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German Pages 244 Year 2014
Angelika Bartl Andere Subjekte
Studien | zur | visuellen | Kultur Herausgegeben von Sigrid Schade und Silke Wenk | Band 17
Angelika Bartl (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kunst der Gegenwart und Moderne, ästhetische Theorie, Geschlechterforschung und postkoloniale Theorie.
Angelika Bartl
Andere Subjekte Dokumentarische Medienkunst und die Politik der Rezeption
Die vorliegende Publikation wurde 2010 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (Kulturwissenschaftliches Institut) als Dissertation angenommen. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Die Buchherstellung wurde zudem gefördert von der Kulturdirektion des Landes Oberösterreich, dem Frauenreferat des Landes Oberösterreich sowie dem Institute for Cultural Studies in the Arts, Zürcher Hochschule der Künste.
Die Dissertation wurde durch ein DOC-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften finanziert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Videostill aus Hot Water – de l’eau chaude, Archiv: maquettes-sans-qualit, Alejandra Riera. Korrektorat: Ulrike Schuff Satz: Vanessa Feierabend Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2039-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung | 9
Teil I Ausgangspunkte und theoretische Grundlagen 1. Dokumentarische Alterität im Kunstraum | 25 1.1 Das Begehren nach den ‚anderen Subjekten‘ | 25 1.2 Konzepte politischer Kunst | 32 Dokumentarische ‚Präsenz‘ | 33 Medienreflexivität | 36 Exkurs: Die Apparatustheorie | 37 1.3 Die westliche Kunstinstitution | 44 Das produktive Problem der ‚anderen Frauen‘ | 52 2. Politik und Rezeption | 57 2.1 Ein anti-essentialistischer Begriff des Politischen | 59 2.2 Medien, Medientheorie und die Position der Rezeption | 63 Medientheoretische Konzeptionen des Medialen | 65 Zoom in die Perspektive des Subjekts: Der Lacan'sche Blick | 74 Hegemoniales Dreieck im Dokumentarischen – ein Lektüremodell | 81
Teil II Videolektüren 3.
Der Kampf um feministische Perspektiven Hot Water – De l'eau chaude, Alejandra Riera, 2001, 33 min. | 87 3.1 „We are here because …“ – die dokumentarische Ebene von Hot Water | 89 Die Rhetorik des direct | 89 Identifikationen im feministischen Kollektiv | 95 Feministische Gegenlektüren | 102 3.2 Mediale und räumliche Strategien der Distanzierung | 107 Die Loop-Struktur des ersten Teils | 107 Un problème non résolu | 111
3.3 Differenzierende Narrationen | 116 Leyla Zana und Hiam Abbass | 116 Erzählungen der ‚Anderen‘ | 119 Die narrative Figur der ‚Heldin‘ | 122 3.4 Ekstatischer Feminismus | 125 4. 4.1 4.2 4.3
4.4
Verschleierte Ansichten The White Station, Seifollah Samadian, 1999, 9 min. | 131 Authentizitätskonstruktionen im romantischen Naturbild | 134 Die Leere und die Fülle des ‚schwarzen Flecks‘ | 141 Die Frage nach dem Tschador | 145 Ambivalente Blickverhältnisse | 150 Der Blick aus dem Fenster | 152 Orientalismus und Gegenblick im Schleier | 155 Machtbalance und künstlerisches Vergnügen | 159 Politische Lektüren im westlichen Kunstkontext | 161 Reflexive Situierung | 164
5.
Die essayistische Blindheit operculum, Tran T. Kim-Trang, 1993, 14 min. | 171 5.1 Kritik der Schönheitschirurgie | 172 Der kommerzielle Hintergrund | 172 Genealogie der medizinischen Institution | 176 Schönheit und Rassismus | 181 5.2 Das dokumentarische Bild der ‚anderen Frauen‘ | 188 Der ‚andere‘ Erfahrungskörper | 188 Die Position der Kritik | 191 5.3 Die fiktionale Figur der Patientin | 194 Die Künstlerin als Schauspielerin | 194 Die Erzählung der ‚kritischen Patientin‘ | 198 Das Lachen der ‚Anderen‘ | 203 6.
Politische Rezeption und die Position der ‚Anderen‘ | 209
Literatur | 217 Abbildungen | 239
Vorwort und Dank
Im Jahr 2001 fand an der Akademie der bildenden Künste in Wien die erste Plattform der Documenta11 mit dem Titel Democracy Unrealized statt. Motiviert durch dieses Ereignis und daran anknüpfende Rahmenveranstaltungen gründeten KünstlerInnen und Studierende im selben Jahr die Gruppe FO/GO Lab, bei der ich selbst bis 2007 mitarbeitete.1 Die Praxis der Gruppe bestand im Wesentlichen darin, verschiedene Fundraising- und Informationsvideos von Frauenorganisationen aus dem ‚Süden‘ zu sammeln, zu diskutieren und im Kunstzusammenhang zu präsentieren.2 Dabei stellte sich zunehmend die Frage, inwieweit die Kontextverschiebung der Videos deren Bedeutung verändert: Wie verhält sich die Sichtbarmachung der repräsentierten Inhalte zur Tendenz der Kunst, ihre Gegenstände zu ästhetisieren? Was bedeutet dies für den gesellschaftskritischen Anspruch der Videos? Und wie kann in dieser Situation eine kritisch-reflexive Handlungsperspektive gedacht werden? Die Beschäftigung mit diesen Fragen veränderte nicht nur meinen Blick auf die eigene künstlerische Praxis, sondern sie verlangte auch zunehmend nach einer wissenschaftlich-theoretischen Arbeitsweise, die schließlich in der vorliegenden Publikation mündete. Anders als diese Entstehungsgeschichte vermuten lässt, stellt die Gruppenpraxis von FO/GO Lab aber nicht den Untersuchungsgegenstand der Studie dar; an ihre Stelle sind andere dokumentarische Positionen der zeitgenössischen Kunst getreten. Dennoch ist die Praxis von FO/GO Lab in der Studie enthalten: 1
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Weitere Mitglieder waren zu unterschiedlichen Zeitpunkten Irene Lukas, Ruby Sircar, Elisabeth Penker, Priska Graf, Johanna Rille, Isabella Schmidlehner, Leyla Kececi und Isabell Becker. Etwa im Rahmen der Gruppenausstellungen Du bist die Welt (Künstlerhaus Wien, 2002), First Story/Women Building. New Narratives for the 21st Century (Porto, 2002), Das Experiment (Secession, 2002) sowie in der Ausstellung Movilities (Künstlerhaus Stuttgart, 2006). Vgl. auch Bartl, Angelika u.a. (Hg.): [fem.] Additives, Stuttgart: Lautsprecherverlag, 2006.
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Andere Subjekte als impliziter Referenzpunkt, mit dessen Hilfe die Fragestellung der Studie immer wieder kritisch überprüft und ihre Argumente geschärft wurden, und der sowohl die allgemeine feministisch-postkoloniale Ausrichtung der Untersuchung beeinflusste, als auch die Auswahl der drei analysierten Filmarbeiten, in denen ebenfalls marginalisierte Frauen filmisch repräsentiert werden. Die Erfahrung, als Teil von FO/GO Lab selbst praktisch-künstlerisch in das zu untersuchende Problemfeld involviert gewesen zu sein, beförderte darüber hinaus die pragmatische, selbstreflexive Wendung der Studie, die darauf abzielt, die ambivalente Position der eigenen wissenschaftlichen Analysearbeit in den Vordergrund zu rücken. In diesem Sinn war es der Weg von der künstlerischen Praxis in den Bereich der Kunstwissenschaft, der mich dazu führte, auch die Theorie selbst als ambivalente, politische Praxis zu konzipieren und zu betreiben. Bei der Realisierung der Publikation standen mir zahlreiche Personen zur Seite: Mein Dank gilt an erster Stelle Silke Wenk, die meine Arbeit konsequent unterstützt und auf vielfältige Weise bereichert hat. Für produktive Diskussionen während der Schreibphase danke ich außerdem Gabriele Werner, Irene Nierhaus, Barbara Paul, Sigrid Schade sowie den Mitgliedern des Kolloquiums Methoden kunst- und kulturwissenschaftlicher Geschlechterforschung der Universitäten Oldenburg und Bremen. Ute Meta Bauer, Ursula Biemann, Roman Horak, Christian Kravagna, Ruth Noack, Gerald Raunig, Viktoria Schmidt-Linsenhoff und den Mitgliedern von FO/GO Lab danke ich für Anregungen und Gespräche zu Beginn der Untersuchung. Mein besonderer Dank geht an die KünstlerInnen Alejandra Riera, Seifollah Samadian und Tran T. Kim-Trang, die mir ihre Arbeiten sowie zusätzliches Informationsmaterial großzügig zur Verfügung stellten. Für die freundliche und professionelle Zusammenarbeit während der Endphase der Publikation danke ich Ulrike Schuff für das Endkorrektorat, Vanessa Feierabend für den Satz und Christine Jüchter für die verlagstechnische Abwicklung. Last but not least danke ich meiner Familie für ihre praktische und moralische Unterstützung in allen Phasen des Projekts.
Einleitung
„Othering is not something which feminists […] can afford to ignore. Unless we actively engage with the process of Othering as topic, we run risk of uncritically reproducing it in our own research and writing. Only by making Othering (rather than Otherness) the focus of our attention, and by exploring the ways in which it is done and undone, reinforced and undermined, can we open the possibility, finally, of interrupting its oppressive discourse.“1
Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Frage, was es in politischer Hinsicht bedeutet, wenn dokumentarische Repräsentationen marginalisierter und diskriminierter Personen im zeitgenössischen Kunstkontext gezeigt werden. Ausgangs- und Kristallisationspunkt dieser Frage ist der ungesicherte Status der repräsentierten ‚Anderen‘: Stellen die dokumentarischen Arbeiten eine Plattform dar, die es den Repräsentierten erlaubt, sich innerhalb dominanter Institutionen zu artikulieren und als handlungsfähige Subjekte zu erscheinen? Oder verdeckt ein solcher Anspruch, dass sie erneut als passive Bildobjekte fixiert werden, deren Erscheinen im westlichen Kunstkontext exotistische Phantasien bedient? Können die repräsentierten ‚Anderen‘ einen relativen/ relationalen Subjektstatus gegenüber den Produktions- und Rezeptionsinstanzen der Kunst erlangen? Und wenn ja, in welcher Hinsicht und unter welchen Voraussetzungen? Seit den 1990er Jahren erlebt das zuvor eher vernachlässigte Genre des Dokumentarischen ein neues Interesse in verschiedenen Medienkontexten. Dies betrifft neben dem Film- und Fernsehbereich2 auch das Kunstfeld, in dem vor al-
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Kitzinger, Celia/Wilkinson, Sue: „Theorizing Representing the Other“, in: dies. (Hg.), Representing the Other, London: Sage 1996, S. 27f. Herv. i. Orig. Vgl. Gaines, Jane M.: „Introduction: ,The Real Returns‘“, in: dies./Renov, Collecting Visible Evidence, 1999, S. 1-18, sowie Schillemans, Sandra: „Die Vernachlässigung des
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Andere Subjekte lem um die Jahrtausendwende ein Trend zum Dokumentarischen zu verzeichnen ist. Ein zentrales Ereignis ist dabei die Documenta11 (Kassel, 2002), auf der über 40 Prozent der gezeigten Positionen mit dokumentarischen Repräsentationsstrategien operierten.3 Aber auch in anderen Großausstellungen und Biennalen, Galerien und Offspaces sind seit diesem Zeitraum zahlreiche dokumentarische Positionen zu finden. Zusätzlich widmen sich ab der Jahrtausendwende auch erste Publikationen4, Veranstaltungen5 und Themenausstellungen6 speziell dem Format des Dokumentarischen in der Kunst. Von einer einheitlichen künstlerischen Bewegung kann indes – anders als dies etwa der Begriff des documentary turn suggeriert7 – kaum gesprochen werden. Vielmehr zeichnen sich die Positi-
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Dokumentarfilms in der neueren Filmtheorie“, in: Hattendorf, Manfred (Hg.), Perspektiven des Dokumentarfilms, München: Schaudig und Ledig 1995, S. 11-28. Vgl. Kurzführer Documenta11_Plattform5, Ausst. Kat., Kassel, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002. Etwa die thematischen Ausgaben der Kunstmagazine springerin („Reality Art“, IX/3, 2003), Texte zur Kunst („Nichts als die Wahrheit“, 51, 2003), Frieze („Artists and the framing of social reality“, 118, 2008) sowie die Sammelbände Biemann, Ursula (Hg.): Stuff it. The Video Essay in the Digital Age, Zürich/Wien/New York: Voldemeer/Springer 2003a; Gludovatz, Karin (Hg.): Auf den Spuren des Realen. Kunst und Dokumentarismus, Wien: MUMOK 2005; Gierstberg, Frits u.a. (Hg.): Documentary Now! Contemporary strategies in photography, film and the visual arts, Rotterdam: NAi Publishers 2005; Havránec, Vít/Schaschl-Cooper, Sabine/Steinbrügge, Bettina (Hg.): The Need to Document, Zürich: JRP Ringier 2005, sowie die Aufsatzsammlung Steyerl, Hito: Die Farbe der Wahrheit. Dokument – Dokumentarismus – Dokumentalität. Probleme des Dokumentarischen im Kunstfeld. Wien: Turia und Kant 2008. Eine kritisch-thematisch orientierte Monografie zur aktuellen dokumentarischen Kunst ist Wöhrer, Renate: Dokumentation als emanzipatorische Praxis. Künstlerische Strategien zur Darstellung von Arbeit unter globalisierten Bedingungen, München: Fink (in Vorbereitung). Bspw. das Symposium Stuff it! (Zürich, 2002), die Vortragsreihe Dokumentarische Strategien in der Kunst (Wien, 2003), das Videoprogramm Es ist schwer das Reale zu berühren (München, 2001, 2003), die Round-tables im Kontext des Projekts The Need to Document (Basel, Lüneburg, Prag, 2005) und das alle zwei Jahre stattfindende Berlin documentary forum (Berlin, 2010, 2012). Bspw. Documentary Processes (Barcelona, 2001), Despres de la Noticia (Barcelona, 2001), [based upon] TRUE STORIES (Rotterdam, 2003), Appel à témoins (Quimper, 2003), Documentary Fictions (Barcelona, 2004), Belief it or not (Berlin, 2004), Experiments with Truth (Philadelphia, 2004/2005), The Need to Document (Basel, Lüneburg, Prag, 2005), Reprocessing Reality (New York, 2005/06), Making History (Liverpool, 2006), Come and Go: Fiction and Reality (Lissabon, 2007/2008), The Cinema Effect (Washington, 2008), Greenroom (New York, 2009), A blind spot (Berlin, 2012). Der Begriff findet sich etwa bei Nash, Mark: Experiments with Truth: „The Documentary Turn“, in: Experiments with Truth, Ausst.-Kat., The Fabric Workshop and Museum
Einleitung onen durch eine große Diversität in der konkreten Umsetzung und den epistemologischen Verortungen aus: Neben weitgehend unbearbeiteten Video- und Fotodokumenten aus künstlerisch-aktivistischen Zusammenhängen umfasst der Trend zum Dokumentarischen auch experimentelle Arbeiten, die stärker dem Bereich der Videokunst verpflichtet sind. Und auch Produktionen aus der Medienarbeit, dem Journalismus und dem Essayfilm werden verstärkt durch KünstlerInnen und KuratorInnen in den Kunstkontext integriert, wenn auch häufig nur temporär im Rahmen einer Arbeit oder einer Ausstellung. In diesem heterogenen Feld der dokumentarischen Medienkunst8 kann ein thematischer Schwerpunkt festgestellt werden: Ein Großteil der Arbeiten setzt die dokumentarischen Formen dazu ein, um auf gesellschaftliche Problembereiche aufmerksam zu machen, die im Mainstream keinen dezidierten Platz erhalten. Repräsentiert werden vor allem die sogenannten Subalternen, d.h. Menschen, die aufgrund ihrer mehrfachen (ethnisch, ökonomisch und geschlechtsspezifisch bedingten) Unterdrückung von politischen Prozessen abgeschnitten sind.9 Als Beispiele können etwa Anwar Kanwars Filme über die prekären „Zustände des gegenwärtigen Indien“10 angeführt werden, die auf den letzten beiden Documenta-Ausstellungen vertreten waren, Ursula Biemanns Videoessays über die Lebensbedingungen marginalisierter Frauen in globalen Grenzregionen11 oder die auf der D11 präsentierte halbdokumentarische Fernsehserie Nunavut (1995) der Produktionsfirma Igloolik Isuma Productions, die das im Verschwinden begriffene kulturelle Gedächtnis einer Inuit-Gemeinde aufzeichnet.12 Philadelphia, New Jersey: CRW Graphics 2004, S. 15-21, sowie bei Steyerl, Hito: „Politik der Wahrheit – Dokumentarismen im Kunstfeld“, in: Havránec/Schaschl-Cooper/ Steinbrügge, The Need to Document, 2005, S. 53. 8 Der Begriff Medienkunst wird in dieser Publikation in einem erweiterten Sinn verwendet, d.h. er bezieht sich sowohl auf neue Medien (Video, digitale Fotografie, Computer…) als auch auf die klassischen apparativen Medien Fotografie und Film. Damit wird einer künstlerischen Praxis Rechnung getragen, die sich verstärkt zwischen analoger und digitaler Technik bewegt. 9 Vgl. im Kontext des Postkolonialismus Guha, Ranajit (Hg.): Selected Subaltern Studies, New York u.a.: Oxford University Press 1988. 10 Kurzführer D11 2002, S. 128. 11 Etwa Performing the border (1999), Writing Desire (2000), Remote Sensing (2001), Europlex (2003). Vgl. Biemann, Ursula: Been There and Back to Nowhere. Geschlecht in transnationalen Orten. Postproduction Documents 1988-2000, Berlin: b_books 2000, und www.geobodies.org. 12 Vgl. dazu Kurzführer D11 2002, S. 118, sowie Experiments with Truth, Ausst.-Kat., The Fabric Workshop and Museum Philadelphia, New Jersey: CRW Graphics 2004, S. 3337. Auch weitere, viel rezipierte dokumentarische Positionen wie Isaak Julien, Steve
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Andere Subjekte Mit diesem Repräsentationsfokus auf den ‚Anderen‘ der westlichen, bürgerlich-patriarchalen ‚Norm‘ ist zugleich auch ein dezidiert emanzipatorischer Anspruch verbunden: Die Subalternen sollen als gleichberechtigte Subjekte eingeführt werden. In diesem Sinn ortet etwa Holger Kube Ventura bereits in dokumentarischen Ansätzen der 1990er Jahre einen „Verantwortlichkeitsethos gegenüber dem sujet, gegenüber dem Gegenstand und seiner gesellschaftlichen Funktion“.13 Und für den Kurator und Filmtheoretiker Mark Nash zeichnet sich die aktuelle dokumentarische Kunst explizit durch „ethics of engagement and presentation“14 aus. Die Art und Weise, wie dieser ethisch-emanzipatorische Anspruch in den künstlerischen Arbeiten umgesetzt wird, ist – bedingt durch die Heterogenität ihrer konkreten Inhalte und medialen Umsetzungen – überaus unterschiedlich. Und auch innerhalb einzelner künstlerischer Positionen ist, wie im Weiteren noch gezeigt wird, die politische Dimension keineswegs einheitlich bestimmbar. Dennoch wird in den theoretischen Diskursen der politische Anspruch der Arbeiten häufig an ganz bestimmte Formkriterien bzw. Kunstkonzeptionen geknüpft. Strukturell lassen sich dabei zwei dominante Argumentationsstränge ausmachen15, die in ihrer Dualität an die sogenannte Brecht-Lukács-Debatte erinnern, die in den 1960er und 1970er Jahren den Diskurs zur politischen Kunst bestimmte.16 Der erste Argumentationsstrang betont dabei vor allem das poli-
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McQueen, Nikki S. Lee, Fiona Tan, Kutlug Ataman, Hito Steyerl, Ulrike Ottinger, das Raqs Media Collective, Multiplicity, Ahlam Shibli, Danica Dakic u.a. thematisieren bevorzugt Aspekte von Differenz, Ausgrenzung und Unterdrückung. Ventura, Holger Kube: Politische Kunst Begriffe in den 1990-er Jahren im deutschsprachigen Raum, Wien: Selene 2002, S. 69. Nash 2004, S. 17. Die Bündelung der verschiedenen Theoriepositionen zum Dokumentarischen auf zwei Stränge ist eine heuristische Konstruktion, die sich ausdrücklich auf deren (häufig implizit artikulierte) Konzeption der politischen Form bezieht. Jenseits dieser – wichtigen und zumeist vernachlässigten – Dimension zeichnen sich die theoretischen Ansätze jedoch (genauso wie die künstlerischen Arbeiten, auf die sie sich beziehen) durch eine große Heterogenität und Vielschichtigkeit aus. Die Brecht-Lukács-Debatte ist eine theoretische Konstruktion der 1960er und 1970er Jahre, die sich auf die konträren Realismusauffassungen von Bertolt Brecht und Georg Lukács aus den 1930er Jahren stützt, die jedoch selbst nicht miteinander im Austausch standen. Siehe dazu u.a. Mittenzwei, Werner: „Marxismus und Realismus. Die Brecht Lukács Debatte“, in: Das Argument. Berliner Hefte für Probleme der Gesellschaft 1/2 (1968), S. 12-42; Gallas, Helga: Marxistische Literaturtheorie. Kontroversen im Bund proletarisch- revolutionärer Schriftsteller, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1971, sowie Pollock, Griselda: „Screening the Seventies. Sexuality and representation in feminist
Einleitung tische Potential der dokumentarischen Wirklichkeitsrhetorik im Kunstkontext. Demnach ermögliche es der dokumentarische Realismus, ansonsten ausgeklammerte, marginalisierte Inhalte in den Kunsträumen ‚präsent‘ zu machen und den Repräsentierten politische Teilhabe via medialer Repräsentation zu eröffnen. Das vermeintlich integrierte ‚Soziale‘ – sowohl in Form des repräsentierten Inhalts als auch in Form des traditionell kunst-externen Genres des Dokumentarischen – scheint in dieser Argumentationslogik die überkommenen elitären Grenzen des klassischen Kunstbegriffs, welcher traditionell über die ‚meisterhafte Form‘ argumentiert wird, in Frage zu stellen und einen neuen politischen Kunstbegriff zu eröffnen.17 In Differenz dazu unterstreicht der zweite Argumentationsstrang gerade die politischen Möglichkeiten des Künstlerischen, verstanden als experimentelle Forminterventionen in die dokumentarische Authentizitätsrhetorik. Dieser Ansatz beruft sich auf Überlegungen der Apparatustheorie der 1960er und 1970er Jahre, wonach der filmische Realismus durch Verleugnen der eigenen Medialität die repräsentierten Inhalte in ihrer ideologisch konnotierten Bildhaftigkeit fixiert.18 Kritisiert wird, dass das Dokumentarische die vermeintliche Realität der Unterdrückung naturalisiert und die als Opfer festgeschriebenen ‚Anderen‘ passiv dem Blick der BetrachterInnen aussetzt. Letztlich würden auf diese Weise die sozialen Macht- und Diskriminierungsverhältnisse auch praktisch in den Repräsentationen fortgeschrieben. Experimentelle Forminterventionen, die auf die mediale Bedingtheit und Fiktionalität der dokumentarischen Darstellungen hinweisen, könnten hingegen, so die Überlegung, die Repräsentierten aus diesem fixierten Objektstatus befreien.19
practice – a Brechtian perspective“, in: dies., 2003, S. 212-268. Zur Übertragbarkeit der Brecht-Lukács-Debatte auf aktuelle dokumentarische Diskurse im Kunstkontext siehe ausführlicher Kapitel 1.2. 17 Diese Argumentationslinie dominiert vor allem in den aktivistischen ‚re-politisierten‘ Kunstpraxen der 1990er Jahre. Vgl. dazu u.a. Ventura 2001, Felshin, Nina (Hg.): But is it Art? The Spirit of Art As Activism, Seattle: Bay Press 1995, sowie Lacy, Susan (Hg.): Mapping the terrain. New genre public art, Seattle: Bay Press 1995. Zur Kritik am Meisterschaftsdiskurs siehe insbesondere Positionen der feministischen Kunstwissenschaft, u.a. in: Hoffmann-Curtius, Kathrin/Wenk, Silke (Hg.): Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg: Jonas 1997. 18 Wichtige VertreterInnen dieser Theorieströmung sind u.a. Claire Johnston, Laura Mulvey, Stephen Heath und Teresa de Lauretis. Siehe dazu auch den Exkurs zur Apparatustheorie in Kapitel 1.2. 19 Dieser Argumentationsstrang dominiert in jüngeren Positionen, die stärker aus dem Bereich der Kunst kommen oder sich aus dem Essayfilm entwickelt haben. Vgl. dazu u.a. Biemann 2003a sowie Rehm, Jean-Marie (Hg.): Documentary Fictions, Ausst.Katalog, Fundacion La Caixa, Barcelona 2004.
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Andere Subjekte Wie aus dieser Darstellung hervorgeht, beziehen sich beide Argumentationslinien negativ aufeinander und scheinen sich daher diametral entgegenzustehen. Bei einem genauen Blick zeigt sich jedoch, dass sie sich auch in einem gemeinsamen Punkt treffen: Beide beruhen auf der ethischen Bewertung formaler (Kunst-)Konzepte; oder anders formuliert: Politik wird in beiden Fällen als eine Frage der Form behandelt – sei es als realistische Form, die in den Kunstkontext eingeführt wird und dort eine neue, revolutionäre Kunstform begründen soll (der erste Argumentationsstrang), oder sei es als experimentelle Form, die in die Konventionen des Dokumentarischen interveniert und daraus einen kritischen Kunststatus ableitet (der zweite Argumentationsstrang). Diese formalistische Logik wird auch dann beibehalten, wenn – wie in der Praxis der theoretischen Argumentation zumeist – beide Ansätze miteinander kombiniert werden und daraus ein Konzept der formalen Ambivalenz abgeleitet wird. Solange dabei jedoch eine essentialistische Verschmelzung von Form und politischer Bedeutung beibehalten wird, schlagen auch diese Diskurse in Eindeutigkeit um und lassen sich effektiv dem zweiten Argumentationsstrang zuordnen.20 Letztlich wird der in Bezug auf den Repräsentationsgegenstand der ‚Anderen‘ entwickelte ethische Anspruch in den Entwurf einer scheinbar idealen politischen Form überführt. Eine Begründung des Politischen über formale, künstlerisch-dokumentarische Entscheidungen greift jedoch zu kurz. Zwar formulieren beide Argumentationsstränge wichtige Kritikpunkte des jeweils anderen Strangs, die strikte theoretische Opposition der Diskurse wird indes durch die Gleichzeitigkeit ihrer praktischen Gültigkeit unterwandert. Und auch mit Blick auf die repräsentierten ‚Anderen‘ wird die Problematik eines formalen Politikbegriffs deutlich. Denn deren Position bleibt unabhängig von den jeweiligen politischen Formkonzepten im Kunstkontext schwierig: Zum einen kann das dokumentarische Bild der ‚Anderen‘ auch in experimentellen Arbeiten (genauso wie in realistischen) als Detail aus dem formalen Zusammenhang herausfallen und – entgegen der künstlerischen Intention – die ‚Andersheit‘ der Repräsentierten fixieren.21 Und zum anderen ist der dokumentarische Realismus (genauso wie experimentelle Medienarbeiten) mittlerweile ebenfalls fest im Kunstbetrieb verankert und stellt symbolisches Kapital bereit, von dem jedoch erneut vor allem die etablierten ProduzentInnen und AkteurInnen der Kunst (KünstlerInnen, KuratorInnen …) profitieren. Die repräsentierten ‚Anderen‘ bleiben hingegen weiter pas-
20 Siehe dazu auch Kapitel 1.2. 21 Zur Bedeutung des Details in künstlerischen Arbeiten vgl. auch Futscher, Edith/Neuner, Stefan/Pichler, Wolfram (Hg.): Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur, München: Fink 2007.
