremswulsten (Ziehsicken oder Ziehleisten) erzielen kann.
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12 Aluminiumblechumformung
Bild 12.2.5 Reibungszonen beim Ziehen von Karosserieteilen. (1) Ziehring und Niederhalter, (2) Ziehringrundung, (3) Stempelkantenrundung, (4) Stempelmantelfläche, (5) Stempelstirn, (6) Niederhalter und Bremswulst
Karosserieteile sind gewöhnlich großflächige Blechteile mit relativ geringen Ziehtiefen, unregelmäßigen Formen und zahlreichen Formenelementen. Der Ziehprozeß besteht daher in der Regel aus einer Kombination aus Tiefzieh- und Streckziehvorgängen, die eine feinfühlige Steuerung des Materialflusses unter dem Niederhalter notwendig machen. Steuerungsmöglichkeiten bieten der Platinenzuschnitt, das Schmierstoffangebot, Bremswulste und die gezielte Einstellung des Niederhalterdrucks. Bild 12.2.6 illustriert die Verwendung von Ziehstäben als Bremswulste und Abklemmleisten bei einem großflächigen Karosserieblechziehteil.
Bild 12.2.6 Beispiel für die Anordnung und Form von Ziehsicken für ein unregelmäßiges, großflächiges Karosserieblechziehteil (Quelle: IfU, Univ. Stuttgart)
Durch die Anordnung von Ziehsicken ist es möglich, bei komplizierten, unregelmäßigen sowie auch bei rechteckigen Ziehteilen den Spannungs-
12.2 Tribologisches Verhalten
523
unterschied zwischen Seitenwänden und Eckenbereichen zu verkleinern. Ziehstäbe und Ziehwülste werden üblicherweise in einer Entfernung von 25 · t ( t = Blechdicke) von der Ziehkante der Matrize angeordnet. Die Besonderheiten des Aluminiumkarosseriewerkstoffs erfordern spezielle Maße in der Werkzeuggestaltung und im Hinblick auf die Ausführung von Ziehstäben und -sicken, s. (Story et al. 1996). Ziehkantenradien der Matrize sollten zwischen 5 · t und 10 · t betragen. Für Abmessungen und Konturen der Ziehsicken werden die Abmessungen in Bild 12.2.7 empfohlen.
Bild 12.2.7 Empfohlene Abmessungen für Brems- und Abklemmleisten für das Ziehen von Aluminiumkarosserieblechteilen (Quelle: Corus Aluminium)
Für die Wirkung der Reibzonen ist neben der Werkzeuganlage auch den Zieheinrichtungen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Da sich die Ziehaufgabe häufig bei bereits vorhandener Presseneinrichtung stellt, ist für kritische Ziehteile eine optimale Auslegung der Zieheinrichtung auf die besonderen Ansprüche der Aluminiumblechumformung nur durch Umbau oder Anpassung zu lösen. Entscheidend ist die Steuerungsfähigkeit des Niederhalterdrucks über dem Stempelweg, wobei bei großflächigen Ziehteilen die Niederhalterkraft über elastische Formänderung oder segmentierten Niederhalter durch eine Vielpunktziehanlage variabel einstellbar sein sollte. Verschiedene anlagentechnische Lösungen wurden hierzu z. B. am Institut für Umformtechnik der Universität Stuttgart erarbeitet (Siegert 2006).
524
12 Aluminiumblechumformung
Einfluß der Korngröße auf die Oberflächenwandlung
Infolge der plastischen Verformung und der damit verbundenen nÄderungen der Kristallorientierung innerhalb des Kornverbandes ergibt sich eine Aufrauhung („Narbigkeit“) der Oberfläche, die mit steigendem Umformgrad zunimmt und von der Ausgangskorngröße abhängig ist. Bild 12.2.8 zeigt ein Beispiel für diesen Effekt, wobei die Aufrauhung an verformten Zugproben gemessen wurde, bei denen keine Einebnung der entstehenden Aufrauhung durch den Kontakt mit einer Werkzeugoberfläche stattfindet (freie, ungebundene Umformung). Bei gebundener Umformung, wie beim Ziehen der Blechoberfläche über die Ziehringrundung oder unter dem Niederhalter, wird diese Oberflächenwandlung teilweise wieder eingeebnet. Auf jeden Fall verändert die Oberflächenaufrauhung die mikrotopographische Oberflächenstruktur und wirkt sich somit auf die tribologischen Prozesse aus. Je größer die Ausgangsrauhigkeit des Blechs und je geringer die Korngröße, um so geringer ist dieser Effekt. Die Beurteilung der Wirkung bestimmter Oberflächentopographien muß daher auch die Gefügestruktur berücksichtigen.
Bild 12.2.8 Einfluß der Korngröße auf die Oberflächenwandlung bei ungebundener Umformung im Zugversuch (Mössle 1983)
12.3 Scherschneiden
525
12.3 Scherschneiden Scherschneiden, Lochstanzen und Beschneiden des Formteils sind feste Bestandteile der Blechteilformgebung. Die Schnittfläche kann nach VDIRichtlinie 2906, Bl. 2, durch die in Bild 12.3.1 dargestellten Kenngrößen charakterisiert werden, die sowohl für Außen- als auch für Innenschnittflächen gelten (VDI-Richtlinie 2906/2:1994).
Bild 12.3.1 Allgemeine Kenngrößen an Schnittflächen nach DIN VDI 2906/2 (VDI-Richtlinie 2906/2 (1994)): bE, hE Kanteneinzugsbreite und -höhe, hS, hS/t Glattschnitthöhe, -anteil, hB, hB/t Bruchflächenhöhe und -anteil, bG, hG Schnittgratbreite, -höhe, t Blechdicke
Ziel der Schneidoperation ist es, einen möglichst hohen Glattschnittanteil und geringen Grat mit geringer Schneidkraft bzw. Schneidarbeit ohne Ausbrüche und Flitterbildung zu erreichen. Das Schneidverhalten des Werkstoffs wird durch Scherfestigkeit, Duktilität und Bruchverhalten, aber auch durch die Schneidparameter sowie tribologische Aspekte beeinflußt. Werkzeugseitige Einflußfaktoren, wie Schneidkantenradien, Schneidspalt und Schnittlinienverlauf, bestimmen vor allem die Spannungs- und Formänderungsverhältnisse in der Umgebung des Schneidspaltes und wirken sich damit auf die Grenzwerte des Formänderungsvermögens des Werkstoffs und damit auf den Beginn des Bruchvorgangs aus. An der Schnittkante bildet sich eine Verfestigungszone aus, die eine Härtesteigerung verursacht, gleichzeitig aber auch Zugeigenspannungen in Blechdickenrichtung hinterläßt. Die Summe aller dieser Einflußgrößen bestimmt die Qualität und Eigenschaften der Schnittkante und – wenn die Schnittkante in einen nachfolgenden Umformprozeß einbezogen wird – auch das Umformverhalten des Werkstücks.
526
12 Aluminiumblechumformung
Im Hinblick auf die geforderte Qualität der Schnittfläche unterscheidet man Normalschneiden, Genauschneiden und Feinschneiden, deren charakteristische Verfahrensmerkmale bei Aluminiumwerkstoffen nachfolgend beschrieben werden. 12.3.1 Trennvorgang beim Normalschneiden
Mit dem Normalschneiden hergestellte Schnittflächen haben einen Glattschnittanteil in der Regel von weniger als 30% der Blechdicke. Die Teilegenauigkeit entspricht der Toleranzgruppe IT12. Es wird mit relativ großen Schneidspalten gearbeitet (uS/t ≈ 10–15%). Gegebenenfalls wird mit Blechhalter, aber ohne Gegenhalter, geschnitten. Die Schnittflächen eignen sich üblicherweise nicht als Funktionsflächen. Zu Beginn des Schneidvorgangs entsteht unter der Schneidenkante eine Druckzone mit einem hydrostatischen Spannungsanteil, der dem örtlichen duktilen Verhalten zuträglich ist. Dabei bildet sich der Kanteneinzug, s. Bild 12.3.1. Im weiteren Verlauf dringt der Stempel in das Werkstück ein und erzeugt ausgehend von den gegenüberliegenden Schneidkanten plastische Zonen mit zunehmend intensiver Gleitbandbildung, Bild 12.3.2.
Bild 12.3.2 Scherzone und Anrißbildung beim Eindringen des Schneidstempels in das Werkstück und Verwölbung des Stanzrestes unter dem Stempel
12.3 Scherschneiden
527
Die Orientierung dieser Scherzonen ist abhängig vom Schneidspalt im Verhältnis zur Blechdicke, uS/t, sowie von den jeweiligen Schneidkantenrundungen an Schneidstempel und Schneidplatte. Bei weiterer Stempelbewegung vereinigen sich die beiden anfänglichen Scherzonen und es entstehen Anrisse durch Bruch konzentrierter Gleitbänder. Der Rißfortschritt geschieht unter gleichzeitig zunehmender Wirkung von Zugspannungen auf die Anrißflanken als Folge des Biegemomentes aus Schneidkraft und Schneidspalt. Der Übergang von überwiegend Druckspannungen zu überwiegend Zugspannungen entwickelt sich zunächst an der Schneidplattenkante (Gouveia et al. 2000). Untersuchungen des Schneidkraftverlaufs über dem Stempelweg haben gezeigt, daß das Schneidkraftmaximum – der Übergang von Phase 2 zu Phase 3 in Bild 12.3.3 – durch plastische Verformung unter den Schneidkanten und nicht durch Anrisse bestimmt ist. Die langsame Abnahme der Schneidkraft während Phase 3 beruht auf der Querschnittsabnahme und auf zunehmend dynamischer Entfestigung in den intensiven Gleitbändern. Anrißbildung geschieht im Übergang von Phase 3 zu Phase 4.
Bild 12.3.3 Verlauf der Schneidkraft über dem Stempelweg und Zuordnung zu verschiedenen Ablaufphasen des Schneidprozesses
Eine eingehende Untersuchung der verschiedenen Einflüsse der Werkzeuggeometrie auf das Scherschneiden von Aluminiumblechen der Legierungen Al99,5-0, AlMg3Mn-0, AlMg4,5Mn0,4-0 und AlSi12,Mg0,4-T4 wurde von Hoogen durchgeführt (Hoogen 1999). Numerische Simulation des Schneidprozesses haben die Bedeutung einzelner Schneidparameter auf das Schneidergebnis verfeinert und experimentell an Aluminiumlegierungen verifiziert (Pyttel et al. 2000, Shuqin et al. 2002, Hatanaka et al. 2003 (1), Hatanaka et al. 2003 (2), Farzin et al. 2006):
528
12 Aluminiumblechumformung
• Anrisse bilden sich bei engem Schneidspalt uS/t = 0,05 in der Nähe der beiden Schneidkanten und vereinigen sich entlang einer gemeinsamen Linie. Bei größerem Spalt uS/t > 0,1 bildet sich der Anriß nur stempelseitig und erst nach größerer Eindringtiefe. • Die maximale Kanteneinzugshöhe hE/t und -breite bE/t sind durch das Eindringen des Stempels erreicht, sobald die Anrißbildung erfolgt. Sie nehmen mit der Schneidspaltbreite uS/t zu. Bei geringem Schneidspalt nehmen hE/t und bE/t nicht mehr zu, sobald der Stempel mehr als 0,2·t ins Werkstück eingedrungen ist. Bei höherem Verfestigungsexponenten n des Werkstoffs wird die Einzugsbreite bE/t größer. • Die Glattschnitthöhe hS/t vergrößert sich überproportional mit enger werdendem Schneispalt uS/t. Sie hat ihren Höchstwert erreicht, sobald die Anrißbildung erfolgt. Die Glattschnitthöhe ist kaum abhängig von der Niederhalterkraft des Blechhalters, sofern vorhanden. • Die Summe von Glattschnitt- und Kanteneinzugshöhe ist fast unabhängig von der Schneidspaltbreite. • Der Ort der Anrißbildung hängt ab von den Schneidkantenradien RP, RS (s. Bild 12.3.1). Bei RP/RS < 0,7 beginnt der Anriß an der Schneidplattenkante, bei RP/RS > 0,7 dagegen an der Stempelkante und bei RP/RS = 0,7 an beiden Stellen gleichzeitig. (Diese Angaben beziehen sich auf Versuche an Kohlenstoffstahl, wobei auch ein Einfluß der Werkstoffestigkeit auf die Anrißlage postuliert wurde) (Farzin et al. 2006). Die Grathöhe hG nimmt mit dem Schneidkantenradius und Schneidspalt zu. Die experimentellen Daten in Bild 12.3.4 beruhen auf Arbeiten von Li (Li 2000 (1)). Wegen der naturgemäßen meßtechnischen Schwankungsbreite der Grathöhen wurde hier der experimentelle Kurvenverlauf linearisiert dargestellt. Der Glattschnittanteil nimmt mit zunehmender Festigkeit des Materials bei ansonsten gleichen Schneidparametern ab. Dabei scheint die A r t der Festigkeitssteigerung, d.h. ob durch Kaltverfestigung oder Aushärtung, keinen entscheidenden Einfluß auf das Schneidverhalten zu haben. Während die üblichen Untersuchungsergebnisse auf Schneidprozessen mit 90° Stempelbewegung beruhen, untersuchte Li auch den Einfluß von verschiedenen Schneidwinkeln zwischen 0° und 20° (Li 2000 (1), Li 2000 (2)). Überraschenderweise nimmt die Grathöhe bei gegebenem Schneidspalt mit zunehmendem Schneidwinkel deutlich ab und selbst bei „stumpfen“ Stempelschneidkanten (RS bis 0,5 mm) und Spaltbreiten uS/t um 10% kann bei 20° Schneidwinkel ein fast gratfreier Schnitt erreicht werden.
12.3 Scherschneiden
529
Bild 12.3.4 Einfluß von Schneidspaltbreite uS/t und Schneidstempelradius RS auf die Grathöhe hG beim Beschneiden von 1 mm Blech aus Legierung AA6111-T4; Schneidrichtung 90° zur Blechebene. Nach Daten von Li (2000 (1))
Flitterbildung und -vermeidung
Die Bildung von Flitterpartikeln beim Scherschneiden ist eine kostenträchtige Problematik bei der Aluminiumblechverarbeitung, insbesondere bei weitgehend automatisierter Fertigung. Selbst bei annähernd gratlosem Schneiden mit engen Schneidspalten und kleinen Schneidkantenradien oder unter Schneidwinkeln läßt sich die Flitterbildung bei Aluminiumblechen nicht vollständig vermeiden. Golovashchenko hat kürzlich die Flitterbildung bei Karosserieblech AA6111-T4 untersucht und den Flitter als abgerissenen Grat des Stanzabfalls beschrieben (Golovashchenko 2006). Beim Schneidvorgang entsteht dieser Grat durch die stempelseitige Anrißbildung am Auslauf des Stempelradius, s. Bild 12.3.5, in einer Zone mit extremem Verformungsgrad infolge des dort herrschenden hydrostatischen Spannungszustands. Golovashchenko vermutet, daß durch die Rißbildung der hydrostatisch geprägte Spannungszustand in den ebenen Spannungszustand wechselt mit der Folge, daß die Duktilität in diesem Zipfel erschöpft ist und beim weiteren Eintauchen des Stempels und Abbiegen des Stanzrestes der Zipfel verformungsarm abgerissen wird. Zur Vermeidung der Flitterbildung wird daher vorgeschlagen, die Anrißbildung stempelseitig zu verhindern und an der Kante der Schneidplatte zu forcieren sowie gleichzeitig die Verwölbung des Stanzabfalls zu unterbinden. Diese Effekte kann man dadurch erzielen, daß mit einem scharfen Radius (z.B. 0,1 mm) an der feststehenden Schneidkante und einem stump-
530
12 Aluminiumblechumformung
fen Radius an der stempelseitigen Schneide sowie durch einen beweglichen Gegenhalter unter dem Stanzrest gearbeitet wird (Golovashchenko et al. 2003). Die Untersuchungen haben weiter ergeben, daß eine gute Schnittflächenqualität und exakte Abbildung der Schneidplattengeometrie auch bei größerem Schneidspalt erzielt wird, wodurch der Prozeß erheblich verbesserte Fertigungssicherheit gewinnt.
Bild 12.3.5 Vorstufe der Flitterbildung beim Scherschneiden von AA6111-T4 Blech nach Golovashchenko (Golovashchenko 2006)
Flitterbildung durch Adhäsion
Durch den Schneidvorgang wird eine frische metallische Oberfläche erzeugt, die zumindest teilweise mit den Werkzeugoberflächen in Kontakt steht, soweit dieser nicht durch einen Schmierstoffilm behindert wird. Durch die Schnittstempelbewegung kommt es zu Gleitvorgängen zwischen Werkstück und Werkzeug an der frischen Schnittkante – ein Vorgang, der vor allem bei Lochstanzungen zu beachten ist. Die tribologischen Eigenschaften der Kontaktflächen und die Adhäsionsneigung der Reibpartner sind damit ebenfalls von Bedeutung für die Schnittflächenqualität, besonders aber für den Werkzeugverschleiß. Die frische metallblanke Oberfläche des äußerst reaktionsfähigen Aluminiums führt zur Adhäsion an der Stahlstempeloberfläche, sofern dies nicht durch Schmierstoff oder Werkzeugoberflächen mit geringer Adhäsionsneigung verhindert wird. Bei weiteren Schneidoperationen können sich Adhäsionspartikel lösen und in den nachfolgenden Umformprozeß eingeschleust werden oder sich im Werkzeug ablagern. Als Folge werden die Schnittflächenqualität vermindert und
12.3 Scherschneiden
531
der Verschleiß bzw. die Werkzeugnacharbeit zunehmen. Bei kritischen Umformoperationen, z.B. beim Aushalsen von Lochstanzungen oder beim Biegen, können infolge des durch die Eigenspannungen geförderten Zug/Zug-Spannungszustandes vorzeitig Anrisse an den Schnittkanten auftreten. 12.3.2 Genauschneiden
Unter Genauschneiden versteht man Scherschneiden mit einem Glattschnittanteil von mindestens 60% der Blechdicke t unter Einhaltung engerer Toleranzgrenzen von IT9 bis IT11. Charakteristisch für das Genauschneiden – im Gegensatz zum Normalschneiden – ist das Schneiden mit engen Spalten von uS/t ≤ 3%, gerundeter Schneidkante, ebenem Niederhalter und Gegenhalter, s. Bild 12.3.6 (Neugebauer et al. 1996, Schüßler et al. 1991, Jordan 1991). Dazu ist eine zweifach wirkende Maschine erforderlich.
Bild 12.3.6 Schematische Darstellung des Genauschneidens mit engem Schneidspalt und mit unterschiedlichen Schneidkantenrundungen für das Lochschneiden mit Außen- oder Innenkontur (Neugebauer et al. 1996)
Durch den engeren Schneidspalt werden die radialen Zugspannungen und dadurch die Gefahr der Rißbildung in der Scherzone verringert. Anders als beim Normalschneiden (aber ebenso wie beim Feinschneiden) wird mit einer stumpfen Schneidkante gearbeitet, die je nachdem, ob die Außenkontur oder die Innenkontur glattgeschnitten werden muß, entweder an der Schneidplatte oder am Stempel angebracht wird (König et al. 1995). Nach (Neugebauer et al 1996) und (König et al. 1984) wirkt sich die Schneidkantenrundung positiv auf das Glattschneidverhalten aus, weil die
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12 Aluminiumblechumformung
örtlichen Formänderungen an den Schnittflächen mit zunehmender Schneidenrundung abnehmen. Die Größe des Schneidkantenradius wird mit 5 bis 10% der Blechdicke t angegeben, wobei die größeren Radien bei höheren Werkstoffestigkeiten verwendet werden sollen (König et al. 1995, König et al.1984). Tabelle 12.3.1 enthält Angaben zum erfolgreichen Genauschneiden einiger Aluminiumlegierungen. Allgemein erfüllen Legierungen im Zustand “weich” die geforderte Schnittflächenqualität beim Glattschneiden. Stark verfestigte Legierungen (Zustand H18) können dagegen nicht befriedigend genaugeschnitten werden (Kriterium: Glattschnittanteil mindestens 60%), ebenso kaltausgehärtete Legierungen, z.B. vom Typ AA6111-T4. Folgende Feststellungen können getroffen werden: • je höher die Legierungsfestigkeit, desto enger müssen die Schneidspalte gewählt werden, • gerade Schnitte erfordern einen engeren Schneidspalt als kreisförmige, geschlossene Schnitte, • eine große Schneidkantenrundung an der Schneidplatte begünstigt den Glattschnitt und das Genauschneiden von Außenformen, • eine große Schneidkantenrundung am Stempel begünstigt den Glattschnitt und das Genauschneiden von Innenformen, • der relative Schneidspalt uS/t muß für größere Blechdicken enger gewählt werden. Tabelle 12.3.1 Versuchsergebnisse zum Einsatz des Genauschneidverfahrens Legierung EN AW-
Zustand
Dicke t Schneidspalt Schneidkanten[mm] uS/t rundung [mm] Al99,5 (1050A) weich (-0) bis 4 ≤ 2% AlMg3Mn (5754) weich (-0) bis 4 0,4 bis 2 % 0,1 bis 0,5 AlMg4,5Mn0,4 (5182) weich (-0) bis 4 0,4 bis 2 % 0,1 bis 0,5 AlMgSi0,5 (6063) weich (-0) bis 4 0,4 bis 2 % 0,1 bis 0,5 *) Schmierung: Feinschneidöl, handelsüblich, Viskosität 55 cSt [1] (Schüßler et al. 1991), [2] (Jordan 1991), [3] (Neugebauer et al. 1996)
Literatur [1, 2] [3] *) [3] *) [3] *)
Die Verfestigung ist unmittelbar an der Schnittfläche am größten und nimmt mit dem Abstand von der Schnittfläche und vom Schnittgrat zum Kanteneinzug hin ab. Härtemessungen bei Al Mg4,5Mn0,4 (EN AW5182) ergaben an der Gratseite Härtesteigerungen um 100% der Grundhärte, wie Bild 12.3.7 für weiches und verfestigtes Ausgangsmaterial zeigt. Demnach werden beim Genauschneiden der Legierung AlMg4,5Mn0,4 (EN AW-5182) die gleichen Verfestigungsverhältnisse beobachtet wie
12.3 Scherschneiden
533
beim Normalschneiden (Neugebauer et al 1998). Der starke Verfestigungsanstieg an der Schnittfläche beschränkt sich bei den gegebenen Schneidparametern auf eine schmale Zone von ca. 0,2 mm, deren Ausdehnung nahezu unabhängig vom Verfestigungsgrad der Legierung zu sein scheint.
Bild 12.3.7 Verfestigungstiefe beim Genauschneiden von AlMg4,5Mn0,4-0 und -H18. Blechdicke 3 mm. Schneidparameter: Schneidspalt 0,025 mm, Stempelkantenradius 0,1 mm, Schneidplattenradius 0,5 mm, Niederhalterkraft 20% der Schneidkraft
12.3.3 Feinschneiden
Gegenüber dem Genauschneiden wird beim Feinschneiden mit einem noch engeren Schneidspalt von uS/t = 0,5% bis maximal 1,2% gearbeitet, um einen 100-prozentigen Glattschnittanteil über der gesamten Schnittfläche und geometrische Toleranzen im Bereich von IT6 bis IT9 zu erzeugen. Feinschneiden wird ausschließlich zum Ausschneiden von Formen angewendet. Das charakteristische Merkmal des Feinschneidverfahrens ist die aus der Preßplatte (Niederhalter) herausragende Ringzacke, die in das Stanzgitter des Blechs eingreift und zusammen mit dem Gegenhalterdruck und Stempeldruck einen Druckspannungszustand in der Schneidzone hervorruft. In-
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12 Aluminiumblechumformung
folge des hydrostatischen Spannungszustands in der Scherzone erhöht sich die Duktilität und die Rißbildung wird behindert. Nach (Haack et al 1977) sind die nicht aushärtbaren AlMg- und AlMg Mn-Legierungen im weichen Zustand gut feinschneidbar. Mit steigendem Kaltwalzgrad, z.B. im Zustand halbhart und hart, nimmt die Feinschneidfähigkeit ab. Aushärtbare Legierungen, z.B. AlSi1MgMn (6082) und AlCu4MgSi (2017A), sind im weichen Zustand gut, jedoch im kaltoder warmausgehärteten Zustand nur mit Schwierigkeit feinschneidbar. Eine eingehende, neuere Untersuchung des Feinschneidens von verschiedenen naturharten und aushärtbaren Aluminiumlegierungen in Dicken bis 8,3 mm macht deutlich, daß auch höher- und hochfeste Legierungen mit hohem Glattschnittanteil geschnitten werden können, sofern werkzeugseitig geeignete Anpassungen vorgenommen werden (Fritsch 2002). Dabei wird auch die Möglichkeit aufgezeigt, die Feinschneidbarkeit zu verbessern, wenn das Material vor dem Schneidprozeß durch Lösungsglühen und Abschrecken in einen weicheren Zustand versetzt wird. In Tabelle 12.3.2 sind nach (König et al. 1995) einige Angaben zur Feinschneidbarkeit verschiedener Aluminiumlegierungen wiedergegeben sind. Gemäß den in der zit. Quelle angegebenen Zugfestigkeitswerte wurden die jeweiligen Wärmebehandlungszustände interpretiert und ergänzt. Als Grenzen der schneidbaren Dicken werden maximal 20 mm angegeben. Tabelle 12.3.2 Feinschneidbarkeit von Aluminiumlegierungen nach (König et al. 1995) und anderen Quellen EN-AW
EN AW- Zustand
Rm [N/mm²] A50 [%] Feinschneidbarkeit **) *) *) Al99,5 1050A -0/H111 90 (max.) 20 – 35 1 AlMn 3103 -0/H111 130 (max.) 17 – 28 1 AlMg1 5005A -H12/H22 130 2 – 10 2 AlMg3 5754 -H12/H112 210 12 – 18 2 AlMg2Mn0,8 5049 -H112 210 12 – 18 2 AlMg4,5Mn0,8 5083 -H111 275 12 – 16 2 AlSi1MgMn 6082 -T61 280 10 – 12 2 AlCu4MgSi 2017A -T4 390 13 – 15 3 AlZn4,5Mg1 7020 -T6 360 7 – 10 3 *) Mindestwerte nach DIN EN 485-2; abhängig von der Materialdicke **) Feinschneidbarkeit: 1 = gut; 2 = mittel; 3 = schwierig
13 Sondergebiete der Umformtechnik
Als Sondergebiete der Weiterverarbeitung von Aluminium und seinen Legierungen werden im folgenden einerseits die Bearbeitung von Profilen und Rohren zu räumlich geformten Bauteilen und andererseits solche Verfahren behandelt, die durch die speziellen Umformbedingungen besonders hohe Umformgrade ermöglichen. Hierzu gehören die Halbwarmumformung und die superplastische Umformung. Die unter der Bezeichnung „Severe Plastic Deformation – SPD“ in jüngster Zeit bekannt gewordenen Prozesse eröffnen zwar ein Potential an neuartigen Gefügedimensionen, s. Abschn. 3.1.3, sind aber für praktische Anwendungen noch nicht genügend entwickelt und daher nicht Gegenstand der folgenden Betrachtungen.
13.1 Weiterverarbeitung von Profilen und Rohren Die Umformung von Aluminiumprofilen und -rohren ist eine interessante umformtechnische Herausforderung. Die Gestaltungsfreiheit des über der Länge unveränderten Profilquerschnitts wird ergänzt durch ebene oder räumliche Krümmungen der üblicherweise geraden Profil- bzw. Rohrachse mit Hilfe von Biegeprozessen bei annähernd gleichbleibenden Querschnitten sowie durch örtliche nÄderungen des Querschnitts mittels Stanzund Umformvorgängen. Infolge der elastisch-plastischen Spannungs- und Dehnungsgradienten ergeben sich bei den Umformoperationen Rückfederungen und Eigenspannungsfelder, die häufig einen Kalibriervorgang notwendig machen. Abgesehen von den Formgebungsverfahren Biegen, Prägen, Stanzen und örtliches Fließpressen spielt hierbei das Innenhochdruckumformen (IHU) eine herausragende Rolle. Die werkstofflichen Aspekte betreffen die geeigneten Ausgangszustände für die Weiterverarbeitung. Während Rohre, insbesondere nahtgeschweißte Rohre aus Walzmaterial, vielfach aus naturharten Legierungen in weichgeglühten Zuständen bestehen, werden Konstruktionsprofile vornehmlich aus aushärtbaren Legierungen hergestellt und im teil- oder vollausgehärtetem Zustand verformt, um den Aufwand der Wärmebehandlung zu vermeiden oder gering zu halten. In diesem Falle müssen der Ausgangszu-
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13 Sondergebiete der Umformtechnik
stand „stabil“ (lagerfähig) und die mechanischen Eigenschaften innerhalb enger Grenzen reproduzierbar sein, um die Formtoleranzen nach dem Prozeß einhalten zu können. Wird nach dem Umformvorgang eine Warmaushärtung vorgenommen, sind die Aushärtungsparameter unter Berücksichtigung des Ausgangszustands und des Umformgrades einzustellen. Betrifft der kritische Umformprozeß nur einen begrenzten Teil des Profils, kann durch eine Rückbildungsglühung ein vorübergehend weicherer und verformbarerer Zustand eingestellt werden. Zu diesem werkstofflichen Gesamtkomplex wird auf die Ausführungen in Abschn. 3.2, insbesondere auf Abschn. 3.2.5 Rückbildung der Kalt- und Warmaushärtung von AlMgSiLegierungen, verwiesen. 13.1.1 Biegen und Biegeverfahren Die Mechanik des Biegens ist in Bild 13.1.1 an einem einfachen Balkenquerschnitt dargestellt und führt zu Querschnittsänderungen und zu Restspannungen (Eigenspannungen). Diesen Restspannungen muß man bei Festigkeitsrechnungen und bei weiteren Verarbeitungsgängen wie Ausklinken, Zerspanen und Schweißen Rechnung tragen, vgl. Bild 13.1.2. Die Wahl der Biegeparameter und des Biegeverfahrens, die Legierungsfestigkeit und der Profilquerschnitt haben entscheidenden Einfluß auf die Einhaltung der Toleranzen und auf die Höhe des Verzuges.
Bild 13.1.1 Spannungs-Dehnungsverhältnisse beim Biegen von Profilen
13.1 Weiterverarbeitung von Profilen und Rohren
537
Bild 13.1.2 Verszug durch Lösen von Eigenspannungen beim Ausklinken von gebogenen Profilen
Abgesehen von Querschnittseinschnürung und Bruch bei Überschreiten der Biegefähigkeit des Profilmaterials sind die Grenzen des Profilbiegens durch Querschnittsverwölbungen, Beulen und Falten auf der Druckseite und durch unzulässige Querschnitts- und Wanddickenänderungen gezogen, wie in Bild 13.1.3 schematisch dargestellt ist.
Bild 13.1.3 Versagensgrenzen beim Profilbiegen: a) Verwölbungen, b) Beulen und Falten, c) Querschnittsverzerrungen und Wanddickenänderungen
Der Biegeprozeß kann heute mit FE-Modellierungen, z.B. mit den Programmen ABAQUS oder LS-DYNA, in Bezug auf die elastoplastischen Vorgänge simuliert werden, und sowohl die Rückfederungen als auch die örtlichen plastischen Instabilitäten können berechnet werden (Clausen et al. 2000, Clausen et al. 2001, Utsumi et al. 2002). Der Aufwand ist allerdings noch beträchtlich, obwohl im Einzelfall durch die Simulationsrechnungen Parameterstudien zur Prozeßoptimierung durchgeführt werden können, die ihrerseits auf experimentellem Wege sehr aufwendig sind.
538
13 Sondergebiete der Umformtechnik
Für die erste Abschätzung der Biegefähigkeit von Strangpreßwerkstoffen alternativ zu solchen Simulationsrechnungen können werkstoffspezifische Biegefaktoren fw verwendet werden, mit deren Hilfe Mindestbiegeradien ri, min für 90° Biegewinkel ermittelt werden können, die die Grenzverformung vor einer Anrißbildung darstellen (Hufnagel 1988). Für Volloder Hohlprofile mit einer Profilhöhe h > 10 mm und einem Wanddicken/Profilhöhe-Verhältnis von t/h ≥ 1/20 ergibt sich der Mindestbiegeradius ri, min nach der folgenden empirischen Beziehung ri, min = fw (0,8·h – 2)
(13.1.1)
Biegefaktoren fw für einige typische Strangpreßlegierungen enthält Tabelle 13.1.1 (Hufnagel 1988). Sicherheitshalber wird empfohlen je nach Profilform und besonders bei Mindestwanddicken t/h ≥ 1/10 von dem 1,5 bis 2fachen Wert des errechneten Mindestbiegeradius ri, min auszugehen. Tabelle 13.1.1 Richtwerte für Biegefaktoren fw von Strangpreßlegierungen in verschiedenen Verarbeitungszuständen Legierungs-Bez. EN AW- F-Werte1) im Zustand T6 Zulässige Biegefaktoren fw für den jeweiligen Zustand Rp0,2 Rm A5 0 (weich) T4 T5/T6 [N/mm²] [N/mm²] [%] Al MgSi 6060 160 215 12 2,0 4,8 Al MgSiMn 6106 200 250 10 2,2 5,0 Al Mg0,7Si 6063 195 245 10 2,2 5,0 Al SiMg(A) 6005A 225 270 8 2,4 5,0 Al Mg1SiCu 6061 245 260 9 2,5 5,2 Al Si1MgMn 6082 260 310 10 2,5 5,3 Al Zn4,5Mg1 7020 290 350 10 3,0 5,52) 1) Mindestwerte nach Norm 2) Nur mit zusätzlicher Warmauslagerung empfohlen (Gefahr von SpRK)
6,2 6,2 6,5 6,5 7,0 7,5 8,02)
Bei Konstruktionsprofilen handelt es sich allgemein um offene und Hohlprofile mit unterschiedlichen Massenverteilungen und Unsymmetrien des Querschnitts. Zur Verringerung von Biegetoleranzen und zur Vermeidung von vorzeitigem Versagen durch plastische Instabilität müssen Außenkonturen durch Formwerkzeuge („Biegeschuhe“) sowie Hohlräume und Hinterschneidungen durch flexible Metall- oder Elastomer-Kerne beim Biegen gestützt werden. Außerdem kann man den Profilquerschnitt biegegerechter auslegen, wie die Beispiele in Bild 13.1.4 illustrieren, wo-
13.1 Weiterverarbeitung von Profilen und Rohren
539
bei jeweils günstige und ungünstige Querschnittskonturen gegenübergestellt sind.
Bild 13.1.4 Biegegerechtes Gestalten von Profilen: ungünstige (oben) und günstige (unten) Querschnittsformen (Schnaas 1995). Bei allen dargestellten Beispielen liegt die Biegeachse horizontal in der Bildebene
Im Einzelnen handelt es sich um folgende Empfehlungen für die biegegerechtere Gestaltung des Profilquerschnitts (vgl. Bild 13.1.4): 1. Um Einfallstellen an ebenen Sichtflächen beim Biegen ohne Stützkern zu vermeiden, kann man die Wanddicke zur Biegeachse hin verdicken (A). 2. Der Querschnitt sollte in einer Weise ausgeführt sein, daß die Stützkerne nicht verklemmen und sich nach dem Biegen leicht entfernen lassen (B, C). 3. Gegebenenfalls ist es günstiger, den Querschnitt so abzuändern, daß die Stützkerne von außen eingelegt werden können, anstelle sie in eine Hohlkammer einzuschieben zu müssen (C). 4. Aus gleichem Grunde kann man versteifende Profilstege vorsehen, die nach dem Biegen durch Stanzen, oder spanende Bearbeitung entfernt werden (D). 5. Das Profil sollte möglichst entlang der Biegeachse einen symmetrischen Querschnitt haben (D, E).
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13 Sondergebiete der Umformtechnik
6. Auch sollten die Anlageflächen für Stützkerne möglichst eben sein (B, E). Die Grundverfahren des Biegens von Profilen und Rohren sind in Bild 13.1.5 dargestellt. Es handelt sich um das 3-Punkt-Biegen, das Gesenkbiegen, das Streckbiegen und das querkraftfreie Biegen. In der industriellen Praxis werden diese Verfahren z.T. kombiniert verwendet.
Bild 13.1.5 Grundverfahren des Profil- und Rohrbiegens
Mit den Verfahren des partiellen Drei-Punkt-Biegens und des Biegens durch örtliches Stauchen und Strecken kann man bei geeigneten Profilquerschnitten durch die segmentweise bzw. örtlich eingebrachte Verformung enge Biegeradien verwirklichen, s. Bild 13.1.6.
Bild 13.1.6 Biegen durch örtliches Umformen: a) Partielles Drei-Punkt-Biegen, b) Biegen durch örtliches Stauchen oder Strecken (Verfahren der Fa. Eckold)
Das Drei- und Vierrollenbiegeverfahren, s. Bild 13.1.7, wird vorzugsweise für das 2D-Biegen von Rohren und Profilen, also für das ebene Biegen, eingesetzt. Diese Verfahren eignen sich für offene und geschlossene, z.T. komplizierte und unsymmetrische Profilquerschnitte. Für das 3D-Bie-
13.1 Weiterverarbeitung von Profilen und Rohren
541
gen müssen Mehrrollenbiegemaschinen mit Mehrachsenantrieben verwendet werden, eignen sich aber nur für das Biegen von Rohren. Für das Biegen von offenen und geschlossenen Profilen mit komplexen und unsymmetrischen Querschnitten in ebenen und räumlichen Konturen wird vorzugsweise das Streckbiegen eingesetzt, da durch die Verlagerung der neutralen Achse gegenüber dem Rollenbiegen engere Radien ohne Beulversagen hergestellt werden können. Zu den Verfahrensprinzipien siehe Bild 13.1.8.
Bild 13.1.7 Ebenes und räumliches Drei- und Mehrrollen-Profilbiegen (Schnaas 1995)
Bild 13.1.8 Profilbiegen mit Streckziehkombinationen für komplexe Profilquerschnitte (Schnaas 1995)
Die Entwicklung einer großserientauglichen Biegetechnik für Profile und Rohre wurde in den vergangenen Jahren durch das Interesse der Automobilindustrie an Tragrahmenstrukturen erheblich befruchtet. Vollertsen u. Mitarb. geben einen Überblick über den Stand der Verfahrensentwicklung (Vollertsen et al. 1999). Durch die Verbreitung der Innenhochdruckumformung wurden Biegeverfahren für das Vorformen von Rohren und Profilen notwendig, die hohe Produktivität voraussetzen, aber gleichzeitig auch minimale Querschnittsänderungen und enge Toleranzen bei
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13 Sondergebiete der Umformtechnik
den Wanddicken. Hierzu zählen sehr alte Verfahren wie das Preßbiegen in elastische Formmatrizen (Rubber Pad Bending) (Lee et al. 2003), sowie neuere Entwicklungen wie das Stoßbiegen im starren Werkzeug (Baudin et al. 2004) und das Freiformbiegen (Neugebauer et al. 2002, Gantner et al. 2005), das in Bild 13.1.9 dargestellt ist. Bei letzterem Verfahren kann eine kontinuierliche 3D-Biegeverformung vorgenommen werden, der Mindestbiegeradius beträgt jedoch etwa das 3-fache des Rohrdurchmessers.
Bild 13.1.9 Schematische Darstellung des Freiformbiegens (Gantner et al. 2005)
13.1.2 Örtliche Querschnittsänderungen Ein Paradebeispiel für vielfältige örtliche Querschnittsformänderungen sind Strangpreßprofile für Automobilstoßfänger. Es handelt sich hierbei um Großserienherstellung, d.h. die Formgebungsprozesse müssen großserientauglich sein. Einige Beispiele für Stoßfängerformen sind in Bild 13.1.10 dargestellt. Zu den häufig verwendeten Bearbeitungsverfahren zählen: • • • • • •
Örtlich unterschiedliche Kaltumformung im Biegeprozeß, Ausstanzen, Ausklinken, Lochen, Prägen, Abkanten (von Flanschsegmenten), Entgraten sowie gelegentlich Materialverdickung durch Kaltfließpressen und Fließlochbohren.
Bei der Stoßfängerherstellung aus den 6xxx und 7xxx Legierungsgruppen wird bevorzugt das Gesenkbiegeverfahren angewendet, gelegentlich mit zusätzlichen Streckziehoperationen. Gleichfalls werden möglichst
13.1 Weiterverarbeitung von Profilen und Rohren
543
gleichzeitige Präge- und Stanzvorgänge integriert. Lokale Kaltumformung mit z.T. erheblichen Formänderungsgraden kann besonders dann im Biegeprozeß vorgenommen werden, wenn in die Produktionskette ein Lösungsglühprozeß eingeschlossen ist, da das frisch abgeschreckte Material besonders gut umformbar, aber die Lagerdauer in diesem Zustand kritisch ist.
Bild 13.1.10 Beispiele für Stoßfängerformen aus stranggepreßtem Vormaterial (Quelle: Hydro-Aluminium, Raufoss)
Entscheidend ist, daß der Ausgangsquerschnitt des Profils den nachfolgenden Umformoperationen angepaßt ist. Bild 13.1.11 zeigt ein Beispiel für einen Stoßfänger mit verschiedenen Querschnittsänderungen über der Profillänge sowie die Form des Ausgangsprofils. Ausstanzen (Ausklinken), Lochen, Prägen, Hochstellen und Abkanten von Flanschsegmenten zeigt Bild 13.1.12 an einem gebogenen Stoßfängerprofil. Außerdem erkennt man verschiedene durch Fließpressen erzeugte örtliche Flanschverdickung für Schraublöcher sowie einen fließgepreßten Zapfen für Montagezwecke. Örtliche Verdickung der Wanddicke zum Zwecke von Gewindelöchern erzielt man auch durch Fließlochbohren, s. Bild 13.1.13. Die erreichbaren Festigkeitswerte für Schraubverbindungen sind allerdings im Einzelfall zu erproben, da durch die entstehende Wärme es beim Fließlochbohren zu Entfestigungen des Gefüges kommen kann, denen man Rechnung tragen muß.
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13 Sondergebiete der Umformtechnik
Bild 13.1.11 Anpassung der Biegesteifigkeit eines stranggepreßten Stoßfängerprofils durch örtliche Querschnittsänderungen mittels Kaltumformen. (Quelle: Hydro-Aluminium, Raufoss)
Bild 13.1.12 Stoßfängerprofil, gebogen und mit diversen Bearbeitungen: a) Flanschsegment, hochgestellt mit Stanzung und Schraubgewinde, b) Lochstanzungen, c) Abkantung, d) und e) durch Fließpressen erzeugt: verdicktes Schraubgewinde und Montagezapfen, f) Prägung (Quelle: Hydro-Aluminium, Raufoss)
Bild 13.1.13 Fließlochbohren zur Verstärkung von Profilwanddurchbrüchen
13.1 Weiterverarbeitung von Profilen und Rohren
545
13.1.3 Innenhochdruckumformen Unter dem Begriff „Innenhochdruckumformen“ (IHU) wird ein Umformverfahren für – in der Regel – rohrförmige Ausgangsformteile verstanden, mit dem die drei Grundformgebungen • Aufweiten • Durchsetzen und • Kalibrieren vorgenommen werden können (Dohmann et al. 1993). Die Umformkräfte werden durch gleichzeitige Wirkung eines hydraulischen Innendrucks pi und einer axialen Umformkraft Fu in das Werkstück eingebracht, bis die Rohrwandung an der Werkzeugwand anliegt. In Bild 13.1.14 sind diese Verfahrensvarianten schematisch dargestellt.
Bild 13.1.14 Verfahrensprinzipien Aufweiten, Durchsetzen und Kalibrieren des Innenhochdruckumformens. Es bedeuten: pi = Innendruck, Fu = Umformkraft und Fg = Gegenhalterkraft, nach (Dohmann et al. 1993)
Die Steuerung des Verfahrensablaufs wird bestimmt durch die Einhaltung von Verfahrensgrenzen, die durch die Abstimmung zwischen Innendruck, pi, und Umformkraft, Fu, gesetzt sind. Die Höhe des Innendrucks darf den Berstdruck nicht überschreiten, die Grenzwerte der Umformkraft sind einerseits durch den notwendigen Dichtdruck und andererseits durch Instabilitätskriterien, wie Knicken des Rohres und Faltenbildung gegeben. Die eingeleiteten Kräfte müssen darüber hinaus die Reibungskräfte kompensieren. Um die Wanddickenreduzierungen beim Aufweiten möglichst gering zu halten, muß die Stauchkraft, Fu, nahe an der Knicklast gefahren werden. In zahlreichen Studien wurde demonstriert, daß der IHU-Prozeß sowie die Vorverformungsstufen mit Hilfe von FE-Codes (LS-DYNA, PAMSTAMP) recht zuverlässig simuliert werden können, was heute als uner-
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13 Sondergebiete der Umformtechnik
läßliche Voraussetzung für die Fertigungsoptimierung angesehen wird, s. z.B. (Dohmann et al 2004) und (Hartl 2005). Die mittelfesten, naturharten AlMg-Legierungen, wie z.B. AlMg3, AlMg3,5Mn und AlMg4,5Mn0,7, können bei genügender Seriengröße als Schweißrohre für die IHU-Verarbeitung verwendet werden, s. Beispiele in Bild 13.1.15 und Bild 2.1.11. Schweißrohre haben den Vorteil geringer Durchmesser- und Wanddickentoleranzen, die enger als die Toleranzfelder von Strangpreßhohlprofilen sind, setzen aber eine großvolumige Fertigung voraus. Schweißrohre aus naturharten Legierungen können außerdem im Zustand weich (0/H111) und in teilverfestigten Zuständen eingesetzt werden, um im verformten Endzustand verschiedene Festigkeitsanforderungen zu erfüllen.
Bild 13.1.15 Mit Innenhochdruck umgeformte und kalibrierte Rohrelemente (Enden bearbeitet) aus Schweißrohren der Legierung AlMg3,5Mn für einen geschweißten Hinterachsrahmen (Quelle: BMW AG)
Aushärtbare Strangpreßlegierungen, z.B. AlMgSi (EN AW-6060), sind dagegen wegen der geringeren Werkzeugkosten weniger an großvolumige Seriengrößen gebunden und werden zweckmäßigerweise im Zustand T4 (stabilisiert) verformt. Sie haben darüber hinaus den Vorteil, daß durch entsprechende Gestaltung des Querschnitts komplexere Formen erzeugt werden können. Die Gestaltungsfreiheit ist allerdings durch die Grenzen des IHU-Prozesses eingeschränkt. Bild 13.1.16 gibt einige Querschnittsbeispiele wieder, die für Innenhochdruckumformen geeignet sind. Der Audi-A2 Dachlangträger in Bild 2.1.21 ist ein praktisches Beispiel für stranggepreßte und IHU-geformte und -kalibrierte Hohlprofile. Der Dachlangträger in Bild 2.1.21 enthält außerdem mehr als 30 Durchbrüche, die gleichzeitig bei der IHU-Umformung gestanzt wurden. Beim Stanzen von Durchbrüchen im IHU-Prozeß unterscheidet man zwischen aktivem und passivem Stanzen von Durchbrüchen. Die beiden Verfahrens-
13.2 Halbwarmumformen
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Bild 13.1.16 Strangpreßprofilformen, die für das Innenhochdruckumformen geeignet sind
varianten sind schematisch in Bild 13.1.17 dargestellt. Beim aktiven Lochverfahren ist die Stanzkraft unabhängig vom Innendruck, der Stanzrest fällt in das Werkstück und die stanzbare Lochgröße ist nahezu unbeschränkt. Beim passiven Lochen ist die Lochgröße vom verfügbaren Innendruck abhängig, die Geometrie des Lochrandes ist genauer als beim aktiven Verfahren, aber für die Entsorgung des Stanzrestes müssen maschinenseitig besondere Vorkehrungen getroffen werden.
Bild 13.1.17 Aktives (links) und passives (rechts) Stanzen von Durchbrüchen beim Innenhochdruckumformen
Bei der konstruktiven Auslegung von IHU-Teilen ist auf die Grenzen der Verformbarkeit des Werkstoffs im Verlauf der gesamten Fertigungskette zu achten. Zwischenglühungen bei unzureichender Verformbarkeit oder nachträgliches Lösungsglühen bergen die Gefahr von Grobkornbildung, weil bei IHU-Formteilen nicht von gleichmäßig hohen Formänderungsgraden und homogener Formänderungsverteilung ausgegangen werden kann (Hanicke et al. 1996).
13.2 Halbwarmumformen Die Duktilität und Umformbarkeit von Aluminiumwerkstoffen nehmen mit steigender Temperatur erheblich zu, gleichzeitig nimmt der Fließwider-
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13 Sondergebiete der Umformtechnik
stand ab. Ein deutlicher Effekt wird bereits bei Temperaturen von 150 °C und darüber hinaus sichtbar. Den Temperaturbereich bis etwa 300 °C bezeichnet man umformtechnisch als den Bereich der Halbwarmumformung, da keine nÄderung des Korngefüges durch Rekristallisation stattfindet. Die Veränderungen des plastischen Verhaltens in diesem Temperaturbereich sind in Abschn. 6.6.4 erläutert. Charakteristisch ist die Abnahme des Verfestigungsvermögens bei gleichzeitiger Zunahme der Dehnratenempfindlichkeit. Halbwarmumformen kann sinnvoll dort eingesetzt werden, wo die Duktilitätsgrenzen bei Raumtemperatur mehrstufige Umformprozesse mit entsprechend hohen Werkzeugkosten und Fertigungszeiten erforderlich machen. Als Werkstoffe für das Halbwarmumformen sind vor allem die naturharten Legierungen in weichen oder verfestigten Zuständen geeignet, wogegen bei kalt- oder warmausgehärteten Werkstoffen die Umformwärme den Ausscheidungszustand verändert und die positiven Einflüsse des Prozesses nicht oder nur ungenügend zum Tragen kommen. Bei den naturharten AlMg-Werkstoffen tritt außerdem in diesem Temperaturbereich das Fließfigurenphänomen des PLC-Effektes nicht mehr auf, s. Abschn. 3.2.3 und Bild 3.2.11, so daß auch Umformteile mit dekorativen Anforderungen hergestellt werden können. Halbwarmumformen eignet sich für Umformprozesse wie Fließpressen, Biegen und Innenhochdruckumformen. Bei letzterem Verfahren stehen als Druckmedien je nach Betriebstemperatur sowohl Mineralöle als auch Gas zur Wahl (Hartl 2005). In besonderer Weise wird auch die Tiefziehbarkeit bei der Blechumformung verbessert und dies um so mehr, wenn durch Kühlung des Stempels die Tiefziehgrenze durch Bodenreißer hinausgeschoben wird, s. Bild 13.2.1. Bild 13.2.2 enthält Ergebnisse von Tiefziehversuchen im Halbwarmumformbereich an dem Karosseriewerkstoff EN
Bild 13.2.1 Halbwarmumformen eines quadratischen Doppelnapfes aus Legierung AA5182-0. Werkzeugaufbau mit beheizter Matrize und Niederhalter und gekühltem Stempel, nach (Abe et al. 1994)
13.3 Superplastische Umformung
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Bild 13.2.2 Grenzziehverhältnisse von AlMg4,5Mn04 (EN AW-5182-0) beim Halbwarmumformen in Abhängigkeit von Temperatur und Ziehgeschwindigkeit. Blechdicke 1 mm (Schmoeckel et al. 1994)
AW-5182-0 bei unterschiedlichen Ziehgeschwindigkeiten (Schmoeckel et al. 1994). Die Erhöhung des Grenzziehverhältnisses beim Halbwarmumformen ist besonders deutlich bei geringen Ziehgeschwindigkeiten, aber auch bei hohen Ziehgeschwindigkeiten noch von praktischem Interesse. Beim Halbwarmumformen versagen die üblichen, für Raumtemperaturumformung eingesetzten Schmierstoffe. Für die Beherrschung der Reibungsverhältnisse bei erhöhten Temperaturen gibt es u.a. Lösungsansätze mit MoS2-haltigen Seifen, synthetischem Ester und Mehrschichtlacksystemen. Insbesondere den letzteren wird ein gute Chance für die Halbwarmumformung von vorlackiertem Aluminiumblechmaterial eingeräumt.
13.3 Superplastische Umformung 13.3.1 Mechanismen und Werkstoffe Superplastizität ist die Eigenschaft von polykristallinen Metallen, unter Streckziehbeanspruchung extrem hohe Bruchdehnungen zu erzielen. Es werden Bruchdehnungswerte von 100 bis 800 %, im Extremfall bis über 2000 % erreicht. Superplastizität im üblichen Sinne beruht auf dem Verformungsmechanismus des Korngrenzengleitens bei hohen Warmformgebungstemperaturen T/Ts > 0,7 und geringen Dehnungsgeschwindigkeiten von 10-5 bis 10-3 1/s (Mukherjee 1979). Trotz zahlreicher Modellvorstellungen scheint der Mechanismus des Korngrenzengleitens noch nicht endgültig geklärt. Neuerdings wird kooperatives Korngrenzengleiten in der
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13 Sondergebiete der Umformtechnik
Form mesoskopischer Scherbänder diskutiert, die demnach keinen kristallographischen Bezug haben (Kaibyshev et al. 2005). Die langsame Formänderungsgeschwindigkeit ist Ausdruck (selbst-)diffusionskontrollierter Mechanismen (d.h. Korngrenzendiffusion und Versetzungsklettern), um das Korngrenzengleiten zu ermöglichen (Shin et al. 1997). Werkstoffseitige Voraussetzungen sind extrem geringe Korngrößen (2 bis 10 µm Korndurchmesser), ein hoher Widerstand gegen Kornwachstum durch fein verteilte Dispersionen und einer Dehnratenempfindlichkeit m ≈ 0,5 entsprechend Gl. (6.5.1). Bild 13.3.1 zeigt am Beispiel der Legierung AA7475 den großen Einfluß der Korngröße in Kombination mit der Umformtemperatur und der Formänderungsgeschwindigkeit auf die erzielbare Höhe der Bruchdehnung (Hirose et al. 1987).
Bild 13.3.1 Einflüsse von Korngröße, Umformtemperatur und Umformgeschwindigkeit auf das superplastische Verhalten der Legierung 7475 (Hirose et al. 1987)
Optimale superplastische Fließbedingungen erhält man durch die richtige Kombination von Umformtemperatur und Umformgeschwindigkeit, die beispielsweise für die Legierung AA7475 entsprechend Bild 13.3.1 bei 515 °C und bei ϕ& = 2 ⋅ 10 −4 s-1 liegen. Bild 13.3.2 läßt erkennen, daß diese optimalen Fertigungsbedingungen mit der Hochlage des m-Wertes in Zusammenhang steht. Die Festigkeitseigenschaften superplastischer Legierungen decken die Bandbreite mittel- bis hochfester Legierungen ab. Sie sind mit der Ausnahme von AA5083SPF den aushärtbaren Legierungsgruppen zuzuweisen und bedürfen nach der Formgebung in der Regel einer vollständigen Wärmebehandlung. Die Erzeugung des extrem feinen Korns beruht auf einer
13.3 Superplastische Umformung
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Bild 13.3.2 Charakteristische Fließeigenschaften der superplastischen Legierung 7475 bei 515 °C. Einfluß der Dehnrate auf die Fließspannung und den m-Wert. Beanspruchung parallel zur Walzrichtung (Schmidt 1994)
Sequenz thermomechanischer Fertigungsschritte. Vor der letzten Rekristallisationsglühung müssen sehr hohe Kaltwalzgrade (über 60 bzw. über 80 %) vorgesehen werden. Eine derartige Fertigungsprozedur ist daher bei Blechen auf den Kaltwalzdickenbereich beschränkt. Die superplastischen Legierungen enthalten darüber hinaus eine reichere Dispersion an feinen, thermisch stabilen Ausscheidungen, die das Kornwachstum während des Umformprozesses behindern müssen. Kornvergröberung würde die superplastischen Eigenschaften beim Prozeß vermindern und die Fließspannung deutlich erhöhen, s. (Carrino et al. 1997). Die Beschränkung auf geringe Prozeßgeschwindigkeiten der superplastischen Umformung sowie die hohen Arbeitstemperaturen sind ein Handicap für den wirtschaftlichen Einsatz in Großserienfertigungen. Von Interesse ist daher die Entdeckung sog. „Hochgeschwindigkeitssuperplastizität“ (HSRS = High Strain Rate Superplastizity) bei partikelverstärkten Aluminiumlegierungen (Mishra et al. 1997). Die Dehnraten für superplastisches Verhalten werden dabei auf etwa 10-2 bis 10-1 1/s erhöht. Auf anderen Mechanismen beruht die sog. „Grobkornsuperplastizität“ oder „QuasiSuperplastizität“ von AlMg-Legierungen (Woo et al. 1997, Yoshida et al.), die zwar geringere Dehnungen von etwa 250 bis 350% bei einem m-Wert von 0,3 und Temperaturen um 450 °C, jedoch bei Dehnraten von 10-2 bis 10-1 1/s ergeben. Der Mechanismus beruht anscheinend auf einer dynamischen, feinkörnigen Umkristallisation des grobkörnigen Grundmetalls (KG ≈ 100–150 µm) (Soer et al. 2006). Feinkornsuperplastizität ist auch bei AlMgSc-Legierungen zu erwarten und läßt sich auch durch sog. Severe Plastic Deformation (SPD) erzeugen. Derartige Halbzeuge sind aber noch keine Standardware.
