Andreas Schäfer, David Meiering (eds.) 9783848763016, 9783748904076


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German Pages 332 Year 2020

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Andreas Schäfer, David Meiering (eds.)
 9783848763016, 9783748904076

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Andreas Schäfer | David Meiering [Hrsg.]

(Ent-)Politisierung? Die demokratische Gesellschaft im 21. Jahrhundert

Leviathan Sonderband 35 | 2020

Nomos

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-6301-6 (Print) ISBN 978-3-7489-0407-6 (ePDF)

1. Auflage 2020 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2020. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Leviathan Jahrgang 48 · Sonderband 35 · 2020

Inhaltsübersicht Vorwort ...................................................................................................

7

Einleitung David Meiering und Andreas Schäfer (Ent-)Politisierung – Debatten, Modelle und Befunde ..........................................

11

A. Theorien, Konzepte, Kriterien Claudia Wiesner Politisierung, Politik und Demokratie. Zu Theorie und Konzeption eines komplexen politikwissenschaftlichen Begriffsgefüges .........................................................

39

Friedbert W. Rüb Was ist Politik? Unentwegter Versuch, einem zentralen Begriff auf die Spur zu kommen ..................................................................................................

65

B. Beobachtungen und Befunde Mobilisierung und Radikalisierung Priska Daphi Politisierung und soziale Bewegungen: zwei Perspektiven .....................................

97

Eva Herschinger Radikalisierung als weibliche Subjektwerdung? Die Bedeutung von Geschlecht im Kontext von Politisierung ............................................................................. 121

Populismus in der Zivilgesellschaft Wolfgang Schroeder, Samuel Greef und Jennifer Ten Elsen Rechtspopulismus in organisierten zivilgesellschaftlichen Räumen ......................... 149 Beth Gharrity Gardner and Michael Neuber Climate Justice in a Populist Era: Grievance Politicization Among Fridays for Future Protesters in Germany ................................................................................. 173

6

Politisierung von (Un-)Sicherheit Anna Geis Partizipative Formate in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik: die Politisierung des staatlichen Arkanbereichs? ..................................................... 207 Hanna Schwander Politisierung von Arbeitsmarktunsicherheit als Beispiel einer Re-Politisierung distributiver Konflikte ................................................................................. 230

Algorithmen zwischen Ent- und Repolitisierung Lena Ulbricht Algorithmen und Politisierung ....................................................................... 255 Fabienne Marco, Simon Hegelich, Linda Sauer und Orestis Papakyriakopoulos Algorithmen gegen politischen Sexismus. Machine Learning als Anstoß zum gesellschaftlichen Umdenken ......................................................................... 279

C. Verlust oder Revitalisierung demokratischer Politik – demokratietheoretische Reflexionen Grit Straßenberger Die Rückkehr des Politischen? Anmerkungen zu re- und destabilisierenden Effekten radikaldemokratischer Protestartikulation ....................................................... 309

Autor_innenverzeichnis ............................................................................... 330

Vorwort

Den Ausgangspunkt für den vorliegenden Sonderband bildete ein Symposium zum Thema »Die demokratische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Entpolitisierung und Re-Politisierung«, das am 20. April 2018 anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Friedbert Rüb an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand und dankenswerterweise vom dortigen Institut für Sozialwissenschaften und dem Servicezentrum Forschung finanziell unterstützt wurde. Neben Referentinnen und Referenten dieser Tagung sind unserer Einladung zur Einreichung von Beiträgen weitere Kolleginnen und Kollegen gefolgt. Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren sowie bei den Gutachterinnen und Gutachtern für die intensive und konstruktive Zusammenarbeit und freuen uns nun sehr über das Ergebnis. Unser Dank gilt darüber hinaus Mira Christiansen, Jonas Fischer, Dominik Flügel, Nora Habelitz und Astrid Schaal für ihre Unterstützung bei der Durchführung der Tagung und bei der Korrektur der Manuskripte. Ebenso bedanken wir für uns bei der Redaktion des Leviathan in Person von Dr. Claudia Czingon und beim Nomos-Verlag in Person von Dr. Martin Reichinger für die Unterstützung. Zuletzt, aber mit besonderem Nachdruck geht unser Dank an Friedbert Rüb, der mit seinem stets im Grundsätzlichen der politischen Phänomene ansetzenden wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse diesen Sonderband inspiriert hat. Berlin, im Juni 2020

Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020, S. 7

Andreas Schäfer und David Meiering

Einleitung

David Meiering und Andreas Schäfer

(Ent-)Politisierung – Debatten, Modelle und Befunde

1. Zum Stand der Debatte In der politikwissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion stehen sich widersprüchliche Diagnosen über den gegenwärtigen Charakter demokratischer Politik, ihre Intensität und Dynamik, gegenüber.1 Einerseits diagnostiziert die Politikwissenschaft seit den vergangenen drei Jahrzehnten einen Trend zur Entpolitisierung in unterschiedlichen Bereichen: Angesichts von als alternativlos wahrgenommenen systemischen Zwängen verzwerge sich Politik zur Verwaltung von Sachfragen; in einer zunehmend medialisierten Öffentlichkeit verfolgten Parteien nicht mehr voneinander unterscheidbare Programme, sondern konzentrierten sich zunehmend auf inszenierte Persönlichkeitswahlkämpfe; die Bürger_innen entfremdeten sich zunehmend von politischen Prozessen. Diesen und ähnlichen Befunden tritt andererseits die politikwissenschaftliche Identifikation zunehmender Phänomene der Repolitisierung gegenüber: Populistische Parteien mobilisieren mit Elitenkritik und Nationalismus; Protestbewegungen wie Fridays for Future politisieren eine neue Generation; wissenschaftliche Expertise rückt stärker ins Zentrum politischer Entscheidungen, womit epistemische Autorität zugleich den politischen Erregungszyklen ausgesetzt wird wie jüngst in der COVID-19-Pandemie. Diese gegenläufigen Beobachtungen werfen ganz grundsätzlich die Frage nach dem angemessenen Verständnis und der Rolle von Politik im 21. Jahrhundert auf. Dieser Sonderband will dieser allgemeinen Themenstellung an Hand der spezifischeren Frage nach dem Verhältnis von Entpolitisierung und Repolitisierung in zeitgenössischen demokratischen Gesellschaften nachgehen. Wir verfolgen dazu das Ziel, die diversen Forschungsrichtungen mit ihren jeweiligen empirischen Ergebnissen zu Ent- und (Re-)Politisierungsprozessen, die bislang kaum zueinander in Beziehung gesetzt wurden, zu sammeln, zu ordnen und miteinander in einen Dialog zu bringen. Um diesen Dialog zu rahmen, möchten wir in der Einleitung zu diesem Sonderband erstens den bisherigen Stand der Forschung zu Ent- und (Re-)Politisierung rekapitulieren und zweitens ein heuristisches Modell vorschlagen, in das wir anschließend auch die Befunde der einzelnen Beiträge einordnen und miteinander in Beziehung setzen werden. In einem ersten Schritt stellen wir die bisherigen politikwissenschaftlichen Debatten und Befunde über Entpolitisierung (Kap. 1.1) und (Re-)Politisierung (Kap. 1.2) vor. Beide Konzepte setzen allerdings jeweils bestimmte Vorstellungen davon voraus, was Politik »eigentlich« ist. Diese Ontologien des Politischen unterscheiden sich jedoch nicht nur zwischen den Autor_innen,

1 Wir danken Johannes Gerschewski und Felix Wassermann für hilfreiche Kommentare zu einer früheren Fassung dieser Einleitung. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020, S. 11 – 36

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David Meiering und Andreas Schäfer

die sich entweder mit dem einen oder mit dem anderen Phänomen beschäftigen, sondern auch innerhalb der beiden Debatten.2 Deshalb werden wir in Kap. 1.3 beschreiben, wie diese unterschiedlichen Auffassungen dessen, was Politik wieder oder nicht mehr ist und was Politik sein sollte, sinnvoll geordnet werden können. Darauf aufbauend werden wir in einem zweiten Schritt einen Vorschlag für ein heuristisches Modell der Politisierung unterbreiten, mittels dessen sich einschlägige Phänomene identifizieren, Befunde ordnen sowie Ergebnisse vergleichend interpretieren lassen (Kap. 2). Indem wir die Reichweite (wer und wie viele?), das Kontingenzbewusstsein (was?) und die Intensität (wie stark?) in Bezug auf ein politisches Thema unterscheiden, spannen wir einen dreidimensionalen Raum auf, in dem sich Fälle von (Ent-)Politisierung untersuchen lassen. Im dritten Schritt möchten wir die Beiträge dieses Sonderbands mit Hilfe des beschriebenen Modells miteinander in Dialog bringen (Kap. 3). Dies liefert die Basis für unser Fazit über die Dynamiken, in denen Entpolitisierung und Repolitisierung aktuell aufeinander bezogen sind, die wiederum auf zukünftige Forschungsperspektiven verweisen (Kap. 4). 1.1 Entpolitisierung, Postpolitik und Governance Die Entpolitisierungsdebatte entstand in Reaktion auf den seit den siebziger Jahren hegemonial gewordenen Neoliberalismus.3 Politische Philosoph_innen stellten sich gegen das nach dem Ende des Kalten Krieges proklamierte Ende der Geschichte, indem sie den Zustand der demokratischen Gesellschaften als postpolitisch bemängelten und den Verlust politischer Gestaltungsmöglichkeiten, demokratischer Partizipation und eine steigende soziale Ungleichheit beklagten.4 Vor allem in der britischen Politikwissenschaft wurden Stimmen laut, die empört verfolgten, wie Kernbereiche staatlicher Gestaltungskompetenzen wie zum Beispiel öffentliche Infrastrukturen privatisiert wurden, sozialdemokratische Parteien auf dem »Dritten Weg« im Sand stecken blieben und das politische Interesse sowie die Beteiligung der Bürger_innen abflauten. Colin Crouch prangerte unter dem Schlagwort »Postdemokratie« den Schulterschluss politischer Eliten mit Lobbyist_innen und Beratungsunternehmen an. Diese »Ellipse«5 habe zu einer Entfremdung zwischen den Parteien und ihrer Basis und damit zwischen Politik und Bürger_innen insgesamt geführt. Er warnte davor, diese elitenkritische Perspektive den rechten Populist_innen zu überlassen, die sich als vermeintlich einzige »Alternative« inszenieren.6

2 3 4 5 6

Beveridge 2017. Anderson 2018; Schmitter 2018. Rancière 2002; Mouffe 2007. Crouch 2008, S. 96 ff. Crouch 2008, S. 151, ähnlich Mouffe 2018.

(Ent-)Politisierung – Debatten, Modelle und Befunde

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In dieser Tradition steht weiterhin ein großer Teil der Entpolitisierungsliteratur.7 Zugleich hat sich die Forschung zu Entpolitisierung stark differenziert. Erstens ist der große Bereich der »Kritischen Governance«-Forschung zu nennen.8 Die Autor_innen dieses Zweiges untersuchen die Entstehung, Verhandlung und Umsetzung besonders von kommunal- oder regionalpolitischen Projekten und kritisieren, dass diese eigentlich politischen Projekte zu Verwaltungsangelegenheiten geschrumpft seien, die in einem engen Geflecht aus wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und administrativen Akteuren technokratisch umgesetzt würden – ohne die Öffentlichkeit angemessen einzubinden. Quer durch die Verwaltungswissenschaften, die Stadtforschung, die Planungswissenschaften, Humangeographie und ähnlichen Disziplinen werden diese Governance-Praktiken als entpolitisierend kritisiert, weil sie politische Kontestation und Partizipation verhinderten.9 Zugleich heben andere Autor_innen hervor, wie diese »Post-Politik« durch lokale Proteste unterbrochen werden kann.10 Eng in Verbindung hierzu stehend wird zweitens ein Trend zur Verlagerung von Entscheidungsmacht in nicht-majoritäre Institutionen und Expertengremien identifiziert.11 Dieser Trend wird auch im dialektischen Zusammenhang mit wachsenden demokratischen Forderungen gegenüber politischen Akteuren gesehen, die sich diesem Druck durch Auslagerung der Verantwortung zu entziehen suchen.12 Zudem werden politische Konflikte so in zu verwaltende »Sachfragen« verwandelt,13 was die jeweils vertretene Position als alternativlos erscheinen lässt. Dies schließt auch die »Verwissenschaftlichung« von Politik durch die zunehmende Bedeutung von Expertise und Evidenzbasierung ein. Politische Kontingenzen würden durch den Verweis auf epistemische Autoritäten geschlossen und entpolitisiert.14 Daneben sind drittens Untersuchungen der Parteienforschung zu nennen. Katz und Mair haben in einflussreicher Weise die Professionalisierung von Parteien im Lichte ihrer Kartell-Parteien-These analysiert.15 Parteien orientieren sich demnach zunehmend an ihrer Selbsterhaltung und weniger an der Artikulation gesellschaftlicher Konfliktlinien. Die Vermarktung des Führungspersonals wird wichtiger als das Verfechten inhaltlicher Konflikte. Andere Studien belegen diesen Trend, indem sie beispielsweise zeigen, wie Fragen der Umverteilung zunehmend aus dem Angebotsportfolio von Parteien und damit aus dem politischen Entscheidungs7 Wood 2016; Schmitter 2018. 8 Zum Beispiel Hay 2014, einen Überblick bieten Fawcett et al. (Hrsg.) 2017. 9 Metzger 2017 mit einer Übersicht für die Planungswissenschaften; Swyngedouw 2009; Rosol 2014. 10 Swyngedouw, Wilson 2014; Haughton, Gilchrist, Swyngedouw 2016. 11 Mair 2009, S. 71. 12 Flinders, Wood 2015. 13 Volk 2013. 14 Straßheim 2017; Gunn 2019 mit dem Begriff der Epistokratie; Brännmark 2018. 15 Katz, Mair 1995. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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David Meiering und Andreas Schäfer

raum verschwinden.16 Weiterhin werden die Auswirkungen der Mediatisierung auf die Demokratie diskutiert.17 In diesem Zusammenhang wird mitunter eine wachsende Überlagerung der Medienlogik(en) über die spezifischen Funktionsweisen und Artikulationserfordernisse der Politik diagnostiziert.18 Zuletzt hat auch eine Reihe von Autor_innen demokratische Innovationen als Reaktion auf Entpolitisierungsprozesse entwickelt bzw. evaluiert.19 Insgesamt bemängelt die Entpolitisierungsdebatte somit das Abstreiten eines politischen Entscheidungs(spiel)raumes, die Delegation von Entscheidungskompetenz an technokratische Experten und ein zunehmendes öffentliches Desinteresse an Politik. Dabei werden nichtstaatliche Akteure und Repolitisierungsphänomene tendenziell vernachlässigt.20 1.2 (Re-)Politisierung Andererseits identifiziert die Forschung zunehmend auch Phänomene der (Re-)Politisierung. Dies betrifft erstens wieder den parteipolitischen Raum, in dem sich auf Grund von Globalisierungsprozessen neue Konfliktlinien auftun. Diese Konflikte werden in der Regel durch populistische Parteien zunehmend erfolgreich politisiert.21 Zweitens analysiert die Forschung national und transnational ausgerichtete Protestbewegungen, welche auf unterschiedlichen Positionen des politischen Spektrums anzusiedeln sind und die ihre oft eng umrissene inhaltliche Agenda meist mit umfassender Kritik an den vorherrschenden Verfahren der Entscheidungsfindung verbinden.22 Drittens lässt sich eine Entwicklung beobachten, die man im Gegensatz zur Verwissenschaftlichung von Politik als Politisierung von Expertise (zum Beispiel in nicht-majoritären Institutionen)23 bezeichnen kann und die auf eine Infragestellung der Autorität von Wissenschaft in politischen Fragen auf Seiten von politischen Akteuren wie von Bürger_innen hinausläuft.24 Dabei treten Prozesse der Szientifizierung der Politik und einer Politisierung von Expertise miteinander ver-

16 17 18 19 20 21

Evans, Tilley 2012. Mazzoleni, Schulz 1999; Esser, Strömbäck 2014. Meyer 2017. Schmitter 2018; Rosanvallon 2006; Geissel, Newton 2012; Hammond 2020. Beveridge 2017, S. 591; siehe auch Donmez 2014. Grande, Kriesi 2013; Mudde 2019; Schwander in diesem Band; Schröder et al. in diesem Band. 22 Rucht 2013; Thaa 2013. 23 Goetz 2014, S. 396. 24 Bijker, Bal, Hendriks 2009; Gunn 2019.

(Ent-)Politisierung – Debatten, Modelle und Befunde

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schränkt auf und können sich gegenseitig verstärken.25 Diese Dynamik unterliegt rekursiven Krisen von Vertrauen und Misstrauen gegenüber Experten.26 Viertens wurden partizipative Verfahren und demokratische Innovationen erprobt, die als Demokratisierung gedeutet wurden und an die die Hoffnung eines auch langfristig höheren politischen Interesses der Bürger_innen geknüpft wurden.27 Fünftens werden im Zuge der Polarisierung einer Reihe von westeuropäischen Demokratien Radikalisierungstendenzen beobachtet,28 die zu einem Anstieg rechtsterroristischer Anschläge und eines insgesamt hohen Gefährdungspotentials geführt haben.29 Auch der Islamische Staat lässt sich als eine Politisierung im Medium des Religiösen deuten.30 Sechstens diskutieren verschiedene Debattenstränge die Repolitisierung identitätspolitischer Themen wie Geschlechterverhältnisse,31 religiöse Praktiken32 oder Aushandlungsprozesse von Zugehörigkeit in der postmigrantischen Gesellschaft.33 Repolitisierungsprozesse und Entpolitisierungsprozesse sind also vielgestaltig und werden auf sehr verschiedene Ebenen und Phänomene bezogen. Mal stehen Themen im Vordergrund, die zum Gegenstand einer Politisierung werden können, mal sind es kollektive Identitäten oder einzelne Personengruppen, mal beziehen sich die Begriffe auf das Aktionsrepertoire und das Verhältnis von Institutionen zueinander. Dies wirft die Frage auf, ob widersprüchliche Befunde möglicherweise auch auf unterschiedliche Konzeptualisierungen zurückzuführen sind. Um einen analytischen Rahmen entwickeln zu können, in dem Ent- und (Re-)Politisierungsprozesse eingeordnet werden können, müssen wir daher zunächst klären, welches Verständnis von Politik den jeweiligen Befunden zugrunde liegt. 25 Siehe als eindrückliches Beispiel die Rede von Greta Thunberg auf dem UN-Klimagipfel am 23. September 2019: »For more than 30 years, the science has been crystal clear. How dare you continue to look away and come here saying that you're doing enough, when the politics and solutions needed are still nowhere in sight.« Die von Thunberg begründete Klimabewegung Fridays for Future kritisiert die Divergenz zwischen dem gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Problembewusstsein und der mangelnden Reaktion der globalen politischen Elite, die vor dem Hintergrund der neoliberalen Hegemonie in den vergangenen drei Dekaden politische Gestaltungsmacht und epistemische Autorität vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten wahrnehme. Dem entspricht eine zunehmende Politisierung der (Klima-)Wissenschaft. 26 Gilad 2019; Straßheim, Kettunen 2014. 27 Geis in diesem Band; Benhabib 2008; Dryzek et al. 2019; Farrell, Suiter 2019. 28 Herschinger et al. 2019; Daase, Deitelhoff, Junk 2019; Decker, Brähler 2016. 29 Quent, Köhler, Fielitz im Erscheinen; Salzborn 2017; Meiering, Dziri, Foroutan 2019. 30 Herschinger in diesem Band; Röhrich 2015; zur Governance von Radikalisierung siehe Lindekilde 2012. 31 Zum Beispiel Lang, Fritzsche 2018. 32 Zur Beschneidungsdebatte siehe Yurdakul 2016; zur Kopftuchdebatte, siehe Korteweg, Yurdakul 2016. 33 Foroutan 2019; in Bezug auf türkisch-deutsche Identitäten und ihre Verhandlung im deutschen Diskurs siehe Özvatan 2020. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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David Meiering und Andreas Schäfer

1.3 Verständnisse von Politik und Politisierung Der Begriff der Politisierung erfasst ein Phänomen des gesellschaftlichen Wandels. Er beschreibt dynamische Prozesse, die den gegebenen Rahmen der Politik verändern. Politisierung bestimmt den Spielraum der Politik, der folglich in unterschiedlichen historischen Momenten verschieden ausgeprägt sein kann. Als analytischer Terminus und als Gegenstand der Forschung hat Politisierung in den vergangenen Jahren in der Politikwissenschaft eine hohe Prominenz erlangt.34 Die neuere Forschung hat sich dabei bemüht, den Begriff klar zu definieren. Für Zürn ist Politisierung ganz grundsätzlich »die Forderung nach oder der Akt des Transports einer Entscheidung oder einer Institution in den Bereich des Politischen«.35 Dieser Vorgang kann auf unterschiedliche Art und Weise stattfinden sowie auf verschiedenen Ebenen greifen. So lässt sich ein reflexiver, mit öffentlicher Debatte einhergehender Prozess von einer nicht-öffentlichen »stillen Politisierung« im Arkanbereich politischer Aushandlungen und Netzwerke unterscheiden.36 In diesem Sinne kann sich das Konzept auf die inhaltliche Verbreiterung spezifischer Politikbereiche durch den Einschluss bisher unpolitischer Themen beziehen, aber auch die Verfahren politischer Entscheidungsfindung betreffen oder die normativen Rahmenbedingungen des politischen Systems fokussieren. Grande und Kriesi fügen dieser Konzeptualisierung noch weitere Dimensionen hinzu, indem sie Politisierung als Expansion der Reichweite und als Erhöhung der Intensität politischen Konflikts definieren.37 In diesem Sinne kann Politisierung auch den zunehmenden Einschluss von Personen oder Gruppen in den politischen Prozess beschreiben oder auch die Intensivierung bestehender Konflikte bedeuten. Im Anschluss an diese Konzeptualisierung wollen wir Entpolitisierung als den umgekehrten Prozess der Dämpfung von Konflikten, des Ausschlusses von Akteuren oder des Entzugs von Materien aus dem politischen Raum verstehen – etwa durch die Verringerung von Entscheidungsspielräumen oder durch den Verweis auf Notwendigkeiten. Von Re-Politisierung wäre dann zu sprechen, wenn ent- oder noch nicht politisierte Bereiche, Probleme oder Gruppen in letzteren zurück- oder eingebracht werden. Wenn Politisierung aber einen »Transport einer Entscheidung oder einer Institution in den Bereich des Politischen«38 meint, stellt sich die Frage, wodurch dieser »Bereich des Politischen« konstituiert ist. Beispielsweise in einer systemtheoretisch fundierten Theorie wird die Frage nach den Konstitutionsbedingungen des politischen Systems häufig unter Verweis auf seine Autopoiesis beantwortet: Es zieht seine Grenzen selbst über das Medium Macht in Erfüllung seiner Funktion, kollektiv bindende Entscheidungen zu produzieren.39 Dementsprechend basieren ver34 35 36 37 38 39

Risse (Hrsg.) 2014. Fawcett et al. (Hrsg.) 2017; Hay 2007. Zürn 2013, S. 13. Ebd., S. 20; siehe auch Straßheim 2017. Grande, Kriesi 2013, S. 84 f. Zürn 2013, S. 13. Luhmann 2010.

(Ent-)Politisierung – Debatten, Modelle und Befunde

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schiedene Politisierungsbegriffe auf verschiedenen Vorstellungen davon, was Politik ist und wo ihre Grenzen liegen, die den »Bereich des Politischen« umzäunen. Beveridge hat für die Entpolitisierungsdebatte drei verschiedene Ontologien der Politik zusammengetragen, die wie unterschiedliche Linsen jeweils andere Grundannahmen über die zeitliche Struktur, die räumlichen (oder funktionalen) Begrenzungen und das Aktionsrepertoire fokussieren.40 Die erste Linse verenge den Fokus räumlich auf formale politische (Regierungs-)Institutionen und untersuche (Ent-)Politisierungsphänome daher vor allem als Praxis des Staatshandwerks bzw. als Regierungsstrategien. Diese Linse begrenze das Politische jedoch auf das konventionelle Verständnis repräsentativer Politik und vernachlässige, dass Politisierungsprozesse auch außerhalb formaler Institutionen stattfinden bzw. ihnen zeitlich vorausgehen.41 Die zweite Linse eröffne den Blick auf Politik jenseits der engen Grenzen der staatlichen Institutionen und verstehe darunter die Handlungs- und Deliberationsfähigkeit in Bezug auf kollektive Entscheidungen.42 Politisierung ist in dieser Sicht also die Bewegung eines Themas zwischen den Polen Notwendigkeit (als Entpolitisierung) und Kontingenz (als (Re-)Politisierung). Dieser stärker handlungstheoretische Zugriff ermöglicht eine breitere Verortung von Politik nicht nur in staatlichen, sondern auch in öffentlichen und privaten Sphären. Dennoch bindet diese Linse Beveridge zufolge den Politisierungsprozess noch zu sehr an institutionelle Logiken – denn wie politisch ein Thema ist, bestimmt sich dieser Auffassung nach dadurch, ob es im politischen Prozess repräsentiert wird (etwa in Bundestagsdebatten, Ausschüssen oder Bürger_innensprechstunden). Entpolitisierung wäre in diesem Sinne eine Abwesenheit von Politik und nicht ein Modus des Politischen.43 Die dritte Linse schließlich fokussiert das Politische vollkommen außerhalb der politischen Institutionen und reserviert den Begriff für seltene und oft spontane Momente, in denen die existierende Ordnung durch antagonistische Konflikte in Frage gestellt wird. Institutionen und das Handeln in ihnen gelten diesem Ansatz als Sedimente ehemals politischer Ereignisse, als leblose Verknöcherungen, denen eher Verwaltungsakte denn ›wirklich‹ politische Handlungen entsprechen.44 Das Anliegen dieser Ansätze ist es, der »Postpolitik« ein demokratisches Potential aufzuzeigen und die Ortsungebundenheit des Politischen zu betonen. Zugleich ergeben sich methodische Probleme aus dieser Ontologie, denn wenn Politik a priori als die Abwesenheit des Politischen definiert wird, bedeutet dies, dass Politisierung und ›echte‹ Politik nur als Auseinandersetzung mit den politischen Institutionen, Prozessen und Akteuren begriffen werden kann. Das reduziert per definitionem die Vielfalt politischer Handlungen auf außersystemisches Protesthandeln45 40 41 42 43 44 45

Beveridge 2017. Beveridge 2017, S. 597. Hay 2007, S. 77. Beveridge 2017, S. 594. Rancière 2002. Darling 2014, S. 74-75; Rüb in diesem Band.

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David Meiering und Andreas Schäfer

und schmälert – angesichts der diagnostizierten Allgegenwärtigkeit und Undurchdringlichkeit der Postpolitik – insgesamt die Möglichkeit, dass Politisches sich ereignen kann.46 Die drei verschiedenen Ontologien – Staatskunst in den staatlichen Institutionen, Kontingenzhandeln und antagonistische Momente – scheinen derart unterschiedliche Sichtweisen auf Politik zugrunde zu legen, dass eine Synthese unwahrscheinlich erscheint. Dennoch gibt es wichtige Stimmen, die für einen multiperspektivischen Ansatz eintreten.47 So wollen zum Beispiel Wood und Flinders gouvernementale, soziale und diskursive Ansätze (eine Differenzierung, die recht ähnlich zur hier vorgestellten von Beveridge verläuft) zusammenbringen.48 Wir stimmen an dieser Stelle der Schlussfolgerung von Beveridge zu, dass eine solche Synthese voraussetzt, dass alle Formen von Politik und Politisierung als Phänomene des Politischen aufgefasst werden – und nicht a priori institutionelle Prozesse als unpolitisch gekennzeichnet werden. Der Unterschied zwischen Politisierung und Entpolitierung sollte also nicht dichotom gedacht werden. Stattdessen bewegt sich das Politische in graduellen Unterschieden zwischen den Polen eines vollständig entpolitisierten und eines maximal politisierten Zustands (in unterschiedlichen Dimensionen). Entpolitisierung wäre also nicht zwangsläufig eine Auslöschung des Politischen, sondern zunächst und bis zu einem gewissen Punkt ein Modus des Politischen. Entpolitisierung und Repolitisierung sind somit auch nicht Bewegungen zwischen bereits definierten Räumen, sondern beide konstituieren erst im Zusammenspiel den Raum des Politischen.49 Da sie durch politisches Entscheiden oder durch den Verzicht auf Entscheiden vorangetrieben werden, muss deren jeweiliger Bezug auf das Politische genauer differenziert werden, um auf dieser Basis einschlägige empirische Phänomene kriterienorientiert einordnen zu können. Wir möchten dazu das folgende Modell vorstellen. 2. Ein heuristisches Modell Wir wollen ein Modell vorschlagen, das die analytischen Kategorien verschiedener genannter Ansätze zu synthetisieren versucht und verdeutlicht, wie drei Dimensionen von Politisierung bzw. Entpolitisierung den Raum aufspannen, in dem Themen sich bewegen. Dazu unterscheiden wir (in Bezug auf die Politisierung eines Themas) erstens die Reichweite der Akteure (wer und wie viele?), zweitens das Kontingenzbewusstsein in Hinblick auf ein Thema (was?) und drittens die Intensität des Konflikts (wie stark?). Wir schließen damit grundsätzlich an das Politisierungskonzept von Grande und Kriesi an, die von ähnlichen Kriterien ausgehen (Intensität von Konflikten, Ausweitung der Konfliktgegenstände und Vergröße46 47 48 49

Beveridge 2017, 597-598; siehe auch Beveridge, Koch 2016. Wood 2016; Anders, Scheller, Tuntschew 2018. Wood, Flinders 2014. Vgl. Mayntz 2014. Auch Vollrath 2003, S. 10 begreift das Politische als »Modalität von Politik«.

(Ent-)Politisierung – Debatten, Modelle und Befunde

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rung des Kreises der Konfliktbeteiligten), nehmen aber zwei andere Schwerpunktsetzungen vor.50 Anders als Grande und Kriesi setzen wir zum einen nicht an »Konfliktstrukturen«, sondern an einzelnen Themen an. Dies ermöglicht es uns, auch Entpolitisierungsprozesse zu erfassen, indem untersucht werden kann, ob und wie bestimmte Themen aus politischen Auseinandersetzungen verschwinden. Zum anderen bringen wir das Kriterium des Kontingenzbewusstseins ins Spiel, welches den qualitativen Aspekt der Entscheidbarkeit eines Themas betont. Aus dieser Sicht geht es nicht nur um die Menge der politisierten Themen (innerhalb der Gesellschaft), sondern auch um die Frage, in welchem Maße ein einzelnes Thema als politisch entscheidbar gedacht wird und wie verbreitet dieses Bewusstsein ist. Die Reichweite ist sicher das gängigste Kriterium zur Bestimmung der Politisierung eines bestimmten Gegenstandes.51 Die Extension des Kriteriums kann dabei stark variieren: So kann es die Anzahl der Menschen umfassen, die sich zu einem bestimmten Thema äußern, die für bzw. gegen etwas demonstrieren, die an konkreten politischen Prozessen partizipieren (zum Beispiel im Rahmen deliberativer Verfahren) oder die allgemein an einem Thema interessiert sind. Daneben kann es aber auch die Anzahl und Art eingebundener Gruppen, Institutionen oder Organisationen umfassen. Untersuchungen, die unterschiedliche Akteursarten erheben, greifen häufig auf die Unterscheidung von Top-down-Prozessen und Bottom-upProzessen zurück: Wenn (zumeist wenige) leitende Akteure oder Gremien in zivilgesellschaftlichen Organisationen ein Thema unter ihren (möglichst vielen) Mitgliedern lancieren wollen oder eine Regierung versucht (möglichst viele oder eine repräsentative Auswahl von) Bürger_innen in einen politischen Entscheidungsprozess einzubinden, kann man von Top-down-Prozessen sprechen.52 Von Bottomup-Prozessen kann man sprechen, wenn umgekehrt Bürger_innen bestimmte Forderungen gegenüber der Regierung erheben oder diese auf Missstände aufmerksam machen wollen.53 Häufig wird auch die Salienz eines Themas als seine quantitative Verbreitung unter verschiedenen Akteuren erfasst. In diesem Sinne lässt sich die Anzahl an Akteuren, die ein bestimmtes Thema aufnehmen, unter dem Kriterium der Reichweite verorten, während das Ausmaß an und die Verbreitung von Kontingenzbewusstsein in Hinblick auf ein einzelnes Thema in unserem Modell dem folgenden Kriterium zugerechnet wird. Als zweite Dimension von Politisierung tritt das Kontingenzbewusstsein hinzu. Wir schließen damit an das zweite, oben beschriebene Verständnis des Politischen an, das grundlegend nach der Handlungs- und Deliberationsfähigkeit in Bezug auf ein Thema oder Problem fragt und damit die wahrgenommene Entscheidbarkeit oder Gestaltbarkeit einer Thematik zur Disposition stellt.54 Wissenssoziologisch 50 51 52 53 54

Grande, Kriesi, S. 84. Klassisch dazu ist Schattschneider 1960, S. 16. Siehe die Beiträge von Wiesner; Schroeder, Greef, Ten Elsen sowie Geis in diesem Band. Siehe die Beiträge von Daphi; Gardner, Neuber sowie Straßenberger in diesem Band. Hay 2007, S. 77.

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knüpft diese Kategorie an die Konzepte des Erfahrungsraumes und Erwartungshorizontes einer Gesellschaft an,55 politisch-soziologisch an die systemtheoretisch geprägte Diskussion um Kontingenz.56 So spricht Michael Th. Greven von der Kontingenzgesellschaft57 und Hans Joas von dem Zeitalter der Kontingenz.58 Kontingent ist dabei alles, was in Hinsicht auf die gegebene Welt möglich, aber nicht notwendig ist.59 Dabei muss sich die (Entscheidungs- und Handlungs-) Freiheit stets gegen die Schließung von Möglichkeitsräumen durch die geronnene Ordnung und durch den Verweis auf Alternativlosigkeit, Undurchführbarkeit, fehlende finanzielle Ressourcen, systemische Zwänge oder andere Notwendigkeitsformeln behaupten. Resigniert und erstaunt zugleich resümierte Luhmann angesichts des gesteigerten Kontingenzbewusstseins und gleichzeitiger Komplexität der Gesellschaft: »Alles könnte anders sein – und fast nichts kann ich ändern.«60 Aber abgesehen davon, was faktisch geändert werden kann, ist die Frage erstens, was überhaupt in welchem Maße als änderbar wahrgenommen wird, und zweitens, wie verbreitet diese Wahrnehmung ist. Insofern gehen wir mit dem Begriff des Kontingenzbewusstsein über den gebräuchlicheren Begriff der Salienz von Themen hinaus61 – denn es geht nicht nur um die empirische Häufigkeit eines Themas, sondern die Perzeption eines thematisierten Objekts als überhaupt änderbar, entscheidbar und (politisch) gestaltbar. In Anlehnung an Hay bilden Ent- und (Re-)Politisierung also zwei Pole auf einem Kontinuum zwischen Notwendigkeit (entpolitisierter Pol) und Kontingenz (politisierter Pol).62 Dadurch verbinden wir die Frage, wie politisch oder politisiert ein Thema ist, nicht exklusiv mit derjenigen nach seiner Repräsentation im engeren politischen Prozess, sondern verorten sie in der breiten Sphäre des gesellschaftlichen Problembewusstseins und dessen Artikulation in der Öffentlichkeit. Durch die Verknüpfung entsprechender Beobachtungen wird es beispielsweise möglich, das Kontingenzbewusstsein in Hinblick auf ein Thema gering einzuschätzen, die Verbreitung dieses Bewusstseins aber als hoch – in der Begrifflichkeit von Hannah Arendt wäre das eine Voraussetzung für die systematische Produktion gesellschaftlicher Ohnmacht.63 Umgekehrt ist die Kombination aus hohem Kontingenzbewusstsein aber geringer Verbreitung desselben eine gute Voraussetzung technokratischen Regierens.

55 56 57 58 59 60 61

Koselleck 1995; Mannheim 1969. Siehe zum Beispiel Esposito 2012. Greven 2000, S. 273; vgl. Makropoulos 1997. Joas 2012. Luhmann 1984, S. 152. Luhmann 1969, S. 324. Zur Salienz in Bezug auf die Politisierung der Europäischen Union siehe Braun, Hutter, Kerscher 2018; Hutter, Grande 2014, Whitefield, Rohrschneider 2015. 62 Hay 2007. 63 Arendt 1955, S. 957-958, 973-975.

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Die dritte und letzte Dimension ist die der Intensität.64 Das Intensitätskriterium lässt sich in Auseinandersetzung mit dem Politikbegriff von Carl Schmitt erhellen: Das Politische bezeichnet ihm zufolge »den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen«,65 gleichviel, auf welchem Kriterium diese Verbindung oder Trennung jeweils beruht. Je intensiver der Gegensatz zwischen zwei Gruppen, die nach Schmitt im Extremfall die wechselseitige Rolle von »Freund« und »Feind« einnehmen, desto politischer ist er demnach. Schmitts Theorie bevorzugt dabei tendenziell ein entpolitisiertes Gesellschaftsinneres, während das in seinem Sinne eigentlich Politische in das Gesellschaftsäußere, nämlich das Pluriversum internationaler Beziehungen externalisiert werden sollte. Diese Konzeption des Politischen resultiert allerdings in einer problematischen Kontingenzvernichtung. Denn Schmitts Argumentation impliziert, dass zunehmende Intensität (hin zu einer Gruppierung von »Freund« gegen »Feind«) zu einem qualitativen Umschlagen von Kontingenzverhältnissen führt. Während die Genese des »Feindes« noch zeitlich wie sachlich kontingent ist,66 versteinert die »maßgebende Gruppe«67 qua Dezision die Freund-Feind-Gruppierung wie der Blick der Medusa. Nach dieser Dezision befinden sich beide Seiten im maximal politisierten Zustand und zugleich in einem Zustand vollkommener Entpolitisierung, da über die Quellen und Gradualitäten der Politisierung nicht mehr verhandelt werden kann: »Der Krieg folgt aus der Feindschaft, denn diese ist seinsmäßige Negierung des anderen Seins«.68 Damit würde die Möglichkeit demokratischer Politik, Kontingenz, entfallen und ein kriegerischer Raum betreten, in dem die Unterscheidung von Politisierung und Entpolitisierung sinnlos würde, da beides zugleich maximal ausgeprägt wäre. Die heutigen, demokratietheoretischen Anschlüsse an Schmitt haben seinen existentiellen Antagonismus dementsprechend zu einem Agonismus sublimiert, in dem politische Gegnerschaften sich nicht zu geschlossenen Kontingenzen verhärten müssen, sondern prinzipiell offen bleiben. Das kämpferische Moment des Politischen wird dadurch gezähmt, aber auch verstetigt, da Politik zu einer beständigen Suche nach (oder Verhinderung von) wechselnden Allianzen für politische ›Operationen‹ oder ›Projekte‹ wird.69 Analytisch gesehen kann die Dimension des Intensitätsgrades jedoch für die Konzeptualisierung von Politisierung fruchtbar gemacht werden, wenn a) strukturelle, b) sozialpsychologische und c) instrumentelle Kriterien differenziert werden. Als strukturelles Kriterium könnte es mithilfe von netzwerkanalytischen Methoden erfasst werden. Roger Gould und Charles Tilly haben demonstriert, wie netz64 65 66 67 68 69

So auch Grande, Kriesi 2013, S. 84-85. Schmitt 1932 [1963], S. 38-39, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 39. Ebd., S. 39. Ebd., S. 33, Hervorhebung durch uns. Laclau, Mouffe 2001 sprechen von der ständigen Artikulation und Desartikulation von Äquivalenzketten und (gegen-)hegemonialen Projekten. Siehe auch Opratko 2012 über den Hegemonie-Begriff nach Antonio Gramsci.

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werkanalytische Ansätze mit der sozialen Bewegungsforschung zusammengeführt werden können.70 So kann die Polarisierung (in Bezug auf ein Thema) als ein Indikator für Intensität herangezogen werden: als Cliquenbildung in Netzwerken, als Grad der internen Verbundenheit (Modularität) oder als Grad der ideologischen Kohärenz.71 Je weniger Cluster oder Cliquen, je stärker die Modularität, je größer der Grad der ideologischen Kohärenz, desto polarisierter ist die Gesellschaft und desto konfrontativer wird ein Thema verhandelt. Politisierung kann hier in Radikalisierung münden (siehe Herschinger in diesem Band). Sozialpsychologisch äußert sich eine höhere Intensität durch eine Politisierung kollektiver Identitäten und Selbstbeschreibungen,72 durch stärkere Gruppenidentifikationen und feindselige Einstellungen,73 aber auch durch Hostilität in öffentlichen Debatten (zum Beispiel durch Hate Speech, siehe Marco et al. in diesem Band).74 Zuletzt äußert sich eine gestiegene oder gesunkene Intensität instrumentell im Aktionsrepertoire politischer Bewegungen, Gruppen, Organisationen oder anderer Akteure. Dabei ist nicht nur an Gewalt zu denken, denn Gewalt ist ebenso wenig per se politisch, wie Friedfertigkeit unpolitisch ist. Lichterketten, Sitzblockaden, Gesang und Schweigen können im entsprechenden Kontext ähnlich starke symbolische und auch subversive Wirkung entfalten wie ein angezündetes Auto, ein geohrfeigter Bundeskanzler oder ein terroristisches Attentat.

70 Gould 1995; Tilly, Tarrow 2007; Diani, Mische 2015. 71 Andere Konzepte aus diesem Bereich sind Homophilie, strong ties und weak ties, bonding und bridging. Siehe zum Beispiel einführend Holzer 2010; siehe auch Padgett, Ansell 1993; Elias, Scotson 1993; Fuhse et al. 2020. 72 Kimmerling, Moore 2008 [1997]; Ikegami 2000. 73 Decker, Brähler 2016. 74 Müller, Schwarz 2018; Khosravinik, Esposito 2018.

Abbildung 1: Entwicklung des Themas »Klimaschutz«. Jede der drei Dimensionen besteht aus einem Kontinuum zwischen den Polen »entpolitisiert« (Diagrammzentrum) und »politisiert« (Diagrammperipherie). Je größer die entstehende Fläche ist, desto politisierter ist das Thema (eigene Darstellung). Je nach Kombination von Ausprägungen in den drei Dimensionen ließen sich so unterschiedliche und teils ungleichförmige Politisierungsprofile verschiedener Themen abbilden. Politisierung des Themas „Klimaschutz“

Reichweite

1980er Jahre 2000er Jahre 2020er Jahre

Intensität

Kontingenzbewusstsein

Mithilfe der drei Dimensionen oder Kriterien für Politisierung können wir die Entwicklung einzelner oder mehrerer Themen nachzeichnen. Als Beispiel gilt für das Thema Klimaschutz: Zu Beginn war die Reichweite auf einen kleinen Kreis von Akteuren beschränkt; in der Gesellschaft herrschte insgesamt ein gering ausgeprägtes Bewusstsein davon, dass das Klima etwas ist, über das politisch entschieden werden kann oder was durch das Wirken des Menschen überhaupt beeinflusst wird. Wissenschaftliche Erkenntnisse über den anthropogenen Klimawandel steigerten das gesellschaftliche Kontingenzbewusstsein umfassend und gleichmäßig. Die Intensität verlief – anders als beim breiteren Thema Umwelt – ebenfalls eher linear: Nachdem sich v. a. in den USA seit Beginn der neunziger Jahre Think Tanks und Netzwerke darum bemühten, Zweifel am menschengemachten Klimawandel zu streuen, steigert sich in jüngster Zeit die Intensität des

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Themas weiter: Die Polarisierung zwischen rechtspopulistischen Parteien75 und der weltweiten Protestbewegung Fridays for Future nimmt zu und disruptivere Protestformen werden angewandt (zum Beispiel durch Extinction Rebellion). Die Reichweite der Thematik steigerte sich gleichförmig, sowohl was das öffentliche Interesse, als auch die Einbindung von nationalen, supra- und internationalen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen sowie die Teilnahme an Demonstrationen zur Thematik betrifft.76 Die Entwicklung eines Themas kann in diesem Modell durch verschiedene Zeitpunkte eingetragen werden. Die Veränderung des Netzes, das sich zwischen den jeweiligen Ausprägungen aufspannen lässt, bildet den Prozess der Ent- oder (Re-)Politisierung ab und kann gegebenenfalls mithilfe weiterer kausalanalytischer Kriterien untersucht werden. Um auf Basis der Anwendung dieses heuristischen Modells zu einer Gesamtdiagnose über den (Ent-)Politisierungszustand einer Gesellschaft zu gelangen, müssen die Befunde einzelner Themenbereiche zusammengeführt und ihre etwaigen wechselseitigen Verhältnisse und Dynamiken eruiert werden. 3. (Ent-)Politisierungsdynamiken – Befunde dieses Sonderbands Während sich in Hinblick auf die begriffliche Bestimmung dessen, was unter (Ent-)Politisierung zu verstehen ist, ein pragmatischer Konsens herstellen lässt, bringen die Befunde unterschiedlicher theoretischer Perspektiven und empirischer Forschung widersprüchliche Tendenzen zu Tage. Können wir in diesen unterschiedlichen Befunden eine allgemeine Tendenz ausmachen? Und würde sich diese Diagnose auf die gesamte Gesellschaft beziehen lassen77 – oder können wir nur Teilbefunde erheben, die jeweils einen Teil der demokratischen Gesellschaft betreffen? Bereits Colin Crouch hatte in seiner Diagnose der Postdemokratie konzediert, dass auf der Parabel, die ihm zufolge die Entwicklung der Demokratie beschreibt, komplexe Dynamiken möglich sind, sodass prä-demokratische, demokratische und postdemokratische Elemente in einem Zeitpunkt gleichzeitig auftreten könnten.78 Eine solche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen79 prägt sicherlich Geschichte insgesamt und somit auch (Ent-)Politisierungsprozesse. Friedbert Rüb zeichnet entsprechend in seinem Beitrag zu diesem Sonderband eine Phänomenologie der Politik des letzten Jahrhunderts nach, in der eine große Bandbreite an Politisierungs- und Entpolitisierungsprozessen deutlich wird. Diese werden im 75 Vgl. zu den Anfängen der Organisation der Klimawandelleugnung in den USA Dunlop, McCright 2015, S. 318 f. 76 Vgl. Loske 2019. 77 So wie die Kameralwissenschaft mit Staat (im Sinne von Status) den Zustand des Gemeinwesens messen wollte, siehe Vogl 2004, S. 70. 78 Crouch 2008, S. 11-13. 79 Zur Begriffsgeschichte Schmieder 2017.

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Einzelnen nach seiner Analyse allerdings durch einen globalen Prozess der neuzeitlichen »Fundamentalpolitisierung« überlagert. Vor diesem Hintergrund »kann Politik alles« und auch das, was sie im Falle von Nicht-Entscheidungen oder Auslagerung aus dem politischen Bereich nicht angeht, muss daher als ihr Ergebnis betrachtet werden. Über diesen grundsätzlichen Befund hinaus lassen sich aber konkrete Dynamiken zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausmachen, die in den weiteren Beiträgen dieses Sonderbandes beschrieben und analysiert werden. Wir werden in der folgenden Darstellung der weiteren Beiträge dieses Sonderbandes zunächst auf solche Befunde eingehen, die Tendenzen der (Re-)Politisierung beschreiben, und danach auf jene eingehen, die Tendenzen der Entpolitisierung diskutieren. Dabei werden wir jeweils unter Anwendung unseres oben vorgestellten heuristischen Modells nach den drei verschiedenen Dimensionen der Reichweite, der Intensität und des Kontingenzbewusstseins unterscheiden. Dies ermöglicht es uns auch, die in den Beiträgen erkennbaren Dynamiken zwischen diesen Dimensionen zu erfassen und aufzuzeigen. 3.1 Tendenzen der (Re-)Politisierung Mehrere Beiträge beschreiben Tendenzen der (Re-)Politisierung der Reichweite. Dabei beschäftigen sie sich nicht nur mit einer steigenden Anzahl von Akteuren zu einem Thema, sondern stellen auch fest, dass neuartige Akteure hinzutreten und ihre Verhältnisse zueinander ändern. Anna Geis untersucht beispielsweise in ihrem Beitrag zur Sicherheitspolitik in Deutschland, wie die Bundesregierung neue partizipative Verfahren erprobt und damit ein traditionellerweise eher institutionellen Akteuren vorbehaltenes Thema für Bürger_innen in einem Top-down-Prozess öffnet. Damit wird der zukünftigen Forschung die Untersuchungsfrage eröffnet und nahegelegt, welche Auswirkungen dieser Prozess auf das Kontingenzbewusstsein der Bevölkerung in Bezug auf ihre eigene Wirksamkeit auf außenpolitische Themen hat. Wolfgang Schroeder, Samuel Greef und Jennifer Ten Elsen untersuchen in ihrem Beitrag über Rechtspopulismus in zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie Gewerkschaften, Kirchen und Sportverbände politisiert werden. Sie kommen dabei zu unterschiedlichen Befunden für die verschiedenen Bereiche, die sowohl von Top-down-Politisierungsprozessen und als auch von Bottom-up-Politisierungsprozessen geprägt sind. Dabei ist den rechtspopulistischen Akteuren trotz fehlender konsistenter Gegenstrategien in den zivilgesellschaftlichen Organisationen keine systematische Ausweitung ihrer Reichweite gelungen. Vielmehr nutzen rechtspopulistische Interventionen situativ Gelegenheitsfenster, in denen sich systeminhärente Konflikte zeigen und verhandelt werden. Bei diesen Anlässen versuchen sie, die Grenzen des Sagbaren zu erweitern und tragen so zu einer Intensivierung der Debatten bei. Darüber hinaus beschäftigt sich der Beitrag von Claudia Wiesner auf konzeptioneller Ebene mit Politisierungsprozessen innerhalb der EU-Institutionen sowie zwischen der EU, den Mitgliedstaaten und der EU-Bevölkerung. Sie stellt dabei vier idealtypische Modelle der Politisierung zur Diskussion. Obwohl ihr zufolge

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das Verhältnis von Politisierung und Demokratie auch durch entpolitisierende Tendenzen geprägt ist, kommt sie zu dem Ergebnis, dass die EU das Potenzial zu einer demokratisierenden Politisierung besitzt und dieses nutzen sollte. Dabei schlagen sowohl Wiesner als auch Rüb vor, Politik durch einen Handlungsbegriff zu konzeptualisieren. Um (Re- oder Ent-)Politisierungsprozesse in der sozialen Bewegungsforschung analysieren zu können, unterscheidet Priska Daphi in ihrem konzeptuellen Beitrag eine externe Dimension der Politisierung, in der soziale Bewegungen Politisierung als Akteur und Subjekt vorantreiben und eine interne Dimension von Politisierung, in der soziale Bewegungen selbst Objekt von Politisierungs- und Entpolitisierungsprozessen sind. Mit den Kriterien der Salienz (als Protestdichte), der Akteursexpansion und der Intensität sowie der Konflikthaftigkeit und dem Grad der kollektiven Relevanz ihrer Ziele und ihres Aktionsrepertoires bietet Daphi einen differenzierten analytischen Rahmen für die Untersuchung von Politisierungsprozessen im Kontext sozialer Bewegungen. Befunde über den Politisierungsgrad einer Bewegung oder eines Themas müssen, so ihr Plädoyer, die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Ebenen der Politisierung berücksichtigen (siehe auch unten). Beth Gardner und Michael Neuber schließen in ihrem Beitrag an die Dimensionen der internen und externen Politisierung von sozialen Bewegungen an. Sie analysieren neue Survey-Daten von zwei Fridays-For-Future-Demonstrationen (am 15. März 2019 in Bremen und Berlin sowie am 20.09.2019 in Berlin und Chemnitz) hinsichtlich der Ziele, Motive und Einstellungen der Protestierenden. In kritischer Auseinandersetzung mit dem Cultural-Backlash-Ansatz hinterfragen sie die gängige Auffassung, dass die Wert- und Politikvorstellungen von Umweltbewegungen jenen des Rechtspopulismus diametral entgegenstünden. Dagegen identifizieren sie inhaltliche Überschneidungen in der von beiden Gruppen erhobenen Forderung nach Re-Politisierung und ihren zugrundeliegenden Problembeschreibungen – wenn beide sich auch vor allem im Aktionsrepertoire unterscheiden. Beide Bewegungen müssen demnach nicht als gänzlich gegenläufig, sondern können zumindest teilweise als Erscheinungen des gleichen Politisierungstrends betrachtet werden. Politisierung im Sinne eines gesteigerten Kontingenzbewusstseins thematisiert der genannte Beitrag von Priska Daphi. In der sozialen Bewegungsforschung werden zunehmend Aktionsformen diskutiert, die sich nicht direkt an die Öffentlichkeit richten, sondern bisher als »privat« und unpolitisch angesehene Lebensbereiche wie Konsum, Lifestyle oder Reiseverhalten adressieren. Obwohl häufig als Entpolitisierung gedeutet, können diese Beispiele Daphi zufolge als präfigurative Politik interpretiert werden. Diese stelle insofern eine besondere Form der Politisierung dar, als sie über vorpolitische, kulturelle Prozesse langfristigen Einfluss auf politische Normen und in der Folge politische Entscheidungen ausüben will und somit kollektive und gemeinwohlorientierte Ziele wie zum Beispiel Klima- und Umweltschutz verfolgt. Diese Arbeit im vorpolitischen Raum würde in unserem heuristischen Modell durch ein erhöhtes und sich verbreitendes Kontingenzbe-

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wusstsein bei steigender Reichweite und noch geringer Intensität erfasst werden. In Rückbezug auf Daphi können wir konkretisieren, dass die Ziele dieser internen Politisierung dennoch radikal sein können – was auf die sogenannte »metapolitische« Arbeit der Neuen Rechten80 ebenso zutrifft wie auf die Konsumethik der ökologischen Bewegung. In ihrem demokratietheoretischen Beitrag zeigt Grit Straßenberger auf, wie radikaldemokratische Ansätze unterschätzen, dass ein radikales Öffnen gesellschaftlichen Kontingenzbewusstseins destabilisierende Effekte auf die demokratische Ordnung zeitigen kann. Sie macht deutlich, inwiefern dagegen Politisierungsvorstellungen des »dissentiven Republikanismus« diese Problematik stets mitreflektieren und Strategien vorlegen, die repolitisierende und demokratiestabilisierende Prozesse ausbalancieren können. Hierzu gehört auch die Anerkennung von demokratischer Autorität, die Bürger_innen und Eliten zum Beispiel der Verfassung entgegenbringen sollen. Diese wird zwar als durch verantwortungsvolle Partizipation veränderbar gedacht. In diesem Prozess kommt ihr aber die Aufgabe zu, das explosive Potential von demokratischen Konfliktdynamiken zu entschärfen. Dabei kann Protest nicht nur sachlich politisieren, indem ein Thema als entscheidbar und gestaltbar bewusst gemacht wird, sondern auch zu Politisierung im Sinne gesteigerter Intensität führen. Die Beiträge von Daphi sowie Gardner und Neuber berücksichtigen beide Möglichkeiten, ohne eine eindeutige Tendenz festzustellen. Straßenberger verweist in ihrem Beitrag auf die von radikaldemokratischen und republikanischen Theoretiker_innen geteilte Diagnose, dass Ent- und Repolitisierung in dem Sinne aufeinander bezogene Prozesse sind, als Erstere zu einer politikentfremdeten und apathischen Haltung unter Bürger_innen führen kann, die sie umso empfänglicher für radikalen und populistischen Protest machen kann. Dagegen diagnostiziert der Beitrag von Fabienne Marco, Simon Hegelich, Linda Sauer und Orestis Papakyriakopoulos eine zunehmende negative Politisierung durch sexistische Anfeindungen und Hate Speech in sozialen Medien (ähnlich auch der Beitrag von Schroeder et al.) und entwickelt ein algorithmenbasiertes Verfahren zur Eindämmung dieser Hostilität (zu den entpolitisierenden Effekten dieser Technologie unten mehr). Gesteigerte Intensität kann sich auch in Form von Radikalisierung ausdrücken. Im Falle des Islamischen Staates bezieht sich das Element der kollektiven Identifikation nicht nur auf den religiösen Aspekt, sondern ebenso auf die Bedeutung von Gender. Eva Herschinger untersucht daher Radikalisierung als weibliche Subjektwerdung. Sie nimmt dabei eine hegemonietheoretische Perspektive ein, von der aus Radikalisierung als ein Politisierungsprozess sichtbar wird, der bisher ausgeschlossene Akteure inkludiert, das Kontingenzbewusstsein bis auf die normativen Rahmenbedingungen und Säulen eines politischen Systems ausdehnt und Konflikte maximal intensiviert, sodass Freund und Feind tatsächlich in einen existentiellen Kampf eintreten, in dem es um die seinsmäßige Negation des anderen geht.

80 Zum Begriff der Metapolitik vgl. zum Beispiel Kellershohn 2016. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Der Beitrag von Hanna Schwander wägt alle drei Politisierungskriterien gegeneinander ab. Sie untersucht, wie stark die Politisierung von Arbeitsmarktunsicherheit ausgeprägt ist. Vor dem Hintergrund der Insider-Outsider-Theorie geht es dabei zunächst um die Frage, wie sehr ökonomisch-strukturelle Konflikte zu einer Spaltung zwischen zwei distinkten Gruppen führen: den Arbeitsmarkt-Insidern und den -Outsidern. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Gruppenmitglieder zwar kein subjektives Zugehörigkeitsgefühl im Sinne einer kollektiven Identität ausgebildet haben, und dass der Konflikt insofern nicht zu einer starken Intensität geführt hat. Dennoch unterscheiden sich die Gruppen hinsichtlich ihrer Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat, was man als unterschiedlich starkes Kontingenzbewusstsein deuten kann, da Outsider umfassendere Neugestaltungen und Reformen befürworten als Insider. Hier identifiziert Hanna Schwander eine Forschungslücke, da es bisher nur wenige longitudinale Daten zu diesem Politisierungsprozess gibt. Zusätzlich wird dieser Politikbereich aber auch von der Angebotsseite bearbeitet: So versuchen linke und rechte Parteien, Wähler_innen unter den beiden Gruppen zu mobilisieren. Insider erweisen sich dabei als anfälliger für die Mobilisierung durch rechtspopulistische Parteien als Outsider. Innerhalb des linken Parteienspektrums wählen aber wiederum Outsider tendenziell radikalere und bewegungsförmigere Parteien als Insider. Ein weiterer Befund liegt darin, dass unter Outsidern zwar tendenziell die Partizipation an Wahlen geringer ist, dieser Trend aber durch die zunehmende Prekarisierung mittlerer Bildungsschichten sinkt. 3.2 Tendenzen der Entpolitisierung Bezüglich der Entpolitisierung der Reichweite spielen zum einen der Rückgang und die Verhinderung politischer Partizipation durch Diskriminierung eine Rolle. So untersuchen Fabienne Marco, Simon Hegelich, Linda Sauer und Orestis Papakyriakopoulos sexistische Kommentare auf den Facebook-Seiten politischer Parteien und von Politiker_innen und unterscheiden in diesem Sinne zwischen einer positiven Politisierung durch Inklusion und einer negativen (Ent-)Politisierung durch Exklusion oder Diskriminierung. Sie entwickeln daher einen Algorithmus mittels Deep Learning, der sexistische Kommentare erkennen und regulieren kann und so eine diskriminierungsfreie Teilhabe ermöglichen soll. In Bezug auf das Intensitätskriterium der Politisierung tritt ein dialektisches Verhältnis von Entpolitisierung und Politisierung auf: Während Hate Speech, Sexismus und eine feindselige Debatte als eine hohe Ausprägung von Intensität und eine Form von (sprachlicher, struktureller, institutionalisierter) Gewalt gedeutet werden können, filtert der algorithmenbasierte Eingriff diese Äußerungen, was hinsichtlich des Modus und der Wirkung eine Entintensivierung darstellt. Da der Einsatz von Algorithmen einen Eingriff in die Meinungsfreiheit darstellt, ruft er auch Widerspruch und offene Fragen hervor, was zu einer Folgepolitisierung durch ein gesteigertes Kontingenzbewusstsein führt. So entsteht ein neues Politikfeld, das bereits von vielfältigen zivilgesellschaftlichen und ökonomischen Akteuren bespielt wurde, bevor staatliche Akteure und Institutionen darauf aufmerksam geworden sind.

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Die Autor_innen heben daher hervor, dass algorithmenbasierte Regulierungen die gesellschaftliche Urteilsbildung nicht überflüssig machen, sondern eine gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit politischem Sexismus anregen sollen. In diesem Politikfeld ist auch der Beitrag von Lena Ulbricht zu verorten. Sie analysiert darin vier Fallbeispiele, in denen das Auslagern von Entscheidungen in algorithmenbasierte Technologien skandalisiert und ein politisches bzw. gesellschaftliches (und transparentes) Entscheiden angemahnt wurde. Algorithmen wirken demnach also nicht per se entpolitisierend. Wenn Algorithmen über Gerichtsurteile, Kreditvergabe, Jobverlust oder die Vergabe von Arbeitslosengeld entscheiden und damit das Verhältnis zwischen Bürger_innen und Gerichten, Banken, Arbeitgebern und staatlichen Behörden prägen, werden die Normen auf den Prüfstand gestellt, die diesen Entscheidungen zugrunde liegen. 4. Fazit: (Re-)Politisierung der demokratischen Gesellschaft? Um die skizzierten Dynamiken begrifflich auf den Punkt zu bringen, ließe sich zum einen in Anlehnung an Becks Begriff der reflexiven Moderne von einer reflexiven Politisierung sprechen.81 Zum anderen können wir auch von einem dialektischen Verhältnis zwischen Entpolitisierung und Repolitisierung ausgehen.82 Bewusst wahrgenommene oder als solche identifizierte Prozesse der Entpolitisierung führen demnach wiederum zu politischen Debatten um die Modi, Normen und Folgen politischer Entscheidungen. Dies ist beispielsweise der Fall bei der Verwendung von Algorithmen zur Herstellung verbindlicher Entscheidungen, welche oftmals gerade darauf zielen, Entscheidungen vermeintlich zu »objektivieren« und dem politischen Streit zu entziehen. Die Debatte darüber kann aber in der Folge zur erneuten Politisierung führen, da viele Akteure intensiv diskutieren, bestimmte Fälle skandalisieren und eventuell sogar protestieren. Ähnliches lässt sich in Hinblick auf die Evidenzbasierung staatlicher Entscheidungen beobachten, die mitunter nicht darin resultiert, Politiken durch einschlägige Expertise erfolgreich zu legitimieren, sondern im Gegenteil wissenschaftliche Erkenntnisse einer politischen Kontestation aussetzt. Die diversen gesellschaftlichen Reaktionen auf die Krisenpolitik in der Corona-Pandemie liefern aktuelle Belege für diese Dynamik. Dies verweist uns darauf, dass wir in Hinblick auf Ent- und (Re-)Politisierungsprozesse von komplexen, multidimensionalen Dynamiken ausgehen müssen, die sowohl parallel zueinander verlaufen, als auch sich gegenseitig verstärken oder reflexiv auf einander bezogen sein können, zum Beispiel als Reaktion auf die Nebenfolgen eines Prozesses. Darüber hinaus können auch einander zuwiderlaufende Prozesse von unterschiedlichen Akteuren vorangetrieben werden. Wie stark eine Gesellschaft insgesamt politisiert ist, wie also ihr politischer Zustand insgesamt beschaffen ist, ist deswegen schwierig auf einen Nenner zu bringen. Die Politisie81 Beck 1993, bes. S. 205 ff. 82 Siehe den Beitrag von Philip Liste in Palonen et al. 2019, S. 272-277 in Bezug auf das Verhältnis von Justiz, Recht und Politik. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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rung der Ökologie, der Gewerkschaftsarbeit, der Kirchenverbände, der Sicherheitspolitik oder von Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt lassen sich nicht summieren. Aber sie lassen sich jeweils untersuchen und verorten in einen Raum der Politisierung, der aufgespannt wird durch die Reichweite eines Themas, das Kontingenzbewusstsein, das ihm entgegengebracht wird, und die Intensität, mit der es behandelt wird und die es erzeugt. Auf diese Weise lassen sich vor allem Spannungsfelder identifizieren und beschreiben. Die demokratische Gesellschaft als ganze bleibt polyzentrisch, plural und dynamisch. Überschaut man allerdings die in diesem Sonderband zusammengetragenen Befunde, überwiegen jene, die Repolitisierungsprozesse von ehemals entpolitisierten Themen feststellen. Das höhere Kontingenzbewusstsein drückt sich dabei vor allem in der Gestaltbarkeit von (digitalen) Technologien aus, die zunehmend auf ihre Wirkungen und normativen Implikationen befragt werden. Daneben erfasst eine neue präfigurative Politik bisher private Lebensbereiche wie Konsumethik, Lifestyle oder Reiseverhalten. Die höhere Reichweite erfasst neue Akteure – parteipolitische wie die AfD, aber auch bewegungsförmige, die ihren Protest auf die Straße tragen oder in zivilgesellschaftlichen Organisationen um neue Anhänger werben und ihre Themen verbreiten. Die Politisierung der Bürger_innen kann dabei entweder von unten nach oben oder – in Form partizipativer Prozesse – von oben nach unten verlaufen. Als Steigerung von Intensität werden Radikalisierungsprozesse gedeutet, die nicht nur eine höhere Konflikthaftigkeit der Mittel nach sich ziehen, sondern auch eine stärkere Identifikation mit einer Gruppe oder eine Polarisierung politischer Einstellungen beinhalten. Andere Beiträge stellen eine wachsende Hostilität politischer Debatten fest. Entpolitisierungsprozesse beobachten dagegen nur wenige Beiträge. So wird beispielsweise Diskriminierung auf politischen Facebookseiten – und in der Folge sinkende Partizipation – als negative Politisierung gedeutet. Daneben wird diskutiert, wie die Anwendung von Algorithmen politisches Entscheiden in bestimmten Politikfeldern ersetze. Diese Beiträge betonen allerdings, dass in Folge dieser Entpolitisierungsprozesse eine gesellschaftliche Debatte über die normativen Implikationen und Rahmenbedingungen dieser Technologien angestoßen wurde, die insofern Gegenstand einer Repolitisierung geworden sind. Nach Dekaden der Entpolitisierung scheint also eine allgemeine Umkehr des Trends hin zu einem größeren Kontingenzbewusstsein politischer Gestaltbarkeit, einer größeren Akteursvielfalt und höherer Intensität begonnen zu haben. Der neuzeitliche Trend der »Fundamentalpolitisierung« scheint wieder an Dynamik zu gewinnen. Das Vermögen von Politik, potentiell nicht nur über alles zu entscheiden, sondern auch alles entscheidbar zu machen, kommt dabei in einer mehr oder weniger starken partizipativen Weise zum Ausdruck. Dabei deuten sich neue Konfliktlinien und Politikfelder an. Damit nimmt Politik wieder einen offeneren Charakter als in den vergangenen Jahrzehnten an. Ob diese (Re-)Politisierungsprozesse wiederum Entpolitisierungen in anderen Bereichen nach sich ziehen, ist eine wichtige, aber offene Frage. Die Herausforderung zukünftiger Forschung besteht neben der genauen Erfassung und Beschreibung solcher Entwicklungstendenzen nicht zuletzt darin, die skizzierte Dynamik von Ent- und (Re-)Politisierungspro-

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(Ent-)Politisierung – Debatten, Modelle und Befunde

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David Meiering und Andreas Schäfer

Zusammenfassung: Diese Einleitung zum Sonderband rekapituliert erstens den bisherigen Stand der Forschung zu Ent- und (Re-)Politisierung und schlägt zweitens ein heuristisches Modell vor, in das wir anschließend die Befunde der einzelnen Beiträge einordnen und miteinander in Beziehung setzen werden. Indem wir die Reichweite (wer und wie viele?), das Kontingenzbewusstsein (was?) und die Intensität (wie stark?) in Bezug auf ein politisches Thema unterscheiden, spannen wir einen dreidimensionalen Raum auf, in dem sich Fälle von (Ent-)Politisierung untersuchen lassen. Die Befunde des Sonderbandes deuten insgesamt daraufhin, dass wir es nach Jahrzehnten der Entpolitisierung mit einer tendenziellen Repolitisierung der demokratischen Gesellschaft zu tun haben. Stichworte: Politisierung, Entpolitisierung, Repolitisierung, Heuristik, Kontingenz

(De)politicization – debates, models and findings Summary: This introduction to the special issue firstly recapitulates the current state of research on de- and (re)politicization and secondly proposes a heuristic model, which allows us to classify the findings of the individual contributions and relate them to each other. By differentiating the range (who and how many?), the contingency awareness (what?) and the intensity (how strong?) in relation to a political issue, we are setting up a three-dimensional space in which cases of (de)politicization can be investigated. Overall, the findings of the special issue indicate that after decades of depoliticization we are dealing with a tendency of repoliticization of the democratic society. Keywords: politicization, depoliticization, repoliticization, heuristics, contingency

A. Theorien, Konzepte, Kriterien

Claudia Wiesner

Politisierung, Politik und Demokratie. Zu Theorie und Konzeption eines komplexen politikwissenschaftlichen Begriffsgefüges

Das Konzept der Politisierung wird in der Politikwissenschaft zunehmend genutzt. Im Fokus steht dabei oftmals die empirische Untersuchung von Politisierungsprozessen und deren Ergebnissen. Die Debatte weist jedoch offene Fragen und Klärungsbedarfe in verschiedener Hinsicht auf. So kommen etwa verschiedene Teildisziplinen (Politische Theorie, Internationale Beziehungen, Vergleichende Politikwissenschaft, Europaforschung) aus unterschiedlichen Hintergründen zu unterschiedlichen Verständnissen von Politisierung1 – mitunter ist nicht ganz klar, wie das Konzept jeweils theoretisch unterfüttert und verstanden wird, wie es konzeptionell gefasst wird, und wie es operationalisiert wird. Dazu, so argumentiere ich im Folgenden, sind die theoretischen Verbindungen des Konzepts der Politisierung zu zwei anderen Kernkonzepten der Politikwissenschaft von zentraler Bedeutung: Politik und Demokratie. Dieser Beitrag zielt vor diesem Hintergrund darauf, das Konzept der Politisierung mit Blick auf seine normative und theoretische Konzeption sowie den analytischen Fokus systematisch zu entwickeln. Es wird ein handlungs- und sprechakttheoretischer Begriff von Politik zugrunde gelegt, und die Beziehung von Politisierung und Demokratie wird konzeptionell und normativ konkretisiert. Der Beitrag ist wie folgt gegliedert: Im Folgenden, ersten Teilkapitel werden die entscheidenden Fragen sowie die theoretischen und konzeptionellen Schritte entwickelt, die mit der Konzeption von Politisierung verbunden sind. Darauf folgt eine Diskussion zweier unterschiedlicher, idealtypischer Politikbegriffe, die dem Konzept zugrunde gelegt werden können. Diese sind a) ein Verständnis von Politik als System, Sphäre oder Feld und b) Politik als Handlung. Darauf aufbauend lege ich meinen weiteren konzeptionellen Überlegungen ein Verständnis von Politik als Handlung zugrunde, das in ein Handlungskonzept von Politisierung mündet. Am Beispiel zweier unterschiedlicher Konzepte von Politisierung und Politik (Elmer Schattschneider und Kari Palonen) diskutiere ich dann, wie die Grenzen des Politischen definiert werden können und warum, und argumentiere, dass Politik und Politisierung potenziell jederzeit und überall stattfinden können. Im zweiten Teilkapitel schließt sich eine normativ-theoretisch geleitete Diskussion der Frage an, ob und inwieweit Politisierung als Handlungskonzept mit repräsentativer Demokratie vereinbar ist. Denn die Beziehung von Politisierung und Demokratie ist theoretisch wie normativ nicht eindeutig zu fassen: Wird Politisierung als Handlung konzipiert, kann sie sowohl demokratische als auch antidemokratische Politisierung bzw. Handlung sein. Am Beispiel von Politisierung in der Europäischen Union konkretisiere ich im dritten Teilkapitel diese Überlegungen zur Beziehung 1 Siehe dazu Wiesner 2019b; im Erscheinen. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020, S. 39 – 64

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Claudia Wiesner

von Politisierung und Demokratie und entwickele eine Typologie von vier Typen von Politisierungsdynamiken. 1. Theorie und Konzeption von Politisierung Politisierung ist als Mehrebenenkonzept (multilevel concept) zu konzipieren, d. h., auf a) einer theoretischen oder normativ-theoretischen Makroebene, b) einer konzeptionellen Mesoebene und c) einer operationalisierten bzw. empirischen Mikroebene.2 Politisierung als Konzept zu nutzen, erfordert damit zunächst, zu klären, auf welcher dieser drei Ebenen die entsprechenden theoretischen und konzeptionellen Überlegungen angesiedelt sind. Auf und zu jeder Ebene ist dann genau zu begründen, wie das Konzept definiert bzw. – für die Meso- und Mikroebene – operationalisiert wird. Es ist also zu unterscheiden ob 1) auf der Makroebene theoretisch über Politisierung reflektiert wird, und zwar a) konzeptionell und/oder b) normativ, 2) auf einer Mesoebene das Konzept operationalisiert wird, oder 3) auf einer Mikroebene konkrete Untersuchungsdimensionen betrachtet oder gemessen werden. Ich konzentriere mich in diesem Beitrag auf die Makroebene und schließe auch Überlegungen zur Mesoebene ein. Im Folgenden betrachte ich zuerst die theoretisch-konzeptionelle Makroebene von Politisierung; für diese ist entscheidend, welches Konzept von Politik genutzt wird. Viele der gängigen Konzepte zur empirischen Messung von Politisierung legen hier ein Verständnis zugrunde, in dem Politik als politisches System, als Sphäre oder Feld verstanden wird (siehe unten). Politik wird damit als abgrenzbarer Bereich konzipiert. Diesem Verständnis stelle ich die Position gegenüber, dass Politik als Handlung zu verstehen ist. Damit ist sie potenziell unbegrenzbar. 1.1. Politik als Handlung Was geschieht, wenn Politisierung stattfindet bzw. wenn etwas – ein Sachverhalt, eine Institution, eine Gesellschaft – politisiert wird? Diese Frage führt zu einer grundsätzlicher angelegten Frage, derjenigen nämlich, wie Politik theoretisiert und konzipiert wird.3 Ich schlage im Folgenden zunächst vor, Politik als Handlung zu konzipieren. Ideengeschichtlich steht diesem Zugang ein Verständnis von Politik als System, Sphäre oder Feld gegenüber. Politik erscheint dann als abgegrenzter Bereich, in den Akteur/innen und Sachverhalte hinein- und hinausbewegt werden – man kann auch von einem quasi-räumlichen Verständnis von Politik sprechen.4 In dem Handlungskonzept kann Politik dagegen jederzeit und überall stattfinden und ist 2 Wood 2015, S. 527. 3 Zur ideengeschichtlichen Debatte um diesen Kernbegriff der Politikwissenschaft siehe ausführlich Palonen 2006; 2007. 4 Siehe dazu Palonen 2006; 2007.

Politisierung, Politik und Demokratie

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nicht nur an die Grenzen, Institutionen, Arenen und Akteur/innen des politischen Systems im engeren Sinne gebunden. Auf diesem Politikkonzept aufbauend möchte ich im Folgenden einen handlungs- und auch sprechakttheoretisch inspirierten Politisierungsbegriff entwickeln.5 Dabei baue ich auf den theoretisch-konzeptionellen Überlegungen Kari Palonens auf, der vier Dimensionen von Politik unterscheidet. Politik (politics) meint zunächst das Handlungskonzept an sich. Dieses untergliedert er in Polity – bezogen auf den Raum, in dem politisches Handeln stattfindet (dies kann, muss aber nicht das politische System sein) – Policy, als regulierende Funktion von Politik, Politisierung (politicization) als den Akt, in dem etwas als politisch benannt wird, und politicking als Bezeichnung für den Prozess des politischen Handelns.6 In diesem Politikkonzept ist eine politische Handlung mithin jede Handlung, die einen Sachverhalt als politisch markiert, politische Prozesse vorantreibt, politische Positionierungen vornimmt, oder politische Regulation erzeugt. Somit findet Politik tatsächlich im politischen System im engeren Sinne statt, also in Institutionen, Parteien, und institutionalisierten Arenen des Systems (und auch vermittelt über und reguliert durch dessen Regeln, siehe Teil 2) - aber eben nicht nur dort. Eine Konzeption von Politik als Handlungsbegriff bringt mit sich, dass alles potenziell politisch sein kann und Politik per se keine Grenzen hat.7 Dieses Verständnis von Politik als Handlungsbegriff bringt gegenüber einem Zugang, in dem Politik als räumlich begrenzte Sphäre oder eben als System verstanden wird, eine konzeptionelle und analytische Erweiterung der Perspektive mit sich. Es bricht vor allem die Binarität auf, nach der ein Thema entweder politisch ist, weil im System virulent, oder nicht. Denn versteht man Politik und das Politische nicht als System, Feld oder Sphäre, sondern als Aktivität, muss ein Thema oder eine Frage nur als politisch markiert werden, um politisch zu sein. Diese Markierung ist die Politisierung. Der entscheidende Unterschied zu den Ansätzen, die Politik als Feld oder Sphäre betrachten, ist somit, dass Politisierung gerade nicht eine Überschreitung der Grenzen des Politischen beinhaltet, sondern eine Handlung benennt, mit der ein Thema oder eine Frage als politisch markiert wird, also als Gegenstand politischer Handlungen und Kontroversen. Interpretiert im oben beschriebenen handlungs- und sprechakttheoretischen Verständnis, bedeutet Politisierung also: das Markieren von Sachverhalten als politisch und das Anstoßen von Kontroversen und Debatten. Dabei sind alle Themen, Fragen und Sachverhalte des menschlichen Zusammenlebens potenziell politisch. Welche davon jeweils in der Praxis als politisch markiert wurden, war signifikanten historischen Veränderungen unterworfen.8 Wie das Beispiel der sozialen Bewegungen der 1970er Jahre zeigt, also etwa der Frau5 Siehe dazu ausführlich Wiesner, Haapala, Palonen 2017; Wiesner 2019b; Wiesner im Erscheinen. 6 Palonen 2003, S. 171. 7 Siehe dazu ausführlich Kauppi, Wiesner 2018; Kauppi, Palonen, Wiesner 2016. 8 Skinner 1989. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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en- und der Umweltbewegung – ist auch veränderlich, welche Themen als »ernsthaft« oder »wichtig« bewertet und dann auch parteipolitisch thematisiert werden: Der Umweltschutz wurde von einer spezifischen Frage, die einige wenige Aktivist/ innen umtrieb, zu einem bis heute stark politisierten und breitenwirksam von allen großen Parteien diskutierten Thema, das den Ausgang der Europawahl 2019 entscheidend beeinflusste. Politisierung als Handlungskonzept ist eng an den Begriff der Kontingenz gekoppelt: Handeln kann nur, wer potenziell auch anders handeln kann. Politisierung bedeutet demnach auch, einen Sachverhalt als potenziell kontingent zu bezeichnen, d. h. zu markieren, dass alternative Formen des Handelns und alternative Ergebnisse nicht nur möglich, sondern für politisches Handeln konstitutiv sind.9 Wenn demnach Politisierung als der Akt verstanden wird, mit dem ein Sachverhalt als Objekt des Politischen markiert wird, eröffnet dies immer die Möglichkeit zur Kontroverse zwischen den handelnden Akteur/innen. Politisierung meint auch das Eröffnen von Zeitfenstern, Arenen und Themen des Politischen, sowie die Transformation bislang nicht hinterfragter Annahmen, Identitäten oder Prinzipen zu Gegenständen politischer Kontroversen. In diesem Zusammenhang werden einige Akteur/innen einen Sachverhalt als politisiert betrachten oder politisieren, andere jedoch nicht – was erneut weitere Spielräume für Kontroversen und Politisierung eröffnet.10 Das Beispiel Greta Thunbergs steht idealtypisch für eine Politisierungshandlung. Sie stellte sich mit einem Transparent vor dem schwedischen Reichstag auf und wartete – in der Tradition zahlreicher Protestbewegungen und des gewaltfreien Widerstands. Die Botschaft des Transparents war sprachbezogen, hinzu kam aber die Handlung – im öffentlichen Raum wartend, schweigend, vor dem Parlament als Sitz einer der zentralen Institutionen der schwedischen Polity. Ein eingängiges Beispiel von Politisierung als Sprechakt, mit dem etwas als politisch markiert wird, ist das Diktum der neuen Frauenbewegung »Das Private ist politisch«. Dieser Sprechakt zielte auf eine Umbewertung gesellschaftlicher Strukturen und von Institutionen wie Ehe und Familie, und auch auf eine Veränderung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die zuvor als »unpolitisch« betrachtet wurden, als »privat«. Indem sie nun als »politisch« definiert wurden, wurden sie auch zum Gegenstand öffentlicher Debatten und politischer Auseinandersetzungen, sie konnten und sollten hinterfragt werden, und die Machtverhältnisse, die mit ihnen verbunden waren, konnten als gesellschaftlich bedingt kritisiert – und auch potenziell verändert – werden. Das Beispiel der neuen Frauenbewegung zeigt auch, dass dieser Sprechakt, die Markierung des vormals Privaten als politisch und damit auch als Thema von öffentlichem Belang, von einer umfassenden Bewegung genutzt wurde. Er diente der Mobilisierung – und zwar zunächst nicht etwa durch parteipolitische »political

9 Palonen 1998; 2006; 2007. 10 Kauppi, Palonen, Wiesner 2016.

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entrepreneurs«,11 die an der neu benannten Konfliktlinie unmittelbar neue Parteien etablierten. Die Mobilisierung erfolgte durch und von Aktivistinnen, die sich selbst und ihre Mitstreiterinnen politisierten, Bewegungen bildeten, und dann, aber erst nach und nach, mit ihren Anliegen und auch als handelnde Akteurinnen in das politische System vordrangen. Es handelt sich, mit anderen Worten, nicht um einen gezielten Zugriff auf das engere politische System durch die Gründung einer Partei, sondern um einen Bottom-up-Prozess, in dem eine Dynamik der Politisierung aus kleinen und halbprivaten Zusammenhängen in größere Öffentlichkeiten vordrang, zunehmend Aktivistinnen mobilisierte, die sich dann zu Gruppen zusammenschlossen, die wiederum im weiteren Verlauf ihre Anliegen in die Parteien einbrachten und schließlich auch in die Institutionen, zum Beispiel durch Gesetzesänderungen und Frauenbeauftragte. Entpolitisierung oder Depolitisierung (depoliticization)12 ist das Gegenkonzept zu Politisierung und entsprechend zu verstehen als gegenteiliges Handeln. Entpolitisierung meint das Markieren von Sachverhalten als unpolitisch, also eben gerade nicht als Gegenstand politischer Handlungen und Kontroversen. Entpolitisierung zielt damit auf die Reduktion von Kontroversen und Debatten, oder auch den Ausschluss von Akteur/innen aus politischen Debatten und institutionalisierten Arenen. Auch Entpolitisierung lässt sich anhand der Debatte um das Private und das Politische beschreiben. Kristina Schröder, ehemalige Bundesfamilienministerin, kritisierte in einem Meinungsbeitrag im Jahr 2017 die von den Bundesregierungen seit 2007 (also auch unter ihrer Mitwirkung) unternommenen familienpolitischen Reformen. Sie betonte, diese dienten der Umerziehung von Familien durch staatliche Maßnahmen, und der Staat solle dazu zurückkehren, Familien ihre eigenen Entscheidungen treffen zu lassen13 – sie forderte, Kinderbetreuung stärker als Privatangelegenheit und nicht als staatliche Aufgabe zu betrachten. Damit forderte sie auch eine Depolitisierung der Debatte um Kinderbetreuung: Kinderbetreuung, so Schröder, sei privat – und nicht politisch. Der entpolitisierende Impetus der Rekonstruktion des Gegensatzes zwischen politisch und privat liegt hier darin, dass diese Konstruktion darauf zielt, das Thema als unpolitisch zu markieren und damit zu betonen, es solle gerade nicht Gegenstand politischer Kontroversen und politischer Handlungen sein, sondern gehöre allein in den privaten Raum. Daraus folgt auch die Forderung, das Thema solle von der tagespolitischen Agenda, aus den öffentlichen Debatten und der Arbeit der politischen Repräsentant/innen verschwinden; die Entpolitisierungsforderungen sind also ein Teil der Politik um die Agenda des politisch Relevanten. Schließlich zielt die Forderung auch auf staatliches Handeln, sie meint nämlich, dass die

11 Hooghe, Marks 2009, S. 13. 12 Zur Diskussion dieses Konzepts siehe zum Beispiel Wood 2015; Robert 2020; Dupuy, van Ingelgom 2019. 13 Schröder 2017. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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entsprechenden öffentlichen policies zur Kinderbetreuung zurückgefahren werden und das Thema aus dem staatlichen Handlungsrepertoire genommen werden soll. 1.2. Politik als Konflikt, System oder Feld? Das eben skizzierte handlungstheoretische Politikverständnis hat zunächst erkennbare Ähnlichkeiten zu einem konflikttheoretischen Politik- und Politisierungskonzept, wie es von Elmer Schattschneider konzipiert wurde. Für Schattschneider besteht Politik aus »millions of conflicts«, schreibt er, und »strategy is the heart of politics«.14 Auch Schattschneider stellt mithin politische Handlungen in den Kern seines Konzepts. Diese werden strategisch geleitet und manifestieren sich in politischen Konflikten. Auf dieser Basis führt er vier Dimensionen ein, die politische Konflikte charakterisierten: Intensität, Sichtbarkeit, Richtung und Reichweite (intensity, visibility, direction and scope). Schattschneider betont, es gebe zahlreiche politische Konflikte in einer Gesellschaft, aber nur einige wenige dieser Konflikte wirkten sich im politischen System aus. Er fügt hier also eine Abgrenzung in sein Politikkonzept ein, indem er den Begriff des politischen Systems einführt. Dabei nutzt Schattschneider die vier Dimensionen intensity, visibility, direction and scope, um zu erklären, wann und wie politische Konflikte im politischen System sichtbar und wirksam werden.15 Er behauptet mithin nicht, dass politische Konflikte nur im politischen System existieren – aber er verortet relevante politische Konflikte nur dort. Das politische System, und nur dieses, ist für ihn der Ort relevanter politischer Konflikte. Schattschneider nutzt mithin einen konfliktorientierten Begriff von Politisierung, der aber nur auf das politische System und seine etablierten Institutionen und Mechanismen bezogen wird. Er erläutert dabei allerdings nicht, wie er den Schlüsselbegriff des politischen Systems definiert. Dies ist eine begriffliche und konzeptionelle Unschärfe, die in der Politikwissenschaft durchaus nicht selten ist: Gerade bei Grundbegriffen wie dem des politischen Systems wird eine Bedeutung oft implizit vorausgesetzt, auch dann, wenn es inhaltlich geboten und sinnvoll wäre, den Begriff zu definieren.16 Insofern wird der Begriff bei Schattschneider unter Rekurs auf diese impliziten Bedeutungszusammenhänge verwendet, in denen das politische System als Zusammenhang der etablierten und offiziellen Institutionen und Prozesse repräsentativer Demokratien verstanden wird: politische Parteien, Parlamente, Regierungen, evtl. Gerichte. Für die Konzeption von Politisierung entscheidend ist hier, dass die Idee des politischen Systems Abgrenzung, oder sogar eine quasi-räumliche Gebundenheit mit sich bringt: Wird etwas politisiert, wird es in das politische System verschoben.17 Daraus folgt zum einen, dass es vorher in einem Bereich angesiedelt war, der politischen Kontroversen nicht zu-

14 15 16 17

Schattschneider 1957, S. 935, 933. Schattschneider 1957, S. 940. Sartori 1970. Palonen 2006; 2007.

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gänglich ist. Zum anderen folgt daraus, dass relevante politische Kontroversen ihren Platz allein im politischen System haben. Einige der aktuellen politikwissenschaftlichen Zugänge zu Politisierung nutzen – zumeist implizit, mitunter aber auch explizit – ein solches Konzept von Politik als System, Feld, Sphäre, oder Raum. Michael Zürn fasst diese Perspektive so zusammen:18 »Politicisation, in general terms, means the demand for, or the act of, transporting an issue or an institution into the field or sphere of politics – making previously unpolitical matters political. Functional differentiation is a necessary prerequisite for such a notion of politicisation. There has to be a differentiation of spheres or function systems in the first place, before it can be moved from one to the other. But how is the sphere of politics – the political, so to say – to be separated from other function systems?«19

Die vier Dimensionen Schattschneiders – intensitiy, visibility, direction and scope – finden sich explizit20 oder implizit in zahlreichen gängigen empirischen Operationalisierungen zur Messung von Politisierung, bei denen die Salienz (salience) von bestimmten Themen in öffentlichen Debatten, eine Vergrößerung des beteiligten Akteurskreises (increase of actor involvement) und eine stärkere parteipolitische Polarisierung (increase in party-political polarization) gemessen werden. Sie werden derzeit vor allem in der Erforschung der Politisierung der EU angewandt. Neben Parteien stehen in der Forschung dabei bislang Institutionen und Medien im Fokus.21 Untersucht werden vor allem große Mainstreammedien, politische Parteien und Institutionen, und die entsprechenden Dimensionen werden quantitativ gemessen.22 Seltener sind analytische Zugriffe, die sich explizit mit Bürger/innen als Akteur/innen beschäftigen.23 Diese empirischen Untersuchungskonzepte von Politisierung beziehen sich also vorwiegend auf ein Verständnis des politischen Systems im engeren Sinne, ergänzt um die Massenmedien. Eine implizite Annahme ist – ähnlich wie bei Schattschneider – damit, dass Sachverhalte nur dann als politisiert zu betrachten bzw. zu messen sind, wenn sie im politischen System virulent werden. Diese Operationalisierung nimmt also zwei konzeptionelle Verengungen vor. Erstens wird Politik auf das klassische politische System und die Massenmedien bezogen, und zweitens werden drei Indikatoren (zumeist quantitativ) gemessen. Dabei wird in der analytischen Betrachtung primär eine Wirkrichtung angenommen und untersucht, in der Politisierung von oben nach unten, also top-down verläuft: Politische Parteien reagieren auf die Präferenzen der Wähler/innen; Institutionen werden politisiert, weil ihre Mitglieder nicht länger technokratisch oder expertokratisch orientiert sind, sondern parteipolitische Programme und Konfliktlinien stärker einbeziehen; und Medien berichten über diese Aktivitäten. Diese 18 19 20 21 22 23

Siehe auch Zürn 2013. Zürn 2015, S. 167. Hutter, Grande, Kriesi 2016. Wilde 2011. Siehe etwa Statham, Trenz 2013; Hoeglinger 2016; Hutter, Grande, Kriesi 2016. Siehe aber Duchesne, van Ingelgom, Frazer 2013; Hurrelmann, Gora, Wagner 2015.

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analytische Perspektive bezeichne ich als Top-down-Modell der Politisierung, weil Dynamiken betrachtet werden, die aus dem politischen System im engeren Sinn, sowie von politischen Unternehmern, Institutionen oder Medien (oben), zu den Bürger/innen (unten) verlaufen. Eine solche Analyseperspektive zielt weniger auf Prozesse, die sich nicht innerhalb dieses systemischen Rahmens abspielen, oder solche, die vorher stattfinden, und schließlich solche, die dazu führen, dass sich neue Parteien, Bewegungen, Themen und Akteur/innen mobilisieren und in das System gelangen. Insbesondere geraten die politisierenden Akteur/innen aus dem Blick. Dieser Zugriff blendet also entscheidende Dynamiken und Faktoren von Politisierung aus. Betrachtet man, wie ich es vorschlage, Politik als Handlungskonzept und Politisierung als politische Handlung per se, wird erkennbar, dass Politisierung auch unabhängig von den beschriebenen Top-down-Dynamiken stattfinden kann, bzw. diesen vorausgeht. Politisierung als Handlung des Markierens von Sachverhalten als politisch kann überall stattfinden, und insbesondere kann sie Bottom-up-Dynamiken auslösen, wie sie vorne beschrieben wurden. Aufbauend auf dem beschriebenen handlungstheoretischen Politikbegriff müssen also auch Aktivitäten außerhalb des politischen Systems als politisierend betrachtet werden – auch dann, wenn sie (zunächst) nicht im System im engeren Sinne abgebildet werden. Es sind also auch politischer Protest, zivilgesellschaftliche Aktivitäten, NGOs und in grundsätzlicher Weise die Entwicklung eines politischen Bewusstseins und politische Informiertheit als Politisierung zu verstehen.24 Diese lassen sich, dies sei hier betont, auch mit einem konflikttheoretischen Politikbegriff erfassen – wenn dieser nicht, wie es bei Schattschneider und in der empirischen Operationalisierung der meisten Untersuchungskonzepte zu Politisierung der Fall ist – im- oder explizit auf Dynamiken im politischen System fokussiert, also auf Parteien, Parlamente, Institutionen und Medien als den klassischen Akteuren und Kanälen repräsentativer Demokratie. Vor dem Hintergrund des vorne eingeführten handlungs- und sprechakttheoretischen Politikverständnisses kann also eine top-down-orientierte und auf das engere politische System orientierte Analyseperspektive kritisch hinterfragt werden. Bottom-up-Politisierung, also Aktivitäten von NGOs oder Bürger/innen, Protestbewegungen und unkonventionelle Beteiligungsformen, aber auch Politisierung vor Ort aufgrund von zunächst lokal gebundenen Problemlagen, die in das System hineinwirken, werden damit in der Tendenz systematisch ausgeblendet. Jedoch können können NGOs, Bewegungen, und aktive Einzelpersonen zentrale Rollen als Politisierer erhalten.25 Gerade die Politisierungen im Frühstadium, die außerhalb des Systems im engeren Sinne abspielen, können dabei entscheidend in das System hineinwirken, wie 2018 und 2019 das bereits angesprochene Beispiel Greta Thunbergs zeigte. Ihr 24 Siehe dazu auch Zürn 2013; Kauppi, Palonen, Wiesner 2016 sowie die empirischen Befunde von Duchesne, van Ingelgom, Frazer 2013; Hurrelmann, Gora, Wagner 2015. 25 Siehe dazu Statham, Trenz 2013; Statham, Trenz 2014; Zürn 2015 sowie die Diskussion bei Kauppi, Palonen, Wiesner 2016; Kauppi, Wiesner 2018.

