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German Pages 289 [292] Year 1971
A N T I K E U N D O R I E N T IM MITTELALTER
M I S C E L L A N E A
M E D I A E V A L I A
VERÖFFENTLICHUNGEN DES THOMAS-INSTITUTS D E R U N I V E R S I T Ä T ZU K Ö L N H E R A U S G E G E B E N VON PAUL W I L P E R T UNTER MITARBET V O N W I L L E H A D PAUL E C K E R T
BAND 1 A N T I K E U N D O R I E N T IM M I T T E L A L T E R
W DE G WALTER D E GRUYTER · B E R L I N · NEW YORK 1971
ANTIKE UND ORIENT IM MITTELALTER V O R T R Ä G E DER K Ö L N E R MED I A E V I STENTAGLI Ν GEN 1956—1959
H E R A U S G E G E B E N V O N PAUL WILPERT U N T E R M I T A R B E I T VON W I L L B H A D P A U L E C K E R T
ZWEITE D U R C H G E S E H E N E AUFLAGE
W DE G WALTER D E G R U Y T E R · B E R L I N · NEW Y O R K 1971
MIT BEITRÄGEN
VON
K A R L BOSL · HEINRICH DÖRRIE · GÉRARD VERBERE · PAUL WILPERT HEINRICH HUSCHEN · JOSEPH EHRENFRIED HOFFMANN · KURT VOGEL HEINRICH SCHIPPERGES · MARIE THÉRÈSE D'ALVERNY · RICHARD WALZER GEORGES ANAWATI · RICHARD KONETZKE · PIERRE MICHAUD-QUANTIN JÜRGEN SYDOW UND BERYL SMALLEY
I S B N 3 11 0 0 2 3 9 5 4 © 1962 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Vellage» ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck Walter de Gruyter, Berlin 30 Printed in Germany
VORWORT ZUR 2. AUFLAGE Der erste Band der Miscellanea Mediaevalia, von meinem Vorgänger Paul Wilpert 1962 herausgegeben, ist seit längerer Zeit vergriffen. Die Publikationsreihe der Kölner Mediävistentagungen, die inzwischen sieben Bände umfaßt, hat erfreulicherweise ein so großes Interesse gefunden, daß es wünschenswert erscheint, sie wieder vollständig zugänglich zu machen. Ich habe daher dem Vorschlag des Verlages, einen Nachdruck des ersten Bandes zu veranstalten, gerne zugestimmt. Im Einvernehmen mit den Autoren wird der Text der Beiträge — bis auf geringfügige Korrekturen und einige bibliographische Nachträge — unverändert wiedergegeben. Köln, im März 1971
ALBERT ZIMMERMANN
VORWORT Die Arbeit eines Forschungsinstituts vollzieht sich in der Stille. Wenn sich ein solches Institut obendrein nicht einer bestimmten einzelnen Forschungsaufgabe widmet, sondern sich, wie das Thomas-Institut an der Universität Köln, den verschiedenen Anliegen philosophiegeschichtlicher Forschung in ihrer ganzen Breite eröffnet, so wird dieses Institut zwar ein wertvolles und brauchbares Instrument, dessen sich andere Institutionen zur Durchführung ihrer Aufgaben bedienen, aber es tritt nicht selbst als Institut vor die Öffentlichkeit. Es ist unser Stolz, daß wir in dem zwölfjährigen Bestehen unseres Instituts solche dienende Arbeit leisten konnten. Es hat sich ergeben, daß die Dokumentation und die bei einer großen wissenschaftlichen Ausgabe unentbehrliche Hilfsarbeit für die Cusanus-Edition der Heidelberger Akademie der Wissenschaften im Thomas-Institut konzentriert wurde. Ebenso sammelt das Thomas-Institut für die Neubearbeitung des Ueberweg die bibliographischen Unterlagen für die gesamte Geschichte der Philosophie. Es entspricht solcher Arbeit, daß das Institut seit drei Jahren die redaktionelle Arbeit für das vom Unterzeichneten in Verbindung mit Glenn Morrow neu belebte Archiv für Geschichte der Philosophie und für die begleitende Monographienreihe »Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie« leistet. Ganz von selbst erhebt sich aber auch der Wunsch, neben dieser dienenden Arbeit, die weiterhin unsere Hauptaufgabe bleiben soll, auch die Arbeit des Instituts selbst als solche sichtbar werden zu lassen. Es scheint uns deshalb angebracht, daß wir nach einem nunmehr zwölfjährigen Bestehen des Instituts uns ein Organ schaffen, das uns Gelegenheit gibt, vom eigenen Tun und Forschen auch vor der Öffentlichkeit Rechenschaft abzulegen. Das Institut ist bisher der Öffentlichkeit am stärksten durch die alljährlich von ihm veranstalteten Mediävistentagungen bekannt geworden. Ihre Ergebnisse nicht nur dem kleinen Kreis der jeweiligen Teilnehmer zugänglich zu machen, sondern sie auch für alle fruchtbar werden zu lassen, die geistig die Mediävistentagungen mittragen, wird die wichtigste Aufgabe der mit diesem Band eröffneten Publikationsreihe der Miscellanea Mediae valia sein. Die Vorträge der Mediävistentagungen, die nunmehr regelmäßig Jahr für Jahr als Sammelband unter dem Titel des Rahmenthemas der Tagungen erscheinen sollen,
Vili
Vorwort
werden auch in Zukunft das Kernstück dieser Veröffentlichungsreihe des Instituts sein. Daneben aber sollten die Miscellanea Mediaevalia in zwangloser Folge Berichte und Einzelvorträge bringen, die sich aus der Arbeit des Instituts, aus den am Institut gehaltenen oder von ihm veranstalteten Gastvorlesungen ergeben. Diese Publikationsreihe soll die Auffassung des Instituts unterstreichen, daß die Editionen und Forschungen zur Philosophie des Mittelalters einen der Schwerpunkte seiner Arbeit bilden und bilden müssen. Ähnlich wie die Mediävistentagungen will auch die Publikationsreihe sich nicht auf die Philosophie allein beschränken, obgleich diese im Mittelpunkt unseres Interesses steht. Sie will vielmehr die ganze Geistesgeschichte des Mittelalters zu Wort kommen lassen. Die Miscellanea Mediaevalia verstehen sich als ein Beitrag und als ein Organ des Gesprächs zwischen den Fakultäten und zwischen den Forschern, die sich in irgendeiner Weise mit dem Mittelalter beschäftigen. PAUL WILPERT
INHALTSVERZEICHNIS KARL BOSL
Die germanische Kontinuität im deutschen Mittelalter (Adel—König—Kirche) I. Kultur. Kontinuität und Kulturkonstanz II. Möglichkeiten und Formen der Begegnung III. Eigenkirchenrecht und Sakralrecht IV. Adelsherrschaft als germanische Konstante im deutschen Mittelalter V. Rache, Fehde, Friede — Heil. Germanische Substanz in Recht, Staat und Religiosität des Mittelalters
1 1 6 9 14 19
HEINRICH DÖRRIE
Porphyrios als Mittler zwischen Plotin und Augustin
26
GÉRARD VERBERE
Saint Thomas et le Stoïcisme
48
PAUL WILPERT
Philon bei Nikolaus von Kues
69
HEINRICH HÜSCHEN
Antike Einflüsse in der mittelalterlichen Musikanschauung. . .
80
J o s . E . HOFMANN
Vom Einfluß der antiken Mathematik auf das mittelalterliche Denken
96
KURT VOGEL
Der Anteil von Byzanz an Erhaltung und Weiterbildung der griechischen Mathematik Die erste Periode (408—829) Die zweite Periode (829—1222) Die dritte Periode (1222—1453)
112 116 119 123
HEINRICH SCHIPPERGES
Einflüsse arabischer Medizin auf die Mikrokosmosliteratur des 12. Jahrhunderts
129
X
Inhaltsverzeichnis
I. Mikrokosmostheorien der älteren Tradition 131 II. Der Durchbruch der humanistisch-arabischen Richtung . 137 III. Die Bedeutung der neuen Wissenschaften 145 Zusammenfassung 150 Quellenhinweise 151 MARIE-THÉRÈSE D'ALVERNY
Survivance de la Magie Antique
154
RICHARD WALZER
Arabische Übersetzungen aus dem Griechischen
179
GEORGES ANAWATI
Théologie Musulmane au Moyen Age 196 Introduction 196 Remarque Préliminaire 197 I. Sources de la Theologie Musulmane 197 II. Place du kalam dans l'ensemble savoir 204 1. Le De Scientiis de Färäbi 204 2. Autres auteurs. Conclusion de la deuxième partie . . . 208 III. Structure des Traités 209 Conclusion 217 RICHARD KONETZKE
Probleme der Beziehungen zwischen Islam und Christentum im spanischen Mittelalter 219 I. Kontinuität der spanischen Geschichte ? 220 II. Die wandernde Grenze 221 III. Die Reconquista ist kein eigentlicher Glaubenskrieg . . . 226 IV. Der Krieg fördert die adlige Lebenshaltung 232 V. Flüchtlings- und Vertriebenenprobleme 234 PIERRE MICHAUD-QUANTIN
Collectivités médiévales et institutions antiques
241
JÜRGEN SYDOW
Gedanken über die Auctoritas in der Kanonistik des frühen 13. Jahrhunderts (bis 1234) 253 B E R Y L SMALLEY
266
Problems of Exegesis in the fourteenth Century
266
ZUR EINFÜHRUNG Die Mediävistentagungen in Köln sind für viele zu einem festen Begriff geworden, die sich mit Problemen der Mittelalterforschung beschäftigen. Unter einem bestimmten Rahmenthema vereinigen diese Arbeitstagungen jeweils Referenten und Forscher der verschiedensten Sachgebiete zu gemeinsamem Gespräch. Seit langem ist an mich der Wunsch herangetragen worden, die Referate der Mediävistentagungen in jährlicher Folge zu veröffentlichen, damit der Beitrag den sie für die Forschung liefern, auch denen zugute komme, die nicht an der Tagung selbst teilzunehmen vermögen. Zwei Tagungen konnten durch den Begründer der Mediävistentagungen, Herrn Prälat Professor D. Dr. Josef Koch in der von ihm geleiteten Reihe : Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters herausgegeben werden1. Doch der Wunsch nach einer raschen Publikation im Anschluß an die jeweilige Tagung war damit noch nicht befriedigt. Nunmehr ist die Publikation der Vorträge der 11. und 12. Mediävistentagung (1960 und 1962) bereits in Vorbereitung. Sie wird dem Selbstverständnis des Berufs im Mittelalter gewidmet sein. Der hiermit der Öffentlichkeit übergebene 1. Band unserer Miscellanea Mediaevalia faßt die Referate der 7.—10. Mediävistentagung zusammen, die in den Jahren 1956—1959 vom Thomas-Institut an der Universität Köln veranstaltet wurden. Die lange Verzögerung der Publikation hat leider viele Referenten, die uns ihre Beiträge zur Veröffentlichung übergeben hatten, inzwischen veranlaßt, sie in Zeitschriften ihres Fachgebietes erscheinen zu lassen. Dem Wunsch nach vorzeitiger Veröffentlichung konnten wir uns um so weniger widersetzen, als sich der Erscheinungstermin des ersten Bandes immer wieder hinauszögerte. Es hatten jedoch so viele Verfasser mit uns Geduld, daß trotz aller Schwierigkeiten noch ein ansehnlicher Band zustande gekommen ist. Allen, die uns geholfen haben, diesen Band erscheinen zu lassen, und die uns über so viele 1
Die Vorträge der dritten Mediävistentagung 1962 erschienen als Band III der Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters unter dem Titel: Humanismus, Mystik und Kunst in der Welt des Mittelalters. Leiden — Köln 1963. Die Vorträge der sechsten Mediävistentagung 1955 tragen als Band V den Titel : Artes liberales. Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters. Leiden — Köln 1955.
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Zur Einführung
Jahre hinaus ihr Vertrauen geschenkt und ihre Treue gehalten, sagen wir für ihre Geduld herzlichen Dank. Die Referate werden so veröffentlicht, wie sie auf den Tagungen gehalten wurden. Auf eine Ergänzung durch später erschienene Literatur wurde bewußt verzichtet und ebenso, von kleinen Zufügungen abgesehen, auf weitergehende Umarbeitung. All das hätte nicht nur eine neuerliche Verzögerung der Drucklegung bedeutet, sondern auch den Eindruck des gehaltenen Yortrags stark verändert. Neben ihrem Beitrag zur Mittelalterforschung soll ja die Publikation auch einen Einblick in den lebendigen Vollzug der Mediävistentagungen selbst geben. Wenn wir trotz der Vielfalt der in diesem Band vereinigten Einzelthemen und trotz des Wechsels des Rahmenthemas bei den einzelnen Tagungen die Referate von vier Tagungen noch in einem in sich geschlossenen Band vorlegen können, so zeigt sich darin die Kontinuität des Planens und Arbeitens, die sich bei den Mediävistentagungen durchgesetzt hat. Unter dem Titel »Antike und Orient im Mittelalter« ließ sich zwanglos zusammenfassen, was Gegenstand unserer Forschungen und Diskussionen war. Man spricht heute gerne von der abendländischen Tradition und denkt dabei an die Linie der Kulturüberlieferung, die vom Griechentum über die griechisch-römische Antike ins christliche Rom und schließlich ins lateinische Mittelalter führte. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß gegen Ende des 5. Jahrhunderts die geistigen Kontakte zwischen dem griechischen Osten und dem lateinischen Westen abrissen und in der lateinischen Welt für Jahrhunderte nur das an griechischem Erbe weiterwirkte, was bereits in die eigene geistige Überlieferung eingegangen war. In sehr viel reicherem Bestand lebt dagegen die griechische Literatur über syrisch-arabische Übersetzungen in der islamische Welt des frühen Mittelalters weiter. Aus beiden Quellen, durch arabisch-lateinische und durch direkte griechischlateinische Übersetzungen, wurde dann dieses griechische Erbe mit seiner im islamischen Bereich vollzogenen Weiterbildung im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts dem lateinischen Mittelalter bekannt. Antike und Orient im Mittelalter bedeuten also nicht zwei unabhängig nebeneinanderstehende Themenkreise, sondern umschreiben die eine Frage nach dem geistigen Ort der Kultur des lateinischen Mittelalters in ihrem Zusammenhang mit der griechisch-römischen und römisch-christlichen Antike einerseits und der Transformation dieses Erbes im Bereich der islamischen Kultur andererseits. Daß dabei auch die Beiträge nicht übersehen werden dürfen, die von den neu in die Geschichte eintretenden germanischen Völkern dieser neuen einheitlichen mittelalterlich-lateinischen Kultur übermittelt wurden, versteht sich von selbst.
Zur Einführung
XIII
Es geht uns in den Mediävistentagungen nicht um große zusammenfassende Referate, sondern um gediegene Beiträge zur Einzelforschung, die das unerläßliche Material für eine Neugestaltung unseres Bildes vom Mittelalter liefern. Die umfassende Deutung bildet das Ziel, die Beiträge aber zeigen die moderne Forschung auf den verschiedensten Gebieten, der Theologie- und der Philosophiegeschichte, der Geistesund Verfassungsgeschichte, der Kunstgeschichte und der Geschichte der Einzeldisziplinen auf dem Weg. K A R L BOSL, der in seinen Forschungen den Nachwirkungen germanischer Lebensform, germanischer Rechts- und Religionsüberlieferung nachgeht, veranschaulicht in seinem Beitrag dieses Erbe am Beispiel der bayerischen Geschichte. Er versteht seinen Beitrag als notwendigen Gegenpol zu den kultur-, philosophie- und theologiegeschichtlichen Untersuchungen, die naturgemäß das griechisch-römische Vermächtnis an das Mittelalter herausarbeiten müssen. Drei Beispiele zeigen, in welcher mannigfachen Fragestellung die Forschung das Erbe der Antike im Mittelalter aufzuhellen versucht. Augustins beherrschende geistige Stellung im frühen Mittelalter ist bekannt. H E I N R I C H D Ö R R I E in Weiterführung der Forschungen W. T H E I L E R S , geht den Quellen des Augustinischen Neuplatonismus nach und weist Porphyrius als den wichtigsten Vermittler auf, an dem sich in Aneignung und Auseinandersetzung das augustinische Denken formt. Nicht so sichtbar wie der Neuplatonismus ist das Weiterwirken der Stoa im Mittelalter. G É R A R D V E R B E R E untersucht die direkten und indirekten Zeugnisse stoischer Begrifflichkeit und stoischen Denkens im Werke des Thomas von Aquino. Wichtiger als die unmittelbaren Zitate aus stoischen Autoren sind die indirekten Spuren stoischen Denkens, die gerade wegen der Unbewußtheit ihrer Herkunft sich stärker in das eigene Denksystem einpassen. Wie ganz anders der historische Blick des aus einer ungebrochenen geschichtlichen Tradition die Vergangenheit sehenden Mittelalters gegenüber unserer heutigen historisierenden Betrachtung war, weist der Unterzeichnete am Beispiel des im Mittelalter hochgeschätzten Philon von Alexandrien nach. Welche Assoziationen, so fragt er, weckte dieser Name im Geiste noch eines Nikolaus von Kues ? Wie verschieden ist aber auch im Mittelalter die Einschätzung von Musiktheorie und Musikausübung gegenüber unserer heutigen Auffassung! H E I N R I C H H Ü S C H E N zeigt die Bedeutung des Musiktheoretikers, der die Lehre von der Harmonie versteht und dessen Gedanken sich ebenso mit der Philosophie wie mit der Mathematik berühren. Die beiden Wege, auf denen die mittelalterliche Mathematik ihre Anregungen erhält, weist J O S E P H E H R E N F R I E D H O F M A N N nach. Was haben die arabischen Vermittler von der Antike übernommen, und wie haben sie es weitergebildet, was bedeutete ihre Anregung für das
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Zur Einführung
lateinische Mittelalter ? In dieser Form stellt sich die allgemeine Frage der Kulturüberlieferung dem Mathematikhistoriker. Daß daneben das antike Erbe eine eigene Weiterentwicklung in der griechisch-mittelalterlichen Kultur des byzantinischen Kaiserreiches fand, darauf weist KURT VOGEL am Beispiel der byzantinischen Mathematik hin. Seit den Kreuzzügen bis zum Ende des Mittelalters hat diese byzantinische Kultur auf den lateinischen Westen gewirkt. HEINRICH SCHIPPERGES zieht die Linien, die Hofmann für die Ma-
thematikgeschichte gezeichnet hat, in der Medizingeschichte nach. Er untersucht den Einfluß der arabischen Medizin auf die Mikrokosmosliteratur des 12. Jahrhunderts. Die Bemühungen der Schule von Chartres um ein Verständnis und eine Zuordnung von Makrokosmos und Mikrokosmos finden ihre Vorbilder im platonischen Timaios, der einzigen originalen Piatonschrift, welche die lateinische Welt in der Übersetzung des Chalcidius bis zum 15. Jahrhundert gut kannte. Die große Rezeptionswelle griechischer und arabischer Literatur seit dem Ende des 12. Jahrhunderts kam im wesentlichen der AristotelesKenntnis zugute. Neben dem Zeugnis platonischer Weltkonzeption und der sie weiterführenden Consolatio philosophiae des Boethius wurden die Werke arabischer Naturphilosophie und Medizin eifrig und vorurteilslos gelesen. Doch das Bild antiken Erbes wäre unvollständig und zu einseitig ideal, würden wir uns nicht auch an die Nachtseiten der Seele erinnern. Die Magie, bezeichnenderweise die schwarze Kunst genannt, führt als Geheimwissenschaft ein verstecktes, aber höchst wirksames Leben im Mittelalter. Mit unendlicher Geduld hat sich MARIE-THÉRÈSE D'ALVERNY neben ihren Studien zum kosmischen Symbolismus des 12. Jahrhunderts und zur Philosophie des Islam der Enträtselung der seltsamen Geheimformeln der Magie gewidmet. Ihre Ergebnisse sind nicht nur für die Kultur- und Religionsgeschichte von weittragender Bedeutung. Den Beziehungen der islamischen Kultur zur griechischen Antike widmet RICHARD WALZER seine Studien, die nicht nur eine seltene Sprachkenntnis, sondern ebenso Vertrautheit mit den geistigen Kräften des Griechentums und des Islams voraussetzen. Doch auch zwischen Islam und dem Christentum gibt es Gemeinsamkeiten, die beide von der antiken Religiosität abheben. Dieser Seite des geistigen Uberlieferungsprozesses geht GEORGES ANAWATI nach, während RICHARD
KONETZKE das Problem der Beziehungen zwischen Islam und Christentum in Spanien im Anschluß an höchst verschiedenartige Weisen des spanischen Selbstverständnisses neu aufrollt. Die ganze Vielfalt der Fragestellung, die in dem Thema der Wurzeln mittelalterlicher Kultur beschlossen liegt, wird sichtbar, wenn PIERRE MICHAUD-QUANTIN untersucht, welche antiken Institutionen den Zusammenbruch des Römischen Reiches überdauerten, ob und wie sie
Zur Einführung
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in mitteralteriiche Gemeinschaften und Gemeinschaftsformen aufgingen. Eine neue Prägung erfahren diese Gemeinschaften seit der Rezeption des römischen Rechts. Zunächst in der Kanonistik angewendet, wird es bald auch vom staatlichen Recht übernommen. J Ü R G E N S Y D O W betrachtet den zentralen Begriff der auctoritas in der Kanonistik des frühen 13. Jahrhunderts. Das wichtigste Erbe der Antike aber ist die Bibel. Ihre Interpretation ist bis zum späten Mittelalter Hauptaufgabe des Theologen. Die vornehmste und unaufgebbare Vorlesung jedes Magister Sacrae Theologiae einer mittelalterlichen Universität bis weit ins 15. Jahrhundert ist die exegetische. So darf im Rahmen unserer Publikation über Antike und Orient im Mittelalter ein Aufsatz über die mittelalterliche Bibelinterpretation nicht fehlen. B E R Y L SMALLEY ist nicht nur eine ausgezeichnete Kennerin des mittelalterlichen Bibèlstudiums, ihr Augenmerk gilt auch seit vielen Jahren dem antiken Erbe in der mittelalterlichen Exegese. So rundet sich durch alle Vorträge das Bild der Überlieferung des antiken Vermächtnisses an das Mittelalter. Niemals konnte es uns um eine bloße Aufzeichnung der den Zusammenbruch des Imperium Romanum überdauernden Elemente gehen, noch um eine statistische Feststellung paralleler Entwicklungen im griechischen und arabischen Osten. Immer ging es vielmehr um die Frage nach den gemeinsamen Voraussetzungen, Problemstellungen und Denkstrukturen. Sie erst erklären Möglichkeit und Grenzen antiken und arabischen Einflusses auf das Mittelalter. Dies herauszustellen ist Absicht der vorliegenden Veröffentlichung. PAUL WILPERT
DIE GERMANISCHE KONTINUITÄT IM DEUTSCHEN MITTELALTER (Adel — König — Kirche) V o n KARL BOSL
Der tiefgreifende Wandel, ja die Gefährdung, in der sich europäische Kultur heute befindet, zwingt dazu, ihre Wesens- und Strukturelemente, ehedem selbstverständlich aus einem ungebrochenen, selbstsicheren Bewußtsein heraus, nun aus wissenschaftlicher Distanz herauszuschälen und anderen Kulturen ( = societies) gegenüberzustellen, die vor nicht allzu langer Zeit noch am Rande unseres geographischen Horizonts und damit auch unseres Kulturbewußtseins standen, heute aber, manchmal in bedrohliche Nähe gerückt, zuerst als ganz wesensverschieden empfunden werden. Das hat zur Folge, daß wir unsere europäische Kultur nicht mehr nur als loses System von Nationalismen, sondern stärker als Ganzes, als einen in sich geschlossenen, wenn auch nicht abgeschlossenen κόσμος empfinden, der trotz vieler fruchtbarer Anregungen von außen und mannigfacher Begegnung mit Fremden ein ganz individuelles Gebilde ist, das unter eigengesetzlichen Bedingungen gewachsen und geworden ist1. Alle Kultur ist durch Synthese entstanden, die wir als Folge des Zusammentreffens einer Mehrheit von Kulturen begreifen. Unser Ziel ist es darum heute, das synthetische Wesen der europäischen Kultur zu erkennen, d. h. die überdauernden und übergreifenden Strukturelemente aufzufinden, die sich allem Wandel zum Trotz in der Identität mit sich selber erhalten haben. I. K u l t u r K o n t i n u i t ä t und K u l t u r k o n s t a n z Bei der Analyse der Grundstrukturen unserer Kultur stoßen wir auf zwei Grundvorgänge, historische Kontinuität und Kulturkonstanz. Unter Kontinuität versteht die deutsche Geschichtswissenschaft Kulturübertragung von einem Kulturkreis zum andern. A. Dopsch und seine Schule haben darum das Weiterwirken der antiken Kultur und ihre am Aufbau des europäischen Gesellschafts- und Kulturkörpers 1
Als sachlich und methodisch wertvoll hebe ich aus dem wissenschaftlichen Schrifttum heraus: D. GERHARD, Regionalismus und ständisches Wesen als eia Grundthema e u r o p ä i s c h e r G e s c h i c h t e , H Z 1 7 4 (1952) 3 0 7 — 3 3 8 u n d R . W . SOUTHERN, T h e m a k i n g of t h e m i d d l e a g e s (1953), bespr. v . K . BOSL, in H Z 1 8 0 ( 1 9 5 5 ) 3 0 6 — 3 1 2 . S. v e r n a c h l ä s s i g t
die deutsche Komponente. W i l p e r t , Med. I
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Karl Bosl
mitgestaltende Kraft untersucht. H. Aubin2 ist dieser Frage intensiv nachgegangen; H. Dachs3 hat an Hand des römischen Domanial- und bayerischen Herzogsgutes, der Wege und der Straßen römische Kontinuität im bayerischen Frühmittelalter untersucht. Von der so gefaßten Kontinuität unterscheidet man die Kulturkonstanz. Dieser Begriff will besagen, daß trotz des Wechsels des materiellen Substrats sich von Anfängen her eigenständige Formen auf ihrer Wanderung durch eine wechselnde geschichtliche Umwelt erhalten haben. Diesen letzteren Sinn aber unterlege ich dem Phänomen der germanischen Kontinuität im deutschen Mittelalter, mit dem sich die folgenden Ausführungen befassen. Im Grunde handelt es sich also in der wissenschaftlichen Terminologie nur um zwei Spielarten des einen Kontinuitätsbebegriffes, die in sich keinen echten, nur einen materialen Gegensatz bergen und sich zu einer höheren Einheit ergänzen. Kontinuität ist demnach sowohl Kulturübertragung, die die Eigenkraft des übernehmenden Volkes stärken und schwächen kann, als auch Beharrungskraft der kulturellen Eigenart einer Völkergemeinschaft, eines Gesellschafts- und Kulturkreises gegenüber den Fremdeinflüssen. H. Mitteis4 hat von einer defensiven Kontinuität gesprochen, die sich im Laufe der Kulturübernahme zu einer offensiven wandelt. Ausmaß und Wesen der Kulturwanderung begreift man nur, wenn man Individualität und Eigenwert des übernehmenden Volkes kennt; denn echte Kultursynthese, d. h. neue Kultur entsteht nicht nur durch Überlagerung, sondern auch durch eine innere Kraft, die übertragenen Kulturwerte in sich organisch aufzunehmen. Will sich ein Volk, eine Gesellschaft nicht an das Fremde verlieren, dann müssen sie bei Übernahme und Einschmelzung fremden Kulturgutes immer auch inneren Gehalt bewähren. Die Erkenntnis des gesamtgermanischen Zusammenhangs und seiner Auseinandersetzung mit Fremdeinflüssen ist deshalb ein Hauptanliegen der mittelalterlichen Gesellschafts- und Kulturkreisforschung Deutschlands und Europas. Die europäische Kultur trägt auch starkè germanische Strukturelemente in sich. Dabei muß freilich die Frage offen bleiben, ob man das Germanische in seinem vormittelalterlichen Zustand als einen in sich geschlossenen Gesellschafts- und Kulturkreis fassen kann und darf, als eines der Ursubstrate, aus denen durch Berührung, Vermischung und Assimilierung das historische Phänomen Europa sich gebildet hat. 2 H. A U B I N , Vom Altertum zum Mittelalter (1949). Vgl. ferner K. F. S T R O H E K E R , Um die Grenze zwischen Antike und abendländischen Mittelalter, in: Saeculum I (1950) S. 438 ff. F. M I L T N E R , Die Grenzmarke zwischen Antike und Mittelalter, Festgabe Harold S T E I N ACKER (1955). 3 H . D A C H S , Römisch-germanische Zusammenhänge in der Besiedlung und den Verkehrswegen Altbaierns, Ostbairische Grenzmarken 13 (1924) S. 74ff., lOOff., 135ff. 4 H. M I T T E I S , Die Rechtsgeschichte und das Problem der historischen Kontinuität. Abh. d. dtsch. Ak. d. W. zu Berlin (1947) Ph. Hist. Kl. 1.
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Die germanische Kontinuität im deutschen Mittelalter
Der Begriff der Kontinuität ist zur Kategorie der Geschichtsforschung erst nach dem Auslaufen der Geschichtsmetaphysik des objektiven Idealismus und der formalen Geschichtslogik des Neukantianismus geworden und Teil einer materialen Geschichtsontologie, einer Wesenslehre des geschichtlichen Seins und Geistes (E. Troeltsch, Max Weber, Theod. Litt, Nikolai, Ed. Spranger, A. Weber, A. Rüstow). In diesem Bezug ist sie Gegenpol der Kategorie des Wandels, Werdens und Verlöschens. In den letzten zwanzig Jahren trat neben die Erforschung des Sachzusammenhangs zwischen antiker und mittelalterlicher Kultur das Studium des Weiterwirkens germanischer Substanz im mittelalterlichen Gesellschafts- und Kulturkörper. Es kam das Schlagwort der germanischen Kontinuität auf. Es ist O. Höflers Verdienst, dieses Problem entscheidend angerührt 5 und es zur Kernfrage der ganzen Germanenforschung gemacht zu haben. Höfler setzt bei der Religionsgeschichte ein, auf deren Boden er die germanische Substanz völlig verschüttet glaubte ; in der christlichen Legende meinte er grundsätzlich Überlagerung uralter germanischer Sakralmotive zu erkennen® Die Heilige Lanze des mittelalterlichen deutschen Königs, auch als Konstantins-, Mauritius- und Longinuslanze verehrt, war Nachfolgerin des heiligen Wotansspeeres und Symbol der vom göttlichen Ahnherrn der germanischen Heerkönigsgeschlechter der Wanderzeit überkommenen Heilkraft und Machtfülle7. Symbolforschung, wie sie das große repräsentative Werk von P. E. Schramm 8 vorgelegt hat, hat uns den noch im Mittelalter so starken Zusammenhang zwischen Religion und Staatlichkeit in einem ganz neuen Licht gezeigt und den von F. Heer geprägten Ausdruck einer »politischen Religiosität« des Mittelalters auf sachlich-materiale Bereiche zurückgeführt. Symbolforschung hat uns eine neue geschichtliche Quelle erschlossen, die Karl Hauck, einen der besten Kenner und Deuter dieser neuen Quellenart, zur Feststellung führte, daß Religion der Kitt archaischer Staatlichkeit gewesen sei. Auf Abstammung von Wotan beriefen sich die angelsächsischen Herrscher noch lange nach der Christianisierung zur Erhöhung ihres Charismas, ihres Königsheils. Der berühmte Grabfund von Sutton Hoo bei London hat die Schiffsnekropole eines angelsächsischen Königs von East Anglia aus der Mitte des 6. Jahrhunderts zutage gefördert, deren Grabbeigaben, vor allem ein germanischer Heilsund Kraftstab sowie ein germanisches Feldzeichen, die Lücke zwischen • O. HÖFLER, Das germanische Kontinuitätsproblem, HZ 157 (1938), 14ff. • O. HÖFLER, Zur Bestimmung mythischer Elemente in der geschichtlichen Uberlieferung, Festschr. f. O. SCHEEL ( 1 9 5 2 ) , 9 — 2 7 . 7 K. HAUCK,' Herrschaftszeichen eines wodanistischen Königtums, Jb. frk. Ldf. 14 ( 1 9 5 4 ) , 9 — 6 6 ; P . E . S C H R A M M , Herrschaftszeichen u. Staatssymbolik I ( 1 9 5 4 / 5 ) ; O . HÖFLER, Der Sakralcharakter des germanischen Königtums, in: Das Königtum (1956), 7 5 — 1 0 4 ; W. HOLTZMANN, König Heinrich I. und die heilige Lanze (1947).
• P. E. SCHRAMM, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik I (1954/5), II (1955). 1*
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K a r l Bosl
germanischer Archäologie und germanischer Religions- und Staatsgeschichte schließen. Wir sind heute besser imstande, die Germania des Tacitus, Caesar und andere römische Autoren auf Grund archäologischer Befunde wirklichkeitsgerecht zu interpretieren®. Den Generalangriff gegen O. Höfler hat H. Aubin auf dem Magdeburger Mediävistentag 1943 eröffnet und ihm vorgeworfen, daß er die unvergleichbaren Phänomene der Kontinuität und Kulturkonstanz in der germanischen Sphäre auf eine Stufe stelle. Wenn wir, wie oben gezeigt, zwischen diesen beiden Formen der Kontinuität keinen grundlegenden Unterschied mehr sehen und nicht mehr mit F. Th. Vischer meinen können, daß sich das Germanische von selbst verstehe, so bleibt es doch Aubins Verdienst, die Germanenforschung von einem Extremismus gereinigt und den Vorgang der Übernahme und Einschmelzung fremder Kultureinflüsse von dem Makel der Entartung und des Verrats befreit zu haben. Er hat damit den Weg für das Einströmen von Grundsätzen und Einsichten der allgemeinen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, der Ethnologie und historischen Anthropologie in die Germanenforschung geebnet10. Nachdem wir die Doppeldeutigkeit des einen Kontinuitätsbegriffes unserer Terminologie erkannt haben, nachdem wir das Germanische in seiner vormittelalterlichen Gestalt als eine abgrenzbare und geschlossene Größe in allgemeinen Umrissen greifen können (nicht nur sprachlich, sondern in Recht, Religion, Staatlichkeit), nachdem wir neben der Individualität und Singularität germanischer Kultur auch ihre Fremdbezüge und ihre allgemeinen ethnisch-anthropologischen Charakteristika sehen gelernt haben und damit auch den christlich-antiken Einschlag im europäischen wie germanischen Gesellschafts- und Kulturkörper und seine verwandelnde Wirkung sine ira et studio würdigen, nachdem wir aber auch das Slawische heute als »Bauelement« Europas würdigen, nachdem der Kampf um die Seele des deutschen Rechts und der deutschen Kultur der Vergangenheit angehört und man Romanismus und Germanismus ids gleich starke Bauelemente des Abendlandes selbstverständlich gelten läßt, nachdem an die Stelle von einseitigen nationalen Verfassungs-, Rechts-, Sozialgeschichten eine vergleichende Gesamtschau der Gemeinsamkeiten und Gleichläufe, aber auch der Unterschiede und Besonderheiten zu treten beginnt, ist nun die Bahn für eine Behandlung des germanischen Kontinuitätsproblems frei. Wenn diese Ausführungen zeigen können, wie stark das Nachleben der germanischen Substanz im christlichen Mittelalter auch nach der Auseinandersetzung mit dem antikchristlichen Erbe war, ja daß es so9 K. BOSL, Reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt, in : Aus dem Bildungsgut der Antike (1956), 123—134. 10 Vgl. RÜTH BENEDIKT, Urformen der Kultur (Patterns oí Culture), deutsch von R. Salzer (1965).
Die germanische Kontinuität im deutschen Mittelalter
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gar das deutsche Mittelalter in ganz andere Bahnen als das französische und englische lenkte, was sich in Herrschaft und Staat am schlagendsten beweisen läßt, dann dienen sie auch der allgemeinen Erkenntnis von dem Ausmaß der Beharrung im dialektischen Prozeß der Kultursynthese. Dazu kommt noch die andere Feststellung, daß nicht nur Fremdeinflüsse die Substanz verwandeln können, sondern daß diese primär aus eigenen Gesetzen der Entwicklung einen inneren Wandel im Prozeß unterliegt. Dieser Wandel vollzieht sich in drei Richtungen. Ein Prozeß der Vergeistigung, Rationalität, Abstraktion lockert archaisches Denken auf, das am Sinnlichen, Körperhaften hängt, und läßt es zur Erfassung geistiger Bezüge und zu rationalen, sublimierteren Herrschaftsmethoden reifen. Ein Prozeß der Differenzierung bringt die Einfachheit der Urformen des Lebens zur Entfaltung in Religion, Recht, Staat und weckt gesteigerte wirtschaftliche und kulturelle Bedürfnisse. Aus dem archaisch-mythischen Sakralkönigtum wachsen die verschiedenen Formen des Gefolgschafts- und Heerkönigtums11, aus der hausväterlichen Gewalt des pater familias lassen sich die verschiedensten Herrschaftsformert des Früh- und Hochmittelalters ableiten12, aus dem Urbegriff des Habens und Deckens mit dem Körper, wie er noch in der germanischen Gewere zutage tritt, entwickeln sich die verschiedenen Sachenrechte, die dann wieder im Eigentumsbegriff und im absoluten Herrschaftsrecht zusammengefaßt werden. Ein Prozeß der Auslese in Gesellschaft, Recht, Staat läßt Formen absterben, die ihren geschichtlichen Zweck erfüllt haben, und ersetzt sie durch neue, gemäßere. Die drei Prozesse, die man mit Alfred Weber als Gesellschafts-, Zivilisationsprozeß und Kulturbewegung ansprechen kann13, machen auch den Inhalt geschichtlicher Kontinuität aus. Da die Verfeinerung der Technik des gesellschaftlich-staatlichkulturellen Lebens die volkstümlich-naturhaften Grundlagen verändert und auflöst, werten wir die organisatorische Durchbildung der Struktur menschlicher Verbände kraft immanenter Eigenentwicklung oder durch Fremdeinfluß nicht unbedingt als entschiedenen Fortschritt, sondern sehen darin auch Anzeichen des Schwindens ursprünglicher, kraftvoller Einheit, die von lebendigen Gemeinschaften aus innerer Verbundenheit, nicht von Organisationen getragen war. 11 Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen, hrsg. Ν. TH. MAYER (1956) mit Beiträgen von Ewig, Höfler, Schlesinger, Buchner, Büttner, Mayer, Beumann, Kempf, Hellmann, Brunner. 11 W. SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, HZ 176 (1953), 225—275. Vgl. dagegen neuerdings die scharfen Angriffe gegen Funktion und Ethos des. germanischen Gefolgschaftswesens v. F. GRAUS, Uber die sogenannte germanische Treue, in: Histórica I Les sciences historiques en
Tchécoslovaquie (1959) S. 7 1 — 1 2 1 . LS A. WEBER, Kulturgeschichte als Kultursoziologie ( 2 1950) ; Ders., Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie (1951).