Einleitung siv im dokumentarischen Bild verhaftet und vergrößern durch ihren Anschein des authentischen ‚Sozialen‘ das Kapital der avantgardistischen Medienkunst. Dieser Mechanismus des Othering hat in der westlichen Kunstinstitution eine lange Tradition, wie feministische und postkoloniale KunstwissenschaftlerInnen vielfach gezeigt haben.22 Der große Erfolg, dessen sich das Dokumentarische im Kunstbereich gegenwärtig erfreut, scheint nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sich die scheinbar kritisch-politischen Darstellungen der marginalisierten ‚Anderen‘ auch weitgehend reibungslos in die patriarchalen und kolonialen Traditionslinien künstlerischer Repräsentation von Differenz einfügen.23 Unter Berücksichtigung des ideologischen Kunstkontextes zeichnet sich somit eine Ambivalenz in der behaupteten ‚Politik‘ der dokumentarischen Kunst ab. Die vorliegende Studie fragt nun, wie mit diesem politisch-ästhetischen Problem umzugehen ist: Was bedeutet dies für die Konzeption dokumentarischer Medienkunst und ihres politischen Status? Welcher Begriff des Politischen und des Medialen ergibt sich daraus? Und welche Handlungskonsequenzen können daraus abgeleitet werden? Wie die obigen Ausführungen nahelegen, kann ein möglicher Ansatz kaum darin bestehen, neue formorientierte Konzepte politischer Kunst zu entwerfen. Konzepte, die auf Vorstellungen einer ‚richtigen‘ Form basieren, erweisen sich vielmehr selbst als Teil des Problems, da sie die problematischen Dimensionen dokumentarischer Darstellungen auf die Wahrnehmung der BetrachterInnen abwälzen. In ihrer Logik scheint es erst der ‚falsche‘ rassistische Blick des Kunstpublikums zu sein, der die Repräsentierten zu alteritären Objekten innerhalb der eigentlich ‚richtigen‘ kritischen Form macht. Dies bedeutet jedoch, das koloniale und sexistische Unbewusste der Kunst nur zu verschieben und die Rezeption in einen uneinholbaren Rückstand zur vermeintlich ‚widerständigen Kunst‘ zu bringen, die sich ihrerseits auf eine ideale Meta-Position des ‚Politischen‘ zurückzieht.24 Letztlich wird das Kunstpublikum mit seinem Unbehagen angesichts der dokumentarischen Kunstwerke alleine gelassen. Die Problematik der repräsentierten ‚Anderen‘ – die Tatsache, dass diese in einem
22 Vgl. insb. Friedrich, Annegret u.a. (Hg.): Projektionen. Rassismus und Sexismus in der visuellen Kultur, Marburg: Jonas Verlag 1997 sowie Hoffmann-Curtius/Wenk 1997. 23 Vgl. auch Babias, Marius: „Subject production and political art practice“, in: Afterall 9 (2004), S. 101ff. 24 In diesem Sinn kritisiert auch Jacques Rancière die „Metapolitik der widerständigen Form“, die der Kunst ein elitärer Sonderstatus zuspricht und – entgegen ihres avantgardistischen Anspruchs – den Abstand zum ‚Leben‘ weiter vergrößert. Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien: Passagen 2007, S. 54. Vgl. auch ders.: „The Emancipated Spectator. Ein Vortrag zur Zuschauerperspektive“, in: Texte zur Kunst 58 (2005), S. 35-51.
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Andere Subjekte bürgerlich-westlich dominierten Kunstkontext als ‚Andere‘ erscheinen müssen – wird verdrängt und bleibt letztlich unbearbeitet. Vor diesem Hintergrund unternimmt die vorliegende Studie eine Perspektivverschiebung. Im Zentrum steht nicht mehr eine ontologische Bestimmung der politischen Form, sondern die politische Praxis des Umgangs mit ihr. Dabei wird das Politische als etwas begriffen, das auch selbst erst fragend erkundet werden muss und nicht einer vorgängigen Gewissheit entspringt. Dieses Fragen nach dem Politischen in der dokumentarischen Medienkunst impliziert zwei Dimensionen: Zum einen ist damit eine ideologie- und diskurskritische Befragung der bestehenden hegemonialen Verhältnisse im Diskursfeld der dokumentarischen Kunst gemeint und zum anderen versteht sich die Frage als konstruktive, praktische Suche nach politischen Perspektiven, in denen die repräsentierten ‚Anderen‘ – trotz der festgestellten Schwierigkeiten – als gleichberechtigte Subjekte erscheinen können. Die Werkanalyse führt hier aus einer nachträglichen, kritisch informierten Rezeptionsperspektive den politischen Anspruch der dokumentarischen Medienkunst weiter fort. Dabei gerät auch die eigene politische Suchbewegung kritisch in den Blick. In Gang gesetzt wird eine selbstreflexive Analysehaltung. Dies ist zum einen verunsichernd, da es bedeutet, sich dem eigenen kolonialen und patriarchalen Unbewussten zu stellen. Zum anderen birgt jedoch diese selbstreflexive Haltung auch ein emanzipatives Potential: Auf diese Weise wird nämlich die Rezeptionstätigkeit zu einem gleichberechtigten, aktiven Element im Feld der Kunst, das gemeinsam und in kritischer Differenz zum Produktionsbereich um deren Bedeutungen streiten kann. Die vorliegende Publikation zielt damit letztlich darauf ab, die konstitutive Funktion der Rezeption in medialen Bedeutungsprozessen auf Basis eines pragmatischen, nicht-essentiellen Politikbegriffs zu verankern. Die oben genannten zwei Dimensionen der Frage nach dem Politischen – die kritisch-dekonstruktive und die pragmatisch-konstruktive – werden im Verlauf der folgenden Kapitel auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpft. Im ersten Kapitel Dokumentarische Alterität im Kunstraum wird mit Blick auf Repräsentationen von Subalternen zunächst das Feld der dokumentarischen Medienkunst diskurskritisch analysiert, um die eigene Frage- bzw. Problemperspektive der Untersuchung zu verorten. Anhand aktueller und historischer Diskurse wird dabei in einem ersten Schritt der politische Anspruch der dokumentarischen Repräsentationen – ihr Begehren nach der Subjektivität der ‚Anderen‘ – herausgearbeitet, bevor in einem zweiten Schritt die beiden bereits genannten Argumentationslinien der dokumentarischen Medienkunst beschrieben werden, die diesen Anspruch in formalen Konzepten zu erfüllen
Einleitung suchen.25 Ein dritter Schritt konfrontiert diese Ansätze schließlich mit den Bedingungen der modernen Kunstinstitution und verweist auf das Paradox, dass ein formal begründeter Politik-Anspruch der Kunst die Differenz zwischen der westlichen ‚Norm‘ der Kunstinstitution und der ‚sozialen Realität‘ der repräsentierten ‚Anderen‘ eher vergrößert und verstärkt als reduziert. Einen Vorschlag, wie mit dieser Problematik umgegangen werden kann, erarbeitet das zweite Kapitel Die Politik der Rezeption, indem es die ideologiekritische und die pragmatische Dimension der Studie im Begriff des Politischen methodologisch miteinander verknüpft. Den zentralen Referenzpunkt bildet dabei die Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, die Politik als kontingentes, hegemoniales Handeln, das stets auf antagonistische Widerstände trifft, beschreiben.26 Ihr konsequent anti-essentialistischer Politikbegriff wird im Anschluss auf den Bereich der Medientheorie übertragen. In der Diskussion ideologiekritischer, soziologischer und semio-pragmatischer Ansätze27 zeigt sich zunächst die Problematik eines reduktionistischen Begriffs des Politischen, der mit der Annahme einer idealisierten (politischen und/oder wissenschaftlich-neutralen) Theorieposition verknüpft ist. Aus Perspektive der Hegemonietheorie gilt jedoch, dass jede Handlung – also auch die analytische Rezeptionspraxis der Theorie – unabdingbar politisch-hegemonial agiert. Ohne eine letzte Bedeutungshoheit behaupten zu können, werden ihre politischen Lektüreansätze stets durch bewusste und unbewusste Antagonismen (zum Beispiel durch andere Theorien oder nicht integrierbare Elemente der Repräsentationen) limitiert, die sie auf ihre Auslassungen und problematischen Vorannahmen hinweisen. Diese Medienperspektive verweist auf die Praxis kritischer und mehrdimensionaler Lektüren, die sich auch gegenseitig relativieren und unterbrechen können. Anschaulich gemacht wird dies mithilfe des hegemonieund medientheoretisch aktualisierten Konzepts des Lacan'schen Blicks.28
25 Referenzen bilden dabei insbesondere die Aufsätze aus den Bänden Biemann 2003a, Gludovatz 2005, Gierstberg 2005, Havránec 2005. 26 Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen [1985] 2006. 27 Konkret diskutiert werden die ideologiekritische Apparatustheorie, die soziologisch orientierten Cultural Media Studies und der semio-pragmatische Ansatz von Roger Odin. 28 Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI, Weinheim/Berlin: Quadriga [1964] 1996, S. 73-126. Wichtige Referenzen sind dabei auch die Lacan-Interpretationen von Silverman, Kaja: The Treshold of the Visible World, London,/New York: Routledge, 1996; Copjec, Joan: „Das orthopsychische Subjekt: Filmtheorie und Lacanrezeption“, in: dies., Lies mein Begehren. Lacan gegen die Historisten, München: P. Kirchheim Verlag [1994] 2005, S. 29-57, sowie Lummerding,
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Andere Subjekte In Bezug auf den konkreten Analysegegenstand der vorliegenden Studie – die dokumentarischen Repräsentationen der ‚Anderen‘ – wird darauf aufbauend ein praktisches Arbeitsmodell entwickelt. Dieses skizziert ein mediales Dreieck, welches sich zwischen den zentralen rhetorischen Instanzen der dokumentarischen Kunst aufspannt: zwischen ProduzentInnen, RezipientInnen und repräsentierten ‚Anderen‘. Alle drei Instanzen werden dabei als hegemoniale, antagonistische AkteurInnen begriffen, die sich in ihren relationalen Subjektpositionen wechselseitig konstituieren und destabilisieren. Es entsteht ein komplexes, letztlich nicht formalisierbares Geflecht an Machtrelationen, die in der Praxis nur aus einer subjektiven ‚Innenperspektive‘ nachvollzogen werden können. Das heißt, die Analytikerin muss sich selbst in die relationale Position der Rezeption begeben. In dieser Position kann sie – unter Zuhilfenahme verschiedener theoretisch-kritischer Arbeitswerkzeuge – unterschiedliche politische Lektüreansätze in Relation zum Gegenstand und seinem Entstehungs- und Wirkungskontext erproben und an ihre Grenzen treiben (d.h. mit ihren Widersprüchen konfrontieren). Die unterschiedlichen latenten Machtkonstellationen zwischen den medialen Instanzen werden dabei durch die performative (Re-) Inszenierung in einen vorläufig manifesten Zustand gebracht. In diesem stets konkreten, radikal involvierten und offenen Lektüreprozess ermöglicht es die heuristische Konstruktion des hegemonialen Dreiecks jedoch zugleich, auch in Distanz zum eigenen Vorgehen zu gehen und die pragmatisch-relational hervorgebrachten hegemonialen Beziehungen der dokumentarischen Instanzen, die politische Konkretisierung der eigenen Rezeptionstätigkeit, (selbst-)kritisch zu analysieren. Dieses methodisch-theoretische Konzept wird im zweiten Teil der Publikation unter der Überschrift Videolektüren in die Praxis gesetzt. Als konkrete Analysegegenstände dienen drei ausgewählte Video- bzw. Filmarbeiten, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Diese Arbeiten sind: 1) Hot Water – de l'eau chaude, ein 33-minütiges Video der Künstlerin Alejandra Riera aus dem Jahr 2001, 2) The White Station, ein 9-minütiger Kurzfilm des Filmemachers Seifollah Samadian von 1999, und 3) operculum, ein 14-minütiger Videoessay der Künstlerin Tran T. Kim-Trang von 1993. Dass drei filmische Arbeiten der dokumentarischen Kunst ausgewählt wurden, trägt zunächst dem Umstand Rechnung, dass dieses Medium einen zunehmend großen Raum im Kunstkontext einnimmt. Die Gründe dafür liegen nicht nur in der Möglichkeit des zeitbasierten Mediums, verschiedene kritisch-
Susanne: agency@. Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2005, insb. S. 255-264.
Einleitung experimentelle Materialien in eine geschlossene Arbeit einzubeziehen29, sondern auch im potentiell gesteigerten Authentizitätseindruck des Filmischen, das aufgrund der Möglichkeit der Verknüpfung rhetorischer Indexikalität mit einem scheinbar kontinuierlichen Zeitverlauf die repräsentierten ‚Anderen‘ besonders glaubhaft als handelnde Subjekte in Erscheinung treten lassen kann. In Bezug auf die Analysemethode ist darüber hinaus relevant, dass die Zeitbasiertheit des Filmischen es nahelegt, Veränderungen in den hegemonialen Konstellationen der Medieninstanzen kontinuierlich herauszuarbeiten. Die immanente Prozesshaftigkeit des filmischen Mediums motiviert und begleitet gewissermaßen den prozesshaften Verlauf der Lektürearbeit.30 Neben dem gemeinsamen filmischen Medium weisen die ausgewählten Video- und Filmarbeiten auch eine inhaltliche Gemeinsamkeit auf: Sie alle repräsentieren ‚andere Frauen‘, die neben Ethnizität und/oder Klasse auch in Bezug auf die Kategorie Geschlecht mit Differenz belegt sind. Allerdings erscheinen diese in durchaus unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen: So zeigt Hot Water eine Protestaktion für bessere Wohnbedingungen in Nordfrankreich, an der Frauen mit migrantischem Hintergrund maßgeblich beteiligt sind, während in The White Station eine verschleierte Frau in Teheran beobachtet wird, die während eines Schneesturms auf den Bus wartet, und operculum zeigt eine asiatische Frau, die von verschiedenen Ärzten über eine chirurgische Anpassung ihrer Augenform an die ‚westliche Norm‘ beraten wird. Mit dem Fokus auf Arbeiten über ‚andere Frauen‘ wird die Problematik des Politischen besonders deutlich erkennbar: Aufgrund der Mehrfachbelegung mit Differenz sind Repräsentationen über ‚andere Frauen‘ in besonderem Maße einer potentiellen Verstrickung von politisch-emanzipativen und diskriminierenden Diskursen ausgesetzt. Einfache, formale Politik-Konzepte gelangen rasch an ihre Grenzen. 31 Repräsentationen ‚anderer Frauen‘ fordern damit offensiv heraus, sich mit den Problemen des Politischen – insbesondere in der Verknüpfung feministischer und postkolonialer Ansätze – auseinanderzusetzen. Die ausgewählten Video- bzw. Filmarbeiten unterscheiden sich aber nicht nur in Bezug auf die konkreten Inhalte, sondern auch hinsichtlich der Art und Weise, wie sie die ‚anderen Frauen‘ zu sehen geben. Sie bedienen sich ver29 Verwoert, Jan: „Double Viewing: The Significance of the ,Pictorial Turn‘ to the Critical Use of Visual Media in Video Art“, in: Biemann, Stuff it!, 2003, S. 32. 30 Die prozesshafte Lektürearbeit ist jedoch keineswegs vom Verlauf der Videos und Filme abhängig. Wie in den Film- und Videoanalysen deutlich wird, kann sie sich durchaus auch gegen deren Argumentation oder vorgegebene Leserichtung wenden. 31 Auf diesen Umstand haben die sogenannten Women of Color (nicht-westliche bzw. schwarze Feministinnen) seit den 1980er Jahren kritisch hingewiesen. Wichtige VertreterInnen sind u.a. Chandra T. Mohanty, Bell Hooks und Gayatri Ch. Spivak.
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Andere Subjekte schiedener Modi des Dokumentarischen:32 Hot Water verfolgt beispielsweise eine Rhetorik der dokumentarischen Interaktivität, wie sie aus politischen Consciousness-raising-Filmen der 1970er Jahre bekannt ist. Der Kurzfilm The White Station hingegen verknüpft die statisch beobachtende Ästhetik des frühen Films mit poetischen Formkonstruktionen. Und das Video operculum steht durch die diskontinuierliche Kombination von Film-, Sound- und Textmaterialien der Tradition des Essayfilms nahe. Diese formalen Differenzen zwischen den Arbeiten geben die immensen Formunterschiede wieder, die in der dokumentarischen Kunst zu finden sind. Darüber hinaus kann durch die formale Verschiedenheit der Analysegegenstände gezeigt werden, dass der zuvor beschriebene methodologische Ansatz unabhängig von allgemeinen Formkriterien anwendbar ist, und sich stattdessen die Analyse stets aufs Neue auf die formalen und inhaltlichen Besonderheiten des Gegenstands einlassen muss. Hier ist auch die Ursache dafür zu finden, dass den Video- und Filmarbeiten jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Während allgemeine, abstrakte Abhandlungen Gefahr laufen, Stereotype unkritisch zu reproduzieren, ermöglicht es die intensive, objektorientierte Beschäftigung in den einzelnen Kapiteln, den je spezifischen Erscheinungsformen von Alterität Raum zu geben und die eigene Beteiligung am Prozess des Othering selbstreflexiv zu berücksichtigen: Im Zentrum stehen das je spezifische Erscheinen der ‚anderen Frauen‘ und die je spezifischen Probleme des Politischen, mit denen es die kritische Lektüre konfrontiert. Konkret bedeutet dies, dass das Video Hot Water im dritten Kapitel Der Kampf um feministische Perspektiven zunächst als klassisch-dokumentarische Darstellung eines feministischen Protestkollektivs gelesen wird, an dem neben den repräsentierten ‚anderen Frauen‘ auch die Filmemacherin und die BetrachterInnen teilzuhaben scheinen. Ein genauer Blick lässt jedoch die Brüche in dieser Kollektiv-Rhetorik deutlich werden: Die repräsentierten ‚Anderen‘ formulieren aktiv Differenzierungen und stellen sowohl die Position der Künstlerin als auch die der BetrachterInnen innerhalb der angenommenen Kollektivität in Frage. Für die Rezeption steht damit die begehrte und problematische Verortung im Feminismus zur Debatte. In Bezug auf den Kurzfilm The White Station beschäftigt sich das vierte Kapitel Verschleierte Ansichten hingegen mit dem Verhältnis zweier ‚einsamer Gestalten‘: dem beobachtenden Filmemacher hinter dem Fenster eines Hochhauses auf der einen Seite und der beobachteten verschleierten Frau im Schneesturm auf der anderen Seite. Aus dieser weit32 Den Begriff prägte Bill Nichols, der vier – bzw. später sechs – dominante Modi des Dokumentarischen unterscheidet. Nichols, Bill: Representing Reality. Issues and Concepts in Documentary, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1991, S. 32-75, sowie ders.: Introduction to Documentary, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 2001, S. 99-138.
Einleitung gehend statischen Szene werden sukzessive ästhetische und kompositorische Filmelemente, komplexe Blickkonstellationen und Projektionen zum zentralen Bildgegenstand des Schleiers herausgearbeitet und miteinander konfrontiert. Auf diese Weise wird nicht nur das dominante Verständnis des Schleiers als Symbol für die Unterdrückung der Frauen irritiert, sondern auch der Fokus des Rezeptionsinteresses verschoben: Dieses konzentriert sich nicht mehr ausschließlich auf die bemitleidenswerte Frau im Schneesturm, sondern auch auf die mehrfach in Machtverhältnisse eingespannte eigene Position als ‚westlichen‘ BetrachterIn. Das sechste Kapitel Die essayistische Blindheit entwickelt schließlich verschiedene Lektüren zum Videoessay operculum, der sich mit ethnisch normativer Augenchirurgie bei AsiatInnen auseinandersetzt. Obwohl die essayistische Darstellung eine wirkungsvolle Kritik an dieser Praxis formuliert, stellt sie erneut die dokumentarisch repräsentierte Frau als authentische Körpereinheit her, die nicht nur der Schönheitschirurgie passiv ausgeliefert erscheint, sondern auch in einen unaufholbaren Rückstand zur essayistischen Kritik gebracht wird. Die Verschiebung der Perspektive auf ein (zunächst ausgeblendetes) Detail des Videos ermöglicht es jedoch, die Montage in einer Weise zu lesen, in der die ‚andere Frau‘ ihren passiven Objektstatus sowohl innerdiegetisch als auch in Bezug auf die Rezeption unterwandern kann. In allen drei Video- bzw. Filmanalysen werden – unter Einbeziehung verschiedener kritischer Diskurse zum Dokumentarischen, zur Kunst sowie zu geschlechtlicher und ethnischer Alterität – mehrere Lektüreschritte unternommen, die verschiedene Bedeutungsebenen der Videos herausarbeiten und zueinander in Relation stellen. Dabei zeigen sich unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Beziehungen zwischen den medialen Instanzen der Repräsentationen (RezipientInnen, ProduzentIn und Repräsentierte), die sich als hegemoniale Subjekte beständig neu konstituieren und destabilisieren. Eine grundlegende Annahme der Publikation ist es dabei, dass die Repräsentierten erst in diesen hegemonialen Bewegungen relativen Subjektstatus erhalten können. Nicht ein scheinbar unmittelbares Von-sich-aus-Sprechen, wie es die Rhetorik des Dokumentarischen suggeriert, begründet aus dieser Perspektive Subjektivität, sondern die unabdingbaren, konstitutiven Machtbeziehungen zwischen temporären, unabgeschlossenen Subjektpositionen. Auf dieses Beziehungsgeflecht spielt auch der Buchtitel „Andere Subjekte“ an, dessen Wortfolge in einem doppelten Sinn verstanden werden möchte: als Ausdruck des Begehrens, den repräsentierten ‚Anderen‘ als Subjekten zu begegnen, und als Verweis auf die konstitutive Differenz ihrer begehrten Subjektivität, die gerade darin besteht, nicht gänzlich über formale Konzepte erfasst und angeeignet werden zu können. Die ‚anderen Subjekte‘ weisen damit zurück auf die relationalen Subjektpositionen der Rezeption und Produktion, die sich sowohl den konkreten hegemonialen Bedingungen der Repräsentationen und ihrer Kontexte
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Andere Subjekte als auch der eigenen politischen Verantwortlichkeit stellen müssen. Die selbstkritische Auseinandersetzung mit der Problematik der ‚anderen Subjekte‘ wird so zur Grundbedingung für feministische, postkoloniale Perspektiven, die ihre eigene hegemoniale Kontingenz anerkennen. In der Publikation werden diese anti-essentialistischen Perspektiven des Politischen nicht nur theoretisch postuliert, sondern in den mehrdimensionalen, antagonistischen Lektüren der ausgewählten Video- und Filmarbeiten auch als praktisch positionierte Politik der Rezeption entwickelt und anschaulich gemacht.
Teil I Ausgangspunkte und theoretische Grundlagen
1. Dokumentarische Alterität im Kunstraum
Der diskursive Raum, in dem sich Untersuchungsmaterial und Fragestellung der vorliegenden Studie treffen, ist Gegenstand des ersten Kapitels. Im Zentrum steht dabei die Frage, weshalb und auf welche Weise dokumentarische Medienkunst über subalterne Personen zugleich als politisch-emanzipativ postuliert und in ihrem politischen Gehalt bezweifelt werden kann. Um dieser Frage nachzugehen, werden verschiedene aktuelle und historische Diskurse des Dokumentarischen und der Kunst in den Blick genommen und dahingehend untersucht, wie sie ihre Begriffe von Alterität und Politik miteinander verknüpfen. Konkret werden dabei drei Schritte unternommen: Das erste Unterkapitel skizziert zunächst den allgemeinen politisch-ethischen Diskursraum, in dem dokumentarische Repräsentationen der ‚Anderen‘ – unabhängig von ihrer spezifischen formalen Ausführung – in Erscheinung treten. Das zweite Unterkapitel untersucht, wie dieser allgemeine Vorstellungsraum durch theoretische Kunstkonzepte in formaler Hinsicht konkretisiert wird. In den Fokus geraten dabei die beiden bereits in der Einleitung erwähnten Argumentationslinien, die jeweils unterschiedlichen künstlerischen Formentscheidungen ein besonderes ethisches Vermögen zusprechen. Im dritten Unterkapitel werden diese formorientierten Konzepte ‚politischer Kunst‘ schließlich mit den Bedingungen der westlichen Kunstinstitution konfrontiert und nach ihren praktischen Wirkungen in Bezug auf die repräsentierten ‚Anderen‘ befragt. Aus dieser Perspektive werden nicht nur die Grenzen des politisch-ethischen Vermögens der künstlerischen Form erkennbar, sondern – mit Blick auf Repräsentationen ‚anderer Frauen‘ – auch die im politischen Anspruch selbst enthaltenen inneren Widersprüche.