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13 Sondergebiete der Umformtechnik
Eine Übersicht über gängige superplastische Legierungen sowie Angaben zu den Prozeßparametern, Festigkeitswerten und Anwendungshinweise enthält Tabelle 13.3.1. Tabelle 13.3.1 Superplastisch umformbare Aluminiumlegierungen Bemerkungen Prozeß- Dehn- Deh- Festigkeitskennwerte temp. rate nung, max. ϕ& T Rm A5 Rp0,2 εmax [s-1] [%] [N/mm²] [N/mm²] [%] [°C] 120 200 7 für unkritische AA 2004 SPF 450-480 10-3 700 300 (T6) 420 (T6) 5 (T6) Bauteile, nicht (AlCu6Zr0,4) für PrimärSupral 100 struktur AA 5083 SPF 490-540 10-3 300 150 300 20 für Fassaden(AlMg4,5Mn) 490-540 elemente, 350-450 Supral 5000 PKW-Teile, Formall 545 untergeordSuplastal 5083 nete Struktur AA 7475 SPF 500-540 5⋅10-4 450 520 575 10 Einsatz für (AlZn5,5MgCu) Primärstruktur möglich Formall 700 AA 8090 SPF 510-545 5⋅10-3 600 380 490 -- in Verbindung (Al mit Diffusi-10-2 420 Li2,5Cu1,5Mg1) onsschweißen Lital Legierung / Handelsname
13.3.2 Verfahren der superplastischen Blechumformung Bei der superplastischen Umformung unterscheidet man die Verfahrensvarianten Matrizenumformung und Patrizenumformung wegen charakteristischer Formteilmerkmale bezüglich ihres Einsatzes. Sie sind in den Bilder 13.3.3 und 13.3.4 dargestellt. Das Matrizenverfahren arbeitet mit einer Negativform. Das Blech ist während der gesamten Umformung fest im Flansch zwischen oberer und unterer Druckkammer eingespannt. Ein Nachfließen in den Werkzeuginnenraum ist somit unterbunden. Die Umformzone entspricht daher der Platinenmembranfläche innerhalb des Werkzeugs. In der ersten Phase findet aufgrund der Gasdruckdifferenz zwischen Ober- und Unterseite der Blechmembran ein freies Umformen (pneumatisches Tiefen) in Richtung des geringeren Drucks statt. Mit zunehmender Tiefe kommt es in der zweiten Phase zu Werkzeugkontakten. Die Gasmembran teilt sich auf in Un-
13.3 Superplastische Umformung
553
termembranen. Dies führt zu unterschiedlichen Geschwindigkeitsverhältnissen und damit zu einem inhomogenen Werkstofffluß. Ferner kommt es durch die Reibkontaktzonen zu örtlichen Fließbehinderungen. Die Folge ist eine ungünstige Wanddickenverteilung. Die Bauteilaußenseite wird maßgenau abgebildet.
Bild 13.3.3 Schematischer Verfahrensablauf bei der Matrizenumformung
Das Patrizenverfahren arbeitet mit einer Positivform. In der ersten Phase findet ebenfalls ein freies Umformen (Pneumatisches Tiefen) in Richtung des geringeren Drucks statt. Beim Erreichen ausreichender Beultiefe wird in der zweiten Phase die Positivform, der Werkzeugstempel, in die Blase hineingefahren und der Werkstoff durch Umkehr der Druckrichtung zur Anlage gebracht. Es kommt erst wesentlich später als bei der Matrizenumformung zu Reibkontakten und örtlichen Untermembranen. Die Folge ist eine günstigere Wanddickenverteilung als bei der Matrizenumformung.
Bild 13.3.4 Schematischer Verfahrensablauf einer superplastischen Umformung nach dem Patrizenverfahren
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13 Sondergebiete der Umformtechnik
Für die Modellierung der Wanddickenveränderungen, die bei konstruktiven Auslegungen zu berücksichtigen ist, empfehlen sich verschiedene Modellansätze (Carrino et al. 1997).
14 Spanende Formgebung von Aluminium
Aluminiumwerkstoffe haben allgemein eine ausgezeichnete Zerspanbarkeit: • vergleichsweise geringe Schnittkräfte (400–700 N/mm² im Vergleich zu 1500-2500 N/mm² für Stahlwerkstoffe), • hohe Werkzeugstandzeiten, • hohe Produktivität durch hohe Schnittgeschwindigkeiten. Die Entwicklung der Hochgeschwindigkeitszerspanung (HSC, HPC, HSM)1 hat gerade für die Aluminiumbearbeitung eine große wirtschaftliche Bedeutung erlangt, z. B. im Flugzeugbau, im Formen- und Werkzeugbau, in der Bearbeitung von Formgußteilen im Motoren- und Getriebebau sowie im Maschinenbau. Beispiele s. Bilder 2.5.3, 2.7.2 und 14.0.1.
Bild 14.0.1 Maschinenbauteil, hergestellt durch spanende Formgebung aus einer Walzplatte der Legierung EN AW-7075-T651 (Quelle: Aleris-Koblenz (ehem. Corus Aluminium)) 1
HSC = High Speed Cutting, HPC = High Performance Cutting, HSM = High Speed Machining)
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14 Spanende Formgebung von Aluminium
Alle üblichen Verfahren, die zur spanenden Bearbeitung von Stählen und anderen Metallen geeignet sind, können auch beim Spanen von Aluminium angewendet werden. Werkzeuge und Werkzeugmaschinen zur Aluminiumbearbeitung müssen jedoch eine Anzahl von Anforderungen erfüllen, um befriedigende Ergebnisse zu erzielen. Insbesondere die benötigten hohen Schnittgeschwindigkeiten erfordern den Einsatz von modernen Schneidwerkstoffen, von Maschinen, die sehr robust sind und u.a. mit speziellen Hochgeschwindigkeitslagern und Einspannvorrichtungen ausgestattet sein müssen. Die Einspannvorrichtungen und Werkzeuge müssen sehr hohen Zentrifugalkräften bei Drehzahlen bis 50.000 U/min und darüber standhalten können. Bestimmte Regeln, die bei der Aluminiumzerspanung beachtet werden müssen, haben ihren Ursprung im Prozeß der Spanbildung: ungeeignete Spanform kann ein zu großes Spanvolumen verursachen; Anhaften von Aluminium an der Werkzeugoberfläche kann sich negativ auf die Werkzeugstandzeit und die erzeugte Oberflächengüte auswirken. Schnittgeschwindigkeit, Vorschub, Werkzeuggeometrie, Schneidwerkstoffe und Kühlschmiermittel müssen daher der zu bearbeitenden Aluminiumlegierung und dem Zerspanungsprozeß angepaßt sein. Die erwähnten Probleme bei der Aluminiumbearbeitung können vermieden werden, wenn man bestimmte Vorsichtsmaßnahmen ergreift, die unter den folgenden Faktoren zusammengefaßt werden: • • • •
Zerspanbarkeit der zu verwendenden Aluminiumlegierung, Auswahl der geeigneten Schneidwerkzeuge, Auswahl der geeigneten Werkzeugmaschine, Auswahl der geeigneten Prozeßparameter und -bedingungen (Maschineneinstellungen, Schmier- und Kühltechnik, usw.).
Für eine ausführliche Darstellung der Zerspanungstechnik wird auf die weiterführende Literatur verwiesen, z.B. (Klocke 2006, Tönshoff 2004, Johne 1984).
14.1 Spanbildung Die Spanbildung beruht auf einer Scherverformung durch den Eingriff der Schneidkante des Werkzeugs in das Werkstück mit vorgegebener Schnitttiefe a und Schnittgeschwindigkeit v. Dabei spielen die geometrischen Verhältnisse (Spanwinkel γ, Freiwinkel α, etc.) des Werkzeugs an der Schnittstelle eine wesentliche Rolle für die Lage der Scherzone (Scherwinkel φ), die Schnittkräfte und die Höhe der Scherverformung ϕ. Die
14.1 Spanbildung
557
Verhältnisse bei der Spanbildung sind schematisch in Bild 14.1.1 dargestellt und sind in Bild 14.1.2 für Drehbearbeitung einer Aluminium-Gußlegierung illustriert.
Bild 14.1.1 Schematische Darstellung der Spanbildung (bei Orthogonalschnitt)
Bild 14.1.2 Spanbildung beim Drehen eines Kokillengußstücks aus AlSi10Mg(a). Glatter Spanablauf bei v = 1000 m/min (links, a); Aufbauschneidenbildung bei v = 25 m/min (rechts, b). Nach Opitz und Beck (Quelle: Johne 1984)
In der schmalen, primären Scherzone treten nach verschiedenen Untersuchungen Scherdehnungen in der Größenordnung von ϕ ≈ 1,5–4 und – abhängig von der Schnittgeschwindigkeit v – Dehnungsgeschwindigkeiten zwischen ϕ& ≈ 103 und 106 s-1 auf ( s. hierzu Abschn. 6.9). Unmittelbar an der Schneidkante des Werkzeugs wird die Schnittkraft eingeleitet und bewirkt eine Stau- oder Haftzone mit anschließender Gleitzone zwischen Spanfläche und Werkzeug, s. Bild 14.1.1. Infolge der Verformungsarbeit entstehen in der primären Scherzone nach Untersuchungen von Jaspers
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14 Spanende Formgebung von Aluminium
(Jaspers 1999, Jaspers et al. 2002) Temperaturen von 190 °C beim trockenen, ungekühlten Spanen (Drehen) von AlSi1MgMn (EN AW-6082-T6) und mit den gegebenen Schnittgeschwindigkeiten von 120–480 m/min. Die Temperatur der Scherzone ist kaum beeinflußt durch Schnittgeschwindigkeit und Schnittiefe bzw. Spanungsdicke. Allerdings nimmt der Betrag der Vergleichsdehnung in der Scherzone mit zunehmender Schnittgeschwindigkeit oder Schnittiefe ab, wofür als Ursache geringere Reibung durch (relativ) reduzierte Kontaktlänge zwischen Span und Werkzeug vermutet wird. Durch den abfließenden Span entwickelt sich in der Stau- und Gleitzone zwischen Span- und Werkzeugoberfläche Reibungswärme. Bei der Legierung EN AW-6082-T6 wurden Spantemperaturen von 400° bis 500 °C gemessen (Jaspers 1999). In einer anderen Untersuchung an der höher festen Legierung AA7075(-T6) wurden bei v = 600 m/min Spantemperaturen zwischen 500° und 700 °C ermittelt (Müller-Hummel et al. 1995). Scherzonen- und Reibungswärme werden überwiegend vom Span sowie über die Spanfläche vom Werkzeug aufgenommen. Der Wärmefluß in das Werkstück ist abhängig von den Kühlbedingungen; bei Trockenzerspanung und hohen Schnittgeschwindigkeiten (HSC) beträgt der Wärmefluß ins Werkstück weniger als 5% der Gesamtwärmeentwicklung (Richardson et al. 2006). Die Wärmeentwicklung des Prozesses nimmt mit größerer Schnittiefe und höherer Schnittgeschwindigkeit zu, der Wärmefluß ins Werkstück und die Spantemperatur durch das größere Spanvolumen jedoch ab (Jaspers 1999). Insgesamt sind die Temperaturen bei der Aluminiumzerspanung aber zu gering, um Ursache für den Verschleiß der verwendeten Schneidstoffe zu sein, der im wesentlichen auf Abrieb durch Hartpartikel des Gefüges und auf der Bildung von Aufbauschneiden beruht (Yoshikawa et al. 1999). Bei der Spanbildung trifft blanke, ungeschützte Aluminiumoberfläche auf die Werkzeugschneide, wodurch je nach Art des Schneidenmaterials Haftreibung entstehen kann und die Gefahr der Bildung einer Aufbauschneide besteht, wie in Bild 14.1.2b zu erkennen ist. Die Aufbauschneide besteht aus relativ hochverfestigtem Material und übernimmt die Funktion der Schneidkante. Dadurch verschlechtert sich die Qualität der Oberfläche und die geometrische Exaktheit. Die Bildung von Aufbauschneiden kann durch Schmiermittel, größere Spanwinkel und durch höhere Schnittgeschwindigkeiten vermieden werden. Letztere sollten je nach Schnittbedingungen und Legierung über einem Grenzwert von v = 40–100 m/min liegen. Die hohen Temperaturen in der Stau- und Gleitzone können die SolidusTemperatur des Aluminiumwerkstoffs überschreiten und damit zu ober-
14.2 Spanformen bei Aluminiumwerkstoffen
559
flächlichen Anschmelzungen im Span führen. Das teigige Material wird in der Kontaktzone herausgedrückt und bildet, vorzugsweise an der Freifläche des Werkzeugs, einen sog. Scheinspan. Scheinspanbildung tritt bevorzugt bei hochlegierten Gußlegierungen mit entsprechend breitem SolidusLiquidusbereich auf, s. Angaben in Tabelle 14.4.1. Die Berührung zwischen Scheinspan und Werkstückoberfläche verhindert eine einwandfreie Oberflächengüte. Die Scheinspanbildung wird durch hohe Schnittgeschwindigkeiten, aber auch durch den Verschleiß der Werkzeugschneide begünstigt.
14.2 Spanformen bei Aluminiumwerkstoffen Das Verhältnis von Spanvolumen zu zerspantem Werkstoffvolumen kann je nach Spanform um Größenordnungen schwanken. Da die Späne aus dem Arbeitsraum abgeführt werden müssen, ist die geeignete Spanform daher ein wichtiges Zerspanbarkeitskriterium. Band- und Wirrspäne sowie sehr kurze Bröckelspäne sind problematisch, günstiger sind kurze zylindrische Wendelspäne, Spiralwendelspäne und Spiralspäne. Die Spanform ist abhängig von der Duktilität und Homogenität der Legierung, den Schnittbedingungen und von der Werkzeuggestaltung. Die Spanform bewegt sich bei Aluminium in weitesten Grenzen. Allgemein gilt die Grundregel: Je größer Härte und Festigkeit des Aluminiumwerkstoffes, desto kürzer brechen die Späne. Für die verschiedenen Werkstofftypen bedeutet dies: • Reinaluminium und weiche Knetwerkstoffe sind extrem langspanend und machen meist spezielle Maßnahmen (z.B. Spanleitung und Spanbrecher am Werkzeug) erforderlich. • Knetwerkstoffe höherer und höchster Festigkeit bereiten im Hinblick auf die Spanform keine Probleme, sofern die Schnittbedingungen darauf abgestellt sind. • Untereutektische Gußwerkstoffe bilden kleine Wendel- und Spiralspäne, die gleichfalls gut abzuführen sind. • Eutektische Gußwerkstoffe neigen zu längeren Spänen. • Übereutektische Gußlegierungen (z.B. Kolbenlegierungen) bilden kurze Bröckelspäne, die u.U. schwierig abzuführen sind. • Eine Sonderstellung nehmen in dieser Hinsicht die Automatenlegierungen ein, denen speziell zur Verbesserung des Spanbruchs niedrigschmelzende Metalle (z.B. Pb, Bi, Sn) zugesetzt sind.
560
14 Spanende Formgebung von Aluminium
Bei ein und demselben Werkstoff können je nach Schnittbedingungen und Werkstoffzustand Langspäne oder Kurzspäne entstehen. Dazwischen gibt es einen Übergang gekennzeichnet als zunehmende Segmentierung des Spans durch Scherbänder. Scherbandbildung und Scherbruch hängen u.a. eng mit planarem Gleitverhalten zusammen – vgl. Abschn. 3.1.2 und Abschn. 6.2, Abschn. Verfestigungsverhalten – und sind daher werkstoffabhängig. Bei aushärtbaren Legierungen ist demnach eine Scherbandbildung vorzugsweise bei teilausgehärtetem Material zu erwarten, nicht jedoch im überhärteten Zustand. In der Tat beobachteten Müller et al. (Müller et al. 2001) bei Hochgeschwindigkeitszerspanung der hochfesten Legierung EN AW-7075 Spansegmentierung bei Teilaushärtung und kontinuierlichen Fließspan nach Überhärtung. Der Vollaushärtungszustand (T6) zeigte ein entsprechendes Übergangsverhalten. Die Bildung von Scherbändern ist vergleichbar mit demselben Phänomen beim Kaltwalzen von Aluminium und seinen Legierungen (Duckham et al. 2001). Scherbänder beim Kaltwalzen werden bei hohen Dehnungen und Verformungsgeschwindigkeiten gebildet, die den Verhältnissen in der primären Scherzone beim Spanen ähnlich sind. Die Segmentierung durch Scherbänder wird gemeinhin mit dynamischer Entfestigung innerhalb des Scherbandes infolge adiabatischer Erwärmung durch die extrem hohen Verformungsgeschwindigkeiten erklärt. Allerdings tritt adiabatische Erwärmung bei der Langspanbildung unter gleichen Schnittbedingungen nicht auf. So wurde bei der Spanbildung von AlSi7Mg0,3 (A356) im Gußzustand selbst bei Schnittgeschwindigkeiten von 5000 m/min und unterschiedlichen Schnittbedingungen keine adiabatische Scherverformung beobachtet (Kishawy et al. 2005). Voraussetzung für dieses Verhalten ist eine gewisse Homogenität des Gefüges, wie es bei Knetwerkstoffen und untereutektischen Gußwerkstoffen vorliegt. Bei heterogenen Werkstoffen wie z.B. bei übereutektischen Gußlegierungen entsteht der Spanbruch (Bröckelspan) durch Rißbildung an den primären Si-Partikeln. Von den technologischen Parametern hat insbesondere die Werkzeuggeometrie einen Einfluß auf die Spanform. Bei langspanenden Werkstofftypen kann der Spanbruch verbessert werden, wenn die Spanstauchung mittels eines geringeren Spanwinkels γ vergrößert wird, s. Bild 14.1.3. Weitere Möglichkeiten, den Spanbruch zu verbessern, bieten Spanleitstufen im Schneidwerkzeug, die dem Span eine zusätzliche Verformung aufzwingen. Der Einfluß von Schnittgeschwindigkeit, Vorschub und Schnittiefe auf die Spanform kann in Spanformdiagrammen dargestellt werden, in denen die Bereiche günstiger Spanform gekennzeichnet sind, s. Bild 14.2.2 für
14.3 Aluminiumwerkstoffe für Zerspanungszwecke
561
Bild 14.2.1 Einfluß des Spanwinkels γ auf die Spanstauchung
Bild 14.2.2 Spanformdiagramme für die Legierung EN AW-6082-T6 (nach Lung und Dammer, 1980)
die Legierung EN AW-6082-T6 (Lung et al. 1980). Das Beispiel macht deutlich, daß bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Oberflächengüte die Schnittbedingungen weiter eingeschränkt werden müssen.
14.3 Aluminiumwerkstoffe für Zerspanungszwecke Knethalbzeuge
Gegossene, gewalzte und geschmiedete Platten aus Knetlegierungen dienen als Ausgangsmaterial für die spanende Herstellung von Kunststoffor-
562
14 Spanende Formgebung von Aluminium
men, Werkzeugen für schnellaufende Stanzen und Pressen, Maschinenbauelemente und für Strukturteile, letztere vorwiegend für den Flugzeugbau. Die Anwendungen im Flugzeugbau nicht eingeschlossen besteht der überwiegende Anteil der eingesetzten Plattenwerkstoffe aus nicht aushärtbaren Plattenlegierungen (AlMg3 und AlMg4,5Mn, in Deutschland ca. 60 %), der übrige Anteil verteilt sich auf aushärtbare Legierungen mittlerer und hoher Festigkeiten. Neben den traditionellen Halbzeuglegierungen werden zunehmend spezielle Legierungsvarianten angeboten, die besondere Anwendungsbedürfnisse erfüllen müssen. Diese Anforderungen sind folgende: − − −
geringe Eigenspannungen, gleichmäßige Festigkeitseigenschaften über der Plattendicke, thermische Beständigkeit,
sowie dekorative Anodisierbarkeit und Schweißbarkeit. Tabelle 14.3.1 gibt einen Überblick über Plattenwerkstoffe und lieferbare Abmessungen. Tabelle 14.3.1 Plattenwerkstoffe für Zerspanungszwecke einiger Plattenhersteller (n. Herstellerangaben) Markenname Fibral
Hersteller Legierungsbasis Alcan EN AW-5083
Dickenbereich, mm 150 - 350 ≥ 350 6–120 10–80 6–400
Alplan Unidal Certal
Alcan Alcan Alcan
EN AW-5083 EN AW-7019 EN AW7022/7079
Contal Tempral
Alcan Alcan
EN AW-7010 AA 2039
6–110 20–150
Giantal
Aleris
EN AW-5083
8–900
Hokotol
Aleris
EN AW-7050
8–310
Weldural Aleris
EN AW-2219
8–500
Fertigungsart
Merkmal
warmgewalzt gegossen warmgewalzt warmgewalzt warmgewalzt, gereckt od. gestaucht bzw. geschmiedet warmgewalzt warmgewalzt, kalt gestaucht, T852 warmgewalzt, gegossen warmgewalzt, gereckt od. kalt gestaucht warmgewalzt, gereckt od. kalt gestaucht
Formenbau Sonderplan hohe Festigkeit hochfest, hohe Formstabilität Werkzeugbau gutes Kriechverhalten bis 200 °C größte Dicken hochfest
warmfest
Automatenlegierung
Unter dem Begriff „Automatenlegierung“ versteht man Aluminiumlegierungen, die durch spanbrechende Zusätze von Blei (Pb), Wismuth (Bi) und Zinn (Sn) ein besonders günstiges Zerspanungsverhalten haben. Es handelt
14.3 Aluminiumwerkstoffe für Zerspanungszwecke
563
sich um mittelfeste Legierungen mit und ohne Kupfergehalte, die zu Stangenmaterial durch Strangpressen und anschließendes Kaltziehen auf eng tolerierte Maße gebracht werden. Als Querschnittsformen werden vorzugsweise Rundstangen, aber auch Rechteck- und Sechskantstangen mit verschiedenen Durchmessern bzw. Schlüsselweiten angeboten. Standardlegierungen sind EN AW-2007, EN AW-2011, EN AW-2030, EN AW6012 mit Bleigehalten bis 1,5 Gew.-%. Die Standardhalbzeuge sind in DIN EN 754 T.1-6 (gezogene Stangen und Rohre) und DIN EN 755 T. 1–6 (stranggepreßte Stangen, Rohre und Profile) genormt. In Deutschland überwiegt der Stangenwerkstoff AlCuMgPb (EN AW2007) mit einem Anteil von schätzungsweise 65% der Automatenlegierungen. Das Verbot von Pb-haltigen Teilen in Elektro- und Elektronikgeräten sowie in der Automobilindustrie durch EU-Verordnungen (mit einer Übergangsfrist für Teile mit geringerem Bleigehalt von 0,4%) hat zur Entwicklung von bleifreien Bohr- und Drehqualitäten geführt, bei denen Pb durch Sn und Bi ersetzt wurde, EN AW-2111B, AA 6020, EN AW-6023. Unter den Markenbezeichnung Stanal2, Ultralloy3, AlEco4 und AlMach4 werden bleifreie Automatenlegierungen angeboten, die eine Alternative zu den Pb-haltigen Automatenlegierungen der Legierungsgruppen 2xxx und 6xxx darstellen. Zum Vergleich werden die mechanischen Eigenschaften in Tabelle 14.3.2 angegeben. Tabelle 14.3.2 Mechanische Eigenschaften (Mindestwerte) von Pb-freien Automatenlegierungen Leg.-Bez. STANAL 32
Legierungstyp Zustand AlMgSiSnBi T6, T651 T8 T9 STANAL 37 AlCuSnBi T6 Ultralloy 60201) AlMgSiCuSn T8 T9 1) typische Eigenschaften, A50
Rp0,2 [MPa] 270 310 350 280 310 365
Rm [MPa] 320 340 370 370 324 379
A5 [%] 11 8 4 10 14 8
Gußlegierungen
Die spanende Bearbeitung von Gußstücken stellt insofern besondere Anforderungen, als einerseits meistens große Stückzahlen, z.B. für Motorenteile im Automobilbau mit hohen Anforderungen an Präzision und Oberflächenqualität, bearbeitet werden müssen und andererseits die üblicher2 3 4
Fa. Alcan Dìèín Extrusions GmbH Fa. Alcoa Fa. Corus Aluminium Duffel
564
14 Spanende Formgebung von Aluminium
weise verwendeten Al-Si-Gußlegierungen gegenüber den Knetlegierungen gefügebedingt höheren Werkzeugverschleiß bzw. geringere Werkzeugstandzeiten und größere Oberflächenrauhigkeit verursachen können. Der Wahl des Schneidwerkstoffs und den Schnittbedingungen muß daher größere Beachtung geschenkt werden als für die Bearbeitung von Knetlegierungen.
14.4 Zerspanbarkeit Unter dem Begriff „Zerspanbarkeit“ faßt man folgende Eigenschaften zusammen (Johne 1984): • • • •
der Verschleißangriff auf das Werkzeug, die erforderliche Schnittkraft, die entstehende Spanform, die Oberflächengüte der erzeugten Fläche.
Zerspanbarkeit ist mithin ein komplexer technologischer Begriff, der einerseits die mechanischen Eigenschaften des Aluminiumwerkstoffs berücksichtigt, aber andererseits ursächlich mit der Spanbildung an der Werkzeugschneidkante und somit mit den Prozeßbedingungen des Zerspanungsvorgangs zusammenhängt. Aufgrund praktischer Erfahrungen können Aluminiumlegierungen bezüglich ihrer Zerspanbarkeit in drei Gruppen eingeteilt werden: • Knethalbzeuge (in Form von Platten, Strangpreßprofilen, Stangen und geschmiedeten Werkstücken), • Automatenlegierungen (hauptsächlich in Stangenform, enthalten Pb, Bi und Sn), • Gußlegierungen, insbesondere untereutektische, eutektische und übereutektische Al-Si-Legierungen. Die Aluminiumlegierungen, die zu diesen drei Kategorien gehören, unterscheiden sich hinsichtlich der Spanbarkeit erheblich voneinander. Aus diesem Grunde wurde es für nützlich und praktisch erachtet, die verschiedenen Legierungen in mehrere Zerspanbarkeitsgruppen einzuordnen. Innerhalb jeder dieser Gruppen weisen die dazugehörigen Legierungen eine ähnliche Zerspanbarkeit auf, die in Tabelle 14.4.1 stichwortartig erläutert sind: Gruppe 1: Gruppe 2.1:
Knetlegierungen mit geringer Festigkeit (< 300 MPa) Knetlegierungen mit höherer Festigkeit (> 300 MPa)
14.5 Werkzeugverschleiß
Gruppe 2.2: Gruppe 3.1: Gruppe 3.2: Gruppe 3.3:
565
Automatenlegierungen (Pb-, Bi-, Sn-haltig) AlSi-Gußlegierungen mit < 10% Si-Gehalt Eutektische Gußlegierungen (~ 12% Si-Gehalt) Hypereutektische Gußlegierungen (> 12% Si-Gehalt).
Tabelle 14.4.1 Überblick über die verschiedenen Zerspanbarkeitsgruppen und ihre Merkmale Legierungsbeispiele
Kennzeichnende Zerspanungseigenschaften Gruppe 1: Reinaluminium, Weiche, duktile Werkstoffe, geringe FesKnetwerkstoffe AlMn, AlMg1, AlMgMn tigkeit, keine harten Bestandteile, Kleben geringer AlMgSi0,5, AlMgSi1 und Schmieren bei der Bearbeitung Festigkeit im Zustand weich Starke Neigung zu Aufbauschneiden, keine Scheinspäne Gruppe 2.1: AlMn, AlMg1 bis AlMg5, Festigkeiten zwischen 300 und 600 N/mm² Knetwerkstoffe AlMgMn, AlMg4,5Mn bei guten Dehnungswerten. Keine harten gesteigerter AlCuMg1, AlZn4,5Mg1, Bestandteile (geringe Verschleißwirkung), Festigkeit AlZnMgCu0,5, AlZnMgCu1,5 geringer werdende Neigung zur AufbauKaltverfestigt oder ausgehärtet schneidenbildung mit ansteigender Festigkeit, keine Scheinspäne Gruppe 2.2: AlMgSiPb, AlCuBiPb, Kurz brechende Späne infolge spanAutomatenAlCuMgPb brechender Zusätze. Festigkeitswerte 280 werkstoffe bis 380 N/mm². Geringe Neigung zur Aufbauschneidenbildung, keine Scheinspäne Festigkeit bis 250 N/mm² AlSi5Cu1, AlSi6Cu4, Gruppe 3.1: Gußwerkstoffe AlSi8Cu3, AlSiCu3 bis 10% Silizium AlSi5Mg, AlSi7Mg, AlSi9Mg, AlSi10Mg
Gruppe 3.2: Gußwerkstoffe geringer Härte
AlSi12
Gruppe 3.3: Gußwerkstoffe großer Härte
AlSi18CuMgNi, AlSi21CuNiMg, AlSi25CuMgNi, AlSi17Cu4FeMg
Festigkeit bis 360 N/mm². Gesteigerte Verschleißwirkung durch harte Gefügebestandteile und evtl. Einschlüsse. Guter Spanbruch und glatte Oberflächen. Neigung zur Aufbauschneidenbildung ab etwa 5% Si-Gehalt. Gesteigerte Scheinspanbildung Geringe Härte des Grundwerkstoffs. Harte metallische Gefügebestandteile sowie evtl. Einschlüsse; große Neigung zur Aufbauschneidenbildung und zu Scheinspänen Mittlere Festigkeit, hohe Härte, sehr geringe Dehnung. Hoher Verschleiß durch sehr harte intermetallische Verbindungen und primär ausgeschiedenes Si; große Neigung zu Scheinspänen und zu Aufbauschneidenbildung
14.5 Werkzeugverschleiß Bei der Aluminiumzerspanung ist Kolkverschleiß (wie er für Stahl typisch ist) nur bei übereutektischen AlSi-Legierungen zu beobachten. Der Werk-
566
14 Spanende Formgebung von Aluminium
zeugverschleiß durch Aluminiumwerkstoffe erfolgt durch Abrieb an der Freifläche. Maßgebliches Standzeitkriterium, an dem sich der Verschleiß objektivieren läßt, ist deshalb die Verschleißmarkenbreite VB. Der Freiflächenverschleiß ist temperaturabhängig und geometrieabhängig und in der Hauptsache abrasiv verursacht, s. Bild 14.5.1. Man geht heute von einem max. zulässigen Wert VB = 0,3 mm aus.
Bild 14.5.1 Abhängigkeit des Schneidkantenversatz ∆ vom Keilwinkel β und Spanwinkel γ bei konstanter Verschleißmarke VB
Hinsichtlich der Verschleißursachen sind der bearbeitete Werkstoff und die Schnittbedingungen gleichermaßen bedeutsam. Der Einfluß des Werkstoffes ist gravierend (König et al. 1983). Bei AlSi-Gußwerkstoffen spielen Dendritengröße sowie Menge und Größe der harten Si-Phasen (HK 1000 bis 1300) eine herausragende Rolle. Si-Partikel sind übereutektisch ausgeschiedenes Silizium, s. Bild 14.5.2. Besonders abrasiv wirken platten-
Bild 14.5.2 Siliziumeinschlüsse in übereutektischen AlSi-Legierungen nach unterschiedlichen Schmelzebehandlungen (Quelle: Johne, 1984)
14.5 Werkzeugverschleiß
567
förmige, scharfkantige, grobe Einschlüsse, wie sie links im Bild dargestellt sind. Modifizierte Gefüge mit kleineren und abgerundeten Ausscheidungen verursachen weniger Verschleiß. Andere Einschlüsse in der AlMatrix durch den Gießvorgang (z.B. Oxide) wirken sich ebenfalls negativ auf die Standzeit aus. Der Verschleiß ist weiterhin um so größer, je höher die Festigkeit des Grundwerkstoffes ist, da harte Einschlüsse in einem weichen Grundwerkstoff leichter ausweichen können. Porosität im Gußstück bewirkt durch die Unterbrechung der Spanbildung ebenfalls einen höheren Verschleiß. Unter den Einflüssen der Schnittbedingungen auf die Standzeit besitzt die Schnittgeschwindigkeit die größte Bedeutung. Die Abhängigkeit zwischen Schnittgeschwindigkeit und Standzeit gibt die Taylor‘sche Standzeitgleichung wieder.
T = v k ⋅ C(v ) mit T v C(v) k
= = = =
(14.1)
Standzeit in min, Schnittgeschwindigkeit in m/min, Standzeit für v = 1 m/min (Konstante), Faktor, der die Steigung der Standzeitgeraden bezeichnet
Diese Gleichung, die im doppelt-logarithmischen System T–v als Gerade darstellbar ist, stimmt mit experimentellen Werten sehr gut überein (König et al. 1982). Standzeitgeraden geben auch den unterschiedlichen Verschleißangriff verschiedener Aluminiumwerkstoffe wieder, s. Bild 14.5.3. In der für Kokillenguß-Werkstoffe beispielhaft gezeigten Darstellung lassen sich Knetwerkstoffe nicht darstellen. Bei diesen mißt sich die Standzeit wegen des geringen Verschleißes nach Arbeitsschichten oder Tagen. Tatsächlich werden T-v-Kurven für Knetwerkstoffe wegen des extremen Materialbedarfs üblicherweise nicht ermittelt. Außer den erwähnten Schnittbedingungen Schneidengeometrie und Schnittgeschwindigkeit haben Vorschub und Schnittiefe Einfluß auf den Verschleiß, insbesondere auch die Verwendung von (Kühl-) Schmierstoffen und natürlich die Abriebfestigkeit, Härte und Zähigkeit des Schneidstoffs selbst. Bild 14.5.3 macht deutlich, daß in der Hochgeschwindigkeitszerspanung (HSC, HPC oder HSM) mit Schnittgeschwindigkeiten von > 5000 m/min und Vorschubraten von > 2000 mm/min die Bearbeitung von Gußwerkstoffen mit Hartmetallwerkzeugen unter Bedingungen der Trockenzerspanung nicht produktiv ist. Bezüglich der hierfür einzusetzenden Schneidstoffe s. Abschn. 14.6 Schneidwerkstoffe.
568
14 Spanende Formgebung von Aluminium
Bild 14.5.3 Standzeiten von Hartmetallwerkzeugen (HM K10) beim Drehen von Kokillenguß aus unterschiedlichen Legierungen, Vorschub s = 0,08 mm/U, Schnittiefe a = 1 mm, HM K10, γ = 6°, Trockenzerspanung (nach König und Erinski, 1982)
14.6 Schneidwerkstoffe für die Aluminiumzerspanung Für Aluminium geeignete Zerspanungswerkzeuge unterscheiden sich von denen zur Stahlbearbeitung sowohl im Hinblick auf die einzusetzenden Schneidstoffe als auch hinsichtlich der Werkzeuggeometrie. Werkzeuge für Stahlbearbeitung sind für produktive Aluminiumzerspanung nicht geeignet. Schneidstoffe für die Bearbeitung von Aluminium sind in der Regel folgende:
• Schnellarbeitsstahl (HSS), • Hartmetall (HM), • Diamant (MKD, PKD, DLC). Für die Aluminiumbearbeitung ungeeignete Schneidstoffe sind Keramikwerkzeuge. Zwischen solchen Schneidstoffen und Aluminium kommt es zu unerwünschten chemischen Reaktionen und/oder chemisch-physikalischen Vorgängen. Dadurch wird die Härte der Werk-
14.6 Schneidwerkstoffe für die Aluminiumzerspanung
569
zeuge vermindert, was einen schnellen Verschleiß der Werkzeuge zur Folge hat. Auch CBN-Schneidstoffe (Cubic-Bornitrid) sind für die Aluminiumzerspanung infolge hohen Freiflächen- und Schneidkantenverschleißes ungeeignet. Für die Feinbearbeitung von untereutektischen Gußlegierungen sollen jedoch Keramikschneidstoffe aus Si3N4 mit Yttriumoxid vergleichbar gute Ergebnisse wie PKD-Werkzeuge erreichen (Lopez de Lacalle et al. 2001). HSS-Stähle
Die Vorteile von Schnellarbeitsstählen bestehen in ihrer Zähigkeit, ihrer hohen Biegebruchfestigkeit, der einfachen Bearbeitbarkeit und dem günstigen Preis. Aufgrund dieser Eigenschaften können mit diesen Stählen hohe Spanwinkel – dadurch geringe Schnittkräfte – verwirklicht und darüber hinaus insbesondere Spezial- und Formwerkzeuge, Spiralbohrer, Fräswerkzeuge mit kleinen Abmessungen, Gewindeschneider u.ä. hergestellt werden. HSS-Werkzeuge werden hauptsächlich für das Zerspanen von niedrig legierten, mittelfesten Knetlegierungen (AlMgMn, AlMgSi) mit konventionellen Schnittgeschwindigkeiten (bis 600 m/min) verwendet. Einsatzgrenzen stellen hochfeste Knetlegierungen und verschleißende AlSi-Gußlegierungen dar. HSS-Werkzeuge eignen sich nicht für die Trokkenzerspanung (Nouari et al. 2005). Beschichtungen (Ausnahme: Titanborid) haben sich nicht bewährt. Hartmetall
Für das Zerspanen von Aluminium werden überwiegend WC-Co Hartmetalle der ISO-Anwendungsgruppe K10 verwendet. Die Hartmetallwerkzeuge sind mit Wendeschneidplatten ausgerüstet, die zum Drehen, Fräsen, Bohren, Reiben usw. verwendet werden können. Beschichtete Hartmetallwerkzeuge haben zunehmende Bedeutung, sofern der Si-Gehalt der Legierung unter 12% liegt. Als Schichtsysteme kommen TiAlN, ohne oder mit WC/C Beschichtung, DLC-Schichten (DLC = diamond-like carbon) und Diamant-Schichten zum Einsatz, die durch PVD- bzw. CVD-Verfahren auf dem Grundkörper abgeschieden werden. Beschichtete Hartmetallwerkzeuge sind jedoch für die Zerspanung von übereutektischen Al-Si-Legierungen ungeeignet. Die einzusetzenden Wendeschneidplatten müssen die für Aluminium geeignete Geometrie mit großem Spanwinkel (hier 20°) und relativ schlankem Schneidkeil aufweisen, s. Bild 14.6.1.
570
14 Spanende Formgebung von Aluminium
Bild 14.6.1 Fräswerkzeug mit Wendeschneidplatten für die Aluminiumbearbeitung (Quelle: Ceratizit)
Diamant
Diamantwerkzeuge eignen sich ausgezeichnet für die spanende Bearbeitung von Aluminium, insbesondere in der Hochgeschwindigkeitszerspanung. Diamant ist bei hohen Temperaturen extrem hart und zeichnet sich beim Kontakt mit Aluminium durch eine hohe chemische Widerstandsfähigkeit aus. Monokristalline (natürliche) Diamanten werden für PräzisionsSpanarbeiten und für extrem glatte Oberflächen („Glanzdrehen“) mit einer Rauhtiefe von Ra = 0,1 µm verwendet. Polykristalline Diamanten (PKD) spielen beim Spanen von Aluminium eine bedeutend größere Rolle als monokristalline Diamanten. Sie sind kostengünstiger und können im Herstellungsprozeß auf die gewünschten Schneidwerkzeugformen abgestimmt werden. PKD-Werkzeuge werden hergestellt, indem auf einen aus Wolframkarbid bestehenden Grundkörper eine dünne Schicht aus Diamanten mit Zwischenschichten aus Co und Si gesintert wird. Erzielbare Oberflächenrauhigkeiten sind Ra = 0,12–0,25 µm. Die Härte der Diamantschichten kann HV 8000 erreichen. Die Hauptanwendungsgebiete für diese Werkzeuge sind Zerspanungsaufgaben, bei denen ein hoher Verschleiß zu erwarten ist. Bei der Herstellung von Kolben und Motorblöcken aus übereutektischen AlSi-Gußlegierungen haben sich PKD-Werkzeuge als beste Alternative eingeführt sowie in der HSCZerspanung in hochautomatisierten Anlagen, deren Wirtschaftlichkeit durch mangelhaft funktionierende Werkzeuge herabgesetzt würde.
14.7 Kühlschmierstoffe Kühlschmierstoffe üben bei der spanenden Bearbeitung von Aluminium verschiedene Funktionen aus.
14.7 Kühlschmierstoffe
571
• Als Schmiermittel verringern sie die Reibung zwischen ablaufendem Span und Werkzeug und reduzieren dadurch die Erwärmung des Schnittwerkzeugs, den Verschleiß und die Bildung von Aufbauschneiden. • Als Kühlmittel reduzieren sie die Erwärmung des Schnittwerkzeugs und dadurch gleichfalls den Werkzeugverschleiß. • Um die dimensionale Gleichmäßigkeit des Werkstücks zu sichern, ist oft wegen der hohen Wärmeausdehnung von Aluminium eine wirkungsvolle Kühlung notwendig. • Die Applikation von Kühlschmierstoffen unterstützt die Entleerung des Spanraums und verhindert Schneidkantenbruch und Beschädigung der Werkstückoberfläche. Man unterscheidet hinsichtlich der Kühlschmierstoffapplikation
• Vollflutung (Naßzerspanung), • Minimalmengenschmierung (Trockenzerspanung). Trockenzerspanung ist zwar das angestrebte Ideal der Aluminiumzerspanung, wird aber heute noch nicht durch entsprechende Schneistoffbeschichtungen erzielt. Die Minimalmengenschmierung (MMS) setzt sich seit einigen Jahren zunehmend und hauptsächlich bei der HSC-Technik durch. Die Wärmeentwicklung in der HSC-Technik ist geringer als bei konventioneller Zerspanungstechnik. Bei den extrem hohen Schnittgeschwindigkeiten der HSC-Technik wird durch MMS eine effektivere Schmierleistung erbracht, sofern die maschinenseitige Einstellung der Düsen optimal vorgenommen ist. Der Einsatz an Schmierstoff kann bei der Zerspanung von hochfesten Knetlegierungen um den Faktor 105 verringert werden (Berky 2000). Gleichzeitig können lebensmitteltaugliche Öle verwendet werden, deren Entsorgung unproblematisch ist. Während bei der traditionellen Vollflutschmierung sowohl die Werkzeug- als auch die Werkstückkühlung erreicht wird, bewirkt die Minimalmengenschmierung keine direkten, sondern indirekte Kühleffekte, indem die Reibungswärme verringert wird. Der hohe Gasdruck bewirkt darüber hinaus eine effektivere Spanabfuhr aus dem Spanraum. Der maschinentechnische und auch der programmtechnische Aufwand zur Nachsteuerung der Düsen beim Zerspanungsprozeß ist allerdings deutlich höher als bei konventioneller Vollfluttechnik. Schmier- und Kühlwirkung können durch Öl/Wasser-Emulsionen kombiniert werden. Je fetter eine solche Emulsion ist, desto besser ist die Schmierwirkung. Gelegentlich wird auch auf Spiritus als Kühlmittel zurückgegriffen. Welche Arten von Kühl- und Schmiermitteln beim Spanen
572
14 Spanende Formgebung von Aluminium
von Aluminium verwendet werden müssen, hängt von mehreren Faktoren ab: von der Art des Materials, der Art des Zerspanungsverfahrens, der Art der verwendeten Maschinen, Geräte und Werkzeuge und den Arbeitsbedingungen. Schneidöle werden hauptsächlich bei folgenden Zerspanungsaufgaben verwendet:
• beim Zerspanen von weichen Knetlegierungen (Gruppe 1), • bei spanenden Bearbeitungen mit geringen Arbeitsgeschwindigkeiten, • und bei Bearbeitungsprozessen, die bei niedrigen bis mittleren Arbeitsgeschwindigkeiten sehr viel Reibung erzeugen (z.B. beim Gewindeschneiden). Emulsionen mit einem Ölgehalt von ungefähr 7,5% können bei der Zerspanung verwendet werden, wenn eine Kühlung des Schnittwerkzeugs erforderlich ist und wenn im Ablauf viel Reibung erzeugt wird (z.B. beim Bohren und Sägen). Emulsionen mit einem Ölgehalt von maximal 5% werden verwendet, wenn vor allen Dingen eine Kühlwirkung erzeugt werden muß (z.B. beim Drehen und Fräsen von Werkstücken aus sehr festen Knet- oder AlSi-Gußlegierungen). Unter bestimmten Bedingungen ist es möglich, Zerspanungsprozesse auch ohne die Verwendung von Kühl- und Schmiermitteln durchzuführen, z.B. wenn Werkstücke aus Aluminiumlegierungen der Gruppen 2 oder 3.1 bei mittleren Bearbeitungsgeschwindigkeiten gedreht und dabei Hartmetall- oder Diamantwerkzeuge verwendet werden.
14.8 Oberflächen spanend bearbeiteter Al-Werkstoffe Oberflächenrauhigkeit
Für Knetwerkstoffe gilt als Grundregel: je höher Festigkeit und Härte des bearbeiteten Knetwerkstoffes, desto glatter die Schnittfläche. Bei den Gußlegierungen kommt ein Einfluß des Gefüges hinzu, und zwar derart, daß harte Gefügeeinschlüsse – wie z.B. Siliziumausscheidungen –, die aus der weicheren Grundmasse herausgerissen werden, eine größere Schnittflächenrauhigkeit bewirken können. Der Gesichtspunkt der Reinheit das Materials rückt bei speziellen Aufgabenstellungen in den Vordergrund, bei denen Aluminiumteile (Speicherplatten und Kopiertrommeln z.B.) mit extrem glatten Oberflächen bis Rt < 0,1µm bearbeitet werden. Um das zu erreichen, sind Knetwerkstoffe erforderlich, die ein äußerst gleichförmiges Gefüge besitzen, das frei von allen Inhomogenitäten und Verunreinigungen ist.
14.9 Funkenerosive Bearbeitung
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Von den Zerspanungsparametern ist vor allem die Schnittgeschwindigkeit von Einfluß. Generell verringert sich mit steigender Schnittgeschwindigkeit die Rauhtiefe. Im Bereich hoher Schnittgeschwindigkeiten (> 2000 m/min) oder Drehzahlen spielt allerdings die Maschinensteifigkeit sowie die Qualität der Werkzeug- und Werkstückhalterung eine zunehmende Rolle. Es kommt darauf an, daß der Span durch einen hinreichend großen Spanwinkel γ, gute Schmierung und eine glatte (polierte) Spanfläche leicht ablaufen kann. Darüber hinaus gilt, daß eine saubere Schnittfläche mit verschlissenen Werkzeugen nicht zu erzielen ist. Oberflächenspannungen
Durch den Zerspanungsprozeß werden in der Werkstückoberfläche Eigenspannungen erzeugt, deren Art (Zug- oder Druckspannungen) und Höhe von den Parametern Werkzeuggeometrie, Schnittgeschwindigkeit, Vorschubrate und Werkstoffestigkeit abhängen. Der Ursprung der Eigenspannungen liegt entweder in thermischen und/oder mechanischen Einflüssen, die sich in der tertiären Scherzone (Randstrukturzone in Bild 14.1.1) auswirken. Welche Art von Eigenspannungen sich bei entsprechenden Schnittbedingungen einstellen, ist noch weitgehend ungeklärt. Es besteht jedoch die Möglichkeit, daß sich oberflächliche Zugeigenspannungen einstellen, die z.B. die Ermüdungseigenschaften nachteilig beeinflussen können (Wyatt et al. 2006). Die Spannungen sind an der Oberfläche offenbar gering, erreichen aber unterhalb der Oberfläche ein Maximum im Abstand von 20–40 µm und verringern sich mit weiterem Abstand (El-Axir 2002). Hochgeschwindigkeitszerspanung scheint eher Druckspannungen in der Oberfläche zu erzeugen und damit positive Wirkung auf die Schwingfestigkeit zu haben.
14.9 Funkenerosive Bearbeitung Die funkenerosive Bearbeitung von Aluminium als formgebendes Verfahren (engl.: Electro-Discharge Machining, EDM) gehört ebenfalls wie die spangebenden Verfahren zu den Formgebungsverfahren durch Materialabtrag. Der Materialabtrag geschieht durch Funkenbildung in einem engen Spalt (~5–100 µm) zwischen einer Elektrode und dem Werkstück mittels gepulsten Gleichstroms. Werkstück und Elektrode sind in ein dielektrisches Bad getaucht, das für die Aluminiumbearbeitung aus demineralisiertem Wasser mit einem Widerstand von etwa 10·104 Ωcm (Schekulin 1983) oder aus Kerosin besteht. Durch die Funkenentladung mit einer Impulszeit
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14 Spanende Formgebung von Aluminium
von bis zu 100 Mikrosekunden entstehen an der Werkstückoberfläche kurzzeitig Temperaturen bis zu 20.000 °C, wodurch die Oberfläche punktuell aufgeschmolzen und der Werkstoff durch die Turbulenzen des umgebenden Dielektrikums fortgespült wird. Man unterscheidet Senk- und Drahterodieren. Beim Senkerodieren wird die Elektrode als Formwerkzeug in das Werkstück. Je nach Einstellung der Funkenenergie kann man Schrupp-, Schlicht- und Feinschlichtvorgänge erzeugen mit entsprechend unterschiedlichen Abtragsraten und Oberflächenrauhigkeiten. Beim Drahterodieren besteht die Elektrode aus Draht, der unter Zugspannung steht und über eine Spulenführung kontinuierlich abgezogen wird. Die Schnittfugenkonfiguration wird durch x-y-Steuerung des Werkstücktisches im dielektrischen Bad erzeugt. Die EDM-Bearbeitung von Aluminium erlaubt gegenüber Stahl eine vielfach höhere Abtragsrate. Da keine Kräfte auf das Werkstück übertragen werden, eignet sich EDM vor allem für die Bearbeitung von dünnwandigen Bauteilen, z.B. für die Herstellung von engen Spalten, s. Bild 14.9.1, sowie für sehr verschleißfeste Werkstoffe wie SiC-verstärktes Aluminium-Verbundmaterial (Müller et al. 2001). Als Elektrodenmaterial wird Kupfer oder Messing verwendet. Der Elektrodenverschleiß ist gering, dennoch kann ein gewisses Auflegieren der Werkstückoberfläche durch Kupfer nicht gänzlich vermieden werden. Ein abschließender Beizvorgang ist daher zu empfehlen. Das punktuelle Anschmelzen der Werkstückoberfläche legt den Gedanken nahe, die EDM-Bearbeitung gleichzeitig für eine Veränderung der Zu-
Bild 14.9.1 Durch Senkerodieren und anschließendes Beizen hergestellter Schlitz mit 0,8 mm Breite und 50 mm Tiefe in einem Bauteil aus AlSi1MgMn (EN AW6082-T6). Querschliff durch den Schlitzboden, geätzt 1 min. in H2SO4 + HF
14.9 Funkenerosive Bearbeitung
575
sammensetzung der Oberfläche zu nutzen, um bestimmte Eigenschaftsverbesserungen, z.B. Verschleißfestigkeit, zu erzielen. So ist es durch Überlagerung des EDM Prozesses mit Ultraschall und durch Suspension feiner SiC-Partikel im Dielektrikum gelungen, in einer Oberflächenschicht von 50–80 µm die Härte und Verschleißfestigkeit des Grundwerkstoffs durch Auflegieren mit Silizium und durch Einbetten von SiC-Partikeln deutlich zu verbessern (Lin et al. 2001).
15 Oberflächenbehandlung
Unter dem Begriff Oberflächenbehandlung werden Techniken und Verfahren zur Reinigung und zur Veränderung der mechanischen, chemischen und physikalischen Oberflächeneigenschaften des Grundwerkstoffs gegenüber dem Herstellungszustand (Halbzeug, Guß) zusammengefaßt. Dekorative Ansprüche, verringerter Wartungsaufwand und Korrosionsschutz in kritischen Anwendungsbereichen sind überwiegend die Gründe für ein Oberflächenbehandlung von Aluminiumbauteilen in der industriellen Verarbeitung, obwohl in vielen Anwendungsbereichen Halbzeug- und Formgußprodukte aus Aluminium und bestimmten Aluminiumlegierungen wegen der Schutzwirkung der natürlichen Oxidschicht ohne einen zusätzlichen Oberflächenschutz verwendet werden können, s. a. Kap. 5, Tabelle 5.4.2. Durch gezielte Veränderungen der Oberflächeneigenschaften kann das Anwendungsspektrum erheblich erweitert werden. Auch werden die Betriebssicherheit und Lebensdauer von tragenden Bauteilen durch Oberflächenbehandlungen verbessert, wenn Verschleiß und Ermüdung als Versagensursachen eine Rolle spielen können. Die Oberflächenbehandlungsverfahren für Aluminium und Aluminiumlegierungen lassen sich in mechanische, metallurgische, chemische, elektrochemische und physikalische Verfahren untergliedern, mit denen notwendige Vorbehandlungen oder gewünschte Endzustände der Werkstückoberflächen hergestellt werden können, s. Tabelle 15.0.1. Der Ausgangszustand der Oberfläche von Rohteilen hängt sehr stark von der jeweiligen Legierung, der Art des Halbzeugs sowie von den Herstellungs- und Verarbeitungsprozessen ab. Die scheinbar gleichmäßige und häufig metallisch glänzende Rohteiloberfläche ist alles andere als eine homogene Oxidschicht. Die typische, reale Oberfläche ist mit Crackprodukten und Pigmenten von Walzölen, Fetten und Schmierstoffen aus dem thermomechanischen Herstellungsgang und aus den Verarbeitungsabläufen behaftet, enthält eingedrückte metallische und nichtmetallische Fremdpartikel, freigelegte Primärphasen und geometrische Unebenheiten sowie Kratzer. Die Dicke der natürlichen Oxidschicht ist legierungs- und herstellungsbedingt und abhängig von Lagerzeiten und -bedingungen. Derartige Unregelmäßigkeiten bestimmen das chemische, elektrochemische und physikalische Verhalten des Aluminiumbauteils.
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15 Oberflächenbehandlung
Tabelle 15.0.1 Oberflächenbehandlungsverfahren für Aluminium und Aluminiumlegierungen mechanisch Schleifen Gleitschleifen Honen Bürsten Strahlen Polieren Läppen Trommelpolieren Glattwalzen Hochglanzwalzen Dessinierwalzen Sprengplattieren
Oberflächenbehandlungsverfahren metallurchemisch elektrochegisch misch Walzplattieren Elektronenstrahllegieren Laserstrahllegieren
Entfetten Beizen tÄzen chemisch Glänzen Chromatieren Phosphatieren chem. Nickel
Anodisieren Farbanodisieren Hartanodisieren Galvanisieren Galvanisieren mit Einlagerung plasmachemische Oxidation o./m. Einlagerungen elektrol. Glänzen
physikalisch Flammspritzen Plasmaspritzen Aufvulkanisieren Naßlackieren Pulverlackieren Wirbelsintern
Die Qualität einer dekorativen oder funktionalen Oberflächenbehandlung hängt daher entscheidend davon ab, daß zunächst ein definierter Oberflächenzustand hergestellt wird, der reproduzierbare Ausgangsverhältnisse für die weiteren Behandlungsschritte schafft. Die Reinigungsverfahren haben daher ein großes Gewicht für jegliche Oberflächenbehandlung. Ein weiterer Schwerpunkt der Oberflächentechnik ist die Haftvermittlung zwischen der metallischen Oberfläche und nichtmetallischen, vornehmlich organischen Beschichtungen. Da alle organischen Schichten wasserdampfdurchlässig sind, müssen Reaktionen an der metallischen Grenzfläche zur Vermeidung von Korrosionsprodukten verhindert werden. Hierzu wird die Oberflächenschicht des Aluminiums durch chemische oder elektrochemische Oxidation passiviert (Umwandlungs- oder Konversionsschicht) und in Verbindung damit eine mikrotopographische Rauhigkeit geschaffen, die durch mechanisches Verklammern der organischen Schichten die Haftung unterstützt. Bestimmte Konversionsschichten (z.B. Cr(VI)-Gelbchromatierung) können noch einen zusätzlichen, aktiven Korrosionsschutz bewirken. Die mögliche Art der Vorbehandlung für eine verbesserte Haftung organischer Schichten auf der gereinigten und entfetteten Oberfläche des Metalls hängt vom Produkt und den gegebenen Fertigungsbedingungen ab. Halbzeug- und Großserienfertigung, wie bei Automobilteilen und -karosserien, erlauben den Einsatz von anderen Verfahren als Ingenieurbaukonstruktionen, wie Brücken, Schiffe und Schienenfahrzeuge, oder hand-
15.1 Reinigungsprozeß
579
werkliche Produkte. Dabei sind trotz dieser Unterschiede die Ansprüche an die Qualität der Beschichtung gleichermaßen hoch. Die Vorbehandlungsverfahren müssen diesen unterschiedlichen Gegebenheiten Rechnung tragen. Bild 15.0.1 gibt eine Übersicht über verschiedene Möglichkeiten der Oberflächenvorbehandlung als Grundlage für die Lackierung von Aluminiumbauteilen. Die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Vorbehandlungen hinsichtlich Lackhaftung und Korrosionsschutz ist unterschiedlich, so daß die Art der Grundierung darauf abgestimmt werden muß.
Bild 15.0.1 Alternative Prozeßfolgen für die Vorbehandlung und Beschichtung von Aluminiumbauteilen
Die Fülle der verschiedenen Oberflächenbehandlungsverfahren für Aluminium und Aluminiumlegierungen verbietet eine ausführliche Darstellung im Rahmen dieses Buches. Die nachfolgenden Betrachtungen beschränken sich daher auf einige Grundzüge, die der Übersicht dienen und Verständnis für wichtige Verfahrensschritte wecken sollen, da sie bereits bei der Entwicklung und Fertigungsplanung von Aluminiumprodukten berücksichtigt werden müssen.