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II. M ö g l i c h k e i t e n und F o r m e n der Begegnung Noch immer rätselvoll ist der Übergang vom Altertum zum Mittelalter in jenen Zeiten, die die englische Forschung dark ages nennt 14 . Dieses Rätsel wird um so eher erhellt, je mehr Einsichten wir in das germanische Wesen gewinnen15 und wie es sich unter dem Einfluß des antik-christlichen Erbes gewandelt hat. Die Übernahme des spätantiken Kulturgutes durch die Germanen, seine Verschmelzung mit den Eigenwerten, die die Germanen einbrachten, zu begreifen, setzt die Kenntnis der germanischen Kulturkonstanz voraus. Dabei muß man sich immer bewußt bleiben, daß nicht das Erbe der klassischen, sondern der ausgehenden Antike übernommen wurde, in der sich schon starke Anzeichen einer Entfremdung bemerkbar machten und zwar gerade von der Seite des Germanischen her. Neben die innere Zersetzung des römischen Imperiums, neben die Mechanisierung des Staatsapparates, den Leerlauf der Staatsverwaltung war eine Jahrhunderte wirksame Germanisierung von Heer und Beamtentum, eine tiefgreifende Umformung der Gesellschaft und Wirtschaft getreten, die sich in Formen ausprägte, die den spätgermanisch-frühmittelalterlichen bereits sehr ähnlich waren (Grund und Privatherrschaft, Immunitäten, Kolonat). Kulturübernahme wurde überhaupt nur dadurch möglich, daß die Germanen in ihrem sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg Formen entwickelt und einen Zustand erreicht hatten, der sie bereit und fähig machte, das spätantike, ähnlich strukturierte Erbe zu verstehen und es von geeigneten Trägern, wie vor allem dem spätantiken gallorömischen Senatorenadel, auf höchster gesellschaftlicher und geistiger Ebene zu übernehmen. Dadurch vermischten sich die Formen so rasch und entstand das Mittelalter. Die vom Grundbesitz ausgehende Feudalisierung16 des spätantiken Lebens traf auf germanische Zustände, die nicht wesensgleich waren, aber eine Anpassung sehr rasch vorbereiteten. Schon die Germanen der Zeit des Tacitus kannten die Grundherrschaft mit Leibeigenenbetrieb, kannten Haus-, Burg-, Gefolgschafts-, Grund-, Gerichts-, Tempelherrschaft, kurz all die Frühformen des staatlichen Lebens, die in der ausgehenden Antike uns als Produkt der Zersetzung des Staates und der Gesellschaft, als eine Privatisierung begegnen, ein Ausdruck, der für die germanische Welt falsch ist17. Ein anderes Element ist der Stilwandel zumindest der offiziellen Kunst des Bas Empire. 14 P . E . HÜBINGER, Spätantike und frühes Mittelalter. Ein Problem historischer Periodenbildung. Dt. Vjschr. f. Lw. u. Gg. 26 (1952). 1 6 J . DE VRIES, Die geistige Welt der Germanen ( 2 194δ). 1 β F ü r den Begriff des Feudalismus s. F. GANSHOF, The Feudalism (1952). 1 7 H. AUBIN, Stufen und Formen der christlich-kirchlichen Durchdringung des Staates im Frühmittelalter, Festschr. f. G. Ritter (1950), 79ff.
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Wir müssen uns endlich davon frei machen, zu meinen, daß Plato, Aristoteles und das Griechentum grundlegend an Europa und seiner Kultur mitgestaltet hätten; das ist eine einseitige Auffassung seit Humanismus und Neuhumanismus, aber historisch nicht begründbar. Da sind vor allem Augustin zu nennen und, wie jüngst Denis de Rougemont 18 ausgezeichnet betont hat, die christologische Diskussion und die großen ersten Kirchenversammlungen, vor allem das Nicaenum von 325. Dort sind Grundbegriffe erarbeitet worden, von denen sich die europäischen Auffassungen von der menschlichen Person herleiten. Der Hellenismus hatte nur die Kategorien des individuellen Seins : Essenz, Substanz, Hypostase erarbeitet. Die Römer hatten den Begriff der »Persona« geschaffen, der zuerst die Maske des Schauspielers, dann den Schauspieler selber und seine Rolle, schließlich den Menschen als Träger von Rechten und Pflichten im Gemeinwesen, den Bürger, bezeichnete. Das in sich begrenzte Individuum Mensch wird zur Person erst durch seine Fähigkeit, Träger bürgerlicher und rechtlicher Verbindlichkeiten in Gesellschaft und Staat zu sein. »Persona est sui iuris, servus non est persona«, d. h. die Person ist durch ihren Rechtstitel umschrieben. Die nämliche Erscheinung begegnet uns realiter bei der fränkischen Gemeinfreiheit, d. h. den Königsfreien, die zwar selber meist leibeigen, durch die Übernahme von Pflichten und Rechten im fränkischen Großreich zu einer institutionellen und funktionellen »Freiheit« aufsteigen, die ich als »freie Unfreiheit« bezeichne, weil in ihr Funktion und Stand, beide verschieden, in eins zusammenfließen1*. Die großen Konzilien haben nun den lateinischen Begriff mit griechischem Inhalt in einem Dogma verbunden, das die dreifache Natur der in Christus geoffenbarten Wahrheit aussprach. Das war die Geburtsstunde der »Idee der Person«, in der wir eine spezifische Leistung der abendländischen Anthropologie sehen. Die Lehre von der Inkarnation, in sich ein Paradoxon, zwang zum »Denken in Spannungen«, das den wissenschaftlichen Geist des christlichen Abendlandes formte und ihn vom Monismus der östlichen Weisheitslehren grundlegend unterschied. Man muß auch die andere Leistung entscheidend würdigen, die das 20. Jahrhundert wohl am besten versteht, daß in den christologischen Dogmen dem »Fleisch«, der Materie, ein Rang und eine Realität zuerkannt wurde, die für den Osten undenkbar waren. Durch die Annäherung an die Realität überwand der christliche Glaube in der antiken und germanischen Welt Magie, Mythen, Naturreligonen und » Merkur Heft 102 (1956). 19 TH. MAYER, D. Königsfreien und der Staat des frühen Mittelalters, in Das Problem der Freiheit (1955), 7—56; K. BOSL, Freiheit und Unfreiheit, Zur Geschichte der Unterschichten in Deutschland und Frankreich während des Mittelalters, VSWG (1957).
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weckte durch seine theologischen Denkformen den Geist europäischer Wissenschaft. Die Begegnung germanischer Substanz mit dem spätantik-christlichen Erbe hat das europäische und das deutsche Mittelalter geschaffen. Wer dies nur dadurch zu erforschen sucht, daß er Entlehnungen aufspürt, ohne die germanische Eigenleistung zu würdigen, der verzeichnet die historische Wirklichkeit und entwirft ein einseitiges Bild von der europäischen Kultur. Der kommt zwangsläufig zur geringschätzigen Abwertung germanischer Leistung, wie sie A. J. Toynbee in seiner vielberufenen Study of History ausgesprochen hat. Für den englischen Kulturmorphologen wax es ein grundsätzliches Zeichen der Schwäche, daß die erobernden Germanenvölker der Mittelmeerwelt mit der Herrschaft nicht auch die Sprache aufzwangen, wie die in Griechenland einbrechenden Indogermanen der Achäer und Dorer, sondern daß sie Latein lernten. Wie sehr im lateinischen Gewände der Quellen germanisches Staatsdenken fortschreitend sich selbst entwickelt, das hat jüngst ausgezeichnet H. Beumann gezeigt20. Germanentum hat aber auch, wie sich das auf dem Gebiete des Rechts schön zeigen läßt, zum Aufbau des romanischen Mittelalters beigetragen. In den Coutumes, dem Gewohnheitsrecht Nord- und Mittelfrankreichs, ist ein starker fränkisch-germanischer Einfluß festzustellen. Von den Sonderrechten der geschlossenen Einzellandschaften läuft hier seit spät- und nachkarolingischer Zeit eine ungebrochene Linie über die großen Rechtsbücher des 13. Jahrhunderts zur offiziellen Fassung des Coutume von Paris vom Jahre 1510, aus der das gemeine Recht Frankreichs und alle spätere Gesetzgebung geflossen sind. Auch in den südfranzösischen Geltungsbereich der droit écrit sind zahlreiche germanische Rechtsgedanken eingedrungen. Heute braucht man nicht eigens mehr auf das germanische Element im spanischen Recht hinzuweisen, nachdem man erkannt hat, daß sich das gotische Volkstum als integrierter Teil des spanischen Volkskörpers noch in den Zeiten des Cid und der Reconquista heldenhaft bewährt hat, nachdem ein lückenhafter Pariser Palimpsest des Codex Euricianus (Ende des 5. Jhs.) den lange verkannten germanischen Charakter der gotischen Gesetzgebung bei aller Anerkennung der Einflüsse römischen Rechts eindeutig zu Tage gebracht hat. Germanisches Rechtsdenken wirkt zum Teil bis heute weiter in den Fueros, den spanischen Stadt- und Landrechten, wie uns noch J. Ficker, Th. Melichar, E. Wohlhaupter21 und Alfred Schultze erwiesen haben. In Italien wandte und wendet sich die Forschung in erster Linie dem Fortleben des römischen Rechts im Mittel2 0 H. BEUMANN, Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen, in : Das Königtum (1956), 185—224; bes. d. Exkurs »Regem iura faciunt, non persona«, 21&ff. 2 1 E. WOHLHAUPTER, Das germanische Element im altspanischen Recht u. d. Rezeption des römischen Rechts in Spanien, ZRG R A 66 (1948).-
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alter zu, weil sie darin ein Fundament nationaler Rechtsentwicklung erblickt22. Trotzdem ist der langobardische und fränkische Einfluß auf vielen Gebieten nicht zu übersehen, haben Kaiser und Könige im Lehnszeitalter dort vielfaches Recht gesetzt ; man braucht nur an die constitutio de feudis Konrads II. zu erinnern28. Daß die mittelalterliche Stadt Italiens, ihr Recht und ihre Verfassung, nicht genuin römisch sind und allein aus römischem Munizipialrecht entsprangen, darauf hat W. Goetz21 hingewiesen. III. Eigenkirchenrecht und Sakralrecht Auf der Suche nach den germanischen Elementen im Kirchenrecht stoßen wir in das Zentrum unseres Themas und greifen die drei gestaltenden Grundkräfte des Mittelalters, Adel, König, Kirche in ihrer wechselseitigen, vom germanischen Erbe her bestimmten Verflechtung. H. E. Feine hat zuletzt zusammengefaßt, was von den fruchtbaren Thesen von U. Stutz, dem Entdecker der germanischen Epoche des Kirchenrechts und Vertreter der berühmten Eigenkirchentheorie, übrig geblieben ist26. Stutz ging vom germanischen Hauspriestertum aus, das in engstem Zusammenhang mit patria potestas = hausherrlicher Gewalt des pater familias und Großfamilienhauptes steht, die ja die Fülle primitiver Gewalt handhabten. Wir greifen damit indogermanische Urtatsachen. Das Hauspriestertum steigert sich zur priesterlichen Stellung des ältesten Sakralkönigs in Stamm und Volk empor; der König wird als Mittler zwischen Gott und Menschen bzw. Volk, Stamm gedacht, sein Königsheil ist Grundvoraussetzung für das Gedeihen des Volkes, wie der Hoftheologe Karls d. Gr. Alkuin in einem Brief treffend formuliert2®. Unter der christlich-kirchlichen Hülle lebt das germanische Hauspriestertum weiter in der Kirchenherrschaft (nicht privat zu nennen) und im Kircheneigentum weltlicher und geistlicher Großer, des Adels. Diese Kirchenherrschaft ist auf dem 22 H. MITTEIS, Zur Lage der rechtsgeschichtlichen Forschg. in Italien, ZRG GA 69 (1952), 203if. n H. BRUNNER hat aus den langobardisch-italiemschen Quellen die Eigenart germanischen Urkundenwesens mit seinen Merkmalen symbolischen Denkens herausgearbeitet. Die germanischen Werte im longobardischen Recht hat untersucht W. SCHÖNFELD, Das Rechtsbewußtsein der Langobarden, Festschrift f. A. Schultze (1934). M W. GOETZ, Die Entstehung der italienischen Kommunen im frühen Mittelalter, SB München (1944). M H. E. FEINE, Studien zum langobardisch-italischen Eigenkirchenrecht, ZRG KA 61. 62. 63 (1941—1943); Ders., Eigenkirchenrechtliche Erscheinungen in Dalmatien, ebda 64 (1944) ; Ders., Ursprung, Wesen und Bedeutung des Eigenkirchentums, MIÖG 58 (1950) ; Ders., Kirchliche Rechtsgeschichte I (21955), 147 ff. '* Nach solchen Gesichtspunkten sind einmal genauer die als Moralkompendien abgefertigten karolingischen Fürstenspiegel zu untersuchen, wie F. I. Schmale beabsichtigte.
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Eigentum am Altargrund fundiert27, der christlich mit dem Grab des Heiligen zusammenhängt, über den der Altar der Kirche erbaut ist (Confessio der römischen Kirchen), heidnisch-germanisch aber mit dem Grab des mit göttlichem Heil begnadeten Ahnherrn28. Daher kommt auch noch die hochmittelalterliche Sitte, meist ihre Stammburgen in Hausklöster umzuwandeln, in die sie die Grablege ihres Geschlechtes verlegen2®. Diese Hausklöster waren Schenkungszentren der weitverzweigten Sippen und Brennpunkte adeliger Familientradition, wie uns die Klostergründungsgeschichten so anschaulich zeigen30. Kirche und Kloster erscheinen als Sondervermögen, als Unternehmen des Grundherrn; ihr Nutzertrag hat vielfach Anreiz zu Kirchen- und Klostergründungen gegeben. Dieses adelige Eigenkirchenwesen, das in Deutschland bis zum Investiturstreit immer wieder durch ein starkes Königtum zu gesamtstaatlicher Wirkung zusammengefaßt wurde, indem es die Einsetzung des Vogtes von königlicher Bannleihe abhängig machen wollte, das in Frankreich im 10. Jahrhundert in den üppigsten Formen der Laienkirchenherrschaft bei jahrhundertelanger Schwäche des Königtums wucherte und zur Reform von Gorze, Cluny und zur Gottesfriedensbewegung führte, die in Deutschland in die große »staatliche« Landfriedensbewegung ausmündete, dieses Eigenkirchenwesen hat sich nördlich der Alpen besonders entfalten können, weil hier bei der Christianisierung31 der zentralisierende Einfluß von Rom gar nicht wirksam war. Erst die römische und fränkische Organisation und Kirchenreform des 27 R . H Ö S L I N G E R , Die »altarische Wurzel« des Eigenkirchenrechts in ethnologischer Sicht, Osten·. Arch. f. K R 3 (1952), 267ff; O . M E Y E R , Die Klostergründungen in Bayern und ihre Quellen, ZRG KA 51 (1931). 28 H. M E Y E R , Das Handgemal (1934), 72 ff. — P. G O E S S L E R , Grabhügel und Dingplatz, Festschtr. f. K. Bohnenberger (1937); Ders., Ulm und Pfullingen, Festschr. f. Reinecke (1950); Ders., Georgs- und Michaelsberge, Festschtr. f. K. Wahle (1950) — K . S . B A D E R , Die Fürstenbergischen Erbbegräbnisse ( 1 9 4 1 ) — J . W E R N E R , Das alamanische Fürstengrab von Wittislingen ( 1 9 5 0 ) ; Ders., Der Fund von Ittenhausen
(1943). 2
· Vgl. K. BOSL, Das Nordgaukloster Kastl. Gründung, Gründer, Wirtschafts- und Geistesgeschichte, VHO 89 (1939), 3ff. 30 K. M Ü N Z E L , Mittelhochdeutsche Klostergründungsgeschichten des 14. Jahrhunderts. Diss. Berlin (1933). 31 F. W. S C H A A F H A U S E N , Der Eingang des Christentums in das deutsche Wesen I (1929) — R . R Ü C K E R T , Die Christianisierung der Germanen (21935) — L. SCHMIDT, Die Bekehrung der Germanen (1934) — J . H E E R W E G E N , Antike, Germanentum, Christentum (1932) — K. A L G E R M I S S E N , Germanentum und Christentum (51935) — K. D. SCHMIDT, Die Bekehrung der Germanen zum Christentum I. Die Ostgermanen (1939) ; Ders., Germanischer Glaube u. Christentum, Ges. Aufsätze (1948), bespr. v. Baetke, H Z 171 (1951), 112ff. — H . E. G I E S E C K E , Die Ostgermanen u. d. Adrianismus (1939) — B. R E H F E L D T , Todesstrafe und Bekehrungsgeschichte (1942) — W. B A E T H K E , Die Aufnahme des Christentums durch die Germanen, W. A. G. (1944) ; Ders., Christliches Lehngut in der Sagareligion, Ak. Leipzig 1952.
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Bonifatius 32 haben die dort entstandenen Landeskirchen an Rom gebunden und den Anschluß an die römische Zentralverwaltung vorbereitet; grobe Auswüchse des Eigenkirchenwesens wie die Einstellung unfreier Priester, die ja Eigentum = mancipium des Leibherrn = Eigenkirchenherrn blieben und seiner vollen Gewalt unterstanden, wurden beseitigt. Von dieser Eigenkirchenherrschaft ist das gesellschaftliche, wirtschaftliche, staatliche und kulturelle Leben des deutschen Mittelalters entscheidend beeinflußt worden. Hier liegen die Anfänge des bis heute geltenden Patronats bei Niederkirchen, einer weiter entwickelten Form des Eigenkirchenrechts des Laienadels an Niederkirchen. Der Gang der Reformation in Franken ist deutlich am Patronat und den Patronatsherren abzulesen. Heute ist niemand mehr der Meinung, daß die Eigenkirche nur im germanischen Rechtsbereich vorkomme. Diese Erscheinungsform des Rechts- und Verfassungslebens hat verschiedene Wurzeln, man darf sie nicht mit A. Dopsch als Folgewirkung der Grundherrschaft ansprechen. Eigenkirchen gibt es in den Ostprovinzen des Römerreiches 33 , wo an germanischen Einfluß nicht zu denken ist. Die ältesten römischen Kirchen, die bis in das 3. Jahrhundert zurückgehen und ζ. T. heute noch den Namen des ältesten Besitzers erkennen lassen, den später Heilige verdrängten, waren Eigenkirchen, die heute zu den Titelkirchen (titulus!) der Kardinäle (Kardinalpriester) geworden sind. Wenn auch das Eigenkirchenrecht nicht nur eine germanische Form ist, ζ. B. auch bei den Slawen vorkommt 34 , so hat es doch bei den Germanen eine spezifische Ausgestaltung erfahren. Es gibt Lebensformen, die für alle Frühstadien der Kultur irgendwie typisch sind. Alfred Weber hat darauf hingewiesen, daß in der von ihm »Gesellschaftsprozeß« genannten Seinsschicht des Historischen sich ähnliche und gleiche Formen in allen Kulturen und Gesellschaften (societies) entwickeln. Das hängt mit ähnlichen und parallelen sozialen und wirtschaftlichen, allgemein menschlichen Grundverhältnissen zusammen. Eigenkirche ist Element der Adelsherrschaft, nicht nur eine Form des bei den Germanen besonders reich entwickelten Sondervermögens (Gerade der Frau, Heergewaete des Mannes) ; sie steht im Zusammenhang mit dem gerade vom Adel auch aus herrschaftlichem Interesse gepflegten Ahnen- und Totenkult, der in engster Verbindung mit der 3 2 TH. SCHIEFER, Angelsachsen u. Franken (1951) ; Ders. Winfrid-Bonifatius und die christliche Grundlegung Europas (1954) — H. LÖWE, Bonifatius und die bayerischfränkische Spannung, Jb. f. fränk. Ldf. 15 (1955), 85—127. 3 3 Vgl. E. STEIN, Geschichte des spätrömischen Reiches I (1928); Histoire du Bas Empire I I (1949). 3 4 H. F. SCHMID, Die rechtlichen Grundlagen der Pfarrorganisation auf westslawischem Boden u. ihre Entwicklung während des MAs. (1938) — Dagegen W. SCHLESINGER, Zs. f. Ostforschung I (1952), 345ff.
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Götterreligion steht 35 . Das Ahnengrab liegt im Herrschaftsbereich des Geschlechtsältesten und muß mit dessen Stammgut oder Handgemal, an dessen Besitz auch die libertas = Edelfreiheit geknüpft ist, nach besonderem Regeln vererbt werden; es ist wahrscheinlich die älteste germanische Kultstätte, obwohl man heute wohl Tempelkult nicht mehr ausschließen kann 36 . Daraus entstand im christlichen Kulturkreis der Gedanke der mit dem Hof verbundenen Eigenkirche. Es bleibt noch die Frage, ob man auch die Kirchenherrschaft der deutschen Könige und Kaiser auf das Eigenkirchenrecht einfach zurückführen kann, ob also die Bischofskirchen und großen Reichsabteien eigentlich nichts anderes als königliche Eigenkirchen waren, ob mit anderen Worten der die Grundfesten des deutschen Staates erschütternde Investiturstreit nur ein Kampf um das Eigenkirchenrecht gewesen sei, das die päpstliche Zentralgewalt in ihrem Bestand zu gefährden droht 37 . Tatsache ist, daß die Päpste, besonders Leo IX, der die große Kirchenreform auf seinen Reisen durch Lothringen und Burgund vorbereitet hat und dabei den alemannischen Adel als Parteigänger für die Durchführung der Reform gewann38, selbst Eigenklöster als Reformklöster gründeten, die dann später dem Hlg. Petrus als Eigenkirchenherrn geweiht waren, womit die sogenannte Romana libertas = Freiheit vom weltlichen Vogt verbunden war. Sicher ist, daß man mit diesen rein rechtlichen Kategorien dem Wesen des gewaltigen Kampfes um die rechte Ordnung in der Welt, wie ihn G. Tellenbach geschildert hat 3 t , nicht gerecht wird. Man muß unterscheiden zwischen Eigentum und Eigenrecht an Niederkirchen und der eigentlichen, ech36 F . D I R L M E I E R , Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels, Arch. f. Religw. 3 6 ( 1 9 3 9 ) , 2 7 7 — 2 9 9 — E. F R . B R U C K , Totenteil und Seelgerät im griechischem Recht ( 1 9 2 6 ) ; Ders. ; Die Stiftungen für die Toten in Recht, Religion und politischem Denken der Römer, in : Uber das röm. Recht im Rahmen d. Kulturgesch. ( 1 9 5 4 ) , 4 6 f f . — E . A. P H I L I P P S O N , Die Genealogie der Götter in germanischer Religion, Mythologie und Theologie; Illinois Studies in Language and Literature 3 7 . Nr.3 ( 1 9 3 5 ) — K . H A U C K , Lebensnormen und Kultmythen in germanischen Stammes- und Herrschergenealogien, Saeculum 6 ( 1 9 5 5 ) 2 1 7 ff. 36 Über den besonderen auch religiös gefärbten Charakter des germanischen »Erb und Eigens« im Gegensatz zum antik-christlichen geprägten Lehngut zuletzt W. E B E L , Erb und Eigen, Vortr. auf der Lindautagung des Mainaukreises, Herbst 1956. 37 J. F I C K E R , Über das Eigentum des Reiches am Reichskirchengut, SB Wien 72 (1873) — T H . M A Y E R , Fürsten und Staat (1950), bes. Kap. XIV u. XV — L. S A N T I FALLER, Zur Geschichte des ottonisch-salischen Reichskirchensystems, SB Wien 229, 1 (1954) — K. BOSL, Würzburg als Reichsbistum; Festschrift f. Th. Mayer I (1954), 161 ff. 38 R . K L E B E L , Alemannischer Hochadel im Investiturstreit, in: Grundfragen der alemannischen Geschichte (1955), 209—242. " G. T E L L E N B A C H , Libertas, Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites (1936) — Studi Gregoriani per la storia di Gregorio VII e della reforma Gregoriana, 4 Bde (1947/52) (Beitr. v. Brackmann, Tellenbach, Michel, Mikoletzky) — Vgl. P. E. Schramm, GGA 207 (1953), 62ff.
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ten staatlichen Kirchenhoheit im Reich. Diese hat ihre Begründung im Sakralrecht des germanischen Königs, in dem verschiedene Elemente germanischer Religions- und Herrschaftsentwicklung zusammengeflossen sind40. Die christliche Kirche hat dieses Sakralrecht wohl gekannt, übernommen und mit christlichen Elementen durchsetzt, vor allem ihm den Amtsgedanken und das Gottesgnadentum eingeimpft41. Schon Isidor von Sevilla, halb Gote, halb Romane, der letzte große Enzyklopädist der ausgehenden Antike weiß darum; er hat die aus Augustin stammende Forderung des rex iustus dem neuen christlichen Königsbild hinzugefügt. Die Dei gratia-Formel der fränkischen Königsurkunden seit der Salbung Pippins zeigt es auf das allerdeutlichste. Bei den Verhandlungen um die kirchliche Legitimierung der Herrschaft Pippins wußte man in Rom vermutlich aus dem westgotischen Spanien42 um die heidnisch-germanische Auffassung vom Herrschertum und seinem Sakralrecht (Büttner). Dieses Sakralrecht des germanischen Herrschers, das im Geblütsheil und der priesterlichen Mittlerstellung des Herrschers wurzelt, hat vielleicht auf dem Hintergrund alttestamentarischer Gedanken niemand klassischer ausgedrückt als Alkuin, der angelsächsische Hoftheologe Karls des Großen, der es wissen mußte43. «Regis bonitas totius est gentis prosperità, victoria exercitus, aeris temperies, terrae habundantia, filiorum benedictio, sanitas legis.» Vom germanischen Sakralkönigtum führte in verschiedenen Stufen und Wandlungen über die Kirchenhoheit des mittelalterlichen deutschen Königs ein direkter Weg zum landesherrlichen Kirchenregiment der vorreformatorischen und reformatorischen Zeit44, das nicht allein aus der kirchenpolitischen Situation jener Zeiten verstehbar ist, und vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip der Neuzeit45. Aus diesen Gründen erklärt es sich auch, warum die Formen des Lohnrechts schließlich in das Verhältnis zwischen König und Epis40 O. HÖFLER, Germanisches Sakralkönigtum I (1952), dazu F. Genzmer, ZRG GA 71 (1954), 408ff.; Ders., Der Sakralcharakter des germanischen Königtums, in: D u Königtum (1956), 75ff. — W. SCHLESINGER, Das Heerkönigtum, ebda 105ff. — K. BOSL, Reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt, a. a. O. — H. BEUMANN, Die sakrale Legitimierung des Herrschers im Denken der ottonischen Zeit, ZRG GA 66 (1948). 41 E. EWIG, Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter, in: Das Königtum (1956), 7—14 — H. BÜTTNER, AUS den Anfängen des abendländischen Staatsgedankens, jetzt ebda 155—168 — TH. MAYER, Staatsauffassung in der Karolingerzeit, jetzt ebda 169—184 — H. BEUMANN, Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen, ebda 185—224. 42 H . AUBIN, Stufen u. Formen der christlich-kirchlichen Durchdringung des Staates im Frühma; Festschrift f. G. Ritter (1950), 79ff. « MG. Ep. IV. 51. 44 H. LIERMANN, Das Sakralrecht des protestantischen Fürsten, ZRG KA. " O. BRUNNER, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip. Der Weg der europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter, in : Das Königtum, 279—305.
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kopat und in die innere Organisation der großen Mönchsorden eindringen, warum der Adel die mittelalterliche Hochkirche personal beherrschte und seinen Mitgliedern alle leitenden Bischofs- und Abtsstellen vorbehielt, wie A. Schulte46 eindringlich gezeigt hat. Nur der Adel konnte Kirchenhoheit und Kirchenherrschaft üben ; Eigenkirchenrecht gehört deshalb sowohl in die Religionsgeschichte wie in die Gesellschafts- und Verfassungsgeschichte, es ist eine Erscheinungsform germanischer Adelsherrschaft im deutschen Mittelalter. Um die mittelalterliche Kirche kämpfen nicht nur König / Kaiser und Papst, sondern auch König und Adel; das Eigenkirchenrecht gehört zu den bestimmenden Motiven der ganzen europäischen Geschichte. Mit allem Recht hat man daneben auch die Rezeption des römischen Fremdrechts als eine Spätform der Adelsherrschaft bezeichnet, insofern als der vom Reich eingeleitete Vorgang47 Machtmittel der partikularen und territorialen Adelskräfte wurde. Die an italienischen Universitäten (Bologna, Padua) zu blindem Autoritätsglauben erzogenen »iuris Romani prudentes« (Römlinge) waren die ersten Bürokraten und unbedenklichen Vollstrecker landesherrlichen Willens auch gegen den nach oben drängenden Niederadel und die Landstände. Sie haben dem blinden Gehorsam einen Weg in die deutsche Seele gebahnt, in der zuerst der Geist des Widerstandsrecht und der Glaube an ein ewig gültiges Recht lebendig war, das man nicht setzen, nur weisen, deuten und wiederherstellen kann, weil es göttlich ist 48 . Der im römischen Recht erfahrene Niederadel hat den Aufstieg des bürgerlichen Legisten in Deutschland gehemmt, er hat aber auch seine eigene Grundherrschaft immer mehr zum autonomen Herrschaftsgebiet 49 umgestaltet und eine eigene Gerichtsherrschaft und fiskalische Privilegierung sich zu erhalten gewußt. IV. A d e l s h e r r s c h a f t als g e r m a n i s c h e K o n s t a n t e im d e u t schen Mittelalter50 Stärkster und lebendigster Träger germanischer Tradition im ganzen Mittelalter war in Staat, Verfassung, Recht und Sitte, Literatur und 46
A. SCHULTE, Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter (21922). Römisches Recht wurde als Kaiserrecht angesehen. Vgl. H. KRAUSE, Kaiserrecht und Rezeption (1952). 48 F. KERN, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht (21954, besorgt v. R. Büchner); Ders., Recht und Verfassung im Mittelalter (21954). " O. BRUNNER, Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft, Festschr. f. Th. Mayer I (1954), 293—304. 50 Ο. v. DUNGERN, Der Herrenstand (1908) ; Ders., Adelsherrschaft im Mittelalter (1927) — H. MITTEIS, Formen der Adelsherrschaft im Mittelalter, Festschr. f. F. Schultz II (1951) — A. SCHULTE, Der Adel und d. deutsche Kirche im Mittelalter (Ί922) — G.TELLENBACH, Vom karolingischen Reichsadel zum Reichsfürstenstand, in: Adel und Bauern, hrsg. v. Th. Mayer (1943) ; Ders., Adeliges Landleben u. europäischer 47
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Gesellschaftskultur der Adel. Adel und Königtum gehören zusammen, aber Adel ist vor dem Königtum da. Die germanisch-deutsche Kultur der Frühzeit wie des Mittelalters ist aristokratisch. Das ist an sich nicht spezifisch germanisch, denn auch bei Griechen, Römern, Kelten und Slawen steht der.Adel an der Wiege einer höheren Kultur. Adel besitzt die wirtschaftliche und politische Macht, ist Träger des Heldenzeitalters der Völker. In seinem Kreis erklingen Helden- und Chorlied, gilt eine Adelsethik, die auch in nichtadelige Zeiten weiterwirkt; seine gesellschaftliche Stellung ist religiös begründet. Als die alte Naturreligion vermenschlicht und individualisiert, zum personalen Anliegen in der Helden Verehrung wurde, da wurde sie zum Zeugnis der Lebensund Weltauffassung der führenden Schichten. Der Staat der Wandergermanen wie des Mittelalters war eine Aristokratie mit monarchischer Spitze. Der Adel und seine Gefolgschaften waren Hauptgestalter der Wanderzeit, sie waren auch die Hauptakteure des Mittelalters, selbst wenn einige übergroße Königsgestalten sie zeitweilig überschatteten. Adel und Adelsherrschaft sind die kontinuierlichste Konstante des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens von den Anfängen bis an die Schwelle der Moderne. Weil Adelsherrschaft von Anfang an so tief im Leben der Stämme und Völker wurzelte, darum wurde das Ringen der deutschen Könige des Mittelalters um den Staat immer auch zu einer Auseinandersetzung mit den Stämmen, deren Kraft und Willen der Stammesadel trug 5 1 ; der Stammesadel trug und wählte auch den Stammesherzog. Durch ihren Lokalismus, Regionalismus und Partikularismus war die Aristokratie zwar auch eine hemmende, destruktive Kraft gesamtstaatlichen Aufbaus in Deutschland ; durch Rodung und Landesausbau hat sie sich aber ebenso große Verdienste wie die Kirche um die Kultur erworben, was man beim Stand der Quellen lange übersehen hat. Mit, neben und gegen den König aber baute der Adel an der neuen deutschen und europäischen Staatlichkeit mit. Sein Geist und seine Geschichte sprechen aus Heldenliedern und Sagen, Genealogien, Stammbäumen und Familientraditionen, aus der mittelalterlichen Annalistik, den großen Werken der ersten Blüteperiode unserer deutschen Literatur, aus den durch den Spaten aufgedeckten Fürsten- und Königsgräbern mit ihren vielfältigen Grabbeigaben, sprechen aus den bewehrten Burgen und vornehmen Schlössern, die Geist (1949) — H. D A N N E N B A U E R , Adel, Burg und Herrschaft bei d. Germanen, HJb. (1942) — W. SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft, a. a. O.; Ders., Die Entstehung der Landesherrschaft (1941) — K. H A U C K , Haus- und sippengebundene Literatur mittelalterlicher Adelsgeschlechter, MIÖG 62 (1954) — K. BOSL, Der aristokratische Charakter europäischer Staats- und Sozialentwicklung, HJb. 74 (1955); Ders., Art. in: Rössler-Franz, Sachwörterbuch z. dtsch. Gesch. 10—13. 61
K. BOSL, Das jüngere Stammesherzogtum der Luitpoldinger ; Festschrift f. Max Spindler (1955).
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Schauplätze der ersten Laienkultur Europas waren und zwar nicht erst im 11./12. Jahrhundert, wie uns die in einer Biberfellhülle verwahrte Harfe des Könisgrabes von Sutton Hoo beweist. Adelskultur und Adelsgeist sprechen zu uns aus den Hausklöstern und Stiftungen, wie wir in anderem Zusammenhang oben sehen. Sie reden aus den Zeugenreihen der mittelalterlichen Urkunden- und den noch erhaltenen Adelsarchiven mit ihren Urbaren, Lehn-, Zins- und Leibbüchern, sie sind im Standesrecht dieser hauchdünnen Eliteschicht verankert. Aus den Reihen dieses Adels gingen bei Germanen und im deutschen Mittelalter Könige und Heerführer/Herzoge hervor. Geblütsheiligkeit und die ruhmvolle Leistung des Ahnen für das Ganze hob ihn über alle hinaus. Er gebot über Land und Leute, konnte Schutz gewähren; deshalb wurde seine Herrschaft von den Zeitgenossen und Untertanen als gerechtfertigt und selbstverständlich empfunden; deshalb umgab ihn in germanischer Zeit der Nimbus göttlicher Abstammung oder göttlicher Begnadung und der Glaube an seine besondere Heilskraft, wie noch der Adelsmönch Widukind von Korvey weiß. Dieser Glaube aber war für Geführte und Beherrschte noch viel unentbehrlicher als für die Träger des Heils und der Vorrangstellung. Vornehme Abstammung, ausgebreiteter Besitz, gemeinsames Interesse und vielfache Versippung banden diese kleine Schicht adeliger Grundherrn zusammen, machten sie zu Herren über Leute und Land, gaben ihnen die Möglichkeit, ihre Immunitäten zu Territorien weiterzuentwickeln und prägten sie zu den entscheidenden Faktoren des öffentlichen Lebens. Am stärksten wurde das offenbar im Investiturstreit, an dessen Anfang die engen Sippenverbindungen Leos IX. mit dem südwestdeutschen Adel stehen, in dessen Verlauf sie ihr Wahlrecht zur Geltung brachten. Der Adel wählte den König und regierte mit ihm 52 ; Tacitus berichtet im berühmten 7. Kapitel seiner Germania »Reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt«. Der Adel war das beherrschende genossenschaftliche Element in der Struktur des mittelalterlichen deutschen Königsstaates bis zu seinen Zerbrechen im 13. Jahrhundert, er war der populus der frühmittelalterlichen Quellen im prägnanten Sinn. Der Adel besetzte die Bischofs- und Abtstühle im Reich. Er umgab den König am Hof, wie einst den Gefolgschaftskönig die Mannen umgaben, deren vornehmste die Söhne der Edelinge waren. Er unterstützte den Herrscher mit seinem »Rat« in der Führung der Politik, sprach Recht, führte die Verwaltung, wenn auch dabei immer mehr die Beauftragung durch den König vergessen wurde, Amt zum Lehen und Allod wurde. Schon 614 erzwang eine Reaktion des germanischen Adels gegen den Romanismus in Recht und Verfassung von den Merowingerkönigen die Verprovinzialisierung und Regionalisieu
W.