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Protest begann, indem sie allein vor dem schwedischen Parlament ein Transparent hochhielt. Die Idee wurde dann aber von immer mehr Schüler/innen aufgriffen und Greta Thunberg entwickelte sich zur Leit- und Identifikationsfigur einer weltweiten neuen Protestbewegung. Diese Überlegungen sind für die analytische Zuspitzung des Politisierungskonzepts unmittelbar relevant. Es gibt etwa zahlreiche Fälle, in denen etablierte politische Parteien Sachverhalte nicht politisieren wollen, sehr wohl aber soziale Bewegungen oder neu gegründete Parteien – und zahlreiche Beispiele in der Europäischen Union zeigen, dass es gerade diese Konflikte um politische Relevanz sind, die Politisierung in Bezug auf die EU antreiben. Die »Gilets Jaunes«, die BrexitKampagne, das Erstarken der AfD und anderer systemkritischer Parteien fast überall in der EU unterstreichen, dass genau hier, jenseits vieler Logiken des engeren politischen Systems, zentrale politische Konfliktlinien verlaufen. Die Forschung um »challenger parties« als Treiber der Politisierung hat diese Dynamiken bereits teilweise in den Blick genommen.26 Parteien, aber auch Massenmedien, bilden dabei einen spezifischen Nexus des politischen Systems zu gesellschaftlichen Dynamiken. Sie sind im Zusammenhang eines handlungs- und sprechakttheoretischen Politisierungsverständnisses als Gate-Keeper für breitenwirksame Politisierung zu betrachten: Wenn erfolgreiche Parteien und/oder große Medien ein Thema aufnehmen, steigen natürlich die Chancen auf dessen breite Thematisierung. Umgekehrt erschwert es die Politisierung eines Sachverhalts, wenn dies nicht der Fall ist bzw. wenn der Sachverhalt sogar aktiv beschwiegen wird. Das bedeutet aber im Umkehrschluss eben gerade nicht, dass Sachverhalte nur dann breit diskutiert und politisiert werden können, wenn sie von Parteien oder Massenmedien proaktiv thematisiert werden. Wie die Beispiele der Frauen- und Umweltbewegung oder von Greta Thunberg illustrieren, ist es möglich, Sachverhalte auch entgegen der Wünsche etablierter Parteien zu politisieren, und zwar insbesondere dann, wenn die Medien dies auch vorantreiben. 2. Die normativ-theoretische Perspektive: Demokratie, Politik und Politisierung Politisierung ist nach den obigen Ausführungen als politische Handlung per se zu betrachten. Politisierung ist der eröffnende Vorgang, mit dem ein Sachverhalt als politisch markiert wird – und damit die Basis von Politik. Dies bedeutet auch, dass Politisierung Politik gestaltet, und nicht umgekehrt.27 Politisierung ist damit auch eine grundlegende Praxis von Demokratie als einer Form der Polity. Daraus folgt aber nicht umgekehrt ein naturwüchsiges und oder eindeutiges Verhältnis von Demokratie und Politisierung. Vielmehr können sich im Kontext demokratischer Institutionen und Spielregeln – also demokratischer Polities – Handlungen abspielen, die zwischen zwei idealtypischen Polen liegen: Es sind a) demokratische 26 Green-Pedersen 2012; Hutter, Grande, Kriesi 2016; Hooghe, Marks 2009. 27 Palonen 2003; Kauppi, Palonen, Wiesner 2016. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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politische Akte, d. h. Handlungen, die die Institutionen und Regeln des demokratischen Zusammenlebens stützen oder jedenfalls nicht in Frage stellen, oder b) antidemokratische politische Akte, die genau das tun. Daraus folgt, dass Politisierung nicht per se demokratisch ist, sondern auch antidemokratisch sein kann – ebenso wie Politik. Im Folgenden werde ich deshalb das Verhältnis von Politisierung und Demokratie, das aus einem handlungs- und sprechakttheoretischen Zugriff folgt, konzeptionell fassen. Dabei betrachte ich zunächst die Rolle von demokratischen Institutionen, um dann demokratische und antidemokratische Politisierungen konzeptionell zu unterscheiden und schließlich die möglichen Reaktionen demokratischer Institutionen und Akteur/innen auf antidemokratische Politisierung zu erörtern. 2.1. Institutionen, Politik und Demokratie Da weder Politisierung noch Politik per se demokratisch sind, ist Demokratie ohne regulierende und einhegende demokratische Institutionen und Spielregeln undenkbar. Sie wirken darauf hin, dass Politisierungen sich im Rahmen eines demokratischen Konsenses bewegen, und sie können bei einem Überschreiten der Grenzen dieses Konsenses Sanktionen bewirken und auf Einhaltung der Grenzen und Spielregeln drängen. Damit wirken diese Institutionen und Regeln aber auf der anderen Seite kanalisierend und einhegend auf Politisierung. Sie schaffen institutionalisierte Arenen, in denen Politik stattfinden kann (nicht muss, wie beschrieben): Auch wenn Politisierung als Handlung und Politik als Handlungskonzept verstanden wird, findet sie, wie im ersten Abschnitt diskutiert, natürlich auch im Rahmen dieser Institutionen und Arenen des politischen Systems statt, wenn auch nicht ausschließlich dort. Damit haben die Institutionen, Regeln und Arenen des Systems aber eine strukturierende Rolle für Politisierung: Sie bedingen die Möglichkeiten politischer Akte und Akteur/innen, im politischen System virulent zu werden. Dies verweist auf einen Kompromiss, der an der Basis repräsentativ-demokratischer Systeme steht: Es werden Institutionen und Regeln geschaffen, die politisches Handeln kanalisieren und damit auch die Chancen politischer Akteur/innen determinieren, im politischen System wirksam zu werden. Die Kanalisierung führt dabei zu einer ungleichen Verteilung der Chancenstrukturen für das Wirksamwerden politisierender Handlungen in der Breite und im System, denn Institutionen und die dort vertretenen Akteur/innen, also zum Beispiel Abgeordnete von im Parlament vertretenen Parteien, prädeterminieren, was »ernsthafte Politik« ist und was nicht, und welches die »wichtigen Themen« sind. Findet ein Thema dort keinen Rückhalt, ist es schwieriger, es breitenwirksam zu politisieren – aber keinesfalls unmöglich. Damit steht jedwede Politisierung potenziell in einem Spannungsverhältnis zu demokratischen Institutionen, die deren Chancen auf Breitenwirkung prädeterminieren – aber nicht entscheiden. Zum Ausgleich für diese Beeinflussung von Chancenstrukturen für Politisierung schaffen die demokratischen Institutionen und Regeln Rechte und Arenen, die den Ausdruck von Meinungen erlauben, die von parlamentarischen und/oder gesell-

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schaftlichen Mehrheiten und Konsensen abweichen. Sie schaffen diesen auch definierte Kanäle, um in das politische System, also die Institutionen, Parteien oder Mainstreammedien zu gelangen. In breit konzipierten empirischen Demokratiemodellen28 sind diese Rechte deshalb normative Bedingungen oder zumindest Vorbedingungen für eine qualitativ hochwertige repräsentative Demokratie. 2.2. Antidemokratische Politisierung Nun kann es aber wie beschrieben dezidiert antidemokratische Politisierungen geben. Dies ist etwa der Fall, wenn – wie das aktuell in Europa verschiedene rechtspopulistische Parteien tun – das oben beschriebene, schützende Gerüst von Minderheitenräumen und Minderheitenrechten aktiv in Frage gestellt wird. Beispielsweise wird von rechtspopulistischen Gruppen und Parteien regelmäßig gefordert, die Rechte von Frauen (die keine Minderheit sind), Migrant/innen oder nicht heterosexuell orientierten Personen zu beschneiden oder Gesellschaftskritik oder kritischen Journalismus zu verbieten bzw. einzugrenzen. Wir haben es hierbei mit einem Konflikt über die Grenzen und die geschützten Räume des politischen Systems und seiner Institutionen zu tun, und mit der Frage, wie umfassend der Schutz für bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder Minderheiten und ihre Meinungen und Interessen auszufallen hat. Antidemokratische Politisierung stellt diese Schutzräume in Frage, wenn sie darauf zielt, die Rechte und auch die Arenen des Austauschs und Ausdrucks für Meinungen, Positionen und Gruppen, die nicht mit echten oder postulierten gesellschaftlichen Mehrheiten konform gehen, zu beschneiden. Politisierung kann mithin auch grundlegende Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Frage stellen. Dabei nutzen antidemokratische Politisierer/innen allerdings zunächst die demokratischen Schutzräume für sich selbst, indem sie etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung nutzen, um die Beschneidung dieses Rechts für Andere zu fordern. Die Feinde der Freiheit, um ein Saint Just zugeschriebenes Diktum zu zitieren, können also die demokratische Freiheit nutzen, um auf deren Beschneidung hinzuarbeiten. Jedoch ist dies kein Grund, demokratische Freiheit im Vorhinein zu beschneiden – das wäre ein Widerspruch in sich. Demokratische Freiheiten müssen allgemein gelten, und nicht nur bei Wohlverhalten. Wie bereits Rosa Luxemburg feststellte, muss demokratische Freiheit notwendigerweise die Freiheit des Andersdenkenden sein: »Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ›Gerechtigkeit‹, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ›Freiheit‹ zum Privilegium wird.«29

Dies führt zu einem Spannungsverhältnis, das unangenehm erscheinen mag, aber demokratiepolitisch notwendig ist: Es müssen auch Demokratiegegner/innen in den Genuss demokratischer Freiheiten kommen. Allerdings möchte antidemokra28 Siehe etwa Merkel 2004. 29 Luxemburg 1922, S. 109. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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tische Politisierung ja gerade nicht die Freiheit der Andersdenkenden schützen (siehe unten), sondern nur die Freiheit der gleich Denkenden, und zudem stellt sie die demokratischen Freiheiten mitunter ja sogar generell in Frage. Was also tun? Begrenzt wird die Freiheit der Demokratiegegner – in den westlichen Demokratien in unterschiedlicher Reichweite – deshalb von den demokratischen Institutionen und Regeln dort, wo sie dauerhaft deren Grundprinzipien zuwiderlaufen. In der Bundesrepublik Deutschland ist so, mit gutem Grund, die freie Meinungsäußerung dort beschränkt, wo sie die Menschenwürde angreift oder den Holocaust leugnet. Bekanntermaßen ist die Meinungsfreiheit in anderen Staaten wie etwa den USA sehr viel weiter angelegt. Es sind somit die Freiheiten für vom demokratischen Konsens abweichende Meinungen wie auch die Grenzen, die das jeweilige System diesen setzt, im internationalen Vergleich unterschiedlich bemessen. Die entscheidende Frage im Umgang mit antidemokratischer Politisierung ist somit, wie Demokratien auf diese reagieren. Dies betrifft erstens die demokratischen Institutionen und Spielregeln, die antidemokratischer Politisierung allgemeine Grenzen setzen und sie im Regelfall nur so lange zulassen, wie sie nicht diese Institutionen und Spielregeln selbst gefährdet. Die Verteidiger/innen demokratischer Freiheiten können reagieren, indem sie diese Institutionen und Spielregeln anwenden. In der Bundesrepublik Deutschland ist eine mögliche Reaktion ab einem gewissen Zeitpunkt etwa ein Parteienverbot. In den demokratischen Institutionen kommen stärkere Regulierungen hinzu, die man mit einer Institutionalisierung des Respekts politischer Gegner/innen voreinander und vor dem demokratischen Institutionen fassen kann, so etwa das Prinzip, in Parlamenten unparlamentarische Sprache zu sanktionieren, oder die Regel, den Zugang zum öffentlichen Fernsehen im Wahlkampf zu regulieren und dessen Inhalte zu kontrollieren. Die Auseinandersetzung betrifft aber zweitens auch die politische Praxis: In einem Konzept von Politik als Handlung ist die Auseinandersetzung über antidemokratische Politisierung von Handlungen, konkret: von Politisierungen, geprägt. Das bedeutet: Es kommt darauf an, ob und wie die demokratischen Praktiker/innen selbst auf die antidemokratische Politisierung reagieren, und ob der antidemokratischen Politisierung und antidemokratischen Praktiken eine demokratische Politisierung entgegengesetzt wird. Dann kann und wird in den politischen und demokratischen Arenen eine Debatte und Auseinandersetzung über die demokratischen Standards stattfinden. Beide Typen von Reaktionen kommen jedoch an Grenzen, wenn die antidemokratische Politisierung sich im System durchsetzt und die entsprechenden Akteur/innen Wahlen gewinnen. Eine entscheidende Frage ist also, ob antidemokratische Politisierung von Minderheitenvertreter/innen und kleinen Parteien betrieben und von den Spielregeln des Systems eingehegt wird – oder ob sie von Akteur/innen kommt, die Regierungsmacht erlangen. Beginnen diese dann noch, wie in Ungarn oder Polen, damit, die demokratischen Regeln und Institutionen zu verändern und Spielräume für von ihren Mehrheiten abweichende Meinungen zu verringern, hat sich die antidemokratische Politisierung im System selbst durchgesetzt und dieses verändert. In diesem Fall werden dann in der Folge von antidemokratischer Politisierung die Spielregeln des demokratischen Betriebs selbst ge-

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ändert und die Freiräume eingeschränkt. In Ungarn oder Polen wurden so die rechtsstaatlichen Schutzmechanismen und Schutzräume reduziert. Solche Entwicklungen gefährden damit Rechtsstaatlichkeit und die Prinzipien repräsentativer Demokratie. Antidemokratische Politisierung ist also durchaus eine Gefahr für Demokratie. Das ist sie vor allem dann, wenn die demokratischen Spielregeln nicht greifen oder nicht angewendet werden, und/oder ihr nichts entgegengesetzt wird, wenn es keine Verteidigung der Demokratie gibt – und im Extremfall dann, wenn antidemokratische Politisierer/innen in Regierungsfunktionen kommen, die Institutionen und Spielregeln des Systems verändern und die demokratischen Schutzräume verkleinern. Aber es greift normativ, konzeptionell und auch analytisch zu kurz, deshalb präventiv Politisierung selbst in Frage zu stellen: Es sind nicht politische Handlungen und schon gar nicht die demokratischen Freiräume, die die antidemokratische Politisierung erzeugen oder hervorrufen. Wie oben beschrieben, setzt demokratische Freiheit voraus, Freiheit auch Andersdenkender zu sein – und die entscheidende Frage ist, welche Grenzen politischer und institutioneller Art antidemokratischer Politisierung gesetzt werden. Antidemokratische Politisierung, um es zugespitzt zu sagen, ist also notwendigerweise in Kauf zu nehmen, wenn demokratische Politisierung gewollt wird. Die institutionelle Eingrenzung von Politisierung oder ein Beibehalten von Entpolitisierung ist für sich genommen demokratiebeschränkend. Diese Überlegungen sind für den Kontext der Europäischen Union von entscheidender Bedeutung. 3. Politisierung und Demokratie in der EU Die Europäische Union unterscheidet sich in diesem Zusammenhang in einem zentralen Aspekt von den meisten nationalstaatlichen Demokratien. In diesen sind die institutionalisierten Arenen für politisches und demokratisches Handeln deutlich breiter und freier als in der EU.30 3.1. Institutionalisierte Arenen in der EU Die EU wurde durch intellektuelle und politische Eliten gegründet und aufgebaut, die politische Aktionsfelder zwischen den Mitgliedstaaten und oberhalb der Mitgliedstaaten eröffneten. Hätten sie darauf gewartet, dass politische Mehrheiten in den jeweiligen Mitgliedstaaten diese Integration fordern und aktiv unterstützen, wäre die EU niemals entstanden. So entwickelten sich die Institutionen der heutigen EU aber in einer Art und Weise, die institutionellen Räume und Arenen für politisches Handeln im System im Vergleich zu den nationalstaatlichen Demokratien beschränkten.31

30 Zum Folgenden siehe ausführlich Wiesner 2019a, S. 281-301. 31 Siehe dazu ausführlich Mair 2013; Offe 2015. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Diese Beschneidung der politischen Arenen betrifft zum einen die Ebene der EU selbst. Hier wurden für lange Zeit keine den nationalstaatlichen Demokratien entsprechenden demokratischen und politischen Rechte und Freiräume geschaffen.32 Das Europäische Parlament blieb bis 1979 eine Versammlung nationaler Parlamentarier/innen und erhielt erst danach, und auch nur nach und nach, gesetzgeberische Mitentscheidungskompetenzen. Politische EU-Bürgerrechte wurden erstmals und nur in rudimentärer Form mit dem Maastrichter Vertrag 1993 festgehalten. Eine umfassendere EU-Grundrechtscharta ließ bis 2002 auf sich warten und erhielt erst 2009 mit dem Lissabonner Vertrag offizielle rechtliche Geltung. Zum anderen wurde die europäische Integration auch aus den institutionalisierten politischen und demokratischen Arenen der nationalen politischen Systeme der Mitgliedstaaten herausgehalten.33 Zwar stimmten nationale Parlamente und Regierungen regelmäßig über Integrationsschritte und EU-Gesetze ab, aber politische Parteien und die großen Medien diskutierten die europäische Integration nur selten aktiv. Ausnahmen gab es, wie etwa die französische Debatte um die Europäische Politische Gemeinschaft 1954 in der Nationalversammlung, in der am Ende Gaullist/innen und Kommunist/innen gemeinsam den Schritt hin zu einer europäischen Verfassung verhinderten. Für die meiste Zeit aber blieb die europäische Integration eine wenig öffentlich thematisierte Angelegenheit von Staatslenker/innen und EU-Eliten. Bottom-up-Formen der Politisierung fanden sich kaum (mit Ausnahme aber der Europa-Bewegungen zum Beispiel der europäischen Föderalisten, die den Beginn der europäischen Integration mitbestimmten). Das hat noch mehrere weitere Gründe:34 Die EU-Verträge sind, wie Dieter Grimm feststellt,35 überkonstitutionalisiert. Sie regeln Politikfelder mit Verfassungsrang, die in nationalstaatlichen Demokratien Gegenstand von politischen und parlamentarischen Entscheidungen sind. So sind zum Beispiel elementare Fragen der Wirtschaftsgesetzgebung in den EU-Verträgen (d. h. mit Verfassungsrang) festgeschrieben – und damit den politischen Debatten der öffentlichen Gesetzgebung entzogen. Im Nationalstaat werden diese Politikbereiche in der Regel durch einfache Gesetzgebung und nach vorhergehenden parlamentarischen und öffentlichen Debatten entschieden. Hinzu kommen handelnde Akteur/innen und interne Strukturen der EU, die die existierenden Entscheidungsfindungsprozesse depolitisieren – im Trilog beispielsweise, in dem Vertreter/innen des Europäischen Parlaments, der Kommission und des Rates Gesetze vorentscheiden. Damit wird eine Errungenschaft des Lissabonner Vertrages konterkariert, nämlich die Einführung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, in dem das Parlament gleichberechtigt mit dem Rat zuständig für die Gesetzgebung ist. Im Trilog wird aber gerade nicht in den parlamentarischen Lesungen entschieden: Gesetzesvorschläge werden vielmehr von Vertreter/innen von 32 33 34 35

Siehe dazu ausführlich Wiesner 2007; 2019a. Robert 2020. Siehe zum Folgenden ausführlich Wiesner 2019a, S. 281-301. Grimm 2014.

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Rat, Parlament und Kommission hinter verschlossenen Türen vorverhandelt, bis es einen Kompromiss gibt. Dies geschieht in der großen Mehrheit aller Fälle – von 2014 bis 2017 wurden 75 % der Gesetzesvorhaben nach dem Trilog in der ersten parlamentarischen Lesung abgestimmt.36 Solche Praxen von Verhandlungen gibt es in allen repräsentativen Demokratien, und es ist auch nicht die Verhandlung an sich, die hier entpolitisierend wirkt. Entscheidend ist die Tatsache, dass diese hinter verschlossenen Türen stattfindet, und dass die Substanz des öffentlichen Gesetzgebungsprozesses entleert wird: Gesetzgebung ist gerade nicht öffentlich, die institutionalisierten Lesungen und Debatten vor der interessierten Öffentlichkeit im Parlament werden verkürzt, und die eigentlichen Entscheidungsprozesse in nicht-öffentliche Gremien verlagert. Damit wird auch das mit dem Vertrag von Lissabon gerade erst errungene Recht des Europäischen Parlaments zur Mitentscheidung über EU-Gesetze in öffentlichen Gesetzgebungsverfahren in seiner Substanz reduziert. Zwar tagt das Parlament weiterhin öffentlich, aber die substanziellen Entscheidungen wurden bereits nichtöffentlich getroffen. Die Öffentlichkeit parlamentarischer Debatten hat jedoch eine kontrollierende Funktion, sie bringt Transparenz und Verantwortlichkeit.37 Sie hat zudem eine öffentliche und symbolische Politisierungswirkung: Die im Parlament verhandelten Sachverhalte werden in der zentralen Arena der repräsentativen Demokratie als politisiert erklärt und verhandelt. Transferiert man sie stattdessen in einen buchstäblich geschlossenen Raum, entpolitisiert man sie faktisch und symbolisch. Damit setzt das politische System der EU noch deutlich engere Grenzen und Erfolgsschwellen für Politisierung und ihre Wirksamkeit in den institutionalisierten Arenen als es in den Nationalstaaten der Fall ist. Bis heute versuchen verschiedene Akteur/innen, die EU und ihre Institutionen in dieser Weise entpolitisiert zu halten.38 Dies war insbesondere in der Finanzkrise zu beobachten – zentrale Entscheidungen wurden hier durch Expertengremien und in der so genannten Troika getroffen (die eigentlich nur ein Agent des IWF, der Kommission, der EZB und der Eurogruppe war). Dieses Verschieben oder Beibehalten von Entscheidungskompetenzen in Gremien von Expert/innen, die nicht öffentlich tagen, vergrößert die Intransparenz und verringert die Zurechenbarkeit substanzieller Entscheidungen. Dies ging einher mit einem öffentlichen Betonen, diese Entscheidungen seien gerade nicht politisierbar, weil nur Expert/innen sie entscheiden könnten, eine breite politische und demokratische Beteiligung sei also weder nötig noch sinnvoll.39 In der EU werden also bis heute an zahlreichen Stellen die Räume und Arenen – und damit die Chancen – für politisches Handeln innerhalb des engeren Systems eingeschränkt. Ausgeschlossen oder verhindert werden kann politisches Handeln und Politisierung dadurch jedoch nicht.

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European Parliament 2018. Bentham 1827, S. 310. Robert 2020. Siehe im Detail Statham, Trenz 2014; Wiesner 2017; 2019a; im Erscheinen.

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3.2. Politisierung und Demokratisierung der EU Diese entpolitisierenden Tendenzen der EU sind, das möchte ich betonen, nicht in schlichter Kausalität als direkte Ursache von EU-kritischen Meinungen und Positionen zu betrachten. Sie bieten diesen aber Anknüpfungspunkte. Wie im folgenden Abschnitt diskutiert wird, wird eine Politisierung der EU oftmals deshalb kritisch thematisiert, weil sie die EU potenziell schwäche.40 Im Gegensatz zu solchen Positionen argumentiere ich aus den unter 2. genannten Gründen, dass eine Politisierung der EU auch als deren Demokratisierung zu verstehen ist. In der EU ist mehr Politisierung aus demokratiepolitischer Sicht wünschenswert, und zwar sowohl im Sinne politischen Handelns mit EU-Bezug als auch im Sinne der Schaffung und Erweiterung der institutionalisierten politischen Arenen und Räume der EU, und schließlich auch im Sinne der Nutzung dieser Arenen durch politische Aktivität. Zwar wird dies auch antidemokratischen Politisierer/innen und populistischen Bewegungen die Möglichkeit geben, diese Arenen zu nutzen. Die entscheidende Frage ist aber, wie unter 2.2. beschrieben, ob und inwieweit die demokratischen Politisierer/innen diese Arenen dann ebenfalls füllen und verteidigen. Es ist, mit anderen Worten, kein Argument gegen eine Ausweitung der Rechte und Kompetenzen des Europäischen Parlaments, dass diese auch rechtspopulistischen Parteien zugutekommen. Bevor ich nun die Politisierung der EU als Demokratisierung diskutiere, möchte ich kurz auf eine inzwischen alte Kernfrage der Debatte um die Demokratisierung der EU eingehen: Inwieweit kann die EU ein demokratisches Subjekt, einen Demos, entwickeln, oder inwieweit ist dieser bereits gegeben? Gerade in der deutschen Debatte um die EU wurde dabei eine Position prominent vertreten, nach der die EU keinen Demos habe und auch keinen entwickeln könne, denn es fehle ihr an den Demos-Elementen kollektive Identität, politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft41 – oder aber, zugespitzt, sie sei keine Kommunikations- und Erinnerungsgemeinschaft.42 Deshalb, so die Schlussfolgerung, dürfe die EU auch nicht weiter demokratisiert werden, solange sie nicht über einen eigenen Demos verfüge. In der neueren Debatte um die Demokratisierung der EU fand dieser Argumentationsgang Niederschlag in der Formel der demoicracy, nach der allein die Demoi der Mitgliedstaaten Demokratie in der EU tragen könnten.43 Ich teile beide Argumentationen explizit nicht.44 Der Idee, es müsse, bevor die EU demokratisiert werden könne, zunächst einen voll ausgebildeten Demos geben, ist weder normativ noch historisch begründbar. Wie die konstruktivistische Nationalismusforschung umfassend gezeigt hat, entspricht die Vorstellung eines vorpolitischen Demos nicht der Realität. Nationale Demoi wurden vielmehr sozi-

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Hooghe, Marks 2009. Die Diskussion wird ausführlich in Wiesner 2007 rekapituliert. Kielmannsegg 2003. Nicolaïdis 2013; Cheneval, Schimmelfennig 2013. Siehe dazu ausführlich Wiesner 2014.

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al konstruiert;45 sie sind vorgestellte Gemeinschaften.46 Dabei waren in historischen Demokratisierungsprozessen bislang die Ausbildung demokratischer Praxen und Räume und die eines Gefühls kollektiver Identität miteinander verbunden, und es ist anzunehmen, dass dies auch in der EU der Fall sein wird.47 Bisherige Befunde zur Herausbildung europäischer Identität liefern dazu zahlreiche Belege.48 3.3 Politisierung der EU – Optimismus oder Pessimismus? Um zu diskutieren, inwieweit eine Politisierung der EU a) demokratisierende Wirkung hat und b) die EU unterstützt oder aber gefährdet, betrachte ich nun die aktuelle Debatte um die Politisierung der EU.49 Diese Debatte beginnt bei der in Frage stehenden Polity.50 Geht es um die Politisierung der Europäischen Union, die Politisierung Europas,51 oder die Politisierung der Europäischen Integration?52 Die Wortwahl lässt hier bereits auf unterschiedliche Konzeptionen schließen, die nicht explizit gemacht werden – es ist offen, ob es um den Kontinent Europa geht, die EU als Gebilde, oder den Prozess der europäischen Integration. Neben dieser ersten konzeptionellen Unklarheit in der Debatte wird mitunter im Unklaren gelassen, wie Politisierung theoretisch-konzeptionell gefasst wird. Andere Beiträge konzipieren Politisierung explizit.53 Bei einigen dieser Beiträge ist die bereits eingangs beschriebene zweifache Verengung festzustellen. Die Beiträge legen sowohl konflikttheoretische54 als auch systemorientierte55 Zugänge zu Politisierung zugrunde. Konzeptionell beschränkt sich dabei keiner der Autor/innen auf das engere politische System – sehr wohl aber in der analytischen Zuspitzung. Auch Beiträge, die explizit betonen, es müssten auch NGOs untersucht werden, fokussieren so in ihrer analytischen Betrachtung auf die quantitative Messung von Vorgängen im engeren politischen System und den Massenmedien56 – eine Perspektive, die explizit Bürger/innen als Akteur/innen in den Blick nimmt, ist (noch) die Ausnahme.57 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57

Gellner 1983; Hobsbawm 2008. Anderson 2006. Habermas 1999. Wiesner 2014. Siehe etwa Statham, Trenz 2013; Hoeglinger 2016; Hutter, Grande, Kriesi 2016. Kauppi, Wiesner 2018. Statham, Trenz 2013; Hutter, Grande, Kriesi 2016. Wilde 2011; Hoeglinger 2016. Siehe etwa Rauh, Zürn 2014; Hutter, Grande, Kriesi 2016; Statham, Trenz 2013; Hurrelmann, Gora, Wagner 2015. Hutter, Grande, Kriesi 2016. Rauh, Zürn 2014. Rauh, Zürn 2014; Hutter, Grande, Kriesi 2016) Statham, Trenz 2013. Duchesne, van Ingelgom, Frazer 2013; Hurrelmann, Gora, Wagner 2015.

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Schließlich ist dann die Frage, ob Politisierung als förderlich für a) die Demokratisierung der EU und b) den Fortgang der europäischen Integration verstanden wird. In Kapitel zwei habe ich bereits diskutiert, ob und wie Politisierung sich auf Demokratie stärkend oder schwächend auswirkt. Ich habe dazu die normativtheoretisch begründete Position vertreten, dass die Europäische Union in diesem Zusammenhang der Politisierung bedarf. In der Politisierungsliteratur überwiegen demgegenüber Bewertungen, in denen es entweder strittig ist, ob Politisierung sich positiv auf die EU auswirken wird, oder argumentiert wird, dass Politisierung die Integration gefährdet. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass diese Bewertungen aufgrund von angenommenen Wirkungszusammenhängen von Politisierung vorgenommen werden, die wiederum mit der jeweiligen Konzeption von Politisierung zusammenhängen. In den im Folgenden diskutierten Beiträgen wird das jeweils genutzte Politik- und Politisierungskonzept nicht expliziert. Es lässt sich jedoch erkennen, dass Hooghe und Marks ein systemorientiertes Verständnis nutzen, während die neofunktionalistischen Klassiker ihr Politik- und Politisierungskonzept breiter anlegen. Ein möglicher, prototypischer Wirkungszusammenhang wird von Lisbet Hooghe und Gary Marks thematisiert.58 In ihrer Perspektive führt eine abnehmende Unterstützung der Bürger/innen für die europäische Integration zu wachsender EU-Kritik, einer stärkeren Präsenz EU-kritischer Parteien, einer EU-kritischen Politisierung und letztlich zu einer Behinderung des Integrationsprozesses oder der Grundsatzkritik an der EU als Polity. Es wird also ein für die europäische Integration negativer Wirkungszusammenhang angenommen, in dem Politisierung zu einer Zunahme von EU-Kritik der Bürger/innen führt, die von EU-kritischen Parteien aufgegriffen wird, was dann letztlich eine Fortsetzung der Integration erschwert. Die EU kann in diesem Modell also politisiert werden, dies geschieht aber in kritischer und abgrenzender Weise und gefährdet damit letztlich die EU selbst. Die Folgen für die Demokratisierung der EU thematisieren Hooghe und Marks nicht direkt. Sie lassen sich aber in der skizzierten Wirkungskette kaum als positiv konzipieren: Wenn es vorwiegend Rechtspopulisten sind, die sich noch dazu kritisch gegenüber der EU als Polity aussprechen, betreiben sie tendenziell antidemokratische Politisierung gekoppelt mit einer grundsätzlichen Kritik der Polity. Hooghe und Marks legen ihrem Modell die Idee des Ende des »permissive consensus« und seines Übergehens in einen »constraining dissensus« zugrunde – dieses Ende des »permissive consensus« wird in den 1990er Jahren und den Debatten um den Maastrichter Vertrag verortet.59 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass vergleichende empirische Untersuchungen belegen, dass die 1900er Jahre nicht in dieser Form ein entscheidender Wendepunkt sind, da bereits vorher der Integrationsprozess intensiv diskutiert wurde.60

58 Hooghe, Marks 2009. 59 Siehe dazu ausführlich Kauppi, Palonen, Wiesner 2016; Kauppi 2018. 60 Hutter, Grande, Kriesi 2016.

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Die funktionalistischen und neofunktionalistischen Modelle von Politisierung der EU nehmen dagegen andere Wirkungszusammenhänge an. Drei klassische Texte der Integrationstheorie illustrieren dies.61 So gehen auch Lindberg und Scheingold sowie Haas von einem Integrationsprozess aus, in dem politische Eliten die Integration vorantreiben und Bürger/innen sie im »permissive consensus« passiv unterstützen, ohne sie zu hinterfragen oder zu politisieren. Bei Lindberg/ Scheingold und Haas kann dann das Ende des permissive consensus zu Hindernissen für die europäische Integration führen, dies bringt aber nicht notwendigerweise deren Ende mit sich: »Consequently, significant opposition and persistent social cleavage does not mean that integrative steps cannot be taken, but rather that the opportunities for blocking them are greater«.62 Ernst Haas betont, dass eine rein oder vorwiegend ökonomisch angelegte Integration an Grenzen komme, wo und weil sie die Herausbildung einer politischen Gemeinschaft erschwere. Ökonomische Unzufriedenheit könne dazu führen, dass »political opposition where non existed before« entstehe, aber auch »demands for more federal political action«.63 Philippe Schmitter64 entwirft schließlich ein Modell von Politisierung, in dem eine zunehmende Zahl von politischen Konflikten um die EU (EU integration becomes more controversial) zu einer Verbreiterung der an der EU interessierten Öffentlichkeit und intensiveren Debatten führt. In der Konsequenz, so Schmitter, werde dies zu einer Veränderung der Ziele der Integration führen. Dieses wiederum werde eine Veränderung der Erwartungen der Akteur/innen nach sich ziehen und ein Anwachsen der Loyalität gegenüber der EU. Diese Überlegungen verweisen erstens auf ein Politik- und Politisierungsverständnis, wie es den gängigen Modellen repräsentativer Demokratie zugrunde liegt. Wenn Bürger/innen mit Politikergebnissen nicht zufrieden sind, können sie diese debattieren und öffentlich kritisieren. Dieses politische Engagement kann wiederum dazu führen, dass sie sich stärker mit der in Frage stehenden Polity identifizieren. Diese Prozesse gibt es in den meisten repräsentativen Demokratien; sie können also schlicht als Normalisierung der EU-Politik und Bewegung hin auf die Standards repräsentativer Demokratie bezeichnet werden. Mit Bezug auf die Ausführungen im vorherigen Abschnitt lässt sich argumentieren, dass eine solche Normalisierung in der EU normativ wünschenswert ist. Die funktionalistischen und neofunktionalistischen Politisierungsmodelle verdeutlichen zweitens, dass Politisierung und Demokratisierung der EU sich potenziell auch positiv beeinflussen können. Sie beschreiben eine unterstützende Dynamik, in der Politisierung die Identifikation mit der EU und deren Unterstützung stärkt, einem Anstieg politischer Debatten herbeiführt – also mehr demokratische Aktivität – und letztlich eine Veränderung der Politikziele EU, wie in anderen repräsentativen Demokratien auch. 61 62 63 64

Schmitter 1969; Haas 1968; Lindberg, Scheingold 1970. Lindberg, Scheingold 1970, S. 41. Haas 1968, S. 13. Schmitter 1969.

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3.4. Vier Modelle der Politisierung der EU Die Ausführungen der funktionalistischen Klassiker haben verdeutlicht, dass verschiedene Wirkungszusammenhänge in Bezug auf die Politisierung der EU möglich sind. Für die folgende Diskussion komme ich wieder auf die Ausführungen zu Politik und Politisierung als Handlungskonzept sowie dem Verhältnis von Politisierung und Demokratie zurück. Politisierung, und auch kritische Politisierung der EU kann zunächst verschiedene Konsequenzen für den europäischen Integrationsprozess haben: 1) Die Fortsetzung eines bestimmten Kurses in der Integration auch bei sinkender öffentlicher Unterstützung 2) Die Blockade der Integration 3) Intensivere politische Debatten um die Integration und in deren Folge geänderte politische Prioritäten und/oder eine stärkere Unterstützung der EU Die Politisierung der EU kann zudem verschiedene Konsequenzen für die Demokratisierung der EU haben. Sofern sie, wie in Kapitel zwei diskutiert, demokratische Politisierung ist und die bestehenden demokratischen Räume der EU nutzt oder ergänzt, wird sie zur Demokratisierung der EU beitragen. Ist sie jedoch antidemokratische Politisierung, kann sie auf EU-Ebene die demokratischen Räume gefährden oder weiter einschränken. Eine entscheidende Frage ist dann, inwieweit auf der EU-Ebene Demokratie aktiv verteidigt wird oder werden kann.65 Diese Überlegungen führen mich zu einer Unterscheidung von vier idealtypischen Modellen der EU-Politisierung: einem optimistischen dynamischen Modell, einem optimistischen Top-down-Modell, einem pessimistischen dynamischen Modell und einem pessimistischen Top-down-Modell. Drei dieser Modelle führen zu Dynamiken, die unmittelbar förderlich für die Demokratisierung der EU sind. 1) In einem optimistischen dynamischen Modell führt die Politisierung der europäischen Integration zu stärkeren politischen Konflikten. Dies stärkt insgesamt die politische Aktivität der Bürger/innen gegenüber der EU, wirkt also demokratisierend: Eine stärkere Beteiligung der Bürger/innen an Debatten um die EU entsteht, es kommt zu einer Neudefinition bzw. Veränderung von EUPolitikzielen und in der Folge all dieser Prozesse zu einer stärkeren Unterstützung der EU durch die Bürger/innen. In diesem Modell wird auch eine Interaktion zwischen Eliten und Bürger/innen angenommen, Top-down-Dynamiken (Eliten zu Bürger/innen) können potenziell mit Bottom-up-Dynamiken einhergehen. Bürger/innen geben nicht nur Unterstützung oder entziehen diese, sie werden auch Teil der politischen Öffentlichkeit und nehmen an Debatten teil. 2) In einem optimistischen Top-down-Modell ist diese Interaktion weniger vorhanden. Politische Parteien und Massenmedien, so die Annahme hier, mobilisieren Debatten zur EU erfolgreich und in der Art, dass Bürger/innen ihre Un-

65 Dies verweist auch auf ein aktuell virulentes Problem, nämlich wie innerhalb der EU mit einer Beschneidung der demokratischen Substanz in Mitgliedstaaten wie Polen oder Ungarn umzugehen ist.

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terstützung für die EU steigern. Auch hier kann die stärkere Debattenbeteiligung als Politisierung und ebenso als demokratisierend bewertet werden. 3) In einem pessimistischen dynamischen Modell gibt es ebenfalls die Mitwirkung der Bürger/innen und zunehmende Debatten, aber diese führen nicht zu einer wachsenden Beteiligung und Unterstützung der EU, sondern zu einer sinkenden Unterstützung für die EU und einer Zunahme grundsätzlicher EUKritik. Auch hier ist aber die stärkere Debattenbeteiligung als Politisierung und ebenso als Demokratisierung zu bewerten. 4) In einem pessimistischen Top-down-Modell, wie es oben diskutiert wurde, haben Bürger/innen keine solchermaßen aktive Rolle. Sie entziehen der EU ihre Unterstützung, die EU-Kritik wird von EU-kritischen Akteur/innen und »challenger parties« aufgegriffen, und auch hier setzt sich dann eine – allerdings primär parteipolitisch organisierte – grundsätzliche EU-Kritik durch. Einzig in diesem Modell kann zwar von Politisierung der EU durch die »Challenger parties«, aber kaum von deren Demokratisierung gesprochen werden, da weder die Debattenbeteiligung größer wird, noch die Arenen der EU erweitert oder genutzt werden. Tabelle 1: Vier Modelle der Politisierung der EU Wirkungen von Politisierung

Stärkere Akteursbeteiligung

Gleichbleibende Akteursbeteiligung

Unterstützung für EU / Identifikation mit EU steigt

Optimistisches dynamisches Modell

Optimistisches Top-downModell

Unterstützung für EU / Identifikation mit EU sinkt

Pessimistisches dynamisches Modell

Pessimistisches Top-downModell

Eigene Darstellung

4. Abschließende Diskussion und Ausblick Wie eingangs ausgeführt, ist es für die theoretisch-normative wie auch die empirische Konzeption von Politisierung sinnvoll, verschiedene Ebenen zu differenzieren: die theoretische oder Makroebene, die Mesoebene und die Mikroebene. Auf der theoretisch-konzeptionellen Ebene habe ich hier einen sprechakt- und handlungstheoretisch orientierten Zugriff vorgeschlagen:66 Politisierung wird als Handlung verstanden, mit der Sachverhalte als politisch markiert werden. Auf der theoretisch-normativen Ebene habe ich unter zweitens das Verhältnis von Politisierung und Demokratie thematisiert. Unter drittens habe ich diskutiert, dass und wie Politisierung die EU demokratisieren und stärken kann. Dieser Zugriff auf Politisierung bringt mich zu dem Vorschlag, auf der Mesoebene verschiedene Formen, Kontexte und Resonanzen von Politisierung zu unterscheiden: Ein Sachverhalt kann in einem privaten, teilöffentlichen, oder öffentli66 Siehe dazu ausführlich Kauppi, Palonen, Wiesner 2016; Kauppi 2018. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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chen Kontext als politisch thematisiert werden. Versteht man Politisierung als Handlung, als Markieren von politischen Sachverhalten, beginnt sie in privaten Gesprächen. Diese können eine zentrale Basis dafür sein, Sachverhalte auch in anderen Kontexten zu politisieren, und es gibt auch umgekehrt Dynamiken, in denen sich eine in öffentlichen Debatten ausgetragene Politisierung in privaten Gesprächen widerspiegelt. So führte etwa die französische Debatte zum EU-Referendum 2005 zu einer massiven Zunahme des Interesses der Bürger/innen an der EU.67 Das Beispiel zeigt, dass sich Effekte solcher Politisierungen im Privaten durch Meinungsumfragen erfassen lassen. Ein spezifischer Kontext von Politisierung ist dabei die Benennung eines Sachverhalts innerhalb der Institutionen und Verfahren repräsentativer Demokratie. Auch diese Thematisierung kann unterschiedliche Formen annehmen – im gesprochenen Wort, in den Medien, als Aktionskunst oder als Demonstration. Diese Politisierungen können jeweils weitere Resonanz erzielen oder auch nicht. Die weitere Resonanz kann in all diesen Kontexten nun in verschiedener Weise erfolgen: durch die Mobilisierung von Akteur/innen für eine gemeinsame Sache, durch öffentliche Auftritte oder Demonstrationen, durch eine parteipolitische Thematisierung, durch soziale und klassische Medien, durch Resolutionen und Gesetzesvorlagen oder deren Beschluss. Es ist auch möglich, dass die Resonanz ausbleibt. Für die empirische Forschung bedeuten diese Überlegungen zur Konzeption von Politisierung, dass politisierende Sprechakte und Handlungen sowie ihre Resonanz explizit in die Forschung einbezogen werden müssen.68 Das Problem in der Operationalisierung eines sprechakt- und handlungstheoretischen Konzepts von Politisierung liegt dabei weniger darin, die passende Untersuchungsmethode zu finden: Fokusgruppendiskussionen sind eine Methode, mit der diese Dynamiken erfasst werden können, ebenso wie ethnographische Vorgehensweisen und teilnehmende Beobachtung, und auch Meinungsumfragen liefern fruchtbare Ergebnisse. Sinnvoll können auch die Untersuchung von lokalen und regionalen Medien sein. Die Herausforderung liegt in diesem Zusammenhang eher in der Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes – welches sind die zentralen politisierenden Handlungen, in welchen Formen, Kontexten und in Bezug auf welche Resonanzen, die betrachtet werden sollen, und warum? Abschließen möchte ich mit einem Plädoyer für eine theoretische wie auch methodologische Reflexion und Offenheit in der Untersuchung von Politisierung. Das Feld erfordert es, die theoretischen und konzeptionellen Zugänge und Hintergründe der eigenen Forschung zu klären, und es erfordert ebenso methodischen Pluralismus und die kreative Nutzung von Mixed-methods-Zugängen. Es ist zudem geboten, die drei eingangs genannten konzeptionellen Ebenen systematisch zu reflektieren. Normative Urteile sollten dabei als solche begründet werden und nicht als Nebenprodukt der empirischen Forschung erscheinen und sie sollten auf einer Reflexion der zugrunde gelegten Verständnisse von Demokratie und Politik gründen. 67 Rozès 2005; siehe ausführlich Wiesner 2014; 2015. 68 Siehe dazu Wiesner 2018.

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Zusammenfassung: Das Konzept der Politisierung wird in der Politikwissenschaft zunehmend genutzt, bleibt dabei aber oftmals wenig spezifiziert. Dieser Beitrag zielt vor diesem Hintergrund darauf, das Konzept und seine Verwendung systematisch zu diskutieren und weiterzuentwickeln, und zwar mit Blick auf die normative und theoretische Konzeption, die theoretisch-konzeptionellen Verbindungen zu zwei anderen Kernkonzepten der Politikwissenschaft, Politik und Demokratie, sowie den analytischen Fokus. Zuerst werden die entscheidenden Fragen sowie die theoretischen und konzeptionellen Schritte entwickelt, die mit der Konzeption von Politisierung verbunden sind. Darauf folgt eine Diskussion zweier unterschiedlicher, idealtypischer Politikbegriffe, die dem Konzept zugrunde gelegt werden können: a) Politik als System, Sphäre oder Feld und b) Politik als Handlungskonzept. Im Weiteren wird ein Verständnis von Politik als Handlungskonzept genutzt und argumentiert, dass Politik und Politisierung potenziell jederzeit und überall stattfinden können. Es schließt sich eine normativ-theoretisch geleitete Diskussion der Beziehung von Politisierung und repräsentativer Demokratie an. Am Beispiel von Politisierung in der Europäischen Union werden diese Überlegungen konkretisiert und eine Typologie von vier Typen von Politisierungsdynamiken entwickelt. Abschließend erfolgt ein kurzer Forschungsausblick. Stichworte: Politisierung, Demokratie, repräsentative Demokratie, anti-demokratische Politisierung, Populismus, Europäische Union, permissive consensus, Demokratisierung

Politicisation, Politics, and Democracy. Theorising and defining a complex conceptual cluster Abstract: Politicization currently is a topic and a concept that is quite much discussed in the Political and Social Sciences, but despite its frequent use, it often remains underspecified. Against this backdrop it is the goal of this article to systematically discuss and develop the concept of politicization and its usage. The main focus is set on its normative and theoretical conceptualisation, the interrelations with two other key concepts in Political Science – politics and democracy – and the analytical focus of the concept. First, key questions and theoretical steps related to conceptualizing politicization and its linkages to the concept of politics will be lined out. Two ideal-typical conceptions of politics will be discussed, i. e. a) an understanding of politics as a system, field or sphere, and b) an understanding of politics as action. The remainder of the argument is based on an action-oriented understanding of politics and politicization, arguing that politics and politicization potentially can take place anywhere and anytime. In the second section, the normative-theoretical question if, and to what extent, politicization is compatible with representative democracy will be addressed. After this, existing and possible interrelations between politicization and democracy in the EU will be conceptualized, to conclude with a typology of four types of interrelations between politicization and democracy and a short research outlook. Keywords: Politicization, democracy, representative democracy, anti-democratic politicization, populism, European Union, permissive consensus, democratization

Friedbert W. Rüb

Was ist Politik? Unentwegter Versuch, einem zentralen Begriff auf die Spur zu kommen

Was ist Politik?1 Die Frage scheint trivial, hat man doch immer eine Vorstellung von Politik, und Lexika, insbesondere der Politik, müssten zudem weiterhelfen können, um ein umfassenderes Verständnis dafür zu bekommen. Doch manchmal wundert man sich. Es gibt ein »Kleines Lexikon der Politik«, das den Begriff »Politik« nicht einmal als Stichwort führt, sondern von »Pluralismus« über »Political Correctness« zur »Politikberatung« springt.2 Dass dieses ›Lexikon der Politik‹ nur ein ›kleines‹ ist, kann das Fehlen eines Eintrages über den Begriff der Politik nicht entschuldigen. Aber es ist ein Symptom für die in der Politikwissenschaft untergeordnete Bedeutung ihres zentralen Begriffs: den der Politik. Zwar gibt es verschiedenste und erhellende Versuche, dem Begriff auf die Spur zu kommen,3 aber ein erneuter und anders akzentuierter Versuch scheint angesichts der zu geringen Berücksichtigung und der Umstrittenheit des Begriffs rechtfertigbar. Dagegen wird die Literatur über den Begriff des Politischen langsam unübersehbar und die Beschäftigung damit hat die mit dem Politikbegriff weit in den Schatten gestellt.4 Neben dem Versuch einer weiteren systematischen Klärung des Begriffs der Politik will der Artikel auch gegen dieses Ungleichgewicht angehen. Ich gehe wie folgt vor. Ich werde mit Anmerkungen zur Differenz zwischen dem Begriff der Politik und dem des Politischen beginnen und hier eine erste Unterscheidung einführen, die zugleich ein Plädoyer für das Primat des Politikbegriffs beinhaltet (1). Dem schließt sich eine Diskussion des von Max Weber geprägten Begriffs des ›Politik-Treibens‹ an, den ich in vier Untertypen unterteile, um so die wichtigsten Ausdrucksformen bzw. topoi des ›Politik-Treibens‹ identifizieren zu können, konkret: politisieren, politicking, polarisieren und paralysieren (2). Ich werde dann weiter differenzieren und die Mikrodimensionen des ›Politik-Treibens‹ begrifflich zu fassen versuchen und hierbei das Konzept von politischen Praktiken verwenden und insgesamt sieben skizzieren (3). Abschließend frage ich nach der Bedeutung unterschiedlicher Politikertypen, diskutiere hierbei die Merk1 Ich danke den beiden Herausgebern und zwei anonymen GutachterInnen für vielfältige und wichtige Hinweise, denen ich zu folgen versucht habe. 2 Nohlen, Grotz (Hrsg.) 2011, S. 425. 3 Selbstverständlich kann man in verschiedenen Lexika (nicht nur der der Politik) lesenswerte Einträge finden; vgl. etwa Sellin 1978; für die politikwissenschaftlichen Lexika etwa Dörner, Rohe 1995; Riescher 1995; Schmidt 2010; Kreide, Niederberger 2012. Grundlegend zur Politik statt vieler Noack 1973; Sartori 1973; Palonen 1985; Luhmann 2000; Meyer 2003. 4 Vgl. etwa Bedorf, Röttgers (Hrsg.) 2010; Bröckling, Feustel (Hrsg.) 2009; Marchart 2010; Mouffe 2007. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020, S. 65 – 91

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male von Dämonen, Demagogen, Staatsmännern, Helden des Rückzugs (H. M. Enzensberger), Amtsinhabern und schließlich von Hinterbänklern und frage, wie sie jeweils Politik treiben (4). Eine knappe Zusammenfassung schließt meine Überlegungen ab (5). 1. Politik und der Begriff des Politischen Politik ist heute immer »neuzeitliche Politik«.5 Dadurch unterscheidet sie sich von einer wesentlich normativ geprägten Begrifflichkeit, die bei Aristoteles ihren Ausgangspunkt nimmt,6 die Realisation eines Gemeinwohls, eines vorausbestimmten ›Guten‹ oder präexistenter Normen meint und bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dominierte. Der neuzeitliche7 Politikbegriff – nur um den soll es hier gehen – ist dagegen durch bestimmte Stile, Praktiken, Gewohnheiten und Verhaltensmuster gekennzeichnet, die erst im 20. Jahrhundert vorherrschend wurden, und operiert mit ebenso neuzeitlich spezifizierten Ideologien, Ideen, Denkmustern oder Praktiken. Heute dominiert ein offener Politikbegriff, in dem das politisch zu Entscheidende kontingent ist und dessen Konturen sich erst am Ende konflikthafter Prozesse herauszuschälen beginnen. Die grundsätzliche Variabilität und Offenheit der Politik ist das zentrale Kennzeichen heutiger Politik, sei sie demokratischer oder – wenn auch erheblich eingeschränkter – diktatorischer Art. Allein in den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts, sei es das der Nationalsozialisten, der Stalinisten oder anderer totalitärer Regime, war diese Offenheit gegen Null geschrumpft. Was sind aber nun die Grundprämissen dieser neuzeitlichen Politik und ab wann beginnt dieser Politikbegriff in den modernen, neuzeitlichen Gesellschaften zu dominieren? 1.1 Die historischen und systematischen Voraussetzungen der neuzeitlichen Politik Neuzeitliche Politik ist erst im Übergang von 19. zum 20. Jahrhundert in aller Deutlichkeit hervorgetreten und ihr liegen vier zentrale Prämissen zugrunde:8 (a) Die Säkularisierung entzieht den bisherigen Gesellschaften nun endgültig ihren unhinterfragten Boden der Gemeinsamkeit, der auf kollektiv geteilten kulturellen, religiösen oder alltäglichen Verhaltensmustern beruhte. Alle diese Gemeinsamkeiten verdampfen und alles muss sich nun der unvermeidlichen Begründbarkeit aussetzen. Nicht nur Gott ist tot, wie Nietzsche es formuliert hatte, sondern alle bisher unhinterfragt geteilten Grundnormen sind ›tot‹. Allein Politik kann »jenes funktional notwendige Maß an Wertgemeinschaft erzeugen […], dessen die 5 Oakeshott 2000, bes. S. 16. 6 So etwa Hannah Arendt; vgl. Arendt 1993. 7 Ich setze hier aus pragmatischen Gründen neuzeitlich und modern gleich, wobei klar ist, dass die wissenschaftlichen Begriffe der Moderne bzw. der modernen Politik andere Zeiträume markieren als der hier als neuzeitlich gekennzeichnete. 8 Vgl. dazu von Beyme 1992; Oakeshott 2000; Greven 2009.

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gesellschaftliche Reproduktion und die Politik selbst bedarf.«9 Die Standards und Normen, unter denen Politik betrieben wird, werden von ihr selbst entschieden. Die »Fesseln und Bremsen«,10 mit denen sie sich in Demokratien selbst beschränkt, oder die ›Entfesselung‹, mit denen sie im Totalitarismus ihre Reichweite und Tiefendimensionen bis ins Grenzenlose ausdehnt, sind das Ergebnis der Politik selbst. Verfassungen werden neu geschrieben oder im Rahmen gegebener Regeln verändert, Institutionen erschaffen oder zerstört, Rechte und Freiheiten einoder bei Seite geräumt – der Politik sind im Prinzip keine Grenzen gesetzt. Alles ist politisierbar geworden und selbst die Autonomie gesellschaftlicher Teilsysteme – sei es die Ökonomie, die Wissenschaft, die Religion, die Kultur oder was auch immer – kann ihnen durch die Politik entwendet werden, wie umgekehrt die Gewährung von Autonomie eine politische Entscheidung ist. (b) Der Begriff des Interesses beginnt den der Leidenschaften schon im 17. und 18. Jahrhundert zwar nicht völlig, aber dennoch abzulösen und ist heute der Kernbegriff neuzeitlicher Rationalität und Politik geworden.11 Interessen sind rational begründbar und meist langfristig orientiert, sie machen das Handeln von Menschen erwart- und damit in gewisser Hinsicht vorhersehbar, da man weiß, was eine Person bei Kenntnis ihres Interesses will. Das eigene Handeln und das aller Anderen wird kalkulierbar und Interessen sind dem Kompromiss leichter zugänglich als Leidenschaften oder ideologische Positionen.12 Die Dominanz des Interesses hat zugleich eine nach ›innen‹ gewandte Wirkung: Sie zivilisiert die Menschen in ihrem Verhalten und übt eine verstärkte Selbstkontrolle aus, die alle Bereiche des sozialen Lebens berührt. Norbert Elias hat dies in seinem »Prozess der Zivilisation« ausführlich beschrieben und zugleich weitere Veränderungen im Blick gehabt, v. a. die des Staatsapparates.13 Trotz der Dominanz von Interessen bleibt ein normativ oder leidenschaftlich inspiriertes Handeln ein nach wie vor nicht zu vernachlässigender Motor sozialer und politischer (Inter)Aktionen; auch Ideologien sind – wie die totalitären Regime verdeutlicht haben – aus der Politik nicht völlig verschwunden. (c) Die moderne Staatlichkeit, insbesondere der moderne Wohlfahrtsstaat, ist im Vergleich zu den beiden anderen Entwicklungen historisch betrachtet ein späteres Phänomen. Während der liberale Rechtsstaat in Deutschland bereits im 19. Jahrhunderts entstanden ist, hat der Wohlfahrtsstaat seine Konturen erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts ausgebildet. Wohlfahrtsstaatlichkeit signalisiert wie keine der beiden anderen Ideen das Prinzip der politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft. Alle modernen Wohlfahrtsstaaten – gleich welchen Typs14 – verdeutlichen 9 10 11 12 13 14

Greven 2009, S. 36. Offe 1989. Vgl. dazu und zum folgenden etwa Hirschman 1970. Greven 2009, S. 50. Elias 1976 [1939]. Zu den unterschiedlichen Typen von Wohlfahrtsstaaten immer noch grundlegend Esping-Anderson 1990.

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dies und machen deutlich, dass neuzeitliche Politik tief in die Dynamiken der modernen Gesellschaften eingreift. Sie kann individuelle und politische Freiheits- und Beteiligungsrechte ebenso institutionalisieren wie Regelungen der Arbeitsbeziehungen bzw. der Lohngestaltung und so massiv in wirtschaftliche Beziehungen intervenieren; sie kann Institutionen bauen, die zentrale soziale Risiken absichern, wie Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Pflege; sie kann in Bildung, die technische Infrastruktur, die Verkehrsstrukturen o. Ä. investieren – oder eben nicht. (d) Die Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft ist die letzte der vier Entwicklungen und beruht auf der Prämisse, dass nun im Prinzip alles politisierbar und damit politisch entscheidbar ist. Alles – ein kleines Wort, das viel umfasst. Es bedeutet zunächst eine Politisierung ›von unten‹, die verschiedene Formen annehmen kann. In rechtsstaatlichen Demokratien haben die Mitglieder der Gesellschaft den vollen Staatsbürgerstatus, also die individuellen und demokratischen Freiheits-, die politischen Partizipations- und schließlich die sozialen Teilhaberechte. Alle drei Rechtspositionen ermöglichen ihnen eine umfassende politische Beteiligung ebenso wie eine umfassende Politisierung. In nicht-demokratischen Staaten, v. a. aber in den totalitären, kann man ebenfalls eine Mobilisierung, vielleicht sogar ›totale Mobilmachung‹, der Gesellschaftsmitglieder beobachten, die auf nichtrechtsstaatlicher Basis operiert und die Massen oder Klassen einbezieht, die von politischen Führern ›von oben‹ aktiviert werden und zugleich anderen Gruppen ihre Rechte verweigern, bis hin zu deren systematischer Tötung. Eine Politik der Gewalt, ja der Auslöschung von sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppen dominiert dann, während Fundamentalpolitisierung im Kontext liberal-demokratischer Staaten durch (verfassungs)rechtliche (Selbst-)Bindungen vor solchen Praktiken geschützt ist. Dies sind die zentralen vier Voraussetzungen, auf denen neuzeitliche Politik aufsitzt und zugleich die ungeheuerlichen Ausmaße des 20. Jahrhunderts annehmen konnte. Demokratische und diktatorische Politik sind allein zwei ihrer Unterformen, die sich gleichwohl hinsichtlich ihres Anspruchs und ihrer Politikformen fundamental unterscheiden.15 Die Politik kann alles – dies ist die bestürzende Erkenntnis über den Charakter der neuzeitlichen Politik: Sie kann durch organisierte Genozide eine unvorstellbar große Anzahl von Menschen töten oder gerechtere Gesellschaften aufbauen – eben weil alles möglich ist. Das destruktive Element der Politik kann nur die Politik selbst aus sich herausnehmen und die Mechanismen hierfür sind bekannt: Auf der Institutionenebene über Gewaltenteilung, (verfassungs)rechtliche Garantien der Freiheits-, Beteiligungs- und sozialen Rechte und Verfahren der politischen Willensbildung, die die Kontrolle der Herrschenden durch eine Politik ›von unten‹ möglich macht. Auf der Konfliktebene durch eine am Kompromiss orientierte und entideologisierte Politik, aber auch durch eine Politik des Beschweigens, die bestimmte Sachverhalte nicht zu ihrem Gegenstand macht, sondern durch Schweigen entpolitisiert. Auf der Gestaltungsebene durch die Pluralität normativer Ori15 Greven 2009, S. 71.

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entierungen, an denen sich einzelne politische Entscheidungen orientieren. Sollen die sozialen Differenzen eingeebnet werden oder nicht? Sollen bestimmte Gruppen besser integriert werden oder nicht? Sollen ökonomische Dynamiken abgeschwächt werden oder nicht? Dies sind nur einige Fragen, die eine Politik der Gestaltung zu bearbeiten hätte – in welcher Richtung auch immer. 1.2 Politik und kollektiv bindendes Entscheiden Wie könnte man nun – in aller Kürze und aller möglicher Verkürzung – neuzeitliche Politik in einer ersten Annäherung begrifflich fassen? Politik könnte die Gesamtheit all der Aktivitäten sein, die auf die Vorbereitung, Legitimation, Herstellung und Durchführung gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen abzielen und die die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche zu regeln versuchen.16 Jede politische Entscheidung wird (a) vorbereitet, sie wird nicht aus dem Nichts getroffen. Verwaltungen, politische Parteien, gesellschaftliche Gruppierungen und oft auch die Wissenschaft treten mit unterschiedlichen Optionen in den Raum des Öffentlichen und konkurrieren um deren Anerkennung. Aber schließlich muss eine bewusste Wahl aus mehreren möglichen Optionen getroffen werden, wobei der Wahlakt eine situative Kontingenz auslöst, weil im Unterschied zur einfachen Handlung eine Entscheidung ihre eigene Kontingenz thematisiert.17 Denn sie hätte im Hinblick auf andere mögliche Entscheidungen auch anders ausfallen können, weil es keine grundlegenden Gewissheiten für die eine gegen die andere gibt. Aber auch Nicht-Entscheidungen (wie etwa Probleme ›aussitzen‹) werden so zu Entscheidungen. Zudem bedarf – vor allem in Demokratien, aber auch in nicht-demokratischen Regimen – jede Entscheidung ihrer (b) Legitimation. Es müssen (gute) Gründe für die jeweilige Option angeführt werden, um sie in der Konkurrenz zu anderen Optionen argumentativ überzeugend zu rechtfertigen; oder es müssen Machtpositionen vorhanden sein, um sie als die ›mächtigere‹ durchsetzen zu können. Gerade in nicht-demokratischen Staaten legitimiert sich die Politik zwar auch über Gründe, aber hier dominiert die herausgehobene Machtposition einer Gruppe, die ihre Position im Zweifelsfall mit Gewalt durchsetzt. Die prinzipielle Mehrdeutigkeit von politischen Entscheidungssituationen lässt sich zwar durch Wissen bzw. wissenschaftliche Politikberatung reduzieren, aber nicht endgültig auflösen. Immer bleibt eine Lage bzw. ein Problem mehrdeutig und die Festlegung auf eine Option setzt Macht voraus, um andere Optionen in einen minderen Status zu versetzen. Aber jede Option muss sich legitimieren und in Demokratien gibt es für die Rechtfertigung von politischen Optionen (verfassungs)rechtlich garantierte Verfahren, die den konkurrierenden Akteuren Möglichkeiten eröffnen, die Legitimität einer Option zu bezweifeln. Zudem muss eine Option (c) hergestellt werden, indem die von vielfältigen Akteuren formulierten Optionen in eine verbindliche Entscheidung überführt werden, die in einer dafür 16 Dazu und zum Folgenden: von Beyme 1992; Rohe 1994; Schimank 2005, bes. S. 44-52; Rüb 2011. 17 Vgl. dazu umfassend und früh Luhmann 1984. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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vorgesehenen Institution, in der Regel der Legislative, getroffen wird. Aber auch einzelne Akteure, wie etwa der Staatspräsident, können in bestimmten politischen Regimen verbindliche Entscheidungen treffen. Dies gilt insbesondere auch für autoritäre und totalitäre Regime, denn hier sind die Zuständigkeiten und Kompetenzen meist unklar und oft in einer Person konzentriert. Schließlich muss eine Entscheidung (d) implementiert werden, sie wird nicht von selbst zur gestaltenden Kraft. In der Regel sind hierfür Verwaltungen bzw. Bürokratien zuständig, die eine in Recht gegossene Entscheidung praktisch machen und sie in gesellschaftliche Wirklichkeit ›übersetzen‹. Aber die Politik entscheidet über die Strukturen und Prozeduren und damit über die Effektivität der Verwaltungstätigkeit. Jede politische Entscheidung interveniert in den zeitlichen Ablauf der Geschichte, indem sie den unveränderten Lauf der Dinge nicht akzeptiert, sondern ihn ändern und durch ihre Entscheidungen in der Gegenwart die Zukunft gestalten will. Durch politische Dauerinterventionen entstehen gesellschaftliche Ordnungsmuster, die sehr stabil, aber gleichwohl durch Politik prinzipiell änderbar und deshalb kontingent sind. Politik ist zudem immer auch ein intensiver Kampf um Anteile an politischer Macht, bei dem individuelle und kollektive Akteure mit fairen oder unfairen Mitteln um Machtanteile kämpfen, um so ihre programmatischen Vorstellungen zur Gestaltung der Gesellschaft umzusetzen oder um den schieren Genuss der Macht auszukosten.18 Schließlich kann Politik auch über ihre eigenen Regeln entscheiden, weil sie nicht nur die Verfassung selbst, sondern auch alle anderen politisch bedeutsamen Institutionen und Spielregeln ändern kann. Verfassunggebung ist dagegen ein Grenzbereich des politischen Handelns, in dem nur äußerst selten, aber dennoch entschieden wird: Nämlich über die grundlegenden Regeln, unter denen sich die Politik vollziehen soll. 1.3 Der Gegenbegriff zur Politik: Der ›Begriff des Politischen‹ Was meint dagegen der Begriff des Politischen? Er scheint uns heute so selbstverständlich, dass sich eine, vielleicht die zentrale Frage fast überhaupt nicht mehr stellt: Wie kam es – aus ideengeschichtlicher Perspektive betrachtet – dazu, dass diese Differenz, manche nennen sie die politische Differenz,19 zwischen der Politik und dem Politischen eingeführt wurde? Auch hat der Begriff Anfang der achtziger Jahre eine Renaissance in der politischen Theorie erfahren und ist bis heute Gegenstand heftiger Kontroversen.20 Indem man über das Politische spricht, will man gerade nicht von der Politik sprechen, sondern über etwas ganz anderes.21 18 Weber 1992 [1919], S. 14. 19 Vgl. etwa Marchart 2010; andere sprechen von einer »Leitdifferenz«, wie etwa Bedorf 2010, S. 15. 20 Auf diese Kontroversen und Differenzierungen im Begriff des Politischen kann ich hier nicht ausführlich eingehen; vgl. dazu aber etwa Bedorf, Röttgers 2010; Bröckling, Feustel 2009; Marchart 2010; Mouffe 2007, um nur einige der wichtigsten Beiträge zu erwähnen. Kritisch und sehr erhellend dazu Vollrath 2003; Hirsch 2007. 21 »Indem wir von dem Politischen sprechen, wollen wir gerade nicht die Politik bezeichnen« - so Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy, die diese Diskussion im Jahr

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Und die Frage stellt sich: Was genau ist dieses ganz andere? Was markiert und was negiert es? Der »Begriff des Politischen«22 von C. Schmitt aus dem Jahr 1927 kann unschwer als Gegenschrift zu den Schriften von A. E. F. Schäffle, K. Mannheim und M. Weber gelesen werden,23 die sich zuvor mit der Politik beschäftigt hatten. Ihre Politikvorstellungen, wenn auch im Einzelnen unterschiedlich akzentuiert, waren von der Idee der Kontingenz geprägt. C. Schmitt legte sich aber auf einen anderen Hauptgegner, besser Hauptfeind, fest: den Rechtswissenschaftler H. Kelsen, zu dem in vielen anderen Schmitt’schen Schriften ein zweiter hinzutritt: der britische Politologe H. Laski als Vertreter einer modernen, demokratisch inspirierten Pluralismustheorie. Diese radikal-positivistischen Positionen des Staats- und Gesetzesbegriffs standen im Mittelpunkt des Schmitt’schen Angriffs.24 Für H. Kelsen war alles Recht, was in rechtlich vorgesehenen Verfahren entschieden wurde. Damit wurde das Recht radikal kontingent, es konnte so oder auch anders gesetzt werden und entbehrte jeglicher substantieller Aufladung. (Wechselnde) Mehrheiten entscheiden über das Recht und es ist an keine vorgegebenen oder gar übergesetzlichen Normen oder Instanzen rückgebunden. Der rechtliche und demokratische Relativismus kann nicht zu einer ›richtigen‹ oder gar ›wahren‹ Entscheidung kommen, sondern besitzt immer nur eine relative bzw. kontingente Wahrheit. Demokratien beruhen darauf, dass die Mehrheitsposition kontingent ist in dem Sinne, dass die Minderheit zur Mehrheit werden und dann ihre Positionen durch verbindliche Entscheidungen realisieren kann. Gegenüber der prinzipiellen Offenheit, grundlegenden Unentschiedenheit und auch Grundlosigkeit der Politik setzte Schmitt einen Begriff, der Kontingenz vernichtet und eine existentielle, im Kern tödliche Entscheidung einforderte. Es ist die Unterscheidung zwischen Freund und Feind, die eine unversöhnliche Dichotomie postuliert: »Das Politische kann seine Kraft aus den verschiedensten Bereichen menschlichen Lebens ziehen, aus religiösen, ökonomischen, moralischen und andern Gegensätzen; es bezeichnet kein eigenes Sachgebiet, sondern nur den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen, deren Motive religiöser, nationaler (im ethnischen oder kulturellen Sinne), wirtschaftlicher oder anderer Art sein können und zu verschiedenen Zeiten verschiedene Verbindungen und Trennungen bewirken.«25

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1981 erneut begonnen haben; zit. nach Bedorf 2010, S. 14. Umgekehrt begreift etwa E. Vollrath das Politische als »Modalität von Politik« (Vollrath 2003, S. 10) und auch er macht sich stark für eine Differenzierung der beiden Begriffe, auch wenn er dies sehr anders begründet als in dem hier vorliegenden Text. Schmitt 1927; es folgen dann weitere, zum Teil erheblich veränderte Auflagen, bis dann die dritte eine Anbiederung an den Nationalsozialismus wird (Schmitt 1933) und für C. Schmitt einen – allerdings nur kurzfristigen – Aufstieg in diesem Regime mit sich bringt. Vgl. etwa Schäffle 1897; Mannheim 1929; Weber 1992 [1919]. Vgl. zum Folgenden v. a. Kelsen 1922; 1934. Schmitt 1963 [1932], S. 38-39. Zur Kontingenz der Feindbestimmung siehe die Einleitung in diesem Sammelband.

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Die Dichotomie von Freund und Feind entsteht allein durch den Intensitätsgrad einer Dissoziation oder Assoziation, die nicht gegeben ist, sondern durch bestimmte Festlegungen, Bestimmungen und (politische) Aktionen erst entsteht. Der Feind ist nicht nur politischer Gegner, er ist mehr. Er ist der existentiell Andere und der Krieg eine Erscheinungsform der Feindschaft. Politik ist etwas für Schwätzer, Diskutierer, Sich-Nicht-Entscheiden-Könnende, eigentlich für Feiglinge oder – wie C. Schmitt sie nennt – für Occasionalisten. Die existentielle FreundFeind-Entscheidung dagegen vernichtet alle Unentschiedenheit und fordert, ja erzwingt eine klare und fundamentale Positionierung. Heute geht ein Teil der Politikwissenschaft und der politischen Theorie davon aus, dass im post-fundamentalistischen Zeitalter ebenfalls keine übergreifenden Gemeinsamkeiten und keine letzten Gründe mehr zur Verfügung stehen. Das Politische wird dabei als ein disruptives Moment begriffen, in dem die Weichen für eine neue politische Ordnung gestellt werden und die Gesellschaft selbst auf ein völlig neues Gleis gesetzt wird. Die bisherigen Verteilungsregeln, Machtdynamiken und institutionalisierten Handlungsmuster werden unterbrochen und eine neue Grundstruktur der politischen Gesellschaft instituiert. Der immer konflikthafte Normalbetrieb der Politik wird gestoppt und in eine Situation überführt, in der es ums Ganze geht, um eine fundamentale, dem Kompromiss nicht mehr zugängliche und deshalb potenziell gewaltsam ausgetragene Entscheidung. Der Begriff des Politischen stellt zudem auf eine besondere Form der Bearbeitung von Konflikten ab. Das Politische »(entkommt) dem Zugriff sozialer und politischer (systemischer) Domestizierung.«26 Was auch immer mit ›Domestizierung‹ gemeint sein könnte, das Politische wird als ein Zustand beschrieben, in dem andere Regeln der Konfliktaustragung gelten als in der ›normalen‹ Politik. Es findet folgerichtig eine Eskalation der Intensität statt, die sich letztlich immer in unmittelbarer Gewalt bis zur Tötung ausdrücken kann. Dies wird in der notwendigen Schärfe oft nicht thematisiert. »Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft« – das sind nach C. Schmitt die zentralen Motivstrukturen in der Situation des Politischen, um die auf der »Feindesseite stehenden Menschen zu töten.«27 Zudem gibt es nach Schmitt noch »zahlreiche sekundäre Begriffe von ›politisch‹«,28 denn man kann von Religions-, Schul-, Kommunal- und Sozialpolitik ebenso sprechen wie von staats- und parteipolitischen Haltungen. Dann entwickeln sich noch »weiter abgeschwächte, bis zum Parasitären und Karikaturhaften entstellte Arten von ›Politik‹, in denen von der ursprünglichen Freund-Feind-Gruppierung nur noch irgendein antagonistisches Moment übriggeblieben ist, das sich in Taktiken und Praktiken aller Art, Konkurrenzen und Intrigen äußert und die sonderbarsten Geschäfte und Manipulationen als ›Politik‹ bezeichnet.«29

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Marchart 2010, S. 27. Schmitt 1963 [1932], S. 46. Ebd., S. 30. Ebd.; Herv. im Original.

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Die Politik ist hier gegenüber dem Politischen nicht nur minderwertig, sondern auch verachtenswert. Sie regelt Banales, das Politische dagegen Fundamentales. Es wirkt wie ein »Sprengsatz gegenüber seiner Einengung durch die Politik« – wie A. Negri formuliert.30 Das Politische ist dann nicht nur eine Revolution, sondern eine Art permanente Revolution, die gegen die Politik als Einengung des Politischen dauerhaft und vor allem potenziell gewaltsam rebelliert. Könnte man von der Seite des Politikbegriffs ausgehend eine asymmetrische Begriffsbildung versuchen, die das Politische in einen minderen Rang versetzt oder den Begriff selbst überflüssig macht? Ein entsprechender Begriff könnte eine Politik der Gewalt oder gar eine Politik der Tötung sein, die sehr unterschiedliche Formen annehmen können. Denn ›das Politische‹ als existentielle Entscheidungssituation ist letztlich unhintergehbar eine Situation der Gewalt. Zwei unvereinbare Positionen – die von Freund und Feind – kämpfen einen existentiellen Kampf, in dem die eine Seite nur vollständig siegen und die andere nur vollständig verlieren kann. In einem solchen Konzept wären z. B. verschiedene Ausprägungen von (Bürger)Kriegen als Subtypen einer Politik der Gewalt zu fassen, ohne dass man auf den Begriff des Politischen zurückgreifen müsste. Vor allem wäre die binäre und asymmetrische Gegenüberstellung der Begriffe der Politik und des Politischen überwunden und die damit verbundene politische Differenz verschwunden, ohne dass man einen Verlust an analytischer Präzision erleiden müsste. 2. ›Politik-Treiben‹: Über die verschiedenen Spielarten der Politik Wenn nun der Politikbegriff eine ganze Bandbreite von Spielarten umreißt, von der Politik der Tötung bzw. der Gewalt bis hin zur Politik des Frieden-Schaffens, kann man dann eine systematische Eingrenzung vornehmen, die gleichwohl ihre wichtigsten Modi erfasst? Ich will eine – zugegeben – relativ grobe und abstrakte Kategorisierung vornehmen, mit der ich dennoch die wichtigsten Ausdrucksformen (topoi) des neuzeitlichen ›Politik-Treibens‹31 zu erfassen versuche. Zunächst (a) politisieren als all die Tätigkeiten von Akteuren, die einen bisher nicht-politischen Gegenstand zu einem politischen machen wollen. Ein bestimmter Sachverhalt, ein Thema oder ein ›Problem‹ soll politisch ›bespielbar‹ gemacht, auf die politische Agenda gesetzt und darüber eine verbindliche Entscheidung getroffen werden. Der ›Wert‹ eines zu politisierenden Sachverhaltes wird von den Handelnden nicht allein wegen des Inhalts bzw. seiner Problemladung festgelegt, sondern auch nach seinen möglichkeitsöffnenden Potentialen, was Stilfragen und 30 Zit. nach Straßenberger, Münkler 2016, S. 31. 31 Neben ›Politik treiben‹ sind bei Weber noch zwei andere Verben zentral, nach ›Macht streben‹ und ›dicke Bretter bohren‹. Es sind von konkreten Zwecken unabhängige Aktivitäten, die allein in der Änderung des Status Quo ihren Sinn finden, also dem Öffnen von Chancen, der Suche nach neuen Möglichkeiten und/oder der Veränderung der institutionellen und anderer Rahmenbedingungen; vgl. Weber 1992 [1919], bes. S. 7, 14, 51, 82. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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symbolisch-ästhetische Ausdrucksformen in die Politik eindringen lässt und die Relativität und damit die Kontingenz von Optionen steigert. Politisierung kann verschiedene Formen annehmen: In einer quantitativen Dimension ist es zunächst die schiere Ausweitung der Themen, die in der politischen Auseinandersetzung um Anerkennung kämpfen und von bestimmten Interessen auf die Agenda gesetzt werden wollen. In einer qualitativen Dimension kann man fragen, ob Politik aktiv gestaltend in die sozialen und gesellschaftlichen Dynamiken eingreifen und so die Zukunft durch gegenwärtige Entscheidungen gestalten soll oder ob sie reaktiv operieren und die Folgen von Entscheidungen, die von Anderen und an anderen Orten getroffen wurden, zu kompensieren versuchen soll. In einer institutionell-organisatorischen Dimension verändert die Politik ihren eigenen Handlungskontext, indem sie zum Beispiel über die Zu- oder Abnahme ministerieller Portfolios oder über Umstrukturierungen politischer Verantwortlichkeit im Regierungs- und Verwaltungsapparat entscheidet. Entpolitisieren wäre dann die entgegengesetzte Tätigkeit, die das Politisieren von bestimmten Sachverhalten verhindern oder sie von der politischen Agenda verschwinden lassen will. Statt verbindlicher Entscheidungen müssten dann andere Handlungsmuster bestimmte Sachverhalte regeln, seien es Marktprozesse, evolutionäre Dynamiken, wissenschaftliche Expertise, Ignoranz o. Ä. Politik bedeutet auch (b) Politicking. Der nur schwer übersetzbare Begriff32 bezeichnet all die politischen Handlungen, die reine Performanz sind und ihren Wert allein im Spielen des politischen Spiels finden. Politicking zielt nicht auf ein Ergebnis, auf eine Entscheidung, die ein Problem lösen oder die gesellschaftliche Ordnung in diese oder jene Richtung verändern soll. Stattdessen liegt der Wert einer politischen Aktion in der Beurteilung durch andere Beobachter, sei es die politische Opposition oder andere Gegner, sei es das politische Publikum oder die medial inszenierte öffentliche Meinung.33 In einem solchen Kontext sind Policies keine Lösungsangebote, mit denen man auf problematische Sachverhalte reagiert, sondern »Schachzüge, die gegebenenfalls Konstellationen verändern, Fragestellungen umwerfen oder zur Umformulierung des Vokabulars herausfordern.«34 Politischer Opportunismus ist dann erstens eine unvermeidliche Erscheinungsform des immer situativ ausgeübten Politicking. Zweitens kann es sich in Status-, Kompetenz- und Eitelkeitskonflikten innerhalb der politischen Klasse ausdrücken und hierbei verschiedene Formen annehmen. Und drittens und unvermeidlich hat es eine medial inszenierte Selbstdarstellung zur Folge, in der symbolische, theatralische und dramatische Aspekte eine große Rolle spielen. Dies alles wird erst im Laufe des 20. Jahrhunderts deutlicher, weil die mediale Dimension eine immer größere Bedeutung bekommt. Die gegen32 Im Deutschen ist allein der Weber’sche Begriff des »Politik-Treibens« angemessen, im Französischen »faire de la politique«. Neben dem Englischen »politicking« hat auch das Finnische eine eigene Verbform, nämlich »politikoida«; vgl. dazu Palonen 2003, S. 4. 33 Palonen 1998, S. 336. 34 Ebd., S. 335.

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läufigen Politiken, die des Entpoliticking, wären dann all die Aktivitäten, die das ›reine Spiel‹ in ernsthafte Politik zurückführen wollen, bei der es dann wieder um grundlegende Gestaltungsentscheidungen geht oder um die sachorientierte Bearbeitung von politischen Problemen. (c) Polarisieren ist eine Form der Politik, die Gegensätze und Konflikte zu radikalisieren bzw. zu eskalieren versucht. Während Politisierung allein die Aktivitäten beschreibt, die das ›politisch Bespielbarmachen‹ eines Gegenstandes umfassen, bedeutet Polarisierung etwas anderes. Es geht um die bewusst vorangetriebene Eskalation von Konflikten und – im Extremfall – um die Einführung von Gewalt in die Politik. Nicht Politisierung als solche, sondern radikale Intensivierung ist das Ziel dieser Aktivität. Politik mutiert dann potenziell zur Politik der Gewalt, die verschiedene Ausdrucksformen finden kann. Der Krieg – sei es der ›normale‹ zwischenstaatliche oder der innerstaatliche Bürgerkrieg – wäre dann die intensivste Ausdrucksform von Polarisierung, ebenso wie Vertreibung oder Auslöschung ganzer sozialer, ethnischer oder politischer Gruppen. Das Befrieden durch Politik – das Entpolarisieren – ist die entgegengesetzte Tätigkeit, die die Umwandlung von gewalttätigen Konflikten in friedlich regelbare Konflikte bedeutet. Friedensschlüsse jeder Art, Verfassunggebung oder Institutionenbildung, die Regeln für eine friedliche Austragung von Konflikten festlegen, und die Deeskalation von Konflikten sind die wichtigsten ihrer Ausdrucksformen. Sie schreiben den beteiligten Akteuren Rechte und Pflichten zu, die diese verbindlich einhalten müssen. D. Sternberger sah in der Befriedung bzw. im Frieden den Grund, das Merkmal und die Norm aller Politik.35 (d) Und schließlich umfasst paralysieren all die politischen Handlungsmuster, die einen politischen Gegner entmächtigen und ihn in seinem Aktionsmodus eindämmen oder lähmen wollen. Politik kann beispielsweise versuchen, die Wirkungen einer gegnerischen Kampagne abzuschwächen oder wirkungslos zu machen. Analoges gilt selbstverständlich auch im militärischen Bereich, indem man den Feind durch Kampagnen, Propaganda oder gar Falschmeldungen zu schwächen versucht. Eine verlorene Entscheidungsschlacht kann dieselben paralysierenden Wirkungen haben wie eine vernichtende Niederlage in einem bedeutsamen Wahlkampf um Anteile an politischer Macht. In der Politik ist sicherlich die Paralyse der Macht eines Machtträgers am wichtigsten, die man durch kluge Gegenstrategien bzw. -taktiken oder durch Ignoranz erreichen kann. Entparalysierung versucht durch den Verweis auf historische Größe, auf zurückliegende Erfolge oder auf vergangene, gleichwohl erfolgreiche Wahl- oder andere politische Kämpfe sich neue und zukunftsweisende Kräfte zukommen zu lassen. Mit diesen vier Begriffen wären die wichtigsten Spielarten der Politik umschrieben, ohne dass sie Vollständigkeit beanspruchen könnten. Aber wie werden diese durch welche Mikropolitiken in Gang gesetzt?

35 Sternberger 1984; 1986. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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3. Die Mikrodimensionen des ›Politik-Treibens‹: Das Konzept politischer Praktiken Bei der Realisation der oben beschriebenen vier topoi der Politik werden verschiedene politische Praktiken eingesetzt. Die im Folgenden erwähnten sieben sind prinzipiell in allen Spielarten der Politik vorzufinden, aber sie treten – je nach Topos – in verschiedenen Kombinationen und zeitlichen Ablaufmustern auf. Als politische Praktiken36 kann man all die repetitiven Prozesse eines Politikfeldes oder einer Organisation fassen, die (a) in einem institutionalisierten Kontext ausgeübt werden, der Grenzen und Möglichkeiten vorgibt, die einen vorgegebenen, gleichwohl handlungsoffenen Rahmen durch (b) Rezepte, Routinen, Grammatiken, Gewohnheiten, regelmäßig wiederkehrendes Tun etc. ausfüllen und so (c) das politische Handeln im Zeitverlauf und in einem institutionalisierten Raum erwartbar strukturieren, wobei diesen Routinen (d) durch ein geteiltes Wissen Plausibilität und Sinn zugeschrieben wird und die (e) nicht Selbstzweck, sondern immer angemessene Reaktionen auf bestimmte, aber im Prinzip umstrittene und mehrdeutige Situationen und Ereignisse sein sollen und schließlich (f) durch körperliche performances begleitet werden, die eine Wirkung erzielen sollen. Grundsätzlich kann man eine fast unüberschaubare Vielzahl von politischen Praktiken beobachten. Ich konzentriere mich im Folgenden allein auf politische Praktiken, die dem Politik-Treiben Gestalt geben und skizziere insgesamt sieben basale Praktiken, die selbstverständlich nicht das gesamte Spektrum abdecken, aber für das ›Politik-Treiben‹ zentral sind. (i) Abstimmen ist im politischen Prozess in den verschiedensten Formen weit verbreitet. Es ist entscheidungsorientiert und nun zählt nicht mehr die Kraft des besseren Arguments oder die Kraft einer Organisation, sondern die Anzahl der Hände. Abstimmungen im Kabinett, in den Fraktionen, in Versammlungen oder im Verfassungsgericht beenden einen Prozess und legen die beteiligten Akteure für eine gewisse Dauer auf eine (kontingente) Option fest. Probeabstimmungen und namentliche Abstimmungen sind hierbei wichtige Untertypen.37 (ii) Belohnen hat zum Ziel, die Loyalität von Personen in unterschiedlichen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten gegenüber der zu belohnenden Person bzw. Gruppe zu sichern. Es sind instabile Erwartungsstrukturen, in denen die gegenseitigen Rechte und Pflichten in der Regel nicht explizit formuliert sind, sondern sich aus den Interpretationsleistungen der Beteiligten ergeben.38 Eine weitere Form der Belohnung ist von großer Bedeutung: »Kraft des Arguments, persönliche Autorität, menschlicher Charme sind von großem Nutzen, aber doch Bei-

36 Vgl. dazu ausführlicher Rüb 2009; 2013; 2014. 37 Müller 2005. 38 Horst Ehmke, der unter Willy Brandt zum Chef des Bundeskanzleramtes berufen wurde, schreibt in seiner Biographie: »Erst nach meiner Zusage begann ich darüber nachzudenken, was das für mich bedeutete. Willy Brandt erwartete sicher, dass ich ihn von den Dingen entlasten würde, die ihm selbst nicht lagen«, Ehmke 1994, S. 101-102.

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und Rankenwerk im Verhältnis zum großen Beweger aller Politik, der Patronage.«39 (iii) Drohen ist eine spezifische Form der konflikthaften Interaktion bzw. Kommunikation zwischen (Gruppen von) Akteuren, die in ihrer allgemeinsten Form eine sprachliche Wenn-Dann-Konstruktion annehmen: Akteur A kündigt an, Akteur B zu schaden – ökonomisch, politisch, körperlich oder psychisch –, sofern dieser sich nicht so verhält, wie A es fordert. Sofern B die mit der Drohung verbundenen Folgekosten scheut und sein Verhalten den Erwartungen von A anpasst, war die Drohung effizient, weil sie nicht ausgeführt werden musste.40 Indirekte Drohungen kommunizieren die negativen Folgen als kontingente Handlungen von Dritten und können bspw. die Form annehmen: Wenn wir Policy A nicht verabschieden, dann werden wir gegenüber anderen Ländern im Nachteil sein und unsere Position auf dem Weltmarkt verlieren. (iv) Konfrontieren ist eine Praktik, die sowohl in institutionalisierten Verhandlungssystemen als auch außerhalb von ihnen ausgespielt wird und an verschiedenen Orten der Politik stattfindet. Beginnen wir mit der Parteienkonkurrenz, bei der die Forschung zwischen moderatem und polarisiertem Pluralismus unterscheidet; bei letzterem operieren die politischen Parteien konfrontativ bis hin zur politischen Verantwortungslosigkeit.41 Auch das Verhalten der Opposition kann einen konfrontativen Stil beinhalten, sofern sie strikt kompetitiv oder gar verantwortungslos statt moderat operiert.42 Auch die Vetospielertheorie unterstellt ein konfrontatives Verhalten, bei dem Vetos wegen gegensätzlicher Policy-Präferenzen ausgespielt werden.43 In diktatorischen Regimen konfrontiert die Regierung die ihrer Herrschaft unterworfene Bevölkerung mit ihren autoritär beschlossenen Entscheidungen und deren meist gewaltsamen Umsetzung. (v) Vereinbaren hat das Ziel, einen zu einem Zeitpunkt t durch Verhandlungen erzielten Kompromiss in die Zukunft hinein verbindlich zu machen. Neben den zeitlichen tritt ein sachlicher Aspekt: Alle Beteiligten binden sich an die programmatischen Aspekte der Vereinbarung und übernehmen sie als ihre je eigene Position für die Zukunft. Gleichwohl sind opportunistische Zustimmungen denkbar, die man mit der festen Absicht unternimmt, sich zu einem späteren Zeitpunkt davon abzusetzen. Vereinbarungen erfolgen meist in schriftlicher Form, weil man so ihre Eindeutigkeit erhöhen, zukünftige Handlungsoptionen festlegen und im Zweifelsfall mit Sanktionen belegen kann. Die Koalitionsvereinbarung ist eine besonders wichtige Form.44 (vi) Verhandeln ist vielleicht die wichtigste politische Praktik in modernen Demokratien und hat einen eigenständigen Demokratietypus, die Verhandlungsde39 40 41 42 43 44

Hennis 1964, S. 30. Etwa Schelling 1960; Hovi 1998, bes. Kap. 2; Külp 1965. Sartori 1976. Helms 2002, bes. ab S. 23. Vgl. dazu Tsebelis 1995; 2002. Vgl. dazu Müller 2005.

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mokratie, ausgeformt, der in der neueren Demokratie- und Staatstätigkeitsforschung eine wichtige Rolle spielt.45 Verhandlungen – freiwillige wie erzwungene – müssen immer zwei Sachverhalte synchron bearbeiten. Zunächst besteht ein »Produktionsproblem«46 bzw. ein Koordinationsproblem, auf das eine angemessene Antwort gefunden werden soll. Die Beteiligten versuchen eine Option zu entwickeln, die auch gegen die jeweils unmittelbaren Partialinteressen einiger Beteiligten ausfallen kann (und muss) und ein wie auch immer geartetes übergreifendes Gesamtinteresse realisiert. Diese Option impliziert zugleich ein Verteilungsproblem, weil jede sachliche Entscheidung immer mit einem Verteilungskonflikt verbunden ist, konkret der (Neu)Verteilung von Rechten, Ressourcen und Respekt. Mit Hilfe dieser beiden Kategorien kann man vier Verhandlungstypen unterscheiden, die sich nach ihrem jeweiligen Mix unterscheiden und sich als eine gestufte Entwicklung hin zu immer besseren bzw. rationaleren Entscheidungen konzeptionalisieren lassen.47 (a) Auf der ersten, der untersten Stufe im Mix der Koordinations- und Verteilungsspiele ist der Verteilungskonflikt so dominant, dass es zu keinen oder zur Aufkündigung von Verhandlungen kommt. Die Akteure stellen auf einseitiges Handeln um, also auf negative Koordination.48 Sie ist fast identisch mit Konfrontation, aber als latente und faktische Option sind Verhandlungen im Handlungshorizont der Beteiligten stets präsent. (b) Beim Bargaining ist der Verteilungskonflikt nach wie vor manifest und dominiert das Verhandlungsspiel, während Koordination nur eine geringe Rolle spielt. Grundsätzlich gilt, dass die Einsicht zum Verhandeln dadurch stimuliert wird, dass keiner der Beteiligten langfristig durch ein Verhandlungsergebnis schlechter gestellt werden kann als im Fall der Nicht-Kooperation. In der Regel »wird eine Unzahl von Verhandlungsgegenständen ausdifferenziert, die Ausgangspunkt für kleinere Koppelgeschäfte sein können: Laufzeiten, Schwellenwerte, Berechnungsformeln, Richtwerte, Geltungsbereiche, Ausnahmetatbestände, womit sich immer (...) Verteilungsfragen verbinden.«49

Bei programmatischen Fragen werden neue Formulierungen gefunden, die unterschiedliche Interpretationen zulassen; auch ist eine geringe Anzahl von Beteiligten hilfreich, weil so die Transaktionskosten der Kompromissbildung niedriger gehalten werden können und Paketlösungen sind wahrscheinlicher, wenn Verhandlungen auf der »Gipfelebene«50 angesiedelt sind.

45 Vgl. dazu etwa Lauer-Kirschbaum 1996; Czada 2000; Scharpf 2000, S. 309-318; Wiesner 2006. 46 Scharpf 2000, S. 204-205. 47 Vgl. dazu Scharpf 1988; präzisiert und variiert in Scharpf 2000, bes. S. 212-229; Lauer-Kirschbaum 1996; Saretzki 1996. 48 Mayntz, Scharpf 1975; Scharpf 2000, S. 412. 49 Wiesner 2006, S. 66. 50 Scharpf 2000, S. 220.

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(c) Bei positiver Koordination51 hat sich das Motiv für die Aufrechterhaltung der Verhandlungsbeziehung »von der interessenegoistisch notwendigen Koordination zur sich gemeinsame Ziele setzenden Kooperation verfestigt.«52 Man bearbeitet zwar – wie beim Bargaining auch – parallel Verteilungs- und Produktionskonflikte, aber letztere stehen im Vordergrund. Man ist eher an übergeordneten Zielen und deren möglichst effektiver Erreichung orientiert und die Grundvoraussetzung hierfür ist die explizite Anerkennung der Gleichzeitigkeit von distributivem Bargaining und gemeinsam akzeptierten Optionen.53 Expertenkommissionen, die wissensbasierte Entscheidungen vorbereiten oder Kabinettssitzungen, in denen sachliche Entscheidungen zu bestimmten Fragen erarbeitet werden, sind Gremien der positiven Koordination. (d) Schließlich ist »problem solving« die anspruchsvollste und unwahrscheinlichste Form des Verhandelns, das sich »ausschließlich auf die Nutzenproduktion« bzw. auf die »gemeinsame Realisierung besserer Projekte«54 konzentriert. Die Suche nach Problemlösungen erfordert wahrheitsorientiertes Argumentieren über die angemessenste Option. Gegenseitiges Vertrauen, Offenheit und Wahrhaftigkeit statt opportunistischer oder taktischer Argumente und die Bereitschaft, durch neues Wissen bzw. durch Lernen bisherige Standpunkte zu modifizieren, sind hier wichtige Voraussetzungen. (vii) Weisungen beabsichtigen, andere zu bestimmten Handlungen mehr oder weniger zu zwingen und sind der unmittelbarste Ausdruck von hierarchisch strukturierter Macht im politischen Prozess. Sie werden meist von ›oben‹ nach ›unten‹ weitergegeben und legen bestimmte Aufgaben, Zeitabläufe, inhaltliche Vorgaben u. Ä. fest. Sie reichen von der immer wieder betonten Richtlinienkompetenz einer Regierungschefin bis hin zu Aufgabenfestlegungen und Ablaufmustern in Ministerien. Meist sind sie schriftlich und aktenförmig festgehalten und können auch organisatorische Veränderungen des (Regierungs)Apparates einschließen. Insofern fällt auch die Organisationsgewalt eines Regierungschefs unter diese Praktik. Eine weitere Form ist Delegation, weil sie Zuständigkeiten auf eine andere Person (oder Gruppe von Personen) überträgt, die im Auftrag des Machthabers agieren. Eine besondere und äußerst wichtige Form ist das Befehlen. Einer der zentralen Gewaltapparate des Staates, das Militär, ist auf Befehl und absolutem Gehorsam aufgebaut und der Befehl zum Töten ist die radikalste Form. Die Kriege des 20. Jahrhunderts und die Berge von Millionen von Toten in den beiden totalitären Regimen verdeutlichen, welche Bedeutung der Befehl (zum Töten) als politische Praktik hatte. Zusammenfassend können Praktiken sowohl einzeln, in Kombination oder in zeitlicher Abfolge als Praktikenkette realisiert werden. Sie organisieren den politischen Prozess, geben ihm Struktur, stellen Handlungsmuster für die entsprechen51 52 53 54

Scharpf 2000, S. 225. Lauer-Kirschbaum 1996, S. 214. Scharpf 2000, S. 225. Ebd., S. 221.

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den Akteure zur Verfügung und verdeutlichen die gesamte Spannbreite und Vielschichtigkeit des Politik-Treibens. Praktikenkombinationen und -ketten variieren, sie sind u. a. abhängig von den verschiedenen Modi des Politik-Treibens und können innerhalb eines politischen Regimes wie auch zwischen verschiedenen politischen Regimen (demokratischen und nicht-demokratischen) eine erhebliche Spannbreite an unterschiedlichen Formen annehmen. Die Praktiken betreibenden Hauptakteure sind politische Parteien und andere kollektive Akteure, aber sie können auch von einzelnen Personen, etwa politischen Führern, realisiert werden. Hierbei bilden sich verschiedene Politikertypen aus und man muss fragen, welche Typen sich hierbei identifizieren lassen, welche Bedeutung sie haben, welche Praktiken(kombinationen) sie bevorzugen und wie sie dadurch die Politik prägen. 4. Die Politik und ihre Variationen durch Politikertypen Den Drang nach politischer Macht spüren möglicherweise nur bestimmte Menschentypen, und bestimmte Politikertypen üben ihre Macht mittels unterschiedlicher Praktiken sehr unterschiedlich aus, auch wenn die konstitutionellen und sonstigen Kontextbedingungen konstant bleiben mögen. Politikertypen beeinflussen zunächst die Qualität der Demokratie, denn je nach Politikertypus können die Prozeduren der Politik massiv variieren. Demagogen beispielsweise verändern nicht allein die Struktur von politischen Parteien, sondern auch die Dynamiken der Parteienkonkurrenz. Zudem können sie zur Transformation der Demokratie in autoritär-populistische Regime beitragen, wie man gegenwärtig in Ungarn und Polen beobachten kann. Analoges gilt für Diktaturen. Je nach Politiker- bzw. Diktatorentyp nehmen sie diese oder jene Ausprägung an und manche Diktaturen beruhen auf einer engen Verbindung von Führern und Geführten, während andere sich auf reine Gewaltbeziehungen gründen. Umgekehrt können bestimmte Politikertypen Diktaturen in demokratische Regime umwandeln, indem sie mit der politischen Opposition Übergänge aushandeln und sich anschließend in freien Wahlen der politischen Konkurrenz stellen. Jeder Politiker kann durch seine Handlungsmotivation, seine dadurch bedingten Handlungsoptionen und Anwendungsmuster von politischen Praktiken typologisiert werden. Jeder Typus – in der Demokratie wie in der Diktatur – versucht eine für ihn spezifische Form der »Begegnung« oder auch »Interaktion« zwischen Volk und Politiker herzustellen.55 Im Folgenden will ich vier unterschiedliche Politikertypen je nach den Formen und Intensitäten ihres Politik-Treibens unterscheiden. 4.1 Der Dämon als transmoralisches Wesen D. Sternberger war einer der ganz wenigen, der sich mit dem Phänomen des Dämons als bestimmtem Typus des Politik-Treibenden beschäftigt hat: »Ein Dämon ist ein Zwischenwesen, kein Mensch und kein Gott, aber wissend und wollend. Wir wollen uns hier weder einen guten Geist noch auch einen bösen Geist vorstellen,

55 Kirsch, Mackscheidt 1985, S. 38.

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vielmehr einen an sich gleichsam farblosen, der indessen je nach Wissen und Wollen sowohl gut als auch böse sein kann. Das war es ja, was Machiavelli von seinem ›Principe‹ verlangt und weswegen wir ihn schon früher als ein ›transmoralisches‹ Wesen bezeichnet haben.«56

Der Dämon ist bei ihm ein »künstlicher Dämon« in dem Sinne, als er eine »literarische Kunstfigur, eine Erfindung, ein Artefakt« ist. Bei Machiavelli hat der ›Principe‹ keine menschliche, sondern eine »dämonische Existenz«,57 aber das Beunruhigende ist, dass diese Figur »viele Nachahmer gefunden (hat) und sie noch immer (findet), und sie gehören nicht in die Sage, sondern in die Geschichte. Ein solcher Nachahmer ist und bleibt ein Mensch, aber einer, der die außer- und unmenschliche Position des Dämons mit seiner transmoralischen Unschuld einzunehmen versucht, um alsdann mit den gewöhnlichen Menschen, von denen er eine verächtliche Ansicht hat, nach seinem Herrschaftsinteresse zu schalten und zu walten, sie zu behandeln, zu täuschen, zu beglücken, zu füttern, zu rekrutieren, zu benutzen, zu betreuen, zu vernichten, je nach Lage und Zweck.«58

In einem kleinen Passus über »Historische Nachahmung« beschäftigte sich D. Sternberger mit der Frage, ob A. Hitler ein solcher Dämon gewesen sei oder nicht. Entgegen landläufigen Vorstellungen insistiert er darauf, dass Machiavellis Typus den »Tötungsfabriken und Gaskammern Hitlers« keine Rechtfertigung liefert, »da die Menschen, die hier planmäßig vernichtet wurden, überhaupt keine reelle Gefahr für den Bestand der nationalsozialistischen Herrschaft bildeten und da ihre Vertilgung diese Herrschaft auch nicht zu stärken vermochte. Es hat andere Handlungen Hitlers gegeben, die durchaus nach ›machiavellistischem‹ Rezept in die Wege geleitet zu sein schienen.«59

Machiavelli hatte andere ›Teufeleien‹ im Blick, die sich zwischen Personen abspielen und zurechenbare Taten des Kalküls, der Feindschaft und der Grausamkeit sind. »Im Falle Hitlers aber tritt Ideologie ins Spiel«60 und diese verwandelt die politischen Machtkämpfe. Die Ideologie macht aus den politisch tätigen Menschen etwas anderes, die ›machiavellistischen‹ Handlungen verschwinden, werden »beinahe unsichtbar, der personale Ausdruck verlischt, ein Macht-Interesse ist nicht aufzufinden, aus Taten werden halbblinde Vollzüge, eine gnadenlose Funktion tut ihr Werk. Dennoch und gerade darum ist hier die teuflische Möglichkeit des Menschen als eines UnMenschen in potenzierter Weise erfahren worden.«61

Das Dämonische vollzieht sich nach Sternbergers Ansicht offenbar nur in nichtideologischen politischen Konflikten, also in den ›normalen‹, gleichwohl oft blutigen und Menschen vernichtenden Auseinandersetzungen. Eine totalitäre Politik der Tötung von Menschen bezeichnet er eben nicht als Politik, sondern als Un-Politik. Akzeptiert man allerdings die Prämisse, dass auch totalitäre Herrschaftsausübung als Politik qualifiziert werden kann, so sind die Politiken der Tötung Ausfluss des Dämonischen, das in der Politik seinen unvermeidlichen Platz hat und im 56 57 58 59 60 61

Sternberger 1978, S. 222-223. Ebd., S. 223. Ebd., S. 224. Ebd., S. 237. Ebd., S. 238. Ebd.

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20. Jahrhundert eine überragende, wenngleich grausam überragende Rolle gespielt hat. Gerade totalitäre Regime öffnen den Weg für solche Politikertypen und zugleich legitimiert die totalitäre Ideologie eine Politik des Tötens, die dämonische Politikertypen voraussetzt. Das Auftauchen politischer Dämonen ist ein unhintergehbares Kennzeichen der Politik im 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Darauf haben verschiedenste Autoren eindrücklich und mehrfach hingewiesen.62 Bei ihnen dominieren polarisierende Praktiken und Konfrontieren bzw. Befehlen, konkret das Befehlen zum Töten, als die wichtigsten Modi des Politik-Treibens. 4.2 Der Demagoge: Das Spiel mit den Leidenschaften63 Zwischen dem Demagogen und seinen Unterstützern herrscht ebenfalls eine radikal asymmetrische Beziehung, die jedoch nicht so einseitig ausgeprägt ist wie beim Dämon. Während bei manchen (oder gar vielen) Wählern eine neurotische Ängstlichkeit und Enge einen Teil ihrer Psyche und ihr politisches Verhalten beeinflusst, so übertrumpft sie der Demagoge: Er »personifiziert diese Neurose: Jene [die WählerInnen, FWR] haben Neurosen, er besteht aus Neurosen.«64 Deshalb ist er an einer weiteren Einschränkung der Möglichkeiten der modernen Welt orientiert und versucht, die bisher gegebenen politischen Handlungsoptionen zu reduzieren. Er kann nicht mit dem Status quo leben, sondern muss ihn in Einklang mit seinen neurotischen Wahrnehmungsmustern bringen. Dazu nutzt er alle Möglichkeiten, die sich ihm in den modernen Gesellschaften eröffnen. In Demokratien das Wahlrecht, die freie Rede, nicht nur bei Wahlkämpfen, die vielen Medien und natürlich das Internet; in nicht-demokratischen Staaten alle Möglichkeiten der einseitigen Manipulation. Nicht jeder Demagoge ist erfolgreich in dem Sinne, dass er eine Massenbewegung initiieren oder eine Massenbeeinflussung über die Medien erzielen kann; viele bleiben in den modernen Gesellschaften eher ein Kuriosum, aber die Zunahme populistischer Politik am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts macht überdeutlich, dass der Demagoge ein Politikertypus ist, mit dem man durchaus rechnen muss. Zentral ist aber: »Ein Politiker ist nicht ein Demagoge, (...) vielmehr steht ein Individuum als Politiker mit seinem gesellschaftlichen Umfeld in einer Beziehung, die ihm einen bestimmten Part zuschreibt, eben den Part, den man als den des Demagogen bezeichnet.«65

Als Typus ist er Bestandteil einer sozialen, besser politischen Beziehung, in der er eine spezifische Rolle innerhalb eines komplexen Beziehungsgeflechtes übernimmt und in dem die Bevölkerung oder Teile von ihr eine große Rolle spielen. Der Dem-

62 Vgl. etwa sehr früh in der Geschichte der Bundesrepublik und als Reaktion auf die nationalsozialistische Herrschaft Ritter 1947; grundlegend aber Lüddecke 2010. 63 Die folgenden Ausführungen beruhen auf Kirsch, Mackscheid 1985, deren Trilogie ich allerdings erheblich erweitert habe, indem ich auch Politikertypen erwähne, die in nicht-demokratischen Regimen Politik treiben und von ihnen nicht erwähnt werden. 64 Kirsch, Mackscheidt 1985, S. 95; Herv. im Original. 65 Ebd., S. 101; Herv. im Original.