15.1 Reinigungsprozeß Der Reinigungsprozeß von Aluminiumbauteilen hat die Aufgabe, Verschmutzungen durch Fette, Öle, Wachse oder Polierpasten sowie anhaftende metallische und nichtmetallische Schmutzpartikel („Pigment-
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15 Oberflächenbehandlung
schmutz“), die aus Rückständen der bei mechanischer Oberflächenbehandlung verwendeten Schleif- und Poliermittel bestehen, zu entfernen. Häufig ist es erforderlich, während des Reinigungsvorgangs auch die natürliche Oxidhaut zu entfernen, um bei den folgenden Behandlungsschritten Störungen zu vermeiden. Ziel des Reinigungsprozesses ist es, eine saubere, wasserbenetzbare Oberfläche zu erzeugen. Die verwendeten Reinigungsmittel müssen sowohl auf die Art des Werkstücks (z. B. Gußteil, Preß- oder Walzprodukte) abgestimmt sein und die Anforderungen der nachfolgenden Oberflächenbehandlungsverfahren (z.B. Anodisieren, Lackieren) erfüllen. Grundsätzlich muß zwischen Lösungsmittelentfettung und wäßrigen Reinigungsmitteln unterschieden werden (Göhausen 1982, Blecher et al. 1991, Kammer 1996). Lösungsmittelentfettung
Starke Verschmutzungen der Oberflächen mit Fetten, Ölen und Wachsen können mit organischen Lösungsmitteln durch Dampfentfettung oder Tauchentfettung (mit Badbewegung, Spritzen oder Ultraschall) entfernt werden. Bei der Lösungsmittelreinigung werden verschiedene chlorierte Kohlenwasserstoffe (Perchlorethylen, Trichlorethylen, Tetrachlorethan) eingesetzt. Die Pigmentschmutzentfernung ist mit diesen Mitteln allerdings unbefriedigend, da die Oxidschicht nicht angegriffen wird. Durch die verschärfte Umweltgesetzgebung und durch die für den Gesundheitsschutz notwendigen Aufwendungen ergeben sich für den industriellen Einsatz deutliche Einschränkungen. Als Alternative haben sich daher die wäßrigen Reinigungsverfahren durchgesetzt. Wäßrige Reinigungsmittel
Aluminium ist amphoterisch: es löst sich sowohl in sauren als auch in alkalischen Lösungen. Als wäßrige Reinigungsmittel werden daher sowohl stark alkalische Silikatreiniger, schwach alkalische, inhibierte Reiniger als auch saure Reiniger verwendet, die jeweils ihre spezifischen Einsatzgebiete haben. Neutralreiniger, die das Aluminium nicht angreifen, haben nur Bedeutung für sehr spezielle Einsatzzwecke. Alkalischen Reiniger bauen auf Natronlauge auf und enthalten nichtionische und/oder anionenaktive Tenside (Benetzungsmittel), die für die Entfernung von organischen Verschmutzungen verantwortlich sind und die Oberfläche wasserbenetzbar machen, und anorganische Stoffe („Builder“), die die chemisch-reaktive Ablösung und Suspendierung des Pigmentschmutzes in der wäßrigen Reinigerlösung bewirken. Zu den wirksamsten „Buildern“ zählen die Silikate. Deshalb werden zum Reinigen stark verschmutzter Oberflächen vorwiegend silikathaltige Reiniger verwendet.
15.1 Reinigungsprozeß
581
Da sich sofort eine Aluminiumsilikat-Deckschicht ausbildet, wird trotz des hohen pH-Wertes von >12 das Aluminium nicht angelöst. Andererseits können die Silikatschichten auf der Aluminiumoberfläche bei der Weiterbearbeitung stören (z.B. durch Verfärbungen beim Anodisieren, durch Schwankungen des Widerstands beim Widerstandspunktschweißen und durch Haftungsprobleme beim Kleben). Silikatschichten auf Aluminium sind nur schwer löslich. Ein saures Dekapieren mit kalter Salpetersäure oder Salpetersäure/Flußsäure-Gemisch kann dann als Nachbehandlung erforderlich werden. Letzteres gilt insbesondere nach dem Entfetten und Beizen von AlMg- und AlSi-Legierungen. Störende Silikatschichten können durch die Verwendung von silikatfreien, schwach alkalischen Reinigern mit Borat/Phosphat-Buildern vermieden werden. Borat inhibiert den Metallangriff. Bei einem pH-Wert zwischen 9,2 und 9,5 ist der Metallabtrag gering. Der anhaftende Pigmentschmutz wird durch den dabei entstehenden Wasserstoff „abgesprengt“. Saure Reiniger sind auf Phosphorsäure aufgebaut. Sie bewirken neben der Entfettung eine Entfernung von Pigmentschmutz und von Guß- und Walzhäuten (Oxidschichten), greifen aber die Aluminiumoberfläche nur unwesentlich an. Beizen
Aufgrund des nur geringen Oberflächenangriffs der wäßrigen Reinigungsmittel werden keine einebnenden Effekte erzielt. Insbesondere für dekorative Oberflächenbehandlungen durch Anodisieren ist aber eine gleichmäßige Oberfläche eine Voraussetzung, die einen stärkeren Metallabtrag und damit den Einsatz von Beizen erfordert. Alkalische Beizmittel bauen vorwiegend auf Natronlauge auf, saure Beizmittel auf Salpetersäure/Flußsäure-Gemischen, die noch jeweils bestimmte Zusätze enthalten, um besondere Beizeffekte zu erzielen. Die Wahl des Beizmittels ist legierungsabhängig und richtet sich nach den zu erzielenden, speziellen Oberflächeneffekten. Alkalische Beizen werden vorzugsweise bei höheren Temperaturen verwendet. Die gebräuchlichste Aluminiumbeizlösung enthält 5 bis 10 % NaOH (120 bis 200 g/l NaOH in Wasser) und wird mit einer Beiztemperatur zwischen 50 und 70 °C appliziert. Nach dem Beizen muß mit kaltem Wasser gründlich gespült und anschließend mit kalter 15–20 %-iger Salpetersäure neutralisiert werden. Beim Beizen kupferhaltiger Legierungen zementiert das Kupfer als schwarzer Belag während des Beizvorgangs aus, der durch die Salpetersäurebehandlung wieder aufgelöst wird. Höhere Si-Gehalte der Legierung (z.B. bei Gußlegierungen) führen zu einem schwer löslichen, grauen Beizbast, der mit einem Salpetersäure/Flußsäure-Gemisch (z.B. 4
582
15 Oberflächenbehandlung
Teile HNO3 (54%) und 1 Teil HF (70%) entfernt werden muß. Oxidschichten auf Legierungen mit höherem Magnesiumgehalt enthalten je nach Herstellbedingungen einen hohen Anteil an MgO und sind dadurch mit alkalischen Beizen nicht sicher zu entfernen. In diesen Fällen sind saure Beizen zu verwenden. Für Informationen über eine große Zahl handelsüblicher Beizmittel und Spezialbeizen für Aluminium wird auf die einschlägige Literatur verwiesen (Kammer 1996, Aluminium-Zentrale 1984). Nach dem Reinigen und Beizen ist ein gründliches Spülen in Wasser, möglichst in entionisiertem Wasser, vorzunehmen und die Bauteile mit Warmluft zu trocknen. In diesem Zustand ist die Oberfläche sehr reaktionsfreudig und empfindlich gegenüber allen korrosiv wirkenden Medien. Hierzu zählen auch Hautkontakte (Finger Prints), so daß bei der Handhabung besondere Vorkehrungen zu treffen sind.
15.2 Vorbehandlung Konversionsschichten
Zu den für Aluminium geeigneten Vorbehandlungen zählen chromat- und chromphosphathaltige sowie chromfreie Konversionsschichten, die eine dünne, amorphe Filmschicht von ca. 1µm auf der zuvor gebeizten Aluminiumoberfläche bilden. Die günstigste Kombination von Haftung, Korrosionsschutz und Resistenz gegen Lackunterwanderung bietet die Cr(VI)Gelbchromatierung (Blecher 1992). Dort, wo Gesundheits- und Umweltschutzgründe es erforderlich machen, kommen die Cr(III)-Grünchromatierung und chromfreie Konversionsbehandlungen auf Titan- und Zirkonbasis zum Einsatz. Die genannten Verfahren können als Tauch-, Spritz- und Roll-Coat- (No-Rinse-) Verfahren appliziert werden. Die schichtbildende Zinkphosphatierung eignet sich für Aluminium besonders im Fall der Mischbauweise mit Stahlkomponenten. Die Zinkphosphatierung von Aluminiumteilen in Mischbauweise ist nur mit fluoridhaltigen Phosphatierlösungen möglich und wird bevorzugt im Spritzverfahren aufgebracht. Die schichtbildende Zinkphosphatierung wird nicht im Coil-Coating-Prozeß appliziert, da der Prozeßablauf einerseits zu langsam ist, andererseits für die Schichtbildung Fe(II)-Ionen notwendig sind. Als wirksame Haftvermittler für organische Beschichtung und gleichzeitig als Korrosionsinhibitoren haben sich auch unverdichtete, dünne Anodisationsschichten mit einer Schichtdicke von 2 bis 5 µm erwiesen. Diese können sowohl im Batch-Betrieb als auch im Banddurchlaufverfahren aufgebracht werden.
15.3 Beschichtungen
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Mechanische Vorbehandlung
Unter den mechanischen Vorbehandlungsverfahren haben sich vor allem die Strahlbehandlung mit Korund und eisenarmen keramischen Strahlmitteln in Kombination mit einem 2-Komponenten-Epoxid-Primer bewährt (Gaiser et al. 1982, Ostermann et al. 1992). Die 2-K-Epoxid-Primer enthalten Korrosionsinhibitoren und Filmbildner und passivieren die frische metallische Oberfläche durch chemische Reaktion. Auch das Schleifen der Oberfläche wird als Vorbehandlung zur Beseitigung der Oxid- und Pigmentschmutzschicht verwendet. Allerdings hat sich das Schleifen bezüglich der Reinigungswirkung und der Haftvermittlung als nicht so wirksam wie das Strahlen herausgestellt, da die Gefahr besteht, durch ungleichmäßiges Arbeiten Schleifmittelreste in die Aluminiumoberfläche einzugraben, die die Haftung und Korrosionsschutzwirkung der Beschichtung beeinträchtigen. Das Auftreten von Schleifgraten an Werkstückkanten kann wegen Kantenflucht bei Flüssiglacken zu ungleichmäßigen Schichtdicken führen. Demgegenüber erzielt man mit Strahlen eine gleichmäßige und optisch gut zu kontrollierende Oberflächenaufrauhung auch in Bereichen, die mit der Schleifscheibe nicht zugänglich sind. Die Reinigungswirkung ist gut, so daß bei „normal“ verunreinigten Oberflächen auf eine Lösungsmittelreinigung verzichtet werden kann und nur bei optisch erkennbaren Fettund Ölbelägen eine vorherige Entfettung erforderlich ist .
15.3 Beschichtungen 15.3.1 Anodische Oxidation Mit den verschiedenen Verfahrensvarianten der anodischen Oxidation kann man in geeigneten Elektrolyten Oxidschichten erzeugen, die im Vergleich zur natürlichen Oxidschicht eine etwa 50- bis 5000-fache Schichtdicke aufweisen, s. Tabelle 5.2.1. Diese anodisch erzeugten Oxidschichten wachsen durch Umwandlung der metallischen Oberfläche durch Reaktion des Aluminiums mit den Agenzien des Elektrolyten und sind mit dem Aluminium fest verbunden. Sie besitzen ein größeres Volumen als das umgewandelte Metall, d.h. sie wachsen zu etwa einem Drittel der Schichtdicke aus der ursprünglichen Metalloberfläche heraus. Die Anodisierschicht ist aus zwei Schichten aufgebaut: einer dünnen, dichten Sperrschicht und einer dickeren porösen Deckschicht. Die jeweiligen Schichtdicken hängen von der Zusammensetzung des Elektrolyten und den Betriebsbedingungen ab. Die Sperrschicht ist elektrisch isolierend, so
584
15 Oberflächenbehandlung
daß der elektrische Widerstand mit zunehmender Sperrschichtdicke ansteigt. Durch chemische Reaktion mit dem Elektrolyten wird diese Schicht jedoch in die feinporige Deckschicht umgewandelt, wodurch die Sperrschichtdicke unabhängig von der Oxidschichtgesamtdicke etwa konstant bleibt. Wachstum und Umwandlung der Sperrschicht befinden sich in einem dynamischen Gleichgewicht, das von den Betriebsbedingungen und der Zusammensetzung des Elektrolyten gesteuert wird. Die Struktur der anodisch erzeugten Oxidschicht ist bei allen Verfahrensvarianten gleich und entspricht der Darstellung in Bild 15.3.1. Charakteristisch ist die Zellstruktur der porösen Deckschicht, die durch einen zusätzlichen Prozeßschritt verdichtet werden kann. Für die übliche Schwefelsäure-Anodisierung sind die typischen Dimensionen in Tabelle 15.3.1 angegeben. Tabelle 15.3.1 Typische Dimensionen von anodischen Oxidschichten im GS-Verfahren (Gazapo et al. 1994) Porendurchmesser Porendichte Zelldurchmesser Porosität Sperrschichtdicke Deckschichtdicke
15 bis 50 40 bis 80x109 40 bis 53 15 15 bis 50 bis 25
[nm] [Poren/cm²] [nm] [%] [nm] [µm]
Bild 15.3.1 Schematischer Aufbau der anodisch erzeugten Oxidschicht von Aluminium (links, Quelle VAW) und elektronenmikroskopische Durchstrahlungsaufnahme eines Querschliffs durch eine Anodisierschicht (rechts, Quelle: Alcan)
Verfahrensvarianten
Heute werden anodisch erzeugte Oxidschichten, die für viele Einsatzgebiete im Bauwesen und Maschinenbau geeignet sind, überwiegend im
15.3 Beschichtungen
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Gleichstrom-Schwefelsäure-(GS-) oder im Gleichstrom-SchwefelsäureOxalsäure-(GSX-)Verfahren erzeugt. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Sonderverfahren, die mit Elektrolyten auf der Basis von Borsäure, Zitronensäure, Chromsäure, Oxalsäure oder Phosphorsäure arbeiten. Sie sind für spezielle Einsatzgebiete entwickelt worden, z.B. für die Herstellung von Kondensatorfolien oder als Haftgrund zum Kleben von Bauteilen. Anodisierschichten können mit organischen bzw. anorganischen Farbstoffen (Tauchfärbung) oder elektrolytisch in Metallsalzlösung (elektrolytische Färbung) gefärbt werden. Entsprechend dem Korundcharakter des Aluminiumoxids sind die mit den üblichen Verfahren anodisch erzeugten Oxidschichten hart (200 bis 350 HV) und verschleiß- und abriebfest. Durch einen anschließenden Verdichtungsprozeß in siedendem, entmineralisiertem Wasser erhalten diese Schichten eine hohe Korrosionsbeständigkeit. Der Unterschied in den Wärmeausdehnungskoeffizienten von Oxidschicht und Grundmetall – s. Tabelle 4.1.1 und 4.2.1 – führt beim Erwärmen auf Temperaturen über 80 bis 100 °C zu feinen Rissen in der Schicht, die jedoch die Korrosionsbeständigkeit nicht beeinträchtigen. Die Schwingfestigkeit wird jedoch durch Anodisieren verringert. Die anodisch erzeugten Oxidschichten besitzen eine gute elektrische Isolierfähigkeit, die von der Dicke und von sorgfältiger Verdichtung der Schicht abhängt. Die Durchschlagspannung variiert je nach Verfahren zwischen 8 und 50 Volt pro µm Dicke. Der spezifische elektrische Widerstand ist etwa 4x1015 [Ωcm] (Gazapo et al. 1994). Anforderungen an anodisch oxidiertes Halbzeug mit Schichtdicken über 10 µm enthält DIN 17 611:2000. Hartanodisieren
Das Hartanodisieren kann bei einer großen Zahl von Knet- und Gußlegierungen angewendet werden. Von den Druckgußlegierungen eignen sich besonders die hochlegierten magnesiumhaltigen Legierungen vom Typ AlMg. Gewisse Einschränkungen sind bei Legierungen mit hohen Kupfergehalten zu machen. Hartanodisierschichten werden in speziellen Verfahrensvarianten des normalen Anodisierprozesses durchgeführt. Hierzu sind jedoch geeignete Elektrolyten, geringere Arbeitstemperaturen und höhere Stromdichten erforderlich. Ein Verdichten der Hartschicht ist nicht notwendig. Hartanodisierschichten haben üblicherweise Schichtdicken zwischen 30 und 80 µm, in Ausnahmefällen bis 200 µm. Gleichmäßige Härtewerte über der Schichtdicke werden bis zu ca. 550 HV erreicht. Die Gleiteigenschaften können durch Imprägnieren mit PTFE und anderen Gleitmitteln wesentlich verbessert werden.
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15 Oberflächenbehandlung
Die Maßhaltigkeit und Rauhigkeit der Schicht kann durch Schleifen, Honen und Läppen verbessert werden. Die Schicht neigt zu Rißbildungen, die jedoch die ausgezeichnete Korrosionsbeständigkeit nicht mindern, wohl aber die Schwingfestigkeit herabsetzen können. Abhängig von Schichtdicke und Legierung ergibt sich eine graubraune bis schwarze Färbung, die im Vergleich zu normalen Anodisierschichten keine dekorativen Ansprüche erfüllen kann. Eine Variante der Hartanodisierverfahren ist das plasmachemische Umwandeln der Aluminiumoberfläche in einem speziellen wäßrig-organischen Elektrolyten (KEPLA-Coat®, geschütztes Verfahren der Fa. AHC). Das durch Funkenentladung zwischen Elektrode und anodisch geschaltetem Werkstück erzeugte Sauerstoffplasma schmilzt die Oberfläche kurzzeitig an und wandelt das erschmolzene Metallvolumen in Oxid um. An der Grenzfläche zum Metall entsteht eine Sperrschicht mit einer darauf aufbauenden zunächst porenarmen, dann porenreichen Oxidkeramikschicht, wobei die Poren gegenüber der Anodisierschicht keine gerichtete Struktur, sondern vielmehr eine regellose Anordnung haben. Die Schichtdicken liegen üblicherweise zwischen 40 und 60 µm und erreichen maximal 150 µm. Die Schicht hat gute Verschleißeigenschaften, die durch Imprägnieren mit PTFE noch verbessert werden können. Der Korrosionsschutz, insbesondere gegenüber Halogene ist gut. Die Schicht soll ein günstigeres Schwingfestigkeitsverhalten zeigen als alternative Hartanodisierschichten. 15.3.2 Metallische Beschichtungen aus wäßrigen Lösungen Metallische Schichten können auf Aluminium mit verschiedenen Verfahren aufgebracht werden: durch Walz- und Sprengplattieren (s. Abschn. 8.4 und 19.3), durch Umschmelzlegieren der Oberfläche mit Elektronen- und Laserstrahlen, durch thermische Spritzverfahren (s. Abschn. 15.3.3) und durch stromloses oder elektrolytisches (galvanisches) Abscheiden aus wäßrigen Lösungen. Stromloses Abscheiden aus wäßrigen Lösungen
Stromloses Abscheiden von Metallschichten auf Aluminium aus wäßrigen Lösungen wird zur Verbesserung der Verschleißeigenschaften oder als Zwischenschritt zum elektrolytischen Abscheiden eingesetzt. Das Verfahren eignet sich für das Abscheiden von Nickel, Kupfer, Zinn, Zink sowie von Silber und Kobalt auf Aluminium. Der Vorteil dieses Verfahrens ist, daß auch die gleichmäßige Beschichtung von Flächen erreicht wird, die im „Schatten“ des Spannungsfeldes bei elektrolytischen Verfahren liegen, z.B. bei Bohrungen und Hinterschneidungen. Durch diese Geometrieunab-
15.3 Beschichtungen
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hängigkeit und durch gleichmäßige Schichtdicke kann auch eine sehr enge Dimensionskontrolle bei Bauteilen eingehalten werden. „Chemisch Vernickeln“ ist ein häufig angewendetes Verfahren, das eine Nickel-PhosphorLegierung abscheidet, die eine sehr hohe Härte aufweist und gleichzeitig fast porenfrei ist, wodurch sie eine exzellente Korrosionsbeständigkeit besitzt. Durch Ko-Deposition von SiC- oder PTFE-Partikeln können hohe Abriebfestigkeit oder günstige Gleiteigenschaften erzeugt werden. Man unterscheidet das autokatalytische Abscheideverfahren und das Ionenaustauschverfahren. Beim ersteren werden die gelösten Metallionen des Beschichtungsmetalls durch ein Reduktionsmittel ausgefällt und schlagen sich auf dem „unedleren“ Aluminium nieder. Stromloses Vernickeln ist ein Beispiel für die autokatalytische Prozeßvariante, mit der beliebig dicke Schichten aufgebracht werden können. Beim Ionenaustauschverfahren wird die Aluminiumoberfläche angelöst (Oxidationsschritt). Die dadurch im Metall zurückbleibenden Elektronen bewirken eine Reduktion von gelösten Metallionen und deren Abscheidung auf der Aluminiumoberfläche. Gewöhnlich werden Zink und Zinn mit diesem Verfahren abgeschieden. Es bilden sich dabei nur dünne Schichten, da die Reaktion aufhört, sobald die Aluminiumoberfläche vollständig bedeckt ist und durch das Ende des Lösungsprozesses keine Elektronen für den Reduktionsschritt mehr zur Verfügung stehen. Vertreter dieser Prozeßvariante sind das Zinkat- und das Stannat-Verfahren, mit denen Zwischenschichten beim elektrolytischen Verkupfern und Verchromen oder beim stromlosen Vernickeln erzeugt werden. Diese Zwischenschichten haben die Aufgaben, die Haftung zu verbessern und die Auflösung von Aluminium in galvanischen Bädern zu verhindern. Elektrolytische (galvanische) Verfahren
Zahlreiche Metalle können elektrolytisch auf Aluminium abgeschieden werden: Chrom (Cr), Nickel (Ni), Kupfer (Cu), Kobalt (Co), Silber (Ag), Zinn (Sn), Blei (Pb), Cadmium (Cd), Zink (Zn), Gold (Au), Rhodium (Rh) sowie verschiedene Legierungen dieser Metalle, z.B. Messing, oder in Verbindung mit anorganischen Dispersionen, z.B. SiC-Partikeldispersionen. Das Galvanisieren von Aluminium bereitet einige Schwierigkeiten, die mit der Stellung des Aluminiums in der Spannungsreihe, mit den unterschiedlichen Wärmeausdehnungskoeffizienten und mit Unterschieden im Atomradius und Kristallgitter zwischen Substrat und Schichtmetall zusammenhängen. Hinzu kommt der amphotere Charakter des Aluminiums und seine Reaktionsfreudigkeit mit Sauerstoff. Diese Probleme lassen sich jedoch beherrschen, wenn mit dem Zinkat- oder Stannatprozeß eine erste
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15 Oberflächenbehandlung
Zwischenschicht stromlos aufgebracht und der nachfolgende elektrolytische Prozeß in mehrere Teilschritte aufgeteilt wird, in denen aufeinander abgestimmte, unterschiedliche Metalle abgeschieden werden (z.B. Aluminium → Zink/Zinn → Kupfer → Nickel → Chrom) (Möller 1994a, Möller 1994b). Technische Einsatzgebiete galvanisch beschichteter Aluminiumbauteile sind vor allem in der Elektro- und Elektronikindustrie zu finden, um Kontaktierungsprobleme zu lösen oder die Lötbarkeit zu verbessern. Aber auch die Verbesserung von Abriebfestigkeit (Motorenbau) und vor allem dekorative Ansprüche sind Anlaß für galvanische Beschichtungen von Aluminium. 15.3.3 Verschleißfeste Oberflächen durch thermisches Spritzen Für hochbeanspruchte, verschleißfeste Aluminiumbauteile können Oberflächenschutzschichten mit verschiedenen thermischen Spritzverfahren aufgebracht werden. Hierzu zählen das Flammspritzen, Lichtbogenspritzen und Plasmaspritzen sowie verschiedene Varianten dieser Verfahren. Als Beschichtungsmaterial dienen draht- oder pulverförmige metallische Hartstofflegierungen und keramische Stoffe, wie Karbide und Oxide. Im Brennerkopf wird der Beschichtungsstoff je nach Verfahren mit unterschiedlichen Temperaturen aufgeschmolzen und mit Hilfe von Gasdruck auf die Substratoberfläche geschleudert, die zur Verbesserung der Haftung zuvor zweckmäßigerweise durch Strahlen gereinigt und aufgerauht wurde. Obwohl die Brennertemperaturen je nach Verfahren zwischen 1750 und 20000 °C hoch sind, wird aufgrund der Expositionszeit und der guten Wärmeleitfähigkeit des Aluminiums das Bauteil nur mäßig erwärmt, so daß keine wesentlichen metallurgischen Zustandsänderungen eintreten und die Beschichtung lokal aufgebracht werden kann. Die Schichten unterscheiden sich je nach Verfahren nicht nur durch die Eigenschaften der jeweiligen Schichtstoffe, sondern auch durch die Haftfestigkeit, den Oxidgehalt, den Grad der Porosität, die Auftragsleistung und die Kosten. 15.3.4 Beschichten mit organischen Stoffen (Lackieren) Unabdingbare Voraussetzung für eine Beschichtung mit organischen Stoffen ist die Einhaltung der unter Abschn. 15.1 und 15.2 beschriebenen Vorbehandlungen der zu beschichtenden Werkstücke. Bei der anschließenden Beschichtung ist zu unterscheiden, ob es sich um Flüssiglack- oder Pulverbeschichten und um eine Stück-, Elektrotauch- oder Bandbeschichtung handelt. Die verschiedenen Applikationsverfahren unterscheiden sich nicht
15.3 Beschichtungen
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von denen für andere Metalle. Die Elektrotauchlackierung und das CoilCoating-Verfahren sind allerdings den Großserienfertigungen, z.B. in der Automobil- bzw. in der Halbzeugherstellung, vorbehalten, s.a. Abschn. 8.3. Bei der Stückbeschichtung verwendet man entweder die elektrostatische Pulverbeschichtung oder konventionelles und elektrostatisches Spritzen mit Naßlacken auf Lösungsmittel- oder Wasserbasis. Pulverbeschichtung
Bei der elektrostatischen Pulverbeschichtung wird das Beschichtungspulver in der Sprühpistole elektrostatisch aufgeladen und mit Druckluft gegen das zu beschichtende elektrisch geerdete Teil gesprüht. Das übersprühte Pulver wird im Kreislauf nahezu vollständig zurückgewonnen und dem Pulverkreislauf wieder zugeführt. Beim Einbrennen schmilzt das Pulver, und gleichzeitig tritt eine Vernetzungsreaktion ein, wenn es sich um duroplastische Pulver handelt. Die Vorteile der Pulverbeschichtung liegen auf der Hand: Einsparung von Lösungsmittel und Umweltfreundlichkeit, sowie leichte Automatisierbarkeit. Für Anwendungen in der Witterung stehen PUR- und Polyesterpulverlacke zur Verfügung, für Innenanwendungen bieten sich Epoxidpulver und Epoxid/Polyester-Mischpulver an. Auch thermoplastische Pulver, z.B. Polyamid und Polyethylen, können mit dem Verfahren der elektrostatischen Pulverbeschichtung aufgebracht werden. Thermoplastische Pulver können auch mit dem Wirbelsinterverfahren aufgetragen werden; hierbei wird das zu beschichtende Werkstück nach entsprechender Vorbehandlung über den Schmelzpunkt des Kunststoffpulvers erwärmt und dann in das aufgewirbelte Pulverbett getaucht. Eine thermische Nachbehandlung verbessert das Verlaufen des Kunststoffpulvers auf dem Werkstück. Naßlackbeschichtung
Als hochwertige Beschichtungen haben sich reaktionshärtende 2-Komponenten-Naßlacke bewährt. Sie härten bei Raumtemperatur aus; die Vernetzungsreaktion wird bei Temperaturen zwischen 80 und 120 °C beschleunigt. Für die Beschichtung von Aluminium hat sich das 2-KomponentenPUR-System hinsichtlich Witterungsbeständigkeit, Kreidungs- und Chemikalienresistenz sehr gut bewährt und wird z.B. in der Außenbeschichtung von Aluminiumschienenfahrzeugen eingesetzt, die hohen Beanspruchungen über mehrere Jahrzehnte ausgesetzt sind. Alternativ werden auch reaktionshärtende 2-K-Acrylatsysteme mit vergleichbaren Ergebnissen eingesetzt.
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15 Oberflächenbehandlung
Elektrotauchlackierung (ETL)
Bei der Elektrotauchlackierung handelt es sich um ein Abscheiden von Lackpartikeln mittels elektrischem Strom. Der große Vorteil des Verfahrens ist das Umgriffsverhalten, also das Vermögen des Lackes in Hohlräume einzudringen und diese zu beschichten. Bei einem elektrisch leitenden Hohlkörper verhalten sich die Hohlräume wie Faraday’sche Käfige. Nach Beschichtung der Außenseite mit einem elektrisch nichtleitenden Lack gelangen die Feldlinien zunehmend ins Innere der Hohlräume und führen so zur Lackabscheidung im Inneren. Das anschließende Einbrennen ergibt eine geschlossene, gleichmäßige Lackschicht. Die kathodische Schaltung des Werkstücks (kataphoretische Tauchlackierung, KTL) wird bei der Tauchlackierung von Stahl und von Stahl/ Aluminium-Mischbauweisen angewendet. Sie führt dabei allerdings zu einer um etwa 10% geringeren Schichtdicke auf den Aluminiumflächen. Bei der anaphoretischen Tauchlackierung (ATL) ist Aluminium als Anode geschaltet. Dabei laufen an der Anode Sekundärreaktionen ab, die nach dem Einbrennen die Sperrwirkung des Lackes gegen Korrosionsangriffe verbessern (Blecher 1992).
16 Schmelzschweißen von Aluminium
Das Schmelzschweißen von Aluminiumbauteilen gehört zu den Schlüsseltechnologien der Fertigungstechnik. Der Einsatz des Lichtbogenschweißens von Aluminium unter Schutzgas begann in Deutschland vor gut fünfzig Jahren und hat heute das ältere Gasschmelzschweißen in der industriellen Fertigung aus Qualitäts- und Produktivitätsgründen vollständig verdrängt. Die Entwicklung der mechanisierten Lichtbogenschweißtechnik für Aluminium hat in Verbindung mit der Strangpreßprofilbauweise den Durchbruch der modernen Aluminiumleichtbauweise bei Nahverkehrsund Hochgeschwindigkeits-Schienenfahrzeugen möglich gemacht. Die gleiche große Bedeutung hat die Aluminiumschweißtechnik aktuell für den Leichtbau von Personenkraftwagen, Nutzfahrzeugen und schnellen Katamaranschiffen, sowie für die Offshore-Technik erlangt und wird künftig auch den Flugzeugbau erobern. Insbesondere der im vergangenen Jahrzehnt erheblich gewachsene Einsatz von Aluminium in Strukturkomponenten des bisher stahldominierten PKW-Baus hat der Entwicklung der Aluminiumschweißtechnik entscheidende Impulse gegeben. Die dadurch ausgelöste Weiterentwicklung der Schutzgas-Lichtbogenschweißverfahren, Laserstrahl- und Elektronenstrahlverfahren sowie die Kombination von verschiedenartigen Schweißverfahren zu Hybridverfahren haben in neuerer Zeit die Einsatzbereiche, Verbindungsqualität und Wirtschaftlichkeit des Schmelzschweißens von Aluminiumknet- und Gußlegierungen erweitert und verbessert. Der Schweißprozeß bildet in der Schweißzone ein neues Gefüge und ändert damit die werkstofflichen Eigenschaften im Bereich der Verbindungsstelle. Abgesehen von den metallurgischen Aspekten werden als Folge der Erstarrung des Schweißbades und der Abkühlung der Wärmeeinflußzone Eigenspannungen sowie innere und äußere Unregelmäßigkeiten erzeugt, die von vielen Prozeß- und Geometrieparametern abhängig sind und die die Gebrauchseigenschaften – insbesondere die Schwingfestigkeit – der Schweißkonstruktion bestimmen. Im Rahmen dieser Ausführungen soll das Schweißen von Aluminium weniger aus prozeßtechnischer Sicht behandelt werden. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die werkstofflichen Fragestellungen: Wie reagiert der Werkstoff auf den Schweißprozeß und welche Auswirkungen hat das
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
Schweißen auf das Einsatzverhalten? Antworten auf diese Fragen sind Voraussetzung für richtige Gestaltung, Auslegung und Ausführung von geschweißten Aluminiumkonstruktionen, siehe hierzu Kap. 20. Folgerichtig wird der allumfassende Begriff „Schweißbarkeit“, der sowohl Werkstoff, Konstruktion als auch Prozeßtechnik beinhaltet, im folgenden auf den Unterbegriff „Schweißeignung“ eingeschränkt. Schweißeignung zeichnet einen Werkstoff aus, wenn mit diesem Werkstoff Schweißverbindungen mit zu gewährleistenden Eigenschaften zuverlässig hergestellt werden können. Da die Schweißeignung verschiedener Aluminiumlegierungen aber auch prozeßbedingt unterschiedlich sein kann, sollen gleichfalls die verschiedenen, für Aluminium einsetzbaren Schmelzschweißverfahren kurz erläutert werden. Zur Einführung in die Aluminiumschweißtechnik allgemein und in die Praxis des Aluminiumschweißens gibt es eine umfangreiche Fachliteratur (Krüger 1996, Schoer 2002, Dilthey 2005, Barka 1999, Saunders 1997), die durch das einschlägige und umfangreiche Normenwerk – s. Anhang, Tabelle A.4 – noch ergänzt wird.
16.1 Schweißeignung der Aluminiumwerkstoffe Aluminium und viele seiner Legierungen sind gut schmelzschweißbar. Allerdings ist das Schweißen von Aluminium in vielen Aspekten unterschiedlich zu dem von Stahl. Die Ursachen liegen in den unterschiedlichen thermophysikalischen und metallurgischen Eigenschaften der beiden Metalle begründet: s. Tabelle 16.1.1. Tabelle 16.1.1 Relevante Faktoren für das Schweißen von Aluminium im Vergleich zu Stahl Relevante Faktoren Aluminium Al2O3 Schmelzpunkt, °C 660 2050 Spezifische Wärme, kJ / kg K 0,89 Schmelzwärme, kJ/kg 390 Wärmeleitfähigkeit, J / m s K 230 Wärmeausdehnung, 10-6 / K 23,6 5,8 Dichte, g/cm³ 2,7 3,9 Oxidationsneigung hoch --Festigkeitsänderung der Naht Erniedrigung ----Verhältnis der Wasserstofflöslichkeit ∼ 20/1 von Schmelze zu Festzustand
C-Stahl 1460-1535 0,45 210 75 11,5 7,85 niedrig Erhöhung ∼ 4/1
Fe3O4/Fe2O3 1530/1570
5,2 -------
16.1 Schweißeignung der Aluminiumwerkstoffe
593
Im Einzelnen ergeben sich aus diesen Eigenschaftsunterschieden im Vergleich zu Stahl folgende Aspekte des Schweißverhaltens von Aluminiumwerkstoffen: • Aluminium hat einen sehr viel niedrigeren Schmelzpunkt als Stahl. Wegen der höheren spezifischen Wärme, höheren Schmelzwärme und höheren Wärmeleitfähigkeit ist allerdings im Vergleich zu Stahl ein ähnlich großer Wärmeeintrag für den Schmelzschweißprozeß notwendig. • Die hohe Wärmeleitfähigkeit von Aluminium bedeutet, daß die Wärme leicht aus der Schweißzone in den benachbarten Grundwerkstoff abfließt. Demzufolge ist darauf zu achten, daß bei Verbindungsstößen unterschiedlicher Dicke genügend Wärme in den dickeren Querschnitt eingebracht wird, um das Anschmelzen beider Nahtflanken zu erreichen, s. Schadensbild einem Wagenkasten des Bx-Wendezugwagens in Bild 16.1.1. • Der thermische Ausdehnungskoeffizient von Aluminium ist etwa zweimal so hoch wie der von Stahl. Verstärkt durch die hohe Wärmeleitfähigkeit des Aluminiums kann dies zu deutlichen thermischen Abmessungsänderungen beim Erwärmen führen. Folglich muß darauf geachtet werden, daß die Gesamtkonstruktion nicht übermäßigen Schweißspannungen ausgesetzt wird. • Aluminium hat eine starke Affinität zu Sauerstoff. Um die Oxidation des Schweißbades und der Nahtflanken zu vermeiden, ist es nötig, den Schweißvorgang in einer Atmosphäre inerter Gase wie Argon, Helium oder Gemischen aus beiden Gasen durchzuführen. • Der hohe Schmelzpunkt der natürlichen Oxidschicht des Aluminiums wird im Schweißprozeß nicht erreicht. Geschmolzenes Aluminium ist daher mit einer zähen Oxidschicht umgeben, die beseitigt werden muß, um eine metallische Verbindung herzustellen. Die aufgebrochenen Oxidhäute können rißähnliche Fehlstellen im Gefüge erzeugen, da sie wegen des höheren spezifischen Gewichtes in das spezifisch leichtere flüssige Metallbad eingeschwemmt werden. • Durch die Porosität der Deckschicht (s. Abschn. 5.2) werden Feuchtigkeit und Verunreinigungen (Öle und Fette) aufgenommen, die mit zunehmender Oxidschichtdicke eine verstärkte Porosität in der Schweißnaht verursachen können. • Während das Schweißen von Stahl gewöhnlich zu einem Festigkeitsanstieg in der Schweißnaht und der Wärmeeinflußzone führt, wird Aluminium durch Schweißen in der Wärmeeinflußzone (WEZ) entfestigt, es sei denn, der Grundwerkstoff liegt in einem weichen Zustand vor. Bei Belastung wird in einer geschweißten Aluminiumkonstruktion örtliche Verformung zuerst im Bereich der Schweißnaht auftreten, sofern nicht der Nahtbereich verstärkt wurde.
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
• Die Wasserstofflöslichkeit von geschmolzenem Aluminium nimmt bei der Erstarrung sprunghaft um den Faktor 20 ab, bei Stählen jedoch nur um den Faktor 4, s. Bild 3.3.15. Aluminiumschweißnähte neigen deshalb zu einer stärkeren Gasporosität als Stahlschweißnähte. Um die Wasserstoffaufnahme beim Schweißprozeß gering zu halten, sind alle Feuchtigkeitsquellen (Arbeitsatmosphäre, undichte Schweißpistole, verunreinigter Zusatzdraht, Drahtzuführungsrollen und Nahtflanken) auszuschalten. Es empfiehlt sich, das Schutzgas mindestens mit einem Taupunkt von -60 °C (entsprechend 10 ppm H2O) einzusetzen. • Eine gewisse Wasserstoffporosität läßt sich beim Aluminiumschweißen kaum vermeiden, hat aber auf die Verbindungseigenschaften keinen nachteiligen Effekt – vorausgesetzt, die Porosität überschreitet in Menge und Größe nicht ein kritisches Maß. Eine schnelle Erstarrung verringert die Porengefahr, da Porenbildung und -wachstum zeitabhängig sind. Bei langsamer Erstarrung können die Poren an die Badoberfläche treiben und entweichen. Besonders bei mittleren Erstarrungsgeschwindigkeiten muß man fast immer mit einem gewissen Porositätsgrad der Naht rechnen. Das Abarbeiten der Nahtüberhöhung kann innenliegende Poren anschneiden und zu örtlichen Spannungskonzentrationen führen.
Bild 16.1.1 Schweißnahtriß verursacht durch ungenügendes Aufschmelzen einer Nahtflanke (Morotini 1986)
Bezüglich ihrer Schweißeignung werden die Aluminiumknetlegierungen nach DIN EN 1011-4:2001 in Legierungsgruppen mit ähnlicher Schweiß-
16.1 Schweißeignung der Aluminiumwerkstoffe
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eignung eingeteilt. Die Tabellen 16.1.2 und 16.1.3 enthalten diese Einteilung gekennzeichnet durch Gruppennummern. Tabelle 16.1.2 Gruppeneinteilung der Aluminiumknetlegierungen bezüglich ihrer Schweißeignung Gruppennummer 21: Reinaluminium und Legierungen mit ≤ 1,5% Verunreinigungs- oder Legierungselementen 22.1: Al-Mg Legierungen mit ≤ 3,5% Mg 22.2: Al-Mg Legierungen mit 4% ≤ Mg ≤ 5,6% 23: Aushärtbare AlMgSi und AlZnMg Legierungen, die eine sorgfältige Kontrolle von Schweißwärme und Wärmebehandlung oder eine Wärmenachbehandlung benötigen
Chemisches Symbol (EN AW-) Al99,8 Al99,5 AlMn1 AlMg1 AlMg3 AlMg3Mn AlMg4 AlMg4,5Mn0,7 AlMgSi AlMg1SiCu AlSi1MgMn AlZn4,5Mg1
Legierungsnummer (EN AW-) 1080A 1050A 3103 5005 5754 5454 5086 5083 6060 6061 6082 7020
Tabelle 16.1.3 Gruppeneinteilung der Aluminiumgußlegierungen bezüglich ihrer Schweißeignung Gruppennummer 23: 24:
25: 26:
Chemisches Symbol (EN AC-) AlSi5Cu3 AlSi7Mg AlSiMg0,3 AlSi7Mg0,6 AlSi10Mg (a) AlSi9Mg AlSi11 AlSi12 (b) AlSi12 (a) AlSi12 (Fe) AlSi9 AlSi11Cu2 (Fe) AlSi7Cu2 AlMg3 (b) AlMg3 (a) AlMg5 AlMg5 (Si)
Legierungsnummer (EN AC-) 45 400 42 000 42 100 42 200 43 000 43 300 44 000 44 100 44 200 44 300 44 400 46 100 46 600 51 000 51 100 51 300 51 400
Beim Schweißen werden die Nahtflanken an der Stelle des Schweißstoßes aufgeschmolzen. Gemeinsam mit dem zugeführten Schweißzusatzdraht ergibt sich ein Schmelzbad, dessen Zusammensetzung eine Mischung aus den Anteilen und Legierungskomponenten des Grundwerk-
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
stoffs (GW) und Zusatzdrahts darstellt. Die Erstarrung des Schweißgutes folgt den grundsätzlichen Erstarrungsprozessen, die in Abschn. 3.3.2 ausführlich beschrieben wurden. Das Gefüge des Schweißgutes ist überwiegend dendritisch mit geringen Dendritenarmabständen infolge schneller Erstarrung durch den Wärmeabfluß in den Grundwerkstoff. Die Erstarrungsgeschwindigkeit läßt sich über die Dendritenarmabstände ermitteln. Bild 16.1.2 zeigt das Gefüge einer WIG-Schweißnaht im Übergang zum Grundwerkstoff und läßt die feine Dendritenstruktur sowie einige kleine Gasporen erkennen.
Bild 16.1.2 Gefüge einer Wolfram-Inertgas-(WIG-)Schweißverbindung an 2 mm dicken Blechen aus der Legierung AlZn4,5Mg1 (EN AW-7020-T6). Zusatzdrahtwerkstoff AlMg4,5Mn0,7(A) (Al 5183) (Quelle: SLV Berlin-Brandenburg)
Durch die eingebrachte Schmelzwärme entsteht beiderseits der Schweißnaht im Grundwerkstoff eine erwärmte Zone, in der die Temperatur von der Schweißbadtemperatur bis auf die Ausgangstemperatur des Werkstücks abfällt. Das Feingefüge und damit die Eigenschaften des Grundwerkstoffs ändern sich in dieser Zone je nach Temperaturhöhe und einwirkungsdauer, die deshalb als Wärmeeinflußzone (WEZ) bezeichnet wird. Bild 16.1.3 illustriert schematisch die Strukturelemente einer Schmelzschweißverbindung. Die Schmelzgrenze zwischen Schweißgut und Grundwerkstoff ist keine scharfe Grenze, sondern je nach Legierung eine schmalere oder breitere
16.1 Schweißeignung der Aluminiumwerkstoffe
597
Bild 16.1.3 Schematische Struktur einer Schmelzschweißverbindung: Grundwerkstoff, Nahtübergangszonen, Wärmeeinflußzonen und Schweißgut mit Porosität
Übergangszone, in der die Korngrenzen partiell angeschmolzen sein können. Insbesondere bei den warmrißempfindlichen AlMgSi-Legierungen kann es dabei zu inneren Korngrenzenöffnungen (engl. micro fissuring) im Nahtübergang kommen. Bild 16.1.4 zeigt derartige Korngrenzenöffnungen an einer Metall-Inertgas-(MIG-)Schweißverbindung. Durch die Wahl eines geeigneten Zusatzwerkstoffs (im betreffenden Beispiel: AlSi5 (Al 4043A)) und durch Vermeidung von Grobkorn in der Fügezone des Profils lassen sich derartige Korngrenzenanschmelzungen weitgehend vermeiden (Gitter et al. 1992, Borst et al. 1992, Schwellinger 1993).
Bild 16.1.4 Korngrenzenanschmelzungen im Nahtübergang einer MIG-Schweißnaht an einem Profil der Legierung AlSiMg(A) (EN AW-6005A-T6), Zusatzdraht AlMg4,5Mn0,7(A) (Al 5183)
Die Schweißeignung von Legierungen ist daher eng verknüpft mit der richtigen Wahl des Schweißzusatzes, meistens in Form von Zusatzdraht. Die verschiedenen Schweißzusatzlegierungen nach [DIN EN ISO 18273: 2004] sind in Tabelle 16.1.4 aufgelistet und dort in vier Typklassen einge-
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
teilt. Die Typennummern 1 bis 5 stimmen jeweils mit der ersten Ziffer der Legierungsgruppe überein. Die Auswahl des geeigneten Schweißzusatztyps für einen bestimmten Grundwerkstoff oder Werkstoffpaarung geschieht unter den Gesichtspunkten Festigkeit, Korrosionsbeständigkeit bzw. Schweißverhalten entsprechend den Angaben in Tabelle 16.1.5. Tabelle 16.1.4 Gruppeneinteilung für Schweißzusatzwerkstoffe Typ Typ 1
Typ 2 Typ 3 Typ 4
Typ 5
Legierungsbezeichnung Al 1070 Al 1080A Al 1188 Al 1100 Al 1200 Al 1450 Al 2319 Al 3103 Al 4009 Al 4010 Al 4011 Al 4018 Al 4043 Al 4043A Al 4046 Al 4047 Al 4047A Al 4145 Al 4643 Al 5249 Al 5554 Al 5654 Al 5754 Al 5356 Al 5556 Al 5556A Al 5183 Al 5087
Chemische Anmerkungen Bezeichnung Für artgleiche Schweißverbindungen. Al99,7 Al99,8(A) Al99,88 Al99,0Cu Ti verhindert durch Kornfeinung ErstarAl99,0 rungsrisse in Schweißverbindungen Al99,5Ti AlCu6MnZrTi Für artgleiche Verbindungen (AA2219) AlMn1 Für artgleiche Schweißverbindungen Bevorzugt für warmrißempfindliche AlSi5Cu1Mg AlMgSi-Legierungen sowie für AlSi-GußAlSi7Mg0,4 legierungen. AlSi7Mg0,5Ti Typ 4 Schweißzusätze haben gegenüber AlSi7Mg Typ 5 Zusätzen geringere Festigkeit und AlSi5 Zähigkeit. AlSi5(A) Schweißnähte nehmen mit zunehmendem AlSi10Mg Si-Gehalt beim Anodisieren eine dunkle AlSi12 Färbung an. AlSi12 (A) AlSi10Cu4 AlSi4Mg AlMg2Mn0,8Zr Für korrosionsresistente Verbindungen soAlMg2,7Mn wie für artgleiche Schweißverbindungen. AlMg3,5Ti Für hohe Dehngrenze und Bruchfestigkeit AlMg3 sollte ein Zusatzwerkstoff mit einem MgAlMg5Cr(A) Gehalt von 4,5 bis 5% verwendet werden. AlMg5Mn1Ti Ti, Cr und Zr verhindern durch KornfeiAlMg5Mn nung Erstarrungsrisse in SchweißverbinAlMg4,5Mn0,7(A)dungen, die unter Schrumpfbehinderung stehen. AlMg4,5MnZr
Die Rißanfälligkeit hängt stark vom Si- und Mg-Gehalt ab und durchläuft einen Höchstwert bei 0,75% Si bzw. 1,3% Mg, s. Bild 16.1.5. Die aushärtbaren AlMgSi-Legierungen liegen in ihrer Zusammensetzung im kritischen Bereich. Deshalb werden warmrißgefährdete Legierungen mit höher legierten, nicht aushärtbaren Zusatzwerkstoffen geschweißt, und man nimmt den Festigkeitsabfall in der Naht in Kauf. Der Einsatz aushärtbarer Zusatzwerkstoffe hat sich in der Praxis nicht bewährt.
16.1 Schweißeignung der Aluminiumwerkstoffe
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Tabelle 16.1.5 Auswahl geeigneter Typklassen von Schweißzusatzwerkstoffen für eine Verbindung von Werkstoffgruppe „A“ mit Werkstoffgruppe „B“, nach DIN EN 1011-4:2001 (s. Tabelle 16.1.4) und anderen Quellen Anmerkung: Wenn Grundwerkstoffe mit >2% Mg-Gehalt mit Zusatztyp AlSi5 oder AlSi10 verschweißt werden, versprödet die Naht durch übermäßige Mg2Si-Ausscheidungen. Solche Verbindungen werden nicht für schwingfeste oder stoßbeanspruchte Konstruktionen empfohlen. Wenn nicht vermeidbar, sollten AlSi5 oder AlMg5 verwendet werden. Werk- Bez.-Systoff stem „A“ ↓ 21 1xxx
Regel für die Wahl des Schweißzusatzes in jedem Kästchen: Zeile 1: höchste mechanische Eigenschaften Zeile 2: höchster Korrosionswiderstand Zeile 3: günstigste Schweißeignung
4 1 4 Typzahlen in () verweisen auf Werkstoffkom3xxx 4 4 binationen, die möglichst zu vermeiden sind (s. ohne Mg 1 1/3 Anmerkung). 4/3 4 22.1 3xxx1) 4/5 4/5 4/5 mit Mg 1/3 1/3 1/3 4 4 4 5xxx1) 4/5 4/5 4/5 4/5 mit Mg 54) 54) / 3 54) / 3 54) / 3 4/5 4/5 4/5 4/5 ≤3,5% 22.2 5xxx2) 5 5 5 5 5 mit Mg 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 ≥4% 23 6xxx3) 4/5 4/5 4/5 4/5 4/5 4/5 5 5 5 5 5 5 4 4 4 4 4 4 7xxx3) 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 24/25 AlSi5) 4 4 4 (4) (4) 4 (4 / 5) 4 AlSiCu5) 4 4 4 (4) (4) 4 (4) 4 (Guß) 4 4 4 (4) (4) 4 (4) 4 26 AlMg6) 5 5 5 5 5 5 5 (4 / 5) 5 (Guß) 5 5 5 5 5 5 5 (5) 5 5 5 5 5 5 5 5 (4) 5 Bez.-Sy- 1xxx 3xxx 3xxx1) 5xxx1) 5xxx2) 6xxx3) 7xxx3) AlSi AlMg stem ohne Mg mit Mg mit Mg mit Mg AlSiCu (Guß)6) (Guß)5) ≤3,5% ≥4% Werkstoff „B“ 21 22.1 22.2 23 24/25 26 1)
2)
Grundwerkstoffe mit geringen Mg-Gehalten neigen zu Schweißrissigkeit, s. Bild 16.1.5. Dies läßt sich durch Druckeinspannung der Nahtstelle sowie durch Schweißzusatz mit höherem Mg-Gehalt vermeiden. Unter bestimmten Bedingungen, z.B. durch Lagerung bei Temperaturen > 65°C, können Legierungen mit >3% Mg anfällig für internkristalline Korrosion und Spannungskorrosion werden. Je höher der Mg-Gehalt und / oder je stärker die Kaltverfestigung, desto stärker ist die Sensibilisierung.
600 3) 4)
5)
6)
16 Schmelzschweißen von Aluminium
Wegen Warmrißneigung nicht für Autogenschweißen (Gasschmelzschweißen) geeignet. Der Mg-Gehalt des Schweißgutes sollte einen Wert von 3% nicht überschreitet, um eine Sensibilisierung für interkristalline Korrosion und/oder Spannungskorrosion zu vermeiden. Deshalb sollten diese Legierungen möglichst mit artgleichem Zusatzdraht geschweißt werden. Der Si-Gehalt des Schweißzusatzwerkstoffes sollte mit demjenigen des Gußwerkstoffs so weit wie möglich übereinstimmen. Der Mg-Gehalt des Schweißzusatzwerkstoffs sollte mit demjenigen des Gußwerkstoffs so weit wie möglich übereinstimmen.
Bild 16.1.5 Einfluß des Legierungsgehalts an Magnesium und Silizium auf die Warmrißempfindlichkeit (Schweißrissigkeit) nach Pumphrey u.a.
Um nicht in den Bereich hoher Rißanfälligkeit zu gelangen, sollten entsprechend Tabelle 16.1.6 die Mindestgehalte an Silizium bei Al-SiLegierungen 2 % nicht unterschreiten. Der entsprechende Wert für Magnesium bei Al-Mg-Legierungen liegt bei 3,5 %. Cu-haltige Legierungen sind rißanfällig bei Gehalten zwischen 0,3% und 5% Cu. Auch die Cu-freien AlZnMg-Legierungen, z.B. EN AW-7020, werden nicht artgleich, sondern mit hoch Mg-haltigem Schweißdraht – empfohlen wird der Zusatzwerkstoff Al5087 (AlMg4,5MnZr) – geschweißt. Tabelle 16.1.6 Einfluß der Legierungsgehalte auf die Schweißrißempfindlichkeit (nach Pumphrey u.a.) Legierungssystem AlSi AlMg AlCu AlMgSi
höchste Rißempfindlichkeit bei 0,75% Si 1,2 % Mg 3 % Cu 0,5 % Si, 0,3 % Mg; 0,5–0,8 % Si bei gleichzeitig 0,2–1,2 % Mg
Mindestgehalt für gute Schweißbarkeit 2 % Si 3,5 % Mg 5 % Cu 2 % Si 3,5 % Mg
kritischer Temperaturbereich 660 bis 577 °C 660 bis 449 °C 660 bis 547 °C
16.1 Schweißeignung der Aluminiumwerkstoffe
601
Zum Ermitteln der Rißanfälligkeit von Aluminiumlegierungen beim Schweißen werden zahlreiche unterschiedliche Prüfverfahren eingesetzt. Bei Blechen hat sich besonders der Houldcroft („Fischgrät“)-Test bewährt (Houldcroft 1990). Er kann mit und ohne Zusatzwerkstoff durchgeführt werden. Die Probe besteht aus einer Rechteckplatte des zu prüfenden Werkstoffs mit je 8 beidseitig eingebrachten unterschiedlich tiefen Einschnitten, Bild 16.1.6. Durch die abnehmende Steifigkeit entlang der Schmelzlinie verringern sich die Schweißspannungen der Schweißnaht. Die Länge eines Schweißrisses ergibt ein Maß für die Schweißrißanfälligkeit der Legierung unter den gegebenen Schweißbedingungen. Ein Beispiel für den Einfluß des Schweißzusatzwerkstoffs auf die Rißanfälligkeit zeigt Bild 16.1.7 anhand der Houldcroft-Probe aus Legierung AA6013-T6.
Bild 16.1.6 Houldcroft-Probe zur Ermittlung der Schweißrißanfälligkeit von Blechproben
Bild 16.1.7 Houldcroft-Prüfung der Schweißrißneigung von 2,5 mm dicken Blechen der Legierung AA6013-T6. WIG-Schweißung a) ohne Schweißzusatz, b) mit Schweißzusatz Al5087 (AlMg4,5MnZr), c) mit Schweißzusatz Al4043 (AlSi5) (Quelle: Krüger, SLV Berlin-Brandenburg)
602
16 Schmelzschweißen von Aluminium
16.2 Eigenschaften von Aluminiumschweißverbindungen Die Festigkeitseigenschaften der Schweißverbindung werden durch die Schweißwärme in der WEZ um so stärker verringert, je höher die Kaltverfestigung oder Aushärtung des Grundwerkstoffs sind. Bild 16.2.1 zeigt beispielhaft den Verlauf der Festigkeitswerte über der Naht für eine naturharte (EN AW-5083) und eine ausgehärtete Legierung (EN AW-6082-T6).
Bild 16.2.1 Festigkeitsverläufe quer zur Schweißnaht von MIG-Schweißverbindungen von verschiedenen Legierungen in den Zuständen 0 (weich), H24 (halbhart, rückgeglüht) und T6 (warmausgehärtet) (Quelle: Alusuisse 1989)
AlZnMg-Legierungen. Die Möglichkeit der Festigkeitssteigerung durch nachträgliche, vollständige Wärmebehandlung ist zwar bei aushärtbaren Legierungen gegeben, jedoch aus praktischen Gründen häufig nicht möglich. Eine Ausnahme stellen Cu-freie AlZnMg-Legierungen dar, die ein breites Lösungstemperaturfeld (350°–500°C) und Abschreckunempfindlichkeit besitzen, und bei denen die Temperaturverteilung in der WEZ eine Auflösung und anschließend eine Wiederausscheidung der Aushärtungsphasen bei Raumtemperatur oder Warmaushärtungstemperaturen ermöglicht. Bild 16.2.2 illustriert diese Wiederaushärtbarkeit durch Wärmestoßbehandlung des Grundwerkstoffs AlZn4,5Mg1 (EN AW-7020). Nach 3 Monaten RT-Lagerung hat die Festigkeit der WEZ das Niveau des Grundwerkstoffs fast vollständig erreicht. Nur Zonen mit einer Erwärmung um 250 °C haben eine geringfügige Festigkeitseinbuße, s.a. Tabelle 16.2.1. Die Wahl des Ausgangszustands (T4, T6, T7) hat Auswirkungen auf die Gleichmäßigkeit der Verbindungsfestigkeit nach einer abschließenden T6 oder T7 Auslagerung. Untersuchungen an der Legierung EN AW-7108 haben gezeigt, daß Schweißverbindungen an Material im T6 und T7 Zustand im Übergang zwischen Naht und WEZ nach einer nachfolgenden
16.2 Eigenschaften von Aluminiumschweißverbindungen
603
Bild 16.2.2 Wiederaushärtungsverhalten von AlZn4,5Mg1-T6 und AlSi1MgMnT6 nach Wärmestoß (4 Min. bei der jeweiligen Temperatur). Die Kurvenzüge wurden ermittelt a) unmittelbar nach dem Wärmestoß, b) nach 1 Monat RT-Lagerung, c) nach 3 Monaten RT-Lagerung und d) nach 16h/160 °C (Quelle: VAW, Bonn) Tabelle 16.2.1 Mindestfestigkeitswerte von Grundwerkstoff und Schweißverbindungen der Legierung EN AW-7020-T5 nach 3 Monaten RT-Auslagerung Zusatzwerkstoff EN AW-
MIG-Stumpfstoß 1) WIG-Stumpfstoß 2)
Grundwerkstoff Rp0,2
Rm
A
Rp0,2
Rm
Rp0,2
[N/mm²] [N/mm²] [%] [N/mm²] [N/mm²] [N/mm²] 5087 / 5119 290 350 8 205 270 205 1) 2) Wanddicke ≤ 15 mm; Wanddicke ≤ 6 mm
Rm [N/mm²] 270
Warmauslagerung eine Zone geringerer Festigkeit aufweisen, die durch Vergröberung der T6- und T7-Ausscheidungen verursacht ist (Nicolas et al. 2004). Schweißverbindungen an T4 Material zeigten dagegen durch eine Nachwarmauslagerung gleichmäßig hohe Festigkeitswerte. Die Legierung EN AW-7020 wird wegen des Wiederaushärtungseffektes gerne dort für Schweißaufgaben eingesetzt, wo hohe statische Festigkeit gefordert wird, größere Wanddicken vorhanden sind und mehrere Schweißnähte in einem Punkt zusammenlaufen oder sich kreuzen. Eine Warmauslagerung (z.B. 120°C/24h) nach dem Schweißen sollte zur Vermeidung von Schichtkorrosionsanfälligkeit vorgesehen werden, wenn mit erheblicher Korrosionsbelastung zu rechnen ist, s. Bild 16.2.3. Dies ist jedoch von der Objektgröße abhängig und nicht immer durchführbar. In solchem Falle muß eine konstruktive Anpassung oder eine andere Legierungswahl getroffen werden.