SCHLESINGER,
Die Anfänge der deutschen Königswahl 66 (1948).
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rung der Ämter (Edictum Chlotharii), die dadurch in die Hände des Adels kamen 53 . Der Adel begleitete den Herrscher mit seinen Gefolgschaften und Vasallen auf den Heereszug ; er sagte ihm aber auch die Fehde an und setzte ihn ab ; denn ihm stand das Recht legitimer Gewaltanwendung, das vielberühmte Widerstandsrecht, in einer noch losen und primitiven politischen Ordnung zu. Kaiser Heinrich V. selber bezeichnet die Adeligen als Häupter des Reiches, deren Erniedrigung dessen Untergang bedeuten würde. Königsgebot wird erst durch die Zustimmung der Großen rechtskräftig. Staatsvolk im Sinne der vollen Teilhabe an der Leitung im Reich ist allein der Adel, da alle anderen irgendwie seiner Herrschaft unterstehen, wenn sie nicht gerade Königsleute sind. Die meisten Menschen, die. -pauperes der mittelalterlichen Gesellschaft, zahlten ihm Abgaben und gehorchten ihm. Seine Gegenleistung bestand in der Garantie eines geringen Maßes von Recht und Sicherheit, gemessen an den heutigen Verhältnissen. Seit dem 11. Jahrhundert durchbrachen die Ministerialen, die von der Adelsgesellschaft aufgezogen wurden, und die Bürger diese geschlossene Führungsschicht, die bis dahin allein mit dem König herrschte und die Kultur prägte. Der mittelalterliche Adel hat verschiedene Typen entwickelt. Am Anfang steht der germanische Geblüts- oder Uradel der Stämme, die Alt- und Vollfreien der Leges. In fränkischer Zeit bildet sich daneben und an seiner Stelle ein Dienstadel aus den Reihen der Königsgefolgschaft der Antrustionen (trustis dominica). Durch Beamtenfunktionen und Vasallität gelangen in ihm teilweise auch Leibeigene (pueri regis) zu gehobener politischer und gesellschaftlicher Stellung 54 . Dieser Dienstadel 55 verschmilzt allmählich mit dem Uradel, soweit dieser nicht ausgerottet oder ausgestorben war (Blutbad von Cannstatt), zum Hochadel der grafenbaren Geschlechter 56 , die sich im 12. Jahrhundert noch als die »Freien« schlechthin — Edel — oder Hochfreien (liberi) bezeichnen. Wenn auch Dienst und Adel an sich ein Widerspruch waren, haben Vasallität und Lehnrecht (adelige Mannschaft) 57 einen neuen Adelsbegriff, eine neue Rangordnung der Gesellschaft geschaffen, in 6 3 Anders neuerdings R. SPRANDEL, Struktur und Geschichte des merowingischen Adels, HZ 193 (1961) 33ff. 6 4 K. BOSL, Vorstufen der deutschen Königsdienstmannschaft, VSWG 39 (1952), 193ff. 6 6 W. KLEBEL, Bayern und der fränkische Adel im 8. u. 9. Jahrhundert; Vorträge und Forschungen I (1955), 193—208 — I. DIENEMANN-DIETRICH, Der fränkische Adel in Alemannien im 8. Jahrhundert ebda I (1955), 149—192, vgl. auch A. BERGENGRUEN, Adel und Grundherrschaft im Merowingerreich, VSWG 41. Beiheft (1958). 5 7 E . HAMM, Herzogs- und Königsgut, Gau und Grafschaft im frühmittelalterlichen Bayern, ungedr. Diss. 1949. S7 W. KIENAST, Rechtsnatur und Anwendung der Mannschaft (Homagium) in Deutschland während des MAs., Dte Landesreferate z. IV. Intern. Kongr. f. Rechtsvgl. in Paris (1954), 26—48.
Wilpert, Med. I
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der ein Berufskriegerstand an der Spitze und alles andere in extremer Tiefe unter ihm stand (Feudalgesellschaft). Die unfreien Diener von König und Adel hießen deshalb dann Dienstmannen = Ministerialen, was bis zu Beginn des 10. Jahrhunderts Adelige waren. Der von Teilenbach geprägte Begriff der Reichsaristokratie hat einen politischen, keinen ständerechtlichen Inhalt; er umfaßt die meist nationalfränkischen hohen Vertreter der Reichseinheit im Karolingerreich des 9. Jahrhunderts, die in höchsten Beamten- und Heerführerstellen im auseinanderfallenden Großstaat die Reichstradition aufrechthielten. Durch Begiiterung und Versippung verwurzelte diese Reichsaristokratie immer mehr in den Stammeslandschaften und im Stammesadel. Aus ihren Reihen gingen die jüngeren Stammesherzoge hervor, die beim Versagen des Königtums den Schutz der Reichsteile und Grenzen gegen die Invasionen der Normannen und Ungarn übernahmen. Gestützt auf Gefolgschaft und Anerkennung des eigentlichen Stammesadels schwangen sie sich für ein Menschenalter zu fast königsgleicher Stellung empor. J e mehr aber der Hochadel dem Königtum als die zu Eigenherrschaft berechtigte Führungsschicht gegenübertrat und auch die hohen Stellen der den Großstaat stützenden Reichskirche besetzte, durch die Vogtei vor allem in den kirchlichen Immunitäten eine Fülle von Hoheitsrechten in seiner Hand häufte, je zahlreichere Rodungsherrschaften er seit dem 11. Jahrhundert in den Waldgebieten aufbaute und je stärker er seit dem Investiturstreit eigene Landesstaaten zu errichten begann, um so deutlicher wurde eine Umschichtung in dieser Adelsgesellschaft. Die großen Landesherren der Zukunft schlossen sich zu einem eigenen Kreis zusammen, traten 1180 beim Prozeß gegen Heinrich den Löwen als geschlossener Reichsfürstenstand auf, an seine Spitze aber traten die Königswähler = Kurfürsten seit der Mitte des 13. Jahrhunderts. Soweit die alten Grafengeschlechter nicht im 12./ 13. Jahrhundert ausstarben, sanken sie in der Adelsgesellschaft um eine Stufe tiefer auf den dritten Rang des Heerschildes. Dieser mediatisierte, nicht mehr direkt unter dem König stehende Adel suchte sich im Spätmittelalter, besonders unter den Luxenburgern, dem höchsten Adel der Landesherrn durch Lehensauftragung an Kaiser und Reich wieder zu entziehen (Reichsgrafen). König, Fürsten, Hochadel treten im 12. Jahrhundert mit den aus der Unfreiheit aufsteigenden Dienstmannen zum neuen Gesellschafts- und Kulturkreis des Rittertums zusammen, in dem die Laienkultur Europas ihre gültigste erste Ausdrucksform fand. Das führte indirekt abermals zu Neubildung von Adel, zum Niederadel. Im Spätmittelalter zerfiel die Gemeinschaft des Ritterstandes, in der die altadeligen Normen von Ebenburt und Echtheit, adeliger Brauch (Schwertleite, Turnier), adelige Sittlichkeit und Lebensformen auch für die Ministerialen Gültigkeit gewannen. Hochadel und Niederadel differenzierten sich standesrechtlich, wenn auch
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das Bewußtsein des Gesamtadels nicht verloren ging. Das 12. Jahrhundert hat den Adelsbegriff auch spiritualisiert ; es sprach vom Adel der Gesinnung als einer inneren Anlage. Das Fehlen von politischen und militärischen Aufgaben, das Schwinden der materiellen Grundlagen adeliger Lebensführung durch einen Strukturwandel der Wirtschaft führte den politischen und kulturellen Verfall des Rittertums herbei. V. R a c h e , F e h d e , F r i e d e — Heil. G e r m a n i s c h e S u b s t a n z in Recht, S t a a t und R e l i g i o s i t ä t des M i t t e l a l t e r s Die Fehde ist keine Verfallerscheinung, sondern Kennzeichen des mittelalterlichen »Staates« aus germanischer Wurzel; erst die Ausschaltung der in ihr geübten Selbsthilfe schuf den modernen Staat und das moderne Staatsbürgertum. Der moderne Staat kennt keinen legitimen Widerstand = Fehde, denn er hat allein das Monopol der Gewaltanwendung. Absolutismus und Aufklärung haben die Fehde als »Faustrecht« geächtet. Die sittliche Kraft des Fehderechts beruhte im leidenschaftlichen Rechtsgefühl jedes Verbandsmitgliedes, das in der modernen Idee vom Staat und Gesetz fehlt. Die Träger legitimer Gewalt, die Wahrer des Friedens und Inhaber einer gewissen Gerichtsbarkeit waren in der primitiven politischen Lebensordnung der Germanen Familie, Haus und Sippe, Gefolgschaft und Herrschaft. Innerhalb der Verbände waren Rache und Fehde die legitimen Mittel der Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit ; Gewaltanwendung im Kampf um das Recht war erlaubt. Das anerkannten König und Fürsten, wenn sie es auch einzuschränken oder überflüssig zu machen suchten. Rache ist die der Sippe entsprechende Form der Ahndung von Unrecht. Den Stammes- und Volksfrieden, der auch Sakralfriede ist, wahren König, Herzog, Stamm. Intensiver aber sind Haus- und Sippenfriede. Träger der Sippenfehde ist im Mittelalter der Adel, der allein die Mittel hat, Wiedergutmachung zu erzwingen, Unrecht mit Gewalt gutzumachen. Früh tritt die Sühne neben Sippenfehde, d. h. der Wille, die Fehde vor allem durch Zahlung einer hohen Geldsumme zu vermeiden. Die Herrschaft = Staat sucht den Sippenfrieden einzuschränken und den Königs = Volksfrieden zur sippenübergreifenden Rechtsordnung zu erheben. Weil dem fränkischen König dies nicht gelang (trotz früher Ansätze im merowingischen Pactus pro tenore pacis), wollte er einen Untertanenverband mit Untertaneneid aufbauen, der allein dem Gericht des Königs unterstand. Mit dem mittelalterlichen Landfrieden hat dieses Bestreben nichts gemein. Fränkischkarolingische Politik war allein in der Durchsetzung des Sühnezwangs erfolgreich; jedoch dehnte sich Sippengewalt wieder mächtig aus, ger2·
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manische Ordnung behauptete sich gegen neuen königsstaatlichen Willen. Die Kraft des Adels aber sprengte alle der Fehde vom König gezogenen Grenzen ; der Herrscher war selten imstande, Recht gegen Mächtige durchzusetzen ; deshalb machte schon Karl der Große gerade diese zu Hütern des Rechts, weil sich die pauperiores vassi de palatio bestechen ließen und die potentiores bei der Handhabung des Rechtes fürchteten 58 . Einen revolutionierenden Wandel brachte erst die Landfriedensbewegung des 12. Jahrhunderts, indem sie schrankenlose Einzelgewalt durch umfassende Staatsgewalt zu ersetzen begann. Aber nicht mehr das Königtum, sondern der hochadelige Landestaat, der mit Hilfe der Landfrieden eine das ganze Territorium umspannende Kriminaljustiz aufbaute, legte so zentralisierende Grundlagen des modernen Staates. Erst dadurch wurde der Dualismus des mittelalterlichen Friedens seit altgermanischer Zeit beendet und die Gewalt allmählich beim Staate zentralisiert. Der Staat garantierte einen waffenlosen Gemeinfrieden im Gegensatz zum fehdebereiten Sippenfrieden. Das geschah auf dem Hintergrund einer Aktivierung der Massen durch den Übergang zur peinlichen Strafe für alle und die Beseitigung vor allem altadeliger Gewohnheitsrechte. In der Fehde verbinden sich Recht und Macht, sie ist Ausdruck adeligen Standesrechts, Lebensgefühls, Geltungsbewußtseins seit germanischer Zeit. Räche übt man für Tötung, Verwundung, tödliche Beleidigung. Fehde führen Adel, Grundherr, Verband um jede strittige Sache. Blutsverwandte waren Helfer bei Blutrache, Freunde bei der Ritterfehde. Freundschaft, Feindschaft, Rache, Sühne, Friede waren die sachlichen Grundlagen des mittelalterlichen Fehdewesens. Fehdekampf um das Recht braucht rechten Grund; fehlt er, wird sie zum iniustum bellum, zur tyrannis. Fehde ist nicht nur Recht, sondern auch Pflicht, denn es gilt in jedem Fall, die verletzte göttliche Weltordnung wiederherzustellen. Wer auf rechte Fehde verzichtet, verliert seine Ehre. Ein allgemeines Fehderecht gab es nach der Gesellschaftsstruktur der Zeit nicht ; nur bestimmte Rechtskreise, d. h. die rittermäßigen = wehrfähigen übten sie. Bauer und Bürger stand allein Blutrache ,Totschlagfehde zu. Neben der Fehde, die zur Rache schreitet und nach Schaden trachtet, war der Rechtsgang = Gericht, ursprünglich Kampf der Parteien vor Gericht, ein sekundäres Mittel der Rechtsdurchsetzung. Fehde, Feindschaft, Gewalt, Unrecht, Unruhe beendet der Friede, der aus Liebe und Minne ursprünglich wächst, die in Haus und Sippe, den ältesten natürlichen Friedensverbänden, herrschen. Im 14./15. Jahrhundert sind die alten Sippenverbände endgültig zerfallen. Friede, Urbegriff germanischen Lebens, ist auch Zentralbegriff M A. ECKHARDT, Die Capitularía missorum specialia von 802, DA 12 (1956), 498 — 516.
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der mittelalterlichen Vogtei und so des »staatlichen« Lebens. Wer Friede wahren kann, übt Herrschaft und kann von den Beschützten Preis, Robot, Steuer verlangen. Rache verneint den Frieden; Blutrache ist Pflicht. Als Kampf um das Recht ist im Mittelalter der Rachegedanke verchristlicht worden. Sühne schafft den Frieden, indem sie den Rechtsanspruch des Gegners befriedigt. Pax et iustitia sind dem mittelalterlichen und christlichen Denken ein vertrautes Begriffspaar, wenn sie auch nicht identisch sind. Da die politischen Verbände der heidnischen Germanen Kultverbände waren, wurde die schwerste Verletzung der Rechtsordnung durch das Opfer an die Götter gesühnt ; im Mittelalter steht dafür das Gottesurteil. Rache und Fehde, die aus germanischer Zeit tief in das Mittelalter hineinwirken, sind Prinzipien des Rechts gewesen, keine Auswirkung naturhaften Haß- und Kampftriebes ; sie sind Zeugen einer unentwickelten Gesellschafts- und Staatsordnung 59 . In das Herz religiös begründeter Staatlichkeit und einer bis in das hohe Mittelalter hineinwirkenden politischen Religiosität führt der Glaube an das Heil60. Die ältere rationalistische Theologie hat die Funktion des Religiösen für die menschliche Vergesellschaftung verkannt. Die politische und gesellschaftliche Lebensordnung der Germanen war sakral begründet und in eine höhere Ordnung-(Kosmogie)61 eingebaut. Dabei war die wichtigste Brücke zwischen Gott und Mensch, Religion und Herrschaft ( = Staat) die Glaubenstatsache des »Heils«. Heil geben und nehmen die Götter, es ist eine Gabe, ein verliehenes χάρισμα, nicht, wie noch Grönbech62 meinte, eine dem Menschen innewohnende Zauberkraft. Heil wird kultisch vermittelt, es haftet an Menschen (reges, duces, nobiles) und an Sachen (Ahnenstab, Heilsstab, Szepter = virga virtutis im Mainzer Krönungsordo von 962). Heil ist ein Grundbegriff germanischer Adelstheologie und ein Zentralbegriff germanischen Kultes, der in Geschlechter und Siegesfeiern die großen Leistungen mythisierter Helden = Heroen und die göttliche Abstammung von Königen, Stammesführern, Helden besang und verherrlichte. Den Begriffsinhalt des Heils bestimmt die religiöse Gemeinschaft; denn alle Religion ist von festen, gewachsenen Gemeinschaften getragen. Die Frage nach der Entstehung der Religion stellt sich für den Historiker primär nicht geistesgeschichtlich, sondern soziologisch. Das Heilige ist in allen Religionen mit dem Gedanken sittM
Siehe für alle Literaturangaben meine Artikel Fehde, Friede, Freiheit, Rache, Gottesf rieden, Landfrieden, Staat, Gericht bei Franz-Rössler, Sachwörterb. z. deutschen Geschichte (1956/7). 6,1 K. H A U C K , Geblütsheiligkeit, in Liber: Floridus, Festschr. f. P. Lehmann (1950), 187 —240. — K. K I E N Z L E , Germanische Gemeinschaftsformen (1939). 61 I·. R. S C H R Ö D E R , Ingunar Frevr (1941). 62 YY. G R Ö N B E C H , Kultur und Religion der Germanen, 2 Bde (51954).
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licher Verpflichtung verbunden. Aus diesem Grunde ist auch das Recht sakralen Ursprungs, d. h. ein Teil der Religion. Das nichtkodifizierte Gewohnheitsrecht wird vom heilbegabten Adel als heiliger Wissensbesitz gehütet und vererbt und ist ein Teil seiner religiösen Bindungen. Sprache und Religion sind schon länger als die schöpferischen Kräfte bei der Bildung der Völker erkannt, die in der Religion zum eigenen Bewußtsein erwachen. Die alten Germanenstaaten waren Aristokratien mit monarchischer Spitze ; die politische Stellung des Adels, seine auctoritas, war im religiösen Glauben an ihr göttliches Heil und ihre göttliche Abstammung verankert. Dieser Glaube aber erwuchs, als mit dem Beginn der Wanderungen neben die Verehrung der Urmutter Erde und anderer Naturgötter individuelle Götter traten, die zum Teil Idealisierungen der großen Wanderführer und Heroen waren ; er ist Symptom des Heldenzeitalters der Völker. Diese neuen Götter mit ihren menschlichen Eigenschaften waren deshalb persönlicher, anschaulicher Adelsspiegel, für den Adel Bestätigung seines Wesens, für die Beherrschten Symbol der göttlichen Abstammung ihrer adeligen Herren und religiöse Legitimation ihrer Herrschaft. Letztere aber war so lange Recht und Gesetz, als diesen Adel der Schimmer göttlicher Abstammung und die Bewährung gottgebenen Heils in Kampf und Sieg begleitete, solange er Beispiel war und dem Ganzen diente. Die Wanderzeit als die Geburtsstunde von »Stamm« und »Volk« brachte diese im Glauben an das Heil ihrer Führer zum Bewußtsein ihrer Kraft und Eigenart. Bei Griechen, Italikern und Germanen gründet politische Einheit im Glauben an eine bestimmte Gottheit. Das Heil macht den König zum Träger und Glied einer Sakralordnung. Wie der römische rex sacrorum war er oberster Walter des Kultes. Gemeingermanisch ist der Glaube, daß die Wohlfahrt des Landes vom König abhänge 63 . Dieser überlebt sogar die Vollendung der inneren Christianisierung Deutschlands im 11. Jahrhundert. Für die Bauern von Lüttich war der tote Kaiser Heinrich IV. trotz Kirchenbann noch immer im Vollbesitz des Königsheils ( = Volksheiligkeit) ; darum kratzten sie die Erde von seinem Grabhügel. Legten Getreidekörner auf seine Bahre, um mit den dadurch geweihten Dingen eine fruchtbringende Ernte zu gewinnen. Sie glaubten für sich selber etwas vom Heil des Herrschers mitzunehmen, wenn sie die Finger an die Leiche legten64. Das Gedeihen von Land und Reich ist Ausfluß der Gotteskraft im König. Deshalb sind Person und Besitz des Königs heilserfüllt = heilig. Der Heilsgedanke ist eine der wichtigsten Brücken von der alten zur neuen christlichen Religion und zur politischen Religiosität des Früh83
Ammianus Marcellinus X X V I I I . 5, 14.
61
V g l . K. HAUCK, G e b l ü t s h e i l i g k e i t .
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mittelalters 65 . Das zeigt die bekannte Stelle im Briefe des Bischofs Avitus von Vienne an Chlodwig66, die in der freien Übersetzung Karl Haucks so lautet : »Die Taufe, in der das unter dem Sturmhelm langgewachsene Haar mit dem heilbringenden Schutzpanzer der heiligen Salbung angetan wird, wird vor allem die Macht der Waffen stärker und das, was bisher das Königsheil (felicitas) gewährt hat, wird nun die kirchliche Heiligkeit (sanctitas) mehren 67 . Im Taufbericht des Avitus wird die Trennung des Geblütsheils vom göttlichen Ursprung der Adelssippe bei der Christianisierung deutlich sichtbar.« 68 Die Heiligenle.genden des frühen Mittelalters gründen den christlichen Heilsbegriff auf christlichen Tugendwerken, auf die Macht Gottes in den Höchstleistungen von kindlich frommen Menschen und Helden. Bei Sulpicius Severus, dem Verfasser der Vita Sti. Martini, ist virtus die im Heiligen wirksame, wunderwirkende Kraft Gottes. Die Metzer Annalen drücken damit die charismatische Begnadung des Herrschers aus und begreifen das Gottesgnadentum als Vergeistigung alter charismatischer Vorstellungen 69 . Widukind von Korvey umschreibt das Königsheil mit dem Doppelbegriff »fortuna et mores«. Büttner (a. a. 0.) hat gezeigt, daß die Kurie vom germanischen Glauben an das Königsheil wußte, als sie den karolingischen Hausmeier Pippin durch die kirchliche Salbung auch für die katholischen Romanen des Frankenreiches legitimierte, nachdem er der germanischen Welt durch die Ruhmestaten des Vaters längst als hinlänglich sakral gerechtfertigt galt. Der Heilsgedanke wurde in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts beiseitegeschoben, als der König allgemein als Vicarius Christi erschien. Der Bannfluch Gregors V I I , gegen Heinrich IV., den rex et sacerdos, den vicarius Christi, den kraft Königsheil als Mittler zwischen Gott und Welt stehenden sakralen Herrscher, zerstört die im germanisch-deutschen Heilsglauben verankerte Welteinheit, vernichtet die religiöse gegründete Auffassung von Herrschaft ( = Staat) seit germanischer Zeit 7 0 ; er setzt an ihre Stelle den philosophisch-juristischen Dualismus zwischen Temporalia und Spiritualia. Auch wenn das bäuerliche Volk den unglücklichen Heinrich IV. noch als Heilsträger ver65
Vgl. R. BUCHNER, Das merowingische Königtum, in: Das Königtum 143—154.
W . V. DEN S T E I N E N ,
MÖIG,
Ergbd.
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(1932/33)
passim.
Vgl. E . EWIG, Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter, in: Das Königtum, 7—74, bes. 37 ff. 6 7 MG. Auct. antiqu. VI. 75. 6 8 »Ihr dem vom großen uralten Stammbaum der bloße Adel ( = das Geblütsheil) genug ist, habt gewollt, daß nun alles bei Euch anfange«, (d. h. nicht mehr beim göttlichen Urahn des Stammbaums). 6 9 Siehe die beweisende Einleitung über Pippinus filius Ansegisili, ed. Simson (1905) ad. a. 678 Iff. 7 0 Vgl. auch P. E . SCHRAMM, Der König von Frankreich (1939) u. M. BLOCH, Les rois thaumaturges (1924) — G. DUMÉZIL, Mythes et dieux des Germains (1959). ββ
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ehrt, unterlegt der Anonymus in seiner begeisternden Vita 71 »fortuna« in Anlehnung an Boethius, den großen Lehrmeister des Mittelalters, nicht mehr wie Widukind den Sinn von Königsheil, sondern den der Hinfälligkeit und Unbeständigkeit alles Irdischen. Heinrich IV., den der Wendenpfarrer Helmold von Bosau am Ende seines Lebens in einer ergreifenden Szene in den großen Rahmen der mittelalterlichen deutschen Hochkirche stellt, so daß wir die ganze Tragik zutiefst mitfühlen 72 , erwirbt felicitas, das Avitus von Vienne noch als heidnisches Königsheil deutet (s. o.), durch ein heiligmäßiges Leben, das ihm Glückseligkeit im Jenseits garantiert. Die kirchliche Heiligkeit = sanctitas hat seit der Merowingerzeit Sippen- und Königsheil von innen her umgestaltet und ausgehöhlt. Königsheil ist eingebettet in den umfassenden Gedanken des Sippenund Geblütsheils73, beide waren gestaltende und formende Kräfte in germanischer und frühmittelalterlicher Zeit, mindestens bis in das 11. Jahrhundert hinein. Indem die (Adels-) Sippe sich einen Gott zum Stammvater kürt, bindet sie sich nicht nur an seinen Dienst, sondern sichert sie sich auch dessen Heil. Die Heldensage, ehemals zumeist aesthetisch interpretiert (A. Heusler), heute nach religionsgeschichtlichen Ergebnissen befragt, kündet durch ihre Umwandlung von der germanischen Auffassung vom Heil der Herrschaft, von der religiös begründeten Staatlichkeit. Jordanis (Gotengeschichte X I I I . 78) berichtet: »Die Goten nannten ihre adeligen Führer, durch deren Heil (Fortuna) sie zu siegen vermeinten, nicht bloße Menschen, sondern Halbgötter (Heroen) d. h. Asen«, deren Stammbäume er durchgehen will. Dieser Gotenadel besaß im Glauben seiner Geführten. »Geblütsheil«, das in Kampf und Sieg wirksam wurde, durch die Stammbäume aber in einen religiösstaatlichen Ordo eingebaut war, der in kultischem Brauch lebendig wurde. Diese proceres stellten den Gott dar, den sie im Kult repräsentierten 74 . Schlachtenglück, heroische = epochemachende, entscheidende Leistung, die den Helden als Glückhaft-heilig erwies, begründeten in vorchristlicher Zeit die Geblütswürde. Das zeigt auch die Vita Mathildis bei der Schilderung des großen Sieges Ottos I. auf dem Lechfeld, der die Kaiserwürde begründete 75 . Der Glaube an das adelige Geblütsheil blieb erhalten in der haus- und sippegebundenen Literatur des 10./II. Jahrhunderts, so in der Ecbasis captivi oder im Ruodlieb7β. Er ist ein wesentliches Element der gesellschaft71
Vita Heinrici IV. imp. ed. Wattenbach (31899), ad. a. 1106. S 44. Helmolds Slavenchronik, ed. B. Schmeidler (31937), I. 33, 25ff. (ad. 1106) — Vgl. K. BOSL, Heinrich IV. in verfassungsgeschichtlicher Sicht, ungedr. Vortrag. 78 K. H A U C K , Geblütsheiligkeit, a. a. O. 74 O. H Ö F L E R , Festschrift f. O. Scheel (1952), 23. 76 Vgl. Widukind III. 49. 74 H A U C K , Mittellateinische Literatur, in Deutsche Philologie im Aufriß. 18. Lief. Sp. 1841 ff.; Ders., Heinrich III u. d. Ruodlieb; Festschr. f. Th. Frings (1949); Ders. 72
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liehen Geltung, Ständebildung und Differenzierung des Adels im Mittelalter geblieben und hat, wenn auch immer mehr vèrblassend, bis in die Moderne hinein die gesellschaftliche Stellung des Adels unausgesprochen mitgeprägt. Im Heilsgedanken treten Gesellschaft, Staat, Religion der Germanen zusammen; in seiner Umwandlung wird ein wesentliches Stück germanischer Bekehrungsgeschichte sichtbar. Im Heilsbegriff ist noch im 11. Jahrhundert die Auseinandersetzung zwischen germanischem und christlich-antikem Staatsdenken greifbar. Am Schlüsse der Ausführungen darf ich zusammenfassen. Da europäische Kultur genau so wie die ihr zugehörige deutsche ein in sich geschlossenes Ganzes ist, das sich wesenhaft von anderen Kulturen und Gesellschaften unterscheidet, gelangt man zur Erkenntnis ihrer Wesenselemente dadurch, daß man in rechter Würdigung des Wandels, der etwas grundlegend Neues im Frühmittelalter erstehen ließ, nicht nur die von außen wirkenden und anregenden Kräfte fremder Kultur aufzeigt, sondern auch die kontinuierlich weiterwirkenden gestaltenden Eigenwerte und Mächte zu Bewußtsein bringt. Die Germanenforschung der letzten dreißig Jahre, besonders die germanische Archäologie haben viele neue Erkenntnisse dazu gebracht und neue Erkenntnismöglichkeiten geboten. Es beginnt mehr Licht auf die dark ages der Geburt einer neuen Kultur und Gesellschaft zu fallen, nachdem wir zu lange und zu intensiv nur die von Geistlichen geschriebenen Geschichtsquellen und Sammelwerke des Früh- und Hochmittelalters interpretierten, so dankbar wir für sie sein müssen, nachdem wir zu ausschließlich nur nach dem antiken und christlichen Erbe in diesem Schrifttum Ausschau hielten und es nach unseren eigenen Auffassungen, ζ. B. vom Staat erklärten. Ich meine, daß wir heute an einem Punkte angelangt sind, an dem sich für den Mediävisten wie für jeden, der nun eine Erkenntnis des Wesens europäischer Kultur ringt, das Germanische nicht mehr von selbst versteht, auch wenn man damit zugibt, daß unser geschichtliches Bewußtsein nicht mehr ungebrochen und selbstbegründet, unsere Gesellschaft brüchig geworden ist. Gerade weil unser Anliegen weitgespannt ist, unterschätzen wir weder die Bedeutung des antiken und christlichen Zustroms und seine gestaltende Kraft, noch auch das beharrende Weiterwirken germanischer Substanz vor allem in Deutschland. Wem es um Erkenntnis der objektiven Geschichtswirklichkeit geht, den stimmen heute Worte des großen europäischen Universalisten E. R. Curtius 77 bedenklich, die er im Kolleg seinen Schülern sagte, daß die heute müde gewordene Idee des Humanismus ein fruchtbarer Irrtum Winckelmanns und des 19. Jahrhunderts waren. Auf ihm aber ruhte unser Bild von Kultur und Wesen Europas. a . a . O . MIÖG 62 (1954), 121 ff. — Vgl. dazu grundsätzlich H. GRUNDMANN, Geschichtsschreibung im Mittelalter; Dte. Phil, im Aufriß 26. Lief. Sp. 1273ff. 7 7 E. R. CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948).
P O R P H Y R I O S ALS M I T T L E R ZWISCHEN PLOTIN UND AUGUSTIN Von
HEINRICH DÖRRIE
I. Nicht in gleichmäßigem, breitem Strom ist das neuplatonische Gedankengut und — wichtiger noch — die neuplatonische Denkweise in das sich bildende Mittelalter eingegangen. Sondern was in den Westen herüberwirkte, ist ganz vornehmlich durch die Vermittlung eines Mannes hindurchgegangen: des Porphyrios von Tyros. Lehrreich ist der Vergleich damit, wie der Neuplatonismus auf den Islam nachwirkte 1 . Auf arabischer Seite konnte man noch Jahrhunderte nach der Hedschra aus der lange fortlebenden porphyrischen und nachporphyrischeri Tradition schöpfen. Dagegen sind im Westen die Fortschritte, die der Neuplatonismus nach Porphyrios noch machte, so gut wie unbekannt geblieben (der Grund soll unten S. 29f. umrissen werden). Die Berührung des Abendlandes mit dem Neuplatonismus2 geschah also in Porphyrios und durch Porphyrios. Verglichen damit ist der Einfluß Plotins, den stets nur wenige zu verstehen vermochten, gering geblieben. In Porphyrios dagegen stellt sich eine echte ÜberlieferungsStufe dar: Alles neuplatonische Gut, das im Westen bedeutsam werden sollte, ist durch ihn vermittelt. Porphyrios lebte zu der Zeit, da die griechische und die lateinische Reichshälfte sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt stärker dissoziierten. Er starb im Jahre 304 oder 305, also kurz bevor der Kaiser Diokletian die Regierung niederlegte. Porphyrios hat also den Anbruch der neuen Ära, den Sieg des Christentums, das er so sehr haßte, nicht mehr erlebt. Porphyrios lebte noch in einer Welt, in der die Gültigkeit universaler Bildung unbestritten war. Und diese Bildung besaß Porphyrios wie kein zweiter. Das verdankte er seinem ersten Lehrer LONGIN, den die Nachwelt eine »Ein-Mann-Universität« nannte 3 . Auch Porphyrios 1 Zu den Einzelheiten ist der unten S. 179 abgedruckte Vortrag von R. WALZER ZU vergleichen. Es ergab sich unbeabsichtigt, daß beide Referate einander weitgehend entsprachen; denn an beiden Stellen handelt es sich um die Rezeption des Neuplatonismus durch nicht-griechische Theologen. 2 Dies gilt in aller Strenge bis (fast genau) zum J a h r 1000. Dann wird ein sehr anderer Nachklang des Neuplatonismus in Europa wieder hörbar: Die Schriften des Dionysios Areopagita gelangen nach Paris und gewinnen — über Johannes Scotus — hohe Bedeutung. Vgl. hierzu JOSEF KOCH, Augustinischer und dionysischer Neuplatonismus und das Mittelalter, Kant-Studien 48 (1956) 117—133. 3 Eunapios, vitae soph. 7, 13 BOISSONNADE Aoyyîvos 5è κατά τον χρόνον εκείνον βιβλιοθήκη τις f\v έμψυχος και περιπατούν Μουσείον . . .
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hätte wohl mit seinem Wissen eine Universität vertreten können ; seine zahlreichen Schriften — über 70 Titel sind bekannt 4 — zeigen, daß er in Mathematik und Harmonie-Lehre ebenso zu Hause war wie in Grammatik und Rhetorik; er war ein tüchtiger Homer-Philologe und übertrug, was er hier gelernt hatte, auf die Erklärung Piatons und Aristoteles' ; er beherrschte wie kein zweiter die Logik des Aristoteles und war wohl bewandert in den Disziplinen der Naturwissenschaft und der Medizin; das waren Wissensgebiete, die man vollauf mit zur Philosophie rechnete. Mit allem diesem Wissen stand Porphyrios, wie sein Lehrer LONGIN, in den Überlieferungen der Akademie; in ihr kam man, namentlich in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit, dem nahe, was wir wissenschaftliche Forschung im eigentlichen Sinne nennen. Man war sich bewußt, in jedem wissenswerten Detail (etwa der Physiologie oder der Philologie) eine Verästelung des Logos bloßzulegen, der sich in der Welt verwirklicht — ein Blick auf die Thematik des Plutarch, des Akademikers Taurus (bei Gellius reich bezeugt) oder des L O N G I N gibt Aufschluß über diesen Aspekt von Wissenschaftlichkeit ; man wäre versucht, ihn zweckfrei zu nennen, wenn er nicht immer wieder der Bestätigung des Logos diente. In solcher Wissenschaftlichkeit hat Porphyrios seine methodische Schulung erworben, die er sein Leben lang nicht verleugnete. II. Und doch hat derselbe Porphyrios aus voller Überzeugung all' sein ausgebreitetes Wissen in den Dienst eines einzigen Gedankens gestellt ; der ganze Universalismus des Wissens bildet sich ihm unversehens um in einen strengen Monismus : Alles Wissen ist nur mehr sinnvoll, wenn es mit der hauptsächlichen Erkenntnis übereinstimmt, ja in ihr aufgeht. Diese hauptsächliche Erkenntnis, dieser eine Beziehungspunkt, der allem Erkennbaren Sinn und allem Wesen Sein verleiht — diese hauptsächliche Erkenntnis war ein durchaus theologischer Gedanke. Daß Porphyrios den Ubergang von fachgerechter Philosophie mit dem Ziel der Wissens-Mehrung zur — noch völlig neuartigen — Theologie mit dem Ziel der Sinngebung vom Transzendenten her fand — das lag an seiner Ubersiedlung nach Rom, das lag an der Begegnung mit Plotin, dessen bevorzugter Schüler er vom Jahre 263 an als bereits Dreißigjähriger wurde. Gewiß, — die Bezeichnung Theologie für das Lehrgebäude Plotins werden christliche Theologen vielleicht nicht gut heißen. Diese Theologie ist in strengstem Sinne natürliche und rationale Theologie; daß eine gültige Kunde vom Göttlichen aus Offenbarung fließen könne, 4 Aufzählung l . b e i J . BIDEZ, La vie de Porphyre (1913), 6 5 * — 7 3 * ; 2. b e i R . BEUTLER. R E (unter Porphyrios) 43 (1953) 279—301.