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agoge ruft sozusagen in die Bevölkerung hinein und erhält als Reaktion ein Echo, das in seinen Ohren wie eine Antwort eines eigenständigen Akteurs klingt, aber nur simple Spiegelung ist.66 4.3 Der Amtsinhaber als Prototypus des Politikers in der ökonomischen Theorie der Politik In seiner »Ökonomischen Theorie der Politik« hat A. Downs einen Politikertypus entwickelt, dessen Handeln ebenso ausschließlich an seinem Eigennutz orientiert ist wie das seiner Wählerklientele. Zwar geht A. Downs davon aus, dass nicht einzelne nutzenorientierte Politikertypen in der Politik agieren, sondern politische Parteien wie individuelle Akteure handeln, aber man kann seine Grundprämissen auch auf die Interaktionen zwischen Politiker und Wähler übertragen und so einen spezifischen Typus als einen Teil dieser Interaktion konstruieren. »Aus dem Eigennutz-Axiom ergibt sich unsere Auffassung von den Motiven, denen die politischen Aktionen der Parteimitglieder entspringen. Wir nehmen an, dass sie nur handeln, um das Einkommen, das Prestige und die Macht zu erlangen, die mit öffentlichen Ämtern verbunden sind. […] [I]hr einziges Ziel ist die Vorteile zu genießen, die ein öffentliches Amt an sich bietet. Die Politiker verwenden politische Konzepte und Aktionen einzig und allein als Mittel der Verfolgung ihrer privaten Ziele, die sie nur dadurch erreichen können, dass sie gewählt werden. – Auf dieser Überlegung beruht die Grundhypothese unseres ganzen Modells: Die Parteien treten mit politischen Konzepten hervor, um Wahlen zu gewinnen; sie gewinnen nicht die Wahlen, um mit politischen Konzepten hervorzutreten zu können.«67

Nach A. Downs – er folgt hierbei J. Schumpeter – sind dann folgerichtig alle Politiken, seien es Wirtschafts-, Bildungs-, Sozial- oder sonstige Politiken, Nebenprodukte der Nutzenmaximierung der politischen Parteien. Umgekehrt wählen die Wähler die Parteien, die in ihrer Programmatik versprechen, ihren Nutzen zu maximieren. Der Amtsinhaber als Prototypus des Parteipolitikers agiert wie in der ökonomischen Theorie der Politik skizziert und klammert deshalb alle problematischen Sachverhalte aus seiner politischen Praxis aus.68 Der politische Aufstieg und Erfolg des Amtsinhabers liegt damit in seiner »überdurchschnittlichen Durchschnittlichkeit« begründet.69 Die wichtigsten Modi des Politik-Treibens sind hier die verschiedenen Formen bzw. Typen des Verhandelns und Vereinbarens. 4.4 Der Staatsmann und der ›Held des Rückzugs‹ Was macht nun einen Staatsmann und was einen Helden des Rückzugs aus? Ich beginne mit der Staatsfrau, die in der hier vorgestellten Typologie nicht nur der

66 Dämonische Politikertypen – wie etwa A. Hitler – haben meist auch demagogische Züge und realisieren demagogische Politik, aber bei ihnen spielt die Politik des Tötens eine unübersehbar größere Rolle. 67 Downs 1968, S. 27-28; Herv. von mir. 68 Kirsch, Mackscheidt 1985, S. 84-85. 69 Ebd. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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wichtigste, sondern auch der normativ wünschenswerteste Typus ist. Doch welche Leistungen soll sie konkret erbringen? Sie soll »die Gesellschaftsmitglieder wenigstens teilweise aus ihrer neurotischen Gebundenheit […] befreien, ihnen Begegnungsmöglichkeiten mit sich, dem Menschen und den Dingen […] eröffnen, die ihnen bis dahin verschlossen und verboten waren, ihnen Chancen […] erschließen, die sie bis dahin nicht einmal sahen, geschweige denn nutzen wollten, ihnen die Augen für Risiken […] öffnen, die sie bis dahin nicht erkennen durften, kurzum: ihre innere Souveränität erweitern und stärken.«70

Die Staatsfrau soll, ja muss einen Blick in die Zukunft haben, sie muss die Aufgaben und Herausforderungen antizipieren, die auf eine Gesellschaft bzw. die Politik zukommen und – wenn irgend möglich – bereits Antworten liefern. Zudem muss es ihr gelingen, ihre zukunftsorientierte Politik durch bestimmte Schlagwörter oder Slogans auf den Punkt zu bringen. Das Verhältnis zwischen der Staatsfrau und ihren Wählerklientelen ist dynamisch und vor allem nicht widerspruchs- und spannungslos, denn möglichkeitserweiternde Politiken sind immer riskant und bedroht. Zum einen kommt es häufig zur »Vernachlässigung der Tagesfragen« und ein sich daraus ergebender »Problemstau«,71 der mittel- oder langfristig kritisch werden kann. Zum anderen kann jeder Erfolg zur Wiege des Misserfolgs werden: »Sind jene Lebens- und Erleichterungsmöglichkeiten eröffnet, ist das Diktat jener Verbote und Gebote gebrochen, sind jene Wirklichkeitsaspekte in den politischen Diskurs eingeführt, jene Chancen erschlossen und jene Risiken identifiziert, kurz: ist jene innere Freiheit erreicht, um die es ging, dann hat auch die Beziehung ihren Zweck erreicht und sie wird, weil sie erfolgreich war, vielleicht aus nichtigem Anlass zu Ende gebracht.«72

Ein in der politik- und sozialwissenschaftlichen Literatur völlig negierter Typus des Staatsmannes ist der »Held des Rückzugs«, ein Begriff, der Anfang der 90er Jahre von Hans M. Enzensberger geprägt wurde.73 Er ist kein überragender Staatsmann, dem man mit einem heroisch anmutenden Denkmal Respekt zollt, sondern eher der Gegentypus. Sie sind »Helden einer neuen Art, die nicht den Sieg, die Eroberung, den Triumph, sondern den Verzicht, den Abbau, die Demontage repräsentieren. Wir haben allen Anlass, uns mit diesen Spezialisten der Negation zu befassen; denn auf sie ist unser Kontinent angewiesen, wenn er überleben will.«74

Die Politik des Rückzugs ist eine der schwierigsten Politiken und wird in der Disziplin kaum behandelt. Allenfalls in der Transformationsforschung, vor allem bei den friedlichen Übergängen von diktatorischen zu demokratischen Regimen in Mittel- und Osteuropa, tauchen sie auf.75 Der Rückzug ist die schwierigste aller militärischen oder politischen Handlungen und das »non plus ultra der Kunst des Möglichen besteht darin, eine unhaltbare Position zu räumen.«76 Wenn man die 70 71 72 73 74 75 76

Ebd., S. 90. Ebd., S. 93. Ebd., S. 94; Herv. im Original. Enzensberger 1997. Ebd., S. 56-57. Vgl. dazu etwa Rüb 2001; Merkel 2010; Linz, Stephan 1996. Enzensberger 1997, S. 57.

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eigene Machtposition, meist ausgestattet mit einem immensen Gewaltpotential, freiwillig räumt, gibt man nicht nur die Machtposition auf, sondern auch einen Teil seiner selbst, seiner eigenen bisherigen Identität. Man wandelt sich von einem Machthaber zu einem mehr oder weniger gleichberechtigten Verhandlungspartner, der mit der Opposition einen friedlichen Übergang verhandelt. Dieser Prozess der Selbstentmachtung ist psychologisch hochkompliziert und findet deshalb nur selten statt. Zentral ist auch die moralische Dimension eines solchen Handelns. Die bisherigen Machthaber verzichten auf den Einsatz ihres Gewaltapparates, der ihre Herrschaft weiter sichern und die Opposition niederwerfen könnte. Sie räumen ihre bisherigen Machtpositionen freiwillig und teilen sie mit anderen politischen Kräften und leiten hochkomplexe und immer gefährdete Übergänge von Diktaturen zu Demokratien ein. Aber die Panzer bleiben in den Kasernen. In Osteuropa, konkret in Polen, ist es dazu gekommen, dass die Gefängniswärter mit den ehemaligen Gefängnisinsassen die Übergänge am Runden Tisch aushandelten und Ungarn ist diesem Beispiel gefolgt. Hier haben die Helden des Rückzugs eine zentrale Rolle gespielt: General Wojciech Jaruzelski in Polen und János Kádár in Ungarn und vor ihnen, die Lawine ins Rollen bringend, Michail Gorbatschow in der Sowjetunion. Er hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass in den Ländern Mittelund Osteuropas die ›Helden des Rückzugs‹ auftreten und die friedliche Demokratisierung auf den Weg bringen konnten. 4.5 Der Hinterbänkler (in demokratischen und autokratischen Regimen) Der Hinterbänkler ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er nur eine untergeordnete Rolle im politischen Prozess spielt. Er steht mit seinem politischen Umfeld nur in einer losen und oft unbedeutenden Beziehung, sei es zu seinem Wählerklientel, sei es zu Vertretern von Interessengruppen, sei es zu seiner eigenen Partei bzw. seiner Fraktion. Er wird in der Politikwissenschaft bzw. der Parlamentssoziologie meist als Gegenstück zu den Mitgliedern der politischen Elite konstruiert. Die Gruppe der Hinterbänkler ist nicht unbedeutend, die Schätzungen schwanken hier zwischen rd. 20 % bis zu über 60 % aller Abgeordneten.77 Es gibt nur wenige Versuche, diese spezielle Gruppe von Politik-Treibenden definitorisch zu präzisieren.78 H. Oberreuter hat Anfang der 1970er Jahre eine der ersten Definitionsversuche unternommen: »Es empfehlt sich also, nur solche Abgeordnete als Hinterbänkler zu bezeichnen, die in der Regel keinen positiven Beitrag zur Willensbildung der Fraktion oder des Parlaments leisten, keine oder allenfalls bescheidene Aufgaben in der Parlamentsarbeit übernehmen und höchstens zu untergeordneten und meist lokalen Fragen Stellung nehmen.«79

77 Die erste Schätzung stammt von H. Oberreuter und bezieht sich auf die 60er Jahre (1970, S. 197); letztere Zahl stammt von L. Golsch, der dies Ende der 90er Jahre untersucht und auch den Hinterbänkler anders definiert hat (1998, S. 82). 78 Vgl. die sehr wichtigen Ausführungen von Golsch 1998; aber auch Oberreuter 1970. 79 Oberreuter 1970, S. 196. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Diese Gruppe kann man in Untergruppen unterteilen und H. Oberreuter hat hier drei gebildet: Zunächst die eng auf ihr Interessengebiet konzentrierten Politiker, die meist als Verbandsvertreter agieren. Dann die Lobbyisten ihres Wahlkreises, deren Aktionsradius sich meist darin erschöpft, die Interessen des Wahlkreises durch Interventionen in den Ministerien oder durch entsprechende Fragen in den Fragestunden zur Geltung zu bringen. Schließlich die aus Faulheit und Überzeugung zu Hinterbänklern gewordenen, also meist Abgeordnete, die mit einem Mandat für ihre vorangegangenen Dienste für die Partei belohnt wurden. Hinterbänkler gibt es selbstverständlich auch in autoritären politischen Regimen, sofern diese über ein – wie auch immer ›gewähltes‹ oder bestelltes – Parlament verfügen. Auch hier vollzieht sich die funktionale Arbeitsteilung zwischen den aktiven und passiven Parlamentsmitgliedern ebenso wie in parlamentarischen Demokratien. Oft sind solche Positionen mit bestimmten Privilegien verbunden, wie Geld, Macht, Reputation, Möglichkeiten der Ausbeutung bestimmter sozialer Gruppen, die die Loyalität dieser Personen gegenüber der herrschenden Clique(n) gewährleisten soll. 5. Schluss: Die Vielschichtigkeit des Politikbegriffs Meine Überlegungen waren ein Versuch, den Begriff und das Verständnis von Politik weiter zu klären, zu präzisieren und zu differenzieren. Sie bezogen sich allein auf den neuzeitlichen Politikbegriff, der durch seine Offenheit und Kontingenz grundlegend gekennzeichnet ist. In den modernen Gesellschaften ist bereits alles politisch entschieden oder könnte politisch entschieden werden. Alle normativen, institutionellen und sozialen Grundlagen der modernen Gesellschaften sind grundsätzlich kontingent und sitzen auf einer relativen Stabilität auf. Mit dieser überragenden Rolle der Politik ist jedoch keine Rückkehr zu einem starken Staat oder einer omnipotenten Regierung verbunden, sondern etwas grundlegend Anderes. Moderne Gesellschaften und die ›Orte‹ der politischen Entscheidbarkeit sind polyzentrisch strukturiert, es sind Mehrebenensysteme, die horizontal wie vertikal ausdifferenziert sind und in denen an den verschiedensten Stellen Politik betrieben wird. Dass in politischen Gesellschaften im Prinzip alles entscheidbar ist, heißt nicht, dass faktisch auch alles entschieden wird, sondern ›nur‹, dass alles entschieden werden könnte. Um aber einen Sachverhalt auf die politische Tagesordnung zu setzen bzw. dies zu verhindern, bedarf es verschiedenster Handlungsmuster, wobei Politisierung, Politicking, Polarisierung und Paralysierung die für moderne Gesellschaften wichtigsten Handhabungen sind. Hierbei kann von den politischen Akteuren eine ganze Spannbreite von Praktiken eingesetzt werden, die aber in der Politikwissenschaft bisher kaum analysiert bzw. typologisiert wurden. Aber mittels ihrer wird der politische Prozess am Laufen gehalten und mittels ihrer werden an allen Orten und für alle Bereiche wichtige wie unwichtige politische Entscheidungen in der polyzentrischen Politik generiert. Über Weisungen bzw. Befehle wurde die Tötungsmaschinerie der totalitären Regime ebenso in Gang gesetzt wie bei deren Zu-

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sammenbruch eine friedfertige Politik auf den Weg gebracht wurde. Dass Personen bzw. unterschiedliche Politikertypen in der Politik eine Rolle, ja eine sehr große Rolle spielen, ist eine, aber viel zu wenig beachtete, Trivialität. Der Dämon als politischer Typus ist hier sicherlich der umstrittenste Typus. Personen können trotz gleicher oder ähnlicher institutioneller Kontexte so unterschiedliche Politiken betreiben, dass deren Persönlichkeit bzw. Psychostruktur nicht unbeachtet bleiben kann. Die Unterschiede in den Präsidentschaften von Barack Obama und Donald Trump sind unübersehbar. Immerhin aber gab und gibt es Versuche, dies alles zu analysieren und hierbei die wichtigsten Typen zu identifizieren. Damit ist die Spannbreite dessen, was Politik ist bzw. sein könnte, noch längst nicht abgedeckt. Aber ich habe einen Versuch unternommen, wichtige Aspekte bei der systematischen Beschäftigung mit dem Politikbegriff zusammenzutragen und zu systematisieren. Dass dies allein nur ein weiterer Schritt bei vielen anderen in diesem Kontext sein kann, ist klar. Aber immerhin: Ein weiterer Schritt ist gemacht. Literatur: Arendt, Hannah 1993. Was ist Politik? Aus dem Nachlass, hrsg. v. Ursula Ludz. München: Piper. Bedorf, Thomas 2010. »Das Politische und die Politik«, in Das Politische und die Politik, hrsg. v. Bedorf, Thomas; Röttgers, Kurt, S. 13-37. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bedorf, Thomas; Röttgers, Kurt (Hrsg.) 2010. Das Politische und die Politik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beyme, Klaus von 1992. Theorien der Politik im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bröckling, Ulrich; Feustel, Robert (Hrsg.) 2009. Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen. Bielefeld: transcript. Czada, Roland 2000. »Konkordanz, Korporatismus und Politikverflechtung. Dimensionen der Verhandlungsdemokratie«, in Zwischen Wettbewerbs- und Verhandlungsdemokratie. Studien zum Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v. Holtmann, Everhard; Voelzkow, Helmut, S. 23-49. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Dörner, Andreas; Rohe, Karl 1995. »Politikbegriffe«, in Lexikon der Politik, Bd. 1, hrsg. v. Nohlen, Dieter, S. 453-458. München: C. H. Beck. Downs, Anthony 1968. Ökonomische Theorie der Politik. Tübingen: Mohr Siebeck. Ehmke, Horst 1994. Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit. Berlin: Rowohlt. Elias, Norbert 1976 [1939]. Über den Prozess der Zivilisation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Enzensberger, Hans Magnus 1997. »Die Helden des Rückzugs. Brouillon zu einer politischen Moral der Entmachtung«, in Zickzack. Aufsätze, hrsg. v. Enzensberger, Hans Magnus, S. 55-63. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Esping-Andersen, Gøsta 1990. The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge: Polity Press. Golsch, Lutz 1998. Die politische Klasse im Parlament. Baden-Baden: Nomos. Greven, Michael Th. 2000. Kontingenz und Dezision. Beiträge zur Analyse der politischen Gesellschaft. Opladen: Leske + Budrich. Greven, Michael Th. 2009. Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie. 2., aktualisierte Ausgabe. Wiesbaden: VS. Helms, Ludger 2002. Politische Opposition. Opladen: Westdeutscher Verlag. Hennis, Wilhelm 1964. Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik. Tübingen: Mohr Siebeck. Hirsch, Michael 2007. Die zwei Seiten der Entpolitisierung. Zur politischen Theorie der Gegenwart. Stuttgart: Franz Steiner.

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Zusammenfassung: Die Beschäftigung mit dem Konzept der Politik spielt in der gegenwärtigen Politikwissenschaft eine untergeordnete Rolle, obwohl er ihren zentralen Gegenstand beschreibt. Prominenz hat dagegen zuletzt der Begriff des Politischen genossen, dessen normativ-ontologische Definition allerdings problematische Implikationen hat. Gegen diese Unterscheidung zwischen Politik und dem Politischen und gegen das Primat des Letzteren möchte ich die Vielgestaltigkeit politischer Handlungsmuster betonen und Politik als ein Kontinuum unterschiedlicher Erscheinungsformen begreifen: Politik kann, so meine Prämisse, nicht wesenhaft bestimmt werden, sondern nur durch eine systematische Analyse der Art und Weise, wie Politik betrieben wird. Ausgehend von Webers Begriff des »PolitikTreibens« untersuche ich dazu ihre Topoi, ihre verschiedenen Spielarten bzw. Praktiken und ihre Variationen durch Politikertypen. Dadurch werden Grundzüge einer Politikwissenschaft deutlich, die sich der Politik mittels einer phänomenologischen Praxeologie nähert. Stichworte: Politik, das Politische, Politik treiben, Mikropolitik, politische Praktiken

What is Politics? Unwavering Attempt to get to the Bottom of a Central Concept Summary: The study of the concept of politics plays a subordinate role in contemporary political science, although it describes its central subject. The concept of the political, on the other hand, has recently enjoyed prominence, although its normative-ontological definition has problematic implications. Against this distinction between politics and the political and against the primacy of the latter, I would like to emphasize the diversity of political action patterns and understand politics as a continuum of different manifestations: politics, in my view, cannot be essentially determined, but can only be conceptualised by a systematic analysis of the way politics is conducted. Based on Weber's concept of »Politik treiben« (politicking), I examine the topoi, their varieties or practices and how types of politicians vary them. In this way, I outline a phenomenological praxeology that allows for an analysis of politics. Keywords: Politics, the political, micro-politics, political practices

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B. Beobachtungen und Befunde

Mobilisierung und Radikalisierung

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Politisierung und soziale Bewegungen: zwei Perspektiven

Politisierungsprozesse werden vielfach in Zusammenhang gebracht mit sozialen Bewegungen. Dabei gelten soziale Bewegungen oft als Indikator oder Triebkraft der Politisierung bestimmter Themen, da sie diese zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung und politischer Regulierung machen. Gleichzeitig wird in den letzten Jahren verstärkt diskutiert, inwieweit innerhalb der Bewegungslandschaft selbst (Ent-)Politisierungsprozesse stattfinden. Vor allem wissenschaftliche wie öffentliche Debatten um Clicktivismus, Lifestyle-Aktivismus und NIMBY-Proteste (Not-In-My-Backyard) haben solche Überlegungen vorangetrieben. Dies verweist nicht nur auf stark voneinander abweichende Verständnisse davon, was Politisierungsprozesse ausmacht, sondern auch auf die unterschiedliche Rolle, die sozialen Bewegungen in diesen Prozessen zukommt. Politisierung wird allgemeinhin verstanden als das Verschieben eines Themas in den Bereich des Politischen.1 Allerdings lassen sich in dem Verständnis des »Politischen« unterschiedliche Ansätze und damit verschiedene Definitionen von Politisierung finden. Zum einen legen systemtheoretische Ansätze den Fokus auf das politische Teilsystem und Politisierung wird hiernach primär als Transfer von Themen und Kompetenzen in dieses Teilsystem verstanden, inklusive seiner Entscheidungsmodalitäten und Institutionen.2 Hiermit kann sowohl gemeint sein, dass Themen, die zuvor in einem anderen Teilsystem (zum Beispiel Wirtschaft) verhandelt wurden, nun zum Gegenstand politischer Regulierung und seiner Verfahren werden,3 als auch der wachsende Einfluss politischer Institutionen und Akteure auf andere Teilsysteme wie Verwaltung und Wirtschaft.4 Zum anderen wird »das Politische« im Rahmen diskurstheoretischer Ansätze breiter verstanden als öffentlicher Raum, in dem Themen, Fragen und Probleme diskutiert werden. Nach diesem Ansatz betrifft Politisierung den Transfer bestimmter Themen und Anliegen in die politische Öffentlichkeit und bezieht sich damit auf die öffentliche Auseinandersetzung mit Fragen, die zuvor nicht in diesem Rahmen thematisiert wurden. Als politische Öffentlichkeit werden hierbei sowohl Medienöffentlichkeit, Parlamente als auch Proteste verstanden.5 Sozialen Bewegungen wird in beiden Verständnissen der Politisierung eine wichtige Rolle zugeschrieben, da sie nicht nur dazu beitragen, neue Themen zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung zu machen — zum Beispiel durch Proteste — sondern auch ihren Beitrag dazu leisten, dass diese Themen Gegenstand 1 2 3 4 5

S. zum Beispiel Zürn 2013, S. 14. Vgl. Zürn 2013; Grande, Hutter 2016a. Vgl. Anders, Scheller, Tuntschew 2018; Rucht 2013. Vgl. Grande, Hutter 2016a; de Wilde 2011; s. auch Hartwell 1979. Vgl. Grande, Hutter 2016a; de Wilde 2011.

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politischer Regulierung werden, sowohl indirekt über den Aufbau öffentlichen Drucks als auch direkt (zum Beispiel durch Lobbying oder gerichtliche Verfahren). Soziale Bewegungen sind Netzwerke von Gruppen und Organisationen, die auf Basis einer kollektiven Identität und mit einer gewissen Kontinuität versuchen, gesellschaftlichen Wandel zu bewirken oder gewissen Veränderungen entgegenzuwirken.6 Soziale Bewegungen unterscheiden sich von anderen intermediären Akteuren wie Parteien oder Gewerkschaften zentral darin, dass ihnen formalisierte Organisationsstrukturen und institutionalisierte Wege des politischen Einflusses größtenteils fehlen.7 Die Ansprache der Öffentlichkeit — zum Beispiel über Proteste — sowie eine konflikthafte Beziehungen zu ihren Kontrahenten werden damit oft als zentrale Charakteristika sozialer Bewegungen verstanden.8 Das Interesse an der Rolle sozialer Bewegungen in Politisierungsprozessen ist vor dem Hintergrund der Diversifizierung des Themen- und Akteursfeldes sozialer Bewegungen über die letzten Jahre gewachsen. Langzeitstudien zeigen, dass die Vielfalt der Themen und Adressaten des Protests seit den 1950er Jahren deutlich zugenommen hat.9 Zudem haben sich die Trägergruppen des Protests diversifiziert, unter anderem im Zusammenhang mit der verstärkt bewegungsförmigen Organisation konservativer und rechter Akteure.10 Mit diesem verbreiteten Spektrum an Themen und Akteuren erweitert sich auch der mögliche Beitrag von sozialen Bewegungen zu Politisierungsprozessen. Gleichzeitig wirft die Vervielfältigung der Beteiligungsmöglichkeiten im Kontext von politischem Konsum, präfigurativer Politik und Online-Aktivismus die Frage auf, wie Aktionsformen sozialer Bewegungen, die sich weniger stark auf die Ansprache der Öffentlichkeit beziehen, in Politisierungsprozessen Berücksichtigung finden. Dieser Beitrag beleuchtet die verschiedenen Definitionen und Analysekriterien von Politisierung in Bezug auf soziale Bewegungen. Hierzu werden zentrale Debatten aus der Politisierungsliteratur sowie aus der Protest- und Bewegungsforschung aufgegriffen und systematisch gegenübergestellt. Auf dieser Grundlage unterscheidet der Beitrag zwischen verschiedenen Dimensionen der Politisierung, mit denen sich die bestehende Forschung befasst, und identifiziert divergierende Analysekriterien, die hierbei jeweils zur Anwendung kommen. So wird zum einen differenziert zwischen einer externen Dimension der Politisierung, in der soziale Bewegungen Subjekt und Akteur in der Politisierung bestimmter Themen sind, und einer internen Dimension, in der soziale Bewegungen selbst Objekt von Politisierungs- und Entpolitisierungsprozessen sind. Zum anderen wird gezeigt, dass auch innerhalb beider Dimensionen verschiedene Ebenen der Politisierung untersucht werden und jeweils abweichende Analysekriterien zum Einsatz kommen. 6 7 8 9 10

Roth, Rucht 2008; della Porta, Diani 2006. Rucht 2007; Giugni, Grasso 2015. Roth, Rucht 2008; della Porta, Diani 2006. Vgl. Rucht 2003; Hutter, Teune 2012; Rucht, Teune 2017. Rucht, Teune 2017; Van Aelst, Walgrave 2001; Roth, Rucht 2008. S. auch Brinkmann, Nachtwey, Décieux 2013; Häusler, Virchow 2016.

Politisierung und soziale Bewegungen: zwei Perspektiven

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1. Externe Politisierung: soziale Bewegungen als Subjekt der Politisierung Ein nicht unbeachtlicher Teil der Literatur zum Verhältnis zwischen Politisierung und sozialen Bewegungen befasst sich mit der Frage, wie soziale Bewegungen zur Politisierung bestimmter Themen beitragen. Politisierung ist damit in dem Sinne extern, dass es sich hierbei um einen Veränderungsprozess handelt, den soziale Bewegungen zwar beeinflussen, der jedoch über sie selbst als kollektive Akteure hinausgeht. In dieser externen Politisierungsdimension werden soziale Bewegungen primär als Subjekt und Akteur von Politisierungsprozessen verstanden — statt als Objekte der Politisierung selbst (s. nächster Abschnitt interne Politisierung). Studien zeigen, wie verschiedene soziale Bewegungen in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen haben, bestimmte Themen zum Gegenstand öffentlicher Diskussion und politischer Regulierung zu machen, die es vorher kaum oder wenig waren. Hierzu gehören zum Beispiel die Themen Frauenrechte,11 Umweltschutz und Globalisierungskritik.12 Zu diesen Einsichten hat zum einen die Protest- und Bewegungsforschung beigetragen — und hierbei insbesondere die Forschung zu den Konsequenzen sozialer Bewegung — sowie die Politisierungsforschung. Die Politisierungsforschung befasst sich mit Bedingungen und Konsequenzen der Politisierung bestimmter Themenbereiche. Einige Themen haben über die letzten zwei Jahrzehnte besonders starke Politisierungsprozesse durchlaufen und viel Aufmerksamkeit in der Politisierungsforschung in und jenseits Europas gefunden. Hierzu zählen die Themen EU-Integration,13 internationales Regieren,14 und Migration.15 Zudem hat jüngst die Zahl von Studien zur Politisierung der Umweltund Klimathematik zugenommen, in der US-amerikanischen Literatur, aber zunehmend auch in Europa.16 Ein Großteil dieser Forschung greift auf einen diskurstheoretischen Ansatz zurück, der Politisierung als einen Prozess versteht, in dessen Verlauf Themen zunehmend Teil der öffentlichen Debatte werden.17 Auf dieser Grundlage hat sich ein weit verbreiteter Ansatz mit drei Kriterien der Politisierung entwickelt, der besonders in der Forschung zur Politisierung der EU-Integration viel Verwendung findet.18 Diesem Ansatz zufolge gilt ein Thema dann als zunehmend politisiert, wenn es zum einen eine erhöhte Sichtbarkeit in öffentlichen Debatten erreicht (Salienz) und von einer wachsenden Zahl von Akteuren

11 Zum Beispiel Ferree et al. 2002. 12 Zum Beispiel Rucht 2013; Zürn 2013. 13 Zum Beispiel Hooge, Marks 2009; Anders, Scheller, Tuntschew 2018; Hutter, Grande, Kriesi 2016; de Wilde, Zürn 2012; de Wilde 2011; Green-Pedersen 2012. 14 Zürn 2013; 2014; Zürn, Binder, Ecker-Ehrhardt 2012; Rucht 2013. 15 Zum Beispiel Morales, Pilet, Ruedin 2015; Hopkins 2010; Buonfino 2004; van der Brug et al. 2015. 16 Zum Beispiel McCright, Dunlap 2011. Siehe auch den Beitrag von Beth Gharrity Gardner und Michael Neuber in diesem Band. 17 Vgl. Hutter, Kriesi 2019; Anders, Scheller, Tuntschew 2018. 18 Vgl. Hutter, Kriesi 2019. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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aufgegriffen wird (Akteursexpansion).19 Zum anderen wird in diesem Ansatz die Intensivierung des Konflikts als wichtiges Merkmal der Politisierung verstanden, das heißt Themen gelten erst dann als zunehmend politisiert, wenn sie nicht nur weitläufiger, sondern auch kontroverser diskutiert werden, beziehungsweise wenn Standpunkte zusehends voneinander abweichen (Polarisierung).20 Wie im Folgenden gezeigt wird, erfasst die Forschung zur externen Politisierung den Einfluss von sozialen Bewegungen auf Politisierungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen. Insbesondere lassen sich Studien danach unterscheiden, ob sie primär Politisierung mit sozialen Bewegungen oder Politisierung durch soziale Bewegungen untersuchen. Erstere sieht soziale Bewegungen und speziell Protestereignisse selbst als Indikator eines Politisierungsprozesses, während letztere soziale Bewegungen eher als Triebkraft der Politisierung versteht und die Auswirkungen von Mobilisierungen auf öffentliche Debatten und politische Entscheidungen direkt misst. 1.1 Politisierung mit sozialen Bewegungen: wachsende Protestdichte Viele Studien, die sich mit dem Einfluss von sozialen Bewegungen auf Politisierungsprozesse befassen, untersuchen Politisierung mit sozialen Bewegungen im Sinne einer wachsenden Protestdichte. Hierbei wird die Zunahme des Protests als solche als Politisierungsprozess verstanden. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Rückgang von Protestmobilisierungen für Entpolitisierung steht, auch oft als Demobilisierung bezeichnet. Die zentrale Annahme hinter diesem Ansatz ist, dass Proteste, bzw. die »Protestarena«,21 selbst Teil der politischen Öffentlichkeit sind. Damit wird eine Zunahme von Protesten zu einem Thema — insbesondere Proteste, die viel Medienaufmerksamkeit auf sich ziehen — zum Bestandteil der Politisierung dieses Themas. Die Zunahme der Protestdichte wird hierbei sowohl hinsichtlich der Anzahl von Protestereignissen als auch von Teilnehmenden erfasst. Erstere wird dabei als Grad der Salienz eines Themas (im Protestgeschehen) verstanden und letztere als Akteursexpansion, da sich eine wachsende Gruppe von Personen am Protest beteiligt. Das Kriterium der Polarisierung wird hierbei oft nicht zusätzlich analysiert, sondern unter der Protestdichte subsumiert. Der Hintergrund hierfür ist die Annahme, dass wegen der inhärenten Konflikthaftigkeit von sozialen Bewegungen, und speziell von Protesten als Repräsentanten der »contentious politics«, ihre Zunahme als solche eine gewachsene Polarisierung des Themas ausdrückt.22 In einigen Studien zur Politisierung mit sozialen Bewegungen wird dennoch zusätzlich auf Polarisierung im Sinne einer wachsenden Spaltung verschiedener Protestlager verwiesen, wie beispielsweise die Kluft zwischen unterschiedlichen Protesten um das Thema der Migration, in der sich pro19 Zum Beispiel Grande, Hutter 2016a; Hooghe, Marks 2012; de Wilde 2011. 20 Vgl. Grande, Hutter 2016a; Hooghe, Marks 2012; Statham, Trenz 2013; de Wilde, Leupold, Schmidtke 2016; Hoeglinger 2016. 21 Hutter 2012. 22 S. zum Beispiel Dolezal, Hutter, Becker 2016, S. 113.

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migrantische und anti-migrantische Bewegungen mit zunehmend konträren Forderungen gegenüberstehen.23 Verschiedene Beiträge aus der Politisierungsforschung konzentrieren sich auf die externe Politisierung mit sozialen Bewegungen. So wird beispielsweise in einigen Studien zur Politisierung der EU-Integration die Rolle sozialer Bewegungen in Bezug auf die Protestdichte erfasst. Während sich der Großteil der Forschung zur Politisierung Europas mit sozialen Bewegungen nur am Rande befasst,24 erforschen wenige Studien die Anzahl von Protestereignissen mit EU-Bezug als Teil der Politisierung des Themas.25 Andere Untersuchungen kombinieren zudem die Menge der Protestereignisse mit der Anzahl der Protestteilnehmenden.26 Diese Analysen zeigen — wie auch verschiedene Studien aus dem Feld der Protest-und Bewegungsforschung27 — dass EU-bezogene Proteste in Europa und Deutschland über die letzten drei Jahrzehnte zugenommen haben und sich zu einem festen, wenn auch vergleichsweise kleinen Bestandteil der Protestlandschaft entwickelt haben.28 Darüber hinaus verweist die Politisierungsforschung darauf, dass dieser Trend — ähnlich wie die Politisierung der EU insgesamt — nicht linear verläuft, sondern geprägt ist von bestimmten Hochphasen und Politisierungsschüben anlässlich relevanter politischer Ereignisse. Solche Ereignisse beziehen sich vor allem auf Erweiterungsrunden, neue Abkommen und Referenden sowie jüngst die EUKrise.29 Zudem zeigen diese Studien, dass sich die inhaltlichen Schwerpunkte der Proteste von denen in Parteien und öffentlichen Debatten deutlich unterscheiden und damit Proteste in der Politisierung Europas eigene Akzente setzen. Speziell der starke Fokus von Protesten auf ökonomische und soziale Aspekte der EU weicht von den Anliegen der Parteien ab, die sich stärker auf Fragen der Mitgliedschaft und nationaler Souveränität fokussieren.30 1.2 Politisierung durch soziale Bewegungen Der Einfluss sozialer Bewegungen auf die Politisierung bestimmter Themen wird zudem in einem weiteren Sinne untersucht. So analysieren verschiedene Studien der Politisierungsforschung sowie der Protest- und Bewegungsforschung externe Politisierung in Bezug auf den Einfluss sozialer Bewegungen auf öffentliche Debatten und politische Entscheidungen. Anstatt Proteste als Indikator eines Politi23 Zum Beispiel Hutter, Kriesi 2013; Hutter 2012; Rucht 2018; Hinger, Daphi, Stern 2019. 24 Vgl. Anders, Scheller, Tuntschew 2018, S. 22. 25 Zum Beispiel Rauh, Zürn 2016; Baglioni, Hurrelman 2016. 26 Zum Beispiel Dolezal, Hutter, Becker 2016. 27 Vgl. Uba, Uggla 2011; della Porta, Caiani 2007; 2009; Imig, Tarrow 2001. 28 Protestereignisse mit EU-Bezug machen nur ca. 5 Prozent aller Proteste aus (vgl. Becker, Hutter 2017; Dolezal, Hutter, Becker 2016). 29 Zum Beispiel Grande, Hutter 2016a; 2016b; Rauh, Zürn 2016; de Wilde, Leupold, Schmidtke 2016. 30 Vgl. Becker, Hutter 2017; Dolezal, Hutter, Becker 2016. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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sierungsprozesses zu verstehen, werden hierbei soziale Bewegungen als potentielle Triebkräfte von Politisierungsprozessen erfasst. Zentrale Grundlage für diesen Ansatz ist, dass zwischen einer starken Mobilisierung einerseits und Änderungen in der öffentliche Debatte und politischen Entscheidungen andererseits unterschieden wird. Denn nicht jedes Protestanliegen findet seinen Weg in öffentliche Debatten und politische Entscheidungen. Natürlich können große Mobilisierungszahlen einen solchen Effekt positiv beeinflussen, zumal viele der oben besprochenen Studien zu Politisierung mit sozialen Bewegungen auf Medienanalysen zurückgreifen — sprich nur solche Proteste analysieren, über die in den Medien berichtet wurde. Allerdings sind weder Größe und Häufigkeit von Protesten noch mediale Aufmerksamkeit per se ein Garant für die nachhaltige Beeinflussung öffentlicher Debatten und politischer Entscheidungen, wie die Forschung zu den Konsequenzen sozialer Bewegungen zeigt.31 Vor diesem Hintergrund untersuchen Studien zur Politisierung durch soziale Bewegungen, inwieweit Forderungen sozialer Bewegungen in öffentliche Debatten und politische Entscheidungen Eingang finden. Die Begriffe der Salienz, Akteursexpansion und Polarisierung werden in diesen Untersuchungen selten genutzt, jedoch kommen diese Kriterien durchaus zum Einsatz, beispielsweise wenn die Häufigkeit von Bewegungsforderungen in öffentlichen Debatten analysiert wird (Salienz), oder die Zustimmung zu Bewegungsforderungen durch diverse Akteure (Akteursexpansion) oder — jedoch deutlich seltener — wenn eruiert wird, inwieweit Bewegungsforderungen kontrovers in Öffentlichkeit und Politik debattiert werden (Polarisierung). Die Literatur zur Politisierung von internationaler Politik und Global Governance untersucht beispielsweise den Einfluss der globalisierungskritischen Bewegung auf die öffentliche Debatte sowie auf politische Entscheidungen. Hierbei zeigen Studien nicht nur auf, dass globalisierungskritische Proteste gegen neoliberale Globalisierung und ihre Institutionen32 seit den 1990er Jahren einen sehr starken Zuwachs erfahren haben.33 Verschiedene Publikationen analysieren zudem auch den Einfluss globalisierungskritischer Bewegungen auf die öffentliche Debatte und politische Entscheidungen auf nationaler wie internationaler Ebene.34 Vor diesem Hintergrund wurden Fragen der Regulierung internationaler Angelegenheiten auf politischer und wirtschaftlicher Ebene zum Gegenstand eines explizit politischen Streits mit »divergierenden Interessenlagen, Werthaltungen und Lösungsstrategien«.35 So verweisen Untersuchungen zum einen auf die starke mediale Aufmerksamkeit, die globalisierungskritischen Protesten zuteilwurde.36 31 Vgl. zum Beispiel Giugni 2008. 32 Della Porta 2007; Daphi 2017a; 2020. 33 Vgl. Pianta, Marchetti 2007; Hutter, Kriesi 2013; Hutter 2012; Rucht, Teune 2017; della Porta 2007. 34 Zum Beispiel Zürn 2013; della Porta 2007; Rucht 2013; Beyeler 2013. 35 Rucht 2013, S. 62. 36 Beyeler, Kriesi 2005.

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Auch heben Studien die wachsende öffentliche Zustimmung zu den Zielen der Bewegung hervor37 und die hohe Bereitschaft, Protestaktionen gegen internationale Organisationen zu unterstützen38 sowie die wachsende Präferenz der Regulierung wirtschaftlicher Globalisierung in verschiedenen europäischen Ländern.39 Zudem zeigen Untersuchungen auf, wie Kritik und Vorschläge der Bewegungen zum Teil in politischen Entscheidungen auf internationaler40 wie auf nationaler Ebene aufgegriffen und umgesetzt wurden, zum Beispiel hinsichtlich der Entschuldung.41 Und auch der Einfluss auf nachfolgende Protestbewegungen wurde konstatiert, wie beispielsweise auf die Anti-Austeritätsbewegungen im Nachgang der Finanzkrise 2008.42 Auch Studien zur Politisierung des Themas der Migration untersuchen die Politisierung durch soziale Bewegungen. Die verstärkte Auseinandersetzung mit dem Thema Migration zählt zu den größten Veränderungen der Bewegungslandschaft in Europa und besonders in Deutschland in den letzten Jahrzehnten.43 So gehört das Thema zu den Protestanliegen, die am stärksten gewachsen sind seit den 1990er Jahren44 und zusätzlich seit den 2010er Jahren deutlich zunehmen.45 Seither hat Migration sich als ein bestimmendes Thema des Protests etabliert, einige Studien reden sogar von einem dominierenden Themengebiet.46 Verschiedene Publikationen analysieren vor diesem Hintergrund den Einfluss sozialer Bewegungen auf öffentliche Debatten um Migration. Untersuchungen befassen sich beispielsweise auf der Grundlage von Medienberichterstattung mit der Frage, wie häufig soziale Bewegungen mit ihren Forderungen in Debatten um Migration Erwähnung finden im Vergleich zu anderen Akteuren.47 Hierbei zeigt sich, dass zwar »Top-down«-Akteure wie politische Parteien und Regierungsverantwortliche den Diskurs weiterhin dominieren, soziale Bewegungen jedoch phasenweise in bestimmten Ländern und zu bestimmten Anlässen zu prominenten Akteuren werden.48

37 38 39 40 41 42 43 44 45

Beyeler, Kriesi 2005. Ecker-Ehrhardt, Weßels 2013. Zum Beispiel della Porta 2007; Pianta, Ellersiek, Utting 2012. Vgl. Zürn 2013. Vgl. zum Beispiel Pianta, Ellersiek, Utting 2012; Smith 2008. Maeckelbergh 2012; Flesher Fominaya 2015; Daphi 2020. Vgl. zum Beispiel Hutter, Teune 2012; Rucht, Teune 2017; Hutter, Kriesi 2013. Vgl. Hutter, Teune 2012; s. auch Rucht 2003. Zum Beispiel Becker, Hutter 2017; Monforte 2014; Rosenberger, Stern, Merhaut 2018; Rucht 2018; Jäckle, König 2017; Häusler, Virchow 2016; Hinger, Daphi, Stern 2019. 46 Zum Beispiel Hutter, Kriesi 2013. 47 Zum Beispiel van der Brug et al. 2015; Helbling, Höglinger, Wüest 2012. 48 S. van der Brug et al. 2015, zu Politisierung im Kontexte von Deportation siehe zum Beispiel Ruedin, Meyer, 2014.

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1.3 Zusammenfassung externe Politisierung Dieser Abschnitt hat verschiedene Ansätze innerhalb der Forschung zur externen Politisierung identifiziert. So wird der Frage danach, wie soziale Bewegungen zur Politisierung bestimmter Themen beitragen, sehr unterschiedlich nachgegangen. In Studien zur Politisierung mit sozialen Bewegungen wird die zunehmende Protestdichte als Bestandteil des Politisierungsprozesses erfasst und vor allem in Bezug auf Protestereignisse und Teilnehmende analysiert. Zum anderen wird in Untersuchungen der Politisierung durch soziale Bewegungen der Fokus darauf gelegt, wie soziale Bewegungen öffentliche Diskussionen oder politische Entscheidungen beeinflussen. Hierbei werden die in der breiteren Politisierungsliteratur genutzten Kriterien von Salienz, Akteursexpansion und Polarisierung jeweils in unterschiedlicher Weise relevant (s. Tabelle 1). In beiden Forschungssträngen werden vor allem die Dimensionen der Salienz und Akteursexpansion häufig untersucht, das Kriterium der Polarisierung deutlich seltener. Zentraler Hintergrund hierfür ist, dass oft davon ausgegangen wird, soziale Bewegungen seien per se konflikthaft — eine Annahme, die im kommenden Abschnitt kritisch beleuchtet wird. Tabelle 1: Ebenen und Kriterien der externen Politisierung Kriterien

Salienz

Akteursexpansion

Polarisierung

Politisierung mit sozialen Bewegungen

Zunahme der Protestereignisse zum Thema?

Zunahme der Protestteilnehmenden zum Thema?

Zunahme der Differenzen innerhalb von Bewegungslandschaft? (zum Beispiel Gegenproteste)

Politisierung durch soziale Bewegungen

Themen der Bewegung zunehmend sichtbar in öffentlicher Debatte?

Themen der Bewegung zunehmend von verschiedenen Akteuren aufgegriffen?

Themen der Bewegung zunehmend kontrovers diskutiert in Öffentlichkeit und Politik?

Ebenen

2. Interne Politisierung: soziale Bewegungen als Objekt der Politisierung Neben dem Beitrag sozialer Bewegungen zur Politisierung bestimmter Themen in Öffentlichkeit und politischen Institutionen untersuchen verschiedene Publikationen eine weitere Dimension des Verhältnisses von sozialen Bewegungen und Politisierung. Wie im Folgenden gezeigt wird, sind diese Veränderungsprozesse insofern intern, als es sich hierbei — im Gegensatz zur externen Politisierung durch soziale Bewegungen — nicht um den Effekt sozialer Bewegungen auf öffentliche Diskurse oder politische Entscheidungen handelt, sondern um Veränderungsprozesse innerhalb der Bewegungslandschaft. Auch unterscheidet sich die interne Politisierung von der externen Politisierung mit sozialen Bewegungen, da hier weniger die Frage im Vordergrund steht, ob bestimmte Themen durch soziale Bewegungen mobilisiert werden, sondern wie diese mobilisiert werden. Das heißt, dass während Politisierung mit sozialen Bewegungen für die Zunahme von Protesten,

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und Entpolitisierung entsprechend für deren Abnahme steht (Demobilisierung), spricht die interne (Ent-)Politisierung veränderte Formen der Mobilisierung an. Debatten um Politisierung sind nicht neu in der Protest- und Bewegungsforschung. Vor allem der sozialpsychologische Strang der Literatur setzt sich seit vielen Jahren mit Politisierungsprozessen auf der individuellen Ebene auseinander. Hierbei wird untersucht, unter welchen Bedingungen und in welcher Form sich Individuen politisieren, also ein politisches Interesse oder Bewusstsein entwickeln.49 Die Politisierung von Individuen ist von zentraler Bedeutung für soziale Bewegungen, da sie entscheidend dazu beiträgt, ob sich Menschen an Protesten und sozialen Bewegungen beteiligen. Die aktuellen Debatten um (Ent-)Politisierung befassen sich jedoch mit anderen Veränderungen, nämlich mit Entwicklungen auf der kollektiven statt der individuellen Ebene. Das heißt, anstelle individueller Prioritätsveränderungen geht es um die Frage, inwieweit und unter welchen Bedingungen sich ganze Bewegungen oder Bewegungsorganisationen über die Zeit politisieren oder entpolitisieren. Diese interne Dimension der Politisierung lenkt den Blick darauf, dass Protest und soziale Bewegungen nicht nur Triebkräfte des gesellschaftlichen und politischen Wandels sind, sondern auch selbst Veränderungsprozessen unterliegen.50 Die Diskussion um (Ent-)Politisierung in sozialen Bewegungen entspannt sich im Kontext bestimmter Entwicklungstendenzen: Zum einen sind soziale Bewegungen trotz ihrer weniger stark formalisierten Organisationsstrukturen vor einigen Änderungen im Feld intermediärer Akteure nicht gefeit,51 darunter Prozesse der Professionalisierung, Medialisierung und Spezialisierung.52 Zum anderen wurde die Debatte — vor allem um Entpolitisierung — durch die Vervielfältigung der Beteiligungsmöglichkeiten angefacht, zum Beispiel, wie unten ausführlich diskutiert, im Kontext von politischem Konsum und Online-Aktivismus. Im Folgenden werden zentrale Stränge der Literatur zur internen (Ent-)Politisierung besprochen und gegenübergestellt. Hierbei wird unter anderem deutlich, dass während bestimmte Studien eine zunehmende Entpolitisierung sozialer Bewegungen konstatieren, andere eher eine zunehmende Politisierung beobachten. Dies liegt zum einen am Fokus auf verschiedene Bereiche des politischen Engagements. So heben einige Publikationen hervor, dass eine allgemeine Entpolitisierung jenseits von Einzelfallstudien in bestimmten Themengebieten empirisch nicht belegt sei.53 Zum anderen — wie im Folgenden gezeigt wird — kommen Untersuchungen jedoch auch zu verschiedenen Ergebnissen, da interne Politisierung anhand abweichender Kriterien erfasst und auf unterschiedlichen Ebenen bemessen wird. Insbesondere lassen sich hierbei zwei Kriterien interner Politisierung unterscheiden, die zwar miteinander verbunden sind, jedoch jeweils andere Änderungspro49 50 51 52 53

Zum Beispiel Klandermans 2014, Simon, Klandermans 2001; van Stekelenburg 2014. Daphi et al. 2017 Zum Beispiel Steiner, Jarren 2009; Marcinkowski 2015. Rucht, Teune 2017. Thörn et al. 2017, S. 7; Baringhorst et al. 2017.

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zesse ansprechen: der Grad der Konflikthaftigkeit und der Grad kollektiver Relevanz. Dabei wird auch deutlich, dass sich diese Kriterien unterscheiden von denjenigen, die in Analysen zur externen Politisierung zur Anwendung kommen. 2.1 Konflikthaftigkeit In einem großen Teil der Debatten um Politisierungs- und Entpolitisierungstendenzen sozialer Bewegungen wird im Sinne eines eher diskursorientierten Verständnisses von Politik zentral das Kriterium der Konflikthaftigkeit in den Blick genommen. Hierzu zählen verschiedene Publikationen der letzten Jahre zu Lifestyle- oder Alltagsaktivismus,54 politischem Konsum55 und post-politics.56 In diesen Studien erfasst das Kriterium der Konflikthaftigkeit vor allem, inwieweit soziale Bewegungen den Status Quo grundsätzlich in Frage stellen.57 Hierbei sprechen Untersuchen oftmals zwei Ebenen der Konflikthaftigkeit an, die in vielen Fällen gemeinsam verhandelt werden, jedoch der Unterscheidung bedürfen. Zum einen lässt sich das Kriterium der Konflikthaftigkeit auf die Ziele sozialer Bewegungen beziehen und wie grundlegend diese bestehende Zustände kritisieren, zum Beispiel das politische oder wirtschaftliche System. Zum anderen betrifft Konflikthaftigkeit die Ebene der Aktionsrepertoires und damit die Frage, wie konfrontativ oder disruptiv Aktivitäten sozialer Bewegungen sind.58 Während beide Ebenen oft miteinander verknüpft sind (zum Beispiel fundamentale Systemkritik verbunden mit maximal disruptiven Aktionen), ist dies bei weitem nicht immer der Fall und kann nicht vorausgesetzt werden.59 In dieser Weise definiert unterscheidet sich das Kriterium der Konflikthaftigkeit von dem Kriterium der Polarisierung im Kontext externer Politisierung: während letztere sich auf das Verhältnis verschiedener Standpunkte zueinander konzentriert, wird Konflikthaftigkeit weniger anhand der Distanz zwischen verschiedenen Akteuren und ihren Standpunkten erfasst (Polarisierung) und mehr hinsichtlich der Distanz der Ziele und Aktionsformen sozialer Bewegungen zum Status Quo verschiedener gesellschaftlicher Bereiche. Das Kriterium der Konflikthaftigkeit kommt zum Beispiel zentral zum Einsatz in Arbeiten, die sich mit sozialen Bewegungen im Kontext von »post-politics«60 54 Zum Beispiel Haenfler, Johnson, Jones 2012; Baringhorst 2015. 55 Zum Beispiel Stolle, Hooghe, Micheletti 2005. Copeland (2014) argumentiert, dass Boykotte der klassischen Interessenpolitik ähnlicher seien als Buykotte (also der bewusste Kauf bestimmter Produkte anstelle anderer), weil dem Verzicht auf den Kauf von Gegenständen ein stärker konfliktorientiertes Verhalten zugrunde liegt. 56 Zum Beispiel Swyngedouw 2011, Blühdorn 2014. 57 Vgl. de Moor 2020. 58 Zum Beispiel Hekma, Duyvendak 2011; s. auch de Moor 2020 59 So kann beispielsweise fundamentale Systemkritik auch mit weniger disruptiven Taktiken verbunden sein (zum Beispiel marxistische Parteien) und disruptive Taktiken mit weniger fundamentaler Kritik (zum Beispiel food riots). 60 Zum Beispiel Swyngedouw 2007; 2011; Jaeger 2007; Blühdorn 2013; s. auch Mouffe 2005.

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befassen. Zentrales Argument dieser Publikationen ist, dass Entpolitisierungstendenzen nicht nur das politisch-administrative System beträfen aufgrund ihrer zunehmenden Hinwendung zu konsensorientierten und technokratischen Lösungsansätzen, sondern auch hinsichtlich des gesellschaftspolitischen Engagements zu beobachten seien.61 Dies wurde besonders prominent im Kontext von Umweltthemen und speziell in Debatten um Nachhaltigkeit62 konstatiert, da dieses Politikfeld zunehmend von institutionalisierten Beteiligungsformaten geprägt wurde,63 beispielsweise im Kontext von internationalen Organisationen. Vor diesem Hintergrund argumentieren verschiedene Studien, Umweltbewegungen seien zusehends in ein Geflecht konsensualer Governance-Praktiken eingehegt und Konflikte würden damit kaum öffentlich ausgetragen.64 Fundamentale Kritik und disruptive Taktiken spielten damit eine nachrangige Rolle. Zudem beobachten einige jüngere Publikationen besonders in Bezug auf das politische Engagement im Umweltbereich post-politische Zustände, da sich hier über die letzten Jahre sehr prominent verschiedene »Alternativ-Praktiken« durchgesetzt hätten, wie alternative Produktions-und Konsumprojekte.65 Auch hier ist das zentrale Kriterium der Entpolitisierung die mangelnde Konflikthaftigkeit, vor allem hinsichtlich der Aktionsrepertoires, da in diesen »Alternativen« statt Disruption die Bereitstellung von Lösungen im Zentrum steht.66 Die Konflikthaftigkeit der Ziele variiert in diesem »Alternativ«-Engagement, wie Studien zeigen, da es Bewegungen mit und ohne grundlegende Kritik am Status Quo umfasst.67 Gleichzeitig weisen jüngere Studien auf eine partielle Repolitisierung im Engagement zur Umwelt hin, da jüngere Umweltbewegungen, vor allem die aktuellen Klimagerechtigkeitsbewegungen, wieder stärker zu konflikthaften Taktiken greifen (zum Beispiel Ende Gelände, Extinction Rebellion) und den Umweltschutz stärker mit fundamentaler Kritik verbinden — insbesondere mit Fragen sozio-ökonomischer Gerechtigkeit.68 Über das Themenfeld der Umwelt hinaus wurden in den letzten Jahren Prozesse der Politisierung und Entpolitisierung besonders in zwei weiteren Engagementgebieten diskutiert. Dies betrifft zum einen das politische Engagement im Nachgang der Finanzkrise 2008. In diesem Kontext entstanden viele »Alternativ-Praktiken«, vor allem in Regionen, die von Krise und Sparmaßnahmen besonders stark betroffen waren. Verschiedene Studien beschreiben, wie sich diese Aktivitäten —

61 62 63 64 65 66 67 68

Vgl. zum Beispiel Swyngedouw 2007; 2011; Jaeger 2007. Zum Beispiel Swyngedouw 2007; Blühdorn 2013; 2017. Zum Beispiel Dalton, Recchia, Rohrschneider 2003; Rucht, Roose 2001. Swyngedouw 2007; 2011, s. auch Blühdorn 2013. Zum Beispiel de Moor, Marien, Hooghe 2017; Kenis, Lievens 2014; Kenis 2016. Zum Beispiel de Moor, Marien, Hooghe 2017; Kenis 2016. Vgl. Kenis, Lievens 2014. Thörn et al. 2017; Chatterton, Featherstone, Routledge 2013; Hadden 2015; Sander 2017.

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auch »resilience activism«69 oder »direct social action«70 genannt — darauf konzentrieren, direkte und oft lokale Lösungen für Probleme und grundlegende Bedürfnisse anzubieten. Hierzu zählen unter anderem solidaritätsbasierte Tauschbörsen, Anlaufstellen für Rechtsberatung oder Krankenversorgung. Während einige Publikationen die Hinwendung zivilgesellschaftlicher und politischer Gruppen zu solch direkter Nothilfe als Anzeichen einer sinkenden Konflikthaftigkeit in Zielen und Aktionsformen interpretieren, betonen andere, dass sich einige Gruppen in diesem Kontext politisiert hätten, da im Laufe der Zeit zunehmend konfrontativere Mittel des Protests genutzt wurden71 oder weil Themen sozialer Sicherung zunehmend mit grundlegender Kritik am wirtschaftlichen und politischen System verbunden wurden.72 Zum anderen ist jüngst auch im Kontext des politischen Engagements zu Migrationsthemen vermehrt die Rede von Prozessen der Politisierung und Entpolitisierung, vor allem in Bezug auf die Vielfalt von zivilgesellschaftlichen Aktivitäten ab dem Jahr 2015. Ähnlich wie im Kontext der Finanzkrise konzentrierte sich ein großer Teil des pro-migrantischen Engagements in diesem Kontext auf direkte und oft lokale Lösungen für grundlegende Bedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft, Gesundheit, Kinderbetreuung und Bildung.73 Vor diesem Hintergrund werfen verschiedene Publikationen die Frage auf, inwieweit die Hinwendung zu direkter Nothilfe Bewegungsgruppen von grundlegenderer Kritik und disruptiveren Aktionsformen abhält.74 Gleichzeitig verweisen einige Studien darauf, dass sich in diesem Kontext nicht nur mehr Menschen engagiert hätten (individuelle Politisierung), sondern auch, dass sich verschiedene Initiativen zunehmend politisiert hätten. Zum einem politisiert in dem Sinne, dass sie ihr Engagement stärker mit politischen Forderungen verknüpfen (zum Beispiel Änderung des Asylrecht, Infragestellung des Grenzregimes), zum anderen weil neben Hilfsangeboten einige Gruppen zunehmend auch konfrontativere Aktionsformen gewählt haben.75 2.2 Kollektive Relevanz Neben dem oben angesprochenen Kriterium der Konflikthaftigkeit kommt in Untersuchungen zu Politisierungs- und Entpolitisierungsprozessen in sozialen Bewegungen auch noch ein weiteres Kriterium zum Tragen, das sich als Grad »kollektiver Relevanz« zusammenfassen lässt. So erfassen verschiedene Studien (Ent-)Politisierungsprozesse anhand der Frage, inwieweit soziale Bewegungen kollektive oder gemeinwohlorientierte Ziele verfolgen und inwieweit sie sich beim Umsetzen 69 70 71 72 73 74 75

Kousis 2017; Kousis, Paschou 2017; D’Albergo, Moini 2017. Bosi, Zamponi 2015. Giugni, Grasso 2018. Zamponi, Bosi 2018; s. auch Nachtwey 2017. Daphi 2017b. Vgl. Zamponi 2017; Daphi 2017b. Zum Beispiel D’Amato, Schwenken 2018; Rygiel 2012; Ataç, Rygiel, Stierl 2016; Monforte, Dufour 2013; Zamponi 2017; Hammann, Karakayali 2016.

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dieser Ziele kollektiv organisieren und die breitere Öffentlichkeit ansprechen. In einigen Publikationen zu interner Politisierung kommen sowohl das Kriterium der Konflikthaftigkeit als auch das der kollektiven Relevanz zum Einsatz und werden zum Teil kaum voneinander getrennt. Allerdings ist eine Unterscheidung beider Kriterien analytisch sinnvoll, da hierbei jeweils unterschiedliche Veränderungsprozesse erfasst werden, die sich zwar beeinflussen können, sich jedoch auch unabhängig voneinander entwickeln können. Während das Kriterium der Konflikthaftigkeit sich damit befasst, wie grundlegend Ziele und Aktionsformen vom Status Quo abweichen, steht beim Kriterium der kollektiven Relevanz die Frage im Fokus, inwieweit kollektiv-relevante Ziele verfolgt und mithilfe kollektiver Ansprache mobilisiert werden. Eine Zunahme kollektiv-relevanter Ziele kann mit einer zunehmenden Distanzierung vom Status Quo einhergehen, muss es jedoch nicht zwangsläufig. Damit sind voneinander unabhängige (Ent-)Politisierungsprozesse in Bezug auf kollektive Relevanz und Konflikthaftigkeit denkbar (s. Tabelle 2). Ähnlich wie im Falle des Kriteriums der Konflikthaftigkeit, lassen sich bezüglich des Grades der kollektiven Relevanz die Ebenen von Bewegungszielen und Aktionsformen unterscheiden. Denn zum einen betrifft das Kriterium der kollektiven Relevanz die Frage, inwieweit der Aktivismus Ziele verfolgt, die für ein Kollektiv relevant sind, welches über das eigene direkte soziale Umfeld hinausgeht. Zum anderen betrifft das Kriterium der Relevanz die Frage, inwieweit Aktionsrepertoires auf die Ansprache breiterer Kollektive Wert legen — vor allem der Öffentlichkeit aber auch bestimmter politischer Institutionen.76 So unterscheiden beispielsweise verschiedene Studien zwischen Aktionsrepertoires, die primär auf die Überzeugung und Ansprache der Öffentlichkeit setzen und solche, die primär auf die direkte Umsetzung von Zielen abstellen.77 Entpolitisierung sozialer Bewegungen meint in diesem Zusammenhang die wachsende Hinwendung zu Anliegen und Aktionsformen, die wenig bis keine gesamtgesellschaftliche Relevanz haben und nur begrenzt für öffentliche Diskussion oder politische Regulierung gedacht oder geeignet sind. Das Kriterium der kollektiven Relevanz lässt sich in verschiedenen Publikationen zur Änderung der politischen Beteiligung finden. Die Vervielfältigung von Beteiligungsmöglichkeiten im Kontext von politischem Konsum und Alltagsaktivismus hat zu einer regen Debatte geführt zu der Frage, welche Merkmale politisches Engagement auszeichnen.78 Hierbei wird bezüglich der Ebene der Ziele in jüngeren Studien argumentiert, das engere Verständnis politischer Ziele müsse erweitert werden und nicht nur Ziele umfassen, die Entscheidungen politischer Institutionen beeinflussen wollen, sondern auch solche, die eher auf sozialen Wandel allgemein zielen und kollektive oder gemeinschaftsorientierte Probleme lösen wollen.79 Auf der Ebene der Aktionsrepertoires hat sich in den letzten Jahren insbesondere 76 77 78 79

Vgl. Gillan 2019. Gillan 2019; Bosi, Zamponi 2015. Hooghe 2014; de Moor 2017; van Deth 2014; Gillan 2019. Zum Beispiel Barinhorst 2015; van Deth 2014.

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die Literatur zu präfigurativer Politik mit der politischen Bedeutung bestimmter Aktionsformen auseinandergesetzt. Präfigurative Politik bezieht sich auf Aktivitäten, die Bewegungsziele direkt im unmittelbaren Umfeld umsetzen, wie basisdemokratische Verfahren oder nachhaltige Wohn- und Lebensformen.80 Präfiguration legt dementsprechend wenig Wert auf das »claimmaking« in der Öffentlichkeit. Einige Untersuchungen heben hervor, auch solche Aktionsformen hätten politische Bedeutung im Sinne kollektiver Relevanz, da die Umsetzung der Bewegungsziele im »Kleinen« dazu gedacht sei, gesellschaftliche Veränderungen im Großen anzuregen und »vorzubilden« (zu präfigurieren).81 Sie argumentieren vor diesem Hintergrund, dass es falsch sei, präfigurativer Politik politische Relevanz abzusprechen aufgrund ihrer geringen Konflikthaftigkeit (Problemlösung statt Opposition) und ihrer fehlenden kollektiven Ansprache auf der Aktionsebene. Dies unterstreicht die Notwendigkeit in Untersuchungen von (Ent-)Politisierungsprozessen zwischen dem Kriterium der Konflikthaftigkeit und kollektiven Relevanz einerseits sowie zwischen der Aktions- und Zielebene andererseits zu unterscheiden. Eine Vielzahl an Studien konstatiert einen Trend sinkender kollektiver Relevanz und verortet diesen zum einen im Kontext verschiedener allgemeiner gesellschaftlicher Trends wie der Individualisierung, des Wertewandels (Postmaterialismus) und neoliberaler Politik.82 Zum anderen werden spezifische Entwicklungen in der Bewegungslandschaft für die Veränderung verantwortlich gemacht, wie die wachsende Bedeutung spontaner Zusammenschlüsse und loser Netzwerke sowie stärker anlass- und projektgebundener Mobilisierungen.83 Einige Studien bringen den Trend sinkender kollektiver Relevanz insbesondere mit der verstärkten Nutzung digitaler Medien und speziell sozialer Medien in Zusammenhang. So heben verschiedene Publikationen hervor, dass digitale Medien individualisierte Engagementformen begünstigten,84 darunter beispielsweise Online-Konsultationen85 und sich soziale Bewegungen vor diesem Hintergrund zunehmend entpolitisierten, da sie sich vermehrt Anliegen widmeten, die sich an persönlichen und kurzweiligen Befindlichkeiten orientierten und weniger an kollektiven und gemeinwohlorientierten Zielen.86 Jüngere Studien zu stark individualisierten Kampagnen heben jedoch hervor, dass die Individualisierung politischen Engagements nicht notwendigerweise mit einem »zunehmenden Desinteresse an kollektiven Angelegenheiten« und damit einer Entpolitisierung gleichzusetzen sei und sich durchaus auch gesamtgesellschaftlich relevanten Themen und politischen 80 Vgl. Maeckelbergh 2011; Yates 2015b; Gillan 2019. 81 Zum Beispiel Yates 2015a; Haenfler, Johnson, Jones 2012; Doherty, Hayes 2014; s. auch Gillan 2019. 82 Zum Beispiel Copeland 2014; Baringhorst 2015. 83 Edelman 2001; Rucht, Teune 2017. 84 Zum Beispiel Bennett, Segerberg 2013; Bennett 2012. 85 Michelsen, Walter 2013. 86 Zum Beispiel Greven 2008; Blühdorn 2013; 2014.

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Anliegen widme.87 So zeigen beispielsweise Untersuchungen zu mittels Onlineplattformen organisierten Umweltkampagnen, dass diese trotz stark personalisierter Ausrichtung durchaus kollektive Organisationsformen und Anliegen wie das Grundwasser und den Umweltschutz beinhalten. 88 2.3 Zusammenfassung interne Politisierung Dieser Abschnitt hat verdeutlicht, dass die interne Politisierung deutlich andere Veränderungsprozesse fasst als die externe Politisierung. Es wurde zudem gezeigt, dass Studien zur internen Politisierung auf unterschiedliche Kriterien zurückgreifen (Konflikthaftigkeit oder kollektive Relevanz) und verschiedene Ebenen der internen Politisierung untersuchen (Aktionsrepertoires oder Ziele). Diese Unterscheidungen helfen zu verstehen, warum Analysen zu abweichenden Ergebnissen kommen bezüglich der (Ent-)Politisierung sozialer Bewegungen: Jenseits des Fokus auf bestimmte Fälle und Themengebiete politischen Engagements werden stark abweichende Kriterien und Ebenen interner Politisierung berücksichtigt. Für ein vollständiges Bild bedarf es damit in zukünftigen Untersuchungen der Berücksichtigung der verschiedenen Kriterien und Ebenen — sowie ihrer Wechselwirkungen. Wie gezeigt wurde, lässt sich innerhalb der Kriterien der Konflikthaftigkeit und der kollektiven Relevanz jeweils zwischen der Ebene der Ziele sozialer Bewegungen und der Ebene der Aktionsrepertoires unterscheiden (s. Tabelle 2). Ziele sozialer Bewegungen können sich ändern sowohl in Bezug darauf, wie grundlegend sie sind, als auch wie kollektiv sie sind. Aktionsformen können ebenso variieren abhängig davon, wie disruptiv sie sind oder wie stark sie Öffentlichkeit und politische Institutionen adressieren. Dies unterstreicht, dass interne (Ent-)Politisierungsprozesse in vier unterschiedlichen Bereichen stattfinden können (s. Tabelle 2), die sich unabhängig voneinander entwickeln können. Während alle vier Bereiche durchaus miteinander verknüpft sein können (zum Beispiel kollektive Ziele zusammen mit grundlegender Kritik) bedeutet die (Ent-)politisierung eines Bereiches nicht zwangsläufig die entsprechende Entwicklung im anderen. So ist beispielsweise die zunehmende Hinwendung einer Bewegung zu einer weniger ausgeprägten Ansprache der Öffentlichkeit in den Aktionsformen nicht automatisch verbunden mit weniger gesamtgesellschaftlich relevanten Zielen.

87 Baringhorst 2015, S. 19. 88 Baringhorst et al. 2017. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Tabelle 2: Ebenen und Kriterien interner (Ent-)Politisierung Grad der Konflikthaftigkeit

Grad kollektiver Relevanz

Ziele

Wie fundamental wird Status Quo in Frage gestellt?

Inwieweit werden Ziele mit kollektiver oder gesellschaftlicher Relevanz verfolgt?

Aktionsrepertoires

Wie disruptiv sind Aktionsrepertoires?

Inwieweit adressieren Aktionen Öffentlichkeit und politische Institutionen?

Ebenen

Kriterien

3. Fazit In diesem Beitrag wurde das vielfältige Verhältnis zwischen Politisierung und sozialen Bewegungen beleuchtet. Unter Rückgriff auf diverse Studien aus der Politisierungsliteratur und der Protest- und Bewegungsforschung wurde gezeigt, wie unterschiedlich der Begriff der Politisierung verwendet und gemessen wird. Es wurde zum einen differenziert zwischen einer externen Dimension der Politisierung, in der untersucht wird, wie soziale Bewegungen zur Politisierung bestimmter Themen beitragen, und einer internen Dimension, in der erfasst wird, inwiefern soziale Bewegungen selbst Objekt von Politisierungs- und Entpolitisierungsprozessen sind. Interne und externe Politisierungsprozesse unterscheiden sich damit stark. Der Gegenstand der Politisierung ist grundlegend anderer Natur — im Fall der externen Politisierung sind es bestimmte Themen, die politisiert werden, im Fall der internen Politisierung sind es die sozialen Bewegungen selbst, die sich als kollektive Akteure politisieren oder entpolitisieren. Damit rücken in der internen Dimension Veränderungen innerhalb der Bewegungslandschaft in den Vordergrund. Zum anderen hat der Beitrag deutlich gemacht, dass innerhalb der internen und externen Dimension jeweils unterschiedliche Kriterien zur Bemessung von (Ent-)Politisierungsprozessen Anwendung finden. So werden externe Politisierungsprozesse auf verschiedenen Ebenen und mit abweichenden Analysekriterien untersucht. Viele Studien konzentrieren sich auf die Politisierung mit sozialen Bewegungen und werten dabei das Vorkommen von Protest an sich als Bestandteil der Politisierung eines Themas. Politisierungsprozesse werden folglich zentral anhand der wachsenden Protestdichte erfasst — sowohl hinsichtlich der Zunahme von Protestereignissen (Salienz) als auch von Protestbeteiligung (Akteursexpansion) und selten auch der Differenz der Standpunkte (Polarisierung). Andere Untersuchungen befassen sich hingegen mit einer anderen Ebene der externen Politisierung, der Politisierung durch soziale Bewegung. Hierbei werden soziale Bewegungen als mögliche Triebkräfte von Politisierung verstanden und ihr Einfluss auf öffentliche Debatten sowie politische Entscheidungen analysiert. In Studien zu internen Politisierungsprozessen kommen hingegen andere Kriterien zur Anwendung als in externen Prozessen. Zentral ist im Gegensatz zur externen Politisierung weniger, welche Themen mobilisiert werden, sondern wie sie

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mobilisiert werden. Die diskutierten Publikationen untersuchen dies auf unterschiedliche Weise. Während einige Studien hauptsächlich das Kriterium der Konflikthaftigkeit in den Blick nehmen, widmen sich andere dem Grad der kollektiven Relevanz. Dies zeigt, dass — anders als in der externen Politisierung — die klassischen Politisierungskriterien der Salienz, Akteursexpansion und Polarisierung eine untergeordnete Rolle spielen in der Analyse der internen Politisierung. Zudem wurde deutlich, dass zwischen den Ebenen der Ziele und Aktionsformen unterschieden werden muss in internen (Ent-)Politisierungsprozessen, da eine Veränderung auf der einen Ebene nicht zwangsläufig mit der Veränderung der anderen einhergeht. Auf übergeordneter Ebene sollen die analytischen Differenzierungen des Beitrages zu einem besseren Verständnis beitragen, auf welcher Basis bestehende Studien ihre Aussagen zu Politisierungsprozessen treffen — sowohl hinsichtlich der angewandten Analysekriterien als auch der (nicht) berücksichtigten Änderungsebenen. Zum anderen lenkt der Beitrag den Blick darauf, dass es für Aussagen zu allgemeinen Entwicklungstrends hinsichtlich der internen und externen (Ent-) Politisierung im Kontext sozialer Bewegungen jeweils der Berücksichtigung verschiedener Kriterien und Ebenen bedarf — sowie ihrer Wechselwirkungen. Darüber hinaus legt der Beitrag nahe, dass sich ein genauerer Blick auf die Interaktion von internen und externen Politisierungsprozessen für zukünftige Untersuchungen lohnt. Denn während sich interne und externe Politisierungsprozesse stark voneinander unterscheiden, können sie sich in verschiedener Hinsicht nachhaltig gegenseitig beeinflussen. So hätte beispielsweise der wachsende Fokus einer sozialen Bewegung auf Aktionsrepertoires, die weniger stark die Öffentlichkeit ansprechen (zum Beispiel weniger Demonstrationen) sowohl klare Konsequenzen für die externe Politisierung mit sozialen Bewegungen (geringere Protestdichte) als auch potentiell auf die Politisierung durch soziale Bewegungen (zum Beispiel weniger starker Einfluss auf die öffentliche Debatte). Gleichzeitig kann auch die externe Politisierung interne Veränderungsprozesse prägen, zum Beispiel wenn interne Abwägungen davon abhängig gemacht werden, wie die öffentliche Resonanz (Politisierung durch soziale Bewegungen) bisher ausgefallen ist. Die verschiedenen Wechselwirkungen zwischen interner und externer Politisierung und ihre Entstehungsbedingungen sollten in zukünftigen Studien zu Politisierung im Kontext sozialer Bewegungen stärkere Berücksichtigung finden. Literaturverzeichnis Anders, Lisa; Scheller, Henrik; Tuntschew, Thomas 2018. »Die Politisierung der Europäischen Union und die Rolle der Parteien«, in Parteien und die Politisierung der Europäischen Union, hrsg. v. Anders, Lisa; Scheller, Henrik; Tuntschew, Thomas, S. 1-35. Wiesbaden: VS. Ataç, Ilker; Rygiel, Kim; Stierl, Maurice 2016. »Introduction: The Contentious Politics of Refugee and Migrant Protest and Solidarity Movements: Remaking Citizenship from the Margins«, in Citizenship Studies 20, 5, S. 527-544. Baglioni, Sebastian; Hurrelmann, Achim 2016. »The Eurozone Crisis and Citizen Engagement in EU affairs« in West European Politics 39, 1, S. 104-124.

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Priska Daphi

Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht die diversen Bedeutungen von Politisierung im Kontext sozialer Bewegungen. Es wird zum einen gezeigt, dass sich die Forschung mit sehr unterschiedlichen Politisierungsdimensionen befasst — sowohl mit Änderungsprozessen außerhalb als auch innerhalb der Bewegungslandschaft. Darüber hinaus wird deutlich, dass Untersuchungen interner und externer Politisierung zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, da sie jeweils verschiedene Analysekriterien und Entwicklungsebenen berücksichtigten. Stichworte: Politisierung, soziale Bewegungen, Protest, post-politics, präfigurative Politik

Politicization and social movements: two perspectives Abstract: The paper explores the diverse conceptualizations of politicization in the context of social movements. It shows that existing research examines very different dimensions of politicization — namely both changes outside as well as inside social movements. Furthermore, the paper demonstrates that studies of internal and external politicization come to different conclusions because within both diverging analytical criteria and levels are addressed. Keywords: Politicization, social movements, protest, post-politics, prefigurative politics

Eva Herschinger

Radikalisierung als weibliche Subjektwerdung? Die Bedeutung von Geschlecht im Kontext von Politisierung

Punk-Band-Frontfrau, Ex-Katholikin, Kosmetikverkäuferin – für die meisten klingt das nicht nach der Biographie einer der ehemals aktivsten Anhängerinnen des Islamischen Staates (IS). Und doch: Bis Sally Jones im Juni 2017 vermutlich bei einem US-Drohnenangriff ums Leben kam, war die Britin für mehr als vier Jahre eines der prominenten weiblichen Mitglieder des IS. Unter ihren noms de guerre »Umm Hussain al-Britani« oder »Sakinah Hussain« betrieb sie in solchem Maße Propaganda und Rekrutierung für den IS, dass die Vereinten Nationen sie ab September 2015 als eine der meistgesuchten Terroristinnen listeten. Die Geschichte von Jones ist in vielerlei Hinsicht interessant, rührt sie doch an der gerade in der internationalen Politik (und der Disziplin der Internationalen Beziehungen) anzutreffenden Vorstellung, Frauen seien eher Opfer als Täterinnen, weil sie – so die Ansicht – von Natur aus friedliebender und unpolitischer seien als Männer.1 Frauen wie Sally Jones oder auch Ulrike Meinhof sowie Beate Zschäpe stellen diese Vorstellung in Frage, weil sie darauf verweisen, dass sowohl die Beteiligung von Frauen an terroristischen Gruppen als auch weibliche Radikalisierung weder neu noch extrem selten sind. Während es in der Literatur verschiedene Ansätze gibt, um zu verstehen, warum Frauen sich radikalisieren und zu terroristischer Gewalt greifen, soll hier eine hegemonietheoretische und genderbasierte Perspektive eingenommen werden, die weg vom Individuum und der Gruppe geht. Denn Radikalisierung und Terrorismus passieren in einem (diskursiven) gesellschaftspolitischen Raum, der von verschiedenen Dynamiken durchzogen ist. Zwei zentrale dieser zeitgenössischen Dynamiken werden hier genauer in den Blick genommen: die der Politisierung und Entpolitisierung. Sie bilden den Kontext, innerhalb dessen in diesem Beitrag die Bedeutung von Gender für weibliche Radikalisierung und Terrorismusbeteiligung diskutiert wird. Zwei Argumente stehen dabei im Vordergrund. Erstens soll weibliche Radikalisierung als eine Politisierung von Frauen verstanden werden. Dies unter der Prämisse, dass Politisierung als der zunehmende Einschluss und steigende Einfluss von zum Teil bislang exkludierten Akteuren, die inhaltliche Ausweitung auf u. a. die normativen Rahmenbedingungen eines politischen Systems sowie die Intensivierung und gesteigerte Reichweite von Konflikten verstanden werden kann.2 Es handelt sich um eine Politisierung von Frauen, da diese ihren Platz im radikalisierten Diskurs und/oder Raum des Terrors suchen. Eine solche Politisierung entspricht der Subjektwerdung von Frauen als Akteurinnen des Terrors, da sie ihren 1 Vgl. u. a. Sjoberg, Tickner 2013, S. 176-178. 2 Siehe die Herausgeber in diesem Band; auch Grande, Kriesi 2013. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020, S. 121 – 145

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Platz im radikalisierten Diskurs auch finden und behaupten. Gerade die Beteiligung von Frauen im IS und seinen Aktionen ist hier instruktiv, da Frauen in dieser zeitgenössischen Terrororganisation eine prominente Rolle innehatten. Wie erfolgt diese Politisierung? Hier setzt das zweite Argument an. Voraussetzung ist ein hegemonietheoretischer Blick, der die Frage nach dem »Wie« weiblicher Politisierung einfangen kann. Mehr noch: Der Blick erlaubt es auch, die Bedeutung der Interaktion zwischen gesellschaftlichen Geschlechterrollen und Geschlechterdiskursen und den Geschlechterkonstruktionen im terroristischen Diskurs genauer zu analysieren. Also nicht nur von Frauen zu sprechen, sondern von Gender. Denn nicht allein Frauenbilder spielen für weibliche Politisierung eine zentrale Rolle, sondern vielmehr das komplementäre Zusammenspiel von radikalisierten Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen und die durch sie etablierten Geschlechterverhältnisse. Hegemonietheoretisch gelesen zeigt sich, dass die Politisierung der Frauen einerseits eine Subjektwerdung durch dynamische Anpassung der radikalisierten Geschlechterordnung ist. Dynamisch, da im Falle des IS nicht nur die Frau als Kämpferin, sondern auch der männliche, emotionale Liebhaber als mit den Geschlechterinterpretationen des IS kompatibel konstruiert werden. Andererseits birgt diese Anpassung neben der Politisierung der Frau die Gefahr der zeitweiligen Entpolitisierung des Mannes, der sich den Raum des Terrors nun mit der Frau zumindest temporär teilen muss. Abschließend stellt sich die Frage nach der normativen Dimension von Politisierung, wenn es sich um Radikalisierung handelt. 1. Weibliche Radikalisierung und Terrorismus In der Forschung und vor allem auch in der öffentlichen Auseinandersetzung wurde die »eigenständig motivierte und aggressiv-politische Involviertheit von Mädchen und jungen Frauen in extremistischen Milieus«3 über lange Zeit nur selektiv wahrgenommen und/oder stark medial skandalisiert.4 Dieser Diskrepanz – entweder selektiver Blick oder Aufregung – steht eine zahlenmäßige Entwicklung gegenüber, die sowohl dem vermeintlichen »Neuheitscharakter« weiblicher Radikalisierung widerspricht als auch klarstellt, dass Terroristinnen nicht extrem selten sind. Das zeigt ein kurzer graphischer Überblick seit 2012, der auf von Europol erhobenen Daten beruht.5

3 Srowig et al. 2018, S. 13. 4 Schraut 2012, S. 7; Pause 2010; Carter Center 2017, S. 1. 5 Die Graphiken sind eine eigene Zusammenstellung basierend auf den EU Terrorism Situation & Trend Reports (TE-SAT) von Europol von 2012-2019. Zu finden unter: https://www.europol.europa.eu/activities-services/main-reports/eu-terrorism-situation-an d-trend-report#fndtn-tabs-0-bottom-2 (Zugriff vom 7.2.2020). Es gilt bei den Daten von Europol zu beachten, dass nicht alle Länder an die Behörde berichten (daher beinhalten die Graphiken nur 17 EU-Mitgliedsstaaten) und gerade im Fall von Großbritannien sind die Daten unspezifisch, d. h. die Differenzierung in unterschiedliche Terro-

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Graphik 1: Verhaftungen wegen Terrorismusverdacht EU-176

Verhaftungen EU-17 wegen Terrorismusverdacht 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 2012

2013

2014

2015

2016

2017

Verhaftungen insgesamt

Dschihadismus

Links gerichteter T

Rechts gerichteter T

Separatistischer T

Unbenannt

2018

Die erste Graphik zeigt die Zahl aller Verhaftungen in 17 Staaten der Europäischen Union (EU) seit 2012, d. h. Männer und Frauen zusammen sowie für alle von Europol erhobenen gängigen Terrorismusformen, d. h. vom Rechtsextremismus bis hin zum ethno-nationalistischen Separatismus. Es ist eine Zunahme von Verhaftungen aufgrund des Dschihadismusverdachts und ein Rückgang aufgrund des Verdachts des Separatismus zu beobachten. In der Folge begann Europol die Daten im Bereich des Dschihadismusverdachts nach Geschlecht aufzuteilen. Dies zeigt die zweite Graphik.

rismusarten wird nicht vorgenommen. Auch aus diesem Grund sind die Europol-Daten als rein illustrativ zu verstehen. 6 In der Legende zur Graphik 1 steht »T« für Terrorismus. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Graphik 2: Anteil weiblicher Verhafteter in EU-17 wegen Dschihadismusverdacht

Verhaftungen EU-17 wegen Dschihadismusverdacht 22% (112)

2018

511 16% (113)

2017

705

24,9% (179)

2016

718

18,6% (128)

2015

13,1% (52)

2014

315

2,8% (6)

2013 0

687

216 100

200

300

400

Anteil Frauen prozentual (gesamt)

500

600

700

800

Verhaftungen insgesamt

Bei den Verhaftungen zeigt sich ein kontinuierlicher Anstieg von 2013-2016. 2018 stellen Frauen fast ein Viertel der Verhafteten. Die dritte und letzte Graphik nimmt die Verurteilungen wegen Dschihadismus in den Blick. Graphik 3: Verurteilungen in EU-17 aufgrund Dschihadismus

Verurteilungen in EU-17 wegen Dschihadismus 2018

14,15% (94)

2017

11,9% (42)

2016

9,1% (53)

352 580

2015

16,5% (85)

2014

16,2% (72)

2013

13,4% (42)

2012

12,5% (50) 0

664

514 444 313 400

100

200

300

Anteil Frauen prozentual (gesamt)

400

500

600

700

Verurteilungen insgesamt

Hier zeigt sich zwar ein Rückgang in 2016 an weiblichen Verurteilten, aber die höheren Anteile seit 2017 bestätigen laut Europol den erneuten »upward trend« von weiblicher Beteiligung am dschihadistischen Terrorismus.7 Insgesamt gibt es 7 Europol 2018, S. 58.

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seit 2012 einen im Mittel niedrigen zweistelligen Prozentsatz an Frauen, die wegen Dschihadismus vor Gericht standen. Bei allen drei Graphiken ist zu bedenken, dass diese Zahlen eher als die Spitze eines Eisbergs verstanden werden sollten, da es sich um Verurteilungen und Verhaftungen handelt und nicht um die Zahl radikalisierter Personen. Weibliche Beteiligung ist also weder neu noch extrem selten.8 Die Forschung hat die Beweggründe von Frauen in unterschiedlichem Maß und zu unterschiedlichen Zeiten in den Blick genommen. Während über Gründe linker femininer Militanz seit den 1970er Jahren immer wieder diskutiert wird (was mehr »über die gesellschaftlich etablierten Geschlechterrollen und -klischees« verrät als über die Beweggründe der Frauen),9 gerieten in den 1990er Jahren rechtsextreme Frauen in den Blick. Eine systematische Untersuchung der Rolle von rechten Frauen hat jedoch erst in jüngerer Zeit begonnen, seit die Rechtsextremismusforschung insgesamt »willens [ist], der Gender-Kategorie mehr als nur rein deskriptive Aufmerksamkeit zu schenken«.10 In den letzten Jahren ließ vor allem die Gewalt von Musliminnen das Interesse an deren Motivationen wachsen. Nicht zuletzt hat manche Beobachtende irritiert, dass Musliminnen auch als (Selbstmord)Attentäterinnen agierten, da unhinterfragt eine angenommene Unsichtbarkeit von Frauen in islamisch fundierten Gesellschaften mit einer unauffälligen Rolle in islamistischen Terrororganisationen gleichgesetzt wurde.11 Verstärkt durch eine traditionelle Auffassung von Frauenrollen als im Wesentlichen passiv, konzentrierte sich diese Forschung auf Männer und ihre Aktionen. Frauen galten eher als Opfer denn als Täterinnen.12 So waren Frauen für viele nur Unterstützerinnen, die sich mit Logistik, dem Sammeln von Informationen, dem Schutz von Häusern oder der psychischen Unterstützung beschäftigen oder wurden als politisch unmotivierte Mitläuferinnen dargestellt, gelockt durch Aussicht auf Heirat und Mutterschaft – die sich letztlich auf etwas einlassen, dass »eine Nummer zu groß« für sie ist.13 8 Dazu passen zwei Studien, die zwar Syrienausreisende aus Deutschland in den Blick nehmen, jedoch stützen die dort erhobenen Zahlen die Daten auf europäischer Ebene. Denn auch hier zeigt sich eine Zunahme der weiblichen Beteiligung von 2014 zu 2016: Von insgesamt 378 Personen in 2014 waren 11 % weibliche Ausreisende; in 2016 waren es bereits 21 % von insgesamt 784 Personen. Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz et al. 2014; 2016. 9 Pause 2010; auch Grisard 2011. 10 Bitzan 2016, S. 336. Die Autorin spricht auch von der späten Entwicklung einer gendersensiblen Rechtsextremismusforschung (S. 329) und liefert einen sehr guten Überblick (S. 329-337). 11 Speckhard 2008; Carter Center 2017, S. 2; Loken, Zelenz 2018, S. 46-47. 12 Vgl. Überblick in Herschinger 2014 und in Jacques, Taylor 2009; Crenshaw 2000; Victor 2004; Bloom 2007; 2011; Schraut 2012, S. 17; Carter Center 2017. 13 Gaub, Liesieka 2016, S. 1 sprechen bspw. davon, dass die Frauen als »misguided teenagers« betrachtet werden. Passend dazu auch die Beschreibung mancher RAF-Frauen als »Flinten-Weiber« oder Beate Zschäpe als »Terror-Braut« und die weiblichen SyrienAusreisenden als »IS-Bräute«. Vgl. auch Carter Center 2017, S. 2; Cunningham 2003, S. 173; 2007; Jacques, Taylor 2010; Fair, Hamza 2018, S. 2, 7. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Dieser Opfer-These widersprechen auf der einen Seite die zahlreichen Propaganda-Aktivitäten gerade der Frauen des IS. Es wäre verkürzt, hier zu behaupten, die Frauen würden ein weiteres Mal Opfer ihrer strategischen Funktionalisierung durch die Gruppenführung. Verschiedene empirische Studien zu den Social-Media-Aktivitäten von IS-Befürworterinnen14 verweisen auf ihre zentrale Rolle als Vermittlerinnen und Rekrutiererinnen von potenziell Ausreisewilligen. Darüber hinaus streben die Frauen ebenso wie die männlichen Kämpfer den Krieg gegen die Ungläubigen an und wollen Teil einer größeren Bewegung sein.15 Frauen kann und muss heute eine bedeutsame Rolle in der öffentlichen Propaganda, Rekrutierung und Mobilisierung offline und online zugeschrieben werden – die eingangs genannte Sally Jones ist ein eindrückliches Beispiel dafür. Exemplarisch haben Arbeiten wie die von Dominique Grisard zum Linksterrorismus, Renate Bitzan zum Rechtsextremismus oder Susanne Schröter zu islamistischen Bewegungen im deutschsprachigen Raum Gender als analytische Kategorie genutzt, indem sie Genderkonstruktionen, Machtverhältnisse und Rollenbilder in das Zentrum ihrer Analyse stellen.16 International haben sich unter anderem Jane C. Huckerby und Margaret L. Satterthwaite, Laura Shepherd, Laura Sjoberg oder Caron E. Gentry kritisch mit der Sicht auf weibliche Gewalt beschäftigt und Gender zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Studien gemacht.17 Gender als analytische Kategorie zu verstehen, heißt dabei mehr, als Gender mit dem biologischen Geschlecht gleichzusetzen: Geschlecht ist einerseits »ein konstitutives Element sozialer Beziehungen, das auf wahrgenommenen Unterschieden zwischen den Geschlechtern beruht« und zum anderen »ein primärer Weg, um Machtverhältnisse zu bezeichnen«18 und zu hinterfragen. TerroristInnen, Terrorismus, weibliche und männliche Radikalisierung sind daher Produkt einer »gendered world«.19 Dieses umfassendere Verständnis von Gender hat seine Spuren in jüngeren Arbeiten zum IS und seinen weiblichen Anhängern hinterlassen. Auch wenn Teile der Forschung trotz empirischer Detailgenauigkeit eher deskriptiv bleiben und/ oder weiterhin nach dem genuin weiblichen Motiv, nach den weiblichen Bedingungen für Radikalisierung und Kampfeslust suchen,20 stehen demgegenüber Analysen, die die Entwicklung weiblicher IS-Gewalt(bereitschaft) in sich verändernden Frauen- und Männerbilder sowie Geschlechterrollen nachzeichnen und so versuchen den Blick auf die Wirkung von Gender freizugeben.21 Diskurs meint 14 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. Saltman, Smith 2015, S. 70; Hoyle, Bradford, Frenett 2015; Neumann et al. 2018. Instruktiv vor allem Hoyle, Bradford, Frenett 2015 oder Windsor 2020. Grisard 2011; Bitzan 2007; 2011; Schröter 2017. Huckerby, Satterthwaite 2013; Shepherd 2007; 2008; Sjoberg 2009; Sjoberg, Gentry 2011. Scott 1986, S. 1067, Hervorhebung EH. Sjoberg, Gentry 2011, S. 236. Vgl. Bakker, Leede 2015; Saltman, Smith 2015; Ingram 2017. Vgl. u. a. Günther et al. 2016; Pollmann 2016; Van Leuven, Mazurana, Gordon 2016; Patel, Westermann 2018.

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dabei vor allem den Propaganda- und Rekrutierungsdiskurs von dschihadistischen oder salafistischen Gruppierungen und weniger einen gesamtgesellschaftlichen »Mainstream-Diskurs« als Resonanzboden für ideologisch begründete Genderkonstruktionen. Darin spiegelt sich die Neigung wider, gesellschaftliche Diskurse eher als Umweltfaktoren für Radikalisierung und Terrorismus zu betrachten, anstatt ihre konkrete Verschränkung mit gruppenspezifischer und individueller Hinwendung zu Militanz zu analysieren.22 Jedoch ist gerade diese Verbindung zwischen den Konjunkturen eines gesellschaftlichen Geschlechterdiskurses und den Entwicklungen in radikalisierten und extremistischen Gruppierungen ein wichtiges zukünftiges Forschungsfeld.23 Denn um die Kraft von Gender als analytischer Kategorie zu entfalten, kommt es darauf an, die Bedeutung weiblicher und männlicher Geschlechterrollen in und für Radikalisierungsprozesse zu untersuchen. Geschlechterrollen extremistischer Gruppen sind nicht unabhängig von gesellschaftspolitischen und transnationalen Geschlechterdiskursen, sie werden vielmehr von ihnen mithervorgebracht und geformt. Es gilt also die Verschränkung von Geschlecht, extremistischen Angeboten und gesellschaftlichen Geschlechterdiskursen bei der Analyse von Gender und Radikalisierung im Blick zu behalten. Ein hegemonietheoretischer Ansatz auf Politisierung und Entpolitisierung, so das Argument, offeriert eine ebensolche ganzheitliche Perspektive. 2. Radikalisierung als Politisierung Der Begriff »Radikalisierung« wird im Nachgang zum 11. September 2001 zunehmend synonym für die Hinwendung zu politischer Gewalt oder fundamentalistischer Ideologie sowie ganz unmittelbar für Terrorismus verwendet.24 Standen in der Radikalisierungsforschung zunächst Gruppenprozesse im Vordergrund, fokussiert die Forschung heute vor allem auf die individuelle Ebene, geschuldet im Wesentlichen der Zunahme dschihadistischer Militanz im Westen, wie sie sich unter anderem durch die Syrien-Ausreisenden manifestierte.25 Entscheidend ist, Radikalisierung als Prozess und nicht als Zustand zu verstehen.26 Ein wesentlicher Diskussionspunkt ist dabei die Frage, ob terroristische oder extremistische Gewalt den Endpunkt eines Radikalisierungsprozesses darstellen. Für das Gros der ForscherInnen ist Radikalisierung ohne Gewalt nicht denkbar27 und Terrorismus oder Extremismus sind eng mit Radikalisierung ver-

22 Vgl. Herschinger et al. 2018, S. 2. 23 So bspw. Bitzan 2016, S. 359. 24 Vgl. Pisoiu 2013; Dzhekova et al. 2016; Malthaner 2017; Ceylan, Kiefer 2017; Neumann 2017. 25 Malthaner 2017, S. 369. 26 McCauley, Moskalenko 2011. 27 Vgl. della Porta, LaFree 2012; Moghaddam 2005; Doosje et al. 2016. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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knüpft.28 Eine der wenigen, die Radikalisierung auch gewaltlos denken – und damit die Trennung von Einstellung- und Handlungsebene nicht zwingend an dem Auftreten von Gewalt festmachen, ist Anja Dalgaard-Nielsen.29 Sie trennt in Radikalisierung und gewaltvolle Radikalisierung: »radicalization is understood as a growing readiness to pursue and support far-reaching changes in society that conflict with, or pose a direct threat to, the existing order«. Demgegenüber definiert sie »violent radicalization [as] a process in which radical ideas are accompanied by the development of a willingness to directly support or engage in violent acts«.30 Noch stärker trennen Abay Gaspar et al.31 Gewalt und Radikalisierung, indem sie vor dem Hintergrund eines weiten Radikalisierungsbegriffs zwischen Radikalisierung in die Gewalt, in der Gewalt und ohne Gewalt unterscheiden. Dies vor dem Hintergrund einer Definition, die Radikalisierung versteht »als die zunehmende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/ oder die zunehmende Bereitschaft, die institutionelle Struktur dieser Ordnung zu bekämpfen«.32 Derartig differenziert lässt sich eine radikalisierte Einstellung von Handlungen trennen; ein Umstand, der gerade für die Betrachtung weiblicher Radikalisierung, die nicht unbedingt mit gewaltvollen Aktionen einhergeht, hilfreich ist. Das Moment einer Infragestellung der normativen Ordnung erlaubt es, den Radikalisierungsprozess als eine Fokussierung auf den normativen Rahmen eines (politischen) Systems zu verstehen und somit eine erste Verbindungslinie zwischen Radikalisierung und Politisierung zu ziehen. Denn oben wurde erläutert, dass Politisierung unter anderem die inhaltliche Ausweitung auf eben diese normativen Rahmenbedingungen eines Systems bedeutet. Radikalisierung ist vor diesem Hintergrund eine Form der Politisierung, da es sich dabei – hegemonietheoretisch gelesen (wie noch genauer auszuführen ist) – um politische Forderungen hegemonialen Zuschnitts handelt, die auf die Etablierung einer anderen normativen Ordnung abzielen. »[A] demand is political to the extent that it publicly contests the norms of a particular practice or system of practices in the same name of a principle or ideal«.33 Die Infragestellung und Bereitschaft zum Kampf spiegelt sich im hegemonialen Zuschnitt politischer Forderungen wider. Zum einen liegt dies im Anspruch der Forderungen, ein Allgemeines zu repräsentieren (bspw. die Ummah oder das Volk) und zum anderen im Bezug zu jenem Allgemeinen über ein Negatives (bspw. über einen Feind – die Ungläubigen, die Juden, der Westen etc.).34

28 29 30 31 32 33 34

Böckler, Zick 2015; Neumann 2013, S. 4; 2016; 2017, S. 17. Dalgaard-Nielsen 2010; siehe auch Borum 2011a; 2011b; 2011c; Clément 2014. Beide Zitate in Dalgaard-Nielsen 2010, S. 798. Abay Gaspar et al. 2018, S. 5-15. Ebd., S. 5. Glynos, Howarth 2007, S. 115. Damit soll auch deutlich werden, dass das Politische nicht a priori an einen bestimmten Ort wie einen Staat gebunden ist (Glynos, Howarth 2007, S. 114).