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
Bild 16.2.3 Schichtkorrosionsschaden einer AlZn4,5Mg1 Schweißverbindung bei hoher Korrosionsbelastung (Morotini 1986). Eine Konstruktions- und Legierungsänderung (AlMgSi) brachte Abhilfe
AlMgSi-Legierungen. Anders verhalten sich AlMgSi-Legierungen, bei denen durch nachträgliche Kaltaushärtung keine signifikante Festigkeitssteigerung in der WEZ eintritt, s. Beispiel AlSi1MgMn-T6 in Bild 16.2.2. Durch Warmauslagern nach dem Schweißen ist nur ein geringer Festigkeitsanstieg erzielbar. Der Festigkeitsgewinn ist größer, wenn der Werkstoff im Zustand T4 verschweißt wird. Durch nachträgliches Warmauslagern kann man die Schweißnahtfestigkeit auf 70 bis 80 % der Grundmetallfestigkeit anheben. Mechanische Eigenschaften von Schweißverbindungen an Legierungen des Schienenfahrzeugbaus enthält Tabelle 2.3.2. Für AlMgSi-Legierungen hat man die Wahl zwischen AlSi- und AlMgSchweißzusatzwerkstoffen, s. Tabelle 16.1.5. Die Art des Zusatzwerkstoffs hat Einfluß auf die Nahteigenschaften bzgl. Festigkeit und Rißzähigkeit sowie auf die Fließeigenschaften des Schmelzbades. Bei entsprechender Wahl optimaler Schweißbedingungen erhält man mit AlSi-Zusatzdraht eine kerbärmere Ausbildung des Nahtübergangs sowie eine geringere Neigung zu Korngrenzenanschmelzungen im Bereich der Schmelzlinie als mit AlMg-Zusatzdraht. Bild 16.2.4 enthält Gefügeausschnitte aus dem kritischen Bereich der WEZ nahe der Schmelzlinie von MIG-geschweißten Stumpfstößen an AlSi1MgMn-Platten unter Verwendung von AlSi5 (Al 4043A) und AlMg4,5Mn0,7(A) (Al 5183) Zusatzdraht (Baur 1995), die die Neigung zu rißähnlichen Korngrenzenöffnungen bei Verwendung von AlMg-Zusatzdraht zeigen (s.a. Bild 16.1.4). Dieses Phänomen ist vermutlich die Ursache für die gemessene geringere Duktilität der WEZ, s. „WEZ1“ und „WEZ2“ in Bild 16.2.5. Andererseits ist die Rißinitiierungszähigkeit Ji des AlSi5-Schweißgutes (Ji = 3,5 kJ/m²) deutlich niedriger als die des AlMg4,5Mn0,7-Schweißgutes (Ji = 5,4 kJ/m²) sowie die der Grundwerkstoffe (Ji ≈ 10 kN/m²) und der Wärmeeinflußzone in unmittelbarer Nähe der Schmelzfront (Baur 1995, Baur et al. 1997, Sonsino et al.
16.2 Eigenschaften von Aluminiumschweißverbindungen
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2001). Auch der Widerstand gegen Rißerweiterung, dargestellt durch die Rißwiderstandskurven JR(∆a) in Bild 16.2.6, ist für den AlMg-Grundwerkstoff und das AlMg-Schweißgut deutlich höher als für den AlMgSiWerkstoff (gemessen in der schwächeren TL-Richtung) und für das AlSi5Schweißgut. Die geeignete Wahl des Schweißzusatzwerkstoffs für AlMgSi-Legierungen sollte demnach auf einer kritischen Betriebsanalyse des jeweiligen Anwendungsfalls beruhen.
Bild 16.2.4 Gefügeausschnitte (Querschliff) der MIG-Schweißnähte an AlSi1MgMn-Walzplatten. Schweißzusatzwerkstoff: a) AlSi5, b) AlMg4,5Mn0,7(A) (Baur 1995)
Bild 16.2.5 Wahre Spannungs-Dehnungskurven ermittelt mit Kleinproben (Meßlängendurchmesser 2 mm), entnommen parallel zur Schweißnaht einer mehrlagigen DHV-MIG-Naht an 25 mm dicken Walzplatten aus Legierung EN AW-6082T6, Schweißzusatzwerkstoff AlSi5 (Bild links) und AlMg4,5Mn0,7(A) (Bild rechts). GW = Grundwerkstoff, SG = Schweißgut, WEZ1-3 = Wärmeeinflußzonen ausgehend von der Schmelzlinie (Baur 1995)
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
Bild 16.2.6 Rißwiderstandskurven J(∆a), ermittelt im 3-Punkt-Biegeversuch, von Proben mit Rißlagen in verschiedenen Gefügezonen von MIG-Schweißverbindungen an 25 mm dicken Walzplatten aus EN AW-6082-T6 und EN AW-5083-0. Rißlagen: im Grundwerkstoff (GW) in TL-Richtung, in der WEZ (nur AlSi1MgMn) sowie im Schweißgut Al 4043(A) und Al 5183 (Baur 1995)
Die verminderte Festigkeit in der WEZ bei ausgehärteten und verfestigten Legierungen steht im Zusammenhang mit der Höhe und Dauer der Wärmeeinbringung durch den Schweißprozeß und ist deshalb vom verwendeten Schweißverfahren und den eingestellten Schweißparametern abhängig. Je geringer die Wärmeeinbringung („Streckenenergie“), um so schmaler ist die WEZ und um so geringer ist die Festigkeitseinbuße, wie die Härteverläufe und Ausdehnung der WEZ am Beispiel der warmausgehärteten Legierung AlMg1SiCu in Bild 16.2.8 illustrieren. Andererseits aber kann sich eine schmale WEZ ungünstig auf das Rißzähigkeitsverhalten auswirken, wenn damit – bei entsprechender Materialdicke – ein steiler Gradient der Fließspannung verbunden ist, der die plastische Zone an der Rißspitze einschränkt (Baur et al. 1997). Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die geeignete Wahl des Schweißzusatzwerkstoffs (insbesondere für AlMgSi-Legierungen), des Schweißverfahrens und der Schweißparameter auf einer kritischen Analyse der Anforderungen des jeweiligen Anwendungsfalls beruhen sollte. Betrachtet werden sollten auch die Anforderungen an die Gefügequalität des Grundwerkstoffs in Verbindung mit den gewählten Schweißparametern, um ein optimales Verformungs- und Versagensverhalten zu erzielen. Diese Forderung gilt besonders für den Fall hochdynamischer Beanspruchung (Oeser et al. 2000).
16.3 Schmelzschweißverfahren für Aluminium
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Bild 16.2.7 Einfluß der Wärmeeinbringung („Streckenenergie“) auf den Härteverlauf und die Breite der WEZ bei der Legierung AA6061-T6, nach Saunders (1997)
16.3 Schmelzschweißverfahren für Aluminium Das Schmelzschweißen von Aluminium und seinen Legierungen kann mit einer Reihe von Verfahren durchgeführt werden. Zu den wichtigsten Verfahren zählen: • • • • •
Metall-Inert-Gas (MIG-) und MIG-Impuls-Schweißen Wolfram Inert-Gas (WIG-)-Schweißen Plasma-MIG- und Plasma-WIG-Schweißen Laserstrahl- und Elektronenstrahlschweißen Laser-MIG-Hybridverfahren.
Gasschweißen und Metall-Lichtbogenschweißen mit ummantelter Stabelektrode werden zwar gelegentlich noch handwerklich, aber kaum industriell eingesetzt. 16.3.1 Schutzgas-Lichtbogenschweißen Schutzgas-Lichtbogenschweißen ist die gebräuchlichste Schweißmethode, die bei Aluminium angewendet wird. Es ist kostengünstig auszuführen, erzielt hohe Temperaturen, liefert konzentrierte Wärmezufuhr und ist manuell und mechanisiert einsetzbar. Sowohl Gleichstrom- als auch Wechselstromquellen werden verwendet. Als Schutzgase werden Argon und Helium bzw. Gemische aus beiden Gasen eingesetzt, um das Schweißbad ge-
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
gen Oxidation zu schützen. Das Inertgas ionisiert und bildet einen Plasmamantel um den Lichtbogen, s. Bild 16.3.1.
Bild 16.3.1 Prinzip des Schutzgas-Lichtbogenschweißprozesses
Da Helium einen höheren Ionisationsgrad als Argon erreicht, ist die Energie seines Lichtbogens größer, und somit liefert Helium höhere Temperaturen. Die Energie des Lichtbogens beeinflußt die Form des Schweißbades. Helium bewirkt tieferes Aufschmelzen, während Argon mehr ein flaches, aber breiteres Schweißbad erzeugt. Der Nachteil ist, daß Helium teuer ist und somit nur in Sonderfällen allein verwendet wird. Um eine Fusion des Metalls und eine akzeptable Schweißnahtqualität zu erzielen, müssen drei Grundforderungen erfüllt werden, nämlich das Entfernen des Oxidfilms, eine geeignete Wärmeeinkopplung in das Werkstück und Verhindern neuer Oxidschichtbildung während des Schweißprozesses. Die Erfüllung dieser Anforderungen wird durch bestimmte Kombinationen von Stromart und -polung mit dem entsprechenden Schutzgas bzw. Schutzgasgemisch erzielt, s. Bilder 16.3.1 und 16.3.2.
Bild 16.3.2 Einfluß von Stromart und Schutzgas auf die Lichtbogeneigenschaften
16.3 Schmelzschweißverfahren für Aluminium
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Grundsätzlich können die Stromarten Gleichstrom und Wechselstrom verwendet werden: • Gleichstromlichtbogen mit Pluspolung der Elektrode erzeugt einen Elektronenstrom vom Werkstück auf die Elektrode und eine Zertrümmerung der Oxidschicht durch Bombardement mit schweren Arund He-Ionen. Die Wärmekopplung ins Werkstück ist gering. • Gleichstrom-Lichtbogen mit Minuspolung der Elektrode verringert die thermische Belastung der Elektrode, aber auch die Reinigungswirkung. Als Schutzgas wird Helium verwendet, dessen hohe Lichtbogenenergie die Oxidschicht aufbricht. Die Ar-Lichtbogenenergie reicht hierzu nicht aus. • Wechselstrom ist ein guter Kompromiß gegenüber diesen beiden Alternativen. Schutzgase
Für das Schweißen von Aluminium wird als inertes Schutzgas vorwiegend Argon eingesetzt. In Abhängigkeit vom Verfahren und der Schweißaufgabe können jedoch auch Helium oder Argon-Helium-Gemische eingesetzt werden. Geringe Zugaben von Stickstoff (N2) oder auch Sauerstoff (O2) kommen ebenfalls zum Einsatz. Argon eignet sich besonders als Schutzgas, da es schwerer ist als Luft und somit das Schmelzbad und die Umgebungszone gut abdeckt. Die guten Schweißeigenschaften von Argon sind hauptsächlich gegeben durch eine geringe Lichtbogenspannung und eine gute Ionisation der Lichtbogenstrecke, was zu guten Zündeigenschaften und einem stabil brennenden Lichtbogen führt. Helium ist wesentlich teurer als Argon. Hinzu kommt, daß Helium wesentlich leichter als Luft ist, so daß zur Abdeckung des Schweißbereiches größere Mengen als bei Argon benötigt werden. Durch die wesentlich höhere Lichtbogenspannung (bei gleicher Bogenlänge) erhöht sich die Lichtbogenleistung. Dies bedeutet tieferen Einbrand bzw. höhere Schweißgeschwindigkeit. Argon-Helium-Gemische. Um die Vorteile beider Gase auszunutzen, setzt man vielfach Gemische ein. Handelsüblich sind Ar/He 70:30, 50:50, 30:70. Reines Helium wird seltener eingesetzt, da der sehr „harte“ Lichtbogen schlecht zündet und nicht stabil brennt. Durch einen Zusatz von Helium verbessert man die Einbrandgeometrie und erhöht die Einbrandtiefe bzw. Schweißgeschwindigkeit. Schutzgase mit N2 und O2. Zur Leistungssteigerung und zur Verbesserung der Lichtbogenstabilität werden gelegentlich geringe Mengen an N2 und O2 den reinen Schutzgasen bzw. den Gasgemischen zugesetzt. Im
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
Lichtbogen dissoziieren diese aktiven Gase und rekombinieren wieder. Bei diesem Vorgang wird Rekombinationswärme frei. Damit erreicht man einen höheren Wirkungsgrad. Bei Verwendung von O2 sollte immer mit einem Mg-haltigen Draht geschweißt werden, da das im Lichtbogen abdampfende Mg eine größere Affinität zu O2 hat als die Aluminiumschmelze. Das sich bildende Magnesiumoxid lagert sich als weißer Niederschlag am Brenner ab. MIG-Schweißen
Beim MIG-Schweißen ist der Zusatzwerkstoff die Elektrode. Die Elektrode ist gewöhnlich positiv gepolt, und die intensive Hitze, die an der Elektrode durch den Gleichstrom entsteht, ermöglicht eine hohe Abschmelzleistung. MIG-Schweißen wird bei Materialdicken über 2–3 mm eingesetzt. Der Zusatzdraht wird mit Durchmessern zwischen 0,8 und 2 mm auf Drahtspulen geliefert und über Drahtführungsrollen dem Schweißbrenner zugeführt. Die Methode ist schnell und kann automatisiert werden. Der Hauptnachteil des MIG-Schweißens ist, daß es sich nicht für dünnwandige Werkstücke unter 2 mm Dicke eignet. Damit es am Nahtende nicht zu Endkraterschrumpfrissen kommt, sollte die Stromquelle mit einem automatischen down-slope-Programm ausgerüstet sein und das Schutzgas noch einige Sekunden lang nachfließen.
Bild 16.3.3 Prinzip der MIG- und WIG-Lichtbogenschweißverfahren
Es sind verschiedene Verfahrensvarianten des MIG-Prozesses entwickelt worden, um die Nahtqualität, Schweißgeschwindigkeiten und andere Verfahrensgrenzen zu verbessern. Eine Variante des MIG-Verfahrens ist das
16.3 Schmelzschweißverfahren für Aluminium
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MIG-Impuls-Schweißen. Hierbei wird ausgehend von einem niedrigen Grundstrom ein Stromimpuls überlagert, der einen Tropfenübergang unterhalb des Schwellwertes für den jeweiligen Drahtdurchmesser verursacht. Der Tropfenübergang wird durch die Impulsfrequenz und Impulsstromstärke bestimmt, s. Bild 16.3.4. Die Vorteile dieses Verfahrens sind: • die Verwendung von dickerem Schweißdraht mit günstigeren Kosten und sichererem Drahtvorschub, • geringere Wärmeeinbringung in das Werkstück, dadurch geringere Werkstückdicke (2 mm) und geringerer Verzug möglich, • bessere Nahtform und weniger Spritzer, • gleichmäßiges Durchschweißen ohne Badstützen bis zu Materialdicken von 5 mm, • besserer Metallübertrag in schwierigeren Schweißpositionen. Die Gerätekosten sind etwas höher als für das konventionelle MIGSchweißen, jedoch gleichen die Vorteile diesen Nachteil aus.
Bild 16.3.4 Prinzip des MIG-Impulsschweißens
Im Makrogefüge von MIG-Impulsschweißungen wird der Einfluß der Schutzgasart deutlich. Die höhere Wärmeeinkopplung durch den HeLichtbogen führt zu einer breiteren und glatten Naht, s. Bild 16.3.5.
Bild 16.3.5 Makrogefüge und Nahtform von MIG-Impulsschweißungen unter Argon und Argon/Helium-Gemisch. Grundwerkstoff: AlMg4,5Mn0,7-H111; 2,5 mm dick; Schweißzusatz: Al5183; Schweißstoß I; Position PA (Quelle: U. Krüger, SLV Berlin Brandenburg)
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
Plasma-MIG-Schweißen ist eine weitere Verfahrensvariante des MIGSchweißens und stellt ein Hybridverfahren zwischen MIG und WIG dar, s. Bild 16.3.6. Der Zusatzdraht und der Lichtbogen zwischen Draht und Werkstück werden mit einem Lichtbogenplasma umgeben, das sowohl das Werkstück als auch den Draht vorwärmt, so daß Kaltstellen am Nahtanfang vermieden werden können und die Abschmelzleistung erhöht wird. Das Verfahren eignet sich für das Schweißen größerer Wanddicken; auch können noch dickere Bleche mit I-Stoß verbunden werden. Ein weiterer Vorteil ist die sehr hohe Nahtqualität. Das Verfahren ist wegen der großen Brennerabmessungen nicht für Handschweißen geeignet; es wird vorwiegend für Automatenschweißen bzw. mechanisiertes Schweißen eingesetzt.
Bild 16.3.6 Prinzip des Plasma-MIG-Schweißverfahrens
Das MIG-Mehrdrahtschweißen („Doppeldrahtschweißen“, „Zweidrahtschweißen“) von Aluminiumwerkstoffen arbeitet mit zwei Zusatzdrähten, die in geringem Abstand hintereinander angeordnet sind und das gleiche Schweißbad erhitzen und füllen. Je nach Verfahrensvariante wird mit einer oder mit zwei separaten, jedoch synchronisierten Stromquellen gearbeitet. Die Schweißgeschwindigkeit wird um ein Mehrfaches erhöht und unter günstigen Einsatzbedingungen können Schweißgüte (Porosität), Spritzerneigung, Spaltüberbrückbarkeit und Verzug verbessert werden. Die Prozeßkontrolle wird durch ein Stromprogramm für den Anfangs- und Arbeitsstrom und für die Endkraterfüllung ergänzt. Die Wirtschaftlichkeit des Verfahrens muß wegen der höheren Gerätekosten jeweils anwendungsfallbezogen ermittelt werden. Das Laser-MIG-Hybridschweißverfahren ist eine weitere Verfahrensentwicklung, die einerseits die Grenzen des Laserstrahlschweißens hin-
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sichtlich Spaltüberbrückbarkeit und Nahtoberfläche und andererseits das MIG-Verfahren bezüglich Tiefschweißeffekt, Geschwindigkeit und Nahtqualität verbessert. Das Verfahrensprinzip ist in Bild 16.3.7 skizziert. Das Laser-MIG-Hybridschweißverfahren wird zunehmend in der Rohbaufertigung der Automobilindustrie eingesetzt.
Bild 16.3.7 Prinzipschema des Laser-MIG-Hybridschweißverfahrens
WIG-Schweißen
WIG-Schweißen benutzt eine nichtabschmelzende Elektrode aus Wolfram, s. Bild 16.3.3. Gewöhnlich wird Wechselstrom verwendet, um Überhitzungen der Elektrode zu vermeiden. Wolfram emittiert sehr gut Elektronen, Aluminium hingegen nicht. Aus diesem Grunde erlischt der Lichtbogen beim Nulldurchgang. Um den Lichtbogen zu stabilisieren, muß die beim WIG-Schweißen verwendete Energiequelle einen Hochfrequenzgenerator umfassen. Das WIG-Verfahren kann bei geringeren Werkstückwanddicken eingesetzt werden als das MIG-Schweißen. Ein weiterer Vorteil ist, daß man es mit oder ohne Schweißzusatz anwenden kann. Die Schweißnahtqualität (Oberfläche, Einbrandkerben) ist normalerweise sehr gut, Poren in der Naht sind weniger problematisch als beim MIG-Schweißen. Das Verfahren kann für Materialdicken zwischen 0,1 und 25 mm verwendet werden, der gebräuchliche Einsatzbereich aber ist 1–2 mm, manchmal bis 10 mm Wanddicke. Als Schutzgas wird meistens reines Argon nach DIN EN 439 verwendet. Der Lichtbogen brennt unter Argon sehr stabil und läßt sich gut zünden.
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
Stromdichte und Wärmeeintrag des Lichtbogens sind beim WIGSchweißen geringer als beim MIG-Schweißen. Daher sind auch die Schweißgeschwindigkeit und die Eindringtiefe beim WIG-Schweißen geringer. Davon abgesehen erhält man mit dem WIG-Schweißverfahren sehr gute Schweißnähte mit guter Prozeßkontrolle. Arbeitet man beim WIG-Schweißen mit Gleichstrom und liegt die Elektrode am Pluspol, wird eine sehr gute Reinigungswirkung der Nahtflanken erzielt. Durch die hohe Wärmebelastung der Elektrode kann es jedoch zu Wolframverunreinigungen des Schweißbades kommen. Dagegen verteilt sich beim Arbeiten mit normalem Wechselstrom die Wärme zu 50% auf die Elektrode und zu 50% aufs Werkstück. Die Reinigungswirkung ist gut; ein Schmelzen der Wolfram-Elektrode wird vermieden. Wenn man beim WIG-Schweißen mit Wechselstrom Schweißstromquellen einsetzt, mit denen die Periode der positiven Halbwelle gegenüber der negativen Halbwelle verändert werden kann, können selbst Aluminiumbleche mit einer Stärke von nur 0,4mm geschweißt werden. Stromart, Polarität und Schutzgasart haben Einfluß auf die Nahtgeometrie. Im Schliffbild in Bild 16.3.8 zeigt sich der flache und breite Einbrand beim WIG-Gleichstromschweißen mit Pluspolung unter Argonschutz. Beim Wechselstromschweißen macht sich das Zumischen von Helium in einem breiteren Einbrandprofil bemerkbar.
Bild 16.3.8 Makrogefüge von WIG-Schweißungen an 2,5 mm dickem Blech aus AlZn4,5Mg1-T6 mit Wechsel- und Gleichstrom; Schweißzusatz S-AlMg4,5Mn (Quelle: U. Krüger, SLV Berlin Brandenburg)
In Tabelle 16.3.1 wird ein Vergleich zwischen drei wichtigen Schweißverfahren für Aluminiumschweißkonstruktionen gezogen.
16.3 Schmelzschweißverfahren für Aluminium
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Tabelle 16.3.1 Vergleich zwischen gebräuchlichen Schweißverfahren Kontrolle der Energieeinkopplung Einbrand Materialdicke 1 mm 2 mm 4 mm 6 mm Nahtqualität Anforderungen an Schweißpersonal Gerätekosten Schweißgeschwindigkeit Manövrierfähigkeit
MIG gut* hoch
Plasma-MIG WIG ausgezeichnet** sehr gut** kontrollierbar gering
nein schwierig*** sehr gut sehr gut gut**** gering moderat hoch begrenzt
möglich gut sehr gut sehr gut sehr gut mittel hoch hoch/sehr hoch niedrig
gut sehr gut möglich sehr langsam sehr gut höher moderat niedrig gut
*) abhängig von der Drahtvorschubgeschwindigkeit **) kann unabhängig von der Drahtvorschubgeschwindigkeit kontrolliert werden ***) besser mit MIG-Impulsverfahren ****) Vermeiden von Poren in der Schweißraupe ist problematisch
Schweißbadstützen
Schweißen mit Schweißbadstützen ist in allen Positionen sinnvoll, um eine volle Durchschweißung zu erzielen. Die Schweißbadstütze sollte eine Nut aufweisen, damit ein sicheres Durchschweißen gewährleistet und ein gleichmäßiger Wurzeldurchhang erzielt wird. Gleichzeitig wird ein Nahtdurchfall verhindert. Bei Blechen heftet man ein entsprechendes kleines Strangpreßprofil durch Schrittschweißung auf der Unterseite fest. Da diese Badstützen nicht angeschmolzen werden sollen, spielt die Art der Aluminiumlegierung keine Rolle (handelsüblich EN AW-6060). Werden die Bleche auf einer Unterlage aufgespannt, so kann auch eine wiederverwendbare Badstütze aus Kupfer oder rostfreiem Stahl eingesetzt werden. Bei Strangpreßprofilen, die geschweißt werden, wird die Schweißkantenvorbereitung und die Badstütze direkt mitgepreßt, s. Bild 16.3.9.
Bild 16.3.9 Schweißbadstütze mit Positionierhilfe für Längsnähte an einem Strangpreßprofil aus Legierung EN AW-6005A (Oeser et al. 2000)
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
16.3.2 Strahlschweißverfahren Zu den Strahlschweißverfahren zählen das Elektronenstrahlschweißen und das Laserstrahlschweißen. Letzteres wird in besonderem Maße zunehmend für verbindungstechnische Aufgaben bei der Aluminiumverarbeitung, z.B. im Automobilbau, eingesetzt. Elektronenstrahlschweißen
Unter Elektronenstrahlschweißen (EB-Schweißen) versteht man ein Schmelzschweißverfahren, bei dem die Schweißwärme von einem hochbeschleunigten, gebündelten Elektronenstrahl erzeugt wird (Beschleunigungsspannung ca. 180.000 kV). Dieser Elektronenstrahl trifft mit hoher Geschwindigkeit auf das Werkstück, das sich in der Regel in einer Vakuumkammer befindet. Der Elektronenstrahl wird auf die Werkstückoberfläche in einem Brennpunkt fokussiert und mit hoher Energiedichte von bis zu 109 W/cm² in die Werkstückoberfläche eingekoppelt. Auf diese Weise können sehr tiefe und schmale Schweißnähte hergestellt werden. Z.B. konnten 150 mm dicke Aluminiumteile in einem einzigen Arbeitsschritt miteinander verschweißt werden, wobei das Verhältnis zwischen Tiefe und Breite der Naht 20:1 betrug. Schutzgas erübrigt sich durch das Vakuum. Das Verfahrensprinzip ist in Bild 16.3.10 dargestellt. Durch Sondervorrichtungen kann auch mit Schweißzusatzdraht gearbeitet werden. Durch seine masselose Ablenkungsmöglichkeit kann der Strahl auf einfache Weise gependelt werden. Auf diese Weise ist selbst bei dem schmalen Wirkquerschnitt des Strahls eine gute Spaltüberbrückung gegeben.
Bild 16.3.10 Verfahrensprinzip einer Elektronenschweißanlage mit Vakuumkammer
16.3 Schmelzschweißverfahren für Aluminium
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Alternativ zum Vakuumschweißen kann Elektronenstrahlschweißen auch an Luft geschehen (sog. NVEBW – Non-Vacuum Electron Beam Welding), wobei der Strahl durch mehrere differentielle Druckkammerstufen mit schmalen Öffnungen aus dem Vakuumsystem herausgeführt wird. In diesem Fall wird die Schweißzone mit Helium geschützt. Da beim Prozeß Röntgenstrahlung freigesetzt wird, muß die Anlage in strahlungssicherem Gehäuse untergebracht sein. Ein Beispiel für die Großserienfertigung eines NVEBW-geschweißten AlMg3-Modulträgers für den Automobilbau wird in (Gomes-Buco et al. 1997) beschrieben. Aufgrund der konzentrierten Schweißwärme und der Form der Schweißnähte (keine V-Form) ist beim Elektronenstrahlschweißen die Wärmeeinflußzone extrem schmal und der Verzug minimal. EB-Schweißen ist für Aluminium nicht nur wegen der schmalen WEZ und der damit bedingten höheren Festigkeitseigenschaften vorteilhaft, es werden auch hohe Schweißgeschwindigkeiten bis zu 20 m/min. erreicht (Dilthey, et al. 2000). Zudem sind auch hochfeste Legierungen der 2xxx- und 7xxx-er Reihe erfolgreich verschweißt worden. Wegen des Mg-Abbrands (Verdampfung) sollten Mg-haltige Legierungen nur mit >3% Mg geschweißt werden, um Schweißrisse zu vermeiden. Bei hohen Mg-Gehalten besteht die Gefahr zunehmender Porenbildung. Laserstrahlschweißen
Beim Laserstrahlschweißen wird die Schweißwärme von einem Strahl aus gebündeltem monochromatischen Licht beim Auftreffen auf das Werkstück erzeugt. Dieses Verfahren ist ähnlich effizient wie das Elektronenstrahlschweißen, benötigt jedoch keine speziellen Umgebungsbedingungen, wie z.B. Vakuumkammer oder Röntgenstrahlschutz. Der Laserstrahl wird in einem sog. Resonator erzeugt, über ein Strahlführungssystem zu einer Bearbeitungsstation geführt und mit Hilfe einer Linse oder eines Spiegels auf das Werkstück fokussiert. Die geringe Divergenz der Laserstrahlen ermöglicht eine größere Entfernung des Werkstücks von der Laserstrahlquelle als beim Elektronenstrahlschweißen. Durch die Absorption der infraroten Laserstrahlung an der Werkstückoberfläche wird örtlich die Strahlenergie in das Werkstück eingekoppelt und bei genügender Absorption der Strahlenergie der Werkstoff aufgeschmolzen. Die Schweißnaht entsteht in der Regel durch Bewegung des Werkstücks unter dem Strahl. Das sog. Tiefschweißen tritt oberhalb einer materialabhängigen Schwellintensität des absorbierten Strahls ein, wobei der Werkstoff durch die hohe Strahlungsintensitäten teilweise verdampft und ionisiert. Dabei bildet sich eine Dampfkapillare vom Durchmesser des fokussierten Laser-
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
strahls (~ 0,5 bis 1 mm), s. Bild 16.3.11. Das Metalldampfplasma in der Dampfkapillare fördert die Absorption der Strahlenergie und gibt sie an die umgebende Wand der Dampfkapillare ab. Durch diese Dampfkapillare kann der Laserstrahl tief in das Werkstück eindringen (Tiefschweißeffekt), wobei die Einschweißtiefe mit weiter zunehmender Strahlintensität ansteigt. Beim Tiefschweißen wird die von Schmelze umgebene Dampfkapillare durch den Werkstoff geführt. Durch die Vorschubbewegung strömt ein Teil der Schmelze um die Kapillare herum und erstarrt, während der andere Teil der Schmelze verdampft und als ionisierter Metalldampf aus der Kapillare heraustritt.
Bild 16.3.11 Prinzip des Laserstrahlschweißens
Die Absorption des Laserstrahls hängt von der Wellenlänge der Laserstrahlen, der Oberfläche des Werkstücks sowie von seinen physikalischen Eigenschaften ab. Das Absorptionsvermögen von Metallen für infrarote Laserstrahlung ist grundsätzlich sehr gering, hängt jedoch werkstoffspezifisch von der jeweiligen Wellenlänge λ und damit von der Art des Laserstrahls ab. Stahl absorbiert z.B. die kurzwelligen Strahlen eines Festkörperlasers (Nd-YAG: λ = 1,06 µm) zu etwa 30% und die langwelligen CO2Laserstrahlen (λ = 10,6 µm) nur zu etwa 10%. Die restlichen Strahlen werden reflektiert. Aluminium hat insbesondere für CO2-Strahlen ein geringeres Absorptionsvermögen von nur 2%, für Nd-YAG-Laserstrahlen jedoch von ca. 14%. Der Absorptionsgrad wird außerdem durch die physikalischen Eigenschaften der Metalloberfläche bestimmt. Technische Oberflächen mit hoher Rauhigkeit oder Farb- und Oxidschichten reflektieren deutlich weniger als polierte Werkstücke.
16.3 Schmelzschweißverfahren für Aluminium
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Da die kürzere Wellenlänge des Nd-YAG-Lasers von Aluminium besser absorbiert wird, ist die Schwellenintensität geringer und die Einschweißtiefe größer als von CO2-Laserstrahlen. Andererseits ist wegen der höheren Wärmeleitfähigkeit und spezifischen Wärmekapazität des Aluminiums gegenüber Stahl eine größere Energieeinkopplung erforderlich, wodurch die Schwellenintensität angehoben wird. Legierungselemente des Aluminiums, wie Magnesium und Zink, verdampfen bereits bei niedrigeren Temperaturen als Aluminium und verursachen auf diese Weise eine Dampfkapillarenbildung bei niedrigeren auf den Fokusdurchmesser bezogenen Laserleistungen. Für höher legierte Aluminiumwerkstoffe gelten deshalb niedrigere Schwellenintensitäten (Hohenberger et al. 1997). Im oberen Bereich des Tiefschweißens wird der Laserstrahl zunehmend durch die stärker werdende Plasmawirkung gestreut und gebremst. Da die Absorption der infraroten Laserstrahlung im Plasma mit dem Quadrat der Wellenlänge zunimmt, ist die Abschirmungswirkung bei CO2-Laserstrahlen bei vergleichbaren Laserleistungen größer als von ND-YAG-Laserstrahlen. Die Plasmawirkung im oberen Bereich des Tiefschweißens wird weiterhin durch ein höheres Ionisationspotential des Aluminiums gegenüber Stahl beeinträchtigt, und führt so zu engeren Prozeßgrenzen beim Aluminiumschweißen. Abgesehen von den Werkstoffeigenschaften sowie den Eigenschaften und der Leistungsflußdichte des Laserstrahls hängt der Tiefschweißprozeß von der Wahl und Steuerung der Arbeitsgase ab, mit denen die aus der Dampfkapillare austretende Metallplasmawolke durchmischt werden kann, um die Prozeßgrenzen zu verschieben. Die Arbeitsgase zeigen aber auch eine Wechselwirkung mit dem Schweißbad und haben demnach einen Einfluß auf die Schweißnahtqualität, Porosität und Schweißnahtoberfläche (Behler et al. 1993). Günstig haben sich Mischungen von Argon und Helium im Verhältnis zwischen 1 : 1 und 3 : 1 herausgestellt. Höhere Argongehalte führen zu einer verstärkten Absorption des Strahls im Plasma. Eine optimale Energieeinkopplung wird dann erreicht, wenn das Arbeitsgasgemisch so eingestellt wird, daß der Prozeß nahe an der Schwelle der Plasmaabschirmung gefahren wird. Weiterhin kann durch entsprechende Prozeßsteuerung des Lasers − z.B. durch kurzzeitige Unterbrechung der Laserleistung − die Bildung des Plasmaschirms vermieden werden, um die Leistungsgrenzen zu höheren Strahlintensitäten zu verschieben (Behler et al. 1993). Wie beim herkömmlichen Lichtbogenschweißen ist auch beim Laserstrahlschweißen der Einsatz von Zusatzdraht sinnvoll. Hierfür gibt es zwei Gründe. Erstens kann durch die richtige, legierungsabhängige Wahl des Zusatzwerkstoffs das Auftreten von Rissen bei warmrißempfindlichen Le-
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
gierungen, wie AlSi1MgMn (EN AW-6082), vermieden werden. Zweitens begünstigt der Zusatzdraht die Spaltüberbrückbarkeit beim Stumpfstoß, die bei der sehr schmalen Lasernaht ansonsten erhebliche Anforderungen an die Schweißvorbereitung stellen würde. Spaltbreiten von 0,7 mm sollen sich problemlos beherrschen lassen, in Grenzfällen auch Spalte bis 1,2 mm bei einer Fügeteildicke von 2,5 mm. Bei Überlappverbindungen ist ein Spalt von etwa 10% der Materialdicke wünschenswert, damit die Entgasung der Naht im Unterblech gesichert ist. Durch den Tiefschweißeffekt können Aluminiumwerkstückdicken bis 4mm einlagig mit dem Laser geschweißt werden. Voraussetzung ist der Einsatz von CO2-Hochleistungslasern mit einer Ausgangsleistung von mindestens 5 kW und guter Strahlqualität. Nd-YAG-Laser stehen heute ebenfalls mitausreichender Leistung, z.B. 4,5 kW, zur Verfügung, sind allerdings mit höheren Investitionskosten belastet. Ein wichtiger Vorteil der Nd-YAG-Laser gegenüber CO2-Lasern ist die Möglichkeit, den Laserstrahl durch Glasfaserleiter dicht an das Werkstück heranzubringen, wodurch auch das Schweißen komplizierterer Geometrien einfacher als mit dem spiegeloptisch geführten CO2-Laserstrahl möglich ist. Aufgrund der sehr hohen Leistungs- und Energiekonzentration des Laserstrahlschweißverfahrens können wesentlich höhere Schweißgeschwindigkeiten erreicht werden als bei herkömmlichen MIG-Verfahren. Abhängig von der verfügbaren Laserleistung, der Blechdicke und den eingestellten Schweißparametern können bei mittleren Blechdicken von ca. 2–3 mm Schweißgeschwindigkeiten bis zu 8 m/min. erreicht werden. Es werden dabei sehr schmale Schweißnähte mit geringen Wärmeeinflußzonen hergestellt werden, wodurch man gegenüber konventionellen Schweißverbindungen höhere Festigkeitseigenschaften erhält. Diese Feststellung betrifft sowohl statische als auch schwingend geprüfte Festigkeitswerte an verschiedensten Legierungen (Behler et al. 1989, Behler et al. 1993, Hohenberger et al. 1997). Für die Berechnung von laserstrahlgeschweißten Konstruktionen kann man daher als konservativen Ansatz die entsprechenden Festigkeitseigenschaften herkömmlich geschweißter Proben zugrunde legen. Interessant ist die Beobachtung (Hohenberger et al. 1997), daß laserstrahlgeschweißte Verbindungen von Blechen der Legierung AlSi1MgMn (6082) durch eine im Fertigungsprozeß nachgelagerte Warmaushärtung ca. 90 bis 95 % der Soll-Festigkeitswerte des Grundwerkstoffs erreichen. Im Stahlbereich ist das Laserschweißen von sog. „Tailor-Welded Blanks“ (TWB, Blechplatinen mit zwei oder mehr unterschiedlichen Blechdicken) seit längerer Zeit Stand der Technik. Aber auch die Übertragung auf Aluminium wurde geprüft und verschiedene Fügeverfahren untersucht (Shakeri et al. 2002). Im Karosserieleichtbau mit Aluminium gibt
16.4 Schweißimperfektionen
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es seit einiger Zeit erste Anwendungen von TWB (Lamborghini Gallardo). Die Laserstrahl-Schweißverbindung sowohl von aushärtbaren Legierungen EN AW-6016-T4 als auch von naturharten Legierungen EN AW-5754-0 und EN AW-5182-0 weisen gute Nahtqualität auf, die beispielhaft in Bild 16.3.12 dargestellt ist und sich bei der Umformung bewährt hat.
Bild 16.3.12 Laserstrahlgeschweißte Naht eines „Tailor-Welded Blank“ aus Legierung EN AW-6016-T4. Die Naht wurde im Monofokus mit Zusatzdraht AlSi12 mit einer Schweißgeschwindigkeit von 3,5 m/min unter Helium-Schutzgas geschweißt (Quelle: Corus, Ijmuiden, NL)
Gegenüber der Einstrahltechnik erlaubt es die Doppelfokustechnik – entweder aus einer einzelnen oder zwei unabhängigen Strahlquellen – die Porenanfälligkeit und auch die Spaltüberbrückbarkeit zu verbessern. Die Porenanfälligkeit konnte darüber hinaus durch verschiedene Oberflächenreinigungsverfahren sowohl bei Knetmaterial als auch insbesondere bei Gußmaterial deutlich verbessert werden (Haboudou et al. 2003). Durch Bifokaloptik kann der vorlaufende Strahlanteil als prozeßintegrierte Oberflächenreinigung verwendet werden (v. Beren et al. 2004). Laserstrahlquellen genügender Energieleistung und Strahllenkungsvorrichtungen sind recht investitionsintensiv. Dennoch setzen sich die Laserstrahlschweißverfahren in manchen Anwendungsbereichen gegenüber anderen Schweißmethoden, insbesondere im Automobilbau und künftig sicherlich im Flugzeugbau, durch, s. a. Abschn. 2.5.
16.4 Schweißimperfektionen Unter Schweißimperfektionen (auch „Ungänzen“) versteht man einerseits innere Unregelmäßigkeiten, d.h. durch Reaktionen des Werkstoffs auf den Schweißprozeß entstandene nachteilige Gefügeänderungen (Poren, Ein-
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16 Schmelzschweißen von Aluminium
schlüsse) bzw. Bindefehler, und äußere Unregelmäßigkeiten, d.h. geometrische Abweichungen des Verbindungsstoßes (z.B. Kantenversatz, Einbrandkerben). Die systematische Klassifizierung und die erlaubten Grenzen der möglichen Abweichungen sind sowohl für die Qualitätssicherung als auch für die konstruktive Berechnung von großer Bedeutung. Die Unregelmäßigkeiten, die bei Schmelzschweißverbindungen an Metallen auftreten können, sind in DIN EN 26520 definiert und mit Ordnungsnummern versehen. Sie werden in 6 Gruppen eingeteilt, s. Tabelle 16.4.1. Einige typische Beispiele für innere Unregelmäßigkeiten nach DIN EN 26520 sind schematisch in Bild 16.4.1 dargestellt. Tabelle 16.4.1 Gruppeneinteilung der Schweißimperfektionen Fehlergruppen Risse Hohlräume feste Einschlüsse
Beispiele alle Arten (Ausnahme: Mikrorisse); Endkraterrisse Gaseinschluß; Pore; Porennest; Oberflächenpore Oxideinschlüsse; Wolframeinschlüsse; Kupfereinschlüsse ungenügende Durchschweißung Bindefehler Einbrandkerbe; Nahtüberhöhung; WurzelüberhöFormfehler hung; Kantenversatz sonstige Unregelmäßigkeiten schlechte Passung
Bild 16.4.1 Einige Beispiele aus einem Katalog für häufig vorkommende innere Schweißimperfektionen bei Aluminiumschweißverbindungen (DIN EN 26520)
Poren, Porennester und Porenzeilen werden sowohl durch innere als auch durch äußere Faktoren verursacht. Der Wasserstoff scheidet sich während der Erstarrung im Gefüge als Gasporen aus. Dabei umschließt die Erstarrungsfront die sich bildenden Gasblasen. In der Schweißnaht liegen
16.4 Schweißimperfektionen
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je nach Erstarrungsmorphologie der Legierung dann die Wasserstoffporen in gleichmäßiger Verteilung oder kettenförmiger Anordnung vor. Gasporen im Schweißgut haben gewöhnlich eine runde Form und einen Durchmesser von ca. 5 bis 10 µm. Oxideinschlüsse lassen auf unsaubere Kantenvorbereitung und mangelnde Reinigungswirkung durch den Schweißprozeß schließen. Wolframund Kupfereinschlüsse entstehen durch Abschmelzungen oder Fragmente der Elektrode bzw. des Brenners. Bindefehler können durch ungenügende Durchschweißung entstehen, z.B. bei Verbindungsstößen mit sehr unterschiedlichen Materialdicken, s. Bild 16.1.1. Schweißanfang und Endkrater sind häufige Stellen für Risse, können jedoch durch entsprechende Stromprogramme, Anwärmen oder Anlauf- und Ablaufstücke vermieden werden. Formfehler sind geometrische Unregelmäßigkeiten der Schweißverbindung, verursacht durch fertigungstechnische und schweißtechnische Fehler. Ihre Wirkungen äußern sich nicht nur in der Schwächung der statischen Verbindungsfestigkeiten, sondern vor allem durch ihre Kerbwirkung auf die Schwingfestigkeit der Verbindung. Die Grenzwerte derartiger Unregelmäßigkeiten sind abhängig von den Sicherheitsanforderungen und den Einsatzbedingungen sowie von der Höhe der tatsächlichen Beanspruchung. Die zulässigen Grenzwerte bedürfen darum fallweise einer Bewertung. Aus diesem Grund ist die international gültige Klassifizierung der inneren und äußeren Unregelmäßigkeiten entsprechend DIN EN 26520 (bzw. ISO 6520) in DIN EN 30042 (bzw. ISO 10042) übernommen worden. DIN EN 30042 enthält die Bewertung der zulässigen Grenzen für die verschiedenen inneren und äußeren Unregelmäßigkeiten nach Einteilung in 3 Beanspruchungs- bzw. Anforderungskategorien: B (= hoch), C (= mittel), D (= niedrig). Empfehlungen und Entscheidungskriterien für die Bewertung und Auswahl von Bewertungsgruppen enthalten die DVS Merkblätter (DVS 0706:1994) und (DVS 0713:1995), s.a. (Neumann 1993) und (Neumann 1994).
17 Widerstandsschweißen
Das Widerstandsschweißen gehört zu den stoffschlüssigen Verbindungsverfahren, bei denen der Stoffschluß an den Verbindungsstellen durch einen örtlichen Schmelz- und Erstarrungsvorgang erzeugt wird. Aus metallurgischer Sicht muß das Widerstandsschweißen streng genommen den Schmelzschweißverfahren zugeordnet werden. Zu den bei Aluminium und seinen Legierungen praktizierten Widerstandsschweißverfahren zählen Punktschweißen, Buckelschweißen, Rollennahtschweißen und Abbrennstumpfschweißen. Von den Widerstandsschweißverfahren ist das Widerstandspunktschweißen das für die Blechverarbeitung wichtigste Verfahren und steht im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen. Seine Bedeutung im Karosseriebau ist durch die Entwicklung und fertigungstechnische Automatisierung der mechanischen Fügetechnik in der Vergangenheit zurückgegangen, da die Elektrodenstandzeit für eine automatisierte Fertigungsweise unzureichend war. U.a. scheinen aber neuere Entwicklungen wie Kupferbandelektroden eine Neubewertung einzuleiten.
17.1 Widerstandspunktschweißen (WPS) 17.1.1 Verfahrensprinzip Beim Widerstandspunktschweißen entstehen punktförmige Überlappverbindungen zwischen zwei oder mehreren Blechen durch den Stromfluß über zwei Elektroden, die an der Kontaktstelle der Bleche eine Schweißlinse erzeugen, s. Bild 17.1.1. Das Verfahren beruht auf der Wärmeentwicklung bei Stromdurchfluß infolge des elektrischen Widerstands, der sich aus Stoff- und Kontaktwiderständen zusammensetzt. An der Kontaktstelle zwischen beiden Blechen entsteht eine schmelzflüssige Zone, die bei der Erstarrung durch den Elektrodendruck unter hydrostatischer Druckspannung steht. Aus diesem Grunde können auch im Gegensatz zum Lichtbogenschmelzschweißen warmrißempfindliche Legierungen stoffschlüssig verbunden werden, wie das Beispiel der Punkt-
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17 Widerstandsschweißen
schweißverbindung an der hochfesten Legierung AA7475cl-T76 in Bild 17.1.1 zeigt.
Bild 17.1.1 Makrogefüge im Quer- und Flachschliff durch einen Widerstandsschweißpunkt an 2 mm dicken Blechen der Legierung AA7475cl-T76 (Quelle: U. Krüger, SLV Berlin-Brandenburg)
Nach dem Joule’schen Gesetz wird die Schweißwärme QS [W·s] durch die Stromstärke IS [A] und den Gesamtwiderstand RS [Ω] während der Schweißzeit tS [s] erzeugt. Die Konstante c entspricht dem Wärmeäquivalent. QS = c ·I S²· RS ·t S
(17.1)
Der Gesamtwiderstand RS an der Schweißstelle setzt sich zusammen aus den Kontaktwiderständen, den Stoffwiderständen der Elektroden und der Fügeteile, wie in Bild 17.1.2 dargestellt ist. Der eingestellte Schweißstrom erzeugt durch jeden dieser Widerstände Wärme und zwar proportional zum Verhältnis des Einzelwiderstandes zum Gesamtwiderstand. Vor allem die Kontakt- und Stoffwiderstände der zu verschweißenden Teile sind maßgebend für Unterschiede im Punktschweißverhalten zwischen Stahl und Aluminiumlegierungen. Der Stoffwiderstand von Aluminium ist um das 2–4-fache geringer als der von Stahl. Umgekehrt ist die Wärmeleitfähigkeit von Aluminium etwa 3 mal so hoch wie die von Stahl. Für den WPS-Prozeß mit Aluminium bedeutet dies etwa doppelt so hohe Stromstärken wie beim StahlPunktschweißen gleicher Dicke und die Notwendigkeit extrem kurzer Schweißzyklen, um den Wärmeabfluß zu beschränken. Entsprechend der hohen Stromstärken nimmt die thermische Belastung der Elektroden zu.
17.1 Widerstandspunktschweißen (WPS)
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Bild 17.1.2 Kontakt- und Stoffwiderstände beim Punktschweißen von Stahl und Aluminium (Leuschen 1992)
17.1.2 Übergangswiderstände der Fügeteiloberfläche Großen Einfluß auf das Schweißergebnis, insbesondere auf seine Reproduzierbarkeit, üben die Art und der Zustand der Aluminiumoberfläche aus, die immer mit einer dünnen, dichten und festhaftenden Oxidschicht überzogen ist. Die Oxidschicht ist sehr temperaturbeständig, wirkt elektrisch isolierend und ist daher maßgebend für den Übergangswiderstand. Ihre Beschaffenheit ist abhängig von der Legierungszusammensetzung, den vorausgegangenen Glühprozessen und den Lagerungsbedingungen. Glühen in Bundöfen führt trotz Schutzgasatmosphäre zu weniger gleichmäßigen Übergangswiderständen als Glühen im Banddurchlauf. Die Diffusion von Magnesium bei hochlegierten AlMg-Legierungen in die Oxidschicht unter Bildung von MgO führt zu einer dickeren Schichtdicke, höherem Übergangswiderstand und erschwert den Schweißvorgang. Noch wichtiger als ein möglichst niedriger Übergangswiderstand ist allerdings dessen Gleichmäßigkeit, ohne die eine reproduzierbare Schweißpunktqualität in der Serienfertigung nicht einzuhalten ist. In der Regel wird daher eine mechanische oder chemische Oberflächenvorbehandlung vor dem Fügen empfohlen. Dabei ist darauf zu achten, daß weder eine stärkere Oberflächenaufrauhung durch ungeeignete Bürstenqualität, noch eine ungewünschte Oberflächenveränderung beim Beizen (Entwicklung von sog. „Beizbast“) auftritt. Eine Anleitung zum Messen des Übergangswiderstands enthält das Merkblatt DVS-2929:2001. Oberflächenvorbehandlungen von Bandmaterial werden zweckmäßigerweise vom Hersteller in entsprechenden Bandveredlungsanlagen
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17 Widerstandsschweißen
durchgeführt. Werden diese beim Verarbeiter vorgenommen, sind folgende Vorgehensweisen zu empfehlen: 1. Entfetten mit mild alkalischen Mitteln 2. Spülen (ggf. mehrstufig) 3. Beizen (Phosphorsäure) 4. Spülen (mehrstufig) 5. Trocknen (Heißluft). Bei sachgemäßer Durchführung der Beizbehandlung wird der Kontaktwiderstand je nach Legierung und Prozeßparameter bis auf Werte zwischen 3 und 50 µΩ erniedrigt. Eine Zusammenstellung verschiedener Beizmittel und die Höhe der ermittelten Kontaktwiderstände findet man in (Eichhorn et al. 1977) oder (Schoer 2002). Die gebräuchlichsten Beizmittel sind alkalische Lösungen, z.B. 10–20%ige Natronlauge, und Mischsäure; letztere führt zu schonenderer Behandlung der Oberfläche als Natronlauge; außerdem ist die genaue Einhaltung der optimalen Beizzeit weniger kritisch (Falkenstein et al. 1981). Ein Beispiel für den Einfluß von mechanischen und chemischen Oberflächenvorbehandlungen auf das Punktschweißergebnis zeigt Bild 17.1.3.
Bild 17.1.3 Einfluß der Oberflächenvorbehandlung auf die Punktfestigkeit in Abhängigkeit von der Elektrodenstandmenge. Legierung AlSi1MgMn-T6, Blechdicke 2 mm, Elektrodenkraft 8 kN, Ballenradius 300 mm (Eichhorn et al. 1977)
Grundsätzlich ist es möglich, Aluminiumbleche ohne Oberflächenvorbehandlung punktzuschweißen, doch ist die Prozeßsicherheit abhängig von den vorstehend aufgezeigten Voraussetzungen. Aus diesem Grunde sind Oberflächenbehandlungen dann sinnvoll, wenn keine gleichmäßigen Eigenschaften im Anlieferungszustand erwartet werden können.
17.1 Widerstandspunktschweißen (WPS)
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17.1.3 Elektrodenverschleiß und Elektrodenreinigung Während des Punktschweißprozesses werden die Blechoberflächen durch den hohen Elektrodendruck örtlich stark deformiert. Rauhigkeitsspitzen durchdringen die spröde Oxidschicht und es kommt zu örtlichen Kontaktbrücken, über die der Schweißstrom fließen kann; durch die Wärmeentwicklung und weitere Deformation vergrößern sich die Kontaktbrücken, so daß der Kontaktwiderstand zunehmend zusammenbricht. Die kombinierte Wärme- und Druckausübung beim Punktschweißen führt an der Kontaktstelle Elektrode/Blech zur Adhäsion von Al203 und MgO-Partikeln an der Elektrodenoberfläche sowie von Kupferpartikeln an der Aluminiumoberfläche. Dadurch erhöht sich der Kontaktwiderstand an der Übergangsstelle, wodurch die Anlegierungsvorgänge weiter zunehmen. Das Anlegieren zeigt sich in einer Dunkelfärbung des Elektrodeneindrucks auf dem Blech und in Anhaftung von Aluminium an der Elektrodenspitze. Die zunehmende Erwärmung an der Elektrodenspitze fördert die Verformung an der Elektrodenarbeitsfläche. Infolge Verbreiterung bzw. Abflachung nimmt die Stromdichte ab und damit verringert sich der Punktdurchmesser. Die Punkte knöpfen im Scherzugversuch nicht mehr aus, sondern scheren in der Berührungsebene der Bleche ab. Abhilfe schafft ein konsequentes Reinigen der Elektrodenspitze, z.B. durch Bürsten nach jeweils einer bestimmten Anzahl von Schweißpunkten, s. Bild 17.1.4. Solche Zwischenreinigungen können auch in robotergeführten Zangenoperationen automatisch vorgesehen werden.
Bild 17.1.4 Verbesserung der Elektrodenstandzeit durch Zwischenreinigung mittels Bürsten (Quelle: D. Boomer, Alcan)
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17 Widerstandsschweißen
17.1.4 Schweißeignung von Legierungen Durch die Druckausübung beim Widerstandsschweißen wird der Heißrißbildung entgegengewirkt. Bei den ausscheidungshärtenden Legierungen AlZnMg(Cu) und AlCuMg ist jedoch u.U. ein spezielles Druckprogramm zur Vermeidung der Rißbildung erforderlich (s. unten). Weiterhin kann es beim Widerstandsschweißen zu einer Hohlraumbildung durch Herausspritzen von schmelzflüssigem Material kommen. Diese Hohlraumbildung im Linsenkern wird insbesondere bei Legierungen mit höheren Mg-Gehalten, wie z.B. AlMg3, AlMg4,5Mn und AlMgSi, beobachtet, was als Ursache den hohen Dampfdruck von Mg vermuten läßt (Pirner 1981). Auch dieser Hohlraumbildung läßt sich durch Anwendung eines Strom- und Druckprogrammes mit erhöhter Nachpreßkraft entgegenwirken. Solange die Fehler im Bereich der Linsenmitte liegen und ihr Ausmaß 15...20% des Punktdurchmessers nicht überschreitet, sind sie sowohl für das Festigkeitsverhalten als auch für die Korrosionsbeständigkeit kaum von Bedeutung (Steffens et al. 1971). Unbedingt zu vermeiden sind dagegen bis an die Blechoberfläche heranreichende Risse, die insbesondere die Schwingfestigkeit und Korrosionsbeständigkeit deutlich vermindern können. Fügen durch Punktschweißen in der Blechverarbeitung muß häufig in kaltverfestigten Bereichen vorgenommen werden. Kaltverfestigung erhöht geringfügig den elektrischen Widerstand, gleichzeitig aber auch den Eindringwiderstand gegenüber den Elektroden. Somit wirkt Kaltverfestigung günstig auf die Punktschweißeignung (Leuschen 1992). 17.1.5 Maschinen und Elektroden Das Widerstandspunktschweißen von Aluminium und seinen Legierungen erfordert spezielle maschinenseitige Anpassungen gegenüber dem WPS von Stahl (Hamm 1987): • • • • • •
Zwei- bis vierfache Stromstärken, Schnelle Stromregelung, Kurze Schweißzeiten, Regelbare Strom-Kraftprogramme, Hohe Maschinensteifigkeit (Zangensteifigkeit), Dynamisches Nachsetzverhalten.
Bei vergleichenden Untersuchungen zum Einfluß der Stromform wurde festgestellt, daß bei Wechselstrom wegen der Abkühlpausen während der Stromnulldurchgänge eine höhere effektive Stromstärke notwendig ist als
17.1 Widerstandspunktschweißen (WPS)
631
beim Gleichstromschweißen (Eichhorn et al 1971). Wegen des sog. Peltier-Effektes, s. Bild 17.1.5, kann sich beim Gleichstromschweißen eine unsymmetrische Schweißlinsenverlagerung und ein erhöhter Elektrodenverschleiß auf der Anodenseite ergeben, was bei der Wechselstromschweißung vermieden wird (Eichhorn et al 1971). Der Peltier-Effekt beruht auf der großen Potentialdifferenz (2 Volt) zwischen Kupfer und Aluminium in der elektrochemischen Normalspannungsreihe (s. Tabelle 5.4.1), wodurch beim Übergang von Elektronen von der Cu-Kathode auf das Al-Blech Peltier-Wärme verbraucht und beim Übergang vom Al-Blech zur Cu-Anode Peltier-Wärme frei wird. Die Verlagerung der Schweißlinse beim Gleichstromschweißen von Aluminium in Richtung der Plus-gepolten Elektrode kann man beim Schweißen ungleicher Blechdicken ausnutzen (Leuschen 1992).