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wird mit Schärfe abgelehnt. Es ist eine Theologie, die eine jede Beziehung des Göttlichen hinab zum Menschen ablehnt, also den Begriff der Gnade gar nicht bilden kann; denn sie lehnt die Vorstellung von der Persönlichkeit Gottes als geradezu unfromm ab. In dieser Theologie ist ferner das Element des Glaubens von dem des Erkennens noch gar nicht gesondert; das letztere dominiert ganz ohne Zweifel. Und endlich ist dies eine Theologie völlig ohne Kirche. Aber Theologie ist das alles doch in einem klar umrissenen Sinne: Es wird zugleich die wissenschaftliche, dialektisch gefestigte Aussage über das Göttliche versucht und erreicht ; es wird der Raum des Göttlichen über der Welt und in der Welt fixiert. Das heißt: Es wird untersucht, wie sich Gott als Ursache stufenweise in der Welt verwirklicht. Und man kann wohl ermessen, welch einen Einfluß diese Gedankenreihen in ihrer Methodik und Systematik auf das sich konstituierende Christentum haben mußten : Hier bestand ein Analogon zu der christlichen Theologie, die sich erst bilden wollte ; noch ehe christliche Dogmatiker ihre Aussage über das Wesen des Vaters und des Sohnes begründeten, war hier der Versuch gemacht worden, das Wesen des Göttlichen erkennend auszuschöpfen. Zu seiner theologischen Betrachtungsweise gelangte das Christentum nur schrittweise, und dann, wie gezeigt werden soll, nur in enger methodischer Anlehnung an dies Vorbild. Die wichtigste Aufgabe wird nun sein, diesen theologischen Grundgedanken, der trotz aller Dialektik ein Grundgefühl ausdrückt, zu umreißen. Dabei ist dieser Grundgedanke untrennbar mit einer ganz bestimmten Haltung des Denkens verbunden; beides gewinnt seine Bedeutung dadurch, daß es die theologische Formung Augustins ganz stark und die vieler Zeitgenossen spürbar beeinflußte. — Um dieser Theologie willen tat Porphyrios den so ungemein wichtigen Schritt, alles Wissen, alle Erkenntnis jenem einen Beziehungspunkt unterzuordnen. Das war nicht Plotins Sache gewesen — denn dieser war in der Fach-Philosophie stets Außenseiter, und sein Wissen konnte sich, wenn man die Beherrschung des Details zum Maßstab nimmt, mit einem Fachmann wie Longin nicht messen. Wenn eine extreme Formulierung gewagt werden darf : Plotin war ein Prophet, aber ein Professor war er nicht, und das professorale Wesen des LONGIN hat er scharf abgelehnt. Porphyrios aber brachte — gerade von diesem her— das ganze Rüstzeug der Fachgelehrsamkeit mit ; und es ist nun sehr bedeutsam geworden, daß dies Rüstzeug für Porphyrios jeden Eigenwert verliert. Alles bisher Gewußte behält Gültigkeit nur in jenem Sinnbezug, der im Transzendenten gipfelt. So hat Porphyrios als erster die Philosophie zur Magd der Theologie gemacht. Mit Erfolg hat er es unternommen, den Nachweis bis in das letzte Detail zu führen, daß ohne Bezug auf das Höchste nichts sinnvoll und nichts real sein
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kann. Dabei hat er Formen der Nachweisung entwickelt, die durchaus an die Scholastik gemahnen ; denn wie diese benutzt er aristotelisches Rüstzeug für theologische Nachweise. — III. Porphyrios lebte, wie gesagt, in einer Welt, deren Bildungsideal noch in keiner Weise gespalten war ; weder war das philosophisch-rhetorische Ideal selbst ernsthaft angetastet, noch war die antike Welt selbst in zwei Hälften zerfallen. Noch hatte griechische Weisheit volle Gültigkeit in Rom. Die zuvor selbstverständliche geistige Einheit der antiken Welt, wobei die Präponderanz des Griechischen stillschweigend eingeschlossen war, zerfiel kurz nach Porphyrios. So war Porphyrios der letzte antike Mensch, der in gleicher Intensität seinen Einfluß in Ost und West ausübte. Schon sein Nachfolger Iamblich hatte dem lateinischen Westen nichts mehr zu sagen. Die Dissoziierung, die in jenem Jahrhundert Rom von Griechenland trennt, hat zwei Aspekte. Der eine ist der der sprachlich-kulturellen Entmischung. Seit den Scipionen war Rom eine zweisprachige Stadt. Nicht nur die Gebildeten, sondern eine starke Mehrheit der kleinen Handelsleute und der Sklaven sprachen in Rom entweder nur Griechisch oder neben Latein auch Griechisch. Die Sprache der christlichen Gemeinde in Rom war in den ersten Jahrhunderten Griechisch ; andererseits hielt Plotin seine Vorträge vor der gebildeten Gesellschaft 5 Roms auf Griechisch — diese beiden Extreme mögen erläutern, wie weit Rom griechisch durchsetzt war. Gewiß schwankte die Intensität dieser Durchmischung von Jahrhundert zu Jahrhundert — doch soll das jetzt in seinen Einzelheiten nicht untersucht werden. Im Verlaufe des 4. Jahrhunderts aber fiel sie ganz beträchtlich ab und hörte bald auf, ein kulturell bestimmender Faktor zu sein. Von diesem Blickpunkt aus darf man von einer Romanisierung Roms im 4./5. Jahrhundert sprechen. Mitgrund für das Schwinden des griechischen Einflusses war die Verlegung der Hauptstadt, wodurch Mailand (wenigstens politisch) den Vorrang vor Rom gewann, war das Schrumpfen des Handels-Verkehrs ; ein wichtiger Grund war, daß die griechische Reichshälfte jetzt in geistiger und literarischer Hinsicht viel weniger zu bieten hatte als in früheren Jahrhunderten 6 . 6 Zum Publikum Plotins gehörten auch — das darf nicht übersehen werden — christliche Gnostiker, mutmaßlich der Richtung Valentinians ; die Diskussion mit ihnen ging natürlich auch auf griechisch vor sich. Plotin hat das Ergebnis dieser Diskussion in der Schrift ENN. II 9 (33) niedergelegt; sie ist hervorragend analysiert von R. HARDER, jetzt Kl. Schriften 296—313; vgl. A. PUECH, Plotin et les Gnostiques; Entretiens
de la fondation Hardt' V (1957), 162—190, bes. 183.
β Dabei ist aber zu unterstreichen, daß die großen Prediger und Kirchenlehrer, an denen das Jahrhundert Konstantins reich war, im Westen keineswegs den Widerhall fanden, den man erwarten sollte.
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Aber man löst sich im Westen nicht nur von der Anerkennung der zeitgenössischen Leistungen auf griechischer Seite; man löst sich auch von der Verehrung der klassischen Vorbilder; man löst sich von der Pflicht zur Nachahmung, zur literarischen imitatio. Die Entmischung der bisherigen Doppelkultur bedeutet das Ende des kaiserzeitlichen Klassizismus. Denn zuvor gilt für jeden, der Latein schreibt, das Gesetz der imitatio mit großer Nachdrücklichkeit : Seit den Anfängen der lateinischen Literatur nimmt man die Feder nicht in die Hand, um Neues zu sagen. Sondern die Aufgabe ist stets, das von Griechen vorbildlich Gesagte nun in lateinischer Sprache ebenfalls vorbildlich zu sagen. Das schließt gewiß die erforderlichen Umsetzungen ein; aber eine Verpflichtung, originell zu sein, hat die lateinische Literatur nie gekannt, solange jene Beziehung bestand. Im Jahrhundert Konstantins zerriß diese: das griechische Geistesleben hörte auf, Vorbild zu sein. Man gewann, erst in den westlichen Provinzen Africa und,Spanien, aber auch in Mailand, dann in Rom selbst, ein zuvor nicht gekanntes Gefühl geistiger Unabhängigkeit den Griechen gegenüber. Man muß sich klar machen, was es bedeutete, wenn man daran ging, gerade im kirchlichen und im dogmatischen Gebiete Eigenes aufzubauen. Überraschend schnell endete das Schüler-Verhältnis den griechischen Kirchen-Lehrern und der griechischen Kirchlichkeit gegenüber. So bereitete sich der Boden für die Unabhängigkeit Roms allgemein in kultureller, speziell in kirchlicher Hinsicht. Ganz zweifellos tritt damit ein Wesenszug in Erscheinung, der das Mittelalter charakterisiert, der Antike aber fremd ist. Gegen alles Herkommen lernt Rom in diesem Jahrhundert, sich dem Osten gegenüber nicht nur ebenbürtig, sondern gar sich überlegen zu fühlen. Aus der jahrhundertelangen geistigen Bindung, besser, Unterordnung Roms unter Griechenland wird binnen kurzem Antithese, ja Gegnerschaft. D a ß diese Spaltung sich politisch vollzieht, ist fast das Geringste an diesem Prozeß : er vollzog sich zuvor geistig, kulturell, kirchlich. Und damit trat das Gesetz der imitatio sehr rasch außer Kraft. Porphyrios nun ist der letzte Grieche, auf den sich dies Gesetz noch uneingeschränkt bezog. Er ist der letzte griechisch schreibende Autor, dessen geschriebenes Werk für die Lateiner eine so verpflichtende Gültigkeit hatte, wie einst die Stoiker und Akademiker für die Generation Ciceros. Porphyrios ist damit der letzte in der langen Reihe von Lehrern Roms, der letzte in einer Reihe von Namen, unter denen Aristoteles, Panaitios, Poseidonios und Epiktet voranstanden. Daß er als letzter solche Bedeutung für den Westen gewann, liegt natürlich zum Teil daran, daß er unmittelbar vor jenem Bruch lebte ; ein halbes Jahrhundert später wäre er im Westen vielleicht nicht mehr gehört worden. Noch mehr aber liegt die Intensität des Nachwirkens an dem, was er zu sagen hatte. Seinem Lehrer Pio tin, wiewohl der in
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manchem der größere war, ist diese Breite des Wirkens versagt geblieben. IV. Im Osten wirkte Porphyrios durch andere Seiten seines Wesens als im Westen. Das hängt mit mancherlei Umständen im einzelnen zusammen, weist aber im ganzen auf jene beginnende Auflösung der antiken Welt als einer οικουμένη hin. Auf griechischem Boden hat Porphyrios auf Jahrhunderte hinaus den Neuplatonismus geprägt ; er verlieh ihm gerade in seinen Aussagen über das Göttliche solche Akzente, daß dieser porphyrisch gefärbte Neuplatonismus nie zum Ausgleich oder zur harmonischen Vereinigung mit dem Christentum kommen konnte; da gab es Grundsätzliches, das unüberbrückbar blieb 7 . Denn nicht nur der Gegenstand der Aussage, sondern die Haltung, in der philosophiert wurde, war und blieb in der Akademie des 5. Jahrhunderts porphyrisch. Und diese Haltung Schloß Opposition und Unversöhnlichkeit gegen alle Manifestationen des Christlichen, schließlich auch gegen den Staat in sich. Die Synode zu Ephesos empfahl im Jahre 447, die lästerlichen Bücher des Porphyrios zu verbrennen, was der Kaiser am 16. 2. 448 zu vollziehen befahl7». Nie zuvor war eine Maßnahme von solcher Schärfe vollzogen worden. Das Ende war die Schließung der Akademie 529 und die Emigration der letzten Neuplatoniker. Weil im Osten Porphyrios in dieser so betont opponierenden Schule fortlebte, blieb sein Einfluß außerhalb gering. Selbstverständlich ist er hier und da von Christen ausgebeutet worden ; NEMESIOS8 tut das mit der schönen Entschuldigung, gerade der ärgste Feind könne zum Kronzeugen für die Richtigkeit einer dogmatischen Formel werden. Selbst ATHANASIOS und nach ihm die Kappadokier nutzten Porphyrios sehr scharfsinnige Einteilungen gern, und zum Teil nachhaltig 9 . Aber das Ausbeuten geschah doch immer mit dem Bewußtsein, daß man sich mit dem bösartigsten Feinde des Christentums einließ. Sein brillant, aber bissig formuliertes Buch Wider die Christen, das die Gültigkeit gerade 7 Selbstverständlich ist auch im Westen nie von christlicher Seite, am wenigsten von Augustin, in den Kernpunkten der christlichen Lehre dem Neuplatonismus nachgegeben worden. Vor allem war die Lehre vom Einen über dem Sein unannehmbar; denn das Eine als ein Unpersönliches in höchster Abstraktion konnte mit der Vorstellung von dem persönlichen, allmächtigen Schöpfergott nicht vereinigt werden. 7 a Vgl. 1. Acta conc. oec. I (Conc. Ephesinum) 1,4; 66, 8—12 ed ED. SCHWARTZ; 2. Cod. Iustinianus I 1,3 (corp. iur. civ. I I [1888] 5). 8 NEMESIOS 3 p . l 3 9 , 2 f f . ΙσχυραίδέτώνέχθρωνCTLυπέρήμώνμαρτνρίαικαΐνιηδεμίαν άντιλογίαν έτπδεχόμεναι. 9 Zu hübscher Illustration kommt das in einem Heft mit Leseproben, das R . ARNOU veröffentlicht hat: De Platonismo Patrum, Textus et documenta Pontif. Univ. Gregorianae, Rom, 1935.
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aller Offenbarung in Frage stellt, war zunächst weithin bekannt ; es ist erst durch die oben zitierten Erlasse von 448 unterdrückt worden10. Allein die Existenz dieses Buches hätte es unmöglich gemacht, daß man sich in theologischen Fragen bei ihm Rat holte. V. Da lagen die Dinge im Westen ganz anders. Hier erinnerte keine neuplatonische Schule an die Unvereinbarkeit von Neuplatonismus und Christentum. Sondern die Neuplatoniker des Westens waren alle Christen, oder mindestens standen sie dem Christentum sehr nahe. Hier war ein Ubergang vom einen zum anderen möglich — und wurde bei Augustinus vor allem wirklich. Der Unterschied brauchte nicht als diametral angesehen zu werden. Sondern man durfte von Porphyrios das übernehmen, was die Kirchenlehrer in griechischer Sprache nicht zu bieten vermochten. Das war vor allem die Methode theologischer Beweisführung. Dies Gut nun, das Porphyrios bot, und das man in Mailand, in Rom und in Hippo Regius gern aufnahm, weil man es so sehr brauchte, dies Gut war ein doppeltes: es war die Logik als Fundament der Theologie, und es war die Begründung einer theologia practica.
Auf diese beiden Hauptpunkte soll sich die folgende Darstellung beziehen; allerdings muß man es so auffassen, daß der erste Punkt im zweiten enthalten ist. Porphyrios theologische Methodik fußte auf der Logik, denn sie war eine Theologie, die auf dem Wissen und Erkennen basierte. Um so bemerkenswerter ist es, daß die christliche Theologie, die sich auf den Glauben gründet, sich bis heute der gleichen Methode bedient. Aber nicht nur das, sie übernahm das entscheidende Lehrbuch hierzu von Porphyrios selbst. Hierzu rasch die Einzelheiten. Ein Teil von Porphyrios immenser Tätigkeit galt der Kommentierung von ARISTOTELES Schriften ; besonders Bedeutung hatte und hat unter diesen die Schrift von den Kategorien. Plotin hatte es sehr nachdrücklich bestritten, daß die aristotelische Kategorien-Lehre geeignet sei, zu gültiger Erkenntnis des Seienden zu führen. Denn unter den 10 Kategorien figuriert die Kategorie Substanz — τί εστίν — nur als eine unter vielen ; Plotin aber wies dieser einen Kategorie transzendenten Seinswert zu, alle anderen haben für ihn rein akzessorischen, vom Sein her betrachtet unerheblichen Charakter. Porphyrios überwand diese Bedenken, indem er die Logik und mit ihr die Kategorien-Lehre einer ganz bestimmten Erkenntnis-Stufe zu10
Daher ist dies einst wichtige Buch nur mehr aus den Fragmenten kenntlich, die gesammelt hat: Abh. der Berliner Akad. der Wissensch. 1916, mit Nachtrag, Sitz.-Ber. Berlin 1921. A D . VON HARNACK
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ordnete. Alle rationalen Vorgänge, jede Denkbewegung, die in einem Satz, einer grammatischen Beziehung, einem logischen Urteil stattfindet, ist Teil-Abbild der höchsten, vollkommenen Denkbewegung. Aber eine jede solche hiesige, irdische Denkbewegung ist nur Teilstück eines Kreises, welches das vollkommene, transzendente Denken in steter Regelmäßigkeit zurücklegt. Als ein solches Teilstück wird die Logik, einschließlich der Kategorien-Lehre, gewertet. Es muß in Kauf genommen werden, daß die Logik über sich hinaus weist ; denn jenem von Plotin so nachdrücklich vertretenen Bedenken stimmt Porphyrios selbstverständlich insofern zu, als der Übergangspunkt von der Logik zur Metaphysik in der Kategorie des τί εστίν, des Seins liegt. Bei der höheren, metaphysischen Betrachtung wird das Sein zum eigentlichen Gegenstand der Forschung, und kann dann, als das allem Ubergeordnete, mit keinem geringeren Wesen mehr koordiniert werden. Im Bereich der Logik, wo es sich nicht um mögliche Seins-Formen, sondern um Aussage-Formen handelt, darf (aus didaktischen Gründen, würden wir sagen) das Sein als eine Aussageform neben den neun anderen behandelt werden. Schon immer hatte der Piatonismus der Kaiserzeit dahin tendiert, das platonische Gut durch die aristotelische Logik zu unterbauen. Freilich wurde darum zwei Jahrhunderte lang eine recht erbitterte Kontroverse geführt. Nun aber, nachdem Pio tins Einwände in dem skizzierten Sinne überwunden waren, stand einer weitgehenden Gleichsetzung nichts mehr im Wege; fortan basierte der neuplatonische Schulbetrieb auf der Logik des ARISTOTELES. Hier erhob sich nun die Forderung nach einem geeigneten Unterrichtsbuch, und dies Buch verfaßte alsbald der unermüdliche Porphyrios. Seinem großen, in alle Details gehenden Kommentare zu den Kategorien stellte Porphyrios eine Einführung zur Seite — εισαγωγή — die im Schulbetrieb den Titel αΐ ττέντε φωυαί erhielt. Denn hierin werden die fünf Grundbegriffe γένος είδος διαφορά ίδιον und cn/μβεβηκός behandelt und zu einander in Beziehung gesetzt. Das Buch ist katechismus-artig abgefaßt, in der Form von Frage und Antwort 11 . Dies Buch nun ist das logische Schulbuch des Mittelalters geworden. Es wurde erst von MARIUS VICTORINUS übersetzt, dann von B O E T H I U S kommentiert. Als diesem nun die Übersetzung nicht mehr ausreichend, weil nicht genau genug erschien, verfaßte er sie neu ; und diese Übersetzung12 wurde für ein Jahrtausend der maßgebende Leitfaden. Es gab wohl kaum eine mittelalterliche Bibliothek, in der es fehlte ; denn in diesem Buch ist der Logik-Unterricht des Mittelalters weithin be11 Man benutzt das Buch in der Ausg. von A D . B U S S E , Comment, in Aristotelem Graeca IV 1 (1887). 12 Beides — Kommentar und Ubersetzung ist zu benutzen in der Ausg. von S. B R A N D T CSEL 48 (1906.
Wilpert, Med. I
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schlossen. Erst in der Hochscholastik hat man Aristoteles selbst neben dies Handbuch gelegt, ohne es aber damit zu entwerten. Nun gilt es, dies Faktum sogleich in den größeren Zusammenhang einzuordnen. Denn Porphyrios' Buch hätte ja nicht eine solche Nachfolge und Verbreitung gefunden, wenn nicht gerade im Westen die Uberzeugung durchgedrungen wäre, daß die Logik ein Grundpfeiler der Theologie ist. Wie kam es dazu? VI. Die Einsicht, daß sich das Christentum des heidnischen BildungsInhaltes bemächtigen müsse, um bestehen zu können, war alt. IUSTIN, KLEMENS, ORIGINES, EUSEBIOS, sie alle mühten sich, ihr Verhältnis zur Έλληννική σοφία zu finden. Dabei wog zum Teil die apologetische Absicht vor : Man studierte die Waffen, die der Gegner handhabte, um sie gegen ihn anwenden zu können ; zum Teil verfolgte man eine Absicht, die man harmonistisch oder synkretistisch nennen könnte : Man suchte nach Baumaterial, mit dem man noch bestehende Lücken des christlichen Denkgebäudes hoffte schließen zu können. Aber diese Aspekte fehlten doch ganz, als man die Logik porphyrischer Ausprägung zum Fundament des Theologie-Studiums machte. Gewiß spielte es mit, daß man mit dieser Waffe Ketzer bekämpfen konnte 13 ; aber das tiefste, von unten her bewegende Motiv war doch dies, daß man sich gerade im Westen über die Wechselwirkung zwischen intellectus und fides, zwischen Verstand und Glauben Gedanken machte. Nicht nur, daß der im Verstand Geschulte die Sache des Glaubens besser vertreten kann als der Ungeschulte — nein, es ging darum, daß der geschulte Intellekt die Dinge des Glaubens tiefer, mehr an der Wurzel ihrer Realität erfaßt. Damit war der Satz, das Evangelium gelte den Einfältigen, nicht aufgehoben, aber eingeengt : Wer in der Kirche die gehobene, priesterliche Stellung gewinnen sollte, bedurfte einer Schärfung des Intellekts, welche einer Vertiefung des Glaubens zugute kam. Hier nun tut sich der Blick auf die neuplatonische Theologie auf, welche durchaus eine Theologie des Geistes ist. Denn in ihr ist der Geist mit dem Sein identisch, das Ziel aller philosophisch-theologischen Bemühung, und zugleich ist das Denken, das möglichst reine, abstrahierende Denken der einzige Weg zu diesem Ziel. Für Plotin ist das Denken Gottesdienst : der weise Mann allein ist Priester 14 . Leider muß ich es mir versagen, dieses Phänomen der zur Religion gewordenen Philosophie in den größeren Rahmen zu stellen, der ihr gebührt. Denn nicht anders als die Gnosis, nicht anders als viele Mysterienkulte ist es letztes Anliegen auch des Neuplatonismus, die unerträglich gewordene Spannung zwischen dem als negativ empfundenen 13 14
So K L E M E N S Al., protr. 9 9 . So PORPHYRIOS ad MARCELLAM 16 Ende 285,14
NAUCK
μόνος oöv tepeOs ò σοφός.
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Hier und dem transzendenten, alles beherrschenden Jenseits aufzuheben. Ein gutes Stück Erlösungs-Sehnsucht steckt auch in den Voraussetzungen des Neuplatonismus. Nur ist dieser nicht, wie die Gnosis/ im Wust der Allegorese versunken, sondern (so sehr man die Allegorie als Denkbehelf schätzte) Plotin als erster hat den Versuch gemacht, zu wissenschaftlich fundierter Aussage über das Göttliche zu kommen. Aus diesem Gninde war er der erste Theologe im eigentlichen Sinne, denn er erhob die Aussage über das Göttliche zur Wissenschaft. Gewiß sind vor ihm viele Aussagen über das Göttliche gewagt worden ; aber diese entsprangen stets entweder der Intuition oder der Offenbarung. In klarer Bestimmtheit hat PLATON die Form des Mythos gewählt, um seine Sicht vom Göttlichen mitzuteilen : diese dialektisch zu erhärten, also einen Logos vom Göttlichen zu begründen — Θεολογία — erschien ihm zumindest als zweckwidrig, auf jeden Fall als unfromm. Und eine Theologie als Wissenschaft brauchte nicht, konnte nicht entwickelt werden, solange sich die Menschen — und das gilt für die ganze Epoche des Griechentums bis tief in den Hellenismus — ihren Göttern und dem Göttlichen innerlich verwandt fühlten. Wohl hat es manche gedrängt — um nur Aischylos zu nennen — ihr Erlebnis von der Macht und der Größe des Göttlichen zu künden. Wohl war es ein drängendes Problem, wieso das Göttliche gerecht sein kann, da soviel Schlimmes geschieht. Aber das Göttliche selbst war niemals ein Problem, solange man es dieser Welt und jeder Menschen-Seele immanent wußte. Solange dies Axiom galt, durfte sich jede Ethik — d i e P L A T O N s wie die der Stoa — auf die Forderung gründen, keinen Zwiespalt zwischen dem so nahen Göttlichen und dem Menschen aufkommen zu lassen, sondern ihm entsprechend zu leben — mochte dabei das Weltprinzip ideell oder materiell vorgestellt werden ; mochte man das Ziel der ethischen Bemühung in der Angleichung an einen der Welt nahen Gott15 oder in der Entsprechung zur Natur erblicken. Dagegen wurde wissenschaftliche Aussage über das Göttliche erst nötig, als man es als das Transzendente, das grundsätzlich Fremde und Entgegengesetzte empfand. Als — zunächst wohl ganz emotionell — jener so unhellenische Dualismus im religiösen Empfinden vieler aufbrach16, entstand das Bedürfnis nach Erkenntnis Gottes — γνώσιν θεοΟ. 16 A L B I N O S , did. 2 8 , 1 8 1 , 30 H E R M A N N weist es mit Emphase von sich, das τέλος könnte etwa in Angleichung an den überhimmlischen Gott bestehen TÒ τέλος εΤη &v TÒ έξομοιωθήνσι θεω, θεφ δηλονότι τω έττουρανίω, μή τω μά Δία ύττερουρανίω, ÔÇ ουκ άρετήν Ιχει, άμείνων δ' ΙστΙ ταύτης. (Vgl. zu der Formulierung P O R P H Y R I O S ad Marcellam 16, 2 8 5 , 2 N A U C K μείζων άρετης θεός. Für Albinos bezieht sich Piatons Gebot (vgl. Theait. 176 B) einzig auf den sichtbaren Gott, wobei er vor allem den Mythos im Phaidros vor Augen hat. 16 Das Hauptproblem aufzurollen, wäre wohl jetzt noch verfrüht: Woher stammt das starke Gefühl von der Allmacht des Transzendenten ? Der Dualismus im religiösen
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Denn durch Erkenntnis mußte sich ja das Fremde, der oft mit Verzweiflung empfundene Abstand des Göttlichen vom Menschen überbrücken lassen; und es war in diesem religiösen Bedürfnis begründet, daß der Vorstellungskreis Gnosis sich sogleich erweiterte zu jenem mit allegorischen und mystischen Mitteln unternommenen Versuch, Gott auf über-logischem Wege zu erfassen. Sache der Fach-Philosophen jener Zeit wäre es gewesen, auf· die so drängende Frage : »Was ist Gott ? « begründete Antwort zu geben. Aber die Fach-Philosophie, sowohl die Stoa wie die in Großstädten durch offizielle Schulen vertretene platonische Natur-Philosophie waren dieser Frage nicht gewachsen. Das geistige Erbe der Vorzeit war zu groß, und die Grundeinstellung der Philosophen vom Fach war zu klassizistisch, als daß man auf das eminent theologische Anliegen jener Zeit eine theologisch fundierte Antwort gefunden hätte 17 . Diese Antwort zu geben wurde Sache eines Außenseiters, den die große WissensFülle nicht bedrückte, es wurde Sache Plotins. Man wird seiner Philosophie nur dann gerecht, wenn man in ihr die Antwort auf die damals in allen Schichten drängende Frage nach dem Wesen Gottes als des ganz Anderen sieht. Wie sehr seine Lehre in Wahrheit Religion war, oder zumindest das religiöse Bedürfnis jener Zeit befriedigte, sieht man am Gipfelpunkt, an der Lehre vom Höchsten Einen. Mit zwingender Intensität wird herausgearbeitet, daß die Einung mit dem Einen höher ist denn alle Vernunft : Wenn es zur letzten, höchsten Vervollkommnung geht, gilt es alle Denkbehelfe fahren zu lassen, alle Dialektik wegzuwerfen. Nur wenn man über sich selbst hinaustritt — Ekstasis — kann man hoffen, diese alle Vernunft übersteigende Einung zu erreichen. In diesem Punkt ist Plotins Lehre reine Religion — aber auch nur in diesem Punkte. Denn in allen anderen Beziehungen ist sie Wissenschaft vom voOs18. Seine Allheit zu durchdenken, ist das nähere, diaEmpfinden scheint in der Orphik vorbereitet, und er scheint bei Piaton in den wenigen Aussagen über das Eine als das Überseiende nachzuklingen — Aussagen, die Piaton bezeichnenderweise nie dialektisch unterbaut hat. Doch blieb dies ein »Vorspiel« und wenn später Pythagoreer wie Platoniker mit großer Findigkeit gerade jene PlatonStellen aneinander reihten, so darf daraus keine Kontinuität dieses Dualismus erschlossen werden. Alles, wovon im Folgenden die Rede sein wird, scheint ausgelöst zu sein durch eine Welle der Religiosität, welche ausgezeichnet ist durch ein oft bis zur Angst gesteigertes Empfinden für die Fremdheit des Jenseitigen. Bezeichnenderweise ist dies Empfinden in literarischen Zeugnissen erst greifbar, nachdem philosophischer Ausdruck dafür gefunden ist. Das Verhältnis zwischen religiösem und philosophischem Dualismus habe ich im Art. »Dualismus« des RAC IV (1959) 336—342 abzugrenzen versucht. 17 Vgl. »Die Frage nach dem Transzendenten im Mittelplatonismus«; Entretiens de la fondation, Hardt V (1957) 193—241. 18 Hierzu die Nachweisungen in m. Antrittsvorlesung (Münster 1962) »Plotin — Philosoph und Theologe«.
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lektisch bestimmbare Ziel. Und diese Aufgabe steht vor jedem, der die höchste Vollkommenheit erreichen möchte. Zwar ist die neuplatonische Doktrin weit davon entfernt, ihrem Gläubigen eine Heilsgewißheit zu geben (es liegt an jedem selbst, ob er die Einung mit dem Einen erreicht); aber wenn überhaupt ein Heil erlebt und erfahren werden kann, dann führt der Weg dahin durch das dialektische Denken. VII. Vor allem aus folgendem Grunde war für Plotin wie für Porphyrios die Aufgabe gestellt, alle nur möglichen Denkverbindungen zu durchmustern: Es mußte an jedem Punkt der Nachweis zu führen sein, daß alles Seiende vom Einen und vom vous herzuleiten ist. Nichts durfte seine ύττόστασις außerhalb dieses einen, alles umfassenden Denkbezuges haben. Und damit ordnet sich alles Seiende und alles Sinnvolle zu einer gewaltigen Pyramide 19 , die im voôç gipfelt. An dieser Pyramide hatten schon Generationen vor Plotin gebaut; neu aber ist der Anspruch der Ausschließlichkeit : Ausserhalb dieser Welt des Denkens kann es nichts Sinnvolles geben; am wenigsten kann eine Ursache sich außerhalb dieser Pyramide befinden. Denn außer allen geistigen Zusammenhängen ist auch der Kausal-Nexus in diese Pyramide eingeordnet, weil die oberste causa transzendent ist. — Innerhalb des Piatonismus hat dieses Axiom der Ausschließlichkeit zu einer an die Substanz rührenden Restriktion der Ideen-Lehre geführt ; hierauf einzugehen, muß ich mir versagen 20 . Aus dem gleichen Grunde konnte Offenbarung als Quelle der Erkenntnis nicht anerkannt werden ; und Plotin wie Porphyrios, — die gern an unsichtbare Zwischenwesen zwischen Menschen und Göttern glaubten, •— die in gewissem Umfang gar erlaubten, die Magie21 zu Hilfe zu nehmen — sie haben sich erbittert gegen jeden Ansatz einer Offenbarung zur Wehr gesetzt. Das eigentliche Thema von Porphyrios' bitterbösem Buch gegen die Christen ist die Polemik gegen die Offenbarung : Die Evangelisten, und mit ihnen Petrus, sind ihm darum Fälscher und Betrüger, weil sie rationale Zusammenhänge als Offenbarung haben erscheinen 19 Das Bild der Pyramide ist nicht antik. Die einzelnen Stufungen werden von Porphyrios gewöhnlich als τάχείζ των όντων oder σχίαι, also als Wert-Stufen bezeichnet. Da nun die oberste Stufe als ausdehnungslos, also punktförmig gedacht wird, und da in diesem Punkt alle Linien zusammenlaufen, hilft die Vorstellung von der Pyramide zu recht angemessener Vorstellung von dem, was gemeint ist. Nur scheint die antike Dialektik auf dies Mittel der Veranschaulichung verzichtet zu haben. 20 Worum es dabei ging, wird vor allem aus P O R P H Y R I O S , Vita Plot. 18,10ff. deutlich. 21 Unbedenklich hätte daher ein Neuplatoniker den Wahrheits-Anspruch des Simon Magus anerkannt, den des Petrus aber abgelehnt: Denn Simon Magus kann sich des Beistandes dämonischer Mächte rühmen ; Petrus' Wahrheits-Anspruch ist dagegen nur auf Offenbarung gegründet. Wahrscheinlich ist die spätere Ausgestaltung der altercatio Petri cum Simone von hier aus mit beeinflußt worden.
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lassen. So weit diese Kritik übers Ziel hinausschießt : Von der Grundkonzeption des Piatonismus her ist sie verständlich. Denn diese war als Ganzes in Frage gestellt, wenn jemand eine Realität außerhalb jener Pyramide des Denkens hypostasierte oder eine Erkenntnis gewonnen zu haben behauptete, die ihm außerhalb dieser Zusammenhänge erwachsen sei. Wer dies behauptete, wurde mit religiösem Eifer verfolgt, denn er bestritt damit die Allgültigkeit des platonischen Gottes. So fundamental die Unterschiede zum Christentum sind: ein wichtiger Berührungspunkt ist doch gegeben. Weder Hermetik noch Mysterien-Religionen forderten eine solche Ausschließlichkeit für sich ; man konnte heute den Mithras, morgen die Isis verehren und sich übermorgen an den hermetischen Hymnen erbauen. Einzig der Neuplatonismus und das Christentum schlossen jedes andere Bekenntnis aus. Der Neuplatonismus allerdings sah sich als Überbau über alle bestehenden Religionen und war in der beschriebenen Weise doktrinär nur, wenn es sich um die Ausschließlichkeit des Höchsten Einen handelte; das Christentum sah sich als Gegensatz zu allen Religionen; es konnte nur Gipfel und Überbau der jüdischen Religion sein. Hier war zu einem Teil die dogmatische und apologetische Begründung gegeben für den Satz »Du sollst nicht andere Götter haben neben mir«. Aber wenn es sich darum handelte, dies Axiom für griechische und römische Menschen einsichtig zu machen, so bediente man sich gern der Denkwege, welche Plotin gewandelt war. Kurz, in allem Methodischen, im konsequenten Aufbau einer Theologie, die sich im Grunde lieber auf intellectus als auf fides gründete, vor allem in der Verteidigung von Ausschließlichkeit und Unvereinbarkeit — in allen diesen Punkten sind griechische wie römische Kirchenlehrer gern bei Porphyrios in die Schule gegangen. Und das mit gutem Grund. Unvergessen war die Gefahr, welche die üppig wuchernde Gnosis über die junge Kirche gebracht hatte. Ließ man die begrifflichen Bestimmungen des Glaubens außer Acht, so war die Einheit der Kirche gefährdet : Jede Häresie lehrte das von Neuem. Nur wo der intellectus einer Ausartung des Glaubens in den Aberglauben vorbeugte, nur da konnte die eine, allgemeine Kirche bestehen. Darum wurde Logik zur conditio sine qua non. Für die innere Folgerichtigkeit eines theologisch durchdachten Systems war das neuplatonische beispielhaft, und man schämte sich nicht, davon herüber zunehmen, was brauchbar war. VIII. Der Impuls zu solchem Denken stammt von Plotin ; Ausführung und Mittlerschaft aber sind Porphyrios zuzuschreiben. Er war der einzige, der die oft schwierigen Gedankengänge Plotins in verständliches Grie-
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chisch zu dolmetschen vermochte. Zwar sind seine umfänglichen Kommentare zu Plotins Schriften, die er systematisch ordnete und herausgab, verloren. Erhalten ist aber eine Katechismus-artige Schrift — άφορμαί προς τά νοητά—22 aus der gut zu ersehen ist, wie ihm darum zu tun war, Plotins Theologie breiterer Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zu den vielen Ruhmestiteln, die sich Porphyrios erwarb, gehört auch der, Plotins Publizist, ja sein Dolmetsch zu sein. Bezeichnenderweise fällt sein Name, wenn man ihn im Bereich der theologia speculativa ausschrieb, gewöhnlich nicht. Es entsteht der Eindrück, als wäre Plotin von den Kirchenlehrern des ausgehenden 4. Jahrhunderts bis herab auf BOETHIUS sehr fleißig gelesen worden; und Pater PAUL HENRY S. J. 2 3 hat sehr weitreichende Folgerungen daraus gezogen. An dieser Stelle wird es nötig, in Form einer Einschaltung darzustellen, wie weit über Kenntnis und Benutzung von (alternativ) Plotin oder Porphyrios bei Ambrosius und seinem Kreis — vor allem bei Augustin — sich gesicherte Aussagen machen lassen. Das eine Fundament für solche Aussagen bietet die unten S. 41,43 noch eingehend zu würdigende Arbeit von W. THEILER24. Wertvolles, mehr bestätigend als berichtigend, trugen die letzten Forschungen von P. COURCELLE25 bei. Neuplatonismus und Christentum erschienen im Kreise des hl. Ambrosius als zwei vereinbare Größen — dies ganz im Gegensatz zu der Lage im Osten. MARIUS VICTORINUS übersetzte neuplatonische Schriften (d. h. Schriften Plotins und Porphyrios') ins Lateinische 2 *; SIMPLICIANUS, AMBROSIUS' Lehrer und Freund, sah den Marius Victorinus nicht darum für einen lauen Christen an, sondern weil er ihn nie in der Kirche sah; Augustins Lektüre der übersetzten Schriften wird keineswegs mißbilligt 27 . Andererseits findet ein dort anwesender Neuplatoniker (wer es ist, wird nicht genannt) den Kern seiner religiösen Uberzeugung durch den Eingang des Johannes J Evangeliums vollkommen ausgedrückt 28 . Kurz, hier fehlte das Bewußtsein von der tiefen Kluft zwischen Porphyrios und dem Christentum völlig; die Schrift wider die Christen blieb ganz unbekannt; P. COURCELLE macht — sicher mit Recht — wahrscheinlich 29 , daß Augustin sie nie gelesen hat. Bei 22 Letzte, leider nicht allseits befriedigende Ausgabe von B. MOMMERT, Lpz. 1907. Als »kanonischer« Leitfaden durch die Systematik des Porphyrios ist das Büchlein unentbehrlich, — ein Vorläufer der στοιχείωσι; θεολογική des Proklos. 23 P. HENRY, Plotin et l'Occident, Löwen 1934, und: Vers la reconstitution de l'enseignement oral de Plotin, Bull. Acad. Belgique, classe de lettres 23 (1937) 320ff. Gegen die Grund-These W. THEILER, Byz. Ztschr. 41 (1938) 174ff. und H. DÖRRIE, GGA 200 (1938) 526 ff. 24 W. THEILER, Porphyrios und Augustin, Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft 10 (1933). 2 5 P. COURCELLE, Les Lettres Grecques en Occident 2 (1933), (1948) 137ff. vor allem 169, und: Plotin et St. Ambroise, Revue de philologie 24 (1950) 29—56. 2 · Sicher bezeugt ist nur die Ubersetzung der quinqué voces des Porphyrios durch
MARIUS VICTORINUS, v g l . o b e n S. 3 9 u n d die B o e t h i u s - A u s g . v o n BRANDT, S . X I V .