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Wird Politisierung wie oben weiterhin als der zunehmende Einschluss und steigende Einfluss von zum Teil bislang exkludierten Akteuren verstanden, dann kann weibliche Radikalisierung noch enger mit Politisierung zusammengeschnürt werden, da mit ihnen mehr und/oder zuvor teils unbeteiligte Akteurinnen in einen Konflikt eingeschlossen werden. Dieser Einschluss führt, drittens, zu einer vermehrten Sichtbarkeit als Gewaltakteurinnen, die zur Intensivierung und Reichweite des Konflikts beitragen kann. Intensivierung und größere Reichweite, da der Konflikt so kontinuierlicher einen Bereich umfasst, der zuvor eher am Rande tangiert schien. Sichtbar werden Frauen durch Statistiken wie die oben zitierten von Europol, die eine Zunahme an Festnahmen von Frauen, weiblichen Verdächtigen und Verurteilten im Bereich des Dschihadismus aufzeigen. Auch die Möglichkeiten von Social Media erlauben eine große Präsenz der Frauen im radikalisierten Diskurs. Twitter oder Tumblr ermöglichen Frauen in einer leichten Weise ortsunabhängig präsent und (dauerhaft) handlungsfähig zu sein, auch wenn – wie bspw. für ISAnhängerinnen – ihnen der Zugang zu bestimmten physischen Orten verwehrt ist, da diese den Männern vorbehalten sind. Mit Blick auf die zunehmende Reichweite und Intensivierung der Konflikte ist zudem die Autorenschaft der Frauen instruktiv. Mehr und mehr schreiben Frauen in terroristischen, extremistischen Organisationen auch selbst an der eigenen Rollenvorstellung mit und tragen so zu der inhaltlichen Ausweitung von Genderrollen bei (die wiederum Teil der normativen Rahmenbedingungen des von den Frauen geforderten Systems sind). Frauen des IS wie Aqsa Mahmood oder Sally Jones haben ihren Platz vor allem im Propaganda-Diskurs der Terrorgruppe gefunden und behaupten können. Ihre geschlechtsspezifische Werbung für ein Leben und Sterben vor allem im Territorium des IS ließ die Frauen sichtbar werden und in ihren häufig drastischen Äußerungen auch zur Verschärfung von Positionen (d. h. Intensivierung des Konflikts) beitragen. Die Politisierung liegt inhaltlich gesehen vor allem in der Infragestellung der Geschlechterordnung insbesondere demokratischer, westlicher Staaten – die Verneinung und Ablehnung dieser normativen Ordnung und den daraus fließenden Rahmenbedingungen wie bspw. die Gleichheit von Mann und Frau oder die Freiheit der sexuellen Orientierung. So, wenn IS-Propaganda das eroberte Territorium als einen Ort schildert, an dem fromme Frauen, unabhängig von ihrem kulturellen oder staatlichen Hintergrund, respektiert und nicht wegen ihres Glaubens und ihrer Kleidung (Kopftuch, Schleier etc.) diskriminiert werden wie im Westen.35 Ähnlich die Argumentation des IS, dass der westliche Feminismus ein Emanzipationsmodell ausschließlich für weiße, der Elite zugehörige Frauen darstelle und auf Kosten aller nicht-weißen Frauen gehe. Diesen Frauen verspricht der IS eine von »islamischen« Idealen inspirierte weibliche Agency, die nicht in Konkurrenz mit, sondern komplementär und kooperativ zu männlicher Agentschaft stehe.36 Oder in Schriften von IS-Anhängerinnen wie »Frauen im Islamischen Staat« von der al-Khanssaa-Brigade, 35 Committee on Women’s Rights and Gender Equality 2017, S. 23. 36 Carter Center 2017, S. 5. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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auch als »weibliche Sittenpolizei des IS« bezeichnet, wird erläutert, dass der »westliche« Emanzipationsdiskurs Frauen keinesfalls befreie. Vielmehr sei es ein Unterdrückungsdiskurs, der »die Frauen aus dem Band ihres Heimes entfesselte«37 und zur Berufstätigkeit zwinge. Das Frauenmodell des Westens sei gescheitert, sowohl normativ als auch praktisch. Das zeige sich nicht zuletzt daran, dass »die Regierungen einiger Staaten Gehälter und Prämien anbieten, damit die Frauen in ihr Haus zurückkehren und ihre Kinder erziehen. Sie erkannten den Beruf ›der Hausfrau‹ an.«38 Ganz anders im Islam: Frauen könnten ungehindert die Aufgaben ausüben, für die Gott sie geschaffen habe: Mutter und gehorsame Ehefrau.39 3. Radikalisierung als Politisierung hegemonietheoretisch gelesen Gerade diese illustrativen Ausführungen zum westlichen Emanzipationsdiskurs erlauben es, auf die oben genannte erste Verbindungslinie zwischen Radikalisierung und Politisierung zurückzukommen und sie zu präzisieren. Es wurde dazu ausgeführt, dass Radikalisierung als Politisierung verstanden werden kann, da der Radikalisierungsprozess politische Forderungen hegemonialen Zuschnitts laut werden lässt, die auf die Etablierung einer anderen normativen oder auch politischen Ordnung abzielen. Hegemonie soll hier im Sinne der politischen Theorie von Ernesto Laclau (in weiten Teilen in Zusammenarbeit mit Chantal Mouffe) als Formationen diskursiven Sinns (eine spezifische Deutung/Interpretation eines Phänomens, eines sozialen Sachverhalts, einer sozialen Beziehung etc.) verstanden werden, die zu machtvollen, dominanten Formationen werden, sich stabilisieren und unter Umständen auch institutionalisieren. D. h. bestimmte Formationen setzen sich durch, indem sie als »normal«, »richtig«, »sinnvoll« erscheinen. Diese Durchsetzung hat entscheidend damit zu tun, dass die Formationen beanspruchen, ein soziales System oder Projekt – die Demokratie, den Kapitalismus, die internationale Sicherheit – in seiner Gesamtheit einheitlich zu repräsentieren. Genauer: Sie imaginieren sich als angemessene Ordnungen in einem Feld, das sie in Gänze zu repräsentieren beanspruchen, denn eine vollkommene Repräsentation bleibt empirisch unmöglich.40 Entscheidend ist, dass diese hegemonialen Verbindungen den diskursiven Raum dichotom zu organisieren suchen. Denn die »Einheitsrepräsentation« funktioniert durch Grenzziehungen, weil die Gesamtheit erst identifizierbar, sichtbar 37 Al-Khanssaa Brigade 2015, S. 61. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 65. Ähnlich auch junge Frauen der Identitären Bewegung: Sie inszenierten sich auf Facebook, YouTube oder Instagram als wehrhafte Patriotinnen und richten sich in ihrer Rolle der potenziell von sexueller Gewalt durch männliche Muslime und Flüchtlinge bedrohten Frau mit warnenden Botschaften an andere Frauen. Siehe bspw. https:/ /www.youtube.com/watch?v=OOLXIn5eEiQ (Zugriff vom 2.7.2020). 40 Stäheli 2000, S. 55.

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wird durch die Abgrenzung von anderen sozialen Systemen oder Projekten (die Demokratie in Abgrenzung zur Autokratie, der Kapitalismus in Abgrenzung zum Kommunismus und so fort). Für diese Grenzziehungen sind einmal die politische Logik der Äquivalenz und zum anderen das Konzept des Antagonismus entscheidend. Die Logik der Äquivalenz umschreibt die Formierung des diskursiven Terrains durch Differenzierung und Abgrenzung. Während diskursive Elemente per se als different verstanden werden, produziert die Logik der Äquivalenz »äquivalente Differenzen«. Das heißt, diskursive Elemente werden mit Bezug auf eine hegemoniale Forderung (zum Beispiel der Forderung nach einer islamischen Geschlechterordnung) als äquivalent in Bezug auf ein spezifisches Allgemeines, ein Gemeinsames (bspw. die Vorstellung von einem islamischen Staat) konstruiert.41 Entscheidend für äquivalente Beziehungen ist, dass die Elemente nicht allein deswegen äquivalent sind, weil deren Bezug auf das Gemeinsame ein positiver ist. Vielmehr wird dieser Bezug dadurch hergestellt, dass das Gemeinsame negativ fundiert ist. Diese Negativität liegt in der Grenzziehung durch die Äquivalenzlogik begründet, da sie den diskursiven Raum in eben jene zwei einander diametral gegenüberstehenden Lager teilt, von denen das eine nur das repräsentieren kann, was die Elemente jenseits der Grenze ablehnen – ihnen also widerspricht. »The unification of India, China and the Muslim world into a single entity can only be performed by establishing an equivalent relationship between the cultural characteristics of those peoples, a link based on the simple negative fact that none of them is Western«.42 Weiterhin – und das ist das Herz einer hegemonialen Operation – ist ein Element in der Lage alle äquivalenten Elemente zu repräsentieren, für die gesamte Kette von Elementen symbolisch einzustehen. Laclau hat diese Differenz als leeren Signifikanten bezeichnet, als ein Element, das mit unterschiedlichen, auch einander widersprüchlichen Bedeutungen aufgeladen ist, so dass es letztlich (fast) leer wird.43 In hegemonialen Beziehungen ist dies ein machtgeladener Prozess und damit ein antagonistischer. Etabliert die Logik der Äquivalenz doch vor allem feindliche Grenzen: »by making reference to an ›us-them‹ axis: two or more elements can be substituted for each other with reference to a common negation or threat«. Und: »That is to say, they are equivalent (…) insofar as they have a common enemy«.44 Das »gemeinsame Etwas« der Elemente, das die Logik herausschält, ist also das Projekt, einem gemeinsamen Feind entgegenzuwirken. Entscheidend ist, dass die Elemente in einer Äquivalenzkette dieses Andere als gefährlich betrachten, da es der Realisierung der Vision des Gemeinsamen entgegensteht – das Andere blockiert diese Realisierung und darin liegt der Antagonismus. Das Gemeinsame kann erst »vollkommen sein«, wenn das Andere überwunden ist, nur die Auslö-

41 42 43 44

Laclau, Mouffe 2001, S. 127. Laclau 1990, S. 32. Laclau 1994, S. 174. Glynos, Howarth 2007, S. 144, Hervorhebung EH.

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schung des Anderen kann zu der vollkommenen – imaginierten – Einheit führen.45 Insofern entsteht ein Gemeinsames durch die Abgrenzung von einem oder mehreren antagonistischen Anderen, die die imaginierte Einheit blockieren. Hegemonietheoretisch gelesen ist (weibliche) Radikalisierung demnach nicht nur die Entstehung und Artikulation von politischen Forderungen und Praktiken aufgrund des Infragestellens der herrschenden normativen (Geschlechter-)Ordnung. Sondern auch die Artikulation eines gegenhegemonialen Projektes, das durch die Überwindung der bestehenden Ordnung entstehen kann. Im Falle des IS ging es um die Etablierung eines Kalifats oder eines als Kalifat deklarierten dschihadistischen »Staatsbildungsprojekt(s)«,46 in dem die (Geschlechter-)Ordnung nach der IS-gemäßen Interpretation des Koran und islamischer Schriften organisiert sein sollte (und auch war). Dieser »Proto-Staat« des IS diente der Vision einer »ideale[n] gottgefällige[n] Gesellschaft«47 und verstand sich als Gegenentwurf bestehender politischer Systeme nicht nur deshalb, weil der IS es verstand, ein Regierungssystem zu entwickeln, das religiöse, bildungsbezogene, juristische, sicherheitsrelevante, humanitäre und infrastrukturelle Projekte gleichermaßen umfasste.48 Sondern auch, weil der IS Gendersegregation im öffentlichen Raum sehr erfolgreich als »social engineering tool«49 nutzte und so den Weg für viele Frauen aus allen Regionen der Welt ebnete. Das gelang durch die Etablierung von nach Geschlecht getrennten Parallelinstitutionen: In fast jeder ISEinrichtung – Bildung, Gesundheitswesen, Verwaltung, Polizei, Finanzen und Soziales – behandelte ein eigener Abschnitt ausschließlich Frauenangelegenheiten. Diese Bereiche wurden vollständig von Frauen geleitet und die Kommunikation mit ihren männlichen Kollegen minimiert. Vom IS wurde diese strikte Trennung nach Geschlecht sowohl als integraler Teil der Vision der gottgefälligen Gesellschaft porträtiert als auch als radikaler Gegenentwurf zum westlichen, säkularen Gesellschaftsmodell, in dem Frauen kein frommes muslimisches Leben führen könnten. So konnte der IS den Frauen eine Umgebung anbieten, in der sie eben jenes gottgefällige Leben inmitten einer nach religiösen Vorstellungen gestalteten Gesellschaft und staatlichen Struktur verwirklichen konnten.50 Darin lag, nach Maßstäben der allermeisten Frauen, ihre Selbstverwirklichung als eigenständiges Subjekt in einer religiös strukturierten Gemeinschaft. 4. Bedeutung von Genderrollen im Prozess von Radikalisierung als Politisierung Das zweite Argument dieses Beitrags zielt darauf, die Bedeutung von gesellschaftspolitischen Geschlechterrollen für Radikalisierung als Politisierung in den Blick zu 45 46 47 48 49 50

Laclau, Mouffe 2001, S. 125. Perthes 2014. Günther et al. 2016, S. 160; Khelghat Doost 2017, S. 18. Caris, Reynolds 2014, S. 4. Khelghat Doost 2017, S. 20. Tarras-Wahlberg 2017; Cottee 2015; Khelghat Doost 2017, S. 21-23.

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nehmen. Denn das hegemoniale Gegenprojekt, das sich durch Radikalisierung artikuliert, beinhaltet nicht nur Frauenbilder, sondern formt vielmehr ein Zusammenspiel von Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen zu einer Ordnung der Geschlechter. Insofern muss zunächst die Frage weiblicher Radikalisierung im Zusammenhang mit männlicher Radikalisierung bearbeitet werden. Das geht durch eine konsequente Einbeziehung von Gender als sozialwissenschaftlicher Kategorie. Dabei zählt nicht in erster Linie das biologische Geschlecht, sondern wie durch Geschlechterordnungen Herrschaftsverhältnisse entstehen und gerechtfertigt werden. Gender ist relevant, um zu erkennen, wie extremistische Angebote und Lebenswelten auf ganz spezifischen Geschlechterordnungen aufruhen und mit diesen ihre Handlungen und Ansichten rechtfertigen. Damit ist klar, dass individuelle oder gruppenspezifische Radikalisierungsprozesse nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum stattfinden. Um nachzuvollziehen, welche Attraktivität diese Angebote für potenziell Radikalisierungsgefährdete haben und wie Gruppen diese Geschlechterrollen zur Rekrutierung einsetzen, bedarf es daher, diese Verschränkung von Extremismen, Geschlecht und Reaktion auf gesellschaftspolitische Geschlechterdiskurse im Blick zu behalten. Betrachtet man die Situation seit Mitte der 1960er in Deutschland, lässt sich diese Verschränkung äußerst verknappt und plakativ so zusammenfassen: Im Nachgang von feministischer Bewegung, Studentenrevolte und sexueller Befreiung wollten Extremistinnen von links mit den vorherrschenden traditionellen Genderrollen brechen. Rechte und islamistische Extremistinnen heute propagieren demgegenüber die Rückkehr zu traditionellen Geschlechterverhältnissen und lehnen moderne Gendervielfalt ab.51 Wie bereits erwähnt, haben diese Konstruktionen eine bedeutsame Rolle für die Rekrutierung, da die Heroisierung männlicher und weiblicher Rollenangebote – gerade medial – eine starke Attraktivität entfaltet. Dass diese Heroisierung nicht nur durch Männer erfolgt, sondern auch durch Frauen, wurde ebenfalls schon erwähnt. Das ist attraktiv. Fundamentalisierte Rollen-Modelle bieten Orientierung und Sinn in einer als unsicher und konflikthaft erlebten modernen Welt. Geschlecht ist somit eine der zentralen Kategorien, anhand welcher sich die Gemeinschaft ordnet und die Einzelnen ihren Platz erhalten. Die Attraktivität liegt auch darin, dass es eine Bandbreite in sich dynamisch entwickelnden Geschlechterbildern gibt. Ein Verweis auf den IS, innerhalb dessen es verschiedene Frauenbilder von klassisch bis modernisiert gibt, ist hier erneut instruktiv. Das Bundesamt für Verfassungsschutz unterscheidet neben passiven Rollen drei idealtypische aktive Profile: die Kämpferin, die Unterstützerin und die Missionarin.52 Die Kämpferin sucht Selbstverwirklichung im Dschihad, das Konzept des Kampfes steht im Fokus der eigenen Aktivitäten. Frauen als IS-Kämpferinnen scheinen auf den ersten Blick widersprüchlich, da es sich mit einer klassi51 Etwas quer dazu liegen manche ethno-nationalistischen separatistischen Bewegungen: Die Tamil Tigers aus Sri Lanka bspw. propagierten früh Geschlechtergleichheit und hatten einen weiblichen paramilitärischen Arm. 52 Bundesamt für Verfassungsschutz 2011. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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schen Frauenrolle als Mutter beißt. Die bereits erwähnte Aqsa Mahmood äußert sich in einem Post auf Tumblr deutlich ablehnend: »I will be straight up and blunt with you all, there is absolutely nothing for sisters to participate in Qitaal [fighting]. Sheikh Omar Shishani has been quite clear on his answer and has emphasized that there is nothing for sisters as of yet. No amalia istishihadiya (martyrdom operations) or a secret sisters katiba. These are all rumours you may have heard through some sources who themselves are not actually aware of the truth. And the women you may have seen online participating are all part of a propaganda. The women in the video are part of secularist groups who are not calling for the law of Allah. Please sisters do not believe anything you hear or see online where apparently sisters are fighting feesaabeelilah [for the sake of God]. For the time being Qitaal [fighting] is not fardh ayn [a compulsory religious duty] upon the sisters. We have plenty brothers who don’t even get selected on going on operations. The brothers get upset and start crying since they want to participate, so what does that make you think? For the sisters its completely impossible for the now«.53

Ähnlich argumentiert das IS Online-Magazin, Rumiyah, das Frauen nur sehr begrenzte Möglichkeiten zur Teilnahme am physischen Dschihad einräumt und ihnen stattdessen vorschlägt, ihren Kampf beispielsweise durch Fundraising für die Organisation zu führen.54 Diese Position wird von anderen IS-Propagandistinnen gerade in den ersten Jahren des IS fast wie ein Mantra wiederholt.55 Dabei ist die Rollenverteilung zentral, wie im Beitrag von Mahmood deutlich wird: Die kämpfende Frau wird einerseits mit dem Verweis auf religiöse Pflichten abgelehnt, andererseits wird der Verweis auf die in den Startlöchern wartenden Männer genutzt, um die Frauen an ihren Platz in der Geschlechterordnung zu erinnern. Viele Unterstützerinnen bedauerten dies, wollten sie doch genauso kämpfen wie die Männer: »I wna b da 1st UK woman 2 kill a UK or US terrorist!«,56 schreibt bspw. Khadijah Dare 2014, Mittzwanzigjährige Konvertitin aus London, die sich dem IS angeschlossen hat. Lediglich eine Grundausbildung in Schusswaffen konnten Frauen im IS erhalten, die jedoch nur für Notfälle und zur Selbstverteidigung gedacht sei. Die Frauen im Kalifat, die eine militante Rolle übernehmen konnten, waren Mitglieder einer rein weiblichen Brigade wie der Al-Khanssaa-Brigade. Anfang 2014 gegründet war die Brigade für die Einhaltung religiöser und moralischer Verhaltensregeln verantwortlich. Medien- und Augenzeugenberichte beschrieben die mit Maschinengewehren in den Straßen patrouillierenden Frauen als äußerst brutal, da sie harte körperliche Strafen gegen Frauen verhängten, die gegen die strengen Regeln des IS verstießen.57 53 Zitiert in Hoyle, Bradford, Frenett 2015, S. 32-33 und FN 119. 54 Committee on Women’s Rights and Gender Equality 2017, S. 31; Ohl 2017, v. a. S. 289-290. 55 Vgl. Hoyle, Bradford, Frenett 2015. 56 https://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/james-foley-beheading-i-wantto-be-the-first-uk-woman-to-kill-a-westerner-says-british-jihadist-in-9684908.html (Zugriff vom 2.7.2020). 57 Siehe u. a. https://www.counterextremism.com/content/isiss-persecution-women (Zugriff vom 2.7.2020).

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Allerdings hat sich diese Ablehnung einer kämpfenden Position nicht gehalten. Aufnahmen wie dieser Screenshot aus einem IS-Video von Anfang Februar 2018 plausibilisieren einen Tabubruch: Erstmals ist augenscheinlich eine Frau direkt am Kampf beteiligt. Das mag bloße Propaganda sein oder auf die Verzweiflung des IS hindeuten, trotz des Gebiets- und Einflussverlusts handlungsfähig zu bleiben. Das ist aber nicht der entscheidende Punkt: Frauen als Kämpferinnen darzustellen, zu inszenieren, zeigt die Bereitschaft, tradierte Rollenbilder aufzuweichen. Bild 1: IS-Kämpferin

Quelle: BVerfS

Diese Bereitschaft fügt sich zudem in einen bestehenden Diskurs ein, der weit in die Historie des Islams zurückgeht, in der Frauen auch immer wieder als Kämpferinnen agierten.58 Blickt man in die zeitgenössische Debatte, so finden sich unter anderem die Argumentation von Umayma Hassan Ahmed Muhammad Hassan, Frau von Al-Qaida Chef Al-Zwahiri, die sich 2009 in einem offenen Brief an ihre muslimischen Schwestern wandte. »Jihad is an individual obligation on every Muslim man and woman, but the path of combat is not easy for a woman. (…) However, we must support our religion in many ways (…) even with martyrdom-seeking acts.«59

Auch Frauen müssen den Dschihad ausüben, um ihre Religion zu ehren und im Ernstfall, so Umayama Hassan Ahmed Muhammad Hassan, kann das bedeuten, dass Frauen zu Märtyrerinnen werden – im Wesentlichen sind hier Selbstmordat58 Patel, Westermann 2018, S. 53. 59 http://news.siteintelgroup.com/blog/index.php/about-us/21-jihad/227-translated-messa ge-from-zawahiris-wife-to-muslim-women (Zugriff vom 2.7.2020). Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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tentate gemeint. Gewalt wird dabei als gerechtfertigt angesehen, um die eigene Religion zu bewahren und zu stärken, selbst wenn es sich dabei um den Märtyrertod handelt. Eine solche Aktion wird situiert mit Blick auf die Identität der Frau, ihrer Rolle und der Geschlechterordnung im Islam. Besonders ist die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit, die aus der individuellen Verpflichtung und Verantwortung zum Jihad für jede Frau spricht. Diese Position war nicht unumstritten, so betonten bspw. Osama bin Laden oder Al-Zawahiri zwar die wichtige Rolle von Frauen im Jihad als Mütter und Ehefrauen, aber nicht als Kämpferinnen (so lehnt bspw. Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel weibliche Selbstmordattentäterinnen ab).60 Insofern wäre es irreführend, aufgrund der geringeren Anzahl von weiblichen Gewalttaten zu schließen, Gewalt sei für weibliche Radikalisierung wenig bedeutsam. Bspw. zeigte sich mit Blick auf die Syrien-Ausreisenden im Jahr 2016, dass das Motiv, an Kampfhandlungen teilzunehmen, auf etwa jede fünfte Frau zutraf (aus 784 Personen Ende 2016).61 Ein zweites Profil ist das der Unterstützerin: Sie kennzeichnet ein eher unreflektiertes, aktionistisches und adoleszenztypisches Handeln zur Unterstützung des Dschihad bei gleichzeitiger Rebellion gegen die Familie und Gesellschaft aus. Drittens, die Missionarin: Sie stellen ihre als missionarischen Akt wahrgenommenen Hintergrundaktivitäten in den Dienst der Verbreitung des wahren Islam und der Unterstützung Gleichgesinnter. Neben diesen aktiven Profilen ist die passive Rolle wichtig, die Aufopferungsbereitschaft, Gefolgschaft und Gehorsamkeit gegenüber dem Ehemann einschließt. Die hohe Wertschätzung der Mutterschaft gilt als bedeutsames Motiv sowohl bei deutschen Konvertitinnen als auch Muslimen.62 Ähnlich vielfältige Typen gibt es in der Konstruktion und Inszenierung von Männlichkeit: in einer jüngeren Studie zum Salafismus63 wird zwischen dem gewalttätigen Krieger, dem empfindsamen potenziellen Liebhaber und dem Pflichtbewussten unterschieden. Gerade im IS wird der gewalttätige Kämpfer als unbesiegbarer, harter und erbarmungsloser Vollstrecker des Glaubens dargestellt. Die äußerst brutalen Inszenierungen von Gewalt sollen abschreckend wirken. »Männlichkeit wird hier konstruiert als eine ungehemmte Kraft in einem archaischen Kampf«64 und es werden dazu Stereotypen von Männlichkeit genutzt und bedient, »die Abenteuerfilmen und Computerspielen entlehnt wurden«.65 Demgegenüber befriedigt der empfindsame Liebhaber die Suche junger Frauen, die im/ durch den Dschihad ihren Traummann suchen. Meiering et al. verweisen in diesem Zusammenhang auf Bilder von Katzen herzenden Dschihadisten in sozialen Netzwerken. »Reproduktionsstrategien und Kampfesstärke werden so ikonographisch miteinander verwoben. Gleichzeitig wird das Anwerben der Frau damit in 60 61 62 63 64 65

Lahoud 2014, S. 783. Bundesamt für Verfassungsschutz et al. 2016. Böckler, Zick 2015, S. 107f.; Saltman, Smith 2015. Günther et al. 2016. Meiering, Dziri, Foroutan 2018, S. 19. Günther et al. 2016, S. 178.

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den Funktionsbereich des bewaffneten Dschihad gerückt, denn Ehe und Kinderzeugen ist Pflicht im IS.«66 Ernsthaftigkeit und Verantwortung sowie die Legitimierung des Dschihad stehen im Zentrum einer weiteren Männlichkeitskonstruktion. Diese soll diejenigen ansprechen, die sich nicht durch Gewaltphantasien und Grausamkeiten oder reinen Erlebnishunger anziehen lassen, sondern denen es um die richtige, fromme Tat geht und die auch bereit sind, sich für ihren Glauben zu opfern.67 Ganz offensichtlich sprechen diese Konstruktionen zueinander und sind zueinander komplementär.68 Der empfindsame Liebhaber und Kämpfer passt zu der nicht-kämpfenden Frau, die ihre Mutterrolle ausüben will. Der Pflichtbewusste komplementiert die missionarische agierende Frau, deren missionarisches durch ein humanitäres Anliegen verstärkt wird, die sich bspw. durch die Gräueltaten an Muslimen und Musliminnen motiviert fühlt. Diese Darstellung einander komplettierender Konstruktionen ist von ganz erheblicher Bedeutung für die Attraktivität und Stabilität der Geschlechtsordnungen. Hegemonietheoretisch gelesen verweist diese Pluralität der Entwürfe darauf, dass die Politisierung der Frauen einerseits eine Subjektwerdung durch dynamische Anpassung der radikalisierten Geschlechterordnung ist. Dynamisch, da im Falle des IS nicht nur die Frau als Kämpferin, sondern auch der männliche, emotionale Liebhaber als mit der Geschlechterinterpretation des IS kompatibel konstruiert werden. Andererseits birgt diese Anpassung neben der Politisierung der Frau die Gefahr der zeitweiligen Entpolitisierung des Mannes, der sich den Raum des Terrors nun mit der Frau zumindest temporär teilen muss. Die aktiven Rollen der Frauen verweisen darauf, dass das Mächteverhältnis, das sich in der Geschlechterordnung widerspiegelt, vor der Herausforderung einer dynamischen Anpassung steht. Die temporäre Entpolitisierung des Mannes liegt dabei im Wesentlichen in der Sichtbarkeit und dem Einschluss der Frauen in den Raum des Terrors, der zuvor die alleinige Domäne des Mannes war. Mehr noch, mit der weiblichen Forderung nach Teilhabe am physischen Kampf besteht die Gefahr der Verdrängung, der Ausbootung der Männer. Darauf verweist das obige Zitat von Aqsa Mahmood. Temporär auch deshalb, da die dargestellten pluralen Entwürfe durch das Prinzip der hegemonialen Maskulinität, die Vorherrschaft des Mannes über die Frau verbunden sind. Diese wird durch keine Aktivität der Frauen in Frage gestellt, daher kann eine Entpolitisierung im Sinne eines Zurückdrängens des Mannes aus dem Raum des Kampfes immer nur temporär sein, solange die Anpassung, die Rechtfertigung der kämpfenden Frau in den Diskurs eingespeist ist. Auch deshalb widersprechen dynamische Anpassung und Pluralität der Rollenentwürfe nur auf den ersten Blick der oben dargestellten rigorosen Verfasstheit von Geschlechterrollen. Sowohl Anpassung als auch Pluralität verwirklichen sich nur in dem ge66 Meiering, Dziri, Foroutan 2018, S. 19. 67 Ebd., S. 19. 68 Ebd. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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steckten, patriarchalen Rahmen, der durch die oben beschriebene Geschlechtertrennung in Parallelinstitutionen maßgeblich gestützt wird.69 Denn es bedarf dieser Aufrechterhaltung männlicher Dominanz, da diese in direkter Opposition zur modernen Vorstellung von Gleichberechtigung der Geschlechter und Vielfalt der Lebensentwürfe in westlichen Demokratien steht – das, wovon sich abgegrenzt wird. Oder, hegemonietheoretisch gelesen, wo antagonistische Grenzen gezogen werden. Insofern entstehen die Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen extremistischer Angebote immer auch vor der Folie herrschender gesellschaftspolitischer Geschlechtsordnungen vor allem durch Abgrenzung und Widerspruch. »Vor allem«, denn die Attraktivität der Angebote speist sich auch aus ihren Anknüpfungen an Teile des gesellschaftlichen oder religiösen Mainstreams oder ihrer Resonanz mit gesellschafspolitisch kontrovers diskutierten Fragen. So haben traditionalistisch bzw. sozio-biologistisch gewendete Argumentationen im gesellschaftspolitischen Geschlechterdiskurs in den letzten Jahren wieder verstärkt ihren Platz gefunden.70 Konzepte von Ehre, männlicher Dominanz, Kontrolle der weiblichen Sexualität, Geschlechtersegregation, Verhüllung des weiblichen Körpers etc. sind auch im Mainstream-Islam akzeptiert. Zudem verfügen sie als Themen heftiger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen hohe Anschlussfähigkeit für Angebote gewaltförmiger islamistischer Gruppierungen. In ihrer Abgrenzung und vermeintlichen Klarheit bieten extremistische Genderrollen Orientierung und die Möglichkeit des Bruchs mit herrschenden Normen – was gerade für die Radikalisierung in der Jugendphase bedeutsam ist. GenderNarrative haben also eine Herrschaftsfunktion. Die Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen dienen im Wesentlichen der Stabilisierung der Gemeinschaft, die im Falle des IS fundamentalistisch definiert ist. 5. Fazit: Normative Dimension von Radikalisierung als Politisierung Der Beitrag hat, basierend auf einem Verständnis von Gender als analytische Kategorie und verdichtet durch empirische Illustrationen aus der Geschichte des IS, die Radikalisierung von Frauen als Politisierung konzeptualisiert. Mit Hilfe eines hegemonietheoretischen Ansatzes wurde die weibliche Politisierung als Subjektwerdung verstanden, die in einem komplementären, aber dynamischen Zusammenspiel von radikalisierten Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen entsteht.

69 Dazu passt auch, dass dem IS ein gewisser Pragmatismus in ideologischen Fragen nachgesagt wird, bspw. mit Blick auf die Zusammenarbeit mit nicht islamistischen Gruppen (vgl. Noyes 2016). 70 Anknüpfungspunkte für traditionalistische Flügel der extremen Rechten bieten etwa die Schriften von Eva Herman (zum Beispiel 2006), Thilo Sarrazin (zum Beispiel 2014) oder auch die Ratgeberliteratur von Allan und Barbara Pease, siehe z.B. Pease, Pease 2004; 2011; 2018.

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Der Gewinn einer hegemonietheoretischen Sichtweise liegt vor allem darin, dass dieses dynamische Zusammenspiel der Konstruktionen offengelegt werden kann. Damit wird klar, unter welchen Bedingungen weibliche Subjektwerdung möglich ist und dass dies zu einer temporären Entpolitisierung des Mannes führen kann. Auch die Herrschaftsfunktion der Genderkonstruktionen wird mittels einer hegemonietheoretischen Lesart greifbar und kann auch die innergeschlechtlichen Zuschreibungen offenlegen: So war im IS Subjektwerdung naturgemäß nur für Frauen der richtigen Konfession möglich, für alle anderen, nicht-sunnitischen Frauen im IS stand der Subjektwerdung vor allem Versklavung gegenüber.71 Auch vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie normativ wünschenswert eine solche Form der weiblichen Subjektwerdung ist. So ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass ein Radikalisierungsbegriff, der sich nicht auf die Anwendung von Gewalt verengen lässt, in der Debatte, gleich ob in der Forschung oder in den Medien, nur selten vertreten ist. Das hat die Diskussion im zweiten Abschnitt verdeutlicht. Zu dieser negativen Konnotation kommt, dass das »radikal« in Radikalisierung als Gegenpart zu »normal« verstanden wird. Und demnach ist das, das nicht »normal« oder »moderat« ist, radikal.72 Nun verweist Politisierung, so wie hier definiert, bereits auf eine Abkehr vom »Normalen«: Der Einschluss neuer Akteure in einen Diskurs ist ebenso eine Veränderung des »Normalen« wie die Infragestellung der normativen Rahmenbedingungen eines (politischen) Systems. Damit ist noch nichts über die normative Erwünschtheit solcher Politisierung gesagt, diese wird letztlich von den Spielregeln des jeweiligen Systems bestimmt. Oder auch dadurch, dass sich ein hegemoniales Projekt durchsetzen kann und die darin enthaltenen Vorstellungen normalisiert werden.73 Das Interessante an weiblicher Radikalisierung ergibt sich aus einem potenziellen normativen Widerstreit gerade in Demokratien. Einerseits ist Gewalt als Mittel der Zieldurchsetzung abzulehnen (mit der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols beauftragte Instanzen davon ausgenommen); andererseits ist die Emanzipation von Frauen mit dem Ziel der Gleichstellung der Geschlechter zunächst zu befürworten. Aber die Idee einer emanzipativen Subjektwerdung durch und Gleichstellung in einem Bereich wie Radikalisierung, Terrorismus und Gewalt wird höchst unterschiedlich bewertet und vor allem mit Blick auf Musliminnen als westliche Idee stark kritisiert.74 Diese Frage bedarf einer umfassenden Diskussion. Denn die Deutungshoheit über weibliche Radikalisierung als Politisierung sollte nicht den Aktivistinnen überlassen bleiben.

71 72 73 74

Mein Dank geht an eine/n anonyme/n GutachterIn für diesen Hinweis. Sedgwick 2010; Abay Gaspar et al. 2018, S. 5. Für diesen Hinweis danke ich David Meiering. Vgl. Berko, Erez 2007; Mahmood 2005; Zia 2009; 2013a; 2013b.

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Literatur Abay Gaspar, Hande; Daase, Christopher; Deitelhoff, Nicole; Junk, Julian; Sold, Manjana 2018. Was ist Radikalisierung? Präzisierungen eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt a. M.: PRIF-Report 6/2018. Al-Khanssaa Brigade 2015. Frauen für den Dschihad. Das Manifest der IS-Kämpferinnen. Freiburg, Basel, Wien: Herder. Bakker, Edwin; de Leede, Seran 2015. European Female Jihadists in Syria: Exploring an Under-Researched Topic. The International Centre for Counter-Terrorism – The Hague 6, 2. http://dx.doi.org/10.19165/2015.2.02 (Zugriff vom 2.7.2020). Berko, Anat; Erez, Edna 2007. »Gender, Palestinian Women, and Terrorism: Women’s Liberation or Oppression?«, in Studies in Conflict & Terrorism 30, 6, S. 493-519. Bitzan, Renate 2007. »Rechte Frauen in sozialen Berufen: ideologische Verwicklungen und Ansatzpunkte zum Umgang mit rechtsorientierten Mitarbeiterinnen«, in Mädchen und Frauen im Spannungsfeld von Demokratie und rechten Ideologien, BAG-Info-Heft 7, hrsg. v. Bundesarbeitsgemeinschaft Mädchenpolitik, S. 47-54. Bitzan, Renate 2011. »›Reinrassige Mutterschaft‹ versus ›nationaler Feminismus‹ – Weiblichkeitskonstruktionen in Publikationen extrem rechter Frauen«, in Rechtsextremismus und Gender, hrsg. v. Birsl, Ursula, S. 115-127. Opladen: Budrich. Bitzan, Renate 2016. »Geschlechterkonstruktionen und Geschlechterverhältnisse in der extremen Rechten«, in Handbuch Rechtsextremismus, hrsg. v. Virchow, Fabian; Langebach, Martin; Häusler, Alexander, S. 325-369. Wiesbaden: VS. Bloom, Mia 2007. »Female Suicide Bombers: a Global Trend«, in Daedalus 136, 1, S. 94-102. Bloom, Mia 2011. »Bombshells: Women and Terror«, in Gender Issues 28, 1-2, S. 1-21. Böckler, Nils; Zick, Andreas 2015. »Wie gestalten sich Radikalisierungsprozesse im Vorfeld jihadistisch-terroristischer Gewalt? Perspektiven aus der Forschung«, in Handlungsempfehlungen zur Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus und Islamfeindlichkeit, hrsg. v. Molthagen, Dietmar, S. 99-123. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. Borum, Randy 2011a. »Rethinking Radicalization«, in Journal of Strategic Security 4, 4, S. 1-6. Borum, Randy 2011b. »Radicalization into Violent Extremism I. A Review of Social Science Theories«, in Journal of Strategic Security 4, 4, S. 7-36. Borum, Randy 2011c. »Radicalization into Violent Extremism II. A Review of Conceptual Models and Empirical Research«, in Journal of Strategic Security 4, 4, S. 37-62. Bundesamt für Verfassungsschutz 2011. Frauen in islamistisch-terroristischen Strukturen in Deutschland. Köln: BfV-Themenreihe. Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt (KI11, ST33), Hessisches Informationsund Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE) 2014. Analyse der den deutschen Sicherheitsbehörden vorliegenden Informationen über die Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind. Stand: 01.12.2014. https://www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/t ermine/to-beschluesse/14-12-11_12/anlage-analyse.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Zugriff vom 2.7.2020). Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt (KI11, ST33), Hessisches Informationsund Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE) 2016. Analyse der den deutschen Sicherheitsbehörden vorliegenden Informationen über die Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind. Fortschreibung 2016. Stand: 04.10.2016. https://www.bka.de/Shared Docs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/Forschungsergebnisse/2016Analyse RadikalisierungsgruendeSyrienIrakAusreisende.html (Zugriff vom 2.7.2020). Caris, Charles C.; Reynolds, Samuel 2014. ISIS Governance in Syria. Middle East Security Report 22, http://www.understandingwar.org/sites/default/files/ISIS_Governance.pdf (Zugriff vom 2.7.2020) Carter Center 2017. »The Women in Daesh: Deconstructing Complex Gender Dynamics in Daesh Recruitment Propaganda, May 2017« https://www.cartercenter.org/resources/pdfs/ peace/conflict_resolution/countering-isis/women-in-daesh.pdf?bcsi_scan_d78876140e6156 19=0&bcsi_scan_filename=women-in-daesh.pdf (Zugriff vom 2.7.2020).

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Radikalisierung als weibliche Subjektwerdung?

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Zusammenfassung: In diesem Beitrag wird argumentiert, dass sich die Radikalisierung von Frauen als Politisierung und weibliche Subjektwerdung verstehen lässt. Diese Politisierung der Frauen lässt sich durch eine genaue Betrachtung des Zusammenspiels von Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen verstehen. Für die Analyse bedient sich der Beitrag eines hegemonietheoretischen Rahmens und illustriert anhand der Anhängerinnen des IS, dass die Politisierung der Frauen einerseits eine Subjektwerdung durch dynamische Anpassung der jeweiligen Geschlechterordnung ist. Andererseits birgt diese Anpassung die Gefahr der Entpolitisierung des Mannes, der sich den Raum des Terrors nun mit der Frau zumindest temporär teilen muss. Die Bedeutung von Gender und Radikalisierung im Kontext von Ent-/Politisierung verweist zum einen darauf, dass eine sich verstärkende Gleichzeitigkeit von Ent- und Politisierungsprozessen abzeichnet. Zum anderen stellt sich die Frage nach der normativen Erwünschtheit von Politisierung, wenn es sich um Radikalisierung handelt. Schlagwörter: Radikalisierung, Gender, Subjekt, Hegemonietheorie, Politisierung.

Becoming a female subject via radicalization? The importance of gender in processes of politicization Abstract: I argue that radicalization of women can be understood as female politicization. To fully grasp the process of politicization it is necessary to examine the interplay between constructions of feminity and masculinity. To this end, I deploy a hegemony theory framework – illustrated with female involvement in ISIS – to show that the politicization of women implies, on the one hand, becoming a subject through dynamic adaptation of the respective gender order. On the other hand, this adaptation threatens to depoliticize male ISIS members, who must – at least temporarily – share the area of terror with women of ISIS. The importance of gender and radicalization in the context of de-/politicization indicates, that there is an increasing simultaneity of depoliticization and politicization processes. Yet, there is the question of the normative desirability of politicization when it comes to radicalization. Keywords: radicalization, gender, subject, hegemony theory, politicization.

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Populismus in der Zivilgesellschaft

Wolfgang Schroeder, Samuel Greef und Jennifer Ten Elsen

Rechtspopulismus in organisierten zivilgesellschaftlichen Räumen

Die wissenschaftliche Reflexion über den Rechtspopulismus konzentriert sich in Deutschland auf die parteipolitischen und parlamentarischen Dimensionen.1 Dabei geraten die etablierten zivilgesellschaftlichen Organisationen als elementare Bestandteile einer pluralen Demokratie aus dem Blick.2 Jedoch sind es gerade diese Akteure, die den bundesdeutschen Basiskonsens3 nicht nur teilen, sondern in ihrem normativen Selbstverständnis verkörpern und mit ihrem Wirken verteidigen. Dieser Beitrag untersucht daher rechtspopulistische Politisierungsprozesse, die versuchen, diesen Basiskonsens anzugreifen und seine handlungsleitende Akzeptanz für diese Organisationen infrage zu stellen. Während die etablierten Parteien in Deutschland traditionell eine enge Beziehung zu diversen Verbänden und Vereinen pflegen, besitzt die AfD trotz elektoraler Erfolge keine belastbaren personellen und strukturellen Verbindungen dieser Art in die organisierte Zivilgesellschaft. Damit fehlen ihr entsprechende Mobilisierungsmöglichkeiten auf der Grundlage eines vertrauensbasierten Arbeitsmodus.4 Deshalb kann das Verhältnis zwischen der organisierten Zivilgesellschaft, die den gesellschaftlichen Basiskonsens mitträgt, und dem Rechtspopulismus, so die Arbeitshypothese dieses Textes, im Hinblick auf die formalen Repräsentations- und Programmpositionen bislang als Modus wechselseitiger Unverträglichkeit erfasst werden. Dieses Verhältnis kommt allerdings zunehmend in Bewegung. Erstens spricht die AfD selbst davon – insbesondere in ihrem Strategiepapier –, dass sie bisher »noch nicht ausreichend in der Bürgergesellschaft verankert« sei, – dementsprechend müsse »[e]ine AfD, die Volkspartei sein will, (…) mehr als bisher daraufsetzen [sic], sich stärker in der Bürgergesellschaft zu verankern, um dort ihren Einfluss geltend zu machen. Ähnlich wie es der 68er Bewegung um den ›Marsch durch die Institutionen‹ ging, muss es auch der AfD um den ›Marsch durch die Organisationen‹ gehen.«5

Die AfD ist sich also des Mehrwerts von belastbaren Verbindungen in die organisierte Zivilgesellschaft bewusst und sucht nach eigenen Wegen, um dort anschlussund mobilisierungsfähig zu werden. So verwundert es zweitens auch nicht, dass durch öffentlichkeitswirksam inszenierte Auftritte rechtspopulistischer Akteure in zivilgesellschaftlichen Subsystemen deutlich wird, dass es dort eine partielle Offenheit für und Resonanz auf entsprechende Themen gibt. Dafür stehen bspw. das 1 2 3 4

Wir bedanken uns bei Lukas Heller für seine Unterstützung. Schroeder et al. 2017; Ruhose 2019; Niedermayer 2018. Weßels 1991, S. 31-38. Dieser fehlende Zugang ist mit ein Grund dafür, dass die AfD besonders auf internetbasierte Kommunikation setzt (Schroeder et al. 2017). 5 AfD 2019. Strategie 2019 – 2025. Die AfD auf dem Weg zur Volkspartei, S. 37.

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Wolfgang Schroeder, Samuel Greef und Jennifer Ten Elsen

Werben »Alternativer Gewerkschaften« um Betriebsratssitze, die kontroversen sportpolitischen Thesen der AfD und der Streit um die Einladung von AfD-VertreterInnen zu den Kirchentagen. Diese Beispiele zeigen, dass die mit dem Erstarken des Rechtspopulismus verbundenen aktuellen politischen Konfliktlinien in der Zivilgesellschaft vorhandene Konflikte dynamisieren und politisieren. Damit kommt der organisierten Zivilgesellschaft als öffentlichem Resonanzverstärker gesellschaftlicher Problemlagen eine wichtige Frühwarnfunktion zu.6 Zivilgesellschaft wird einerseits empirisch als Gesamtheit aller gesellschaftlichen Aktivitäten jenseits von Staat und Markt gedeutet.7 Demgegenüber steht ein normativ aufgeladenes Verständnis, das auf die »moralische Infrastruktur moderner Gesellschaften«8 rekurriert. In dieser Lesart fördert die Zivilgesellschaft das kulturelle und demokratische Potential und stärkt die Integrationskraft der Gesellschaft.9 Doch wie resilient ist die organisierte Zivilgesellschaft gegenüber den Einflussversuchen von Rechts?10 Dass sie nicht nur dem normativen Ideal der gemeinwohlorientierten Selbstorganisation folgt, sondern sich auch Praktiken der Spaltung sowie der Exklusion bedient und in diesem Sinne und aus liberaldemokratischer Sicht eine dunkle oder »schmutzige Seite«11 hat, zeigt schon der Blick auf die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus.12 Die Zivilgesellschaft ist also letztlich ein ambivalenter Ort, sodass die normative Annahme einer ausschließlich am Gemeinwohl orientierten, demokratisch engagierten Bürgergesellschaft zu kurz greift:13 »Genau wie es rechte soziale Bewegungen gibt, tummeln sich Rechte in zivilgesellschaftlichen Organisationen.«14 Es verwundert somit nicht, wenn rechtspopulistische Akteure »zunehmend zivilgesellschaftlich orientierte Strategien« verfolgen.15 Mit den Gewerkschaften, Sportvereinen und Kirchen nimmt dieser Beitrag maßgebliche zivilgesellschaftliche Akteure aus den Subsystemen der Arbeitswelt, der Religion und des Sports in den Blick, um grundlegende Aussagen über die Verbindung und Entwicklung von Rechtspopulismus in diesen Subsystemen zu treffen. Im Zentrum stehen drei Fragen. Erstens: Welche Themen, Handlungsfelder und -formen zeichnen rechtspopulistische Aktivitäten in den jeweiligen Subsystemen 6 Klein 2001. 7 Ein Messinstrument für das zivilgesellschaftliche Engagements in Deutschland ist der im Fünfjahresrhythmus durchgeführte Freiwilligensurvey beim Deutschen Zentrum für Altersfragen. 8 Meyer 2018, S. 145. 9 Schmidt 2020, S. 10. 10 Grande 2018a. 11 Geiges, Marg, Walter 2015. 12 Leggewie, Evers 2020. 13 Grande 2018b, S. 52. 14 Leggewie, Evers 2020. 15 Roth 2010, S. 53.

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aus und inwiefern verbinden diese eine Infragestellung des Basiskonsenses mit der Politisierung subsysteminhärenter Konflikte? Zweitens fragen wir danach, welche dominanten Reaktionsmuster seitens der jeweiligen Organisationen im Umgang mit diesen Aktivitäten erkennbar sind. Drittens untersuchen wir, inwieweit sich Ähnlichkeiten und Divergenzen zwischen den untersuchten Feldern in Bezug auf rechtspopulistische Aktivitäten und im Umgang mit diesen feststellen lassen. Der Analyse liegt ein exploratives Vorgehen zugrunde.16 Es basiert auf einer Kombination aus inhaltsanalytischen Auswertungen unterschiedlichen Materials (u. a. Studien, Zeitungsartikeln, Handreichungen) sowie 40 leitfadengestützten, qualitativen ExpertInneninterviews17 mit VertreterInnen der untersuchten Felder, wissenschaftlichen wie journalistischen BeobachterInnen sowie AkteurInnen des Rechtspopulismus. 1. Rechtspopulismus und Politisierung Populismusdefinitionen changieren zwischen Strategie und »dünner« Ideologie.18 Kennzeichnend für den Rechtspopulismus ist ein ideologischer Kern.19 Dieser zeichnet sich durch eine Dichotomie zwischen »dem Volk« und »den Fremden« in der horizontalen Dimension (»wir« gegen »die anderen«) sowie dem Gegensatz zwischen »dem kleinen Mann« und »der korrupten Elite« (»wir hier unten« gegen »die da oben«) in der vertikalen Dimension aus.20 Die Ablehnung des Pluralismus und eine fremdenfeindliche Grundhaltung sind dabei Gemeinsamkeiten des als Kontinuum zu verstehenden Verhältnisses von Rechtspopulismus und -extremismus. Divergente Deutungs- und Aktionsmuster bestehen insbesondere hinsichtlich der grundgesetzlich normierten Ordnung und der Gewaltbereitschaft.21 Für die operative Nutzung des Begriffs Rechtspopulismus sind in diesem Beitrag beide Populismusaspekte (strategisch und ideologisch) relevant: Populismus als Strategie der AfD sowie, als »dünne« Ideologie, rechtspopulistische Einstellungen und Haltungen in den Subsystemen, die im politischen System anschlussfähig werden. Bei rechtspopulistischen Aktivitäten stellt sich immer auch die Frage, ob die16 Dieser Beitrag stellt erste Ergebnisse eines durch die Otto-Brenner-Stiftung geförderten Forschungsprojektes vor; siehe Schroeder et al. 2020. 17 Im Sinne des explorativen Erkenntnisinteresses sollen subjektive Einschätzungen, Deutungsmuster und Handlungsorientierungen unter Berücksichtigung der (subsystem)spezifischen Kontextbedingungen erfasst werden. Die Auswahl der GesprächspartnerInnen orientiert sich an der explorativen Fallauswahl rechter Interventionen. Interviewt wurden sowohl Betroffene rechter Aktivitäten als auch InitiatorInnen/TrägerInnen entsprechender Interventionen. Flankiert wurde diese fallspezifische Gesprächsauswahl durch Interviews mit BeobachterInnen, die beide Handlungsformen – sowohl die rechten Interventionen wie die zivilgesellschaftlichen Reaktionen – reflektieren. 18 Mudde 2006. 19 Klein 2012, S. 19. 20 Müller 2017, S. 42ff. 21 Rensmann 2006, S. 69. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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se entweder als Versuche AfD-naher Akteure gedeutet werden können, mit denen eine Verankerung in der organisierten Zivilgesellschaft angestrebt werden soll (top-down) oder ob diese aus dem Subsystem heraus erfolgen (bottom-up). Der Begriff »Subsystem« verweist auf autonome gesellschaftliche Teilbereiche. Einerseits erfüllen sie bestimmte Funktionen für die Gesellschaft und folgen einer Eigenlogik. Andererseits bestehen Verbindungen sowohl zwischen den Subsystemen als auch zum Gesamtsystem, was Fragen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie Diffusionsprozessen und Wechselwirkungen aufwirft. Die Wechselwirkung zwischen politischem System und Subsystemen kann nach Grande und Kriesi dann als Prozess der Politisierung bezeichnet werden, wenn sich die Interaktion als anwachsender politischer Konflikt beschreiben lässt.22 Die Ausweitung des Konflikts erfolgt dabei in drei Dimension: 1. größere öffentliche Sichtbarkeit, 2. zunehmende Zahl konfliktbeteiligter Akteure und/oder 3. intensivierte, polarisierte Auseinandersetzungen. Politisierung kann damit innerhalb von Subsystemen auftreten oder sich durch eine Verlagerung von Konflikten aus einem gesellschaftlichen Teilsystem auf die politische Sphäre auszeichnen. Die aufgeworfene Frage nach der Politisierung richtet sich dabei auf die organisierte Zivilgesellschaft. Denn ein von Grande identifiziertes Muster besteht in der »Politisierung bestehender zivilgesellschaftlicher Vereinigungen (…) durch das gezielte Hineintragen neuer Konflikte«.23 Es geht also darum, wie rechte Akteure versuchen, ihre Einstellungen und ihr Gedankengut in oder über zivilgesellschaftliche Organisationen in öffentlichen Debatten einzubringen und gesellschaftsfähig zu machen. Bei diesen Durchdringungsversuchen stellt sich auch die Frage nach den spezifischen Kontexten, die in dieser Analyse mit den Begrifflichkeiten von Gelegenheitsstruktur24 und Gelegenheitsfenster25 erfasst werden. 2. Subsystem Arbeitswelt Die DGB-Gewerkschaften sind in der Arbeitswelt der Bundesrepublik seit jeher die dominanten Akteure auf Arbeitnehmerseite. Dies gilt sowohl bezogen auf ihre Größe mit 5,9 Mio. Mitgliedern im Jahr 2018 als auch auf ihre Deutungshoheit. Gleichwohl existieren schon immer alternative Akteure, die ihren Monopol-, Deutungs- und Machtanspruch infrage stellen. Bereits seit den 1950er Jahren werfen die »Christlichen Gewerkschaften« den DGB-Akteuren vor, zu links und konfliktorientiert zu agieren. Parallel dazu kritisieren diverse linke Gruppen deren Be22 Grande, Kriesi 2015, S. 481f. 23 Grande 2018b, S. 56. 24 Gelegenheitsstrukturen sind strukturelle Rahmenbedingungen, die begünstigend oder beschränkend wirken. Das Konzept knüpft an der Political Opportunity Structure (POS) zur Erklärung für das Entstehen von sozialen Bewegungen an (Kriesi 1991). 25 Das Gelegenheitsfenster kennzeichnet, im Sinne des Window of Opportunity im Multiple-Streams-Ansatz (MSA), eine Zeitphase, in der Potenziale für erfolgreiches Handeln vorhanden sind (Kingdon 1984).

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triebspolitik als zu arbeitgeberfreundlich. Diese Konflikte erreichten jedoch nie ein systemrelevantes Niveau. Die seit einigen Jahren als vermeintlich »alternative Interessenvertretung« auftretenden rechtspopulistischen Gruppen knüpfen, einer gewissen pfadabhängigen Logik folgend, an linke Konfliktrhetoriken an und kritisieren zugleich den Alleinvertretungsanspruch der DGB-Gewerkschaften. Ihr verändertes Profil besteht in der Verknüpfung linker und rechter Kritikmuster zu einer neuen Mobilisierungsstrategie. Dabei fokussieren sie ihre Kritik insbesondere auf das Co-Management und die multikulturelle, antifaschistische Grundposition. 2.1 Bedeutung des Subsytems Das Subsystem der Arbeitswelt strukturiert individuelle Lebensrealitäten. Teilhabe an Erwerbsarbeit stellt den zentralen Zugang zu Einkommen, gesellschaftlicher Anerkennung und sozialer Sicherheit dar. Darüber hinaus ist der Betrieb ein wichtiger sozialintegrativer Ort. Das Zusammenspiel aus innerbetrieblicher Regulierung per Betriebsrat und außerbetrieblicher gewerkschaftlicher Flankierung leistet einen wichtigen Beitrag zur betrieblichen Konfliktbearbeitung. Zugleich werden soziale Rechte gegenüber Wirtschaft, Gesellschaft und Staat eingefordert. Insofern verstehen sich die Gewerkschaften als zivilgesellschaftliche Agenturen und »Akteure einer lebendigen politischen Demokratie und als Zähmer des Kapitalismus«.26 Gleichzeitig erwachsen aus den vorhandenen negativen Dimensionen der Arbeitswelt, zum Beispiel den Unsicherheiten des Lohnarbeitsverhältnisses, vielfältige, auch ideologische Anknüpfungspunkte für Rechtspopulisten. Dies ist allerdings nicht neu, wie etwa Zeuner et al. aufzeigen.27 Becker et al. und Sauer et al. sensibilisieren für ein virulentes rechtspopulistisches Potenzial unter Beschäftigten und GewerkschafterInnen,28 denn »rechtspopulistische Agitationsbemühungen [treffen] auf Arbeitsstrukturen im Umbruch«.29 Sowohl die Ergebnisse der Betriebsratswahlen als auch die Tatsache, dass bei der Bundestagswahl 2017 rund 15 % der GewerkschafterInnen die AfD wählten, zeigt, dass die interessenpolitische Logik des »Entweder-Oder« gesprengt wird und sich »gewerkschaftliches und rechtspopulistisches Engagement nicht von vornherein aus[schließen]«.30

26 27 28 29 30

Schroeder 2018, S. 288. Zeuner et al. 2007. Becker, Dörre, Reif-Spirek 2018; Sauer et al. 2018. Urban 2018, S. 110. Sauer et al. 2018, S. 58.

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2.2 Konfliktlinien und Reaktionen Die AfD inszeniert sich als Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft,31 so bspw. im Bundestagswahlkampf 2017: »Arbeitnehmerrechte schützen. Das Rot der Arbeitnehmer ist jetzt Blau!« Nach ihrem Erfolg bei der Bundestagswahl bemüht sich die Partei darum, »den Wind der durch Deutschland weht in die Betriebe [zu] tragen (…), um das linksextreme Arbeitnehmermonopol zu brechen«.32 GewerkschafterInnen und Betriebsräte sollen den Betrieb für eine gesellschaftliche Verankerung der AfD erschließen. Mediale Aufmerksamkeit erfuhr die Liste »Zentrum Automobil« bei den Betriebsratswahlen 2018. Gemeinsam mit »Ein Prozent«33 wurde dieses Gelegenheitsfenster genutzt und die Kampagne »Patrioten schützen Arbeitsplätze: Werde Betriebsrat!« initiiert, um diese Wahl »für Gewerkschaftsfunktionäre zum Desaster und zum Erfolg für alle kritischen und patriotischen Bürger« zu machen; allerdings mit mäßigem Erfolg.34 Zwar traten die rechtspopulistischen Listen im Vergleich zur letzten Wahl (2014) mit deutlich mehr Kandidaten an35 und konnten auch mehr Mandate gewinnen, doch kamen sie nicht über den punktuellen Erfolg in einzelnen Betrieben hinaus. Diese sind vor allem in Großkonzernen der Automobilindustrie und schwerpunktmäßig in Baden-Württemberg sowie Sachsen zu finden, wo sie etwa am Daimler-Standort in Untertürkheim knapp 13 % der Betriebsratssitze (6 von 47) erringen konnten. Es finden sich aber auch Betriebe, in denen zwar keine rechten Listen antraten, jedoch Personen auf Gewerkschaftslisten standen, die sich offen zu rechtspopulistischen Einstellungen bekennen.36 Die von rechtspopulistischen Akteuren in betrieblichen Kontexten aufgegriffenen Themen und Konflikte lassen sich auf beiden Ebenen des ideologischen Kerns verorten. Die vertikale Dichotomie besteht dabei im Verhältnis zwischen DGBGewerkschaften und Beschäftigten. Im Narrativ der vermeintlichen »Entfremdung« zwischen den Beschäftigten und Gewerkschaftsfunktionären werden die Gewerkschaften zum Teil des Managements (Establishments). Rhetorisch wird so an die rechtspopulistische Kritik an den etablierten Parteien angeknüpft, die

31 Mit der »Alternativen Vereinigung der Arbeitnehmer« (AVA), der Interessengemeinschaft »Alternative Öffentlicher Dienst« (AöD) und den »Arbeitnehmern in der AfD« (AidA) existieren in und um die AfD zwar Gruppen, die sich arbeitnehmernah geben, sie spielen aber keine bedeutende Rolle. 32 Keller 2018. 33 Die Initiative »Ein Prozent« dient der Neuen Rechten als Vernetzungsplattform. Sie organisiert Veranstaltungen, finanziert Projekte, kommuniziert durch Flugblätter und ihre Website, auf der angeblich investigative Recherchen, vor allem aber »krude Selbstinszenierungen und […] Falschinformationen lanciert werden« (Neumann 2017). 34 Ein Prozent o. J. »Wir sind viele«, https://einprozent.de (Zugriff vom 17.10.2018). 35 Laut der von »Ein Prozent« verteilten Zeitschrift »Alternative Gewerkschaft« standen 2018 »über 300 Kandidaten in fast 40 Betrieben aller denkbaren Branchen« zur Wahl. 36 Interview ver.di Arbeitskreis Rassismus und Rechtsextremismus.

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schwerfällig, bürokratisch, korrupt und klientelistisch seien.37 Auch auf der betrieblichen Ebene wird Co-Management angeprangert. Betriebsräte würden zum Teil des Establishments und sprächen nicht mehr für die Belegschaften. In der Folge richtete sich Zentrum Automobil bei den Betriebsratswahlen 2014 und 2018 explizit »gegen Korruption und Co-Management«.38 Es gäbe keine realen Konflikte mehr, sondern »geordnete und rituell ablaufende Tarifauseinandersetzungen«, bei denen die Interessen der ArbeitnehmerInnen kein Gewicht hätten.39 Zentrum Automobil sieht sich in diesem Sinne als »die Opposition zu den gekauften Einheitsgewerkschaften.«40 Das neue an dieser Kritikfigur ist, dass sie die linke Kritik an der gewerkschaftlichen Betriebspolitik aufgreift. Zudem wird die politische Arbeit der Gewerkschaften kritisiert. Diese würden ihre eigentliche Funktion als Arbeitsmarktakteure nicht mehr wahrnehmen. Mit Initiativen, in denen sie für eine weltoffene und liberale Gesellschaft eintreten, würden sie »ihre Mitgliedsbeiträge für politische Zwecke« missbrauchen,41 anstatt sie für materielle tarifpolitische Ziele einzusetzen und sich politisch neutral zu verhalten. In der horizontalen Dimension werden Ängste vor Globalisierung und Digitalisierung aufgegriffen sowie Flüchtlinge und Migranten zur Bedrohung für Arbeitsplätze und Entlohnung stilisiert.42 Demnach sei die »heutige Masseneinwanderung (…) ein Instrument zum Drücken der Löhne (…) [, zum] Nachteil der deutschen Arbeitnehmer«, denn das »größere Angebot an Arbeitskräften für einfache Tätigkeiten verschlechtert die Verhandlungsposition der deutschen Arbeitnehmer«.43 In dieser Logik wird der Betrieb zum sozialen Raum, dessen Grenzen nach außen geschützt werden müssen. Diese rechtspopulistische Erzählung ist an die Standortlogik anschlussfähig. Auch wenn die DGB-Gewerkschaften diese durchaus kritisch reflektieren, ist der Weg vom starken, wettbewerbsfähigen Standort Deutschland zum Standortnationalismus nicht weit und bietet somit einen Anknüpfungspunkt für rechtspopulistisches Werben, das bei Gewerkschaftsmitgliedern verfangen kann. Die Bemühungen der AfD sowie die Kampagnen der »alternativen Interessenvertretungen« zeigen, dass Rechtspopulisten in einen »ambitionierten Kampf um die Hegemonie in der Arbeitswelt und die Dominanz im Politikfeld Betrieb« ge37 Klein 2012, S. 20. 38 Zentrum Automobil o. J. »Zentrum Automobil e.V.« http://zentrum-auto.de (Zugriff vom 25.10.2018). 39 Interview Zentrum Automobil. 40 Ebd. 41 Interview Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt, Arbeit und Leben Niedersachsen. 42 Sauer et al. 2018, S. 35ff., 89ff. 43 Pohl, Jürgen 2017. »Die Masseneinwanderung ist ein Fehler und bedroht den Wohlstand vom deutschen Arbeitnehmer!« h t t p : / / p o h l p o s i t i o n - a f d . d e (Zugriff vom 18.10.2018). Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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treten sind.44 Dabei geben sie, der populistischen Logik folgend, an, mit »patriotischer Gewerkschaftsarbeit« für den »kleinen Mann« einzustehen. Damit tragen Rechtspopulisten in einigen Betrieben zu einer Klimaveränderung bei, in deren Konsequenz gewerkschaftliche Aktivitäten für eine universelle und solidarische Arbeitspolitik in die Defensive geraten können, wenn sie keine adäquaten Gegenstrategien finden. Der Kampf der DGB-Gewerkschaften gegen Fremdenfeindlichkeit, menschenverachtende Ideologien und antidemokratische Tendenzen ist stark durch ihre Erfahrungen mit dem NS-Regime und der Zerschlagung der Richtungsgewerkschaften (1933) geprägt. So beziehen sie »gegenüber fremdenfeindlichen und chauvinistischen Haltungen klar Stellung« und treten gegen »völkisch-nationalistische Krisendeutungen und (…) rassistische Ressentiments« ein.45 Bezogen auf rechtspopulistische Interventionen identifiziert Bose Reaktionen, die »Haltungen der ›klaren Kante‹ auf der einen und de[n] Ansatz des allmählichen demokratischen Überzeugens auf der anderen Seite« fokussieren.46 »Klare Kante« gegen jene, die »Ängste, Rassismus und Nationalismus schüren«; »offene Türen« für diejenigen, die »berechtigte (soziale) Ängste haben!« Ziel sei es, das »solidarische Alternativmodell im Alltag lebendig und erfahrbar [zu] machen«.47 Andererseits ergebe sich insbesondere für GewerkschaftssekretärInnen der Eindruck, dass die Gewerkschaften eine interne Grundsatzdiskussion scheuen und sich »,unter dem Deckmantel politischer Correctness‹ von dieser Verantwortung befreien«.48 Sie agieren möglicherweise aufgrund des Spannungsverhältnisses zwischen Einflusslogik und Mitgliederorientierung im Feld der Wertenormierung inhaltlich zurückhaltender, um rechtspopulistischen Positionen nahestehende Mitglieder nicht zu verlieren.49 Andererseits verabschiedete die Eisenbahngewerkschaft EVG im April 2019 einen Unvereinbarkeitsbeschluss, in dem festgestellt wird, »dass die AfD und andere rechtspopulistische bzw. rechtsextreme Parteien sowie Gruppierungen den Positionen und Zielen der EVG unvereinbar gegenüberstehen«.50 Insbesondere sind es aber gesamtgesellschaftliche Kampagnen und Bildungsarbeit,51 die die Hintergründe, Ursachen und Emotionalitäten der neuen Entwicklungen mit Augenmaß

44 45 46 47 48 49

Urban 2018. Interview ver.di Arbeitskreis Rassismus und Rechtsextremismus. Bose 2018, S. 229. IG Metall 2017. Bose 2018, S. 237. Interview Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt, Arbeit und Leben Niedersachsen. 50 EVG 2019. BuVo-Beschluss: AfD und EVG - das geht nicht zusammen. www.evg-onli ne.org (Zugriff vom 04.09.2019). 51 Das Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus!« bietet StammtischkämpferInnen-Ausbildungen an, mobile Beratungsteams sensibilisieren für rechtspopulistische Interventionen in Betrieben und der Verein »Mach meinen Kumpel nicht an!« erstellt Aktionsund Bildungsmaterial.

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bearbeiten und auf eine Konfliktfähigkeit im Umgang mit rechtspopulistischen Aktivitäten zielen. 3. Subsystem Religion Die Kirchen, in denen trotz Mitgliederrückgängen immer noch 55 % der Bevölkerung (23 Mio. Katholiken, 21 Mio. Protestanten) organisiert sind, gelten als Orte des Miteinanders, der Zuflucht, der Nächstenliebe und des Dialogs. Dies umfasst auch multiethnische und islamfreundliche Positionierungen. Rechtspopulistische Interventionen greifen die innerkirchlich kontrovers diskutierten Themen Gleichstellung, Gender und Homosexualität auf. Mit ihren Positionen in diesem Themenfeldern würden die Kirchen das »wahre Christentum« verraten. Die Kirchen würden sich mit dem links-grünen Zeitgeist arrangieren, seien politisiert und aufgrund der nicht vorhandenen Trennung von Staat und Kirche Teil des Establishments. Mit der Schutzbedürftigkeit des christlichen Abendlandes mobilisieren auch die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (PEGIDA) montags in Dresden und bauen dabei auf eine Affinität christlichabendländischer und rechtspopulistischer Positionen. 3.1 Bedeutung des Subsystems Als »mitgliederstarke, finanzkräftige, sozial- und arbeitsmarktpolitisch relevante«52 gesellschaftliche Organisationen nehmen die Katholische Kirche und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) wichtige gesellschaftliche Funktionen ein. Mit ihren Aktivitäten in der Freiwilligenarbeit, in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Seelsorge sowie als Lebens- und Erfahrungsraum leisten sie auf lokaler Ebene einen wichtigen Beitrag für das gesellschaftliche Miteinander. Darüber hinaus sind ihre Wohlfahrtsverbände (Diakonie und Caritas) die größten Anbieter sozialer Dienstleistungen (33 % der Kindertagesstätten und 25 % der Allgemeinkrankenhäuser) und – nach der öffentlichen Hand – auch die größten Arbeitgeber in Deutschland (1,5 Mio. Beschäftigte, 1,5 Mio. Ehrenamtliche). Die christlichen Kirchen verkörpern somit einerseits zentrale Werte des gesellschaftlichen Zusammenlebens – wie Solidarität und Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit – und beziehen damit dezidiert Standpunkte gegen populistische Bewegungen. Andererseits repräsentieren sie mit über 40 Millionen Mitgliedern auch Menschen, die populistischen Bewegungen angehören. Bereits in den 1960er Jahren formulierte Allport das Paradoxon, dass Religionen Vorurteilsstrukturen und rassistischen Denkmustern durch ihren moralischen Wertekanon zwar entgegenwirken, zugleich aber mit einigen theologischen Elementen (u. a. Auserwähltheit und Wahrheitsanspruch) Einfallstore für Überzeugungen liefern, die mit Selbsterhöhung und antipluralistischen Tendenzen verbun-

52 Willems 2007, S. 316. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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den sein können.53 Insbesondere der religiöse Exklusivitätsanspruch und die Kirchgangshäufigkeit sind entscheidende Variablen, die mit einer Ablehnung plural-demokratischer Strukturen korrelieren.54 So korreliert beispielsweise die »selbsteingeschätzte Religiosität positiv mit Sexismus, Vorurteilen gegen Homosexuelle und ethnischem Rassismus«.55 Für die Bundestagswahl 2013 zeigt sich, dass katholische sowie protestantische KirchgängerInnen, die mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst besuchen, die AfD unterdurchschnittlich häufig wählten (bis zu -2 Prozentpunkte). Bei der Bundestagswahl 2017 fiel dieser Befund mit bis zu -6 Prozentpunkten noch deutlicher aus.56 3.2 Konfliktlinien und Reaktionen Im selbsterklärten Kampf gegen die »Islamisierung des Abendlandes« versuchen Rechtspopulisten, christliche Werte und Begriffe im Sinne der eigenen Ideologie umzudeuten. Seiterich spricht vom neuen »semantische[n] Kampf« um das Christliche und betont, dass »[f]ührende Akteure der rechtspopulistischen AfD (…) die Begriffe christlich und Christentum« kapern.57 Dies führe dazu, dass »die selbsternannten Abendlandverteidiger aus dem internationalistischen, antirassistischen Christentum der Nächstenliebe eine Art anti-islamische, weiße Stammesreligion« machten.58 Im AfD-Grundsatzprogramm wird betont, dass sich die Partei dafür einsetze, die »abendländische und christliche Kultur (…) dauerhaft [zu] erhalten«.59 Im Text taucht der Begriff Christentum mehrfach auf und wird als Gegensatz zum Islam verstanden. Weitere Anknüpfungspunkte zwischen konservativen Christen und rechtspopulistischen Akteuren sind die Themen Familie, Sexualität und Gleichstellung. Die Kritik an Gender-Mainstreaming und -Diversity verbinden »die Neue Rechte und die religiöse Rechte mit der AfD, aber auch mit manchen konservativen Kreisen in den Unionsparteien«.60 Kritik richtet sich auch gegen die »Ehe für alle«, gegen ausgelebte Homosexualität und die Ausgestaltung des schulischen Sexualunterrichts, welche als »Frühsexualisierung« bezeichnet wird.61 Neben den inhaltlichen Schnittmengen ist auch eine Abgrenzungslogik der AfD gegenüber den christlichen Kirchen erkennbar, die »durch und durch politisiert«

53 54 55 56 57 58 59

Allport 1966, S. 447ff. Ahrens, Rebenstorf 2018, S. 198. Rebenstorf 2018, S. 317. Weßels 2014; 2019. Seiterich 2016. Ebd. AfD 2016. »Programm für Deutschland. Das Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland«, https://cdn.afd.tools/wp-content/uploads/sites/111/2018/01/Programm_ AfD_Druck_Online_190118.pdf (Zugriff vom 19.12.2019), S. 11. 60 Bednarz 2018, S. 66. 61 Ebd., S. 71.

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seien.62 Die Trennung von Staat und Kirche sei damit nicht mehr gegeben. Der niedersächsische Landesvorsitzende Hampel rief beim AfD-Parteitag in Köln sogar zum Kirchenaustritt auf. Er begründete dies damit, dass die Kirchen das Christentum nicht mehr verträten. Dies belege ihr Verhalten in der Flüchtlingskrise sowie das Engagement von Caritas und Diakonie in Integrationsprogrammen und der Asylberatung. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Bystron warf den Kirchen vor, dass ihre Wohlfahrtsverbände »unter dem Deckmantel der Nächstenliebe« ein Milliardengeschäft mit der Flüchtlingskrise machten.63 Der ehemalige AfD-NRW-Vorsitzende Pretzell spricht von einem »Asylindustrieverband«.64 Mit den »Christen in der AfD« (ChrAfD) entstand zudem eine bundesweite Gruppe, um, laut Webseite, »innerhalb der AfD die Kräfte zu bündeln und die programmatische Arbeit der AfD im Sinne einer christlichen Fundamentlegung mitzugestalten.«65 Die Schwierigkeiten der Kirchen im Umgang mit der AfD zeigen sich am Beispiel der Kirchentage. Beim Katholikentag 2016 in Leipzig wurden AfD-VertreterInnen nicht eingeladen; beim Evangelischen Kirchentag 2017 in Berlin gab es eine Diskussion zwischen der damaligen Sprecherin der »Christen in der AfD«, Anette Schultner, und dem Berliner Landesbischof Markus Dröge. Beim Katholikentag im Mai 2018 in Münster wurde die Diskussion mit allen im Bundestag vertretenen Parteien geführt. Die Einladung des kirchenpolitischen Sprechers der AfD, Volker Münz, wurde kontrovers diskutiert. BefürworterInnen waren der Ansicht, dass »Irrtümer (…) nicht dadurch widerlegt [werden], dass man sie isoliert, ausgrenzt und tabuisiert.«66 GegnerInnen der Einladung sahen dagegen »alle Religionsgemeinschaften, den Rechtsstaat und die Suche nach gesellschaftlichem Frieden« bedroht.67 Die Podiumsdiskussion wurde letztlich von Protesten und Zwischenrufen begleitet. Anders positionierte sich der Evangelische Kirchentag 2019. Dort wollte man »Kante zeigen«, VertreterInnen der AfD würden »nicht zur Mitwirkung auf Podien und zu Diskussionsveranstaltungen (…) eingeladen«. In dem Beschluss des Kirchentagspräsidiums hieß es, man verstehe sich als »offenes Forum für faire Debatten über aktuelle Themen in Kirche und Gesellschaft«. Nicht eingeladen werde, »wer sich rassistisch äußert« oder Äußerungen gruppenbezogener Menschen-

62 Alice Weidel, AfD Fraktionsvorsitzende im Bundestag, 21.12.2017, www.focus.de (Zugriff vom 05.07.2018). 63 Deckers, Daniel 2016. »Religiöse Wähler. Alternative für Christus«, 22.11.2016, https: //www.faz.net/aktuell/politik/inland/wie-christliche-waehler-auf-den-hass-der-afd-reagi eren-14538523.html (Zugriff am 24.6.2020). 64 Ebd. 65 Christen in der AfD o. J., »Wer ist ChrAfD?«, w w w . c h r a f d . d e (Zugriff vom 25.03.2020). 66 Lamprecht 2017, S. 16. 67 Maier, Vesper 2018. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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feindlichkeit verbreite.68 In der Partei sei ein fließender Übergang zum Rechtsextremismus und Verbindungen zu verfassungsfeindlichen Netzwerken zu beobachten. Dies stehe dem Anliegen des Kirchentages – für Respekt und Klarheit zu werben – diametral gegenüber. Der Beschluss verbinde ein klares »Nein« zu AfDRepräsentantInnen mit einer klaren Einladung zum Dialog mit AfD-AnhängerInnen, »die sich gegenwärtig in den gesellschaftlichen und politischen Debatten nicht wiederfinden«.69 Die AfD kritisierte diese Entscheidung und mehrere Fraktionen legten ein kirchenpolitisches Papier vor, in dem sie der Evangelischen Kirche vorwarfen, einseitig zu politisieren und die AfD auszugrenzen. Die Evangelische Kirche sei in ihrer Geschichte immer wieder eine »unheilige Allianz« mit den Mächtigen eingegangen. In historischer Kontinuität des Nationalsozialismus und der DDR schmiege sich die Kirche nun an den »linksgrünen politischen Zeitgeist« an.70 Diverse Geistliche, darunter der Ratsvorsitzende der EKD, Heinrich BedfordStrom, fordern im Umgang mit der AfD rote Linien.71 Diese werden bei Antisemitismus, Rassismus und der pauschalen Abwertung ganzer Menschengruppen verortet. Die christlichen Kirchen erinnern an »frühere Irrlichtereien des Rechtskatholizismus«,72 bemühen sich um eine »Theologie der Demokratie«, betonen den Zusammenhang zwischen Gottesdienst und Menschendienst und leisten Bildungsanstrengungen. Zugleich gibt es öffentlichkeitswirksame Aktionen, wie der friedliche Protest der christlichen Kirchen gegen den AfD-Parteitag in Köln 2017 unter dem Motto »Unser Kreuz hat keine Haken«73 und Arbeitshilfen, wie beispielsweise die Handreichung der Deutschen Bischofskonferenz (»Dem Populismus widerstehen. Arbeitshilfe zum kirchlichen Umgang mit rechtspopulistischen Tendenzen«). Insgesamt seien aus christlichen Kreisen aber weiterhin viele »Adhoc-Reaktionen« zu beobachten.74 4. Subsystem Sport Der Vereinssport übernimmt eine wichtige gesellschaftliche Funktion für die Zusammenführung von »Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und sozialer 68 FAZ 2018a. »Beschluss des Präsidiums. Evangelischer Kirchentag will keine AfD-Politiker als Redner«, 26.09.2018, www.faz.net (Zugriff vom 02.09.2019). 69 Präsidiumsbeschluss Deutscher Evangelischer Kirchentag 2019. 70 AfD-Fraktion im Thüringer Landtag 2019. »Unheilige Allianz. Der Pakt der evangelischen Kirche mit dem Zeitgeist und den Mächtigen, Erfurt: AfD-Fraktion im Thüringer Landtag«, https://afd-thl.de (Zugriff vom 02.09.2019). 71 EKD 2018. »Rote Linien für die AfD, Rückenwind für die Ökumene«, 13.07.2018, www.ekd.de (Zugriff vom 03.03.2020). 72 Püttmann 2017, S. 57. 73 Unter diesem Motto wurde bereits 2012 ein Arbeitskreis »Christen gegen Rechtsextremismus« gegründet. 74 Interview mit der BAG Kirche und Rechtsextremismus.

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Schicht«.75 Rund 33 % der Bevölkerung (27,4 Mio.) waren 2017 in den knapp 91.000 Sportvereinen des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOBS) organisiert.76 Zugleich wird das »vermeintlich unpolitische[] Handlungsfeld« des Sports aber immer wieder zu einem brisanten Feld der politischen Auseinandersetzung.77 Die AfD setzt beim Wettkampf- und Teamgedanken an und deutet diesen ins National-Völkische um. Der sportliche Wettkampf, historisch ein Refugium traditioneller Männlichkeit und Kriegskunst, bietet Anknüpfungspunkte für rechtspopulistische Ideale von Tradition, Tugend und Tapferkeit. Insbesondere im Fußball findet aufgrund der ihm zuteilwerdenden öffentlichen Aufmerksamkeit immer wieder eine Politisierung systeminhärenter Konflikte statt. Dabei können rechtspopulistische Interventionen an dem teilweise in Fankulturen vorhandenen Alltagsrassismus, rechtsextremen und gewaltaffinen Teilen der Hooligans und den immer wieder aufflammenden Konflikten zwischen Fangruppen und Sportverbänden bzw. -funktionären andocken. So wurde ein in der Nationalmannschaft nicht vorhandenes »nationales Kollektiv« für das frühe WM-Ende 2018 mitverantwortlich gemacht und zur Parabel für eine Politik stilisiert, die »Ausländern alles erlaubt«.78 Subsysteminhärente Konflikte aus dem Feld des Sports werden so politisiert und damit zu politischen Konflikten. 4.1 Bedeutung des Subsystems Die gesellschaftliche Funktion des Sports geht weit über Freizeit, Gesundheit, Geselligkeit, Spaß und Wettkampf hinaus. Der Sport ist »Träger, Förderer und Instrument gesellschaftlichen Engagements« und eine »integrierende, gesundheitsfördernde, pädagogische oder auch kommunikative Kraft«, was ihn »zu einem bedeutenden zivilgesellschaftlichen Akteur und wesentlichen sozialen Faktor [macht], der kaum zu unterschätzende gesellschaftliche Bindungskräfte freisetzt«.79 Aus staatlicher Perspektive fördert der Sport als zivilgesellschaftlicher Ort Demokratie, Inklusion, Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt.80 Diese in starkem Maße auch staatlich geförderten Aktivitäten werden von den Sportvereinen und -verbänden verantwortet. Diese Praxis des Sportkorporatismus als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Basiskonsenses ist ein Ansatzpunkt rechtspopulistischer Politik.81 Stärker als der politisch bedeutsame Breitensport erhält der Spitzensport große mediale Aufmerksamkeit. Insbesondere unter dem Nimbus des Sports als »unpoli75 76 77 78

Grande 2018a. DOSB 2018, S. 11. Grande 2018a. Elsässer, Jürgen 2018. »Nach WM-Debakel von Merkels »Mannschaft«: Löw nach Sibirien schicken, Özil und Gündogan ab nach Anatolien!« 27.05.2018, www.compactonline.de (Zugriff vom 18.09.2018). 79 Küchenmeister, Schneider 2011, S. 5. 80 Rittner, Breuer 2004; Braun 2018, S. 236. 81 Braun 2018, S. 235. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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tischem« Bereich bietet dieser Anziehungspotenzial. Indem rechte Akteure im Sport Fuß fassen, versuchen sie, sich als anerkannter und akzeptierter Teil der Gesellschaft zu inszenieren und »das positive Ansehen, die Attraktivität des Sports für sich und die von ihnen propagierten negativen ›Botschaften‹ zu nutzen«.82 Darüber hinaus spielen SportlerInnen und TrainerInnen insbesondere für Jugendliche als Vorbilder eine besondere Rolle. Im Folgenden steht der Fußball im Zentrum.83 Er bietet aufgrund seines medialen und kulturellen Stellenwertes unter dem Aspekt der nationalen Identität einen »zentralen Bezugspunkt rechter Ideologien«.84 »Generell kommen die im Fußball miteinander verbundenen Ideen und psychologischen Grundmuster einer strategischen Instrumentalisierung von rechts entgegen«, insbesondere »Ideen wie Mannschaftsgeist und rechtem Kameradschafts-, Homogenitäts- und Gemeinschaftsdenken«.85 Im Fußball ergeben sich somit strategische Möglichkeiten für rechtspopulistische Ansprache. Anknüpfungspunkte sind Begriffe wie Stolz, Nation, Identität und Patriotismus, um völkisch-nationales Gedankengut in Form gesellschaftlicher Diskurse zu normalisieren.86 4.2 Konfliktlinien und Reaktionen Der AfD, die 2018 eigene »sportpolitische Thesen« veröffentlichte, geht es vor allem um Identität. Sport sei »identitätsstiftend«, »fördert den nationalen Zusammenhalt« und ermöglicht die »positive Identifikation mit der eigenen Nation und ihren Leistungen«.87 Der sportpolitische Arbeitskreis der AfD spricht von »klassischen Tugenden wie Ehrlichkeit, Disziplin, Pünktlichkeit, Ordnungssinn, Fleiß und Pflichtbewusstsein«, die im Sport als »heimische Werte und Normen weitergegeben« werden.88 Mit diesen Begriffen stellt sich die AfD sprachlich klar gegen die dominante Sicht auf den Sport als multikulturellen Integrationsfaktor. Gleichzeitig werden inhaltlich anschlussfähige Positionen zur Förderung von Spitzensport und Sportinfrastruktur hervorgehoben. Allerdings agiert die AfD sportpolitisch nicht so scharf, wie es angesichts der historischen, völkisch-identitären Bezüge denkbar 82 Bücker 2018, S. 21. 83 Fußball wird vor allem mit Rechtsextremismus verbunden. Er müsse sich »zunehmend rechtsextremistischer Aktivitäten und Unterwanderungsversuche erwehren« (Gebken, Vosgerau 2014, S. 300). Es komme zu einer »andeutende[n] strategische[n] Vernetzung« zur »Instrumentalisierung des Fußballumfeldes durch die extreme Rechte« (Geisler, Gerster 2016, S. 470). 84 Geisler, Gerster 2016, S. 470. 85 Ebd., S. 479f. 86 Ebd., S. 475f. 87 AfD 2018. »Sportpolitische Thesen der AfD-Fraktionen in den deutschen Landtagen und im Deutschen Bundestag« Stand 30.08.2018, S. 4. 88 AfD o. J. »Für einen Breiten- und Spitzensport mit Zukunft – unser Einsatz für die Sportnation Deutschland« www.afdbundestag.de (Zugriff vom 13.09.2018).

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wäre. Dieses Vorgehen kann man als »schleichendes Einsickern« charakterisieren, indem eindeutig völkisch-nationale Bezugspunkte angeboten werden, die aber gleichzeitig für breite Teile der Gesellschaft akzeptabel und anschlussfähig erscheinen – es handelt sich somit »möglicherweise um eine Strategie, sich anzubiedern.«89 Eine einheitliche Reaktion auf die sportpolitischen Interessen der AfD erfolgt nicht. Eine klare Abgrenzung oder gar Ausgrenzung, wie gegenüber dem Rechtsextremismus, gibt es nicht, da eine Ausgrenzung dem integrierenden Anspruch des Sports zuwiderläuft. Dementsprechend unterschiedlich gestaltet sich der Umgang mit der AfD. Der DOSB setzt auf inhaltliche Abgrenzung durch Hervorhebung der eigenen Werte und Haltungen; positioniert sich allerdings nicht eindeutig gegen die AfD.90 Er verhält sich ihr gegenüber so, wie auch anderen im Parlament vertretenen Parteien – was auch die Einladung zu Veranstaltungen beinhaltet. Der Deutsche Bundesjugendring dagegen lädt die AfD grundsätzlich nicht zu Veranstaltungen oder Sportfesten ein.91 Auf der Ebene von Vereinen und Verbänden bestehen Konflikte im Sponsoring durch rechte Organisationen oder in der Neugründung rechter Sportvereine. Letztere finden sich im nicht-organisierten Sport in Form privater Fitnessstudios, Kampfsportangeboten sowie von (Kampf-)Sport- und Familienfesten.92 Dieser Bereich ist klar der extremen Rechten zuzuordnen – für den Rechtspopulismus spiele er (bislang) keine Rolle.93 Direkte Verbindungen zwischen AfD und Sportvereinen bestehen über Einzelpersonen, wie etwa AfD-Mitglied und Pegida-Mitbegründer Achim Exner, der Sicherheitschef bei Dynamo Dresden war und die Pegida-Demo absichert.94 Es gebe aber keine »strategische Unterwanderung« durch die AfD, »wenngleich die Personen und Gruppen der Szene gut vernetzt sind«.95 Als Ausnahme wird mitunter der Chemnitzer FC beschrieben, der aufgrund einer Trauerfeier für Tommy Haller96 im März 2019 in die Schlagzeilen geriet. Auch das Engagement als TrainerIn wird von rechten Akteuren genutzt, um in ihrer Vertrauens- und Vorbildfunktion Jugendliche anzusprechen. Nicht immer geht es dabei um eindeutig rechtsextreme Vorfälle wie 2018 bei Lok Leipzig: Dort stiftete ein Jugendtrainer Spieler einer Nachwuchsmannschaft dazu an, für ein Fo-

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Interview Deutsche Sportjugend. Ebd. Interview Landessportbund Hessen. Interview Kulturbüro Sachsen. Dies ist insbesondere dann problematisch, wenn es keine anderen Freizeitangebote in unmittelbarer Nähe gibt (Flor 2012; Bücker 2018, S. 20.). Interview Landessportbund Niedersachsen, Projekt Sport mit Courage. Interview MitarbeiterIn AfD Landtagsfraktion Sachsen; Interview JournalistIn FAZ. Interview DOSB. Gründer der Vereinigung »Hooligans Nazis Rassisten« (HooNaRa).

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to mit Hitlergruß zu posieren.97 Oftmals finden sich im Sportbereich auch rechtspopulistische Vereinnahmungsversuche. »Antidemokratisches Gerede findet sich auf allen Ebenen der Mitgliedschaft«, ebenso wie rechtspopulistische Aussagen.98 So können rechtspopulistische Einstellungen sowohl zwischen Fangruppierungen oder Mannschaften als auch von SportlerInnen innerhalb von Teams mehr oder weniger offensiv oder eindeutig geäußert werden. Hinzu kommen Fälle, wo »›besorgte‹ Vereinsmitglieder die Vereinsverantwortlichen ›auffordern‹, sich ›doch mal um unsere Kinder zu kümmern und nicht nur um solche von Flüchtlingen und Asylbewerbern‹«.99 Generelle Reaktionen auf rechte Bestrebungen bestehen im Einsatz »für Programme gegen Gewalt und Rechtsextremismus, für Aktionen zur Stärkung demokratischer Verhaltensweisen, individueller Resilienz und bürgerschaftlichen Engagements«.100 Diese zielen, etwa in Form pädagogischer Angebote durch ausgebildete »Demokratietrainer«, direkt auf Fans oder Mitglieder. Diese Strategien sind das Ergebnis grundlegender Probleme im Fußball mit gewaltbereiten oder rechtsextremen Fans. Angebote richten sich auch an ehrenamtlich Aktive, Vorstände und Funktionäre und reichen von Informationen bis zu Beratungen und Materialien zur demokratischen Bildungsarbeit.101 Darüber hinaus haben Verbände wie der DFB mit Integrationskonzepten und -beauftragten auch institutionell reagiert. Bislang geht es dabei nicht um Rechtspopulismus, da das Auftreten rechtsextremer Personen weiterhin das verbreitetere Phänomen darstellt. Dagegen ist der »Rechtspopulismus im Sport noch nicht als großes geschlossenes Problem« in Erscheinung getreten.102 Gleichwohl fragen Verbände vermehrt Beratungsorganisationen für Argumentationstrainings gegen – nicht mehr nur explizit neonazistische – Stammtischparolen an. »Rechtspopulistisches Gedankengut wird auch in den Sportvereinen nicht weiter so strikt tabuisiert wie früher, es wird salonfähiger«, durch die AfD und ihren Erfolg wird die »Normalisierungsgefahr größer«.103 Am Beispiel von Eintracht Frankfurts Präsident Fischer zum Umgang mit der AfD zeigt sich die generelle Frage nach der Strategie im Umgang mit rechtspopulistischen Aktivitäten. Er wolle keine Sympathisanten der AfD als Mitglieder im Verein.104 Die politische Debatte um den Umgang mit der AfD diffundierte so in das Subsystem des Sports hinein und politisierte bestehende Konflikte um (un)erwünschte Vereinsmitgliedschaften. Seine wiederholte Aussage, dass »niemand bei uns Mitglied sein [kann], der diese Partei wählt, in der es rassistische und men97 FAZ 2018. »Eklat im Fußball. Leipziger Jugendspieler posieren mit Hitlergruß«, www.faz.net (Zugriff vom 14.6.2019). 98 Interview LSB Niedersachsen, Projekt Sport mit Courage. 99 Ebd. 100 Braun 2018, S. 236. 101 Brücker 2018, S. 21. 102 Interview Landessportbund Hessen. 103 Ebd. 104 Schumacher 2018.

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schenverachtende Tendenzen gibt«,105 führte nicht nur dazu, dass die AfD Strafanzeige wegen Beleidigung, übler Nachrede und Verleumdung stellte. Darüber hinaus gab es eine Kampagne, »in der für den massenhaften Beitritt, für eine Unterwanderung des Vereins also, geworben wird – um demnächst den resoluten Präsidenten abwählen zu können«.106 Dass ein solches Konfliktniveau häufig nicht erreicht wird, liegt am »Leitgedanken ›integrieren statt ausgrenzen‹, erst bei den »Führungskadern der [rechtsextremen] Szene« gehe es dann »in der Regel darum, ob und wie sie ausgeschlossen werden können«.107 Als Instrument für den Ausschluss dienen eine entsprechend ausgestaltete Vereinssatzung, Geschäftsordnungen oder Pachtverträge für Sportstätten und Vereinsgebäude.108 Der Ausschluss von AfD-nahen Mitgliedern wurde zwar kontrovers diskutiert und medial interessiert verfolgt. Letztlich kristallisiert sich aber ein Reaktionsmuster heraus, das die eigenen Werte hervorhebt, gegenüber dem Rechtspopulismus aber nur in Ausnahmefällen kommunikativ abgrenzend wirkt und viel häufiger als Auseinandersetzungsprozess beschrieben werden kann. 5. Interventionen und Reaktionen im Vergleich Unsere Analyse zeigt, dass Gewerkschaften, christliche Kirchen sowie Sportvereine ähnlich strukturierte Einfallstore für rechtspopulistische Interventionen bieten (Tabelle 1). Teil der Gelegenheitsstruktur sind spezifische, korporatistisch strukturierte institutionelle Arrangements. Zugleich setzen Interventionen am politischen Mandat an, das aus dem arbeitsteilig angelegten Verhältnis der zivilgesellschaftlichen Organisationen zum Staat resultiert. Damit richten sie sich explizit gegen die normative Basis der organisierten Zivilgesellschaft als Verfechter des bundesdeutschen Basiskonsenses. In der folgenden Tabelle werden die Kritikpunkte rechtspopulistischer Interventionen in den populistischen Dimensionen »Unten gegen Oben« und »Innen gegen Außen« subsystemspezifisch systematisiert.

105 106 107 108

Ebd. Prantl 2018. In Flor 2012. Bücker 2018, S. 21.

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Tabelle 1: Ansatzpunkte rechtspopulistischer Kritik im Vergleich Arbeitswelt/Gewerkschaften

Religion/Kirchen

(organisierter) Sport

Institutionelles Arrangement





Kirchenkorporatismus





Korporatismus (CoManagement) Monopolstellung der DGB-Gewerkschaften

Sportkorporatismus

Normative Basis



gute Arbeit für alle



universelle Nächstenliebe



Multikulturalismus, Fairness und Toleranz

Politisches Mandat



historisch verankertes Engagement gegen Rechts



Engagement für partnerschaftliche, multikulturelle Gesellschaft



Motor für Integration, Kampf gegen Rassismus

Quelle: Eigene Darstellung.

Für die Einflugschneisen rechtspopulistischer Interventionen sind subsystemspezifische Widersprüche und Konflikte von besonderer Bedeutung. Inhärente Konfliktlagen werden zugespitzt und mitunter auf die politische Ebene gehoben, so dass dies als Bottom-up-Politisierung verstanden werden kann. Zugleich haben rechtspopulistische Akteure diese Mobilisierungspotenziale erkannt und greifen entsprechende Themen im Sinne einer top-down-gesteuerten Durchdringungsstrategie auf. Diese Interventionen weisen jedoch deutliche Unterschiede zwischen den Subsystemen auf. Während in der Arbeitswelt Versuche einer Durchdringung zu erkennen sind, indem etwa die Kampagnen zur Betriebsratswahl strategisch angelegt und durch externe Hilfe gesteuert wurden, sind derartige Entwicklungen in den anderen beiden Subsystemen nicht beobachtbar. Gleichwohl bedeutet das nicht, dass das Subsystem der Arbeitswelt per se für rechtspopulistische Akteure interessanter ist als andere zivilgesellschaftliche Bereiche. Vielmehr zeigt sich, dass hier zwei Dinge zusammenkommen: Erstens eine Gelegenheitsstruktur für rechtspopulistische Interventionen, die sich aus vorhandenen Konfliktlinien ergibt, an die angeknüpft werden kann. Zweitens braucht es aber auch ein Gelegenheitsfenster, wie die Betriebsratswahlen, das die Möglichkeit bietet, diese Konflikte auf ein neues medial-öffentliches Level zu heben. Die Frage, wie die organisierte Zivilgesellschaft darauf reagieren soll, wird kontrovers diskutiert. Grund hierfür ist ein dem Populismus inhärentes Dilemma: Sowohl bei Nichtbeachtung als auch bei Reaktionen besteht das Risiko, das Phänomen zu stärken. Der Versuch, Rechtspopulisten durch Beteiligung zu »entzaubern«, beschert ihnen Aufmerksamkeit und spricht ihnen möglicherweise Legitimität zu. Nichtbeachtung beinhaltet dagegen die Gefahr, als stillschweigende Zustimmung missverstanden zu werden, oder zur Normalisierung rechtspopulistischer Positionen beizutragen. Die unterschiedlichen Reaktionsmöglichkeiten bieten somit sowohl Chancen als auch Risiken.