1.1 Das Begehren nach den ‚anderen Subjekten‘ Das wiedererwachte Interesse am Dokumentarischen fand in den 1990er Jahren vor dem Hintergrund (post-)strukturalistischer Medientheorien statt, die bereits in den 1970er und 1980er Jahren auf die idealistische Grundlage dieses Genres
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Andere Subjekte hingewiesen haben. Diese ideologiekritischen und dekonstruktivistischen Theorien hatten gezeigt, dass durch die Rhetorik realistischer Wirklichkeitswiedergabe die materiellen Grundlagen und ideologischen Funktionen des Medialen verleugnet werden.1 Aus diesem Grund lehnten sie realistische Medienzugänge – und damit auch jene des Dokumentarischen – weitgehend ab und ersetzten sie durch Konzepte des Fiktionalen.2 Die Abkehr von dokumentarischen Formen erwies sich jedoch auch als problematisch, da dies mit einer zunehmenden Relativierung und Vernachlässigung der darin repräsentierten Inhalte einherging. In den 1990er Jahren wurden dokumentarische Repräsentationsstrategien daher trotz des Wissens um deren Schwierigkeiten aus dezidiert politischen Gründen wieder aufgegriffen.3 Ein Ereignis, das diesen Wandel mitbeförderte und exemplarisch veranschaulicht, ist der sogenannte Rodney-King-Prozess: Im März 1991 wurde der Gewaltexzess der Polizei am afroamerikanischen US-Bürger Rodney King durch Zufall auf Video festgehalten und die Amateuraufnahmen im anschließenden Prozess als Beweismittel eingesetzt. Allerdings legte die Verteidigung das Video so aus, dass es als juristisch wertlos eingestuft wurde und die beteiligten Polizisten freigesprochen wurden. Die Diskrepanz zwischen dieser Bewertung des Videos und der öffentlich wahrgenommenen Beweislage löste heftige Straßenunruhen in den USA aus. Der Prozessausgang und seine Folgen hatten aber noch eine weitere Konsequenz: Wie die Filmtheoretikerin Jane M. Gaines darlegt, setzte vor diesem Hintergrund auch ein Umdenken im Bereich der Filmtheorie ein. Jenseits der Untersuchung narrativer Muster und medialer Fiktionalität wurde nun auch wieder der besondere Wirklichkeitsbezug des Dokumentarischen in den Fokus gerückt und verstärkt in seiner politisch-strategischen Funktion wahrgenommen.4 Diese politisierte Wahrnehmung prägte auch das
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Siehe dazu auch den Exkurs zur Apparatustheorie in diesem Kapitel. Vgl. dazu Schillemans 1995, S. 11-28. Gaines 1999, S. 1-6; vgl. auch Guerra, Carles: „Things do happen. Events, facts, occurrences and news items in the light of post-media documentary practices“, in: Després de la Noticia – Post-media Documentary Practices, Ausst.-Kat., CCCB Barcelona 2003, S. 84-92, sowie Grammel, Soeren: „Es ist schwer das Reale zu berühren“, in: Horak, Ruth (Hg.), Rethinking Photography I +II. Narration und neue Reduktion in der Fotografie, Fotohof edition Bd. 37 (2003), S. 299-305. Ebd., S. 1. Vgl. dazu auch Rabinowitz, Paula: They must be represented. The Politics of Documentary, London/New York: Verso 1994, S. 205-215; Russell, Catherine: Experimental Ethnography. The Work of Film in the Age of Video, Durham/London: Duke University Press 1999, S. 19f, sowie Schaschl-Cooper, Sabine/Steinbrügge, Bettina: Das Bedürfnis, zu dokumentieren, in: Havránec/Schaschl-Cooper/Steinbrügge, The Need to Document, 2005, S. 23.
Dokumentarische Alterität im Kunstraum Erscheinen des Dokumentarischen in der sogenannten ‚re-politisierten‘ Kunst der 1990er Jahre.5 Dokumentarische Formen sind in diesem künstlerischen Feld besonders deutlich durch ein neues politisches Engagement für die repräsentierten prekären ‚Realitäten‘ motiviert.6 Der ethische Anspruch des Dokumentarischen ist jedoch keineswegs neu, sondern zeigt sich auch bei einem Blick in dessen Geschichte. In ihrem Artikel Wer spricht so? (1991) weist die Fototheoretikerin Abigail Solomon-Godeau darauf hin, dass sich das Dokumentarische nicht nur durch den Einsatz von ‚Effekten des Realen‘7 auszeichnet, sondern „auch [durch] bestimmte Inhalte, die praktisch zu Zeichen für das Dokumentarische geworden sind“.8 Ein solches inhaltliches Definitionsmerkmal sind Darstellungen der ‚prekären Realität‘ der ‚Anderen‘, die es – dem Anspruch nach – zu verändern bzw. zu verbessern gelte. Als Beispiele nennt Solomon-Godeau etwa die frühen Fotografien von Jacob Riis, der in den 1890er Jahren mithilfe einer neuen Blitzlichttechnik Menschen in den „finsteren Winkeln“9 von New York dokumentierte10, oder das Dokumentationsprojekt der Farm Security Administration (FSA), das die verarmte Landbevölkerung der USA in den 1920er Jahren ins öffentliche Bewusstsein zu rücken versuchte.11 Im Bereich der Dokumentarfilmtheorie kommt auch Eva Hohenberger zu einem ähnlichen Befund. Am Beispiel der frühen Theorien von Dziga Vertov und John Grierson in den 1920er und 1930er Jahren zeigt sie, dass der politisch-ethische Bezug auf eine als problematisch wahrgenommene Realität eine zentrale Rolle bei der Definition des dokumentarischen Genres spielt: 5
Vgl. etwa Ventura 2001, S. 65-70; sowie allgemein Felshin 1995; Lacy 1995. Ein interessantes Detail, das diesen Zusammenhang veranschaulicht, ist der Umstand, dass das Rodney-King-Video auch auf der Whitney Biennale 1993 ausgestellt wurde. Ventura 2001, S. 63. 6 Vgl. dazu u.a. Foster, Hal: „The Artist as Ethnographer“, in: ders., The Return of the Real, Cambridge, MA/London: MIT Press 1996, S. 171-204; Ventura 2001, S. 63; Nash 2004, S. 17, sowie Steyerl 2005, S. 53-64. 7 Abigail Solomon-Godeau bezieht sich dabei auf Roland Barthes' Begriff der „effets du réel“. Solomon-Godeau, Abigail: „Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie“, in: Wolf, Herta (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 55. 8 Ebd. 9 Jacob Riis zitiert nach Rosler, Martha: „Drinnen, Drumherum und nachträgliche Gedanken (zur Dokumentarfotografie)“, in: Breitwieser, Sabine/de Zegher, Catherine (Hg.), Martha Rosler. Positionen in der Lebenswelt, Wien/New York: Walter Koenig 1999, S. 106. 10 Solomon-Godeau 2003, S. 60-64. Vgl. auch die Kritik zu Jacob Riis von Rosler 1999, S. 105-148. 11 Solomon-Godeau 2003, S. 65-68.
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Andere Subjekte „Vertov und Grierson sind die ersten, die eine Begriffsbestimmung des Dokumentarfilms an einen spezifischen Wirklichkeitsbezug des Genres binden und aus ihm seine interventionistische soziale Funktion ableiten.“12
Dieser ethische Bezugsrahmen findet sich auch in späteren künstlerisch-dokumentarischen Positionen. Solomon-Godeau nennt aus den 1970er Jahren neben Allan Sekula und Sally Stein u.a. Martha Rosler, die sich in ihrem Fotoprojekt The Bowery in two inadequate descriptive systems (1974/75) einem verarmten Stadtteil von New York widmete und dabei zugleich die materiellen und ethischen Grenzen des dokumentarischen Mediums befragte.13 Die Verschiedenartigkeit der Beispiele zeigt, dass der politisch-ethische Bezug auf die marginalisierte ‚Realität‘ der ‚Anderen‘ weitgehend unabhängig von konkreten Formlösungen zu denken ist. Dies unterstreicht, mit Blick auf verschiedene ‚Genres‘ des von ihm so bezeichneten ‚ästhetischen Regimes der Kunst‘, auch der Philosoph Jacques Rancière: „Damit eine technische Tätigkeitsform – ob es sich nun um den Gebrauch von Worten oder einer Kamera handelt – der Kunst zugerechnet werden kann, muss zunächst ihr Gegenstand kunstfähig sein. […] das Interesse am Beliebigen: die Auswanderer von Alfred Steglitz' Zwischendeck, die Brustportraits von Paul Strand oder von Walker Evans. Zum einen kommt die technische nach der ästhetischen Revolution; und zum anderen ist diese vor allem vom Ruhm des Beliebigen charakterisiert, der zunächst ins Gebiet der Malerei und Literatur fällt, bevor er Fotografie und Film erfasst.“14
Im Begriff des ‚Interesses‘ bzw. des ‚Ruhms des Beliebigen‘ verweist Rancière hier auf die konstitutive Funktion eines politisch-ethischen Begehrens im Bereich des Ästhetischen, das sich – jenseits dominanter Genregrenzen – wesentlich aus dem Sujet der ‚marginalisierten Anderen‘ herleitet. In den unterschiedlichen ästhetischen Positionen artikuliert sich dieses allgemeine politisch-ethische Begehren jedoch auf durchaus unterschiedliche Art und Weise. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die weiter oben genannten Beispiele zum Teil deutlich antagonistisch aufeinander bezogen sind. So bildet etwa Vertov, der im Kontext des russischen Konstruktivismus für ein experimentelles, reflexives Repräsentationskonzept plädierte, eine radikale 12 Hohenberger, Eva: „Dokumentarfilmtheorie. Ein historischer Überblick über Ansätze und Probleme“, in: dies. (Hg.), Bilder des Wirklichen: Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 1998, S. 9. 13 Solomon-Godeau 2003, S. 72f. 14 Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books [2000] 2006, S. 53.
Dokumentarische Alterität im Kunstraum Gegenposition zu Grierson, der einen didaktisch-erklärenden Modus des Dokumentarischen im Sinn des Liberalismus anvisierte.15 Und Rosler entwickelte ihr Fotoprojekt zur Bowery in expliziter Absetzung zur reformistischen Dokumentarfotografie von Riis und der FSA, denen sie vorwirft, effektive, strukturelle Veränderungen zu verhindern.16 Es geht also nicht nur um die bloße Tatsache eines allgemeinen politisch-ethischen Begehrens, sondern auch darum, mit welchen konkreten Vorstellungen dieses Begehren in Bezug auf die repräsentierten ‚Anderen‘ verknüpft ist. Wie (bzw. genauer: als wer und was) werden die ‚Anderen‘ in den Repräsentationen adressiert? Welche spezifische Position wird ihnen in Relation zur Produktion und dem Bereich der Rezeption zugestanden? Es geht also auch um die Wertkontexte, mit denen das ethische Begehren nach den ‚Anderen‘ verknüpft ist. Im Fall der aktuellen dokumentarischen Produktionen im Kunstkontext steht das Begehren nach den ‚Anderen‘ wesentlich unter dem Eindruck dekonstruktivistischer Ansätze des Feminismus und des Postkolonialismus, die sich seit den 1960er Jahren vielfach kritisch mit Identitäts- und Alteritätszuschreibungen auseinandersetzten und immer noch auseinandersetzen.17 Vor diesem Hintergrund versucht die gegenwärtige politisch-ethische Bezugnahme auf die ‚Anderen‘ kaum mehr eine objektivierbare Differenz zur ‚Normgesellschaft‘ anschaulich zu machen, wie dies etwa noch in der ‚reformistischen Dokumentarfotografie‘ (bei Riis oder der FSA) das Ziel war. Stattdessen ist das politische Begehren der dokumentarischen Kunst auf eine zukünftig gleichberechtigte Subjektivität der ‚Anderen‘ gerichtet. So erscheint es kaum zufällig, dass in den Diskursen zur dokumentarischen Medienkunst immer wieder das Moment des Subjekt-Werdens auftaucht: Georg Schöllhammer spricht beispielsweise von „Maschinen, in denen sich neue Formen der Subjektivierung ereignen“.18 Und Pascale Casagneau erkennt in den dokumentarischen Kunstwerken ebenfalls die Möglichkeit zur „Definition der neuen Konditionen von Subjektivität“.19
15 Hohenberger 1998, S. 10-15. 16 Rosler kritisiert etwa, dass sich diese Positionen nur dafür einsetzten, „ein bißchen abzugeben, um das gefährliche Brodeln in den unterprivilegierten Klassen abzustellen“. Rosler 1999, S. 108. 17 Zunehmend wird dabei auch die Intersektionalität der Differenzkategorien Ethnizität, Klasse und Geschlecht in den Blick genommen. Siehe dazu u.a. Klinger, Cornelia/ Knapp, Gudrun-Axeli/Sauer, Birgit (Hg.): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2007. 18 Schöllhammer, Georg: „Displayfragen“, in: Havránec/Schaschl-Cooper/Steinbrügge, The Need to Document, 2005, S. 104. 19 Cassagnau, Pascale: „Future Amnesia (The Need for Documents)“, in: Havránek (Schaschl-Cooper/Steinbrügge, The Need to Document, 2005, S. 163.
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Andere Subjekte Es eröffnet sich ein politischer Vorstellungs- und Begehrensraums, der – in Umkehrung des Prinzips des Othering, das die ‚Anderen‘ in ihrer Differenz festzuschreiben und zu objektivieren versucht – auch im Begriff des Subjecting beschrieben werden kann. Anschaulich gemacht werden kann dieser Begehrensraum des Subjecting anhand der Ausstellung der Documenta11 (Kassel, 2002). Diese Ausstellung zeichnet sich nicht nur durch ihren medialen Schwerpunkt auf dokumentarischen Formen aus (der sie zu einem zentralen Bestandteil und Katalysator für den Trend des Dokumentarischen im Kunstbereich macht), sondern sie weist auch einen klaren politisch-thematischen Schwerpunkt im Bereich des Postkolonialismus auf, der in der dokumentarischen Kunst eine zentrale Rolle einnimmt. In seinem Leitartikel zur Ausstellung mit dem Titel Die Black Box (2002) geht der künstlerische Leiter der D11, Okwui Enwezor, nicht auf konkrete Arbeiten oder künstlerische Konzepte ein, sondern er entwirft einen allgemeinen Denkraum des Postkolonialen unter den Bedingungen der Globalisierung.20 Wie er darlegt, sind die lokalen AkteurInnen der ‚Peripherie‘ immer schon Teil des vermeintlichen ‚Zentrums‘, für dessen Selbstverständnis sie eine latente Bedrohung darstellen.21 Manifest wird diese Bedrohung, wenn die Kolonisierten ihre prekäre, gewaltvoll ausgeklammerte Rolle in der gemeinsamen Geschichte sichtbar machen und sich damit aktiv als postkoloniale Subjekte konstituieren. Dieses Moment beschreibt Enwezor mit dem Begriff der „erschreckenden Nähe der Ferne“: „Im selben Augenblick, wo das Postkoloniale in Raum und Zeit globaler Kalkulationen und deren Auswirkungen auf die moderne Subjektivität eintritt, sind wir nicht nur mit der Asymmetrie und den Grenzen materialistischer Voraussetzungen der Globalisierung konfrontiert, sondern auch mit der erschreckenden Nähe der Ferne, die die globale Logik zu beseitigen und in eine einzige Sphäre deterritorialisierter Herrschaft einzubringen suchte.“22
20 Enwezor, Okwui: „Die Black Box“, in: Documenta11_Plattform_5: Ausstellung, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002, S. 42-55. 21 Nach Enwezor stellen die ‚lokalen Randzonen‘ der imperialistischen und neo-kolonialen Globalisierung kein traditionsbehaftetes, starres Gegenteil des Globalen dar, sondern sie sind selbst flexibel und global(isiert). Vgl. in diesem Sinn u.a. Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996, und Miyoshi, Masao: „Eine Welt ohne Grenzen? Vom Kolonialismus zum Transnationalismus und zum Niedergang des Nationalstaates“, in: Weibel, Peter (Hg.), Inklusion/Exklusion. Kunst im Zeitalter von Postkolonialismus und globaler Migration, Köln: Du Mont 1997, S. 47-60. 22 Enwezor 2002, S. 44.
Dokumentarische Alterität im Kunstraum Was dies konkret in Bezug auf den westlichen Kunstkontext bedeutet, hält Enwezor in seinem Artikel offen. Die künstlerischen Positionen der D11 legen jedoch nahe, dass er die „erschreckende Nähe der Ferne“ nicht nur in der Präsenz nicht-westlicher KünstlerInnen23 und ihrer kritisch-experimentellen Produktionen24 im westlichen Ausstellungsraum erkennt, sondern dass er damit auch die in der Ausstellung zahlreich vertretenen dokumentarischen Repräsentationen marginalisierter und diskriminierter Personen meint. In dieser Perspektive wären die Repräsentierten gerade durch ihre Sichtbarkeit als ‚Andere‘ AgentInnen der „erschreckenden Nähe der Ferne“, die dem westlichen Kunstbetrieb ihre bislang verleugnete bzw. marginalisierte Existenz vor Augen führen und auf diese Weise dessen privilegierte und scheinbar autonome Position in Frage stellen. Die Repräsentierten treten als aktive Subjekte der Kunst in Erscheinung, die selbständig „neue Modelle von Subjektivität […] definieren“.25 Die Vorstellung einer widerständigen Subjektivität der Repräsentierten gründet in diesem Konzept stark auf der Rhetorik dokumentarischer Unmittelbarkeit, die darauf basiert, die Gemachtheit und Medialität der Repräsentationen zu verdrängen. Die repräsentierten ‚Anderen‘ scheinen tatsächlich im Kunstraum präsent zu sein – eine Vorstellung, die insofern problematisch ist, als sie dazu verleitet, die effektive Differenz der Repräsentierten zu den Handlungspositionen der KünstlerInnen und KuratorInnen zu unterschlagen, die die mediale Sichtbarkeit der Marginalisierten ermöglichen und letztlich auch weitgehend kontrollieren. Dass diese ermöglichende Supporter-Funktion deren traditionelle Machtposition im Kunstraum sogar noch stärkt, bleibt dabei unbenannt und unangreifbar.26
23 Dass Enwezor besonderen Wert auf die nicht-westliche Herkunft der KünstlerInnen legte, zeigt etwa die Tatsache, dass im Kurzführer der D11 neben dem Wohnort auch der Geburtsort der KünstlerInnen angeführt wird. Kurzführer D11, 2002. Siehe auch Enwezor, Okwui (Hg.): The Short Century. Independence and Liberation Movements in Africa 1945-1994, Ausst.-Kat., Museum Villa Stuck/Martin Gropius Bau, Berlin: Prestel Verlag 2001. 24 Gemeint sind Projekte, die starre Vorstellungen von Identität und Alterität dekonstruieren und im Sinn Homi K. Bhabhas einen „dritten Raum“ als Basis für neue, postkoloniale Subjektpositionen öffnen. Vgl. dazu auch Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg Verlag [1994] 2000. Auf der D11 entsprechen diesem Konzept u.a. die Positionen von Yinka Shonibare, George Adeagbo, Destiny Deacon oder Bodys Isek Kingelez. 25 Enwezor 2002, S. 45. 26 Vgl. zu dieser Kritik auch Spivak, Gayatri Ch.: „Can the subaltern Speak?“ [1988], in: dies., Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien:
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Andere Subjekte Zu berücksichtigen ist jedoch auch, dass Enwezor in seinem Text ausdrücklich keine konkreten Formkonzepte benennt. Es scheint ihm daher – noch vor etwaigen formalen Bild- und Medienrhetoriken (die im obigen Sinn auf ihre je spezifischen Machtzusammenhänge zu befragen wären) – zunächst vor allem darum zu gehen, eine politische Haltung in den westlichen Kunstkontext einzuführen: das Begehren, die ‚Anderen‘ in einer utopischen Gleichheit zu denken. Die dabei indirekt auch mitartikulierte Vorstellung von dokumentarisch repräsentierten Personen als aktive und gleichberechtigte Subjekte des westlichen Kunstkontextes erscheint aus dieser Perspektive als ein „strategischer Essentialismus“27, dessen produktives Potential es ist, die Auseinandersetzungen mit dem Thema der ‚anderen Subjekte‘ weiter am Laufen zu halten.
1.2 Konzepte politischer Kunst Die Art und Weise, wie dieses allgemeine politische Begehren nach den ‚anderen Subjekten‘ formal-ästhetisch umgesetzt wird, ist höchst unterschiedlich. Die einzelnen Formlösungen entziehen sich dabei einer einheitlichen, objektiven Darstellung genauso wie auch die Theorien und Kritiken zur dokumentarischen Kunst, die das Phänomen mit unterschiedlichen Schwerpunkten beschreiben und analysieren. Dennoch können in Bezug auf die (häufig implizit bleibende) Theoretisierung von Politik und Form zwei dominante Argumentationsstränge in Bezug auf die dokumentarische Medienkunst heuristisch differenziert werden. Diese Argumentationsstränge beruhen im Wesentlichen darauf, dass sie die traditionell getrennten Bereiche der ‚Kunst‘ und des ‚Dokumentarischen‘ unterschiedlich miteinander verknüpfen28 und diese Verknüpfung jeweils mit
Turia und Kant 2008, S. 19-118; sowie eine ausführlichere Diskussion dieses Problemzusammenhangs im Kunstkontext in Kapitel 1.3. 27 Spivak, Gayatri Ch.: In Other Worlds. Essays in Cultural Politics, New York/London: Routledge 1988, S. 205. 28 Traditionell wurde die Kunst als Bereich individueller künstlerischer Äußerungen (der ‚unverwechselbare Pinselduktus‘ des Künstlersubjekts) gedacht und einer dokumentarischen Rhetorik gegenübergestellt, die sich ihrerseits wesentlich über die technischmechanische Bildproduktion apparativer Medien (im Sinn des ‚pencil of nature‘ nach W. H. F. Talbot) definiert. Auf diese Weise entstand eine Oppositionsstellung von Kunst und dem Dokumentarischen, in der sich beide Bereiche durch Abgrenzung wechselseitig konstituieren. Vgl. dazu etwa Chevrier, Jean-François: „Documentary, document, testimony…“, in: Gierstberg u.a., Documentary Now!, 2005, S. 48f. Zur Geschichte der Abgrenzung von Fotografie und Kunst siehe auch Plumpe, Gerhard: Der tote Blick: zum Diskurs der Photografie in der Zeit des Realismus, München: Fink 1990, sowie Kemp,
Dokumentarische Alterität im Kunstraum einem besonderen ethischen Vermögen aufladen. Im ersten Argumentationsstrang dominiert die Vorstellung, dass durch den besonderen Wirklichkeitsbezug dokumentarischer Repräsentationen des ‚Sozialen‘ die elitären Grenzen der Kunst bzw. ihre Autonomieansprüche in Frage gestellt werden können; und im zweiten wird durch künstlerisch-experimentelle Interventionen ins Dokumentarische eine nicht-deterministische Darstellung der ‚Realität‘ angestrebt. Auf der einen Seite liegt also der Fokus auf dem kritischen Potential des dokumentarischen Realismus und auf der anderen Seite auf dem der experimentellen Form. Diese Zweiteilung lässt die sogenannte Brecht-Lukács-Debatte anklingen, bei der ebenfalls realistische und experimentelle Verfahren als jeweils ideale kunstpolitische Konzepte einander gegenübergestellt wurden.29 Obwohl dieser Dualismus vielfach kritisiert und durch Konzepte der Ambivalenz als überwunden erklärt wurde, schreibt er sich, wie im Folgenden gezeigt wird, im Denken des Politischen der dokumentarischen Medienkunst weiter fort.
Dokumentarische ‚Präsenz‘ In seinem Buch Politische Kunst Begriffe (2001) identifiziert Holger Kube Ventura innerhalb der sogenannten ‚re-politisierten Kunst der 1990er Jahre‘ eine Strömung, die er mit dem Begriff „Informationskunst (als taktisches Medium)“ beschreibt.30 Diese Strömung zeichnet sich, wie er zeigt, wesentlich dadurch aus, dass sie Inhalte, die in den Massenmedien nicht oder ungenügend verhandelt werden, im Kunstzusammenhang als ‚Gegeninformation‘ vermittelt. Dazu greift sie technische und formale Mittel der Alltagsmedien auf, wie etwa dokumentarische Video- und Tonaufnahmen, Fotografien und Texte. So bemerkt etwa der in dieser Szene aktive Kurator und Kritiker Jochen Becker, dass sich die „Darstellungsformen [der Informationskunst] oft an Formen der Alltags-Kommunikation oder an die Dokumentation in den Massenmedien an[lehnen]“.31 Die Arbeiten der Informationskunst stellen dabei – genauso wie die dokumentarischen Alltagsmedien – Fragen der Form hinter die zu vermittelnden Inhalte zurück. Dies hebt auch der Kurator Steffen Schmidt-Wulffen hervor: „Wenn Objekte überhaupt entstehen, dann besitzen sie keinen Eigenwert, sondern
Wolfgang: „Theorie der Fotografie 1839-1912“, in: ders. (Hg.), Theorie der Fotografie. Bd. 1 1839-1912, München: Schirmer/Mosel 1980, S. 13-45. 29 Für Literaturreferenzen zur Brecht-Lucács-Debatte siehe Anm. 17 der Einleitung. 30 Ventura 2001, S. 177. 31 Becker, Jochen: Fontanelle Journal, Ausst.-Kat., 1993, S. 69, zitiert nach Ventura 2001, S. 178.