Da-
von abgesehen ist AUGUSTIN, confess. 8, 2, 3 einziger Zeuge dafür, daß es Übersetzungen aufs Metaphysische gerichteter Schriften gab. " 28
29
AUGUSTIN, c o n f . 8, 2, 3. AUGUSTIN, civ. D e i 10/29 E n d e .
P. COURCELLE, Les Lettres Grecques en Occident 169.
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dieser Lage der Dinge hatte A M B R O S I U S selbst keine Bedenken, in einer um 3 8 6 gehaltenen Predigt sich sehr stark an die plotinische Schrift Enn. I 6 Uber das Schöne anzulehnen30 Thema der Predigt, die als Schrift De Isaac et anima erhalten ist' 1 ist der Aufbruch (fuga) vom Diesseits ins Jenseits; hinter den Formulierungen Plotins steht der im Piatonismus so oft erörterte Ausdruck ένθένδε έκεϊσε φυγείν ( P L A T O N , Theait. 176 A). P. COURCELLE32 hat über mehrere Seiten hin die sich berührenden Stellen konfrontiert; dabei sind die Berührungen so eng, daß der — an sich nie müßige— Verdacht, eine Mittelquelle könne zwischen Plotin und Ambrosius stehen, kein Fundament gewinnt. Eigenartiger Weise haben gerade die stark von Plotin her gefärbten Stellen in De Isaac et anima einen solchen Eindruck auf Augustin gemacht, daß er sie noch in seinen letzten Lebensjahren wörtlich zitierte 33 . Seit KLEMENS34 ließ sich der Satz vertreten : »Was die Platoniker an Richtigem bieten, haben sie aus dem Gesetz Mosis oder aus dem Evangelium (namentlich dem 4.) herübergenommen.« Wie weit man nun neuplatonisches Gut christlicher Homiletik nutzbar machen konnte, zeigte jene Predigt des AMBROSIUS36 mit aller Deutlichkeit; und diesen Hinweis hat Augustin ganz offensichtlich im selben Jahr, als die Predigt gehalten wurde, aufgenommen und ihn sich fortan zunutze gemacht. Natürlich muß die überspitzte Formulierung »er sei zum Neuplatoniker, nicht zum Christen bekehrt« worden, aufgegeben werden. Diese Formel wäre nur sinnvoll, wenn das in Mailand einen Gegensatz bedeutet hätte; richtiger muß man sagen, daß Augustin durch ein solches Beispiel darüber belehrt wurde, was sich dem Neuplatonismus abgewinnen ließ, wenn man sich mit der Religion Manis auseinandersetzen wollte. In der Abwehr des Manichaeismus waren Piatonismus und Christentum seit einem Jahrhundert verbündet — und das auch im Osten. Das Beispiel des A L E X A N D E R VON L Y K O P O L I S 3 6 zeigt es. — Die viel diskutierte Frage, welche neuplatonischen Bücher Augustin denn sicher gelesen hat, ist durch P. COURCELLE37 der Klärung ein gutes Stück näher gebracht. Gerade in der Zeit, als der Neuplatonismus ihm viel bedeutete, hat er gewiß keine neuplatonische Schrift auf Griechisch gelesen; ob er später je Plotin im Original in der Hand gehabt hat, ist nach wie vor unsicher. Was Ubersetzungen anlangt, so kann nur Besitz und Lektüre von Plotin Enn. I 6 wahrscheinlich gemacht werden — also eben jener Schrift, die A M B R O S I U S von der Kanzel herab (so darf man fest sagen) empfohlen hatte. Diese plotinische Schrift hatte offenbar um 386 (Datum der Homilie, die zur Niederschrift von De Isaac et anima führte) in Mailand eine gewisse Aktualität gehabt; ob nun A M B R O S I U S , ob M A R I U S V I C T O R I N U S , oder ob beide zugleich sie zu dieser Bedeutung erhoben haben, kann nicht untersucht werden. Wenn man von dieser Ausnahme (die für Augustin zugleich ein Modell-Fall der Aneignung wurde) absieht, so herrscht im übrigen die Nachwirkung des Porphyrios. Fast 3 0 Die Schrift »Uber das Schöne« = Enn. I 6 ist die erste Schrift Plotins in historischer Reihenfolge. Beruht die hohe Bedeutung, welche die Schrift für Augustin (vgl. unten S. 40) und für Ambrosius gewann, darauf, daß sie an der Spitze einer nicht-porphyrischen Ausgabe stand ? Möglich, aber ebenso gut ist an Einzel-Ausgabe dieser Schrift oder (was Augustin betrifft) an Einzel-Ubersetzung zu denken. 31
Die Schrift ist herausgegeben von SCHENKL, C S E L 32,1.
Diese das ganze Problem sehr fördernde Entdeckung wird P. C O U R C E L L E verdankt, Plotin et S. Ambroise 31—41. 33 Vor allem in: Contra Iulianum Pelagianum 1, 9, 44, P L 44, 671; vgl. P. C O U R 32
CELLE a . O .
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A l .
AL., protr. 99 und Strom. I 37. 3 5 Das gilt auch — nur mit weniger durchschlagenden Beweisen — für die Schrift De bono mortis. Viel Neuplatonisches enthält De Abraham I I . Ausgesprochen mittelplatonisch ist indes die Reminizenz im Eingang von A M B R O S I U S ' Hexaemeron. S i Hrsg. von A. B R I N K M A N N , Lpz. 1895. 37 P. C O U R C E L L E , Les Lettres Grecques en Occiden 137—73. 34
KLEMENS
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regelmäßig ist er da gemeint, wo die Platonici genannt werden. Niçht mit Unrecht durfte man sich sagen, daß man in Porphyrios! Werken miteinbegriffen die übrigen mitbesitze. Und so muß — gegen PAUL HENRY'S These, aber im Verfolg von W. THEILERS Gedankengängen — daran festgehalten werden, daß die vermeintliche PlotinNachwirkung im Westen — vor allem auf Augustin — in Wahrheit Porphyrios' Nachwirkung ist. Die Gedankengänge THEILERS gipfeln in folgendem Arbeitssatz, dessen Gültigkeit gerade einige kleine Entdeckungen, die P. COURCELLE gelungen sind, bestätigen 38 . E r lautet: »Erscheint bei einem nachplotinischen Neuplatoniker ein Lehrstück, das nach Inhalt, Form und Zusammenhang sich mit einem solchen bei Augustin vergleichen läßt, aber nicht, oder nicht im selben Maß mit einem bei Plotin, so darf es als porphyrisch gelten« 39 . Gegen diesen Satz ist nicht wenig polemisiert worden; er erlaubt es, gestützt auf Analogien in erhaltenen Schriften Porphyrios' und gestützt auf genaue Analysen der Gliederung, namentlich in De vera religione, aber auch in De trinitate große Stücke als stark porphyrisch gefärbt zu erweisen : Vor allem die Stoff-Anordnung und der Beweisweg stammen aus Porphyrios. THEILERS Verfahren hat Befremden erregt, weil das Verhältnis »Quelle-Nachbildung« sich nicht in üblicher Weise Satz um Satz darstellen läßt. Mir erscheint es aber gerade darum als legitim, weil es Augustins Arbeitsweise erkennen läßt; ja, man darf abschließend sagen, eine andere Arbeitsweise war für ihn gar nicht gegeben 40 .
Über Augustins Verhältnis zum Neuplatonismus (und das ist immer speziell Porphyrios) stand der Satz, den SIMPLICIANUS ihm gesagt hatte : In den neuplatonischen Schriften sei auf allerlei Art Gott und Gottes Wort enthalten — in istis autem omnibus modis insinuari Deum et eius verbum. Dieser Satz ist ein Leit-Wort geworden, wie Augustin Porphyrios las und wie er ihn lesen wollte : Immer wieder sehen wir ihn vom theologischen Gehalt in den Schriften des Porphyrios ausgehen ; immer wieder macht er sich die rationale Begründung, sehr oft das Dispositions-Schema zu eigen. Das hindert ihn allerdings niemals, dem porphyrischen Gedankengang das speziell Neuplatonische zu nehmen und ihm die Wendung ins Christiische zu geben. — IX. Plotins Philosophie war reine Theorie und er selbst war reiner Theoretiker. Dem Porphyrios dagegen genügte es nicht, durch immer neue Nachweisungen die Berechtigung jener Stufen-Pyramide zu sichern; sondern er empfand das Bedürfnis, im einzelnen, und wo nur möglich mit wissenschaftlicher Fundierung darzustellen, wie der Aufstieg zum 8 8 So der Nachweis von Porphyrios als Quelle für Claudianus Mamertus, COURCELLE a. a. O. 231—35; zugleich wird Porphyrios als Quelle für Macrobius erneut wahrscheinlich. 3 9 W. THEILER, Porphyrios und Augustin 4. 4 0 Zur Arbeitsweise: E s lohnt sich, zu vergleichen, welch andersartige Beweislast Augustin Zitaten aus Apuleius zumutete als solchen aus Porphyrios. Zitate aus Apuleius dienen zumeist der punktuellen Stützung, oder sie dienen als Punktziel für eine Widerlegung. Dagegen rührt die Benutzung des Porphyrios viel mehr ans Grundsätzliche.
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Höchsten vorgenommen werden müsse. Gewiß war das eine Frage, an der Plotin nicht völlig vorübergegangen war; gerade in der von Porphyrios als abschließend an den Schluß gestellten Schrift VI 9 gibt auch Plotin Hilfsmittel für den »Nachzügler« an, um das Telos der Vereinigung zu erreichen — aber im ganzen ist Plotins seelsorgerliches Interesse gering; vor der Notwendigkeit, die Wahrheit zu erweisen, tritt der psych agogische Zweck, sie anderen Suchenden zugänglich zu machen, zurück. Hier aber ist ganz Porphyrios' Domäne ; an dieser Fragestellung war er innerlich ganz stark beteiligt. So stellte erder theologia theoretica des Plotin eine theologia practica zur Seite. Nachdem das Ziel gezeigt war, wies er auf die Mittel hin, mit denen es erreicht werden kann. Die gefühlsmäßige Grundlage für die Wahl dieser Thematik liegt in der niemals gering einzuschätzenden Erlösungssehnsucht gerade eines rational veranlagten Menschen wie Porphyrios es war. Die gedanklichen Grundlagen entnahm er dem platonisch-pythagoreischen Überlieferungsgut ; er war viel zu konservativ, als daß er erneuert hätte. Nihil innovetur, nisi traditum est — das gilt bereits für Porphyrios und seinen Neuplatonismus. Seine Gedankengänge hierzu verlaufen etwa so: Wohl gilt für diskursive Erkenntnisse, daß jeder sie bei genügender geistiger Konzentration erwerben kann. Aber das gilt nicht für Erkenntnisse im Bereich des Metaphysischen. Diese schenken sich nur dem, der in seiner Reinheit ihrer würdig ist. Denn wenn der Welt-Nous etwas vollkommen Reines, aller irdischen Fehlhaftigkeit Entrücktes ist, so kann nur ein reiner Mensch mit einer reinen Seele ihn erfassen. Diese Forderung ergab sich von selbst aus der allem Hellenentum selbstverständlichen Erkenntnistheorie similia similibus. Allerdings vermochte Porphyrios hierbei den einen Schritt nicht zu tun, den Augustin civ. Dei 10, 29 mit berechtigter Kritik von ihm fordert. Porphyrios kommt ganz nahe an den Punkt heran, an dem er die Gnade Gottes postulieren müßte. Er tut diesen Schritt aber nicht und er kann ihn nicht tun; denn für ihn ist das Höchste Göttliche von allen Affekten frei, kein Erbarmen, kein Helfen-Wollen kann ihm zugeschrieben werden, denn es bezieht sich niemals auf die Seins-Ordnungen unter ihm. Der Schritt, den Augustin hier über Porphyrios hinaus tat, war ein entscheidender Schritt. Aber er konnte nur von dem Fundament aus getan werden, das Porphyrios gelegt hatte. Derlei Gedanken standen in dem Werke de regressu animae, das zu großen Teilen aus Augustin zurückgewonnen werden kann — J . BiDEZ im Anhang seiner Monographie La vie de Porphyre, Gent 1913 hat die Rekonstruktion unternommen. Das Erreichen des Heils ist nichts
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anderes als die Selbstverwirklichung eines jeden. Denn jeder Menschenseele ist ein Funken des voös mitgegeben, der dem Welt-Nous real und immer identisch ist. Dies ihr eigentliches Wesen soll die Seele wieder Wirklichkeit werden lassen. Denn ihre jetzige Existenz ist Unwirklichkeit. Sie ist von der ursprünglichen Einheit abgefallen und hat sich zur Teil-Existenz individualisiert. Ihre Aufgabe ist es, ihren Platz in der himmlischen Heimat, beim Vater wieder einzunehmen — es sind dies neuplatonische Worte = Plotin I 6, 8, Porphyrios De abst. 107, 24 ff. u. ö. ; Augustin entnimmt sie dem Porphyrios in folgendem Wortlaut : omne corpus esse fugiendum ut aniam possit beata permanere cum Deo. (civ. DU 10, 29) 4l . Es ist kaum notwendig, auszusprechen, was in dieser ErlösungsLehre an mittelalterlichem Gut vorbereitet ist: Hier liegt ein tüchtiges Stück der theologischen Fundierung von Mönchtum und Askese — und unbeschadet der Neuwendung, die Augustin durch die Begriffe Erbsünde und Gnade bewirkte, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß das Fundament von Porphyrios gelegt ist. Denn hierbei handelt es sich keineswegs um zufällige Übereinstimmungen aus analoger Denk-Haltung heraus. Sondern es läßt sich zwingend der Nachweis führen, daß Augustin als Lernender gerade in dem zur Rede stehenden Gebiet sehr viel von Porphyrios übernommen hat — im ganzen methodisch, in den Einzelheiten der Erlösungslehre zugleich der Sache nach. Das ist kein Wunder: Denn die erste theologische Schulung erhielt Augustin durch Schriften des Porphyrios. Und diese Schulung hat er nie verleugnet oder abgelegt. X. Wie tief das ging, ist früher kaum ermessen worden. Hier hat W. mit der schon mehrfach zitierten Schrift einen wirklichen Durchbruch erzielt. Er hat mehrere Schriften Augustine, De vera religione und De trinitate, aber auch die Confessiones mit erhaltenen Werken, des Porphyrios, namentlich mit den άφορμαί ττρόξ τά νοητά verglichen. Das Ergebnis war zunächst bestürzend: So eng ist die Abhängigkeit Augustins von seinem Vorbild. Freilich durfte dies nicht verwundern, wenn man die Gültigkeit des imitatio-Gesetzes in Betracht zieht: Gerade die Schrift De vera religione—soviel hat Theiler unzweifelhaft nachgewiesen — ist die Umsetzung der Erlösungslehre aus neuplatonischem in christlichen Geist. Der erste Teil in De vera religione scheidet die geringere Existenz in Sündigkeit und Gottferne von der höheren Existenz in Gottnähe, THEILER
41 Auch in den retractationes I 7 (zu den soliloquia) CSEL 36, 24, 7 KNÖLL weist Augustin ausdrücklich auf Porphyrios, nicht auf Plotin als den Urheber dieses Wortes — wie wohl er es Enn I 6,8 hätte lesen können. —
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Gläubigkeit und Seligkeit. Welche Umsetzung ist hier vor sich gegangen? Wenn Porphyrios daran festhält, daß seine ontologische Ordnung nach Stufen der Erkenntnis geordnet ist, so ist das schon beinahe eine Fiction. Denn in Wirklichkeit ist das, was Porphyrios mit jenem Ausdruck — νόησις — mit Erkenntnisbereitschaft und Erkenntnisfähigkeit meint, dem christlichen Glaubensbegriff viel enger verwandt als dem, was Piaton einst damit meinte. Im Negativen ist Porphyrios da viel klarer, fast möchte ich sagen ehrlicher: In den sent. 30,2 erklärt er die verfluchte Ungläubigkeit — λοιδορουμένη απιστία — von Seiten der Menschen für den Kern des Übels, für die Ursache aller Zwiespältigkeit, aller Antagonismen, aller Unzulänglichkeit, kurz alles dessen, was der Neuplatoniker Zweiheit nennt. Porphyrios wie Augustin fordern die völlige Ausrichtung, ja Unterwerfung des Menschen unter ein abstraktes Göttliches. Wo diese Beziehung besteht, ist der Mensch positiv gerichtet, wo sie nicht besteht, herrscht Wahn und Fehlhaftigkeit. Schon bei Porphyrios, schon bei Plotin ist neben dem rein rationalen Verständnis, neben der Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum ein anderes Organ des Erkennens herangewachsen; ein Organ, das auch Wahrheit und Irrtum scheidet — aber nicht auf der Basis der diskursiven ratio, sondern auf Grund seiner ursprünglichen, oft keimhaft verborgenen Verwandtschaft mit dem Urgöttlichen. Die hierdurch vermittelte Erkenntnis steht in ihrer ontologischen Wertung für den Neuplatoniker über der diskursiven Erkenntnis, ist aber dem Wesen nach dasselbe. Augustin ist einen kaum merklichen Schritt darüber hinaus gekommen; neben und über den beiden werthaft gestuften Begriffen ratio und intellectus steht für ihn fides — der Glauben. Im Grunde ist damit nur etwas ausgesprochen, was bei Porphyrios greifbar vorhanden ist. Nicht anders hat CICERO die philosophischen Probleme — mochten sie von Stoikern oder Akademikern gültig formuliert sein — den Römern seiner Zeit gedeutet und sie in römische Denkbahnen umgesetzt. Im gleichen Sinne benutzt Augustin den Raum und die Denkbahnen dieser porphyrischen Philosophie; er benutzt die Stufung der SeinsFormen, um damit darzustellen, auf welcher Wertstufe sich der gottferne, auf welcher der gottnahe Mensch befindet ; zugleich ist dies die Stufung, auf welcher der Mensch vom Elend zur ευδαιμονία aufsteigt. In allen diesen Dingen ist Augustin dem Porphyrios ganz stark verpflichtet. Selbstverständlich hat er diese Gedankengänge im christlichen Sinne vervollkommnet. Der neuplatonische Begriff von der vernunftwidrigen Schlechtigkeit der Materie hat sich zum Begriff von der Erbsünde gewandelt ; wichtiger noch, die Vollendung erfolgt durch das Walten der Gnade. Anfang und Ende jenes vielfach gestuften Weges sind somit ganz christlich verstanden. Der Weg selbst aber ist von Porphyrios gebahnt worden.
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Das gleiche Bild ergibt sich bei der Betrachtung der confessiones. Gewiß enthalten diese im Hauptstück, Buch 1—9 die Schilderung vom Aufstieg Augustins zum christlichen τέλος. Aber die Vergleichung der Motive im einzelnen wie die Gliederung des Ganzen lehren unabweisbar, daß dies Buch ohne den Vorgang des Porphyrios nie so geschrieben worden wäre ; hier erscheinen T H E I L E R S Nachweisungen unwiderleglich. XI.
Was lehrt dies Ergebnis ? Keineswegs streicht es Augustin aus der Reihe selbstständiger Denker aus; das trifft auch für diejenigen Schriften nicht zu, die (wie sich gezeigt hat) ganz eng an Porphyrios angelehnt sind42. Keineswegs macht dies Ergebnis Augustin zum Neuplatoniker im speziellen Sinne, wie es etwa A L F A R I C 4 3 ZU formulieren suchte. Wenn man dies Neuplatonismus nennen will, so war es Neuplatonismus in einem sehr weiten Sinne : Es war ein Neuplatonismus, in dem die Persönlichkeit und Allmacht Gottes (und nicht das Höchste Eine als ein Unpersönliches), die Menschwerdung Christi und damit die Hinwendung der göttlichen Gnade auf den Menschen (und nicht die Apathie des höchsten Prinzips) einen selbstverständlichen Platz hatte. Aber diese Korrekturen markanter neuplatonischer Lehren wurden nicht so aufgefaßt, als ob sie einer Herübernahme neuplatonischer Denk-Ergebnisse im Übrigen im Weg stünden : Bei der selbstverständlich stets gehandhabten Korrektur porphyrischer Ergebnisse scheute man sich nicht, ihm auf den Denkwegen, die er eingeschlagen hatte, zu folgen. Kurz, diese Ergebnisse zeigen Augustin im vollen Besitze der porphyrischen Schulung zum Denken; und er weiß dies von Porphyrios Erlernte so zu handhaben, daß er damit neue, vom Piatonismus nicht berührte Gebiete erschließt: Das Problem des Aufstieges wird durch den Begriff Gnade erleuchtet. Das Problem der Gott-Erkenntnis wird aus der bisherigen Bindung an die Vernunft gelöst: Das Gott verwandte, weil auf Gott bezogene Organ des Erkennens ist der Glaube. Endlich bezieht sich die porphyrische Heilslehre durchaus auf den einzelnen — kein Gedanke, eine Gemeinschaft von Menschen könne sich daran machen, zusammen das Heil zu erwerben. Hier bietet Augustins Staats- und Gesellschaftslehre die fast notwendige Ergänzung: Nicht der Mensch allein, sondern alle Formen seiner Gemeinschaft stehen zum Heil in einer Beziehung; sie sollen darauf hinführen, können aber, falsch angewendet, zum Abfall und zum Unheil werden. Und indem Augustin Staat und Gesellschaft dem Heilsplan und seiner Vollendung unterordnet, gelangt er zu machtvoller Ausformung eines christlichen 42 Für eine Reihe weiterer Werke, namentlich der Frühzeit, aber auch für nicht unerhebliche Stücke aus der civitas Dei ist dieser Nachweis noch zu führen. 43 P. ALFARIC, L'évolution intellectuelle de St. Augustin (1918) 179.
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Geschichtsbildes44. Hier liegt seine Leistung klar zutage; denn ein Verhältnis zur Geschichtlichkeit hatte der Piatonismus nie gewonnen, da er nur aufs Sein, nie aufs Werden blickt. Nur Weniges kann angedeutet werden; denn reich, sehr reich ist Augustins Anwendung porphyrischer Ordnungs-Prinzipien. Dabei darf es nicht so angesehen werden, als ob Augustin nur in einer Übergangszeit seiner Jugendjahre Leser und Schüler des Porphyrios gewesen wäre. Sondern immer wieder, und wahrscheinlich planmäßig, kehrte er zur Porphyrios-Lektüre zurück ; in der civ. Dei sind im Buch 10 und im Buch 19 wichtige Stücke porphyrisch. Und das hatte seinen guten Grund : Denn bei Porphyrios fand er immer wieder solche Gedankenreihen, die geeignet waren, drängende Probleme zu klären : Immer wieder erwies sich die enge Verbindung zum Denken des Porphyrios als geradezu notwendig. XII. Die Nachwirkung des Porphyrios läßt sich in drei Aspekten aufzeigen. Zunächst wird sie sichtbar in enger Umgrenzung, insofern Porphyrios dem Mittelalter die aristotelische Kategorienlehre, und damit das Herzstück der Logik, vermittelte, weiter läßt sich zeigen, was der kühne Wurf der plotinischen Theologie bedeutete für alle, die auf diesem Wege nachfolgten; es genügt, auf MARIUS VICTORINUS und BOETHIUS ZU verweisen.
Vor allem aber muß die innere Verwandtschaft zwischen Porphyrios und Augustin hervorgehoben werden. Denn auf diesem Wege hat sich der Einfluß des Porphyrios dem Mittelalter am eindringlichsten mitgeteilt. Wenn Augustin hier als ein Schüler des Porphyrios dargestellt wurde, so soll das — ich deutete es mehrfach an — weder seine Selbständigkeit noch seine Bedeutung schmälern. Nur muß gesagt werden, daß die mittelalterliche Geistesgeschichte, die durch Augustin die entscheidene Richtung erhielt, in manchem gerade jene porphyrische Komponente mit erstaunlicher Folgerichtigkeit fortführt. Die Schulkämpfe der Scholastik werden zum guten Teil mit porphyrischen Argumenten ausgefochten. Der Aristoteles, den man so gern als Autorität anruft, ist porphyrisch gesehener Aristoteles. In der Scholastik kam es zu neuer Berührung des Abendlandes mit neuplatonischem Denken. 45 Erst HILDUIN von St. Denis, dann JOH. SCOTUS ERIUGENA 44 Hierzu ist zu vergleichen C. ANDRESEN, Logos und Nomos, die Polemik des Kelsos wider das Christentum, Bln. 1955. Besonders klärend ist dieses Buch in allem, was zum Geschichtsbild Justins (hierin eines Vorläufers von Augustin) gesagt ist, 354—372; gut auch die Darstellung von der Unfähigkeit der Platoniker, zu geschichtlichem Denken vorzustoßen. Vgl. m. Rez. Gnomon 1957, S. 185—192. i l Hierzu ist nochmals auf den Aufsatz von Jos. KOCH zu verweisen : Augustinischer und dionysischer Neuplatonismus und das Mittelalter; Kant-Studien 48 (1956) 117 — 133.
Porphyrios als Mittler zwischen Plotin und Augustin
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übersetzten den D I O N YSIOS AREOPAGITA—durch die Schule von Chartres wurde der Timaios, durch W I L H E L M VON M O E R B E K E wurde PROKLOS neu zugänglich gemacht. Diese Berührungen waren außerordentlich fruchtbar ; sie brachten neues Material bei, bekräftigten aber die scholastischen Diskussionen einerseits und die Entwicklung der Mystik andererseits in der schon zuvor eingeschlagenen Richtung. Diese Richtung der mittelalterlichen Geistesentwicklung wäre gewiß nicht eingeschlagen worden, und sie wäre nicht die herrschende geblieben, wenn nicht gerade in Augustin so sehr viel von jener Denk-Richtung vorbereitet gewesen wäre; von ihm aus ist die starke porphyrische Komponente über die Jahrhunderte hin mehrfach fruchtbar geworden. Vielleicht kann diese Betrachtung lehren, die Ursprünge des Mittelalters aus einer Synthese herzuleiten. Mit Recht ist Augustin der Vater des Abendlandes genannt worden, denn er hat jene fruchtbare Synthese hergestellt ; er hat aus den christlichen Begriffen der Gnade und der Erlösung, der Offenbarung und des Glaubens ein christliches Denkgebäude aufgerichtet, ein christliches Geschichtsbild gezeichnet und eine christliche Ethik begründet, wie es keiner der griechischen Kirchenlehrer vermochte. Aber dabei ist als ganz wesentlicher Beitrag einzuschalten: was die begriffliche Klärung vom Wesen des Transzendenten anlangt, und was die Stufungslehre als Ordnungsprinzip anlangt, konnte dies Gebäude nicht errichtet werden, wenn man nicht Porphyrios und seine Leistung mit einbezog. Porphyrios war der letzte griechische Denker, der den Westen in fundamentaler Weise beeinflußt hat. Durch Augustin hindurch ist er der Mitbegründer der abendländischen Theologie gerade da geworden, wo sie sich von der des Ostens unterscheidet 46 . 46
Der im Vorstehenden bezeichneten Problematik ist der Verfasser in folgenden Studien weiter nachgegangen: Das fünffach gestufte Mysterium. Der Aufstieg der Seele bei Porphyrios und bei Ambrosius. MULLTJS = Festschr. Th. Klauser, Jahrbuch für Antike und Christentum, Erg. Band 1, 1964, 79—92; Die Lehre von der Seele (bei Porphyrios), Entretiens sur l'Antiquité Classique, tome X I I „Porphyre", 1965, 165—192. Wertvolle Bestätigungen hat erarbeitet: B. R. Voss, Spuren von Porphyrios' De regressu animae bei Augustin, De vera religione. Museum Helveticum 20, 1963, 237—239.
SAINT THOMAS E T LE STOÏCISME P a r GÉRARD V E R B E R E
On sait depuis longtemps que saint Thomas est arrivé à construire une vaste synthèse entre la philosophie d'Aristote et la pensée chrétienne. L'inspiration fondamentale de sa métaphysique, de sa psychologie et de sa morale se trouve dans la doctrine du Stagirite : ceci ne veut pas dire que saint Thomas aurait repris, sans les modifier et sans les revoir les thèses de son grand prédécesseur. Bien au contraire, la synthèse magistrale d'Aristote a été repensée, corrigée et complétée de telle manière qu'elle s'harmonise parfaitement avec la doctrine chrétienne. Même dans ses commentaires, où le Docteur Angélique cherche à dévoiler la pensée authentique de son maître grec avec une objectivité et une sérénité remarquables, on n'assiste pas à simple travail d'herméneutique: là aussi le philosophe médiéval ne cesse de prendre position personnellement vis-à-vis de la doctrine d'Aristote, pour y apporter des corrections et pour résoudre des questions laissées en suspens. La philosophie de saint Thomas se présente ainsi comme le développement organique et vital de la doctrine aristotélicienne, repensée et reprise dans un autre contexte historique, et enrichie par l'apport de plusieurs siècles de réflexion humaine. On peut se demander pourquoi saint Thomas a choisi comme base de sa réflexion philosophique la pensée d'Aristote, de préférence à d'autres systèmes philosophiques de l'antiquité, nous visons particulièrement le platonisme et le stoïcisme. Car tout dans l'aristotélisme ne se prêtait pas à une synthèse harmonieuse avec la doctrine chrétienne : signalons à titre d'exemples la doctrine d'Aristote sur l'éternité du monde, son attitude négative vis-àvis de la providence, sa théorie de l'intellect actif et du caractère mortel de l'âme humaine, son eudémonisme purement naturaliste dans le domaine de la morale ; tous ces points de doctrine, et ils ne sont pas sans importance dans le système aristotélicien, ne se prêtaient pas du tout à une incorporation harmonieuse dans la pensée chrétienne. Sous bien des rapports, le platonisme se serait mieux prêté à servir de charpente à l'élaboration rationelle de la foi chrétienne: nous savons d'ailleurs que l'aristotélisme, tel qu'il s'est offert à saint Thomas, n'était pas pur et authentique à tout point de vue, que d'autres influences, telles que le néoplatonisme, l'avaient contaminé; signalons surtout le Liber de causis, dont saint Thomas a appris bien tard la véritable origine et qu'il a considéré longtemps comme un ouvrage
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aristotélicien1. On comprend plus facilement que saint Thomas ait choisi l'aristotélisme comme base de sa réflexion philosophique, si on tient compte de la manière dont cette philosophie s'est présentée à lui vers le milieu du XIIle siècle. Le stoïcisme a dominé durant cinq siècles la culture du monde antique; pendant toute la période hellénistique depuis le début du l i l e siècle av. J. C. jusqu' à la fin du Ile siècle après J. C. il a exercé une influence des plus profondes sur la vie des individus et des peuples. Aucun autre courant philosophique n'est aussi important durant cette période, à tel point que la pensée stoïcienne constitue l'armature philosophique de la plupart des intellectuels de cette époque. L'avènement du christianisme se situe au cours de cette période et il n'est pas étonnant que plusieurs penseurs chrétiens aient essayé timidement de concilier leurs convictions religieuses avec la philosophie du Portique. On ne peut pas dire cependant que ces essais ont été couronnés de succès. Plusieurs thèses stoïciennes étaient manifestement incompatibles avec la doctrine du Christ : un des dogmes fondamentaux de la philosophie du Portique depuis les débuts, c'est le matérialisme; on pourrait signaler en outre le panthéisme de cette philosophie, sa doctrine du retour cyclique des mêmes événements dans l'histoire du monde, sa théorie de la survie limitée de l'âme et une sorte de fatalisme universel. Sur tous ces points de doctrine l'opposition entre le stoïcisme et le christianisme était insurmontable. Bien que les philosophes du Portique aient élaboré une morale qui se rapproche de l'Evangile sur bien des points, on doit reconnaître que cette philosophie est inconciliable avec le christianisme dans ses principes essentiels. On ne s' étonnera donc pas que saint Thomas n' ait pas fait appel au système stoïcien pour servir de charpente à sa grande synthèse de la doctrine chrétienne, mais qu'il se soit tourné plutôt vers un aristotélisme, mitigé de néoplatonisme. Il n'en reste pas moins vrai que saint Thomas a trouvé le stoïcisme sur son chemin et qu'il a été obligé de prendre position vis-à-vis des grandes thèses de cette philosophie. Notons dès l'abord que dans la rencontre de saint Thomas avec le stoïcisme il s'est produit un phénomène analogue à celui de sa rencontre avec le néoplatonisme: celui-ci ne s'est pas toujours présenté au Docteur Angélique sous son véritable nom, mais parfois sous le nom d'Aristote. Il en est de même du stoïcisme : ce courant philosophique a pénétré dans la pensée du saint Docteur par le truchement de certains ouvrages dont il ne soupçonnait pas toujours l'origine véritable et la physionomie réelle. Il en résulte qu'il faudra faire au cours de cet exposé une distinction entre l'influence consciente et l'influence inconsciente du stoïcisme sur la philo1 Sancii Thomae de Aquino super Librum de causis expositio, ed. H . (Textus Philosophici Friburgenses, 4/5). Fribourg et Louvain, 1954, p. 3.
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Sophie de saint Thomas. Nous entendons par «influence consciente» celle qui fut exercée par des textes dont le saint Docteur a reconnu la véritable physionomie ; à propos de cette influence, on doit se demander jusqu' où s'étend la connaissance que saint Thomas possède de la pensée stoïcienne. Aborde-t-il fréquemment des problèmes propres à la philosophie du Portique, et possède-t-il une information assez approfondie sur les thèses fondamentales de cette école, ou bien son information est-elle plutôt superficielle ? On peut se demander aussi par quel biais lui est arrivée cette connaissance: a-t-il pris connaissance directement de certains ouvrages écrits par des philosophes stoïciens, ou bien se base-t-il sur des renseignements donnés occasionellement par CICÉRON, saint AUGUSTIN, BOÈCE, NÉMÉSIUS, ou les commentaires grecs sur Aristote, traduits en latin par son confrère GUILLAUME DE MOERBEKE o u p a r ROBERT GROSSETÊTE ?