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Für die hier untersuchte organisierte Zivilgesellschaft lässt sich festhalten: Die Reaktionen auf rechtspopulistische Tendenzen setzen auf einen Mix aus Prävention und Mediation. Dies ist der Einsicht geschuldet, dass die Akteure sowohl strukturell (im Sinne langfristiger Konfliktlagen und Widersprüche), als auch situativ (aufgrund konkreter Anlässe) herausgefordert sind. Daher findet eine programmatisch-organisatorische Distanzierung von rechten Initiativen, Gruppen und Organisationen sowie eine deutliche Positionierung gegen rechtspopulistische Haltungen statt. Zugleich werden eigene Standpunkte und Werte betont, allerdings in der Regel ohne konfrontative organisatorische Konsequenzen (abgrenzen, ohne ausgrenzen). Insbesondere in der Bildungsarbeit wurden Konzepte erarbeitet, die auf Konfliktfähigkeit im Umgang mit rechtspopulistischen Aktivitäten zielen, um die neuen Entwicklungen mit Augenmaß bearbeiten zu können (auseinandersetzen). Präventive Maßnahmen sind dialogorientiert ausgestaltet, um Ursachen für rechtspopulistische Affinitäten erkennen und werteorientierte Alternativen anbieten zu können. Wenige Beispiele folgen der Logik des Ausgrenzens, wie der EVG-Unvereinbarkeitsbeschluss oder die Haltung des Präsidenten von Eintracht Frankfurt. Vielfach wurde allerdings angeregt, Satzungen umzuformulieren, um eine präventive Wirkung zu erzielen, aber auch, um die rechtliche Grundlage für einen Ausschluss im Konfliktfall zu schaffen (ausgrenzen). Insgesamt zeigt die explorative Analyse, dass Reaktionen der organisierten Zivilgesellschaft auf rechtspopulistische Interventionen einzelfallbezogen erfolgen und dabei allenfalls ähnlichen Mustern folgen, aber keinesfalls einer systematischen Gegenstrategie. 6. Fazit Die organisierte Zivilgesellschaft gilt als eine zentrale Quelle und Anwalt des Basiskonsenses. Zugleich ist sie aber auch ein Resonanzboden für rechtspopulistische Infragestellungen dieses Konsenses. Der Erfolg der AfD beflügelt auch innerhalb der Zivilgesellschaft einige Akteure, ihre Kritiken direkter und offensiver zu formulieren. Dies kann die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft als Anwalt des Basiskonsenses schwächen und damit der – aus liberaldemokratischer Sicht – »schmutzigen Seite«109 der Zivilgesellschaft eine veränderte politische Bedeutung verleihen. Als die AfD bei der Bundestagswahl 2017 mit 12,6 % der abgegebenen Stimmen in den Bundestag einzog, wurde sie auch von Menschen gewählt, die sich gewerkschaftlich engagieren, Kirchenmitglieder sind oder ihre Freizeit in Sportvereinen verbringen. Die »Grenzen des Sagbaren« sind durchlässiger geworden und die Risse beim bundesdeutschen Basiskonsens nehmen zu. Damit steigt auch die Intensität rechter Meinungsäußerungen, die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in gesellschaftlich akzeptierter Form – nämlich als populistische Haltung – in Debatten und Konflikte integrieren. Eine solche Politisierung von Konflikten kann 109 Geiges, Marg, Walter 2015. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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in den untersuchten Subsystemen fallweise aus Bottom-up- wie auch aus Topdown-Perspektive nachvollzogen werden. Bezogen auf die eingangs formulierten Untersuchungsfragen zeigt sich erstens, dass rechtspopulistische Interventionen eine Infragestellung des Basiskonsenses mit der Politisierung systeminhärenter Konflikte verbinden. Diese bereits bestehenden Konflikte (Gelegenheitsstrukturen) werden erst dann sichtbar und verschärft, also politisiert, wenn sich ein Gelegenheitsfenster – beispielsweise im Zuge der Flüchtlingskrise, des Diesel-Skandals oder der Betriebsratswahlen – öffnet und dieses genutzt wird. Bezogen auf die zweite Untersuchungsfrage zeigt sich, dass die Reaktionen der Verbände zwischen Prävention und eindämmungsorientierten Ad-Hoc-Aktivitäten changieren; sie gleichen zuweilen Suchbewegungen, in denen die organisationsspezifischen Unsicherheiten zum Ausdruck kommen. Trotz dieser Unsicherheiten in den Vereinen und Verbänden gibt es bislang keine signifikante rechte Landnahme im Sinne einer systematischen Politisierung der organisierten Zivilgesellschaft. Angesichts des Befundes, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure bisher keine konsistenten Gegenstrategien gefunden haben, ist dies nicht selbstverständlich. Hinsichtlich der dritten Untersuchungsfrage sind sowohl Ähnlichkeiten als auch Divergenzen zwischen den untersuchten Feldern in Bezug auf rechtspopulistische Aktivitäten und im Umgang mit diesen erkennbar. So bieten die korporatistisch strukturierten, institutionellen Arrangements, die zwischen staatlichen und verbandlichen Akteuren in den jeweiligen Arenen bestehen, eine ähnlich gelagerte Gelegenheitsstruktur. Inhaltlich zeigen sich Divergenzen, indem die Interventionen an der je spezifischen Rolle ansetzen, die die untersuchten Bereiche für den bundesdeutschen Basiskonsens einnehmen. Daraus ergibt sich folgende Zuspitzung: Im Zuge neuer, kulturell geprägter Konfliktlinien in der Arbeitswelt und angesichts arbeitsbezogener Veränderungen durch Digitalisierung und Globalisierung wettern Rechtspopulisten gegen das sogenannte Co-Management von Betriebsräten und diffamieren die Gewerkschaften als multikulturelle »Arbeiterverräter«, die sich als Teil des Establishments nicht um die Beschäftigteninteressen kümmern würden. Sie greifen die innerkirchlichen Reibungspunkte zwischen traditionellkonservativen und liberalen Christen auf und werfen den Kirchen vor, die Vertretung der Werte des christlichen Abendlandes aufzukündigen. Sportverbände werden als Verräter am Nationalsport diffamiert, der sich, im Sinne einer völkischen, rückwärtsgewandten Ideologie wieder stärker an Tugenden wie Stolz, Nation, Identität und Patriotismus orientieren müsse. Rechte Interventionen bilden für die organisierte Zivilgesellschaft eine Herausforderung, die einer Gratwanderung gleichkommt: Wie kann eine Positionierung gelingen, ohne die Tür für rechtsaffine Mitglieder zuzuschlagen? Gewerkschaften, Kirchen und Sportvereine sind herausgefordert, ihre inneren Widersprüche zu bearbeiten, um ihren Aufgaben und ihrem Ansprach als Hüter des Basiskonsenses gerecht zu werden. Ob ihnen dies gelingt, entscheidet mit darüber, inwiefern sie als Schutzfaktor oder Einfallstor für Rechtspopulismus wirken können. Dies ist umso notwendiger, je mehr ersichtlich wird, dass Erschöpfungssymptome in der

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organisierten Zivilgesellschaft selbst die Akzeptanz und Legitimität des Basiskonsenses schwächen. Literatur Ahrens, Petra-Angela; Rebenstorf, Hilke 2018. »Rechtspopulismus unter evangelischen Christen – empirische Befunde der Kirchen- und Religionssoziologie«, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 62, 3, S. 183-199. Allport, Gordon W. 1966. »Religious Context of Prejudice«, in Journal for the Scientific Study of Religion, 5, S. 447-457. Becker, Karina; Dörre, Klaus; Reif-Spirek, Peter 2018 (Hrsg.). Arbeiterbewegung von rechts? Ungleichheit – Verteilungskämpfe – populistische Revolte. Frankfurt a. M.: campus. Bednarz, Liane 2018. Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern. München: Droemer Knaur. Bose, Sophie 2018. »›Klare Kante‹ gegen rechts? Befunde einer qualitativen Untersuchung zum Umgang der Gewerkschaften mit dem Rechtspopulismus«, in Arbeiterbewegung von rechts? Ungleichheit – Verteilungskämpfe – populistische Revolte, hrsg. v. Becker, Karina; Dörre, Klaus; Reif-Spirek, Peter, S. 227-241. Frankfurt a. M.: campus. Braun, Sebastian 2018. »Organisierter Sport in Bewegung. Neokorporatistische Strukturen, gesellschaftliche Funktionen und bürgerschaftliche Selbstorganisation in pluralisierten Sportlandschaften«, in Forschungsjournal Soziale Bewegungen 31, 1-2, S. 234-240. Bücker, Gerd 2018. »Sport mit Courage – Extremismusprävention und Demokratiebildung im und durch Sport«, in Polis, 1, S. 20-21. DOSB 2018. Bestandserhebung 2017. Aktualisierte Fassung vom 25. Januar 2018. Frankfurt a. M.: DOSB. Flor, Hendrik 2012. »Rechtsextreme im Verein – Expertengespräch mit Gerd Bücker«, 13.02.2012, http://entermagazin.de (Zugriff vom 14.09.2018). Gebken, Ulf; Vosgerau, Söhnke 2014. »Ein Blick zurück, ein Blick nach vorn – eine vorläufige Bilanz von Fußball ohne Abseits«, in Fußball ohne Abseits. Ergebnisse und Perspektiven des Projektes ›Soziale Integration von Mädchen durch Fußball‹, hrsg. v. Gebken, Ulf; Vosgerau, Söhnke, S. 289-302. Wiesbaden: VS. Geiges, Lars; Marg, Stine; Walter, Franz 2015. Pegida: Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld: transcript. Geisler, Alexander; Gerster, Martin 2016. »Fußball als Extrem-Sport – Die Unterwanderung des Breitensports als Strategieelement der extremen Rechten«, in Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, hrsg. v. Braun, Stephan; Geisler, Alexander; Gerster, Marting, S. 469-494. Wiesbaden: VS. Grande, Edgar 2018a. »Warum auch rechte Bewegungen zur Zivilgesellschaft gehören«, in Süddeutsche Zeitung, 17.08.2018. Grande, Edgar 2018b. »Zivilgesellschaft, politischer Konflikt und soziale Bewegungen«, in Forschungsjournal Soziale Bewegungen 31, 1-2, S. 52-60. Grande, Edgar; Kriesi, Hanspeter 2015. »Die Eurokrise: Ein Quantensprung in der Politisierung des europäischen Integrationsprozesses?«, in Politische Vierteljahresschrift 56, 3, S. 479-505. IG Metall 2017. »NRW Beschäftigtentagung in Willingen. IG Metall 2017 – ›Klare Kante! Offene Türen!‹«, 23.01.2017, www.igmetall-sprockhoevel.de (Zugriff vom 24.10.2018). Keller, Dieter 2018. »Großoffensive der AfD bei den Betriebswahlen weitgehend gescheitert. Der Wind ist nur ein Lüftchen«, 05.06.2018, www.beobachternews.de (Zugriff vom 12.11.2018). Kingdon, John W. 1984. Agendas, Alternatives, and Public Policies. Boston: Little, Brown & Co. Klein, Ansgar 2001. »Der Staat, der die Zivilgesellschaft stärkt, stärkt sich selbst«, www.b-b-e. de (Zugriff vom 08.02.2019). Klein, Tanja 2012. Rechtspopulistische Parteien in Regierungsbildungsprozessen. Die Niederlande, Belgien und Schweden im Vergleich. Potsdam: Universität Potsdam.

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Zusammenfassung: Inwieweit steht die organisierte Zivilgesellschaft unter Druck von Rechts? Auf der Basis qualitativer Forschung werden rechte Aktionen und die Reaktionen in Gewerkschaften, Kirchen sowie dem (organisierten) Sportbereich analysiert. Einerseits kann die Rechte organisationsspezifische Konflikte politisieren; andererseits sind ihre dortigen Aktivitäten auf Randbereiche begrenzt. Stichworte: Rechtspopulismus, Zivilgesellschaft, Politisierung, Basiskonsens, Konfliktlinien

Right-wing populism in the organized civil society Summary: We examine the question to what extent organized civil society is under pressure from the Right. On the basis of qualitative research, right-wing actions and reactions in trade unions, churches and the (organized) sports sector are analyzed. On the one hand, the right can politicize organization-specific conflicts; on the other hand, its activities are limited to marginal areas. Keywords: right-wing populism, civil society, politicization, Basic Consensus, lines of conflict

Beth Gharrity Gardner and Michael Neuber

Climate Justice in a Populist Era: Grievance Politicization Among Fridays for Future Protesters in Germany

In the context of twenty-first century Western democracies, multiple left-wing movements are posed as counterpoints to right wing populist ones.1 However, the environmental justice movement merits special attention. Well before the multiple, simultaneous global protest actions of 2019 signaled its position as »one of the most extensive social movements on the planet«,2 environmentalism was attributed a transformative role in processes of macropolitical and social change.3 Identified as the »symbolic center« of the wave of emancipatory liberal mobilization that began in the late-1960s and early-1970s,4 scholars argue that the environmentalist cause generated a succession of conservative backlashes ever since, including the populist backlash of the last two decades.5 According to this theory of ›cultural backlash‹, environmental advocates created the ground upon which right wing populist contention emerged. They did this by embedding a post-materialist worldview in political institutions – a worldview that in privileging socially-liberal status recognition, quality of life issues, and expressive politics, displaced conservative values and traditional materialist security and economic policy concerns. The reasoning here is compelling. But it isn’t clear if recent environmental and climate justice mobilizations adhere to the larger story of cultural backlash. We could assume that the inverse logic applies: that the re-politicization of environmental concern is a post-materialist reaction to the »populist Zeitgeist«.6 Then youth or student-led climate movements – such as Extinction Rebellion, the Sunrisers, and Fridays for Future – could also substantiate claims about the adoption of post-materialist values by younger and well-educated cohorts. While this might allow us to assume climate protesters fall on the post-materialist ›side‹ of a battle against right wing populism, it is an open question. Further, the cultural backlash theory is problematized by another stream of research and theorizing on the socio-structural origins of contention. The emphasis 1 The authors thank the colleagues who helped administer the protest surveys in Germany, including Sebastian Haunss, Piotr Kocyba, Dieter Rucht, Moritz Sommer, Simone Teune, Jurek Wejwoda, Sabrina Zajak, and the team from Sweden that coordinated the cross-national research collaboration. We also thank the Editors of this special issue and anonymous reviewers for their helpful comments and suggestions. 2 Almeida 2019, pp. 975. 3 For a review see Rootes 2004; see also Frank, Hironaka, Schofer 2000. 4 E.g., Inglehart 1977; Touraine et al. 1983. 5 Inglehart, Norris 2016; Norris, Inglehart 2019. 6 Mudde 2007. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020, S. 173 – 204

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Beth Gharrity Gardner and Michael Neuber

here is on the wave of mobilization that emerged after the economic crisis of 2008. In this perspective, which we label the »post-2008 backlash« theory, movements on the right as well as the left were fundamentally materialist reactions to the reconsolidation of global financial powers and neoliberal governance, but differed in terms of their political expression. 7 Conservative forces mobilized on the front of traditional, »elite-directed« materialist politics, demanding policy change and voting for right wing populist parties and leaders. Progressive forces, including movements propelled by climate change and by new generations of protesters, followed the long-term trend toward non-hierarchical, participatory forms of »protest politics« and focused on the post-materialist front.8 In arguing that progressive movements channeled materialist concerns into a post-materialist action repertoire, the post-2008 backlash account shows that materialist grievances can be decoupled from materialist political engagement. Given that these theories diverge in their accounts of the emergence of twentyfirst century mobilizations and the importance placed on environmental movements, we argue that a more nuanced and updated treatment of the motivations of contemporary climate protesters is needed. Are the concerns of participants in climate demonstrations predominantly materialist or post-materialist in orientation? Does their protest participation mean that they privilege a progressive or post-materialist action repertoire – eschewing the authoritarian values and elitedirected, materialist forms of political engagement associated with conservatives or right wing populists? And do these motivational factors (concerns and political engagement attitudes) distinguish adult participants from the newest young generation of participants? The answers to these questions have theoretical implications that may lead to a clearer understanding of environmental movements and patterns in their emergence more generally. While the backlash models are useful for assessing the broad motivational origins of present climate mobilization, we still must examine greater variation among the people engaging in contemporary climate movement actions. Our hunch is that a hybrid model will better explain the motivations of recent climate protesters. As we generally expect that materialist concern has intensified, we do not expect progressive and post-materialist political engagement attitudes to predominate. Yet we are uncertain as to if and how configurations of motivational factors will differ between younger and older cohorts of protest participants. This article contributes to the literature through a detailed study of climate justice protesters’ concerns, and political engagement attitudes across generational cohorts and across two remarkable global climate protests in the German context. For our analysis, we employ new survey data on participants at the first (March 15, 2019) and third (September 20, 2019) Global Climate Strike demon7 In the scholarship we group under this label, the roots of recent mobilizations can be located in the economic stagnation of the 1970s, and/or within longer-term contention between capitalism, the state, and civil society (Burawoy 2015; Fraser 2015; see also Della Porta 2015; Tufekci 2014). 8 E.g., Inglehart, Catterberg 2002; Tufekci 2014.

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strations orchestrated by the international Fridays for Future (FFF) movement.9 The surveys ask respondents about their reasons for protesting, their political attitudes, their trust and confidence in various institutions, and their perceptions of the ability of different forms of engagement to bring about change. We analyze configurations of motivational factors according to variations in the intensity of responses on these items in order to see if they fit a cultural backlash, post-2008 backlash, or combined model of the motivational origins of recent climate justice mobilizations. 1. The Motivational Origins of Mobilization: Two Approaches The formation of mobilization potential, or the ›demand‹ side of political engagement, is pivotal to understanding the ebb and flow of contention in societies. This holds for extra-institutional forms of action like protest (i.e. protest mobilization) as well as institutional ones like voting (i.e. electoral mobilization). But questions about the constitution of shared grievances, values, sociabilities, or purposes upon which the potential for all types of mobilization depend only began re-animating research on social movements and on populism fairly recently.10 Moreover, movement scholars tend to contextualize politicization through the study of movements, protesters, and collective action. Populism scholars, on the other hand, usually contextualize politicization by studying political parties, voters, and voting behavior.11 To oversimplify a wealth of literature in sociology and political science, then, these subfields tend to diverge in terms of which actors and behaviors they emphasize. Against this backdrop, macro-oriented approaches focused on the role of sociostructural cleavages in politicizing different groups and issues have several analytical virtues. More specifically, those of cultural backlash and post-2008 backlash provide useful lenses for considering potential connections between growing support for both right wing populist parties as well as climate movements. After presenting these two accounts, we apply micro-oriented approaches to grievance politicization in order to theorize an alternative, hybrid model of the motivational origins of contemporary climate justice mobilizations. 1.1 The Cultural Backlash Account The theory of cultural backlash advanced by Inglehart and Norris is anchored in Inglehart’s argument of the ›silent revolution‹ of mass interests following World War II.12 According to this interpretation, the new wave of large-scale protests over the 1970s and 80s in Western democracies (e.g. women’s, gay and lesbian, 9 See de Moor et al. 2020; Haunss et al. 2019; Neuber, Gardner 2020; Wahlström et al. 2019. 10 E.g., Aslanidis 2020; Klandermans 2013; Polletta, Gardner 2015; Rydgren 2007. 11 E.g., Aslanidis 2016; McCarthy 2018; Van Hauwaert, Van Kessel 2017. 12 Inglehart 1977; 1981; 1990. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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and religious right), was rooted in the rejection of the wartime ›materialist‹ authoritarian value system as more and more people’s immediate material needs were met. With the environmental movement as the paradigmatic case, people became increasingly concerned about ›post-materialist‹ causes, such as quality of life and the recognition of differences in terms of ›lifestyles‹ and identities, as well as post-materialist styles of political engagement, such as self-expression and »protest politics«.13 Political parties, as well as political advocacy and civil society groups came to embrace these new priorities. What’s more, younger generations who grew up in the more secure formative conditions of this new terrain were socialized into post-materialist political attitudes and behaviors.14 To this day, the cultural rift between people holding socially conservative and materialist values and those holding socially liberal and post-materialist ones is the major cleavage in electorates, and the one underlying the populist backlash. Other prominent treatments of the forces precipitating support for right wing populism in Europe and North America largely accord with this account. People’s discontent with politics-as-usual wasn’t driven so much by material economic deprivation. Rather, social groups once dominant in ›traditional‹ status hierarchies (e.g. older, non-college educated white men) developed stakes in right wing populist politics when they began to feel marginalized by the rising tide of ›politically correct‹ liberal cosmopolitan (or post-materialist) culture in their own countries.15 If the cultural backlash reasoning follows, then the recent re-politicization of environmental concerns can be seen as stemming from renewed competition over mainstream cultural values in Western societies – or as a progressive reaction to the specter of right wing populism. People mobilizing around the environment in particular are cast as the natural adversaries of right wing or authoritarian populism in the cultural backlash account. Namely, they are the groups posited as having prompted the right wing populist backlash against post-materialist values in the first place: women, the well-educated middle class, and younger people. These constituencies are not only positioned as holding values opposite to the social conservatism, anti-elitism, and authoritarianism of right wing populism, but they are also assumed to be more or less content with their formal representation by post-materialist green parties, some traditional left parties, or with their expressive engagement in »protest politics«.16 Findings on political engagement in the last decades also lend some weight to the cultural backlash theory. Research has repeatedly found that women, youth, people with more formal education, and the relatively affluent are core participants in progressive activism, environmental advocacy, and voting support for 13 Inglehart 1977; Inglehart, Catterberg 2002; Meyer, Tarrow 1998; Taylor, Whittier 1992; Touraine et al. 1983. 14 E.g., Inglehart 1977; 1990; McAdam 1999a. 15 E.g., Eatwell, Goodwin 2018; Haidt 2012; Hochschild 2018; Mutz 2018; Skocpol, Williamson 2012. 16 Inglehart, Norris 2016, pp. 22; Inglehart, Catterberg 2002.

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green parties.17 In fact, higher education levels are strongly correlated with both post-materialism and political activism.18 Even in settings where environmentalism is highly professionalized in organizations and national governance, protests over environmental issues are ongoing.19 Yet despite this model’s accuracy when it comes to the demographic composition of recent environmental mobilizations, this is not currently under discussion.20 At issue, instead, is whether participants’ concerns and political engagement attitudes adhere to the post-materialist orientation expected in the cultural backlash account. 1.2 The Post-2008 Backlash Account In post-2008 backlash accounts, neoliberalism is the ideology underlying intergroup power relations – in contrast to the primacy given to post-materialism in the cultural backlash thesis. Sociologists Nancy Fraser and Michael Burawoy independently theorize that since the 2008 financial crisis, continued marketization and neoliberal governance have created cycles of contention.21 These include a wave of countermobilization beginning in 2010. They argue that in a state of affairs marked by the growing separation between popular politics and state and market power, movements of the left as well as the right critically share feelings of economic and political dispossession. In short, classic political and cultural cleavages have become increasingly superficial on the demand side of mobilization. The more salient division lies in the forms of political engagement favored by different movements, i.e. people’s differing attitudes about the appropriate means for redressing their concerns. The crucial Achilles heel Burawoy identifies for progressive movements is the longstanding strategic repertoire they tend to adopt. »[S]uspicious of all inherited institutions and ideologies, and even of leadership itself,« post-2008 progressive movements channeled their energy into forms of nonhierarchical, ›horizontalism‹ that gave them »great flexibility, but by the same token, rendered them institutionally weak«.22 Anticipating post-materialist political engagement attitudes among climate protesters is more or less congruent with cultural backlash theory.23 However, the juxtaposition of materialist concern with post-materialist political engagement is 17 Bremer, Schwander 2019; Ferree and Mueller 2004; McAdam 1988; 1999b; Milkman 2017; Rootes 2004. 18 Rootes 2004. 19 E.g., Almeida 2019; Rootes 2004. 20 The demographic characteristics of participants in climate mobilizations are not contested. Most research on environmental movements show the global climate justice movement is primarily composed of younger cohorts, women, the college-educated middle class, and people who are left-leaning on the political party spectrum (e.g., de Moor et al. 2020; Neuber, Gardner 2020; Rootes 2004; Wahlström et al. 2019). 21 Fraser 2015; Burawoy 2015. 22 Burawoy 2015, pp. 16; see also Tufekci 2014; Milkman 2018. 23 Inglehart 1977; Inglehart, Norris 2016. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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not. In highlighting the intensification of materialist grievances against a background of rightward drifts in electoral politics, state repression, and growing wealth disparities,24 this account raises the possibility that the linkages between younger protest cohorts and post-materialist values and »protest politics« are more tenuous. Ultimately, the argument that post-materialist forms of political engagement can express materialist concerns is a crucial departure from the cultural backlash account. 1.3 A Hybrid Account of Intensified Political and Economic Asymmetries The two backlash theories present us with some unresolved puzzles. For one, they offer similar explanations for progressive and/or post-materialist political engagement attitudes among participants in climate mobilizations, but diverge on the type of grievances fostering such involvement. Whether materialist or post-materialist concerns are fostering protest has important implications for different generations of protesters. This points to conceptual and contextual reasons for differences in the backlash theses, despite their shared emphasis on environmental mobilization as part of larger cycles of contention. Another question is whether trends may have shifted at other levels of interaction; neither model considers mobilization to be a stable outcome or solely driven by macro-level processes. We argue that micro-sociological approaches to the demand side of politicization offer an important lens for resolving these puzzles – for updating and synthesizing the backlash accounts – in ways that can better explain the motivations driving participants in contemporary climate mobilizations. The relative stability of macro-structural fault lines in societies along social categorizations or status locations (e.g. class, gender, nationality) is what enable scholars to theorize how large scale, longer term processes alter the beliefs and actions of social groups in society.25 However, while sharing a common structural location often serves as the foundation or ›raw material‹ on which grievances are based, politicization depends on more. The politicization of grievances is a multilevel process through which individual concern becomes political engagement or mass mobilization.26 Concerns and political engagement repertoires are two central factors: individuals must both collectively identify core grievances, and become convinced that they can tackle them.27 Concerns and engagement are further connected by political attitudes about the responsiveness of institutions. On the one hand, political cynicism or mistrust often politicizes people’s seemingly disparate grievances. On the other, assessments of where different institutions sit in relation to the conflict influence the forms of 24 Burawoy 2015; Fraser 2015; Piketty 2015. 25 E.g., Lipset, Rokkan 1967; Van Dorn et al. 2013. 26 E.g., Aslanidis 2016; 2020; Inglehart, Norris 2016; Kaltwasser et al. 2017; Klandermans 2013; Shultziner 2013; Simon, Klandermans 2001; Snow et al. 1998; van Stekelenburg, Klandermans 2007; 2013. 27 E.g., Klandermans 2013; McAdam 1988; Van Dorn et al. 2013.

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action people think can redress their grievances.28 These factors – the why and how of mobilization – are closely intertwined. Treating socio-demographic locations and protest participation as indicative of materialist or post-materialist orientations can mask important nuance at the micro level. Instead we need configurational approaches to actor motivations (i.e. concerns, political trust, and confidence as well as motivations and political efficacy perceptions). When considering the puzzles through this lens, just as we can’t assume that materialist concerns go hand in hand with materialist engagement, we can’t assume that progressive or left-leaning attitudes go hand in hand with post-materialist political engagement or »protest politics.« Both the cultural backlash and post-2008 backlash theories suggest that a post-materialist and/or progressive action repertoire is incongruent with materialist, »traditional politics« (classic policy claims, lobbying, petitioning, and so on). Consistent with the post-materialist worldview, progressive groups express their identities and seek recognition as a constituency in ways that render them ineffective on the policy front. Despite the agency associated with mobilization, then, the post-materialist strategies of progressive activists generate symbolic rewards at best. But these treatments leave little room for agency and for the adaptation of repertoires amidst changing conditions. If progressive activism writ large once followed a post-materialist template for action, there is now a heightened chance for dissonance and adaptation in the face of rising threats from right wing populism, marketization, and the weakness of post-materialist approaches in challenging neoliberal governance arrangements.29 Considering political cleavages (presented as cultural cleavages in the cultural backlash account), we know that divisions between adversarial groups on the left and on the right usually evolve alongside their relative disadvantage in the state of affairs. What’s more, there is little doubt that politicians, public intellectuals, and/or movement leaders certainly ›supply‹ or frame political divides along such lines.30 All the scholarship we cite suggests that skepticism towards established political institutions is widespread among populists, and progressives alike.31 With this in mind, it wouldn’t be surprising to find climate mobilizations reflecting asymmetries in governance in ways that do not accord with the privileging of post-materialist political engagement. The materialist grievances underscored in the post-2008 account also need to be seriously considered as shifting currents, especially when it comes to environmental mobilization. Notably, global environmental concern has never been unprob28 Cf. Klandermans 2013. 29 For instance, between post-materialist solutions, intensifying concern over economic redistribution, security, and institutional policy, and »a sense of political dispossession« (Burawoy 2015, pp. 16). As waves of contention evolve, so do movement repertoires, e.g. Traugott 1995. 30 E.g., Fraser 2015; Inglehart, Norris 2019; Mutz 2018. 31 E.g., Akkerman et al. 2014; Fraser 2015; Norris 2002; Norris, Inglehart 2019; Van Hauwaert, Van Kessel 2017. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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lematically predicated upon post-material values. Even Inglehart found environmental concerns fell »neatly in the middle between the materialist and post-materialist clusters.«32 Subsequent research, which identifies concerns about pollution and fears of environmental hazards as materialist, and concerns about preserving and protecting nature as post-materialist, has found the latter more strongly associated with environmental activism and associations (i.e. traditional »green« issues).33 Post-2008 economic processes give reason to expect that this cleavage is also diminishing. Given the greater encroachment of climate-related disruptions into people’s day-to-day lives,34 a re-politicization of materialist grievances and uptake of more materialist or assertive political engagement attitudes and action strategies makes sense.35 2. Hypotheses and Research Question Drawing on this discussion, we propose three hypotheses and present a research question. We could expect climate protesters to fit a cultural backlash model in which post-materialist concerns join with post-materialist engagement attitudes – i.e. aggrieved with the climate change denial, conservatism, and authoritarianism of right wing populism and prioritizing ›lifestyle‹ or »protest politics« to express it (H1). Alternatively, we could expect protesters to fit a post-2008 backlash model, wherein materialist concerns (e.g. those at the intersection of economic and environmental precariousness) are combined with progressive and post-materialist engagement attitudes (H2). Finally, we could expect a hybrid model, wherein both materialist and post-materialist grievances are motivating factors along with political engagement attitudes favoring the materialist front (H3). H1. Cultural backlash model: Progressive and post-materialist concerns, and post-materialist political engagement attitudes will be predominant among climate protesters. That is, they will be relatively unconcerned with material economic arrangements compared to the rise of socially conservative and authoritarian values, and prioritize post-materialist forms of engagement. H2. Post-2008 backlash: Materialist concerns will be predominant among climate protesters, but political attitudes will be progressive and political engagement attitudes will be predominantly post-materialist. H3. Hybrid model: Materialist concerns and more materialist political engagement attitudes will be prevalent among climate protesters. Similarities and differences across generations are highly relevant to both accounts because the political attitudes and behaviors acquired in one’s formative 32 33 34 35

Rootes 2004, pp. 618; see Inglehart 1977. Longhofer, Schofer 2010; Rootes 2004. Burawoy 2015; Shultziner 2013; Snow et al. 1998. The inequality-cum-ecological security concerns in the global environmental justice movement reinforce such an interpretation (Almeida 2019). For a discussion of assertive movement action see Amenta 2006.

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years tend to remain relatively stable over the life course.36 As suggested by the post-2008 theory, concerns over stymied aspirations may be spreading among the younger protest cohorts traditionally associated with post-materialism. For example, some argue that post-2008 US ›Millennial movements‹ reflect a generation (those born after 1980) with »a worldview that combines struggles for redistribution and recognition.«37 The security in one’s formative years that can inspire post-materialist worldviews among younger generations may be dissipating. At the very least we might find materialist, economic concerns diffusing to younger cohorts.38 Thus, we can easily see that that motivational configurations differ between new younger generations of protesters and adult participants. However, because there is no research on which to base expectations for our case, we pose the following research question: Do motivational factors for concerns and political engagement attitudes distinguish adult participants from the younger generation of participants? 3. Case, Data, and Methods 3.1 The Case of Fridays for Future: A new wave of climate mobilization? The context surrounding the global environmental mobilizations of 2019 merit discussion to situate the case examined in this investigation. Many of the persistent societal realities underscored by the cultural backlash and post-2008 backlash accounts – such as entrenched socio-economic inequalities, uncertainty in democratic institutions, misinformation, and environmental degradation – have been punctuated by events in the last few years. The electoral shocks of Brexit, Trump, and Bolsonaro have become practically synonymous with right wing populism and, to varying degrees, with climate change denial.39 At the same time, other institutional actors intensified public concern about the myriad ramifications of climate change. In 2018, the UN Intergovernmental Panel on Climate Change report grabbed global attention by unequivocally presenting the urgent need for »rapid, far-reaching, and unprecedented changes in all aspects of society.« Many media outlets also embraced more unequivocal stances on climate change news coverage.40 And, in the face of growing schisms over the enforcement of climate agreements, popular global climate justice mobilizations ramped up as well. Despite having only emerged in 2018, youth-led climate movements initiated hundreds of protest actions around the world in 2019. These new climate cam36 37 38 39 40

E.g., Inglehart 1977; Milkman 2017; Saunders et al. 2012. Milkman 2017, pp. 10; see also Burawoy 2015. McAdam 1999a. Almeida 2019; Brubaker 2017. For example, in May of 2019, The Guardian updated its style guide for the language it uses about the environment to prefer »climate emergency, crisis, or breakdown« over »climate change« (Carrington 2019).

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paigns contributed momentum to the global environmental justice movement not seen since peaks in mobilization in 2014 and 2015.41 The Fridays for Future (FFF) movement acted alongside others, like Extinction Rebellion and the U.S.based Sunrise movement, but the FFF movement’s international campaign stands out for having orchestrated four Global Climate Strikes in 2019: on March 15, May 24, September 20-27, and November 29. Addressing the intersecting threats of environmental degradation, inequality, and government inaction to the »future«,42 the movement attracted an estimated 7.6 million people to its September »Week for Future« action.43 The FFF’s major role in (re)politicizing issues of global environmental justice in Germany (a country where right wing populist parties have won recent electoral victories), make these mobilizations an appropriate case for this study. Moreover, the demographic composition of the movement – predominantly young, female, and well-educated – make it particularly appropriate for considering competing models of motivational origins of contemporary environmental mobilizations. 3.2 The Data Empirically, we use a new set of survey data on protest participants at Global Climate Strikes (FFF demonstrations) in Germany. Resembling trajectories seen in many other Western democracies, FFF mobilizations have grown substantially in Germany since the first school strike for climate took place in Berlin on September 14, 2018. The first Global Climate Strike on March 15 2019 exceeded all prior FFF marches and rallies in terms of participant numbers and the number of concurrent protests that took place across the country. But even these numbers were surpassed by the demonstration on Friday, September 20.44 Organizers estimated 270,000 participants in Berlin alone – a tenfold increase from March.45 This study analyzes surveys from these large Global Climate Strike actions: one on March 15, in the German cities of Bremen and Berlin, and one on September 20, in Berlin and Chemnitz. All data collection followed the well-established protest survey method used in the international research project Caught in the Act of Protest: Contextualizing Contestation (CCC).46 The CCC methodology is designed to ensure the random selection of interview respondents, to minimize response biases, and to link individual attributes to mobilization contexts. 41 42 43 44 45

Almeida 2019. Thunberg 2019. Chase-Dunn, Almeida 2020. Haunss et al. 2019; Sommer et al. 2019; Neuber, Gardner 2020. In contrast to organizer estimates of around 1.4 million participants in the September »week for future« over Germany, they estimated between 15,000-25,000 participants in Berlin’s March global climate strike and 300,000 across the country (Neuber, Gardner 2020). 46 Klandermans et al. 2009; see also Van Aelst, Walgrave 2001; Walgrave, Wouters, Ketelaars 2016; de Moor et al. 2020.

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Some distinct features of the FFF survey method merit special mention. For one, we combine face-to-face interviews with online surveys instead of the CCC approach of combining them with printed, mail-in surveys.47 Although this means that less internet-savvy protesters may be underrepresented in our results, internet penetration is high in Germany at around 96%.48 Second, in accordance with national legal and ethics regulations, only protesters older than 13 years of age were invited to participate in the survey. Whereas the March survey teams estimated that between five and 15% of protesters were omitted from the sample by virtue of their young age, our September estimates put the proportions at under five percent in both cities.49 We analyze a total of 751 individual surveys from Germany. The March 15, 2019 Global Climate Strike data contains 205 protester surveys from Berlin and 154 from Bremen (a 17% and 15% response rate, respectively). Our data from the demonstration on September 20 contains 112 protester surveys from Berlin and 280 from Chemnitz from the September 20 strikes (26% and 32% response rate, respectively) (see Appendix Table A).50 To determine the representativeness of our survey data, we compare two samples: those who gave the short, face-toface interviews during the events – for which high cooperation levels are reported – and those who also completed the online survey.51 We found no significant differences for gender, age, degree of political interest, highest educational level, satisfaction with democracy, or past participation in demonstrations. Overall, our survey sample likely under-represents people under the age of 14. With this caveat, we have reasonable confidence that our data provides a representative picture of participants in the protests surveyed.52 Further, while the data primarily offers an opportunity to get an important cross-section of those mobilized at FFF global climate actions in Germany, it also represents an important segment of those mobilized in Europe and North America.

47 Selected respondents were given a flyer with basic information about the research, a web address and QR-code to the online survey, and a unique identification number. Every fifth respondent was interviewed face-to-face, on-the-spot, following a short survey. Because almost all respondents agree to the short interview, the basic interview data enables the checks on non-response bias to the online survey (de Moor et al. 2020). 48 Newman et al. 2019. 49 These estimates are lower for the smaller strike events in the smaller cities of Bremen and Chemnitz. 50 The variation in response rates is primarily an artefact of the size of the specific demonstration combined with the size of the survey team. Moreover, the response rates are consistent with previous protest survey research in Germany and with the FFF survey research conducted in other European cities (de Moor et al. 2020; Sommer et al. 2019; Wahlström et al. 2019). 51 See van Stekelenburg et al. 2012 52 Emilsson et al. 2020; van Stekelenburg et al. 2012; Walgrave, Verhulst 2011; Walgrave, Wouters, Ketelaars 2016. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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3.3 Operationalization of key measures Comparing Youth and Adult FFF Protesters Although FFF is predominantly a student and youth movement, participants in the September 20 demonstration were significantly older on average than their March predecessors in Germany (from 26 to 35; p < .001) and in the majority of the other countries surveyed.53 The median age of German FFF protesters increased from 19 in March, to 32 in September. Therefore, we cluster survey respondents into »youths« up to 25 years old and »adults« 26 years or older, in order to analyze the differences between younger and older generations. This categorization of youth protesters, as those born after 1993, captures a slightly younger cohort than Millennials (people born between 1981 and 1996). It is also temporally appropriate for bounding the period of political socialization of younger protest cohorts – i.e. approximating the formative years in which conditions of prosperity versus hardship and/or exposure to certain political repertoires can be argued to have lasting effects on an individual’s political attitudes and behavioral habits. 54 To measure the social composition of FFF protest participants, we include standard variables gender, education, subjective class identification, and self-placement on a left-right political ideology continuum. Our variable for subjective class identification speaks to arguments from new social movement theorizing that class-based cleavages are less salient in political polarization. Similarly, our variable for political ideology captures the classic left-right distinction in party politics. In line with existing literature on public, protester, and populist attitudes, and therefore connecting to the mobilization potential of both movement and political party organizations, this is operationalized according to where respondents placed themselves on an 11-point scale from left (0) to right (10) (for details on all variables see Appendix Table B). Finally, most of our variables are measured on a scale of 1-5, where 1 indicates a variable’s lowest bound and 5 its upper bound. On a »strongly disagree« to »strongly agree« scale, strongly disagree would be represented by one and strongly agree by five. Post-Materialist vs. Materialist Concerns, and Left-Libertarian vs. Authoritarian Values Whereas the broad theory of cultural backlash ascribes post-materialist concerns to liberal cosmopolitans (exemplified by environmental advocates), the post-2008 backlash model suggests materialist concerns about economic as well as environmental inequalities and insecurities are on the rise across political and generational divides. We therefore examine a number of economic concerns as subjective 53 In Germany, the largest respondent age cohort was 14-19 years old (52%) in March and 20-35 (37%) in September. 54 E.g., Inglehart 1977; McAdam 1999a; Milkman 2017; Saunders et al. 2012. This categorization also helps ensure statistically reliable estimates.

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values rather than as objective structural locations.55 To measure materialist-economic concerns, we consider respondents’ subscription to egalitarian values in terms of (1) income redistribution,56 (2) the extent to which they prioritize environmental concerns over slower economic growth or job loss, (3) their degree of concern with the influence of the free-market and private enterprise on climate issues, and (4) with the privatization of public services and industries. Although measures like these are commonly grouped under the larger umbrella of left-libertarian values,57 attending to these survey items as economic-materialist measures can, in our view, point to the relative depth of concern with different dimensions of economics in policy and politics. In breaking down the cultural cleavage-based inequalities some argue to separate left-libertarians from right wing populists, xenophobic, anti-establishment, and authoritarian values form a crucial axis. These traditional, authoritarian values or ›populist attitudes‹ are identified as core components in the worldviews of populist party voters.58 To operationalize this for FFF protesters, we examine respondents’ sentiment towards foreigners (anti-immigration), whether they viewed political parties as non-responsive to voting (anti-party voting), claimed to ignore other sides of an argument before making decisions (anti-pluralism), thought children should be taught to obey authority (pro-authority), and the extent to which they trust police (pro-police).59 To address the possible selective anti-institutionalism of environmental activists, including arguments that the FFF movement demands too much guidance from science,60 a variable is included that we term technocratic sentiment (or pro-scientific leadership). This measures agreement with the statement »the government must act on what climate scientists say even if the majority of people are opposed.« Trust and Confidence in Political Institutions Another cultural value some ascribe authoritarian populists is political trust, or lack thereof. Given the possibility of overlaps between ›critical citizens‹ on the left and populists of all stripes,61 we include a number of measures to assess protesters’ trust and confidence in different political institutions generally, and with respect to climate change. Standard measures of trust in national and global governance operationalize the extent of respondents’ trust in national parliament, 55 56 57 58 59

E.g. Eatwell, Goodwin 2018. See also Emilsson et al. 2020. E.g. Saunders et al. 2012. E.g., Inglehart, Norris 2016; Van Hauwaert, Van Kessel 2018. To make the comparison with right wing populist values clearer, we operationalize some of these variables as the inverse of the response scale (i.e., »people from other countries should [not] be allowed to come to my country and live in it permanently if they want to«) (see Appendix Table B). 60 I.e., Evensen 2019. 61 E.g. Norris, Inglehart 2019

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government, political parties, the European Union, and the United Nations.62 We also include a measure for trust in environmental groups here. Because prior research shows environmental activists to be highly trusting of environmental associations, this variable serves as a check on conceptualizations as well as on the reliability of our results.63 As a further assessment of skepticism towards establishment or ›traditional‹ political representatives, we consider respondents’ degree of confidence in politicians to generally fulfill their promises, as well as confidence in the ability of policy, government, and modern science to remedy climate change problems. Strategic Repertoires: Political Engagement Motivation and Efficacy Perceptions Drawing on the longstanding argument that for a concern to politicize (to drive action), actors must believe their situation is unjust and that political engagement can bring about its resolution,64 we combine motivational and efficacy perceptions to capture the strategic repertoires of FFF protesters. In grouping survey items according to their conceptual and demonstrated links to a materialist or a post-materialist repertoire of political action, we arrive at three sets of measures. The first set considers a materialist repertoire of instrumental or assertive collective action strategies.65 This includes variables that measure whether respondents were motivated to participate in order to pressure politicians, the extent of their agreement with the FFF movement goal of holding politicians accountable for stopping global warming, their opinion of the demonstration’s efficacy in reaching that goal, and whether organized citizen groups can impact public policies. To examine a post-materialist repertoire of expressive, symbolic, or individual ›lifestyle‹ action strategies, we measure whether protesters were motivated to join the protest to express solidarity, out of a feeling of moral obligation, if they perceived that their own personal participation would make a difference, and their sense of whether climate change can be halted primarily via voluntary, individual lifestyle changes. Finally, two survey items concerning FFF demands for ›global justice‹ through immediate action on climate change are difficult to group as either materialist or post-materialist. Prior research suggests interest in ›global green awareness‹ is correlated with post-materialism and environmental activism. By contrast, ›brown‹ concerns with the effects of environmental degradation on the welfare 62 E.g., Akkerman et al. 2014; Inglehart, Norris 2016; Van Hauwaert, Van Kessel 2017. 63 While it is also conceivable that such trust has eroded in light of ongoing policy implementation struggles during what was a long period of top-down environmental advocacy prior to the early 2000s (e.g., Almeida 2019; Longhofer, Schofer 2010; Rootes 2004), we think it more likely that this measure reflects protesters’ trust in the FFF movement as an ›environmental group‹. 64 E.g., McAdam 1988; 1999b; Shultziner 2013; Simon, Klandermans 2001; Snow et al. 1998. 65 E.g., Amenta 2006; Milkman 2017.

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and health of respondents and their families are widespread, but not correlated with activism.66 In the present context – of mounting environment-related disruptions (i.e. threats to people’s immediate material security and daily life routines), more insistent alarms on climate issues within and outside established political institutions, etc. – this conceptual distinction is further complicated. We therefore consider the extent to which respondents agree with the importance of the FFF goal to advance global justice through climate action, and their perception of whether the demonstration can achieve that goal as indicating a mixed repertoire. More importantly, though, relating these variables to the other items can also highlight lines of hybridity among the measures for materialist and post-materialist engagement orientations.67 4. Results We conservatively recoded variables for our discussion of the results. We chose not to index survey items into predetermined value orientations because this practice can easily mask inconsistencies among items within an index (for example, between distrust in political parties and distrust in national government). In order to present a more nuanced profile of participants in climate mobilizations and test our hypotheses, we use descriptive statistics on the individual level survey data (supplemented with T-tests of significance to compare means of the same variable between groups). To answer our research question on motivational alignment between youth and adult protesters, we ran T-tests comparing the two group means, the overall group mean by each Global Climate Strike date (March 15, 2019 and September 20, 2019), as well as within group change over time on the measures of interest. These tests of variance are appropriate for our data.68 Table 1 presents the broad social and political composition of protesters surveyed at the FFF demonstrations. Congruent with the extant literature on environmental activism,69 women are strongly represented (53%), as are current or former university students (52%). In terms of age, just over half of the respondents were 25 years old or younger (our category for youth), which overlaps with the large share of primary school students (31%). A large proportion of participants identified as upper or lower middle class (68.7%), though nearly 25% did not identify with any social class strata. While there is evidence of the expected left-wing political orientation of most protesters (M=3.4), around 39% of respondents placed themselves in the middle of the spectrum (not strongly left-wing); an-

66 See Rootes 2004. 67 Political interest is another measure associated with greater political engagement across social groups (e.g., Saunders et al. 2012; Van Hauwaert, Van Kessel 2017). We note that political interest was high and consistent. 68 Of course, explaining politicization by political attitudes can pose problems of reverse causality. We accordingly refrain from statements about the causality of the effects. 69 E.g., Ferree, Mueller 2004; Rootes 2004. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

188

Beth Gharrity Gardner and Michael Neuber

other 15% selected the option that the categories were meaningless to them. Consistent with research showing high correlations between educational level, affluence, and environmental mobilization,70 FFF demonstrations were substantially composed of left-leaning young people, women, and the educated middle class. Table 1: Social Characteristics of FFF Protesters in Germany, 2019 Total (%)

Total (N)

Female

53.3

372

Male

45.4

317

1.3

9

Youths (14 to 25 years)

53.3

400

Adults (26+ years)

46.7

351

Primary School Student

30.6

211

University degree/studying at university

52.3

361

No university degree

17.1

118

1.6

11

Upper middle class

39.2

270

Lower middle class

29.5

203

5.2

36

24.5

169

44.8

303

2.0

14

Middle (or neutral)

38.9

269

None/not meaningful

15.3

106

Gender

Other gender identity Age

Education

Subjective Class Identity Upper class

Working/ Lower class None/ Don’t know Political Ideology Left Right

To begin exploring whether protesters in these climate mobilizations fit the models of liberal, post-materialism in terms of their grievances, Table 2 (below) presents results on the measures for materialist-economic concerns and traditional, authoritarian values. Starting with the former, the majorities of respondents expressed concern about economic issues. The largest majority saw environmen70 E.g., Corrigall-Brown 2011; Rootes 2004; Saunders et al. 2012.

Climate Justice in a Populist Era

189

tal threats as greater risks than those posed by slower economic growth (89.5% on average). Considered in light of the other concerns, this seems to reflect discontent with neoliberal economic arrangements more than a post-materialist worldview. Notably, 76.4% of participants were highly concerned about the privatization of public services and industries, and even more – 86.4% – were concerned with the inability of the free-market and private enterprise to address climate problems. This suggests that FFF protesters see the market and private companies as sources for their climate concerns. With around 55% of respondents agreeing with the egalitarian value that government should redistribute income from the better-off to the less well-off, concern over redistribution was the weakest among these measures. This difference suggests caution in assuming support for income redistribution equates with either left-libertarian or post-materialist values. Materialist-economic concerns across the board were significantly greater among adults than youths. But we also see that concern on all but one of these measures increased significantly from March to September. To uncover what this meant for each generational cohort, we examined changes between the two demonstrations on each item for youths and for adults (results not shown). For example, although in March redistribution concern was higher among adults (M=3.83, p < .001), increased concern among youth protesters (M=3.76, p < .005) brought their concern to levels just surpassing adults in September (M=3.74). In fact, we found that the generational gap on all of these measures shrank from March to September to the point where there were no significant differences between youths and adults in September. Supplementary analyses also inTable 2: Concerns and Values among FFF Protesters, 2019 Materialist-Economic concerns

Total

Youth

Adults

Mar.-Sept. Δ

54.7%

49.7%

60.2%**

50.4 - 58.6%*

Prioritize environment over economic growth

89.5

86.2

93.1*

87.2 - 91.6*

Free-market concern (climate)

86.4

82.9

90.3**

86.3 - 86.6

Privatization concern

76.4

64.2

89.8**

71.0 - 81.4*

Anti-Immigration†

16.8%

12.8%

21.3%**

13.9 - 19.5%

Anti-Party/Voting†

14.5

17.4+

11.4

19.9 → 9.4**

Anti-Pluralism†

18.1

19.7

16.5

19.8 → 16.6

Pro-Authority†

10.6

15.6**

5.1

13.1 → 8.2

Pro-Police

50.7

56.3*

44.6

56.4 → 45.3**

Technocratic sentiment

73.6

69.8

78.0*

67.4 - 79.3**

Redistribution concern

Traditional, Authoritarian values

Note: + p < .10; *p < .05; **p < .001 (t-tests); † the recoding on these items is less conservative; arrows (→) indicate a decrease from March to September.

Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

190

Beth Gharrity Gardner and Michael Neuber

dicate that this generational alignment on materialist-economic concern was not solely an artifact of broader adult participation at the September Global Climate Strike. Thus, the particularly high levels of concern with market solutions provide partial support for the post-2008 backlash model of materialist grievances. Moreover, as both backlash models would anticipate, the results in Table 2 also show that FFF protesters are neither staunch conservatives nor staunch authoritarians. Aside from the finding that one in five adults was neutral to or against immigration, only two items stand out in suggesting authoritarian values among demonstrators: favorable opinions to both police and technocratic leadership. As a proxy for favoring law and order, respondents’ trust in the police is surprisingly high for protesters in Germany (50.7%).71 Trust was lower among September participants (M=3.4, p < .05), but the heightened police presence arguably tipped the scale away from the majorities of youths (56.4%) and adults (61.9%) who trusted the police in March. More notable is the extent to which protesters believed the government »must act on what climate scientists say, even if the majority are opposed«. Respondents conveyed clear support for environmental policy to be governed by scientific experts as opposed to greater direct democracy or political pluralism (73.6% on average). Adults were more strongly in favor of expert direction than youths (M=4.1, p < .05), but once again younger demonstrators in effect »caught up« with adults in September (M=4.1, p < .001). The results in Table 2 suggest that FFF protesters, while not rejecting central components of liberal democracy, cannot be unproblematically classified as post-materialist, anti-authoritarian, or populist in terms of their grievances or values. Turning to measures of political trust and confidence, Table 3 shows remarkably low levels of trust in national and global governance. Moreover, youth and adult protesters were consistently aligned on political trust – or nearly so. Trust in political parties, the least trusted institutions (10.2%), was higher among youths than adults at levels approaching significance (M=2.8, p < .10). Otherwise, with the largest share of respondents in both age groups only ›somewhat‹ trusting, the most trusted institutions were the EU and the UN (~43%). This result is suggestive of EU-ambivalence, if not the outright EU-skepticism found among right wing populist supporters.72 Relative to trust in governance institutions, trust in environmental groups was much stronger (~77%). Importantly, though, the political confidence measures offer a different vantage for interpreting the selective institutional distrust of FFF protesters.

71 Sommer et al. 2019. 72 E.g. Inglehart, Norris 2016.

Climate Justice in a Populist Era

191

Table 3: Trust and Confidence in Political Institutions among FFF Protesters, 2019 Trust in Political Institutions

Total

Youth

Adults

Mar.-Sept. Δ

30.3%

28.0%

32.7%

31.0 → 29.6%

Government

21.0

19.6

22.5

19.5 - 22.4

Political Parties

10.2

13.2+

6.9

10.9 → 9.5

European Union

42.6

49.2

35.4

45.7 → 39.7

United Nations

42.9

42.0

43.8

43.7 → 42.13

Trust in Environmental Groups

76.9

79.0

74.6

79.2 → 74.7

Politicians (general)

62.3

68.4**

55.6

68.2 → 56.7*

Policy (climate)

50.5

60.3**

39.2

60.1 → 41.2**

Government (climate)

1.2

1.25

1.1

1.1 - 1.28+

Modern science (climate)

56.0

54.8

57.4

51.1 - 60.6*

National Governance Parliament

Global Governance

Confidence in Institutions

Note: + p< .10; *p < .05; **p < .001 (t-tests). Arrows (→) indicate a decrease from March to September.

Compared to low levels of trust in national government (21%) and a near total lack of faith that government can be »relied on to solve environmental problems« (1.2%), respondents were relatively confident in the ability of politicians to fulfill their political promises (62.3%) and in the ability of policies to address climate change (50.5%). Youth protesters were consistently more confident than adults in politicians (M=3.8, p < .05) and in climate policies (M=3.7, p < .001). Nonetheless, confidence dropped among both generation groups in September, as evidenced by the nearly 20% decline in respondents’ confidence that policies can tackle climate change (M=3.30, p < .001). By contrast, protesters’ confidence in modern science (56%) increased (M=3.7, p < .05). Mirroring their technocratic sentiments (see Table 2), FFF protesters assessed non-government institutions, such as scientific and environmental groups, to be the most trustworthy, but continued to view government institutions as equally important for resolving climate change issues. Given our arguments that grievance politicization depends on perceptions of where different institutions fall in relation to the concern and of the appropriate means for its resolution,73 we still only have a partial picture of FFF protesters’ attitudes toward political engagement. To examine how the results seen thus far fit with motives for protesting and perceptions of what types of political engage73 Cf. Klandermans 2013. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

192

Beth Gharrity Gardner and Michael Neuber

ment matter most, Table 4 presents the results for strategic repertoires. Our variables associated with a more assertive, materialist repertoire received the strongest overall support. Around 98% of respondents in both generation groups and at both events agreed with the movement’s stated goal of holding politicians to their promises to curb global warming. This was 10% greater than support for the global justice goal (87%).74 Similarly, over 88% reported that they were motivated to join the protest in order to put pressure on politicians. Table 4: The Strategic Repertoires of FFF Protesters, 2019 Strategic Repertoires: Motives & Efficacy

Total

Youth

Adults

Mar.-Sept. Δ

89.1%

89.4%

88.7%*

89.8 → 88.4%

Hold politicians accountable (FFF goal)

98.5

98.4

98.5

98.3 - 98.6

Protest efficacy for accountability

56.5

62.3+

49.9

63.2 → 50.0**

Organized citizen groups’ efficacy

76.2

79.8

72.2

74.1 - 78.2

Global justice through climate action (FFF goal)

87.3

85.3

89.6**

85.4 - 89.1

Protest efficacy for global justice

38.6

40.3

36.6

42.9 → 34.4*

Express solidarity

84.4

76.7

93.2**

79.7 - 88.9**

Moral obligation

70.0

66.0

74.8**

63.8 - 76.1**

Individual efficacy

50.2

55.7*

44.2

50.7 → 49.7*

›Lifestyle‹ politics efficacy

43.0

52.6**

32.0

47.4 → 39.0

Materialist Repertoire (instrumental/ assertive) Pressure politicians

Post-materialist Repertoire (expressive)

Note: + p < .10; *p < .05; **p < .001 (t-tests). Arrows (→) indicate a decrease from March to September.

Adults were more strongly motivated than youths to pressure politicians (M=4.6, p < .05), to express solidarity (M=4.6, p < .001), and by a feeling of moral obligation (M=4.1, p < .001). Although the two motivations conceptualized as post-materialist for their more expressive, non-assertive action orientation are better evidenced among adult protesters, the extent to which adults were motivated to express solidarity was nearly indistinguishable from their desire to pressure politicians.75 74 Agreement with the importance of this goal was significantly higher among adults compared to youths (M= 4.5 p < .001), but this difference was no longer significant in September (not shown). 75 In fact, the motivation for protesting to pressure politicians was greater among adults in September (M=4.6) than it had been in March (M=4.4), making it a slightly stronger motivation than expressing solidarity (M=4.5). The only consistently significant motivational difference between the generations in September was the stronger

Climate Justice in a Populist Era

193

The political efficacy results accord with those on political confidence. Younger protesters’ perceptions of political efficacy were generally higher (i.e., they expressed more confidence) than adults. Importantly, though, the rankings for the efficacy of different forms of engagement were similar for both generations: people viewed organized group action as most efficient (76.2%), followed by protests to achieve politician accountability on climate change (56.5%), and finally individual participation (50.2%). The only consistently significant difference across the events was the greater extent to which youths believed their individual participation could bring about policy change (52.6%, M=3.7, p < .05). Also notable here is the large difference in protesters’ perceptions of the demonstration’s capacity to achieve the two movement goals. Belief in the ability of the climate strike to impact global justice (38.6%) was much lower than in its ability to hold politicians accountable (56.5%). When interpreted in conjunction with high levels of agreement on the importance of both of these goals (over 85% on average), FFF protesters do not appear to think that mass street demonstrations are sufficient means for attaining global environmental justice. A similar interpretation can be applied to the finding on the efficacy of ›lifestyle‹ politics. Although youth respondents’ were significantly more likely than adults to believe voluntary ›lifestyle‹ changes have the power to bring about political change (52.6%, M=3.6, p < .05), they did not privilege the power of such actions over any of the others – except for the demonstration’s capacity to help reach the global justice goal (40.3%). Reinforcing our results on protesters’ diminished confidence in politicians and climate policy at the September event (see Table 2), political efficacy scores also declined from March to September (and, again, especially among adults). Aside from the youth generation’s stronger perceptions of political efficacy, there are two notable exceptions to this trend. One is the continued strength of the materialist engagement attitude that organized groups of citizens have the power to influence national policy (from 74 to 78%). Second, our authoritarian value measure for anti-party or anti-voting sentiment from Table 2 not only shows FFF protesters’ firm belief in the capacity of voting to influence politicians (over 85% on average), but also that this belief was even more firmly held in September (from 85 to 90%, M=4.6, p < .001) than it was in March.76 Taken together, engagement attitudes with the strongest levels of support were consistent among both youths and adults: targeting politicians, the importance of movement goals, motivation to express solidarity among adults (not shown), which is not surprising when accounting for participation in a youth-led movement where the threats of environmental degradation and inequality are often framed in terms of »future« generations (c.f. Eliasoph 1998). 76 These descriptive results for voting sentiment are derived from conservatively recoding the anti-party variable to reflect pro-party voting sentiment. Notably, although few respondents claimed any political party membership and satisfaction with democracy consistently rated at a 5.5 level (hovering in the middle between 0 very dissatisfied and 10 very satisfied), high proportions (of the vote-eligible) voted in the last federal election (see Neuber, Gardner 2020). Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

194

Beth Gharrity Gardner and Michael Neuber

and the greater political efficacy of voting and organized citizen groups as compared to the FFF demonstrations themselves and individual political participation. In summary, the results suggest that FFF protesters were predominantly motivated to exert pressure on politicians and, in order to exert that pressure, they prioritized materialist as opposed to post-materialist forms of political engagement. The results also point to younger participants being less disillusioned with both »traditional politics« and »protest politics« than adults.77 Across the motivational factors, critically, both age groups shared the demand for greater scientific leadership on climate change policies, rather than for greater direct democracy, ›horizontalism‹, or ›lifestyle‹ politics. Overall, we find clear concern with current market as well as governance arrangements, clear faith in civil society institutions, and a clear privileging of engagement techniques focused on achieving climate change policy enforcement. This configuration provides the most support for the hybrid model which locates the motivational origins of climate mobilizations in relatively stronger materialist concern and relative stronger materialist political engagement attitudes. The least support is found for the cultural backlash model, which is based on classic treatments of the environmentalist cause in the cycle of cultural value competition between post-materialists and materialists.78 5. Discussion and Conclusion The cultural and post-2008 backlash theories suggest that neither environmental nor populist mobilizations can be fully understood without also understanding how they relate to each other. However, differences in their assessments of how long-term structural transformations influence patterns of contention also suggest that we may need to rethink assumptions about the nature of the relationship between these movements. This investigation contributes to this reassessment by providing a nuanced profile of the concerns and political engagement attitudes of participants in the Fridays for Future (FFF) Global Climate Strike actions in Germany, and hence an account of the motivational origins underlying the peaks in environmental justice mobilization in 2019. Overall, the cultural backlash and post-2008 backlash models that ascribe progressive or expressive post-materialist values to environmental movements – especially post-materialist political engagement or »protest politics« – do not fit easily on contemporary climate justice mobilizations. Our results suggest that these FFF mobilizations were not a renewed expression of classic post-materialism in terms of underlying concerns or attitudes about political engagement. Instead, they appear to best fit a hybrid motivational model which blends explanations from cultural and post-2008 backlash theories. FFF protesters expressed high levels of materialist concern with the market and with 77 E.g., Inglehart, Catterberg 2002; Tufekci 2014. 78 I.e., Inglehart, Norris 2016.

Climate Justice in a Populist Era

195

the national political institutions, and they did not view expressive, extra-institutional forms of action as more efficient than elite-directed engagement in bringing about political change. Both generation groups shared a demand for greater scientific leadership on climate policy (as opposed to greater direct democracy). In light of the literature we cite in this study, it appears as though the movement has tapped into the widespread desire for experts in civil society institutions and the government to reassert control over neoliberal market forces in order to halt economic and environmental crises. While the initial question of the relationship between the emergence and trajectory of right wing populism and present environmental mobilization remains thorny, our results suggest that several important politicization dynamics connect the individuals supporting these groups despite their very different demographic bases. As expected, FFF protesters were younger, female, well-educated, middle class, and politically left-leaning. Thus, the social composition of FFF demonstrations in Germany, and in Europe more generally,79 corresponds to the opposite sectors of society from which scholars have found right wing populist party supporters (e.g. older, male, non-college educated, and working class).80 However this socio-demographic profile did not correspond with either the dominant postmaterialist concern predicted by the cultural backlash model, or with the privileging of post-materialist political engagement predicted by both backlash models. The results suggest that FFF demonstrators in Germany not only hold economic-materialist concerns, but they also hold attitudes that can be said to align with varieties of populism. To name a few, protesters espoused strong concern with neoliberal markets and corporate actors, are highly distrusting of national political institutions and also skeptical of international ones, and would privilege a more technocratic arrangement in which scientific experts on climate change determine climate policy. Moreover, the central motivation of the protesters we analyzed was to pressure politicians, to hold them accountable for promises to address climate change. Personal or individualized participation and voluntary lifestyle changes were not strongly believed to be effective means of addressing climate change when compared to the materialist front of institutional decisionmaking and policy informed by modern science. This suggests that FFF protesters are motivated to re-politicize climate change issues through materialist political engagement and the empowerment of scientific experts, which makes their action repertoire far less »antagonistic« than that of right wing populists.81 When it comes to our research question about the consensus or convergence in viewpoints among youth and adult participants in the demonstrations surveyed, the results are more inconclusive. Most indicators support growing alignment in attitudes across generations at the larger September strikes. Yet adults appear to be more disillusioned than youths with »protest politics« and »elite-directed« or

79 de Moor et al. 2020; Wahlström et al. 2019. 80 I.e., Inglehart, Norris 2016. 81 Brubaker 2017. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

196

Beth Gharrity Gardner and Michael Neuber

conventional politics. While this complements the assumption that many leftleaning people are ›critical citizens‹,82 it also confirms the need to avoid treating environmental movements as ideologically uniform. Taken together, the results of this research have important implications for work on mobilization. Bridging macro-structural accounts of recurring lines of contention in Western democracies with micro-level accounts of grievance politicization processes among individuals uncovers some of the important variations which are easily concealed by cleavage indices and conceptualizations – i.e. the classic left-right divide in economic and party ideology, materialist versus postmaterialist worldviews, and right wing populism versus cosmopolitan liberalism. The research also underscores the importance of assessing configurations of diverse motivational factors in politicization processes. There are, of course, several limitations to this study. For one, the survey data we analyze is only from two of the four Global Climate Strikes that took place in Germany in 2019. This, in addition to only having surveys from two protest sites on each date, limits the extent to which we can generalize our results. Further studies can build upon the preliminary findings presented here, by increasing survey data sites as well as by employing alternative analytic techniques. The views of protest participants revealed in this study are relevant to debates on the possible renewal of reliable bases for public information (i.e. scientific institutions), left-wing parties in Germany, and multilateral political institutions in the global North. The strategic repertoire evinced by protesters – their institutionally oriented policy demands and engagement attitudes – suggests the movement is primarily directed at the renewal of democratic governance at multiple levels and through the expansion of civil society’s influence on politics. To reemphasize, this was not about greater pluralism or direct democracy. Movement participants clearly favored the greater empowerment of climate science experts in climate policy decision-making. Similarly, despite high skepticism in national and international governance, respondents were more trusting in international bodies (i.e. the EU and the UN), and relatively confident in their own ability to hold politicians accountable. This suggests room for an alliance between politicians and climate activists, perhaps via climate scientists. It will be interesting to see if the political supply can catch up with the political demand. While we avoid making claims about the capacity of global environmental justice mobilizations to generate an electoral response or a shift in governance, their potential impact in what is a decidedly turbulent political terrain warrant attention.

82 E.g., Norris 2002; Norris, Inglehart 2019.

Climate Justice in a Populist Era

197

Appendix Table A: Survey response rates for Global Climate Strikes in Germany, 2019. 15 March Berlin

15 March Bremen

20 September Berlin

20 September Chemnitz

Total

15,000 25,000

5,000 6,000

100,000 270,000

2,000

122,000 303,000

Number of survey flyers distributed

1,202

998

433

855

3,488

Number of face-toface interviews

257

100

93

171

621

Number of web survey responses

205

154

108

280

747

Response rate, web survey (%)

17

15

26

32

22

Estimated number of participants

Appendix Table B: Survey question wordings and variables used in the analysis Variable

Question

Construction

Generational Cohort Youths, Adults

In which year were you born?

Youths (14-25 years old) Adults (26+)

Social Characteristics Age

In which year were you born?

Numeric (14+)

Gender

Are you...?

1 male; 2 female; 3 other

Education

What is the highest level of education that you completed? If you are a student, at what level are you studying?

1 if primary school student (no university) ; 2 if studying at university or holding a university degree; 3 if no university degree and not studying at university (originally 1 to 8 scale)

Subjective class identity

»People sometimes describe themselves as belonging to the working class, the middle class, or the upper or lower class. Would you describe yourself as belonging to the …?«

1 upper class; 2 upper middle class; 3 lower middle class; 4 working class or lower class; 5 none or don’t know (originally 1 to 7 scale)

Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Beth Gharrity Gardner and Michael Neuber

Variable

Question

Construction

Political ideology

»In politics people sometimes talk of »left« and »right«. Where would you place yourself on this scale, where 0 means the left and 10 means the right?« [Other options: »to me, this categorization is meaningless« & DK]

A 0 to 10 scale where 0 is left and 10 is right Descriptive recode: 1 left (0-3); 2 neutral (4-6); 3 right (7-10); 4 other (11,12)

Materialist-Economic Concerns Redistribution concern

»Government should redistribute income from the better off to the those who are less well off«

Prioritize environment over economy

»Protecting the environment should be given priority, even if it causes slower economic growth and some loss of jobs«

Free-market concern

»Companies and the market can[not] be relied on to solve our environmental problems«

Privatization concern

»Even the most important public services are best left to private enterprise«

1 to 5 scale: 1 if »strongly disagree«; 2 if »disagree«; 3 if »neither disagree nor agree«; 4 if »agree«; 5 if »strongly agree« Descriptive recode: 1 agree (4-5); 2 neutral (3); 3 disagree (1-2)

Traditional, Authoritarian Cultural Values Anti-immigration sentiment

»People from other countries should [not] be allowed to come to my country and live in it permanently if they want to«

Descriptive recode of 1 to 5 scale: 1 agree (3-5); 2 disagree (1-2)

Anti-Party Voting

»I don’t see the use of voting, parties do whatever they want anyway«

Anti-pluralist

»I [do not] consider everybody’s side of an argument before making a decision«

Pro-Authority

»Children should be taught to obey authority«

1 to 5 scale: 1 if »strongly disagree«; 2 if »disagree«; 3 if »neither disagree nor agree«; 4 if »agree«; 5 if »strongly agree« Descriptive recode: 1 agree (4-5); 2 disagree (1-4)

Pro-Police (favorable to law and order)

»How much you would say that you trust [the police] in your country«

Scientific authoritarianism (technocracy)

»The Government must act on what climate scientists say even if the majority of people are opposed«

1 to 5 scale: 1 if »not at all«; 2 if »not very«; 3 if »somewhat«; 4 if »quite«; 5 if »very much« Descriptive recode: 1 yes (4-5); 2 middle (3); 3 no (1-2)

Climate Justice in a Populist Era Variable

Question

199 Construction

Trust in Political Institutions National Government

»Please indicate, in general, how much you trust each of the following institutions.«

National Parliament Political Parties European Union

1 to 5 scale: 1 if »not at all«; 2 if »not very«; 3 if »somewhat«; 4 if »quite«; 5 if »very much« Descriptive recode: 1 yes (4-5); 2 some / middle (3); 3 no (1-2)

United Nations Environmental Groups Confidence in Political Institutions Politicians (general)

»Most politicians make a lot of promises but do not actually do anything.«

Policy (climate)

»I feel confident that political decisions/ policies can address climate change.«

Government (climate)

»Governments can be relied on to solve our environmental problems.«

Modern science (climate)

»Modern science can be relied on to solve our environmental problems.«

1 to 5 scale: 1 if »strongly disagree«; 2 if »disagree«; 3 if »neither disagree nor agree«; 4 if »agree«; 5 if »strongly agree« Descriptive recode: 1 agree (4-5); 2 neutral (3); 3 disagree (1-2)

Strategic Repertoires: Motives and Efficacy Pressure politicians (motive)

»I participated in the demonstration in order to pressure politicians.«

Express solidarity (motive)

»I participated in the demonstration in order to express my solidarity.«

Moral obligation (motive)

»I participated in the demonstration because I felt morally obliged to do so.«

FFF politician accountability goal

»Politicians must fulfill their promise to stop global warming. This goal is important.«

FFF global justice goal

»Global justice must be advanced through climate action. This goal is important.«

Protest efficacy for accountability goal

»Politicians must fulfill their promise to stop global warming. This demonstration will be effective in reaching this goal.«

Protest efficacy for global justice goal

»Global justice must be advanced through climate action. This demonstration will be effective in reaching this goal.«

Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

1 to 5 scale: 1 if »strongly disagree«; 2 if »disagree«; 3 if »neither disagree nor agree«; 4 if »agree«; 5 if »strongly agree« Descriptive recode: 1 agree (4-5); 2 neutral (3); 3 disagree (1-2) 1 to 5 scale: 1 if »not at all«; 2 if »not very«; 3 if »somewhat«; 4 if »quite«; 5 if »very much« Descriptive recode: 1 yes (4-5); 2 some / middle (3); 3 no (1-2)

200

Beth Gharrity Gardner and Michael Neuber

Variable

Question

Construction

Organized citizen groups’ efficacy

»Organized groups of citizens can have a lot of impact on public policies in this country.«

Individual efficacy

»My participation in politics can have an impact on public policy in this country.«

›Lifestyle‹ politics efficacy

»Stopping climate change must primarily be accomplished through voluntary lifestyle changes by individuals.«

1 to 5 scale: 1 if »not at all«; 2 if »not very«; 3 if »somewhat«; 4 if »quite«; 5 if »very much« Descriptive recode: 1 agree (4-5); 2 neutral (3); 3 disagree (1-2)

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Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Beth Gharrity Gardner and Michael Neuber

Summary: It is conventionally assumed that the values underlying people’s support for environmentalism are diametrically opposed to those favorable to right wing populism. While this might allow us to assume that recent global climate strike mobilizations fall on the ›post-materialist‹ and ›progressive‹ side of a battle against right wing populism, it is an open question. In order to explain the motivational origins of present climate mobilizations, we refocus attention on the need to bridge macro-historical theories on patterns of contention in Western democracies with micro-sociological ones. Employing new data from protest surveys of Fridays for Future (FFF) Global Climate Strike demonstrations that took place in Germany in 2019, we test whether the motivations of these protesters adhere to models of post-materialism either in terms of their concerns or their political engagement attitudes, and whether these motivational factors differ between younger and older generational cohorts. Our results suggest that the motivations underlying recent climate mobilizations should not be typified as post-materialist. FFF protesters expressed high levels of materialist concern and they did not view expressive or extra-institutional forms of engagement as more capable than institutional ones to bring about political change. Although the younger cohort was less disillusioned with both »protest politics« and conventional politics than adults, few indicators distinguish the youth and adult groups. Notably, the groups held in common the demand for greater scientific leadership on climate policy, rather than for greater direct democracy. This study affirms the need to avoid treating environmental movements as ideologically uniform and the importance of assessing configurations of motivational factors in mobilization. Keywords: protest; environmental movement; post-materialism and cultural value change; global climate strike; Fridays for Future; populism

Klimagerechtigkeit in Zeiten des Populismus: Politisierung unter Fridays For Future Demonstrierenden in Deutschland Zusammenfassung: Im Allgemeinen wird angenommen, dass die Werte, die Menschen zum Engagement im Umweltschutz bewegen, diametral entgegengesetzt zu denen sind, die zur Unterstützung des Rechtspopulismus beitragen. Ein solches Verständnis könnte man auch auf die jüngsten Mobilisierungserfolge der globalen Klimabewegung übertragen und diese als erneuten Ausdruck der »progressiven« und »postmaterialistischen« Seite des Kampfes gegen Gegner wie Rechtspopulisten interpretieren. In kritischer Auseinandersetzung mit solchen verfestigten Bildern wollen wir derartige Vorannahmen als offene Fragen behandeln. Um die Ursprünge der Motive für die gegenwärtigen Klimaproteste zu erklären, verbinden wir makrohistorische und mikrosoziologische Perspektiven auf die gegenwärtigen Konfliktlinien in westlichen Demokratien. Auf Basis von Befragungen, die 2019 unter den Demonstrierenden des Globalen Klimastreiks »Fridays for Future« (FFF) in Deutschland durchgeführt wurden, prüfen wir, ob sich die Motivationen für die Anliegen und das Engagement der Demonstrierenden in das Modell des progressiven Postmaterialismus einordnen lassen und ob diesbezüglich Unterschiede zwischen den Generationen vorliegen. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die Motivationen, die die jüngsten FFF-Mobilisierungen anfeuern, weder als postmaterialistisch noch als anti-populistisch typisiert werden können. Stichworte: Protest; Umweltbewegungen; Postmaterialismus und Wertewandel; globaler Klimastreik; Fridays for Future; Populismus

Politisierung von (Un-)Sicherheit

Anna Geis

Partizipative Formate in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik: die Politisierung des staatlichen Arkanbereichs?

1. Einleitung Außen- und Sicherheitspolitik gelten selbst in modernen demokratischen Staaten als »Domänen« der Exekutive, in denen Parlamente, Bürgerschaft und (Medien-)Öffentlichkeit nur eine begrenzte Rolle spielen.1 Dieser Befund wurde nicht zuletzt in der Friedens- und Konfliktforschung in normativer Perspektive schon lange kritisch diskutiert.2 Er entspricht allerdings auch nur zum Teil der Realität. So gab es zum einen immer wieder in der Geschichte der Demokratien punktuell Ereignisse, die zu Politisierungsschüben, zu verstärkter Aufmerksamkeit in den Medien, zu großen Demonstrationen oder zu polarisierten Debatten in Parlamenten führten. In (West-)Deutschland waren etwa die Wiederbewaffnungsdebatte, rüstungspolitische Entscheidungen (z. B. der sog. NATO-Doppelbeschluss) oder internationale Kriegsereignisse Anlässe für eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft, in der die rege Friedensbewegung eine wichtige Rolle spielte. Zum anderen ist es durch die immer engere Verzahnung von Innen- und Außenpolitik in Zeiten von Globalisierung, Transnationalisierung und Digitalisierung im Globalen Norden heute kaum noch möglich, einen abgeschotteten »Arkanbereich« des Politischen aufrechtzuerhalten oder zu argumentieren, es gebe »bürgerferne« Politikbereiche, für die sich nur ExpertInnen interessierten. Migration, Klimawandel, Freihandelsabkommen, nachrichtendienstliche Abhörskandale oder Terrorismus haben im letzten Jahrzehnt nicht nur in Deutschland polarisierende Debatten hervorgerufen. Außen- und sicherheitspolitische Themen, die oft als abstrakt und alltagsfern bezeichnet wurden, werden zunehmend auch im Alltag von Menschen spürbar. Alarmierende Metaphern wie die von einer »Welt aus den Fugen« (Frank-Walter Steinmeier) sind Indikatoren für einen politischen Diskurs, der das Krisenhafte, das Verunsichernde und Verängstigende der politischen Gegenwart zu fassen versucht. Die vermeintliche »Außen«-Politik dringt zunehmend in das »Innere« von Gesellschaften ein. Dies wiederum kann zu einer Mobilisierung und Politisierung führen, die fraglos auch normativ nicht wünschenswerte Folgen haben kann.

1 Dieser Beitrag ist im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Bürgerbeteiligung in der Außen- und Sicherheitspolitik entstanden, das durch die Interne Forschungsförderung der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg gefördert wurde. Ich danke Christian Opitz und Hanna Pfeifer für hilfreiche Anmerkungen zum Beitrag. 2 Siehe z. B. Müller, Risse-Kappen 1990; Czempiel 1996. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020, S. 207 – 229

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Anna Geis

Bezugnehmend auf die Flüchtlingsdebatte in Deutschland diagnostizierte 2015 der damalige deutsche Innenminister Thomas de Maizière bei einer sicherheitspolitischen Konferenz in Berlin eine »Re-Politisierung« der Gesellschaft: »Jetzt stellen wir eine Re-Politisierung der Gesellschaft fest, teils mit den schlimmen Auswüchsen, über die ich gesprochen habe. Gleichzeitig aber auch mit sehr wichtigen und interessanten Debatten. Nun wird an jedem Küchentisch darüber diskutiert, was es bedeutet, wenn Krisen zu uns kommen: ›Wollen wir das, und was können wir dagegen tun?‹ Neben allen Sorgen hat diese Re-Politisierung aber auch eine positive Seite: Sie zeichnet eine bürgerliche, demokratische, tolerante und liberale Gesellschaft aus, und das ist etwas, das wir nutzen und aktiv fördern sollten. Damit dabei Sorgen und Fragen offen angesprochen werden können – aber die Sorgen nicht überhand nehmen, sondern die Zuversicht wächst.«3

Dieser Beitrag wird sich nicht mit einer Politisierung von »unten« auseinandersetzen, die sowohl von kosmopolitisch gesinnten Gruppierungen als auch populistischen Bewegungen, die auf Renationalisierung und eine gesellschaftliche Kultur der Angst und Ausgrenzung setzen, getragen werden kann. Vielmehr soll hier ein Phänomen näher beleuchtet werden, das bislang wenig beachtet wird in der allgemeinen Öffentlichkeit wie in politikwissenschaftlichen Fachdebatten: eine von »oben«, d. h. durch Regierungen oder der Exekutive zuzurechnenden Institutionen, angestoßene gewollte Öffnung von außen- und sicherheitspolitischen Debatten oder Strategiebildungsprozessen für bislang nicht daran beteiligte Akteure. Inwieweit solche Phänomene als ergebnisoffene »Politisierung«, oder als »Ent«oder »Schein«-Politisierung einzuordnen sind, ist fallweise zu diskutieren und hängt auch vom gewählten Politisierungsbegriff ab.4 Unter Rückgriff auf konzeptionelle Debatten, die vor allem in der britischen Politikwissenschaft geführt werden, soll der vorliegende Beitrag nicht nur auf dieses noch recht junge Phänomen aufmerksam machen, sondern auch die Schwierigkeiten aufzeigen, die bei der politikwissenschaftlichen Einordnung solcher Beteiligungsformate auftreten. Im Folgenden ist zunächst die zunehmende Bedeutung von öffentlicher Meinung und gesellschaftlicher Akteure in der Außen- und Sicherheitspolitik(forschung) zu skizzieren (2.), anschließend werden die Diagnose einer zunehmenden Politisierung der Sicherheitspolitik sowie entsprechende Politisierungsbegriffe erläutert (3.). Im Weiteren werden zwei prominente Beispiele von Beteiligungsformaten in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, der »Review-Prozess« von 2014 und der »Weißbuch-Prozess« von 2015-2016, näher beleuchtet (4.). Der »Review-Prozess« des Auswärtigen Amtes ist sehr gut erforscht und wird daher nur noch kurz behandelt; allerdings ist das Legitimationsnarrativ der Exekutive – »Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen in der Welt« –, das durch den ReviewProzess gestärkt werden sollte, auch für den nachfolgenden Weißbuch-Prozess relevant, in dem spezifischer über die Leitlinien der Sicherheitspolitik und die Rolle der Bundeswehr diskutiert wurde. Im folgenden Kapitel soll – aus Platzgründen und aus Mangel an Vergleichsdaten zu anderen Staaten – selektiv und explorativ 3 So Innenminister Thomas de Maizière 2015 auf einer Konferenz der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, zitiert in Deutsches Forum Sicherheitspolitik 2015, S. 22. 4 Beveridge 2017; Landwehr 2017.

Partizipative Formate in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik

209

das Politisierungspotenzial der Beteiligungsformate betrachtet werden (5.). Der vorliegende Artikel versteht sich überwiegend als empirisch orientierter Beitrag; dennoch soll abschließend auch ein normatives Plädoyer für mehr Bürgerbeteiligungsformate in der Sicherheitspolitik begründet und zugleich problematisiert werden (6.). 2. Die Zeiten ändern sich: die Öffnung des staatlichen »Arkanbereichs« Der Einfluss von Öffentlichkeit oder gar Bürgerbeteiligung auf Außen- und Sicherheitspolitik von Demokratien wurde in der Außenpolitikanalyse lange unterschätzt, auch wenn durchaus umfangreiche Umfragedaten in den westlichen Demokratien erhoben wurden. Ein Grund dafür war die relative Dominanz des (neo-)realistischen Paradigmas, das die Rolle von internationalen Machtstrukturen und von Elitenhandeln als entscheidende Faktoren in der Gestaltung von Außenpolitik betrachtete. Aber auch jenseits neo-realistischer Perspektiven hielten sich solche Annahmen, wie Harald Müller und Thomas Risse-Kappen 1990 den Forschungsstand der vorherigen Jahrzehnte zusammenfassten: »Folgt man der These vom ›Primat der Außenpolitik‹ und dem realistischen Ansatz, dann haben Öffentlichkeit und Demokratie in der auswärtigen Politik nichts verloren. In der Tradition von Mills (1956) wurde auch von der Kritischen Außenpolitikforschung behauptet, die Konsensbildungsprozesse in bürgerlichen Demokratien – und damit erst recht in nicht-demokratischen Systemen – fänden nur innerhalb der Machteliten statt. Fragen der auswärtigen Politik seien weit entfernt von den alltäglichen Interessen der Durchschnittsbürger, deren Kenntnisstand gering. Die öffentliche Meinung bleibe damit der Manipulation durch die Eliten in jeder gewünschten Richtung ausgeliefert. Öffentlichkeit finde nicht statt (…)«.5

Einige Akteure insbesondere der frühen Außenpolitikforschung vertraten zudem eine normative Haltung, die sich im »Elitenmodell« widerspiegelt und als sog. »Almond-Lippmann-Konsens« vielfach zitiert wurde: Demnach sei die Öffentlichkeit in ihrer großen Mehrheit schlecht informiert und könne gar keine kohärenten Einstellungen entwickeln; daher sei es für eine gute Diplomatie durchaus wünschenswert, dass sich Eliten nicht an der wankelmütigen öffentlichen Meinung orientierten in der komplexen Außenpolitik.6 Liberale Ansätze der Außenpolitikforschung, die nach 1990 zunehmend prominenter wurden, haben dagegen auf die zentrale Bedeutung innenpolitischer Faktoren für die Formulierung der Außenpolitik hingewiesen, die nicht nur Interessengruppen, Parlamente und weitere »Veto-Spieler« umfassen, sondern auch die Bürgerschaft und die öffentliche Meinung.7 Auch im engeren Bereich der Sicherheitspolitik haben schließlich sozial-

5 Müller, Risse-Kappen 1990, S. 382 f. 6 Robinson 2008, S. 139 f. 7 So z. B. Müller, Risse-Kappen 1990, S. 384-388. Im Kontext des »demokratischen Friedens« siehe dezidiert und in normativer Absicht auch Czempiel 1996; Czempiel bezeichnete die real-existierenden westlichen Demokratien als »kollektivierte Monarchien« (S. 86) und argumentierte, dass nur eine konsequente Demokratisierung dieser DemoLeviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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konstruktivistische Studien zur sog. »strategischen Kultur« die Rolle von öffentlicher Meinung in der Gestaltung demokratischer Sicherheitspolitik gewürdigt.8 Diese hier sehr vereinfacht dargestellten Debatten über die Rolle von öffentlicher Meinung oder Bürgerschaft in der Außen- und Sicherheitspolitik haben inzwischen durch wissenschaftliche und politische Diskussionen über Globalisierung, Politisierung von internationalen Institutionen und fortschreitende Digitalisierung neue Impulse erhalten. Wie bereits in der Einleitung dargelegt, dringen Entscheidungen internationaler Institutionen und grenzüberschreitende Phänomene derart spürbar in das »Innere« von Staaten ein, dass eine Auseinandersetzung mit Globalisierungsthemen und Demokratiedefiziten internationaler Institutionen zunehmend auf die mediale Agenda rückt. BürgerInnen, AktivistInnen und ExpertInnen werden in diesen Perspektiven deutlich wichtiger als Akteursgruppen, die auch auf außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen Einfluss nehmen können, indem sie z. B. über Social Media Medienkampagnen initiieren oder unterstützen; auf die Straße gehen, um gegen Freihandelsabkommen oder Umweltzerstörung zu demonstrieren; rund um symbolisch aufgeladene Ereignisse wie G-7/8Gipfeltreffen protestieren, oder – dies gilt vor allem für die organisierte Zivilgesellschaft und wissenschaftliche ExpertInnen – zu Konsultationen, Dialogforen und politischen Verhandlungsprozessen eingeladen werden. Auch der Erfolg linksund rechtspopulistischer Bewegungen in zahlreichen Demokratien weltweit zählt zu den Politisierungsphänomenen, die durch die Transnationalisierung und Globalisierung von Politik befördert werden. Die Politisierungsdiagnose wird in der Politikwissenschaft inzwischen nicht nur auf den breiteren Außenpolitikbereich ausgeweitet, sondern auch auf die Sicherheitspolitik. Eine Abgrenzung zwischen den Politikbereichen sowie zwischen »Innen« und »Außen« ist zunehmend schwierig, dennoch gilt Sicherheitspolitik vielen auf den ersten Blick als ein Politikfeld, in dem eine Beteiligung von Akteuren außerhalb enger staatlicher Fachzirkel unwahrscheinlich ist. Dies wird u. a. auch auf eine besondere »Logik« zurückgeführt, die der Sicherheitspolitik zugeschrieben wird.9 Erstens würden Entscheidungsprozesse im Sicherheitsbereich in der Regel durch einen relativ exklusiven Kreis von (Fach-)PolitikerInnen, BürokratInnen und Elikratien, die auch eine stärkere Partizipation in der Außen- und Sicherheitspolitik impliziere, das Friedenspotenzial von Demokratien fördere. 8 Siehe beispielsweise für europäische Staaten Biehl, Giegerich, Jonas (Hrsg.) 2013. 9 Diese Fragen werden intensiv in den ausdifferenzierten Forschungszweigen der Security Studies bzw. der Critical Security Studies erörtert. So standen seit Ende des Kalten Krieges insbesondere die Themenkomplexe Wandel des Sicherheitsbegriffs (von »eng« zu »breit«) im Fokus, ebenso die nationalstaatliche und internationale Institutionalisierung eines »besonderen« Politikfeldes bzw. seine zunehmende Entgrenzung in Folge von Globalisierung und der Verzahnung von Innen- und Außenpolitik sowie die diskursive Konstruktion von Bedrohungen und die »Versicherheitlichung« von immer weiteren Themen, welche zur Stärkung der Staatsapparate beitrage. Siehe zum Beispiel Buzan, Waever, De Wilde 1998; Fischer, Masala (Hrsg.) 2016; Hughes, Meng 2011 und Schlag, Junk, Daase 2016.

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ten in Polizei, Militär und Nachrichtendiensten geprägt. Damit verbunden sei zweitens eine starke Wissensasymmetrie zwischen sicherheitspolitischen Eliten und der Bürgerschaft. Wissen und Informationen seien nicht nur exklusiv, sondern in einem hohen Maß vertraulich und geheim, da beispielsweise durch Diplomatie hinter verschlossenen Türen, nicht-öffentliche Verhandlungen unter NATOPartnern und die Arbeit von Nachrichtendiensten hervorgebracht. Solange sich das eigene Land nicht im Krieg befindet, herrsche auch ein begrenztes Interesse von BürgerInnen an ihren Streitkräften und an auswärtiger Sicherheitspolitik. Drittens seien sicherheitspolitische Fragen oft mit einer besonderen Bedrohungslage, Dringlichkeit und mit Entscheidungsdruck verbunden, sodass sich zeitintensive Beteiligung von Bürgerschaft kaum realisieren lasse, vor allem nicht in Krisenzeiten. Viertens seien auch die sozialen Phänomene »Unsicherheit« und »Nichtwissen« im Bereich der Sicherheitspolitik besonders relevant (wenngleich diese in jedem Politikfeld existieren). So gehe es häufig um intentional herbeigeführte Gefährdungen durch andere Akteure (nicht ›lediglich‹ Risiken etwa durch Technologiefehler); um klandestine Praktiken von nicht-staatlichen wie staatlichen Akteuren in der inneren und äußeren Sicherheit, die verborgen bleiben sollen. Die zunehmende Integration von Sicherheitspolitik durch Bündnisse und internationale Organisationen wie NATO und Europäische Union ebenso wie das wachsende Outsourcing an private Sicherheits- und Militärfirmen erhöhten ebenfalls die Intransparenz des sicherheitspolitischen Feldes. Gleichzeitig dürfte die Wissensasymmetrie zwischen BürgerInnen und Staat in dem Maße wachsen, indem immer neue elaborierte staatliche Überwachungstechnologien etabliert werden.10 All diese Annahmen über die (vermeintliche) Besonderheit der Sicherheitspolitik sind auch kritisch zu betrachten. Da solche Argumentationen auch von politischen Akteuren selbst vorgebracht werden, sind sie auch als Selbstlegitimationspraktiken zu betrachten, die mit solchen Narrativen verbunden sind. Sie können daher auch der Selbstabschottung von Eliten gegenüber der Bürgerschaft und der Entpolitisierung dienen. Jüngste empirische Studien zur Politisierung von Sicherheitspolitik etwa in Parlamenten legen nahe, dass Sicherheitspolitik nicht nur »außergewöhnlich« ist. Wie Hendrik Hegemann zutreffend argumentiert: »Politicisation researchers […] might want to revisit their argument that security is different and eludes public contestation […], while scholars of security politics should move beyond the emphasis on exception, technocracy or governmentality and acknowledge a broader variety of security politics«.11 3. Verstärkte Politisierung der Sicherheitspolitik? Insbesondere in der britischen politikwissenschaftlichen Debatte um (Ent-)Politisierungsphänome in den zeitgenössischen Demokratien wird politischen Eliten

10 Vgl. Hempel, Krasmann, Bröckling 2011. 11 Hegemann 2018, S. 187. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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eine Tendenz zur Entpolitisierung unterstellt. 12 Die Motive dafür können vielfältig sein, etwa dass durch Delegation an Expertengremien oder (vermeintlich) unpolitische Institutionen die Effektivität der Politik erhöht werden könne, indem Materien der parteipolitischen Auseinandersetzung entzogen werden. Da »Politisierung« in der Praxis oft einen negativen Beiklang hat, kann »Entpolitisierung« als Strategie von Eliten aus deren Sicht durchaus normativ wünschenswert sein – in der Wissenschaft wird dies oft anders bewertet.13 Der vorliegende Beitrag befasst sich mit einem anders gelagerten Phänomen, das m.E. in der Form noch wenig erfasst wurde: einer »Politisierung von oben« im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Für eine systematische Betrachtung oder gar Typologisierung fehlt es bislang u. a. noch an entsprechenden Vergleichsdaten. Daher sind die Überlegungen in diesem Beitrag eher explorativ. »Politisierung von oben« ist auf Basis oft genutzter Politisierungsbegriffe per se schwer zu fassen, da diese Begriffe an ein »Sphären«-Denken (oder »Arenen«) gekoppelt sind. Als Beispiele seien hier die Politisierungsbegriffe von Colin Hay und Michael Zürn genannt. Hay unterscheidet drei Sphären, zwischen denen sich Politisierungs- bzw. Entpolitisierungsprozesse vollziehen können: »private sphere«, »public sphere«, »governmental sphere« – eine Politisierung findet statt, wenn eine Thematik aus der privaten Sphäre in die öffentliche und von dort in die Regierungssphäre gelangt – ein Thema, das entpolitisiert werden soll, geht den umgekehrten Weg.14 Die allzu schematische Unterscheidung der drei Sphären ist zwar für ihre künstliche Trennung von in der Realität vernetzten Sphären kritisiert worden; zudem wird darauf hingewiesen, dass ein Thema zugleich politisiert und entpolitisiert werden kann durch unterschiedliche Akteure.15 Ungeachtet solcher kritischen Anmerkungen wird Hays Modell vielfach aufgriffen. Eine »Politisierung« aus der Kernsphäre der Politik heraus, der »governmental sphere«, klingt allerdings zunächst nicht naheliegend. Es könnte daher m. E. eine konzeptionelle Erweiterung bedeuten, auch solche Strategien zu theoretisieren. Michael Zürn definierte im Kontext von Studien zur Politisierung der Weltpolitik den Begriff wie folgt: »Politisierung soll definiert werden als der Prozess, mittels dessen Entscheidungskompetenzen und die damit verbundenen autoritativen Interpretationen von Sachverhalten in die politische Sphäre gebracht werden, d. h. entweder in das politische Teilsystem (...) oder in den politischen Raum (...) transportiert werden.«16 Diese Definition (wie auch Hays Modell) lässt noch nicht erkennen, dass sich solche Prozesse selten harmonisch entfalten; den meisten Politisierungsbegriffen ist ein Fokus auf Konflikte zu eigen.17 Politisierung kann ein Indikator dafür sein, dass eine Thematik, eine Institution, ein Akteur usw. nunmehr 12 13 14 15 16 17

Zum Beispiel Flinders, Buller 2006; kritisch dazu Hay 2014, S. 301. Jenkins 2011, S. 156. Hay 2007, S. 79; dazu Buller et al. 2019, S. 13-16; Wood, Flinders 2014, S. 153-155. Beveridge 2017; Buller et al. 2019, S. 16 f. Zürn 2013, S. 19. Siehe die Diskussion verschiedener Begriffe in Rauh 2016, S. 7-26.

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als legitimationsbedürftig angesehen und von unterschiedlichen Akteuren in einer Gesellschaft zum Gegenstand kontroverser öffentlicher Debatten gemacht wird. Politisierungsprozesse zeigen daher oft Legitimitätsdefizite an. Während in der Literatur meist davon ausgegangen wird, dass solche Anstöße aus der Gesellschaft heraus kommen, etwa durch Protestgruppen, NGOs oder Medien, befasst sich der vorliegende Beitrag mit Initiativen aus der Exekutive heraus, ein wichtiges Thema in die Gesellschaft tragen zu wollen. Wie die folgende Betrachtung des deutschen Review-Prozesses 2014 und des Weißbuch-Prozesses 2015-2016 zeigt, ist allerdings nicht immer leicht einzuordnen, inwieweit es sich um Grade von Politisierung handelt oder um Entpolitisierung. Entpolitisierung verweist auf Versuche von Akteuren, die Umstrittenheit und Kontingenz politischer Entscheidungen quasi unsichtbar zu machen, z. B. indem man auf »Sachzwänge« oder auf »Alternativlosigkeit« verweist und damit politische Kontroversen erst gar nicht zuzulassen versucht.18 In der Debatte um (Ent-)Politisierungsbegriffe wurden unterschiedliche Strategien bzw. Taktiken identifiziert, die von politischen Eliten genutzt werden. Flinders und Buller19 unterscheiden drei »Entpolitisierungstaktiken« von PolitikerInnen, die sie anhand britischer Politikfelder illustrieren: Die regierenden Eliten können Macht und Verantwortung an neue Institutionen abgeben (»institutional«); sie können neue Entscheidungsregeln einführen, die ein »Uns sind die Hände gebunden« gegenüber der Gesellschaft suggerieren (»rule-based«); und sie können durch rhetorische Verweise auf übergeordnete »Sachzwänge« oder »Notwendigkeiten« ideologische Narrative zu verändern suchen (»preference-shaping«). Als Beispiel hierfür wird die Globalisierungs-Erzählung genannt, welche die neo-liberale Politik in Großbritannien legitimieren sollte. Für den speziellen Kontext der deutschen Außenund Sicherheitspolitik ist die Taktik des »preference-shaping« durchaus relevant, da es hier um das neue Narrativ des »mehr Verantwortung übernehmen in der Welt« geht«, wie in Kapitel 4 zu erläutern ist. »In practice, preference-shaping depoliticisation tactics involve the construction of a new ›reality‹ in which the role of national politicians, particularly at the national level, is presented as having been, to some extent, eviscerated by external forces or broad societal factors. (…) The significant aspect of this third tactic is that it relies on the dissemination of normative beliefs that may be extremely powerful even though the empirical evidence on which they are based is debated — the creation of what could be termed an atmythsphere.«20

Da gerade sicherheitspolitische Themen sehr lange als Arkanbereich des Politischen, als Domäne des Staates galten, hat es entsprechend lange gedauert, bis auch in den Sozialwissenschaften eine Politisierungsperspektive auf dieses Feld eingenommen wurde. In der oben angesprochenen britischen Debatte um (Ent-)Politisierung hat die Außen- und Sicherheitspolitik keine explizite Rolle gespielt (abseits von europapolitischen Fragen), da es eher um die neo-liberale 18 Jenkins 2011, S. 159 f. 19 Flinders, Buller 2006. 20 Flinders, Buller 2006, S. 308; Hervorhebung im Original. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Transformation der britischen Innenpolitik ging. Wie Jonas Hagmann et al. 2018 in ihrer Einleitung zu einem Sonderheft zur Politisierung von Sicherheitspolitik erläutern, sind die in Kapitel 2 kurz genannten »Besonderheiten« sicherheitspolitischer Praktiken sicherlich keine reine Fiktion. Es ist demnach nicht offensichtlich oder naheliegend, in welcher Form diese Praktiken etwa im Sinne von mehr Bürgerbeteiligung demokratisiert werden könnten.21 Um den Politisierungsbegriff für die Sicherheitspolitik empirisch nutzbar zu machen, schlagen Hagmann et al. auf Basis existierender Analyseansätze drei miteinander verwandte (und teils schwer unterscheidbare) Indikatoren vor, um unterschiedliche Formen und Grade von Politisierung identifizieren zu können: das Ausmaß der Polarisierung und Kontestation zwischen unterschiedlichen Akteuren und ihren Meinungen; die Relevanz und Sichtbarkeit eines Themas in der Öffentlichkeit; das Spektrum und die Diversität der Akteure, die im Feld aktiv sind. Politisierungsprozesse in der Sicherheitspolitik beinhalten demnach Veränderungen auf folgenden drei Ebenen: »issues becoming more divisive or controversial; actors becoming more aware and politically engaged; and the shifting of security themes and issues from executive secrecy or expert specialisms into more prominent public arenas.«22 Beispiele für Politisierungsprozesse in der Sicherheitspolitik sind die gesellschaftlichen Kontroversen rund um nachrichtendienstliche Abhörpraktiken, welche durch die Informationen des Whistleblowers Edward Snowden befeuert wurden; die partizipative Öffnung von staatlichen Strategieentwicklungsprozessen, wie sie in verschiedenen westlichen Demokratien in den letzten Jahren zu beobachten sind; sowie erfolgreiche Versuche westlicher Parlamente, ihre Kontrollrechte wahrzunehmen, etwa in Form von Untersuchungsausschüssen im Kontext von Militäreinsätzen oder den Forderungen nach mehr parlamentarischer Kontrolle.23 In jüngster Zeit betreiben auch populistische Bewegungen und Parteien nicht nur in Staaten des Globalen Nordens, sondern auch des Südens eine Politisierung von Außenpolitik, wozu auch Fragen der Sicherheitspolitik gehören. Es ist zu betonen, dass Politisierung von Außen- und Sicherheitspolitik keineswegs nur normativ wünschenswerte Folgen zeitigt. Auch wenn Matthias Ecker-Ehrhardt und Michael Zürn noch 2013 auf Basis empirischer Studien resümierten, »(d)er Wunsch und die Bereitschaft zur Politisierung des Globalen wächst«,24 so erscheint es im Rückblick doch allzu optimistisch, durch die wachsende Politisierung der internationalen Politik die Förderung »kosmopolitischer« Einstellungen von BürgerInnen zu erwarten.25 Der Aufschwung populistischer Bewegungen führt vor Augen, dass Politisierung von unten und Aktivierung von zivilgesell-

21 22 23 24 25

Siehe Hagmann, Hegemann, Neal 2018, S. 10-16. Ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 16-21. Siehe hierzu auch Wagner, Raunio 2017. Ecker-Ehrhardt, Zürn 2013, S. 367. Vgl. ebd., S. 352 f.