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Andere Subjekte sind Träger der Information.“32 Eine solche inhaltsorientierte Haltung wird in der dokumentarischen Kunst verschiedentlich weitergeführt. Sie zeigt sich etwa in der kuratorischen Praxis, ausdrücklich ‚nicht-künstlerische‘, politische Dokumentationen zu präsentieren33, sowie in künstlerischen Produktionen, die bewusst im einfachen flat documentary Stil gehalten sind.34 Diesem Ansatz steht ein Realismusverständnis nahe, wie es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts basierend auf dem marxistischen Widerspiegelungsmodell formuliert wurde.35 Der bekannteste Theoretiker dieser ästhetischen Strömung ist Georg Lukács, der für eine möglichst genaue, umfassende Schilderung der ‚Realität‘ plädierte, um den RezipientInnen das Einfühlen in andere gesellschaftliche Zusammenhänge zu ermöglichen. Lukács dachte dabei wesentlich an den klassischen bürgerlichen Roman und schloss apparative Medien weitgehend aus seinem Realismuskonzept aus.36 Für den Bereich Film und Fotografie formulierten erst in den 1950er und 1960er Jahren Siegfried Kracauer und André Bazin vergleichbare Realismustheorien. Diese waren – wie auch die meisten klassischen Theorien des Dokumentarischen – medienontologisch ausgerichtet und fundierten das besondere politische Potential des realistischen Films in seinen scheinbar unverfälschten technischen Aufnahmen.37
32 Schmidt-Wulffen, Stephan: Künstlerisches Handeln und politisches Selbstverständnis in den 70er und 90er Jahren, 1995, S. 152, zitiert nach: Ventura 2001, S. 67. 33 Beispiele dafür sind etwa die Präsentation der Groupe Amos oder des Black Audio Film Collective auf der D11. Auch andere Ausstellungen sind von dieser Haltung geprägt, u.a. die von Cathrine David kuratierte Ausstellung Contemporary Arab Representations. The Iraqi Equation (Berlin, 2005/06) oder Marion von Ostens Ausstellung In der Wüste der Moderne (Berlin, 2008). 34 Beispiele sind etwa Nina Könnemann oder Santiago Sierra. Vgl. auch die Kritik dazu von Ventura, Holger Kube: „Umfrage. Dokumente sprechen nicht. Stimmen zu alten und aktuellen Dokumentarismen in der Kunst“, in: Texte zur Kunst 13/51 (2003), S. 100, sowie Steyerl, Hito: „Politik der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld“, in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst IX 3 (2003), S. 19. 35 In diesem Modell wird von Strukturisomorphien zwischen der materiellen Welt (dem Sein) und der Möglichkeit ihrer Signifikation (dem Bewusstsein) ausgegangen, die es erlauben, von einer ‚objektiven Realität‘ zu sprechen bzw. diese ‚realistisch‘ zu repräsentieren. Siehe dazu ausführlicher Holz, Hans Heinz: Widerspiegelung, Bielefeld: transcript 2003, S. 43. 36 Lukács, Georg: Probleme des Realismus, Berlin: Aufbau-Verlag 1955. Zu Lukács' Einfluss auf und Involvierung in den sozialistischen Realismus vgl. Gallas 1971. Zu Bertolt Brechts Erwiderung auf dieses Realismuskonzept als ‚Inhaltismus‘ siehe Mittenzwei 1968, S. 12-43. 37 Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp [1960] 1973; Bazin, André: Was ist Kino? Bausteine zu einer
Dokumentarische Alterität im Kunstraum Indem die Informationskunst auf den Realismus und die Authentizitätsrhetorik des Dokumentarischen setzt, stützt sie sich auf eben diese abbildtheoretischen, medienontologischen Realismuskonzepte. Daneben enthält die Informationskunst aber noch eine weitere realistische Ebene, die darauf basiert, dass die dokumentarische Form als alltägliches Kommunikationsmedium in den Kunstraum geholt wird. Diese zweite Ebene korrespondiert wesentlich mit Walter Benjamins Aufsatz Der Autor als Produzent (1934), in dem dieser – in Opposition zu Lukács – das Politische nicht als inhaltliche Tendenz, sondern als praktische Intervention in reale Produktionsweisen beschreibt.38 Das Aufgreifen des Dokumentarischen in der ‚re-politisierten Kunst‘ stellt in diesem Sinn eine Intervention in die Produktionsmechanismen des Künstlerischen bzw. der Kunstinstitution dar. Als traditionell nicht-künstlerisches Medium, dessen nüchterne, informationsorientierte Rhetorik vor allem dem Bereich der politischen, wissenschaftlichen und/oder pädagogischen Arbeit zugeordnet wird, irritiert das Dokumentarische die privilegierte Position einer ‚autonomen Hochkunst‘, deren zentrales Aufgabenfeld in der kreativen Produktion elaborierter ästhetischer Formen gesehen wird.39 Durch die Informationskunst wird also letztlich ein doppelter Realismus formuliert, bei dem sich das im Kunstraum präsentierte Alltagsmedium mit der rhetorischen Präsenz der medial vermittelten ‚Alltagsrealität‘ verknüpft. Anders formuliert: Der mediale (Abbild-)Realismus des Dokumentarischen wird durch die reale Präsenz des Mediums unterstützt und verstärkt. In Bezug auf die repräsentierten ‚Anderen‘ bedeutet dies, dass sie durch diesen doppelten Realismus wie tatsächlich im Kunstraum anwesende und aktiv teilhabende Subjekte wirken – ganz im Sinn des Ideals der avantgardistischen Verbindung von Kunst und sozialer Lebenswelt. Dieses dokumentarische ‚Präsent-Machen‘ des Sozialen im Kunstraum beschreibt auch Boris Groys in seinem Artikel Kunst im Zeitalter der Biopolitik (2002). Seiner Meinung nach bewirkt die Präsentation von Dokumentationen
Theorie des Films, Köln: DuMont [1958-1962] 1975. Sowohl Bazin als auch Kracauer argumentieren für die Überlegenheit des realistischen Films, indem sie auf ein vermeintliches ‚Wesen‘ des Films verweisen, welches sie in der indexikalisch abbildenden Kameratechnik sehen, die der Film von der Fotografie übernommen und perfektioniert habe. Die politisch ‚richtige‘ Darstellung scheint sich hier gleichsam automatisch als ‚Wahrheit‘ der technologischen Abbildung einzustellen. 38 Benjamin, Walter: „Der Autor als Produzent“ [1934], in: Raddatz, Fritz (Hg.), Marxismus und Literatur. Bd. 2, Reinbek: Rowohlt, 1969, S. 263-277. 39 Diese Bewegung korrespondiert im theoretischen Feld mit den Cultural Studies, die sich von einer mit dem Kunstbereich assoziierten high culture abwandten und sich verstärkt mit alltagskulturellen Phänomenen auseinandersetzten.
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Andere Subjekte im Kunstraum, dass die repräsentierten Realitäten durch die umherschweifenden KunstbetrachterInnen gewissermaßen ‚verlebendigt‘ werden.40 Auf ähnliche Weise argumentiert auch Enwezor in seinem späteren Artikel Documenta11, Documentary, and ‚The Reality Effekt‘ (2004), in dem er den zuvor beschriebenen postkolonialen Begehrensraum der „erschreckenden Nähe der Ferne“ explizit auf dokumentarische Positionen im Kunstraum anwendet.41 Ins Zentrum seiner Überlegungen stellt Enwezor dabei die immanente Widersprüchlichkeit des Dokumentarischen, die darin bestehe, eine prekäre Situation anzuklagen und zugleich selbst neue Objekte des Blicks zu erzeugen. Die Wahrnehmung dieser problematischen Doppeltheit setze dabei einen Prozess der „vérité“ [dt. Wahrheit] in Gang, der ein „surplus excess of bare life“42 in die Wirklichkeit der Rezeption einbrechen lasse. Dabei würden die repräsentierten Inhalte als unmittelbare, problematische ‚Realität‘ erlebt. Obwohl Enwezor hier bereits die ambivalente Position der BetrachterInnen mitdenkt, leitet er die ‚Politik‘ der dokumentarischen Kunst weiterhin von einem ‚Wesen‘ der dokumentarischen Form bzw. dem Zusammenspiel von politischem Inhalt und medialer Form im Kunstraum ab. Auch hier scheint es vor allem die Aufgabe der Kunst zu sein, durch Integration dokumentarischer Formen in den Ausstellungsraum eine strategische Präsenz der ‚anderen Subjekte‘ herzustellen.
Medienreflexivität Dem inhaltsorientierten Einsatz des Dokumentarischen steht eine Strömung gegenüber, die auf die Probleme der dokumentarischen Authentizitätsrhetorik hinweist. Gerade mit Blick auf die repräsentierten ‚Anderen‘ wird kritisiert, dass in diesen Arbeiten die voyeuristische und sozial-deterministische Dimension der dokumentarischen Form reproduziert werde. Die Situation der repräsentierten ‚Anderen‘ würde durch die Darstellungen weniger verändert als vielmehr visuell fortgeschrieben. Diese Kritik am Stil des flat documentary entwirft dabei auch selbst neue Konzepte politischer dokumentarischer Kunst. Diese basieren
40 „Die Kunst wird hier biopolitisch, weil sie beginnt, mit künstlerischen Mitteln das Leben selbst als eine reine Aktivität zu produzieren und zu dokumentieren.“ Groys, Boris: „Kunst im Zeitalter der Biopolitik. Vom Kunstwerk zur Kunstdokumentation“, in: Documenta11_Plattform_5: Ausstellung, 2002, S. 107. 41 Enwezor, Okwui: „Documenta11, Documentary, and ‚The Reality Effekt‘“, in: Experiments with Truth, 2004, S. 100. 42 Ebd., 101. Enwezor bezieht sich dabei explizit auf Giorgio Agambens Begriff des „nackten Lebens“. Vgl. Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1995] 2002.
Dokumentarische Alterität im Kunstraum im Wesentlichen darauf, konventionelle Authentizitätsrhetoriken durch künstlerisch-mediale Interventionen in Frage zu stellen und zu irritieren. Experimentelle Brüche sollen eine selbst-reflexive Bewegung einleiten, mithilfe derer auf die problematischen Voraussetzungen dokumentarischer Arbeiten aufmerksam gemacht werden könne. Im Zentrum stehen dabei die medienreflexiven Produktionen der KünstlerInnen, die sich, wie Holert formuliert, „der Zumutung verweiger[n, …] die Ressourcen des Realen zu erschließen“.43 Diese Strömung ist stark von repräsentationskritischen, (post-)strukturalistischen Medientheorien beeinflusst44, die seit den späten 1960er Jahren in verschiedenen Bereichen ästhetischer Repräsentation (Literatur, Film, Fotografie, Kunst) formuliert wurden. Die Apparatustheorie stellt aufgrund ihres Gegenstandsbereichs des realistischen Films eine besonders wichtige Referenz für die medienreflexiven Ansätze der dokumentarischen Kunst dar.45 Im folgenden Exkurs werden einige Positionen dieses in sich heterogenen Theoriebereichs dargestellt.
Exkurs: Die Apparatustheorie Im Zentrum der Apparatustheorie steht die Auseinandersetzung mit dem realistischen Erzählkino Hollywoods. In Anlehnung an Louis Althussers Theorie der ideologischen Staatsapparate46 wurde der gesamte Bereich des Kinos (Film, Kinosaal, Leinwand, Kamera…) als ein ideologischer Apparat begriffen, der unbewusst herrschaftskompatible Subjektpositionen herstellt und auf diese Weise
43 Holert „Die Erscheinung des Dokumentarischen“, in: Gludovatz, Auf den Spuren des Realen, 2005, S. 62. 44 Dies gilt auch, obwohl z.T. explizit auf andere Theorien wie etwa aus den Cultural Media Studies Bezug genommen wird. Ein Beispiel dafür ist Jan Verwoert, der eine soziologische Studie über die Fernseh-Fankultur von Henry Jenkins in einen künstlerisch-medienreflexiven Ansatz uminterpretiert. Verwoert 2003, 27ff. Siehe dazu ausführlicher weiter unten in diesem Kapitel. 45 Eine Sammlung der wichtigsten Artikel dieser Strömung findet sich u.a. in de Lauretis, Teresa/Heath, Stephen (Hg.): The Cinematic Apparatus, New York: St. Martin's Press 1980; Rosen, Philip (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, New York: Columbia University Press 1986, sowie Hak Kyung Cha, Theresa (Hg.): Apparatus. Cinematographic Apparatus: Selected Writings, New York: Tanam Press 1980. 46 Althusser, Louis: „Ideologie und ideologische Staatsapparate“ [1969], in ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/ Berlin: VSA 1977.
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Andere Subjekte die dominanten Machtverhältnisse perpetuiert.47 Jean-Luc Comolli und Jean Narboni vermerken in ihrem Aufsatz Cinema/Ideology/Criticism (1969): „Clearly the cinema ‚reproduces‘ reality [...] But the tools and techniques of film-making are a part of ‚reality‘ themselves, and furthermore ‚reality‘ is nothing but an expression of the prevailing ideology.“48
Auch feministische Filmwissenschaftlerinnen dieser Zeit unterstreichen die strukturelle Problematik des filmischen Realismus.49 Ihrer Meinung nach stellt filmischer Sexismus weniger eine böswillige Tat einzelner Hollywoodregisseure dar als vielmehr ein strukturelles Problem, das in den Wahrheitstechnologien des filmischen Realismus gründe. Diese würden bestehende patriarchale Weiblichkeitskonzepte unabdingbar reproduzieren und naturalisieren. In ihrem Aufsatz Women's Cinema as Counter Cinema (1973) unterstreicht Claire Johnston: „[W]e reject any view in terms of realism, for this would involve an acceptance of the apparent natural denotation of the sign [‚woman‘] and would involve a denial of the reality of myth in operation. Within a sexist ideology and a male dominated cinema, woman is presented as what she represents for man. […] The law of verisimilitude (that which determines the impression of realism) in the cinema is precisely responsible for the image of woman as woman and the celebration of her non-existence.“50
Diese Überlegungen führt Laura Mulvey in ihrem einflussreichen Aufsatz Visual Pleasure and Narrative Cinema (1975) bezüglich voyeuristischer Blickstrukturen weiter aus. Mulvey kritisiert, dass Weiblichkeit im realistischen Spielfilm als ein anti-narratives, voyeuristisches Spektakel inszeniert wird, das sowohl
47 Vgl. dazu Jean-Louis Baudrys Begriff des kinematografischen Apparats. Baudry, JeanLouis: „Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus“ [1974-1975], in: Rosen, Narrative, Apparatus, Ideology, 1986, S. 286-298, sowie ders.: „The Apparatus: Metapsychological Approaches to the Impression of Reality“ [1975], in: Hak Kyung Cha, Theresa (Hg.), Apparatus, New York: Tanam Press 1980, S. 41-62. 48 Comolli, Jean-Luc/Narboni, Louis: „Cinema/Ideology/Criticism“ [1969], in: Nichols, Bill (Hg.), Movies and Methods. Bd. 1, Berkeley: University of California Press 1976, S. 25. 49 Wichtige VertreterInnen sind u.a. Claire Johnston, Laura Mulvey, Eileen McGarry, Mary Ann Doane, E. Ann Kaplan, Elizabeth Cowie und Theresa de Lauretis. 50 Johnston, Claire: „Women's Cinema as Counter Cinema“ [1975], in: Thornham, Sue (Hg.), Feminist Film Theory. A Reader, Edinburg: Edinburg University Press 1999, S. 33. Wie Johnston unterstreicht, gilt dies auch für den feministischen Dokumentarfilm; ebd., S. 36. Vgl. dazu auch Kapitel 3.1.
Dokumentarische Alterität im Kunstraum auf innerdiegetischer Ebene als auch auf der Ebene des filmischen Kamerablicks männlicher Schaulust ausgesetzt ist. Der filmische Voyeurismus verknüpfe sich dabei mit einem narrativen Sadismus, der durch die realistische filmische Struktur entnannt und legitimiert wird.51 Ein solcher Ansatz verschiebt die Bestimmung des Politischen von der Inhaltsebene (wo sie zuvor noch von der Realismustheorie medienontologisch verortet wurde) auf die gesellschaftliche Funktion der Form. Diese Verschiebung trifft sich mit Bertolt Brechts berühmter Erwiderung auf das Konzept des fotografischen Abbildrealismus Anfang der 1930er Jahre, in der er meint: „Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über ihre Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.“52 Aus einer solchen Haltung entwickelt Brecht einen ‚anderen Realismus‘, der weniger die äußere Welt widerspiegeln, sondern vielmehr dem Publikum „den Spiegel vorhalten“53 soll. Mit anderen Worten: Die Produktionen sollen ein reflexives Bewusstsein über die eigene Rezeptionsrealität ermöglichen und eine über das Kunstfeld hinausgehende Aktivierung bewirken.54 Brechts zentrale Methode dafür ist die Verfremdung.55 Die Apparatustheorie greift Brechts Überlegungen für den Filmbereich auf und entwickelt sie weiter.56 In Opposition zum realistischen Kino entwerfen die FilmtheoretikerInnen ein Gegen-Kino, das sich wesentlich am künstlerischen, strukturellen Avantgardefilm orientiert. Mulvey etwa plädiert – wie auch andere Theoretikerinnen – für ein feministisches Loslösen („passionate detachment“) von realistischen Darstellungskonventionen, das durch Ausstellen und Reflektieren kinematografischer Kodes erfolgen könne.57 Dabei wird die experimentelle, anti-realistische und anti-narrative künstlerische Form – in Opposition zum narrativen, realistischen Kino – als ein widerständiger Handlungsraum außerhalb der Ideologie gedacht. Diese radikale Position wurde in späteren Arbeiten der poststrukturalistischen (feministischen) Filmtheorie durch Berücksichtigung vielfältiger filmischer Blickbezüge und Ausarbeitung eines differenzierten Verständnisses rea-
51 Mulvey, Laura: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ [1975], in: dies., Visual and Other Pleasures, Basingstoke: MacMillan 1989, S. 14 -8. 52 Brecht, Bertolt: „Der Dreigroschenprozess“, in: Werke 21/Schriften 1, Berlin/Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 469. 53 Ders.: Werke 26/Journale, Berlin/Weimar/Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 418. 54 Knopf, Jan: Brecht Handbuch. Bd. 1: Theater, Stuttgart: Metzler 1986, S. 493, sowie Choi 1998, S. 85-89. Vgl. auch Mittenzwei 1968, S. 12-42. 55 Knopf 1986, S. 383. 56 Pollock 2003, S. 212-268. Siehe auch die Sondernummer Brecht and Revolutionary Cinema, screen, 15/2 (1974). 57 Mulvey 1989, S. 26.
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Andere Subjekte listischer Narrativität relativiert.58 Insbesondere die FilmwissenschaftlerInnen Stephen Heath und Teresa de Lauretis denken Narrationen als unvermeidbar und politisch durchaus nutzbar. Ein wichtiger Begriff ist in diesem Zusammenhang jener der Suture (fr. Naht/Nahtstelle), den Heath in seinem Artikel On Suture (1977/78) aus der Lacan'schen Psychoanalyse übernimmt.59 Darunter versteht er die Tatsache, dass die BetrachterInnen unentwegt exzessive Leerstellen des Films besetzen, die durch Schnitte, Einstellungswechsel und Kameraschwenks produziert werden. Als libidinöse Subjekte werden sie gewissermaßen in den Film ‚eingenäht‘. Dabei schließen sie diesen – wie er in seinem späteren Artikel Narrative Space (1981) ausführt – unbewusst zu einem kohärenten narrativen Erzählraum.60 Heath' Überlegungen zur Suture stehen sicherlich weiterhin in der oben benannten Logik der früheren Apparatustheorie. Auch bei ihm scheint in erster Linie der Film die ZuschauerInnensubjekte herzustellen.61 Durch die konzeptionelle Dynamisierung des Rezeptionsprozesses kann er nun jedoch
58 ‚Weibliche‘ Subjektpositionen wurden etwa in masochistischer Schaulust, in bi- oder transsexuellen Blick-Identifikationen sowie im Prinzip der Maskerade und anderen spielerischen und fantastischen, inhaltlich-narrativen Bezugnahmen zum Film gefunden. Siehe dazu u.a. Studlar, Gaylyn: „Schaulust und masochistische Ästhetik“, in: Frauen und Film, 39 (1985), S. 15-39; Johnston, Claire: „Femininity and the Masquerade: Anne of the Indies“ [1975], in: Kaplan, E. Ann (Hg.), Psychoanalysis and Cinema, London/New York: Routledge 1990, S. 64-72; Doane, Mary Ann: „Film and the Masquerade. Theorizing the Female Spectator“ [1982], in: dies., Femme Fatales: Feminism, Film Theory, Psychoanalysis, New York: Routledge 1991, S. 17-32. 59 Heath, Stephen: „On Suture“ [1977/78], in: ders., Questions of Cinema. London/ Basingstoke: McMillan 1981a, S. 76-112. Heath bezieht sich darin kritisch auf JeanPierre Oudart und Daniel Dayan, die bereits zuvor den Begriff der Suture in die Filmwissenschaft eingeführt hatten. 60 Heath, Stephen: „Narrative Space“, in: ders., Questions of Cinema, London/Basingstoke: McMillan 1981b, S. 19-75. 61 Das Konzept der Suture erscheint bei Heath deshalb offen, weil er der fließenden Beweglichkeit des Films Tribut zollt. Das Subjekt wird in dieser Bewegung jedoch weitgehend lückenlos eingeschlossen. Dieses Moment des Verhaftet-Seins im Filmischen rührt von einer Fehlinterpretation und Vereinfachung des Konzepts des Unbewussten her, welches die Apparatustheorie insgesamt durchzieht. Aus einer Lacan'schen Perspektive kann es als Auslassung der Dimension des Realen, d.h. des Verfehlens, begriffen werden. Vgl. dazu die Kritik von Copjec 2005, S. 29-57, sowie in Bezug auf den Suture-Begriff Lummerding 2006, S. 159-163. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe unterstreichen das Moment der Vorläufigkeit im Konzept der Suture. Als angestrebte, vorläufige Schließung, die jedoch niemals gänzlich gelingen kann, hält es den Prozess des Begehrens am Laufen. Laclau/Mouffe 2006, S. 150. Die Dimension des unabschließbaren Begehrens und seine Auswirkungen auf den Begriff des Politischen
Dokumentarische Alterität im Kunstraum auch ein widerständiges Moment im narrativen Film entwerfen, das er als Arbeit „on the operations of narrativization“ begreift, als „an action at the limits of narrative within narrative film, at the limits of its fictions of unity“.62 In ihrem Buch Alice doesn't (1984) führt Teresa de Lauretis diesen Ansatz in einem feministischen Sinn weiter. Wie sie zeigt, stellt das Bild ‚Frau‘ im patriarchalen Erzählkino ein Suture-Moment dar: „The female position, produced as the end result of narrativization, is the figure of narrative closure, the narrative image in which the film, as Heath says, ‚comes together‘“63
Filmische ‚Weiblichkeit‘ ist in diesem Konzept keine notwendige Identifikationsposition mehr. Stattdessen kann de Lauretis zeigen, dass zwischen dem Bild der ‚FRAU‘ und ‚realen Frauen‘ ein Spalt besteht, der letzteren ein mögliches widerständiges Handlungsmoment eröffnet. Sie unterstreicht: „the subject is implicated, constructed, but not exhausted“.64 Feministische FilmemacherInnen und FilmtheoretikerInnen haben, wie de Lauretis weiter darlegt, diesen Handlungsspielraum bereits vielfach in einem widerständigen Sinn produktiv gemacht, indem sie ‚FRAU‘ als begehrte und zugleich unmögliche Leerstelle benannt haben. Ähnlich wie Heath definiert de Lauretis hier Widerständigkeit als ein kritisches „Wi(e)derlesen und Umschreiben“, als eine Arbeit „mit, aber gleichzeitig auch gegen die Erzählstruktur“.65 Dabei entwirft sie ein relationales, feministisches Gegen-Kino, das im künstlerischen und analytischen Verweis auf die paradoxe Position von ‚FRAU/Frauen‘ das vermeintlich ‚geschlechtsneutrale‘ patriarchale Dominanzkino irritiert. In den Konzepten von de Lauretis und Heath wird Politik nicht mehr einfach von einer radikal-experimentellen ‚Gegenform‘ abgeleitet. Vielmehr entwerfen sie diese als kritische Wissensposition, die sich relational auf die dominanten, technisch-narratologischen Mechanismen des Realismus bezieht, ohne diese Mechanismen jedoch als etwas vollständig Überwindbares zu denken. Das Konzept eines absoluten, formalen ‚Außerhalb‘ von Ideologie wird auf diese Weise durch die Vorstellung kleinerer, strategischer Befreiungsbewegungen ersetzt.
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werden in Kapitel 2 näher diskutiert, in dem sich auch eine systematische Darstellung des Politik-Begriffs bei Laclau/Mouffe findet. Heath 1981, S. 64. de Lauretis, Teresa: Alice Doesn't. Feminism, Semiotics, Cinema, Hampshire: MacMillan, Bloomington: Indiana University Press 1984, S. 140. Ebd., S. 15. de Lauretis, Teresa: „Strategien des Verkettens. Narratives Kino, feministische Poetik und Yvonne Rainer“ [1989], in: Rainer, Yvonne, Talking Pictures. Filme, Feminismus, Psychoanalyse, Avantgarde, Wien: Passagen 1994, S. 43.
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Andere Subjekte Dabei wird auch der Rezeption eine zunehmend konstitutive Rolle bei der filmischen Bedeutungsproduktion zugestanden.66 In der dokumentarischen Medienkunst werden diese Überlegungen der Apparatustheorie aufgegriffen und unterschiedlich genutzt: Eine erste Richtung rückt im Sinn der frühen realismuskritischen Theorien das medienreflexive Erbe der künstlerischen Avantgarde in den Vordergrund, das, wie sie meint, im Kunstkontext in besonderer Weise verfügbar sei. In ihrem Artikel Mirror of Visual Culture (2005) schreibt etwa Maartje van den Heuvel: „In the museum environment in particular, a sort of laboratory has been created in which the documentary image is analysed, commented upon and deployed in new ways.“67
In diesem Sinn betont auch Claudia Spinelli, dass die reflexiven Kunstströmungen der Minimal Art sowie der Konzept- und Videokunst zentrale Vorbilder für die aktuellen künstlerisch-dokumentarischen Produktionen seien.68 Die Kunst wird als privilegiertes Experimentierfeld entworfen, in dem Konventionen des Dokumentarischen gebrochen werden und alternative Formen und Repräsentationskonzepte Platz finden. Van den Heuvel vermerkt: „This testifies to an increased visual literacy among artists and also makes an appeal for it among the viewers of the images.“69 Eine zweite Richtung der Medienreflexivität, die unabhängiger vom Kunstbetrieb gedacht wird, entwirft der Tagungsband Stuff it! The Video Essay in the Digital Age (2003).70 In der Einleitung des genannten Bandes verortet die Herausgeberin und Künstlerin Ursula Biemann die gegenwärtige künstlerischdokumentarische Praxis „somewhere inbetween documentary video and video art“, wobei sie dieses „in-between genre“71 wesentlich vom Essayfilm ableitet, für den insbesondere FilmemacherInnen aus den 1980er Jahren wie Haroun Farocki, Chris Marker oder Trinh T. Minh-ha stehen. Mit zum Teil explizitem
66 Zur methodologischen Bedeutung dieses Ansatzes siehe ausführlicher Kapitel 2.2. 67 van den Heuvel, Maartje: „,Mirror of visual culture‘“, in: Gierstberg u.a., Documentary Now!, 2005, S. 110. 68 Spinelli, Claudia: „Was haben Dokumentarfilme im Museum verloren?“, in: Havránec/ Schaschl-Cooper/Steinbrügge, The Need to Document, 2005, S. 147f. Vgl. in diesem Sinn auch Verwoert, Jan: „Das erweiterte Arbeitsfeld der dokumentarischen Produktion“, in: Havránec/Schaschl-Cooper/Steinbrügge, The Need to Document, 2005, S. 77-83. 69 van den Heuvel 2005, S. 116. 70 Biemann 2003 a. 71 Biemann, Ursula: „The Video Essay in the Digital Age“, in: dies., Stuff it, 2003 b, S. 8.
Dokumentarische Alterität im Kunstraum Verweis auf diese Positionen – und in weitgehender Übereinstimmung mit den Überlegungen von Heath und de Lauretis – wird der neue, künstlerische Videoessay als ein Formmodell entworfen, das auf der Ambivalenz zwischen reflexivem Medienbewusstsein und dokumentarischer Referentialität basiert. Dieses Konzept zielt darauf ab, einen engagierten und zugleich kritisch-reflexiven Blick bei den RezipientInnen auszulösen. Jan Verwoerts Begriff der „disjunctive synthesis“72 fasst diese künstlerische Methode, Widersprüchlichkeit zu inszenieren, prägnant zusammen. Konkret denkt er dabei an die künstlerische Inszenierung unerwarteter Kippeffekte zwischen ‚Fiktion‘ und ‚Realität‘, wie sie etwa Walid Raad in seinem Projekt der Atlas Group (seit 1999) unternimmt, oder an das Spannungsverhältnis von biografischer Nähe und historischer Distanz, wie etwa in Anri Salas Film Intervisa (1998). Ursula Biemann unterstreicht darüber hinaus die Entwicklung nicht-kontinuierlicher Narrationen sowie die digitale Filmbearbeitung, die beide in ihren eigenen Videoessays Anwendung finden.73 Gemeinsam ist beiden Richtungen der dokumentarischen Medienreflexivität, dass sie den künstlerisch-experimentellen Formkonzepten eine zentrale kritische Funktion zusprechen, die sie noch über der strategisch-informationsorientierten Einführung dokumentarischer Formen in den Kunstkontext ansiedeln. Es geht nicht in erster Linie darum, dass dokumentarische Formen im Kunstkontext erscheinen, sondern zur Frage steht vor allem, in welcher Form dies geschieht. Dieses Insistieren auf der Form ist dabei wesentlich der Sorge geschuldet, dass die dokumentarische Transparenzrhetorik „Menschen in Objekte [verwandelt], die man symbolisch besitzen kann“74, wie etwa Susan Sontag bereits 1977 formulierte. Die medienreflexiven Interventionen sollen dieses Othering verhindern, indem sie einen kritischen Blick in Gang setzen, der die Repräsentierten als politische Subjekte jenseits der Repräsentationen begreift. In diesem Sinn spricht Elizabeth Cowie den aktuellen künstlerisch-dokumentarischen Interventionen die Funktion der „Verbildlichung des Unausdenklichen“
72 Verwoert 2003, S. 29. 73 Biemann spricht auch von einem „non-linear and non-logical movement of thought that draws on many different sources of knowledge“. Biemann 2003b, S. 9. Auch andere Positionen verweisen auf die videoessayistische Inszenierung von Spannungselementen zwischen Engagement und Distanz, Fiktion und Realität, Faszination und Skeptizismus, wie etwa Huber, Jörg: „Video-Essayism. On the Theory-Practice of the Transitional“, in: Biemann, Stuff it, 2003, S. 93; Cassagnau 2005, S. 170, oder Sonderegger, Ruth: „Nichts als die reine Wahrheit?“, in: Gludovatz, Auf den Spuren des Realen, 2005, S. 69. 74 Sontag, Susan: Über Fotografie [1977], Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 20.