Bild 17.1.5 Peltier-Effekt beim Gleichstromschweißen von Aluminium
Punktschweißen von Aluminiumwerkstoffen mit Dreiphasenfrequenzwandler Schweißmaschinen wird im Flugzeugbau seit vielen Jahren eingesetzt. Nach vergleichenden Untersuchungen (Singh 1977) bieten diese nicht nur in anschlußtechnischer sondern auch in schweißtechnischer Hinsicht Vorteile gegenüber Einphasen-Wechselstromschweißmaschinen. Die gleiche Schlußfolgerung ist aus den Versuchsergebnissen in Bild 17.1.6 zu ziehen. Bei den Standmengenversuchen werden mit einer Frequenzwandlermaschine die größeren Elektrodenstandzeiten erzielt. Da hierbei die Polung bei jeder Schweißung wechselt, werden die Elektroden gleichmäßig belastet und verschleißen dementsprechend langsamer. Mit Zangen und mechanisch weicheren Maschinen werden schlechtere Ergebnisse erzielt, obwohl beim Schweißen mit Zange auch vergleichbar gute Ergebnisse erzielt werden können, wenn optimierte Verhältnisse gewählt sind.
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17 Widerstandsschweißen
Bild 17.1.6 Einfluß der Stromart und der Maschinenbauart auf die Elektrodenstandmenge (Leuschen 1992). Werkstoff: AlMg0,4Si1,2, Blechdicke t = 1,25 mm
Um qualitativ hochwertige Punktschweißverbindungen zu erzeugen, sollte ein Strom-Kraft-Programm verwendet werden, s. Bild 17.1.7. Die hohe Anfangskraft soll einen guten Kontakt zwischen Elektrode und Blech herstellen, um den Kontaktwiderstand gering zu halten. Dann wird die Elektrodenkraft gesenkt während gleichzeitig der Schweißstrom fließt, wodurch das übermäßige Eindringen der Elektrode in den erweichenden Werkstoff vermieden wird. Nach Erreichen der maximalen Stromstärke wird die Elektrodenkraft wieder erhöht, um die Bleche gegeneinander zu pressen, um Hohlraumbildung und Heißrisse zu vermeiden. Dieser Effekt ist vor allem bei hochfesten, hochlegierten Luftfahrtlegierungen zweckmäßig. Hierbei ist es wichtig, daß die Elektrodenkraft nach beendetem Stromfluß möglichst rasch ansteigt. Wird die erhöhte Nachpreßkraft erst mit Verzögerung wirksam, wenn der Werkstoff bereits erstarrt und fest geworden ist, so ist eine Verhinderung von Heißrissen und Hohlräumen nicht immer möglich (Harris 1954). Durch eine erhöhte Nachpreßkraft unmittelbar am Ende der Stromzeit läßt sich die Elektrodenstandmenge deutlich steigern. Erfolgt dagegen die Elektrodenkrafterhöhung erst eine Periode nach beendeter Stromzeit, so wird keine Standmengenerhöhung beobachtet (Rivett et al. 1980). Wegen der kurzen Schweißzeiten und der raschen Erweichung von Aluminiumwerkstoffen mit zunehmender Temperatur soll das bewegliche Elektrodensystem erfahrungsgemäß masse- und reibungsarm ausgeführt werden, damit die Elektrode dem nachgebenden Werkstoff möglichst verzögerungsfrei nachsetzen kann. Dadurch wird die Neigung zur Spritzerbildung und die Anlegierungsneigung verringert.
17.1 Widerstandspunktschweißen (WPS)
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Bild 17.1.7 Strom/Kraft-Programm für das Widerstandspunktschweißen von Blechen aus Legierung AlCu4Mg1-T351 (AA2024cl), 1,6 + 1,6 mm (Quelle: U. Krüger, SLV, Berlin)
Die Elektroden haben die Aufgabe, Schweißstrom und Elektrodenkraft auf die Schweißstelle zu übertragen. Um die Anlegierungsneigung und die Elektrodenspitzendeformation gering zu halten, sind folgende Anforderungen zu erfüllen: a) Geringer Kontaktwiderstand an der Elektrodenauflagestelle durch geringe Oberflächenrauhigkeit und Anwendung hoher Elektrodenkräfte. b) Geringe Eigenerwärmung und Verformung der Elektroden durch große elektrische und Wärmeleitfähigkeit sowie hohe Warmfestigkeit. Beim Schweißen von Aluminiumwerkstoffen werden üblicherweise ballige Elektroden empfohlen. Vorteil der balligen Elektrode ist der in der Anfangsphase erhöhte Druck in Elektrodenmitte, der zu einem sicheren Zerstören der Oxidhaut führt. Typische Ballenradien für das Schweißen von Blechdicken zwischen 1 bis 2 mm sind REl = 40 bis 50 mm mit Elektrodendurchmessern DEl = 16 bis 20 mm. Eine intensive Elektrodenkühlung ist beim Punktschweißen von Aluminiumwerkstoffen wegen der hohen Stromstärken von besonderer Wichtigkeit, um ein frühes Einsetzen von Anlegierung und Elektrodenverformung zu vermeiden. Die Elektrodenkühlung muß um so wirksamer sein, je größer die Punktfolge, d.h. Anzahl der Punkte pro Zeiteinheit ist. Die Schweißdaten sind so auszuwählen, daß einerseits eine Schweißlinse ausreichender Größe erzielt und andererseits ein Spritzen verhindert wird. Die Einstellparameter sind abhängig von der Stromart, der Elektrodenform und -art, den Eigenschaften der Schweißmaschine, der Fügeteil-
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17 Widerstandsschweißen
werkstoffe und -dicke sowie vom Oberflächenzustand. Der Punktdurchmesser wird durch einen Kopfzugversuch festgestellt, bei dem die Probe ausknöpft. Der mittlere Durchmesser der so geprüften Schweißpunkte ist erfahrungsgemäß etwa 10 % größer als der Linsendurchmesser, der jedoch nur metallographisch festgestellt werden kann. Richtwerte zum Punktschweißen enthält das DVS Merkblatt 2932:1985 Teil 3. 17.1.6 Festigkeitsverhalten von Aluminium-WPS-Verbindungen Aufgrund der guten elektrischen Leitfähigkeit der Aluminiumwerkstoffe macht sich die Nebenschlußwirkung durch benachbarte Punkte weitaus stärker bemerkbar als bei Stahl. Bei Unterschreiten von Mindestwerten für den Punktabstand bzw. Reihenabstand muß mit einem Festigkeitsabfall der Schweißpunkte gerechnet werden. Einschnittige Verbindungen von Blechen gleicher Dicke lassen sich am günstigsten verschweißen. Bei unterschiedlichen Blechdicken soll das Dickenverhältnis den Wert 3 : 1 nicht überschreiten; die Einstellwerte richten sich nach dem jeweils dünneren Blech. Zweischnittige Verbindungen lassen sich am günstigsten schweißen, wenn das dickste Blech in der Mitte angeordnet ist und die außen liegenden Bleche gleiche Dicke haben. Mehr als drei Blechlagen sollten nicht gleichzeitig verschweißt werden. Die Schweißungen sollten zweiseitig, d.h. mit gegenüber stehenden Elektroden, ausgeführt werden, da beim einseitigen Punktschweißen ein starker Nebenschluß über das elektrodenseitige Blech vorliegt. Die Punktschweißverbindungen sind möglichst so auszubilden, daß sie in erster Linie nur Scherkräfte aufzunehmen haben; die ertragbaren Kopfzugkräfte betragen in der Regel nur ca. 1/3 der Scherzugkräfte. Kopfzugkräfte werden mit der Kopfzugprobe nach DIN 50164:1982 geprüft. Die Scherzugfestigkeit von Punktschweißverbindungen wird durch Scherzugversuche nach DIN 50124:1977 ermittelt. Hierbei werden die Blechteile auf Zug und die Verbindungen auf Scherung beansprucht. Die Scherfestigkeit von Aluminiumpunktschweißverbindungen nimmt mit der Festigkeit des Grundwerkstoffes, der Blechdicke und mit dem Punktdurchmesser zu. Dabei ist jedoch bei den kaltverfestigten und aushärtbaren Legierungen vom weichen Werkstoffzustand auszugehen, da im wärmebeeinflußten Bereich die durch Verfestigung bzw. Aushärtung des Grundwerkstoffs erreichte Festigkeitssteigerung verloren geht. Für typische Karosserieblechwerkstoffe ist die Korrelation zwischen dem Punktdurchmesser und der Scherzugkraft ist in Bild 17.1.8 dargestellt. Um gleiche Scherzugkraft bei gleicher Blechdicke zu erzielen, ist bei der aushärtbaren Variante ein größerer Punktdurchmesser vorzusehen.
17.1 Widerstandspunktschweißen (WPS)
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Bild 17.1.8 Einfluß des Punktdurchmessers auf die Scherzugfestigkeit von AlMg5Mn (5182-0) und AlMg0,4Si1,2 (6016-T4) (Leuschen 1992)
Diese mit Einpunktproben gewonnenen Daten können jedoch nur als Anhaltswerte betrachtet werden, da die Mechanik der Einpunktprobe nicht alle wichtigen Beanspruchungskriterien erfüllt, die in einem Realblechbauteil auftreten können. Aus diesem Grund wird das mechanische Tragverhalten vorzugsweise mit den zwar aufwendigeren, aber aussagefähigeren H-Scherzug- und H-Kopfzugproben ermittelt, bei denen definierte Beanspruchungen unter Scherung und Kopfzug sowohl bei statischer als auch bei dynamischer Prüfung auf die einzelnen Verbindungspunkte aufgebracht werden, s. Bild 17.1.9. Es handelt sich hierbei um bauteilähnliche Proben, an denen realistische, ertragbare Schnittkräfte an Punktverbindungen bestimmt werden können (Schmid et al. 1993). Mit Hilfe derartiger Prüfkörper ermittelter Schwingfestigkeitswerte zeigt Bild 17.1.10 (Rohde et al. 1996). Zusätzlich sind in Bild 17.1.10 Schwingfestigkeitsergebnisse mit der gleichen Probengeometrie für punktgeschweißte 2 mm dicke Bleche aus unterschiedlichen Legierungen angegeben (Singh et al. Audi AG, 1996). Man erkennt, daß der Legierungseinfluß auf die Schwingfestigkeit punktgeschweißter Blechbauteile vergleichsweise gering ist und von anderen Einflußfaktoren, wie der Kerbwirkung an den Schweißpunkten, überlagert wird.
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17 Widerstandsschweißen
Bild 17.1.9 H-Prüfkörper für punktförmige Verbindungen unter Scherzug- und Kopfzugbeanspruchung
Bild 17.1.10 Scherzugschwellkraftwerte (R = 0,1) von widerstandspunktgeschweißten, konversionsbeschichteten Karosserieblechlegierungen. Die Punktschweißungen wurden mit einer Gleichstrommaschine geschweißt und hatten einen Linsendurchmesser von dL ≈ 6 mm. Die statischen Scherzugfestigkeitswerte von Schweißpunkten an 1,25 mm dicken Blechen der Legierungen 6016-T4 und 5182-0 betrugen 4,2 bzw. 4,8 kN (Rohde et al. 1996)
17.2 Buckelschweißen Das Buckelschweißen bietet die Möglichkeit, mehrere Schweißbuckel gleichzeitig mittels eines Elektrodenpaares zu verschweißen. Infolge großer Elektrodenauflageflächen sind Stromdichte und Flächenpressung vergleichsweise gering und dementsprechend auch der Elektrodenverschleiß.
17.2 Buckelschweißen
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Schwierigkeiten beim Buckelschweißen von Aluminiumwerkstoffen ergeben sich aus der hohen elektrischen und Wärmeleitfähigkeit, die einen im Vergleich zu Stahl mehrfach höheren Schweißstrom erfordern. Weiterhin begünstigt die relativ geringe Warmfestigkeit ein schnelles Rückverformen der Buckel, so daß die Stromkonzentration u. U. vorzeitig verlorengeht und das nichtgebuckelte Werkstückteil nicht mehr zuverlässig aufgeschmolzen wird. Dabei kommt es zu Schmorkontakten und Spritzern mit als Folge geringerer Punktqualität und möglicher Elektrodenbeschädigung (Eichhorn et al. 1981). Bei der Auswahl der Buckelform ist daher auf eine möglichst hohe Steifheit zu achten (Eichhorn et al. 1982). Die Schweißparameter sind so aufeinander abzustimmen, daß eine ausreichende Energie bis zum Zurückdrücken des Buckels eingebracht wird. Als Richtwerte kann man die Angaben für das Punktschweißen zugrunde legen. Das Buckelschweißen kann sowohl mit Gleichstrom als auch mit Wechselstrom erfolgen (Leuschen 1992). Im letzteren Fall ist die Wahl optimaler Schweißparameter auf ein engeres Feld beschränkt als bei Gleichstrommaschinen. Bei Verwendung von Gleichstrom ist auf den PeltierEffekt zu achten. Dieser gestattet, dem einseitigen Elektrodenverschleiß zu begegnen (Voraussetzung gleiche Fügeteildicke), indem das mit Buckeln versehen Blech zur Kathode gewandt verschweißt wird. Auch zum Aluminiumbuckelschweißen erweist sich die Anwendung eines Elektrodenkraftprogrammes als vorteilhaft, bei dem durch herabgesetzte Vorpreßkraft die Rückverforrnung des Buckels vermindert und durch hohe Stauchkraft gegen Ende der Schweißung eine günstige Gefügeausbildung und ein geringer Fehleranteil erreicht wird (Eichhorn et al. 1981). Ohne Kraftprogramm und gutes Nachsetzverhalten des beweglichen Elektrodensystems sind Hohlraumbildung sowie Rißentstehung in der Schweißlinse kaum zu vermeiden. Es hat nicht an Bemühungen gefehlt, die Buckelform aluminiumgerecht zu gestalten. Die günstigsten Verhältnisse bieten sogenannte „Massivbuckel“, die z.B. durch Schlagen oder spanende Formgebung hergestellt werden können. Hiermit werden in Vergleich zu geprägten Buckeln günstigere Scherzugkräfte und größere Elektrodenstandmengen erzielt. Die Verwendung von Massivbuckeln bietet sich besonders bei Fließpreßteilen, wie z.B. Anschweißmuttern an, wo die Buckel gleichzeitig mit der Bauteilformgebung hergestellt werden können. Aufgrund dieser Ergebnisse konnten Vorschläge für die Formgebung von Aluminium-Anschweißmuttern entwickelt werden (Eichhorn et al. 1982. Beim Kreuzdrahtschweißen, wie es z.B. zur Herstellung von Drahtgittern aus Aluminium eingesetzt werden kann, bilden die punktförmigen Überkreuzungsstellen der Drähte eine Art
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17 Widerstandsschweißen
„natürliche Buckel“ dar. Befriedigende Torsions- und Kopfzugfestigkeitswerte lassen sich bei Aluminium-Kreuzdrahtschweißungen allerdings nur in einem engen Bereich für die Einstellparameter erzielen.
18 Mechanisches Fügen
18.1 Merkmale mechanischer Fügetechniken Mechanisches Fügen von Bauteilen gehört zu den ältesten Verbindungstechniken in der handwerklichen und industriellen Fertigungstechnik (Grandt 1994). In den vergangenen 30 Jahren haben allerdings eben diese Fügetechniken eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Sie wurden zunehmend interessant dadurch, daß die thermischen, stoffschlüssigen Fügeverfahren (Lichtbogenschweißen, Widerstandsschweißen, Löten, Kleben) bezüglich der hohen Ansprüche an Wirtschaftlichkeit und Prozeßsicherheit bei Leichtmetallen in der Großserienfertigung Probleme bereiteten und beschichtete Materialien sowie Mischmetallverbindungen an Interesse gewannen. Auch stellte sich heraus, daß mechanische Verbindungen häufig bezüglich der Schwingfestigkeitseigenschaften den stoffschlüssigen Verbindungen überlegen waren, selbst wenn die statischen Festigkeitseigenschaften pro Fügestelle geringer waren. Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der mechanischen Fügetechnik hat das Angebot an Verfahren und Verfahrensvarianten erheblich verbreitert und die Prozeßtechnik soweit verfeinert, daß eine Reihe von mechanischen Fügetechniken als prozeßsichere Fertigungstechnik einen festen Platz in der mechanisierten Großserienfertigung, aber auch in der handwerklichen Einzel- bzw. Kleinserienfertigung erobern konnte. Um in die Vielfalt der Methoden und Techniken eine gewisse Ordnung zu bringen, kann man einerseits die Fügeverfahren nach den an die Fügeaufgabe gestellten Anforderungen unterteilen (Bauer 1982): • voll lösbar, z. B. Schrauben, Muttern, Schnappverschlüsse • begrenzt lösbar, z.B. Quetschverschlüsse, Kerbteile, Stifte • nicht lösbar, z.B. Schweißen, Löten, Kleben, Nieten, Schrumpfen. Ein weiteres Ordnungsprinzip ist die Einteilung der Verbindungstechniken nach der Zugehörigkeit zu bestimmten Fertigungstechniken, die für den eigentlichen Verbindungsvorgang bestimmend sind, z.B. Einteilung nach Fertigungsverfahren lt. DIN 8593, s. Bild 18.1.1.
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18 Mechanisches Fügen
Bild 18.1.1 Einordnung von mechanischen Fügetechniken in das Ordnungsschema der Fertigungsverfahren nach DIN 8593
Unter „Fügen durch Umformen“ finden sich größtenteils die nicht lösbaren Verbindungstypen. Gewindebolzen und Muttern werden als lösbare Verbindungselemente in der Gruppe „Schrauben“ eingeordnet. Als Stanznietmuttern und Stanznietbolzen sind diese Fügeelemente jedoch auch in die Gruppe „Nieten“ einzuordnen. Aufgrund zahlreicher Entwicklungen von Nietelementen mit Verbindungsfunktionen kann die Gruppe „Nieten“ deshalb sinnvoll weiter unterteilt werden in „Fügen mit Nietelementen“ und „Fügen mit Funktionsträgern“. Beispiele für diese Differenzierung von Nietelementen enthält Bild 18.1.2 nach einer Übersicht von Hahn und Mitarb. (Hahn et al. 1996).
Bild 18.1.2 Beispiele für Fügen durch Umformen. Blindniet, Schließringbolzen, Hohlniet und Stanznietsysteme, Blindnietmuttern- und Bolzen, Stanznietmuttern und -bolzen, Durchsetzfügesysteme (Hahn et al. 1996)
18.1 Merkmale mechanischer Fügetechniken
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Das Prinzip der mechanischen Verbindungsverfahren beruht auf Formund/oder Kraftschluß. Die Unabhängigkeit vom Stoffschluß zwischen den Fügeteilen bietet die Möglichkeit, unterschiedliche Metalle, beschichtete Werkstoffe und metallische und nichtmetallische Werkstoffe miteinander zu verbinden. Überwiegend sind diese Verbindungen den punktförmigen Fügetechniken zuzuordnen, d.h. sie eignen sich mit Ausnahme von Falzen und Bördeln nicht für „dichte“ Verbindungen zwischen den zu fügenden Teilen. Für diese Zwecke können die mechanischen Fügetechniken mit stoffschlüssigen Verfahren, wie Kleben, Löten, kombiniert werden. Bei kombinierten Fügeverfahren tritt meistens die Funktion der Verbindungsfestigkeit der mechanischen Fügeelemente in den Hintergrund zugunsten einer Montagehilfe bzw. einer Vermeidung von Schälversagen bei Klebverbindungen. Die Einsatzmöglichkeiten der mechanischen Fügetechniken unterscheiden sich durch das Kriterium „einseitige“ oder „beidseitige“ Zugänglichkeit der Fügestelle mit den erforderlichen Maschinen-, Werkzeug- und Verbindungselementen. Einseitig durchbohrende oder durchsteckbare Verbindungselemente sind z.B. Blechschrauben, Blindnieten oder Fließbohrschrauben. Die Mehrheit der mechanischen Fügetechniken benötigen jedoch eine beidseitige Zugänglichkeit, um den Verbindungsvorgang durchzuführen. Die notwendigen Kräfte für den einzelnen Fügevorgang sind höher als die für das Widerstandspunktschweißen benötigten Elektrodenkräfte. Die Maschinenauslegung muß hierauf abgestimmt werden. Besonders bei Zangenausführung der Fügeoperation wird die Ausladung der Zangenarme durch Steifigkeitskriterien begrenzt und dadurch auch die maximale Lage der Fügepunkte im Bauteil begrenzt. Die Reproduzierbarkeit der umformtechnischen Fügeoperationen stellt hohe Anforderungen an die Mechanik von Werkzeug und Maschine. Auch die Anforderungen an die Fügeelemente sind zu beachten, wenn vom Fügeelement Schneidfunktionen übernommen werden (s. Stanzniet) und gleichzeitig eine hohe Umformfähigkeit gewährleistet sein muß. Wie bei allen Umformoperationen sind die Grenzflächenprobleme zwischen Werkzeug und Werkstück zu beachten. Dies gilt vor allem für die Verfahren des Durchsetzfügens, da hierbei örtlich hohe Umformgrade erzielt werden und beim Fügen von Aluminiumteilen Adhäsionserscheinungen auf den Wirkflächen der Stahlwerkzeuge auftreten können, die die Lebensdauer der Werkzeuge und die Qualität des Fügepunktes beeinträchtigen. Solche Erscheinungen können durch Beschichtungen der Werkzeuge und durch örtlichen Schmierstoffeintrag wirksam vermieden oder verringert werden. Schmierstoffe haben andererseits den Nachteil, daß sie den
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Beitrag des Kraftschlusses zu der Verbindungsfestigkeit erheblich reduzieren können. Die vorstehenden Merkmale und Einflußgrößen der mechanischen Fügetechniken müssen auch im Hinblick auf die Prozeßfähigkeit der verschiedenen Verfahrensvarianten gesehen werden. Die Qualitätssicherung greift auf Prozeßdaten zurück, die bei den mechanischen Fügeverfahren – einmal eingestellt – den charakteristischen Zusammenhang zwischen Kraft- und Wegverlauf als Steuerungsgröße haben. Störeinflüsse machen sich deutlich bemerkbar und können durch eine rechnergestützte Prozeßdatenanalyse und -verarbeitung erfaßt werden. Letztlich ist darauf hinzuweisen, daß die Hilfsfügeelemente (Schrauben, Muttern, Nieten ...) beim mechanischen Fügen von Aluminiumbauteilen häufig nicht aus artgleichem Werkstoff bestehen. Es ist daher den Gesichtspunkten der chemischen und elektrochemischen Verträglichkeit im weiteren Fertigungsablauf und im Betrieb Rechnung zu tragen. In korrosionskritischen Einsatzfällen sollten diese Hilfsfügeteile mit entsprechender korrosionsverhindernder Beschichtung verwendet werden. Um einen Korrosionsangriff zu verhindern, werden Nietelemente einer Oberflächenbeschichtung unterzogen, wobei fast alle bekannten, für Trommelware geeigneten Beschichtungsverfahren zur Anwendung kommen können. Für das Stanznieten von Aluminiumwerkstoffen werden heute neben Stahlnieten auch Stanznieten aus Aluminiumlegierungen eingesetzt.
18.2 Durchsetzfügen Durchsetzfügen ist umformtechnisches Fügen von relativ dünnwandigen Werkstücken, wobei beide zu fügende Teile örtlich durchgesetzt werden und durch anschließendes Stauchen und seitwärtiges Fließpressen eine formschlüssige Verbindung entsteht. Unter dem Oberbegriff Durchsetzfügen sind verschiedene Verfahrensvarianten zusammengefaßt, die durch ihre Herstellerbezeichnungen bekannt geworden sind. Sie unterscheiden sich in zahlreichen geometrischen Details und in der unterschiedlichen Ausbildung der notwendigen Werkzeuge. Bild 18.2.1 stellt eine kleine Auswahl solcher herstellerstellergebundenen Werkzeugsysteme vor. Abgesehen von der unterschiedlichen Geometrie des durchgesetzten Fügepunktes unterscheiden sich die Verfahren in solche mit und solche ohne örtliche Schneidvorgänge. Bild 18.2.2 illustriert diesen Unterschied
18.2 Durchsetzfügen
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Bild 18.2.1 Auswahl von Standard-Werkzeugsätzen für Durchsetzfügeverfahren. Handelsnamen: a) Clinch®, b) Druckfügen®, c) Rivet®, d) Tox® (Quelle: LWF, Univ. Paderborn)
in der Fügepunktausbildung. Zwischen diesen beiden Durchsetzarten gibt es noch solche, bei denen nur das obere Werkstück nicht geschnitten wird. Wenn wenigstens ein Fügeteil ohne Schneidanteil gefügt wird, handelt es sich um eine gas- und flüssigkeitsdichte Durchsetzfügung.
Bild 18.2.2 Durchsetzfügen mit und ohne Schneidanteil (Quelle: LWF, Univ. Paderborn)
Weiterhin unterscheidet man zwischen einstufigen und mehrstufigen Durchsetzfügeverfahren. Der einstufige Verfahrensablauf ist in Bild 18.2.3 dargestellt, dabei wird der Fügepunkt in einem einzigen Stempelhub hergestellt (z.B. Eckold Druckfügen®). Zunächst werden beide Fügeteile um die gemeinsame Wanddicke durchgesetzt und bei weiterer Stempelbewegung durch einen Gegenstempel gestaucht. Dadurch entsteht ein Hinterschnitt, der den Formschluß ergibt. Es ist ersichtlich, daß die Abstimmung des Stempelweges und der Werkzeuggeometrie auf die Wanddicke der
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18 Mechanisches Fügen
beiden Fügeteile in engen Grenzen erforderlich ist. Die Breitung der durchgesetzten Materialdopplung bzw. die Größe des Hinterschnittes ist für die Festigkeit des Fügepunktes maßgebend und muß daher zuverlässig durch enges Tolerieren der Blechdicken und der Werkzeuggeometrie gesichert werden.
Bild 17.2.3 Verfahrensablauf des einstufigen Durchsetzfügens mit Schneidanteil (Quelle: LWF, Univ. Paderborn)
Gegenüber dem einstufigen Verfahren ist das mehrstufige Verfahren dadurch gekennzeichnet, daß der Stauchstempel eine von der Matrize unabhängige Bewegung macht. Nach dem Durchsetzvorgang wird die Matrize zurückgefahren und der Stauchstempel übernimmt gleichzeitig das Breiten des durchgesetzten Materials, s. Bild 18.2.4. Durch separates Einstellen der Stempelwege des Schneid- und des Stauchstempels ist man in Lage größere Blechdickenvariationen mit einem einzigen Werkzeugsatz zu fügen. Allerdings ist der maschinelle Aufwand entsprechend größer. Obwohl das mehrstufige Durchsetzfügen im Gegensatz zum einstufigen Durchsetzfügen nur mit einem einzigen Werkzeugsatz für die jeweilige Fügepunktgeometrie arbeitet, hat sich dieses Verfahren aufgrund des größeren Einstellaufwandes in der industriellen Fertigung bisher nicht durchsetzen können. Wie Festigkeitsuntersuchungen von Durchsetzfügeverbindungen mit unterschiedlichem Schneid- bzw. Umformanteil zeigen, erreichen Durchsetzfügeverbindungen bei statischer und dynamisch stoßartiger Belastung nicht die Festigkeit einer einzelnen Punktschweißung. Diese Aussage gilt auch dann, wenn die Scherfläche des Durchsetzfügeelementes vergrößert wird, s. Bild 18.2.5. Bei schwingender Belastung kann jedoch durch Verminderung des Schneidanteils zugunsten des Umformanteils – d.h. durch Verminderung der geometrischen Kerbwirkung – die Schwingfestigkeit
18.2 Durchsetzfügen
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einer Durchsetzfügeverbindung einer Widerstandpunktschweißung überlegen sein, s. Bild 18.2.5.
Bild 18.2.4 Verfahrensablauf beim mehrstufigen Durchsetzfügen (Quelle: LWF, Univ. Paderborn)
Bild 18.2.5 Vergleich der statischen und dynamischen Festigkeitseigenschaften von Durchsetzfügeverbindungen mit unterschiedlichem Schneidanteil mit den Eigenschaften von Widerstandspunktschweißungen. Legierung AlMg4,5Mn0,4 (EN AW-5182-0), Blechdicke 1,25 mm (Quelle: LWF, Univ. Paderborn)
Beim Durchsetzfügen ohne Schneidanteil, z.B. beim Tox®-Verfahren, wird in einem kombinierten Einsenk- und Durchsetzvorgang und einem Kaltstauchvorgang (wobei das durchgesetzte Werkstoffvolumen gestaucht wird) eine quasi-formschlüssige Verbindung durch Fließpressen erzeugt. Der für die Verbindungsfestigkeit relevante Hinterschnitt wird dabei durch unterschiedliches Fließverhalten des matrizen- und stempelseitigen Fügematerials gebildet. Der Verfahrensablauf ist am Beispiel der Rund-ToxPunktes in Bild 18.2.6 dargestellt. Die Restbodendicke des Fügepunktes ist ein gutes Kontrollmaß für die reproduzierbare Qualität des Fügeprozesses.
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18 Mechanisches Fügen
Bild 18.2.6 Verfahrensablauf des einstufigen Durchsetzfügens ohne Schneidanteil (Quelle: LWF, Univ. Paderborn)
Für das einstufige Durchsetzfügen ohne Schneidanteil sind Werkzeugsysteme mit und ohne bewegte Matrizen-Teile konzipiert worden. Während beim einstufigen Durchsetzfügen mit bewegten Matrizen-Teilen ein unterschiedliches Materialfließverhalten der Fügeteile durch das Nachgeben der Lamelle erzielt wird, wird diese für die Bildung eines Hinterschnittes relevante Effekt beim einstufigen Durchsetzfügen ohne bewegte Matrizen-Teile durch einen entsprechenden Ringkanal in der Matrize realisiert, s. Bild 18.2.6. Vorteil der Matrize ohne bewegliche Teile ist, daß keine Verschleißteile vorhanden sind. Nachteilig ist, daß sich z.B. bei beöltem Aluminiumblech in der geschlossenen Matrize ein "hydrostatisches Polster" aufbauen oder Abriebpartikel ansammeln können, wodurch die Matrize zerstört wird. Von entscheidender Bedeutung für eine qualitativ hochwertige Durchsetzfügeverbindung ist das einwandfreie Fixieren der positionierten Teile, so daß durch die Nachfließbewegung beim Durchsetzfügeprozeß die Position der Fügegruppe zueinander nicht verändert wird. Um ein definiertes Festhalten der Fügeteile zu realisieren, werden angepaßte Niederhaltersysteme eingesetzt, die auch die Abstreiferfunktion übernehmen.
18.3 Nieten Das Nieten ist eines der ältesten Fügeverfahren in der Metallverarbeitung und dient sowohl für funktionale als auch für strukturelle, kraftübertragende Einsatzzwecke. Als nichtlösbare Verbindungstechnik wurde es seit den 50-er Jahren in vielen strukturellen Anwendungen durch das wirtschaftlichere Schutzgasschweißen und in der Luft- und Raumfahrtindustrie durch das Widerstandspunktschweißen ersetzt. Erst in jüngster Zeit ist das
18.3 Nieten
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Nieten durch Entwicklung neuer Nietverfahren und durch die zunehmende Automatisierung des Nietprozesses als rationelle, hochwertige Fügetechnologie wiederentdeckt worden. Für die Herstellung von Nietverbindungen werden heute vier Arten von unlösbaren Verbindungselementen verwendet: Vollniet, Blindniet, Schließringbolzen (Paßniete) und Stanzniet. 18.3.1 Vollniete Vollniete sind einteilige Verbindungselemente, bei denen durch axiale Umformung des Nietschaftes das formschlüssige Ausfüllen des Nietloches und die Herstellung des Schließkopfes erfolgen. Voraussetzung ist eine Vorlochung sowie die beidseitige Zugänglichkeit der Verbindungsstelle für das Nietwerkzeug. Die Bezeichnung der Niete erfolgt gemäß der bei der Nietherstellung angestauchten Form des Setzkopfes (Halbrund-, Flachrund-, Linsen- oder Senkniet). Als Nietwerkstoffe sollten möglichst Legierungen gleichen Typs wie die zu fügenden Bauteile verwendet werden. Als Aluminiumnietwerkstoffe werden verwendet (Bez. n. DIN EN 573-3): Al99,5 – AlMn1 – AlMg2 – AlMg2,5 – AlMg3 – AlMg5 – AlMgSi – AlSi1MgMn – AlCu4MgSi(A). Bis zu 8 mm Durchmesser sind Aluminiumniete noch verhältnismäßig leicht kalt schlagbar. 18.3.2 Blindniete Blindniete sind ein- oder mehrteilige Verbindungselemente, die für das Fügen nur einseitig zugänglicher Fügeteile verwendet werden können, sich aber auch in der handwerklichen Fertigung wegen des geringen apparativen Aufwandes für allgemeine Fügeaufgaben in der Blechbearbeitung oder von dünnwandigen Bauteilen durchgesetzt haben (Grandt 1994). Blindniete bestehen aus dem eigentlichen Nietkörper (Niethülse) und einem Hilfsteil (Nietdorn), das beim Fügevorgang die Fügekraft überträgt und zur Formgebung dient. Für die Aluminiumblechverarbeitung besteht die Niethülse je nach Festigkeitsklasse aus einer naturharten AlMg-Legierung (typisch: AlMg5 (EN AW-5056)) und der Nietdorn aus Stahl, ggf. Edelstahl oder einer hochfesten Aluminiumlegierung. Der Arbeitsablauf des Blindnietvorgangs ist schematisch in Bild 18.3.1 dargestellt. Bei Erreichen einer vorbestimmten Zugkraft reißt der Dorn an der Sollbruchstelle ab. Die Sollbruchstelle liegt dabei entweder am Kopf oder am Schaft. Der verbleibende Schaft trägt zur Scherbruchfestigkeit des Blindniets bei, muß jedoch durch separaten Arbeitsgang abgearbeitet werden. Je nach Ausfüh-
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rungsart kann der Dornkopf im Niet verbleiben, herausfallen oder gänzlich durchgezogen werden, wie beim Chobert-Blindniet, s. Bild 18.3.2.
Bild 18.3.1 Schematischer Arbeitsablauf des Blindnietvorgangs am Beispiel des Pop-Niets (Quelle: LWF, Univ. Paderborn)
Bild 18.3.2 Arbeitsprinzip des Chobert-Blindniet (Quelle: LWF, Univ. Paderborn)
Auch gibt es geschlossene Blindniethülsen, die für dichte Nietverbindungen eingesetzt werden können. Weiterhin werden Blindniete in Längen hergestellt, die auf bestimmte Blechdickenbereiche abgestimmt sind, und solche, die einen größeren Klemmbereich abdecken. Nach dem gleichen Prinzip der Blindniete werden auch Blindmuttern und Blindnietgewindebolzen hergestellt. 18.3.3 Schließringbolzen Die Gruppe der Schließringbolzen (Paßniete) wird für hochbeanspruchte Nietverbindungen verwendet. Der Schließringbolzen besteht aus Nietkopf und Schaft mit vorgegebener Sollbruchstelle und aus einem entsprechen-
18.3 Nieten
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den Schließring, der mit einem Setzwerkzeug in die Rillen des Bolzenschaftes aufgeprägt wird. Die Schließringbolzenelemente bestehen aus Stahl oder Aluminium (z.B. ENAW-5056A). Der Bolzenschaft wird paßgenau in die Nietbohrung eingesetzt. Die Nietmontage erfolgt durch Einsetzen des Bolzens von einer Seite der zu fügenden Partner und wird durch ein entsprechendes Werkzeug auf der anderen Seite durch den Schließring gesichert. Der Arbeitsablauf am Beispiel des Huckbolt® ist in Bild 18.3.3 dargestellt. Die Verbindung ist kraft- und formschlüssig. Der Bolzen steht unter Vorspannung und wird gegen Scherbruch dimensioniert.
Bild 18.3.3 Arbeitsablauf beim Setzen eines Schließringbolzens (Huckbolt®): a) Einsetzen des Niets und des Schließrings, b) Zusammenpressen der Fügeteile mit dem Setzwerkzeug, c) Anformen des Schließrings in die Bolzenschaftrillen, d) Abreißen des Bolzenschaftes, e) fertige Schließringbolzenverbindung
18.3.4 Stanzniet Das Stanznieten wird als gemeinsamer Oberbegriff für Nietverfahren verwendet, bei denen die beim konventionellen Nietverfahren notwendige Vorlochoperation durch den selbststanzenden Schneidvorgang ersetzt wird. Es sind zwei Arten von Nietelementen, Halbhohlniet und Vollniet, im industriellen Einsatz, s. Bild 18.3.4. hÄnlich wie bei den Durchsetzfügeverfahren sind auch bei den Stanznietverfahren mit Halbhohlniet und Vollniet verschiedene Systeme unter ihren Herstellerbezeichnungen im Markt eingeführt. Zu den hier betrachteten Stanznietverbindungen zählen auch selbststanzende Funktionsteile, wie Stanznietmuttern und Stanznietbolzen, s. Bild 18.1.2. Die Nieteelemente können magaziniert oder lose dem Setzkopf zugeführt werden.
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18 Mechanisches Fügen
Bild 18.3.4 Selbststanzende Halbhohl- und Vollniete (Quelle: LWF, Univ. Paderborn)
Beim Stanznieten mit Halbhohlniet wird das Verbindungselement in einem ununterbrochenen Fügevorgang durch das stempelseitige Blech gedrückt und das matrizenseitige Blech mit Hilfe der Matrize in der MaterialFließzone plastisch umgeformt, s. Bild 18.3.5. Hierbei erhält der Nietschaft im plastisch umgeformten Material der Fügeteile über Kragenbildung seinen Schließkopf. Bei unterschiedlichen Materialdicken wird als Fügerichtung „dünn in dick“ empfohlen (Bangel 2003). Für die Qualitätssicherheit der Verbindung ist eine genaue Abstimmung des Nietelementes und der Werkzeuge auf die jeweilige Fügeaufgabe notwendig.
Bild 18.3.5 Arbeitsablauf beim Halbhohl-Stanznieten (Quelle: LWF, Univ. Paderborn)
Als Nietwerkstoffe werden überwiegend beschichtete Stahlniete verwendet. Vollstanzniete mit Ringnuten werden jedoch auch als Aluminiumniete eingesetzt und führen zu einem optisch akzeptablen Ergebnis, wie im Bild 18.3.6 das Beispiel des Wasserkanals am Heck- und Dachrahmen des neuen Audi-TT-Modells illustriert. Hierbei wurde das Vollstanznieten mit
18.3 Nieten
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dem Kleben (hochviskoser Strukturklebstoff) kombiniert (Bangel et al. 2006).
Bild 18.3.6 Aluminium-Vollstanznietverbindungen am Heck- und Dachrahmen (Wasserkanal) des neuen Audi-TT. Blick auf Vorderwagen durch geöffnetes Heckfenster
Bild 18.3.7 Stanznietverbindungen an einer Aluminium-Motorhaube (Porsche) und am Vorderwagen des Audi-TT
In Ganzaluminiumkarosserien hat das Stanznieten das Widerstandspunktschweißen nahezu verdrängt. Anstelle dessen werden pro Fahrzeug mehrere tausend Stanznietverbindungen verwendet (Bangel 2003). Zum Beispiel enthält der Audi A8 (D3) 2400 Stanznietverbindungen. Bild
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18 Mechanisches Fügen
18.3.7 zeigt Beispiele für den vielfältigen Einsatz des Stanznietens und anderer mechanischer Fügetechniken an einer Aluminiummotorhaube und am Vorderbau des Audi-TT, bei dem nicht nur Blech/Blech-, sondern auch Blech/Profil- und Blech/Guß-Verbindungen mit Stanznieten hergestellt sind.
18.4 Schraubverbindungen Als Schraubenwerkstoffe in der Aluminiumverarbeitung werden sowohl Aluminiumschrauben als auch beschichtete oder rostfreie Stahlschrauben verwendet. Für Schraubverbindungen gelten grundsätzlich die gleichen Empfehlungen zur Vermeidung von Korrosionsproblemen wie für Nietverbindungen, s. Abschn. 18.1 und Kap. 5. Einen Überblick über geeignete Arten von Schrauben für Verbindungsaufgaben im Aluminiumleichtbau gibt Bild 18.4.1. Wegen der bei Blech- und Profilbauweisen häufig anzutreffenden geringen Wanddicken sind Einpreßmuttern, Fließlochbohrschrauben, Kragenziehen und Federmuttern ebenso wie selbstbohrende und gewindeformende Schrauben von Interesse.
Bild 18.4.1 Auswahl von Schraubverbindungselementen für Aluminiumleichtbauweisen
Von besonderem Interesse ist auch die Verwendung von Fließbohrschrauben (FDS®, Fa. Ejot) für die Verbindung von Blechelementen an Hohlprofilen, die eine nur einseitige Zugänglichkeit des Schraubersystems erfordert (Großberndt 1992). Bild 18.4.2 illustriert den Ablauf des Fließbohrprozesses mit Gewindeprägung, wobei das äußere Blech vorgelocht ist mit einem Lochdurchmesser (z.B. 7 mm )Ø, der größer als der Schraubendurchmesser (z.B. 5 mm )Øgewählt ist, um die Wulst des Fließlochs aufzunehmen. Fließbohrschrauben lassen sich auch ohne jegliches Vorlo-
18.4 Schraubverbindungen
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chen setzen, wobei ein größerer Schraubenkopf mit Hinterschnitt notwendig ist, um den Fließbohrwulst aufzunehmen.
Bild 18.4.2 Ablaufschritte beim Setzen von Fließlochbohrschrauben (FDS®, Fa. Ejot). Im dargestellten Fall wurde das Oberblech vorgelocht
Das Schraubersystem erfordert Drehzahlen von ca. 5000 U/min und einen definierten Anpreßdruck beim Fließbohrschritt sowie eine herabgestufte Drehzahl beim Gewindeprägen und ein definiertes Drehmoment für das Anziehen der Schraubverbindung. Das Verfahren wurde maschinentechnisch für den Robotereinsatz soweit entwickelt, daß es serienmäßig und prozeßsicher im Automobilbau eingesetzt werden kann (Bangel et al. 2006). Bild 18.4.3 zeigt die Verwendung von Fließlochbohrschrauben in
Bild 18.4.3 Verbindung zwischen Stahlblechformteilen und dem AluminiumSpaceframe des Audi-TT mittels Fließbohrschrauben (FDS®, Fa. Ejot)
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der Mischbauverbindung zwischen dem Hinterbau in Stahlblechbauweise und der Aluminium-Spaceframe-Bauweise der Fahrgastzelle des Audi-TT (SOP 5/2006). Aus Korrosionsschutzgründen kann zusätzlich ein Klebstoff aufgetragen werden, wobei der Ort der Schraubverbindung frei von Klebstoff gehalten werden muß. Für die Ausführung von Schraubverbindungen in Aluminium wird auf ausführliche Beschreibungen in der Literatur verwiesen (Bauer 1982), (Dick 1973), wo sich auch Hinweise für einzuhaltende Mindestschraubtiefen, Flächenpressungen etc. finden. Für mehrfach lösbare Schraubverbindungen mit Muttergewinden in massiven Aluminiumbauteilen eignen sich Schraubeinsätze aus rostfreien Stahlsorten, die außerdem eine geringere Einschraubtiefe erlauben (Dicke 1974), s. Bild 18.4.4.
Bild 18.4.4 Schraubeinsätze für Mutterngewinde in Aluminium
Berechnungsansätze für Schraubverbindungen findet man in [Höglund, www.eaa.net/education/TALAT] sowie in den anzuwendenden Regelwerken des konstruktiven Ingenieurbaus, z.B. DIN 4113. Für vorgespannte Schraubverbindungen gilt die Regel, daß infolge anfänglichen Kriechens („Setzen“) der auf Druck beanspruchten Aluminiumfügeteile ein erneutes Nachspannen nach einer Zeitspanne von etwa 15 Minuten erforderlich ist.
Bild 18.4.5 Verschiedene Schraubkanäle für Strangpressprofile. a) Verschraubung auf der Profillängsseite, b) und c) Verschraubung auf der Profilstirnseite
18.5 Festigkeitseigenschaften mechanisch gefügter Verbindungen
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Eine Besonderheit der Aluminiumbauweise mit Profilen ist die Nutzung von Schraubkanälen für vielfältige Montage- oder Verbindungszwecke. Schraubkanäle können für stirnseitige und für längsseitige Verbindungen verwendet werden, wie die Bilder 18.4.5 und 18.4.6 zeigen. Berechnungsansätze für die Tragfähigkeit derartiger Schraubverbindungen findet man z.B. in [Höglund, www.eaa.net/education/TALAT], (Linn 1996).
Bild 18.4.6 Schraubkanäle mit unterschiedlichen Schub- und Auszugsfestigkeiten
18.5 Festigkeitseigenschaften mechanisch gefügter Verbindungen Die Festigkeitseigenschaften punktförmiger, mechanischer Verbindungen werden häufig mit den Eigenschaften punktgeschweißter, stoffschlüssiger Verbindungen verglichen, da letztere in der Blechverarbeitung – insbesondere für tragende Bauteile im Stahlkarosseriebau – die größte Verbreitung finden. Demgegenüber werden durchsetzgefügte Blechbauteile vor allem für untergeordnete Bauteile, die keine wesentlichen Trag- oder Sicherheitsfunktionen erfüllen müssen, eingesetzt. Im Karosseriebau mit Aluminium haben sich jedoch die selbststanzenden Nietverbindungen auch für höherbeanspruchte Teile durchgesetzt, da sie ähnlich wie die Punktschweißverbindungen auch relativ hohe Beanspruchungen unter Kopfzug ertragen, wogegen bei durchsetzgefügten Verbindungen eine Kopfzugbeanspruchung einen Schwachpunkt darstellt und die Festigkeitswerte unter 50% der Werte einer Punktschweißverbindung herabsinken können. Eine wichtige Einflußgröße stellt der Zustand der Blechoberfläche dar. Die trockene, gebeizte Oberfläche neigt beim mechanischen Fügen zu Adhäsionserscheinungen, die beim Durchsetzfügen die statische Festigkeit günstig beeinflussen, jedoch die Standzeit der Werkzeuge herabsetzen. Auch die Mikrotopographie der Oberfläche kann geringfügig positive Auswirkungen auf die Ausbildung des Fügepunktes haben. Nachteilig wirkt eine Beölung der Oberfläche auf die Festigkeit, weil dadurch die
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18 Mechanisches Fügen
Kraftschlußkomponente der Scherzugkraft herabgesetzt wird. Dies gilt besonders für Durchsetzfügen ohne Schneidanteil, da der Schmierstoff nicht aus der Umformzone herausgedrückt werden kann. Die Scherfestigkeit sinkt dadurch auf etwa 50% der fettfreien Oberfläche, jedoch nur auf 90% für Durchsetzfügen mit Schneidanteil. In zunehmendem Maße besteht Interesse daran, vorbehandeltes Bandmaterial für die Blechbearbeitung einzusetzen, um chemische Behandlungsprozesse aus der mechanischen Fertigungslinie fernzuhalten bzw. günstigere Verarbeitungseigenschaften zu erzielen. Hierzu zählen Konversionsbehandlungen für nachfolgendes Kleben sowie Primer- und KTLBeschichtungen. Bild 18.5.1 zeigt den Einfluß von Konversions- und Primerbeschichtung auf die Scherzugfestigkeit beim Durchsetzfügen und Stanznieten im Vergleich zu unbehandelten mill-finish-Proben. Danach werden die Verbindungsfestigkeiten von durchsetzgefügten und stanzgenieteten Blechen aus EN AW-5754-0 durch Konversions- und Primerbeschichtungen gegenüber unbehandelten Blechen nicht beeinträchtigt, sondern eher verbessert. Chromatierte Bleche zeigen – vermutlich wegen günstigerer Haftreibungsverhältnisse bei der Kraftschlußkomponente – höhere Festigkeitswerte bei beiden Fügeverfahren. Bei größeren Schichtdicken (25–30µm) von KTL-Ersatzbeschichtungen wurde ein leichter Festigkeitsverlust (∼15%) der Stanznietverbindung festgestellt (Bangel 2003). Voraussetzung war allerdings auch eine Anpassung der Stanzniethärte, um fertigungssichere Verbindungen herzustellen.
Bild 18.5.1 Scherzugfestigkeit von Rund-Clinch- und Stanzniet-Verbindungen in 1 mm dicken Blechen aus EN AW-5754-0 ohne und mit verschiedenen Vorbeschichtungen (Quelle: Steimmel, VAW)
18.5 Festigkeitseigenschaften mechanisch gefügter Verbindungen
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Mechanisch gefügte Verbindungen haben unter Scherbeanspruchung gegenüber punktgeschweißten Verbindungen Festigkeitsvorteile bei schwingender Beanspruchung. Dieser Vorteil gilt sowohl für Durchsetzfügeverbindungen als auch besonders für Stanznietverbindungen, s. Bild 18.5.2.
Bild 18.5.2 Schwingfestigkeitsverhalten von WPS-gefügten und stanzgenieteten Verbindungen von Aluminiumkarosserieblechlegierungen (Voelkner et al. 1997)
Wegen der Bedeutung der mechanischen Fügetechnik für vorbeschichtete Blechwerkstoffe, wurde auch die Schwingfestigkeit von Stanznietverbindungen an mit Primer und KTL-Ersatz vorbeschichteten Blechwerkstoffen untersucht (Bangel 2003). Das Beispiel der Legierung EN AW5182-0 zeigt Bild 18.5.3. Mit geringen Einschränkungen für die KTL-Beschichtung läßt sich demnach kein Einfluß der Vorbeschichtung auf die Schwingfestigkeitseigenschaften von Stanznietverbindungen feststellen. Zahlreiche weitere Angaben zu statischen und dynamischen Festigkeitseigenschaften von mechanisch gefügten Aluminiumblech- und Aluminiumprofillegierungen findet man in (Schröder 1992, Schmid 1994) sowie eine ausführliche Bewertung der mechanischen Fügetechniken in der Blechverarbeitung im Vergleich zum Widerstandspunktschweißen (Singh 1996). Die statischen und dynamischen Festigkeitseigenschaften von punktgefügten mechanischen Verbindungen lassen sich durch die Kombination mit einer stoffschlüssigen Klebverbindung erheblich steigern. Die zu erwartenden Festigkeitssteigerungen sind abhängig von der Größe der Klebfläche. Bei den im Karosseriebau üblichen Flanschflächen werden die
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18 Mechanisches Fügen
Schwingfestigkeitswerte z.B. gegenüber reinen Stanznietverbindungen etwa um den Faktor 2 erhöht. Zum Einsatz kommen pastöse Metallklebstoffe und Klebstoffolien.
Bild 18.5.3 Schwingfestigkeitsverhalten von Stanznietverbindungen an vorbeschichtetem Karosserieblech aus Legierung AlMg4,5Mn0,4. Primer: Bonazinc 2000 (Bangel 2003)
19 Sonderverfahren der Fügetechnik
19.1 Rührreibschweißen (Friction Stir Welding / FSW) Das noch relativ junge Rührreibschweißen (Friction Stir Welding) (Thomas et al. 1992) findet bereits zahlreiche Anwendungen in der industriellen Praxis. FSW bietet gerade in der Aluminiumverarbeitung Lösungen für bisherige Verbindungsprobleme und hat eine große Zahl von Forschungsund Entwicklungsprojekten angeregt. Die stoffschlüssigen FSW-Verbindungen ohne Zusatzwerkstoffe haben eine hohe Qualität und Zuverlässigkeit und können selbst mit solchen Legierungen hergestellt werden, die beim Schmelzschweißen zu Schweißrissigkeit neigen. Neben hochfesten Aluminiumknetlegierungen wurden erfolgreich auch Gußlegierungen und selbst Aluminium/C-Stahl-Verbunde hergestellt. Die Anwendungsgrenzen des Verfahrens liegen in der notwendigen maschinellen Einrichtung und festen Einspannung, die für viele Fügeaufgaben nicht geeignet sind. Beim Rührreibschweißen handelt es sich um eine Variante des Reibschweißens, also ein mechanischer Verbindungsprozeß, in dessen Verlauf das Metall nicht auf- oder angeschmolzen wird. Dabei wird ein rotierendes, zylindrisches Werkzeug, aus dessen Stirnfläche ein besonders geformter Rührstift (Pin) herausragt, in Nahtrichtung des fest eingespannten Verbindungsstoßes durch das Material gepreßt. Der Werkstoff wird im Bereich der Naht durch Reibungswärme in einen teigigen Zustand versetzt und verwirbelt. Die Stiftlänge ist geringfügig kürzer als die beabsichtigte Dicke der Schweißzone, z.B. als die Wanddicke bei einem einfachen Stumpfstoß. Stiftdurchmesser und Form richten sich nach der beabsichtigten Nahtdicke und der Stoßart (Stumpf-, Überlapp- oder T-Stoß) sowie nach anderen spezifischen Gesichtspunkten. Der Pin trägt groben Gewindegängen ähnliche Rührflügel unterschiedlicher Ausbildung. Die rotierende Schulterfläche des Werkzeugs wird auf die Nahtstelle gedrückt, erzeugt einen Teil der benötigten Reibungswärme und ebnet gleichzeitig das sich vor dem Stift aufwölbende, plastifizierte Material soweit ein, daß man eine ebene Nahtausbildung mit einem geringen Grat („Lippe“) erhält. Der Durchmesser der Schulter hängt ab von Parametern, wie Rotationsgeschwindigkeit, Vorschubgeschwindigkeit, u.a.. Durch die glatte Stahlun-
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19 Sonderverfahren der Fügetechnik
terlage bei einem Stumpfstoß entsteht eine ebene Wurzelausbildung. Wie bei anderen Preßschweißverfahren erübrigt sich der Schweißzusatzdraht. Das Verfahrensprinzip ist aus Bild 19.3.1 ersichtlich.
Bild 19.1.1 Verfahrensschema des Rührreibschweißens (Friction Stir Welding)
Die Naht selbst besteht aus einem thermomechanisch verfeinerten Knetgefüge, s. Bild 19.1.2. Die Reibungswärme erzeugt beiderseits der Naht eine Wärmeeinflußzone (b) mit entsprechenden Wirkungen auf die Festigkeitseigenschaften der Verbindung. Es schließt sich eine thermomechanisch plastifizierte Zone (c) an, die eine extrem fein rekristallisierte Kernzone (d) umschließt. Diese Kernzone ist nicht symmetrisch, sondern zur vorlaufenden Schulterseite hin gestreckt.
Bild 19.1.2 Gefügezonen einer FSW-Verbindung: a) Grundwerkstoffzustand, b) Wärmeeinflußzone, c) thermomechanisch plastifizierte Zone, d) fein rekristallisierte Kernzone („Nugget“), im Bild unten in höherer Vergrößerung
19.1 Rührreibschweißen (Friction Stir Welding / FSW)
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FSW erzeugt eine poren- und fast verzugsfreie Verbindung. Eigenspannungsmessungen (Fratini et al. 2006) an verschiedenen Legierungen ergaben in Längs- und Querrichtung oberflächlich leichte Druckspannungen, die sich unter der Oberfläche ab einer Tiefe von 0,5 bis 1 mm in Zugspannungen umkehrten. Die Höhe der Eigenspannungen ist abhängig von Drehzahl und Vorschubgeschwindigkeit des FSW-Werkzeugs. Die Zugeigenspannungen im Querschnitt erreichen jedoch selbst bei FSW-Verbunden der hochfester Legierungen AA7050-T74 und AA2024-T3 maximal 20% der 0,2%-Dehngrenze des Grundwerkstoffs (Prime et al. 2006). Das Verfahren erfordert wegen der hohen Preß- und Vorschubkräfte eine sehr stabile Maschinenausführung. Das verfahrensbedingte Loch des Rührstiftes am Ende der Schweißnaht muß mit anderen Mitteln verschlossen werden, sofern kein Auslaufblech vorgesehen ist. Bedingt durch die notwendige Abstützung der Naht ist auch die Ausbildung der Verbindungsstöße eingeschränkt. Vornehmlich werden Stumpfstöße und Überlappstöße verwendet, s. Bilder 19.1.3 und 19.1.4.
Bild 19.1.3 Stumpfstoß-FSW-Verbindungen an a) Blechen mit unterschiedlichem Penetrationsgrad, b) Platten mit beidseitiger Schweißlage und c) Hohlprofilen
Bild 19.1.4 FSW-Überlappstöße an a) Blechen oder Profilen mit angepreßter Wurzelstütze, b) und c) Hohlprofilen mit Schiebesitz bzw. mit Wurzelstütze
Die Schweißgeschwindigkeit ist dickenabhängig und beträgt bei Legierungen mittlerer Festigkeitsstufe etwa 0,8 m/min. bei 5 mm bzw. 0,15 m/min. bei 25 mm Wanddicke. Bei Aluminium sind Nahtdicken von 1,2 bis 75 mm verschweißt worden, wobei ab 25 mm Dicke beidseitig nach-
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19 Sonderverfahren der Fügetechnik
einander geschweißt werden muß. Das Werkzeug unterliegt der Abnutzung. Die Lebensdauer entspricht beim Verbinden von 5 mm dickem AlSi1MgMn (EN AW-6082-T6) etwa 1000 m Schweißnahtlänge. Höhere Standzeiten sind durch Maßnahmen der Oberflächenbehandlung des Werkzeugs zu erreichen. Die statischen Festigkeitseigenschaften der Verbindung sind gut reproduzierbar und liegen deutlich über den Werten vergleichbarer MIG-Verbindungen. Voraussetzung jedoch ist eine vorhergehende Optimierung der Schweißparameter, d.h. der Werkzeugart und -form, der Dreh- und Vorschubgeschwindigkeit und deren Abstimmung auf die Stoßart. Auch eine Voroxidation der Stoßkanten kann zu Oxideinschlüssen führen (Staniek et al. 2005). Eine weitere wichtige Voraussetzung bei Stumpfstößen ist die vollständige Penetration der Fuge ohne Wurzel-(Rest)spalte, s. Bild 19.1.3a. Bei Überlappstößen besteht ein Unterschied der Verbindungsfestigkeit, ob die voreilende Schulterseite auf der belasteten oder unbelasteten Seite der Überlappung geführt wird (Ericsson et al. 2007). Ein Problem beim Überlappstoß kann das Hineinziehen der Dopplungsfuge als Materialfalte in die Naht darstellen, wodurch eine rißähnliche Unregelmäßigkeit gegeben ist. Bild 19.1.5 deutet eine solche Falte einer Verschweißung der Wurzelstütze an, die unter bestimmten Beanspruchungen als Rißauslösung oder Rißbeschleuniger wirken kann (James et al 2003).