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schaftlichen Bewegungen auch zu Renationalisierung und Ablehnung internationaler Verantwortungsübernahme führen kann. Im folgenden Kapitel wird nun einer der oben genannten Phänomenbereiche von Politisierung, die partizipative Strategieentwicklung, für den Fall Deutschland näher betrachtet. Dieses Phänomen ist besonders interessant für eine Perspektive der »Politisierung von oben«, weil solche Strategieentwicklungen auch in Demokratien traditionell als interne Aufgabe der Exekutive betrachtet wurden. 4. Legitimationsbedürftige deutsche Außen- und Sicherheitspolitik: vom ReviewProzess zum Weißbuch-Prozess Während eine Politisierung auch von Außen- und Sicherheitspolitik in den meisten westlichen Demokratien zu beobachten ist, dürften länderspezifische institutionelle Opportunitätsstrukturen und politische Kulturen empirisch einen erheblichen Einfluss auf die Ausprägung konkreter Politisierungsprozesse ausüben. In Deutschland finden Politisierungsprozesse »von oben« im Kontext einer seit Jahrzehnten verankerten, historisch begründeten Kultur der militärischen Zurückhaltung statt. Diese Kultur befindet sich zwar seit der Wiedervereinigung ebenfalls im langsamen Wandel und sollte auch nicht mit Pazifismus verwechselt werden, jedoch finden »robuste« Militäreinsatze der Bundeswehr oder ein starkes internationales Engagement der Bundeswehr keine Mehrheiten in der Bevölkerung.26 Inwieweit dies als problematisch empfunden wird, hängt naturgemäß von der politischen Auffassung und der Akteursperspektive ab. Was allerdings für die Thematik der Politisierung besonders relevant ist: Die Bundesregierung sieht sich seit Jahren schon konfrontiert mit einer aus ihrer Sicht immer problematischeren »Kluft« zwischen den Erwartungen externer Partnerstaaten, dass der größte Mitgliedsstaat der EU und einer der wohlhabendsten Staaten der Erde – der gerne als größter Profiteur der Globalisierung bezeichnet wird – international »mehr Verantwortung« übernehmen müsse, auch in militärischer Hinsicht, und den »hinterher hinkenden« Einstellungen einer deutschen Bevölkerungsmehrheit, die dies tendenziell ablehnt. Den Deutschen wird daher oft pauschal vorgeworfen, sie »drückten« sich vor schwierigen Aufgaben und hingen einem zunehmend weltfremden Bild einer zivilen Weltordnungspolitik an. Die Eigenarten deutscher sicherheitspolitischer Debatten seit der Wiedervereinigung sind von verschiedenen BeobachterInnen aus Medien, Wissenschaft und Militär ausführlich problematisiert worden.27 Sie zeichnen ein sehr kritisches Bild von PolitikerInnen, die ihren WählerInnen die Wahrheit über einige Militäreinsätze kaum zutrauen; von strategieunfähigen Eliten in Politik, Militär und Wissenschaft, die den heutigen sicherheitspolitischen Herausforderungen nicht gewachsen seien; und von einer (freundlich) desinteressierten Bevölkerung, die sich lieber

26 Jacobi, Hellmann, Nieke 2011. 27 Dazu ausführlich Geis 2018. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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»einnischen statt einmischen« wolle.28 Die Diskursoffensive der deutschen Exekutive im Zuge der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 und auch der vom Auswärtigen Amt organisierte »Review«-Prozess sollten daher eine als »zögerlich« wahrgenommene Mehrheit in der Bevölkerung für die Einschätzung sensibilisieren, dass Deutschland aufgrund seines weiter gestiegenen politischen »Gewichts« in der Welt und aufgrund seiner Stellung als Globalisierungsprofiteur weltweit »mehr Verantwortung« übernehmen solle bzw. geradezu müsse, was auch den Einsatz militärischer Mittel einschließen kann.29 Im Kontext internationaler Krisen wie der Finanz-, Ukraine- und sog. Flüchtlingskrise steht die Rolle Deutschlands wieder vermehrt zur Debatte. In einer sich stark wandelnden Umwelt, zu der auch der Bedeutungsverlust enger Partnerstaaten gezählt wird, sind deutlicher als vorher Forderungen von außen zu vernehmen, die mehr deutsches Engagement erwarten. Dies geht oft einher mit dem faktischen Konstatieren eines Hegemonie- oder Führungsstatus Deutschlands innerhalb der EU, der jedoch gleichzeitig kontrovers beurteilt wird. Vor diesem Hintergrund ergibt sich für die deutsche Regierung die grundlegende Herausforderung, wie die in Meinungsumfragen ermittelte Kluft zwischen außenpolitischen Vorstellungen der Eliten und der BürgerInnen in einer demokratischen Gesellschaft adressiert werden kann. Das Auswärtige Amt, seinerzeit unter Leitung von Frank-Walter Steinmeier, organisierte daher einen Selbstverständigungsprozess namens »Review 2014 – Außenpolitik weiter denken«: Die traditionell von der Exekutive dominierte Außenpolitik sollte stärker in die allgemeine Öffentlichkeit getragen werden. Der Review-Prozess bestand aus drei Phasen, die unterschiedliche Akteure einbezogen, u. a. nationale und internationale FachexpertInnen, die breitere deutsche Öffentlichkeit und schließlich auch interne Abteilungen des Auswärtigen Amtes.30 Die Öffentlichkeitsbeteiligung erfolgte in Form von rund 60 Veranstaltungen, die alle der Auseinandersetzung mit Kritik und Fragen der BürgerInnen dienen sollten. Der Prozess wurde medial intensiv in digitaler Form begleitet.31 Den Bedarf für solche Beteiligungsformen formulierte Steinmeier selbst, und zwar unter Bezugnahme auf die eingeholten Expertisen und Umfragen zur Sicht der Deutschen auf die Außenpolitik: »So tief ist der Graben zwischen Erwartungen im In- und im Ausland, zwischen außenpolitischen Eliten und breiter Öffentlichkeit. Ein Ingenieur würde vielleicht sagen: Guten Ge-

28 So Bertram 2015. 29 Zur Debatte über »mehr Verantwortung übernehmen« siehe Hellmann, Jacobi, Stark Urrestarazu 2015 und Roos, Rungius 2016. 30 Vgl. AA 2015, S. 20. 31 Eine ausführliche Darstellung und Bewertung des Review-Prozesses kann hier nicht geleistet werden, siehe dazu Geis, Pfeifer 2017. Der vorliegende Beitrag strebt demnach auch keinen Vergleich des Review- und des Weißbuch-Prozesses an. Letzterer ist jedoch ohne ersteren nicht zu verstehen, da das übergreifende Narrativ des »Mehr Verantwortung übernehmen« gerade auch auf die Sicherheitspolitik (Rolle der Bundeswehr) abzielt.

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wissens würd ich über den Graben keine Brücke bauen. Doch Politik hat keine Wahl – sie muss sich über solche Gräben bewegen, um überhaupt handlungsfähig zu sein.«32

Steinmeier betonte zudem, dass Außenpolitik inklusiver werden, in der »Mitte der Gesellschaft« ausgehandelt werden müsse. Seit Beendigung des Review-Prozesses, in dem es nicht um die Ausformulierung einer staatlichen Strategie ging, sondern eher um einen allgemeineren öffentlichen Selbstverständigungsprozess – wieviel Verantwortung sollte und könnte Deutschland in der Welt übernehmen? –, führt das Auswärtige Amt weiterhin kleinere Formate von Dialogforen mit BürgerInnen durch, die allerdings medial wenig beachtet werden.33 Den Review-Prozess des Auswärtigen Amtes kann man teilweise als »topdown« organisierten Versuch einer Politisierung von Außenpolitik deuten, in dem der Begriff der Verantwortung im doppelten Sinne relevant wurde: Zum einen wollte das Auswärtige Amt seine Politik gegenüber der Bürgerschaft direkt verantworten und diese einladen, genauer über ihre außenpolitischen Einstellungen und ihre Identität zu reflektieren. Zum anderen wurde innerhalb dieses Prozesses der Begriff auch als inhaltlich-normativer Bezugspunkt der außenpolitischen Debatte quasi schon »gesetzt«: Der Selbstverständigungsdiskurs sollte nicht völlig ergebnisoffen sein, sondern die Bevölkerung intensiver mit der Vorstellung konfrontieren, dass Deutschland der Verantwortung gegenüber den Partnerstaaten gerecht werden und mehr Verantwortung in der globalisierten Welt übernehmen »müsse«.34 Unter Rückgriff auf die Überlegungen von Flinders und Buller zu Entpolitisierungstaktiken könnte man hier zumindest Ansätze eines »preference-shaping« durch die Exekutive erkennen, da ein Wandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber der Bevölkerung als unausweichlich dargestellt wird. Einem ergebnisoffenen Diskurs, der die Kontingenz politischer Entscheidungen betont, entsprach der Review-Prozess damit nicht. Auch im »harten Kern« von Außenpolitik, der auswärtigen Sicherheitspolitik, fand im Anschluss an den Review-Prozess ein bis dahin für Deutschland einzigartiger kommunikativer Öffnungsprozess statt, der von der gleichen, zuvor schon durch die Exekutive etablierten Erzählung des »Mehr Verantwortung übernehmen« eingerahmt wurde. Im Sommer 2016 sollte ein neues Weißbuch zur Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr fertiggestellt sein, das letzte Weißbuch stammte aus dem Jahr 2006. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen kündigte an, dass das neue Strategiedokument nicht hinter verschlossenen Türen in den Fachzirkeln, sondern in einem »breiten und inklusiven Prozess« entstehen solle: »Wir möchten viele verschiedene Meinungen hören«.35 Die Öffnung von Strategiebildungsprozessen über bürokratisch-ministerielle Zirkel hinaus ist auch der 32 Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Eröffnung der Konferenz »Review 2014 (Steinmeier 2014). 33 Dazu Adebahr, Brockmeier, Li 2018; Pfeifer, Opitz, Geis 2020. 34 Roos, Rungius 2016, S. 62. 35 Von der Leyen zum Auftakt des Weißbuch-Prozesses am 17.2.2015, siehe https://www. bmvg.de/de/themen/weissbuch/perspektiven/statement-der-ministerin-zum-auftakt-desweissbuchprozesses-10980 (Zugriff vom 03.06.2020). Siehe dazu auch aus sehr unterLeviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Einsicht geschuldet, dass der Legitimationsbedarf auch für Politikbereiche steigt, die einst als Domäne der Exekutive akzeptiert waren. Wie es der Diplomat Thomas Bagger (seinerzeit verantwortlich für den Review-Prozess und eingebunden in den Weißbuch-Prozess) beschreibt: »Die Politik hingegen muss Handeln begründen. Ihr ist deshalb besonders – und spürbar immer stärker – an einer möglichst breit angelegten Einbeziehung der Öffentlichkeit gelegen. Denn politische Handlungsfähigkeit ist auch in der Außen- und Sicherheitspolitik immer enger an innenpolitische Zustimmung geknüpft.«36

In demokratischen Gesellschaften sollten sicherheitspolitische Strategiedokumente der Regierung nicht lediglich Referenzdokumente für die interne Regierungskommunikation darstellen und für die Öffentlichkeit auch nicht bloß nachlesbare Zusammenfassungen von Leitlinien und politischen Vorhaben für die Zukunft sein – sondern diese sollten idealerweise eine grundlegende öffentliche Debatte anregen. In Weißbüchern zur Sicherheitspolitik werden nicht nur Strategien und politische Maßnahmen in eine narrative Form gebracht, sondern hier sind auch normative Selbstbeschreibungen einer politischen Gemeinschaft zu finden. In hoch komprimierter Weise werden hier Freund- und Feindbilder, Politik- und Weltbilder ausgedrückt, die nicht alle konsensfähig sind. Das Weißbuch 2016 ist ein Dokument der gesamten Bundesregierung, nicht eines Ministeriums, was entsprechende intensive interne Abstimmungsprozesse erforderlich machte. Unter der Leitung von Brigadegeneral Carsten Breuer koordinierte die Projektgruppe Weißbuch im Verteidigungsministerium den von Ministerin von der Leyen gewünschten »inklusiven« Prozess und auch den nachfolgenden Schreibprozess, der in enger Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt erfolgte. Die Projektgruppe sollte »ein Produkt möglichst aus einem Guss (…) erstellen, in dem sich alle, die wir mit einbeziehen, auch wahrgenommen fühlen.«37 Für diesen sog. »Weißbuch-Prozess« wurde eine eigene Webseite erstellt, die auch eine interaktive Dialogfunktion enthielt und so auch für BürgerInnenmeinungen offen war. Kernelement der zwischen Februar und Oktober 2015 stattfindenden Inklusion waren letztlich jedoch zehn, teils öffentliche, ExpertInnenWorkshops mit nationaler und internationaler Beteiligung zu sehr unterschiedlichen Themen des Weißbuchs und mit unterschiedlichen TeilnehmerInnen, die das Verteidigungsministerium (BMVg) in Zusammenarbeit mit Partnern durchführte.38 Alle Workshops wurden ausführlich protokolliert und intern in der Projektgruppe ausgewertet. Bei dieser Form der Partizipation wurden rund 1800 TeilnehmerInnen gezählt, u. a. VertreterInnen aller Bundestagsfraktionen, aus Ministerien, Wissenschaft, Medien, Stiftungen, Think Tanks, Kirchen, Industrieverbänden

schiedlichen Blickwinkeln die Beiträge in dem Band von Jacobi, Hellmann (Hrsg.) 2018. 36 Bagger 2018, S. 113. 37 Geyr 2015. 38 Ein kurzer Einblick unter https://www.bmvg.de/de/themen/weissbuch/perspektiven (Zugriff vom 03.06.2020).

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sowie der Bundeswehr. Hochrangige VertreterInnen des Verteidigungsministeriums nahmen selbst teil, oft auch die Ministerin.39 Begleitend führte die Projektgruppe zusätzlich viele Hintergrund- und Fachgespräche im In- und Ausland sowie Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen mit BürgerInnen in Deutschland durch. Allerdings blieb die Nutzung der Webseitendialogfunktion durch die BürgerInnen, die zu Beginn des Prozesses noch etwas reger war, hinter den Hoffnungen der Projektgruppe zurück.40 Rund um das Weißbuch wurden schließlich im November 2015 sowie zum Erscheinen im Juli 2016 zwei kurze Erklär-Videos (simpleshow) veröffentlicht, die sich wohl eher an (bislang) Nichtinteressierte und junge Menschen richten, denen die Entstehung wie die Inhalte des Weißbuches erklärt werden sollten.41 Im Unterschied zum Review-Prozess des Auswärtigen Amts, der eher eine Selbstverständigungsdebatte über die deutsche Außenpolitik darstellte, lief der sog. »Weißbuch-Prozess« auf ein konkretes »Produkt« hinaus, ein hochrangiges Strategiedokument der Regierung, mit einem klaren Zeitrahmen für die Beteiligungsphase wie für den Schreibprozess. Rückblickend sind sich viele ProtagonistInnen und BeobachterInnen des Weißbuch-Prozesses einig, dass auch das nächste Weißbuch nur noch partizipativ entstehen, man also hinter die gemachten Erfahrungen nicht mehr zurückfallen könne.42 Welche Motivation hat die Exekutive, den Kreis der Beteiligten zu öffnen? Brigadegeneral Carsten Breuer und Christoph Schwarz, seinerzeit Leiter bzw. Referent der Projektgruppe Weißbuch in der Abteilung Politik des BMVg, betonen u. a. die Notwendigkeit einer verstetigten öffentlichen Debatte in der Sicherheitspolitik: »Fortsetzung und Verstetigung der sicherheitspolitischen Debatte haben in diesem Zusammenhang erhebliche Bedeutung. Die Einbindung sicherheitspolitischer Experten und interessierter Öffentlichkeit ist dabei nicht etwa Teil einer ›Erziehungskampagne‹ (Gunther Hellmann), sondern entspringt der Erkenntnis um die Begrenztheit eigener Einsicht. So umfangreich die Kommunikation rund um das neue Weißbuch auch war – mehr als 6500 Teilnehmer in unterschiedlichen Formaten –, so vermessen wäre es davon auszugehen, auf diese Weise die Mehrheitsmeinung in unserem Lande in die eine oder andere Richtung bewegen zu können. Es musste vielmehr darum gehen, die Eintrittsschwelle in den sicherheitspolitischen Diskurs zu senken, um durch die Diskussion Perspektiven zu ändern, neue Impulse und Anregungen zuzulassen.«43

Der damalige Abteilungsleiter Politik des BMVg, Géza von Geyr, erläuterte auf die Frage nach dem Zweck der Inklusion weiterer Akteure, dass es auch um die Einbeziehung unterschiedlicher Wissensarten gehe, neben militärischen, wissen39 Vgl. Keller 2015. 40 Hintergrundgespräch der Autorin mit einem Vertreter der Projektgruppe im Februar 2019. Dieser Teil des Webseitenauftritts scheint heute auch nicht mehr zugänglich zu sein. 41 Beide Videos finden sich auf https://www.bmvg.de/de/mediathek/uebersicht (Zugriff vom 03.06.2020). 42 So in Hintergrundgesprächen der Autorin mit Vertretern des BMVg im April 2018 und Februar 2019, so auch der Tenor verschiedener Beiträge in Jacobi, Hellmann (Hrsg.) 2018. 43 Breuer, Schwarz 2016, S. 85. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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schaftlichen, politischen Fachwissen solle quasi auch das »Bürgerfachwissen« eingebracht werden. »Wir wollen möglichst viele gute, haltbare, weiterführende Gedanken: zur Sicherheitspolitik, zur Verortung der Bundeswehr, zu Plausibilitäten, zu Trends, zu Perspektiven. Daraus wollen wir dann Gewissheit schaffen, dass wir die richtigen Wege gehen werden in den kommenden Jahren. […] Wir brauchen vieles, um einen kompletten Blick zu haben: Von der Tiefenschärfe, die uns Experten geben können, die in den Details beheimatet sind, über die besondere Expertise aus dem parlamentarischen Raum, die spezifischen Erfahrungen von NGOs, bis zu Einstellungen, die sich zeigen, wenn man gewissermaßen der Bevölkerung auf den Puls fühlt: Wie deren Befindlichkeiten sind, deren Sorgen, die Bedrohungsvorstellungen, gegen die wir ja schützen sollen. All das zusammen ergibt ein komplettes Bild.«44

Im Kontext der Weißbuch-Erarbeitung wurde immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, eine breite Beteiligung an der Debatte über die Sicherheitspolitik in Deutschland anzuregen. Dies hat sich auch schon in der Vergangenheit als Herausforderung erwiesen, und letztlich hat sich nach der Veröffentlichung des Weißbuches im Juli 2016 auch nicht wirklich eine intensive Debatte entsponnen (wenige Tage nach Veröffentlichung banden der Terroranschlag in Nizza und der versuchte Putsch in der Türkei die Medienaufmerksamkeit). Welche Aufgaben dem eigenen Militär zugeordnet, in welche Auslandseinsätze – oder auch Inlandseinsätze – deutsche Soldaten und Soldatinnen entsendet werden sollen, ist gerade in Deutschland aus historischen Gründen eine besonders sensible Frage. So wird es zumindest in Wissenschaft und Praxis häufig behauptet. Demnach sollte man auch leidenschaftliche kontroverse Debatten über Einsätze der Bundeswehr erwarten. Die schleichende Ausdehnung der Militäreinsätze der Bundeswehr seit den 1990er Jahren war auch keineswegs unkontrovers. Allerdings ist die von vielen ExpertInnen in Politik, Medien und Wissenschaft seit langem geforderte »große sicherheitspolitische Debatte« ausgeblieben. Warum genau diese ausgeblieben ist, obwohl auch viele PolitikerInnen sie seit vielen Jahren fordern, ist erst einmal unklar. Die Forderung wird immer wieder, auch von höchsten AmtsträgerInnen, erhoben. So formulierte etwa der damalige Bundespräsident Joachim Gauck in seiner viel beachteten Eröffnungsrede zur Münchner Sicherheitskonferenz 2014: »[…] Dabei brauchen wir solche Debatten – im Bundestag wie übrigens überall: in Kirchen und Gewerkschaften, bei der Bundeswehr, in den Parteien, in den Verbänden. Denn Außenpolitik soll doch nicht eine Sache von Experten oder Eliten sein – und Sicherheitspolitik schon gar nicht. Das Nachdenken über Existenzfragen gehört in die Mitte der Gesellschaft. Was alle angeht, das soll von allen beraten werden.«45

Die Mahnungen der politischen Exekutive, Deutschland brauche eine auch von der breiten Bevölkerung mitgetragene Debatte über Außen- und Sicherheitspolitik, sind bei näherer Betrachtung auch mit der klaren Erwartung verbunden, dass die Bürgerschaft die von politischen Eliten vorgetragene Position, Deutschland müsse international mehr Verantwortung übernehmen, so auch für sich übernehmen sollte. Während einige den »Vorbildcharakter« des partizipativen Weißbuch44 Geyr 2015. 45 Gauck 2014.

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Prozessexperiments loben,46 sprechen kritische BeobachterInnen der Beteiligungsformate des Auswärtigen Amts und des Verteidigungsministeriums von »Erziehungskampagnen«.47 5. Mehr Politisierung wagen in der Sicherheitspolitik Inwiefern handelt es sich bei dem »Weißbuch-Prozess« um ein Phänomen der Politisierung? Zieht man die von Hagmann et al. vorgeschlagenen drei Indikatoren zur Erfassung von Politisierungsprozessen in der Sicherheitspolitik heran (siehe Kapitel 3), ergibt sich grob folgendes Bild: Erstens lässt sich das Ausmaß der Polarisierung und Kontestation zwischen unterschiedlichen Akteuren und ihren Meinungen schwer einschätzen, da das Kernelement des Prozesses aus nur teilweise öffentlichen ExpertInnen-Workshops bestand, die intern im BMVg protokolliert und ausgewertet wurden. Wie polarisiert dort das vertretene Meinungsspektrum gewesen ist, ist ohne teilnehmende Beobachtung schwerlich zu rekonstruieren. KritikerInnen des Weißbuch-Prozesses bemängeln jedoch, dass regierungskritische oder anderweitig »dissidente« Meinungen bzw. Akteure etwa aus der Friedensbewegung nicht eingeladen worden seien.48 Weder die Entstehung des Weißbuches noch seine Veröffentlichung haben zu einer »großen«, langanhaltenden medialen Debatte geführt oder zu einer regen Aktivität auf der geschalteten Webseite oder gar zu einer Mobilisierung auf der Straße. Der Grad der Politisierung dürfte in dieser ersten Dimension daher begrenzt sein. Eine präzisere Einordnung könnte jedoch nur aus einem Vergleich mit ähnlichen Prozessen in anderen Staaten gewonnen werden. Mit Ausnahme der Schweiz – die auch bereits aufgrund ihrer direktdemokratischen Verfassung einen hohen Politisierungsgrad zulässt – liegen solche Erkenntnisse bislang nicht vor.49 Zweitens, was die Relevanz und Sichtbarkeit eines Themas in der Öffentlichkeit anbelangt, so hat das BMVg sich hier bemüht, mehr Öffentlichkeit zu erzeugen und die sicherheitspolitische Debatte in der Breite zu fördern, auch durch flankierende Diskussionsveranstaltungen mit Parteien, Gewerkschaften und BürgerInnen. Die Relevanz und Sichtbarkeit der sicherheitspolitischen Themen dürfte in den Jahren 2015 bis 2016 bereits als hoch eingestuft werden, wie auch die im ersten Kapitel zitierte Rede des damaligen Innenministers de Maizière von der »Sicherheitspolitik am Küchentisch« nahelegt, die vor allem durch die Flüchtlingsdebatte befördert wurde. Der Grad der Politisierung in der zweiten Dimension ist daher höher einzuschätzen. Drittens, hinsichtlich des Spektrums und der Diversität der Akteure, die im Feld aktiv sind, mag der Weißbuch-Prozess verdeutlicht haben, dass an Sicherheitspoli46 Vgl. Keller 2015. 47 Siehe Jacobi, Hellmann 2018. 48 Dies bemängelte etwa der Arbeitskreis Darmstädter Signal, siehe https://www.darmsta edter-signal.de/positionen/weissbuch_2016/ (Zugriff am 03.06.2020). 49 Zur Schweiz siehe Hagmann, Hegemann, Neal 2018, S. 18-20. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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tik weit mehr Akteure und auch BürgerInnen interessiert sind, als gemeinhin angenommen wird. »Der Prozess hat auch gezeigt, dass die sicherheitspolitische Szene in Deutschland größer und vitaler ist als oft beklagt wird. Sicherheitspolitik, auch das ist deutlich geworden, ist kein reiner Elitendiskurs – es besteht Anteilnahme und Interesse der Bevölkerung; nicht erst, seit die Flüchtlingsströme das Bewusstsein für Konflikte in der Welt erhöht haben.«50

Auch in der dritten Dimension könnte man daher eine gewisse Politisierung feststellen, da bewusst zahlreiche unterschiedliche Akteure durch das BMVg angesprochen und einbezogen werden sollten. Über das tatsächliche Ausmaß der Resonanz in der Bürgerschaft sowie umgekehrt auch der Rückkopplung von Strategiebildung an die in Umfragen gemessene öffentliche Meinung lässt sich allerdings streiten. Wie Klaus Naumann zurecht feststellt, greift das Verständnis von Öffentlichkeitsbeteiligung in den partizipativen Strategieprozessen der Bundesregierung zu kurz. Es fehlt an einer systematischen Verankerung von gesellschaftlichen Dialogen und der Adressierung der Bürgergesellschaft, die im Rahmen des aktuellen »Resilienz«-Diskurses zu einem zentralen Bestandteil von Sicherheitspolitik werden müsste.51 Der Schlüsselbegriff der Resilienz, in anderen Bereichen schon weit länger bekannt, ist erst jüngst in die internationale Sicherheitspolitik importiert worden. Auch in den Weißbüchern verschiedener westlicher Demokratien und in der Global Strategy der Europäischen Union von 2016 ist dieser Begriff neuerdings sehr prominent. So misst auch das Weißbuch Deutschlands der »Resilienz« eine hohe Bedeutung bei, die öffentlich kaum diskutiert wurde: »Neben einem wirkungsvollen Beitrag zur Abschreckung strebt Resilienz auch den Ausbau der Widerstands- und Adaptionsfähigkeit von Staat und Gesellschaft gegenüber Störungen, etwa durch Umweltkatastrophen, schwerwiegende Systemfehler und gezielte Angriffe, an. Ziel ist es, Schadensereignisse absorbieren zu können, ohne dass die Funktionsfähigkeit von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig beeinträchtigt wird. Der Ausbau der Gesamtresilienz ist dabei das Produkt der fortschreitenden Resilienzbildung in den genannten Bereichen.«52

Obwohl die physischen Risiken für BürgerInnen der EU (vor der COVID-19-Pandemie) relativ niedrig waren, wurden in Umfragen gleichzeitig sehr hohe Werte bei Angst- und Bedrohungsgefühlen der BürgerInnen gemessen.53 Viele dieser BürgerInnen, die deutschen eingeschlossen, richten ihre Sicherheitserwartungen ausschließlich an den Staat und sind sich nicht bewusst, dass auch sie selbst nunmehr für ihre Sicherheit in die Verantwortung genommen werden sollen. So sieht das deutsche Weißbuch eine wichtige Rolle vor für die BürgerInnen in der gemeinsamen – gesamtgesellschaftlichen – Sicherheitsvorsorge. Was dies genauer bedeuten soll, da der Resilienzbegriff auch auf das Alltagsleben abzielt, sollte auch mit den BürgerInnen selbst erörtert werden, deren Widerstandsfähigkeit gegenüber Risiken und künftigen Krisen verbessert werden soll. Schließlich führt der neoliberal 50 51 52 53

Keller 2015. Vgl. Naumann 2018, S. 190, 195. BMVg 2016, S. 49. Vgl. Kinnvall, Manners, Mitzen 2018, S. 249.

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konnotierte Begriff zu diversen Paradoxien in der Praxis, wie Ulrich Bröckling pointiert formuliert: » (...) vorbereitet zu sein auf etwas, auf das man sich nicht vorbereiten kann. Politisch folgt daraus eine gegenläufige Doppelstrategie, die auf der einen Seite dramatische Gefährdungsszenarien an die Wand malt und Sicherungssysteme ausbaut, auf der anderen vor Panikmache warnt und die stoische Tugend ›heroischer Gelassenheit‹ (...) anmahnt. Auf der psychologischen Ebene entspricht dem eine nicht minder gegenläufige Haltung, die gesteigerte Aufmerksamkeit mit besonnenem Gleichmut verbindet.«54

Fachbegriffe aus dem sicherheitspolitischen Diskurs wie eben jene »Resilienz« oder die »hybriden Bedrohungen«, die es überall abzuwehren gelte, haben eine unmittelbare Relevanz für das zunehmend versicherheitlichte Alltagsleben. Was sie bedeuten sollen, zumal in einer liberal-demokratischen Gesellschaft, dürfte den wenigsten Menschen klar sein. Insofern wäre eine weiter greifende Politisierung der Sicherheitspolitik, als sie mit dem Weißbuch-Prozess erzielt wurde, sinnvoll. Dies führt mich abschließend zu einigen normativen Überlegungen. 6. Schlussbetrachtung: Mehr Demokratie wagen in der Sicherheitspolitik Eine »große« sicherheitspolitische Debatte, wie sie so oft angemahnt wird in Deutschland, wäre auch jenseits eines konkreten Strategiedokuments gewiss wünschenswert, aber sie wird auch immer unwahrscheinlicher angesichts des anhaltenden Strukturwandels demokratischer Öffentlichkeiten in Zeiten von Digitalisierung und Vervielfältigung öffentlicher Foren und Arenen. Die gegenwärtige »große Debatte« über die Bekämpfung der COVID-19-Pandemie zeigt, dass diese nicht strukturell unmöglich sind, wenn eine Krise Politik, Gesellschaft und Alltagsleben bis in die privateste Sphäre hinein existenziell berührt. Anlässe für »große« sicherheitspolitische Debatten gäbe es sicherlich genug: Resilienz, Bilanz der Militäreinsätze, Rückwirkungen der Militäreinsätze auf die deutsche Gesellschaft, Privatisierung der Sicherheit, mangelnde Abwehrbereitschaft der Bundeswehr sind nur einige der Themen. In Fachzirkeln werden sie diskutiert, in der breiteren Öffentlichkeit nicht. Anstatt dem Ideal einer großen sicherheitspolitischen Debatte anzuhängen, die womöglich auch noch konsensorientiert ablaufen sollte, ist viel mehr über kleine dezentralisierte Formate der Dialoge und der Beteiligung von Bürgerinnen nachzudenken, um solche Fragen und andere zu erörtern. Einen Konsens wird es nicht geben können. Auch schon vor der rasanten Entwicklung der Digitalisierung ließ sich eine starke Ausdifferenzierung von Akteuren, Foren und Arenen beobachten, die alle zusammen ebenfalls Bestandteil »der Öffentlichkeit« sind, jedoch ihrerseits spezifischere Fachöffentlichkeiten oder Teilöffentlichkeiten bilden. Gerade die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland wird weiterhin oft als wenig öffentlichkeitswirksam beschrieben, da sie vor allem zwischen einer begrenzten Zahl von ExpertInnen stattfinde und die Medien ihre Aufmerksamkeit eher punktuell auf Skandale, etwa im Militär, oder auf Gewaltereignisse wie Terroranschläge richte. 54 Bröckling 2017. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Allerdings werden in der Gesellschaft auch über viele andere relevante Themen keine »großen« Debatten geführt, etwa über die Bildungspolitik. Eine Möglichkeit, mehr Öffentlichkeit zu schaffen in der Außen- und Sicherheitspolitik, läge daher in Formaten von Bürgerbeteiligung bzw. Dialogforen, die auch eine Politisierung fördern könnten. Die Erstellung eines Weißbuches kann dazu ein guter Kristallisationspunkt sein, wie Géza von Geyr als Abteilungsleiter Politik im BMVg konstatierte: »Insofern glaube ich, dass der sogenannte Weißbuch-Prozess, den wir jetzt begonnen haben, fast genauso wichtig ist wie später das neue Weißbuch selbst. Denn mit diesem Prozess starten wir einen breiten Diskurs mit vielfältigen Aktivitäten, wir wollen ein Maximum an Expertise aufnehmen. Das ergibt eine Wechselwirkung auch in die Gesellschaft hinein.«55

Allerdings zeigt gerade die voranschreitende »Versicherheitlichung« der Gesellschaften des Globalen Nordens, dass sicherheitspolitische Diskurse ja permanent stattfinden, dabei allerdings tendenziell die staatlichen Apparate gestärkt werden (sollen). Eine Politisierung der Sicherheitspolitik sollte auch Gegendiskurse und kritische Auseinandersetzung in der Bürgerschaft ermöglichen. Insgesamt haben die Experimente mit Beteiligungsprozessen in der Außen- und Sicherheitspolitik verdeutlicht, dass auch dieses Feld als verstärkt legitimationsbedürftig wahrgenommen wird, und zwar von Bürgerschaft und Exekutive. Auch wenn die moderate Politisierungsdiagnose »von oben« Anlass gibt, eine verstärkte Einbindung auch von individuellen BürgerInnen in Konsultationen über Außenund Sicherheitspolitik zu erwarten, so bleiben die empirischen Befunde bislang eher ernüchternd, wie James Headley und Joe Burton in einer internationalen Studie über solche Prozesse bilanzieren: »However, we have also seen that the wider idea of democratic participation is lacking. In order to reinvigorate democracy in foreign policy, governments need to explore ways in which individual citizens, and not just ›stakeholders‹, can be involved in the policy process, and to open up spaces for discussion and debate. It seems that the public are not necessarily apathetic and ignorant, and do not necessarily believe that foreign affairs are irrelevant or too complex«.56

Wie realistisch sind weitere Experimente mit Bürgerbeteiligung im Bereich der Sicherheitspolitik? Abschließend sei hier an einige Überlegungen von Friedbert Rüb zum Regieren unter Bedingungen wachsender Komplexität, Dynamik und steigenden Zeitdrucks angeknüpft:57 Im vorliegenden Beitrag war viel von der Exekutive, von ExpertInnen und von BürgerInnen die Rede, das Parlament kam fast nicht vor. Selbstverständlich bietet der Bundestag eine repräsentative Arena zur Erörterung sicherheitspolitischer Fragen, zumal Deutschland relativ weitgehende parlamentarische Kontrollrechte im Bereich von Militäreinsätzen besitzt. Allerdings finden auch hier kaum sicherheitspolitische Grundsatzdebatten statt, wie Bundespräsident Gauck in seiner Eröffnungsrede zur Münchner Sicherheitskonferenz 2014 beklagte. Auch das Weißbuch wird als Dokument der Exekutive nicht im 55 Geyr 2015. 56 Headley, Burton 2012, S. 248. 57 Vgl. Rüb 2011.

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Bundestag debattiert oder zum Anlass regelmäßiger »Überprüfungen« genommen. Eine Alternative zur Organisation aufwändiger Bürgerbeteiligungsformate könnte daher zunächst auch in der Stärkung parlamentarischer Arbeit liegen. Allerdings argumentiert Friedbert Rüb, dass die Beschleunigung von Politik auch zur einer Entparlamentarisierung und »Verexekutivierung« von Politik führe58 – vor dem Hintergrund müssten die besonders »langsamen« Bürgerbeteiligungsprozesse gerade in der Sicherheitspolitik eher als Fremdkörper wahrgenommen werden von der Exekutive. Das scheint jedoch in den oben skizzierten Beteiligungsprozessen nicht der Fall zu sein. Interessanterweise scheinen die partizipativen Formate auch nicht vom Regierungsstil eines bestimmten Ministers/einer Ministerin abzuhängen, zumindest wenn man den Einschätzungen von weiteren Beteiligten an diesen Formaten trauen darf: So betont eine Reihe von Akteuren der Exekutive, dass zukünftige Strategiebildungsprozesse nicht mehr wie früher hinter geschlossenen Türen stattfinden könnten, sondern nur noch partizipativ zu denken seien. Es bleibt zum einen zu sehen, ob dies eine verallgemeinerungsfähige Einschätzung ist, die über den speziellen deutschen Kontext hinaus reicht. Wie gezeigt, versuchen Teile der deutschen Elite die Bevölkerung seit Jahren von der Notwendigkeit eines stärkeren Wandels der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu überzeugen, der laut Umfragen zumindest teils sehr skeptisch betrachtet wird. Solche Prognosen der außen- und sicherheitspolitischen deutschen Akteure sind möglicherweise auch in anderer Hinsicht zu optimistisch. Die wachsende Beschleunigung und Komplexität von Politik stärkt tendenziell die Exekutiven, wie Friedbert Rüb argumentiert – allerdings bleibt demokratische Politik legitimationsbedürftig und damit abhängig von öffentlicher Zustimmung, Akzeptanz und Vertrauen. Dies wiederum spricht für weitere Experimente mit Beteiligungsprozessen. Der »Verexekutivierung« steht also immer noch eine »Veröffentlichung« entgegen. Wie Beteiligungsprozesse in Zukunft konkret aussehen werden, erscheint im Zuge der COVID-19-Pandemiebekämpfung allerdings offen zu sein. In entsprechenden Expertenzirkeln wird daher eine intensivere Umstellung auf digitale Formen von Beteiligung erörtert.59 Inwieweit sich diese tiefgreifende, weltweite Krisenerfahrung und die Stärkung der Exekutiven auf die zukünftige Gestaltung von Außen- und Sicherheitspolitik auswirken wird, lässt sich derzeit noch gar nicht abschätzen. Literatur AA (Auswärtiges Amt) 2015. Review 2014. Außenpolitik weiterdenken. Krise, Ordnung, Europa. Berlin: Auswärtiges Amt. Adebahr, Cornelius; Brockmeier, Sarah; Li, Melissa 2018: Stärkung von Bürgerdialog zu Außenpolitik in Deutschland. Berlin: GPPI.

58 Rüb 2011, S. 77. 59 Siehe https://medium.com/@PaulVittles/digital-deliberative-participative-democracy-the -future-is-here-now-9e7746fa9fdb (Zugriff am 03.06.2020). Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Zusammenfassung: Außen- und Sicherheitspolitik gelten selbst in modernen demokratischen Staaten als »Domänen« der Exekutive, in denen Parlamente, Bürgerschaft und (Medien-)Öffentlichkeit nur eine begrenzte Rolle spielen. In der neueren Forschung wird nun allerdings auch in der Außen- und Sicherheitspolitik ein verstärkter Politisierungstrend festgestellt. Dieser Beitrag setzt sich mit einer (moderaten) Politisierung »von oben« in Deutschland auseinander: der von der Exekutive angestoßenen Öffnung von außen- und sicherheitspolitischen Debatten oder Strategiebildungsprozessen für bislang nicht daran beteiligte Akteure. Inwieweit solche Phänomene als »Politisierung« eingestuft werden können, ist am Beispiel des »Review-Prozesses« (2014) und des partizipativen »Weißbuch-Prozesses« (2015-2016) zu beleuchten. Diese Phänomene zeigen zum einen die steigende Legitimationsbedürftigkeit dieses vermeintlichen Arkanbereichs des Politischen an; zum anderen rücken vor dem Hintergrund neuerer Konzepte der internationalen Sicherheitspolitik, wie »Resilienz« oder »hybride Bedrohungen«, zunehmend die BürgerInnen selbst in den Fokus von Sicherheitspolitik. Stichworte: Außen- und Sicherheitspolitik, Weißbuch-Prozess, Politisierung, Bürgerbeteiligung, Öffentlichkeit, Deutschland

Participatory Formats in German Foreign and Security Policy: the Politicisation of the Core State Realm? Summary: Foreign and security policy are considered as »domains« of the state executive, even within modern democracies. Parliaments, citizens and media publics seem to play a limited role. However, more recent research has identified a growing politicisation trend also within foreign and security politics. This contribution deals with a (moderate) politicisation from »above« in Germany: the inclusion of hitherto not included actors into foreign and security policy debates and strategy document development. To what extent such phenomena can be regarded as »politicisation« is discussed by using the examples of the »Review Process« (2014) and the German »White Paper Process« (2015-2016). These phenomena show that also the formerly »secluded« issue areas of foreign and security policy are in need of an enhanced legitimation; in addition, against the background of new concepts of international security discourses such as »resilience« and »hybrid threats«, citizens themselves become more and more the focus of security policies. Keywords: Foreign and security policy, German White Paper process, politicisation, citizen participation, public, Germany

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Hanna Schwander

Politisierung von Arbeitsmarktunsicherheit als Beispiel einer RePolitisierung distributiver Konflikte

Nach Jahren abnehmender sozialer und ökonomischer Ungleichheit öffnet sich die Schere zwischen reichen und ärmeren Bürgern immer stärker. Nachdem sich die politikwissenschaftliche Forschung zuerst der Frage nach den Ursachen, vor allem den politischen und polit-institutionellen Ursachen, widmete,1 befassen sich immer mehr Beiträge mit der Frage nach den Auswirkungen sozialer und ökonomischer Ungleichheit auf den demokratischen Prozess, wie politische Einstellungen, Parteienideologien, den politischen Wettbewerb oder der grundsätzlichen Frage, wie viel Ungleichheit eine Demokratie verträgt.2 Dieses Forschungsinteresse der vergleichenden und polit-ökonomischen Politikwissenschaft steht in einem gewissen Widerspruch zur Parteien- und Wahlforschung, die sozio-ökonomische Verteilungskonflikte aufgrund des steigenden Wohlstands und des Ausbaus der sozialstaatlichen Sicherungssysteme als mehrheitlich «befriedet» und damit de-politisiert betrachtet.3 Sie konzentrierte sich daher primär auf die Auswirkungen sozio-kultureller Identitäts-Konflikte auf Parteiensysteme und den politischen Wettbewerb.4 So wird sowohl der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien wie auch die zunehmende Fragmentierung europäischer Parteiensysteme mit der Herausbildung einer neuen, sozio-kulturellen Konfliktlinie zwischen »ModernisierungsverliererInnen« und »-gewinnerInnen« erklärt.5 Auch die Protestforschung hat sich lange Zeit auf sozio-kulturelle Proteste konzentriert,6 während sozio-ökonomische Verteilungskonflikte als weniger zentral für den politischen Wettbewerb betrachtet werden. Seit den 1980ern beobachten wir jedoch nicht nur eine steigende Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung, sondern auch in der Verteilung von Arbeitsmarktrisiken und -unsicherheiten. Die Forschung spricht hier von einer Dualisierung des Arbeitsmarktes, welche die arbeitende Bevölkerung in Arbeitsmarktinsider in stabilen Erwerbsverhältnissen mit entsprechender sozialer Absicherung durch die Sozialsicherungssysteme und den Regulierungen des Arbeits1 Vgl. Wren, Iversen 1998; Hall, Soskice 2001; Huber, Stephens 2001; Esping-Andersen 1990. 2 Vgl. Manow, Palier, Schwander 2018; Ansell, Samuels 2018; Schäfer, Schwander 2019; Iversen, Soskice 2011; Bartels 2008. 3 Vgl. Kriesi et al. 2008; Inglehart 1990. 4 Vgl. Hooghe, Marks 2004; Kriesi 1998; Inglehart 1977; Elias, Szöcsik, Zuber 2015; Polk, Rovny 2018. 5 Vgl. Kriesi et al. 2008; Hooghe, Marks 2018; Kitschelt, McGann 1995; Bornschier 2010; Norris, Inglehart 2016. 6 Vgl. Tarrow 2012; Hetland, Goodwin 2013. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020, S. 230 – 252

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markts und Arbeitsmarktoutsider, welche in unsicheren Erwerbsverhältnissen mit entsprechend geringer Absicherung arbeiten, differenziert.7 Diese Entwicklung kann eine strukturelle Form auf dem Arbeitsmarkt – die ungleiche Risikoverteilung zwischen den sozialen Gruppen – annehmen, aber sie kann sich auch in den polit-ökonomischen Institutionen ausdrücken, wenn man sich auf die Segmentierung der Arbeitsmärkte durch regulatorische Mittel (Beschäftigungsschutz, Lohnkoordination) oder auf die Segmentierung der Sozialsicherungssysteme durch eine zunehmende Differenzierung der sozialen Rechte nach Beschäftigungsstatus bezieht.8 Die Entwicklung ist an sich nicht neu, sondern wurde bereits in den 1980er Jahren konstatiert;9 neu ist vor allem die politikwissenschaftliche Diskussion zu den politischen Auswirkungen des Konfliktes, welche mit den frühen Arbeiten von David Rueda begann.10 Ruedas zentrales Anliegen war es, zu verstehen, ob, wann und warum Beschäftigte und ihre Vertreter (Parteien und Gewerkschaften) Politikmaßnahmen unterstützen, die den Arbeitslosen zugutekommen, und welche neuen politischen Dilemmata die Dualisierung des Arbeitsmarkts für die Repräsentanten der »Arbeiterklasse« schafft. Häusermann et al. zufolge11 stieß Ruedas Arbeit in der vergleichenden politischen Ökonomie und der Sozialstaatsanalyse deshalb auf große Resonanz, weil er neue Antworten auf große, grundlegende Fragen vorschlägt. Erstens: Wie wirken sich post-industrielle Arbeitsmarkttransformationen auf die Politikpräferenzen des Einzelnen aus? Diese Frage brachte den Strukturwandel wieder auf die Agenda der Sozialstaatsanalyse und verband ihn mit der Forderung nach der Entwicklung einer fundierten theoretischen und empirischen Mikrofundierung postindustrieller Politikgestaltung. Zweitens: Wie und von wem werden die veränderten Präferenzen mobilisiert und repräsentiert? Wie verändern veränderte Präferenzen den Parteienwettbewerb? Diese Fragen gelangten genau dann in den Mittelpunkt der sich wandelnden parteilichen Politik, als die meisten Forscher der vergleichenden politischen Ökonomie verstanden hatten, dass das traditionelle Modell der parteilichen Politik unzulänglich geworden war, ein neues aber noch nicht in Sicht war.12 Drittens: Welche politischen Konsequenzen haben strukturelle Arbeitsmarktveränderungen und veränderte Parteipolitik? Ruedas Arbeiten erinnerten daran, dass die üblichen »abhängigen Variablen«, d. h. mehr versus weniger öffentliche Ausgaben oder 7 Vgl. Emmenegger et al. 2012; Häusermann, Schwander 2012; Rueda, Wibbels, Altamirano 2015; Rueda 2007. Die genaue Terminologie, mit welcher die Entwicklung bezeichnet wird, variiert in den verschiedenen Beiträgen: Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt, Arbeitsmarktrisiken, Arbeitsmarktdualisierung oder Insider-Outsider-Konflikt. All diese Begriffe beziehen sich auf einen Prozess, der die Arbeitnehmerschaft in sicherere und fragilere Beschäftigungsverhältnisse teilt (siehe Häusermann, Kemmerling, Rueda 2020). 8 Vgl. Busemeyer, Kemmerling 2020. 9 Vgl. Saint-Paul 1998; Lindbeck, Snower 1988; Berger, Piore 1980. 10 Vgl. Rueda 2005; 2006; 2007. 11 Vgl. Häusermann, Kemmerling, Rueda 2020. 12 Vgl. Häusermann, Picot, Geering 2013. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Umverteilung, nicht mehr ausreichend waren, um postindustrielle Verteilungspolitik zu verstehen.13 Und schließlich: Wie wirkt sich die Politik auf die Gestaltung der Risikoallokation und der Politik aus? Die Relevanz von Policy-Feedbacks war bereits früher von Pierson aufgeworfen worden,14 aber Rueda brachte die Auswirkungen der Reform des Wohlfahrtsstaates auf den Punkt, indem er argumentierte, dass linke Errungenschaften selbst die Solidarität der Arbeiterklasse im Laufe der Zeit untergraben und in neue Verteilungskonflikte münden können. Dieser Beitrag greift die Thematik auf und diskutiert die politischen Auswirkungen dieses Arbeitsmarktkonfliktes als Beispiel einer Re-Politisierung sozio-ökonomischer Verteilungskonflikte. Das Sonderheft beleuchtet drei Formen von Politisierung: Politisierung, De-Politisierung und Re-Politisierung, wobei der grundlegende Begriff der Politisierung in der Einleitung wie folgt definiert wird: Politisierung ist die »Forderung nach oder der Akt des Transports einer Entscheidung oder einer Institution in den Bereich des Politischen«.15 Um verschiedene Grade einer Politisierung von Arbeitsmarktungleichheit differenziert diskutieren zu können, bediene ich mich des CleavageKonzeptes nach Lipset and Rokkan aus der Forschung zu Parteiensystemen.16 Die Leitidee des Ansatzes geht dahin, dass die Struktur der Parteiensysteme in Europa weitgehend auf die sozialen Spannungen und Konflikte innerhalb einer Gesellschaft im 19. Jahrhundert zurückzuführen ist, da die Politisierung und Mobilisierung der Bevölkerung bei der Einführung des allgemeinen Wahlrechtes zu dauerhaften Bindungen zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen und den entsprechenden Parteien führten. Drei Elemente konstituieren einen Cleavage:17 Ein sozio-strukturelles Element der Konfliktlinie, welche die Gesellschaft in zwei (oder mehr) sich gegenüberstehende und klar abgegrenzte Gruppen trennt, zum Beispiel aufgrund der Klassenzugehörigkeit, der Religion oder der Sprache. Als ein zweites, normatives Element muss die Spaltung den Bevölkerungsgruppen auch bewusst sein, das bedeutet, sie müssen über eine auf dieser sozio-strukturellen Grundlage basierende kollektive Identität verfügen.18 Arbeiter müssen sich primär zugehörig zur Arbeiterklasse fühlen und sich nicht als Katholiken oder Angehörige einer ethnischen Minderheit identifizieren und ebenso bereit sein, aufgrund dieses Bewusstseins politisch zu handeln. Empirisch wird die kollektive Identität häufig über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in politischen Präferenzen gemessen.19 Das dritte, organisatorische Element bezeichnet den Ausdruck der Konfliktlinie in der politischen Mobilisierung und Repräsentation, also durch die Formierung von distinkten Parteien, Vereinen, Gesellschaften oder anderen politisch rele13 14 15 16 17 18 19

Siehe auch Rehm 2020. Vgl. Pierson 2001. Zürn 2013, S. 13. Vgl. Lipset, Rokkan 1967. Vgl. Bartolini, Mair 1990. Vgl. Bornschier 2010. Vgl. Kriesi et al. 2008.

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vanten Organisationen. Häufig wird auch der Ausdruck des Konfliktes in der elektoralen Ebene, das heißt, deren Ausdruck im Wahlverhalten, diesem Element zugeordnet.20 Ein struktureller Konflikt ist entsprechend dann politisch relevant, wenn er den betroffenen Bürgern bewusst ist und von einer politischen Organisation artikuliert wird. Lipset and Rokkan betonen, dass sich die drei Elemente wechselseitig verstärken oder abschwächen, weshalb sie immer gemeinsam betrachtet werden sollen.21 Ich folge dieser Empfehlung in meinem Beitrag. Gleichzeitig möchte ich betonen, dass das Cleavage-Konzept zur Identifizierung langfristiger, struktureller Konfliktlinien und deren Übersetzung ins politische System entwickelt wurde. Tatsächlich wird der Beitrag zeigen, dass die Definition der Konfliktlinie durch Bartolini und Mair zu starr ist, um jüngere politische Entwicklungen zu untersuchen, da sich der Spaltungsansatz auf eine langfristige strukturelle Teilung der Gesellschaft und stabile politische Identitäten konzentriert.22 Da das Konzept zur Strukturierung der Darstellung bisheriger Forschungsergebnisse trotzdem hilfreich ist, folgt der Aufbau des Beitrages den drei Elementen des Cleavages: In einem ersten Schritt diskutiere ich die sozio-strukturelle Basis des Insider-Outsider-Konflikts, indem ich Forschungsergebnisse präsentiere, die festhalten, dass ökonomische Unsicherheit sich in bestimmten sozio-strukturellen Gruppen konzentriert. Der darauf folgende Abschnitt widmet sich der Frage nach den Einstellungsunterschieden zwischen den beiden Arbeitsmarktgruppen, während sich der vierte Abschnitt dem Ausdruck des Konflikts auf Ebene der politischen Mobilisierung und Repräsentation widmet.23 1. Die sozio-ökonomische Verteilung von Arbeitsmarktunsicherheit Strukturelle Veränderungen und politisch motivierte Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen erhöhten in den letzten Jahrzehnten sukzessive die Arbeitsmarktunsicherheit und führten zu neuen Formen von Arbeitsmarktrisiken, wie atypische Erwerbstätigkeit oder Langzeitarbeitslosigkeit.24 Abbildung 1 zeichnet diese Entwicklung anhand des »klassischen« Arbeitsmarktrisiko Arbeitslosigkeit und der zwei häufigsten »neuen« Risiken Teilzeitbeschäftigung und befristete Beschäftigung für Europa nach, basierend auf Daten des European Survey of Income and Living Conditions. Die Abbildung zeigt deutlich, dass sowohl Arbeitslosigkeit wie auch Teilzeit- oder befristete Beschäftigung eine Erwerbsrealität für viele Arbeitnehmer darstellen. Interessant ist zu beobachten, dass das alte Risiko der Arbeitslosigkeit dem Konjunkturzyklus stärker unterworfen ist als die neuen Risiken. Deren Anstieg ist ein struktureller Trend, auch wenn dieser im Falle der befristeten 20 21 22 23 24

Vgl. ebd. Vgl. Lipset, Rokkan 1967. Vgl. auch Bovens, Wille 2017. Die Darstellung des Forschungsstandes folgt in weiten Teilen Schwander 2020. Vgl. Palier, Thelen 2010; Emmenegger et al. 2012; Hipp, Bernhardt, Allmendinger 2015; Standing 2011.

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Beschäftigung während der Wirtschafts- und Finanzkrise leicht abgemildert wurde, als viele der befristeten Verträge nicht verlängert wurden.

0

5

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20

25

Abbildung 1: Entwicklungen im Arbeitsmarkt, EU-15

1980

1985

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2015

Arbeitslosigkeit Befristete Beschäftigung Teilzeitbeschäftigung Quelle: OECD stat

Wichtig für das Argument dieses Beitrages ist nun, dass sich diese Arbeitsmarktrisiken in der arbeitenden Bevölkerung ungleich verteilen: Frauen, junge Beschäftigte und gering qualifizierte Arbeitnehmende sind dabei in besonderem Maße dem Risiko instabiler Beschäftigung ausgesetzt, wie arbeitsmarktsoziologische Beiträge festhalten.25 Dem ersten Element einer Konfliktlinie nach Bartolini and Mair entsprechend wird die Bevölkerung abhängig von der Stabilität der Beschäftigung in Arbeitsmarkt-Insider und -Outsider geteilt.26 Die Literatur entwickelte im Laufe der Debatte zwei Ansätze zur Definition von Outsidern, die mit einem unterschiedlichen theoretischen Verständnis über die Triebkräfte der Insider-OutsiderUnterschiede zusammenhängen. Der Arbeitsmarktstatus-Ansatz stellt fest angestellte und vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer den Arbeitslosen, Teilzeit- und befristet Beschäftigen oder Selbständigen gegenüber.27 Der Ansatz hat seine Vorzüge aufgrund seiner engen theoretischen Verknüpfung mit der ursprünglichen Insider-

25 Vgl. Esping-Andersen 1999; Ranci 2010; Fellini, Migliavacca 2010; Schwander, Häusermann 2013. 26 Vgl. Bartolini, Mair 1990. 27 Emmenegger 2009; Marx 2014; Marx, Picot 2013; Rueda 2007.

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Outsider-Theorie28 und wird häufig in der Forschung über institutionelle Triebkräfte der Dualisierung verwendet. Es handelt sich um eine statische Konzeption von Insidern und Outsidern, die sich auf die aktuelle Arbeitssituation bezieht, und weder die vergangene noch die zukünftige Situation noch die Wahrscheinlichkeit eines Statuswechsels berücksichtigt.29 Andere kritisieren, dass der Vertragsstatus zu volatil sei, um sich auf die politischen Präferenzen von Insidern und Outsidern, die auf dauerhafteren Erfahrungen beruhen, auszuwirken.30 In der Literatur zur Politisierung von Arbeitsmarktunsicherheit wird daher häufig ein risikobasierter Ansatz verwendet, der sich auf die individuellen Arbeitsmarktrisiken konzentriert und diese anhand der Beschäftigungssituation verschiedener Berufsgruppen festmacht.31 In dieser Sichtweise stellen Arbeitnehmende in einem Beruf mit hoher Arbeitslosigkeit Outsider dar und sollten daher andere politische Präferenzen entwickeln als Arbeitnehmer in Berufen mit niedriger Arbeitslosigkeit, unabhängig von ihrem gegenwärtigen Vertragsstatus. Vlandas fasst die Differenz der beiden Ansätze wie folgt zusammen: Der Ansatz über den Arbeitsmarktstatus konzentriert sich auf die unterschiedlichen Risiken, denen die individuellen Arbeitnehmer gegenwärtig ausgesetzt sind, während der Ansatz der Risikobelastung auf die unterschiedlichen Risiken fokussiert, denen sowohl Beschäftigte als auch Arbeitslose oder vulnerable Beschäftigte in verschiedenen Berufsgruppen zukünftig ausgesetzt sind.32 Zudem reagiert der zweite Ansatz auf eine wichtige Kritik am ursprünglichen Insider-Outsider-Ansatz – dass die Vorstellung einer Teilung der Bevölkerung in genau zwei und genau unterscheidbare Gruppen unrealistisch sei – indem er eine Differenzierung zwischen verschiedenen Ausmaßen der Risikoexposition zulässt.33 Dabei – und das ist für eine mögliche Politisierung des Konfliktes wichtig – handelt es sich hier nicht um einen Konflikt innerhalb der Arbeiterklasse oder der gering qualifizierten Bevölkerung. Dualisierung stellt damit nicht einfach einen weiteren Ausdruck der zunehmend schwierigen Arbeitsmarktsituation gering qualifizierten Arbeitnehmer dar, sondern verläuft quer zur Bildungslinie. Untersuchun28 29 30 31

Vlandas 2020. Vgl. Rovny, Rovny 2017, Schwander, Häusermann 2013. Schwander, Häusermann 2013. Häusermann, Kurer, Schwander 2016; Rehm 2009; 2011; Schwander, Häusermann 2013. 32 Vlandas 2020. Dies ist insofern relevant, als dass die beiden Ansätze von unterschiedlichen Interessenskoalitionen ausgehen: Der Ansatz der Risikobelastung fasst die Erwerbstätigen und Arbeitslosen in einem bestimmten Beruf zusammen während der Ansatz über den Arbeitsmarktstatus eine Divergenz zwischen den Interessen der Erwerbstätigen und der Arbeitslosen/vulnerablen Beschäftigten unabhängig von ihren Berufen postuliert. 33 Natürlich hat der risikobasierte Ansatz auch seine Nachteile. Eine Kritik lautet beispielsweise, dass sich diese Messung zu weit von der ursprünglichen Insider-OutsiderLiteratur entfernt oder auf ein Risiko hinweist, das sich vielleicht nie verwirklichen wird und/oder dessen sich die Bürger nicht bewusst sind. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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gen zeigen, dass auch gut qualifizierte Frauen und junge Hochschulabsolventen einem erhöhten Risiko für atypische Erwerbsarbeit ausgesetzt sind, gerade in Kontinental- und Südeuropa.34 Dies ist insofern relevant, als dass gut gebildete Outsider andere politische Einstellungen als geringer qualifizierte Outsider entwickeln können und die demographische Verteilung von Arbeitsmarktrisiken auf die mögliche Relevanz von Haushaltseffekten hinweist – beide Punkte können auf eine mögliche (Ab-) Schwächung der politischen Relevanz von Arbeitsmarktrisiken hinweisen. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass das politische Interesse gut gebildeter Outsider und deren Beteiligung am politischen Prozess höher ist als das gering qualifizierter Bürger,35 was zu einer stärkeren Politisierung des Konflikts führen kann. 2. Unterschiede in den politischen Einstellungen Als zweite Bedingung für eine Politisierung muss sich die politische Identität von Arbeitsmarktinsidern und -outsidern unterscheiden, das heißt, Individuen müssen sich einer sozialen Gruppe zugehörig fühlen und ein geschlossenes Weltbild entwickeln, das einer zweiten Gruppe antagonistisch gegenüber steht. Meine Ausführungen beziehen sich hier auf Einstellungsunterschiede als proxy für politische Identität.36 Dies ist keine optimale Messung, da Einstellungsunterschiede wenig über das subjektive Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe verraten, welches einer Ausbildung einer distinkten kollektiven Identität vorangeht. Nichtsdestotrotz stellen Einstellungsunterschiede insofern eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung einer Konfliktlinie dar, als dass gemeinsame politische Überzeugungen eine Mindestvoraussetzung für eine politische Mobilisierung von Gruppeninteressen darstellen.37 Aufgrund der Bedeutung des modernen Sozialstaats für die Lebenschancen und Absicherung breiter Bevölkerungsgruppen38 sind Einstellungsunterschiede am wahrscheinlichsten bezüglich des Sozialstaats zu erwarten. So prägt der moderne Sozialstaat sowohl die soziale Absicherung als auch die Beschäftigungsaussichten von Insidern und Outsidern: In seiner traditionellen, sozialversicherungsbasierten Form tendiert er dazu, die stabile Erwerbsbiographie von Insidern zu belohnen, weshalb Insider-Outsider-Differenzen in Kontinental- und Südeuropa besonders stark institutionalisiert sind. Universalistische, steuerfinanzierte Sozialsicherungssysteme hingegen wirken sich weit weniger auf Insider-Outsider-Differenzen aus.39 Ausgehend von der Beobachtung, dass Einstellungen zum Sozialstaat nicht nur durch die Sozialisierung in der Jugend, dem sozio-ökonomischen Status und 34 35 36 37 38 39

Vgl. Esping-Andersen 2009; Schwander 2020; Häusermann, Kurer, Schwander 2015. Vgl. Bürgisser, Kurer 2019. Siehe Kriesi et al. 2008 und Bornschier 2010 für ein ähnliches Vorgehen. Bornschier 2010. Vgl. Esping-Andersen 1999. Vgl. ebd.; Häusermann, Schwander 2012.

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die Ressourcenausstattung von BürgerInnen,40 sondern auch durch ihre Erfahrungen am Arbeitsplatz geprägt sind,41 sollten sich daher die sozialpolitischen Einstellungen von Insidern und Outsidern unterscheiden. Dies bestätigen die empirischen Befunde der Insider-Outsider-Literatur: Zwar sprechen sich beide Gruppen für einen starken Sozialstaat aus,42 es handelt sich also nicht um den klassischen Links/Rechts-Verteilungskonflikt über die Größe des Sozialstaats oder das Ausmaß einer Staatsintervention in Marktmechanismen. Insider und Outsider unterscheiden sich jedoch stark in der Art des von ihnen bevorzugten Sozialstaats, da sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Beschäftigungsbiographie unterschiedliche Bedürfnisse an den Sozialstaat entwickeln. Konkret sind Insider aufgrund ihrer stabilen Beschäftigungsbiographien in erster Linie an einem Sozialversicherungssystem interessiert, welches diese stabile Beschäftigung honoriert und schützt.43 So sprechen sich BürgerInnen mit geringen Arbeitsmarktrisiken deutlicher für das Äquivalenzprinzip bei der Bemessung von Sozialleistungen aus, das heißt für die Idee, dass Zugang zu und Höhe von Sozialleistungen abhängig von bisherigen Beitragszahlungen sein sollen als Arbeitnehmende, die sich großen Arbeitsmarktrisiken ausgesetzt sehen.44 Arbeitsmarktoutsider ihrerseits wollen einen Sozialstaat, der erstens eine materielle Umverteilung vornimmt und zweitens aktive sozial investive Maßnahmen zur Integration der Bevölkerung in den Arbeitsmarkt anbietet, wie zum Beispiel Umschulungen für Arbeitslose oder kostengünstige Kinderbetreuungsangebote. In anderen Worten wollen Outsider einen Sozialstaat, der ihre unsichere Lage auf dem Arbeitsmarkt einerseits kompensiert und anderseits verbessert. So sprechen sich Outsider deutlicher als Insider für großzügige passive Arbeitslosenleistungen und für großzügige aktive Wiedereingliederungsmaßnahmen für Arbeitslose aus.45 Dieser Befund ist unabhängig vom Ausmaß der Arbeitsmarktdualisierung, das heißt vom Ausmaß, in welchem Outsider auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind, dem Wohlfahrtstaatsregime, welches ebenfalls im unterschiedlichen Ausmaß Insider bevorzugt behandelt, oder der Konzeptualisierung der beiden Gruppen.46 Dies ist interessant, weil es darauf hindeutet, dass eine Politisierung neuer Formen von Ungleichheiten nicht vom Ausmaß der Ungleichheit abhängt, sondern sich die Bevölkerung ihrer unterschiedlichen Position im Arbeitsmarktprozess grundsätzlich bewusst ist. Am Insider-Outsider-Konflikt zeigt sich also deutlich die Mehrdimensionalität moderner Verteilungskonflikte, auf welche die vergleichende Sozialstaatsforschung schon länger hinweist.47 40 41 42 43 44 45 46 47

Vgl. O’Grady 2019. Vgl. Oesch 2006; Kriesi 1998; Kitschelt, Rehm 2014. Vgl. Fernández-Albertos, Manzano 2011. Vgl. Häusermann 2010; Häusermann, Kurer, Schwander 2015. Vgl. Häusermann, Kurer, Schwander 2016. Vgl. Schwander, Häusermann 2013; Marx 2014; Rueda 2007; 2005; Hense 2019. Vgl. Häusermann, Kurer, Schwander 2016; 2013. Vgl. Häusermann 2012; Beramendi et al. 2015.

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Der Einfluss von Arbeitsmarktunsicherheit auf sozialpolitische Einstellungen ist markant, wie folgende Tabelle basierend auf dem Indikator der Arbeitsmarktunsicherheit des risikobasierten Ansatz zeigt. Arbeitsmarktunsicherheit ist nach dem Index von Schwander und Häusermann (2013) als das individuelle Risiko für Arbeitslosigkeit und/oder atypischer Beschäftigung48 gemessen, basierend auf der gewichteten Häufigkeit der Arbeitsmarktrisiken in der Berufsgruppe des Individuums.49 Durch logistische Regressionen, unter Berücksichtigung der Standardkontrollvariablen für sozialpolitische Einstellung (Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen, Haushaltssituation, öffentliche versus private Beschäftigung, Gewerkschaftsmitgliedschaft) und anhand Daten des »Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat«-Moduls des European Social Survey aus dem Jahr 2008 für 13 Westeuropäische Staaten werden vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten, staatliche Eingriffe in der Einkommensverteilung zu befürworten, errechnet. Es zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Umverteilung von Einkommen zu befürworten, um 15.5 Prozentpunkte steigt, wenn sich eine Person von der minimalen zur maximalen Ausprägung von Arbeitsmarktunsicherheit bewegt, ceteris paribus. Dies ist die zweitstärkste Aussagekraft, übertroffen nur von Einkommen, und stärker als Unterschiede zwischen Bildungs- oder Altersgruppen. Tabelle 1: Vergleich der Erklärungskraft von Insider-Outsider und sozio-strukturellen Determinanten für Umverteilung50 Vorherges. Wahrs. Umverteilung zu befürworten Geringe Arbeitsmarktunsicherheit

59.5

Starke Arbeitsmarktunsicherheit

74.9

Unbefristeter Vertrag

67.1

Befristeter Vertrag

67.2

Vollzeit

66.4

Teilzeit

69.4

Beschäftigt

67.0

Arbeitslos

69.2

Differenz

15.5 0.1 3.0

2.2

Vorherges. Wahrs. Umverteilung zu befürworten Geringe Bildung

71.3

Hochschulbildung

62.6

Männer

64.6

Frauen

67.1

Alter (20 Jahre)

63.3

Alter (60 Jahre)

68.1

Einkommensdezil: 1

78.7

Einkommensdezil: 10

54.0

Differenz

-8.7 2.5 4.8

-24.7

48 Unfreiwillige Teilzeit- oder befristete Beschäftigung, Hilfe im Familienbetrieb. 49 Das Risiko des Individuums hängt stark von der Häufigkeit der Arbeitsmarktrisiken in den beruflichen Referenzgruppen ab. Diese Referenzgruppen setzen sich aus der sozialen Klasse, dem Alter und dem Geschlecht zusammen, sodass die Referenzgruppen in Bezug auf Arbeitsmarktbedingungen einigermaßen homogen sind (siehe Schwander, Häusermann 2013). 50 Schwander 2019b.

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Die Unterschiede bleiben auch unter Berücksichtigung der Haushaltsdimension bestehen. Häufig bilden Arbeitsmarktoutsider einen gemeinsamen Haushalt mit Insidern, besonders in Kontinental- und Südeuropa.51 Dies kann die Ausbildung distinkter Einstellungen von Insidern und Outsidern abschwächen, da beide Gruppen auch Politikmaßnahmen im Interesse der jeweils anderen Gruppe unterstützen, um die finanziellen Aussichten des gemeinsamen Haushalts zu optimieren.52 Empirisch zeigt sich jedoch, dass für die überwiegende Mehrheit der Bürger die eigene Arbeitsmarktsituation ausschlaggebend für die Einstellungen zum Sozialstaat ist. Die Situation des Partners ist nur für eine sehr spezifische Gruppe von weiblichen Outsidern, die mit sehr stark abgesicherten Insidern zusammenleben (zwischen 3 und 13 Prozent der Befragten in den verschiedenen Ländern Westeuropas) relevant.53 Bildung hingegen weist einen interessanten Verstärkungseffekt auf Einstellungsunterschiede auf. Nach Häusermann et al. lässt sich dies mit den Opportunitätskosten erklären, welchen gut gebildeten Outsidern aufgrund ihrer Beschäftigungssituation entstehen.54 Das Beispiel der Einkommensumverteilung verdeutlicht dies: Während Einkommensumverteilung aufgrund deren verhältnismäßig niedrigen Einkommen teilweise auch den Interessen gering qualifizierter Insider entspricht, sprechen sich Gutgebildete nur dann für Umverteilung aus, wenn sie prekär beschäftigt sind. Dabei muss nochmals darauf hingewiesen werden, dass Arbeitsmarktunsicherheit kein Phänomen der Arbeiterklasse oder der unteren Mittelschicht darstellt, sondern sich bis in weite Teile der Bevölkerung mit Hochschulabschluss ausdehnt.55 Weniger klar ist, ob Einstellungsunterschiede über diese doch relativ engen sozialpolitischen Einstellungen hinausgehen. So wird argumentiert, dass sowohl Arbeitsmarktinsider wie auch -outsider an Beschäftigungsschutz interessiert sind; erstere weil sie von der Regulierung profitieren und diese ihren privilegierten Status zementiert und sie von Outsidern absetzt, letztere weil sie sich davon den Schutz und die Sicherheit versprechen, die ihnen in ihrer gegenwärtigen Situation fehlen.56 Neuere Arbeiten untersuchen, ob sich Einstellungsunterschiede auch in der sozio-kulturellen Dimension des politischen Wettbewerbs, der sogenannten Werte- oder Globalisierungscleavage57 manifestieren, finden jedoch wenig Evidenz. So zeigt Hense in einer longitudinalen Analyse für Deutschland, dass sich individuelle Arbeitsmarktunsicherheit nur geringfügig auf die Werteorientierung (Universalismus versus Partikularismus) von BürgerInnen auswirkt.58

51 52 53 54 55 56 57 58

Vgl. Pierson 2001; Häusermann, Kurer, Schwander 2016. Vgl. Emmenegger 2009; Pierson 2001. Vgl. Häusermann, Kurer, Schwander 2016. Vgl. Häusermann, Kurer, Schwander 2015. Vgl. ebd.; Schwander 2020. Emmenegger 2009, S. 134; Guillaud, Marx 2014. Vgl. Hooghe, Marks 2018; Kriesi et al. 2008; Inglehart 1990. Vgl. Hense 2019.

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Ich schließe zusammenfassend, dass Einstellungsunterschiede zwischen Insidern und Outsidern sich primär im Hinblick auf den Sozialstaat manifestieren, während weitergehende sozio-kulturelle Einstellungsunterschiede bisher nicht systematisch konstatiert werden konnten. Die Spaltung der Bevölkerung in geschützte Arbeitsmarktinsider und vulnerable Arbeitsmarktoutsider scheint sich also primär als sozio-ökonomischer Verteilungskonflikt auszudrücken. Es ist jedoch zweifelhaft, ob diese Unterschiede ausreichen, um das zweite Element einer Cleavage der distinkten kollektiven politischen Identität als bestätigt anzusehen. Nach meiner Einschätzung fehlt Insidern und Outsidern eine solche Gruppenzugehörigkeit, da die Unterscheidung von Insider und Outsider keine »geschlossene Beziehung« darstellt. Dies hängt mit drei Faktoren zusammen: Erstens leben Outsider oft mit Insidern zusammen.59 Einstellungsunterschiede zwischen Insidern und Outsidern bleiben zwar auch unter Berücksichtigung der Haushaltskonstellation bestehen, jedoch handelt es sich nicht um eine »geschlossene soziale Beziehung«, die für die Idee der sozialen Spaltung zentral ist.60 Zweitens hat der Begriff »Outsider« eine negative Bedeutung, die eine Identifikation mit der Outsider-Gruppe erschwert. Hinzu kommt die ausgeprägte Heterogenität unter Outsidern, sowohl in Bezug auf sozio-strukturelle Risikodeterminanten als auch in Bezug auf das spezifische Arbeitsmarktrisiko, dem sie ausgesetzt sind, was eine Interessensaggregation zusätzlich erschwert. Drittens könnten gewisse Outsider wie z. B. junge Erwachsene hoffen, aus ihrer unsicheren Situation herauszuwachsen und später im Leben zu Insidern zu werden. (Subjektive) soziale Mobilität ist jedoch nachteilig für die Form der sozialen Schließung, die das Konzept der Konfliktlinie erfordert. Anstatt zu fordern, die Privilegien der Insider zu reduzieren (obwohl dies ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern würde), streben Outsider danach, von den gleichen Privilegien wie Insider zu profitieren. Aus diesen Gründen bilden Outsider keine geschlossene Gruppe mit einem eigenen politischen Bewusstsein. Zudem nimmt die Mehrheit der Beiträge zu Einstellungsunterschieden keine dynamische Perspektive ein (als eine Ausnahme, siehe Hense 2019), wir wissen also wenig darüber, wie sich Einstellungen über die Zeit verändern und ob sie sich allenfalls annähern oder stärker unterscheiden. In Hinblick auf eine mögliche Re-Politisierung von Verteilungskonflikten ist dies insofern problematisch, als dass der Begriff Politisierung einen dynamischen Prozess beschreibt. 3. Unterschiede in der politischen Mobilisierung und Repräsentation Als nächstes stellt sich die Frage, ob sich diese Einstellungsunterschiede auch im politischen Prozess, das heißt bezüglich des politischen Verhaltens und der politischen Repräsentation der betroffenen Gruppen bemerkbar machen. Ob Einstellungsunterschiede politisch relevant werden, hängt nicht zuletzt vom Verhalten politischer Akteure ab, die politische Potentiale mobilisieren und damit strukturel59 Vgl. Pierson 2001. 60 Vgl. Rokkan, Lipset 1967.

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241

le Konflikte politisieren.61 In der Wahlarena des politischen Wettbewerbs spielen hierbei politische Parteien die herausragende Rolle als Akteure der Mobilisierung, während in der Protestarena Akteure sozialer Bewegungen von großer Bedeutung sind.62 Die Literatur zur politischen Repräsentation von Insidern und Outsidern hat sich bisher auf die elektorale Arena, das heißt auf die Rolle von politischen Parteien in der Artikulation des Konfliktes und auf Unterschiede im Wahlverhalten konzentriert, während die Relevanz des Konflikts für soziale Bewegungen und politische Proteste wenig beleuchtet wurde.63 Im Lichte der global zunehmenden Protestaktivitäten, welche gerade im Kontext der ökonomischen Erschütterungen Europas durch die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 ökonomische Missstände aber auch ein Repräsentationsversagen etablierter Eliten artikulieren, würde eine solche Verbindung zwischen sozialer Bewegungsforschung und Dualisierungsliteratur eine vielversprechende Forschungsagenda darstellen. Die meisten Arbeiten zu den Auswirkungen der Dualisierung auf die Neuausrichtung der Wahlen und die demokratische Repräsentation konzentrieren sich auf die Verbindung zwischen sozialdemokratischen Parteien und den beiden Konfliktgruppen. Rueda argumentiert beispielsweise, dass sozialdemokratische Parteien die Interessen von Insidern schützen, wenn sie mit einem Trade-off zwischen Interessen von Insidern und Outsidern konfrontiert werden.64 Rueda erklärt die Insider-Orientierung sozialdemokratischer Parteien mit deren »organisatorischen und historischen Verbindungen«, zum Beispiel über die Verbindung zu Gewerkschaften.65 Im Gegensatz zu Ruedas Argumentation lässt sich jedoch feststellen, dass viele der neueren Sozialstaatsreformen, welche maßgeblich von sozialdemokratischen Parteien initiiert wurden,66 in der Tendenz eher Outsider begünstigen und/oder die Privilegien von Insidern einschränken. So führten sozialdemokratische Regierungen Mindesteinkommenssysteme und Mindestrenten für Outsider ein, erhöhten die Großzügigkeit und Beitragsberechtigung bestehender Systeme67 und reformierten den Sozialstaat zu einem aktivierenden Sozialstaat, der weniger die Einkommensabsicherung bisherig Beschäftigter als die Förderung von Beschäftigungsaussichten vormals ausgeschlossener Bevölkerungsschichten zum Ziel hat.68 Auch versuchen sozialdemokratische Parteien Outsider in besonderem Maße zu mobilisieren, indem sie das Thema der vulnerablen Beschäftigung im Wahlkampf aufnehmen und den Wohlfahrtsstaat in ihrem Sinne zu reformieren ver-

61 62 63 64 65 66 67 68

Vgl. Bornschier 2010; Kriesi et al. 2008; Sartori 1976. Vgl. Hutter 2014. Vgl. Schwander 2019b. Vgl. Rueda 2005; 2007. Rueda 2005, S. 62. Vgl. Bonoli, Powell 2004; Nelson 2013; Vlandas 2013; Huo 2009. Vgl. Häusermann 2012; Ferrera 2005. Vgl. Hemerijck 2013; Bonoli 2013.

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sprechen.69 Die abnehmende Insider-Orientierung sozialdemokratischer Parteien stellt dann ein zusätzliches Argument für die häufig dargestellte Entfremdung zwischen der traditionellen Arbeiterklasse und ihren traditionellen Repräsentanten im Parteiensystem.70 Erste Untersuchungen weisen darauf hin, dass Insider sich im besonderen Maße zu rechtspopulistischen Parteien hingezogen fühlen.71 Diese Parteien nehmen immer mehr die Position der Verteidigung des »traditionellen« Wohlfahrtsstaates ein,72 was nicht nur den kulturellen Einstellungen, sondern auch den materiellen Interessen von Insidern, insbesondere geringer qualifizierten Insidern, entspricht. Die Insider-Outsider-Literatur ist auch für die Untersuchung der politischen Partizipation relevant. Die umfangreiche Literatur, die sich mit individuellen Beteiligungsentscheidungen beschäftigt, stellt fest, dass BürgerInnen entweder aufgrund mangelnder Ressourcen (»sie können nicht«), mangelndem psychologischem Engagement (»sie wollen nicht«), mangelnder Mobilisierung (»niemand fragte«) und – basierend auf einer rationalen Wahlperspektive – weil »es keine Rolle spielt«73 dem politischen Prozess fernbleiben. Die Insider-Outsider-Literatur fügt eine zusätzliche Determinante hinzu, indem sie zeigt, dass sowohl ein aktuell unsicherer Arbeitsmarktstatus als auch die Risikoexposition die Wahlbeteiligung verringern: Outsidern mangelt es an Ressourcen und Interesse an Politik, Parteien fordern sie nicht auf zu wählen, und Outsider sind der Meinung, dass ihre Stimmen keine Rolle spielen (geringe interne Wirksamkeit).74 Gleichzeitig sehen sich nicht nur immer größere Teile der sozialdemokratischen Wählerschaft, sondern auch höher qualifizierte Mittelschichten Arbeitsmarktrisiken ausgesetzt. Da deren Mitglieder eher politisch informiert und aktiv sind, muss Arbeitsmarktunsicherheit nicht mit einer geringeren politischen Teilnahme einhergehen.75 Die Insider-Outsider-Literatur trägt daher zum besseren Verständnis der spezifischen Bedingungen bei, unter denen Benachteiligungen nicht in politische Entfremdung münden, sondern den Einzelnen motivieren, seine Beschwerden politisch zu äußern. Auch hier ist eine Verbindung mit der Protestforschung äußerst vielversprechend, da sich Protest der Bürger häufig zuerst an den Wahlurnen und dann auf der Straße äußert.76 Die Untersuchung der Auswirkungen des Insider-Outsider-Konflikts auf politische Repräsentation und politisches Verhalten kommt zu zwei wichtigen Ergeb69 Vgl. Schwander 2019a; Picot, Menéndez 2019. 70 Ein mindestens ebenso häufig artikuliertes Argument lautet jedoch, dass nicht die Abwanderung der traditionellen Wählerschaft ursächlich für den elektoralen Niedergang der Sozialdemokratie ist, sondern deren zahlenmässiger Niedergang aufgrund der strukturellen Veränderung der Wählerschaft, siehe dazu Häusermann 2019. 71 Vgl. Häusermann 2020; Schwander, Manow 2017. 72 Vgl. Spies, Röth, Afonso 2018. 73 Vgl. Blais 2006; Schäfer, Schwander 2019; Brady, Verba, Schlozman 1995. 74 Vgl. Emmenegger, Marx, Schraff 2015; Rueda 2005; Marx 2014; 2016. 75 Vgl. Häusermann, Kurer, Schwander 2015; Bürgisser, Kurer 2016. 76 Vgl. Häusermann, Kurer, Wüest 2018.

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nissen: Erstens liefern die meisten Studien keine Evidenz für die ursprüngliche These der Literatur, dass Insider die Kernwähler sozialdemokratischer Parteien sind: Sie stellen keine Unterschiede zwischen Insidern und Outsidern hinsichtliche der Wahrscheinlichkeit, für sozialdemokratische Parteien zu stimmen, fest.77 Das Abstimmungsverhalten von Insidern und Outsidern hängt vielmehr von der politischen Agenda der Parteien in Wahlkämpfen ab.78 Zumal bemühen sich sozialdemokratische Parteien im Wahlkampf politische Maßnahmen zur gleichzeitigen Mobilisierung von Insidern und Outsidern vorzuschlagen.79 Das soll nicht heißen, dass die Einstellungsunterschiede zwischen Insidern und Outsidern ohne Auswirkungen auf das Wahlverhalten sind: Insider-Outsider-Unterschiede zeigen sich vor allem in der Wahrscheinlichkeit linke Parteien zu wählen, wobei Outsider häufiger als Insider radikale und neue linke Parteien wählen.80 Dies ist die zweite zentrale Erkenntnis der Literatur. Sowohl radikale als auch neue linke Parteien bieten großzügige sozialpolitische Umverteilungsmaßnahmen und die Möglichkeit einer Protest-Wahl.81 Im Einklang mit der Idee, dass sowohl Insider als auch Outsider einen starken Wohlfahrtsstaat bevorzugen, aber eine andere Art von Wohlfahrtsstaat bevorzugen, stellt die Literatur fest, dass sowohl Insider als auch Outsider linke Parteien, aber verschiedene linke Parteien unterstützen. Entsprechend lässt sich festhalten, dass die Spaltung der Arbeitnehmerschaft die Spaltung des linken Parteienspektrums verstärkt. Besonders stark ist diese Spaltung in Südeuropa, wo neue linke Parteien Stimmenanteile von über 20 Prozent erzielten und Regierungsverantwortung entweder bereits übernommen haben (Syriza in Griechenland oder das Movimento Cinque Stelle in Italien) oder kurz davorstehen (Podemos in Spanien). Dies erklärt sich unter anderem damit, dass Arbeitsmarktunsicherheit in Südeuropa stark mit einem politischen »Outsider-Status« zusammenhängt. Viele sind der Meinung, dass die »alten« Parteien nicht in der Lage sind, Lösungen für die derzeitigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu finden, was durch die wiederholte Veröffentlichung der Korruptionspraktiken der etablierten politischen Parteien noch verstärkt wird. Nach Hutter et al. hat sich in Südeuropa diese Dimension des politischen Konflikts sogar als zweite strukturierende Dimension des politischen Wettbewerbs etabliert und zur Etablierung einer Reihe neuer politischen Parteien wie dem M5S, Podemos oder Ciudanos geführt, die ursprünglich aus den Reihen des politischen Protestes stammen, während die etablierte Linke gegen das Verschwinden kämpft.82 Aber auch

77 Vgl. Marx, Picot 2013; Bürgisser, Kurer 2016; Marx 2014; Rovny, Rovny 2017; Hense 2019. 78 Vgl. Lindvall, Rueda 2014. 79 Vgl. Schwander 2019b; Picot, Menéndez 2019. 80 Vgl. Emmenegger, Marx, Schraff 2015; Rovny, Rovny 2017; Marx, Picot 2013; Marx 2014; Lindvall, Rueda 2014. 81 Vgl. Emmenegger, Marx, Schraff 2015. 82 Vgl. Hutter, Kriesi, Vidal 2018. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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in nördlichen Teilen Europas stellen wir eine Verschiebung weg von der etablierten, sozialdemokratischen Linke hin zur neuen oder radikalen Linke fest. Was die rechte Seite des Parteienspektrums betrifft, so kann die Vermutung, dass Outsider für liberale und/oder konservative Parteien stimmen, die den Sozialstaat demontieren und den Arbeitsmarkt liberalisieren,83 empirisch nicht bestätigt werden. Ganz im Gegenteil sprechen sich Outsider deutlich weniger wahrscheinlich für rechte Parteien aus als Insider.84 Auch das Argument, dass Outsider für rechtsradikale Parteien stimmen könnten, spiegelt sich in den empirischen Ergebnissen nicht wider.85 Bezüglich des Wahlverhaltens zeigen sich innerhalb der Outsider-Gruppe erhebliche Unterschiede, insbesondere in Bezug auf die Beteiligung am politischen Prozess: Die Partizipationswahrscheinlichkeit derjenigen, die eine instabile und atypische Beschäftigung haben, unterscheiden sich von derjenigen Arbeitslosen.86 Im Allgemeinen ähnelt das Abstimmungsverhalten von Personen in atypischer Beschäftigung eher dem von Insidern. Es sind die Arbeitslosen, die sich der Abstimmung enthalten.87 Dies spiegelt frühere Erkenntnisse über das politische Verhalten von Arbeitslosen wider.88 Atypisch Beschäftigte sind dagegen nicht in jedem Fall die »politisch entfremdete« Gruppe, die die frühe Insider-Outsider-Literatur vermutete. Da sich Zeitarbeit und unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung in die höher qualifizierte Mittelschicht ausgebreitet haben,89 ist der Arbeitsmarkt-Outsider nicht mehr automatisch mit einer geringeren politischen Beteiligung verbunden.90 Dies deutet darauf hin, dass die Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Insider und Outsider sich vor allem im linken Parteienspektrum ausdrücken, während verschiedene Outsider-Gruppe sich unterschiedlich stark am politischen Prozess beteiligen. 4. Schlussfolgerung Nach der Diskussion der drei Elemente einer möglichen Konfliktlinie nach Bartolini und Mair gelange ich zum Schluss, dass der Insider-Outsider-Konflikt keine

83 Vgl. King, Rueda 2008; Rueda 2007. 84 Rovny, Rovny 2017; Marx, Picot 2013. 85 Nur Emmenegger et al. finden einen positiven Effekt der Arbeitsmarktbenachteiligung auf die Wahlabsicht für die radikale Rechte in den Niederlanden, und selbst dieser Effekt, der mit dem Wunsch nach einer Protestwahl erklärt wird, ist schwächer als bei radikalen linken Parteien, siehe Emmenegger et al. 2019. 86 Vgl. Marx, Picot 2013. 87 Vgl. ebd.; Bürgisser, Kurer 2016; Hense 2019. 88 Vgl. Brady, Verba, Schlozman 1995; Jahoda 1982; Rosenstone 1982; Lazarsfeld, Bernard, Gaudet 1948; Berelson, Lazarsfeld, McPhee 1954. 89 Vgl. Häusermann, Kurer, Schwander 2015. 90 Vgl. Bürgisser, Kurer 2016.

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Konfliktlinie im Sinne von Lipset und Rokkan oder Barolini und Mair darstellt, aber dennoch politisch relevant ist.91 Diese Einschätzung beruht auf drei Punkten: Erstens fehlt den beiden Gruppen trotz unterschiedlicher Einstellungen zu Verteilungs- und Regulierungspolitik eine distinkte kollektive Identität. Dies ergibt sich meiner Meinung nach aus der negativen Konnotation des Begriffes »Outsider«, welche die Bildung einer solchen Identität zumindest für Outsider erschwert. Diese wird durch die ausgeprägte Heterogenität der Outsider-Gruppe verstärkt, sowohl was deren sozio-strukturelle Merkmale wie auch das spezifische Arbeitsmarktrisiko, dem sie ausgesetzt sind, betrifft. Dies erschwert nicht nur die Bildung der kollektiven Identität per se, sondern gewisse Outsider-Gruppen (v. a. junge Outsider) hoffen der Outsider-Situation entfliehen zu können, weshalb man nicht von einer »geschlossenen sozialen Beziehung«92 sprechen kann. Ein weiterer Grund der geringen sozialen Schließung ist die häufige Haushaltsbildung zwischen (männlichen/älteren) Insidern und (weiblichen/jüngeren) Outsidern. Die Ablehnung von Insider-Outsider-Differenzen als Konfliktlinie bedeutet jedoch nicht, dass es keine Politisierung der Arbeitsmarktanfälligkeit in fortgeschrittenen Industriegesellschaften gibt oder dass Insider-Outsider-Spaltungen politisch nicht relevant sind. Tatsächlich scheint die Definition der Spaltung durch Bartolini und Mair zu starr sein, um jüngere politische Entwicklungen zu untersuchen, da sich der Spaltungsansatz auf eine langfristige strukturelle Teilung der Gesellschaft und stabile politische Identitäten konzentriert. Dennoch kann ein struktureller Konflikt politisiert werden, ohne eine Konfliktlinie im engeren Sinne darzustellen. Das politische Verhalten der beiden sozialen Gruppen unterscheidet sich signifikant, wobei Outsider für Protest- und radikale linke Parteien stimmen. Entsprechend unterstützen Insider und Outsider linke Parteien, aber durchaus verschiedene linke Parteien. Die Spaltung der Arbeiterklasse verstärkt damit die politische Spaltung im linken Parteienspektrum. Bisher wissen wir jedoch wenig über die Auswirkungen dieser Rekonfigurierung der Linken auf distributive Konflikte.93 Als Ausblick auf zukünftige Entwicklungen dürfte sich die Politisierung von Insider-Outsider-Konflikten beschleunigen, da unsichere und atypische Arbeitsplätze einen erheblichen Teil der Wähler betreffen und sich in die höher gebildete Mittelschicht der Bevölkerung ausbreiten. Die vergangene Wirtschaftskrise wirkte in diesem Prozess als Katalysator, als die Unsicherheit des Arbeitsmarktes weiter zunahm, tiefer in die Mittelschicht eindrang und mehr Männer als zuvor betraf. Vor allem in den krisengeschüttelten südeuropäischen Ländern mit starken institutionellen Barrieren zwischen Insidern und Outsidern begannen diejenigen, denen der Zugang zu »guten« Arbeitsplätzen und damit eine stabile berufliche Perspektive verwehrt war, auf die Straße zu gehen. Die Parteien, die aus diesen Bewegungen 91 Vgl. Bartolini, Mair 1990. 92 Rokkan, Lipset 1967. 93 Für eine erste Untersuchung siehe Röth, Schwander 2020. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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hervorgegangen sind, werden entsprechend häufig von Outsidern, oft jungen Outsidern, unterstützt. In Italien erhöht der Abschluss eines befristeten Vertrages die Wahrscheinlichkeit, bei den Wahlen 2013 für die populistische Movimento Cinque Stelle zu stimmen, um 17 Prozent. Diese Ergebnisse sind ein erster Hinweis darauf, wie die zunehmenden Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt die Politik verändern. Die Ergebnisse der Insider-Outsider-Literatur deuten auf veränderte ökonomische Verteilungskonflikte und eine Mehrdimensionalität der Konflikte um den Wohlfahrtsstaat hin. Der Konflikt zwischen Arbeitsmarkt-Insidern und -Outsidern zeigt, dass die Vorstellung von Verteilungskonflikten als Konflikte um »mehr oder weniger« Wohlfahrtsstaat in den heutigen Gesellschaften mit ihrer diversifizierten Risikostruktur und ihren anspruchsvollen Wohlfahrtsstaaten zu eng ist. Bei den neuen Verteilungskonflikten handelt es sich vielmehr um spezifische Sozial- und Regulierungspolitiken, die je nach Arbeitsmarktsituation unterschiedliche Auswirkungen auf den einzelnen Bürger haben. Dabei handelt es sich um Konflikte zwischen Sozialversicherung und Umverteilung oder zwischen passivem Sozialschutz und aktiver sozialer Investition.94 Anstatt die ökonomische Dimension des politischen Wettbewerbs als Frage der Größe des Wohlfahrtsstaates oder des Ausmaßes der staatlichen Intervention zu begreifen, sollte die Parteien- und die Repräsentationsforschung die neuen Verteilungskonflikte in die Konzeptualisierung der Links-Rechts-Dimension einbeziehen. Glücklicherweise hat die Datenerhebung zu Parteipositionen in den letzten zehn Jahren große Fortschritte gemacht, sodass wir die Parteienorientierung zu bestimmten Themen in unsere Forschung integrieren können.95 Zweitens stellen die Befunde der Insider-Outsider-Literatur das traditionelle Modell der Relevanz der parteilichen Ausrichtung von Regierungen für die Ausgestaltung des Sozialstaates und insbesondere das Verständnis sozialdemokratischer Parteien als Vertreterin der Arbeiterklasse und Verteidigerin des Sozialstaates in Frage. So betont die Literatur, dass nicht alle Arbeitskräfte gleichermaßen anfällig für Arbeitsmarktrisiken sind und sich Parteien unterschiedlich responsiv gegenüber verschiedenen Segmenten ihres Elektorats zeigen. Arbeitsmarktdualisierung und die damit einhergehenden unterschiedlichen sozialpolitischen Einstellungen sind Teile einer veränderten sozio-ökonomischen Dimension des politischen Wettbewerbs, die es den Mitte-Links-Parteien schwer machen, Wahlen zu gewinnen. Sozialdemokratische Parteien leiden daher nicht nur unter der Fragmentierung des Parteienangebots, insbesondere der Konkurrenz rechts-populistischer Parteien für ihre Wählerschaft, und der zunehmenden Bedeutung von Identitätsfragen für den Wahlentscheid. Auch die Konfliktstruktur der sozio-ökonomischen Dimension hat sich verändert, was die Mobilisierung ihrer Wählerschaft für sozialdemokratische Parteien schwierig macht: Die Interessen der sozialdemokratischen Wähler sind durch die ungleiche Verteilung von Arbeitsmarktrisiken heterogener geworden, 94 Vgl. Häusermann, Picot, Geering 2013; Häusermann 2012. 95 Für einen Vorschlag zur Konstruktion solcher Indikatoren siehe Döring, Schwander 2015.

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was deren Mobilisierung erschwert. Zudem sind auch die Verteilungskonflikte, die das täglich Brot sozialdemokratischer Politikgestaltung sind, in dualisierten Gesellschaften komplexer geworden. Heutige Verteilungskonflikte betreffen nicht mehr die Größe des Sozialstaats, sondern die Ausrichtung von Wohlfahrtsstaaten (aktiv versus passiv) oder die Basis des Anspruchs (Grenzen der Solidargemeinschaft, bedarfs- versus beschäftigungsorientiert). Diese komplexeren Fragen erschweren die Mobilisierung der Wähler auf der Grundlage distributiver Themen. Damit weist die Dualisierungsliteratur auch auf ein neues Dilemma sozialdemokratischer Parteien bei der Mobilisierung ihrer Wähler hin und liefert eine zusätzliche Erklärung, warum es sozialdemokratischen Parteien in letzter Zeit so schwerfällt, Wahlen zu gewinnen. Literatur Ansell, Ben; Samuels, David 2018. »Why Inequality Does Not Undermine Democracy«, Paper präsentiert auf dem Jahrestreffen der American Political Science Association 2018. Bartels, Larry 2008. Unequal Democracy: The Political Economy of the New Gilded Age. New York: Russell Sage Foundation. Bartolini, Stefano; Mair, Peter 1990. Identity, Competition, and Electoral Availability: The Stabilisation of European Electorates 1885-1985. Cambridge: Cambridge University Press. Beramendi, Pablo; Häusermann, Silja; Kitschelt, Herbert; Kriesi, Hanspeter 2015. »Introduction: The Politics of Advanced Capitalism«, in The Politics of Advanced Capitalism, hrsg. v. Beramendi, Pablo; Häusermann, Silja; Kitschelt, Herbert; Kriesi, Hanspeter, S. 1-66, Cambridge: Cambridge University Press. Berelson, Bernard R.; Lazarsfeld, Paul F.; McPhee, William N. 1954. Voting. A Study of Opinion Formation in a Presidential Campaign. Chicago: Chicago University Press. Berger, Suzanne; Piore, Michael J. 1980. Dualism and Discontinuity in Industrial Societies. Cambridge: Cambridge University Press. Blais, André 2006. »What Affects Voter Turnout?«, in Annual Review of Political Science 9, S. 111-125. Bonoli, Giuliano 2013. Origins of Active Social Policy: Labour Market and Childcare Polices in a Comparative Perspective. Oxford: Oxford University Press. Bonoli, Guiliano; Powell, Martin 2004. Social Democratic Party Policies in Contemporary Europe. London: Routledge. Bornschier, Simon 2010. Cleavage Politics and the Populist Right: The New Cultural Conflict in Western Europe. Philadelphia: Temple University Press. Bovens, Mark; Wille, Anchrit 2017. Diploma Democracy. The Rise of Political Meritocracy. Oxford: Oxford University Press. Brady, Henry E.; Verba, Sidney; Schlozman, Kay L. 1995. »Beyond SES: A Resource Model of Political Participation«, in The American Political Science Review 89, 2, S. 271-294. Bürgisser, Reto; Kurer, Thomas 2016. »Inert and Insignificant? On the Electoral Relevance of Labor Market Outsiders«, Paper präsentiert auf dem Jahrestreffen der Schweizerischen Vereinigung für Politische Wissenschaft in Basel, Schweiz, 21.-22. Januar 2016. Bürgisser, Reto; Kurer, Thomas 2019. »Insider–Outsider Representation and Social Democratic Labor Market Policy«, in Socio-Economic Review, online first, https://doi.org/10.1093/ ser/mwz040 (Zugriff vom 31.03.2020). Busemeyer, Marius; Kemmerling, Achim 2020. »Dualization, Stratification, Liberalization, or What? An Attempt to Clarify the Conceptual Underpinnings of the Dualization Debate«, in Political Science Research and Methods 8, 2, S. 375-379. Döring, Holger; Schwander, Hanna 2015. »Revisiting the Left Cabinet Share: How to Measure the Partisan Profile of Governments in Welfare State Research«, in Journal of European Social Policy 25, 2, S. 175-193.