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Andere Subjekte zu, „die Aufgabe, neu sehen und hören zu lehren [sic!]“.75 Sie postuliert dabei ein politisch-ästhetisches Vermögen der ‚kritischen Form‘, einfache, visuelle Zugriffe auf die repräsentierten ‚Anderen‘ zu verhindern – wie es die weiter oben beschriebenen Konzepte der dokumentarischen ‚Präsenz‘ aus strategischen Gründen explizit fordern. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sowohl den Konzepten der Informationskunst als auch den Konzepten der medienreflexiven Form ein gemeinsames politisches Begehren nach den ‚anderen Subjekten‘ zu Grunde liegt, das sie in ihren jeweils konträren formalen Kunstbegriffen tatsächlich einlösbar sehen. Trotz ihrer vordergründigen Oppositionsstellung treffen sie sich dabei in der Vorstellung einer idealen Politik der künstlerischen Positionen, die selbst von den ideologischen Kontexten ihres Entstehens und Erscheinens entkoppelt sei und die darin stattfindenden praktischen Handlungszusammenhänge in ‚richtiger‘ Weise beeinflussen könne. Den Schwierigkeiten dieses Anspruchs wird mit Blick auf die hegemonialen Bedingungen der zeitgenössischen Kunst im Weiteren näher nachgegangen.
1.3 Die westliche Kunstinstitution Die dokumentarische Kunst erscheint um die Jahrtausendwende in einem institutionellen Kontext, der seit der Neuzeit wesentlich durch Vorstellungen von ‚Meisterschaft‘ geprägt ist. Wie die feministische und postkoloniale Kunstwissenschaft76 wiederholt gezeigt hat, ist der Handlungsraum der Kunst unter dieser Prämisse weitgehend weißen, männlichen Subjektpositionen vorbehalten, die durch ihre privilegierte soziale Position ‚autonome Schaffenskraft‘ für sich behaupten können. Diese Vorherrschaft und vermeintliche ‚Autonomie‘ wird nicht zuletzt in Differenz zum immer wieder reproduzierten Bild der ‚Anderen‘
75 Cowie, Elizabeth: „Dokumentarische Kunst: das Reale begehren, der Wirklichkeit eine Stimme geben“, in: Gludovatz, Auf den Spuren des Realen, 2005, S. 36. 76 Etwa Nochlin, Linda: „Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben?“ [1971] in: Söntgen, Beate (Hg.), Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft in feministischer Perspektive, Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 27-56; Nanette Salomon: „Der kunsthistorische Kanon – Unterlassungssünden“ [1993], in: Zimmermann, Anja: Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Berlin: Reimer 2005, S. 37-52; Hoffmann-Curtius/Wenk 1997; Friedrich u.a. 1997 sowie Araeen, Rasheed: „New Internationalism or the Multiculturalism of the Global Bantustans“, in: Fisher, Jean (Hg.), Global Visions. Towards a New Internationalism in the Visual Arts, London: Kala Press 1994, S. 3-11.
Dokumentarische Alterität im Kunstraum hergestellt und naturalisiert – sei es durch das Bild sexualisierter, häuslicher ‚Weiblichkeit‘ oder durch das Bild einer der Natur und archaischen Traditionen verpflichteten ‚Ethnizität‘.77 Diesen sexistischen und rassistischen Grundlagen der westlichen Kunstinstitution stehen die zeitgenössischen Produktionen der dokumentarischen Kunst dem Anspruch nach dezidiert entgegen.78 Zahlreiche dokumentarische Arbeiten machen allerdings zugleich auch alteritäre Positionen im Kunstraum sichtbar, wobei diese Sichtbarkeit entweder Teil ihres politischen Programms ist, wie im Fall der Konzepte der ‚Präsenz‘, oder ein eigentlich kritisiertes Detail, wie im Fall der Konzepte der Medienreflexivität. Unabhängig von ihrer politischen und formalen Intention visualisieren die Arbeiten weiterhin ‚die Anderen‘ im westlichen, patriarchalen Kunstkontext und stehen damit praktisch in dessen oben skizzierter ideologischer Tradition. Konzepte, die einen intentional gedachten, idealisierten Begriff ‚politische Kunst‘ entwerfen, klammern diesen Umstand jedoch weitgehend aus bzw. entnennen seine Problematik. Es liegt somit nahe, von einem patriarchalen und kolonialen ‚Unbewussten‘ der dokumentarischen Alteritätsdarstellungen zu sprechen.79 Diese ambivalente Situation verweist auf ein tiefer liegendes Paradox der künstlerischen Avantgarde. Wie Wolfgang Asholt und Walter Fähnders schreiben, proklamierte die Avantgarde im zwanzigsten Jahrhundert 77 Vor diesem Hintergrund ist es für nicht-männliche, nicht-westliche AkteurInnen nur schwer möglich, sich als ‚autonome KünstlerInnen‘ zu behaupten. Ihre künstlerischen Produktionen werden meist dem abgewerteten Bereich des Angewandten und des Kunsthandwerks zugeschlagen und in ‚Sonderbereiche‘ wie etwa ‚Kunst von Frauen‘ oder ‚ethnische Kunst‘ gedrängt. Siehe dazu insb. Zimmermann, Anja: „‚Kunst von Frauen‘. Zur Geschichte einer Forschungsfrage“, in: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur (Kanones?), 48 (2009), S. 26-36, sowie Araeen 1994. 78 Vgl. dazu Kapitel 1.1. Auf der Produktionsebene ist außerdem von Bedeutung, dass die apparative Technik des Dokumentarischen der klassischen Vorstellung individueller Kreativität entgegensteht und damit auch einem Primitivismus, der KünstlerInnen aus nicht-westlichen Kontexten eine ‚natürliche Kreativität‘ bzw. ‚ursprüngliche Traditionalität‘ zuschreibt, konterkariert. Vgl. dazu auch Appadurai, Arjun: „Traditionsängste im globalen Kunstkontext“, in: springerin V/I (1999), S. 54-56, sowie zur Funktionsweise des Primitivismus allg. Hiller, Susan (Hg.): The Myth of Primitivism. Perspectives on art, London: Routledge 1991 und Fabian, Johannes: Time and the Other, New York: Columbia, 1983. 79 In einem etwas anderen Erkenntniszusammenhang erscheint dieser Begriff bei SchmidtLinsenhoff, Viktoria: „Das koloniale Unbewusste in der Kunstgeschichte“, in: Below, Irene/Bismarck, Beatrice von (Hg.), Globalisierung/Hierarchisierung. Kulturelle Dominanzen in Kunst und Kunstgeschichte, Marburg: Jonas 2005, S. 19-38.
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Andere Subjekte „als ‚Vorhut‘ in allen Gattungen und diese tendenziell überwindend einen unwiderruflichen Bruch mit der überkommenen Kunst […] und [versucht] eine radikal neue Kunst zu schaffen […], teilweise auch, um damit eine neue Kunst-Lebens-Relation mit Auswirkungen für den Alltag zu stiften.“80
Aus dem Zitat geht hervor, dass die Avantgarde grundsätzlich einen Veränderungsanspruch artikuliert, der auf zwei verschiedene Bezugspunkte gerichtet ist: Zum einen bezieht er sich auf ein ‚soziales Außen‘ der Kunst, das als prekär und verbesserungswürdig empfunden wird, und zum anderen auf den Kunstbereich selbst, dessen Problem eine angeblich fehlende oder falsche Beziehung zur Gesellschaft sei. Diese beiden politischen Zielrichtungen werden im AvantgardeDiskurs auf eine solche Weise miteinander verschaltet, dass durch die neue, avantgardistische Kunst das politische Begehren gegenüber der Gesellschaft zumindest teilweise erfüllbar erscheint. Wie Rosalind Krauss für die historische Avantgarde des 20. Jahrhunderts gezeigt hat, basiert der avantgardistische Begriff des Künstlerischen jedoch weiterhin wesentlich auf der Kategorie der ‚Originalität‘.81 Es verwundert somit kaum, dass sich diese Positionen weitgehend reibungslos in die dominante Kunstgeschichtsschreibung integrieren konnten, in der eben diese Kategorie ein zentrales Qualitätskriterium darstellt. Boris Groys unterstreicht in diesem Sinn: „Die Logik der Avantgarde ist von Anfang an eine institutionelle Logik.“82 Genau darin erkennt auch Peter Bürger das „Scheitern“ der von ihm so bezeichneten „historischen Avantgarde“.83 Als eine problematische Dimension impliziert dieses ‚Scheitern‘ dabei den Umstand, dass das von der Avantgarde behauptete Überwinden eines elitären, entkoppelten Systems deren eigenen Elitismus verdeckt. Der in den Avantgarde-Positionen enthaltene emanzipatorische Anspruch legitimiert letztlich die stillschweigende Fortsetzung der ausgrenzenden und diskriminierenden Mechanismen des dominanten Kunstsystems. Die Unterscheidung zwischen denjenigen, die um die kritischen, künstlerischen
80 Asholt, Wolfgang; Fähnders, Walter: „Einleitung“, in: dies. (Hg.), Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 2000, S. 14f. 81 Krauss, Rosalind: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne [1985], Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 2000. 82 Groys, Boris: „Kunst im Zeitalter der Demokratie“, in: Curiger, Bice (Hg.), Public Affaires. Von Beuys bis Zittel – Das Öffentliche in der Kunst, Ausst.-Kat., Zürich: Stäfa 2002, S. 5. 83 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974.
Dokumentarische Alterität im Kunstraum Intentionen und Innovationen wissen (oder sie sogar selbst formulieren) und denjenigen, die diese Anforderung nicht erfüllen, wird weiter fortgesetzt.84 Dabei ist zu bedenken, wie Groys im Sinn der feministischen und postkolonialen Kunstkritik bemerkt, dass sich die moderne Kunstinstitution erst aufgrund der Integration einer ‚anderen Wirklichkeit‘ als vermeintlich übergeordnetes, neutrales und autonomes System darstellen kann – als ein „außerkultureller Raum der bürokratischen Formalisierung“, welcher die ästhetischen Formen der ‚Anderen‘ auf ihren ‚Kultur‘-Status festlegt. Groys vermerkt: „Die Macht des modernen Museums und anderer vergleichbarer Institutionen […] hat ihren Hauptgrund genau in diesem ihren außerkulturellen, neutralen, rein formalistischen Aufbau. Eine zunehmende Produktion des Andern und Alternativen macht diese Institutionen […] zunehmend neutraler und mächtiger.“85
In Bezug auf die dokumentarischen Kunstpraxen bedeutet dies, dass die repräsentierten ‚Anderen‘ zur legitimierenden Grundlage gemacht werden, auf der die Kunst ihre privilegierte Position eines vermeintlich idealen und autonomen Politisch-Seins behaupten kann. Auf politik-theoretischer Ebene behandelt auch Gayatri Ch. Spivak diese Problematik. In ihrem Text Can the Subaltern Speak? (1988) zeigt sie, wie scheinbar ‚authentische‘ Repräsentationen von Subalternen durch Theoriepositionen, die sich solidarisch mit ihnen begreifen, konstruiert und funktionalisiert werden.86 Ihr zentrales Beispiel ist dabei eine Konversation zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze, in der sich beide Theoretiker darüber verständigen, dass „die Unterdrückten, insofern ihnen die Möglichkeit dazu gegeben wird, […] ihre Verhältnisse aussprechen und erkennen“87 können. Wie Spivak herausarbeitet, verkennt diese Darstellung, dass die ‚Anderen‘ auf diese Weise als empirische Figuren objektiviert werden, während sich die Intellektuellen selbst als objektive und transparente Subjekte behaupten. Dabei entnennt, wie Spivak bemerkt, der auf die ‚Anderen‘ gerichtete politische Anspruch nicht nur die spezifischen eigenen Interessensstrukturen der Theorie, sondern ignoriert auch, dass genau diejenigen, die ermächtigt werden sollen, weiterhin stumm gehalten und in ihrer Andersheit determiniert werden. Bestehende Machtstruk84 Vgl. auch Werckmeister, Otto K.: „Von der Avantgarde zur Elite: Bemerkungen zu Majakowsky, Tatlin und Beuys“, in: Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter (Hg.), Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam, Atlanta: Rodopi 2000, S. 505-524. 85 Groys 2001, S. 9. 86 Spivak 2008, S. 19-118. 87 Ebd., S. 47. Herv. i. Orig.
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Andere Subjekte turen werden auf diese Weise weitgehend unerkannt fortgeschrieben. Spivak formuliert an anderer Stelle prägnant: „Neo-colonialism is fabricating its allies by proposing a share of the centre in a seemingly new way […]: disciplinary support for the conviction of authentic marginality by the (aspiring) elite.“88
Dass diese Problematik auch Theoriepositionen des Postkolonialismus betrifft, kritisieren neben Spivak auch andere AutorInnen.89 Wie sie zeigen, reproduzieren selbst kritisch gemeinte, postkoloniale Repräsentationen von Differenz ethnische und kulturelle Essentialismen, die sie aus ‚politisch sicherer‘ Distanz konsumierbar machen. Ihre Darstellungen ermöglichen einen privilegierten Zugang zum eigentlich kritisierten ‚exotischen‘ Gegenstand, dessen Verfügbarkeit auf diese Weise weitgehend legitim erscheint. In diesem Sinn spricht Graham Huggan in Bezug auf den Trend postkolonialer Literatur im anglophonen Raum auch von einem „Post-Colonial Exotic“.90 Der Begriff kann aber auch auf den Kunstkontext übertragen werden, in dem seit den 1990er Jahren und verstärkt um die Jahrtausendwende ein enormes Interesse an Themen des Postkolonialen festzustellen ist. So beobachtet etwa Marius Babias seit der D11 ein zunehmendes Bedürfnis des globalen Kunstmarktes nach „more and more refined versions of ‚other‘ or ‚exotic‘ worlds and cultures“.91 Ähnliches wird auch für die aktuellen Dokumentarismen im Kunstfeld vermerkt. Eine der HauptkritikerInnen, Hito Steyerl, erkennt in vielen dieser Positionen eine „vitalistische […] Ideologie“, die „vom Mythos jenes echten und differenten Lokalen zehrt, der gegenwärtig in postethnografischen und neokulturalistischen Ausstellungen reproduziert wird“.92 Und auch Tom Holert
88 Spivak, Gayatri Ch: „Poststructuralism, Marginality, Postcoloniality and Value“, in: Collier, Peter/Geyer-Ryan, Helga (Hg.), Literary Theory Today, Cambridge: Polity Press 1990, S. 222. 89 So etwa Sara Suleri, Aijaz Ahmad, Anne Mc Clintock, Timothy Brennan, Ella Shohat und im deutschsprachigen Raum u.a. Kien Nghi Ha. Siehe auch die zusammenfassende Darstellung bei Huggan, Graham: The Post-Colonial Exotic. Marketing at the Margins, London/New York: Routledge 2001, S. 1-33, sowie Kien Nghi Ha: Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld: transcript 2005. 90 Ebd. 91 Babias 2004, S. 101. Vgl. in diesem Sinn auch Rasheed Araeens Kritik, dass postkoloniale Positionen im westlichen Kunstkontext vor allem aufgrund ihrer ‚Differenz‘ wahrgenommen werden. Rasheed 1994, S. 3-11. 92 Steyerl 2003, S. 19.
Dokumentarische Alterität im Kunstraum sieht im dokumentarischen Präsent-Machen der ‚Anderen‘ eine „typische Diskursfigur aktueller biopolitischer Verhältnisse“.93 Festgestellt wird ein „radical chic“94 dokumentarischer Formen, hinter dem sich ein ökonomisches „Interesse an der Ware ‚Wirklichkeit‘“95 verberge. In diesen Kritiken drückt sich eine Besorgnis darüber aus, dass die politisch adressierten ‚anderen Subjekte‘ zu Authentizitätsfiguren des ‚Politischen‘ gemacht werden, welche für diejenigen symbolisches Kapital bereitstellen, die in der dominanten, westlich-bürgerlichen Kunstinstitution bereits einen privilegierten Platz als Handelnde einnehmen. Die mit dem bestehenden System kompatiblen Positionen – KünstlerInnen, KuratorInnen, KritikerInnen und BetrachterInnen – können sich durch die dokumentarischen Repräsentationen der ‚anderen Subjekte‘ letztlich vor allem ihrer eigenen ‚politischen Subjektivität‘ versichern. In diese Kritik sind auch medienreflexive Positionen mit eingeschlossen. Gewarnt wird vor einer „leerlaufenden Selbstreflexivität“96, einem „reflexhaften Integrieren von Satellitenbildern, Überwachungsbildern, Flowcharts und Netzoberflächen“97, wie Steyerl formuliert. „Hier wird oftmals realistisches und sensationalistisches Amateurmaterial mit Elementen von Selbstreflexivität garniert, die selbst zu klischeehaften und affirmativen Floskeln globaler Medialität geronnen sind. Diese Formen entwickeln überdies interessante Anklänge an neuere Fernsehformate wie ‚Big Brother‘ und andere Reality-TV-Shows, in denen es eben der Aspekt ständig mitlaufender Selbstreflexivität des Medialen ist, der umgekehrt den größten Authentizitätseffekt erzielt.“98
Auch medien-reflexive Elemente können also Authentizitätseffekte produzieren.99 Dabei lässt die Fokussierung auf ausgefeilte Formkonzepte und konzeptuelle Pointen potentiell vergessen, dass auch hier meist dokumentarische
93 Holert, Tom: „Das Überleben der Anderen“, in: springerin XIII/2 (2007), S. 32-35. 94 Gludovatz, Karin/Krümmel, Clemens: „Vorwort. Nichts als die Wahrheit“, in: Texte zur Kunst 13/51 (2001), S. 4. 95 Schöllhammer, Georg/Saxenhuber, Hedwig: „Editorial“, in: springerin IX/3 (2003), S. 3. 96 Steyerl 2003, S. 20. Vgl. in diesem Sinn auch Holert 2005, S. 45. 97 Steyerl 2003, S. 20. 98 Ebd., S. 21. 99 Volker Wortmann nennt etwa das Beispiel des kameratragenden Forscherteams, das „zwar die Darstellungsvoraussetzungen transparent zu gestalten vorgibt, gleichzeitig aber auch die zweite Kamera vergessen lässt, die dieses Szenario für den Zuschauer dokumentiert.“ Wortmann, Volker: Authentisches Bild und authentisierende Form, Köln: Herbert von Halem Verlag 2003, S. 208f. Vgl. dazu auch Beyerle, Monika:
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Andere Subjekte Bilder der ‚Anderen‘ zu sehen sind. Wie Steyerl kritisiert, dienen die ‚Anderen‘ weiterhin als einprägsame Blickfänger: „Auch im neuen dokumentarischen Konzeptualismus funktioniert das dokumentarische Bild somit als Wahrheitstechnologie und als Beweis für eine aufgestellte These.“100
Dieser Authentizitätseffekt einzelner Bilder wird durch die Präsentationssituation in den Ausstellungsräumen noch weiter zugespitzt. Denn insbesondere die auf zeitliche Dauer ausgelegten filmisch-essayistischen Narrationen übersteigen häufig die Zeitressourcen und das Aufmerksamkeitspotential eines Ausstellungsbesuchs, sodass im flanierenden Durchgang oft nur Fragmente der präsentierten Arbeiten rezipiert werden. Die eigentlich kritisierten dokumentarischen Bilder können sich auf diese Weise leicht als Details von der reflexiven Ebene der (Post-)Produktion ablösen und ein Eigenleben als ‚realistische Inseln‘ entwickeln.101 Die von repräsentationskritischen Positionen festgestellten deterministischen und voyeuristischen Effekte des Dokumentarischen bleiben also weiterhin wirksam bzw. können sich sogar noch ungestörter entfalten, da sie hinter dem Konzept der kritischen Reflexivität der Kunstwerke verdeckt bleiben. Auch hier werden also in erster Linie die dominante Institution und ihre AgentInnen gestärkt, während die repräsentierten ‚Anderen‘ – gerade im Kontrast zum scheinbar elaborierten, reflexiven Formbewusstsein der Kunst – als passiv-sichtbares ‚Soziales‘ essentialisiert und abgewertet werden. Hal Foster kritisiert dies bereits 1996 pointiert für die Arbeiten des ethnographic turn, in denen dokumentarische und reflexive Elemente eine zentrale Rolle einnehmen. Wie er feststellt, verknüpft sich hier ein „decentering of the artist as cultural authority“ mit einem problematischen „remaking of the other in neo-primitivist guise“.102 Und weiter schreibt er: “However, for all the insights of such projects, the deconstructive-ethnographic approach can become a gambit, an insider game that renders the institution not more open and public but more hermetic and narcissistic, a place for initiates only where a contemptuous criticality is rehearsed. [… T]he ambiguity of deconstructive positioning, at once inside and outside the institution, can lapse into the duplicity of cynical reasoning in which artist and
Authentisierungsstrategien im Dokumentarfilm: das amerikanische direct cinema der 60er Jahre, Trier: WVT 1997. 100 Steyerl 2003, S. 21. 101 Vgl. dazu auch Holert 2005, S. 47, der von ‚dokumentarischen Epiphanien‘ innerhalb fiktionaler Produktionen spricht, sowie zur Bedeutung des Details allg. Futscher/ Neuner/Pichler 2007. 102 Foster 1996, S. 197.
Dokumentarische Alterität im Kunstraum institution have it both ways – retain the social status of art and entertain the moral purity of critique, the one a complement or compensation of the other.“103
Diese Einsichten zeichnen ein weitgehend pessimistisches Bild der politischen Möglichkeiten dokumentarischer Kunst. Jede künstlerische Thematisierung von Alterität scheint – trotz der damit verbundenen emanzipatorischen Ansprüche und Potentiale – immer schon in der Logik der dominanten Institution aufgehoben zu sein. Dabei erscheint es weitgehend unerheblich, ob diese Ansätze realistische oder reflexive Strategien (oder beide gemeinsam) strategisch einsetzen. Wie gezeigt wurde, erweisen sich Konzepte einer scheinbar vollständig im Kunstwerk enthaltenen ‚politischen Bedeutung‘ – etwa im Sinn einer durch die Kunst ermöglichten Subjektivität der repräsentierten ‚Anderen‘ – als besonders verhängnisvoll. Ein solches essentialistisches Kunst- und Politikverständnis fördert die hegemoniale Position der ‚Kunst‘ als vermeintlich autonomen Bereich und verhindert zugleich eine effektive, selbst-kritische Auseinandersetzung mit den problematischen Dimensionen der Alteritätsdarstellungen. Jacques Rancière kritisiert diesen Mechanismus in seinem Buch Das Unbehagen in der Ästhetik (2007) auch als „Meta-Politik der kritischen Form“.104 Wie er darlegt, etabliert diese „eifersüchtig bewahrte Kunst“105 eine scheinbar grundlegende, hegemoniale Distanz gegenüber allen ‚nicht-künstlerischen‘ Ebenen. Dies äußere sich als „Kampf für die Erhaltung des materiellen Unterschieds der Kunst von allem, was sie in den Dingen der Welt kompromittiert […]: Kommerz der Massenausstellungen und Kulturprodukte […], Pädagogik, die dazu bestimmt ist, Kunst den gesellschaftlichen Gruppen näher zu bringen, die ihr fremd waren; Integration der Kunst in eine ‚Kultur‘, die ihrerseits in Kulturen aufgespaltet ist, die an gesellschaftliche, ethnische oder sexuelle Gruppen gebunden sind.“106
Die Vorstellung einer an sich ‚politischen Kunst‘ wertet sämtliche ‚nicht-künstlerischen‘ Formen und Handlungsbereiche ab und verschiebt ihre verleugneten und unterdrückten Dimensionen auf ein vermeintlich unkundiges Kunstpublikum. So scheint erst der ‚falsche‘ Blick der BetrachterInnen rassistische und 103 Ebd., S. 196. „To be sure, reflexivity can disturb automatic assumptions about subject positions, but it can also promote a masquerade of this disturbance: […] a vogue for pseudo-ethnographic reports in art that are sometimes disguised travelogues from the world art market.“ Ebd., S. 180. 104 Rancière 2007, S. 54. 105 Ebd. 106 Ebd.
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Andere Subjekte sexistische Sinnebenen in Erscheinung treten zu lassen, indem er die eigentlich ‚richtige‘ kritische Bedeutung der Kunst verkennt. Eine solche Vorstellung politischer Kunst vergrößert dabei vor allem die Differenz der ‚progressiven‘ KünstlerInnen, KritikerInnen und KuratorInnen zu dem vermeintlich noch nicht politisierten Publikum, aber auch zu den dokumentarisch repräsentierten ‚Anderen‘, deren rhetorisches (affirmiertes oder kritisiertes) Erscheinen im Kunstraum – zynischerweise – die Grundlage der Anmutung des ‚Politischen‘ der künstlerischen Konzepte/Formen darstellt.
Das produktive Problem der ‚anderen Frauen‘ Die Auseinandersetzung mit dieser problematischen, scheinbar ausweglosen Situation der ‚politischen Kunst‘ wird durch einen speziellen thematischen Bereich der dokumentarischen Medienkunst in besonderem Maße herausgefordert: durch Darstellungen von ‚anderen Frauen‘, die sowohl geschlechtsspezifisch als auch hinsichtlich der Kategorien Ethnizität und Klasse mit Differenz belegt sind.107 Zu denken ist etwa an Arbeiten von Ursula Biemann108, Kutlug Atamann109, Ruth Kaaserer110, Alejandra Riera111 und Fiona Tan112 sowie an die wiederentdeckten Essayfilme von Tran T. Minh-ha.113 Diese Darstellungen der ‚anderen Frauen‘ artikulieren allein durch die mehrfache Differenz-Belegung der Repräsentierten ein doppeltes, feministisches und postkoloniales Engagement, das sich neben den rassistischen, (neo-)kolonialen Verhältnissen auch auf patriarchale Machtverhältnisse kritisch bezieht. Entsprechend dem weiter oben beschriebenen Mechanismus reproduzieren die dokumentarischen Repräsentationen aber zugleich auch eine doppelte Differenzierung und Distanznahme zu den ‚anderen Frauen‘. Die Arbeiten sind in gesteigertem Maße sowohl mit Differenz als auch mit einem politischen Begehren aufgeladen. Es entsteht eine
107 Wie die Intersektionalitätsforschung zeigt, sind die Kategorien Geschlecht, Ethnizität und Klasse aber auch unabhängig von ihrer offensichtlichen ‚Addierung‘ (wie im Fall der ‚anderen Frauen‘) eng miteinander verwoben. Vgl. dazu Klinger 2007. 108 Performing the border (1999), Writing Desire (2000), Remote Sensing (2001), Europlex (2003). Vgl. auch Biemann 2000. 109 Women Who Wear Wigs (1999) sowie semiha b. unplugged (1997). 110 Etwa ihr Video balance (2000). 111 Insbesondere ihre Videoarbeiten City of Women (2003, gemeinsam mit Madgiguène Cissé) und Hot Water – de l'eau chaude (2001), vgl. dazu Kapitel 3. 112 Ihre Filmarbeiten Tuareg (1999) und Saint Sebastian (2001). 113 Insbesondere Reassemblage (1982), Naked Spaces – Living is Round (1985) und Surname Viet Given Name Nam (1989).