Bild 19.1.5 Wurzelausbildung eines Stumpfstoßes mit Wurzelstütze (s. Skizze) beim Rührreibschweißen von 12 mm dickem Strangpreßmaterial der Legierung EN AW-6005A-T6 (Quelle: SLV Berlin-Brandenburg, Paulinus et al. 2004)
Eine Kalt- oder Warmauslagerung (je nach Legierungsart) nach dem Schweißen führt zu einer deutlichen Anhebung der Härte- und Festigkeitswerte der FSW-Verbindung bei aushärtbaren Legierungen, insbesondere bei der Gruppe der AlMgSi-Legierungen. FSW-Verbindungen der
19.1 Rührreibschweißen (Friction Stir Welding / FSW)
663
Legierung EN AW-6082-T4 ergaben nach einer anschließenden Warmaushärtung Festigkeitswerte von ca. 90–100% der Grundwerkstoffestigkeiten, s. Bild 19.1.6 und Tabelle 19.1.1, s. auch (Ericsson et al. 2007). Dies bedeutet eine erhebliche Steigerung der Verbindungsfestigkeiten gegenüber κ = 0,45–0,60 für MIG- oder WIG-Verbindungen der aushärtbaren AlMgSi-Verbindungen.
Bild 19.1.6 Härteverlauf über einer FSW-Stumpfstoßverbindung der Legierung EN AW-6082-T6 (links) und -T4 (rechts) ohne und mit einer nachträglichen Warmauslagerung von 3h bei 185°C (Quelle: SAPA) Tabelle 19.1.1 Statische Festigkeitseigenschaften von FSW-Stumpfstoßverbindungen nach verschiedenen Literaturangaben Leg.-Bez.
Grundwerkstoff Rp0,2 Rm A5 EN AW[MPa] [MPa] [%] 5083-0 148 298 23,5 5083-H321 249 336 16,3 6060-T5 180 210 10 6063-T6 239 259 12 6082-T4 150 260 23 6082-T4 6082-T5 258 281 12 6082-T5 6082-T6 286 301 10,4 6082-T6 6013-T4 254 336 18 3) 7108-T79 295 370 14 7108-T79 1)
FSW-Verbindung Rp0,2 Rm A5 [MPa] [MPa] [%] 141 298 23 153 305 22,5 91 188 15 118 180 8 140 244 19 285 300 10 125 196 10 227 250 8 160 254 4,9 274 300 6,4 180 280 10 3) 210 320 12 245 350 11
Anm. 1) κ 2) Literatur
+wa +wa +wa
+ka
1,00 0,91 0,90 0,70 0,94 0,98 0,70 0,89 0,83 1,00 0,83 0,86 0,95
Dawes et al (1995) Kallee et al (2001) Midling et al. (1996) Backlund et al. (1998) Backlund et al. (1998) Backlund et al. (1998) Midling et al (1994) Midling et al (1994) Backlund et al. (1998) Backlund et al. (1998) Palm (2000) Midling et al. (1998) Midling et al. (1998)
Nachbehandlung: wa = warmausgehärtet, ka = kaltausgehärtet Rm-Verhältnis von FSW-Verbindung zu Grundwerkstoff 3) A50 2)
664
19 Sonderverfahren der Fügetechnik
Gegenüber den Schwingfestigkeitseigenschaften von Schmelzschweißverbindungen werden wegen des homogeneren Gefüges der Naht und wegen der geringeren Kerbwirkung und Eigenspannungen deutlich höhere Werte berichtet, die nach eingehender statistischer Auswertung entsprechend dem Eurocode EC9 annähernd die Werte für den Grundwerkstoff erreichen können (Lomolino et al 2005).
19.2 Reibschweißen Reibschweißen ist ein Fügeverfahren, mit dem eine stoffschlüssige Verbindung im festen Zustand hergestellt werden kann. Reibschweißverbindungen entstehen durch Reibungswärme und Anpreßdruck eines rotierenden Fügeteils gegen ein feststehendes Teil. Es eignet sich daher vorzugsweise für solche Bauteile, bei denen mindestens ein Fügepartner eine massive oder hohle zylindrische Form hat. Hierzu zählen rohrförmige Komponenten, wie beispielsweise Gelenkwellen, bei denen der Rohrkörper mit entsprechenden, geschmiedeten oder fließgepreßten Gelenken verschweißt wird. Die durch die Reibungswärme der gegeneinander drehenden Fügeteilpartner erweichte Zone wird durch den abschließenden Axialdruck gestaucht, wobei sich der typische Wulst beim jeweiligen Verbindungspartner aufwirft, bevor die innige, stoffschlüssige Verbindung gebildet ist. Durch dieses Herauspressen des Materials aus der Fügezone sind die Diffusionsvorgänge an der Fügestelle auf extrem kurze Zeit begrenzt. Dadurch ist die thermische Belastung der Gefüge relativ gering und es ist dadurch möglich, die Bildung von spröden, intermetallischen Phasen beim Reibschweißen ungleichartiger Metalle, beispielsweise Stahl und Aluminium, auf ein Minimum zu beschränken. Solche Verbindungen sind auch thermisch bis etwa 300°C stabil (Mechsner et al. 1983). Reibschweißen ist deshalb eines der wenigen Fügeverfahren, mit denen artfremde metallische Werkstoffe unmittelbar und stoffschlüssig miteinander verbunden werden können. Kurze Reibzeiten sind für Aluminium nur in Verbindung mit einem schnellen Kraftaufbau in der Reib- und Stauchphase sinnvoll. Für die Festigkeitseigenschaften derartiger Verbindungen mit mittelund hochfesten Konstruktionslegierungen ist es entscheidend, die Verfahrensparameter Rotationsgeschwindigkeit und Axialdruck zeitlich genau aufeinander abzustimmen, damit die wärmebeeinflußte Zone klein bleibt, innerhalb der der Stauchvorgang stattfindet. Die gegenüber Stahl höhere Wärmeleitfähigkeit der Aluminiumlegierungen und die größere Gefahr des
19.2 Reibschweißen
665
Anschmelzens stellen deshalb beim Reibschweißen von Aluminium besondere Anforderungen an die Steuerung der Reibschweißmaschine. Generell unterscheidet man zwei Verfahrensvarianten: 1. Reibschweißen mit kontinuierlichem Antrieb 2. Reibschweißen mit Schwungradantrieb. Reibschweißen mit kontinuierlichem Antrieb ist durch Fremdbremsung gekennzeichnet, während beim Schwungradantrieb die gespeicherte Rotationsenergie durch Eigenbremsung dem Schweißprozeß zugeführt wird. Dementsprechend unterschiedlich sind die Drehzahl- und Drehmomentenverläufe sowie der zeitliche Stauchkraftverlauf, s. Bild 19.2.1.
Bild 19.2.1 Prinzip des Reibschweißens mit kontinuierlichem Antrieb und mit Schwungradantrieb (Krüger 1994)
Die Reibschweißeignung von Fügepartnern beruht derzeit noch auf Erfahrungen. Reibschweißgeeignet sind auch Aluminiumlegierungen, die nicht schmelzschweißbar sind. Tabelle 19.2.1 gibt einen Überblick über Werkstoffe, die erfahrungsgemäß mit Aluminium und seinen Legierungen durch Reibschweißen verbunden werden können. Voraussetzungen zum Reibschweißen sind eine ausreichende Festigkeit zur Übertragung von Axialdruck und Reibmoment sowie eine ausreichende Warmverformbarkeit. Reines Aluminium ist ein idealer Werkstoff für das Reibschweißen. Angesichts der Vielzahl von Al-Legierungen und Al-Sinterwerkstoffen gibt es hinsichtlich der Schweißeignung jedoch noch zahlreiche Kenntnislücken.
666
19 Sonderverfahren der Fügetechnik
Die Reibschweißeignung wird u.a. durch folgende metallurgische Faktoren eingeschränkt: • Bildung niedrigschmelzender Phasen oder spröder intermetallischer Phasen • Entfestigung ausgehärteter Werkstoffe • Menge und Verteilung nichtmetallischer Einschlüsse • Aufhärtungseffekte bei Werkstoffkombinationen. Tabelle 19.2.1 Reibschweißeignung von Aluminium mit anderen Metallen
Reibschweißversuche an verschiedenen Aluminium- und Stahlwerkstoffen zeigen, daß Festigkeiten oberhalb der Streckgrenzen von Aluminium und Stahl erreichbar sind. Wie die Festigkeitswerte von Reibschweißverbindungen von Aluminiumlegierungen mit verschiedenen Stahlsorten in Bild 19.2.2 zeigen, ist ein Zusammenhang zwischen den Legierungsfestig-
Bild 19.2.2 Zugfestigkeitswerte reibgeschweißter Aluminium-Stahl-Verbindungen (Reiners et al. 1988)
19.2 Reibschweißen
667
keiten und der Verbindungsfestigkeit nicht erkennbar. Der Bruch solcher Mischverbindungen erfolgt meistens verformungsarm in der Bindeebene. Als Ursache dafür sind die unterschiedlichen mechanischen Eigenschaften von Stahl und Aluminium und die daraus resultierende Fließbehinderung an den Grenzflächen in Verbindung mit mehrachsigen Spannungszuständen anzusehen. Für zuverlässiges mechanisches Verhalten solcher Verbindungen sollten jedoch die Schweißparameter- und Werkstoffwahl so getroffen werden, daß der Bruch außerhalb der eigentlichen Naht eintritt. Für schwingend beanspruchte Bauteile sollte vorgesehen werden, den Preßgrat zur Vermeidung von Kerbspannungen spanend zu entfernen.
Bild 19.2.3 Härteverlauf in der Verbindungszone einer Aluminium-Stahl-Reibschweißzone (Reiners et al. 1988)
Bild 19.2.4 Kardanwelle mit Reibschweißverbindungen Al-Al und Al-Stahl
668
19 Sonderverfahren der Fügetechnik
Bei ordnungsgemäß hergestellten Aluminium-Stahl-Mischverbindungen sollte die Bruchlage bei zerstörender Prüfung immer im Aluminiumteil liegen. Metallurgisch bedingt stellt sich im Stahlteil an der Verbindungsstelle in einem Bereich von 100 bis 200 µm eine Härtespitze ein, s. Bild 19.2.3. Bei den aushärtbaren Al-Legierungen ist mit einem Härteabfall infolge Rückbildung ausgeschiedener Teilchen zu rechnen. Der Härteabfall im Aluminiumteil kann z.T. durch die Materialverdickung infolge des Stauchvorgangs kompensiert werden. Ein typischer Anwendungsfall für eine Reibschweißverbindung ist die Kardanwelle aus Aluminiumrohr und Stahl- oder Aluminiumendstücken, s. Bild 19.2.4.
19.3
Explosivschweißen
Sprengplattieren unterschiedlicher Metalle wird für die Herstellung kompakter Übergangsmetalle verwendet, die z.B. für Schweißverbinder zwischen Aluminium- und Stahlbauteilen verwendet werden. Das Verfahrensprinzip ist in Bild 19.3.1 schematisch dargestellt. Der Plattierwerkstoff wird mit einem Beschleunigungsabstand zum Substrat angeordnet und mit einer Sprengstofflage versehen, die an einem Ende gezündet wird. Mit Schockwellen (3000 bis 9000 m/s) werden Drücke bis zu 6 x 104 N/mm² erzeugt, unter denen die Materialoberflächen beim Aufeinandertreffen plastisch fließen und sich in der Grenzzone mechanisch mischen. Dabei werden die auf den Oberflächen der Werkstücke befindliche Oxidschichten zertrümmert und aus dem Spalt herausgeblasen. Die wellenförmige
Bild 19.3.1 Schema des Sprengplattierens (Quelle: U. Krüger, SLV Berlin-Brandenburg)
19.4 Hartlöten
669
Schockwellenausbreitung bildet sich in der Bindeebene als „Materialwelle“ ab, die im Schliff deutlich nachweisbar ist, s. Bild 19.3.2. Es lassen sich sogar „Mehrfach-Sprengschweißungen“ erzeugen, d.h. gleichzeitig mehrere Werkstoffe oder Legierungen mit unterschiedlichen Dicken. Auf diese Weise werden Zwischenplattierschichten aufgebracht, um bei bestimmten Materialkombinationen gute Verbindungseigenschaften zu erhalten. Derart hergestellte Verbundbleche aus Aluminium und Stahl werden häufig im Schiffbau verwendet, um als Übergangsstücke Aluminiumstrukturen mit Stahlstrukturen miteinander verschweißen zu können, z.B. für die Verbindung von Aluminiumschiffsaufbauten mit dem Stahlrumpf. Auch Aluminiumflüssiggastanks können auf diese Weise mit dem Schiffsrumpf verbunden werden.
Bild 19.3.2 Makrogefüge von Sprengschweißverbindungen zwischen Aluminiumlegierungen und Stahl mit verschiedenen Zwischenschichten (Quelle: U. Krüger, SLV Berlin-Brandenburg)
19.4 Hartlöten Löten ist ein stoffschlüssiges Verbindungsverfahren, bei dem im Gegensatz zum Schweißen die beiden Fügepartner durch ein schmelzflüssiges Lot verbunden werden, ohne selbst angeschmolzen zu werden. Das sog. Hartlöten unterscheidet man etwas willkürlich vom Weichlöten dadurch, daß die benötigte Prozeßtemperatur über 440°C liegt. Als weiterer Unterschied dient beim Hartlöten ein artähnlicher Zusatzwerkstoff (Al-Si-Basis nach DIN EN 1044:2006 mit Löttemperaturen zwischen 550 und 650 °C), beim Weichlöten ein artfremdes Lot (Zinn-Zink-Lote nach DIN EN 29454-1:1994 mit Löttemperaturen zwischen 200 und 350 °C). Neuerdings werden auch höherlegierte Zn-Al-Lote (ZnAl6Cu1,5 und ZnAl15 für Prozeßtemperaturen zwischen 425–450 °C) mit Cäsium-Aluminium-Fluorid Flußmittel für das Ofenlöten unter N2-Schutzgas untersucht (Grund et al.
670
19 Sonderverfahren der Fügetechnik
2006). Damit kann die Palette der lötbaren Aluminiumlegierungen deutlich erweitert werden. Hartlote
Handelsübliche Hartlote basieren auf dem Aluminium-Silizium-System und enthalten zwischen 7 und 13% Silizium. Der Normentwurf DIN EN 1044:2006 enthält entsprechende Angaben zu den Loten. Eine Zusammenstellung von Hartloten wird in Tabelle 19.4.1 gegeben. Die Solidustemperatur entspricht im Fall der binären AlSi-Lote der eutektischen Temperatur des Systems: 577°C. Das entweder in Form von Draht oder Zwischenlagen häufig verwendete Hartlot besteht aus der Legierung AW-4047A mit 12% Silizium und einem Schmelzbereich zwischen 577° und 582°C. Durch Zusätze von Kupfer und Zink werden sowohl die Solidus- als auch die Liquidustemperatur weiter gesenkt. Ein typischer Vertreter dieser Gruppe von Zusatzmetallen ist die Legierungen AW-4048, die für das Hartlöten von AlSiCu-Gußlegierungen verwendet werden kann (nicht mehr in dem Entwurf DIN EN 1044:2006 enthalten). Über die aufgeführten Lotwerkstoffe hinaus gibt es zahlreiche weitere Varianten verschiedener Anbieter. Die geeignete Legierungsauswahl der Hartlote hängt vom jeweiligen Hartlötverfahren ab. Tabelle 19.4.1 Legierungen und Schmelzdaten für Aluminium-Hartlote Leg.-Bez. AW-
Legierungselemente [Massenanteil in %] Si
Fe
Cu
Flußmittellote 4,5-6,0 0,6 0,30 4043A 6,8-8,2 0,8 0,25 4343 9,0-11,0 0,8 0,30 4045 4047A 11,0-13,0 0,6 0,30 9,0-11,0 0,6 3,0-5,0 4145A 4048***) 9,3-10,7 0,8 3,3-4,7 Vakuumlote / Schutzgaslote 4004 9,0-10,5 0,8 0,25 4104 9,0-10,5 0,8 0,25
Mn
Mg
0,15 – 0,05 0,15 0,15 0,07
0,10 0,20 0,20 0,10 0,10 0,05 0,20 0,10 0,20 0,10 0,07 9,3-10,7
0,10 1,0-2,0 0,10 1,0-2,0
Zn
0,20 0,20
Temperaturbereiche [°C] Ti Soli- Liqui- Lötdus dus bereich 0,15 – 0,20 0,15 0,15 *)
577 577 577 577 521 516
630 610 591 582 585 560
620-645 593-621 587-604 582-604 571-604 549-571
– 554 569 588-604 **) 554 569 588-604
*) max. 0,07 Cr; **) 0,02 - 0,20 Bi ; ***) nicht mehr in DIN EN 1044:2006 enthalten Nach EN 1044 gelten auch die korrespondierenden Lotbezeichnungen: 4043A = AL 101; 4343 = AL 102; 4045 = AL 103; 4047A = AL 104; 4145A = AL 201; 4004 = AL 301; 4104 = AL 302
19.4 Hartlöten
671
Mit Hartloten lötbare Aluminiumlegierungen
Die Zahl der Aluminiumlegierungen, die mit Erfolg hartgelötet werden können, ist begrenzt. Dies ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß beim Hartlöten die Schmelztemperatur (Solidustemperatur) des Grundwerkstoffs oberhalb der Liquidustemperatur des Hartlotes liegen muß. Daher ist das Hartlöten von Legierungen der 2xxx-er Reihe und der Cuhaltigen 7xxx-er Legierungen nicht zu empfehlen. Auch können Aluminiumlegierungen mit mehr als 2% Magnesium nur unter Schwierigkeiten hartgelötet werden, da die Oxidschicht dieser Werkstoffe durch Flußmittel nicht wirksam genug entfernt werden kann. Durch die schnelle Diffusionskinetik beim Hartlötprozeß gelangen die Legierungsbestandteile des Lotes in den Grundwerkstoff. Die Diffusion erfolgt vorzugsweise entlang der Korngrenzen, verursacht Mischkristallverfestigung und/oder die Ausscheidung von nicht erwünschten intermetallischen Phasen, die die mechanischen Eigenschaften der Verbindung beeinträchtigen können. Tabelle 19.4.2 listet die Schmelzbereiche und relative Lötbarkeit von einer Reihe von Aluminiumknetlegierungen. Lotbleche bestehen aus einem Kernwerkstoff, der einseitig oder beidseitig mit einer Lotlegierung im Warm- und Kaltwalzprozeß plattiert wurde, wodurch sich Lotzusatz beim Lötprozeß erübrigt. Tabelle 19.4.2 Beispiele für Knetlegierungen mit Angabe zur Lötbarkeit Legierungsbezeichnung
Solidus
Liquidus
empfohlener Lötbereich
relative Lötbarkeit 1)
EN AW1050A 3003 3103 3004 5005A 5052 5056A 6061 6063 6951
[°C] 646 643 640 629 630 593 575 593 616 616
[°C] 657 654 655 654 650 649 630 652 652 654
[°C] 596-615 593-615 593-615 582-604 582-604 571-593 -565-585 565-585 565-585
[–] A A A B B-C C D B A A
1
Al 99,5 Al Mn1Cu Al Mn1 Al Mn1Mg1 Al Mg1 Al Mg2,5 Al Mg5 Al Mg1SiCu Al Mg0,7Si Al MgSi0,3Cu
) Bewertung: A = gut lötbar mit allen Verfahren; B = lötbar mit allen Verfahren, erfordert aber besondere Erfahrung; C = lötbar unter Beachtung besonderer Sorgfalt und Maßnahmen; D = schwierig zu löten
672
19 Sonderverfahren der Fügetechnik
Mit geeigneten Loten können auch einige Gußlegierungen hartgelötet werden. Zu den lötbaren Gußlegierungen zählen EN AC-42000 AlSi7MgFe EN AC-42100 AlSi7Mg0,3 EN AC-42200 AlSi7Mg0,6 EN AC-45300 AlSi5Cu1Mg EN AC-71000 AlZn5Mg. Der Wärmezyklus des Hartlötprozesses hat Auswirkungen auf die mechanischen Eigenschaften des Werkstücks. Die hohen Temperaturen nahe dem Soliduspunkt führen gewöhnlich zum Weichzustand. Wenn eine Lötkonstruktion nach dem Lötprozeß schnell abgekühlt werden kann, können aushärtbare Legierungen durch nachfolgende Kaltaushärtung oder Warmaushärtung einen Festigkeitsgewinn erzielen. Typische mechanische Eigenschaften von einigen Kernwerkstoffen nach dem Hartlöten sind in Tabelle 19.4.3 aufgeführt. Tabelle 19.4.3 Mechanische Eigenschaften von hartgelöteten Legierungen Legierungsbezeichnung EN AW3003 3103 3005 5005 3190 1) 3532 1) 6063 6063 6951 6951
Rp0,2
Rm
[MPa] [MPa] Al Mn1Cu Al Mn1 Al Mn1Mg0,5 Al Mg1 n. b. n. b. Al Mg0,7Si Al Mg0,7Si Al MgSi0,3Cu Al MgSi0,3Cu
35 35 50 35 55 50 65 160 65 160
95 95 120 105 130 120 130 200 130 200
A50
Bemerkungen
[%] 28 28 14 16 18 18 13 10 13 10
– – – – “long life alloy” “long life alloy” kaltausgehärtet 2) warmausgehärtet 3) kaltausgehärtet 2) warmausgehärtet 3)
1
) Modifikationen der Legierung 3005 ( Hoogovens ) ) nach dem Löten beschleunigte Abkühlung nötig – kaltausgehärtet 3 ) nach dem Löten beschleunigte Abkühlung nötig – warmausgehärtet 185°C/4,5h 2
Lötprozeß und -verfahren
Voraussetzung für das Durchführen des Lötprozesses ist die Benetzungsfähigkeit der Lötflächen durch das geschmolzene Hartlot. Infolge der nied-
19.4 Hartlöten
673
rigen Viskosität des flüssigen Aluminiumlotes bei Erreichen der Löttemperatur wird das Lot durch Kapillarwirkung in den Zwischenraum gesaugt und füllt diesen aus. Die metallische Verbindung der Fügestelle entsteht durch den diffusionsbestimmten Atomaustausch zwischen Lot und Fügeteilwerkstoff. Die Sicherstellung der Benetzungsfähigkeit der Fügeteiloberfläche beim Lötprozeß ist die eigentliche Herausforderung des Weich- und Hartlötens von Aluminium. Die Fügeteiloberfläche muß dazu von organischem und anorganischem Schmutz gesäubert und die festhaftende Oxidschicht vor oder während des Lötvorgangs beseitigt und ihr Wiederaufbau verhindert werden. Beim industriellen Lötprozeß geschieht die Reinigung durch Naßoder Dampfentfettung und ggf. mit nachfolgender chemischer Behandlung durch Beizen etc.. Bei handwerklicher Vorgehensweise wird die Oxidschicht meistens durch mechanische Behandlung (Bürsten) entfernt. Die Benetzungsfähigkeit der Oberfläche beim Lötvorgang selbst und die Vermeidung des Wiederaufbaus der Oxidschicht bei Löttemperatur wird entweder auf chemischem Wege durch sog. Flußmittel oder durch Schutzgasoder Vakuumatmosphäre erreicht. Demnach werden die verschiedenen Prozesse eingeordnet in • Löten mit Flußmitteln oder • Flußmittelfreies Löten unter Schutzgas oder Vakuum. In der praktischen Umsetzung ergeben sich daraus die folgenden Verfahren: • • • • •
das manuelle Flammlöten mit Flußmittel, das mechanisierte Flammlöten mit Flußmittel, das Ofenlöten mit Flußmittel oder unter Schutzgas, das Tauchlöten im Flußmittelsalzbad und das Vakuumlöten.
Lotplattierte Bleche finden beim Ofenlöten, Tauchlöten und Vakuumlöten Verwendung. Lötzusatzwerkstoff in Form von Draht oder Zwischenlagen werden vornehmlich beim Flammlöten eingesetzt. Flußmittel
Nach DIN EN 1045:1997 werden für das Hartlöten von Aluminium zwei Flußmitteltypen unterschieden:
674
19 Sonderverfahren der Fügetechnik
Tabelle 19.4.4 Flußmittel für das Hartlöten von Aluminium nach DIN EN 1045 Flußmitteltyp Wirktemperatur- Inhaltsstoffe bereich [°C] FL10 > 500 Hygroskopische Chloride und Fluoride, vor allem Lithiumverbindungen FL20 > 570 Nichthygroskopische Fluoride
Rückstände im allgemeinen Korrosiv, Flußmittelrückstände sind zu beseitigen Nicht korrosiv, Flußmittelrückstände können i.a. bleiben
Flußmittel werden als Paste aus Pulvern zubereitet, auf das Lot und auf die Fügestelle aufgetragen und schmelzen unterhalb der Solidustemperatur des Lotes. Hygroskopische, chloridhaltige Flußmittel sind sehr wirksam und selbst für Legierungen mit 3% Mg geeignet. Problematisch ist die Sicherstellung der Entfernung der korrosiven Flußmittelrückstände nach dem Lötprozeß, die in korrosiver Umgebung aggressiv reagieren. Ein chloridfreies, keine Korrosion verursachendes Flußmittel wird unter dem Markennamen Nocolok® (Alcan) vertrieben. Die Wirksamkeit ist etwas geringer als von FL10 Flußmitteln. Der Mg-Gehalt der Legierungen sollte auf 0,9% begrenzt sein. Das Nocolok®-Flußmittel wird bei Ofenlötung unter kontrollierter (trockener) Atmosphäre verwendet (CAB = Controlled Atmosphere Brazing). Rückstände von nichtkorrosiven Flußmitteln können auf den Oberflächen von hartgelöteten Metallteilen zurückbleiben, aber ästhetisch unbefriedigend sein. Gestaltung von Lötverbindungen
Bei der Auslegung von Lötverbindungen ist darauf zu achten, daß ein definierter Spalt zwischen den Fügepartnern an der Verbindungsstelle besteht, damit der kapillare Verlauf des Lotes unbehindert ist. Empfohlen wird ein Spalt von 0,05 bis 0,1 mm für Überlappungen bis 6 mm und bis zu 0,5 mm bei größeren Überlapplängen. Lötverbindungen für das Löten mit Flußmitteln sollten dergestalt ausgelegt werden, daß die Verbindungsflansche einen kleinen Winkel (5° bis 8°) zueinander bilden. Dadurch wird das Flußmittel leichter durch das eindringende Lot aus dem Spalt gedrängt. Bei Verwendung von Halterungen aus Eisenwerkstoffen ist zu berücksichtigen, daß die Wärmeausdehnung von Aluminium etwa doppelt so groß ist wie die von Stahl. Durch das Erweichen des Aluminiums bei den hohen Löttemperaturen ist ein Stützen des Werkstücks für die Formtreue notwendig. Einige typische Lötverbindungen sind in Bild 19.4.1 illustriert.
19.4 Hartlöten
Bild 19.4.1 Einige typische Lötverbindungsarten
675
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
Das Ziel dieses Kapitels ist, einige Hinweise auf die Besonderheiten des Aluminiums zu geben, die bei der Gestaltung und beim Auslegen einer Leichtbaukonstruktion berücksichtigt werden sollten. Dabei wird die Beherrschung der allgemeinen Instrumentarien der Konstruktion und Berechnung im Maschinenbau bzw. im konstruktiven Ingenieurbau (Stahlbau) vorausgesetzt. Diese Instrumentarien beruhen jedoch weitgehend auf den Erfahrungen mit Stahlwerkstoffen und deshalb führt ihre Anwendung ohne die Berücksichtigung der speziellen Besonderheiten des Aluminiums eher zu einer Stahlkonstruktion aus Aluminium als zu einer eigenständigen Aluminiumkonstruktion. Einige charakteristische Unterschiede von Aluminium- gegenüber Stahlkonstruktionen sind außer dem geringeren spezifischen Gewicht: • • • • • • •
geringerer Elastizitätsmodul, höheres Verhältnis von Festigkeit zu E-Modul, höhere Wärmeausdehnung, Entfestigung in der Wärmeeinflußzone von Schweißverbindungen, Gestaltungsvielfalt mit Strangpreßprofilen und Fließpreßteilen, Günstigeres Korrosionsverhalten, spezifisch höhere Materialkosten.
Die Regelwerke zur Konstruktion und Berechnung von statisch und dynamisch beanspruchten Konstruktionen (z.B. DIN 4113 T.1-3 und prENV 1999 T1-3) geben zwar Auskünfte über regelgerechte Auslegung, Fertigung und Betriebssicherheit, jedoch nicht über aluminiumgerechte Gestaltung. Letzteres ist aber der Schlüssel für ein wirtschaftliches, wettbewerbsfähiges und wertbeständiges Produkt. Als Beispiel sei auf die Beschreibung wirtschaftlichen Leichtbaus von Schienenfahrzeugen in Abschn. 2.2 verwiesen.
20.1 Gestaltungsgrundsätze Mehr als beim Stahlleichtbau müssen bei der Gestaltung von Aluminiumprodukten die Formgebungs- und Verbindungstechnologien in den Mittel-
678
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
punkt der Überlegungen gestellt werden. Sie stellen den Schlüssel für das wirtschaftliche Ergebnis, da einerseits die höheren Metallkosten hingenommen werden müssen, andererseits die Formgebungsmöglichkeiten des Aluminiums in der Warm- und Kaltformgebung, der Zerspanung und beim Formguß deutliche Vorteile in den Fertigungskosten bieten. In der automatisierten Fertigung können heute nicht nur Kaltbearbeitungsvorgänge vorgenommen werden, sondern in der Prozeßkette auch thermische Prozeßstufen integriert werden, die das Formgebungspotential durch Wahl geeigneter Werkstoffzustände des Ausgangsmaterials und der Kombination mit thermischen Prozeßschritten, wie Kleben und Lackieren, erweitern, ohne Kompromisse in den Werkstoffestigkeiten des Endprodukts eingehen zu müssen. Ein Beispiel hierzu ist das Bake-Hardening der AlMgSi-Werkstoffe, das besonders im Karosseriebau von Bedeutung ist, aber auch für andere Anwendungsarten geeignet sein kann, s. hierzu die Ausführungen im Abschn. 3.2.5. Aber auch die Möglichkeiten des Rückbildungsglühens und der Halbwarmumformung sind bei weitem noch nicht ausgereizt. Verbindungen zwischen Komponenten sind Kostenfaktoren und stellen häufig Schwachstellen dar. Ihre zahlenmäßige Reduzierung kann man durch Ausschöpfen der Formgebungsmöglichkeiten erreichen. Beispiele hierzu findet man in Abschn. 9.6. Eine häufige Aufgabe ist es, Verbindungen zwischen Rahmenelementen herzustellen, die zudem noch tragende Funktionen haben. Als Verbindungsverfahren dienen MIG-, WIG- und Strahlverfahren, die durch den thermischen Einfluß auf das Gefüge der Komponenten immer eine gewisse Schwachstelle darstellen. Bei entsprechender Seriengröße werden Knotenelemente aus Formguß verwendet, die die kritischen Schnittstellen in weniger beanspruchte Bereiche verlegen helfen. Weitere Beispiele mit Blech- und Profilformelementen und mit geschickter Ausnutzung der Gestaltungs- und Formgebungsmöglichkeiten von Strangpreßprofilen sind in den Bildern 20.1.1 und 20.1.2 dargestellt.
Bild 20.1.1 Geschweißte Verbindungsknoten mit Zwischenstück aus a) Profil, b) Blechschalen und c) ohne Zusatzelemente, dabei ist die gegenseitige Durchdringung der Profile im Hinblick auf Steifigkeit und Stabilität wichtig (Ruch 1992)
20.1 Gestaltungsgrundsätze
679
Bild 20.1.2 Geschweißter Verbindungsknoten aus Profilen durch Trennen von Mehrkammerhohlprofilen mit anschließenden Biegen und mit einem zusätzlichen Stützprofil (Ruch 1992)
Um die Gestaltungsmöglichkeiten von Profilkonstruktionen auszuschöpfen, wird auch auf die Ausführungen in Abschn. 9.6 und Abschn. 13.1 hingewiesen. Im Vordergrund der bisherigen Betrachtungen standen mechanischtechnologische Gesichtspunkte der Produktgestaltung mit Aluminium. Gegebenenfalls sind aber für die Verwendung des Werkstoffs auch seine besonderen physikalischen und chemischen Eigenschaften – s. Kap. 4 und 5 – maßgebend oder bringen Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Materialen. Die Kombination solcher physikalischer Eigenschaften, wie hohe Wärmekapazität und hohe Wärmeleitfähigkeit sind vorteilhaft für Produkte mit kurzzeitigen Wärmestößen, wie z. B. Bremsscheiben. In Verbindung mit den hohen Reflektionseigenschaften wird die Wärmeaufnahme durch Strahlungswärme vermindert, aber im konvektiven Wärmetransfer eine hohe Transferleistung erzielt. Die paramagnetischen Eigenschaften bieten empfindlichen Elektronikelementen Schutz vor elektromagnetischen Störungen. Der gegenüber Stahl etwa doppelt so hohe lineare Wärmeausdehnungskoeffizient α des Aluminiums kann bei Mischbauweise Probleme verursachen. Die Auswirkungen von Temperaturschwankungen ∆T auf die Spannungen σT durch behinderte Wärmedehnung α⋅∆T werden allerdings gemildert durch den niedrigeren Elastizitätsmodul E entsprechend der Beziehung: σT = E⋅α⋅∆T
(20.1.1)
und sind damit etwa 30% niedriger als bei Stahl. Trotzdem können bei einer Stahl-Aluminium-Mischbauweise bei Temperaturschwankungen nicht zu vernachlässigende Spannungen und Formänderungen auftreten.
680
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
Besonderes Augenmerk ist auf korrosionsgerechtes Konstruieren zu legen. Trotzdem das günstige Verhalten von Aluminium in dieser Hinsicht häufig Stahlwerkstoffen überlegen ist, treten immer wieder unvorhergesehene Schadensfälle auf, die durch nicht abgestimmte Betriebsbedingungen verursacht wurden – z.B. durch unüberlegte nÄderungen von Reinigungsmitteln –, die aber durch richtige konstruktive Gestaltung hätten vermieden werden können. Die Vorgehensweise und einige grundlegenden Beispiele für korrosionsgerechtes Konstruieren findet man in Abschn. 5.1.1 und Abschn. 5.5.
20.2 Elastizitätsmodul und Leichtbau Die meisten Aluminiumkonstruktionswerkstoffe haben bezogen auf den Elastizitätsmodul eine höhere Rp0,2-Dehngrenze als Baustähle, wie aus den Zahlenbeispielen in Tabelle 20.2.1 hervorgeht. Deshalb stehen häufig bei der Dimensionierung von Stahlkonstruktionen die Festigkeit und bei Aluminiumkonstruktionen die Steifigkeit als Bemessungskriterien im Vordergrund. Tabelle 20.2.1 Vergleich typischer Konstruktionswerkstoffe bezüglich der Bemessungskriterien 0,2%-Dehngrenze und Elastizitätsmodul E Material
EN AW-5083-0 EN AW-5083-H321 EN AW-6082-T6 EN AW-7020-T6 St 42 St 52 Beton C 45 Holz
Rp0,2 [N/mm²]
E [N/mm²]
125 220 260 290 260 360 28 20
70 000 70 000 70 000 70 000 210 000 210 000 28 000 9 000
Rp0,2/E x 10³ [–] 1,8 3,1 3,7 4,1 1,2 1,7 1,0 2,2
Bei der Dimensionierung von Komponenten, die unter reiner elastischer Zugbeanspruchung stehen, sind die Spannungen im Aluminiumteil bei gleicher elastischer Dehnungsbeschränkung um den Faktor 3 geringer als im Stahlteil, s. Bild 20.2.1. In diesem Fall sind die Sicherheiten gegen plastisches Versagen und gegen Bruch bei dem Aluminiumteil deutlich höher als bei dem Stahlteil. Allerdings sind auf diese Weise auch kaum Gewichtsersparnisse zu verwirklichen. Um einen Leichtbaueffekt zu erzielen,
20.2 Elastizitätsmodul und Leichtbau
681
müssen für das unter reiner Zugbeanspruchung stehende Aluminiumteil größere elastische Dehnungen zugelassen werden.
Bild 20.2.1 Spannungs-Dehnungsdiagramme für Stahl (St52) und Aluminium (EN AW-6082-T6)
hÄnlich liegen die Verhältnisse bei Torsionsbeanspruchung dünnwandiger Hohlzylinder, s. Bild 20.2.2. Auch hier lassen sich durch einfache Substitution von Stahl durch Aluminium bei gleicher Torsionssteifigkeit Mt/ϕ, Querschnittsform (Um = mittlere Umfangslänge, Am, = mittlerer eingeschlossener Querschnitt) und Länge nur bedingt Gewichtseinsparungen realisieren, wie die nachstehende überschlägliche Rechnung in Tabelle 20.2.2a zeigt. Durch gestalterische Maßnahmen des Querschnitts, z.B. von stranggepreßten Hohlzylindern wie in Bild 20.2.2 (unten), kann man jedoch eine Verwölbung beim Verdrehen behindern und so deutliche Leichtbaueffekte erzielen.
Bild 20.2.2 Torsionsbeanspruchte dünnwandige Querschnitte und Vollquerschnitte sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Torsionssteifigkeit
682
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
Tabelle 20.2.2a Massenverhältnis Aluminium/Stahl von dünnwandigen Hohlstrukturen unter gleicher Torsionsbeanspruchung G ⋅ It l
Torsionssteifigkeit:
Mt
=
mit
G=
E 4 ⋅ Am2 ⋅ s und I t = Um 2 ⋅ (1 + ν )
wird:
Mt
=
Dichteverhältnis Elastizitätsmodul E Poissonzahl
ϕ
ϕ
2 ⋅ E ⋅ Am2 ⋅ s (1 + ν ) ⋅ l ⋅ U m
ρ St ≈3 ρ Al E St =3 E Al
ν St = ν Al = 0,3
notwendige Wanddicke: Massenverhältnis Aluminium/Stahl:
bei
→
Mt
ϕ
= konst . →
ESt sAl = =3 E Al sSt
mAl s Al ⋅ ρ Al 3 = = 1,0 = mSt sSt ⋅ ρ St 3
Anders als bei gleichmäßig dünnwandigen Hohlquerschnitten ist bei Vollquerschnitten unter Torsionsbeanspruchung ein Leichtbaugewinn von ca. 40 % zu erreichen, wie die folgende Rechnung zeigt: Tabelle 20.2.2b Massenverhältnis Aluminium/Stahl von vollwandigen Hohlstrukturen unter gleicher Torsionsbeanspruchung
π ⋅ E ⋅d 4 64 ⋅ (1 + ν ) ⋅ l
Torsionssteifigkeit:
Mt
Dichteverhältnis
ρ St ≈3 ρ Al
Elastizitätsmodul E Poissonzahl notwendiger Durchmesser: Massenverhältnis Aluminium/Stahl:
ϕ
=
E St =3 E Al
ν St = ν Al = 0,3
bei
Mt
ϕ
4
= konst . →
E St d Al = =3 E Al d St4
3 mAl d Al ⋅ ρ Al = = = 0,58 mSt d St2 ⋅ ρ St 3 2
→
mit d Al = 4 3 ⋅ d St = 1,316 ⋅ d St
20.2 Elastizitätsmodul und Leichtbau
683
Günstiger liegen die Gewichtseinsparungsverhältnisse bei Biegebeanspruchung. Für einen Biegeträger aus Stahl und Aluminium gleicher Steifigkeit sind die Spannungen und Dehnungen und die jeweiligen Sicherheiten gegen plastisches Versagen und Bruch in Bild 20.2.3 wiedergegeben. Dabei hat der Aluminiumträger ein um 40 % geringeres Gewicht als der Stahlträger (s. Fall (b) in Bild 20.2.4).
Bild 20.2.3 Spannungen und Dehnungen in Biegeträgern gleicher Steifigkeit aus Stahl (St 52) und Aluminium (EN AW-6082-T6)
Höhere Gewichtseinsparungen können gegebenenfalls durch eine Optimierung des Aluminiumträgerprofils erreicht werden. Um die gleiche Biegesteifigkeit zu erzielen, muß das Produkt aus E-Modul und Flächenträgheitsmoment I für gleichsteife Träger aus Stahl und Aluminium gleich groß sein: ESt ⋅ISt = EAl ⋅IAl
(20.2.1)
Da ESt / EAl = 3 ist, muß das Flächenträgheitsmoment des Aluminiumträgers verdreifacht werden. Eine Gewichtsoptimierung erreicht man vor allem dadurch, daß wegen I ∝ b⋅h3
(20.2.2)
die Höhe h des Aluminiumträgers vergrößert und die Wanddicken t und w möglichst klein gehalten werden, so daß die Querschnittsfläche insgesamt geringer ausfällt als beim Biegeträger gleicher Höhe, wie die Beispiele in Bild 20.2.4 zeigen.
684
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
Bild 20.2.4 Abmessungs- und Gewichtsvergleiche bei Trägern gleicher Steifigkeit aus Stahl und Aluminium (Lundberg 1994)
Die Verringerung von Wanddicken der Trägerelemente bei gleichzeitiger Vergrößerung der Trägerhöhe kann jedoch nicht beliebig vorgenommen werden. Die Grenzen werden durch Instabilitätskriterien, d.h. durch Beulversagen im Druckbereich, oder durch mangelnde Torsionssteifigkeit gezogen. Bei Trägern gleicher Biegesteifigkeit ergeben sich mit zunehmender Trägerhöhe, h, geringere Querschnittsflächen und somit geringeres Gewicht, aber auch höhere Biegespannungen und geringere Torsionssteifigkeiten. Gleichzeitig wird die zulässige Beulspannungsgrenze kleiner. Zur Beulstabilisierung des Druckflansches können aussteifende Voll- oder Hohlrippen oder Wulste in den beulgefährdeten Querschnittbereichen vorgesehen werden, wodurch das Trägergewicht allerdings wieder steigt (Koser 1990). Zu Einzelheiten über Beulkriterien von Aluminiumträgern wird auf die DIN 4113-1: 2002 verwiesen. Bei stranggepreßten Profilträgern wirken Hohlkammern im Profilquerschnitt positiv auf die Torsionssteifigkeit. Ein konstruktives Optimum erreicht man, wenn gleichzeitig die zu Stabilitätszwecken vorgesehenen Aussteifungen weitere Funktionen, wie Montagehilfen und Befestigungshilfen, übernehmen können. Bild 20.2.5 illustriert die Möglichkeiten der Biegeträgeroptimierung am Beispiel eines Sattelauflieger-Längsträgers. Anstelle eines einfachen Doppel-T-Trägers, der für die notwendigen Biegeoperationen und Verjüngungen am Schwanenhals ungeeignet und trotz gleicher Biegesteifigkeit wie der Stahlträger eine wesentlich geringere Torsionssteifigkeit besitzt, wird der Träger aluminiumgerecht aus zwei
20.2 Elastizitätsmodul und Leichtbau
685
Strangpreßprofilen zusammengesetzt. Durch die Hohlprofilausbildung erreicht man nicht nur erheblich verbesserte Torsionssteifigkeit, sondern auch kostensparende Montagehilfen bei gleichzeitig günstigen Leichtbaueigenschaften (Cobden 1994).
Bild 20.2.5 Biegeträgeroptimierung für einen leichten, torsionssteifen Fahrzeugrahmen (Cobden 1994)
Bei Blechformteilen und Platten ist man gezwungen, die Blech- oder Plattendicke aus Gründen der Beulsteifigkeit um ca. 45% zu erhöhen, da t Al = t St ⋅ 3
E St ≈ t St ⋅ 3 3 ≈ 1.44 ⋅ t St E Al
(20.2.3)
Daraus ergibt sich ein Gewichtsvorteil für Aluminium von 50% entsprechend der Beziehung
ρ ⋅V ρ ⋅t ∆G G St − G Al = = 1 − Al Al = 1 − Al Al ρ St ⋅ VSt ρ St ⋅ t St G St G St
(20.2.4)
33 ρ E 1,44 ∆G = 1 − Al ⋅ 3 St ≈ 1 − = 1− ≈ 50% ρ St 3 3 GSt E Al
(20.2.5)
wobei t = Blechdicke, E = Elastizitätsmodul, G = Gewicht, V = Volumen,
ρ = spezifisches Gewicht, St = Index Stahl und Al = Index Aluminium.
686
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
Die notwendige Erhöhung der Wanddicken zur Erzielung gleicher Steifigkeiten bei Biege-, Druck- und Schubbeanspruchung hat zur Folge, daß die erforderlichen Festigkeitseigenschaften des Aluminiumbauteils bei gleicher Tragfähigkeit geringer sein können als die des Stahlteils. Dieser Umstand wird genutzt, um bei Strangpreßprofilen durch die Wahl geringerer Festigkeiten günstigere Formgebungseigenschaften und damit eine höhere Wirtschaftlichkeit zu erreichen. Wie die vorstehenden Überlegungen zeigen, kann man mit Aluminium bei gleichen Tragfähigkeitskriterien Leichtbaugewinne von etwa 50% erzielen und bei geschickter Auslegung auch gleiche oder sogar höhere Torsionssteifigkeiten erreichen, wie Angaben von Audi zum AluminiumSpaceframe-Modell A8 (D3) bestätigen. Andererseits ergibt sich aus diesen Betrachtungen auch, daß Leichtbaukomponenten mit Aluminium immer einen größeren Bauraum erfordern, als für Stahlkomponenten notwendig wäre.
20.3 Schweißkonstruktionen Konstruktive Gestaltung, Berechnung und Fertigung von Aluminiumschweißkonstruktionen gehören zu den wichtigsten Leichtbauaufgaben. Auf Grund der Tatsache, daß die überwiegende Zahl der Aluminiumkonstruktionslegierungen in verfestigten oder ausgehärteten Werkstoffzuständen eingesetzt werden, muß man das „Mismatch“ zwischen Grundwerkstoff- und Schweißnahtfestigkeit beim rechnerischen Nachweis berücksichtigen. Dies gilt in Bezug auf die statische Beanspruchbarkeit, aber noch viel mehr im Hinblick auf das Verhalten unter schwingender und Stoßbeanspruchung. Die Notwendigkeit, die Art des Verbindungsstoßes, dessen Kerbwirkungen und Schweißeigenspannungen berücksichtigen zu müssen, um die Gebrauchstauglichkeit und Lebensdauer nachweisen zu können, gehört zu den anspruchsvollen Ingenieuraufgaben, wenn ein optimales Leichtbauergebnis erzielt werden soll. Einige aluminiumspezifische Besonderheiten werden nachfolgend behandelt. 20.3.1 Grundsätze zur Gestaltung von Schweißverbindungen
Eine Besonderheit der Aluminiumschweißverbindungen ist die Entfestigung in der Wärmeeinflußzone. Diese führt zu einem Abfall der Festigkeitswerte der Schweißnaht gegenüber dem Grundwerkstoff, wenn dieser im verfestigten oder ausgehärteten Zustand vorliegt, s. Abschn. 16.2. Tabelle 2.3.2 enthält Mindestwerte für die statischen Festigkeitseigen-
20.3 Schweißkonstruktionen
687
schaften von Grundwerkstoffen und MIG-Schweißverbindungen der zugelassenen Konstruktionslegierungen des Schienenfahrzeugbaus nach DIN EN 13981-1. Obwohl die Ausdehnung der Wärmeeinflußzone (WEZ) von solchen Parametern, wie Wanddicke, Schweißgeschwindigkeit, Streckenenergie und Schweißverfahren abhängt, wird in den Berechnungsregelwerken (z.B. DIN 4113, Teil 2) von einer konstanten Breite der Erweichungszone ausgegangen, die allerdings zwischen verschiedenen Regelwerken variiert. Für die statische Berechnung längsbeanspruchter Schweißnähte bei ausgehärteten oder kaltverfestigten Legierungen muß der Festigkeitsabfall in der WEZ mittels einer reduzierten Querschnittfläche [κ ⋅ s ⋅ Breite der WEZ] berücksichtigt werden. Der Abminderungsfaktor κ errechnet sich aus
κ = Rp0,2 WEZ / Rp0,2 GW
(20.3.1)
mit den Werten Rp0,2 WEZ und Rp0,2 GW für die WEZ und den Grundwerkstoff, s. Bild 20.3.1. Zulässige Werte findet man in den einschlägigen Regelwerken, z.B. in DIN 4113-2: 2002.
Bild 20.3.1 Definition der Wärmeeinflußzone von Schmelzschweißverbindungen für Festigkeitsnachweise von Aluminiumkonstruktionen
Für die Berechnung querbeanspruchter Schweißnähte gelten die zulässigen Werte der WEZ- bzw. der Verbindungsfestigkeit in Zusammenhang mit den Querschnittsgrößen der Nahtgeometrien (rechnerische Nahtdicke a), die ebenfalls in den einschlägigen Regelwerken definiert sind. Um die Auswirkungen der reduzierten Festigkeit der Wärmeeinflußzone bei Aluminiumschweißkonstruktionen so gering wie möglich zu halten,
688
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
sollte man die Lage der Verbindung in weniger beanspruchte Bereiche der Konstruktion legen. Die optimale Lage von Quernähten z.B. in einem Biegeträger kann man entsprechend Bild 20.3.2 ermitteln.
Bild 20.3.2 Ermittlung der Lage einer Quernaht im Biegeträger ohne Festigkeitseinbuße durch die WEZ bei einem Abminderungsfaktor von κ = 0,5
Die optimale Lage der Längsnaht in einem Biegeträger sollte möglichst nahe der neutralen Ebene liegen. Die Berechnung der günstigen Schweißnahtposition ist in Bild 20.3.3 dargestellt.
Bild 20.3.3 Berechnung der optimalen Lage einer Längsnaht im Biegeträger ohne Festigkeitseinbuße durch die WEZ bei einem Abminderungsfaktor von κ = 0,5
Ein Kastenprofilträger soll aus zwei C-förmigen Profilen hergestellt werden. Es besteht die Möglichkeit, die Schweißverbindung entweder seitlich oder oben/unten vorzusehen, s. Bild 20.3.4. Bei Biegebeanspruchung über der x-Achse führt die seitliche Lage der Naht kaum zu einer Beein-
20.3 Schweißkonstruktionen
689
trächtigung der statischen Werte, dagegen werden diese durch Lage im Zug- und Druckgurt um 20% (W) bzw. um 25% (I) reduziert (Koser 1990).
Bild 20.3.4 Auswirkungen der Lage der Schweißnaht bei einem Kastenprofil auf die Tragfähigkeitskennwerte (Koser 1990)
Um bei den verminderten Festigkeitswerten von Schweißnähten möglichst hohe Werkstoffausnutzung zu erzielen, sind folgende Empfehlungen (Alusuisse 1991) in der Konstruktion zu beherzigen (vgl. Illustrationen in Bild 20.3.5): A. Bei Biegeträgern, Schweißnähte möglichst in die neutrale Zone legen B. Bei Steifigkeitssprüngen, Nähte möglichst in genügender Entfernung dazu C. Dickenabsätze möglichst sanft, um Sekundärspannungen aus exzentrischer Anbindung zu vermeiden D. Behinderung von Verwölbungen bei Torsionsbeanspruchung vermeiden. E. Kraftumlenkung in der Schweißnaht vermeiden F. Schweißanfang und -ende möglichst von geometrisch bedingten Kerben fernhalten G. Verringern von Eigenspannungen durch durchlaufende Nähte von Rand zu Rand H. Verringern von Eigenspannungen durch Bördeln oder Vorwölben des einzuschweißenden Teils I. Bei schwingender Beanspruchung, Kerbwirkung durch sanfte Übergänge vermeiden K. Bei schwingender Beanspruchung, gute Spannmöglichkeiten vorsehen, um Heftschweißungen zu vermeiden.
690
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
Bild 20.3.5 Empfehlungen für die Gestaltung von Schweißverbindungen, nach Alusuisse (1991) Erläuterungen im Text
Am Schweißanfang und Schweißende besteht die Gefahr von Anfangsund Endkraterrissen. Für hochbelastete Verbindungen wird man daher Zulagebleche am Nahtanfang und Ende vorsehen, die nach dem Schweißen abgetrennt werden. Man kann auch die Nahtführung so wählen, daß Nahtanfang und -ende in eine geringer belastete Zone gelegt werden, wie in Bild 20.3.6 angedeutet ist. Das nachträgliche Heraustrennen der Anfangsund Endstellen ist in Verbindung mit einem gut auslaufenden Radius zwar aufwendiger, aber sehr wirksam im Hinblick auf gutes Schwingfestigkeitsverhalten.
Bild 20.3.6 Empfehlung für die Nahtführung aus einer wenig belasteten Stelle bei hochbelasteten Knotenblechen (Koser 1990)
20.3 Schweißkonstruktionen
691
20.3.2 Eigenspannungen in Schweißverbindungen
Durch die lokale Wärmeeinbringung in die Schweißnaht entstehen Eigenspannungen in beträchtlicher Höhe, die zu Verzug führen können und Einfluß auf die Höhe der Beanspruchbarkeit ausüben. Letzteres gilt nach den Bemessungsregelwerken (Eurocode 9 und IIW-Empfehlungen, s. Abschn. 20.3.3) für den allgemeinen Stabilitätsnachweis und besonders für den Nachweis ausreichender Schwingfestigkeit geschweißter Konstruktionen und Bauelemente. Eigenspannungen in der Schweißverbindung entstehen bei der Abkühlung der erhitzten Schweißnaht und Wärmeeinflußzonen (WEZ) infolge des Wärmeabflusses in den benachbarten kälteren Grundwerkstoff. Die Behinderung der Schrumpfung des erstarrten Schweißgutes und der WEZ durch die angrenzenden kühleren Bereiche erzeugt Zugspannungen in der Naht und Umgebung in einer Höhe, die etwa durch die momentane Warmfließgrenze der WEZ begrenzt wird. Im umgebenden Grundwerkstoff entstehen ausgleichende Druckspannungen. In der Verbindungsebene herrscht bei relativ dünnwandigem Material ein ebener Spannungszustand. Üblicherweise werden die Eigenspannungen in Nahtrichtung (σl) und quer zur Naht (σq) gemessen. Für die Superposition von Längs- und Quereigenspannungen und mit äußeren Belastungsspannungen muß eine entsprechende Vergleichsspannung ermittelt werden. Es ist üblich, die Schweißeigenspannungen bezüglich ihrer Wirkung auf die Schwingfestigkeit als Mittelspannungen aufzufassen. Bild 20.3.7 zeigt beispielhaft Ergebnisse von röntgenographischen Spannungsmessungen an einer 6 mm dicken Schweißprobe aus AlMg4,5 Mn0,7-H116 (Zinn 1990). Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine mechanisierte MIG-Impulsschweißverbindung eines starr eingespannten I-Stoßes mit Deck- und Wurzelgegenlage. Messungen der Eigenspannungen ergaben keine wesentlichen Unterschiede zwischen Ober- und Wurzelseite. Die Härte in unmittelbarer Umgebung der Schweißnaht entsprach etwa der des Weich-Zustands der Legierung (Rp0,2 ≈ 140 N/mm²). Die höchsten Zugeigenspannungen werden in Nahtrichtung (σl) gemessen und entsprechen etwa 0,65·R p0,2. Die Eigenspannungskomponenten quer zur Nahtrichtung (σq) sind mit etwa 0,4·R p0,2 deutlich geringer. Von der Mitte des Werkstücks fallen die Zugspannungen zu den Nahtenden kontinuierlich ab. Werden quer zur Naht Prüfkörper entnommen (z.B. für Zugoder Schwingfestigkeitsversuche) bauen sich die Eigenspannungen nahezu vollständig ab (Zinn 1990). Der Einfluß von Schweißeigenspannungen kann demnach nicht mit herausgearbeiteten Prüfkörpern – sog. Kleinproben – geprüft werden.
692
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
Bild 20.3.7 Eigenspannungen einer MIG-Impuls-Schweißprobe 90x110x6 mm aus AlMg4,5Mn0,7-H116. I-Stoß. Bild links: Eigenspannungen längs (σl) und quer (σq) zur Naht in Schweißprobenmitte. Bild rechts: Eigenspannungen entlang der Naht in 7 mm Abstand von der Nahtmitte (Zinn 1990)
Aus diesem Grunde wurde in den 80-er Jahren begonnen, Eigenspannungsmessungen und Stabilitäts- und Schwingfestigkeitsprüfungen an Großprobenträgern durchzuführen. Bild 20.3.8 gibt die Ergebnisse von Eigenspannungsmessungen von Mazzolani (Mazzolani 1982, Mazzolani 1985) an I-Trägern (Abmessungen: 100x200xL) wieder, die einerseits aus Plattenabschnitten und andererseits aus Strangpreßprofilen mit Stegblech geschweißt wurden. Dabei handelt es sich sowohl um nicht aushärtbare als auch um aushärtbare Legierungen (EN AW-5083, EN AW-6082, EN AW7020-T6). Die höchsten Zugeigenspannungen wurden mit 140 N/mm²gemessen, was etwa der 0,2-Dehngrenze der erweichten WEZ entspricht. In Bild 20.3.8b sind die vorteilhaften Veränderungen und Lagen der Eigenspannungen in der Profilkonstruktion gegenüber den aus Plattenabschnitten aufgebauten I-Trägern ersichtlich. Die Untersuchungen von Mazzolani haben auch gezeigt, daß die Eigenspannungen im Verhältnis zur 0,2-Dehngrenze des Grundmaterials bei Aluminiumprofilen deutlich niedriger sind als bei baugleichen Trägern aus Stahl, s. Bild 20.3.9. Bei Aluminiumprofilen betrug die Höhe der Zugeigenspannungen maximal 60% der 0,2-Dehngrenze, wogegen bei den Stahlträgern Zugeigenspannungen in Höhe der Streckgrenze des Grundmaterials bzw. darüber hinausgehende Werte gemessen wurden.