L'influence inconsciente est celle qui fut exercée par des ouvrages dont saint Thomas n'a pas reconnu la véritable nature: on devra se demander notamment si le saint Docteur n'a pas utilisé des exposés de philosophie stoïcienne, sans qu'il se soit rendu compte de l'origine des idées qu'il avait devant lui. Ce phénomène n'aurait rien d'invraisemblable, et nous savons qu'il s'est produit pour un autre courant philosophique, à savoir le néoplatonisme. C 'est pourquoi saint Thomas était moins aristotélicien qu'il ne le pensait lui-même. La suite de cet exposé nous montrera qu'un phénomène analogue a eu lieu en ce qui concerne le stoïcisme : saint Thomas l'a trouvé sur son chemin sans le reconnaître. Nous n'entendons nullement par là que toutes les conceptions stoïciennes, s'offrant sous une autre étiquette, ont été reprises et accueillies par le Docteur Angélique: celui-ci a fait un départ judicieux et nuancé entre les différentes doctrines qui se présentaint à lui afin de découvrir le noyau de vérité, contenu en chacune d'elles. Disons dès l'abord que saint Thomas ne distingue guère la physionomie particulière de chacun des grands représentants de l'école stoïcienne, à l'exception de SENEQUE, et ne se rend donc pas compte des différences de doctrine entre les représentants de l'ancien stoïcisme (Zénon, Cléanthe, Chrysippe), ceux du moyen stoïcisme (Panétius et Posidonius) et enfin ceux de l'époque impériale (Sénèque, Marc-Aurèle, Epictète). Dans un nombre assez considérable de passages, il parle des stoïciens en général (STOICI) , sans tenir compte de l'évolution de la pensée stoïcienne depuis le fondateur de l'école à travers les cinq siècles de son existence. Il considère par conséquent le stoïcisme comme un ensemble de doctrines, ou plutôt comme une collection de thèses qui ont été avancées invariablement par les différents membres de l'école du Portique. Voici quelques points de doctrine attribués par lui aux stoïciens en général : d'après saint Thomas les stoïciens seraient partisans du déterminisme universel, n'atteignant pas seulement les
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événements de la nature, mais aussi les actes humains ; ceux-ci ne seraient donc pas une exception au déroulement fatal de événements du monde, mais ils y seraient insérés au même titre que les autres épisodes constituant l'histoire du cosmos et dépendraient directement des mouvements et des positions des corps célestes : tout ceci est mis en rapport avec la doctrine stoïcienne concernant la providence2. Dans un des passages où il est question de ce déterminisme universel de l'école du Portique, saint Thomas indique la source de son information; c'est le De natura hominis (cap. 37; P. G. 40, 752) de NÉMÉSIUS, ouvrage qu'il attribue faussement à GRÉGOIRE DE NYSSE3. Ce renseignement est-il exact ? On se trouve ici devant une des objections les plus répandues contre la philosophie stoïcienne; sans doute aucun des représentants de l'école ne l'aurait admise, car la négation de la liberté humaine est par le fait même la négation de la morale, qui constitue la pièce maîtresse du système stoïcien. E t cependant les philosophes du Portique admettent la sympathie universelle, la doctrine de la divination, la conflagration du monde et le retour cyclique des mêmes événements: toute l'évolution du monde est déterminée selon eux par un Logos immanent, un pneuma créateur qui pénètre toutes choses et dont l'homme également porte en lui une petite parcelle, l'âme humaine est donc une parcelle du Logos divin qui anime l'univers et qui est à la source de tout ce qui se passe dans le monde. En concluront-ils que l'homme n'est pas libre ? En aucune manière, puisque l'essentiel de leur morale consiste dans la conformité ou l'har2 Summa contra Gentiles, III, 85: Per haec autem excluditur positio Stoicorum, qui ponebant omnes actus nostros et etiam electiones nostras secundum corpora caelestia disponi. •— De divinis nominibus, III, No 241 (ed. C. PERA); quidam vero extenderunt divinam Providentiam usque ad omnia, sed dixerunt ex divina Providentia res omnes necessarios eventus habere, totaliter a rebus contingentiam auferentes, et haec fuit opinio Stoicorum ponentium, secundum inevitabilem causarum Seriem quam fatum nominabant, omnia ex necessitate contingere. — In Peri Hermeneias, I, 14, no 185 (ed.
SPIAZZI). 3 Summa contra Gentiles, III, 73: Per haec autem excluditur opinio Stoicorum qui secundum ordinem quendam causarum intransgressibilem quem graeci ymarmenen vocabant, omnia ex necessitate dicebant provenire. Au cours de son commentaire sur le Peri Hermeneias saint Thomas aborde le critique des notions stoïciennes de nécessaire, d'impossible et de possible, Stoici vero distinxerunt haec secundum exteriora prohibentia. Dixerunt enimnecessarium esse illudquod non potest prohiberi quin sit verum; impossibile vero quod semper prohibetur a veritati; possibile vero quod potest prohiberi vel non prohiberi (I, 14, no 183, ed. SPIAZZI). L'auteur s'oppose à ces conceptions pour deux raisons, d'abord parce que la distinction entre ces notions est faite a posteriori, c'est à dire à partir de événements: ce n'est pas parce que quelque chose se réalisera toujours, qu'il est nécessaire ; en contraire, c'est parce qu'il est nécessaire, qu'il se réalisera toujours. Ensuite les définitions sont faites à base d'éléments extrinsèques et plus ou moins accidentels: ce n'est pas paTce qu' un événement n' est arrêté par aucun obstacle qu' il est nécessaire; c'est parce qu'il est nécessaire, qu'aucun obstacle n'est en mesure de l'arrêter.
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monie de la volonté individuelle avec le Logos: c'est ce qu'on appelle depuis ZÉNON: όμολογουμέυως ζην4. IL est indéniable cependant que le libre arbitre n'est guère conciliable avec la métaphysique du système stoïcien6. S'appuyant sur le De consolatione (V, metr. 4) de BOÈCE®, saint Thomas met ce déterminisme en rapport avec le processus de la connaissance intellectuelle, tel qu'il est décrit par les stoïciens : notre esprit recevrait en lui les images des objets matériels à la manière d'un miroir ou d'une feuille de papier sur laquelle on trace certains caractères. Et comme les objets les plus dignes avec lesquels l'homme entre en relation, sont les corps célestes, les connaissances intellectuelles nous viendraient surtout de ce monde supérieur. Il en résulterait que le cours de la vie humaine serait déterminé suivant une nécessité inébranlable par les événements qui se produisent dans le monde des astres7. A l'endroit visé du De consolatione, BOÈCE ne dit pas que les connaissances intellectuelles nous viennent principalement des corps célestes ; il ne met pas non plus de rapport entre le déterminisme de la philosophie stoïcienne et la théorie de la connaissance. Il refuse cependant avec énergie d'admettre le caractère passif de la connaissance humaine, de croire que l'homme dans l'acte cognitif ne fait rien d'autre que de subir les impressions qui lui sont données par le monde extérieur. A 4
D I O G . L A Ë R T . V I I , 8 7 . — S T O B A E U S , Ë c l . I I p . 7 5 , 1 1 W . — CICERO, De fin.
IV, 14;
Inst, div., III, 7 ; III, 8 . — P H I L O , Quod omnis probus liber, Vol. II, p. 470, 27 Máng. Cf. Stoicorum Veterum Fragmenta (ed. JOH. AB ARNIM) I, 179. 1 Dans l'hymne de Cléanthe l'auteur s'adresse à Zeus afin qu'il écarte les ténèbres de son âme (STOBAEUS, Ë cl. I, 1, 12 p. 25, 3; S. V. F. I, 537). Cependant même cette prière se heurte à la logique du système : même si on limite le domaine de la libre initiative à une attitude intérieure d'acceptation ou de refus, on se heurte à la logique d'un panthéisme conséquent: si l'ame humaine est une parcelle du Logos divin, comment pourrait-elle s'y opposer ? Les représentants de l'école du Portique ne se sont pas rendu compte que leur métaphysique ruinait leur morale. • De consolatione Philosophiae, V, 4 : Quondam Porticus attulit Obscuros nimium senes. Qui sensus et imagines E corporibus extimis Credant mentibus imprimi Ut quondam celeri stilo Mos est aequore paginae Quae nullos habeat, notas Pressas figere litteras. 7 Summa contra Gentiles, III, 84: Hinc etiam processit Stoicorum opinio qui dicebant cognitionem intellectus causali ex hoc quod imagines corporum nostris mentibus imprimuntur, sicut speculum quoddam, vel sicut pagina recipit litteras impressas, absque hoc quod aliquid agat, ut Boethius narrat in V De Consolatione (metro IV). Secundum quorum sententiam sequebatur quod maxime ex impressione corporum caelestium intellectuales notiones nobis imprimerentur. Unde et Stoici fuerunt qui praecipue necessitate quadam fatali hominum vitam duci posuerunt. I I I , ' 2 1 . — LACTANTIUS,
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cela il oppose la force irrésistible qui anime l'esprit humain dans ses investigations les plus variées8. Il n'est pas impossible que les critiques de BOÈCE soient à l'origine de la manière dont saint Thomas reproduit la pensée stoïcienne, c'est même probable. Car si l'homme est purement passif devant l'es images qui sont imprimées en lui par les objets extérieurs, il s'en suivra que la conduite de l'homme dépendra uniquèment de la succession des événements et de l'influence exercée par eux sur la vie humaine. On ne peut pas dire que le renseignement de saint Thomas traduise avec précision la doctrine des stoïciens: ceux-ci admettent sûrement que l'image des objets extérieurs est imprimée dans l'âme, comme le sceau dans la cire, ce qui s'accorde pleinement avec leur psychologie matérialiste. C'est la doctrine bien connue de la τύττωσις έν ψυχή professée déjà par ZÉNON de Cittium et reprise ultérieurement, avec certaines modifications, par les autres représentants de l'école. Il n'en reste pas moins vrai qu'ils admettent aussi dans la connaissance un élément volontaire, c'est-à-dire l'adhésion ou l'assentiment, ce qu'ils traduisent par le terme συγκατάθεση. De là aussi leur doctrine que le sage n'est pas seulement à l'abri de toute erreur, mais de toute connaissance manquant de fermeté et de stabilité. Voici comment CICÈRON s'exprime sur ce point dans le Pro Murena : «Sapientem nihil opinari, nullius rei paenitere, nulla in re falli, sententiam mutare numquam »9. Quant à l'influence des corps célestes sur la connaissance humaine, n'est-ce pas une simple conséquence tirée de la doctrine de la sympathie universelle, admise par l'école du Portique ? Il importe cependant de ne pas oublier que la sympathie universelle n'est pas un dogme isolé des autres conceptions du système: elle est d'une part la base de la théorie de la divination, et d'autre part la conséquence tout à fait logique de la cosmobiologie. Si le monde est un être vivant, un organisme gigantesque dont toutes les parties se tiennent, comment ne pas admettre que chaque élément reflète la situation de l'ensemble ? Une des doctrines capitales de la philosophie stoïcienne se rapporte aux passions, à l'égard desquelles on adopte une attitude strictement négative. Dans les Tusculanes de CICERÓN10 saint Thomas a trouvé un 8
De consolatione phtlosophiae, V, 4: Sed mens si propriîs vigens Nihil motibus explicat, Sed tantum patiens iacet Notis subdita corporum Cassasque in speculi vicem Rerum reddit imagines Unde haec sic animis viget Cernens omnia notio ? • Pro Murena, §61; S. V. F. I, 54. 10 Tuscul Disput. III, 7 : Num reliquae quoque perturbationes animi, formidines, libídines, iracundiae ? Haec enim fere sunt eius modi quae graeci πάθη appellant; ego
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passage où il est dit que les passions sont des maladies de l'âme et il note à ce sujet que l'orateur romain parle ici selon l'opinion des stoïciens 11 . C'est que pour les philosophes du Portique les passions sont par définition des mouvements de l'âme contraires à la direction émanant de la raison; saint Thomas fait remarquer qu'ils en arrivent à cette position extrémiste, parce qu'ils ne font pas de distinction entre l'appétit sensible et l'appétit intellectuel; ils sont amenés de la sorte à considérer comme passion tout mouvement qui est opposé à la raison, «quascumque affectiones rationi repugnantes »12. E t si l'on se rend compte maintenant du rôle primordial accordé à la raison dans la morale stoïcienne, on comprendra sans difficulté que la passion est incompatible avec la vertu et avec l'idéal de sagesse qu'ils préconisent, «quod virtù tes essent sine passionibus animae »13. Se basant sur le De civitate Dei de saint AUGUSTIN14 le Docteur Angélique fait remarquer que l'âme du sage est entièrement dénuée de passions, elle jouit d'une sérénité totale à l'abri de tout mouvement passionel. L'attachement au bien-être matériel n'existe pas pour lui, les biens extérieurs ne présentant point d'attrait à ses yeux: il est heureux au milieu des souffrances les plus atroces, car son seul bien c'est la vertu, c'est vivre selon la raison, en harmonie avec le Logos universel 15 . Si les passions sont toujours des mouvements contraires à la droite raison, il en résultera que tous ces mouvements sont moralement mauvais et s'opposent diamétralement à l'idéals de la sagesse 16 . Sous ce rapport saint Thomas oppose l'attipoteram morbos, et id verbum esset e verbo, sed in consuetudinem nostram non caderet. Nam misereri, in videre, gestire, laetari, haec omnia « morbos » graeci appellant, motus animi rationi non obtemperantes, nos autem hos eosdem motus concitati animi recte, ut opinor, perturbationes dixerimus, morbos autem non satis usitate, nisi quid aliud tibi videtur. 11 S. T. I I I , q. 15, a. 4, ad. 2: Ad secundum dicendum quod Tullius ibi loquitur secundum opinionem Stoicorum, qui non vocabant passiones quoscumque motus appetitus sensitivi, sed solum inordinatos. 12 S..Τ I — I I , q. 59, a. 2, co.; I I — I I I p. 158, a. 1, ad 1: Ad primum ergo dicendum quod Stoici iram et omnes alias passiones nominabant affectus quosdam praeter ordinem rationis existentes, et secundum hoc, ponebant iram et omnes alias passiones esse malas. 13 5. T. I — I I , q. 59, a. 2, ad 1. 14 De civ. Dei, X I V , 8: Quas enim Graeci appellant εύτταθεΐας, latine autem Cicero constantias nominavit. Stoici tres esse voluerunt, pro tribus perturbationibus in animo sapientis, pro cupiditate voluntatem, pro laetitia gaudium, pro metu cautionem, pro aegritudine vero vel dolore, quam nos vitandae ambiguitatis gratia, tristitiam maluimus dicere, negaverunt esse posse aliquid in animo sapientis. « S. T. I — I I , q. 59, a 3, co. — Comm. £th„ V I I , 13, ed. n» 1507, PIROTTA: lili autem qui dicunt, si homo est virtuosus est felix, etiamsi circumferatur et subdatur magnis infortuniis, nihil rationabile dicunt, sive hoc dicant volentes, quasi intellectu huic dictio assentientes, sive hoc dicant nolentes, quasi per rationem coacti contra id quod eis videtur; et innuit Stoicos quorum erat ista opinio. u S. T. I — I I , q. 24, a. 2, co.: Nam Stoici dixerunt omnes passiones esse malas; Peripatetici vero dixerunt passiones moderatas esse bonas. — Ibid a. 3, co. : Respondeo
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tude des stoïciens à celle des péripatéticiens : ces derniers ne condamnent pas purement et simplement tout mouvement passionnel, leur idéal moral ne vise pas à extirper les passions, mais à les soumettre à la direction de la raison et à les orienter de la sorte vers l'épanouissement harmonieux de la vie humaine17. Saint Thomas n'insiste cependant pas sur la différence entre la morale stoïcienne et la morale aristotélicienne dans le domaine des passions: d'après lui il n'y aurait guère d'opposition quant au fond, ce serait plutôt une querelle de mots, en ce sens que les représentants des deux écoles n'emploient pas le terme «passion» dans la même signification18. Les renseignements donnés par saint Thomas concernant la doctrine stoïcienne des passions, correspondent aux autres informations qu'on possède sur la question: la chose n'a d'ailleurs rien d'étonnant, puis qu'il s'agit d'une des thèses principales de la philosophie du Portique. Dire que cette attitude négative vis-à-vis des passions provient du fait que les stoïciens n'ont pas distingué entre les mouvements sensibles et les mouvements intellectuels, c'est là une interprétation de saint Thomas lui-même19. Il est certain que pour les stoïciens la passion est toudicendum quod Stoici, sicut ponebant omnem passionerà animae esse malam, ita ponebant consequenter omnem passionem animae diminuere actus bonitatem: omne enim bonum ex permixtione mali vel totaliter tollitur, vel fit minus bonum. — De Malo, q. 12, a. 1; Tertio defecerunt Stoici in hoc quod non recte accipiebant iram et alias passiones. Cum enim non omnes motus appetitivi sint passiones, non distinguebant passiones ab aliis appetitivis motibus in hoc quod alii appetitivi motus sunt in volúntate, passiones autem in appetitu sensitivo; quia non distinguebant inter utrumque appetitum; sed passiones dicebant motus appetitivos transgredientes temperiem ordinatae rationis; unde dicebant, eas esse morbos quosdam animae, sicut morbi corporis transgrediuntur temperiem sanitatis; et secundum hoc oportebat quod omnis ira et omnis passio sit mala. 17 S. T. II—II, q 123, a. 10, co. : Stoici enim et iram et omnes alias animae passiones ab animo sapientis, sive virtuosi, excludebant. Peripatetici vero, quorum princeps fuit Aristoteles, iram et alias animae passiones attribuebant virtuosis, sed moderatas ratione. 18 Ibid. : E t forte quantum ad rem non differebant, sed solum quantum ad modum loquendi. Nam Peripatetici omnes motus appetitus sensitivi, qualitercumque se habentes, passiones animae nominabant, ut supra habitum est ; et quia appetitus sensitivus movetur per imperium rationis ad hoc quod cooperetur ad promptius agendum, id circo ponebant et iram et alias passiones animae assumendas esse a virtuosis, moderates secundum imperium rationis. Stoici vero vocabant passiones animae immoderatos quosdam affectus appetitus sensitivi (unde nominabant eos aegritudines vel morbos) : et ideo penitus eos a virtute separabant. — S. T. I—II, q. 24 a. 2, co.: Quae quidem differentia licet magna videatur secundum vocem, tarnen secundum rem vel nulla est, vel parva, si quis utrorumque intentiones consideret. " S. T. I—II, 24, a. 2, co. : Stoici enim non discernebant inter sensum et intellect u m ; et per consequens nec inter intellectivum appetitum et sensitivum. Unde non discernebant passiones animae a motibus voluntatis secundum hoc quod passiones animae sunt in appetitu sensitivo, simplices autem motus voluntatis sunt in intellectivo; sed omnem rationabilem motum appetitivae partis vocabant voluntätem, passionem autem dicebant motum progredientem extra limites rationis.
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jours une source de trouble et de déséquilibre, elle est aussi à l'origine d'erreurs multiples : pour toutes ces raisons elle sera considérée comme intrinsèquement mauvaise. La doctrine stoïcienne des vertus se rattache logiquement à celle des passions : saint Thomas nous dit à plusieurs reprises que pour les philosophes du Portique la vertu consiste essentiellement dans l'affranchissement intérieur de l'homme vis-à-vis des passions20, ou comme il le rapporte dans son commentaire sur l'Ethique à Nicomaque: «Virtutes sunt quaedam impassibilitates et quietes»21. Si les passions sont intrinsèquement mauvaises, l'affranchissement des passions constituera l'élément fondamental de toute vertu. De même que P L U T A R Q U E s'est opposé à cet extrémisme moral des stoïciens dans son De virtute morali22, ainsi saint Thomas refuse-t-il de se ranger aux côtés des stoïciens dans leur attitude négative vis-à-vis des passions ; toutes les passions ne doivent pas être extirpées, ce qu'il importe de faire c'est de soumettre les mouvements déréglés à la direction de la raison. Voici comment il s'exprime: »Sed in hoc maie dixerunt (il s'agit des stoïciens) quod totaliter a virtuoso volunt excludere animae passiones . . . Unde ad virtutem non pertinet quod excludat omnes passiones, sed solum inordinatas, quae scilicet sunt ut non oportet et quando non oportet, et quaecumque alia adduntur pertinentia ad alias circumstantias »23. Ce passage est une des multiples expressions du sens de l'équilibre humain, répandu à travers toute l'oeuvre de saint Thomas : son traité de l'homme dans la 1ère partie de la Somme en est la traduction la plus éloquente. Aucune tendance à nier les valeurs du corps humain, aucune trace d'un dualisme psychologique ni d'un spiritualisme exagéré : l'unité de l'homme y est affirmée de la façon la plus catégorique. Comme nous l'avons déjà dit plus haut, plus les stoïciens se refusent à accorder quelque valeur aux biens extérieurs, se distinguant en cela d'Aristote et de ses disciples. Saint Thomas rapporte cette doctrine et il en cherche l'explication dans le fait que pour les stoïciens l'homme luimême n'est pas bon: «eo quod eis non sit homo bonus»24. Si nous com20 Comm.. Phys., VII, 6, ed. MAGGIOLO n° 921: Stoici enim dixerunt virtutes esse impassibilitates quasdam, nec posse esse virtutem in anima, nisi remotis omnibus passionibus animae, quae sunt timor, spes, et huiusmodi. Huiusmodi enim passiones dicebant esse quasdam animae perturbationes sive aegritudines : virtutem autem esse dicebant quandam quasi tranquillitatem animae et sanitatem. Unde e contrario malitiam dicebant esse omnem animae passibilitatem. 21 Comm. Eth., II, 3, ed. PIROTTA, n° 272. 22 De virtute morali, cap. 12.
** C o m m , Eth.
I I , 3, ed PIROTTA n ° 2 7 2 .
Comm. Eth., I, 12, ed. PIROTTA, n° 143; X, 9, n° 2067: Si igitur felicitas sit habitus, sequeretur quod infortunati essent vere felices. Hoc autem STOICI pro inconvenienti non habebant, ponentes exteriora bona nullo modo esse bona hominis. Et ideo per infortunia nihil potest homini de sua felicitate diminuì. — Ibid., X, 13, n° 2132. 24
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prenons bien ce texte, saint Thomas veut se séparer du négativisme stoïcien par une valorisation totale de la réalité humaine: aucun élément constitutif de cette réalité complexe n'est considéré par lui comme foncièrement mauvais, aucune aspiration humaine n'est à écarter radicalement : l'idéal moral est un idéal d'épanouissement complet et harmonieux. L'objection fondamentale que saint Thomas oppose à l'idéal moral de l'école du Portique, réside dans le caractère inhumain de cette doctrine : dire que toutes les jouissances sont mauvaises25, que la tristesse est toujours à condamner même dans les périodes d'adversité et de souffrance, puisque le seul bien de l'homme consiste dans la vertu2®, prétendre que tout mouvement de colère est à désapprouver27, ce sont là des thèses extrémistes qui ne tiennent pas suffisamment compte de la complexité de la réalité humaine. Dans la Somme Théologique28 saint Thomas rapporte aussi la doctrine des stoïciens d'après laquelle la vertu ne serait pas susceptible d'accroissement ni de diminution; il emprunte ce renseignement au commentaire de SIMPLICIUS sur les Catégories. Il est dit là que certains «habitus» sont susceptibles d'accroissement et de diminution; on peut par exemple réaliser des progrès dans la dextérité avec laquelle on exerce un métier. Il n'en est pas ainsi cependant dans le domaine des vertus: on est vertueux ou on ne l'est pas, on n'est pas plus ou moins vertueux. Par ailleurs, saint Thomas oppose la doctrine des stoïciens suivant laquelle il faut s'écarter progressivement de l'objet de ses tendances les plus fortes, à celle d'Aristote: celui-ci est d'avis que l'homme doit réagir en sens contraire afin d'atteindre le juste milieu. Il en irait de l'homme comme d'un morceau de boit tordu: si on veut le rendre droit, on doit l'incliner en sens contraire. Saint Thomas fait remarquer 2 5 S. T. I—II, q. 34, a. 2, co.: Respondeo dicendum quod sicut aliqui Stoicorum posuerunt omnes delectationes esse malas, ita Epicurei posuerunt delectationem secundum se esse bonum, et per consequens delectationes omnes esse bonas. 26 Comm.. Eth., I, 16, ed. PIROTTA, n° 195; Ibid, n° 196. Haec enim fuit diversitas inter Stoicos et Peripatéticos, quorum princeps fuit Aristoteles, quod Stoici posuerunt tristitiam nullo modo cadere in virtuosum, quia in corporalibus et exterioribus rebus nullum bonum hominis consistere ponebant. — Ibid. III, 18, n° 588: Arguit autem in prima parte ex eo quod supponebant Stoici, scilicet quod nihil esset bonum hominis nisi virtus. Et ideo dicebant virtuosum non tristari, quia in proprio bono non patitur aliquod detrimentum. 27
Comm.
Eth.,
IV, 13, ed. PIROTTA, n° 8 0 4 .
S. T. I—II, q. 52, a. 1, co.: Tertia fuit opinio Stoicorum, media inter has. Posuerunt enim quod aliqui habitus secundum se recipiunt magis et minus, sicuti artes; quidam autem non, sicut virtutes. Cf. SIMPLICIUS, Comm. Praedicamanta, ed. KALBFLEISCH, q. 284, 32; Trad, de Moerbeke (Cod. Bas. lat. H: 6): Tertia autem secta est Stoicorum, qui dividentes seorsum virtutes has ñeque intendi dicunt ñeque remitti: medias autem artes aiunt suscipere intensionem et remissionem. Habituum igitur et qualium secundum istos: haec quidem ñeque intenduntur neque remittuntur, haec autem quales suscipiunt.— La traduction latine de ce passage m' a été communiquée par le Rev. Père Α. ΡΕΤΤΙΝ, que je tiens à remercier ici de son aimable bienveillance. 28
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que la méthode stoïcienne est particulièrement adaptée aux hommes qui n'ont pas beaucoup de volonté29. Il est bien connu que les stoïciens admettent le passage brusque de la folie à la sagesse : PLUTARQUE en parle dans le De communibus notitiis, où il est dit que celui qui est à une condée de la surface de l'eau, n'est pas moins étouffé que celui qui se trouve à une profondeur de cinq cents brasses : ainsi tous ceux qui sont tout proches de la vertu ne sont pas moins dans la méchanceté que ceux qui s'en trouvent à une grande distance80. PLUTARQUE propose encore une autre comparaison: les aveugles restent dans l'obscurité, même s'ils peurent voir peu de temps après ; ainsi en est-il de ceux qui avancent vers la sagesse : ils demeurent dans la méchanceté et dans la folie, aussi longtemps qu'ils n'ont pas atteint complètement le but de leurs efforts31. CICÉRON attribue lui aussi cette doctrine aux stoïciens et fait appel une nouvelle fois aux mêmes images32. La même doctrine est exposée et combattue dans la lettre 167 de saint AUGUSTIN : celui-ci prétend que la théorie en question n'est pas conforme à l'enseignement de l'Écriture et en remplacement de l'image du nageur, remontant brusquement à la surface de l'eau, il en propose une autre : celle d'un homme qui avance progressivement de l'obscurité à la lumière; ainsi celui qui sort du fond d'un gouffre, s'avancera insensiblement vers la clarté, à mesure qu'il s'approchera de la sortie33. Saint Thomas admet lui aussi que les «habitus » sont susceptibles d'accroissement ou de dimiñution ; d'après lui, l'habitus peut s'accroître de deux manières différentes ; ou bien en luimême pour autant qu'il s'étend à un plus grand nombre d'objets (la science de l'homme sera d'autant plus vaste, qu'elle s'étendra à un plus grand nombre d'objets) ; ou bien selon le degré de participation à cet habitus d'un sujet déterminé: il est possible que la participation d'un sujet à un habitus déterminé soit plus intense que celle d'un autre. Sous ce rapport saint Thomas rejoint le point de vue de saint Augustin, bien qu'il le fasse avec plus de nuances et d'une manière plus systématique34. Le Docteur Angélique parle très peu des doctrines physiques des stoïciens, qui ont d'ailleurs en des répercussions beaucoup moins fortes sur l'évolution de la philosophie. Il en traite cependant dans son commentaire sur le De caelo et mundo. D'après les stoïciens l'espace " Comm. Eth., II, 11·, ed. PIROTTA, n° 376: Via tarnen quam Stoici posuerunt est facilior, ut scilicet homo paulatim recedat ab his in quae inclinatur, ut Tullius narrat in libro De Tusculanis quaestionibus . . . Sed via Stoicorum magis competit his qui habent debilem et tepidam voluntatem. »· De comm. not., cap. 10, p. 1063 a; S. V. F. I l l , 539. " Op. cit. cap. 10, p. 1063 a; S. V. F. I l l , 539. » De fin,, III, 14, 48. » Ep. 167, 3, 13. C. S. E. L. XLIV, p. 600—601. ** S. T. I—II, p. 52, a. 1, co.
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vide serait illimité; il serait occupé partiellement par le monde, qui laisserait en dehors de lui un espace dont on ne pourrait jamais atteindre les frontières. Voici l'argument avancé par les partisans de cette doctrine: supposons que quelqu'un se trouve à l'extrémité de l'univers et qu'il veuille étendre le bras: s'il en est empêché, cela ne peut se faire que par une réalité extérieure ; on peut dans ce cas poser de nouveau la même question, à savoir si quelqu'un qui se trouve à la place occupée par cette réalité pourra étendre le bras. Il en résulte qu'on tombe dans un processus à l'infini ou bien qu'on aboutit à un dernier corps, au delà duquel l'homme puisse étendre le bras: ceci prouverait qu'au delà du dernier corps il y a un espace vide qui pourrait être occupé par des réalités matérielles, mais qui ne l'est pas35. Ce renseignement sur la physique stoïcienne a été emprunté au commentaire de SIMPLICIUS, qui rapporte aussi les arguments d ' A L E X A N D R E d ' A p H R O D i S E contre cette théorie, arguments qui ont d'ailleurs été repris dans le commentaire de saint Thomas 36 . Cet exemple confirme une nouvelle fois la remarque que nous avons déjà avancée ci-dessus: la connaissance que saint Thomas possède de la philosophie stoïcienne, il l'a puisée à gauche et à droite dans des commentaires sur A R I S T O T E , dans les oeuvres de saint A U G U S T I N , dans le De consolatione de B O È C E , dans le De natura hominis de N É M É S I U S , dans les écrits de CICERÓN. Il s'agit donc d'une connaissance indirecte et très sommaire. Les grandes thèses de la doctrine stoïcienne sont reproduites dans leurs contours généraux, telles qu'elles ont été transmises par une longue tradition. Aucun effort n'est fait pour saisir les nuances de la doctrine ou les théories particulières propres à chacun des représentants de l'école. Il y a cependant une exception: dans la Somme Théologique II—II saint Thomas cite à plusieurs reprises des textes empruntés aux ouvrages des S É N È Q U E , nous visons surtout le De ira, le De dementia et le De beneficiis. A y regarder de près, on constate cependant qu'un grand nombre de passages cités ne présentent pas des doctrines proprement stoïciennes: ils exposent des théories qui appartiennent plutôt à ce fonds commun de la réflexion humaine, qui se poursuit à travers les 35 Comm. De cáelo, I, 21, ed. SPIAZZI, n° 209: Est autem sciendum quod Stoici posuerunt vacuum infinitum, in cuius quadam parte est mundus: et ita relinquitur secundum eos quod extra extremam circumferentiam sit vacuum.
»« SIMPLICIUS, De
cáelo,
p . 1 2 8 6 KARSTEN p . 2 8 4 , 2 8 HEIBG.) S. V . F . I I , 5 3 5 . T r a d ,
latine de MOERBEKE, ed. de Venise (apud HIERONYMUM SCOTUM) 1544, fol. 61 ν : Stoici autem extra coelum vacuum esse volentes, per talem suppositionem probant ipsum. Ponatur enim in extremo firmamenti stantem aliquem extendere sursum manum, et siquidem extendit, accipiunt quod est aliquid extra coelum, ad quod manum extendit. Si autem non possit extendere et sic aliquid erit extra quod prohibeat extensionem m i nus et si iterum apud ultimum illius stans extendat manum, similis interrogatio fiet sicut prius.
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âges et dont les thèmes sont continuellement repris et repensés. Mais il y en a d'autres où le saint Docteur s'est trouvé devant des théories typiquement stoïciennes; nous citons à titre d'exemple le texte de la Secunda Secundae37 où saint Thomas dit que d'après le De ira de SÉNÈQUE la vertu se suffit à elle-même. Notons en passant que saint Thomas cite de mémoire et ne donne pas le texte littéral du passage en question; celui-ci s'énonce comme suit: «Numquam enim virtus vitio adiuvanda est se contenta» 38 . On se trouve ici devant une doctrine authentiquement stoïcienne, à laquelle nous avons déjà fait allusion dans ce qui précède : la vertu est le seul et unique bien pour l'homme ; celui qui le possède est heureux même dans les circonstances les plus tragiques de l'existence ; il est heureux malgré le déonuement et la pauvreté, car les biens matériels n'ont aucune importance pour l'épanouissement de la vie humaine. Saint Thomas, à la suite d'Aristote d'ailleurs, a mitigé le radicalisme de cette thèse : il admet sans doute que la vertu est possible sans les biens matériels ; mais il affirme cependant que ces biens matériels contribuent «ad hoc quod expeditius opere tur», c'est-à-dire à ce que la vertu soit pratiquée avec plus de facilité et de promptitude 39 . SÉNÈQUE, fidèle à l'orthodoxie stoïcienne, condamne toutes les passions; le sage vit à l'abri des mouvements passionnels et la vertu s'opopose diamétralement aux troubles psychiques. C'est pourquoi le penseur stoïcien désapprouve radicalement tout mouvement de colère, disant que la raison est suffisante pour diriger la conduire humaine 40 . Voici un passage repris par saint Thomas dans la Secunda Secundae41 : «Non seulement pour prévoir, mais pour agir, la raison est suffisante par elle-même. En effet est-il rien de sot comme de vouloir qu'elle demande secours à l'irritabilité, que stable elle s'appuie sur une inconstante, fidèle sur une perfide, saine sur une malade ? »42. En d'autres termes, la colère ne peut être d'aucun secours pour la conduite de la vie; toute la direction de la vie humaine dépend de la raison, ce qui veut dire dans la terminologie stoïcienne que la raison individuelle doit se mettre d'accord avec le Logos universel. Saint Thomas se refuse encore une fois à faire sien le négativisme des stoïciens vis-à-vis des passions: il admet sans hésitation que les mouvements de l'appétit sensitif ne constituent pas une aide pour l'acte propre de la raison, c'est-à-dire pour l'acte de penser; par contre, ils constituent pour elle un instru37 S. T. II—II, q. 129, a. 8 arg. 1 : Quia ut Seneca dicit in libro De ira: virtus sibi sufficiens est. 88 De ira. I, 9. s » S. T. II—II, q. 129, a. 8, ad 1. 40 S. T. II—II, q. 158, a. 8, arg. 2: Sed motus irae ad nihil est utilis, ut probat Seneca in libro quem fecit De ira. 41 S. T. II—II, q. 123, a. 10, arg. 2. 42 De ira, I, 17, trad. A. BOURGERY (Coll. Budé).
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ment qui est à son service et qu'on peut comparer aux organes corporels. Dans la position adoptée par le saint Docteur, on voit percer encore une fois le souci de sauvegarder et d'utiliser toutes les forces de la réalité humaine ; aucun négativisme envers ce qui constitue l'unité de l'être humain43. Et saint Thomas d'ajouter: «Seneca autem sectator fuit Stoicorum et directe contra Aristotelem verba praemissa proponit». Il est vrai que sous ce rapport comme sous bien d'autres la doctrine des stoïciens s'oppose à celle d'Aristote et il n'est pas douteux non plus de quel côté va la préférence du Docteur Angélique. Il serait faux de croire que saint Thomas combat toujours les doctrines exposées dans les ouvrages deSÉNÈQUE; il y a un point important où l'aristotélisme et le stoïcisme se rejoignent, du moins dans la terminologie ; d'après le Stagirite l'idéal de la perfection humaine réside dans une vie qui est conforme à ce qu'il y a de plus noble dans l'homme, c'est-à-dire la raison. D'après les stoïciens, le sage vit à l'abri de tout mouvement passionnel et se laisse guider uniquement par la raison. Il est certain cependant que le terme raison n'a pas la même signification des deux côtés: pour un aristotélicien, il s'agit de l'intellect, qui, lui, présente une certaine dualité : d'une part l'intellect réceptif qui est présent dans chaque homme et qui est le principe de l'acte de penser; penser; d'autre part, le ττοιητικόν qui est peut-être unique pour tous les hommes, tout en s'unissant à chacun d'eux dans l'acte de penser. Pour les stoïciens la raison individuelle est une parcelle du Logos universel et la vie morale consiste essentiellement dans l'harmonie ou la conformité du logos individuel avec le souffle divin qui anime le monde. Saint Thomas se demande si la clémence et la mansuétude sont des vertus : notre Docteur répond affirmativement et à titre de preuve, il s'en réfère à ARISTOTE et à SÉNÈQUE : ces deux auteurs sont mis l'un à côté de l'autre pour prouver la même chose : «dementia in diminuendo poenas aspicit ad rationem ut Seneca dicit in II De Clementia (cp. 5) ; similiter etiam mansuetudo secundum rationem rectam moderatur iras, ut dicitur in IV Ethicorum »44. L'énoncé littéral du texte est le même, dans le De clementia de SÉNÈQUE et dans l'Ethique d'ARISTOTE mais l'horizon philosophique traduit par cette expression est bien différent dans les deux écoles: saint Thomas ne semble pas l'avoir remarqué; sa connaissance du système stoïcien n'était pas assez profonde, pour qu'il puisse saisir toujours sous l'écorce des termes employés le noyau caché de la pensée. 43
S. T. II—II, q. 123, a. 10, ad 2: Ad secundum dicendum quod ratio non assumit iram ad sui actum quasi auxilium ab ea accipiens: sed quia utitur appetitu sensitivo ut instrumento, sicut et membris corporis. Nec est inconvieniens si instrumentum sit imperfectius principali agente : ut martellus íabro. ** S. T. II—II, q. 157, a. 2, co.