Dokumentarische Alterität im Kunstraum Kluft zwischen diesen beiden Polen, die das genannte Paradox der politischen Kunst besonders deutlich wahrnehmbar macht. Die unbewusste Reproduktion von Differenz kann im Fall der Repräsentationen ‚anderer Frauen‘ nicht mehr so einfach hinter einer politischen Intention verborgen werden. Die dokumentarischen Repräsentationen von ‚anderen Frauen‘ stellen jedoch auch hinsichtlich der darin enthaltenen Verknüpfung postkolonialer und feministischer Kritik eine produktive Komplikation für einheitliche, idealistische Politikkonzepte dar. Aufgezeigt und forciert wurde diese Komplikation seit den 1980er Jahren vor allem durch die sogenannten Women of Color114. Wiederholt kritisierten sie, dass das klassische feministische Konzept der ‚global sisterhood‘ von einem einheitlichen und ‚universellen‘ Patriarchat ausgeht und in Opposition dazu eine einzige, gemeinsame feministische Haltung proklamiert. Ein genauer Blick auf die je spezifischen Formen von Unterdrückung wird, wie die Women of Color zeigen, in diesem Konzept genauso verhindert, wie auch innere Differenzen und hegemoniale Spannungen zwischen Frauen zugunsten einer privilegierten Kategorie Geschlecht ausgeklammert und verleugnet werden. Dies führt, wie sie weiter darlegen, zu einem essentialistischen Begriff von ‚Weiblichkeit‘ sowie einem darauf basierenden ‚idealen Feminismus‘, der stillschweigend mit der vermeintlichen Nicht-Kategorie ‚Weißsein‘ verknüpft wird. In Bezug auf die Situation schwarzer Feministinnen in den USA formuliert etwa die Medientheoretikerin Bell Hooks: „In America, white racist ideology has always allowed white women to assume that the word woman is synonymous with white woman, for women of other races are always perceived as Others, as de-humanized beings who do not fall under the heading woman. White women who claimed to be politically astute showed themselves to be unconscious of the way their use of language suggested they did not recognize the existence of black women. They impressed upon the American public their sense that the word ‚woman‘ meant white woman by drawing endless analogies between ‚women‘ and ‚blacks‘.“115
Ethnische Markierungen werden in einem solchen Feminismus-Konzept notwendigerweise als Störfaktoren der feministischen Emanzipation wahrgenommen. Chandra T. Mohanty bezeichnet dies auch treffend als den „Dritte-WeltUnterschied“:116 114 Unter diesem Begriff werden nicht-weiße, nicht-westliche Feministinnen subsumiert. Wichtige Vertreterinnen sind etwa Chandra T. Mohanty, Gayatri Ch. Spivak, Angela Y. Davis und Bell Hooks. 115 Hooks, Bell: Ain't I a Woman, London: Pluto Press 1982, S. 138 f. 116 Mohanty, Chandra Talpade: „Aus westlicher Sicht: feministische Theorie und koloniale Diskurse“, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 23 (1988), S. 150.
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Andere Subjekte „[D]urch die Selbstdarstellung der westlichen Feministinnen [sind] nur sie selbst die wirklichen ‚Subjekte‘ einer Gegen-Geschichte […]. Dritte-Welt-Frauen kommen dagegen nie über ihre Homogenität und ihren Objektstatus hinaus.“117
Mit Blick auf die politische Situation ‚anderer Frauen‘ wird damit die Problematik eines essentialistischen Feminismus-Konzepts deutlich, dessen auf ‚Weiblichkeit‘ gerichteter Emanzipationsanspruch die Kategorie Ethnizität nur als Mangel integrieren kann. Aus einer etwas anders gelagerten Perspektive insistiert auch Spivak in ihrem bereits weiter oben zitierten Aufsatz Can the Subaltern Speak? (1988) auf der produktiven Problematik der ‚anderen Frauen‘. Spivak zeigt u.a. am Beispiel der Witwenverbrennung in Indien, dass subalterne Frauen aufgrund ihrer Mehrfachunterdrückung von einer politischen Teilhabe grundlegend ausgeschlossen sind und auch in wohlwollenden Repräsentationen stets ‚Opfer‘ bleiben. Am Ende ihres Textes kommt sie zunächst zu der Einschätzung: „Die Subalterne kann nicht sprechen. Es liegt kein Wert in globalen Endlosaufzählungen, die ‚Frau‘ als frommen Begriff anführen.“118 Dieser viel diskutierte negative Befund bringt Spivak jedoch nicht dazu, jeglichen politischen Anspruch gegenüber den ‚Subalternen‘ aufzugeben. Im Anschluss an das obige Zitat wendet sie ein: „Repräsentation ist nicht abgestorben. Die weibliche Intellektuelle hat als Intellektuelle eine klar umrissene Aufgabe, die sie nicht mit Pauken und Trompeten verleugnen darf.“119
Spivaks kryptisch formulierter Schlussabsatz enthält einen Widerspruch, da sie Repräsentationen der ‚Anderen‘ auf der einen Seite kritisiert und auf der anderen Seite vehement einfordert. Dies weist zunächst in Richtung strategischer Repräsentationen, wie sie etwa die Subaltern Studies Group entwirft. Allerdings bleiben auch diese postkolonialen Repräsentationen für Spivak schwierig, da darin erneut Positionen von Frauen marginal bleiben.120 Die Form der strategischen Repräsentation, die Spivak entwirft, basiert vielmehr auf der strukturellen Abwesenheit von subalternen Frauen als politische Subjekte.121 Dabei weist diese Absenz konstant darauf hin, dass das strategische Vorgehen 117 118 119 120
Ebd., S. 159. Spivak 2008, S. 106. Ebd. Spivak erkennt jedoch deren Bemühen an, die „eigenen Unmöglichkeitsbedingungen als Bedingungen seiner Möglichkeiten neu zu schreiben.“ Ebd., S. 51. 121 Hier trifft sich Spivak wesentlich mit Teresa de Lauretis, die im Filmbereich ebenfalls von ‚Frau‘ als konstitutivem Mangel für die begehrenden BetrachterInnen spricht. Siehe insb. de Lauretis 1984, S. 17.
Dokumentarische Alterität im Kunstraum der Intellektuellen auch mit einer Problematik behaftet ist. Dies unterstreichen auch Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan in ihrer Diskussion von Spivaks Ansatz: „Anstatt die Anderen zu assimilieren, indem man sie ‚anerkennt‘, plädiert [Spivak] dafür, die subalterne Erfahrung als ‚unerreichbare Leere‘ […] zu erhalten, was des Weiteren den Vorteil hätte, dass dies Grenzen eines westlichen Wissens sichtbar machen würde.“122
Und auch Hito Steyerl vermerkt, dass das „Vermächtnis von Spivaks Text […] nicht darin [besteht], das autistische ‚Für-sich-selbstSprechen‘ der einzelnen Subjekte zu verstärken, sondern ihr gemeinsames Schweigen zu hören.“123
Indem subalterne Frauen bei Spivak als konstitutive Leerstelle erscheinen, weisen sie darauf hin, dass es keine ‚richtige politische Form‘ geben kann. Dabei liegt ihr produktives Potential darin, durch ihre problematische Verfasstheit als Mangel die politische Auseinandersetzung mit der sie betreffenden Thematik am Laufen zu halten. Das Politische wird dabei jenseits essentieller Emanzipations-Konzepte als ein pragmatisches Tun adressiert, das vom Begehren nach der Subjektivität der ‚Anderen‘ sowohl in Gang gesetzt als auch mit seinen Widersprüchen und Grenzen konfrontiert wird. In Bezug auf dokumentarische Repräsentationen bedeutet dies in einer ersten Näherung, dass die Auseinandersetzung mit dem Politischen nicht auf der Produktionsebene enden darf, wie dies formalistische Konzepte politischer Kunst suggerieren. Die repräsentierten ‚anderen Frauen‘ machen deutlich, dass ‚Politik‘ immer vorläufig und problematisch bleibt und in diesem Sinn auch weitergehend den Rezeptionsbereich mit einbezieht. Dies legt auch Steyerls Rede vom Hören des Schweigens der ‚Anderen‘ nahe. Als (unmögliche) Repräsentantinnen der ‚Schwierigkeit des Politischen‘ fordern die repräsentierten ‚anderen Frauen‘ einen neuen Vorstellungs- und Handlungsmodus dokumentarischer Kunst heraus – einen Modus, der sich jenseits idealisierter ‚politischer Kunstkonzepte‘ bewegt und in der Kritik der herrschenden Machtverhältnisse die eigene problematische Position mitdenken kann.
122 Castro Varela, Maria do Mar/Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript 2005, S. 77. 123 Steyerl, Hito: „Die Gegenwart der Subalternen (Einleitung)“, in: Spivak, Gayatri Ch.: Can the subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia und Kant 2008, S. 16.
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2. Politik und Rezeption
Dokumentarische Alteritätsdarstellungen in der Gegenwartskunst zeichnen sich, wie das vorige Kapitel gezeigt hat, durch eine grundlegende Ambivalenz aus: Einerseits artikulieren die Arbeiten einen politisch-emanzipatorischen Anspruch, der auf die Subjekt-Werdung der repräsentierten ‚Anderen‘ gerichtet ist, und andererseits kann die begehrte Subjektivität der ‚Anderen‘ niemals gänzlich in den Repräsentationen eingelöst werden. Diese Schwierigkeit deutet darauf hin, dass ein formal geschlossener Politikbegriff in diesem Gegenstandsfeld nicht greift. Erforderlich wird vielmehr ein Denken des Politischen in Begriffen des Provisorischen und Vorläufigen, im Sinn von notwendig unabgeschlossenen Anstrengungen im Umgang mit den Repräsentationen. Das zweite Kapitel wird diesem Hinweis in methodisch-theoretischer Hinsicht nachgehen: Mit welchen theoretischen Werkzeugen kann das Moment des Unabgeschlossenen im Politischen erfasst werden? Was bedeutet dies für den Bereich der visuellen Medien und was für die Rolle der Rezeption und die eigene wissenschaftliche Untersuchungstätigkeit? Und inwiefern kann trotz der zuvor festgestellten Schwierigkeiten eine mögliche politische Umgangsweise mit dokumentarischen Repräsentationen im Kunstkontext entwickelt werden? Diese Fragen zielen in Richtung einer spezifischen Analysemethode. Vor dem oben ausgeführten Problemhintergrund ist es jedoch naheliegend, dass damit kein in sich geschlossener, objektiver Theorie- und Methoden-Apparat gemeint sein kann. Vielmehr geht es darum, die Analyse selbst als unabgeschlossenen politischen Prozess zu fassen. Genau dieses Anliegen steht auch im Zentrum von Mieke Bals Aufsatz Working with Concepts (2007), in dem sie den Begriff des ‚Konzepts‘ jenem der ‚Methode‘ entgegenstellt. Anders als große, in sich geschlossene Methoden, die, wie Bal schreibt, in erster Linie darauf abzielen, wissenschaftliche Disziplinen abzusichern, sind Konzepte als Arbeitsmittel zu begreifen, die in der praktischen Konfrontation verschiedener, interdisziplinärer Theoriefragmente mit einem Gegenstand entstehen:
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Andere Subjekte „You do not apply one method; you conduct a meeting between several, a meeting in which the object participates so that, together, object and methods can become a new, not firmly delineated, field. This is where travel becomes the unstable ground of cultural analysis.“1
Auf der letztlich unüberschaubaren ‚Reise‘ der Analysepraxis ermöglichen Konzepte vorläufige, heuristische Anhaltspunkte, mithilfe derer der theoretische Umgang mit Analysegegenständen organisiert werden kann: „In fact, concepts […] offer miniature theories, and in that guise, help in the analysis of objects, situations, states, and other theories.“2 Als provisorische Werkzeuge sind Konzepte auch selbst flexibel, d.h., sie können ihre Bedeutung in verschiedenen Kontexten immer wieder verändern. Bal macht dies am Begriff ‚Hybridität‘ anschaulich, der sich aus dem Kontext der Biologie zu einem umstrittenen Konzept der postkolonialen Theorie entwickelt hat.3 Was Bal allerdings nicht explizit benennt, ist, dass bestimmte KonzeptBedeutungen auch vorübergehend die von ihr betonte Offenheit und Flexibilität unterwandern und rhetorisch stillstellen können. Im Fall der zuvor genannten Konzepte ‚politischer Kunst‘ geschieht dies etwa durch die idealisierende Verknüpfung von Kunst und Politik, durch die weitgehend unbemerkt Intentionalität und Objektivität als absolute Figuren (wieder) eingeführt werden. Dabei erweist sich insbesondere die ungenaue Verwendung des viel beanspruchten Begriffs ‚politisch‘ als problematisch, da dieser gerade in seiner Unschärfe eine verabsolutierende Konnotation erhält. Vor diesem Hintergrund beginnt das vorliegende Kapitel mit einer Bestimmung des Politischen im Sinn der oben beschriebenen Unabgeschlossenheit und Vorläufigkeit. Die theoretische Grundlage dafür stellt im ersten Unterkapitel die Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe dar. Ihre politiktheoretischen Überlegungen werden im zweiten Unterkapitel – in kritischer Diskussion verschiedener medientheoretischer Ansätze – auf den Bereich visueller Repräsentationen übertragen. Dabei wird ein anti-essentialistisches Konzept politischer Kunst- und Medienrezeption entwickelt, das im letzten Abschnitt in ein Lektüremodell überführt wird, welches speziell auf die Bedingungen des Dokumentarischen eingeht. Im Sinn Mieke Bals dient dieses Modell dazu, die praktische Analysetätigkeit in Bezug auf dokumentarische Alteritätsdarstellungen im Kunstbereich theoretisch beschreibbar zu machen. Es verweist
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Bal, Mieke: „Working with Concepts“, in: Pollock, Griselda (Hg.), Conceptual Odysseys. Passages to Cultural Analysis, London/New York: I.B. Tauris 2007, S. 1. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5f.
Politik und Rezeption damit bereits auf die konkrete Praxis der Videolektüren, die im zweiten Teil der Publikation unternommen werden.
2.1 Ein anti-essentialistischer Begriff des Politischen Was Politik bedeutet, ist eine kontroverse Angelegenheit. In ihren Extremen wird damit ein vollkommen geordnetes Herrschaftssystem oder das Etablieren einer gänzlich herrschaftsfreien Zone bezeichnet. Eine auch nur annähernd umfassende Darstellung der diversen Politikbegriffe, die sich zwischen diesen Extremen bewegen, ist im vorliegenden Unterkapitel unmöglich und wird auch nicht angestrebt. Stattdessen wird im Folgenden anhand eines speziellen Bereichs der politischen Theorie eine mögliche Sichtweise dargelegt, die sich dadurch auszeichnet, dass sie apriorische Grundlagen von Politik – wie sie u.a. auch Vorstellungen politischer Kunst prägen – dekonstruiert, ohne dabei das Konzept des Politischen gänzlich aufzugeben. Gemeint ist die Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, die diese in ihrem gemeinsam verfassten Buch Hegemonie und radikale Demokratie (1985) entwickelt haben.4 Ihre theoretische Basis ist der Hegemoniebegriff nach Antonio Gramsci, den sie diskurstheoretisch und psychoanalytisch neu interpretieren. Sowohl dieser theoretische Hintergrund als auch die daraus abgeleiteten Überlegungen decken sich stark mit Positionen der kritischen Kulturwissenschaften, wie etwa den Gender, Postcolonial und Cultural Studies.5 Ein Unterschied besteht jedoch darin, dass Laclau/Mouffe in ihren Ausführungen – vor allem im Kapitel Jenseits der Positivität des Sozialen – einen hohen systematischen Abstraktionsgrad einführen, der sich für eine allgemeine Begriffsbestimmung des Politischen anbietet. Laclau/Mouffe entwickeln ihr Theoriegebäude konkret anhand der Dekonstruktion des klassischen Marxismus, der Mitte der 1980er Jahre zunehmend in Zweifel geraten war.6 Wie sie kritisieren, geht der Marxismus von der Annahme einer binären Spaltung der Gesellschaft aus, die es ihm ermöglicht, die (eine) Partei als rational begründete, vollständige Repräsentation der Arbeiterklasse 4 5
6
Laclau/Mouffe 2006. Zu nennen sind insbesondere TheoretikerInnen wie Judith Butler, Donna Haraway, Stuart Hall und Gayatri Ch. Spivak, die aus ihren jeweiligen Perspektiven zu durchaus vergleichbaren Politikkonzepten gelangen. Den Hintergrund dafür stellt der zu dieser Zeit im Zerfall begriffene ‚reale Sozialismus‘ dar sowie das Aufkommen vielfältiger politischer Bewegungen (Feminismus, Postkolonialismus, Umweltaktivismus, queerer Aktivismus …), die nicht mehr in den einfachen Klassenbegriff des Marxismus integriert werden konnten. Ebd., 31.
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Andere Subjekte zu begreifen. Den Totalitarismus des Marxismus ersetzen Laclau/Mouffe jedoch nicht, indem sie von einer vollständigen diskursiven Durchdringung des Sozialen im Sinn der Postmoderne ausgehen. Hier sehen sie die Gefahr vor allem in einem liberalen Multikulturalismus, der politische Handlungsfähigkeit zugunsten extern regulierter, pseudo-politischer Differenzspiele aufhebt.7 Laclau/ Mouffe denken ihren anti-essentialistischen Politikbegriff vielmehr zwischen und jenseits dieser beiden Positionen. Dabei verwenden sie jedoch den beladenen Begriff ‚politisch‘ kaum8, sondern differenzieren seine Bedeutung, indem sie eine systematische Verknüpfung der Begriffe ‚Hegemonie‘, ‚Artikulation‘ und ‚Antagonismus‘ einführen. Wie der Begriff Hegemonietheorie bereits andeutet, ist die zentrale Dimension bei Laclau/Mouffe die des Hegemonialen. Damit rekurrieren sie aber nicht auf ein apriorisches Subjekt der Macht, welches sich durch bewusste Machthandlungen oder einen essentiell gegebenen machtvollen oder machtlosen Gesellschaftshintergrund (Klasse) auszeichnen würde. Vielmehr lösen sie ‚das Subjekt‘ und ‚das Soziale‘ diskurstheoretisch auf und stellen diesen Kategorien den abstrakten Begriff der Artikulation entgegen. Sie schreiben: „Im Kontext dieser Diskussion bezeichnen wir als Artikulation jede Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, daß ihre Identität als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird.“9
Aus dieser Definition können einige Grundlagen der politischen Theorie von Laclau/Mouffe abgeleitet werden: Zunächst umfasst dieser Bereich für sie nicht nur die klassische (Partei-)Politik, sondern, wie sie unterstreichen, „jede Praxis“, d.h. den gesamten Bereich praktischer und theoretischer Handlungen. Dabei rückt im Begriff der Praxis auch die pragmatische Dimension ihres Denkens in den Vordergrund. Macht existiert nur in Form von Praktiken. Diese sind, wie sie darlegen, grundlegend relational, d.h., sie finden stets zwischen bestehenden Positionen statt, die damit verschoben und in ihrer Identität neu hergestellt werden. Dies betrifft auch die Artikulationsinstanz, die durch ihr relationales Handeln selbst neu positioniert wird. Das ‚politische Subjekt‘ kann somit nicht mehr an einem privilegierten, fixierten Standpunkt gedacht werden, von dem 7 8
9
Ebd., 24, S. 185. Zur Kritik am Liberalismus vgl. auch Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt a.M., Suhrkamp [2005] 2007. Eine Diskussion des Begriffs erfolgt in späteren Arbeiten, u.a. in Mouffe 2007, Lummerding 2006 sowie Marchart, Oliver: „Gibt es eine Politik des Politischen? Démocratie à venir betrachtet von Clausewitz aus dem Kopfstand“, in: ders., Das Undarstellbare der Politik, 1998, S. 90-119. Laclau/Mouffe 2006, S. 141. Herv. i. Orig.
Politik und Rezeption aus es ‚Gesellschaft‘ bewusst gestalten könnte. Vielmehr ist das Subjekt selbst Teil jenes Raums des Sozialen, der durch pragmatische Machtverhältnisse immer wieder neu hervorgebracht wird. Dieses Moment der Relationalität von Macht präzisieren Laclau/Mouffe mit dem Begriff des Antagonismus. Auf einer abstrakten Ebene beschreibt dieser Begriff das entgegengesetzte Wirken der Logiken der Äquivalenz und der Differenz, in denen Diskurse entweder vereinheitlicht oder unterbrochen werden. Dabei unterstreichen Laclau/Mouffe, dass in jeder Artikulation stets beide antagonistischen Logiken als Möglichkeit enthalten sind: Jeder Versuch, einen Diskurs zu einer Einheit zu schließen, impliziert notwendigerweise Grenzziehungen, die diese Totalität limitieren und brüchig halten.10 Der Begriff des Antagonismus beschreibt damit die konstitutive Unabschließbarkeit jeglicher hegemonialer Artikulation als ein Definitionsmerkmal des Politischen. Das Soziale stellt sich hier als ein komplexes Geflecht dar, in dem sich verschiedene, pragmatisch artikulierte Diskursformationen gegenseitig durchdringen, verändern und neu formieren. Die auf diese Weise immer wieder provisorisch entstehenden strukturierten Totalitäten implizieren dabei das Potential, selbst artikulatorisch zu wirken. Laclau/Mouffe beschreiben dies mit dem Konzept hegemonialer Knotenpunkte11, die auf antagonistische Weise mit anderen Knotenpunkten in Verbindung stehen. Der Begriff ‚Knotenpunkt‘ ist dabei in zweifacher Hinsicht interessant: Zum einen macht er deutlich, dass innerhalb eines diskursiven Raums nicht nur menschliche Individuen, sondern auch Gegenstände, Bilder und Vorstellungen artikulatorische Wirkungen in der Logik des Antagonismus entfalten können.12 Und zum anderen zeigt er an, dass es keine einfachen antagonistischen Positionierungen gibt, sondern diese stets aus einer latenten Verknüpfung mit einer Fülle an Diskursformationen bestehen. In einem solchen überdeterminierten Beziehungsgeflecht kann Macht nicht mehr als rational kalkulierbare, einfache politische Wirkung (eines Subjekts) erscheinen, sondern es wird deutlich, dass
10 Die Überlegung der vorläufigen Schließung folgt dabei wesentlich der Lacan'schen Theorie der Suture, wonach sich das Subjekt stets aufs Neue als vorläufig geschlossene Identität herzustellen versucht. Lacan 1996, 124. Theoretisch ausgearbeitet wurde der Begriff Suture (franz. Naht, Vernähen) durch Miller, Jacques-Alain: „Suture elements of the logic of the signifier“, in: Screen IV/18 (1977/78), S. 24-34, sowie im Bereich der Filmwissenschaft durch Heath 1981a, S. 76-112. Vgl. dazu auch Laclau/Mouffe 2006, 246f, Anm. 1. Vgl. dazu auch den Exkurs zur Apparatustheorie in Kapitel 1.2 sowie die Ausführungen zur Lacan'schen Psychoanalyse in Kapitel 2.2. 11 Ebd., S. 150. 12 Laclau/Mouffe diskutieren neben dem humanistischen Konzept des ‚Subjekts‘ auch die Kategorie Geschlecht als einen Knotenpunkt. Ebd., S. 152-161.
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Andere Subjekte Artikulationen stets mehrere, bewusste und unbewusste, direkte und indirekte Wirkungsebenen haben. Aus dieser Darstellung ergibt sich ein anti-essentialistischer, pragmatischer Begriff von Politik, welcher Konzepte der Objektivität, Rationalität und Intentionalität dezidiert ausschließt.13 Laclau/Mouffe unterstreichen dies etwa, wenn sie formulieren: „Der entscheidende Punkt ist, daß jede Form der Macht auf pragmatische Art und Weise und dem Sozialen innerlich durch die entgegengesetzten Logiken von Äquivalenz und Differenz konstruiert wird – Macht ist niemals grundlegend.“14
Soziale Ordnungen und Bedeutungen können niemals politisch richtig festgelegt oder wissenschaftlich neutral beschrieben und begründet werden. Nicht nur, weil sich ‚die Gesellschaft‘ stets verändert, sondern auch weil jegliche (Sozial-) Politik und (Sozial-)Theorie selbst immer schon ein Teil der sich verändernden ‚Gesellschaft‘ ist. Laclau/Mouffe betonen in Bezug auf idealisierende Konzepte der Politik- und Sozialwissenschaft: „Sie sind alle kontingente soziale Logiken, die als solche ihre Bedeutung in präzisen konjunkturellen und relationalen Zusammenhängen erlangen, in denen sie immer durch andere – oft widersprüchliche – Logiken beschränkt sein werden. Es ist deshalb unmöglich, zu einer Theorie des Sozialen auf der Verabsolutierung irgendeines jener Begriffe zu kommen.“15
Jenseits epistemologischer Objektivitäts- und Wahrheitsansprüche ist jede soziale Identität diskursiv und relational verortet. Dabei wirkt sie sowohl hegemonial, wie sie in der Logik des Antagonismus zugleich auch begrenzt und angreifbar bleibt. In diesem Sinn betonen Laclau/Mouffe: „Antagonismus […] konstituiert die Grenzen jeder Objektivität, die sich als partielle und prekäre Objektivierung enthüllt.“16 Es kann somit weder nicht-hegemoniale, neutrale
13 Dies zeigt auch die feministische Wissenschaftskritik. Vgl. u.a. Haraway, Donna: „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“ [1986], in: Scheich, Elvira (Hg.), Vermittelte Weiblichkeit: feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Hamburg: Hamburger Edition 1996, S. 217-248, sowie Harding, Sandra: Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu, Frankfurt a.M.: Campus Verlag [1991] 1994 und dies.: Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht, Hamburg: Argument 1999. 14 Laclau/Mouffe 2006, S. 184. Herv. i. Orig. 15 Ebd., S. 185. 16 Ebd., S. 165. Herv. i. Orig.