20.3 Schweißkonstruktionen
693
Bild 20.3.8 Eigenspannungen in geschweißten I-Trägern aus Aluminiumlegierungen. (a) Walzmaterial, (b) Strangpreßprofile (Mazzolani 1982)
Bild 20.3.9 Verläufe und Größenordnung der Eigenspannungen in geschweißten ITrägern aus Stahl und Aluminium (Mazzolani 1982, Mazzolani 1985)
Weitere Schweißdetails wurden von Kosteas an Großprobenträgern untersucht (Kosteas 1987, Ondra et al. 1992). Die Träger wurden aus Walzplattenmaterial aus den Legierungen EN AW-7020-(T6) und EN AW5083-(H112) aufgebaut, Schweißzusatzdraht war AL-5183 mit 1,6 mm .Ø Die industrielle Fertigungsweise sollte die praxisgerechte und fachlich kompetente Ausführung der MIG-Schweißarbeiten und gleichzeitig die Übertragbarkeit der Ergebnisse in die Praxis des Ingenieurbaus sichern. Stichprobenweise ZfP-Prüfungen ergaben keine „signifikanten“ Fehler (Ondra et al. 1992). Zwei Ausführungen mit verschiedenen Schweißdetails sind beispielhaft in Bild 20.3.10 gezeigt.
694
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
Bild 20.3.10 Versuchsträger für die Ermittlung von Schwingfestigkeitseigenschaften diverser Schweißdetails in praxisgerechter Ausführung (Ondra et al. 1992). (Die angegebenen Detailbezeichnungen sind nicht mit den FAT-Klassenbezeichnungen von ERAAS oder des EC9 zu verwechseln)
Schweißeigenspannungen wurden vor den Belastungsversuchen an verschiedenen Schweißdetails mit Hilfe der „Bohrlochmethode“ ermittelt. Die Meßstellen wurden in Nähe der Nahtübergänge angebracht, und die Spannungskomponente in Richtung der Biegeträgerachse (z-Richtung) gemessen. Die Ergebnisse sind in Bild 20.3.11 aufgetragen und zeigen im Rahmen der Streuung der Meßwerte ähnliche Eigenspannungsniveaus bei beiden Legierungen. Die höchsten Werte wurden an Längs- und Quersteifen
Bild 20.3.11 Gemessene Eigenspannungen an verschiedenen Schweißdetails von Aluminiumversuchsträgern (Poalas et al.1988)
20.3 Schweißkonstruktionen
695
auf den Flanschen gemessen (s. Details D1 und D2) und erreichen fast die Rp0,2-Grenze der jeweiligen WEZ (Poalas et al.1988). Angaben über den Abbau dieser Schweißeigenspannungen während der Schwingbelastungsdauer sind nicht bekannt. Im übrigen ist man heute in der Lage, Schweißeigenspannungen und Bauteilverzug auf numerischem Wege mit Hilfe entsprechender FE-Simulationsprogramme (Sysweld®, Weld Sim®) zu ermitteln. Diese Rechnungen beruhen auf thermophysikalischen und thermomechanischen Werkstoffkennwerten (Veneziano et al. 2006). Der Rechenaufwand ist allerdings noch sehr hoch. Zugeigenspannungen betreffen im Nahtbereich ausgerechnet die größte Schwachstelle der Verbindung und werden daher mitverantwortlich gehalten für die verminderten Ermüdungsfestigkeiten. Überwiegend befindet sich der Ausgangsort für Ermüdungsbrüche bei MIG-Schweißverbindungen am Nahtübergang zwischen Schweißgut und WEZ, sofern keine gröberen Wurzelfehler, gröbere Poren, Nahtrückfall oder sonstige Bindungsfehler den Anriß im Schweißgut erzeugen. Bei Nahtüberhöhung ergibt zudem ein abnehmender Nahtflankenwinkel und Kerbradius eine entsprechend zunehmende Makrokerbwirkung am gefährdeten Nahtübergang. Die Überlagerung von Zugeigenspannungen mit den Kerbspannungen führt am Nahtübergang zu einer örtlich verstärkten Beanspruchung, die nach Bild 6.4.28 die Streckgrenze überschreiten kann. Wenn also mit signifikanten Zugeigenspannungen in einem Bauteil zu rechnen ist, wird deshalb in den Regelwerken von einem höheren R-Wert (z.B. R = 0,5) ausgegangen, als dem tatsächlichen Spannungsverhältnis durch äußere Beanspruchungen entspricht. (Diese Feststellung trifft jedoch nur zu, wenn während der Beanspruchung kein Eigenspannungsabbau stattfindet.) Die obigen Vorstellungen und die Sorge, daß durch den Zusammenbau weitere Eigenspannungen aufgebaut werden könnten, haben dazu geführt, daß in den Regelwerken des Eurocode 3 (Stahl), Eurocode 9 (Aluminium) und den IIW-Empfehlungen für Fatigue Design (IIW:2003) sowie weiteren nationalen Regelwerken (z.B. BS 8118) eine Mittelspannungsunabhängigkeit der Schwingfestigkeit zugrunde gelegt wurde, die auf einem Spannungsverhältnis R = 0,5 beruht. Diese angenommene Mittelspannungsunabhängigkeit ist gerade für Aluminiumschweißkonstruktionen nachteilig, da Aluminiumlegierungen eine deutlich höhere Mittelspannungsempfindlichkeit M (Definition s. Gl. (6.4.14)) als Stahlwerkstoffe besitzen, vgl. Bild 6.4.22. Für solche Fälle, in denen gesicherte Annahmen über vorhandene oder nicht vorhandene Eigenspannungen vorliegen, erlauben die genannten Regelwerke einen sog. Bonusfaktor f(R) beim rechnerischen Nachweis der Schwingfestigkeit von Konstruktionen, die mit niedrigeren Spannungsverhältnissen R < +0,5 belastet werden. Bild 20.3.12 illustriert den Bonusfaktor für drei exemplarische Fälle:
696
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
• Fall I: betrifft ungeschweißte Grundwerkstoffe, deren Eigenspannungen vernachlässigbar gering sind. • Fall II: trifft auf Konstruktionen zu, deren Eigenspannungen σe bekannt sind und in einem effektiven R-Wert Reff =
2σ e − ∆σ 2σ e + ∆σ
(20.3.1)
• berücksichtigt werden können. • Fall III: gilt für eigenspannungsbehaftete Konstruktionen ohne Nachweis der Eigenspannungen (kein Bonusfaktor).
Bild 20.3.12 Zur rechnerischen Berücksichtigung der R-Abhängigkeit der Schwingfestigkeit bei Bauteilen (I) ohne nennenswerte, (II) mit bekannten, mäßigen bzw. (III) mit unbekannten Eigenspannungen (nach EC9)
Der vorstehende Ansatz gilt für die Schwingfestigkeit bei NC = 2·10 6 Lastwechsel. Für andere Lastwechselzahlen wirkt sich der Bonusfaktor f(R) in einer flacheren Neigung k der normierten Wöhlerkurve (s. Bild 6.4.18) aus, wobei als Ankerpunkt die Schwingfestigkeit bei 1·10 4 LW angenommen wird. Entsprechend ergibt sich die Abhängigkeit der Neigung k von R wie folgt:
k ( R) =
− 2,301 log f ( R ) + log ∆σ ( R =0,5; 2⋅106 ) − log ∆σ ( R =0,5; 104 )
.
(20.3.2)
Die Schwierigkeiten oder der erhebliche meßtechnische Aufwand in der Praxis, Schweißeigenspannungen an Bauteilen oder Konstruktionen zu messen, führt dazu, bei der Anwendung der vorstehenden Regelungen auf Schweißkonstruktionen grundsätzlich von einer R-Unabhängigkeit der Schwingfestigkeit auszugehen und den Bonusfaktor allenfalls für dünn-
20.3 Schweißkonstruktionen
697
wandige, eigenspannungsarme Schweißkonstruktionen (Fall II) oder ungeschweißte Grundwerkstoffbauteile (Fall I) anzusetzen. Die Berücksichtigung von Schweißeigenspannungen in den Regelwerken entsprechend den vorstehenden Regelungen ist als pragmatischer, konservativer Ansatz zu betrachten. Allerdings ist der Ansatz mangels ausreichender Versuchsergebnisse bisher nicht überzeugend. Wenn man die Entwicklung dieser Regelungen anhand der einschlägigen, historischen Berichterstattung (Kosteas 1992, Maddox 2003) nachvollzieht, so beruht die R-Unabhängigkeit der Schwingfestigkeit von Schweißverbindungen im Regelwerk auf der Annahme, daß die geringeren Schwingfestigkeitseigenschaften von „Großproben“ (Bauteilen) gegenüber denen von „Kleinproben“ auf die in Großproben vorhandenen Eigenspannungen zurückzuführen sind. Kosteas (Kosteas 1992) erwähnt verschiedene Versuchsserien mit Großproben, die aber durchaus eine bis 40% höhere Wechselfestigkeit (R = -1) gegenüber der ertragbaren Schwellfestigkeitsamplitude (R = 0,1) ergaben, was der für Aluminiumkonstruktionslegierungen typischen Mittelspannungsempfindlichkeit von M ≈ 0,4 entspricht, s. Kap 6.4.7. Eine ähnliche Mittelspannungsempfindlichkeit wurde bei einer systematischen Untersuchung mit Kleinproben unterschiedlicher Schweißnahtausführungen gefunden (Nitschke-Pagel et al. 2003). Die in Bild 20.3.13
Bild 20.3.13 R-Abhängigkeit der Spannungsamplitude für 2·10 6 LW verschiedener Schweißverbindungen aus 5 mm dickem Walzblech der Legierung EN AW6082-T6 mit Zusatzwerkstoff AL-5183. Stumpfnähte als I-Stoß mit Wurzelgegenlage. Auswertung von Versuchsdaten der Datenquelle Nitschke-Pagel et al. (2003)
698
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
dargestellten Daten wurden durch Auswertung der Originaldaten für die Bruchlastwechselzahl NB = 2·10 6 LW gewonnen. Die Lage der Schwingfestigkeitsbrüche war immer im unmittelbaren Nahtübergang. Die an diesen Stellen gemessenen Eigenspannungen waren mit max. 10 MPa gering. Die Verminderung der ertragbaren Schwingfestigkeitsamplituden der Schweißverbindungen gegenüber denen des Grundwerkstoffs beruht offensichtlich auf den Kerbwirkungen des Nahtübergangs und auf den Gefügeänderungen in der WEZ. Die Bedeutung von Schweißeigenspannungen für die Schwingfestigkeit von Großproben scheint danach überbewertet zu sein. Diese Feststellung ist um so mehr gerechtfertigt, als zuverlässige Meßwerte über die Konstanz oder den Abbau (bzw. der spezifischen Wirkung) von Schweißeigenspannungen während der Schwingbelastung fehlen. Nach Untersuchungen an Stählen gilt die gleiche Feststellung der Überbewertung auch zumindest für Stahlsorten unterer und mittlerer Festigkeitsklassen (Nitschke-Pagel 2001). Es gibt sogar Fälle, in denen durch thermischen Abbau von Schweißeigenspannungen an Aluminiumschweißverbindungen (EN AW6063-T6 / AL-4043A) nicht nur keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung der Schwingfestigkeit eintrat (Bertini et al 1998). Angesichts der überragenden Rolle der Nahtübergangskerben als Anrißort sowie der Beobachtung, daß kerbarme Schweißverbindungen trotz hoher Schweißeigenspannungen deutlich höhere Schwingfestigkeiten besitzen, ist zu vermuten, daß bei der Fixierung auf die Rolle von Schweißeigenspannungen die eigentliche oder vorherrschende Ursache für die geringeren Schwingfestigkeiten von geschweißten Großproben übersehen wurde, nämlich die statistisch größere Zahl von kritischen Imperfektionen und höheren Kerbspannungen in gefährdeten Querschnitten als in Kleinproben. Die beste Maßnahme gegen geringe Schwingfestigkeit von Schweißverbindungen ist daher die Schaffung von kerbarmen Verbindungen in der fertigungstechnischen Ausführung (Nitschke-Pagel 2001) sowie eine mechanische Nachbehandlung durch Kugelstrahlen o. ä.. Die Bedeutung von thermisch erzeugten Schweißeigenspannungen für das Schwingfestigkeitsverhalten wirft daher noch eine Reihe von Fragen auf. Vermutlich besteht ein entscheidender Unterschied in der Wirkung von lokalen, thermisch erzeugten Schweißeigenspannungen mit erheblichen Spannungsgradienten im Gefüge des gefährdeten Querschnitts gegenüber globalen Eigenspannungen sowie von thermisch gegenüber mechanisch-plastisch erzeugten Eigenspannungen. Zahlreiche Untersuchungen belegen, daß die Schwingfestigkeit von Schweißverbindungen durchaus durch Druckeigenspannungen, erzeugt durch mechanisch-plastische Nachbehandlung (Kugelstrahlen, Bürsten, Hämmern, Festwalzen), verbessert werden kann (Zinn 1990, Krull 2000, Nitschke-Pagel et al. 2002,
20.3 Schweißkonstruktionen
699
u.v.a.) mehr. Diese Effekte wurden in Abschn. 6.4.9 bereits für ungeschweißte Grundwerkstoffe beschrieben und darauf hingewiesen, daß die positive Wirkung von Kugelstrahlen evtl. weniger auf den erzeugten Druckeigenspannungszustand als vielmehr auf die Kaltverfestigung des Oberflächengefüges und deren Wirkung auf das schädigungsinduzierende Versetzungsverhalten zurückzuführen ist. Tveiten et al. (Tveiten et al. 2006) zeigen weiterhin, wie durch einfache mechanische und thermische Maßnahmen globale Druckeigenspannungen direkt beim Schweißprozeß einzubringen und dadurch gleichfalls gewisse Schwingfestigkeitsverbesserungen zu erreichen sind. Weitere grundlegende und zwischen den unterschiedlichen Eigenspannungsarten differenzierende Untersuchungen sind demnach wünschenswert, damit einerseits keine Leichtbaugewinne mit Aluminiumschweißkonstruktionen verschenkt und andererseits keine unkonservativen Rückschlüsse aus unvollständigen Datensätzen gezogen werden. Auch würde eine genauere Beschäftigung mit den Ursachen der Ermüdungsschädigung in Schweißverbindungen dazu beitragen, den Gefügeeinfluß genauer zu definieren und zu kontrollieren sowie die entsprechenden konstruktiven und fertigungstechnischen Gegenmaßnahmen detaillierter festzuschreiben. 20.3.3 Schwingfestigkeitsnachweis von Schweißverbindungen
Während man bei Konstruktionen aus ungeschweißten Komponenten die Schwingfestigkeit durch Vermeidung scharfer Kerben oder Steifigkeitssprünge optimieren kann, ist die Schwingfestigkeit von Schweißkonstruktionen maßgeblich von der Schweißausführung und von der Gestaltung der Verbindung abhängig. Abgesehen von Wurzelfehlern bzw. rißähnlicher Kerbwirkung an der Wurzel bei ungenügender Durchschweißung liegt im Zusammenspiel mit der Kerbwirkung des Nahtübergangs die schwächste Stelle im Grundwerkstoff, und zwar im Übergangsbereich zum Schweißgut. Durch die Erweichung in der WEZ, durch den Einfluß des gewöhnlich nicht artgleichen Zusatzwerkstoffs und durch die Kerbwirkung des Nahtübergangs spielt die Festigkeit des Grundwerkstoffs keine entscheidende Rolle mehr. Eine gewünschte Verbesserung der Schwingfestigkeit oder der Lebensdauer einer Schweißkonstruktion läßt sich daher normalerweise nicht durch die Wahl eines höherfesten Grundwerkstoffs erreichen. Vielmehr wird die Nahtausführung und Nahtgestaltung zum entscheidenden Faktor. Für den rechnerischen Nachweis ausreichender Ermüdungsfestigkeit von Schweißkonstruktionen wurden – und werden – verschiedene Methoden und Konzepte entwickelt und in Regelwerken niedergelegt. Die frühe-
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20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
ren und z. T. noch gültigen nationalen Regelwerke fußten auf unterschiedlichen Erfahrungen aus Anwendungen und Fertigungspraktiken und führten im Vergleich häufig zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Aus den Bemühungen seit den 80-er Jahren, auf europäischer Ebene und im internationalen Rahmen einheitliche Regelwerke zu erstellen, entstanden 1992 die ECCS-Empfehlungen ERAAS (European Recommendation for Aluminium Alloy Structures Fatigue Design) für die ermüdungsgerechte Auslegung von Aluminiumkonstruktionen [ECCS:1992], woraus in Verbindung mit der britischen Norm BS 8118 [BS 8118:1991] der Eurocode 9 für Aluminiumkonstruktionen [prEN 1999:2005] (s. Normenliste im Anhang Tabelle A.3) hervorgegangen ist. Parallel dazu wurden die gemeinsam für Stahl- und Aluminiumkonstruktionen geltenden Empfehlungen des International Institute of Welding [IIW-Doc.:2003] konzipiert. Alle genannten Regelwerke berufen sich für den rechnerischen Nachweis der Schwingfestigkeit einer Konstruktion oder eines Bauteils überwiegend auf das Nennspannungskonzept sowie zunehmend auf sog. Örtliche Nachweiskonzepte (Strukturspannungskonzept, Kerbgrund- oder Kerbdehnungskonzept, Mikrostützwirkungskonzept und Ersatzlängenkonzept) und die bruchmechanische Methode der Lebensdauerermittlung rißbehafteter Konstruktionen („damage tolerant design“). Abgesehen von der letzteren Methode werden nachfolgend die wesentlichen Merkmale dieser Nachweiskonzepte für Aluminium beschrieben werden. Nennspannungskonzept
Als Nennspannung (nominale Spannung) wird die in der Nähe des zu untersuchenden Querschnitts herrschende Spannung (einschließlich globaler geometrisch verursachter Spannungserhöhungen) durch die äußeren Lasten bezeichnet, ohne daß örtlich wirksame Spannungserhöhungen durch Kerben, z.B. an einer Schweißnaht, berücksichtigt werden. Es wird ein insgesamt elastisches Verhalten angenommen. Die in der Nähe des vermuteten ermüdungsbruchkritischen Querschnitts ermittelte nominale Spannung σvorh. wird mit dem zulässigen Beanspruchungswert σzul. verglichen, den man aus einer für dieses Konstruktionsdetail (z.B. Stumpfstoß) geltenden sowie für den jeweiligen Werkstoff spezifischen Wöhlerkurve erhält. Der Nachweis ausreichender Schwingfestigkeit ist erbracht, wenn σvorh. ≤ σzul. ist. Der zulässige Wert σzul berücksichtigt die Streuung der Werkstoffdaten und gegebenenfalls einen Sicherheitsfaktor. Während in diesem Sicherheitsfaktor früher auch die Unsicherheiten der genauen Erfassung der Beanspruchungsgrößen enthalten waren, werden heute einerseits für die Beanspruchung und andererseits für die Beanspruchbarkeit des Werkstoffs eigene Teilsicherheitsfaktoren verwendet (γL, γM). Je besser die Betriebs-
20.3 Schweißkonstruktionen
701
beanspruchungen bekannt sind und je zuverlässiger die Beanspruchbarkeitsdaten des Werkstoffs und des Konstruktionsdetails vorliegen, um so geringere Sicherheitsbeiwerte können verwendet werden (falls übergeordnete Regelwerke, Richtlinien und Vereinbarungen nicht anderes vorschreiben). So werden Wöhlerkurvendaten für regelgerechte Bemessung durch statistische Auswertung von Versuchswerten mit einer Überlebenswahrscheinlichkeit von 97,5% angegeben und können mit einem Teilsicherheitsfaktor γM = 1 bei entsprechender Sicherheitsstrategie in die Rechnung übernommen werden. Voraussetzung für den Nennspannungsnachweis ist daher, daß eine das Ermüdungsverhalten des zu berechnenden Konstruktionsdetails abbildende Wöhlerkurve vorliegt. Die geometrische Singularität wird zusammen mit den werkstofflichen und fertigungstechnischen Imperfektionen als Kerbfall klassifiziert, für den eine entsprechende Wöhlerkurve zuvor ermittelt worden sein muß. Es wird deutlich, daß damit allerdings eine erhebliche Datenbasis für die große Vielfalt von Kerbfällen benötigt wird, die in der praktischen Konstruktionsarbeit vorkommen können. Der Nennspannungsnachweis wird für dauerfeste („infinite life“) oder für zeitfeste (Betriebsfestigkeit, „structural durability“, „safe life design“) Konstruktionen angewendet. In Verbindung mit Hypothesen zur Schadensakkumulation (z.B. Palmgren-Miner) durch statistische oder programmierte Lasthäufigkeiten können mit dem Nennspannungskonzept Nachweise der Betriebsfestigkeit im mittleren (104–106 LW) und hohen Lebensdauerbereich (>106 LW) geführt werden. Für zahlreiche Konstruktionsdetails, die in dem Regelwerk Eurocode 9 [prEN 1999, Pt. 1-3:2004] aufgeführt sind, wurden solche Schwingfestigkeitsdaten aus Großprobenversuchen ermittelt, die mit einer Überlebenswahrscheinlichkeit von 97,7% (entsprechend einer zweifachen Standardabweichung vom statistischen Mittelwert x -2s) versehen sind. Jedem dieser Konstruktionsdetails ist eine Wöhlerkurve zugeordnet, im doppeltlogarithmischen Koordinatensystem als Gerade durch den Festpunkt ∆σC („Detailklasse“ oder „FAT-Klasse“) bei NC = 2·10 6 LW und mit der Steigung k (oder m) dargestellt und als normierte Wöhlerkurve bezeichnet wird, s. Bild 6.4.18. Die Vereinbarungen zur Definition der Dauerfestigkeit ∆σD bei ND = 5·10 6 LW bzw. zur Langzeitfestigkeit bis 1·10 8 LW, die in Abschn. 6.4.5 beschrieben wurden, gelten auch für die hier behandelten normierten Wöhlerkurven für Schweißverbindungen. Auf die Anwendbarkeit der unterschiedlichen Steigungen im Dauerfestigkeitsbereich (k2 = ∞ und k2 = k1 +2) ab 5ž10 106 LW wurde ebenfalls in Abschn. 6.4.5 hingewiesen.
702
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
Die ERAAS-Empfehlungen bauten sich ausschließlich auf der statistischen Analyse des vorhandenen experimentellen Datenpools und der probabilistischen best-fit Gruppierung ähnlicher Datensätze auf, was sich auch in unterschiedlichen Steigungen der normierten Wöhlerkurven niederschlug (Kosteas 1989). Diese Daten stellten zunächst auch die Grundlage des EC9 dar. In den neueren Überarbeitungen des EC9 wurden jedoch zusätzliche Anforderungen an die Nahtqualität und die Einhaltung geometrischer Vorgaben entsprechend EN ISO 10024:2006 übernommen. In Anerkennung der Grenzen der praktisch durchführbaren Qualitätskontrolle – z.B. durch zerstörungsfreie Prüfung der Nähte – wirkten sich die Zuordnungen zu den Qualitätsklassen B („hoch“, mit ZfP-Kontrolle), C („mittel“) und D („niedrig“) in gewissen Veränderungen der ursprünglichen FAT-Klassen aus. Gegenüber den Angaben des EC9 sind die FAT-Klassen für Aluminiumdetails im IIW-Code im Durchschnitt noch konservativer und orientieren sich überwiegend an einem konstanten Verhältnis von Werten für Stahl/Aluminium von 2,8:1 sowie an der einheitlichen Wöhlerkurvensteigung von k = 3,0. Als weiterer Unterschied zum EC9 enthält der IIW-Code Angaben zu einer wesentlich größeren Zahl von „Kerbfällen“, ähnlich denen für Stahl, sowie neuerdings eine Verschiebung des Abknickpunktes für die Langzeitfestigkeit von 5·10 6 zu 1·10 7 LW. In einer kritischen Bewertung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Regelwerke und im Vergleich der Vorgaben mit experimentellen Daten kommt Maddox (Maddox 2003) zu dem Schluß, daß die Vorgaben des EC9 mit experimentellen Datenreihen die beste Konsistenz bieten. Die in den Regelwerken EC9 und IIW-Empfehlungen zugrunde gelegten normierten Wöhlerkurven gelten für ein konstantes Spannungsverhältnis R = 0,5, da der ungünstigste Fall hoher Eigenspannungen und vorhandener Einbauspannungen unterstellt wird, s. Abschn. 20.3.2. Nach den genannten Regelwerken sind die aus den normierten Wöhlerkurven entnommenen zulässigen Schwingfestigkeitswerte unabhängig vom tatsächlichen Spannungsverhältnis R zu verwenden, sofern nicht zuverlässige Kenntnisse über die Höhe der Eigenspannungen vorliegen und der Bonusfaktor f(R) in Anspruch genommen werden kann. Die Bilder 20.3.14 bis 20.3.24 enthalten Berechnungsdaten der ECCSERAAS Fatigue Design Empfehlung [ECCS:1992] und – wo vergleichbar – solche des EC9. Sie sollen als Orientierung für die Wahl günstiger konstruktiver Details dienen. Für die Ausführung von rechnerischen Nachweisen wird jedoch auf die Originaldokumente verwiesen, die noch wichtige Zusatzinformationen enthalten.
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Bild 20.3.14 ERAAS FAT-Klassen für gewalzte und stranggepreßte Halbzeuge aus den Legierungen EN AW-7020 und EN AW-5xxx und -6xxx. Werte in ( ) nach Angaben des EC9:2005
Bild 20.3.15 ERAAS FAT-Klassen für voll durchgeschweißte Stumpfstöße an Flachmaterial mit Nahtlage quer zur Beanspruchungsrichtung. Werte in ( ) nach Angaben des EC9:2005
Ein Vergleich der Detailklassen zeigt die Bedeutung der Kerbwirkung für die Schwingfestigkeit der Verbindung. In solchen Fällen, in denen die Schweißnaht mit einem Steifigkeitssprung zusammenfällt, erhält man die niedrigsten Schwingfestigkeitswerte, vgl. Details E3 bis E7. Auch die größere Steigung der Wöhlerlinie bei niedrigen Detailklassen deutet auf eine schnellere Anrißbildung hin und darauf, daß in diesen Fällen die Lebensdauer hauptsächlich durch den Rißfortschritt bestimmt wird.
704
20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
Bild 20.3.16 ERAAS FAT-Klassen für voll durchgeschweißte Stumpfstöße an gepreßten Profilen mit Nahtlage quer zur Beanspruchungsrichtung. Werte in ( ) nach Angaben des EC9:2005
Bild 20.3.17 ERAAS FAT-Klassen für voll durchgeschweißte Stumpfstöße an Flachmaterial mit Nahtlage quer zur Beanspruchungsrichtung. Längsnähte wurden zuletzt geschweißt. Werte in ( ) nach Angaben des EC9:2005
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Bild 20.3.18 ERAAS FAT-Klassen für Stumpfstöße und Kehlnähte in Längsrichtung an Profilen und Flachprodukten. Nahtlage längs zur Beanspruchungsrichtung. Angaben in ( ) nach EC9:2005
Bild 20.3.19 ERAAS FAT-Klassen für Anschweißteile an Steg und Flansch. Angaben in ( ) nach EC9:2005
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20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
Bild 20.3.20 ERAAS FAT-Klassen für Längs- und Quersteifen. Angaben in ( ) nach EC9:2005
Bild 20.3.21 ERAAS FAT-Klassen für Kreuzstöße und Verstärkungslaschen. Angaben in ( ) nach EC9:2005
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Bild 20.3.22 Wöhlerlinien für die ERAAS FAT-Klassen A1 bis A4 mit der Steigung k = 7,0. (Anm.: in Analogie zu EC9 wurde in dieser Abbildung der Abknickpunkt der Dauerfestigkeit für konstante Lastamplituden von 2·10 6 LW auf 5·10 6 LW verschoben)
Bild 20.3.23 Wöhlerlinien für die ERAAS FAT-Klassen B1 bis B4, C1, C2, D1, D2 und F1 bis F3 mit den Steigungen k1 = 4,32 und k2 = 6,32
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Bild 20.3.24 Wöhlerlinien für die ERAAS FAT-Klassen B5 bis B11 und E1 bis E8 mit den Steigungen k1 = 3,37 und k2 = 5,37
Den Vorzügen des Nennspannungskonzepts muß eine Reihe von Schwierigkeiten und Anwendungsgrenzen des Berechnungskonzeptes gegenübergestellt werden. In der Praxis ist die richtige Auswahl der Kerbfallklasse häufig mit Unsicherheiten verbunden. Gerade bei Aluminiumkonstruktionen mit relativ komplexen Profilquerschnitten ist nicht immer eine geeignete Kerbfallklasse vorhanden, und der experimentelle Aufwand für die Ermittlung weiterer Kerbfallklassen ist sehr hoch. Auch sind die in den gegenwärtigen Regelwerken enthaltenen Werkstoffdaten notgedrungen sehr konservativ und führen häufig zu unnötigen Beeinträchtigungen der möglichen Werkstoffausnutzung. Die experimentelle Datengrundlage bezieht sich auf Verbindungen, die mit den Standard-Schweißverfahren (MIG, WIG) erzeugt wurden. Spezielle Schweißverfahren mit niedrigeren Kerbwerten – wie das Rührreibschweißen – sind noch nicht berücksichtigt. Die Verwendung höherer Schwingfestigkeitswerte wird jedoch erlaubt, wenn ein entsprechender experimenteller Nachweis durchgeführt wurde. Aus diesen Gründen wurden insbesondere für Schweißverbindungen alternative Berechnungskonzepte, die bereits für Stahlbauanwendungen regelwerksmäßig eingeführt sind, in den letzten Jahren für Aluminium weiterentwickelt und verbessert. Neben dem bereits in Abschn. 6.4.8 erwähnten „Kerbgrundkonzept“ wird die Anwendbarkeit des Konzepts der „Mikrostützwirkung“ nach Neuber und Radaj, das Konzept des „fiktiven Ersatzradius“ sowie des „Strukturspannungskonzepts“ gegenwärtig eingehend experimentell und theoretisch untersucht.
20.3 Schweißkonstruktionen
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Schwingfestigkeitsnachweis nach dem Strukturspannungskonzept
Bei komplexeren Schweißkonstruktionen reichen der Kerbfallkatalog des Nennspannungskonzepts nicht mehr aus; es können die vielfältigen Auswirkungen geometrisch bedingter Spannungsverteilungen und Belastungsarten durch charakteristische Spannungsamplituden ∆σA/NA allein nicht mehr erfaßt werden. Beim Strukturspannungskonzept werden die herrschenden Strukturspannungen in der Nähe der erwarteten kritischen Bruchstelle der Schweißnaht, dem „Hot Spot“, durch FE-Berechnungen ermittelt, ohne jedoch die Kerbwirkung der Schweißnahtkerbe selbst in die Ermittlung einzubeziehen. Über einer vereinbarten Referenzstrecke kurz vor der Nahtkerbe wird die berechnete oder durch DMS gemessene Strukturspannung an der Bauteiloberfläche quasilinear bis zum Hot Spot extrapoliert. Details der Extrapolation s. z.B. (IIW-Rec. 2003). Als Hot-SpotStrukturspannung σhs wird die Hauptspannung quer zur Schweißnaht am Nahtübergang ermittelt, s. Bild 20.3.25.
Bild 20.3.25 Definition der Spannungen im Strukturspannungskonzept
Für die Berechnung der Lebensdauer oder Schwingfestigkeit der Konstruktion wird eine Strukturspannungswöhlerlinie benötigt, die an Flachproben mit der entsprechenden Schweißnahtausbildung (meistens Stumpfstoß oder Kehlnaht) experimentell ermittelt wird und nur die Kerbspannung der Nahtkerbe und keine weiteren Kerbspannungseffekte – z.B. Steifigkeitssprünge durch Anschweißteile – enthält. Die Berücksichtigung der Strukturspannung σhs geschieht über eine Strukturformzahl Ks = σhs/σnenn . Andererseits kann die Strukturspannungswöhlerkurve aus einem gleichwertigen Referenzfall des Kerbfallkatalogs errechnet werden, s. IIWRec. und EC9:2005. Die Anwendung des Strukturspannungskonzepts auf Aluminiumkonstruktionen ist noch in der Entwicklungsphase im Hinblick auf die Zuverlässigkeit der Kennwerte. Außerdem ist die Anwendung beschränkt auf solche Kerbfälle, in denen der gefährdete Querschnitt nicht durch Extra-
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20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
polation der Strukturspannung erfaßt wird, s. Bild 20.3.26. Solche Fälle betreffen z.B. Wurzelspalte in unvollständig durchgeschweißten Verbindungen (Niemi 1995). Jedoch laufen Bemühungen, das Strukturspannungskonzept auch auf solche Fälle zu erweitern (Kotowski et al 2004), indem Strukturspannungswöhlerkurven für andere Anrißlagen gemäß Bild 20.3.26 (b) experimentell ermittelt werden. Bild 20.3.27 ist ein Beispiel für
Bild 20.3.26 Bisherige Grenzen der Anwendung des Strukturspannungskonzeptes auf die Anrißfälle unter (a). Wurzelseitige Anrißlagen (b) sind bisher nicht erfaßt (Quelle: E. Niemi)
Bild 20.3.27 Strukturspannungswöhlerkurve einer V-Stumpfnaht mit Badstütze. Grundwerkstoff: Mehrkammerhohlprofil aus EN AW-6005A-T6 mit angepreßter V-Nahtvorbereitung und Badstütze. Flachproben wurden aus der oberen Profilwand entnommen. Die Strukturspannung bezieht sich auf den Nahtübergang (Kotowski et al. 2004)
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eine Strukturspannungswöhlerkurve einer Stumpfnaht mit fester Badstütze und wurzelseitigem Anriß, bei der die Schwingbreite auf die Strukturspannung am Nahtübergang bezogen wurde (Kotowski et al 2004). Der Vorteil des Strukturspannungskonzeptes besteht darin, daß gegenüber dem Kerbspannungskonzept ein deutlich geringerer Aufwand bei der Modellierung zu treiben ist und die Strukturspannung durch FE- oder BEBerechnung mit verhältnismäßig groben Elementen ermittelt werden kann, was den Rechenaufwand für Bauteile und Konstruktionen erheblich verkleinert. Bisher erstreckt sich jedoch die Anwendung auf Schweißkonstruktionen mit verhältnismäßig großen Materialdicken (> 5 mm). Kerbspannungskonzepte
Das Kerbspannungskonzept auf der Grundlage der Mikrostützwirkung durch die Neuber’sche Ersatzstrukturlänge ρ* wurde in Abschn. 6.4.8 behandelt und kann grundsätzlich auch auf Schweißverbindungen angewendet werden. Voraussetzung dazu sind zuverlässige Angaben zur Ersatzstrukturlänge für die verschiedenen Legierungen und diejenigen Gefügestrukturen, die für den Ort der Anrißbildung repräsentativ sind, d.h. Grundwerkstoff, Wärmeeinflußzonen und Schweißgut. Gleichzeitig muß eine zutreffende Annahme über den Versagensort getroffen werden. Der Vorzug des Kerbspannungskonzepts der Mikrostützwirkung liegt darin, daß die Schwingfestigkeit auch von solchen Anrißorten abgeschätzt werden kann, die derzeit vom Strukturspannungskonzept nicht erfaßt werden. Verschiedene Untersuchungen in den letzten Jahren zur Anwendung des Konzepts der Mikrostützwirkung an Schweißverbindungen der Legierungen AlMg4,5Mn0,7 und AlSi1MgMn (Morgenstern et al. 2003) haben jedoch gezeigt, daß mit dem verwendeten Prüfumfang die Streuung der darauf aufbauenden Schwingfestigkeitsergebnisse für verschiedene Verbindungsformen noch unbefriedigend ist. Angesichts des für notwendig erachteten Prüfaufwandes wird diese Methode daher für die Ingenieurpraxis nicht empfohlen (Morgenstern et al. 2004, Morgenstern et al. 2006). Eine alternative Vorgehensweise ist das Kerbspannungskonzept mit einheitlichem fiktivem Ersatzradius ρf. Hierbei werden die örtlich elastischen Beanspruchungen am versagenskritischen Ort auf der Grundlage der Elastizitätstheorie berechnet und den örtlich ertragbaren Beanspruchungen, gegeben durch eine einheitliche Wöhlerkurve, gegenübergestellt. Trotz der Unterschiede in den nach dem Mikrostützwirkungskonzept berechneten Wöhlerlinien und der Streubreite der Daten wurde in jüngster Zeit vorgeschlagen, in Analogie zum Stahl auch für Aluminiumkonstruktionen und -schweißverbindungen einen einheitlichen fiktiven Kerbradius und eine einheitliche Wöhlerkurve für die Lebensdauerabschätzung zu verwenden
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(Morgenstern et al. 2006). Für Baustähle und verschiedenste Schweißverbindungstypen wurde ein einheitlicher fiktiver Ersatzradius ρf = 1 mm als genügend repräsentativ für das Kerbspannungsverhalten unter Dauerschwingbeanspruchung erprobt und festgestellt, daß auch das Verhalten hochfester Stähle mit einer einzigen gemeinsamen Stahl-Wöhlerlinie, die vom St37 abgeleitet wurde, genügend genau abgebildet werden kann (Seeger 1996). Auf der Grundlage verschiedener Versuchsserien mit mindestens 5 mm dickem Material aus den Legierungen AlMg4,5Mn0,7 und AlSi1MgMn und mit unterschiedlichen Verbindungsarten wurde die örtliche Vergleichsspannung im Kerbgrund für verschiedene fiktive Ersatzradien auf eine gemeinsame Wöhlerlinie zurückgerechnet. Das geringste Streumaß der Versuchsdaten für Beanspruchungen mit R = -1 und R = 0 wurde mit fiktiven Kerbradien von ρf = 0,6 bis 1,0 mm erhalten. Aus einem unterstellten Streumaß von Tσ = 1:1,50 wurden für ρf = 1 mm einheitliche regelwerksfähige Wöhlerkurven mit einer Überlebenswahrscheinlichkeit von Pü = 97,7% erstellt, die in Bild 20.3.28 wiedergegeben sind. Auch für Schweißverbindungen an einem Magnesiumwerkstoff wurde ein einheitlicher fiktiver Kerbradius ρf = 1 mm gefunden, der die Schwingfestigkeitswerte der untersuchten Schweißproben mit Dicken von 5 mm befriedigend abbildet (Karakas et al. 2006).
Bild 20.3.28 Master-Wöhlerlinien (Vorschlag) für die Aluminiumkonstruktionslegierungen AlMg4,5Mn0,7 (EN AW-5083) und AlSi1MgMn-T6 (EN AW-6082) zur Anwendung des Kerbspannungskonzeptes mit einem fiktiven Ersatzradius von ρf = 1,0 mm (Morgenstern et al. 2006)
Die Vorgehensweise bei der Anwendung dieses Konzeptes ist, daß die ermüdungskritischen Nahtübergänge und Wurzelkerben mit einem einheit-
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lichen Kerbradius von ρf = 1 mm angenommen werden und unter Berücksichtigung der übrigen geometrischen Verhältnisse (z.B. Nahtanstiegswinkel) die elastizitätstheoretische Formzahl Kt (ρf = 1 mm) mit den üblichen analytischen Ansätzen oder mit genügend feinmaschigen FE-Netzen berechnet wird. Über diese Formzahl wird die Wirkung der äußeren Beanspruchung mit der ertragbaren Beanspruchung aufgrund der einheitlichen Wöhlerkurve abgeglichen. Eigenspannungen oder Mittelspannungsempfindlichkeit werden wie beim Nennspannungskonzept behandelt. Die Einfachheit des Kerbspannungskonzeptes mit konstantem, werkstoffunabhängigen fiktivem Ersatzradius ist attraktiv. Seine Nützlichkeit, Zuverlässigkeit und Anwendungsgrenzen müssen sich noch für die Vielfältigkeit der Aluminiumkonstruktionen durch weitere Untersuchungen erweisen. 20.3.4 Nachbehandlung zur Schwingfestigkeitsverbesserung
Die Schwingfestigkeit von Schweißverbindungen läßt sich durch verschiedene Nachbehandlungsmethoden über den Schweißzustand hinaus verbessern. Hobbacher (Hobbacher 1991) gibt hierüber einen detaillierten Überblick zum damaligen Stand der Technik, der auch heute noch weitgehend gültig ist. Obwohl im Einzelfall Verbesserungen der Nahtschwingfestigkeit bis auf Werte des Grundwerkstoffs erzielt wurden, kann man in der Praxis bei sorgfältiger Verarbeitung eher von einer durchschnittlich 50prozentigen Verbesserung ausgehen. Das International Institute of Welding (IIW) legt in einer Empfehlung (Haagensen et al. 2001) die Rahmenbedingungen fest, die für eine Anrechnung der Verbesserung im Rahmen des IIW-Regelwerks (IIW-Rec. 2003) beachtet werden müssen. Je niedriger die Kerbfallklasse (FAT-Klasse), um so prozentual höher sind die Verbesserungen. In der Praxis werden u. a. folgende Nachbehandlungsverfahren verwendet, die zum Ziel haben, einerseits die geometrischen Imperfektionen und Kerbwirkungen der Naht zu reduzieren und andererseits die Ermüdungseigenschaften der Randschicht zu verbessern: 1. Methoden zur Verbesserung des Nahtprofils: • Spanende Bearbeitung der Schweißnaht (Ausschleifen der Nahtkerben) • Bearbeiten des Nahtübergangs • Wiederaufschmelzen des Nahtübergangs mit WIG-, Plasma- oder Laser-Verfahren
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20 Einführung in das Konstruieren mit Aluminium
2. Methoden zur Verbesserung der Randschicht (Verfestigung, Oberflächengüte, günstiger Eigenspannungszustand): • Kugelstrahlen, Nadelhämmern, maschinelles Bürsten • Festwalzen • Prägen (Coining) • Überlasten (Überdehnen). Die meisten der aufgeführten Methoden zur Nahtverbesserung können nur dann wirken, wenn die anrißgefährdeten Zonen durch die jeweilige Maßnahme erreichbar sind, z.B. der Nahtübergang. Verbindungen, die durch Rißbildung von der Wurzelseite her versagen, sind von diesen Maßnahmen ausgeschlossen. Außerdem muß man sich darüber Rechenschaft ablegen, daß durch die Verbesserungsmaßnahme der Anrißort nicht auf eine andere Schwachstelle verschoben wird. Die IIW-Empfehlungen sind experimentell abgesichert und beschränken sich auf Schweißverbindungen im Wandstärkenbereich von 4 bis 50 mm. Bei dünnwandigen Bauteilen sind die Verbesserungsgewinne marginal (Traupe et al. 2002). Die Randschichtbehandlungsverfahren (Kugelstrahlen, etc.) können im Zeitfestigkeitsbereich nur dann sinnvoll verwendet werden, wenn die Schwingbreite ∆σ im Nennspannungssystem das 1,5fache der 0,2%-Dehngrenze nicht überschreitet, da sonst mit einem Abbau der günstigen Druckeigenspannungen zu rechnen ist, s. hierzu auch die Ausführungen in Abschn. 6.4.9 und 20.3.2. Die durch Nachbehandlungsverfahren erzielbaren Verbesserungen dürfen nach den IIW-Empfehlungen nur für die unteren Detailklassen (bis etwa zu ∆σc = 45 MPa) beim Schwingfestigkeitsnachweis in Anrechnung gebracht werden. Der Bonus beträgt je nach Nahttyp und Verfahren etwa 1 bis 2 FAT-Klassen im IIWSystem. Gegenüber den IIW-Wöhlerkurven mit konstanter Steigung k = 3,0 wird in diesem Fall von manchen Autoren ein Drehen der Zeitfestigkeitsgeraden um den Spannungswert bei 104 Schwingspielen als zutreffender angesehen (Traupe et al. 2002). Das IIW-Dokument (Haagensen et al. 2001) enthält Anweisungen für die Ausführung und Qualitätssicherung der verschiedenen Nachbehandlungsverfahren. Als Maß für die Reproduzierbarkeit der Nachbehandlung sollen Almen-Intensitätsmessungen durchgeführt werden. Anweisungen speziell für die Durchführung des Kugelstrahlens enthält auch die Spezifikation SAE AMS-S-13165:1997 „Shot Peening of Metal Parts“. Aus der Arbeit von Zinn (Zinn 1990) illustriert Bild 20.3.29 das Verbesserungspotential durch Kugelstrahlen und WIG-Nachbehandlung von MIG- und WIG-Schweißverbindungen.
20.3 Schweißkonstruktionen
715
Bild 20.3.29 Verbesserung der Schwingfestigkeit durch Nachbehandlungsmaßnahmen von MIG- und WIG-Schweißverbindungen an 6 mm dicken Blechproben aus AlMg4,5Mn0,7-0. GW = Grundwerkstoff, WIG = WIG Wechselstrom geschweißt, MIG = MIG Impuls-geschweißt, Index m = mechanisch geschweißt, h = handgeschweißt, w = WIG-nachbehandelt, k = kugelgestrahlt
21 Sonderwerkstoffe
Die nachfolgend betrachteten Sonderwerkstoffe sind in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung heute noch nicht mit den Knet- und Gußwerkstoffen zu vergleichen. Sie werden hier mit einführenden Informationen behandelt, um werkstoffliche Perspektiven aufzuzeigen, die Aluminium auch für besondere Herausforderungen – höhere Festigkeiten, höchste Warmfestigkeiten, geringeres Gewicht und verbesserte Aufprallenergieabsorption – geeignet erscheinen lassen und die unter Umständen sogar eine wirtschaftlichere Leichtbaulösung ermöglichen.
21.1 Aluminiumpulvermetallurgie Die Pulvermetallurgie bietet die Chance, durch neuartige Legierungen die Anwendungsgrenzen von schmelzmetallurgischen Aluminiumlegierungen entscheidend zu verändern und in neue Anwendungsgebiete vorzustoßen. Diese Feststellung gilt insbesondere für solche Einsatzfälle, die hohe Forderungen an Temperaturbeständigkeit, Warmfestigkeit und Verschleiß stellen. 21.1.1 Herstellen von Legierungspulvern Für die Herstellung von pulvermetallurgischen („PM“) Formteilen werden Legierungspulver verwendet, die prinzipiell auf zwei verschiedenen Wegen erzeugt werden: 1) durch schmelzmetallurgisches Legieren und 2) durch mechanisches Legieren. Bei Legierungssystemen, bei denen die Legierungselemente eine hohe oder vollständige Löslichkeit im flüssigen Zustand besitzen, geschieht die Pulverherstellung durch • Versprühen der Schmelze, • Gasverdüsen der Schmelze (s. Bild 21.1.1) oder • andere RSP-Verfahren (Rapidly Solidified Powders), wie „Splat-Cooling“. Durch diese Verfahren wird ein feines, homogenes Gefüge erzielt, das mit den herkömmlichen schmelzmetallurgischen Verfahren des Stranggie-
718
21 Sonderwerkstoffe
ßens und des Formgusses nicht erreichbar ist. Ein Maß für die Homogenität des aus der Legierungsschmelze erstarrten, festen Metalls ist der sekundäre Dendritenarmabstand (DAS), der über eine Potenzfunktion mit der Abkühlgeschwindigkeit in Zusammenhang steht. In doppel-logarithmischer Darstellung ergibt sich entsprechend Bild 21.1.2 eine geradlinige Abhängigkeit des Dendritenarmabstandes von der Abkühlgeschwindigkeit. Durch Vakuum-, Gas- und Wasserverdüsen erreicht man gegenüber dem Stranggußgefüge ein zunehmend homogenes Gefüge. Extrem schnelle Erstarrungsgeschwindigkeiten erzielt man durch Abschrecken von Schmelzetropfen oder eines dünnen Schmelzestrahls auf gekühlten Metallplatten oder -walzen (sog. „Splats“).
Bild 21.1.1 Pulverherstellung durch Gasverdüsen der Schmelze (Verlinden et al. 1994)
Bild 21.1.2 Abhängigkeit des Dendritenarmabstands von der Abkühlgeschwindigkeit von Aluminiumschmelze beim Strangguß und durch Sprühen in verschiedene Medien
21.1 Aluminiumpulvermetallurgie
719
Eine Folge dieser hohen Erstarrungsgeschwindigkeiten ist eine entsprechende Zunahme der Übersättigungskonzentration an Legierungselementen, die weit über die Grenzen des thermodynamischen Gleichgewichts hinausgehen. Tabelle 21.1.1 enthält Anhaltswerte für die Legierungselemente Kupfer, Mangan und Silizium. Es ist leicht vorstellbar, daß durch die etwa 10-fach erhöhte Übersättigungen mit entsprechenden thermomechanischen Folgebehandlungen ungewöhnliche Eigenschaftsprofile erzielt werden können. Tabelle 21.1.1 Erhöhung der Löslichkeitsgrenzen von Legierungselementen in Aluminium durch rasche Erstarrung (Verlinden et al. 1994) Legierungselement Cu Mn Si
Max. Gleichgewichtslöslichkeit [At.-%] 2,5 (bei 821 K) 0,7 (bei 923 K) 1,6 (bei 850 K)
Max. Löslichkeit bei rascher Abkühlung [At.-%] 18 9 16
Legierungselemente, die in der Aluminiumschmelze keine oder nur eine geringe Löslichkeit besitzen (z.B. Sauerstoff, Kohlenstoff), werden durch mechanisches Legieren im festen Zustand zugefügt. Dazu wird atomisiertes Pulver in Hochenergie-Kugelmühlen (Attritoren) gemahlen, wobei durch intensives Aneinanderpressen der feinen Partikel ein Vermischen der getrennt zugegebenen Legierungskomponenten stattfindet und infolge kurzer Diffusionswege schon bei niedrigen Temperaturen um 50°C eine Legierungsbildung eintritt, s. schematischen Ablauf in Bild 21.1.3. Während des Mahlvorgangs in Schlag-, Schwing- oder Rührkugelmühlen verschweißen die Pulverpartikel, brechen auf und verschweißen wieder. Ein
Bild 21.1.3 Mechanisches Legieren von Metallpulvern in Kugelmühlen (Verlinden et al. 1994)
720
21 Sonderwerkstoffe
ausgewogenes Verhältnis zwischen Partikelzerkleinern und Partikelverschweißen wird durch geeignete organische Mahlflüssigkeiten erreicht. Mechanisches Legieren wird hauptsächlich für die Herstellung dispersionsgehärteter Legierungspulver verwendet. Beim mechanischen Legieren kann man durch unterschiedliche Mahlparameter und durch die Art und Menge von organischen Zusatzstoffen verschiedenartige Pulverpartikelformen und -fraktionen erreichen. Bild 21.1.4 gibt Beispiele für derartige Partikelformen.
Bild 21.1.4 Beispiele für Pulverpartikelformen durch Mahlen in Kugelmühlen: a)-c) Al99,0 gemahlen mit verschiedenen Schmierstoffen und -mengen (Treverton et al. 1975), d) und e) Al99,5 dispersionsgehärtet mit 4 Gew.-% Kohlenstoff (Jangg et al. 1975)
21.1.2 Kompaktieren von Pulvern zu Formteilen Im ersten Schritt der Herstellung von PM-Produkten wird eine Pulvermischung geeigneter unterschiedlicher Körnung und ggf. unterschiedlicher Zusammensetzung hergestellt, um günstige Kompaktierungseigenschaften und die gewünschte Legierungszusammensetzung zu erzielen. Es ist möglich, von unlegierten Pulvern auszugehen und die Legierungsbildung durch Mahlen und Diffusionsprozesse bei der thermischen Prozeßführung in den nachfolgenden Fertigungsschritten zu erreichen. Das gilt z.B. für Karbiddispersionen in PM-Material, das durch Mahlen von unlegierten Al-Pulvern mit Kohlenstoff (z.B. Flammruß) hergestellt wird. Die Dispersionshärtung entsteht durch Reagieren der C-Dispersion mit der Al-Matrix in der Stufe der heißisostatischen Verdichtung bzw. der Warmformgebung (Strangpressen, Schmieden). Elemente, die in Aluminium im schmelzflüssigen Zustand vollständig löslich sind, wird man jedoch in der schmelzflüssigen Phase zusetzen und verdüsen. Weiterhin werden dem Pulver häufig Schmierstoffe beigemischt, um bessere Verdichtungseigenschaften zu erzielen und die Entformung zu erleichtern, und außerdem Bindemittel, um die Festigkeit des kaltkompaktierten Grünlings zu steigern. Diese Zusätze entweichen während des Sinterns oder während der Aufheizung auf Preßtemperatur.
21.1 Aluminiumpulvermetallurgie
721
Auf das Mischen der Pulverausgangsstoffe folgen die Fertigungsabläufe zur Kompaktierung von PM-Formteilen, die in Bild 21.1.5 dargestellt sind. Durch Kaltverdichten werden sog. „Grünlinge“ hergestellt, die nachfolgend durch Sintern bei Temperaturen nahe dem Schmelzpunkt und unter Schutzgasatmosphäre verfestigt werden. Auf mikroskopischer Ebene entsteht an den Punktkontakten der Partikel eine stoffschlüssige Halsbildung. Im Zusammenhang damit ändert sich die Porenform; die Porosität nimmt bei gleichzeitigem Schrumpfen des Rohlings ab. Schließlich werden die Restporen durch Kornwachstum bei weiterer Abnahme der Restporosität isoliert. Die treibende Kraft beim Sinterprozeß ist die Reduzierung der Oberflächenenergie. Diese relativ niedrige Reaktionskinetik läßt sich durch reaktionsfördernde Zuschlagstoffe und durch Druckbeaufschlagung (Drucksintern) verbessern. Beim Sintern mit flüssiger Phase werden Zusatzelemente verwendet, die bei der Sintertemperatur flüssig sind und dadurch den Sintervorgang beschleunigen. Bzgl. der Dichte von Sinterteilen unterscheidet man je nach Grad der gewünschten Raumerfüllung zwischen 75% bis >95,5% bzw. 97%. Nachfolgend werden die Formate durch Walzen, Schmieden oder Strangpressen weiterverformt und dabei verdichtet werden. Beim Osprey-Verfahren geht man üblicherweise von einer Legierungsschmelze aus. Es ist aber auch möglich, durch Einsprühen von nicht löslichen Pulverpartikeln oder Elementen eine Kodeposition von partikelversetzten Verbundwerkstoffen zu erhalten, s. Bild 21.1.6. Die Er-
21.1 Aluminiumpulvermetallurgie
723
starrungsgeschwindigkeiten sind etwas niedriger als im Falle der RS-Pulver, führen aber zu einem homogenen, seigerungsarmen Gefüge mit feiner Dispersion von Ausscheidungen.