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Les stoïciens ont beaucoup insisté sur l'intériorité de l'acte moral: ceci correspond pleinement à la logique de leur système, car le cours des événements extérieurs ne dépend pas de l'homme. L'histoire du monde sé déroulé invariablement selon l'activité créatrice du Logos. L'unique chosé qui dépend de l'homme, c'est l'attitude intérieure, c'està-dire l'attitude de la volonté: celle-ci peut accepter le cours des évéments, elle peut également s'y opposer. Tout cela ne change rien cependant au déroulement de l'histoire : c'est ce qui est exprimé dans un vers célèbre mis sur le compte deCLÉANTHE dans une lettre deSÉNÈQUE : «Ducunt volentem fata, nolentem trahunt» 45 . Saint Thomas prend à son compte un texte de SÉNÈQUE, tiré du le livre du De beneficiis : «Le bienfait ne consiste pas dans l'acte matériel de faire ou de donner, mais dans l'intention de celui qui donne ou de celui qui fait »4e. Le passage en question repose encore une fois sur une base philosophique, que saint Thomas se refuserait catégoriquement d'accepter: il ne semble pas avoir remarqué la différence entre sa pensée et celle de SÉNÈQUE ; il prend plutôt une attitude conciliante, comme il le fait si souvent à l'égard d'Aristote et essai d'harmoniser le texte en question avec sa propre doctrine. Nous avons parlé jusqu' à présent des contacts conscients de saint Thomas avec la pensée stoïcienne; sans faire un examen exhaustif, embrassant toute l'oeuvre du Docteur Angélique, nous avons pu constater que les références à la philosophie du Portique ne sont pas très nombreuses: l'information de saint Thomas semble être indirecte, sauf pour les écrits de SÉNÈQUE, et la connaissance du systemè stoïcien est plutôt sommaire : si l'on met à part certains écrits de SÉNÈQUE, sa connaissance se limite aux grandes thèses de l'école, telles qu'elles avaient été transmises à travers les âges. Il nous faut parler maintenant des contacts inconscients avec la pensée stoïcienne: notre auteur a connu un certain nombre d'ouvrages auxquels il emprunte des extraits et qui sont remplis de conceptions stoïciennes, sans qu'il le soupçonne. C'est le cas par exemple du De passionibus que saint Thomas attribue généralement à ANDRONICUS PERIPATETICUS: ceci veut dire que d'après notre auteur, le contenu de l'ouvrage en question se situe dans la ligne de la philosophie aristotélicienne. Cet ouvrage a fait l'objet autrefois de deux thèses de doctorat, à l'université d'Heidelberg, celle de XAVERUS KREUTTNER sur la première partie47 et celle de CAROLUS SCHUCHHARDT, sur la seconde partie48. Ces deux auteurs ont montré que le contenu du De passionibus est en " Ep. 107, 10; S. V. F. I, 527. " S. T. I I — I I , q. 106, a. 5, ad 1. — De Benef. I, 6. 47 Andronici qui fertur libelli Περί παθών pars prior De affectibus. Heidelberg, 1885. 48 Andronici Rhodii qui fertur libelli Περί παθών pars altera De virtutibus et vitiis. Darmstadt, 1883.
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grande partie d'origine stoïcienne: la plupart des définitions qu'on y rencontre ont d'ailleurs été reprises par H . VON ARNIM dans le l i l e volume de son Stoicorum Veterum Fragmenta. Nous avons examiné trois manuscrits de la traduction latine de cet ouvrage : celui de Milan (Ambrosiana E 71) qui cite le nom du traducteur, au moins pour la seconde partie de l'ouvrage, à savoir ROBERT GROSSETÊTE, évêque de Lincoln ; celui de Klosterneuburg, près de Vienne (codex 748) et celui de Peterhouse (cod. 116) à Cambridge. Nous avons trouvé dans les trois manuscrits les mêmes indications quant à la nature de l'ouvrage: la première partie est donnée sous le titre De passionibus et est attribuée à Andronicus Peripateticus ; la seconde partie est donnée comme un ouvrage d'Aristote et porte comme titre De virtute. Saint Thomas se réfère souvent à cet ouvrage dans son exposé sur les vertus dans la Somme Théologique. Il repreñd plusieurs fois les divisions du PSEUDO-ANDRONICUS dans les arguments qui introduisent un article et qui seront réfutés par la suite. Cependant l'attitude de saint Thomas vis-à-vis de cet ouvrage n'est pas toujours si négative: dans son exposé sur la vertu de force, le Docteur Angélique cite la définition du PSEUDO-ANDRONICUS : «Fortitudo est virtus irascibilis non facile obstupescibilis a timoribus qui sunt circa mortem» 49 . Dans le corps de l'article l'auteur ne s'éloigne guère de cette définition et il conclut son exposé comme suit: «Et ideo virtus fortitudinis est circa timorés periculorum mortis» 50 . Au cours de la Secunda Secundae saint Thomas se demande si la magnanimité fait partie de la vertu de force et il donne àia fin du corps de l'article une réponse affirmative à cette question, disant que la magnanimité est inséparablement unie à la force, comme une vertu secondaire à la vertu principale. Dans ce contexte il cite l'avis de MACROBE 5 1 e t d ' A N D R O N i c u s : d'après ce dernier la force comprend sept vertus annexes dont la magnanimité 52 . Plus loin, saint Thomas pose la même question concernant la magnificence et il se range encore une fois du côté d'ANDRONICUS : la magnificence est une vertu annexe de la force. C'est l'avis également de CICÉRON et de MACROBE53. Voici le texte du PSEUDO-ANDRONICUS d'après le manuscrit de Klosterneuburg : «Familiares autem ipsius (c'est-à-dire de la vertu de force) eusychia, lema, magnanimitas, virilitas, perseverantia, magnificentia, andragathia ». 18 Dans le codex 748 de Klosterneuburg la définition s'énonce comme suit : Fortitudo est virtus irascibilis et non facile obstupescibile a timoribus qui circa mortem. «o S. T. II—II, q. 123, a. 4. 41 Somnium Scipionis, I, 8. 52 S. T. Il—II, q. 129, a. 5, sed c. : Sed contra est quod Macrobius et Andronicus ponunt magnanimitatem fortitudinis partem. — M S. T. II—II, q. 134, a. 4, sed c. : Sed contra est quod Tullius et Macrobius et Andronicus magnificentiam partem fortitudinis ponunt.
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Sans reprendre textuellement les définitons d'ANDRONicus, on peut dire que saint Thomas se laisse bien souvent inspirer par elles et que sa réflexion est alimentée par les textes du De passionibus, qui présentent une densité très grande. C'est le cas quand saint Thomas cherche la définition de la persévérance ; il se trouve devant le passage du De passionibus: «Perseverantia autem scientia vel habitus eorum quibus immanendum est et non immanendum et neutrorum ». Le Docteur Angélique reproduit ce passage presque littéralement dans le sed contra de son article 54 et quand il essaie de construire lui-même une définition de la persévérance, il s'en inspire manifestement ; il considère d'ailleurs la persévérance comme une vertu annexe de la vertu de force, se rangeant en cela à l'avis du PSEUDO-ANDRONICUS. De même lorsque saint Thomas cherche à déterminer les parties constitutives de la tempérance, il s'inspire directement du PSEUDO-ANDRONICUS, et donc d'une source stoïcienne 55 . Il ne serait pas difficile d'ailleurs d'allonger la liste des passages où saint Thomas est dépendant de l'ouvrage en question 56 : les exemples que nous venons de donner peuvent suffire à montrer que l'influence de cet écrit stoïcien n'est point négligeable dans l'élaboration de la morale de saint Thomas. On sait depuis longtemps que CICÉRON a été à l'école des stoïciens et que ses ouvrages philosophiques constituent une des sources importantes de la connaissance de cette école, surtout en ce qui regarde le moyen sto7cisme, celui de P A N É T I U S et dePosiDONius. Dans les Pnaïiete Rhodiï Fragmenta, édités par le Rév. Père M. Van Straaten, beaucoup S. r . I I — I I , q. 137, a. 1. 5 . T. I I — I I , q. 143, a. 1, arg. 4. — Voici le passage du De passionibus : Temperantia est virtus concupiscibilis secundum quam inappetibiles fiunt circa fruitiones pravarum delectationum. Familiares autem ipsius sunt austeritas, continentia, humilitas, simplicitas, ornatus, bona ordinatio, per se sufficientia. 6β On trouvera la liste de ces passages dans un article du R . P. R . A. GAUTHIER, La date du commentaire de saint Thomas sur l'Ethique à Nicomaque. Rech, de Théol. anc. et méd. X V I I I (1951); 95—97. Il est à noter cependant que tous ces passages appartiennent au De Virtute, attribué à Aristote dans les trois manuscrits que nous avons examinés; aucun texte n'est emprunté au De passionibus, attribué à Andronicus. Il est d'autant plus frappant de remarquer que dans le Commentaire sur les Sentences saint Thomas met ces définitions sur le compte d'un certain philosophe grec, qu'il ne désigne pas avec plus de précision ; dans la Somme Théologique il l'appelle généralement »Andronicus«; c'est le cas aussi dans le Commentaire sur l'Ethique (I, 6, n° 78): Dicit enim Andronicus peripateticus quod sanctitas est quae facit fideles et servantes ea quae ad Deum. J u x t a hoc etiam est sententia Platonis . . . (Nous croyons que »juxta« doit être corrigé en »justa« et que la phrase se termine après ce mot; car nous lisons dans le manuscrit de Klosterneuburg : Sanctitas autem scientia faciens fideles et servantes ea quae ad Deum justa. Cf. S. T . I I — I I , q. 81, a. 8, obj. 1). Ce phénomène est bizarre, puisque le De virtute est attribué à Aristote : il semble donc y avoir un flottement chez saint Thomas, dû à l'ignorance du véritable auteur. E n tout cas on ne peut pas présenter les choses comme si saint Thomas avait appris brusquement quel est le véritable auteur du De virtute. 64
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d'extraits ont été empruntés au De officiis de Cicéron : cet ouvrage est même la source d'où est tirée en ordre principal notre connaissance de la morale de PANÉTIUS. Saint Thomas se sert assez fréquemment de cet écrit de CICÉRON et il en cite de nombreux passages dans son traité des vertus. Traitant de la justice par exemple, le saint Docteur se demande si cette vertu implique toujours une relation d'homme à homme. La réponse est affirmative, du moins si l'on n'entend pas le terme «justice »dans un sens métaphorique. Dans le sed contra de l'article en question (II—II, q. 58, a. 2) il cite la définition donnée par CICÉRON dans son De officiis57 et qui est empruntée à PANÉTIUS: «Justitiae ea ratio est qua societas hominum inter ipsos et vitae communitas continetur». Saint Thomas fait remarquer que d'après ce texte la justice comporte toujours un rapport d'homme à homme : c'est le point de vue qu'il adoptera lui-même dans le corps de l'article. Au cours de la question 58 de la Secunda Secundae il cite plusieurs extraits empruntés au même contexte du De officiis™. Dans son examen de la magnanimité, saint Thomas s'appuie encore une fois sur le même ouvrage de CICÉRON pour dire que la securitas appartient à la magnanimité : voici le passage du De officiis59, repris par le père V A N STRAATEN parmi les fragments de PANÉTIUS (n° 1 0 6 ) et cité par saint Thomas 60 : «Ad magnanimum pertinet neque perturbationi animi, neque homini, neque fortunae succumbere». Le magnanime ne se laisse donc pas troubler pas les événements de la vie, ni par les coups du destin. Mais quand il est dit dans le même contexte que le magnanime se distingue par le mépris des biens extérieurs, saint Thomas ne manque pas de défendre sa propre position ; les biens extérieurs doivent être appréciés à leur juste valeur, on ne doit pas les considérer comme des facteurs importants pour lesquels il serait permis de faire quelque chose de repréhensible ; cependant ils peuvent rendre des services dans la pratique de la vertu. Ce texte est intéressant, parce qu'il nous montre sur le vif l'attitude de saint Thomas vis-à-vis de ses sources, faisant sereinement le départ entre ce qu'il juge vrai et ce qu'il trouve inadmissible, et n'étant point l'esclave d'un texte qu'il a devant lui. Dans l'exposé que donne saint Thomas sur 1 'honestas on s'aperçoit aisément qu'il s'inspire du De officiis dans la manière même d'aborder le problème. D'après l'ouvrage de CICÉRON le decorum et l'honestum sont inséparablement unis 61 : voici le texte: «C'est ici que se rencontre ce que nous pouvons nommer la bienséance et que les grecs appellent "
De officiis, I, 7, 20. S. T. II—II, q. 58, a. 3, co. : a. 11, arg. 2; a. 12, sed c. 59 De officiis, I, 20, 66. S. T. II—II, q. 129, a. 7. sed c. " De officiis, 1, 27, 93—94. 48
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πρέπον. Elle est naturellement inséparable de l'honnête, car ce qui est bienséant est honnête, et ce qui est honnête est bienséant. Cependant il y a entre l'un et l'autre une différence que l'on comprend bien, mais qu'il est difficile d'expliquer. La bienséance est comme le reflet de l'honnêteté. Aussi n'accompagne-t-elle pas seulement la modération, mais apparaît-elle encore partout où les trois autres vertus se produisent». C'est dans ce contexte que saint Thomas pose la question: Utrum honestum sit idem quod decorum ? 62 ; il arrive d'ailleurs à la conclusion qu'il y a identité entre l'honnête et le bienséant dans l'ordre spirituel. Au cours du Ile livre du De officiis, CICERÓN cherche le rapport entre l'honnête et l'utile 63 : «Nous devons nous occuper maintenant de ce qu'on nomme l'utile. L'usage a détourné ce mot de sa véritable acception, au point qu'insensiblement on en est venu à séparer l'utile de l'honnête, et à penser qu'il y a des choses honnêtes qui ne sont pas utiles, et des choses utiles qui ne sont pas honnêtes. Il n'est pas de pré jugé plus déplorable que celui-là». De là la question de saint Thomas: Utrum honestum différât ab utili et delctabili?ei; la réponse se situe encore une fois dans la ligne de l'exposé cicéronien. On se trouve ici par conséquent devant un nouvel exemple d'influence inconsciente de la part du stoïcisme sur la pensée de saint Thomas : s'il est vrai que le De officiis de CICÉRON est rempli d'idées empruntées à P A N É T I U S et que saint Thomas s'en inspire continuellement dans son exposé sur les vertus, on ne s'étonnera pas de constater le présence, dans la morale du Docteur Angélique, d'élements qu'il n'a pu trouver dans sa source princupale, l'éthique aristotélicienne. Il y a un autre ouvrage de CICÉRON, cité fréquement par saint Thomas et dans lequel les éléments stoïciens sont très nombreux, à savoir les Tusculanes. On se bornera à quelques exemples typiques ; en voici un qui est certainement caractéristique de la morale stoïcienne 85 : «T'en rends-tu bien compte ? s'il t'arrive de perdre un de tes vases de Corinthe, le reste n'en demeure pas moins à ta disposition, tandis que si c'est une seule vertu que tu perds — et je sais bien que la vertu ne peut se perdre — si, dis-je tu dois reconnaître qu'une seule vertu n'est plus à ta disposition, tu ne disposereas plus d'aucune ». L'essentiel de ce passage est cité par saint Thomas dans son exposé sur la connexion des vertus 66 ; à l'article premier de cette question l'auteur se demande si les vertus sont connexes entre elles, la réponse de saint Thomas est sensiblement plus nuancée que celle des stoïciens, car il distingue entre la «2 S. T. II—II, q. 145, a. 2. «3 De officiis, II, 3. M S. T. II—II, q. 145, a. 3. " Tuscul Disp: II, 14, 32; trad. J. HUMBERT. «« S. T. I—II, q. 65.
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vertu morale à l'état d'imperfection et la vertu morale parfaite ; dans le premier cas il n'y a pas de connexion nécessaire et indissoluble entre les vertus morales ; cette connexion n'existe que dans le cas des vertus morales à l'état de pleine réalisation. On possède de multiples témoignages concernant la doctrine stoïcienne de la connexion des vertus; il suffit pours s'en rendre compte de consulter le 3e volume des Veterum Stoicorum Fragmenta ; DIOGÈNE L A Ë R C E " dit que d'après les philosophes du Portique les vertus se suivent mutuellement et que celui qui en possède une, les possède toutes. Cette thèse est beaucoup plus radicale que celle d'Aristiote qui dans l'Ethique à Nicomaque68 affirme la connexion nécessaire entre la prudence d'une part et les vertus morales d'autre part : il admet qu'il n'y a pas de vertus morales sans prudence et pas de prudence sans vertus morales. La position de saint Thomas est intermédiaire entre celle d'Aristote et celle des stoïciens ; il admet une connexion nécessaire entre toutes les vertus morales, mais uniquement à l'état de perfection. Dans la Prima Secundae saint Thomas se demande si le vice s'oppose à la vertu ; dans sa réponse à une objection il commente un passage important des Tusculanes de CICERÓN 69 : «Mais dans le corps, il y a maladie il y a mal chronique, il y a vice: de même pour l'âme. On appelle maladie une altération de tout le corps, mal chronique, une maladie accompagnée de faiblesse, vice, l'état où les parties du corps ne s'harmonisent pas, et de là viennent la difformité des membres, leur distorsion, la laideur. Ainsi lex deux premiers états, la maladie et le mal chronique, proviennent d'un ébranlement et d'un bouleversement, qui portent sur la santé du corps tout entier, tandis que le vice est indépendant de la santé, qui peut être parfaite. En ce qui concerne l'âme, remarquons d'abord que ce n'est que théoriquement que l'on peut classer à part maladie d'un côté et mal chronique de l'autre côté, et quant à l'état vicieux, c'est une façon d'être ou mieux une disposition, qui se retrouve dans toute la conduite, à vivre dans l'inconséquence et le désaccord avec soi-même » (vitiositas autem est habitus aut adfectio in tota vita inconstans et a se ipsa dissentiens). Tout ce passage porte la trace incontestable d'une inspiration stoïcienne, avec la conception des passions comme de maladies de l'âme et la théorie de la vertu comme harmonie de l'homme avec lui-même. Les parties principales de ce passage sont reprises par saint Thomas dans la réponse à une objection, et il n'y ajoute pas un mot de critique ou de désapprobation 70 . Il en est de même " VII, 125; S. V. F. III, 295. " VI, 12 et 13. Cf. O . L O T T I N , Aristote et la connexion des vertus morales, dans : Autour d'Aristote. Recueil d'études de philosophie ancienne et médiévale: Louvain, 1955, 343 — 364. 49
IV, 13, 28; trad. J. HUMBERT.
'« S. T. I—II, q. 71, a. 1, ad 3. 5*
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de beaucoup d'autres passages des Tusculanes, de sorte qu'on peut dire que par l'entremise de CICERÓN beaucoup d'idées sto7ciennes ont été portées à la connaissance de saint Thomas, bien qu'elles ne se soient pas manifestées à lui dans leur véritable physionomie71. Cette étude n'est qu'une amorce: elle veut simplement préparer le terrain à des recherches plus approfondies, qui devront s'étendre à des domaines particulièrement vastes, d'une part la philosophie de saint Thomas, et d'autre part la pensée stoïcienne. Nous avons distingué au début de notre analyse les influences conscientes et les influences inconscientes. Dans le domaine des influences conscientes, nous sommes arrivés à la conclusion que saint Thomas ne possède qu'une connaissance sommaire de la philosophie stoïcienne : il ne distingue pas les différents représentants de l'école du Portique et ne semble avoir aucun soupçon de l'évolution des doctrines au cours des âges. De même que pour la pensée d'Aristote, le système stoïcien est pris en bloc, comme un dogme invariable, dont les grandes thèses ont été transmises sans beaucoup de nuances à travers les siècles. Si l'on fait exception pour SÉNÈQUE, la connaissance du stoïcisme chez saint Thomas ne vient pas des représentants de l'école ; il s'agit d'une connaissance indirecte, c'est-à-dire d'un ensemble de renseignements transmis par des auteurs non-stoïciens. L'influence inconsciente est beaucoup plus importante, peut-être parce qu'elle est inconsciente: il résulte de l'analyse que nous avons faite et qui est forcément incomplète, que plusieurs idées stoïciennes ont pénétré dans la philosophie de saint Thomas, surtout dans la morale, par le canal du PSEUDO-ANDRONICUS et de CICÉRON. Nous disons que cet examen est incomplet : en effet, il reste à examiner dans quelle mesure des influences stoïciennes sont décelables dans certaines notions fondamentales de la morale thomiste; nous visons surtout la notion de nature et celle de raison. Nous avons pu constater au cours de nos analyses que saint Thomas adopte une attitude critique vis-à-vis des textes qu'il a devant lui: de même qu'il a su éviter les excès du spiritualisme platonicien, en affirmant l'unité de l'homme et en valorisant toutes les capacités humaines, ainsi n'est-il pas tombé dans l'extrémisme moral des stoïciens ni dans leur négativisme vis-à-vis des passions et des biens matériels. Saint Thomas a fait preuve par là d'une sensibilité morale, d'un «moral feeling» particulièrement équilibré. 71 Citons encore: S. T. I—II, q. 24, a. 2, co. (Tuscul. Disp. III, 4); q. 65, a. 1, sed c. (Tuscul. Disp. II, 14); q. 77, a. 3, sed c. (Tuscul. Disp. IV, 14—15); I—II, q. 59, a. 2. arg. 2 (Tuscul. Disp. IV, 10); q. 55, a. 2, arg 1 (Tuscul. Disp. IV, 10); q. 71, a. 1, arg. 3 (Tuscul. Disp., IV, 10).
PHILON BEI NIKOLAUS VON KUES V o n PAUL W I L P E R T I.
Unter den Autoren, die Nikolaus von Kues mehrfach nennt, befindet sich Philon von Alexandrien. Der Kardinal nennt ihn sapientissimus und erwähnt, daß ihm von gewichtigen Autoren die Abfassung des alttestamentlichen Weisheitsbuches zugeschrieben wird1. Unter diesen gewichtigen Autoren haben wir wohl in erster Linie HIERONYMUS 2 , 3 ISIDORUS von Sevilla sowie viele Denker des Mittelalters zu verstehen, unter denen diese Zuschreibung weit verbreitet war4. Nikolaus folgt dieser Tradition mit gewissen Vorbehalten, indem er sich auf die gewichtigen Zeugen der Vergangenheit beruft. Im allgemeinen scheint er jedoch die Zuschreibung an Philon selbst zu übernehmen, denn der auch sonst in seinen Schriften wiederkehrende Satz, daß die Weisheit sich selbst offenbart 5 , wird in De dato fatris luminum ausdrücklich Philon zugeschrieben®. Das Zitat ist aber ganz offensichtlich ein Bezug auf das Weisheitsbuch7. In dieser Zuschreibung des biblischen Buches an Philon steht also Nikolaus trotz gewisser Zurückhaltung ganz in der Linie der mittelalterlichen Tradition. Das gleiche gilt nun aber auch für sein gesamtes Philonbild. In der Apologie8 zitiert Nikolaus eine längere Stelle aus den Quaestiones in 1 Apol. 3, 6: Simile quid apud Philonem illum sapientissimum, cui per nonnullos graves viros libri Sapientiae adscribuntur, Super quaestionibus in Genesim quaestione 61. Folgt ein langes Zitat. 14, 27—16, 2: et sapientissimus Philo eapropter omnibus animalibus dixit rationem inesse, uti beatissimus récitât Hieronymus in De illustribus viris (Kap. 11). Idiota de mente c. 6 64, 16: Sed videris ad opinionem sapientis Philonis accedere, qui animalibus rationem inesse dicebat. De dato patris luminum 2 68, 7: Hoc est enim sapientissimi Philonis altissimum documentum, qui dum sapientiam laudare niteretur, ipsam mentibus quaerentium illabi ostendit. Coniectura de ultimis diebus 14 98, 6: secundum doctissimum atque sapientissimum Philonem, cui liber Sapientiae ascribitur. 2 Praef. in libros Salomonis PL 28, 1308 A. * Etymol. VI 2, 30. 4 Vgl. z. B. R H A B A N U S M A U R U S Comment, in Sap. prol. (PL 109, 671 B) ; J O H A N N E S v. S A L E S B U R Y , Metalogicon IV 41 (216, 16—18 W E B B ) ; B O N A V E N T U R A Collat. in Hexaemeron coli. 6 n. 7—9 (t. V p. 361 b—362 a). * Vgl. De quaerendo deum 24 28, 6—7. * Vgl. die Anm. 1 zitierte Stelle. 7 Sap. 6, 13 : facile videtur ab his qui diligunt earn et invenitur ab his qui quaerunt illam. 8 Apol. 3 , 9 — 2 0 (Quaest. in Gen. IV 9 torn. VII 2 3 4 R I C H T E R ; II 2 7 3 M A R C U S ) .
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Genesim, wobei er genau die quaestio 51 als Bezugspunkt angibt8®. Derselben Quelle entstammt auch die ebenfalls in der Apologie wiedergegebene Nachricht, daß nach Philon Moses unter Engeln die gleichen Wesen verstehe, die bei den Griechen als Dämonen bezeichnet werden9. Während die zweite Stelle in der armenischen Übersetzung der Quaestiones et solutiones in Genesim erhalten ist, findet sich die erste nur in der lateinischen Übersetzung, läßt sich allerdings durch ein griechisches Fragment als echt philonisch belegen10. Für eine weitere Nachricht, daß nämlich Philon allen ammalia den Besitz der ratio zugeschrieben habe, beruft sich Nikolaus auf HIERONYMUS, De viris illustribus11. Schließlich spielt Philon noch eine große Rolle in der Coniectura de ultimis diebus, jener merkwürdigen Schrift des Jahres 1446, in der Nikolaus den Weltuntergang für die Zeit zwischen 1732 und 1750 berechnet. Zwei Gedanken liegen seiner Vermutung zugrunde: die Annahme Christi als Schlüsselfigur der Weltgeschichte, wobei ein Lebensjahr Christi einen Jubiläumszyklus, also 50 Jahre, bedeute, und die Deutung einer von Philon berichteten göttlichen Offenbarung an Moses. Diese Offenbarung wird als wörtliches Zitat aus Philons Historien gebracht 12 . Unterstützt wird die Deutung dieses geheimnisvollen Orakelspruchs durch eine andere aus der gleichen Philonschrift entnommene Nachricht, wonach die Sintflut im 34. Jubiläum nach Erschaffung der Welt stattgefunden habe. Dabei wird wiederum der Titel der Quelle wiedergegeben als in libro historiarum13. Das Philonbild des Kardinals beruht also auf wenigen Quellen. Da ist zunächst die Darstellung des HIERONYMUS in De viris illustribus, dann das alttestamentliche Weisheitsbuch und die Quaestiones et solutiones in Genesim, dazu kommt noch das Buch der Historien. II. Was aber ist diese Historienschrift ? Eine erste Antwort liefert uns die Bibliothek des Nikolaus selbst. Im Kodex 16 der jetzigen Hospital8a
Die Numerierung des MA entspricht nicht unseren heutigen Ausgaben. * Apol. 8, 9 : Philonem qui ait Moysen eos appellare àngelos, quos Graeci daemones (Quaest. in Gen. I V 1 8 8 torn. V I I 2 2 5 R I C H T E R ; I 4 7 1 — 4 7 2 M A R C U S ) . 10 Die Echtheit der nur in der lat. Ubersetzung erhaltenen 11 Quaestionen hat P A U L W E N D L A N D durch inhaltliche Vergleiche mit der armenischen Ubersetzung und mit anderen Philonschriften nachgewiesen. Neu entdeckte Fragmente Philos. Berlin 1891, 86 Anm. 2. 11 Apol. 14, 27; De mente, 5 p. 64, 15. 1J Coniect. de ult. dieb. 16, 99, 3—6: Refert Philo in Historiis Moysen in ultimis deum interrogasse, quantum tempus transisset et quantum superesset. Cui deus respondit. Quattuor enim, semis transiit, duo semis supersunt. Et Moyses impletus est sensu et obiit. 18 Coniect. de ult. dieb. 14, 98, 6—10.
Philon bei Nikolaus von Kues
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bibliothek zu Kues 14 haben wir einen Philonkodex, der, wie einige wenige Randbemerkungen und Anstreichungen am Rande zeigen, von Nikolaus selbst benutzt wurde. Der Kodex enthält fol. 2Γ Hieronimus de philone In catalogo virorum illustrium, dann folgt fol. 2 v das Rubrum: Incipit philo in Genesim. Der Text dieser Schrift endet fol. 88r. Nach einigen leeren Blättern folgt fol. 97 r —123 v von anderer Hand Hystoria apollonii Tyri 14a , woran sich von einer dritten Hand Philonis Liber questionum et solucionum in Genesim (fol. 124 r —153 v ) schließt. Wir haben es also mit einem reinen Philonkodex zu tun und, wie wir sehen werden, mit einem typischen Philonkodex, in den sich nur, wie in einigen anderen Handschriften dieser Art, das Stück über Apollonios eingeschoben hat. Zu unserem Erstaunen stellen wir fest, daß sich die von Nikolaus aus den Historien Philons zitierten Stellen in der Schrift In Genesim finden, während wir in unseren Ausgaben Philons vergeblich eine Schrift mit dem Titel der Historien oder In Genesim suchen. Wie kommt aber Nikolaus zu dem ersten Titel, wenn seine Handschrift nur den zweiten enthält ? Wiederum gibt uns der Kodex selbst mindestens im negativen Sinne eine Antwort. Wir erfahren zweimal, am Ende von In Genesim (fol. 88r) und im Explicit der Historia des APOLLONIOS (fol. 123 v ), daß die Handschrift 1451 im Kloster Göttweig geschrieben ist. Für In Genesim nennt sich auch der Schreiber als der Professe des Klosters Frater Echardus. Damit scheidet der Kodex als Vorlage für die Coniectura aus, die 1446 entstanden ist. Ebensowenig kann er die Vorlage für die Apologie von 1450 gewesen sein, und es hat wenig Sinn, wenn Klibansky im Quellenapparat seiner Ausgabe bemerkt, daß die in der Apologie exzerpierte Stelle in diesem Kodex angestrichen ist. Das kann, wenn der Strich überhaupt von Nikolaus stammt, erst bei einer späteren Lektüre geschehen sein. Daß also das gleiche Philonwerk von Nikolaus unter einem anderen Titel zitiert wird, als die ihm gehörige Handschrift es bringt, besagt nichts, da Nikolaus diese Handschrift zur Zeit des Zitats noch nicht besaß. Das Rätsel des Titels löst sich bald, wenn wir andere alte Philonhandschriften ähnlichen Typs, wie ihn der Kodex 16 von Kues darstellt, zu Rate ziehen. Der erste, der mir in die Hand fiel, war der Vat. lat. 488, der bei Stegmüller 15 nachzutragen ist, sich dagegen in Cohns und Kischs 14 Vgl. J. MARX, Verzeichnis der Handschriftensammlung des Hospitals zu Cues. Trier 1905, 11—12. lla Uber diesen seit dem 6. Jahrhundert im latein. Bereich nachweisbaren und im Mittelalter weit verbreiteten, wohl im 3. Jahrhundert griechisch geschriebenen Abenteuerroman vgl. E. K L E B S , Die Erzählung von Apollonius aus Tyrus. Berlin 1899. 16 F R . STEGMÜLLER, Repertorium Biblicum Medii Aevi IV 6977 a (dort ist auch Urbin. lat. 61 anzuführen) u. 6980, 2.
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Verzeichnissen bereits findet. Er gehört dem frühen 15. Jahrhundert an und enthält Philonis vita, die das Kapitel 11 von De viris illustribus des HIERONYMUS ist, dann folgt Genesis, die im Explicit ystoria philonis ab initio mundi usque ad David regem heißt und schließlich die Quaestiones et solutiones in Genesim. Wir haben also den gleichen Inhalt und sogar die gleiche Reihenfolge wie im Cod. Cus. 16. Zugleich stellen wir fest, daß die heute meist als Liber antiquitatum biblicarum bezeichnete pseudo-philonische Schrift im Mittelalter den Titel Genesis oder Historia trug. III. Vergleichen wir nun den Inhalt unserer beiden Philonhandschriften mit den anderen bekannten Philonhandschriften des lateinischen Mittelalters vor der Mitte des 15. Jahrhunderts (dieser Terminus ante ist wichtig, wie sich gleich zeigen wird), so ergibt sich, daß die meisten eben diesen Inhalt und fast durchschnittüch auch die gleiche Reihenfolge aufweisen. Man kann die Liste dieser Handschriften bequem in den Prolegomena zu Cohns Edition der Philonschrift De vita contemplativa16 und in Guido Kischs Edition des pseudo-philonischen Liber antiquitatum17 finden. Beim Vergleich dieser Handschriften, deren älteste drei Handschriften des 11. Jahrhunderts aus Fulda, Admont und Tegernsee sind, denen aus dem 12. Jahrhundert je eine Handschrift aus Benediktbeuren, Schäftlarn (beide jetzt Staatsbibliothek München) und Budapest folgen, stellt man fest, daß sie alle dem gleichen Typ angehören. Immer handelt es sich um reine Philonhandschriften und zwar, wie sich noch zeigen wird, um Opera omnia quae exstant, natürlich jeweils mit Ausnahme des biblischen Weisheitsbuchs. Auch der Inhalt und die Reihenfolge liegen fest : Den Anfang macht des HIERONYMUS Kapitel über Philon18, ihm folgen der Liber antiquitatum biblicarum unter dem Titel Genesis oder Historia, den Schluß machen die Quaestiones et solutiones in Genesim. Die Forschung hat durch Vergleich mit der armenischen Übersetzung des im griechischen Original verlorenen Werkes festgestellt, daß die lateinische Übersetzung der Quaestiones et solutiones erst mit Quaestio 154 des vierten Buches anfängt, aber andererseits elf Quaestiones mehr enthält als die armenische Übersetzung. Doch scheint zu Beginn der lateinischen Übersetzung in der Form wie sie uns heute vorliegt, ein Stück ausgefallen zu sein. An dessen Stelle hat sich ein anderes Stück eingeschoben, das in unseren Handschriften die Quaesti" Philonis Opera vol. VI Berlin 1916, XV—XVI. 17 Publications in Mediaeval Studies, Notre Dame, Indiana, 1949, 23—26. 18 Der Bericht des E U S E B I U S über Philon, der doch in der Ubersetzung desRuFiNus dem Mittelalter zugängig war, scheint nicht besonders beachtet worden zu sein. Es wird immer H I E R O N Y M U S erwähnt.