Politik und Rezeption politische Aktivitäten geben, noch eine objektiv richtige Politik. Stattdessen handelt es sich um praktische und provisorische Versuche, bestehende Gesellschaftsordnungen zu verändern. Diese haben zwar effektive Wirkungen, sind dabei aber keineswegs gänzlich kalkulierbar oder kontrollierbar und müssen letztlich limitiert und vorläufig bleiben. Mit diesen hegemonietheoretischen, systematischen Grundlagen entwickeln Laclau/Mouffe schließlich selbst ein theoretisches Politik-Modell, das sie als ‚radikale Demokratie‘ bezeichnen. Sie beschreiben es als eine Form von Politik, „die sich nicht auf die dogmatische Annahme einer ‚Essenz des Gesellschaftlichen‘ stützt, sondern im Gegenteil auf die Behauptung der Kontingenz und Ambiguität jedes ‚Wesens‘ und auf den konstitutiven Charakter der sozialen Spaltung und des Antagonismus“.17
Das Konzept der ‚radikalen Demokratie‘ basiert auf der Überlegung, dass der in jeder diskursiven Formation enthaltene hegemoniale Anspruch durch Konfrontation mit anderen diskursiven Formationen bzw. Artikulationspraxen in seiner Brüchigkeit und Vorläufigkeit sichtbar werden kann. Vermeintlich abgeschlossene Diskurse können so wieder geöffnet und verhandelbar gemacht werden. Die Politik der ‚radikalen Demokratie‘ funktioniert damit als eine Art diskursive Plattform, auf der Antagonismen zusammengebracht und forciert werden, sodass verhärtete und häufig unbenannte Fronten zwischen ‚Feinden‘ in Formen der gemeinsamen – wenngleich keineswegs harmonischen – Auseinandersetzung zwischen ‚Gegnern‘ verwandelt werden können.18
2.2 Medien, Medientheorie und die Position der Rezeption Was bedeuten diese Überlegungen nun für den Bereich des Medialen? Kann der anti-essentialistische Politik-Begriff von Laclau/Mouffe auch auf visuelle Repräsentationen übertragen werden? Welche medientheoretische Fallstricke sind dabei zu berücksichtigen? Und wie könnte in Anlehnung an das Konzept der ‚radikalen Demokratie‘ ein anti-essentialistisches, kritisches Analysemodell
17 Ebd., S. 238. 18 Ebd., 189-238, Mouffe 2007 sowie Mouffe, Chantal: „Feministische kulturelle Praxis aus antiessentialistischer Sicht“, in: dies./Trinks, Feministische Perspektiven, 2000, S. 11-22.
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Andere Subjekte in Bezug auf visuelle Medien bzw. konkret: in Bezug auf dokumentarische Repräsentationen von Subalternen aussehen? Aus hegemonietheoretischer Perspektive sind visuelle Medien – unabhängig von ihrer spezifischen Erscheinung – grundsätzlich Elemente innerhalb des allgemeinen Felds der Diskursivität. Als Knotenpunkte in diesem Feld wirken sie hegemonial in verschiedene Richtungen, wobei stets auch ihre eigne Bedeutung auf dem Spiel steht. Neben dieser allgemeinen Feststellung zeichnen sich Medien – wie ihr Name sagt – jedoch auch durch ihre besondere Vermittlungsfunktion aus. Diese verläuft für gewöhnlich von einem Produktionsbereich zu einem Rezeptionsbereich, wobei beide Bereiche nicht nur zeitlich und kontextuell weit auseinander liegen können, sondern in ihrem vermeintlichen ‚Wesen‘ und ihrer ‚Wirkung‘ ebenfalls keineswegs vollständig festgelegt und transparent sind. Auf einer ersten Ebene kann also festgehalten werden, dass Medien komplexe Gebilde sind, deren Vermittlungsstruktur von vielfältigen Distanzen, Differenzen und Unbestimmtheiten geprägt ist. Der Medienwissenschaftler Georg Ch. Tholen spricht in diesem Sinn auch von einer konstitutiven „Zäsur der Medien“.19 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Vermittlungsfunktion von Medien kontrovers diskutiert wird. Verschiedene Theoriestränge definieren und gewichten einzelne Elemente des Medialen und ihre Verknüpfungen unterschiedlich20 und wirken dabei selbst als hegemoniale Knotenpunkte. Mit jedem Versuch der Bestimmung des Medialen schreiben sie sich selbst in das von ihnen untersuchte Feld ein und verändern oder verstärken bestehende Ordnungen und Bedeutungen. Dies betrifft nicht nur ihre Beziehung zu anderen Medientheorien, sondern auch zu den von ihnen adressierten oder ausgeklammerten Medienkontexten sowie zu verschiedenen medialen Bedeutungsebenen wie Form, Technik, Inhalt etc. Ihre unabdingbare hegemoniale Positionierung zu diesen Bereichen verbergen allerdings viele Theorien zugunsten des Anscheins wissenschaftlicher Objektivität und/oder ‚richtiger Politik‘. Meist dient dabei die Überbetonung oder Essentialisierung eines Elements des Medialen als Basis, um den Vermittlungsprozess transparent, d.h. gänzlich analytisch erfassbar, erscheinen zu lassen.
19 Tholen, Georg Ch.: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. 20 Tholen verweist darauf, wenn er von einer „Metaphernvielfalt im epistemischen Feld der Medienwissenschaften“ spricht. Ebd., S. 19.
Politik und Rezeption
Medientheoretische Konzeptionen des Medialen Ein Beispiel für ein solches Mediendenken ist die klassische künstler-historische Perspektive, bei der die Instanz der Produktion zum Zentrum medialer Bedeutung gemacht wird. Dieser Denkansatz findet sich auf paradigmatische Weise bei Giorgio Vasari formuliert, der in seinen Vite de' più eccelenti architetti, pittori et scultori italiani (1550, dt. Lebensbeschreibungen der berühmtesten Architekten, Maler und Bildhauer Italiens) die Qualität von Kunstwerken in erster Linie aus den Biografien der ProduzentInnen ableitet.21 Vasari begründete damit den im Kunstfeld nach wie vor dominanten Meisterschaftsdiskurs, demzufolge (strukturell männlich konnotierte) Künstlerpersönlichkeiten auf scheinbar autonome Art und Weise kanonfähige ‚Meisterwerke‘ hervorbringen.22 Die Vorstellung einer intentional aus sich heraus schaffenden ProduzentInnenfigur ermöglicht es dabei der Kunstgeschichte, die vielfältigen Bedeutungsdimensionen visueller Medien so zu definieren und zu regulieren, dass diese durch ein privilegiertes ‚Wissen‘ um die Biografien der KünstlerInnen objektiv entschlüsselbar und bewertbar erscheinen.23 Die Aktivität der Rezeptionsebene bleibt hingegen weitgehend theoretisch vernachlässigt bzw. wird als Verlängerung der Produktionsebene gedacht. Ihre Aufgabe ist es in dieser Perspektive, die ins Kunstwerk ‚intentional‘ eingeschriebene Bedeutung möglichst vollständig und reibungslos zu realisieren – etwa als ‚ästhetische Erfahrung‘, die sich allein durch empfindsame Kontemplation des Kunstwerks einstellen soll.24 Eine vergleichbare essentialistische Logik findet sich auch in den Theorien des filmischen Realismus, wie sie Siegfried Kracauer und André Bazin Mitte des letzten Jahrhunderts formuliert haben.25 Hier steht allerdings nicht die Person der ProduzentIn im Zentrum, sondern vielmehr die filmische Technik, welche die Realismustheoretiker als perfektionierte Weiterentwicklung der indexi-
21 Zur Argumentationslogik dieses Werks sowie seinem Einfluss in der gegenwärtigen Kunstgeschichte siehe u.a. Salomon 2005, S. 37-52. 22 Vgl. dazu die Kritik der feministischen Kunstwissenschaft, u.a. ebd., Christadler, Maike: „Kreativität und Genie: Legenden der Kunstgeschichte“, in: Zimmermann, Kunstgeschichte und Gender, 2006, S. 253-272, sowie Hoffmann-Curtius/Wenk 1997. 23 Vgl. in diesem Sinn auch Salomon 2005. 24 Vgl. auch die historisch-kritische Analyse kunsthistorischer Rezeptionskonzepte bei Kemp, Wolfgang: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, in: ders. (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin: Reimer 1992, S. 7-27. Zu einem differenzierten Begriff der ästhetischen Erfahrung siehe auch Jauß, Hans R.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1991. 25 Kracauer 1973; Bazin 1975.
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Andere Subjekte kalischen Aufzeichnungsfähigkeit der Fotografie begreifen.26 Die Filmtechnik scheint auf diese Weise eine unverfälschte Abbildung der Realität zu ermöglichen.27 Es wird eine transparente Medialität des Films unterstellt, welche auf mechanisch-technischem Weg buchstäblich automatisch einen authentischen Blick gewährleisten könne. Auch hier bleibt die Rezeption eine theoretisch vernachlässigte, untergeordnete Größe. Zugleich nutzen die Theoretiker Kracauer und Bazin diesen ontologischen Medienbegriff praktisch-politisch für ihre eigene (wissenschaftliche) Rezeptionstätigkeit, indem sie damit ihr Plädoyer für eine ganz bestimmte Filmform (nämlich den filmischen Realismus) als objektive Erkenntnis begründen und legitimieren. Diese essentialistischen, produzenten- und technikzentrierten Medientheorien werden seit den 1960er und 1970er Jahren von (post-)strukturalistischen WissenschaftlerInnen vielfach kritisiert. So wies etwa die feministische Kunstwissenschaft in zahlreichen Studien darauf hin, dass die Vorstellung eines autonom schaffenden Künstler-Genies die sozialen Bedingungen der Produktion ausblendet, welche wesentlich auf dem strukturellen Ausschluss von Frauen basieren. Naturalisiert wird dieser Ausschluss dabei nicht zuletzt durch visuelle Inszenierungen einer ‚natürlichen Weiblichkeit‘, deren passives, bildhaftes ‚Sein‘ die produktive Instanz der männlich konnotierten ‚Meisterschaft‘ kontrastiert und profiliert.28 Eine vergleichbare Kritik im Hinblick auf die filmischen Realismustheorien formulieren die Positionen der bereits im vorigen Kapitel vorgestellten Apparatustheorie. Wie sie hervorheben, ist die filmische Aufnah26 Die lineare Ableitung des Films von der Fotografie wurde verschiedentlich kritisiert. Stephen Heath verweist etwa auf die Bedeutung der sich zeitlich entwickelnden narrativen Räume im Film (Heath 1981b, S. 19-75) und Thomas Elsaesser zeigt, dass der filmische Blick – jenseits einer eindeutigen technikbasierten Herleitung – auch stereoskopische Elemente enthält. Elsaesser, Thomas: „Realität zeigen: Der frühe Film im Zeichen Lumières“, in: Keitz/Hoffmann, Die Einübung des dokumentarischen Blicks, 2001, S. 27-50. Die Forschungen zum frühen Film haben darüber hinaus gezeigt, dass dieser keineswegs auf nüchterne Realitätswiedergabe abzielte, sondern auf Momente des Spektakulären. Vgl. hier insb. Gunning, Tom: „Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde“ [1986], in: Meteor 4 (1996), S. 25-34. 27 Kracauer drückt dies etwa aus, wenn er im Untertitel seiner Theorie des Films (1960) von der „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ spricht. Kracauer 1973. 28 Siehe insb. Wenk, Silke: „Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit“, in: dies./Hoffmann-Curtius, Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, 1997, S. 12-29. Vgl. auch Nochlin, Linda: „Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben?“ [1971] in: Söntgen, Beate (Hg.), Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft in feministischer Perspektive, Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 27-56; Salomon 2005, S. 37-52; Christadler 2005, 253-272, sowie die Beiträge in HoffmannCurtius/Wenk 1997.
Politik und Rezeption metechnik genauso diskursiv bedingt (und somit keineswegs transparent oder neutral) wie auch andere, in den Realismustheorien vernachlässigte, inhaltliche und technisch-stilistische Ebenen des Films (etwa die Montagetechnik oder die Erzählstruktur). Diese Kritik wird prägnant von feministischen Filmtheoretikerinnen formuliert, die das Problem der Realismustheorien am Beispiel der diskursiven Herstellung und Reproduktion von ‚Frau als Bild‘ diskutieren.29 Die ideologiekritischen kunst- und filmwissenschaftlichen Positionen haben mit ihrem Ansatz den Blick für die diskursiven Funktionsbedingungen des Medialen geschärft. Dabei verlassen sie den produktionszentrierten Denkrahmen der essentialistischen Medientheorien und berücksichtigen verstärkt die Bedeutung der Rezeption im Sinn eines allgemein dominanten Bildwissens. Kaja Silvermans Begriff des ‚Blickregimes‘30 beschreibt in diesem Sinn etwa die Art und Weise, wie zu einem bestimmten historischen Moment Dinge gesehen und sichtbar gemacht werden können. Das Insistieren auf der Historizität des Visuellen, d.h. auf der Tatsache, dass sowohl die Produktions- als auch die Rezeptionsebene von Medien immer schon von historisch kontingenten Macht/ Wissen-Formationen durchdrungen ist, hat erheblich zu einem komplexen Medienbegriff beigetragen. Medialität kann nicht mehr ohne diese Erkenntnis gedacht werden. Zugleich impliziert der (post-)strukturalistische Ansatz jedoch auch die Gefahr, dass das Moment der Diskursivität medialer Bedeutung selbst essentialisiert wird. Sobald nämlich davon ausgegangen wird, dass ein dominanter Diskurs umfassend wirkt (etwa das Patriarchat), bedeutet dies, dass Medialität letztlich erneut als zwingende, determinierte Vermittlungsform erscheint.31 Diese Problematik zeigt sich insbesondere im Fall der frühen Apparatustheorien, in denen das ZuschauerInnensubjekt die dominante Ideologie des Hollywoodkinos gänzlich aufzunehmen scheint.32 In Bezug auf die feministische Theorie
29 Siehe dazu den Exkurs zur Apparatustheorie in Kapitel 1.2. 30 Silverman, Kaja: „Dem Blickregime begegnen“, in: Kravagna, Christian (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: ID 1997, S. 41-64. Der Begriff „Blickregime“ ist die dt. Übersetzung von Silvermans Begriff des „gaze“ (Blick). Er verdeutlicht, dass bei Silverman der Blick stets mit den konkreten technischen, formalen und inhaltlichen Elementen des „screen“ (Bildschirm) verknüpft ist. Vgl. auch Silverman 1996, S. 135: „The screen represents the site at which the gaze is defined for a particular society.“ Siehe dazu auch den folgenden Abschnitt. 31 Vgl. dazu auch die Kritik von Laclau/Mouffe am Diskursbegriff von Foucault, der durch die Vorstellung einer „regelmäßigen Verstreuung“ erneut eine essentielle Struktur und scheinbar notwendige soziale Bewegungen einführt. Laclau/Mouffe 2006, S. 142f. 32 Nach Jean-Louis Baudry wird das im Dunklen fixierte Kinopublikum in einen künstlichen Regressionszustand versetzt, in dem es die halluzinatorischen Filmbilder als real
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Andere Subjekte stellt dies insofern ein Problem dar, als durch die radikale Kritik am ‚männlichen Blick‘ weibliche oder feministische Rezeptionspositionen unmöglich zu werden scheinen. Sue Thornham vermerkt diesbezüglich pointiert: „the woman – whether the female spectator or the politically active feminist – seems to have disappeared.“33 Auch Teresa de Lauretis erkennt dieses Problem, verweist jedoch zugleich auf das Paradox, dass es gerade Feministinnen waren, die durch ihre kritischen Lektüren des patriarchalen Kinos auf die Unmöglichkeit weiblicher Positionen verwiesen haben. Dabei wird, wie de Lauretis zeigt, ein Spalt zwischen dem ideologisch hergestellten Bild ‚FRAU‘ und den ‚realen Frauen‘ erkenntlich, der den RezipientInnen ein pragmatisches, widerständiges Handlungsmoment eröffnet.34 Innerhalb historisch kontingenter Zusammenhänge geht es immer auch um das aktive Herstellen von Bedeutung – sowohl im Produktionsbereich als auch im Bereich der Rezeption, die keineswegs in einer vermeintlich darin eingeschriebenen künstlerischen Intention aufgehen muss. Diese relative ‚Bewegungsfreiheit‘ sozialer AkteurInnen hat, wie de Lauretis unterstreicht, die feministische Kritik selbst beispielhaft vorgeführt, indem sie die essentialistischen Grundlagen der patriarchalen Medienpraxis aufdeckte und durchkreuzte. Doch auch diese kritischen Praxen können keineswegs in ein ‚ideales‘ politisches Kunst-Konzept überführt werden, wie dies zum Teil die Definitionsversuche eines kritischen, feministischen Gegenkinos suggerieren. Die Behauptung einer völlig emanzipativen (Medien-)Position mag zwar aus strategischen Gründen nützlich sein35, diese Definitionsversuche stoßen jedoch formal und inhaltlich immer wieder an ihre Grenzen. So etwa, wenn die propagierte forma-
akzeptiert. Dieser passive Abhängigkeitszustand wird dabei durch die zentralperspektivische und kontinuierliche Form des realistischen Films entnannt und durch die Illusion einer idealen, transzendentalen Blickposition ersetzt. Baudry 1980 sowie ders. 1986. Die ZuschauerInnen verwechseln dabei Ideologie mit ‚Realität‘, wobei ihnen ihre eigene Herstellung als Subjekte der bürgerlichen Ideologie entgeht: „the subject feels like the source of meaning when in fact this subject is the effect of meanings.“ Stam, Robert; Burgoyne, Robert; Flitterman-Lewis, Sandy: New Vocabularies in Film Semiotics. Structuralism, post-structuralism and beyond. London: Routledge 1992, S. 145. 33 Thornham, Sue: Passionate Detachements. An Introduction to Feminist Film Theory, New York: St. Martin's Press 1999, S. 44. 34 de Lauretis 1984, S. 15ff, sowie S. 103-157. Vgl. dazu den Exkurs in Kapitel 1.2. 35 Die Bündnisse zwischen feministischen Filmemacherinnen und Kritikerinnen ermöglichen eine wirkungsvolle Position gegenüber dem männlich dominierten Kino. Siehe etwa die Positionen von Johnston 1999, S. 38f; Mulvey 1989, S. 26; de Lauretis 1994, S. 41-63, sowie in Bezug auf ein schwarzes, feministisches Kino auch Hooks, Bell: Black Looks: Popkultur – Medien – Rassismus, Berlin: Orlanda 1994, S. 163-165.
Politik und Rezeption le Brüchigkeit feministischer Filme enge Verbindungen zu den elitären Kodes ‚künstlerischer Medienspezifität‘36 aufweist oder indem die Vorstellung einer ‚idealen‘ feministischen Gemeinschaft innere Differenzen zwischen Frauen verdrängt bzw. ‚ethnisch andere‘ Positionen marginalisiert, wie die women of color gezeigt haben. Bell Hooks gibt etwa zu bedenken: „Die feministische mainstream-Filmkritik berücksichtigt die schwarze Zuschauerin überhaupt nicht. […] Feministische TheoretikerInnen, die nur über Bilder von weißen Frauen schreiben, ordnen dieses spezielle historische Thema der allgemeinen Kategorie ‚Frau‘ zu. Sollen wir wirklich glauben, sie würden die ‚Weißheit‘ des Bildes nicht ‚sehen‘?“37
Eine verabsolutierte Konzeption von Kritik installiert also letztlich erneut Essentialismen, die wesentlich auf der binären und ausschließenden Gegenüberstellung objektiv feststellbarer Ideologie und idealer Emanzipation basieren. Die Medienwissenschaftlerin Tanja Maier diskutiert diese Problematik der poststrukturalistischen Filmtheorie in Relation zum medientheoretischen Ansatz der Cultural Media Studies.38 Dieser Bereich legt den Fokus verstärkt auf die Rezeptionsebene und hebt die Möglichkeit unterschiedlicher Lektüren hervor.39 Eine begründende Position stellt dabei Stuart Halls Text Kodieren/Dekodieren (1973) dar. Anknüpfend an Roland Barthes' Überlegungen zur Polysemie weist Hall darauf hin, dass Texte, insofern sie immer mehrere Bedeutungsebenen enthalten, auch stets unterschiedlich gelesen werden können.40 Dabei unterscheidet er provisorisch zwischen einem ideologisch bevorzugten, einem aus-
36 Zu denken ist hier etwa an Konzepte der ‚medienspezifischen Malerei‘ in den 1950er Jahren, wie sie paradigmatisch durch Clement Greenberg formuliert wurden. Vgl. Greenberg, Clement: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Hamburg: Verlag der Kunst, 2009. 37 Hooks 1994, S. 155f. Vgl. auch Kapitel 1.3. 38 Maier, Tanja: Gender und Fernsehen. Perspektiven einer kritischen Medienwissenschaft, Bielefeld: transcript 2007. Vgl. in diesem Sinn auch Dorer, Johanna: „Diskurs, Medien, Identität. Neue Perspektiven in der feministischen Kommunikations- und Medienwissenschaft“, in: dies./Geiger, Brigitte (Hg.), Feministische Medien- und Kommunikationswissenschaft. Ansätze, Befunde und Perspektiven der aktuellen Entwicklung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 53-78. 39 Dies geschieht zum Teil in vehementer Absetzung von der Apparatustheorie, wie etwa bei Morley, David: „Texts, readers, subjects“ [1980], in: Hall, Stuart/Hobson; Dorothy/Lowe, Andrew (Hg.), Culture, Media and Language, London/New York: Routledge 1992, S. 163-173. 40 Hall, Stuart: „Kodieren/Dekodieren“ [1973], in: Bromley/Göttlich/Winter, Cultural Studies, 1999, S. 92-110.
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Andere Subjekte gehandelten und einem oppositionellen Lektüremodus. Welcher Modus jeweils angewandt wird, basiert dabei für Hall auf der relationalen, sozialen Position der RezipientInnen.41 Diese Erkenntnis der Cultural Studies wurde allerdings von verschiedenen nachfolgenden Theoriepositionen insofern soziologisch vereindeutigt, als nun die ‚sozialen‘ RezipientInnen zum Zentrum medialer Bedeutung gemacht wurden.42 So begreift etwa die empirische Publikumsforschung einzelne KonsumentInnentypen als Grundlage von Medienwirkung, wobei ein immer präziseres ‚Wissen‘ um das Verhalten der RezipientInnen ideale Produkte zu ermöglichen scheint, mit denen – im Umkehrschluss – wiederum das Konsumverhalten der RezipientInnen kontrollierbar zu werden verspricht. Erneut wird dabei ein reibungsloses Sender-Empfänger-Modell des Medialen unterstellt.43 Problematisch erscheinen aber auch John Fiskes Überlegungen, der davon ausgeht, dass populäre Medienformen stets entsprechend den Wünschen und Bedürfnissen der RezipientInnen angeeignet werden können.44 Durch seine binäre Gegenüberstellung von Pop-Kultur und ‚Machtblock‘ gerinnt dieses Denkmodell letztlich zur Vorstellung einer unbedingten Widerständigkeit der KonsumentInnen.45 Dabei ist diese Überbetonung der ‚widerständigen RezipientInnen‘ erneut eine Projektion des Forschenden selbst, der seine eigene Lektüreposition im Begriff eines ‚authentisch Sozialen‘ zu objektivieren versucht.46 Jenseits dieser Überbetonung der ‚sozialen‘ RezipientInnen verweist 41 Eine widerständige Lektüre würde etwa die Arbeiterschicht im Fall von Nachrichten über Lohnkürzungen realisieren. Ebd., 109f. 42 Maier 2007 und Dorer 2002. 43 Zur Kritik daran siehe u.a. Morley, David: „Bemerkungen zur Ethnografie des Fernsehpublikums“, in: Bromley/Göttlich/Winter, Cultural Studies, 1999, S. 281-316, sowie Ang, Ian: „Kultur und Kommunikation. Auf dem Weg zu einer ethnographischen Kritik des Medienkonsums im transnationalen Mediensystem“, in: Bromley/Göttlich/Winter, Cultural Studies, 1999, S. 317-340. Aber auch differenziertere ethnografische Forschungen, für die Morley und Ang plädieren, können sich dem Problem der Determinierung von Bedeutung im Sozialen nicht gänzlich entziehen. 44 Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist Fiskes Rezeptionsanalyse der Medienfigur Madonna: Mithilfe von qualitativen Interviews und Medienberichten zeigt er, dass sie von jugendlichen weiblichen Fans als Bild weiblicher Selbstermächtigung gelesen und genutzt wird. Fiske, John: Lesarten des Populären, Wien: Turia und Kant [1989] 2000, S. 113-131. 45 Fiske 2000, S. 14-25, sowie ders.: „Populäre Texte, Sprache, Alltagskultur“ [1989], in: Hepp, Andreas/Winter, Rainer (Hg.), Kultur – Medien – Macht: Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen: Westdt. Verlag 1997, S. 65-86. 46 Andreas Hepp formuliert in diesem Sinn: „Es scheint, als ob ‚die Leute‘ de facto die Analysepraxis kritischer Lektüre repräsentieren, wodurch sie nicht nur sowohl als pro-
Politik und Rezeption der Ansatz der Cultural Studies jedoch zu Recht auf die konstitutive Funktion der Rezeptionsebene im medialen Bedeutungsprozess sowie auf ihre potentielle Pluralität. Das Moment der Flexibilität und Pluralität der Rezeption stellt auch Roger Odin in seiner semio-pragmatischen Filmtheorie systematisch in den Vordergrund.47 Odin geht davon aus, dass Medienbedeutung niemals für sich existiert, sondern sowohl auf Seiten der Produktion als auch auf Seiten der Rezeption pragmatisch hergestellt werden muss. Dabei denkt er diese Handlungsinstanzen48 unter den Bedingungen eines diskursiv verfügbaren Blickregimes. Für die Rezeptionsebene (auf die sich Odin in seinen Ausführungen konzentriert) bedeutet dies, dass sie – unabhängig von etwaigen Intentionen der Produktion – verschiedene, zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Kontext mögliche „meaning investments“ an einen Film herantragen kann.49 Die jeweiligen diskursiven und materiellen Grundlagen – zu denen neben einem allgemeinen Bildwissen auch bestehende Genrekonventionen und institutionelle Gepflogenheiten sowie die Filmform und der Filminhalt gehören50 – machen dabei bestimmte Lektüreansätze wahrscheinlicher als andere und schließen einige auch gänzlich aus.51 Allerdings können diese formalen und institutionellen Voraussetzungen die tatsächliche Lektüreaktivität nicht von vornherein bestimmen und festlegen. Innerhalb eines gegebenen Rahmens bleibt es, wie Odin unterstreicht, letztlich in der Verantwortung der Lektüreinstanzen, wie sie sich in dem durch ein Medium eröffneten Diskursgeflecht bewegen. Odins Darstellung verabschiedet die Vorstellung ‚richtiger‘ (affirmativer oder kritischer) Lektüren und öffnet stattdessen einen praktischen Möglich-
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jizierter Informant kulturwissenschaftlicher Forschung erscheinen, sondern ebenso als ein textuell generiertes, allegorisches Sinnbild der eigenen Aktivität des Forschenden.“ Hepp, Andreas: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung, Wiesbaden: VS 1999, S. 144. Herv. i. Orig. Odin, Roger: „For a Semio-Pragmatics of Film“ [1983], in: Miller, Toby/Stam, Robert (Hg.), Film and Theory: An Anthology, Malden/Oxford: Blackwell 2000, S. 54-66; ders.: „Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre“ [1984], in: Hohenberger, Bilder des Wirklichen, 1998, S. 286-303. Odin spricht bewusst von „directing-“ und „reading-actants“, um vorschnelle Verknüpfungen mit apriorischen Subjekten zu vermeiden. Odin 2000, S. 54f. Ebd., S. 55. Ebd., S. 59ff. Insofern Elemente im Film die Lektüre beeinflussen, spricht Odin von binnenfilmischen Faktoren. Odin 1998, 292. Zur Kommunikationsfunktion des Genrebegriffs vgl. auch Casetti, Francesco: „Filmgenres, Verständigung und kommunikativer Vertrag“, in: montage av 10/2 (2001), S. 155-173. Odin 2000, S. 54.