Bild 21.1.6 Osprey-Verfahren des Pulverkompaktierens (Hummert 1996)
Das Verfahren eignet sich auch zur Herstellung von Strangpreß- und Walzvormaterial in industriellen Abmessungen. Es werden Barren von 150 bis 400 mm Durchmesser hergestellt. Der Aufbau solcher Barrenformate aus dem Sprühstrahl erfordert eine zuverlässige Regelungs- und Steuerungstechnik, damit eine genaue zylindrische Form erreicht werden kann. Zum Sprühkompaktieren von Aluminiumpulvern sind hohe Mengen an Gas (N, Ar) erforderlich. Für das Verdüsen benötigt man ein Gas/Metallverhältnis von ca. 4–5 Nm³/kg Schmelze. Das Gas/Metallverhältnis beeinflußt die Werkstoffeigenschaften und den Grad der Metallausbringung. Trotz dieser Einschränkungen des Prozesses erreicht das Sprühkompaktierverfahren eine vergleichsweise günstige Kostensituation. Durch Ausnutzung der Legierungsmöglichkeiten können die normalen Werkstoffgrenzen erheblich erweitert werden. Durch Dispersionshärtung erreicht man hohe Warmfestigkeit bei Einsatz bis zu 450°C, niedrige thermische Ausdehnung durch Zulegieren von bis zu 40 % Silizium, ausgezeichnete Verschleißbeständigkeit bei guter Wärmeleitfähigkeit und geringer Wärmeausdehnung. Seit einigen Jahren werden mit dem Sprühkompaktierverfahren und nachfolgendem Strangpressen Zylinderlaufbüchsen für Aluminiumzylinderblöcke hergestellt, s. Bild 2.4.1 (Annon. 1997). Ei-
724
21 Sonderwerkstoffe
ne neuere Arbeit belegt auch die guten Zeit- und Dauerfestigkeitseigenschaften derartiger stranggepreßter Legierungen (el Dsoki et al. 2006). 21.1.4 PM-Legierungen Angesichts der höheren Fertigungskosten haben PM-Legierungen nur dort Chancen, wo sie in ihrem Eigenschaftsspektrum die herkömmlichen Gußund Knetwerkstoffe deutlich übertreffen. Dies gilt in Sonderheit für Warmfestigkeit und Verschleißfestigkeit. In beiden Fällen sind teilchengehärtete Legierungen überlegen, wenn es sich um harte und unlösliche Dispersionen handelt. Die Dispersionshärtung hat gegenüber der Kaltverfestigung (wirksam bis etwa T/Ts = 0,4) und gegenüber der üblichen Ausscheidungshärtung (wirksam bis maximal T/Ts = 0,6) bei Einsatztemperaturen bis 90% der Matrix-Solidustemperatur Ts festigkeitssteigernde Wirkung. Außerdem verhindern solche Dispersionen in fein verteilter Form weitgehend Rekristallisation und Kornwachstum bei hohen Temperaturen, vermitteln also eine thermisch stabile Gefügestruktur. Nach Orowan (Orowan 1948) wirken solche Dispersionen festigkeitssteigernd, wenn die Teilchengröße zwischen 0,01 und 1 µm beträgt und der Teilchenabstand etwa das 5- bis 10-fache der Teilchengröße beträgt. Bis etwa zu einem Teilchenvolumenanteil von 20% nimmt die Matrixfestigkeit linear mit dem Partikelvolumenanteil zu. Bereits 1926 wurde von E. Schmidt (Schmidt 1926-1, Schmidt 1926-2) vorgeschlagen, durch Einbringen von feindispersen, nichtmetallischen und nicht in Aluminium löslichen Teilchen eine Dispersionshärtung vorzunehmen. Diese Überlegungen führten zu der Entwicklung des SAP (Sintered Aluminium Powder) (Altenpohl 1965), bei dem eine sehr fein verteilte Al203-Dispersion (bis zu 14 Vol.-%) und Legierungszusätze von bis zu 1% Nickel verwendet wurden. Das oxidhaltige Pulver wurde zur Homogenisierung vermahlen und anschließend stranggepreßt. Die Festigkeitswerte des SAP waren Rm = 230 bis 370 N/mm² bei RT und R m = 70 bis 130 N/mm²bei 400°C bei gleichzeitig guter thermischer Stabilität des Gefüges. Die Produktion dieses Werkstoffs wurde jedoch wegen nicht gleichbleibender Qualität in Westeuropa eingestellt. Die Entwicklung der RS-Pulvermetallurgie geht auf die 60-er Jahre zurück und wurde vor allem durch N.J. Grant am MIT, Boston, voran getrieben. Das Verfahren des mechanischen Legierens wurde 1970 von J. St. Benjamin (Benjamin 1970) patentiert. Die Entwicklungen in den 70-er Jahren zeigten, daß mit PM-Legierungen neben den höheren Warmfestigkeitseigenschaften auch günstigere Korrosions- und Schwingfestigkeitswerte zu erzielen waren. Die Entwicklungen von hochfesten PM-Legierungen wurden vor allem in den 80-
21.2 Aluminiummatrix-Verbundwerkstoffe
725
er Jahren in den USA betrieben mit dem Ziel, leistungsfähigere Werkstoffe für die Luft- und Raumfahrt zu erhalten. Dieser Entwicklung entstammen die Legierungen AA7090 und AA7091 mit Festigkeitswerten über 600 MPa. Die Bruchzähigkeitswerte der frühen PM-Legierungen blieben zunächst hinter den Erwartungen zurück. Erst die Vakuumentgasung brachte deutliche Verbesserungen des Zähigkeitsverhaltens. Die Beimengungen von nicht löslichen Dispersoiden aus Al2O3 und Al4C3 führen zu thermisch sehr stabilen PM-Legierungen, die allerdings über den Weg des mechanischen Legierens gewonnen werden müssen. Die Wirkung der oxidischen und karbidischen Dispersoide in PM-Aluminium auf die Festigkeits- und Kriecheigenschaften wurden von El-Magd und Nicolini untersucht (El-Magd et al. 1997). Durch schmelzmetallurgisches Legieren und durch zusätzliches mechanisches Legieren erhält man höhere Festigkeitswerte bei Raumtemperatur und auch bei höheren Temperaturen. Die thermische Stabilität scheint jedoch gegenüber dem ausschließlich mechanisch legierten PM-Material abzunehmen, obwohl die positive Wirkung der Oxid- und Karbiddispersionen auch bei den höherfesten Legierungspulvern deutlich erkennbar ist (Kumpfert et al 1990).
21.2 Aluminiummatrix-Verbundwerkstoffe 22.2.1 Grundlagen und Eigenschaften Die Entwicklung von Metall-Matrix-Verbundwerkstoffen (engl.: metal matrix composites − MMC) beschäftigt die Metallurgen seit vielen Jahrzehnten. Das Ziel ist die Veränderung von Gebrauchseigenschaften über die Grenzen hinaus, die durch die Schmelz- und Pulvermetallurgie gesetzt sind, indem durch stoffschlüssige Verbindung von eingelagerten Fremdstoffen bestimmte Eigenschaften auf den Grundwerkstoff übertragen werden. Zunächst standen die Faserverbundwerkstoffe im Vordergrund der Entwicklungen, weil das Festigkeitspotential keramischer oder metallischer Fasern gegenüber monolithischen Metallen besonders attraktiv war. Die wesentlich höhere Festigkeit von Fasern beruht darauf, daß die defektfreie Länge des Kristallgitters mit abnehmendem Querschnitt wesentlich größer wird. Diese Beobachtung ist das sogenannte „Faserparadoxon“ von Griffith aus dem Jahre 1921 (Griffith 1921). Wenn die Übertragbarkeit der Schubspannungen von der Faser auf die Matrix durch eine ausreichende Bindung zwischen beiden gewährleistet ist, wird die Festigkeit des Verbundes, aber auch das elastische Verhalten und die Wärmeausdehnung, entsprechend dem Faseranteil deutlich verändert.
726
21 Sonderwerkstoffe
Die Einbettung von Langfasern, Kurzfasern oder Partikeln in die Metallmatrix geschieht mit schmelzmetallurgischen oder pulvermetallurgischen Verfahren. Daraus ergibt sich die Forderung nach thermischer Stabilität des Verbundes, d.h. die Einlagerungsstoffe dürfen in der Metallmatrix nicht oder kaum löslich sein. Um dies zu erreichen, müssen manche Fasertypen zusätzlich beschichtet werden. Für Aluminium als Matrixwerkstoff eignen sich als Verbundpartnerstoffe Aluminiumoxid, Bor, Borkarbid, Graphitfasern, Nickelaluminide, Siliziumoxid, -karbid, und -nitrid, Titanborid und -nitrid, sowie Zirkonoxid und -karbid. Diese Auswahl kann noch durch einige metallische (Niob, Beryllium, CrNi-Stahl) Verstärkungsstoffe erweitert werden. Kurzfaser- und Partikelverstärkungen sind dann interessant, wenn weniger hohe Festigkeitswerte, sondern vielmehr höhere Steifigkeit und Verschleißwiderstand, angepaßte Wärmeausdehnung und höhere Betriebstemperaturen verlangt werden. Der Grad der Verbesserung der Eigenschaften durch eingelagerte Endlosfasern, Kurzfasern und Partikel ist vom Volumenverhältnis abhängig. Für die Dichte ρ, kann man die Verstärkungseffekte mit der einfachen, linearen Mischungsregel abschätzen: ρc = Vf •ρ f + (1- Vf) •ρ
(22.2.1)
m
wobei ρm die Matrixdichte, ρf die Dichte des Verstärkungsmaterials, ρc die Dichte des Verbundwerkstoffs und Vf der Volumenanteil des Verstärkungsmaterials bedeuten. Die lineare Mischungsregel muß jedoch für andere Eigenschaften modifiziert werden, weil sowohl die Form des Verstärkungselementes als auch die Bindung und Ausrichtung zur Matrix Einfluß ausüben. Diesen Einfluß kann man in einem „Verstärkungswirkungsgrad“ ηf berücksichtigen. Infolgedessen gibt es einen kritischen, unteren Faseranteil Vf,c, bei dem noch keine Verstärkung wirksam wird. Zum Beispiel gilt für den Elastizitätsmodul von Verbundwerkstoffen die lineare Mischungsregel in folgender Form: Ec = Vf •η f •E f + (1- Vf) •E
m
(21.2.2)
wobei Ec der Elastizitätsmodul des Verbundwerkstoffs, Em der Elastizitätsmodul der unverstärkten Matrix, Ef der Elastizitätsmodul des Verstärkungsmaterials und ηf der Verstärkungswirkungsgrad bedeuten. Für die wichtige Gruppe der SiC-verstärkten Aluminiumlegierungen sind daher exemplarisch einige relevante Eigenschaften in Abhängigkeit vom Volumenanteil Verbundelementes in den folgenden Bildern dargestellt.
21.2 Aluminiummatrix-Verbundwerkstoffe
727
Bild 21.2.1 stellt die Wirkung von SiC-Kurzfaseranteil auf den Wärmeausdehnungskoeffizient von Al99,5 dar. Die Angaben können näherungsweise auf SiC-partikelverstärkte Legierungen und proportional auf andere Legierungen übertragen werden. Bild 21.2.2 zeigt den Einfluß des Volumenanteils von SiC-Whiskern und SiC-Partikeln auf den Elastizitätsmodul von verstärktem Aluminium und illustriert den Abweichungsgrad von der idealen Mischungsregel (Verlinden et al. 1994).
Bild 21.2.1 Wärmeausdehnungskoeffizient αc in Abhängigkeit vom Faservolumenanteil für Al99,5-SiC Composites
Bild 21.2.2 Elastizitätsmodul von Aluminium in Abhängigkeit vom Volumenanteil an SiC-Whiskern bzw. SiC-Partikeln
728
21 Sonderwerkstoffe
Die Abhängigkeiten der Composite-Festigkeit von der Geometrie und vom Volumenanteil der Verstärkungsarten ist in Bild 21.2.3 am Beispiel der Legierung 6061 mit SiC-Verstärkung dargestellt (Verlinden et al. 1994). Das Potential der verbesserten Warmfestigkeit durch Faserverstärkungen wird in Bild 21.2.4 illustriert.
Bild 21.2.3 Einfluß von Menge und Art der SiC-Verstärkung auf die Zugfestigkeit der Legierung 6061 (Verlinden et al. 1994)
Bild 21.2.4 Warmzugfestigkeit von Faserverbundwerkstoffen mit unterschiedlichen Verstärkungsarten. Borfasern und α-Al2O3-Fasern sind Langfasern, die übrigen Kurzfasern (Verlinden et al. 1994)
21.2 Aluminiummatrix-Verbundwerkstoffe
729
21.2.2 Anwendungsbeispiele Mit der Schmelzinfiltration werden örtliche Faserverstärkungen in Komponenten von Verbrennungsmotoren hergestellt. Hierbei handelt es sich um die Verstärkung des Muldenrandes bei Kolben für direkt eingespritzte Dieselmotoren für Nutzfahrzeuge und Personenkraftwagen. Dabei werden vorgepreßte Formkörper aus Al2O3-Kurzfasern (ca. 3-4 µm dick und 50200 µm lang) in die Gießform eingelegt und mit Hilfe des SqueezeCasting-Verfahrens mit flüssiger Legierungsschmelze (z.B. AlSi12Cu MgNi) getränkt. Neben Verbesserungen in den Härte- und Festigkeitswerten sowie beim Elastizitätsmodul wird vor allem das thermische Ermüdungsverhalten verbessert, so daß die Muldenrandtemperatur um ca. 50 °C erhöht werden kann (Annon. 1995). Ein weiteres Einsatzgebiet betrifft das gezielte Einbringen von Silizium in die Bereiche der Zylinderlauffläche von Aluminiumkurbelgehäusen (Köhler 1995), die dort die harte und verschleißarme Tragstruktur der Lauffläche bilden. (Die Metallmatrix wird nach dem Honen der Zylinderbohrung durch einen tÄzvorgang zurückgesetzt). In diesem Falle wird die Kurzfaserpreform allerdings nicht zur Verstärkung, sondern lediglich als Träger für das Siliziumpulver verwendet. Dadurch kann die vergleichsweise teure übereutektische Legierung durch eine preiswerte Umschmelzlegierung ersetzt werden. Wie Bild 21.2.3 zeigt, ist die Wirkung der SiC-Partikel auf die Grundwerkstoffestigkeit vergleichsweise gering im Verhältnis zur Faserverstärkung durch Lang- und Kurzfasern aus SiC. Die gleichmäßige Verteilung von Hartstoffpartikeln in der Aluminiummatrix hat jedoch eine deutliche Verbesserung der Warmfestigkeit und vor allem des Abriebverhaltens zur Folge. Wichtig dabei ist die Gleichmäßigkeit der Partikelverteilung im Gefüge. Bild 21.2.5 zeigt beispielhaft das Gefüge einer Gußlegierung AlSi7Mg mit 20 Vol.-% SiC (Kolsgaard 1994). Hierbei handelt es sich um SiC-Partikel mit einer Korngröße von 10–20 µm. Neuere Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, daß eine Partikelgröße von ca. 30 µm günstigere Reib- und Verschleißeigenschaften erzeugt als feinere Partikel (Zhang et al. 2007) Für den Einsatz in Bremsscheiben sind das Abriebverhalten, ausreichende Warmfestigkeit und hohes Wärmeleit- und Wärmeabstrahlvermögen entscheidend. Das Abriebverhalten ist eine Systemfrage im Hinblick auf Reibpartner, Tribologie und auf Reibkräfte und Reibdauer. Aussagen zum Verhalten können daher nur direkte Simulationsversuche machen (Howell et al. 1995). Für den Einsatz unter den Bremsverhältnissen einer PKW-Vorderachse wurden die in Bild 21.2.6 dargestellten vergleichenden Ergebnisse mit Bremsscheiben aus Grauguß und aus 20 Vol.-% SiCpartikelverstärktem AlSi7Mg erzielt (Stören et al. 1994). Die gegenüber
730
21 Sonderwerkstoffe
der Graugußbremsscheibe höheren Kosten einer SiC-verstärkten Aluminiumbremsscheibe dürften nach den Ergebnissen durch die fast 10-fache Lebensdauer kompensiert werden.
Bild 21.2.5 Gefügestruktur einer mit 20 Vol.-% SiC verstärkten AlSi7Mg-Legierung mit einer Partikelgröße zwischen 10 und 20 µm (Kolsgaard 1994)
Bild 21.2.6 Ergebnisse von Verschleißversuchen an Bremsscheiben aus Grauguß und aus SiC-partikelverstärktem AlSi7Mg unter Realbedingungen (Quelle: SINTEF)
Bremsen gehören zu den ungefederten Massen. Deshalb sind Gewichtseinsparungen an dieser Stelle von besonderem Interesse. Die Ge-
21.3 Aluminiumschaumwerkstoffe
731
wichte der Bremsscheiben, die den in Bild 21.2.6 dargestellten Ergebnisse zugrunde liegen, waren 4,5 kg für Grauguß und 1,5 kg für die gegossenen SiC-AlSi7Mg-Scheiben und entsprechen einer Gewichtseinsparung von 66%. Bild 21.2.7 zeigt u.a. die untersuchten MMC-Bremsscheiben.
Bild 21.2.7 Bremstrommel und Bremsscheiben für PKW aus AlSi7Mg mit 20 Vol.-% SiC-Partikelverstärkung (Quelle: SINTEF)
Ein Kostenfaktor von SiC-verstärkten Werkstoffen ist die spanende Bearbeitung, die wegen des hohen Werkzeugverschleißes mit PKDWerkzeugen durchgeführt werden muß (Coelho et al 1995). Mit den üblichen WC-Werkzeugen werden annehmbare Standzeiten und ausreichende Oberflächenrauhigkeiten nur bei relativ geringen Schnittiefen und Schnittgeschwindigkeiten zwischen 60 und 150 m/min. erzielt (Manna et al. 2003). Positiv wirkt sich dabei überlagerte Ultraschallanregung des Werkzeugs aus (Zhong et al. 2006).
21.3 Aluminiumschaumwerkstoffe Auf der Suche nach leichteren Werkstoffen mit spezifisch hohen Steifigkeiten stellen metallische Schäume eine interessante Möglichkeit dar. Gleichzeitig bieten hochporösen Metallschäume eine Erweiterung des Eigenschaftsspektrums im Hinblick auf Aufprallenergieabsorption, Schallabsorption, Körperschalldämmung und Wärmedämmung sowie auf richtungsunabhängiges Verhalten bei Belastung. Im Gegensatz zu Kunststoffschäumen zeigen metallische Schäume darüber hinaus Vorteile bezüglich Festigkeit, Temperaturbeständigkeit und Umweltverträglichkeit.
732
21 Sonderwerkstoffe
21.3.1 Metallschaumherstellung Herstellungsverfahren von hochporösen Aluminiumschäumen sind seit den 60-er Jahren bekannt. Dennoch haben sich erst in den 90-er Jahren die Aktivitäten zur Entwicklung von industriell praktikablen und kostengünstigen Herstellungsmethoden und von Konzepten und Verfahren zur Weiterverarbeitung verstärkt. Von den verschiedenen Verfahrensmöglichkeiten zur Herstellung metallischer Schäume haben die schmelzmetallurgischen und pulvermetallurgischen Verfahren die größte Entwicklungsreife erlangt und in industriellem Maßstab hergestellt (Heinrich 2003). Schmelzmetallurgische Metallschaumherstellung
Durch Einblasen von Gasen in eine Aluminiumschmelze wird eine Reaktion mit dispergierten keramischen Partikeln (SiC, Al2O3) erzeugt, die zum Aufschäumen der Schmelze führt. Der Flüssigkeitsschaum wird abgezogen und durch geeignete Abkühlung in seiner porösen Form konserviert (Ruch et al. 1991, Lin et al. 1991). Auf diese Weise werden Schaumplattenmaterial und durch Einfüllen in Gußformen Schaumformteile produziert, s. Bild 21.3.1.
Bild 21.3.1 Querschnitt durch ein auf schmelzmetallurgischem Wege erzeugtes Schaumformteil
Pulvermetallurgische Metallschaumherstellung
Das pulvermetallurgische Verfahren zur Herstellung von geschäumten Metallen geht von handelsüblichen Pulvern aus Aluminium oder Aluminiumlegierungen aus, die mit geringen Mengen eines ebenfalls pulverförmigen Treibmittels (z.B. Titanhydrid oder Zirkonhydrid) vermischt werden (Entwickler: Fraunhofer Inst IFAM, Bremen). Diese Pulvermischung wird
21.3 Aluminiumschaumwerkstoffe
733
z.B. durch direktes Pulverstrangpressen zu einem dichten, aufschäumbaren Vormaterial verdichtet. Durch eine anschließende Erwärmung des Vormaterials auf Temperaturen oberhalb des Schmelzpunktes setzt die Wirkung des Treibmittels ein. Der Werkstoff expandiert unter Bildung einer hochporösen, geschlossenzelligen Porenstruktur (Baumeister 1990). Durch Einbringen des schäumfähigen Vormaterials in Formen oder zwischen Deckbleche aus Aluminium oder anderen Metallen entstehen Formteile bzw. Sandwichstrukturen mit leichten, geschlossenporigen Schaumkernen (Hersteller: Alulight International GmbH, Ranshofen). 21.3.2 Eigenschaftsspektrum metallischer Schäume Die hervorstechendste Eigenschaft geschäumter Metalle ist ihr geringes spezifisches Gewicht. Pulvermetallurgische hergestellte Aluminiumschäume weisen üblicherweise eine Dichte im Bereich zwischen 0,4 und 1 g/cm³ auf, schmelzmetallurgisch hergestellte Schäume typischerweise im Bereich zwischen 0,1 und 0,5 g/cm³. Aufgrund ihrer geschlossenporigen Struktur sind Aluminiumschäume schwimmfähig. Das plastische Verhalten geschäumter Metalle wird prinzipiell durch die plastischen Eigenschaften des Grundmetalls und durch den Grad der Porosität bestimmt. Der typische Verlauf der Fließkurve im Stauchversuch ist aus Bild 21.3.2 zu ersehen und gilt gleichermaßen für andere nichtmetallische Schäume (Weber 1996). Die Stauchfließkurve der Aluminiumschäume ist gekennzeichnet durch einen zunächst elastischen Bereich, der dann in ein ausgedehntes Fließspannungsplateau übergeht, bevor am Ende des Stauchvorgangs durch den Verdichtungsprozeß die Kurve einen steilen Verlauf annimmt. Der Beginn des Steilanstiegs ist allein abhängig von der Schaumdichte. Das Fließspannungsplateau und andere Eigenschaften können dagegen zusätzlich durch Legierungs- und Wärmebehandlungsmaßnahmen verändert werden. Die Dichteabhängigkeit der Druckfestigkeit (im Plateaubereich), des Elastizitätsmoduls und der elektrischen Leitfähigkeit entspricht einem Potenzgesetz der Form (Weber 1996) y
X s ρs , = X m ρ m
(21.3.1)
wobei Xs und Xm die jeweilige Eigenschaftsgröße und ρs und ρm die Dichte des Schaums bzw. des Grundwerkstoffs bedeuten. Der Exponent y wird für die angegebenen Eigenschaftsgrößen mit 1,5 bis 2 angegeben. Die Wärmeleitfähigkeit ist um den Faktor 10 bis 20 geringer als die des massiven
734
21 Sonderwerkstoffe
Grundwerkstoffs, der Wärmeausdehnungskoeffizient des Metallschaums entspricht dem des Grundmetalls (Banhart et al. 1994).
Bild 21.3.2 Typische Spannungs-Stauchungskurven für Aluminiumschaumproben aus AlSi12 mit unterschiedlichen Schaumdichten
21.3.3 Anwendungsaspekte Die Verwandtschaft der Struktur und Eigenschaften von Aluminiumschaumstoffen mit Kunststoffschäumen legt ähnliche Anwendungen nahe, wobei die herstellungsprozeßtechnischen Gegebenheiten berücksichtigt werden müssen. Die schmelzmetallurgisch hergestellten Metallschäume liegen als Rohplatten oder Formteile vor (Entwickler und Produzent: Alcan/Cymat), aus denen Sandwichkerne mechanisch herausgearbeitet werden können, die mechanisch oder durch Klebstoff mit entsprechenden Deckblechen verbunden werden. Formteile können als Einlage in Rohren oder Hohlprofilen die Biegesteifigkeit oder die Energieabsorption von Crash-Elementen verbessern. Die deutlich verminderte Wärmeleitfähigkeit bietet Vorteile gegenüber massivem Material gleicher Masse hinsichtlich des Feuerschutzes (Schaeffler et al. 2003). Die Legierungsauswahl ist weitgehend beschränkt auf die SiC-haltige AlSi7-Legierung. Pulvermetallurgisch durch Heißverdichten, z.B. durch HIP oder Strangpressen, hergestellte Halbzeuge werden in Formen oder Formschalen aufgeschäumt, indem sie bis zum Soliduspunkt des Schaumstoffs erwärmt werden. Letztere können als schäumfähige Halbzeuge jedoch auch vor dem Schäumvorgang plastisch verformt werden. Eine weitere Möglichkeit
21.3 Aluminiumschaumwerkstoffe
735
besteht im Walzplattieren schäumfähiger Halbzeugplatten mit Decklagen aus Standardwalzmaterial zu Hybridhalbzeugen, s. Bild 21.3.3.
Bild 21.3.3 Aluminiumschaum-Sandwichplatten. (Quelle: Alulight International, Ranshofen)
22 Gewinnung, Recycling, Ökologie
22.1 Primäraluminium 22.1.1 Vorkommen, Bauxiterze Aluminium ist nach Sauerstoff und Silizium das dritthäufigste Element der Erdrinde und an ihrem Aufbau mit ca. 8 % beteiligt, s. Tabelle 22.1.1 (Budd 1994). Wegen seiner starken Neigung, mit Nichtmetallen – vor allem mit Sauerstoff – zu reagieren, kommt Aluminium in der Natur nicht in metallischer Form, sondern nur in Verbindungen vor. Tabelle 22.1.1 Elementare Zusammensetzung der Erdkruste Element Kupfer Zink Schwefel Mangan Kohlenstoff Phosphor Wasserstoff Titan
Anteil in Gew.-% 0,0001% 0,004% 0,006% 0,009% 0,009% 0,12% 0,14% 0,62%
Element Magnesium Kalium Natrium Kalzium Eisen Aluminium Silizium Sauerstoff
Anteil in Gew.-% 2,07 2,58 2,83 3,64 5,06 8,07 27,61 46,46
Der Rohstoff für die Aluminiumerzeugung ist Bauxit - ein Verwitterungsprodukt aus Kalk- und Silikatgestein, dessen Gehalt an Al203 (Aluminiumoxid) häufig über 50% beträgt. Das Bauxiterz ist nach dem Ort Le Baux in Südfrankreich benannt, wo es 1821 entdeckt wurde. Die Vorkommen des überwiegend im Tagebau gewonnenen Bauxits sind etwa zu 90 % auf die Länder des Tropengürtels konzentriert, s. Bild 22.1.1. Hauptfördergebiete sind Australien, Westafrika, Jamaika und Brasilien. Die derzeit bekannten Vorkommen von ca. 140 Mrd. Tonnen reichen für mehrere Jahrhunderte. Die Abbauflächen werden rekultiviert und aufgeforstet (Annon. 1991).
738
22 Gewinnung, Recycling, Ökologie
Bild 22.1.1 Die reichsten Bauxitvorkommen in der Welt (Annon. 1991)
Die Zusammensetzung des Bauxits für die technische Aluminiumgewinnung entspricht etwa den Angaben in Tabelle 22.1.2 (Hufnagel 1988). Im Bauxit liegt Aluminium in Form des Trihydroxids (Al(OH)3) oder in Form des Monohydroxids (AlOOH) vor. Tabelle 22.1.2 Zusammensetzung des Bauxits Bestandteil
Gew.-%
Aluminiumoxid (Al2O3) Eisenoxid (Fe2O3) Siliziumdioxid (Kieselsäure) (SiO2) Titandioxid (TiO2) Glühverlust Aluminiumgehalt
50–55 % 0–30 % bis 5 % bis 2,5 % 12–25 % 20–30 %
Die westlichen Industriestaaten, die über keine oder nur unzureichende eigene Bauxit-Vorkommen verfügen, haben als Ausweichmöglichkeit riesige einheimische Vorkommen an potentiellen alternativen Aluminiumrohstoffen aufzuweisen, vornehmlich in Form von Aluminiumsilikaten (Tone, Steinkohleascheberge, Anorthosit). Die Gewinnung von Aluminiumoxid aus diesen Armerzen mit 10 bis 20 Masse-% Aluminium, die ein Rohstoffpotential für die Zukunft darstellen, erfordert eine andere chemische Prozeßtechnik (saurer Aufschluß) und heute noch höheren Energieaufwand und ist daher noch nicht wirtschaftlich.
22.1 Primäraluminium
739
22.1.2 Gewinnungsprozeß Infolge der starken Neigung des Aluminiums, sich mit Sauerstoff zu verbinden, ist die übliche thermische Reduktion mit Kohlenstoff oder durch wäßrige Elektrolyse nicht möglich. Die Gewinnung von Aluminium aus Bauxit in industriellem Maßstab beruht auf der Erfindung von Charles Martin Hall (USA) und Paul L.T. Hérault (Frankreich), die gleichzeitig und unabhängig voneinander im Jahre 1886 die Patente für den noch heute üblichen Prozeß der Schmelzflußelektrolyse hinterlegten. Zusammen mit den Patenten von K.J. Bayer (Österreich) zur Aluminiumoxidgewinnung aus den Jahren 1887 − 1892 wurde die Grundlage für die lebhafte Entwicklung der industriellen Nutzung des Aluminiumwerkstoffs gelegt. Die Erzeugung von Aluminium erfolgt in 2 Prozeßstufen: 1. Gewinnung von Aluminiumoxid 1, 2. Reduktion des Oxids zu metallischem Aluminium. Gewinnung von Aluminiumoxid
Beim sog. Bayer-Verfahren wird der grobstückige Rohbauxit nach einer Vorzerkleinerung unter Zusatz von Aufschlußlauge gemahlen. Der gemahlene Bauxit wird mit Aufschlußlauge mit einer Konzentration von 200–350 g/l Na2O gemischt und in Autoklaven oder in Rohrreaktoren bei 160– 270°C aufgeschlossen. Temperatur, Aufschlußdauer und Konzentration der Lauge sind von der Art des Bauxits abhängig. Aluminiumoxid geht als Natriumaluminat in Lösung. Die übrigen Bestandteile des Bauxits (Eisenoxid, Titanoxid und Siliziumdioxid) bleiben ungelöst im Rückstand, dem sog. Rotschlamm. Nach dem Aufschluß wird die Natriumaluminatlauge mit aus dem Kreislauf zurückkehrender Waschlauge auf eine niedrigere Alkalikonzentration (100–170 g/l Na20) verdünnt und in Eindicker überführt. Der eingedickte Rotschlamm wird anschließend auf Vakuum-Trommelfiltern praktisch alkalifrei gewaschen und abgetrennt. Die Natriumaluminatlauge wird nach einer Klarfiltration durch Wärmetauscher auf ca. 60 °C abgekühlt, in sog. Ausrührern mit Impfstoff (Aluminiumhydroxid aus der Produktion) versetzt und „ausgerührt“. Die Hauptmenge des gelösten Aluminiums fällt als Aluminiumhydroxid aus und wird über Vakuum-Trommelfilter abgetrennt. Die zurückbleibende Lauge, die den Rest des gelösten Aluminiums enthält, wird eingedampft und als Aufschlußlauge wieder verwendet.
1
früher als Tonerde bezeichnet
740
22 Gewinnung, Recycling, Ökologie
Das Aluminiumhydroxid wird sorgfältig gewaschen und anschließend in Drehrohröfen (Durchmesser bis zu 3 m, Länge bis zu 70 m) oder in Wirbelbettöfen durch Erhitzen auf 1200–1300 °C zu Aluminiumoxid (Al2O3) kalziniert. Das Oxid hat einen relativ hohen Reinheitsgrad. Es enthält etwa 0,01–0,02% Fe2O3 und ebensoviel SiO2, daneben etwa 0,5% Na2O. Der Prozeßablauf des Bayer-Verfahrens ist schematisch in Bild 22.1.2 dargestellt. Durch die Verfahrensverbesserungen konnten deutliche Verbesserungen im Energieverbrauch und in den Emissionen erzielt werden. Moderne Oxidwerke haben einen Wärmebedarf von weniger als 10 GJ/t Oxid.
Bild 22.1.2 Prozeßschema des Bayer-Verfahrens zur Aluminiumoxidgewinnung
Gewinnung von Primäraluminium
Die Reduktion des Aluminiumoxids erfolgt bei 950-970° C kontinuierlich mit dem Prozeß der Schmelzflußelektrolyse, und zwar in einem Elektrolyt, der aus geschmolzenem Kryolith (Na3AlF6) besteht, in dem 5 bis 7% Al203 gelöst sind. Auf diesem Wege wird der hohe Schmelzpunkt des Al203 von 2050 °C deutlich reduziert. Die Elektrolyseöfen bestehen aus mit Kohlenstoffsteinen ausgekleideten Stahlwannen, in deren Böden die Kathodenzuleitungen eingebettet sind, s. Bild 22.1.3. Das abgeschiedene flüssige Aluminium bildet die Kathode. Die Anode besteht aus vorgebrannten Blöcken aus Petrolkoks und Pech und verzehrt sich durch Reaktion mit dem durch die Reduktion freiwerdenden Sauerstoff zu Kohlenmonoxid (CO) und Kohlendioxid (CO2), dem sog. Anodengas. In der an Aluminiumoxid verarmenden Kryolithschmelze wird durch Mittenbeschickung frisches Al203 zugesetzt und gelöst. Das erzeugte Metall wird abgesaugt, der Gießerei als Flüssigmetall oder in Mas-
22.1 Primäraluminium
741
selform zugeführt und anschließend zu Gußlegierungen für Formgußteile oder zu Stranggußlegierungen für Walz- und Preßbarren verarbeitet.
Bild 22.1.3 Querschnitt durch eine moderne Elektrolysezelle mit vorgebrannten Anoden und Mittenbeschickung
Die charakteristischen Prozeßdaten der Elektrolyse enthält Tabelle 22.1.3. Man sieht, daß der Dichteunterschied zwischen Kryolithschmelze und flüssigem Aluminium bei den Prozeßtemperaturen nur geringfügig, jedoch ausreichend ist, um die Trennung zwischen Metallschmelze und Elektrolyt zu sichern. Der Reinheitsgrad des in der Elektrolyse gewonnenen Metalls beträgt bis zu 99,8 %, gegebenenfalls bis zu 99,9 %. Tabelle 22.1.3 Prozeßdaten für die Aluminiumelektrolyse Stoffe: Elektrolyt: Dichte von Kryolith bei 950 - 980 °C: Löslichkeit für Al203 bei 950 - 980 °C: Al203-Schmelzpunkt: Al-Dichte bei 950 - 980 °C: Anode, Kathode: Stromversorgung:
Kryolith (Na3AIF6) 2,1 g/cm³ ca. 10 % 2050 °C ca. 2,35 g/cm³ Kohlenstoff
Zellenspannung: Zellenstromstärke: Stromverbrauch pro kg Aluminium:
4 - 4,5 V 12,5–15 KWh bis 350 kA
742
22 Gewinnung, Recycling, Ökologie
Energiebasis der Primäraluminiumerzeugung
Die Kosten für den Elektrolysestrom sind ein wesentlicher Teil der Erzeugungskosten von Primäraluminium. Deshalb ist nicht nur aus Umweltgesichtspunkten, sondern vor allem aus wirtschaftlichen Erwägungen die Senkung des Stromverbrauchs und eine preiswerte Energiebasis für die Primäraluminiumindustrie von entscheidender Bedeutung. Für die elektrolytische Erzeugung von einer Tonne Aluminium aus Aluminiumoxid sind heute durchschnittlich 13,5 MWh an elektrischer Energie erforderlich. Noch vor 40 Jahren wurden dafür rund 20 MWh gebraucht. Diese Stromeinsparung um ein Drittel konnte allein durch Verbesserungen der Prozeßtechnik erreicht werden, obwohl der grundsätzliche Elektrolyseprozeß bezüglich der Einsatzstoffe und Reaktionen unverändert geblieben ist. An der Deckung des Energiebedarfs für die Aluminiumerzeugung hat Wasserkraftenergie in der westlichen Welt einen erheblichen Stellenwert erlangt. Während Strom aus Wasserkraftwerken zur Deckung des Weltenergieverbrauchs im Jahre 1988 nur 6,6% beitrug, ist sein Anteil an der Energieversorgung von Aluminiumelektrolysehütten im Vergleich dazu auf etwa 61 % beachtlich angestiegen. Neue Wasserkraftwerke werden meist in entlegenen geographischen Gebieten errichtet. Der Transport elektrischer Energie per Kabel ist mit Verlusten verbunden. Da die für die Aluminiumerzeugung aufgewandte Energie im Metall „gespeichert“ bleibt, kann die gespeicherte Energie über große Entfernungen verlustfrei transportiert werden. Wegen des hohen Warenwertes und günstiger Transporteigenschaften spielen die Transportkosten keine entscheidende Rolle bei den Metallkosten.
22.2 Sekundäraluminium Sekundäraluminium wird durch Einschmelzen metallischer Rohstoffe erzeugt, die vornehmlich aus Altschrotten (Produkte), Neuschrotten (Fabrikationsschrotte) und Krätze (aus dem Gießprozeß) bestehen. Es handelt sich bei diesen Sekundärrohstoffen für die Aluminiumproduktion allgemein um legierte Schrotte – im Gegensatz zum unlegierten Primäraluminium. Aus ökologischer und ökonomischer Sicht ist bemerkenswert, daß für die Aufbereitung zu Sekundäraluminium bis zu 95 % weniger Energie als zur Primärerzeugung benötigt wird.
22.2 Sekundäraluminium
743
22.2.1 Ressourcen und Verwendung Sekundäraluminium wird aus Kreislaufmaterial gewonnen, das je nach Ursprung mit anhaftenden organischen und metallischen Fremdstoffen mehr oder weniger verunreinigt ist, aus vermischten Aluminiumlegierungen besteht, aber auch aus sortierten, legierungsreinen Produktionsschrotten gewonnen wird. Neuschrotte aus der Halbzeugverarbeitung, insbesondere dann, wenn sie innerbetrieblich angefallen sind, werden meistens dem gleichen Verwendungszweck (Halbzeugherstellung) zugeführt, aber auch wegen der geringeren Legierungsgehalte Schmelzchargen aus hochlegierten Gußschrotten und Altschrotten zur Verdünnung zugesetzt. Sekundäraluminium aus der Altschrott- und Krätzeverwertung wird fast ausschließlich für die Herstellung von Gußlegierungen oder für Desoxidationszwecke in der Stahlerzeugung verwendet. Ein flächendeckendes Netz von Metallhändlern trägt Aluminiumschrotte zusammen, sortiert, preßt und klassifiziert diese Schrotte zum Verkauf an die Sekundäraluminiumhütten. Es gibt 22 verschiedene Schrottklassifikationen, die ein wirtschaftliches und effizientes Arbeiten ermöglichen. Klassifizierende Details sind in der 16-teiligen Euronorm EN 13920-Teil 1-16: 2003 geregelt. Der hohe Materialwert der Aluminiumschrotte deckt die Logistik- und Aufbereitungskosten und erlaubt einen wirtschaftlichen Materialkreislauf. Ein wesentlicher Grund für die hohen Erlöse, die sich für Aluminiumschrotte im Markt erzielen lassen, ist der große Bedarf der Formgießereien für Gußlegierungen auf Sekundäraluminiumbasis, die den Gußlegierungen auf teurerer Primärmetallbasis für viele Anwendungszwecke qualitativ ebenbürtig sind. 22.2.2 Materialkreislauf („Recycling“) Am Ende eines Produktlebens steht die Frage nach der Entsorgung. Begrenzte Ressourcen von Energie und Materialien, aber auch von Deponieraum, machen es notwendig, die Wiederverwendung und Wiederverwertung intensiv zu betreiben. Damit verbunden sind zunehmend wirtschaftliche Aspekte, da mit der Wiederverwertung und mit der Deponierung beträchtliche Kosten verursacht werden können. Die Rückführung von Aluminiumprodukten als Altschrotte ist eine bereits seit über einem Jahrhundert geübte, wirtschaftliche Praxis, s. Bild 1.2.1. Der hohe Schrottpreis am Markt macht die Schrottrückführung wirtschaftlich attraktiv und ist ein wesentlicher Faktor für die Wirksamkeit der Altmetallsammlung
744
22 Gewinnung, Recycling, Ökologie
und für hohe Recyclingquoten von Aluminiumprodukten. Bild 22.2.1 zeigt vermischte Aluminium-Altschrotte in einer Sekundäraluminiumhütte.
Bild 22.2.1 Vermischte Aluminium-Altschrotte in einer Sekundäraluminiumhütte (Quelle: VAW IMCO, Grevenbroich)
Der traditionelle Recyclingweg ist die Rückführung der Altschrotte in Umschmelzwerke zur Erzeugung von Sekundärlegierungen für den Formgußsektor. Vermischte Altschrotte müssen zunächst aufbereitet und von Verunreinigungen und anderen Metallen getrennt werden. Hierzu dienen Shredderanlagen, Magnetabscheider, Wirbelstromabscheider und Schwimm-Sink-Anlagen. Die herkömmliche Prozeßkette ist in Bild 22.2.2 dargestellt (Rink 1994). Die Aluminiumfraktion wird zusammen mit Produktionsschrotten (sortierte Neuschrotte) und gegebenenfalls Krätze aus den Gießereien im Trommelofen umgeschmolzen und zu speziellen Legierungszusammensetzungen gattiert. In traditionellen, gas- oder ölbefeuerten Drehtrommelöfen muß wegen der anhaftenden organischen Verunreinigungen (Öle, Lacke etc.) unter einer vermehrten Zugabe von Flußmitteln (Salze) geschmolzen werden. Anfallende Salzschlacke wird heute wegen hoher Deponiekosten aufbereitet. Filterstäube sind toxische Abfälle, die als Sondermüll deponiert werden müssen. Das Recycling lackierter Schrotte erfolgt in besonderen Herdöfen, bestehend aus Vorwärmkammer, Vorherd und Hauptherd. In der Vorwärmkammer wird das eingesetzte Gut mit rückgeführten Abgasen erwärmt. Im Vorherd schwelen die organischen Bestandteile ab, und die Schwelgase werden wegen ihres Heizwertes in den Heizprozeß zurückgeführt. Der Prozeß arbeitet dadurch mit wesentlich geringeren Mengen an Salzen (ca.
22.3 Versorgungslage in Deutschland
745
25 kg/t Aluminium gegenüber 65 kg/t in Trommelöfen) und günstigen Energiekosten.
Bild 22.2.2 Traditionelles Recyclingschema für Aluminiumaltschrotte
Angesichts der Bedeutung sortenreiner Schrottsortierung muß es das Ziel von Produktentwicklungen sein, Konstruktion und Werkstoffwahl auf die späteren Entsorgungsverfahren abzustimmen. Einen hilfreichen Ansatz zu dieser Vorgehensweise bietet die VDI-Richtlinie 2243 (VDI 2002). Andererseits müssen aber auch die metallurgischen Prozesse weiterentwickelt werden, um energetisch vertretbare Raffinationsprozesse zu entwickeln und bei größeren Toleranzen für Verunreinigungen aus den Kreislaufprozessen gleichbleibende, hochwertige Qualitätsstandards zu wahren. Auf eine neuere, umfassende Darstellung des Aluminium-Recycling durch die Vereinigung Deutscher Schmelzhütten e.V. sei an dieser Stelle verwiesen (Krone 2000) sowie auf weitere aktuelle Literatur (EAA-OEA 2005).
22.3 Versorgungslage in Deutschland Die Zeiten, in denen die Versorgung der nationalen Industrie mit Rohaluminium eine strategische Bedeutung hatte und die damit beauftragte Industrie in staatlicher Hand war, sind glücklicherweise vorbei. Primäraluminium wird heute global gehandelt, was infolge der hohen Energiepreise in Deutschland zu einem steten Produktionsrückgang und Schließen der Primäraluminiumhütten geführt hat. Im Jahr 2006 existieren von ehemals 10 nur noch 3 operative Primärhütten, deren Bestand auch wohl nicht als gesichert gelten kann. Die Versorgung der Halbzeugindustrie mit Primär-
746
22 Gewinnung, Recycling, Ökologie
aluminium (2005: 2,312 Mio. t) muß demnach zu etwa 80% durch Importe erfolgen, deren Preisstellung durch die Metallbörse (LME) in London bestimmt wird. Das Schließen der hocheffizienten und qualitativ anspruchvollsten Produktionsstätten im Inland konnte und kann durch langfristige Kontrakte und internationale Beteiligungen verschmerzt werden, hat jedoch über die unmittelbare Versorgung hinausgehende Konsequenzen, s. hierzu die Bemerkungen im Vorwort dieses Buches. Im rohstoff- und energiearmen Deutschland ist Aluminium-Recycling ein fester Bestandteil der Versorgung mit Aluminium geworden. Aluminiumschrotte sind geradezu eine nationale Rohstoffquelle. Die Versorgung der Gießereiindustrie mit Sekundäraluminium beruht fast vollständig auf inländischer Produktion (2005: 727 200 t), die fast 25% des Bedarfs an Rohaluminium (2005: ca. 3,04 Mio. t) bestreitet. Die Problematik dieser eigenen Versorgung besteht allerdings in der lebhaften industriellen Entwicklung von mächtigen Volkswirtschaften, wie China und Indien, die noch nicht über genügend eigene Ressourcen an Schrottrückläufen verfügen, wodurch sich globale Schrottströme entwickelt haben, die auch Rückwirkungen auf die Versorgung im Inland haben werden.
22.4 Ökologische Betrachtungen 22.4.1 Ökobilanzen (Life Cycle Assessment) Es ist ein Wesensmerkmal von Industriewerkstoffen, daß sie im Gegensatz zu Naturstoffen durch eine Serie von Prozeßstufen aus minderwertigen Roh- oder Vorstoffen gewonnen und zu höherwertigen Gebrauchswerkstoffen verarbeitet werden. Die natürlich existierenden Ressourcen dieser Rohstoffe sind begrenzt, sie wachsen nicht nach. Der Abbau der Lagerstätten und der notwendige Transport greifen in die natürliche Umwelt ein, und die Gewinnungsprozesse emittieren flüchtige, wasserlösliche und feste Reststoffe und Abfälle, deren Weiterverwendung und Weiterverwertung unter heutigen Kostengesichtspunkten häufig nicht wirtschaftlich sind. Auch die für den industriellen Gewinnungsprozeß erforderliche Energie ist ein wichtiges Kriterium bei der Abwägung zwischen Nutzen-, Ressourcenund Umweltfaktoren. Diese Gesichtspunkte gelten insbesondere dann, wenn es sich beim betrachteten Werkstoff um ein mengenmäßig wichtiges Gebrauchsmaterial handelt, dessen Produktion, Verarbeitung und Entsorgung Auswirkungen haben kann, die für die Umwelt nicht mehr nur lokales, sondern globales Ausmaß haben können.
22.4 Ökologische Betrachtungen
747
Unter dem Gesichtspunkt begrenzter Ressourcen ist Aluminium gegenüber anderen Industriewerkstoffen (Ausnahme Silizium) in einer vergleichsweise günstigen Situation, s. Tabelle 22.1.1. Die Problematik besteht jedoch darin, daß die Gewinnung nach den heutigen Verfahren die Verfügbarkeit preisgünstiger elektrischer Energie voraussetzt, die gerade in den industrialisierten Ländern eine knappe Ressource ist. Der Wunsch, einen Werkstoff oder ein Produkt nicht nur nach technischen und wirtschaftlichen Kriterien zu bewerten, sondern auch ökologische Bewertungsmaßstäbe zu berücksichtigen, hat zur Entwicklung sogenannter Ökobilanzen (LCA = Life Cycle Assessment) geführt. Darunter versteht man die Bestandsaufnahme aller umweltrelevanten Faktoren, Stoff- und Energieumsätze, die im Zusammenhang mit der Herstellung, dem Gebrauch und der Entsorgung eines Produktes Auswirkungen auf Boden, Luft und Wasser haben können. Derartige Bilanzen betrachten also nicht nur den „Input/Output“ auf der Erzeugungsstufe, sondern auch den Nutzungsteil während des Produktlebens und die Entsorgung am Ende der Nutzungsphase. Bild 22.4.1 stellt eine Beschreibung des Umfangs und der Zielsetzung einer Ökobilanz dar (Eyerer et al. 1993). So sinnvoll die Aufstellung von Ökobilanzen erscheint, so problematisch ist andererseits die Durchführung. Es müssen genaue Rahmenbedingungen und Systemgrenzen festgelegt werden, innerhalb derer eine Bilanz aufgestellt werden kann. Besonders problematisch wird die Bewertung einzelner Ergebnisse, da eindeutige, wissenschaftlich fundierte Kenntnisse der Zusammenhänge mit umweltrelevanten Auswirkungen vorhanden sein müssen und die Wertmaßstäbe gesellschaftlichen und politischen Strömungen unterliegen und laufend neu definiert werden. Die Erstellung von Ökobilanzen zum Zwecke von objektiven, belastbaren Aussagen und zu Vergleichszwecken muß daher unter Einhaltung strikter Regeln und Vorschriften erfolgen, die in EN-ISO 14040 internationale Anerkennung erlangt haben. Die Verfügbarkeit und Nachvollziehbarkeit der für die Sachbilanz erforderlichen, zuverlässigen Daten stellen ein Problemfeld dar. Für die Aluminiumgewinnung und -verarbeitung sind auf europäischer Ebene solche Datensammlungen erstellt worden. Der Zugang zu diesen Daten ist über die nationalen Verbände oder die einschlägige Industrie möglich. Eine Zusammenfassung relevanter Daten in einer Gewichtung der europäischen Industrieverhältnisse enthalten die Tabellen A.5.a-c (Anhang) für die Oxidgewinnung und die Erzeugung von Primär- und Sekundäraluminium (EAA 1996). Die Auswahl der Daten orientiert sich an heutigen Praktiken in Europa und berücksichtigen indirekten Energieverbrauch für die Bereitstellung und für den Transport. Für Ökobilanzrechnungen muß man jedoch auf die relevanten, vollständigen Datensätze zurückgreifen. Weitere
748
22 Gewinnung, Recycling, Ökologie
aktuelle Daten und Fakten findet man auf der Website der European Aluminium Association (www.eaa.net) sowie in Datenbanken, wie www.gabisoftware.com/ und http://lca.jrc.ec.europa.eu/.
Bild 22.4.1 Drei Dimensionen der ganzheitliche Bilanzierung von Produkten und Bauteilen: Pflichtenheft, Produktzyklus und Bilanzströme
Unter Umweltgesichtspunkten stellen sich beim Umgang mit dem Werkstoff Aluminium wegen seines bei der Gewinnung vergleichsweise hohen Energieverbrauchs in der primären Gewinnungsstufe Fragen nach dem ökologischen Nutzen von Aluminiumanwendungen, z.B. beim Bau von Automobilen. Ökologische Bilanzierungen von aluminiumintensiven Mittelklassewagen ergeben eine ca. 15% höhere Energiebilanz bei der Herstellung gegenüber einer normalen Stahlkarosserie, jedoch eine deutlich positive Bilanz zugunsten des Aluminiumfahrzeugs bei Bilanzierung über den gesamten Lebenszyklus infolge der Treibstoffeinsparungen. Eine selbst bei der Herstellung positive Bilanz erhält man durch intensive Anwendung von Sekundär- anstelle von Primäraluminium (Haldenwanger et al. 1993). Berücksichtigt werden sollte auch, daß der Restwert am Ende des Lebenszyklus eines aluminiumintensiven Fahrzeugs ungleich höher als bei einem Stahlfahrzeug ist. Reale Stoffkreisläufe führen immer zu Verlusten, die ersatzweise mit neuen Rohstoffen aufgefüllt werden müssen. Auch müssen die Kreislaufmaterialien mit primären Stoffen „verdünnt“ werden, um die nachteiligen Wirkungen von im Kreislauf eingetragenen Verunreinigungen auszuschalten. In vielen Fällen können darüber hinaus die Anforderungen an die Werkstoffqualitäten heute nur durch den Einsatz von reinen, primären Rohstoffen erfüllt werden. Die Vorstellung von geschlossenen Werkstoff-
22.4 Ökologische Betrachtungen
749
kreisläufen ist also heute noch eine Utopie, für deren Verwirklichung noch erhebliche technologische Anstrengungen notwendig sind. 22.4.2 Energiefragen der Aluminiumgewinnung Aus der Beschreibung der Herstellungsverfahren von Primär- und Sekundäraluminium, s. Abschn. 22.1 und 22.2, kann zusammenfassend festgehalten werden, daß folgende drei Energiearten verwendet werden: − Wärmeenergie (Dampf, Kalzinier-, Schmelz- und Wärmebehandlungsofenheizung) − elektrische Energie (Elektrolyse; Antriebsenergie) − fossile Hilfsstoffe als Energieträger (Kathoden- und Anodenkohle, Walz- und Schmieröle etc.) Für die Erzeugung von Wärmeenergie wird vorwiegend auf Erdgas, Erdöl und Kohle als sogenannte Primärenergieträger zurückgegriffen. Elektrische Energie dagegen ist Sekundärenergie und wird in Kohle-, Heizöl-, Wasserkraft- und Kernkraftwerken erzeugt. Um eine einheitliche Energiebetrachtung und Vergleiche des Energieinhaltes verschiedener Werkstoffe anzustellen, ist es notwendig, die verwendeten Energieformen in vergleichbaren Energieeinheiten auszudrücken. Es hat sich als zweckmäßig erwiesen, die Energieinhalte (Heizwert) der fossilen Brennstoffe einheitlich in Joule (bzw. SKE = Steinkohleeinheit oder Kcal) auszudrücken. Elektrische Energie läßt sich in Wärmeäquivalente umrechnen: 1 kWh = 3600 Joule = 3,6 MJ (bzw. = 860 kcal oder = 0,123 SKE). Die Umwandlung der Heizwerte fossiler, primärer Brennstoffe in elektrische Energie in Wärmekraftwerken geschieht jedoch mit Wirkungsgraden von nur 0,33 bis 0,38; d.h. das Wärmeäquivalent einer kWh, erzeugt aus fossilen Brennstoffen, entspricht fast der 3-fachen Primärenergiemenge (10 MJ). Eine derartige Umrechnung von elektrischer Energie in Primärenergie ist aber insofern irreführend, als nicht alle Elektroenergie mit fossilen Brennstoffen erzeugt wird, sondern auch in Kernkraft- und Wasserkraftwerken. Welcher durchschnittliche Umrechnungswert, bezogen auf den Anteil fossiler Brennstoffkraftwerke herangezogen wird, hängt von dem jeweils betrachteten geographischen Gebiet ab. In Gebieten wie z.B. Norwegen, Island, Kanada beruht die Stromerzeugung überwiegend auf Wasserkraft, während in der Bundesrepublik die Stromerzeugung vorwiegend auf Braunkohle basiert. Da die Aluminiumhütten immer in der unmittelbaren Nähe der Stromerzeugung liegen, sind Zuordnungen zu den Energieressourcen möglich. Gleichzeitig sind die Transmissionsverluste gering.
750
22 Gewinnung, Recycling, Ökologie
Wie in Abschn. 22.3 ausgeführt wurde, ist Deutschland ein Nettoimportland für Primäraluminium. Die gleiche Feststellung gilt für das übrige, westliche Europa, das 35% seines Bedarfs aus der westlichen Welt deckt. Die Energieressourcen für Produkte aus Primäraluminium, die in Europa hergestellt werden, verteilen sich nach dem Schlüssel in Tabelle 22.4.1 (EAA 1997). Um den Strombedarf der Elektrolyse in wärmeäquivalenten Einheiten auszudrücken, ergibt sich aus dem europäischen Ressourcenmix ein Primärenergiebedarf von 6 MJ für 1 kWh. Tabelle 22.4.1 Europäisches Energieressourcenmodell für Primäraluminiumprodukte nach EAA (1998: 65% Europa, 35% westliche Welt) Energieart Wasserkraft Kernkraft Kohle Erdgas Erdöl
Anteil für Primäraluminiumerzeugung 44,6% 24,7% 20,6% 4,6% 5,5%
Die Schwierigkeiten in der Festlegung eines für die Aluminiumerzeugung einheitlichen Umrechnungsfaktors von elektrischer Energie in Primärenergie ist der Grund für die Vielzahl divergierender und widersprüchlicher Angaben über den Energieverbrauch. Je nach Argumentationsbasis kann man jeden beliebigen Wert in der Literatur finden. Man muß daher die Herkunft der Angaben genau prüfen, will man irreführende Schlußfolgerungen vermeiden. Bei der Erzeugung von Sekundäraluminiumlegierungen durch Umschmelzen von Schrotten werden deutlich geringere Mengen an Energie benötigt, wie die Daten in Tabelle A.5.c (Anhang) zeigen. Die Emissionen und Mengen der Abfallstoffe sind ebenfalls wesentlich niedriger als bei der Primäraluminiumerzeugung. Für die in Tabelle A.5.c enthaltenen Emissionswerte wurden europäische Mittelwerte verwendet (Quelle: EAA, 1996). Sie sind nur als Anhaltswerte für mengenmäßig umweltrelevante Emissionen anzusehen. Im konkreten Fall sind die Emissionswerte anlagenbedingt und hängen von dem Stand der installierten Abgasanlagentechnik und der Temperaturführung im Schmelzprozeß ab. Problematisch ist die Prozeßführung beim Umschmelzen organisch verunreinigter Schrotte, wenn im Verbrennungsraum zu niedrige Temperaturen herrschen, bei denen das Entstehen von Dioxinen und PAK (polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe) nicht wirksam unterdrückt werden kann (Knutsson 1992). Moderne Anlagen liegen in diesen kritischen Emissionswerten weit unter den zulässigen Grenzwerten.
22.4 Ökologische Betrachtungen
751
Der Energiebedarf für die Halbzeugherstellung richtet sich nach der Art des Halbzeugs, den Produktionsanlagen und Fertigungsabläufen sowie nach der Art der Legierung. Vorwiegend handelt es sich dabei um die elektrische Energie für den Betrieb der Produktionsanlagen und um die thermische Energie für die Wärmebehandlungsprozesse. Für großvolumige Massenfabrikate gelten dabei günstigere Werte als für Spezialitäten. Als Orientierungswert kann man von einen Energiebedarf in wärmeäquivalenten Einheiten von etwa 5 bis 12 MJ/kg ausgehen. Für genauere Angaben bedarf es einer detaillierteren Spezifizierung des Energieressourcenmix und des Fertigungsablaufs.
Anhang
Tabelle A.1.1. Tabelle A.1.2. Tabelle A.1.3. Tabelle A.1.4. Tabelle A.1.5. Tabelle A.1.6. Tabelle A.1.7. Tabelle A.1.8. Tabelle A.2.1. Tabelle A.2.2.a. Tabelle A.2.2.b. Tabelle A.2.2.c. Tabelle A.2.2.d. Tabelle A.2.3. Tabelle A.3. Tabelle A.4. Tabelle A.5.
Chemische Zusammensetzung von ausgewählten Aluminiumknetlegierungen Typische Festigkeitseigenschaften ausgewählter Aluminiumknetlegierungen Physikalische Eigenschaften ausgewählter Aluminiumknetlegierungen Korrosionsverhalten und Anodisierbarkeit ausgewählter Aluminiumknetlegierungen (qualitativ) Verarbeitungseigenschaften ausgewählter Aluminiumknetlegierungen (qualitativ) Blechkennwerte ausgewählter Aluminiumknetlegierungen Kaltfließkurven ausgewählter Aluminiumknetlegierungen Warmfließkurven ausgewählter Aluminiumknetlegierungen Chemische Zusammensetzung von ausgewählten Gußlegierungen nach DIN EN 1706 Mechanischen Eigenschaften von gebräuchlichen Legierungen für Sandgußformteile nach DIN EN 1706 Mechanischen Eigenschaften von gebräuchlichen Legierungen für Kokillengußformteile nach DIN EN 1706 Mechanischen Eigenschaften von gebräuchlichen Legierungen für Feingußformteile nach DIN EN 1706 Mechanischen Eigenschaften von gebräuchlichen Legierungen für Druckgußformteile nach DIN EN 1706 Physikalische Eigenschaften und Bearbeitungseigenschaften von ausgewählten Gußlegierungen Liste wichtiger Normen für Aluminiumwerkstoffe (Stand November 2006) Normen zur Prüfung, Verarbeitung, Anwendung und konstruktiven Berechnung Stoff- und Energiedaten für die (a) Oxidgewinnung (b) Primäraluminiumerzeugung (c) Sekundäraluminiumerzeugung
754
Anhang
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