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Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Hanna Schwander

Zusammenfassung: In fortgeschrittenen Demokratien werden Verteilungskonflikte vielerorts als befriedet angesehen, dank umfassenden Sozialsicherungssystemen und wachsendem Wohlstand. Dieser Beitrag zeigt, dass der Strukturwandel zu neuen ökonomischen Risiken und damit einer Repolitisierung der Verteilungskonflikte führt. Der Beitrag setzt sich kritisch mit den Hauptergebnissen der Insider-Outsider-Literatur als Beispiel für re-politisierte Verteilungskonflikte auseinander. Obwohl der Insider-Outsider-Konflikt nicht als eine »Konfliktlinie« in der Lesart von Mair und Bartolini betrachtet werden kann, zeigt der Konflikt zwischen Arbeitsmarkt-Insidern und -Outsidern, dass Verteilungskonflikte auch heute noch für die Politik von Bedeutung sind. Dennoch hat sich der Inhalt der Verteilungskämpfe verändert: In den fortgeschrittenen Gesellschaften mit ihrer diversifizierten Risikostruktur und hochentwickelten Wohlfahrtsstaaten manifestieren sich Verteilungskonflikte über spezifische Sozial- und Regulierungspolitiken, die je nach Arbeitsmarktsituation unterschiedliche Auswirkungen auf die einzelnen BürgerInnen haben. Stichworte: Arbeitsmarktungleichheit, Insider-Outsider-Konflikte, Politisierung von Verteilungskonflikten, Konfliktlinien-Ansatz

The politicization of labor market insecurity as an example of a re-politicized distributive conflict Summary: With the establishment of mature welfare state and increasing affluence in advanced democracies, distributive conflicts were argued to have been pacified. Yet, structural change might lead to new economic risks and a re-politization of distributive conflicts. This contribution critically discusses the main findings of the insider-outsider literature as an example of re-politicized distributive conflicts. Although the insider-outsider conflict cannot be considered a cleavage in Mair and Bartolini’s understanding, the conflict between labor market insiders and outsiders demonstrates that distributive conflicts still matter for today’s politics. Yet, the content of distributive struggles has changed: In advanced societies with their diversified risk structure and sophisticated welfare states distributive conflicts are about specific social and regulatory policies that have different implications for individuals depending on their situation on the labor market. Keywords: Labor market inequality, Insider-Outsider conflicts, distributive politics, cleavage approach

Algorithmen zwischen Ent- und Repolitisierung

Lena Ulbricht

Algorithmen und Politisierung

1. Einleitung Im Zuge der Digitalisierung übernehmen Algorithmen zunehmend Funktionen der sozialen Ordnungsbildung: Sie dienen etwa der Steuerung von Verkehr, der Allokation von humanitären Hilfsgütern oder Sozialleistungen, der Festlegung des Strafmaßes bei Angeklagten, der Einschätzung der Kreditwürdigkeit von Konsument*innen oder der Bewertung von Beschäftigten. Konzepte wie algorithmische Regulierung, algorithmische Governance und algorithmisches Management versuchen, die soziale Ordnungsfunktion von Algorithmen zu bestimmen. Algorithmen werden im Kontext dieses Artikels verstanden als computergestützte Verfahren der Wissensproduktion, die sich durch eine besondere Komplexität auszeichnen. Was als besonders komplex gilt, variiert je nach Kontext: Komplexität kann entstehen, wenn Daten verarbeitet werden, die als besonders groß oder neuartig gelten. Eine besondere Komplexität kann auch im Analyseverfahren angelegt sein. So gilt der Einsatz von maschinellem Lernen in vielen Bereichen als besonders komplexe Form der Wissensgenerierung. Wichtig ist, dass es keine bereichsübergreifende Definition davon gibt, ab wann computergestützte Verfahren als Algorithmen gelten.1 Der hier verwendete Algorithmen-Begriff ist breiter definiert als es in der Informatik üblich ist,2 um nicht allein eng abgesteckte Artefakte zu bezeichnen, sondern auch deren gesellschaftliche Zuschreibungen zu umfassen. Dass immer mehr soziale Bereiche digitalisiert werden und somit durch Algorithmen geprägt sind, findet in der öffentlichen Debatte zunehmend Aufmerksamkeit. Welche gesellschaftlichen Folgen daraus entstehen, wird dabei kontrovers diskutiert. So gibt es technikfreundliche Deutungen, die in erster Linie positive gesellschaftliche Wirkungen sehen, da sie etwa davon ausgehen, dass gesellschaftliche Koordination durch Algorithmen zunehmend effektiv, effizient und inklusiv wird. Entsprechende Narrative werden in erster Linie durch Unternehmen und unternehmensnahe Stiftungen propagiert,3 durch internationale Organisationen

1 So umfasst der sogenannte Facebook-Algorithmus etwa große Datenmengen, unstrukturierte Daten und maschinelles Lernen. Das automatisierte Verfahren zur Bewertung der Arbeitsmarktchancen von arbeitslosen Personen in Österreich verwendet wiederum weder besonders große noch unstrukturierte Daten, gilt aber aufgrund des maschinellen Lernens als Algorithmus. 2 Eine klassische Informatik-Definition versteht Algorithmen als die regelgeleitete rechnerische Umwandlung eines Inputs in einen Output unter den Bedingungen von Bestimmtheit, Einfachheit und Endlichkeit. Jede Software beruht auf Algorithmen, doch umfasst eine Software mehr als einen Algorithmus (Dourish 2016). 3 O'Reilly 2013. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020, S. 255 – 278

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wie etwa die OECD4 sowie durch einen Strang der public policy Forschung.5 Demgegenüber stehen technikskeptische Interpretationen, die Algorithmen dafür kritisieren, unter dem Deckmantel einer vorgetäuschten Objektivität depolitisierend zu wirken, Machtstrukturen zu verschleiern und soziale und politische Ungleichheiten zu verfestigen.6 Unter Politisierung versteht dieser Beitrag den Prozess, einen sozialen Sachverhalt in zwei Hinsichten zu konstruieren: erstens als kontingent und zweitens als prinzipiell zugänglich für kollektiv bindende Entscheidungen. Kontingenz bedeutet in diesem Zusammenhang die Einsicht, dass ein sozialer Gegenstand auch anders gestaltet sein könnte.7 De- oder Entpolitisierung ist im Gegensatz dazu die Konstruktion eines sozialen Sachverhalts als erstens unveränderbar und/oder zweitens nicht zugänglich oder relevant für kollektiv bindende Entscheidungen. Dabei betonen gegenwärtige Theoretisierungen von Politisierung und Depolitisierung, dass die entsprechenden Zuschreibungen, Wahrnehmungen, Praktiken und Regeln beständig reproduziert und aufrechterhalten werden müssen.8 Gesellschaftliche Transformationen wie etwa die Digitalisierung bringen somit Impulse, die bestehende Deutungen sozialer Sachverhalte als politisch oder unpolitisch entweder verändern oder auch verfestigen können. Der Beitrag widmet sich also der Frage, in welchem Verhältnis Algorithmen und Prozesse der De- und (Re-)Politisierung stehen. Diese Arbeit entwickelt hierfür die Unterscheidung zwischen einer (De-)Politisierung durch Algorithmen und einer (De-)Politisierung von Algorithmen. Die Politisierung durch Algorithmen betrifft in erster Linie soziale Normen; Algorithmen bieten lediglich den Anlass, diese zu politisieren. Politisierung von Algorithmen zielt stattdessen direkt auf den Algorithmus, also die Art und Weise, wie er gestaltet ist und in welchem Kontext er eingesetzt wird. Die zentrale These des Beitrags ist, dass Algorithmen anders als in Pauschalurteilen nicht per se depolitisierend wirken. Stattdessen führt die De-Politisierung sozialer Normen durch Algorithmen auch zu Politisierungsprozessen von und durch Algorithmen: Soziale Normen, die unwidersprochen waren, werden (erneut) infrage gestellt, und die konkrete Gestaltung von Algorithmen und ihrer Nutzung wird problematisiert. Das folgende Kapitel fasst den wissenschaftlichen Diskurs zusammen, der sich der ordnungsbildenden Funktion von Algorithmen widmet und arbeitet die kontroverse, aber dennoch dominante Bewertung von Algorithmen heraus, die diese als eine Form technokratischen Regierens und somit als grundlegend depolitisierend ansieht. Das dritte Kapitel entwickelt einen Analyseansatz, der Algorithmen als eine Formalisierung und Quantifizierung gesellschaftlicher Normen und Verfahrensregeln konzeptualisiert. Auf dieser Grundlage arbeiten vier Fallstudien he4 OECD 2015. 5 Schintler, Kulkarni 2014. 6 Algorithm Watch und Bertelsmann Stiftung 2019; Dencik et al. 2018; Tactical Tech 2019. 7 Hay 2013; Haunss, Hofmann 2015. 8 Selk 2011.

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raus, wie Algorithmen Anlass für und Gegenstand von Politisierungsprozessen wurden. Die Fälle stammen aus dem staatlichen Herrschaftsbereich (Rechtsprechung und Sozialpolitik) sowie aus dem privatwirtschaftlichen Bereich (Beschäftigtenkontrolle und Bonitätsprüfung). Das vierte Kapitel arbeitet aufbauend auf den Fallstudien und unter Einbeziehung technikwissenschaftlicher Konzepte heraus, welche Eigenschaften von Algorithmen diese zum Anlass der Politisierung sozialer Normen machen, etwa Quantifizierung, Nachvollziehbarkeit und Intelligibilität. Das Fazit fasst die Befunde zusammen und diskutiert sie mit Blick auf den Diskurs über die Regulierung von Algorithmen. 2. Algorithmen und Depolitisierung Anders als im täglichen Sprachgebrauch, in dem Depolitisierung negativ konnotiert ist, muss man aus sozialwissenschaftlicher Perspektive festhalten, dass Depolitisierung ein notwendiger Bestandteil demokratischer Gesellschaften ist. So sind demokratische Entscheidungen meist Antworten auf Gestaltungsanforderungen, die für eine gewisse Zeit Bestand haben, selbst wenn damit verbundene politische Konflikte nicht aufgelöst werden. Moderne Gesellschaften wären damit überfordert, alle sozialen Sachverhalte beständig zu politisieren; der Koordinationsaufwand wäre unermesslich. Darüber hinaus benötigen gesellschaftliche Strukturen eine gewisse Stabilität, um ihre (durchaus veränderlichen) Zwecke zu erfüllen. Trotz dieses prinzipiell normfreien Verständnisses von Depolitisierung gibt es auch im akademischen Diskurs kritische Deutungen, die eine übermäßige Depolitisierung für gesellschaftliche Ungleichheiten und Demokratieverfall verantwortlich machen. An diese Narrative schließt die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Algorithmen an, die diese als Vehikel für depolitisierende Formen der Ordnungsbildung ansieht. 2.1 Algorithmen und Ordnungsbildung Dass Computersysteme in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen eine Funktion der sozialen Ordnungsbildung haben, ist kein neues Thema wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Es reicht vielmehr bis in die frühe Zeit der Entwicklung der ersten Großcomputer zurück9 und wurde etwa in den verschiedenen Phasen des Kybernetikdiskurses immer wieder virulent.10 Im Zuge einer immer umfassenderen Digitalisierung spätmoderner Gesellschaften seit den 1990er Jahren sind zahlreiche wissenschaftliche Konzepte entstanden, die der Ordnungsbildungsfunktion von Computerprogrammen Rechnung tragen wollen und sie zu spezifizieren suchen. Dazu zählt etwa die Beobachtung des Rechtswissenschaftlers Lawrence Lessig, dass ein Computercode eine ähnlich einflussreiche (aber andersartige) Form der gesellschaftlichen Gestaltung ist wie Recht – zusammengefasst in der vielzitier-

9 Medina 2014; Pickering 2011. 10 August 2018; Seibel 2016. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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ten Formel »code is law«.11 In den letzten zehn Jahren wurde der Gedanke weiterentwickelt und hat Konzepte wie algorithmic governance,12 algorithmic regulation13 und algorithmic management14 hervorgebracht. Im Vergleich zu älteren Konzepten sind sie stärker sozialwissenschaftlich fundiert und gehen zudem auf die Besonderheiten von Computerprogrammen an der Schwelle und zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein. Obwohl die Konzepte von algorithmischer Regulierung und Governance unterschiedliche Definitionen und Schwerpunkte haben, weisen sie Gemeinsamkeiten auf: Ihr Gegenstand sind die Prozesse und Strukturen sozialer Ordnungsbildung, die unter Verwendung computerbasierter Berechnungsverfahren entstehen.15 Sie betonen zudem bestimmte technische Aspekte der algorithmischen Wissensproduktion: Dazu zählt etwa die Strukturierung sozialer Wirklichkeit mithilfe mathematischer Modelle, denen häufig Wahrscheinlichkeitstheorien zugrunde liegen;16 ein Fokus auf Mustererkennung (zulasten theoretischer Fundierung);17 Risikoanalysen; Inferenzrechnungen sowie maschinelles Lernen.18 Zu den Besonderheiten algorithmischer Governance gehören neben den benannten epistemischen Praktiken auch bestimmte Weltbilder und Normen, die bestimmte Gestaltungsansprüche und Anwendungspraktiken befördern. So zeichnet sich algorithmische Governance häufig durch starke zukunftsorientierte Gestaltungsansprüche aus und beansprucht, vorbeugend (»präemptiv«) tätig zu werden.19 Weitere Erwartungen, die mit algorithmischer Governance verbunden werden, sind die höhere Objektivität, Neutralität und Validität algorithmischer Berechnungen gegenüber Berechnungen und Bewertungen, die durch Menschen durchgeführt werden.20 Wie im Folgenden dargelegt wird, sehen kritische Analysen Algorithmen entsprechend als Instrument, das Regieren technokratischer macht. 2.2 Algorithmen und technokratisches Regieren Zahlreiche Autor*innen, die sich jüngst den Besonderheiten der Ordnungsbildung durch Algorithmen gewidmet haben, betonen, dass diese – entgegen anderslautender Versprechen – de facto einer technokratischen Regierungsweise Vorschub leistet und Depolitisierung fördert. Zwar galten das Internet und digitale Technologien in den 1990er und frühen 2000er Jahren als ermöglichende Faktoren für ge-

11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Lessig 1999. Just, Latzer 2016; Katzenbach, Ulbricht 2019; König 2018. Yeung 2018. Lee et al. 2015. Für einen Überblick über die drei Konzepte und ihre empirischen Forschungsgegenstände siehe Katzenbach, Ulbricht 2019 und Eyert, Irgmaier, Ulbricht 2020. MacKenzie 2015. Anderson 2008. Kitchin 2013. Anderson 2010. boyd, Crawford 2012.

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sellschaftliche Inklusion und politische Partizipation.21 Doch obwohl diese Versprechen nicht verstummt sind, weisen Meta-Studien über das partizipatorische Potenzial von digitalen Technologien darauf hin, dass viele der entsprechenden Hoffnungen enttäuscht wurden.22 Kelty verurteilt das Versprechen der Partizipation durch digitale Technologien sogar als motiviert und zynisch,23 da es Machtasymmetrien verschleiere und Bürger*innen zudem responsibilisiere, indem sie über die Maßen für Prozesse verantwortlich gemacht würden, die außerhalb ihres Einflusses lägen.24 Im starken Kontrast zum Partizipations-Versprechen identifiziert Vincent August digitale Technologien vielmehr als zentralen Stützpfeiler technokratischen Regierens, der seit 40 Jahren dominanten Herrschaftsform.25 Digitale Technologien sind hier Elemente einer Form des kybernetisch inspirierten Regierens, das auf Expertise und Repräsentation bei geringer Responsivität setzt. Zahlreiche gesellschaftstheoretische Deutungen der Digitalisierung beschreiben die Ausprägungen der Verbindung zwischen Digitalisierung, technokratischer Herrschaft und Depolitisierung. Dazu zählen etwa die durch digitale Technologien beförderte Individualisierung, die Abnahme kollektiver und ideologischer Bindungen,26 die zunehmende Ansprache von Bürger*innen als Konsument*innen und die damit einhergehenden ökonomischen (und nicht politischen) Subjektivierungen.27 Die technokratische Prägung digital gestützter Herrschaft beruht zudem darauf, dass transnationale Technologieunternehmen immer weniger sozial eingebettet sind und politisch (noch) wenig kontrolliert werden. Angesichts ihrer häufig oligo- oder gar monopolistischen Marktmacht entstehen Kritiker*innen zufolge Herrschaftsräume bar jeder Volkssouveränität.28 Deren zunehmender gesellschaftlicher Einfluss wird jedoch durch vielfältige Formen der Opazität verschleiert. Die Intransparenz betrifft Unternehmensstrukturen, public-private partnerships, datenbezogene Praktiken und nicht zuletzt Algorithmen.29 Auch für die Autor*innen, die das Konzept der algorithmischen Governance beziehungsweise Regulierung geprägt haben, ist dessen Depolitisierungspotenzial ein zentrales Motiv: Evgeny Morozov analysiert das aus dem Silicon Valley inspirierte Politikverständnis, das gesellschaftlichen Konsens durch technisch erzeugte Objektivität und Validität herstellen will und politischen Konflikt zu vermeiden 21 Schrape 2019. 22 Boulianne 2015. 23 Wenn formal digitale Partizipationswege eröffnet werden, die faktisch aber kaum beschritten werden können, interpretieren herrschende Eliten dies als mangelnden Willen zur Partizipation beziehungsweise als Zustimmung zu den bestehenden gesellschaftlichen Strukturen. 24 Kelty 2017. 25 August 2018. 26 Reckwitz 2008. 27 Maxton-Lee 2020; Ulbricht 2020; Staab 2019. 28 Zuboff 2019. 29 Pasquale 2015; Ananny, Crawford 2017. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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sucht. Regieren wird mit effektiver Problemlösung gleichgestellt – ein undemokratisches Politikverständnis, wie er kritisiert.30 Auch Pascal König charakterisiert algorithmische Governance als inhärent autonomiegefährdend und technokratisch.31 Zahlreiche Einzelstudien zu bestimmten Formen algorithmischer Ordnungsbildung stützen das Technokratie-Narrativ: Sie arbeiten heraus, dass algorithmische Verfahren zur Bewertung von Bürger*innen die jeweils geltenden Normen und Verfahrensregeln verschleiern,32 das Primat der Kosteneffizienz und Rationalisierung stärken33 und zudem politische Kommunikation Markt- und Marketingprinzipien unterordnen.34 Fleur Johns fasst pointiert zusammen, dass bei der Entwicklung algorithmischer Systeme die zentralen politischen Fragen bezüglich der Ziele und Nutznießer von Regulierung (Who gets what, when and how35) nur selten im Zentrum stehen und sich die Entwicklung vielmehr um die Optimierung von Zielfunktionen und die Validität dreht.36 Lena Ulbricht schließlich sieht algorithmische Verfahren, die durch politische Eliten zur Evidenzgewinnung über Bevölkerungen eingesetzt werden, als eine Praxis, die nicht nur technokratisches Regieren stützt und zu Depolitisierung beiträgt, sondern letztlich zahlreiche Trends füttert, die als Treiber der post-demokratischen Transformation gelten.37 Allerdings haben sich auch Widerstände gegen algorithmische Verfahren gezeigt38 und Algorithmen werden durchaus als Instrumente politischen Widerstands genutzt.39 Zudem haben sich in den letzten vier Jahren die interdisziplinären Forschungsfelder der critical algorithm studies sowie der FAccT-ML (fairness, accountability and transparency in machine learning) entwickelt, die die konkrete Gestaltung von Algorithmen problematisieren. Vor diesem Hintergrund gilt es zu analysieren, wie genau das Verhältnis zwischen (De-)Politisierung und Algorithmen charakterisiert werden kann, um pauschale Bewertungen von Algorithmen als Treiber der Depolitisierung abzulösen. 3. Algorithmen und Politisierung Will man das Verhältnis zwischen Algorithmen und Politisierung verstehen, kann man Algorithmen erstens nicht holistisch betrachten, also als für sich stehende Artefakte. Man kann sie auch nicht als Werkzeug oder autonome Agenten verstehen: 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

Morozov 2014. König 2018. Algorithm Watch und Bertelsmann Stiftung 2019. Dencik et al. 2018. Tactical Tech 2019. Lasswell 1936. Johns 2017. Ulbricht 2020. Milan 2018. Karpf 2016.

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Maschinen sind nicht reines Werkzeug der Menschen und Menschen wiederum nicht Vollstrecker maschineller Entscheidungen. Entsprechende Lesarten führen zu pauschalisierten Urteilen von Algorithmen als Instrumenten der Depolitisierung (oder seltener: des Widerstands). Für eine differenzierte Analyse ist hingegen ein technikwissenschaftlicher Zugriff hilfreich, der Algorithmen in Anlehnung an Bruno Latour vielmehr als Elemente in komplexen sozio-technischen Systemen40 versteht, die sich aus menschlichen und maschinellen Agenten zusammensetzen und die zahlreiche Verschränkungen aufweisen. Aufbauend auf Arbeiten, die Algorithmen als Institutionen ansehen,41 und Arbeiten, die die Einbettung von Algorithmen in Organisationen und Verwaltungsprozesse unterstreichen,42 werden Algorithmen im Folgenden von mir als technische Formalisierung und Quantifizierung von Verfahrensregeln verstanden, aus denen sich gesellschaftliche Normen beziehungsweise Organisationsnormen ablesen lassen. Dieser Zugang lenkt den Blick auf die zahlreichen Komponenten algorithmischer Verfahren und Praktiken, etwa die Datenbasis, die Berechnungsverfahren, die Interpretation von Informationen, die Transparenz des gesamten Systems etc. Aus dieser Sicht lassen sich Kontroversen über Algorithmen als Politisierung gesellschaftlicher Normen verstehen, wie im Folgenden anhand von Fallstudien expliziert wird. Die Fälle wurden nicht mit Blick auf Repräsentativität ausgewählt, sondern vielmehr mit dem Ziel, wichtige Kontroversen im deutsch- und englischsprachigen Raum abzubilden. Leitend war hierbei der Anspruch, dass es sich um Fälle handelt, die eine gesamtgesellschaftliche Tragweite haben; was zum Ausschluss von Fällen führte, in denen in erster Linie individuelle Konsequenzen von Algorithmen thematisiert wurden. Darüber hinaus wurden Beispiele aus dem staatlichen wie aus dem privatwirtschaftlichen Herrschaftsbereich untersucht, die zudem unterschiedliche Herrschaftsfunktionen umfassen: Sanktion und Redistribution im staatlichen Bereich; Mitbestimmung und Marktteilnahme im privatwirtschaftlichen Bereich. Die Beispiele umfassen je eine kurze Charakterisierung des algorithmischen Verfahrens, dann eine Beschreibung der umstrittenen Ordnungsstrukturen – unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Normen, die anhand von Algorithmen problematisiert werden und mit Blick auf die Eigenschaften der jeweiligen algorithmischen Verfahren, die kritisiert werden. Schließlich werden in allen Fällen die geäußerten politischen Forderungen beschrieben. 3.1 Politisierung von Algorithmen im staatlichen Herrschaftsbereich Anhand des weiter unten beschriebenen COMPAS Scores lässt sich untersuchen, wie anhand von Algorithmen komplexe und sensible Entscheidungen über die Bewertung des gesellschaftlichen Risikos von Angeklagten und deren Sanktionierung de- und re-politisiert werden. Zentrale Normen, die hier verhandelt wurden, wa-

40 Latour 1990. 41 Orwat et al. 2010; Napoli 2014; Katzenbach 2017; Ulbricht et al. 2018. 42 Totaro, Ninno 2014; Caplan, boyd 2018. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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ren rassistische Diskriminierung und Armut im Zusammenhang mit der Gleichheit vor dem Recht. Rechtsprechung (COMPAS) Ein Fall von algorithmischer Regulierung im staatlichen Herrschaftsbereich, zu dem bereits viel Forschung vorliegt, ist der Einsatz von Algorithmen in der Rechtsprechung, wie er in den USA üblich ist. Konkret werden in entsprechenden Verfahren individuelle Risiken der Strafrückfälligkeit von Angeklagten berechnet und in Risikoscores aggregiert, die Richter*innen bei der Urteilsfindung zur Verfügung stehen. Zwar gibt es unterschiedliche Befunde darüber, in welchem Ausmaß Richter*innen ihre Urteile auf Scores stützen, doch bedeutet der Score selbst bereits eine Kontingenzschließung der komplexen Bewertung des gesellschaftlichen Risikos, das von einer angeklagten Person ausgeht. Die konkreten Verfahren variieren je nach Bundesstaat und es gibt unterschiedliche Softwares. Zwei weit verbreitete sind etwa der LSI (level of service inventory) sowie der COMPAS Score. Letzterer gab im Jahr 2016 Anlass zu einer großen öffentlichen Kontroverse, nachdem Journalist*innen nach einer aufwändigen Analyse zum Ergebnis kamen, dass der Score rassistisch diskriminiert, indem er unterschiedliche Fehlerquoten für weiße und schwarze Angeklagte generiert, zu Ungunsten letzterer.43 Die entsprechende mediale und wissenschaftliche Kontroverse betraf zahlreiche Aspekte des algorithmischen Systems: Zum einen wurde zum ersten Mal in Mainstream-Medien ausführlich problematisiert, dass Algorithmen das Versprechen der Objektivität nicht einlösen können, solange sie auf Datensätzen operieren, die gesellschaftliche Ungleichheiten aufweisen und in denen Straffälligkeit nach race ungleich verteilt ist. Eine wichtige Erkenntnis über algorithmische Systeme, die öffentlich intensiv diskutiert wurde, war, dass es nicht ausreicht, offensichtlich diskriminierungsrelevante Informationen aus Datensätzen auszuschließen. Denn weitere Informationen, die auf den ersten Blick nicht diskriminierungsrelevant erscheinen, etwa der Wohnort, die berufliche Laufbahn oder eben die Strafgeschichte, können als Indikatoren (proxies) für sensible Informationen wie Geschlecht und ethnischer Hintergrund auftreten und zu diskriminierenden Ergebnissen führen.44 Dass vermeintlich neutrale Risikoscores die subjektiven und möglicherweise rassistisch diskriminierenden Einstellungen von Richter*innen korrigieren können, steht seitdem zur Disposition. In einem zweiten Schritt wurden jedoch noch weitere Aspekte der Verwendung algorithmischer Scores in der Rechtsprechung problematisiert, wie etwa die Ausweitung auf immer mehr Anwendungskontexte, etwa von der Wahl zwischen Sicherheitsverwahrung und Freilassung auf Kaution hin zu Entscheidungen über das Strafmaß oder die Höhe einer etwaigen Kaution. Dies wurde als Zweckentfremdung kritisiert, die nicht valide sei (function creep) und soziale Ungleichheiten zementiere, da arme Populationen weniger Möglichkeiten haben, Kautionsgebühren zu zahlen. Dieser Konflikt bezüglich der allgemeinen Aus43 Angwin et al. 2016; Larson et al. 2016. 44 Barocas, Nissenbaum 2014.

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weitung von Kautionszahlungen besteht nicht allein im Zusammenhang mit algorithmisch generierten Risikoscores, wurde anhand dieser jedoch neu ausgetragen. Darüber hinaus wurde infrage gestellt, dass Risikoscores wie intendiert tatsächlich die Inhaftierungsrate verringern, indem Richter*innen verstärkt Resozialisierungsmaßnahmen verhängen. Auch dieses Versprechen der algorithmischen Risikoberechnungen scheint sich bislang nicht zu erfüllen. Schließlich hat die Politisierung des COMPAS-Scores zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Frage geführt, welchen Rationalitäten die Rechtsprechung folgt und wie zwischen verschiedenen Zielen, etwa Sanktion und Resozialisierung oder individueller versus gruppenbezogener Fairness, abgewogen wird. So wurde etwa kritisiert, dass der Einsatz von Risikovorhersagesoftware den Blick von Richter*innen verstärkt auf die Zukunft richtet, weg vom vergangenen Verhalten von Angeklagten. Eine derart veränderte Schwerpunktsetzung führt in der Praxis zu einer Neubewertung des sozioökonomischen Status von Angeklagten: In einer retrospektiven Rechtsprechung war Armut etwa ein mildernder Faktor; durch eine prospektive Linse wird sie jedoch zum belastenden Faktor.45 Der Konflikt zwischen verschiedenen Fairness-Maßen legt wiederum offen, dass möglichst präzise individuelle Vorhersagen zu gruppenspezifischen Benachteiligungen führen können.46 Die Forderungen in der Kontroverse über Risikoscores in der Rechtsprechung beziehen sich in erster Linie darauf, Diskriminierung und soziale Benachteiligung zu erkennen und zu reduzieren, indem entweder die Algorithmen verändert werden oder indem sie für bestimmte Zwecke gar nicht eingesetzt werden. Sozialpolitik (AMS) Ein weiterer staatlicher Bereich, in dem Algorithmen häufig Einsatz finden, ist die Bewertung der Empfänger*innen von Sozialleistungen. Ziel ist meist, Leistungen effektiver, effizienter und/oder gerechter zuzuweisen sowie Betrug zu bekämpfen. Ein Beispiel, das im deutschsprachigen Raum eine heftige Kontroverse über Geschlechterdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und die Ausrichtung des Solidarprinzips ausgelöst hat, war der sogenannte AMS-Algorithmus. Dieser bezeichnet die softwaregestützte Beurteilung der Arbeitsmarktchancen von Arbeitslosen durch den österreichischen Arbeitsmarktservice (AMS). Im Zentrum der Kontroversen stand zum einen die Frage, ob die Zuweisung von Sozialleistungen eher einer Logik der Kosteneffizienz folgen sollte, wie sie der AMS-Algorithmus verfolgt, oder vielmehr einer Logik der Bedürftigkeit unterworfen sein müsste.47 Dies lief in der Debatte auf die Frage hinaus, ob bei begrenzten Fördermitteln eher besonders arbeitsmarktnahe oder vielmehr arbeitsmarktferne Populationen gefördert werden sollen. Denn die Software teilt arbeitslose Personen in drei Gruppen ein, die sich nach den vorhergesagten Chancen der erneuten Arbeitsmarktintegra-

45 Skeem, Scurich, Monahan 2019. 46 Dwork et al. 2012. 47 Cech et al. 2019. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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tion unterscheiden: hohe, mittlere und niedrige Chancen.48 Die mittlere Gruppe erhält ab 2020 die meisten Förder-Ressourcen. Das Argument des AMS ist, dass die Angehörigen der Gruppe mit hohen Integrationschancen eigenständig einen Job finden könnten und dass jene mit niedrigen Chancen kaum vermittelbar seien.49 Eine weitere Kontroverse betraf eine mögliche Benachteiligung von Frauen. In die Berechnung der Integrationswahrscheinlichkeit fließen die Merkmale Geschlecht, Altersgruppe, Staatengruppe, Ausbildung, gesundheitliche Beeinträchtigung, Betreuungspflichten und Berufsgruppe ein. Anders als im Fall des COMPAS-Scores, in dem ethnische Merkmale nicht explizit im Datensatz enthalten sind, sondern vielmehr latent in Erscheinung treten, wird das Merkmal Geschlecht, das nach deutschem und österreichischem Antidiskriminierungsrecht relevant ist, explizit in die Berechnung aufgenommen. Da das weibliche Geschlecht zu einem schlechteren Integrationswert beiträgt, wurde der AMS-Algorithmus als diskriminierend kritisiert. Der AMS wehrte sich gegen diesen Vorwurf mit dem Verweis, nicht der Algorithmus sei sexistisch, sondern der Arbeitsmarkt.50 Da das Modell mit Daten über Arbeitsmarktintegration der vergangenen vier Jahre entwickelt wurde, spiegele es lediglich bestehende soziale Ungleichheiten wider, ohne diese jedoch normativ zu unterstützen. Kritiker*innen zufolge ist es aber nicht legitim, entsprechende Benachteiligungen durch Software zu zementieren51 und auch nicht zulässig, in der Sozialpolitik Einzelfallentscheidungen auf der Grundlage von statistischen Wahrscheinlichkeiten zu treffen.52 Selbst wenn es durchaus möglich ist, dass AMS-Mitarbeiter*innen in der Vergangenheit ähnliche Rationalitäten in der Entscheidungsfindung angewendet haben, sehen Kritiker*innen in ihrer algorithmischen Formalisierung eine andere Qualität und stellen infrage, dass Versicherungslogiken und die Priorisierung von Kosten-Nutzen-Rechnungen auf die Sozialpolitik übertragen werden. Eine Forderung, die wie im COMPASFall auch mit Blick auf den AMS-Algorithmus mehrfach geäußert wurde, war, dass die Effekte des Algorithmus auf vulnerable Populationen besser erforscht und öffentlich gemacht werden müssten. Andernfalls seien verdeckte Formen der Diskriminierung möglich und Betroffene könnten sich nicht wehren.

48 In die H(och)-Gruppe werden arbeitslose Personen eingeteilt, die einen berechneten Integrationschancen-Wert (IC-Wert) von über 66% besitzen – dieser Wert gibt die Wahrscheinlichkeit aus einer kurzfristigen Perspektive an, nach der eine Person innerhalb der nächsten sieben Monate 90 Beschäftigungstage aufweisen kann. In die N-Gruppe (mit niedrigen Chancen) werden arbeitslose Personen eingeteilt, bei denen die Wahrscheinlichkeit aus einer langfristigen Perspektive weniger als 25% beträgt, 180 Beschäftigungstage (6 Monate) in 2 Jahren aufweisen zu können (Holl, Kernbeiß, Wagner-Pinter 2018). 49 Holl, Kernbeiß, Wagner-Pinter 2018. 50 Wimmer 2018. 51 Ebd. 52 Cech et al. 2019.

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3.2 Politisierung von Algorithmen im privatwirtschaftlichen Herrschaftsbereich Zwei privatwirtschaftliche Anwendungsbereiche von algorithmischer Regulierung, die in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, für besonders große Kontroversen sorgen, sind die algorithmisch gestützte Steuerung von Mitarbeiter*innen und die algorithmisch gestützte Bonitätsprüfung von Konsument*innen. Beschäftigtenkontrolle (Zonar) Unternehmen nutzen zunehmend Software, um ihre Beschäftigten zu bewerten. Ein Beispiel ist der Modevertrieb Zalando, der das System »Zonar« einsetzt, um die Leistung seiner Mitarbeiter*innen zu bewerten und auf dieser Grundlage Entscheidungen über deren Karriereentwicklung und Entlohnung zu treffen. Dies hat zur De- und Re-Politisierung mit Blick auf betriebliche Mitbestimmung und Lohngerechtigkeit geführt. Ein zentrales Element der Software ist die Extraktion und Kombination horizontaler Bewertungsdaten (worker-coworker-ratings) und deren automatisierte Verarbeitung zu individuellen Scores als Basis für eine Dreiteilung der Belegschaft.53 Aus Sicht der Unternehmensleitung ist die Bewertung von Mitarbeiter*innen nun fairer als früher, da sie nicht mehr nur durch die unmittelbaren Vorgesetzten, sondern unter Einbeziehung von mehr Perspektiven, etwa von Kolleg*innen, Kund*innen und Führungskräften und auf Grundlage eines breiteren Sets an Indikatoren vorgenommen wird.54 Eben jene algorithmische Formalisierung der komplexen Bewertung von Mitarbeiter*innen gab in Deutschland jedoch den Anlass, die firmeninternen Bewertungsmechanismen von Zalando zu hinterfragen. Gewerkschaften kritisierten die Software als einseitig manipulierbar durch die Geschäftsleitung, als intransparent und als benachteiligend. Zonar sei so entworfen, »dass es die von Seiten des Managements gewünschten Ergebnisse produziert«,55 beispielsweise indem Kategorien strategisch gesetzt würden. Zonar sei zudem darauf angelegt, »eine spezifische Struktur sozialer Ungleichheit innerhalb der Belegschaft herzustellen, die (…) das Entgeltgefüge im Unternehmen strukturiert.«56 So werde die Anzahl der Top-Performer gering gehalten (max. 2-3%).57 Kritik gab es auch an der andauernden Überwachung, Kontrolle und gegenseitigen Bewertung am Arbeitsplatz und den damit einhergehenden negativen Folgen für das Betriebsklima. Kritisiert wurden auch die Objektivierung subjektiver Bewertungen sowie die Legitimierung großer Entgeltungleichheiten. Zonar ermögliche eine neue Qualität betrieblicher Herrschaft: »Analytisch formuliert, 53 Staab, Geschke 2019. Als Datengrundlage dienen »drei Formen hochfrequenter Echtzeitbewertungen«, »umfangreiche periodische Mitarbeiterbeurteilungen« sowie Daten aus der Produktion wie die »Anzahl an abgeschlossenen Tätigkeitsschritten wie die Bearbeitung oder Verarbeitung eines Produktes« (Staab, Geschke 2019, S. 32, 55). 54 Hagelüken, Kläsken 2019. 55 Staab, Geschke 2019, S. 29. 56 Ebd., S. 32. 57 Ebd. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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wird Arbeitskontrolle in diesem Zusammenhang horizontalisiert und damit wesentlich umfassender, persönlicher, aber zugleich auch abstrakter, da die eigentliche vertikale Herrschaftsbeziehung in den Hintergrund tritt«.58 Neben einer Leistungsvermessung beinhalte Zonar eine Bewertung des gesamten Verhaltens und der ganzen Persönlichkeit.59 Die Gewerkschaft ver.di nutzte die Kontroverse, um darauf aufmerksam zu machen, dass sie in technologiezentrierten Unternehmen wie Zalando und Amazon Beschäftigtenrechte grundlegend gefährdet sehe: »Unternehmen wie Zalando und Amazon müssen endlich begreifen, dass Beschäftigte Rechte haben, die sie respektieren müssen. Dazu gehört das Recht auf einen Tarifvertrag und Tariflöhne, auf humane Arbeitsbedingungen und den Schutz von privaten, sensiblen Daten«.60 Entsprechend forderte ver.di die Beschäftigten von Zalando erneut auf, sich gewerkschaftlich zu organisieren.61 Eine weitere Forderung der Gewerkschaften und der Berliner Datenschutzaufsichtsbehörde war, die Software darauf zu überprüfen, ob sie datenschutzrechtkonform sei.62 Weitere allgemeine Vorschläge waren, entsprechende Software zur Bewertung von Mitarbeiter*innen firmenintern transparenter zu machen und demokratischer zu verankern, indem Datenschutzbeauftragte und Betriebsräte sowie die Belegschaft besser integriert werden – in die Entwicklung der Software, in die Entscheidung diese einzusetzen und in der täglichen Anwendungs- und Interpretationspraxis. Da Zonar in der Debatte auch als Platzhalter für ähnliche Software in anderen Unternehmen diskutiert wurde, gab es den Ruf nach neuen gesetzlichen Bestimmungen, die den Beschäftigtendatenschutz im Kontext von Bewertungsalgorithmen stärken und die Rolle von Betriebsräten im Datenschutz stützen sollen.63 Eine weitere Forderung war, Bewertungssysteme wie Zonar stärker kooperativ und unter Mitwirkung von Beschäftigten und Betriebsräten zu entwickeln, um ihre Akzeptanz zu erhöhen.64 Bonitätsprüfung (Schufa) Ein weiterer gesellschaftlicher Kontext, in dem Algorithmen seit vielen Jahren eine wichtige Rolle spielen, ist die Bewertung von Konsument*innen anhand sogenannter Bonitätsscores und den Implikationen für deren Zugang zu Märkten. Eines der großen Unternehmen, die Scores für den deutschen Markt verkaufen, ist die Schufa Holding AG. Sie verfügt eigenen Angaben zufolge über Informationen zu 66,3 Mio. deutschen Verbrauchern, die sie zu Bonitätsscores verarbeitet und an Firmenkunden verkauft, darunter insbesondere Banken, Kreditkartenunterneh58 59 60 61 62 63 64

Ebd., S. 27. Staab, Geschke 2019, S. 16. Ver.di 2019. Ebd. Koenigsdorff 2019. Ebd. Stucke 2019.

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men, Telekommunikationsanbieter, Versicherungen, Onlinehändler sowie Inkassobüros.65 Nach Unternehmensangaben stehen zur Berechnung von Bonitätsscores insgesamt 200 Einzelvariablen zur Verfügung; in individuelle Scores fließen jedoch nicht alle Variablen ein, sondern stets eine Teilmenge.66 Da der Zugang von Konsument*innen zu wichtigen Dienstleistungen und Produkten, wie etwa Krediten, Handyverträgen und Mietwohnungen, vom Schufa-Score abhängt, hat es immer wieder Versuche gegeben, die Rationalität der Schufa-Scores durch Rechtsklagen öffentlich zu machen. Das letzte Gerichtsverfahren, das die grundlegende Transparenz der Schufa-Scores verhandelte, endete 2014 mit dem Urteil, diese seien ein berechtigtes Geschäftsgeheimnis und die von der Schufa veröffentlichten Informationen über die Art der Daten, die sie verarbeitet, seien ausreichend.67 In den USA, in dem Bonitätsscores sogar über den Zugang zu Krankenversicherungen, Arbeitslosigkeitsversicherungen und Rentenversicherungen bestimmen, gibt es ebenfalls zunehmend Kritik an der mangelnden Transparenz und Kontrolle der Scores sowie die Vermutung, dass diese soziale Ungleichheiten verstärken.68 Und auch in Deutschland ist die Kritik am Schufa-Score nach dem Gerichtsurteil von 2014 nicht verstummt. 2018 lancierte der Verein AlgorithmWatch in Zusammenarbeit mit Spiegel Online die Initiative OpenSCHUFA. Ziel war es, die Rationalität des Scores zu analysieren und mögliche Diskriminierungen offenzulegen. Das Projekt beruhte auf Datenspenden durch Konsument*innen, die dem Projekt ihre Scores zur Verfügung stellten. Aufgrund einer wenig repräsentativen Datenbasis konnte das Projekt nur Befunde von sehr begrenzter Validität liefern. Eine Erkenntnis war, dass die Schufa für Einzelpersonen zum Teil nur auf wenige Informationen zugreifen kann, was als Anlass genommen wurde, die Validität der Scores infrage zu stellen. Schon länger gab es die Kritik mangelnder Validität wegen der Zweckentfremdung von Algorithmen und auch des Schufa-Scores (function creep): Ein Score, der die Wahrscheinlichkeit vorhersagt, eine Kreditrate fristgerecht zurückzuzahlen, könne nicht ohne weiteres umgedeutet werden als Wahrscheinlichkeit, Rechnungen oder Mieten zu bezahlen.69 Ein weiterer Befund der OpenSCHUFA-Initiative war, dass Alter und Geschlecht eine wichtige Rolle für den Score spielen könnten, doch gab es keine belastbaren Ergebnisse.70 Angesichts der mangelnden Validität der Befunde konzentrierte sich die öffentliche Debatte weniger auf materielle Benachteiligungen durch den Schufa-Score, sondern nahm vielmehr strukturelle Faktoren in den Blick. Die langjährige Kritik der mangelnden Transparenz der Schufa Holding gegenüber den betroffenen Konsument*in65 Schröder et al. 2014. 66 Ebd. 67 In den letzten Jahren hat es jedoch immer wieder Gerichtsverfahren darüber gegeben, welche Informationen die Schufa berücksichtigen darf und wann diese zu löschen sind. 68 Fourcade, Healy 2016; Brevoort, Grimm, Kambara 2015; Avery, Brevoort, Canner 2012. 69 Lischka, Klingel 2017. 70 OpenSCHUFA 2019. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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nen wurde durch den Aspekt der mangelnden Rechenschaft ergänzt: So forderten AlgorithmWatch und Spiegel Online, dass die gesetzlich vorgesehene Aufsicht durch die unabhängige Datenschutzbeauftragte in Hessen effektiver gestaltet werden müsse. Darüber hinaus brachte sie den Vorschlag ein, eine unabhängige Behörde mit der Aufsicht der Scores und ihrer gesellschaftlichen Wirkung zu beauftragen. Diese könnte gesellschaftliche Ansprüche auf Fairness und soziale Kohäsion mit dem Schutz von Geschäftsgeheimnissen zusammenbringen. Anders als bisher sollten die Schufa und Unternehmen, die eine ähnlich große gesellschaftliche Bedeutung haben, regelmäßig und umfassend überprüft werden. Eine solche Prüfung müsse sowohl die »mathematische/statistische Korrektheit des Verfahren« als auch die »Datenhaltung und Datenkonsistenz«, die »sozialen Auswirkungen durch mögliche Diskriminierungseffekte« und schließlich die »effektiven Einspruchsmöglichkeiten Betroffener« umfassen.71 Der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen schlug ebenfalls eine staatliche Digitalagentur vor, »(...) die unabhängig prüft, wie gut Algorithmen wirklich sind«.72 Zudem wurde eine Änderung des Datenschutzgesetzes gefordert: »Die Regelungslücke, dass die SCHUFA – und ähnliche Unternehmen – ihr Verfahren Betroffenen nicht erläutern muss, sollte geschlossen werden (...) Weil sie aufgrund des von ihrer errechneten Scores selbst keine Entscheidung trifft und/oder keine rein automatischen Entscheidungen aufgrund des Scores getroffen werden, muss das Scoring-Verfahren (Profiling) nicht erläutern werden. Dieser widersinnige Zustand muss behoben werden.«73 Eine ähnliche Forderung formulierte der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen: »Scoring-Anbieter sollen den Verbrauchern die für sie wesentlichen Merkmale, auf deren Basis sie gescort werden, sowie möglichst auch deren Gewichtung auf verständliche und nachvollziehbare Weise offenlegen.«74 In allen Fallstudien zeigt sich ein Prozess in drei Schritten: Eine De-Politisierung sozialer Normen durch den Einsatz von Algorithmen (Depolitisierung durch Algorithmen), verstanden als die Schließung von Kontingenzräumen durch eine Formalisierung von Entscheidungen in Form von Algorithmen beziehungsweise Software. Konkret betraf dies Entscheidungen bezüglich der Risikobewertung von Angeklagten, der Chancenbewertung von arbeitslosen Personen, der Leistungsbewertung von Mitarbeiter*innen und der Bonität von Verbraucher*innen. In einem zweiten Schritt wurden sodann die Algorithmen selbst kritisiert, etwa mit Blick auf die verwendeten Daten (verzerrt oder nicht), die Berechnungsverfahren (geeignet oder nicht), den Output (valide oder nicht) und deren Interpretation als Entscheidungsgrundlage (legitim oder nicht); dies ist die Politisierung von Algorithmen. In einem dritten Schritt (und meist parallel zum zweiten) erfolgt dann eine Kritik der sozialen Normen, die den jeweiligen Algorithmen zugrunde liegen, also 71 72 73 74

OpenSCHUFA 2019. Schnuck, Zierer 2018. OpenSCHUFA 2019. Schnuck, Zierer 2018.

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die (Re-)Politisierung durch Algorithmen. Entsprechende umstrittene Normen waren etwa Gleichheit vor dem Recht, Solidarprinzip, Mitbestimmung, Lohngerechtigkeit und verschiedene Dimensionen sozialer Ungleichheit. Kurz gefasst bedeutet dies also den Dreischritt De-Politisierung durch Algorithmen, Politisierung von Algorithmen, Re-Politisierung durch Algorithmen. Die daran anknüpfenden politischen Forderungen betrafen die Transparenz von Algorithmen, die Erforschung ihrer gesellschaftlichen Implikationen sowie Mitbestimmung und Aufsicht (Tabelle 1). Tabelle 1: Prozesse der De- und Re-Politisierung durch und von Algorithmen anhand der Fallbeispiele, eigene Darstellung De-Politisierung durch Algorithmen (depolitisierte Entscheidungen)

Re-Politisierung durch Algorithmen (umstrittene soziale Normen)

Politisierung von Algorithmen (Datenbasis, Berechung, Output)

Forderungen

COMPAS

Risikobewertung von Angeklagten

Diskriminierung, Armut

Verzerrter Datensatz

Transparenz, gesellschaftliche Implikationen

AMS

Chancenbewertung von arbeitslosen Personen

Geschlechterdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, Solidarprinzip

Verzerrter Datensatz

Transparenz, gesellschaftliche Implikationen

Zonar

Leistungsbewertung von Mitarbeiter*innen

Hierarchie, Mitbestimmung, Lohngerechtigkeit

Validität

Transparenz, Mitbestimmung, Aufsicht

Schufa

Bonität von Verbraucher*innen

soziale Ungleichheit

Validität

Transparenz, Aufsicht

4. Besonderheiten der Politisierung von Algorithmen Um die Befunde aus den Fallstudien für die Politisierungstheorie fruchtbar zu machen, arbeitet dieses Kapitel unter Bezug auf Erkenntnisse aus den science and technology studies heraus, weshalb Algorithmen sich als Anlass der Politisierung gesellschaftlicher Normen und Strukturen anbieten. Die Ausweitung digitaler Verfahren auf immer mehr gesellschaftliche Bereiche bedeutet, dass sich die Kontexte, in denen Menschen mit den als angenehm oder irritierend empfundenen Funktionen von Algorithmen in Berührung kommen, etwa im Kontext von willkommenen oder kontraintuitiven Konsumempfehlungen, vervielfältigen.75 Die voranschreitende Digitalisierung allein kann das Politisierungspotenzial von Algorithmen allerdings kaum erklären, schließlich waren digitale Prozesse jahrzehntelang

75 Festic 2020. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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ähnlich unsichtbar und unwidersprochen wie andere Infrastrukturen.76 Somit kann man davon ausgehen, dass technische Eigenschaften von Algorithmen ein Grund für ihre Politisierung sind. 4.1 Formalisierung, Quantifizierung und Objektivierung In den Fallstudien wurde deutlich, dass bestimmte Aspekte von Algorithmen in allen Konflikten eine Rolle spielten, nämlich deren inhärente Formalisierung, Quantifizierung und Objektivierung komplexer sozialer Phänomene und Normen. Algorithmen operieren auf Basis einer Vielzahl an Festlegungen bezüglich der Datenbasis, Datenaufbereitung, Berechnung und Interpretation – die wie oben beschrieben zu Kontroversen führen können.77 Algorithmen erfordern zahlreiche Operationalisierungen von Normen, Regeln, Zielen, Standards und Sub-Standards.78 Diese müssen wiederum alle in ein eindeutiges Verhältnis zueinander gesetzt werden, damit Berechnungen möglich sind. Entsprechend bedeuten Algorithmen nicht nur eine Formalisierung, sondern stets auch eine Quantifizierung des Sozialen.79 Quantifizierung wird hier verstanden als die Übersetzung sozialer Sachverhalte in Mathematik. Damit gehen Prozesse der Kommensurabilisierung, der Ordinalisierung80 sowie der Objektivierung politischer Gegenstände, demokratischer Prinzipien und Institutionen einher.81 Formalisierung und Quantifizierung sind zudem umgeben von einer Aura der Objektivität, der Neutralität und des Konsens und bieten für Depolitisierung somit einen furchtbaren Boden. Algorithmen kodifizieren soziale Sachverhalte, die eigentlich politisch gestaltbar sind, und perpetuieren diese. Dennoch können Formalisierung und Quantifizierung Politisierung herausfordern. Denn erst die Formalisierung gesellschaftlicher Normen macht diese für Kritik und Gestaltung zugänglich. Dies geschieht zum Beispiel dann, wenn die Entscheidungsprämissen von Maschinen problematisiert werden, wie es etwa für die Debatte verzerrter Datensätze typisch ist, oder wenn die Validität oder Legitimität der Berechnungsverfahren für einen bestimmten Anwendungszweck infrage gestellt wird. 4.2 Beschränkte Nachvollziehbarkeit und Intelligibilität von Algorithmen Ein weiterer Aspekt von Algorithmen, der die Politisierung in den untersuchten Fällen begünstigt hat, sind zunehmende Zweifel an der Intelligibilität von maschinellen Verfahren. Prinzipiell wurde Maschinen bislang im Vergleich zu menschlichen Entscheidungen eine vergleichsweise große Nachvollziehbarkeit und Intelligibilität zugeschrieben; Maschinen galten als prinzipiell verstehbar und kohärent, 76 77 78 79 80 81

Hofmann 2020. Dourish 2016. Eyert, Irgmaier, Ulbricht 2020. Mau 2017. Fourcade, Healy 2017; Heintz 2010; Espeland, Stevens 2008. Ulbricht 2020.

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da sie Entscheidungen konsequent nach programmierten Regeln treffen. Durch unsupervised machine learning gibt es nun Maschinen, die selbst die Regeln der Entscheidungsfindung festlegen und verändern – zum Teil in einer Weise, die weder durch Entwickler*innen noch durch die Maschine selbst rekonstruiert und erklärt werden können.82 Diese neuartige Opazität von Computern schürt das öffentliche Misstrauen gegenüber maschinell getroffenen Entscheidungen.83 Zwar wird die partielle Opazität von Algorithmen in der Informatik seit Langem thematisiert, doch in der öffentlichen Meinung hat das Thema erst in den letzten fünf Jahren eine erhebliche kritische Würdigung erhalten. So ist auch zu erklären, dass sich die österreichische Arbeitsmarktagentur vehement gegen Aussagen wehrte, der AMS-Algorithmus sei eine Form von Künstlicher Intelligenz und beruhe auf maschinellem Lernen. Sie betonte vielmehr, dass es sich um eine klassische logistische Regression handele84 – ein Versuch, dem System den Anschein der Komplexität und Unkontrollierbarkeit zu nehmen. Eine Folge des Misstrauens gegenüber Algorithmen und ihren möglichen gesellschaftlichen Risiken ist die in allen Fallbeispielen beobachtete Forderung, diese für die Öffentlichkeit, für Forschung und/oder eine unabhängige Kontrollbehörde einsehbar und analysierbar zu machen. Als Ausdruck des gesellschaftlichen Anspruchs, Algorithmen zu verstehen und zu hinterfragen, sind zahlreiche Praktiken entstanden, etwa Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz, blackbox testing und reverse engineering.85 Letztere waren früher exklusive Domänen der informationstechnischen Forschung und Entwicklung und sind mittlerweile auch von Aktivist*innen, Journalist*innen und kritischen Forscher*innen übernommen worden.86 Weitere Praktiken des Widerstandes gegen algorithmische Entscheidungen und Überwachung wie Subversion und der Gegenüberwachung (obfuscation, sous-veillance, counter-veillance) konnten im Rahmen der Fallbeispiele nicht beobachtet werden. 5. Fazit Der Beitrag hat das Verhältnis zwischen Algorithmen und De- beziehungsweise (Re-)Politisierung untersucht. Anhand von Fällen, in denen Algorithmen in den vergangenen Jahren eine starke Politisierung erfahren haben, hat sich gezeigt, dass anhand von Auseinandersetzungen über Algorithmen sowohl die materielle Ordnung in Gesellschaften als auch die reflexive Ordnung infrage gestellt wurden. So gab die Formalisierung von Entscheidungsregeln und sozialen Normen in Algorithmen Anlass, wichtige Normen in der Rechtsprechung, der Allokation von So82 83 84 85

Pasquale 2015. Mckinlay 2017. Wimmer 2018. Dies sind Verfahren, die die Funktionsweise und Wirkung von Algorithmen zu rekonstruieren suchen. 86 Kitchin 2016. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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zialleistungen, der Bewertung von Beschäftigten und von Konsument*innen zu hinterfragen. Umstrittene Bewertungs- und Entscheidungsrationalitäten waren etwa eine Ausrichtung an Risiken, das Primat der Kosteneffizienz, horizontale Bewertung in Unternehmen und die Ausbeutung vulnerabler Populationen. Politisierung durch Algorithmen knüpfte in den untersuchten Fällen also stets an größere gesellschaftliche Konflikte an, die jedoch im Vorfeld der Algorithmisierung sozialer Normen schwer greifbar und somit schwer politisierbar waren. Wie Richter*innen, Mitarbeiter*innen in Arbeitsämtern und Personalbeauftragte Bewertungen vornehmen und Entscheidungen treffen, ist durch Algorithmen formalisiert, ermittelbar und somit neu politisiert worden. Natürlich bleiben bei menschlichen Entscheidungsträger*innen auch jetzt noch Bereiche der Entscheidung, die nicht formalisiert wurden. Doch dieser Spielraum scheint durch den Einsatz von Algorithmen kleiner geworden zu sein. Den vier Fallbeispielen ließ sich ein Muster entnehmen: Auf eine De-Politisierung durch Algorithmen folgt eine Politisierung von und durch Algorithmen. Die im Politisierungsprozess geäußerten politischen Forderungen betreffen dabei sowohl die materielle soziale Ordnung, also die direkten gesellschaftlichen Effekte und Folgen von Algorithmen, als auch die reflexive soziale Ordnung, sprich die Meta-Ebene der Strukturen und Verfahren, in denen Algorithmen hergestellt, angewendet und überprüft werden. Diese Unterscheidung ist angelehnt an Unterscheidungen zwischen Regulierung als den konkreten Verfahren und Regeln der Koordination auf der einen Seite und Governance als (Meta-)Regeln der Regelsetzung auf der anderen Seite.87 Die Politisierung der materiellen Ordnung hinterfragt die Normen, die in Technik eingelassen sind, und kritisiert gesellschaftliche Risiken von algorithmischer Ordnungsbildung, wie etwa Diskriminierung und Manipulation. Die Politisierung der reflexiven Ordnung wiederum richtet sich auf die Strukturen und Prozesse der Herstellung von Ordnung durch Algorithmen, also die Entscheidungshoheit über die Gestaltung algorithmischer Systeme, die Zusammensetzung von Entwicklerteams sowie die Verfahren und Instanzen der Kontrolle und Aufsicht über algorithmische Systeme. Dieser Beitrag ergänzt das Narrativ, dass Algorithmen prinzipiell depolitisierend wirken, um die Erkenntnis, dass Algorithmen durchaus politisierend wirken können und über zahlreiche Eigenschaften verfügen, die sich sogar sehr für Politisierung anbieten. Dies ist für den öffentlichen Diskurs wichtig, da die Möglichkeiten der Gestaltung von Algorithmen und der Regulierung transnationaler Technologiekonzerne und staatlicher Behörden mit Blick auf algorithmische Verfahren erst in Anfängen ausbuchstabiert worden sind. Dabei zeigt der Blick auf die Politisierung von Algorithmen, dass in diesem Kontext nicht allein gesellschaftliche Ungleichheit und individuelle Rechtsverletzungen angeprangert werden, sondern auch die (Meta-)Strukturen der Wahrung individueller Rechte und gesellschaftlicher Normen verhandelt werden. Das Argument, gesellschaftliche und politische Mitgestaltung und Kontrolle seien aufgrund mangelnder Ideen außer Reichweite,

87 Hofmann, Katzenbach, Gollatz 2017; Straßheim 2009.

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erscheint vor diesem Hintergrund hochgradig motiviert. Es spielt jenen in die Hände, die für eine industrielle Selbstregulierung plädieren. Um nicht zur Mystifizierung und Essenzialisierung von Algorithmen beizutragen ist es jedoch wichtig, die beobachtete Politisierung von und durch Algorithmen in einem größeren gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, in dem Politisierung nicht allein mit Blick auf Algorithmen stattfindet. So waren in den letzten Jahrzehnten trotz neoliberaler Hegemonie,88 dem technokratischen Zeitalter89 und postdemokratischer Tendenzen90 immer wieder Politisierungsschübe zu beobachten: Beispielsweise gibt es seit den 1990er Jahren Widerstand gegen die Ökonomisierung von immer mehr gesellschaftlichen Bereichen – ein Narrativ, das in allen hier beobachteten Beispielen zu finden ist. Darüber hinaus haben die letzten zehn Jahre eine Pluralisierung von Expertise und epistemischen Autoritäten mit sich gebracht,91 die der Infragestellung der Objektivität und Validität von epistemischen Verfahren wie Big Data und Algorithmen Vorschub leisten. Wenn etablierte epistemische Autoritäten infrage gestellt werden, geht dies mit langen und heftigen Konflikten einher. Es ist also zu erwarten, dass die Autorität von algorithmischen Entscheidungsverfahren sich gegen Widerstände etablieren muss und auch scheitern kann. So gibt es durchaus Fälle, in denen Entscheidungen eine Zeit lang algorithmisch getroffen und sodann wieder menschlichen Entscheider*innen übertragen wurden.92 Unwidersprochen scheint bislang noch die Autorität von quantifizierten Formen des Wissens zu sein: Dass soziale Prozesse in Zahlen übersetzt und berechnet werden können, ist meist unwidersprochen; Kontroversen entstehen allein um spezifische Daten und Berechnungsverfahren. Der Gegenpol zu formalisiertem, quantifiziertem Wissen (téchne) ist James Scott zufolge kontextbezogenes, lokales Wissen (metis).93 Vorsichtige Ansätze einer Kritik von Quantifizierung gibt es dort, wo die Bedeutung menschlicher Intuition und die Notwendigkeit von Einzelfallgerechtigkeit betont werden, etwa mit Blick auf die Entscheidungen von Richter*innen oder Ärzt*innen.94 Entsprechende Narrative haben sich in den Fallbeispielen ansatzweise gezeigt, standen aber nicht im Zentrum der jeweiligen Kontroverse. Neben der Politisierung neoliberal bedingter Ökonomisierungsprozesse gibt es zudem eine Politisierung staatlicher Kontrolle, Gewalt und digital gestützter Überwachungspraktiken, samt der damit einhergehenden Diskriminierung, Ausbeutung und Manipulation vulnerabler Populationen. Digitale Technologien und speziell Algorithmen werden hier als Element der Stabilisierung sozialer und politischer Ungleichheiten kritisiert. Auseinandersetzungen über die Datenbasis, Berechnungsverfahren und Transparenzregeln algo88 89 90 91 92 93 94

Mouffe 2000. August 2018. Crouch 2010; Blühdorn 2019. Jasanoff 2007; Straßheim 2013. Mckinlay 2017. Scott 2008 (1998). Binns 2020.

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Lena Ulbricht

Zusammenfassung: Der Beitrag legt offen, dass Algorithmen, anders als häufig angenommen, nicht prinzipiell depolitisierend sind, sondern auch Anstoß für Politisierungsprozesse geben. Auf der Grundlage von vier Fallbeispielen aus den Bereichen Rechtsprechung, Sozialpolitik, Beschäftigtenkontrolle und Bonitätsprüfung wird dargelegt, dass Algorithmen sowohl zur Politisierung der materiellen sowie der reflexiven gesellschaftlichen Ordnung genutzt werden. Stichworte: Score, Big Data, Rechtsprechung, Sozialpolitik, Beschäftigtenkontrolle, Bonitätsprüfung

Algorithms and politicization Summary: This contribution argues that algorithms are not only depoliticizing, but can also serve as vehicles for politicization. Four examples from legal sanctioning, social policy, employee management and credit scoring point out that algorithms have created opportunities to politicize the material as well as the reflexive order of contemporary societies. Keywords: Score, big data, jurisprudence, social policy, employee management, credit scoring

Fabienne Marco, Simon Hegelich, Linda Sauer und Orestis Papakyriakopoulos

Algorithmen gegen politischen Sexismus. Machine Learning als Anstoß zum gesellschaftlichen Umdenken

Der digitale Transformationsprozess, in dem wir uns gegenwärtig befinden, verändert unsere Lebenswelt insbesondere durch seine neuen Informations- und Kommunikationsstrukturen auf radikale Weise. Einen der massivsten Umbrüche erfährt dabei die politische Öffentlichkeit, die heute zunehmend auf sozialen Plattformen stattfindet und insofern für Politisierungsprozesse immer entscheidender wird. Für die Sozialwissenschaften entstehen dadurch neue theoretische und empirische Schwierigkeiten: Die großen Datenmengen, die in sozialen Medien erzeugt werden, lassen sich nicht ohne automatische Verfahren auswerten. Gleichzeitig ist aber fraglich, ob Methoden aus dem Bereich des maschinellen Lernens komplexe sozialwissenschaftliche Kategorien adäquat erfassen können. Am Beispiel des politischen Sexismus in Facebook-Kommentaren wollen wir im Folgenden aufzeigen, dass moderne Verfahren hier einen vielversprechenden Weg für die Sozialwissenschaften eröffnen, mit dem allerdings auch neue Schwierigkeiten und Herausforderungen verbunden sind. 1. Positive und negative Politisierung: Politische Öffentlichkeit in sozialen Medien Plattformen wie Facebook, Twitter & Co, die ursprünglich für private Inhalte und Zwecke konzipiert wurden, werden zunehmend genutzt, um sich über politische Inhalte zu informieren und selbst politische Botschaften und Kommentare zu senden. Die inhaltliche Politisierung dieser Netzwerke impliziert einen revolutionären Wandel nicht nur des Informationsverbreitungsprozesses, sondern auch der Kommunikationsstrukturen: Sie verlaufen nicht mehr asymmetrisch wie in der klassischen Sender-Empfänger-Ära, sondern symmetrisch. Informationen werden von Nutzer*innen nicht nur passiv konsumiert, sondern selbst aktiv generiert. Jede*r ist gleichzeitig Sender*in und Empfänger*in, Konsument*in und Produzent*in von Informationen, Meinungen und Einschätzungen.1 Neben diese veränderte Sender-Empfänger-Struktur tritt eine neue Form der Verbreitung der Inhalte: Welche Meldung welcher Nutzer*in angezeigt wird, ist abhängig von der Interaktion anderer Nutzer*innen mit dieser Nachricht. Das Konsumieren von Nachrichten, vor allem aber auch das Kommentieren, Liken und Teilen, wird somit selbst zu einer politischen Betätigung, sofern die für die Distribution der Inhalte verantwortlichen Algorithmen auf diese Signale reagieren. Informationen werden dadurch nicht nur immer stärker vom persönlichen wie sozialen Umgang, Gebrauch und Austausch abhängig; sie sind gleichzeitig auch von der Form ihres Mediums

1 Vgl. Han 2013, S. 10. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020, S. 279 – 306

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abhängig, werden durch dieses geprägt und lassen damit das Medium in seiner Funktion und praktischen Anwendung bereits selbst zur (politischen) Botschaft werden.2 Politische Diskursräume sind in der Demokratie maßgebend für die Bildung einer pluralistischen und kritischen Öffentlichkeit, die von unterschiedlichen Standpunkten zeugt und sich dabei dennoch auf wesentliche liberale Grundwerte und Grundrechte stützt: die der individuellen Freiheit, der politischen Gleichberechtigung sowie der Gleichwertigkeit von Interessen, Ansichten und Teilhabe.3 Wo Diskursräume einseitig gefärbt sind, mit Stereotypen behaftet werden und bestimmte gesellschaftliche Gruppen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe in ihren Mitwirkungsrechten einschränken und von politischer Teilhabe ausgrenzen, dort ist der deliberative Prozess in seinen liberalen Geltungsansprüchen gefährdet und dort wird schließlich auch der demokratische Nährboden durch Diskriminierung, Radikalisierung und Polarisierung korrumpierbar. Dabei erleben wir gerade heute, im Zeitalter der digitalen Information und Kommunikation, die Chancen wie Gefährdungen der politischen Plattform-Öffentlichkeit. Auf der einen Seite lässt sich eine positive Politisierung durch die Öffnung der politischen Diskursräume feststellen, in denen sich die Partizipationsund Diskussionsmöglichkeiten ausweiten: Diskursräume haben sich in den letzten Jahren vervielfacht, was neue politische Akteur*innen hervorgebracht und dabei auch neue politische Agenden und Inhalte ermöglicht hat. So können durch die Netzwerkstrukturen Gruppen und Interessen am öffentlichen Geschehen anteilig werden, die vorher noch keine Stimme hatten. Und mit ihnen kommen Standpunkte und Ansichten zum Vorschein, die vorher keine Beachtung fanden, sondern erst durch ihre Offenlegung einen politischen Stellenwert erhalten. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist die #metoo-Bewegung, die durch einen Twitter-Hashtag initiiert wurde und innerhalb weniger Stunden mehrere tausend Likes und Posts erhielt. Das Thema konnte sich damit schnell weiterverbreiten, konnte diskutiert und kommentiert werden und dadurch einen globalen Aktionsradius gegen Sexismus, sexuelle Belästigung und geschlechts-diskriminierendes Verhalten in Gang setzen.4 Hier zeigt sich, wie sich soziale Medien nutzen lassen, um auf gesellschaftliche Graubereiche hinzuweisen und die Bevölkerung stärker für Probleme zu sensibilisieren, die einer breiten öffentlichen Diskussion bedürfen. So können Themen zur gesellschaftlichen Agenda werden, die vorher noch keine etablierte Lobby hatten und erst durch die digitalen Diskursräume einen politischen Resonanzboden erhalten. Doch gibt es auch eine Kehrseite innerhalb der digitalen Diskurslandschaft: Gerade der symmetrisch verlaufende Kommunikations- und Informationsprozess, den wir gegenwärtig erleben, setzt der politischen Informationsgewinnung, -dar2 Vgl. McLuhan 1964. 3 Vgl. Arendt 2010, S. 71 ff. 4 Vgl. Zeit Online 2019a.

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stellung und -verbreitung keine Grenzen mehr. Die klassischen Gatekeeper, ehemals noch repräsentiert durch die großen Medienanstalten, durch öffentliche Rundfunkkanäle und renommierte Tageszeitungen, fallen zunehmend weg.5 Diese jedoch waren maßgeblich für die mediale Verbreitung und inhaltliche Darstellung verantwortlich und gaben damit nicht nur das Themensetting für die politische Öffentlichkeit vor, sondern stellten zugleich auch entsprechende Beurteilungsmaßstäbe, Analysehilfen und Interpretationslinien zur Verfügung. Wo sich derartige Filter auflösen, dort werden auch politische Orientierungsmuster hinfällig. Subjektive Stimmungslagen können sich heute ungefiltert verbreiten, können dabei auch verzerrt werden und zu einer ebensolchen Verzerrung in der Wahrnehmung der politischen Öffentlichkeit führen.6 Und dies wiederum hat negative Politisierungseffekte zur Folge, sofern bestimmte Einschätzungen zwar oftmals nur partielle Meinungen repräsentieren, durch die expansiven Verbreitungsmöglichkeiten der digitalen Netzwerkstrukturen jedoch schnell den Eindruck vermitteln können, dass sie eine gesamtgesellschaftliche Atmosphäre widerspiegeln.7 Anstelle eines herrschaftsfreien Diskurses können so auch Nachrichten massenhaft verbreitet werden, die zu einer Einschüchterung der Nutzer*innen führen. Sexismus in Online-Diskussionen ist ein Beispiel für eine solch negative Politisierung, weil zu befürchten ist, dass Opfer von Sexismus aus dem Diskurs aussteigen und in diesem Sinne entpolitisiert werden. Dadurch wird ihre Teilnahme an den neuen Formen politischer Diskurse zurückgedrängt. Gleichzeitig erhalten sexistische Stimmen damit ein entsprechend größeres Gewicht und werden stärker in der algorithmischen Distribution der Inhalte berücksichtigt. Dadurch kann ein sich selbst verstärkender Effekt der Depolitisierung entstehen, der letztlich dazu führt, dass negative Politisierung überwiegt und nur eine laute Minderheit den Diskurs bestimmt. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Phänomen des Sexismus als Negativfolie politischer Diskursführung und stellt dabei insbesondere quantitative Methoden zu dessen Offenlegung vor. Denn gerade die Quantität, mit der politische Diskurse auf Social Media geführt und verbreitet werden, erlaubt eine Analyse nur noch auf Basis maschineller Verfahren. Im Bereich des maschinellen Lernens sind unter dem Stichwort »Deep Learning« in den letzten Jahren neue Ansätze entwickelt worden, denen ein hohes Potential für eine automatische Textanalyse zugesprochen wird. Gleichzeitig stellt sich dabei die Frage, ob mathematische Modelle allgemeingültige Beurteilungsmaßstäbe zur Verfügung stellen, um Sexismus in seinen komplexen und kontextabhängigen Erscheinungsformen identifizieren und entsprechend bewerten zu können. Um diese interdisziplinäre Frage zu beantworten, bringen wir Ansätze und Methoden aus den Sozialwissenschaften und den Technik- bzw. Computerwissenschaften zusammen.

5 Vgl. Faus, Hartl 2018. 6 Vgl. Hegelich, Shahrezaye 2017. 7 Vgl. Papakyriakopoulos et al. 2017. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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So soll am Beispiel von Sexismus gezeigt werden, wie eine Operationalisierung komplexer, gesellschaftlich relevanter Phänomene ermöglicht werden kann. Diesbezüglich beschäftigt sich der erste Teil mit der aktuellen Forschung zum Thema Sexismus im öffentlichen Diskurs und stellt eine mögliche Begriffsoperationalisierung insbesondere unter Berücksichtigung der Besonderheiten sozialer Plattformen dar. Fokussiert wird dabei auch die Relevanz des Themas im Hinblick auf die fortschreitende Politisierung der Plattformen, insbesondere auch in Hinblick auf die disruptiven Veränderungen innerhalb der politischen Kommunikation und Öffentlichkeit. Schließlich werden die darauf aufbauenden Ergebnisse vorgestellt, um abschließend der Frage nachzugehen, inwieweit sich Sexismus mittels technischer Modelle erkennen und klassifizieren sowie künftig regulieren und reduzieren lässt. 2. Begriffsoperationalisierung durch den modernen Sexismus-Diskurs Das Phänomen ›Sexismus‹ ist heute verstärkt zum Gegenstand politischer Diskussionen geworden und hat dementsprechend auch im sozialen und kulturellen Bereich an Bedeutung gewonnen. Bisherige Forschungsarbeiten zum Thema Sexismus konzentrierten sich überwiegend auf allgemeine Analysen sexistischer Sprache, fokussierten generelle Auswirkungen von geschlechterdiskriminierender Sprache8 und richteten ihr Augenmerk auf die Identifizierung von sogenannten Gender-Bias.9 Andere Studien untersuchten das Thema ›Hate-Speech‹ in seinen allgemeinen Erscheinungsformen und analysierten dessen Verwendung wie auch die damit verbundenen Folgen, ohne jedoch eine bestimmte Spielart näher zu betrachten.10 Einige Studien versuchten darüber hinaus sowohl auf theoretischer wie auch auf empirisch-technischer Basis die Erkennung von diskriminierender Sprache zu modellieren.11 Hierbei sind die Methoden, die viele Modelle verwenden, häufig ineffizient sowie auch einfachen Methoden des Deep Learnings unterlegen. Zimmerman et al. zeigen beispielsweise, dass eine häufig genutzte Methode, die Einteilung in ›Hate-Speech‹ lediglich auf Basis des Sentiment-Scores, bereits von einfachen Methoden des Deep Learnings übertroffen wird, wenn man gängige statistische Maße zur Evaluation heranzieht.12 Das bislang effektivste Modell einer solchen Hate-Speech-Klassifikation ist ein zweistufiger Klassifikationsalgorithmus, der auf Basis von Twitter-Kommentaren entwickelt wurde.13 Insgesamt lässt sich eine deutliche Tendenz zur Nutzung von Twitter-Daten feststellen.14

8 9 10 11 12 13 14

Vgl. Cameron 2016. Vgl. Menegatti, Rubini 2017. Vgl. Benoit 1995; Forster 2015. Vgl. Dinakar et al. 2011. Vgl. Zimmerman et al. 2018. Vgl. Park, Fung 2017. Vgl. Gambäck, Sikdar 2017; Badjatiya 2017.

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Doch hat sich die Forschung bislang zum einen eher allgemein mit dem Phänomen ›Hate-Speech‹ befasst und basiert zum anderen entweder auf qualitativen oder auf quantitativen Analysen, die allerdings auf sehr geringen Datenmengen beruhen.15 Insofern ist die Bereitstellung eines Datensatzes, der groß genug ist, um quantitative Analysen durchzuführen und dessen Klassifikation auf klaren, eindeutig bestimmbaren und reproduzierbaren Regeln basiert, unabdingbar. Aber wie lassen sich klare Regeln bestimmen, die ein abstraktes Konzept auf kurze Kommentare in einer virtuellen Plattform übertragen? Die folgenden Absätze stellen eine mögliche Operationalisierung des Sexismus-Begriffes, der in fünf Kategorien unterteilt wird, vor. Diese Definition umfasst dabei verschiedene Ausprägungen des Begriffs. Zunächst wird eine eher allgemeine und offene Definition von Sexismus vorgestellt, um anschließend die für eine entsprechende Operationalisierung relevanten Konzepte darzulegen, insbesondere jene, die sich mit zwei maßgeblichen Forschungsfragen beschäftigen: zum einen mit der Frage, inwieweit Maschinen komplexe Konzepte wie Sexismus ermitteln können; zum anderen mit der Frage, inwieweit sich mittels Algorithmen negative Politisierungseffekte im politischen Diskurs, wie bspw. Hate-Speech und Sexismus, eindämmen und entsprechend regulieren lassen. Daraufhin werden im Anschluss die aus den beiden Konzepten des traditionellen Sexismus und modernen Sexismus hervorgehenden Regeln abgeleitet. Die beiden Sexismus-Konzepte sollen im Folgenden zunächst knapp vorgestellt werden. Das English Oxford Dictionary bezeichnet Sexismus als »Prejudice, stereotyping, or discrimination, typically against women, by sex«.16 Diese Definition ist sehr weitläufig und bietet einen großen Interpretationsspielraum. Sie umfasst Vorurteile, Stereotype und Diskriminierung und geht darauf ein, dass Sexismus zwar typischerweise Frauen entgegengebracht wird, sich aber nicht allein auf Frauen beschränken muss. Festzuhalten ist hierbei, dass die Definition selbst historisch bedingt ist, insofern also auch unterschiedlichen Bedeutungen unterliegt. Der Begriff hat über Jahrzehnte hinweg eine Weiterentwicklung durch Simone de Beauvoir17 bis hin zu einer völligen Dekonstruktion durch Judith Butler18 oder Paula-Irene Villa19 erfahren. Verschiedene historische Ereignisse markieren unterschiedliche Perioden, welche sich in der Begriffsentwicklung widerspiegeln (Postkolonialismus, Subjektivität, Rassismus und Geschlecht). Hier sind insbesondere die Frauenbewegungen, das Wahlrecht für Frauen – in Südafrika beispielsweise sind Frauen erst seit 1994 wahlberechtigt20 – und der Wandel traditioneller Herrschaftskonzepte zu nennen, die wiederum die feministische Literatur beeinflusst haben und dabei auch neue Formen von Macht, Geschlecht und Rollenstereoty15 16 17 18 19 20

Vgl. Waseem 2016. Vgl. English Oxford Dictionary 2019. Vgl. Kruks 2012. Vgl. Butler 2012. Vgl. Villa 2009. Vgl. Daley, Nolan 1994, S. 352.

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pen diskutieren. Jede Veränderung der Begrifflichkeiten ›Geschlecht‹, ›sex‹ oder ›gender‹ führt zwangsläufig auch zu einer veränderten Wahrnehmung der Begrifflichkeit ›Sexismus‹. Hieraus begründet sich auch die Relevanz von Autor*innen wie Judith Butler für die Entwicklung des Begriffs Sexismus und seine Operationalisierung. Trotz veränderter Wertvorstellungen und neuer Partizipationsmöglichkeiten ist das Phänomen Sexismus längst nicht überwunden, sondern führt gerade durch den disruptiven Wandel in der Kommunikation zu dessen Wiederaufleben, wenn auch komplexer und zum Teil latenter. Dieser Wandel vom biologischen Geschlecht hin zum soziokulturellen Geschlecht findet sich auch in den Operationalisierungskategorien wieder. Der Begriff des Sexismus, dies muss an dieser Stelle wiederholt werden, ist durch den oben beschriebenen Wandel geprägt und befindet sich in ständiger Transformation. Hierbei entwickeln sich immer wieder neue Facetten und Strömungen. Bei der Wahl der Operationalisierungskategorien wurde der historische Verlauf berücksichtigt und eine Auswahl aus den verschiedenen Begrifflichkeiten der Hauptströmungen identifiziert. Während die Kategorien 1, 3 und 4 eher den traditionellen Begriff von Sexismus widerspiegeln, beinhalten die Kategorien 2 und 5 den ambivalenten bzw. modernen Sexismusbegriff. Insbesondere Kategorie 4, die antifeministische Äußerungen aufgreift, behandelt die Thematik einer strukturellen Parallele zwischen Feminismus und Rassismus: darin enthalten sind sämtliche Kommentare, die sich auf Geschlechterund Rassenstereotype beziehen und dabei insbesondere auf kulturelle Befindlichkeiten zielen. Sie ist insofern weder dem traditionellen noch dem modernen Sexismus zuordbar.21 Bei der Operationalisierung des Begriffes zu Zwecken des Classifiers war es insbesondere wichtig, die Besonderheiten der Daten zu berücksichtigen. Zunächst handelt es sich um die Analyse von Daten aus den sozialen Medien (Facebook). Hierbei gilt es zu beachten, dass in sozialen Medien verschiedene Generationen und Kulturen involviert sind und der hier verwendete Sexismusbegriff natürlich nur auf den deutschen, sich ebenfalls stark verändernden kulturellen Kontext angewendet werden kann.22 Ferner ist die Kommunikation sprachlich basiert und wird daher unabhängig von Gestik und Mimik analysiert. Bei der Erforschung sexistischer Sprache geht es insbesondere darum, festzustellen, wie sich Sexismus semantisch und grammatikalisch ausdrückt. Im Deutschen ist dies beispielsweise die Wahl der Pluralform oder der Gebrauch von Kosewörtern, die auf verhöhnende Weise auf die traditionelle Mutterrolle der Frau anspielen.23 In Kategorie 1 beispielsweise befinden sich diejenigen Kommentare, die den Begriff »Mutti Merkel« beinhalten. Die Sprachwissenschaften unterscheiden generell drei verschiedene Sprachtypen in Bezug auf Gender und Sexualität: Genderlose Sprachen, natürliche Gendersprachen und grammatikalische Gendersprachen.24 Deutsch ist eine gram21 22 23 24

Vgl. Boshammer 2008; Schäfer 2012. Vgl. Gutiérrez Rodriguez 2003. Vgl. Menegatti, Rubini 2017. Ebd.

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matikalische Gendersprache und deshalb gender-biased. Jedes Nomen hat einen zugehörigen Artikel (der, die, das), der das Geschlecht des Nomens eindeutig bestimmt. Hinzu kommt, dass häufig zur Bildung der weiblichen Form die männliche Form als Wortstamm herangezogen wird. Die weibliche Form ist also von der männlichen Form abgeleitet. Sofern nicht im Nebensatz ein Ausschluss von Frauen oder die Betonung traditionell maskuliner Eigenschaften mit der Verwendung einhergehen, lassen sich eine korrekte und vermeintlich genderneutrale Verwendung des Plurals von einer Diskriminierung des weiblichen Geschlechtes – ob intendiert oder nicht – also nicht unterscheiden. Konkret bedeutet dies für die vorliegende Klassifikation, dass nicht alle Kommentare, die einen männlichen Plural enthalten, als sexistisch gewertet wurden, sondern nur solche, deren Kontext eine intendierte Diskriminierung nahelegten. Ähnliche Erwägungen gelten für Adjektive. Auch wenn Adjektive in gewissen Szenarien, beispielsweise bei der Beförderung, bei Frauen negativ und bei Männern positiv konnotiert sind, ist es nicht immer möglich, an Hand von Kommentaren zu entscheiden, ob eine geschlechterdiskriminierende Motivation Einfluss auf die Wahl der Adjektive hat. Zukünftige Forschungsprojekte müssen hierfür eine Lösung bereitstellen, um die Intention besser herausstellen zu können. Des Weiteren handelt es sich um Äußerungen, die alle auf Facebook-Seiten der Parteien getätigt wurden, also Seiten der Parteien25 selbst oder den Seiten parteipolitischer Persönlichkeiten,26 und daher Teil der politischen Kommunikation sind. Das Bild des Politikers, das über die Jahre entstand, ist bis heute männlich sexistisch geprägt. Kompetenz und Eigenschaften, aus denen Kompetenz abgeleitet wird, werden traditionell als männlich angesehen. Daraus folgt, dass gerade im politischen Bereich Komplimente, die andeuten, dass eine Frau oder ein Mann hübsch seien, die also körperliche Merkmale und phänotypische Betrachtungen einer Bewertung zu Grunde legen, sexistisch sind. In jedem Fall soll entweder durch die weibliche Charakterisierung die eigentliche Aussage oder die entsprechende Kompetenz untergraben werden. Das traditionelle Rollenbild des Politikers findet sich in Kategorie 1 (vgl. »Mutti Merkel«, »Flintenuschi«), in Kategorie 3 (insbesondere die stereotypische Befürwortung des »alten, weißen Mannes« durch Kommentare wie »Adenauer war wenigstens noch ein richtiger Politiker und Mann«27), in Kategorie 4 (»Eine Frau sollte eben keine Politik betreiben, wer braucht denn schon Feminismus«) sowie in Kategorie 2 »Komplimente« wieder. Für alle Kategorien sind jedoch drei Stereotype ausschlaggebend: das des Mannes, das der Frau und das des Politikers. Die folgenden Abschnitte stellen die Hauptkriterien der zwei Klassen des traditionellen und modernen Sexismus unter den bisher genannten Besonderheiten vor.

25 Vgl. zum Beispiel: Christlich-Soziale Union in Bayern e. V. 2020; Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 2020. 26 Vgl. zum Beispiel: Blume 2020; Lindner 2020. 27 Die Kommentare der Nutzer sind hier zum Teil schematisch oder verkürzt dargestellt, um den Leser*innen mehr Klarheit zu bieten. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Der Begriff Sexismus wurde erstmals im Jahre 1968 von Caroline Bird definiert. In der Zeitschrift Vital Speeches of the Day schreibt Bird: »There is recognition abroad that we are in many ways a sexist country. Sexism is judging people by their sex when sex doesn't matter. Sexism is intended to rhyme with racism. Women are sexists as often as men.«28

Die Kernthemen des Feminismus dieser Zeit betrafen vornehmlich die Missstände, denen gegenüber sich Frauen zu emanzipieren suchten, vor allem auch die Rollenzuweisung der Frau als ›Gebärmaschine‹, sorgende Mutter und treue Ehefrau, die keine eigenen Bedürfnisse, Ansprüche und Ziele haben darf. Die Reduktion auf eine solche Existenz implizierte auch die Minderwertigkeit gegenüber den Männern. Folglich zeichnet sich der traditionelle Sexismus dadurch aus, dass er eines der drei folgenden Kriterien erfüllt:29 1. Stereotypische Betonung der Geschlechterunterschiede 2. Betonung der Minderwertigkeit von Frauen (im Vergleich zu Männern) 3. Befürwortung traditioneller Rollenbilder Vereinfacht ausgedrückt beinhaltet der traditionelle Sexismus insbesondere die Stigmatisierung von Frauen. Hier geht es in der Regel um primären Sexismus, damit also um eine geschlechtsbezogene Stigmatisierung.30 Die traditionelle Form des Sexismus ist des Weiteren durch Hostilität und einen abwertenden Charakter gekennzeichnet. Diese sehr traditionelle Definition wurde immer wieder untersucht. Dabei hat sich herausgestellt, dass sich zwar die Haltung zu solchen Äußerungen verändert hat, nicht aber das stereotypische Bild der Geschlechter an sich. Die Geschlechterbilder und diese Strömung sind Veränderungen gegenüber resistent geblieben.31 Äußerungen dieser Spielart des Sexismus befinden sich hauptsächlich in den Kategorien 1, 3 und teilweise 4. Handelt es sich um feindliche oder stereotypisch geprägte Einzelbezeichnungen von Politiker*innen, so befinden sie sich in Kategorie 1. Sie umschließt beispielsweise Kommentare, die Angela Merkel mit »Mutti Merkel« betiteln oder Äußerungen wie »Schlampe«. In Kategorie 3 befindet sich insbesondere die Befürwortung traditioneller Rollenbilder wie »Frauen gehören wieder hinter den Herd« oder »Der hat einfach keine Eier«. Die angeführte Definition von traditionellem Sexismus greift das Befürworten hierarchischer Strukturen und festgelegter Rollenbilder auf. Diese Kategorie verwendet Stereotype implizit und bildet so gesehen eine Brücke zwischen dem traditionellen und dem modernen Sexismus. Sie beinhaltet den hostilen Charakter, das gesellschaftliche Korsett vergangener Zeiten, und befürwortet es, greift jedoch auf eine subtilere Art der Vermittlung, wie sie dem modernen Sexismus eigen ist, zurück. 28 29 30 31

Bird 1968, S. 88-91. Vgl. Benokraitis, Feagin 1995. Vgl. Warren 1993. Vgl. Prentice, Carranza 2003.

Algorithmen gegen politischen Sexismus

287

In die Operationalisierung ist neben dem traditionellen Sexismusbegriff ebenfalls der moderne Sexismusbegriff eingegangen. Insbesondere Judith Butler dekonstruiert den Begriff ›Geschlecht‹ gänzlich und ersetzt ihn durch ›sexuelle Identität‹, wobei diese ebenfalls eine von der Gesellschaft künstlich geschaffene, also konstruierte und nicht biologisch fixierte Identität darstellt. Hier bestimmen insbesondere moderne Machtverhältnisse – eine Macht, die auf sanfte und ›gewaltfreie‹ Weise konditioniert – den Rahmen für den modernen, genderbasierten Feminismus.32 Judith Butler begreift das Geschlecht als rein gesellschaftlich konstruiert. Sie beschreibt die Ausbildung des Genders, also des geschlechtlichen Selbstverständnisses oder der sexuellen Identität, als von der Gesellschaft bewirkt. Männlich und weiblich sind demnach keine unausweichlichen Absolutheiten. Eine solche Theorie ist natürlich ungleich komplexer als die zuvor behandelte Klassifikation des traditionellen Sexismusbegriffs und bringt auch für die technische Operationalisierung des Begriffs Sexismus einige Schwierigkeiten mit sich: Denn hier sind generell nur geschlechtslose Äußerungen nicht-diskriminierend und nicht-sexistisch. Dies liegt in der sogenannten Gleichheitsthese begründet. Sie geht davon aus, dass zwischen den Geschlechtern ausschließlich gesellschaftlich induzierte Unterschiede bestehen, sodass jede geschlechterspezifische Äußerung per se sexistisch sei, da sie der Diversität der betroffenen Individuen nicht gerecht werde und insofern repressiv sei.33 Dennoch ist es möglich, die Idee einer sexuellen Identität sowie die Freiheit, diese selbst zu wählen, damit zu vereinbaren. Deshalb wurde bei der Erstellung des Datensatzes ›Sexismus‹ als Form jeglicher geschlechtlicher Diskriminierung (Männer, Frauen, Diverse) klassifiziert. Der Classifier schließt deshalb in Kategorie 5 insbesondere homophobe Kommentare mit ein.34 Eine weitere Kategorie, in der sich Geschlechtsmerkmale und Stereotype auf repressive Weise kenntlich machen, ist die Äußerung von Komplimenten. Besonders häufig wird dabei das Klischee der »schönen, dekorativen« Frau oder des »starken, attraktiven« Mannes verwendet. Sowohl in der Äußerung stereotyper Komplimente wie auch umgekehrt, in der bewussten Betonung, derartigen Attributen nicht zu genügen, finden sich sexistische Sentenzen. Die Verwendung von Komplimenten und die schwer zu fassende Spielart des Sexismus nennen Hark und Villa ambivalenten Sexismus, eine spezielle Variante des modernen Sexismus.35 Kategorie 2 schließt Komplimente mit ein, während Kategorie 3 die Kritik, nicht dem Stereotyp zu entsprechen, miteinbezieht. Eine solche, weitergehende Diversifizierung des Sexismusbegriffs wird insbesondere in sozialen Netzwerken nötig, um die vielen verschiedenen Spielarten des Sexismus aufzuzeigen und voneinander zu unterscheiden. Hierbei ist weniger die exakte Unterscheidung, also die Grenzsetzung selbst, sondern vielmehr das Verständnis und die Ak-

32 33 34 35

Vgl. Butler 2004. Vgl. Boshammer 2008, S. 3. Dies bedeutet ebenfalls ein Einschließen von »Anti-Transgender«-Kommentaren. Vgl. Hark, Villa 2017.

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zeptanz des Vorhandenseins dieser verschiedenen Tendenzen und die daraus folgende Steigerung der Komplexität der technischen Umsetzung wichtig.36 2. Daten & Methode 2.1 Kategorisierung von Sexismus Systematisiert man die in den vorigen Absätzen vorgestellten Konzepte, ergeben sich insgesamt die folgenden Typen von Sexismus, die in ihrer Gesamtheit den Begriff »Political Sexism in Social Media« repräsentieren und gleichfalls als Regeln zur Klassifikation für den Algorithmus dienen: Tabelle 1: Klassifizierungsregeln für Datensatz und Klassifizierungsalgorithmus Regel/Name der Regel

Begründung

Index

Buzzwords

Manche Buzzwords reduzieren Menschen auf ihr Geschlecht oder referieren ausschließlich das Geschlecht auf nette oder sarkastische Art und Weise. Beispiele sind »Flintenuschi«, »Mutti« und ähnliche Ausdrücke.

1

Komplimente

Komplimente, die sich auf traditionell weibliche Attribute oder Adjektive beziehen, den Kleidungsstil bewundern sowie Komplimente, die Frauen beglückwünschen besonders männlich gehandelt zu haben und vice versa.

2

Traditionelle Rollenmodelle

Alle Äußerungen, die traditionelle Rollen innerhalb der atomaren Familie propagieren oder eine traditionelle Rollenverteilung moralisierend äußern.

3

Anti-feministische Äußerungen

Kommentare, die sich gegen Feminismus oder Gendergerechtigkeit aussprechen. Dies inkludiert Äußerungen, die Feminismus als überbewertet und unsinnig bezeichnen sowie feindliche und offensive Äußerungen in Bezug auf emanzipierte Frauen und Feministinnen. Beispiele: »Wir brauchen nicht noch mehr Feminismus« oder »Die ficken sich doch eh alle hoch«

4

Homophobe Kommentare

Homophobe oder Anti-Transgender Kommentare

5

Das in Tabelle 1 dargestellte Bewertungsschema wurde nachfolgend auf knapp 100.000 Facebook-Kommentare mit politischem Inhalt angewendet, sowohl auf den Facebook-Seiten von Parteien wie auch auf den Facebook-Seiten einzelner Politiker*innen. Die Klassifizierung selbst erfolgte an Hand der zuvor vorgestellten Klassifikationsschemata durch eine Wissenschaftlerin. Der gesamte Klassifizierungsvorgang fand per Tonaufnahme statt und wurde anschließend in eine Tabelle übertragen. Hierbei wurde nicht nur die Erteilung des Labels, sondern auch die 36 Vgl. Sharifirad, Matwin 2019.

Algorithmen gegen politischen Sexismus

289

Begründung für die Wahl des Labels akustisch erfasst, sowohl bei positiven wie auch bei strittigen Fällen. Durch die Tonaufnahmen wird erstens der Klassifizierungsprozess bewusster,37 wodurch auch die Qualität des Labelings steigt. Zweitens haben die Ausführungen gezeigt, dass es keinen widerspruchsfreien Begriff von Sexismus gibt. Durch die Tonaufnahmen kann diese Ambiguität im Labeling nachvollziehbar gemacht werden, auch wenn der Aufwand dadurch erhöht wird. Gleichzeitig ist durch diese Art der Klassifikation sichergestellt, dass die Ambiguität nicht durch verschiedene, subjektive Verständnisse der Regeln entsteht, sondern dem Begriff selbst innewohnt. Die Kommentare selbst stammen allesamt von den öffentlich zugänglichen Facebook-Seiten der Parteien sowie von den einzelnen Politiker*innen der jeweiligen Parteien. Dies bedeutet insbesondere, dass sich in den Daten keine Kommentare aus geschlossenen Gruppen oder privaten Korrespondenzen wiederfinden. Jeder Kommentar war zum Zeitpunkt des Downloads für jede Nutzer*in sichtbar.38 Da bereits beim Download die Daten der jeweiligen Partei oder der jeweiligen Politiker*in zugeordnet wurden, konnten auch die Kommentare entsprechend katalogisiert werden. Daraus ergibt sich ein Datensatz, der 98.000 Kommentare umfasst, von denen jeweils 12.000 mit je einer Partei (AfD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU, CSU, FDP, DIE LINKE, SPD) assoziiert sind. Innerhalb des so ausgewerteten Datensatzes fanden sich insgesamt 2048 sexistische Kommentare, wobei sich die meisten Kommentare in Kategorie 1 befanden. Die genaue Aufteilung der sexistischen Kommentare lässt sich Tabelle 2 entnehmen. Tabelle 2: Verteilung des Sexismustyps (vgl. Tabelle 1) innerhalb der sexistischen Kommentare des Datensatzes. Buzzwords

954

Komplimente

255

Traditionelle Rollenmodelle

619

Anti-feministische Äußerungen

150

Homophobe Kommentare

70

Die Schaffung des vorgestellten Datensatzes ist erstmalig in seinem Umfang und seiner Thematik. Eines der größten Forschungshindernisse im Bereich der automatischen Erkennung von Sexismus war bislang neben der inhaltlichen Komplexität das Fehlen einer Datenbasis, die ausreichend viele, sauber klassifizierte Sam-

37 Vgl. Ericsson, Simon 1984; Jha, Mamidi 2017. 38 Hierbei ist anzumerken, dass es natürlich möglich ist, Kommentare jederzeit zu löschen. In diesem Fall sind die Kommentare auch über den ursprünglichen Link nicht mehr abrufbar. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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ples, enthält. Vergleichbare Studien arbeiten mit wesentlich kleineren Datensätzen, die dazu in der Regel aus sehr unterschiedlichen Bereichen stammen.39 Im Rahmen der vorgestellten Forschungsarbeit wurden die knapp 100.000 Kommentare zunächst mittels deskriptiver Statistik ausgewertet. Einerseits ermöglichen die Daten erstmals empirisch gestützte Annahmen über die Menge und die Ausprägung sexistischer Aussagen innerhalb der durch die Parteien bereitgestellten und kontrollierten Seiten. Andererseits sind das Wissen über die Struktur und die Häufigkeit des Auftretens der verschiedenen Typen von Sexismus wichtige Hinweise darauf, wie die Ergebnisse des Klassifizierungsalgorithmus zu interpretieren sind und welche Kombination aus Algorithmus und Merkmalen bei der Klassifizierung hilfreich sein könnten. 2.2 Sexismus mit Deep Learning erkennen Um die Ergebnisse einer automatischen Klassifizierung beurteilen zu können, ist es wichtig, den angewandten Algorithmus in seiner grundlegenden Wirkungsweise zu verstehen. Daher stellen wir im Folgenden in aller Kürze vor, welche Algorithmen aus dem Bereich Deep Learning verwendet wurden, wohlwissend, dass sich diese Methode aufgrund ihrer Komplexität nur sehr vereinfacht in dieser Form darstellen lässt. Bei Deep Learning handelt es sich um eine Unterart von so genannten künstlichen neuronalen Netzen. Bei dieser Klasse von Algorithmen wird eine komplexe mathematische Formel mit vielen Unbekannten so optimiert, dass bei den bereits bekannten (also gelabelten) Daten der Input (der Text der Kommentare) mit einer großen Wahrscheinlichkeit zum bereits bekannten Output (den Labeln) führt. Dafür sind drei mathematische Formeln relevant: Das Modell, die Cost-Function und der Optimierungsalgorithmus. Das Modell beschreibt die Architektur des Netzwerks und wird in abstrakter Form von dem/der Forscher*in definiert, in dem einfache Rechenoperationen (Addition, Multiplikation und Aktivierung, wenn ein bestimmter Grenzwert erreicht wird) in einem Rechengraphen – also einem Netzwerk von Rechenoperationen – zusammengefasst werden. Während bei klassischen neuronalen Netzen eine sehr starre Struktur von Ebenen (layers) eingesetzt wird, in der jede abgeschlossene Rechenoperation (nodes) als Input in die nächste Ebene einfließt, werden bei Deep Learning wesentlich komplexere Strukturen verwendet. In diesem Artikel werden zwei unterschiedliche Deep-Learning-Architekturen vorgestellt: Die erste Netzwerkstruktur bezieht Long-Short-Term-Memory-Layers ein.40 Dabei wird nicht nur ein einzelnes Wort für sich berücksichtigt, sondern die vorangegangenen Worte verändern das Signal, das von den späteren ausgeht. Dadurch können auch kontextbezogene Muster in den Daten erfasst werden. Die zweite Architektur ist ein Attention-Netzwerk. Auch hier geht es darum, den Kontext, in dem die Worte auftauchen, zu erfassen. Dafür wird aber nicht sequentiell vorgegangen, sondern 39 Vgl. Fink et al. 2011; Dinakar et al. 2011. 40 Vgl. Hochreiter, Schmidhuber 1997.