Philon bei Nikolaus von Kues
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ones in Genesim eröffnet, während es in Wirklichkeit ein Fragment aus der echten Philonschrift De vita contemplativa ist, das die asketische Gemeinschaft der Essäer schildert19. In all diesen Handschriften haben wir die gleichen Philonschrift en, die auch Nikolaus von Kues kennt. Es sind aber zugleich die Philonschriften, welche dem Mittelalter bekannt waren. Soweit ich bisher feststellen konnte, lassen sich alle Zitate bei mittelalterlichen Autoren aus diesem Konvolut belegen. Sehr häufig findet sich bei Chronisten die Nachricht, daß zu Lebzeiten des Noe seine drei Söhne bereits eine Nachkommenschaft von 24100 Männern hatten. Meist erfolgt dabei die Berufung auf Philons Quaestiones super Genesim, ein Zeichen dafür, daß diese Nachricht bereits eine selbständige Tradition hatte und nicht mehr jeweils auf ihre ursprüngliche Quelle, nämlich die Historia oder Genesis, zurückgeht. In dieser Schrift wird die Nachkommenschaft der drei Söhne Noes ausführlich geschildert und abschließend gesagt : «Et hae sunt generationes Noe divise positae, quorum omnium numerus factus est DCCCCXIIII milia dentum. Et hi sunt qui considerati sunt adhuc vivente Noe.»20 Die Aufzählung der Nachkommenschaft der einzelnen Söhne Noes21 dagegen schließt jeweils fast gleichlautend: «Qui numeri castrorum filiorum... omnes erant proficiscentes in virtute et in praecepto belli in conspectu ducum suorum praeter mulieres et pueros.» Aus beiden Stellen ist die Nachricht der mittelalterlichen Chronisten geflossen. Bei PETRUS COMESTOR 22 hat sie folgenden Wortlaut : «Narrat autem Philo Iudaeus, vel ut alii volunt gentilis philosophus, in libro Quaestionum super Genesim, quod ex tribus filiis Noe adhuc ipso vivente sunt nati viginti quattuor milia virorum et centum, extra mulieres et párvulos, habentes tres super se duces, quos praediximus.» Ganz ähnlich lautet eine Notiz, die ein Zeitgenosse des PETRUS CO23 MESTOR im Cod. lat. Regin. 336 eingetragen hat . Der Titel Genesis, den die Philonschrift in unseren Handschriften trägt, hat sich bei dieser verselbständigten Überlieferung dieser Nachricht mit dem Titel der echten Philonschrift Quaestiones in Genesim, die dem Mittelalter ebenfalls bekannt war, identifiziert. Bei der Zahlenangabe sind die Hunderter weggefallen, und die letzten Zahlen werden entweder als 14 oder als 24 überliefert. 18 Dieses lateinische Stück hat C O H N in seinen Prolegomena zur Edition der Vita contemplativa ediert.. Bd VI, XVIII—XXIX. 20 Liber antiquitatum V, 7—8. 22 « Ebda. V, 1—7. Historia Scholastica PL 198, 1088 D. 23 Die Handschrift des 12. Jahrhunderts enthält H U G O D E S A N C T A M A R I A Historia ecclesiastica. Auf den Versoseiten der ersten beiden Blätter hat ein Leser des 12. Jahrhunderts einige Stücke eingefügt. Darunter findet sich fol. 2T die uns interessierende Notiz, die vielleicht aus P E T R U S C O M E S T O R direkt entnommen ist:« Narrat Phylo inlibro questionum super genesim quod éx tribus filiis noe adhuc ipso vivente nati sunt XIIII Milia virorum et C preter Mulieres et párvulos habentes super se duces. »
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Sehr zahlreiche Zitate aus Philon finden sich in A L B E R T S Kommentar zu Hoseas. Sie wurden sämtlich von Cohn für den Liber antiquitatum nachgewiesen24. Nur ein Verweis auf Philons Buch De lege in A L B E R T S Postilla super Isaiam konnte von F. Siepmann, dem Herausgeber, nicht identifiziert werden25. Er hat nun die Nachricht, daß Abraham dem Feuertode verfallen war, wenn er bei den Götzendienern geblieben wäre, auf des H I E R O N Y M U S Hebr. quaest. in Genesim bezogen, wo berichtet wird, daß Abraham wegen der Verweigerung der Feueranbetung in den Feuerofen geworfen wurde, aber von Gott wunderbarerweise gerettet wurde. Man könnte mit gleichem Recht ALBERTS Nachricht auf den Liber antiquitatum beziehen, wo ein gleiches Schicksal von Abraham berichtet wird, weil er sich am Turmbau von Babel nicht beteiligte 26 . In beiden Fällen bleibt die Nachricht Alberts etwas ungenau, und der Titel erstaunlich. Immerhin würde der Liber antiquitatum den Verweis Alberts auf das erste Buch rechtfertigen 26 a . Wie fest das Konvolut dieser dem lateinischen Abendland bekannten Philonschriften schon im 12. Jahrhundert war, zeigt ein Brief eines uns unbekannten Mönches an den Abt Konrad von Tegernsee, in dem der Absender um die Leihgabe des Philonbuches bittet 2 7 . Diese Wendung stimmt mit einer Formulierung überein, die wir im Katalog der Abtei St. Riquier in Nordfrankreich finden, der aus dem Jahre 831 stammt. Dieser Katalog verzeichnet: liber Philonis Judaei unum volumen28. Diese feste Form des Konvoluts, die uns erlaubt von einem, dem gesamten Mittelalter bekannten Liber Philonis zu sprechen, wird nicht nur durch die erhaltenen Philonhandschriften bezeugt, sondern noch von dem Sichardusdruck des Jahres 1527. Auch dieser enthält genau dieselben Stücke, die uns aus den Philonhandschriften vertraut sind. 2 4 L. COHN, Pseudo-Philo und Jerachmeel. Festschrift zum 70. Geburtstag Jakob Guttmanns. Leipzig 1915, 175. 2 6 Postilla super Isaiam, ed. F. SIEPMANN, in: ALBERTI MAGNI, Ord. Fratr. Praed. Episcopi, Opera Omnia, ed. Institutum Alberti Magni Coloniense Β. GEYER praeside, T. X I X , Münster. 1952, Cap. X X I X 22, 326, 94. 2 * ALBERT schreibt : «Abraham, de Ur scilicet Chaldaeorum de quo dicit Philo in primo legis suae, quod comburendus erat, si apud idolatras mansisset.» Hieronymus erzählt: «Quod Abraham in ignem missus sit, quia ignem adorare noluerit, quem Chaldaei colunt, et dei auxilio liberatus, de idolatriae igne profugerit » P L 23, 1005 A. Der Liber antiquitatum (ed. G. KISCH) bringt die Feuerprobe des Abraham mit der Weigerung der Teilnahme am Turmbau in Zusammenhang. VI 17—18e. 130: «Abrahae autem non est nec modica facta laesura in concrematione ignis . . . et salvatus est Abraham et abiit ad undecim viros, qui erant absconsi in montanis.» In beiden Berichten wird Abraham wunderbar aus der Feuerprobe gerettet, nicht aber, wie es bei Albert scheint, vom Verbrennungstode durch Weggang bewahrt. 2 , a In primo legis suae genesis. 2 7 Kogamus igitur in cantate, librum Philonis nobis ad horam praestari; vgl. G. BECKER, Catalogi bibliothecarum antiqui. Bonn 1885 § 90, 205. Tegernsee hatte einen Philonkodex im 12. Jahrhundert, der jetzt Clm. 18481 bildet. 2a
G. B E C K E R a . a. O.
§ 11 Nr. 194,
28.
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SICHARDUS selbst bemerkt im Vorwort, daß er sich auf eine Fuldaer und eine Lorscher Handschrift stützt29. Dementsprechend bringt er in der bekannten Reihenfolge den Liber antiquitatum, der nun zum ersten Male diesen Titel trägt30, ferner das Stück aus De vita contemplativa unter dem Titel De Essaeis, das in unseren Handschriften die Quaestiones et solutiones in Genesim eröffnet und schließlich die Quaestiones et solutiones selbst. SICHARDUS fügt diesem dem Mittelalter bekannten Konvulut von Philonhandschriften noch an des HIERONYMUS De nominibus Hebraicis, das er für ein von HIERONYMUS übersetztes Philonwerk hält31 und De mundo in der Übersetzung des Humanisten WILHELM BUDAEUS. Wie SICHARDUS anmerkt, hat er die Selbständigkeit des von ihm De Essaeis betitelten Stücks durch den heute verlorenen und von ihm benützten Lorscher Kodex entdeckt. Die Forschung hat daraus und aus der Tatsache, daß Sichardus an der Nahtstelle ein längeres Textstück bringt, das in unseren Handschriften fehlt, geschlossen, daß der Lorscher Kodex einer vollständigeren und von all unseren Handschriften unabhängigen Texttradition angehört hat.
Wir haben jedenfalls allen Grund anzunehmen, daß das so durch das ganze Mittelalter sich erhaltende Konvolut den Umfang der Philonschriften bezeichnet, die dem lateinischen Abendland bekannt waren, und aus denen es sein Bild Philons bezog. Vielleicht dürfen wir unser Ergebnis durch ein argumentum e silentio stützen. In den codd. Vat. lat. 180—185 haben wir herrlich geschriebene Bände einer lateinischen Übersetzung des gesamten Philon vor uns. Der Übersetzer ist der meines Wissens bisher nicht beachtete Humanist LILIUSTIFERNAS. Er hat die Bände selbst geschrieben und sie dem Papst Sixtus IV. gewidmet. Der Schreiber datiert seine Arbeit auf die Jahre 1479—1482. Eine Vorarbeit von demselben Übersetzer haben wir für De gigantibus und De agricultura in Cod. Urb. 227 aus dem Jahre 147432, der ebenfalls in Stegmüllers Verzeichnis nachzutragen wäre. In dieser sechsbändigen Übersetzung des Philon fehlen nun gerade die Quaestiones et solutiones 2 8 Philonis Iudaei Alexandrini libri Antiquitatum, Quaestionum et solutionum in Genesim, De Essaeis, De nominibus Hebraicis, De mundo. Basileae per ADAMUM P E TRUM MCXXVII. Die Lorscher Hs. wohl des 1 1 . Jahrhunderts ist verloren. 8 0 Der Titel Antiquitatum biblicarum, der heute allgemein gebraucht wird, taucht zum ersten Male bei SICHARDUS auf. Er ist wohl den Antiquitates des J O S E P H U S nachgebildet. Vgl. Kisch a. a. O., 3—5. 11 Während'SicHARDus einen neuen Pseudo-Philo als echt dem Liber antiquitatum hinzufügt, hat wenige Jahre später bereits S I X T U S S E N E N S I S ( 1 6 6 6 ) die Echtheit des Liber antiquitatum bezweifelt. Uber die heutige Auffassung zur Autorschaft des Liber de nominibus hebraicis schreibt A L T A N E R , Patrologie, 3 6 0 Abschn. 2 b : »Auch der Liber de nominibus hebraicis ist eine freie Bearbeitung einer griechischen Vorlage, eines fälschlich dem Philo . . . zugeschriebenen Lexikons.« M Eine Auswahl von Philonschriften in der Übersetzung des L I L I U S bietet Cod. Vat. lat. 1 1 6 0 0 . Dort ist De gigantibus mit 1 4 7 3 datiert. Den Hinweis auf diese Handschrift verdanke ich Herrn Dr. Boese, Berlin.
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in Genesim, also ein echtes Philonwerk, welches das Mittelalter besaß. Dürfen wir diese Tatsache so erklären, daß LILIUS TIFERNAS alles ins Lateinische übertragen wollte, was nicht schon bekannt war ? Es kann aber auch sein, daß uns dieses Argument unter den Händen zerbricht und die heute verlorene griechische Urfassung dieser Philonschrift schon in der Quelle des LILIUS TIFERNAS fehlte. Wir bedürfen jedoch zur Stützung unseres bisherigen Ergebnisses dieses argumentums e silentio wohl nicht. In dieser Übersetzung des LILIUS TIFERNAS haben wir die erste vollständige Übersetzung des Philon ins Lateinische. Ihr folgten im 16. Jahrhundert eine ganze Reihe von Neuübersetzungen teils des gesamten Philon, teils einzelner Schriften. Viele von ihnen sind mehrfach gedruckt worden, so die Übersetzung des SIGISMUND GELENIUS83 und des F. MORELLI, die beide in späteren Auflagen von THOMAS MANGEY überarbeitet wurden34. IV. Die Übersetzungen unseres mittelalterlichen Philonkonvoluts aber sind antik. Über die Entstehung des lateinischen Liber Philonis ist die Forschung bis jetzt zu folgenden Ergebnissen gelangt: Wie schon SIXTUS SENENSIS im 16. Jahrhundert vermutete 35 , ist nach den Untersuchungen Leopold Cohns der Liber antiquitatum ursprünglich hebräisch geschrieben gewesen36. Die Zeit seiner Abfassung verlegt Cohn kurz nach 70, während James die letzten Jahre des ersten nachchristlichen Jahrhunderts vermutet 37 . Über die Zeit der griechischen Übersetzung dieses Werkes läßt sich natürlich nichts ausmachen, während die Tatsache, daß die vorliegende lateinische Form eine Übersetzung aus dem Griechischen darstellt, allgemein anerkannt wird 38 . Über diese Übersetzung ins Lateinische vermutete bereits Kardinal Pitra, daß sowohl die echten wie die unechten Philonschriften im Liber Philonis vom gleichen Übersetzer stammen3®. Diese Auffassung wurde von Cohn bestätigt, der den Stil der Übersetzung mit den Fragmenten Basel 1644; Lyon 1656, 1661; Antwerpen 1614. Sonstige Philonübersetzungen des 16. Jahrhunderts: De mundi fabricatione von J O H . C H R I S T O P H O R S O N , Antwerpen 1 6 6 6 ; Ebenso: De decern praeceptis. De iudicis officio, Legis expositio. Das letztere auch von J O H . J A K . B E U R E R , Freiburg 1 6 9 6 ; De oraculis von J O H . G A L L U S , Lyon 1 6 6 1 ; De nobilitate von L A U R E N T I U S H U M F R E D , Köln 83
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1664.
« Vgl. Anm. 31. " L. COHN, An Apocryphal Work Ascribed to Philo of Alexandria. The Jewish quarterly Review. Old Series X. London 1898, S. 311—313. 87 M . R H . J A M E S , The Biblical Antiquities of Philo Ldn. 1 9 1 7 , 2 9 — 3 3 . 8 9 Nach dem Vorgang J. Β. P I T R A S : Analecta sacra spicilegio Solesmensi parata. T. II. Patres Antenicaeni. Florenz 1884, 319—320. De vetere Philonis interprete Latino. »· A. a. O. 319.
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der vorhieronymianischen Bibelübersetzungen verglich. Er fand auch hier das gleiche afrikanische Latein und datierte demgemäß die Übersetzung des Liber Philonis spätestens ins ausgehende 4. Jahrhundert 40 . Das legt die Vermutung nahe, daß der Liber Philonis, wie wir ihn in unseren Handschriften haben, bereits seit dieser Zeit bis ins 15. Jahrhundert, also für ein Jahrtausend den Bestand der Philonkenntnis des lateinischen Abendlandes ausmachte. Allerdings dürfte diese alte Fassung vollständiger gewesen sein als unsere Handschriften. Wie weit aber die lateinische Übersetzung der Quaestiones et solutiones in Genesim sowie der Vita contemplativa ursprünglich gingen, das läßt sich natürlich nicht mehr feststellen. Immerhin zeigt die Erweiterung, die SICHARDUS an der Nahtstelle dieser in der Tradition zu einem Werk zusammengeflossenen Schriften auf Grund des Lorscher Kodex gegenüber unseren Handschriften bringen konnte, daß die alte Übersetzung ursprünglich jedenfalls mehr enthielt, als wir heute besitzen41. In diesem Zusammenhang bleiben jedoch einige Fragen, die einer neuerlichen Überprüfung bedürfen. Der Herausgeber des Liber antiquitatum, Guido Kisch, stellt fest, daß der Liber antiquitatum in allen Handschriften, auch in dem jetzt verlorenen Lorscher Kodex, ziemlich den gleichen Text bietet und also auf eine einheitliche Überlieferung zurückgeht. Dagegen verrate der Lorscher Kodex nach dem Zeugnis des SICHARDUS für die echten Philonschriften eine von allen erhaltenen Handschriften recht verschiedene Tradition 42 . Daraus scheint mir sich doch die Wahrscheinlichkeit zu ergeben, daß die Verbindung der echten Schriften mit der apokryphen Historia nicht schon durch den Übersetzer hergestellt worden ist und vielleicht überhaupt nicht auf so ferne Zeiten wie das vierte Jahrhundert zurückgeht. Die vorhieronymianischen Bibelübersetzungen sind trotz der Ähnlichkeit des Lateins von sehr verschiedenen Übersetzern, und der Vergleich mit diesen Fragmenten genügt vielleicht doch nicht, um die Identität des Übersetzers für alle Stücke des Liber Philonis nachzuweisen. Aber auch die Datierung des hebräischen Originals für den Liber antiquitatum ist doch wohl mit dem Argument, daß eine Abfassung nach dem ersten Jahrhundert die Aufnahme des Werkes durch die Kirche nicht mehr erklären würde, zu wenig begründet. PSEUDO-DIONYSIUS kam noch im sechsten Jahrhundert zu fast kanonischer Geltung. Für die Datierung wichtiger wären die von James vermuteten Bezüge auf 40
Vgl. Anm. 36; Zum gleichen Ergebnis war F. C. C O N Y B E A R E für die echten Philonschriften des Konvuluts gekommen, vgl. Philo about the Contemplative Life. Oxford 1895, 139—145. 41 Wahrscheinlich hat der Übersetzer auch die heute verlorene Schrift »Uber die Zahlen« übertragen, wie er selbst erwähnt. Vgl. W E N D L A N D , a. a. O . ; C O N Y B E A R E , 144. « K I S C H a. a. O., 40ff.
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die Historia bei ORÍGENES und im Decretum Gelasianum43. Ebenso wäre sowohl für die Frage der Abfassungszeit der lateinischen Übersetzung der echten Philonschriften wie für die Frage der Identität des Übersetzers die Vermutung Conybeares wichtig, daß AMBROSIUS die lateinische Übersetzung der Quaestiones in Genesim gekannt und benutzt hat. Auf sicherem Boden stehen wir mit den von James getroffenen und von Kisch bestätigten Feststellungen über die Verbreitung des Liber Philonis im Mittelalter. Die erhaltenen Handschriften stammen allesamt aus Deutschland und Österreich, und die Verbreitung im Mittelalter scheint über diese Länder und Nordfrankreich nicht hinausgegangen zu sein. Diese Beobachtung veranlaßt James zu der Vermutung, daß unsere gesamte Überlieferung auf eine einzige defekte Handschrift zurückgeht, die sich im rheinischen Gebiet, vielleicht in Trier, erhalten hatte 44 . Doch alle diese noch offenen Fragen berühren nicht unsere Feststellungen über das Ausmaß der Philonkenntnis im Mittelalter. V. Wie stellt sich nun dieses Bild Philons dem Mittelalter dar ? Da vermittelt zunächst HIERONYMUS 4 5 die Vorstellung eines Juden, der der Apostelkirche außerordentlich nahestand. Er hat das Leben der Markusgemeinde in Alexandrien als das einer mönchischen Gemeinschaft beschrieben und hat bei seinem zweiten Aufenthalt in Rom freundschaftlichen Umgang mit Petrus gepflogen. Zu diesen Nachrichten paßt die Autorität des Verfassers des kanonischen Weisheitsbuchs, und diese Autorität überträgt sich auf die den Bericht des alten Testaments ausschmückenden Nachrichten der Historia, die eine Fülle von Einzelheiten liefert. Das Weisheitsbuch mit seiner starken Beeinflussung durch die griechische Philosophie fügt sich gut in dieses Bild eines weisen und mit großen Kenntnissen ausgestatteten, ja göttlicher Inspiration gewürdigten Mannes. An der Weisheit scheiden sich Gerechte und Ungerechte. Für die einen ist sie Lohn, für die anderen Gericht. Nach Weisheit zu streben, wird damit die Aufgabe des menschlichen Lebens. Ihre Notwendigkeit wird von König Salomon anschaulich dargelegt. Der Mensch, der ohne sie nichts vermag, kann sie nicht aus eigener Kraft, sondern nur als göttliches Geschenk erhalten. Sie, die bei der Schöpfung zugegen war, und um die er bittet, wird ihm zur wahren Erkenntnis dessen, was ist, verhelfen. Das Walten der Weisheit im AltenTesta»
J A M E S a . a . O. l l f . ;
M
JAMES
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a . a . O . 19—21; K I S C H 29. " De viris illustribus c. 11 PL 23, 662 BC.
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ment gibt Gelegenheit, von den zwei Möglichkeiten des Menschen zu sprechen: entweder von den Werken der göttlichen Weisheit zum Schöpfer selbst aufzusteigen oder bei diesen Werken zu verharren und sie selbst zu Götzen zu machen. Das erstere ist selbst Weisheit, das andere Torheit. Die Weisheit könnte man auch als das Thema der Quaestiones et solutiones in Genesim bezeichnen. Durch nichts läßt sich der Weise vom Streben nach Weisheit abhalten, deshalb heiratet Isaac erst mit 40 Jahren. Der Weise und der Gute, der Dumme und der Schlechte werden immer wieder einander gegenübergestellt. In derselben Seele wohnen Weisheit und Torheit. Aber der Weise unterdrückt die Affekte und kommt zur Beständigkeit der Tugend. In der Schriftauslegung hält sich der Tor an die Wortbedeutung, während der Weise den inneren Gehalt der Worte erschließt. Ebenso ist nur der Weise fähig, die qualitäts- und körperlosen Formen zu entdecken, während der affektgebundene Tor sich an die Sinne hängt. Der Weise ist der Tugendhafte, die Affekte sind Grundlagen und Werkzeuge des Lasters. Es ist eine aus platonischstoischen Elementen aufgebaute Anthropologie, die hier in die jüdische Gotteslehre hineinverwoben wird. Das dem Mittelalter als Einleitung zu den Quaestiones erscheinende Stück De Essaeis liegt in der gleichen Linie und schildert das Leben dieser jüdischen Gemeinschaft im Stile einer asketischen Philosophengemeinschaft. Und dieser stark mit stoischen Elementen durchwirkte Mittelplatonismus wird vom Mittelalter unbedenklich als Piatonismus hingenommen. Nicht nur das Bild Philons ist dem Mittelalter ganz anders erschienen als uns, die wir ihn in seine geschichtliche Umwelt historisch-kritisch einordnen, sondern auch der Begriff des Piatonismus. Es wäre eine wichtige Aufgabe, einmal den Assoziationen nachzuspüren, die der Begriff Platonici im Geiste eines mittelalterlichen Denkers wachrief 46 . Welches geschichtliche Bild offenbart sich schon in den Schlußworten des Hieronymus, der seine Darstellung des Philon mit der Nachricht abschließt, die Griechen pflegten zu sagen: «*H Πλάτων φιλων(ζει, f| Φίλων ττλατωνίζει; id est aut Plato Philonem sequitur, aut Platonem Philo : tanta est similitudo sensuum et eloquii.» 46 Für Thomas hat das R. I. HENLE getan : Saint Thomas and Platonism. AStudy of Plato and Platonici Texts in the Writings of Saint Thomas. The Hague 1966.
A N T I K E EINFLÜSSE IN D E R MITTELALTERLICHEN
MUSIK-
ANSCHAUUNG V o n HEINRICH HÜSCHEN
Das Thema »Antike Einflüsse in der mittelalterlichen Musikanschauung« ist bei weitem zu umfangreich, als daß es sich in einem kurzen, wenige Druckseiten umfassenden Beitrag auch nur annähernd erschöpfend behandeln ließe. Es können hier nur einige wenige grundsätzliche Gedankengänge herausgestellt und verfolgt werden, in denen die Nachwirkung der Antike auf die mittelalterliche Musikauffassung mit besonderer Deutlichkeit zum Ausdruck gelangt. Die geistige Abhängigkeit der mittelalterlichen Musikschriftsteller von ihren antiken Vorgängern zeigt sich weniger in der Erörterung und Erläuterung einzelner musiktheoretischer Probleme wie etwa der Lehre von den Tonabständen oder der Lehre von den Tonarten als vielmehr in der Deutung Und Wertung der Musik im allgemeinen. Es seien daher an dieser Stelle namentlich und vor allem diejenigen Fragen in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt, die den Ursprung, die Wirkung und die Auslegung der Musik sowie die Definition und die Klassifikation der Musik, des Musikers und des Instrumentariums betreffen. Was den Ursprung der Musik angeht, so pflegen die Musiktheoretiker des Mittelalters in ihren Traktaten immer wieder von der Erfindung (inventici) und von der Benennung (nominatio) der Musik zu sprechen. Die Erfindung der Musik wird auf Pythagoras, die Benennung auf die Musen zurückgeführt. Mit der Person des Pythagoras verbindet sich die Mitteilung von der Entdeckung der Intervallproportionen, vor allem der Oktave, der Quinte, der Quarte und des Ganztons, aus dem Klang von Hämmern oder Glocken verschiedener Größe und Schwere. Als legendärer und zugleich symbolischer Ort, an dem von Pythagoras aus den Intervallproportionen erstmals die mathematisch-physikalischen Grundgesetze der Musik erkannt worden sein sollen, gilt die Schmiede. Neben Pythagoras werden von den Musikschriftstellern des Mittelalters auch noch andere Gestalten aus der antiken Sage wie Amphion, Linos, Olympos und Orpheus als Erfinder der Musik erwähnt, jedoch weit seltener. Die weite Verbreitung, die namentlich die Pythagoraslegende im Musikschrifttum des Mittelalters erfahren hat, erklärt sich aus der Zugehörigkeit der Musik zum Kreis der quadrivialen Disziplinen, als deren Begründer der Philosoph von Samos im Altertum wie auch im Mittelalter angesehen worden ist. Es erscheint bemerkenswert, daß in den Ursprungsberichten immer von der Erfindung, niemals aber von der Entstehung der Musik ge-
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sprachen wird. Die mittelalterlichen Musikschriftsteller bemühen sich nicht um die Untersuchung der Entstehungsursachen der Musik, sondern begnügen sich mit dem Hinweis auf Erfinderpersönlichkeiten. Die Ursprungsberichte beruhen in ähnlicher Weise wie die Theogonie des Hesiod, die Genesis der Bibel und überhaupt die Schöpfungsberichte der alten Kulturvölker nicht auf begrifflich-abstrakten, sondern auf bildhaft-konkreten Anschauungen und Vorstellungen. Es handelt sich bei den Ursprungsberichten des mittelalterlichen Musikschrifttums ebenso wie bei den Schöpfungsberichten der alten Kulturvölker nicht um Ursprungstheorien, sondern um Ursprungsmythen, um Relikte mythisch-vorzeitlichen Denkens. Während sich die Herleitung des Wortes Musik von den Musen im lateinischen Sprachbereich erstmals bei CASSIODOR1 und ISIDOR2 findet, begegnen die ersten Berichte, in denen Pythagoras als inventor musicae bezeichnet wird, bei den Neupythagoräern GAUDENTIOS3 und N I KOMACHOS4 im zweiten nachchristlichen Jahrhundert. Auf dem Wege über MACROBIUS5 und BOËTHIUS® gelangt die Pythagoraslegende von der griechischen Musikliteratur des ausgehenden Altertums in die lateinische Musikliteratur des frühen Mittelalters. Die Herleitung des Wortes Musik von den Musen und die Pythagoraslegende kehren im Musikschrifttum des Mittelalters so häufig wieder, daß mit Recht von einem Pythagoras-Musa-Topos gesprochen werden darf. Im Pythagoras-Musa-Topos offenbart sich der Einfluß der griechischen Antike auf die mittelalterliche Anschauung von der Erfindung und von der Benennung der Musik. Demgegenüber führen die frühchristlichen Musikschriftsteller, unter ihnen ISIDOR7 und HRABANUS 8 , unter Berufung auf Genesis 4, 21 und Exodus 15, 1 die Erfindung der Musik auf Jübal, andere die Benennung der Musik auf moys = aqua zurück. Neben Jubal werden gelegentlich auch Methusalem und Lamech als Erfinder der Musik genannt. Isidor und Hrabanus suchen, indem sie eine Gestalt aus dem alten Testament als inventor musicae heranziehen, in der Ursprungsfrage die Autorität der Heiligen Schrift geltend zu machen und der Autorität der griechischen Antike gegenüberzustellen. Wie sehr aber auch weiterhin die Musikschriftsteller des Mittelalters in der Ursprungsfrage unter der Einwirkung der griechischen Überlieferung stehen, geht schon daraus hervor, daß die ursprünglich lediglich und ausschließlich 1
De musica, G E R B E R T , Scriptores de musica = GS I, 15, cap. 1. De musica, GS I, 20, cap. 1. 3 'Αρμονική είσαγωγή, Jan, Scriptores de musica graeci = JS, 340, cap. 11. 4 'Αρμονικών έγχειρίδιον, J S, 245, cap. 6. 5 Commentarius in somnium Scipionis, ed. F. Eyssenhardt, Leipzig 1893, II/l. • De institutione musica, Migne, Patrologia latina = PL 63, 1176, I/IO. ' Op. cit., GS I, 20, cap. 2. 8 De universo, PL 111, 495, XVIII/4. 2
Wilpcrt,
Med. I
β
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Heinrich Hiischen
mit der Person des Pythagoras verknüpfte Erzählung von der Schmiede als Erfindungsort und von den Hämmern oder Glocken als Erfindungswerkzeugen hin und wieder auf die Person des Jubal übertragen wird. Die Juballegende wie auch die Ableitung des Wortes Musik von moys tauchen im Musikschrifttum des Mittelalters gleichfalls so oft auf, daß begründetermaßen von einem Jubal-Moys-Topos die Rede sein kann. Im Jubal-Moys-Topos zeigt sich der Einfluß der Heiligen Schrift auf die mittelalterliche Auffassung von der Erfindung und von der Benennung der Musik. In der Frage der inventio und der nominatio der Musik schließen sich die mittelalterlichen Musikschriftsteller also sowohl der griechischen als auch der jüdischen Überlieferung an. Es spricht für die starke Nachwirkung der griechischen Überlieferung, daß der Pythagoras-MusaTopos im mittelalterlichen Musikschrifttum wesentlich häufiger in Erscheinung tritt als der Jubal-Moys-Topos. Was die Wirkung der Musik betrifft, so erörtern die Musiktheoretiker des Mittelalters diese Frage mit sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit. Ein Teil von ihnen begnügt sich mit allgemeinen Bemerkungen, ein anderer Teil bemüht sich, die Wirkungskräfte der Musik auf die Seele des Menschen im einzelnen zu schildern. Die allgemeinen Bemerkungen gipfeln zumeist in stereotypen Formulierungen wie «Musica movet affectus et provocai in diversum habitum sensus », so bei HRABANUS9, oder «Musica habet quandam naturalem vim ad flectendum animum », so bei AMALARIUS10. Demgegenüber werden beispielsweise von JOHANNES VON AFFLIGEM 1 1 und JOHANNES DE MURIS 1 2 die Wirkungskräfte der Musik im einzelnen und der Reihe nach aufgezählt. JOHANNES VON AFFLIGEM, ein Theoretiker des 11. Jahrhunderts, äußert sich ¡«Musica aures mulcet, mentem erigit, proeliatores ad bellum incitât, lapsos et desperantes recovat, viatores confortât, latrones exarmat, iracundos mitigat, tristes et anxios laetificat, discordes pacificat, vanas cogitationes éliminât ». JOHANNES DE MURIS, ein Autor des 14. Jahrhunderts, schreibt: «Musica est delectabilis in intellectu et amabilis in auditu, tristes laetificans, avaros amplificans, confundens invidos, confortane lánguidos, insopiens vigilantes, evigilans dormientes, nutriens amorem, honorans possessorem ». Von den zahlreichen Wirkungen, die der Musik zugeschrieben werden, seien an dieser Stelle vor allem zwei hervorgehoben, die therapeutische und die propädeutische. In ihnen offenbart sich mit aller Deutlichkeit die Abhängigkeit des mittelalterlichen vom antiken Musikdenken. » A. a. O. De ecclesiasticis officiis, PL 105, 1120, I I I / l l . " Musica, GS II, 252, cap. 17. 12 De numeró, GS III, 285.
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Antike Einflüsse in der mittelalterlichen Musikanschauung
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Der Gedanke, daß die Musik Heilkraft besitzt, die sowohl auf die Seele als auch auf den Körper zu wirken vermag, begegnet nicht erst bei den Griechen, sondern bereits bei den Ägyptern, Babyloniern, Indern und Chinesen. In der Literatur der Antike, namentlich in den Schriften von PLATO13 und ARISTOTELES14, ist häufig von der Harmo-
nie zwischen Körper und Seele und damit von der Heilkraft der Musik die Rede. Von griechischen Musiktheoretikern wie PLUTARCHOS 15 und ARISTIDES QUINTILIANUS 1 6 , sowie von griechischen Kirchenschriftstellern wie ATHANASIUS VON ALEXANDRIA 1 7 und GREGOR VON NYSSA 1 8 wird der Gedanke von der therapeutischen Wirkung der Musik an das lateinische Mittelalter weitergegeben. Hier erfährt er seit CASSIODOR19 und ISIDOR20 weiteste Verbreitung und findet sich späterhin ebenso bei THOMAS VON AQUIN 2 1 wie auch noch bei MARTIN LUTHER 2 2 , um nur diese zu nennen. In ähnlicher Weise wie in ihren Darlegungen über den Ursprung der Musik so berufen sich die Musikschriftsteller des Mittelalters auch in ihren Äußerungen über die Heilwirkung der Musik sowohl auf die antike als auch auf die biblische Tradition. Die therapeutische Kraft der Musik wird im Musikschrifttum des Mittelalters beständig entweder mit Asklepiades, einem antiken Arzt aus Prusa in Bithynien, oder aber mit David, durch dessen Harfenspiel der König Saul von krankhaften Wahnvorstellungen befreit worden sein soll, in Zusammenhang gebracht. David hat, wie es in gleichbleibendem Wortlaut immer wieder heißt, den König Saul von dem malignus spiritus und von der daemoniaca feritas geheilt. Neben Asklepiades werden in diesem Zusammenhang gelegentlich auch die beiden bedeutendsten Ärzte der Antike, Hippokrates und Galenus, genannt. Ferner begegnen in den mittelalterlichen Musiktraktaten mehrfache Hinweise auf die propädeutische Wirkung der Musik, auf ihren Erziehungswert für die Jugend. In diesen Hinweisen wird von den mittelalterlichen Musiktheoretikern stets Plato als Gewährsmann zitiert, so v o n BOËTHIUS 2 3 , HIERONYMUS VON MÄHREN 2 4 , ADAM VON FULDA 2 5 u n d 1S
Πολιτεία IV 442a und 443d, IX, 591 d, Τίμαιος 35a—37c, 47d. Πολιτικά VIH 5 1340b 17, Περί ψυχή? I 4 407b 27—408a 29. 15 Περί μουσικής, ed. F. Lasserre, Ölten und Lausanne 1954, cap. 23. " Περί μουσική?, ed. Α. J A H N , Berlin 1882, II/5. 17 Homilía de semente, Migne, Patrologia graeca = PG 28, 155, cap. 10. » In psalmos, PG 44, 443, 1/3. 14 Op. cit., GS I, 19, cap. 9. î0 Op. cit., GS I, 20, cap. 3. 11 De arte musica, ed. G. AMELLI, Mailand 1880. ö Brief an Ludwig Senfl, Luther-Gesamtausgabe, Briefwechsel V, Weimar 1934,635. M Op. cit., PG 63, 1169, I/l. u Tractatus de musica, COUSSEMAKER, Scriptores de musica = CS I, 17, cap. 8. « Musica, GS III, 334, 1/2. 11
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Heinrich H u s c h e n
GAFURIUS2·. Der Gedanke des platonischen Bildungsideals der Kalokagathie, in dem die Musik eine hervorragende Stellung einnimmt, ist sonach im Mittelalter keineswegs gänzlich in Vergessenheit geraten, gleichwohl aber sehr stark in den Hintergrund getreten. Die Mehrzahl der Musikschriftsteller des Mittelalters steht in dieser Frage unter dem Einfluß der Kirchenschriftsteller, die den Erziehungswert der Musik lediglich und ausschließlich in der Hinlenkung des Menschen zum christlichen Glauben erblicken. In dem Ausspruch «Musica est instituía ad laudem Dei », wie er namentlich und vor allem in den Psalmkommentaren der Kirchenschriftsteller wortgetreu oder sinngemäß hundertfach vorkommt, ist die Zielsetzung der Musik im Rahmen des christlichen Bildungsideals des Mittelalters deutlich zum Ausdruck gebracht. Die Musik ist zur Dienerin der Theologie geworden und hat, wie THOMAS VON AQUIN 2 7 bemerkt, als einzige von den enzyklischen Disziplinen die Pforten der Kirche durchschritten und in der Kirche Heimatrecht erhalten; ihr gebührt daher der Vorrang vor allen anderen Fächern des Triviums und Quadriviums. Mehr noch aber als in der Frage nach dem Ursprung und nach der Wirkung der Musik zeigt sich die Nachwirkung antiken Gedankengutes auf das mittelalterliche Musikdenken in der Auslegung der Musik. Unter Auslegung wird hier die Gesamtheit aller derjenigen Gedankengänge verstanden, die sich auf die Deutung ihres metaphysischen Seinsgrundes beziehen. Wenn in der Gegenwart von Musik gesprochen wird, so ist gemeinhin nicht ihr Urbild, sondern ihr Abbild, nämlich die klingende Musik gemeint. Nach dem Sprachgebrauch der Gegenwart erstreckt sich der Musikbegriff im allgemeinen vornehmlich und hauptsächlich auf den sinnlich wahrnehmbaren und feststellbaren Bereich der Musik. Gänzlich anders, ja gerade umgekehrt liegen die Verhältnisse in der Antike und im Mittelalter. Nach dem Sprachgebrauch der Antike und des Mittelalters bezieht sich der Musikbegriff namentlich und vor allem auf den übersinnlichen Bereich der Musik und erst danach auf die klingende Musik. Das Musikdenken der Antike und des Mittelalters erweist sich, insofern es in erster Linie die Deutung ihres metaphysischen Seinsgrundes in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, als durch und durch spekulativ. Die Musik ist in jener Zeit, wie sich hernach noch deutlicher zeigen wird, in erster Linie έπιστήμη bzw. sdentici und darauf erst τέχνη bzw. ars. An erster Stelle muß hier erwähnt werden die Anschauung vom Bestehen einer harmonischen Ordnung im Makrokosmos und im Mikrokosmos. Diese Auffassung, aus der sich einerseits die Lehre von der 2
· Musica theorica, 1492, Faksimiledruck Mailand 1934, 1/1. A. a. O.
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Sphärenharmonie oder musica mundana, andererseits die Lehre von der Leibseelenharmonie oder musica humana entwickelt hat, nimmt im Musikdenken der Antike und des Mittelalters breitesten Raum ein. Die Vorstellung von der Harmonie im Makrokosmos und im Mikrokosmos begegnet bereits in vorgriechischer Zeit, so bei den Ägyptern, Babyloniern, Indern und Chinesen. Sie wird von den Griechen übernommen und durch BOËTHIUS28, von dem die beiden Begriffsprägungen musica mundana und musica humana stammen, an das lateinische Mittelalter weitergereicht. Bei der Behandlung der musica mundana pflegen die Musikschriftsteller der Antike und des Mittelalters die Frage zu erörtern, ob es sich bei der Sphärenharmonie um wirkliche, für das menschliche Ohr hörbare Töne oder Klänge handelt. Diese Frage wird von PLATO29 und den Pythagoräern sowie von AMBROSIUS 30 , JOHANNES ERIUGENA 3 1 , R E GINO VON PRÜM 3 2 und MARCHETUS VON PADUA 33 bejaht, von ARISTOTELES 3 4 und den Epikuräern sowie von AURELIANUS VON RÉOMÉ 3 5 , WALTER ODINGTON 36 , JOHANNES DE GROCHEO 37 und JACOBUS VON
LÜTTICH38 verneint. Die Verfechter erklären die Entstehung vernehmbarer Töne oder Klänge in der Sphäre aus der beständigen schnellen Bewegung, in der sich die Himmelskörper befinden. Die Gegner begründen ihre Ansicht mit dem Hinweis auf die in der Sphäre fehlenden ton- oder klangleitenden Elemente wie Luft oder Wasser. — In der Lehre von der Sphärenharmonie wird häufig die siebenstufige Tonskala A H c d e f g mit der siebenteiligen Planetenskala Mond (([), Merkur (S), Venus (Ç), Sonne (Θ), Mars (