Algorithmen gegen politischen Sexismus

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die Position eines Wortes im Satz wird berücksichtigt. Würde man diese Operation mehrfach nacheinander durchführen (Multihead Attention), so dass der Algorithmus zum Beispiel lernen kann, dass die Wahrscheinlichkeit eines sexistischen Kommentars steigt, wenn bestimmte Worte an bestimmten Positionen im Text gleichzeitig auftreten, würden sich auch die beiden Ansätze stark einander annähern. Auf diese Erweiterung wird im Zuge der Diskussion der Ergebnisse eingegangen.41 Die zweite mathematische Formel, die beim maschinellen Lernen zum Einsatz kommt, ist die so genannte Cost-Function. Hier wird definiert, wie eine Abweichung von den eigentlichen Labels mathematisch berechnet wird. Eine gängige Cost-Function für Klassifizierungsprobleme wäre die Sigmoidfunktion, die auch bei der logistischen Regression verwendet wird. In der vorliegenden Analyse verwenden wir Cross-Entropy, weil diese Funktion eine klare Zuordnung zu den Klassen fokussiert. Schließlich braucht es einen Optimierungsalgorithmus, der die unbekannten Variablen, die im Modell definiert sind, auf Basis der Cost-Function optimiert. Hierfür hat sich bei neuronalen Netzen die so genannte Backpropagation-Methode42 als Standard etabliert, die von uns in Form des Adam-Algorithmus angewandt wird. Bei Backpropagation werden alle unbekannten Variablen erst mit Zufallswerten gesetzt. Anschließend lässt sich ein erstes vorläufiges Ergebnis für die Trainingsdaten berechnen. Basierend darauf kann die Ableitung der Cost-Function und von dort an rückwärts zu den vorherigen Layers des Netzwerkes erfolgen. Dadurch weiß man, welche Variable in welche Richtung angepasst werden muss. Das Maß der Anpassung wird vorab durch die so genannte Learning Rate (in der Regel eine sehr kleine Zahl) gesetzt. Dieser Vorgang wird mehrfach – häufig tausendfach – wiederholt, bis keine signifikanten Verbesserungen des Modells erreicht werden. Ein großes Problem bei der automatischen Klassifizierung von Texten ist, dass die Klassen häufig ungleich verteilt sind. Im konkreten Fall waren nur 2.048 der 98.000 Kommentare sexistisch – also in etwa 2 %. Trainiert man den Algorithmus auf sämtliche Daten, dann lernt das Modell überwiegend Muster aus nichtsexistischen Kommentaren und nicht die Muster, die wirklich maßgeblich für Sexismus sind. Eine gebräuchliche Praxis ist es deswegen, das Daten-Set für die Modellbildung so zu verändern, dass die Klassen ausgewogen sind. Im konkreten Fall wurde das Modell daher auf die sexistischen und auf 2.048 zufällig ausgewählte nicht-sexistische Kommentare trainiert. Ein weiteres Problem beim maschinellen Lernen entsteht durch das sogenannte Overfitting:43 Der Algorithmus lernt Muster zu erkennen, die auf den gegebenen Daten zwar eine Unterscheidung zwischen den Klassen ermöglichen, die aber in Wirklichkeit zufällig auftreten und sich nicht in neuen Daten wiederfinden. Daher 41 Vgl. Bahdanau et al. 2014. 42 Vgl. Werbos 1990. 43 Vgl. Patterson, Gibson 2017, S. 26-27. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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ist es wichtig, dass man die Ergebnisse der Klassifizierung auf Daten überprüft, die selbst nicht in die Modellbildung eingeflossen sind. In diesem Artikel sind 80 % der Daten für das Training des Modells benutzt worden und das optimierte Modell wurde dann auf die verbleibenden 20 % getestet. Darüber hinaus verwendet man »Tricks«, um den Optimierungsalgorithmus anzupassen. Das Modell wird immer nur auf einen Teil der Daten optimiert (Mini-Batches, stochastic gradient descent).44 Zusätzlich werden immer nur zufällig ausgewählte Nodes optimiert (dropout). In unserer Studie benutzen wir zwei unterschiedliche Test-Sets. Das erste Test-Set beinhaltet zufällige ausgewählte Kommentare aus dem gesamten Datensatz. Das zweite Test-Set beinhaltet ausschließlich Kommentare, die das Modell aus dem Trainingsvorgang bereits kennt (filtered). Auch wenn man diese Maßnahmen gegen Overfitting ergreift, stellt sich immer noch die Frage, wie sich die Qualität des Modells letztlich bemessen lässt. Dafür gibt es unterschiedliche Kennzahlen. Ein intuitiver Ansatz gründet darin, die Genauigkeit (Accuracy) zu kalkulieren. Dafür wird berechnet, bei wie viel Prozent der Testdaten der Algorithmus das richtige Ergebnis erzielt hat, also in unserem Fall, wie viel Prozent der Fälle in die richtige Kategorie von Sexismus eingeordnet wurden. Dieser Wert sagt aber noch nichts darüber aus, ob ein Modell einer Kategorie zu viele oder zu wenige Kommentare zuweist. Daher ziehen wir zwei weitere Maße heran: Precision und Recall. Precision ist das Verhältnis der richtig positiv klassifizierten Fälle zu den insgesamt positiv klassifizierten Fällen, also in einem Modell, dass nur zwischen Sexismus und Nicht-Sexismus unterscheidet, die Anzahl aller richtigerweise als sexistisch vorhergesagten Fälle im Verhältnis zu allen Fällen, bei denen das Modell die Antwort »sexistisch« gibt. Recall hingegen beschreibt das Verhältnis aller richtigerweise als sexistisch kategorisierten Fälle zu allen wirklich vorkommenden sexistischen Fällen. Hat man es mit mehreren Klassen zu tun, die noch dazu ungleich verteilt sind, dann ist es sinnvoll, Precision und Recall in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Dies geschieht über den sogenannten F1-Score. F1 berechnet sich aus dem Verhältnis von Precision multipliziert mit Recall zu Precision plus Recall, welches mit 2 multipliziert wird: 𝐹 1 − 𝑠𝑐𝑜𝑟𝑒 =

𝑝𝑟𝑒𝑐𝑖𝑠𝑖𝑜𝑛 ⋅ 𝑟𝑒𝑐𝑎𝑙𝑙 𝑝𝑟𝑒𝑐𝑖𝑠𝑖𝑜𝑛 + 𝑟𝑒𝑐𝑎𝑙𝑙

⋅ 2 .

Dieser Wert ist weniger intuitiv, hat sich aber für die Bewertung von Klassifizierungsproblemen mit mehreren ungleich verteilten Klassen sehr bewährt.45 Schließlich bleibt noch die Frage, wie die Worte überhaupt im Algorithmus verarbeitet werden können, da Computer als Rechenmaschinen mit Zahlen und nicht mit Worten arbeiten. Während man früher jedem Wort eine Zahl zugewiesen hat, hat sich inzwischen eine neue Technik durchgesetzt, bei der jedes Wort als ein mehrdimensionaler Vektor dargestellt wird (word embeddings). Diese Vektordarstellung wird selbst in einem separaten Modell trainiert, so dass Worte, die häufig

44 Ebd., S. 98 ff. 45 Vgl. Sarkar 2016, S. 204.

Algorithmen gegen politischen Sexismus

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gemeinsam auftreten, nahe beieinander in diesem Vektorraum liegen. Dadurch werden semantische Informationen, die im Kontext der Texte codiert sind, mathematisch aufgegriffen. In diesem Artikel verwenden wir den GloVe-Algorithmus46 zum Berechnen der Embeddings mit 300 Dimensionen, der auf den kompletten Datensatz der Kommentare trainiert wurde. Anstatt die Embeddings vorab kontextbezogen zu trainieren, gibt es auch die Möglichkeit, diese zusätzlichen unbekannten Variablen (300 pro Wort) in einem Zug mit dem eigentlichen Modell zu trainieren. Jedoch lassen sich die Embeddings dann nicht mehr als semantischer Kontext interpretieren, sondern enthalten Gewichte, die die Bedeutung zum eigentlichen Klassifikationsproblem repräsentieren. Ein großer Vorteil in modernen Deep-Learning-Ansätzen ist, dass vorab trainierte Modelle weiterverwendet werden können. Es können also Embeddings benutzt werden, die zuvor auf den semantischen Kontext optimiert wurden und nun für die Klassifizierung weiter trainiert werden. Im Resultat testen wir drei unterschiedliche Modelle: Als Input dienen die GloVe-Embeddings, die aber im Laufe des Trainingsprozesses weiter optimiert werden. Im ersten Modell kommt dann eine LSTM-Layer mit 64 Neuronen und dropout von 0.4, gefolgt von einer Layer mit sechs Neuronen und einer Sigmoid-Funktion, wodurch für jede Klasse (neutral und fünf Arten von Sexismus) eine Wahrscheinlichkeit berechnet wird. Im zweiten Modell wird die LSTM-Layer durch eine Self-Attention-Layer ersetzt. Da dieses Modell insgesamt deutlich besser abschneidet, haben wir noch ein Attention-Modell auf die gefilterten Embeddings trainiert, um zu zeigen, welche Performance mit diesem Modell theoretisch möglich ist. Anschließend haben wir die beiden Attention-Modelle noch als binären Classifier getestet, der nur zwischen neutral und sexistisch unterscheidet. 3. Ergebnisse der Analyse 3.1 Deskriptive Analyse Im Rahmen der vorgestellten Forschungsarbeit wurden die knapp 100.000 Kommentare zunächst mittels deskriptiver Statistik ausgewertet. Einerseits ermöglichen die Daten erstmals empirisch gestützte Annahmen über die Menge und die Ausprägung sexistischer Aussagen innerhalb der durch die Parteien bereitgestellten und kontrollierten Facebook-Seiten. Andererseits sind das Wissen über die Struktur, die Häufigkeit des Auftretens der verschiedenen Typen von Sexismus wichtige Hinweise darauf, wie die Ergebnisse des Klassifizierungsalgorithmus zu interpretieren sind und welche Kombination aus Algorithmus und Merkmalen bei der Klassifizierung hilfreich sein könnten.

46 Vgl. Pennington et al. 2014. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Abbildung 1: Verteilung des Typus von Sexismus im gesamten Datensatz. Eigene Abbildung.

Abbildung 1 zeigt die Verteilung der Kommentare innerhalb der 2048 sexistischen Kommentare im Datensatz. Hierbei zeigt sich eine besonders starke Ausprägung in der Kategorie 1. Hieraus lässt sich schließen, dass die Parteien sexistische oder diffamierende Spitznamen von Politikern wie »Mutti Merkel« oder »Flintenuschi« nicht löschen. Des Weiteren ist damit eine Kategorie am stärksten, die sich weder dem traditionellen noch dem modernen Sexismus zuordnen lässt. Die Kategorien 2 und 3 sind Typen des modernen Sexismus, während 4 und 5, die gemeinsam unter 10 % ausmachen, dem traditionellen Sexismus zuzuordnen sind. Hierbei ist auch zu beachten, dass die verschiedenen Parteien aktiv Kommentare, die sie selbst als sexistisch und diffamierend einstufen, von ihren Seiten entfernen.47 Ein Kennzeichen des modernen Sexismus ist, dass er unterschwellig und schwieriger zu erkennen ist. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei der gezielten Löschung eher um Kommentare im Bereich des traditionellen Sexismus handelt. Da also die ursprüngliche Anzahl von sexistischen Kommentaren weit größer ist, scheint auch der Anteil des traditionellen Sexismus stärker vertreten zu sein. In jeder Partei sind alle Typen sexistischer Kommentare zu finden. Die Verteilung innerhalb der verschiedenen Kategorien ist jedoch unterschiedlich. Hierbei ist zu beachten, dass es keine Vergleichbarkeit bezüglich der Menge der verschiedenen Typen untereinander gibt, da die verschiedenen Grafiken von verschiedenen Grundmengen an Kommentaren ausgehen (siehe Abbildung 2). Die Verteilungen sind aber qualitativ vergleichbar, insbesondere im Verhältnis der auftretenden Klassen zueinander. Es zeigt sich, dass die Verteilung innerhalb der mit den Parteien AfD, CDU und CSU assoziierten Kommentare ähnlich ist, ebenso wie die der Parteien Bündnis 90/Die Grünen, SPD und DIE LINKE. Die einzige Partei, bei der sich keine signifikanten Ähnlichkeiten zu einer der anderen Parteien finden lassen, ist die FDP. 47 Vgl. Christlich-Soziale Union 2018.

Abbildung 2

Sexistische Kommentare auf den mit der AfD assoziierten Seiten sortiert nach Typ

Sexistische Kommentare auf den mit der CDU assoziierten Seiten sortiert nach Typ

Sexistische Kommentare auf den mit der CSU assoziierten Seiten sortiert nach Typ

Sexistische Kommentare auf den mit der FDP assoziierten Seiten sortiert nach Typ

Sexistische Kommentare auf den mit Bündnis90/DieGrünen assoziierten Seiten

Sexistische Kommentare auf den mit DIE LINKE assoziierten Seiten sortiert nach

Sexistische Kommentare auf den mit der SPD assoziierten Seiten sortiert nach Typ

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Infratest DiMap hat 2018 eine Studie herausgebracht, in der alle relevanten Parteien in Deutschland auf einer Skala zwischen 0 und 11 eingeordnet wurden, wobei 0 für sehr links und 11 für sehr rechts standen. Kategorie 5, die homophobe Kommentare beinhaltet, tritt eher bei linken Parteien, die einen Score von niedriger als 5,5 innerhalb dieser Studie aufweisen, auf. Typ 2 wiederum findet sich hauptsächlich in den Kommentaren der Parteien DIE LINKE, FDP und SPD. Die Daten stammen aus dem Wahljahr 2017. Die Spitzenkandidaten der zugehörigen Parteien waren Sarah Wagenknecht, Christian Lindner und Martin Schulz. Allen drei Kandidaten wird in den Medien eine sexuelle Attraktivität unterstellt, die die öffentliche Meinung widerspiegelt. Insofern ist diese Erkenntnis nicht überraschend. Eine letzte Erkenntnis betrifft die verwendeten Worte. Analysiert man die am häufigsten verwendeten Worte innerhalb der sexistischen Kommentare, dann stellt man fest, dass die Terminologie überwiegend nur im Kontext als sexistisch zu werten ist. Es handelt sich dabei also nicht um Schimpfworte oder diffamierende Ausdrücke. Hierbei wurden insbesondere Erwartungen hinsichtlich des Zusammenhanges von der politischen Einordnung der Partei innerhalb des Links-Rechts-Spektrums und der Verteilung der verschiedenen Typen von Sexismus sowie den Spitzenkandidaten aus dem Wahljahr 2017 und den verschiedenen Typen von Sexismus überprüft. 3.2 Analyse der verschiedenen Modelle Die beiden resultierenden Modelle, sprich die Modelle, welche die besten Resultate in der Klassifikation erzielten, sind die folgenden: Tabelle 3: Ergebnisse der verschiedenen Modelle bei Klassifikation der Kommentare in 5 verschiedene Sexismus-Typen (vgl. Tabelle 1) Model

Embeddings

Trainab le

Accuracy

F1 neutral

F1 - sexismus 1

F1 - sexismus 2

F1 - sexismus 3

F1 - sexismus 4

F1 - sexismus 5

LSTM

GloVe

True

0.87

0.69

0.62

0.49

0.26

0.04

0.42

Attention

GloVe

True

0.9

0.76

0.61

0.5

0.34

0.17

0.35

Attention

GloVe filtered

True

0.92

0.81

0.78

0.75

0.59

0.42

0.55

Die beiden getesteten Grundmodelle erzielten insgesamt unterschiedlich gute Ergebnisse: Am besten schnitt das Modell ab, das sowohl GloVe als auch eine Filterung der Kommentare im Test-Set, das nur Kommentare, deren Worte bereits im Trainings-Set vollständig enthalten waren, verwendete. Dennoch erzielten alle Modelle einen F1-Score über null in allen fünf Kategorien. Das bedeutet, dass es jedem Modell möglich war, alle fünf Typen von Sexismus (vgl. Tabelle 2) zu iden-

Algorithmen gegen politischen Sexismus

297

tifizieren. Trotzdem haben alle Modelle gezeigt, dass die Klassen eins bis drei besser zu identifizieren sind als die Klassen vier und fünf. Das beste Modell wurde dann wiederum verwendet, um zu testen, wie gut der Algorithmus funktioniert, wenn er nur zwischen sexistischen und neutralen Kommentaren unterscheiden soll, ohne die Art des Sexismus zu klassifizieren. Tabelle 4: Ergebnisse der zuvor am besten getesteten Modelle bei Klassifikation in zwei Kategorien (sexistisch/neutral) Model

Embeddings

Trainable

Accuracy

F1 - sexist

F1 - neutral

Attention

GloVe

True

0.80

0.80

0.81

Attention

GloVe filtered

True

0.92

0.92

0.91

Tabelle 4 zeigt die Ergebnisse der bereits auf eine Klassifikation in fünf Kategorien angewendeten Algorithmen bei einer Klassifikation in zwei Kategorien. Hier erzielt der Algorithmus eine Trefferquote von 92 %. Die vorgestellten Modelle klassifizieren also im Durchschnitt mehr als neun von zehn Kommentaren richtig als sexistisch oder nicht-sexistisch. Die maschinelle Klassifikation ist damit fast so gut wie eine vom Menschen händisch durchgeführte Klassifikation. Die folgende Diskussion erläutert noch einmal, welches Potential durch Erweiterungen und Anpassungen des Algorithmus in den Modellen enthalten ist. Sie ordnet die Ergebnisse hinsichtlich ihrer Aussagekraft ein und diskutiert die Herausforderungen sowohl bei der Entwicklung eines solchen Algorithmus als auch bei der Verwendung eines Deep-Learning-Modells zur Klassifikation von Sexismus im Allgemeinen. 4. Diskussion In den vorherigen Abschnitten wurde die Notwendigkeit eines Systems, das sexistische Kommentare erkennt und kategorisiert, wie auch der zugrunde liegende Begriff von Sexismus und einige Modelle, die eine solche Klassifikation ermöglichen, vorgestellt. Dennoch gibt es sowohl bei der Entwicklung als auch bei der Einführung eines solchen Systems einige Herausforderungen, die es zu diskutieren gilt. 4.1 Grenzen und Möglichkeiten der automatisierten Erkennung von Sexismus Die bisher vorgestellten Modelle zeigen bereits sehr gute Ergebnisse. Dennoch gibt es weitere Möglichkeiten, ihre Performance zu verbessern. Eine Möglichkeit bestünde zum Beispiel darin, weitere State-of-the-Art Architekturen zur Verbesserung des Modells zu nutzen. Derartige Architekturen bestehen aus besonders tiefen neuronalen Netzen, die sowohl auf Wort- als auch auf Zeichenebene angewendet werden können und bereits gute Ergebnisse bei ähnlichen Textklassifikationen erzielt haben. Im Gegensatz zu den präsentierten Modellen verwenden die-

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se beispielsweise statt der absoluten Wortabstände Repräsentationen relativer Wortabstände. Dies macht die Modelle flexibler. Die Anwendung effizienter Repräsentationen für die Positionierung von Worten hat bereits beeindruckende Verbesserungen insbesondere im Bereich von maschinellen Übersetzungen gezeigt.48 Eine weitere Möglichkeit wäre, besonders tiefe Attention-Modelle mit einem festen Kontext zu verwenden. Sie berücksichtigen immer dieselbe Anzahl von Worten oder Zeichen, vor und nach dem gerade betrachteten Element, zur Berechnung des Outputs.49 Es ist davon auszugehen, dass diese Methoden noch einmal bessere Ergebnisse erzielen werden als die bereits vorgestellten Modelle. Auch wenn die bisherigen Ergebnisse vielversprechend sind, hat diese Arbeit natürlich auch Grenzen in ihrer Aussagekraft. Eine Grenze liegt beispielsweise darin begründet, dass das Trainings- und Testdaten-Set manuell generiert wurde. Für zukünftige Arbeiten muss der vorhandene Datensatz also nicht nur erweitert, sondern auch validiert werden. Außerdem handelt es sich um die Analyse von Sprache. Die Schwierigkeiten bei der Definition wurden bereits erläutert, aber es gibt zwei elementare Hemmnisse, die insbesondere bei der Klassifizierung selbst ins Spiel kommen: Zum einen ergeben sich durch die Polysemie der Sprache, also die Mehrdeutigkeit von Worten im Allgemeinen, insbesondere bei der maschinellen Sprachanalyse Schwierigkeiten. Es ist nahezu unmöglich, für jeden Kommentar linguistisch eine bestimmte Bedeutung als die »richtige« oder tatsächlich »gemeinte« Bedeutung zu belegen. Bei jeder Klassifikation kann also nur aus dem Kontext heraus, der in diesem Fall häufig sehr kurz ist, angenommen werden, welche Bedeutung gemeint ist. Je nach Wort und Verwendung kann dies sehr eindeutig sein, es kann aber auch dazu führen, dass Worte unabsichtlich missinterpretiert werden.50 Zum anderen verändert sich Sprache fortwährend. Neue Worte kommen hinzu und die konnotative Bedeutung etablierter Begriffe wandelt sich.51 Beispiele hierfür sind Begriffe wie »Führer« oder »Arier«, die sich über historische Erfahrungen und Ereignisse von neutralen zu heute gemiedenen und mit Rassismus verknüpften Begriffen entwickelt haben. Diese dynamische Fortentwicklung zu integrieren, ist nur begrenzt möglich. Denn ein Klassifizierungsalgorithmus trainiert auf einer großen Datenmenge. Ändert sich die Bedeutung eines Wortes in der Realität, so hat sie sich für den Algorithmus zunächst nicht verändert. Andererseits finden solche Veränderungen in der Regel eher langsam statt. Geht man von einem stetig wachsenden Datensatz aus, so würde dieser die Dynamik automatisch mit aufnehmen. Für den vorhandenen Datensatz und andere Datensätze muss aber deshalb immer bedacht werden, dass die Worte natürlich nur in der Bedeutung der jeweiligen Zeit verstanden werden können. Auch hier zeigt sich wieder, dass eine Klassifikation von

48 49 50 51

Vgl. Shaw et al. 2018. Vgl. Le et al. 2018; Al-Rfou et al. 2019. Vgl. Spillner 1971, S. 247 ff. Vgl. Koch 1988, S. 341-342.

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demjenigen geprägt ist, der sie durchführt. Der zeitliche und gesellschaftliche Kontext, in dem sie durchgeführt wird, spielt eine enorme Rolle. Ähnlich wie die Sprache transformiert sich auch Sexismus fortlaufend. Durch die Entwicklung hin zu immer unterschwelligeren Formen sind neue Arten von Sexismus schwieriger zu erkennen. Dies ist insofern problematisch, als davon auszugehen ist, dass der Anteil dieses unterschwelligen Sexismus in Zukunft steigen wird, während der traditionelle Sexismus eher zurückgeht. Der Begriff der sexuellen Identität und ihrer Einordnung ist politisch strittig und keinesfalls eindeutig.52 Den stetigen Wandel von Sprache in all ihren Ausprägungen und Bedeutungen adäquat zu repräsentieren, ist maschinell nicht möglich. Der vorliegende Artikel hat sich insofern nur auf die Kernelemente des traditionellen und modernen Sexismus gestützt, gleichzeitig aber auch die Grenzen für die Dekonstruktion des Geschlechterbegriffs aufzuzeigen versucht. Abhängig vom künftigen Deutungs- und Begriffsverständnis des Geschlechts, der sexuellen Identität und des Sexismus müssen also Wege gefunden werden, diese neuen Formen ebenfalls durch klare Regeln zu operationalisieren. 4.2 Herausforderungen in der systematischen Anwendung von Algorithmen für die Erkennung und Entfernung von sexistischen Inhalten Neben den im vorigen Abschnitt beschriebenen Schwierigkeiten bei der Erstellung sinnvoller Modelle, die Sexismus systematisch erkennen, gibt es durchaus auch Herausforderungen, die unabhängig von der Entwicklung geeigneter Modelle sind und sich eher auf die Einführung und Anwendung eines solchen Algorithmus beziehen. Diese Herausforderungen sind insbesondere politischer und regulatorischer Natur. Eine Frage wäre zunächst, welche politischen Auswirkungen entsprechend klassifizierte Kommentare haben, insbesondere auch, welche politischen Folgen mit Falschklassifizierungen einhergehen. Und ferner, inwiefern derartige Falschklassifikationen von Kommentaren das Ansehen einer Partei in der Öffentlichkeit schädigen können. Die Gefahr, dass eine Statistik, die derartige Klassifizierungen enthält, missbräuchlich verwendet und politisch instrumentalisiert wird, ist keineswegs gering und, sofern sie öffentlich zugänglich sind, kaum zu vermeiden. Ferner bleibt auch die Frage, wie mit Kommentaren in Statistiken verfahren werden soll, die falsch klassifiziert wurden. Neben diesen technisch-operationalen Aspekten, die zweifellos gesellschaftspolitische Auswirkungen haben und dabei auch zu negativen Politisierungseffekten durch verzerrte Meinungsbilder führen können, gibt es jedoch auch die andere Seite, nämlich die der Opfer und Diffamierten. Die Folgen von Mobbing und Hassrede im Netz, insbesondere im Jugendalter, sind nachweislich vorhanden.53 Welche Frustration löst es also auf Seiten des Opfers aus, wenn der Algorithmus einen verletzenden Kommentar als nicht sexistisch markiert? Auf der anderen Seite beschränkt ein Algorithmus, der beispielsweise automatisch Kommentare flaggt 52 Vgl. Hark 2013, S. 9 ff. 53 Vgl. Kern 2014. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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oder sogar entfernt, auch die Rede- und Meinungsfreiheit. Diese ist – genauso wie das Recht ohne Diskriminierung zu leben – aber jede*r Bürger*in im Grundgesetz zugesichert. Der Schutz der Diskriminierten steht also im Spannungsverhältnis zum Recht auf freie Meinungsäußerung. Für den politischen Diskurs wäre ein irrtümlich negativ klassifizierter Kommentar ebenso verhängnisvoll wie umgekehrt, ein fälschlicherweise nicht negativ klassifizierter Kommentar für die Seite des Opfers folgenschwer wäre. Ein ähnliches Spannungsverhältnis ergibt sich zwischen dem Kommentierenden und der Rezipient*in beziehungsweise zwischen dem Opferschutz und der Meinungsfreiheit. Eine Klassifizierung eines nicht sexistischen Kommentars als sexistisch wäre aus Sicht des Opferschutzes dem umgekehrten Fall vorzuziehen – bei der Meinungsfreiheit verhält es sich genau anders herum. Genau aus diesen Gründen ist es wichtig, durch eine geeignete Modellentwicklung inklusive der Begriffsentwicklung sowie durch adäquate Regulierungsmaßnahmen die Konsequenzen von Falschklassifikationen in beide Richtungen zu bestimmen und entsprechend auszubalancieren. Einerseits führt kein Weg an der Einführung eines solchen automatischen Klassifikationssystems vorbei, andererseits muss dazu ein online trainierbares System – idealerweise in Echtzeit – und in mehreren Sprachen entwickelt werden. Derzeit verwenden die Konzerne Leitfäden, die hochkomplexen Entscheidungsbäumen gleichen und dann von Menschen durchgegangen werden, um zu entscheiden, ob ein Kommentar den sogenannten Gemeinschaftsrichtlinien einer Plattform entspricht oder nicht. Auch hier spielt das subjektive Empfinden der jeweiligen Mitarbeiter*in eine große Rolle. Denn kein Regelbuch kann alle Fälle abdecken. Hier zeigt sich erneut, dass ein Algorithmus, der Sexismus klassifiziert, genauso gut sein muss wie die Klassifikation von menschlicher Hand. Die vorherigen Abschnitte haben gezeigt, dass die menschliche Subjektivität, also der subjektive Faktor der klassifizierenden Wissenschaftler*in bzw. Programmierer*in, sowohl in die Klassifikation der Daten wie auch in den jeweiligen Sexismusbegriff und in den Algorithmus mit einfließt. Gleichwohl haben sie auch gezeigt, dass die Modelle schon so gut operieren wie händische Klassifikationen. Eine weitere Frage, die sich zwangsläufig stellt, ist die Frage nach der Legitimation. Der Einsatz eines Algorithmus, der darüber entscheidet, welche Kommentare sexistisch zu werten sind und welche nicht, und der ferner auch für die entsprechende Entfernung einzelner Kommentare zuständig ist, würde in die Meinungsfreiheit einwirken. Denn er müsste kontrollieren, bewerten und entscheiden, welche Begriffe oder Kommentare zulässig sind und welche nicht. Der Algorithmus würde in der digitalen politischen Öffentlichkeit also auch zur digitalen Polizei avancieren. Um die politische Öffentlichkeit in ihren demokratischen Prämissen zu schützen, müssten die Entscheidungen eines solchen Algorithmus entsprechend transparent und nachvollziehbar bleiben. Eng verbunden mit dem Faktor der Subjektivität, mit der Komplexität der Materie und mit der Problematik, wie eng oder weit der Sexismusbegriff, auf dessen Basis der Algorithmus operiert, gefasst sein sollte, steht die Frage nach Verantwortung und Umgang mit den entsprechend klassifizierten Kommentaren. Im Gegen-

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satz zu traditionellen Medien gibt es innerhalb der sozialen Medien keine journalistische Sorgfaltspflicht. Die Inhalte der sozialen Medien sind die Inhalte der Nutzer*innen, nicht die der Plattformbetreiber, die daher auch nicht die Agenda der Nachrichten festsetzen. In den letzten Jahren gab es unterschiedliche Versuche und Vorschläge für die Etablierung einer etwaigen ›Sorgfaltspflicht‹, ohne dabei den offenen Charakter der sozialen Medien zu stark anzugreifen. Der weiteste Vorstoß dahingehend ist das 2017 in Kraft getretene Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das Betreiber sozialer Plattformen für bestimmte Inhalte haftbar zu machen sucht und sie zur Entfernung demokratiefeindlicher Inhalte aufruft.54 Dieses Gesetz wurde schon mit der Einführung stark diskutiert. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass die Umsetzung nur schlecht bis hinreichend funktioniert.55 Auch hier stellt sich heraus, dass die händische Meldung von Hass und Hetze im Internet nicht funktioniert. Das Gesetz wird u. a. auch dafür kritisiert, dass es in der Umsetzung zu wenig transparent und schwierig zu handhaben sei. Schwierigkeiten zwischen gesetzlicher Regulierung und politischer Öffentlichkeit entstehen insbesondere auch dadurch, dass Gesetzgeber nicht stärker mit den Plattformbetreibern zusammenarbeiten – selbst (und gerade) dort, wo die Unternehmen nicht an nationale gesetzliche Regelungen gebunden sind. Ein Algorithmus könnte dabei unterstützend wirken, da er das Problem der Anwendbarkeit behebt und auch die nötige Transparenz gewährleistet, vorausgesetzt seine Regeln werden öffentlich gemacht. Doch selbst hierbei würden vor allem politische Fragen entstehen, welche wiederum politische Antworten erfordern. Wer soll über die Regeln der Algorithmen entscheiden; wer wiederum kontrolliert die Einhaltung dieser Regeln; und wie sollen die Kompetenzen im digitalen Strukturwandel künftig aufgeteilt werden? Angenommen, die Unternehmen würden selbst für das Entfernen bestimmter Kommentare verantwortlich werden, bleibt die Frage, ob kleinere Firmen überhaupt die Kapazität hätten, hinsichtlich der Datenmenge und der Ressourcen, derartige Systeme zu etablieren. Neben diesen gesellschaftspolitischen Herausforderungen haben die Untersuchungen in diesem Artikel gezeigt, wie subjektiv und kontextabhängig die Bewertungen der Kommentare insbesondere im Bereich Sexismus sind. Auch wenn bestimmte Definitionen und Kriterien für einen bestimmten Zeit- und Geltungsraum durchaus allgemeingültig bleiben, hat sich ebenso herausgestellt, dass die Systeme nicht kontextunabhängig eingesetzt werden können. Ihre Entwicklung, insbesondere hinsichtlich der Regeln und der Etablierung einer geeigneten Datenbasis, ist ein hochkomplexer Prozess. Umso notwendiger erscheint es, dass er von wissenschaftlicher wie gesellschaftlicher Seite begleitet und kritisch reflektiert wird.

54 Vgl. Bundesamt für Justiz 2019. 55 Vgl. Zeit Online 2019b. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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5. Fazit Die dem Artikel zugrunde liegende Frage, ob es möglich ist, Sexismus maschinell zu erfassen und zu klassifizieren, kann grundsätzlich bejaht werden. Das Resümee beruht dabei auf den folgenden vier Ergebnissen: Erstens wurde ein Modell für »Political Sexism in Social Media« geschaffen, das theoretisch und methodisch auf den Konzepten von Sexismus und Feminismus beruht und eine klare Klassifikation von Sexismus in verschiedene Kategorien vornehmen kann. Dieses flexible System erlaubt einerseits eine differenzierte Diskussion über Sexismus und bietet andererseits eine Basis semantischer Regeln, auf der die Modelle aus dem Bereich des maschinellen Lernens arbeiten können. Zweitens wurde mit einem Daten-Set aus sozialen Medien operiert, das sowohl mit den modernsten Methoden gelabelt wurde, wie auch eine vergleichsweise große Datenmenge enthält. Dabei haben sich verschiedene Modelle aus dem Bereich des maschinellen Lernens und des Deep Learning als geeignet erwiesen, um unterschiedliche Arten von Sexismus zu klassifizieren. In einer Art ›Proof of Concept‹ konnte gezeigt werden, wie derartige Modelle aufgebaut sein müssen und welche grundlegenden Strukturen sich eignen, um ein solches System zu erstellen. Neben der bereits erwähnten Notwendigkeit und Realisierbarkeit derartiger Systeme hat sich drittens herausgestellt, dass es zwar nicht möglich ist, einen sozial geprägten Begriff genauso deterministisch abzubilden, wie es den Natur- und Computerwissenschaften gegeben ist; dass sich aber gleichwohl soziale Kriterien und Prämissen definieren lassen, die dem Algorithmus bei der Identifizierung und Klassifizierung zugrunde gelegt werden können. Derartige Definitionen gelten zwar nicht unbeschränkt und die Prämissen sind nicht unumstößlich. Dennoch basieren sie auf gesellschaftlich wie historisch etablierten Erfahrungswerten. Das vierte und abschließende Resultat betrifft die Notwendigkeit eines solchen Klassifizierungssystems: Zum einen ist es aufgrund der immensen Datenmengen heute, in der digitalen Öffentlichkeit, kaum noch möglich, Datensätze händisch auszuwerten. Zum anderen fungieren soziale digitale Plattformen immer mehr als Diskursräume, die die politische Öffentlichkeit beeinflussen und sich dabei auch auf politische Meinungs- und Willensbildungsprozesse auswirken. Der Inhalt der Diskurse entscheidet insofern maßgeblich über die Qualität der politischen Öffentlichkeit. Wo also Diskurse einseitig, diskriminierend und diffamierend geführt werden, sei es beabsichtigt oder nicht, dort verfällt auch das politische Klima einer Gesellschaft; und dort werden negative Politisierungseffekte sichtbar, die von den traditionellen staatlichen wie medialen Instanzen kaum noch aufgefangen und entsprechend eingedämmt werden können. Insofern müssen technische Regularien etabliert werden, die bei der Eindämmung dieser Effekte unterstützend wirken und damit auch als gesellschaftliche Filter fungieren. Die vorgestellte Arbeit ist ein erster Schritt in Richtung automatischer Erkennung von Sexismus in Social Media. So wie sich die Struktur des politischen Diskurses auf Plattformen verändert, unterliegt auch der Inhalt der Diskurse einem strukturellen Wandel. Facebook ist nicht nur eine der größten Datenbanken der Welt, sondern avanciert zunehmend zum Diskursraum von privater wie öffentli-

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cher Kommunikation, die unseren Alltag, unsere Einstellungen und unsere Denkweisen beeinflusst. Dabei unterschätzen sowohl die Nutzer*innen wie auch Politik und Forschung nach wie vor, welche Bedeutung und vor allem auch welche Auswirkungen ihr Verhalten auf den sozialen Plattformen haben kann. Bis zu einer erfolgreichen Implementierung eines Algorithmus werden zwar noch weitere Validierungen der Modelle und erweiterte Datensätze nötig sein. Dennoch ist eine kritische Auseinandersetzung mit den genannten Herausforderungen bereits jetzt für den politischen Diskurs unabdingbar. Sexistische Kommentare von den digitalen Plattformen nur zu entfernen, wird alleine nicht ausreichen, um eine gesellschaftliche Sensibilisierung und einen bewussteren Umgang mit dem Thema zu schaffen. Denn hierfür sind auch gesellschaftliche Einstellungen zu ändern, ein tieferes Verständnis für Sprache wie auch für soziale und digitale Interaktion zu entwickeln. Dennoch können technische Maßnahmen dabei unterstützend wirken. Und sie können Wirkmechanismen bilden, die wiederum den Anstoß für eine Transformation des gesellschaftlichen Gedankenguts hin zu einer gendergerechten Gesellschaft geben. Literatur Al-Rfou, Rami; Choe, Dokook; Constant, Noah; Guo, Mandy; Jones, Llion 2019. »Characterlevel language modeling with deeper self-attention«, in Proceedings of the AAAI Conference on Artificial Intelligence, S. 3159-3166. Arendt, Hannah 2010. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper Verlag. Badjatiya, Pinkesh; Gupta, Shashank; Gupta, Manish; Varma, Vasudeva 2017. »Deep learning for hate speech detection in tweets«, in Proceedings of the 26th International Conference on World Wide Web Companion, S. 759-766. Bahdanau, Dzmitry; Cho, Kyunghyun; Bengio, Yoshua 2014. »Neural Machine Translation by Jointly Learning to Align and Translate«, in arXiv preprint arXiv:1409.0473. Benoit, William Lyon 1997. »Hate Speech«, in Argumentation 11, hrsg. v. Whillock, Rita Kirk; Slayden, David. S. 381-383. Heidelberg: Springer Netherlands. Benokraitis, Nijole V.; Feagin, Joe R. 1995. Modern Sexism: Blatant, Subtle, and Covert Discrimination. London: Pearson College Div. Bird, Caroline 1968. »On Being Born Female«, in Vital Speeches of the Day 25, 3, S. 88-91. Blume, Markus 2020. Markus Blume. https://www.facebook.com/pg/markusblumecsu/about/?r ef=page_internal (Zugriff vom 10.02.2020). Boshammer, Sabine 2008. »Sexismus«, in Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, hrsg. v. Gosepath, Stefan; Rössler, Beate; Hinsch, Wilfried, S. 1163-1166. Berlin: De Gruyter. Bundesamt für Justiz 2019. Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken. https://www.bundesju stizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/NetzDG/NetzDG_node.html (Zugriff vom 01.09.2019). Butler, Judith 2004. »Changing the Subject: Judith Butler’s Politics of Radical Resignification. Interview mit Gary A. Olson und Lynn Worsham«, in The Judith Butler Reader, hrsg. v. Butler, Judith; Salih, Sara, S. 325-356. Malden, Oxford, Victoria: Blackwell. Butler, Judith 2012. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Cameron, Deborah 2016. Sexism In Language: A Problem That Hasn’t Gone Away, https://dis coversociety.org/2016/03/01/sexism-in-language-a-problem-that-hasnt-gone-away/ (Zugriff vom 08.10.2018) Christlich-Soziale Union in Bayern e. V. 2018. Netiquette. https://www.facebook.com/pg/CSU/ about/?ref=page_internal (Zugriff vom 01.09.2019). Christlich-Soziale Union in Bayern e. V. 2020. CSU (Christlich-Soziale Union). https://www.fac ebook.com/CSU/ (Zugriff vom 10.02.2020).

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Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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Fabienne Marco, Simon Hegelich, Linda Sauer und Orestis Papakyriakopoulos

Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Frage, ob eine maschinelle Kategorisierung von Sexismus im politischen Kontext an Hand von Deep-Learning-Methoden möglich ist. Hierbei wird gezeigt, dass Attention-Netzwerke mit einer geeigneten Operationalisierung bereits hervorragende Ergebnisse erzielen. Im Anschluss werden die Herausforderungen bei der Algorithmenentwicklung, -einführung und -regulierung diskutiert. Stichworte: Sexismus, Maschinelles Lernen, Attention-Netzwerke, Social Media

Algorithms against Sexism – Machine Learning as an Impulse for Social Rethinking Summary: The paper deals with the question of whether a machine-based categorization of sexism in the political context is possible with deep learning methods. Here it is shown that attention networks with a suitable operationalisation already achieve excellent results. Subsequently, the key challenges of algorithm development, implementation and regulation will be discussed. Keywords: Sexism, Machine Learning, Attention Networks, Social Media

C. Verlust oder Revitalisierung demokratischer Politik – demokratietheoretische Reflexionen

Grit Straßenberger

Die Rückkehr des Politischen? Anmerkungen zu re- und destabilisierenden Effekten radikaldemokratischer Protestartikulation

In den letzten zwei Jahrzehnten ist es zu einer »Rückkehr des Politischen«1 gekommen.2 Diese Rückkehr hat sich zunächst nicht in den klassischen Foren und Institutionen demokratischer Politik ereignet, also nicht dort, wo sich der Demos und seine Repräsentanten üblicherweise versammeln, im Parlament, in den Parteien oder in lokalen, nationalen und medialen Öffentlichkeiten. Sie hat vielmehr als eine radikal-kritische Denkbewegung begonnen, die vom Rand der politiktheoretischen Diskussion her die postpolitische Praxis liberaler Demokratien ebenso scharf attackierte wie die Deutungshoheit des Politischen Liberalismus, der innerhalb der politischen Theorie lange Zeit eine Art Alleinvertretungsanspruch auf die kritische Analyse der sozialen, politischen und moralischen Verfasstheit liberal-demokratischer Gesellschaften beansprucht hat. In ihrem zentralen Anliegen, die hegemoniale Allianz zwischen neoliberaler Politik, demokratischer Elitenherrschaft und Politischen Liberalismus aufzubrechen, unterläuft die radikaldemokratische Theorie des Politischen absichtsvoll die Trennung zwischen theoretischer Reflexion und politischer Praxis. Für Radikaldemokraten sind theoretische Kontroversen um die »richtige« Konzeption von Demokratie keine rein akademischen Auseinandersetzungen, sondern immer auch politische Kämpfe um die praktische Einlösung des demokratischen Versprechens auf soziale und politische Teilhabe. Politische Theorie ist diesem interventiven Theorieverständnis zufolge gerade keine handlungsentlastete Form der Reflexion, sondern konstitutiver Teil des politischen Kampfes um Hegemonie. Zu dem politisch interventiven Ansatz der radikalen Demokratietheorie gehört die pointierte Krisendiagnose, die (neo-)liberale Praxis demokratischer Elitenherrschaft und der sie theoretisch flankierende Politische Liberalismus befördere nicht nur eine »resignative Entpolitisierung«, sondern eben auch eine »empörte Re-Politisierung«, die zu einer das liberal-demokratische Ordnungsregime destabilisierenden Konfliktverschärfung führen kann. Diese Einschätzung der Selbstgefährdungen liberaler Demokratien wird mit einem Verständnis des Politischen verbunden, das kritische Renitenz zum exemplarischen Modus politischen Handelns erklärt und institutionelle oder autoritative Begrenzungen demokratischen Protests ablehnt.

1 So der Titel eines Sammelbandes zur aktuellen Demokratietheorie (Flügel, Heil, Hetzel 2004). 2 Ich danke den Herausgebern des Sonderheftes und den anonymen Gutachter_Innen für ihre sehr hilfreichen Hinweise und Vorschläge zum Text. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020, S. 309 – 329

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Grit Straßenberger

Die zentrale These, die in diesem Beitrag entwickelt werden soll, lautet, dass radikaldemokratische Ansätze zwar eine hohe krisendiagnostische Sensibilität für die Bedrohungen der liberalen Demokratie durch Entpolitisierungs- und Entfremdungsprozesse besitzen, aber das Selbstbegrenzungspotenzial politischer Konfliktaustragung überschätzen und damit die Gefahren radikaler Re-Politisierung für die Demokratie entweder unterschätzen oder die destabilisierenden Effekte radikaldemokratischer Protestartikulation bewusst in Kauf nehmen. Das unterscheidet radikaldemokratische von republikanischen Politiktheorien, die ebenfalls den Konflikt- und Kampfcharakter von Politik betonen, aber in der radikalen Entgrenzung der politischen Kampfzone eine die demokratische Dissensordnung gefährdende Destabilisierung sehen. Um diese These zu entwickeln, wird erstens das radikaldemokratische Verständnis von Politisierung von republikanischen Ansätzen abgegrenzt. Beide Theorietraditionen gelangen zwar zu ähnlichen krisendiagnostischen Einsichten hinsichtlich der Selbstgefährdungen liberal-demokratischer Ordnungen, entwickeln aber unterschiedliche Therapieangebote. Am Beispiel von Chantal Mouffes populistischer Wendung der »agonistischen Demokratie« soll zweitens aufgezeigt werden, dass eine radikale Politik der polarisierenden Konfliktverschärfung den pluralistisch-konfliktiven Ordnungsrahmen der liberalen Demokratie destabilisiert. In einer Zwischenbetrachtung werden drittens aktuelle Annäherungen der radikalen an die republikanische Demokratietheorie diskutiert. Daran anschließend wird viertens das Macht und Autorität vermittelnde politische Stabilisierungskonzept des »dissentiven Republikanismus« vorgestellt, wie es Hannah Arendt in ihrer performativen Konzeption des Politischen entwickelt hat.3 Fünftens soll das republikanische Konzept dynamischer Stabilität mit Blick auf die damit verbundenen Korrekturen der liberalen Demokratie konturiert werden. 1. Entpolitisierung – Re-Politisierung – Destabilisierung? Der demokratietheoretische Schnittpunkt republikanischer und radikaldemokratischer Politiktheorien ist die Kritik an liberalen Konsensmodellen von Politik und, damit verbunden, die Auszeichnung des konfliktiven Modus‹ des Politischen. Zunächst unabhängig davon, wie die Konflikthaftigkeit des Politischen jeweils begründet wird, bildet die normative Verschwisterung von Demokratie und Agonalität den Ausgangspunkt für die geteilte Einsicht, dass es sich bei Entpolitisierung und Re-Politisierung um zwei aufeinander bezogene Prozesse handelt. Entpolitisierung wird als ein Indifferenz, Teilnahmslosigkeit, Vergleichgültigung und Apathie befördernder Prozess individueller wie kollektiver Entfremdung gefasst, der – und das ist die der Entpolitisierung innewohnende Gefahr, auf die republikanische wie radikaldemokratische Politiktheorien gleichermaßen aufmerksam machen – zu einer emotional aufgeladenen und für radikale Alternativen empfänglichen Protesthaltung relevanter Teile des Volkes gegen die liberale Eliten-Demokratie

3 Zu Arendts »dissentiven Republikanismus« vgl. Straßenberger 2018, S. 120-125.

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führen kann.4 Re-Politisierung ist so betrachtet nicht nur eine mögliche, sondern eine erwartbare Reaktion auf Entpolitisierungs- und Entfremdungserfahrungen, die Bürger und Bürgerinnen in der elitären Praxis liberal-demokratischer Ordnungen machen und die zu einer grundsätzlichen, sich in radikalen Protesten politisierter »Wutbürger«5 entladenden Delegitimierung dieses politischen Ordnungsregimes führen können. Dass Entpolitisierungsprozesse zu affektiv aufgeladenen, liberale Demokratien destabilisierenden Re-Politisierungen führen können, gehört zu der von republikanischen und radikaldemokratischen Politiktheorien gleichermaßen formulierten Krisendiagnose hinsichtlich der Selbstgefährdungen liberal-demokratischer Ordnungen. Re-Politisierung ist aber zugleich Teil der vorgeschlagenen Therapie. Hier treten die Unterschiede zwischen der republikanischen und der radikaldemokratischen Theorie der Politik deutlich hervor. Zwar verbinden republikanische wie radikaldemokratische Ansätze mit Re-Politisierung eine Ausweitung und Intensivierung bürgerschaftlicher Selbstregierung und sehen darin einen Zugewinn an Freiheit, Gleichheit und Demokratie sowie die Beförderung politischer Haltungen wie aktive Parteinahme, leidenschaftliche Identifikation und gesteigerte Konfliktbereitschaft, aber das Verständnis von Politisierung ist ein grundsätzlich anderes: Die radikale Demokratietheorie hat ein positivistisch-normatives Verständnis von Veränderung, d. h., destabilisierende Effekte werden nicht nur grundsätzlich bejaht und forciert, vielmehr wird die Destabilisierung von Ordnung selbst zur Norm für demokratisches Handeln. Ob und wie diese Praxis der Destabilisierung konfliktaverser Ordnungen eine Restabilisierung demokratischer Konfliktordnungen befördert, bleibt vage oder gänzlich unbeantwortet, da die geforderte Intensivierung der Demokratie von stabilitätspolitischen Erwägungen entkoppelt wird. Die republikanische Politiktheorie löst die radikaldemokratische Opposition von Stabilität und Destabilisierung auf und denkt Destabilisierung und Stabilisierung notwendig zusammen: Die aus der Pluralität des Politischen resultierende grundsätzliche Fragilität politischen Handelns bleibt nicht nur bestehen, sondern wird selbst zum ausgezeichneten Modus, über den politische Ordnungen stabilisiert werden können. Voraussetzung ist freilich, dass die für das Politische konstitutive Pluralität institutionell befördert wird.6 Die unterschiedlichen Politisierungsverständnisse lassen sich semantisch als Gegensatz zwischen »Entfeindung/Befreundung« und »Verfeindung/Polarisierung« reformulieren. Republikanische Demokratietheorien – insbesondere solche, die im Anschluss an Niccolò Machiavelli und Alexis de Tocqueville auf die Institutionalisierung des begrenzten Konflikts abstellen7 – konzeptionalisieren Politisierung als einen kommunikativen Prozess der Entfeindung, der auf eine Hegung und Zivili4 5 6 7

Vgl. dazu Jörke, Selk 2017 sowie Volk 2013. Vgl. Vorländer 2011. Zum politischen Kontingenzdenken im 20. Jahrhundert vgl. Trimcev 2018. Der »Republikanismus« ist eine thematisch, ideengeschichtlich und methodisch sehr breit aufgestellte Theorieströmung, die sowohl mit dem »Kommunitarismus« als auch mit der Radikaldemokratie deutlich erkennbare Gemeinsamkeiten aufweist (vgl. dazu

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sierung von Konflikten abzielt und häufig mit einer aktiven Aussöhnungspolitik verbunden wird, die auch als Befreundung verstanden werden kann. Als gesteigerte Form der Entfeindung ist Befreundung eine aktive und zumeist auf lange Zeit angelegte Beziehungsarbeit. Diese institutionell und sozio-moralisch höchst anspruchsvolle Form der politischen Konfliktbearbeitung stellt auf die kommunikative Bearbeitung und narrative Bewältigung von Fremdheits- und Ablehnungserfahrungen ab. Das Politische wird zwar als ein nie wirklich abgeschlossener und konfliktbehafteter Prozess der Bearbeitung politischer Kontingenz verstanden, aber dieser konfliktive Prozess ist an ein verbindliches, (zumeist) in der Verfassung festgelegtes politisches Wertesystem gebunden, das zugleich die institutionellen Spielregeln für die integrative Austragung von Konflikten formuliert. Politische Freundschaft (zwischen Parteien und Bewegungen) wird hier als ein institutionalisierter Modus politischer Kommunikation vorgestellt, der auf Integration über Konflikt abstellt.8 Wenngleich die radikale Demokratietheorie eine heterogene Theoriefamilie darstellt, die durchaus verschiedene Auffassungen und Begründungen der Kontingenz und Konflikthaftigkeit von Demokratie umfasst,9 so gehören die integrative Austragung von Konflikten und, damit verbunden, die institutionellen und ethischen Begrenzungen demokratischer Protestartikulation nicht zu ihren Zielen. In der begrifflichen und politischen Gegenüberstellung von »Konflikt versus Konsens«, »Fragilität versus Stabilität«, »Emotionalität versus Rationalität« favorisieren radikaldemokratische Ansätze eine polarisierende Politik der Konfliktverschärfung, über die soziale, kulturelle und politische Unterschiede verstärkt und Prozesse der Entfremdung befördert werden. Eine Verfeindung gesellschaftlicher Konfliktparteien wird zwar nicht explizit befürwortet, kann aber auch nicht ausgeschlossen werden. Normativ als ein Modus unbegrenzter Konfliktsteigerung verstanden, verweigert sich das Politische einer institutionellen Festlegung. Demokratische Freiheit und politische Ordnung stehen hier in einem oppositionellen Verhältnis: Freiheit wird als eine anti-institutionalistische, das spontaneistische Moment der Irritation auszeichnende Bewegung des Aufbegehrens ausgezeichnet, während Richter 2016a; 2019). So wird etwa Benjamin Barbers (1994) Modell der »starken Demokratie« aufgrund seiner Forderung nach einer Intensivierung politischer Partizipation republikanisch-kommunitaristischen wie radikaldemokratischen Ansätzen zugeordnet (Comtesse et al. 2019, S. 468f.). Demgegenüber wird Hannah Arendt aufgrund ihrer genuin konflikthaften Konzeption des Politischen zwar gelegentlich als Vorläuferin der radikalen Demokratietheorie bezeichnet (Meyer 2019), ihr »dissentiver Republikanismus« geht aber in deutliche Distanz zur Radikaldemokratie (vgl. Straßenberger 2011). – Trotz der großen Varianz umfasst republikanisches Denken vier Kerncharaktistika: erstens die zentrale Funktion der Öffentlichkeit als ausgezeichnetem Ort demokratischer Deliberation und politischer Entscheidungsfindung, zweitens die Rolle sinnstiftender Narrationen für politische Identität, drittens den hohen tugendethischen Anspruch an die Kompetenz der Bürger und Bürgerinnen und viertens die öffentlich sichtbare Austragung von Konflikten. 8 Vgl. Bluhm, Malowitz 2012. 9 Zu den Ausprägungen radikalen Denkens der Demokratie vgl. Comtesse et al. 2019.

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Ordnung diese emanzipativen Protestpraxen herrschaftlich-hierarchisch reglementiert oder gar verunmöglicht. – Was folgt aus diesem radikaldemokratischen Freiheitsverständnis für den Umgang mit dem liberal-demokratischen Ordnungsmodell? 2. Revolutionäre Überwindung oder radikale Reform der liberalen Demokratie? Die radikale Demokratietheorie lässt sich durch drei zentrale Grundüberzeugungen charakterisieren: die Annahme der grundsätzlichen Kontingenz beziehungsweise Grundlosigkeit sozialer Ordnung, das Plädoyer für eine Intensivierung politischer Auseinandersetzungen in der Demokratie und das radikal-kritische Programm, die Verbindung von Macht und Diskurs neu zu konzeptionalisieren.10 Innerhalb des radikaldemokratischen Projekts wird die Krisendiagnose, den liberalen Gesellschaften sei ein gravierendes Demokratiedefizit eingeschrieben, das neben der Verstetigung sozio-ökonomischer Ungleichheitsverhältnisse politische Apathie und Entfremdung befördere, mit einer Theorie der Demokratie verbunden, die das grundlegend Ungewisse,11 das Unabgeschlossene,12 die grundsätzliche Offenheit13 und das Widerständige14 des Politischen ins Zentrum rückt und damit die emanzipative Erwartung verknüpft, die hegemoniale Allianz von neoliberalem Marktregime und sicherheitsfixiertem Kontrollstaat aufzubrechen und die gegen Markt- und Staatsmacht rebellierenden Protestbewegungen zu stärken.15 Uneinigkeit besteht innerhalb der radikalen Demokratietheorie jedoch sowohl darin, wie die normative Präferenz für politischen Dissens und Konflikt begründet wird, als auch in dem Verständnis von Konflikt und Radikalität selbst. In der sehr grundsätzlich ansetzenden Frage, ob die Annahme eines konflikthaft verfassten Politischen nicht eben jener Offenheit des Politischen zuwiderläuft, die gerade zu den Grundprämissen des postfundamentalistischen Ansatzes radikaler Demokratietheorie gehört, wird gegen Chantal Mouffe der Einwand erhoben, ihre an Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung anschließende Behauptung einer »Untilgbarkeit des Antagonismus«16 tendiere zu einer »Essentialisierung von Konflikten«.17 Demgegenüber wird Jacques Rancières Theoretisierung des Konflikts als eine Alternative ausgezeichnet, die die substantialistischen Annahmen des »linksschmittianischen« Essentialismus vermeidet und zudem sehr viel eindeutiger auf eine umfassende Einbeziehung derjenigen abzielt, die von den »semanti10 So Jacques Rancière im Interview mit Robin Celikates und Bertram Keller (Celikates, Keller 2006). 11 Lefort 1990. 12 Derrida 2003, S. 62; vgl. Derrida 1991, S. 96 f. 13 Laclau, Mouffe 1991, S. 130. 14 Butler 2006, S. 161f., 236; vgl. auch Butler 1991. 15 So etwa Butler 2016, S. 201, 212. 16 Mouffe 2007, S. 17. 17 Flügel-Martinsen 2013, S. 339. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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schen, institutionellen und distributiven Strukturen einer Gesellschaft« ausgeschlossen sind.18 In seiner die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen variierenden Gegenüberstellung von »Polizei« und »Politik«19 konzipiere Rancière demokratische Politik als eine »Bewegung des Aufbegehrens gegen die polizeiliche Ordnung«, wobei »der Dissens nicht aus einer antagonistischen Grundverfassung des Politischen abgeleitet wird, sondern schlicht ein Effekt der Partikularität einer jeden Ordnung darstellt«.20 In dieser Kontroverse treten Mouffe und Rancière nicht selbst als Kontrahenten auf, sondern werden innerhalb des radikaldemokratischen Rezeptionsdiskurses als Gegenspieler konstruiert. So spricht Mouffe zwar von einer untilgbaren Dimension des Antagonismus, die allen menschlichen Beziehungen inhärent und mit dem Politischen identisch sei,21 will ihren gemeinsam mit Ernesto Laclau in Hegemonie und radikale Demokratie entwickelten Ansatz aber klar als einen »antiessentialistischen« Ansatz verstanden wissen.22 Zudem stellt sich Mouffe selbst explizit nicht in die Tradition eines Linksschmittianismus.23 Zwar habe Schmitt das zentrale Defizit des Liberalismus erkannt, der mit seiner Beschränkung auf die Inklusion qua Bürgerrechte dazu neige, die Relevanz von sozialen Bindekräften zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft zu unterschätzen,24 insofern ließe sich aus der Auseinandersetzung mit Schmitts vehementer Liberalismuskritik lernen, wo die (Selbst)Gefährdungen des Liberalismus liegen. Aber Mouffe zufolge zieht Schmitt aus der richtigen Diagnose die falsche Schlussfolgerung: Indem er den politischen Konflikt auf den Gegensatz zwischen Völkern reduziert, um damit innergesellschaftliche Homogenität herzustellen, laufe seine Konzeption der identitären Demokratie selbst auf eine Negation des Politischen hinaus.25 Doch wenngleich Mouffe Schmitts hochgradig gefährliche Lösung für die Probleme der liberalen Demokratie ablehnt und gegen Schmitt dafür plädiert, die (Selbst)Gefährdungen 18 Flügel-Martinsen 2013, S. 340. Im Interview mit Robin Celikates und Bertram Keller hat Rancière seinen Ansatz so beschrieben: »Ich nähere mich der Politik deshalb von zwei Rändern: zum einen über die Emanzipation der Arbeiter: diese haben den ›privaten‹ Raum der Arbeit, auf den sie lange beschränkt waren, zu einem öffentlichen Raum deklariert und sich selbst die Fähigkeit zur Diskussion derjenigen Angelegenheiten zugesprochen, die alle angehen; zum anderen über die philosophische Inszenierung dieser ›Äußerlichkeit‹ der Arbeit im Verhältnis zur Politik in Platons Staat: hier werden beide sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht als unvereinbar verstanden. Ausgehend von diesen beiden Inszenierungen habe ich ein Verständnis von Politik als Konflikt verschiedener Welten – nicht verschiedener Interessen oder Werte entwickelt« (Celikates, Keller 2006). 19 Rancière 2002, S. 33-54. 20 Flügel-Martinsen 2013, S. 340. 21 Mouffe 2007, S. 16; Mouffe 2008, S. 17. 22 Mouffe 2018, S. 12. 23 Mouffe 1999b, S. 5. 24 Mouffe 1999a, S. 47 f. 25 Mouffe 1990, S. 65; Mouffe 1999b, S. 5, 48 ff.; vgl. Thaa 2011, S. 134.

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des Liberalismus in einem »truly political liberalism« aufzuheben,26 hält sie in ihrer aktuellen politischen Streitschrift eine populistische Politik der FreundFeind-Unterscheidung für die geeignete politische Therapie, den Entpolitisierungsund Entfremdungsprozessen innerhalb liberaldemokratischer Ordnungsregime entgegenzuwirken. An Mouffes Changieren zwischen der normativen Revitalisierung eines »konfliktiven Liberalismus«27 und ihrem aktuellen politischen Plädoyer Für einen linken Populismus28 lässt sich das für die radikaldemokratische Theorie konstitutive Dilemma der Entgrenzung demokratischer Freiheit besonders gut beobachten. Im Unterschied zu anderen Radikaldemokraten verfolgt Mouffe nämlich keineswegs nur eine Destabilisierung »fixierter Ordnungen«,29 sondern denkt darüber nach, wie das liberal-demokratische Ordnungsmodell restabilisiert werden kann. Während für Slavoj Žižek Liberalismus, Kapitalismus und Demokratie derart amalgamiert sind, dass das Ziel »authentischer Politik« nur im radikal-revolutionären Bruch mit der Welt, wie sie »ist«, bestehen könne,30 und Michael Hardt und Antonio Negri in ihrer Neubeurteilung der revoltierenden Menge (multitude) als nicht festlegbares Netzwerk von sich selbst organisierenden, widerständigen Gruppen für einen Rückzug aus liberal-demokratischen Institutionen plädieren,31 attestiert Mouffe dem politischen Ordnungsmodell der liberalen Demokratie, den Antagonismus des Politischen in einen Agonismus zu überführen. In dieser Betonung der ordnungspolitischen Leistung des liberaldemokratischen Modells, Feindschaft in Gegnerschaft zu transformieren und eine integrative Austragung von Konflikten zu ermöglichen, geht Mouffe sehr deutlich in Distanz zu radikaldemokratischen Ansätzen. Sie selbst bezeichnet ihr Modell der »agonistischen Demokratie« daher auch als radikal-pluralistisch und nicht als radikal-demokratisch. Damit ist die normative Idee verbunden, dass über eine Pluralisierung der politischen und gesellschaftlichen Kämpfe bzw. Gegner eine Entfeindung gesellschaftlicher Konfliktlagen bewirkt werden kann. Wenngleich Mouffe diese Zähmung der antagonistischen Struktur des Politischen institutionell nicht konkretisiert, versteht sie ihr »Projekt der Radikalisierung der Demokratie« als eine »radikale« Reform der liberalen Demokratie, über die das in der elitistischen Praxis verschüttete konfliktive Potential des liberaldemokratischen Ordnungsmodells freigelegt werden kann. An dieser Reformperspektive hält Mouffe zwar auch in ihrer aktuellen Streitschrift Für einen linken Populismus fest, wenn sie – gegen Michael Hardt und An26 Mouffe 1999b, S. 1, 4; vgl. Mouffe 1990. S. 65; vgl. dazu auch Worsham, Olson 1999, S. 171 f. 27 Vgl. Rzepka, Straßenberger 2014. 28 Mouffe 2018. 29 Richter 2016b, S. 59. 30 Vgl. Žižek 2005; zu Žižeks radikaler »All-or-nothing-Logik« vgl. vor allem Marchart 2010, S. 306 ff., 322 ff. 31 Vgl. Hardt, Negri 2004. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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tonio Negri gerichtet32 – betont, dass ein »›revolutionärer‹ Bruch mit dem liberaldemokratischen Regime« unnötig und eine »Umwälzung der bestehenden hegemonialen Ordnung« möglich ist, »ohne die liberalen, demokratischen Institutionen zu zerstören«.33 Zugleich aber verabschiedet sie sich in diesem Buch, das »als politische Intervention« gedacht ist und »aus seiner Parteilichkeit keinen Hehl« macht,34 von ihrer »alten« Überzeugung, dass eine radikale Pluralisierung der liberalen Demokratie mit sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien zu realisieren ist, und plädiert für einen »linken Populismus«, der diskursiv »auf die Errichtung einer politischen Frontlinie zwischen ›dem Volk‹ und ›der Oligarchie‹ abzielt«.35 Mit dieser linkspopulistischen Wendung des »agonistischen Pluralismus« werden jedoch nicht nur die »alten« Parteien als untaugliche Konfliktakteure abgelehnt, sondern auch jene Transformationsleistung in Frage gestellt, die Mouffe dem konfliktaffinen liberaldemokratischen Ordnungsmodell attestiert hatte: nämlich die Zähmung antagonistischer Konflikte über die Pluralisierung von Konfliktparteien. Der politische Impuls, aus dem heraus Mouffe nunmehr für eine populistische, das liberal-demokratische Ordnungsregime radikal herausfordernde Politisierungsstrategie optiert, ist offensichtlich: Der »populistische Moment«, der »nach Jahren der Postpolitik auf eine ›Rückkehr des Politischen‹« hindeutet, soll nicht den Rechtspopulisten überlassen werden.36 Der für relevante Teile des Demos attraktiven rechtspopulistischen Verknüpfung von Globalisierungs- und Elitenkritik mit einer gegen globale Migrationsbewegungen wie Anerkennungsansprüche von Minderheiten gerichteten nationalistischen Identitätspolitik soll eine linkspopulistische Alternative entgegengestellt werden. Doch ungeachtet der Skepsis, ob eine linke populistische Bewegung sich auf den gemeinsamen Nenner bringen lässt, die neoliberalen Eliten und den globalisierten Kapitalismus zum Feindbild zu erklären, während der Kampf um soziale und politische Teilhabe für und mit Migrantinnen und anderen Minderheiten geführt wird, bleibt unklar, ob und wie dieser »linke Populismus« zur Revitalisierung der verschütteten liberal-demokratischen Konfliktkultur konkret beiträgt. Oder stärker formuliert: Die von Mouffe in Anschlag gebrachte Therapie gegen die Entpolitisierungs- und Entfremdungsprozesse innerhalb liberaler Demokratien verschlimmert die Krankheit. Populistische Politik, die als eine Form radikaldemokratischer Protestartikulation gegen politische Entfremdungsprozesse aufgeboten wird, wirkt als Entfremdungsbeschleuniger, insofern über eine polarisierende politische Lagerbildung soziale und kulturelle Unterschiede politisiert und verstärkt werden.

32 33 34 35 36

Mouffe 2018, S. 66 f. Ebd., S. 47. Ebd., S. 19. Ebd., S. 15 f. Ebd., S. 17.

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Mouffe versucht sich gegen diesen Einwand zu immunisieren, indem sie zwischen einem »progressiven« Linkspopulismus,37 der mit der liberalen Norm pluraler Identitäten und der Anerkennung von Minderheitenrechten vereinbar ist, und einem antipluralistischen Rechtspopulismus unterscheidet, der auf politische Homogenität und den sozialen Ausschluss von Minderheiten abstellt. Diese normative Unterscheidung zwischen einem »guten« Links- und einem »schlechten« Rechtspopulismus mag aus einer »linken« Perspektive aus betrachtet attraktiv erscheinen, sie bleibt aber nicht nur politisch-programmatisch vage, sondern auch analytisch defizitär. Analytisch defizitär ist diese Unterscheidung aus mindestens zwei Gründen: Zum einen kollidiert sie mit dem diskursanalytischen, für unterschiedliche Protestformen offenen Populismusbegriff, wie ihn Mouffe im Anschluss an Ernesto Laclau vertritt. Populismus ist dieser gegen die liberale Hegemonie der aktuellen Populismusforschung gerichteten Definition zufolge eine politische Mobilisierungs- und Artikulationsstrategie zur Überwindung verkrusteter Herrschaftsstrukturen.38 Aus dieser betont wertfreien Definition des Populismus als legitime demokratische Protestartikulation lässt sich keine gut-schlecht-Unterscheidung ableiten. Eine solche Unterscheidung folgt politischen Präferenzen und nicht analytischen Kriterien. Zum anderen läuft die Unterscheidung zwischen einem progressiven Links- und einem regressiven Rechtspopulismus auf das »hölzerne Eisen« eines »pluralistischen Populismus« hinaus. Wie Mouffe selbst schreibt, forciert populistische Politik eine polarisierende Spaltung des politischen Diskursraumes. Dass über eine solche Radikalisierung von Interessen-, Wert- und Identitätskonflikten die Konfliktbearbeitungsfähigkeit der liberalen Demokratie gestärkt wird, ist eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist vielmehr eine den liberal-demokratischen Ordnungsrahmen sprengende Re-Transformation von Gegnerschaft in Feindschaft. In dem Versuch, Pluralismus und Populismus in dem Oxymoron eines »pluralistischen Populismus« zu verbinden, stellt Mouffe nicht nur die von ihr selbst ausgestellte Ordnungsleistung des liberal-demokratischen Modells in Frage, Feindschaft in Gegnerschaft zu transformieren, sondern verabschiedet sich damit zugleich von ihrer originellen demokratietheoretischen Überlegung, dass es möglich ist, konfligierende gesellschaftliche Werte und Interessen über eine Pluralisierung von »Kämpfen« und »Gegnern« politisch zu vermitteln.39 Auf der Strecke bleibt schließlich auch die krisendiagnostische Qualität des Populismusbegriffs, politische Entfremdungsprozesse in der liberalen Eliten-Demokratie ebenso aufzuzeigen wie die populistische Versuchung zu markieren, komplexe Probleme auf einfache Lösungen zu reduzieren.

37 Ebd., S. 46. 38 Laclau 2005, S. 67 ff. 39 Vgl. dazu Straßenberger 2016. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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3. Zwischenbetrachtung: radikaldemokratische Suchbewegungen Dass die populistische Politik der einfachen Lösungen der bisherigen historischen Erfahrung nach eher keine Demokratisierung der Demokratie bewirkt, sondern autoritäre Führungsstrukturen befördert, diese »alte« republikanische Einsicht revitalisieren die Radikaldemokraten Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem aktuellen Buch Assembly. Die neue demokratische Ordnung. Hardt und Negri zufolge kennzeichnet den Populismus »ein ganz grundsätzlicher Widerspruch: Lippenbekenntnisse zur Macht für das Volk gehen einher mit der Bündelung aller Regierungs- und Entscheidungsmacht in der Hand einer kleinen Clique von Politikern. In dieser Hinsicht liegen linker und rechter Populismus allzu häufig unangenehm dicht beieinander.«40 Hardt und Negri wenden sich jedoch nicht nur gegen den von Mouffe und Ernesto Laclau hergestellten Nexus von Populismus und Demokratie, die erklärten Anti-Institutionalisten und Ordnungskritiker denken auch offensiv über die Notwendigkeit der Institutionalisierung radikaldemokratischer Politik nach und stellen mehr oder weniger differenzierte Überlegungen dazu an, auf welche Art von Führung radikaldemokratische Bewegungen angewiesen sind, um sich im politischen Machtkampf erfolgreich zu behaupten. Dieses Überdenken radikaldemokratischer Ressentiments gegen eine Ordnung des Konflikts kann als Reaktion auf die Entgrenzung radikaler Protestartikulation verstanden werden. Konnten (linke) Radikaldemokraten bis vor kurzem noch für sich in Anspruch nehmen, gegen den Mainstream politiktheoretischen Denkens auf die Gefahren der Entdemokratisierung in der postpolitischen Praxis der liberalen Demokratie aufmerksam gemacht zu haben und sich angesichts der an Einfluss gewinnenden eliten- und liberalismuskritischen Protestbewegungen in ihren Krisendiagnosen bestätigt sahen, wird eben diese Rückkehr des Politischen in Gestalt des Rechtspopulismus nunmehr zum Problem: Denn innerhalb des postfundamentalistischen Theorierahmens der radikalen Demokratietheorie kann der Rechtspopulismus nicht einfach als »falsche« Demokratisierung bezeichnet werden. Hinzu tritt die Erkenntnis, dass eine »richtige« Demokratisierung auf die Institutionalisierung einer demokratischen Konfliktkultur und damit auch auf die Begrenzung radikaldemokratischer Protestartikulation angewiesen ist. Angesichts der politischen Herausforderung durch rechtspopulistische Protestbewegungen suchen radikale Demokratietheoretikerinnen nach politiktheoretischen Allianzen und durchstöbern das ideengeschichtliche Archiv liberalen und vor allem republikanischen Denkens nach demokratietheoretischen Anknüpfungspunkten. Zu der gegenwärtig zu beobachtenden Neuorientierung der radikalen Politiktheorie gehört die Wiederentdeckung der performativen Konzeption des Politischen von Hannah Arendt, wie sie unlängst Judith Butler unternommen hat. Butler will »Performativität in Verbindung mit Transformation«41 denken und verbindet demokratische Politik normativ mit der Pluralität von Identitätskonstruktionen. Während Butler ihr performatives Handlungsmodell in Haß spricht 40 Hardt, Negri 2018, S. 50. 41 Butler 2006, S. 236.

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vor allem in Auseinandersetzung mit Jacques Derrida und Pierre Bourdieu entwickelt, schließt sie in Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung vornehmlich an Arendt an. Butler sieht bei Arendt einen Machtbegriff, der die kreativistische Dimension kollektiven und pluralen Protesthandelns ausstellt.42 So kritisiert sie zwar, dass Arendt in ihrer von der klassischen griechischen Polis als auch von der römischen Idee des öffentlichen Platzes geprägten Auffassung der Rechte der Versammlung sozio-ökonomische Fragen aus dem politischen Bereich ausschließe,43 betont aber, dass Arendt den politischen Raum als einen »Erscheinungsraum« konzipiere, der sich zwischen den handelnden Menschen herstellt, also nicht notwendigerweise an einen bereits konstituierten öffentlichen Raum gebunden ist, sondern einen »transponiblen Ort« beschreibt, der durch das plurale Handeln erst hervorgebracht wird.44 Butler erweitert die auf sprachliche Akte der performativen Herstellung von Wirklichkeit fokussierte Sprechakttheorie von John Austin um Arendts komplexere performative Auffassung,45 wonach das Subjekt gerade nicht souverän ist, sondern ein »relationales und soziales Wesen«46 darstellt, das in ein »Bezugsgewebe« (Hannah Arendt) eingebunden ist, welches durch ein körperlich in Erscheinung tretendes Handeln und Sprechen reinterpretiert und damit auf spontane, nichtvorhersehbare Weise verändert wird.47 In Butlers performativer Theorie machen »Körper, wenn sie sich auf Straßen, Plätzen oder in anderen öffentlichen Räumen (einschließlich virtuellen) versammeln, ein plurales und performatives Recht zu erscheinen geltend [...], das den Körper in die Mitte des politischen Feldes rückt und das« – wie Butler mit Arendt und zugleich gegen Arendt argumentierend hinzufügt – »in seiner expressiven und bezeichnenden Funktion eine leibliche Forderung nach lebenswerteren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen darstellt, die nicht mehr durch von außen auferlegte Formen der Prekarität erschwert werden.«48 Diese Annäherungen der radikaldemokratischen an die republikanische Politiktheorie – und hier vor allem an Arendts Modell der »agonalen Demokratie« – stehen jedoch vor zwei kaum zu überwindenden Hürden: Zum einen perspektivieren republikanische Politiktheorien sozio-ökonomische Fragen vornehmlich unter stabilitätspolitischen Gesichtspunkten oder, wie Arendt, als vorpolitische Bedingun42 43 44 45 46 47

Ebd., S. 115. Ebd., S. 99, 103. Ebd., S. 99 f. Zu Arendts performativer Theorie des Politischen vgl. Straßenberger 2018, S. 148-154. Butler 2016, S. 119. Butler entwickelt ihre kritische Auseinandersetzung mit John Austin vor allem in Haß spricht (Butler 2006, S. 72 ff., 129 ff.); zugleich wendet sie sich damit gegen eine Reduzierung von Macht auf rein diskursive Prozesse: »Die Funktionsweise ihrer (der Diskurshandlungen, GS) Macht ist in gewissem Maße performativ. Das bedeutet, sie inszenieren bestimmte politische Unterscheidungen – einschließlich Ungleichheit und Exklusion –, ohne sie immer zu benennen« (Butler 2016, S. 13). 48 Ebd., S. 19.

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gen des Politischen. Zum anderen – und darauf kommt es mir hier wesentlich an – plädieren republikanische Ordnungsentwürfe zwar durchaus für die Ausweitung und Intensivierung politischer Beteiligung, stellen aber zugleich auf eine Hegung des Konflikts durch nicht-majoritär legitimierte Autoritäten ab. Die am römischen auctoritas-Konzept geschulte republikanische Einsicht, die Demokratie sei zu ihrer Erhaltung auf die autoritative Begrenzung demokratischer Handlungsmacht angewiesen, ist mit den antiautoritären Grundüberzeugungen der radikalen Demokratietheorie nicht vereinbar. 4. Zwischen konservativer Stabilisierungs- und innovativer Partizipationskultur: die politische Ordnungsvorstellung des »dissentiven Republikanismus« Der antiautoritäre Gestus der 1968er-Protestbewegung begleitete die radikale Demokratietheorie von Anfang an und gehört zum normativen Kernbestand dieser radikal-kritischen Theoriebewegung. Autorität wird als herrschaftliche Schließung politischer Freiheitsräume verstanden, die dem Versprechen der Demokratie auf emanzipative Selbstregierung zuwiderläuft. Gegen diese Opposition von Freiheit und Autorität stellt der »dissentive Republikanismus« von Hannah Arendt auf einen wechselseitig konstitutiven Verweisungszusammenhang von Autorität und Demokratie ab. Im Rekurs auf die römisch-republikanische auctoritas-potestasUnterscheidung und am Beispiel der aus ihrer Sicht exemplarischen US-amerikanischen Verfassung argumentierend, bringt Arendt gegen die »wilde Demokratie« die gesellschaftliche Konflikte hegende und demokratische Handlungsmacht begrenzende Funktion politischer Autorität in Stellung. In ihrem Aufsatz »Was ist Autorität?« aus dem Jahr 1956 sucht Arendt Autorität als ein mit Demokratie und Freiheit kompatibles Konzept zu rehabilitieren. Zugleich betont sie explizit die hierarchische Dimension, der zufolge Autorität die zwanglose und fraglose Anerkennung von Hierarchie meint.49 Gegenüber zeitgenössischen Versuchen einer pluralistischen Ausweitung und Demokratisierung von Autorität, wie sie Carl Joachim Friedrich und Dolf Sternberger gegen die im Kontext der 1950er- bis 1970er-Jahre virulenten antiautoritären Infragestellungen von »Autorität« favorisiert haben,50 hält Arendt die dem römisch-republikanischen Autoritätskonzept inhärente Spannung zur Demokratie nicht nur aufrecht, sondern erkennt in der fraglosen Ankerkennung von Hierarchie gerade die stabilisierende Funktion von Autorität für demokratische Ordnungen. Sie ergänzt damit die horizontal-egalitäre Verfasstheit demokratischer Politik um eine hierarchischelitäre Dimension. Doch obgleich Arendt Autorität als eine hierarchische Anerkennungsbeziehung fasst, die mit freiwilligem Gehorsam einhergeht, was sowohl dem demokratischen Anspruch auf Gleichheit zuwiderläuft als auch das demokratische Prinzip der Kritik mindestens temporär suspendiert, wendet sie sich vehe49 Arendt 1994b, S. 159 f. 50 Zur pluralistischen Aufweitung des Autoritätskonzeptes bei Friedrich und Sternberger, vgl. Straßenberger 2013.

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ment gegen die Weberianische Verschwisterung von Autorität und legitimer Herrschaft. Autorität begründet aus Arendts Sicht gerade kein politisches Herrschaftsverhältnis, sondern sichert als – institutionell von demokratischer Handlungsmacht wie von politischer Entscheidungsbefugnis unterschiedene – Instanz ratgebender Kompetenz die Freiheit in der Demokratie gegen deren populistische Versuchungen. Zum politischen Bezugspunkt für Arendts nicht-herrschaftliches Konzept demokratischer Autorität wird die US-amerikanische Verfassung. Die Republikanerin erkennt hier eine neue Macht-Autorität-Balance, die bürgerschaftliche Selbstregierung gleichermaßen ermöglicht wie begrenzt. So gehört es für Arendt zwar zu den grundsätzlichen Leistungen eines Verfassungsstaates, die Macht der gesetzgebenden Gewalt zu begrenzen und den Einzelnen vor willkürlichen Eingriffen der Staatsgewalt zu schützen, aber dies ist auf lange Sicht nur möglich, wenn die Verfassung positive Partizipationsrechte sichert, die von den Bürgern auch aktiv in Anspruch genommen werden. Die Freiheit des Einzelnen, unabhängig von staatlichen Eingriffen seine individuellen Lebensentwürfe zu realisieren, hat die gesetzliche Möglichkeit und die Bereitschaft der Bürger zur Voraussetzung, durch gemeinsames machtvolles Handeln die Verfassung der Freiheit in ihren negativen Schutzrechten wie, dem vorausgehend, den positiven Partizipationsrechten zu unterstützen. – Die Pflicht zum Engagement wird zur Grundlage für die Inanspruchnahme bürgerlicher Freiheiten, aber nicht in der simplifizierenden Lesart, der zufolge Pflichten Rechte begründen, sondern in einem qualifizierten republikanischen Verfassungsverständnis, dass erst durch die aktive Inanspruchnahme positiver politischer Freiheitsrechte die negativen, liberalen Schutzrechte wirksam gesichert werden können. Die Verfassung und – daraus abgeleitet – die Verfassungsrichter genießen nämlich nur solange Autorität, wie das gegenseitige Versprechen, das diesem Bündnis zugrunde liegt, beständig revitalisiert wird. Den demokratischen Verfassungsgebungsprozess, der diesem republikanischen Bündnis zugrunde liegt, reinterpretiert Arendt als einen Akt der kommunikativen Autorisierung »von unten«.51 Über den machtvollen Akt der Verfassungsgebung wurde Arendt zufolge eine neue, auf Gesetze gegründete politische Ordnung gestiftet, zugleich aber wurde durch die »Heiligsprechung der Verfassung« dieser im Verfassungstext dokumentierten demokratischen Gründungsleistung eine Autorität zugesprochen, die dem demokratischen Zugriff enthoben sein sollte. Arendt sieht in der performativen Setzung, der Verfassung eine verbindliche Autorität zuzusprechen, den Beweis dafür, dass handelnde Menschen imstande sind, ohne Bezug auf ein Absolutes, allein im Vertrauen auf die verbindliche Macht gegenseitigen Versprechens, einen neuen Anfang zu machen. Dieser performative Akt der Stiftung stellt eine politische Selbstbindung besonderer Art dar: Indem der Verfassung als Dokument des revolutionären Neubeginns eine dem wechselhaften Willen demokratischer Mehrheiten entzogene »heilige« Autorität zugesprochen und zugleich einer kleinen Grup51 Zu Arendts performativer Deutung der US-amerikanischen Verfassung vgl. Straßenberger 2015. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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pe von auf Lebenszeit berufenen Richtern die Kompetenz zugewiesen wurde, die Verfassung autoritativ auszulegen, ist eine erhebliche politische Entmachtung des Souveräns verbunden. Danach kommt es allein den Mitgliedern des Obersten Gerichtshofes zu, die Verfassung auszulegen und das heißt durch Interpretation ständig neu zu formulieren und dadurch lebendig zu erhalten. Der Oberste Gerichtshof wird damit, wie Arendt pointiert, zu einer »Art verfassungsgebender Versammlung, die in Permanenz tagt«.52 Allerdings stellt gerade diese klare institutionelle Zuordnung der Interpretationshoheit die Macht-Autorität-Differenzierung in Frage. Auf die Gefahr einer einseitigen Aufhebung des immer fragilen Kräfteverhältnisses zwischen demokratischer Bürger-Macht und verfassungsrechtlicher Autorität verweisen auch Jürgen Gebhardt und Hans Vorländer: Indem nämlich der Supreme Court für sich das Recht in Anspruch nimmt, die Gesetzgebung der Legislative auf ihre Verfassungskonformität hin zu prüfen, nimmt er zwar im römischen Sinne die auctoritas wahr,53 in der weiteren Verfassungspraxis aber führte dies zu einer erheblichen Stärkung seiner gestaltenden Funktion. Vorländer zufolge entwickelte das amerikanische Verfassungsgericht an der Wende zum 20. Jahrhundert eine »aktivistische Rechtsprechungspraxis«: Bis zu Franklin Delano Roosevelts Programm des New Deal agierte das Verfassungsgericht als Hüterin einer Laissezfaire-Wirtschaftsordnung und ging dann insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer stärkeren Aktivierung der Grundrechte über: etwa 1954 mit der Aufhebung der Rassendiskriminierung oder der Erklärung über die Verfassungsmäßigkeit der Affirmative-Action-Programme für die Bevorzugung von Angehörigen ehemals diskrimierter Minderheiten bei universitären Zulassungsregeln. In der Aktivierung der Grundrechte offenbarte der Supreme Court, dass er nicht nur eine limitierende, sondern auch eine gestaltende Funktion innehatte. Einerseits wurde damit deutlich, so Vorländer, »daß eine Verfassung, die über lange Dauer gilt [...], sich zu ihrer fortdauernden Geltung aus den Ursprungskontexten lösen kann und zu ihrer normativen Geltung auf die jeweilige Aktualisierung und Anwendung durch eine zur autoritativen Auslegung berufenen Instanz, die Verfassungsgerichtsbarkeit, angewiesen ist: Der Preis ist indes, daß die Verfassung nur noch so gilt, wie das Verfassungsgericht die Verfassung auslegt«.54 In ihrer konflikttheoretischen Deutung des Verfassungsversprechen, dessen politische Verbindlichkeit immer wieder durch zivilpolitische Reinterpretationen erneuert werden muss, stellt Arendt allerdings auf eine kulturalistische Wendung der Verfassungstheorie ab, die der elitären Deutung, der Oberste Gerichtshof sei der alleinige Interpret der Verfassung, zuwiderläuft. Arendts kulturalistischer Auffassung zufolge sind wir alle als Bürgerinnen und Bürger der republikanischen Demokratie Verfassungsinterpreten. Das schließt auch die Umdeutung des Versprechens und der ihnen zugrundeliegenden Abkommen und Vereinbarungen ein, wo52 Arendt 1994a, S. 258. 53 Gebhardt 1993, S. 35. 54 Vorländer 2004, S. 52 f.

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bei es die politische Öffentlichkeit ist, der gegenüber diese Umdeutung überzeugend vermittelt werden muss. In dieser performativen Deutung des amerikanischen Verfassungskompromisses stellt Arendt auf das emanzipative Potenzial politischer Interpretation ab. Im Raum des Politischen, der durch Handeln und Sprechen erst konstituiert wird und in dem die politischen Institutionen machtvolle Manifestationen gegenseitigen Versprechens darstellen, ist es immer möglich, über ihre wiederholende Rezeption politische Handlungsfähigkeit zu generieren. In der grundsätzlichen Offenheit für Konflikte wie für ihre kommunikative Bearbeitung sieht Arendt die große integrative Leistung dieser Form der politischen Übereinkunft, die sie auch als compromissum bezeichnet und damit das republikanische (und radikaldemokratische) Versprechen meint, dass initiatives Handeln nicht auf die Gründergeneration beschränkt bleiben sollte. In der kritischen Retrospektive von Carol Berkin blieb die US-amerikanische Politik auch nicht auf die bloße Bestätigung des Gründungsvertrags beschränkt: Die sich im Nachhinein betrachtet als besonders stabil erwiesene Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika war Berkin zufolge das Produkt verschiedener historischer Anläufe und Unterbrechungen und nicht die jeder weiteren Diskussion entzogene Entscheidung von »demigods«.55 Die spätere Sakralisierung der Verfassung hat ihr, so Berkins Kritik, diesen vorläufigen und kompromisshaften Charakter genommen. Doch auch für Arendt hat die US-amerikanische Verfassung letztlich keinen sakralen Charakter. Zwar sah sie in der »Heiligsprechung der Verfassung« den Beweis dafür, dass politische Akteure imstande sind, selbst einen Anfang zu setzen, machte aber den Bestand der Verfassung davon abhängig, ob sie die dem gegenseitigen Versprechen inhärente Offenheit für neue politische Akteure, für neue Formen politischen Handelns und damit auch für radikale Interpretationen des Verfassungsversprechens aufrecht zu erhalten vermag. In dieser performativen Deutung der Verfassung wird – so ließe sich Arendts auf der Schnittstelle zwischen radikaler und liberaler Politiktheorie balancierender dissentiver Republikanismus charakterisieren – die Autorität der Verfassung und der Verfassungsrichter mit der demokratischen Macht der Interpretation in einer Konzeption dynamischer Stabilität vermittelt. 5. Macht, Autorität und demokratische Führung Für den dissentiven Republikanismus ist politische Stabilität kein statischer Zustand, sondern eine anspruchsvolle Ausbalancierung zwischen Offenheit und Geschlossenheit, zwischen machtvollem initiativen Handeln und seiner autoritativen Begrenzung. Damit sind drei stabilitätspolitische Grundmotive verbunden: Das erste Motiv ist die Auflösung der Opposition von Stabilisierung und Destabilisierung. Das Politische erscheint nicht als das radikal Andere der Politik, das in liberalismuskritische Gegenbegriffe, wie Konflikt versus Konsens, Fragilität versus Ordnung, Dezision versus Deliberation und Emotion versus Rationalität, gefasst 55 Berkin 2003, S. 4. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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wird. Vielmehr wird Politik über die für das Politische konstitutiven politischen Spannungsverhältnisse erschlossen. Politisch im republikanischen Sinne sind jene Ordnungen, die die konfliktive Pluralität oder, was auf das Gleiche hinausläuft, die Kontingenz des Politischen gestalten, ohne auf Mechanismen der herrschaftlichen Domestizierung des Konflikts zurückzugreifen. Dass Wert-, Interessen- und Identitätskonflikte begrenzt werden müssen, da andernfalls die immer fragil bleibende Ordnung politischer Freiheit erodiert, gehört dabei ebenso zu den republikanischen Grundüberzeugungen wie die erfahrungsgestützte Einsicht, dass politische Gemeinwesen nur dauerhaft sind, wenn die Institutionenordnung aktives Bürgerhandeln ermöglicht und demokratische Innovationen befördert. Damit ist das zweite stabilitätspolitische Motiv angesprochen: Gegen die deliberative wie gegen die radikale Demokratietheorie gerichtet, verweist die republikanische Politiktheorie auf den wechselseitig konstitutiven Zusammenhang von Autorität und Demokratie. Autorität ist dem dissentiven Republikanismus zufolge gerade nicht das Andere demokratischer Selbstregierung. Vielmehr wird die Freiheit und Autorität verbindende Norm dynamischer Stabilität zum Maßstab für die Konfliktbearbeitungsfähigkeit demokratischer Ordnungen. Die autoritative Begrenzung polarisierender, die demokratische Gesellschaft spaltender politischer Protestpraxen leistet zuvorderst die Verfassung. Die liberale Demokratie ist darüber hinaus aber auf das de-eskalierende Wirken politischer, wissenschaftlicher und kultureller Eliten angewiesen, die ihre je spezifische, von wechselnden demokratischen Mehrheiten und populistischen Stimmungen unabhängige Autorität geltend machen. Schließlich wird die politische Verbindlichkeit der Verfassung durch bürgerschaftliches Handeln bestätigt. Das schließt auch politische Protestpraxen ein, die wie Akte zivilen Ungehorsams auf eine radikale Re- oder Neuinterpretation des in der Verfassung formulierten demokratischen Versprechens abzielen, zugleich aber werden die Protestakteure auf eine republikanische Verantwortungsethik verpflichtet. Die verantwortungsethische Bindung von Eliten und Bürgerinnen ist das dritte stabilitätspolitische Grundmotiv. Die verantwortungsethischen Begrenzungen, die der dissentive Republikanismus gegen die radikale Entgrenzung demokratischer Handlungsmacht aufbietet, sind höchst voraussetzungsvoll. Sie setzen eine zu aktiver Partizipation bereite und zu kritischer Folgebereitschaft befähigte Bürgerschaft ebenso voraus wie tugendhafte Eliten, die sich ihrer besonderen Führungsverantwortung bewusst sind. Der Verweis auf die sozio-moralischen Voraussetzungen stabiler politischer Ordnungen stellt zusammen mit der Forderung nach einem konfliktaffinen Institutionensystem und dem radikale Protestpraxen begrenzenden Wirken von Autoritäten auf eine republikanische Korrektur der liberalen Demokratie ab, die für Liberale ebenso herausfordernd ist wie für ihre radikaldemokratischen Gegenspieler. In ihrer auf »demokratische Irritation« fixierten Konzeption des Politischen erscheint der radikalen Politiktheorie jede institutionelle oder autoritative Einschränkung demokratischer Willensartikulation als eine autoritär-repressive Schließung politischer Freiheit. Demgegenüber stellt die deliberative Demokratietheorie zwar klar auf institutionelle Begrenzungen demokratischer Handlungs-

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macht ab und plädiert über die normative Wertschätzung des Einflusses vernünftiger, im »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« (Jürgen Habermas) geschulter Deutungseliten auf den öffentlichen Diskurs zudem für einen rationalen Modus politischer Konfliktaustragung. Sie teilt aber den radikaldemokratischen Affekt gegen Autorität und lehnt die tugendethische Fundierung der republikanischen Demokratie ab. Beide Theorietraditionen übersehen, dass die nicht-herrschaftliche Konzeption von Politik des dissentiven Republikanismus ein elitenfokussiertes Verständnis politischer Autorität mit einem demokratischen Modell politischer Führung verbindet. Im Unterschied zu den klassischen Führungskonzeptionen von Max Weber und Joseph Schumpeter wird hier der elitäre Blick »von oben« aufgeweitet und der politische Führer in eine egalitäre Beziehung zu den Vielen gestellt, die ihn unterstützen.56 Wenn die Radikaldemokraten Hardt und Negri in ihren aktuellen Überlegungen zur »demokratischen Ordnung« das »Konzept taktischer Führung« ins Spiel bringen,57 um emanzipative Protestbewegungen machtpolitisch aufzurüsten, grenzen sie sich vornehmlich von autoritären Führungskonzeptionen ab, die republikanische Führungskonzeption wird dagegen nicht zur Kenntnis genommen. In der Verschränkung eines assoziativ-kommunikativen Machtbegriffs mit einer von Herrschaft strikt unterschiedenen Konzeption demokratischer Autorität und einer Theorie politischer Führung, in der Führen und Folgen aufeinander bezogene Handlungsakte sind, die auf beiden Seiten an eine verantwortliche Entscheidung geknüpft sind, reflektiert der dissentive Republikanismus das stabilitätspolitische Dilemma der liberalen Demokratie. Danach trägt sowohl die Ermöglichung antiliberaler Politiken wie ihre Begrenzung zur Destabilisierung der liberalen Ordnung bei: Während die Öffnung des politischen Diskursraumes für radikale Einsprüche zwar dem normativen Selbstverständnis der liberal-demokratischen Ordnung entspricht, aber den Feinden der liberalen Demokratie einen Aktions- und Resonanzraum bietet, greifen Versuche der Schließung oder Begrenzung liberalismusfeindlicher Protestformen eben jene normativen Grundlagen an, aus denen die liberale Demokratie ihre Überlegenheit gegenüber autoritären Regimen ableitet. Die stabilitätspolitische Reflexion dieses Dilemmas gehört zu den analytischen Leistungen des dissentiven Republikanismus. Aus der Krisendiagnose, die elitenzentrierte und konfliktaverse Praxis der liberalen Demokratie befördere selbst jene empörte Re-Politisierung, die zu einer Delegitimierung dieses politischen Ordnungsmodells führen kann, wird nicht gefolgert, das »Heilmittel« gegen die Selbstgefährdungen liberaler Demokratien bestünde in der maßlosen Steigerung politischer Konfliktaustragung. In seiner Kritik der radikaldemokratischen Entgrenzung der politischen Kampfzone bietet der dissentive Republikanismus zugleich eine Antwort auf (rechts-)populistische Attacken gegen die liberale Demokratie. Für seine republikanische Korrekturen der liberal-demokratischen Ordnung macht er nicht nur normative Argumente geltend, sondern reflektiert auch die historische Erfahrung, dass demokratische Ordnungen, die auf die Einhegung 56 Zu politischer Führung bei Arendt vgl. Straßenberger 2018, S. 77-88. 57 Hardt, Negri 2018, S. 45 ff. Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020

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politischer Konfliktkommunikation verzichtet haben oder nicht robust genug waren, radikalen Entgrenzungen politischer Konfliktaustragung entgegenzuwirken, in autoritäre oder totalitäre Regime umgeschlagen können. Das Therapieangebot des dissentiven Republikanismus geht freilich von relativ starken normativen Annahmen aus und sieht überdies problematische Ausschlussmechanismen vor. So werden soziale und ökonomische Gegenstandsbereiche dem politischen Streit entzogen, da diese die Dissensfähigkeit politischer Arrangements überstrapazieren würden. Wenngleich dieses Argument gegen eine soziale Entgrenzung des politischen Entscheidungsraums nicht einfach als undemokratisch abgetan werden kann, so geraten gesellschaftlich marginalisierte Gruppen, die keine Lobby haben und die selbst nicht imstande sind, sich politisch zu organisieren, aus dem Blickfeld. Anspruchsvoll ist die gleichermaßen auf Ermöglichung wie Hegung demokratischer Protestartikulation abzielende republikanische Konzeption vor allem deshalb, weil angesichts einer konflikthaften Pluralisierung von Gemeinschaftsvorstellungen wie einer medial noch einmal befeuerten Empörungskultur für eine demokratische Konfliktkultur plädiert wird, die sich nicht einfach herstellen lässt. In dieser politischen Einsicht, dass die Ausbalancierung von begrenzender Elitenmacht und gegen Grenzen rebellierender Bürgermacht immer fragil bleibt und auf eine sie stützende politische Kultur der Konfliktaustragung angewiesen ist, liegt eine weitere Stärke des republikanisches Ansatzes. Demokratische Konfliktfähigkeit kann nur in einer Praxis der Konfliktaustragung eingeübt und stabilisiert werden, ist also auf demokratische Traditionen politischer Selbstregierung und auf in demokratischen Sitten verstetigte habituelle Gewohnheiten angewiesen. In seiner soziomoralisch und kulturell voraussetzungsvollen Konzeption des Politischen benennt der dissentive Republikanismus Bedingungen, wie der Spagat zwischen politischer Führung und demokratischer Selbstregierung gelingen kann. Dazu gehört zuvorderst ein politisches Institutionensystem, das einen Möglichkeitsraum initiativen politischen Handelns jenseits routinierter Politikprozesse ebenso befördert wie die Institutionalisierung neuer Entscheidungsforen, in denen der Augenblick der Unterbrechung auf Dauer gestellt werden kann. Sodann besteht er darauf, dass stabile Demokratien auf führungsstarke Eliten angewiesen sind, die bereit sind, das Risiko einzugehen, gegen virulente Verfallsdiagnosen eine positive Zukunftsvision zu formulieren und für diese »realistische Utopie« auch als Person verantwortlich einzustehen. Und schließlich reaktiviert der dissentive Republikanismus die »alte« Einsicht, dass die Stabilität demokratischer Ordnungen auf kompetente Bürgerinnen angewiesen, die ihr demokratisches Recht auf kritische Partizipation aktiv in Anspruch nehmen und gegen innovationsaverse, vom demokratischen Diskurs abgekoppelte Machteliten ebenso aufbegehren wie gegen die populistische Versuchung der Demokratie, einfache Lösungen für komplexe Probleme anzubieten.

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Zusammenfassung: Die radikale Politiktheorie besitzt eine hohe krisendiagnostische Sensibilität für die Bedrohungen der liberalen Demokratie durch Entpolitisierungs- und Entfremdungsprozesse. Im Unterschied zum dissentiven Republikanismus überschätzen radikaldemokratische Ansätze jedoch das Selbstbegrenzungspotenzial politischer Konfliktaustragung und unterschätzen damit die Gefahren radikaler Re-Politisierung. Stichworte: Demokratie, Stabilität, Konflikt, Politisierung, Liberalismus, Republikanismus

The Return of the Political? – Notes on Restabilizing/Destabilizing Effects of the Articulation of Radical-Democratic Protest Summary: The radical political theory is of high crisis-diagnostic sensitivity for the threats posed to liberal democracy by processes of depoliticization and alienation. As opposed to dissentive republicanism, however, the radical-democratic approaches both overestimate the self-limitation potential of acting out political conflicts and underestimate the hazards of radical repoliticization. Keywords: Democracy, Stability, Conflict, Politicization, Liberalism, Republicanism

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Autor_innenverzeichnis

Prof. Dr. Priska Daphi, Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Postfach 100131, 33501 Bielefeld, Email: [email protected] Beth Gharrity Gardner, PhD, Politische Soziologie und Sozialpolitik, HumboldtUniversität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, Email: [email protected] Prof. Dr. Anna Geis, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg, Email: [email protected] Dr. Samuel Greef, Universität Kassel, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Nora-Platiel-Str. 1, 34109 Kassel, Email: [email protected] Prof. Dr. Simon Hegelich, Hochschule für Politik an der Technischen Universität München, Richard-Wagner-Straße 1, 80333 München, Email: [email protected] Dr. habil. Eva Herschinger, Center for Intelligence and Security Studies, Universität der Bundeswehr München, Werner-Heisenberg-Weg 39, 85577 Neubiberg, Email: [email protected] Fabienne Marco, Hochschule für Politik an der Technischen Universität München, Richard-Wagner-Straße 1, 80333 München, Email: [email protected] David Meiering, M.A., Politische Soziologie und Sozialpolitik, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, Email: [email protected] Dr. Michael Neuber, Zentrum Technik und Gesellschaft (ZTG), Technische Universität zu Berlin, Hardenbergstr. 16-18, 10623 Berlin, Email: [email protected] Dipl. Ing. Orestis Papakyriakopoulos, M.A., Hochschule für Politik an der Technischen Universität München, Richard-Wagner-Straße 1, 80333 München, Email: [email protected] Prof. em. Dr. Friedbert W. Rüb, Politische Soziologie und Sozialpolitik, Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, Email: [email protected] Dr. Linda Sauer, Hochschule für Politik an der Technischen Universität München, Richard-Wagner-Straße 1, 80333 München, Email: [email protected] Prof. Dr. Andreas Schäfer, Politische Soziologie und Sozialpolitik, Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, Email: [email protected] Leviathan, 48. Jg., Sonderband 35/2020, S. 330 – 331

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Prof. Dr. Wolfgang Schroeder, Universität Kassel, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Nora-Platiel-Str. 1, 34109 Kassel, Email: [email protected] Prof. Dr. Hanna Schwander, Politische Soziologie und Sozialpolitik, HumboldtUniversität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, Email: [email protected] Prof. Dr. Grit Straßenberger, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Lennéstraße 25, 53113 Bonn, Email: [email protected] Jennifer Ten Elsen, Universität Kassel, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Nora-Platiel-Str. 1, 34109 Kassel, Email: [email protected] Dr. Lena Ulbricht, Weizenbaum Institut für die Vernetzte Gesellschaft, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Hardenbergstr. 32, 10623 Berlin, Email: [email protected] Prof. Dr. Claudia Wiesner, Universität Fulda, Jean Monnet Chair für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Europäische Integration, Leipziger Strasse 123, 36037 Fulda, Email: [email protected]

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