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Andere Subjekte keitsraum der Rezeption, der im Sinn Laclaus/Mouffes als ‚politisch‘ gedacht werden kann. Darüber hinaus berücksichtigt Odins Konzept kontingenter ‚meaning investments‘ auch systematisch die Mehrdimensionalität und Fragmentiertheit von Lektüren. Eine Lektüre kann verschiedene Aspekte betonen, andere vernachlässigen oder ausklammern, sich während des Rezeptionsprozesses (oder im Nachhinein) verändern und dabei die häufig als zwingend vorgestellte Erzählchronologie des Films verlassen.52 Der semio-pragmatische Ansatz zeigt damit, dass nicht mehr von gänzlich geschlossenen, in sich kohärenten Lektüren ausgegangen werden muss, sondern dass sich diese durch eine innere Komplexität und Widersprüchlichkeit auszeichnen. In diesem Sinn unterstreicht Odin, dass „die […] Lektüre nichts daran [hindert], auf diskontinuierliche Weise – bald auf der einen Ebene, bald auf einer anderen; bald auf fortgesetzte Weise, bald auf äußerst punktuelle Weise – zu funktionieren“.53
Odin führt damit einen differenzierten, anti-essentialistischen Medien- und Rezeptionsbegriff ein. Kritisch anzumerken bleibt allerdings, dass in den Formulierungen Odins die Lektüreentscheidungen der Rezeptionsseite häufig weitgehend beliebig erscheinen. Obwohl er die diskursive Bedingtheit der ‚meaning investments‘ explizit betont, entsteht an mehreren Stellen (so auch im obigen Zitat) der Eindruck, als könne die Art und Weise, wie Filme gelesen werden, völlig frei bestimmt werden. Dieser Eindruck scheint wesentlich darin begründet zu sein, dass Odins abstrakte, systematische Darstellung der Semio-Pragmatik das Moment der stets konkret wirksamen Macht ausklammert, das in Laclau/ Mouffes Konzeption des Politischen unauflöslich ist.54 Trotz seines Fokus auf die Rezeptionsseite, werden Medien bei ihm ohne ein hegemonietheoretisch differenziertes, soziales Lektüresubjekt konzipiert, weshalb er es auch letztlich unterlässt, die Möglichkeit politischer Lektüren mitzudenken.
52 Odin vermerkt: „Predictably, the spectator is prone to deviant constructions, which do not even respect the disposition and the order of the marks imprinted on the film. He has every reason to infringe the rules.“ Odin 2000, S. 55. Ein Beispiel für eine nicht-chronologische Lektüre findet sich in der dritten Lektüre des Videos operculum in Kapitel 6.3. Hier löst ein Element im Schlussteil rückwirkend einen gänzlich anderen Blick auf die vorhergegangenen Teile aus. 53 Odin 1998, S. 293f. Herv. A.B. 54 Dies scheint nicht zuletzt daran zu liegen, dass Odin der klassischen Filminstitution, in die er die differenzierte Konzeption der Lektüren einführt, weiterhin verhaftet bleibt.
Politik und Rezeption Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, Odins Ansatz mit den Positionen der feministischen Filmtheorie und der Cultural Studies zu konfrontieren, die sich ihrerseits wechselseitig kommentieren und ergänzen.55 So macht etwa der soziologisch ausgerichtete Ansatz der Cultural Studies deutlich, dass die abstrakt formulierte Systematik Odins stets in Bezug auf konkrete soziale Zusammenhänge zu denken ist, in welchen Medien erscheinen.56 Insbesondere Halls Konzeption der bevorzugten, ausgehandelten und oppositionellen Lektüremodi unterstreicht dabei das Moment des hegemonialen Antagonismus zwischen der Produktions- und Rezeptionsebene. Dies darf jedoch nicht im Sinn geschlossener sozialer Subjektpositionen gedacht werden, sondern in seiner ‚subjekt-konstitutiven‘ Qualität. Diese Einsicht kann, wie Tanja Maier gezeigt hat, wesentlich von der poststrukturalistischen feministischen Theorie übernommen werden, die eindringlich auf die diskursive Performanz von Geschlecht hingewiesen hat.57 Die feministische Filmtheorie stellt aber auch in pragmatisch-performativer Hinsicht eine wichtige Ergänzung zur Semio-Pragmatik dar: So weist ihre kritische Analysepraxis darauf hin, dass die Theorie innerhalb des Medienbereichs auch selbst unabdingbar praktisch-politisch agiert und daher selbst als politische Lektüre begriffen werden muss. Damit konterkariert sie neutrale, distanzierte Rezeptionstheorien und zeigt, dass deren Beobachtungen und Systematisierungen als Teil des Sozialen die Bedeutungsprozesse unweigerlich mitgestalten. Das Beobachtete kann nur in einem heuristischen Sinn vorläufig objektiviert werden, während mit der Beobachtung auch selbst politisch Stellung bezogen wird. Damit verweist die Praxis der feministischen Filmtheorie auf die gesellschaftspolitische Verantwortlichkeit des Lesens von Medien. Dass dabei die eigene ‚Politik‘ immer limitiert bleibt und eine mögliche, kontingente Position neben anderen darstellt, kann mit den Cultural Studies eingewendet werden.58 Der Ansatz der Semio-Pragmatik fügt an dieser Stelle hinzu, dass dies nicht nur Einwände ‚von Außen‘ impliziert, sondern die politischen Lektüren auch in sich selbst brüchig und widersprüchlich sind. Auf einer praktischen
55 Dies zeigen etwa Maier 2007 und Dorer 2002. 56 Dabei kann, wie de Lauretis gezeigt hat, auch die feministische Filmtheorie als ein solcher Hinweis im praktischen Sinn gelten. 57 Maier 2007, S. 50-55. Maier argumentiert dabei wesentlich mit Judith Butlers Überlegungen zur verknüpften Konstruiertheit der Kategorien Gender und Sex. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Anhand der Lacan'schen Psychoanalyse wird diesem Moment im nächsten Abschnitt weiter nachgegangen. 58 Wie gezeigt wurde, gilt dies auch für die scheinbar objektiven Beobachtungen sozialer Rezeptionsprozesse der Cultural Studies.
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Andere Subjekte Ebene legen genau dies auch die verschiedenen kontroversen Positionen und Ansätze innerhalb des Feminismus nahe.59 Im Zusammendenken feministischer, soziologischer und semio-pragmatischer Medientheorien zeichnet sich somit ein mögliches Konzept einer antiessentialistischen, kritischen Medienanalyse im Sinn der Hegemonietheorie ab. Eine solche Analyse ist sich sowohl der Verantwortlichkeit ihrer Lektüren im Kontext konkreter gesellschaftlicher Machtverhältnisse bewusst wie auch ihrer eigenen hegemonialen Position, die begrenzt und brüchig bleiben muss.
Zoom in die Perspektive des Subjekts: Der Lacan'sche Blick Um dieses anti-essentialistische, politische Lektürekonzept aus der Perspektive des Subjekts verstehen zu können, wird im Folgenden ein Blick auf den Theoriebereich der Lacan'schen Psychoanalyse geworfen. Auf diesen Ansatz beziehen sich neben anderen AutorInnen auch Laclau/Mouffe mit ihrer zuvor dargelegten Hegemonietheorie.60 Für den Medienbereich ist insbesondere Jacques Lacans Konzept des Blicks als Objekt klein a interessant, das er in seinem Seminar über Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1964) vorstellt.61 Im folgenden Abschnitt wird dieses Konzept zunächst skizziert, bevor es im Anschluss in Bezug auf politische Lektüreformen weitergedacht wird. 59 Siehe dazu etwa Whelehan, Imelda: Modern Feminist Thought. From the Second Wave to ‚Post-Feminism‘, New York: NYU Press 1996. Vgl. auch die Diskussion des postkolonialen Feminismus in Kapitel 1.3. 60 Laclau/Mouffe übernehmen dabei jedoch nicht die Fokussierung der Psychoanalyse auf das Subjekt, d.h., sie denken die Relationen des Subjekts zu seiner Umwelt nicht aus der Innenperspektive. In seinem Aufsatz Jenseits der Diskursanalyse (1998) kritisiert dies Slavoj Žižek, wenn er schreibt, dass Laclau/Mouffe zu rasch eine „den ‚Post-Strukturalismus‘ charakterisier[ende …] Perspektive der Annahme verschiedener ‚Subjektpositionen‘“ (124) eingenommen hätten. Ihr Ansatz laufe daher Gefahr, „das antagonistische Verhältnis auf gewisse Weise symmetrisch [zu denken, wobei] jede Position […] nur ihr negatives Verhältnis zur anderen [wäre] (der Herr hindert den Knecht daran, seine volle Selbstidentität zu erreichen und vice versa)“. (127f.) Demgegenüber fordert Žižek, den Antagonismus aus der Perspektive des Subjekts zu denken, d.h. als letzte ‚pure‘ Unmöglichkeit der Erfüllung seines Begehrens, in Relation zur Umwelt eine geschlossene Position einzunehmen. Žižek, Slavoj: „Jenseits der Diskursanalyse“, in: Marchart, Das Undarstellbare der Politik, 1998, S. 123-131. Anzumerken ist hier, dass eine solche Kritik das Moment der Überdeterminierung in der gesellschaftstheoretischen Perspektive der Hegemonietheorie verkennt, durch welche einfache, symmetrische Relationen letztlich unmöglich sind. In diesem Sinn konstruiert Žižeks zugespitzte Interpretation selbst die von ihm kritisierte Verkürzung mit.
Politik und Rezeption Wie in anderen kritischen Theorien existiert auch in der Lacan'schen Psychoanalyse das Subjekt nicht als apriorische Instanz der bewussten Erkenntnis. Stattdessen begreift es Lacan als eine Instanz des Werdens, die vom Begehren getrieben ist, in eine privilegierte Lage des Verstehens und der Kontrolle gegenüber der Umwelt zu gelangen. Kurz: das Subjekt versucht beständig, sich als Ich zu konstituieren. Allerdings finden diese Konstituierungsversuche in einem Raum statt, der sich der bewussten Kontrolle des Subjekts entzieht und bedrohlich auf es einwirkt. Um diesem Realen zu entgehen, setzt das Subjekt unbewusst psychische Mechanismen in Kraft, die es ihm erlauben, sich dennoch als machtvolle Instanz zu imaginieren und als solche zu handeln.62 Ein zentrales Hilfskonstrukt sind dabei die von Lacan so bezeichneten Objekte klein a – Ersatzkonstruktionen, die das Subjekt erschafft, um durch ihre imaginäre Aneignung ein Stück Selbst-Gewissheit zu erlangen.63 Eine letzte Sicherheit können jedoch auch sie nicht bieten – nicht zuletzt deshalb, weil die Konstruktionen selbst das Resultat der im Unbewussten regierenden, nicht-kontrollierbaren Umwelt sind. Im Feld des Sehens ist der Blick ein solches Objekt klein a: Das Subjekt ist von der sichtbaren Welt abhängig, ohne sein eigenes Sehen beherrschen zu können. Der Blick ist folglich etwas, in dem das Unbewusste regiert („es zeigt“64) und das vom Subjekt als Unvermögen/Blindheit erfahren wird.65 Als Konsequenz entsteht ein Begehren nach dem Sehen und das Subjekt versucht, den Blick als Objekt klein a anzueignen. Um zu verstehen, wie dieser Prozess der begehrten Aneignung des Blicks verläuft, entwirft Lacan zwei Skizzen, welche die Strukturen des Sehfelds des begehrenden Subjekts anschaulich machen. In der ersten Skizze (Abb. 1) sind zwei spiegelverkehrte Dreiecke zu sehen, die jeweils von einer vertikalen Linie durchkreuzt werden. In der zweiten Skizze (Abb. 2) legt Lacan die beiden Dreiecke übereinander, wodurch sich eine symmetrische, zweiflügelige Figur ergibt.
61 Lacan 1996, S. 71-126. MedientheoretikerInnen, die sich mit diesem Konzept intensiv auseinandergesetzt haben, sind u.a. Kaja Silverman, Joan Copjec und Susanne Lummerding. Dazu ausführlicher weiter unten im Textverlauf. 62 Lacan schreibt: „Das Reale wäre hier das, was stets an der selben Stelle wiederkehrt – an der Stelle, wo das Subjekt als denkendes oder die res cogitans ihm nicht begegnet.“ Ebd., S. 56. 63 Ein bekanntes Beispiel ist etwa das Fort-da-Spiel des Kleinkindes, mit dem das Fortgehen der Mutter wiederholt und imaginär angeeignet wird. Ebd., S. 68f. 64 Ebd., S. 81. 65 Lacan greift in diesem Zusammenhang auch auf den Begriff Skotom (med. Blindheitssymptom) zurück. Ebd., S. 89.
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Andere Subjekte
Objekt
Lichtpunkt
Bild / image
Geometralpunkt
Schirm
Tableau
Abb. 1: Skizze nach Jacques Lacan, Der Blick als Objekt klein a, 1964.
Das obere Dreieck der ersten Skizze repräsentiert das zentralperspektivische Modell: Das Subjekt imaginiert sich hier als Geometralpunkt an der Spitze des Dreiecks, der sich ein Objekt visuell aneignen kann. Allerdings erfolgt dies stets vermittelt durch das vertikale Element des Bildes, das für die zentralperspektivische Vorstellung eines ‚richtigen‘ Sehens steht. Aufgrund seiner Materialität stellt das Element des Bildes jedoch auch einen Störfaktor für das ‚Subjekt des Sehens‘ dar, wodurch (unbewusst) Zweifel an der ‚Echtheit‘ des Objekts aufkommen. Die Gewissheit des eigenen Sehens wird erschüttert. In ihrer Diskussion dieser Grafik unterstreicht auch Kaja Silverman: „He or she can only see the object in the guise of the ‚image‘, and can consequently lay claim to none of the epistemological authority implicit in the perspectival model.“66 Dieser epistemologische Zweifel richtet das Begehren auf das unfassbare Blickobjekt selbst, das nun von sich aus bestätigen soll, dass man ‚wirklich‘ sieht. Diese Ebene beschreibt das umgedrehte, untere Dreieck der ersten Skizze. Hier geht die Spitze des Dreiecks von einem externen Lichtpunkt (einem Anderen) aus, der ein Tableau (d.h. ein für das Subjekt vermeintlich überschaubares Ensemble) projiziert. Damit veranschaulicht Lacan das Begehren des Subjekts, von einem Anderen in ein geordnetes Sichtbarkeitssystem eingebunden zu werden.67 Dieses Sichtbarkeitssystem wird bevorzugt als eines imaginiert, in dem das Subjekt selbst die Blickmacht innehat. Lacan zeigt dies in der zweiten Skizze (Abb. 2), indem er die beiden Dreiecke der ersten Skizze übereinanderschiebt,
66 Silverman 1996, S. 132. 67 Als Beispiel führt Lacan das Blinken einer Sardinenbüchse an, das ihn selbst bei einem verunsichernden Ausflug mit Fischern wie ein bestätigender Blick von Außen traf. Ebd., S. 101f.
Politik und Rezeption wodurch der Geometralpunkt genau im Tableau und der Lichtpunkt im Objekt zu liegen kommt. Veranschaulicht wird damit der Wunsch des sogenannten Subjekts der Vorstellung, dass das eigene zentralperspektivische Sehen von einem zurückgeworfenen Blick gesehen und bestätigt wird. Genau diese Wunschvorstellung, zu sehen und gleichzeitig dabei gesehen und bestätigt zu werden, ist der Blick als Objekt klein a.68
Blick
Bild / image Schirm
Subjekt der Vorstellung
Abb. 2: Skizze nach Jacques Lacan, Der Blick als Objekt klein a, 1964.
Tatsächlich verläuft das Zusammentreffen der beiden Ebenen jedoch viel weniger glücklich als in dieser Wunschvorstellung. Dabei ist im unteren Dreieck der ersten Skizze (Abb. 1) zu berücksichtigen, dass sich hier ebenfalls eine vertikale Linie – der Schirm – dazwischenschiebt, der den imaginierten Lichtkegel, d.h. den Gegen-Blick des Anderen, unterbricht. Dies bedeutet, dass die Projektion des Blicks auf ein Gegenüber ebenfalls keine letzte Selbst-Gewissheit bringt. Vielmehr verunmöglicht gerade die Abhängigkeit vom Anderen die Illusion autonomer Subjektivität und schreibt einen radikalen Spalt in das Subjekt ein. Der Schirm verweist damit auf die unbewussten Mechanismen, die das Begehren im Anderen verorten und als Widerstände des Ichs erfahren werden. Wie ein buchstäblicher Schirm steht sich das begehrende Subjekt selbst im Weg. Es kann sich letztlich nie erfolgreich als Subjekt in einem Tableau einrichten, denn genau jene Auslassung, jener Schatten-Fleck, den es als Schirm selbst produziert69, verhindert, dass der zurückgeworfene Blick des Anderen als befriedigend erfahren wird. Joan Copjec unterstreicht in diesem Sinn: „Wenn Sie dem Blick des Anderen begegnen, treffen Sie nicht auf ein sehendes, sondern auf ein blindes Auge.“70 Dieser Widerstand des Schirms überlagert sich in der 68 Lacan verdichtet dies auch im Vorstellungsbild „Ich sah mich mich sehen“ (Ebd., S. 86), wobei hier die komplette Aneignung des Blicks durch ein transzendentales Subjekt (‚ich sehe mich‘) nur um die Bedingung gelingt (bzw. misslingt), dass sich das Subjekt selbst als gespalten, d.h. als ‚schwindendes‘ Anderes, erfährt. 69 Vgl. auch Lacan 1996, S. 103: „Und sollte ich etwas sein in diesem Bild/tableau, dann auch in der Form dieses Schirms, den ich eben ‚Fleck‘ nannte.“ 70 Copjec 2004, S. 49.
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Andere Subjekte zweiten Skizze nun mit jenem des Bildes und formiert den Bild-Schirm (Abb. 2). Lacan zeigt damit an, dass das Subjekt der Vorstellung im Feld der Sichtbarkeit grundlegend vom Blick getrennt ist. Eine letzte Gewissheit sowohl über das eigene Sehen als auch über das Gesehenwerden durch einen Anderen muss letztlich ausbleiben.71 Genau dieser Mangel ist nun aber die konstitutive Grundlage des Subjektbegriffs der Psychoanalyse und impliziert eine durchaus produktive Komponente. Denn durch das Fehlen einer von vornherein gegebenen, umfassenden Blickmächtigkeit ist das Subjekt dazu verpflichtet, den Blick als Objekt klein a stets neu bzw. erneut zu imaginieren und zu konstruieren. Wie Silverman richtig feststellt, erfolgt dies wesentlich unter den Bedingungen eines kontingent gegebenen Blickregimes, also im Möglichkeitsraum dessen, was gesehen und gedacht werden kann.72 Allerdings darf dies – wie im vorigen Abschnitt dargelegt – nicht als eine anonyme, umfassende Diskursmacht interpretiert werden, innerhalb derer die Handlungsoptionen für das Subjekt streng vorgegeben sind.73 Stattdessen ist es – genau umgekehrt – das notwendige Verfehlen des begehrenden Subjekts in der Diskursmacht, welches die Handlungsebene für den Raum der Diskursivität konstitutiv macht. Dieses Handlungsmoment ist jedoch grundsätzlich jenseits der bewussten Kontrolle des Subjekts zu denken, als eine relationale Bewegung, die über unbewusste psychische Mechanismen des Begehrens verläuft und das Subjekt auf ‚ex-zentrische‘ Weise über es selbst hinausbringt. Bezugnehmend auf die Hegemonietheorie und die Lacan'sche Psychoanalyse betont in diesem Sinn auch Susanne Lummerding, dass das Reale – d.h. das Verfehlen sowohl der absoluten Kontrolle als auch der gänzlichen Anpassung durch das Subjekt – die Möglichkeitsbedingung des Politischen ist.74 Es sind die vom Verfehlen und Begehren getriebenen relationalen Handlungsbewegungen des Subjekts, die das pragmatisch gewordene Blickregime immer wieder erneuern und verändern. Diese Überlegung kann auch in Lacans Skizze zum Blick anschaulich gemacht werden. Wie die symmetrisch übereinandergelegten Dreiecke zeigen, befindet sich das Subjekt in seiner begehrenden Suche nach einer Gewissheit des Blicks in ständiger Bewegung zwischen imaginiertem Anderen und begehrtem Selbst. Dabei trifft es auf kontingent gegebene mediale Konstellationen, welche in der unten gezeigten Skizze (Abb. 3) durch die fett markierte Rau71 Ebd. 72 Silverman 1996, S. 135. 73 Wie Susanne Lummerding kritisiert, impliziert dies Silvermans Begriff des Blickregimes (‚screen‘), der bei ihr die Lacan'schen Elemente Bild, Schirm und Bild-Schirm in eins fallen lässt. Lummerding 2005, S. 259. 74 Ebd., S. 264.
Politik und Rezeption te symbolisiert werden. Lacan selbst bezeichnet diese Ebene mit dem Begriff der „Blickzähmung“75, die das Subjekt auf verfügbare Wahrnehmungsbahnen bringt. Diese können etwa als Technikdiskurse, Erzählebenen, Symbolcluster etc. vorgestellt werden. Allerdings wird das einfache Muster dieser Wahrnehmungsbahnen vom Bild-Schirm durchbrochen, der ihnen, wie Lacan formuliert, die „Ambiguität eines Juwels“76 verleiht. Die Blick-Bahnen ‚schillern‘ auf trügerische Weise und provozieren dabei den zuvor erwähnten Zweifel und ein daran geknüpftes Begehren. In ihren Brechungen werfen diese Bahnen verschiedene Reflektionspunkte auf das Subjekt und die imaginierte Blick-Position des Anderen zurück, die dabei potentiell verschoben werden und an neuen Stellen als Trugbilder auftauchen. In Abb. 3 wird diese Beweglichkeit durch die gestrichelten Linien angezeigt. Der Bild-Schirm wird hier in seiner produktiven, verändernden Qualität ersichtlich, die jede Auseinandersetzung des Subjekts mit der Umwelt strukturiert.
Blick
Bild / image Schirm
Subjekt der Vorstellung
Abb. 3: Skizze nach Jacques Lacan, Der Blick als Objekt klein a, 1964; mit zusätzlichen Linienelementen der Verfasserin.
Zu beachten bleibt in diesem Zusammenhang jedoch, dass diese Bewegungen nicht beliebig sind, sondern das begehrende Subjekt unentwegt versucht, einen bestimmten Punkt zu fixieren: den letztlich unmöglichen Punkt des sehenden und wissenden Ichs. Wie Lacan betont, kreist sein Bemühen immer wieder um dieses Ideal.77 Dabei kommt erneut die Dimension der Macht ins Spiel. Bedeutung wird durch ein begehrendes, hegemoniales Subjekt in Stand gesetzt, das sich im Bezug auf ein Anderes (bzw. verschiedene Andere) als kohärente, machtvolle Instanz zu konstituieren versucht. Dieses Moment der 75 Lacan 1996, S. 118. 76 Ebd., S. 103. 77 Ebd., S. 51: „[…] um zu wissen, daß man da ist gibt es nur eine einzige Methode: das Netz auszumachen. Wie aber ein Netz ausmachen? Indem man wiederkehrt, zurückkehrt, seinen Weg kreuzt, in dem es immer zu derselben Überschneidung kommt, es gibt keine andere Bestätigung für seine Gewissheit.“
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Andere Subjekte Selbst-Behauptung kann im Bereich der Medienrezeption etwa die Vorstellung intentionaler Kunstproduktion sein, die (wie weiter oben gezeigt wurde) von einer biografisch orientierten Kunstgeschichte ‚richtig‘ entschlüsselt wird, oder aber die Vorstellung einer authentischen Darstellung des Dokumentarischen, durch die auf transparente Weise die ‚Realität‘ eines Objekts erkennbar zu werden verspricht. Im Fall der Repräsentationen von Subalternen in der dokumentarischen Gegenwartskunst betrifft dies nicht zuletzt auch die Vorstellung einer möglichen Subjektivität der ‚Anderen‘, die durch bestimmte Kunstformen erreichbar erscheint. Lacans Ansatz zeigt jedoch, dass sich den RezipientInnen diese begehrten Bedeutungen unumgänglich entziehen. Auch die vermeintlich gleichberechtigte Subjektivität der repräsentierten ‚Anderen‘ ist tatsächlich nicht medial gegeben, sondern wird umgekehrt gerade durch ihre mediale Vermitteltheit konsequent verfehlt. Als Repräsentierte durchkreuzen und begrenzen die ‚Anderen‘ das Begehren nach ihrer Subjektivität und wirken gerade dadurch antagonistisch in Bezug auf die begehrenden RezipientInnen. Damit kann vielleicht doch von einer Subjektivität der ‚Anderen‘ gesprochen werden: von einer indirekten Subjektivität, die sich im Begehrensraums des Subjecting auf negativ-rückwirkende Weise – als Mangel – für die Subjekte des Begehrens entfaltet.78 Es handelt sich also um eine grundlegend psychische Operation, die sowohl die Produktions- als auch die Rezeptionsseite betrifft, dabei aber weder geplant noch formal festgelegt werden kann. Versuchen der Positivierung wird sich die negativ-antagonistische Subjektivität der ‚Anderen‘ konsequent entziehen. Sie erscheint ausschließlich in den brüchigen Beziehungen zwischen den am Bedeutungsprozess beteiligten Knotenpunkten des Medialen. Genau in diesem antagonistischen Dazwischen79 kann letztlich auch das politische Potential von Repräsentationen gedacht werden, wobei aus Perspektive der Hegemonietheorie festzuhalten bleibt, dass dieses Politische stets durch konkrete, begehrende Subjekte als vorläufige Politik praktiziert werden muss.
78 Das Moment der Negativität im Antagonismus betont auch Žižek, der dafür den Begriff des ‚puren Antagonismus‘ prägt: „[…] worum es sich dreht ist die Tatsache, daß die Negativität des Anderen, der mich am Erreichen meiner vollen Selbstidentität hindert, nur die Externalisierung meiner eigenen Auto-Negativität ist, meiner Selbstbehinderung.“ Žižek 1998, S. 127. Vgl. auch Anm. 59. 79 Zum Begriff des ,Dazwischen‘ im Bereich des Medialen vgl. auch Tholen 2002, S. 169.
Politik und Rezeption
Hegemoniales Dreieck im Dokumentarischen – ein Lektüremodell Diese Überlegungen verweisen darauf, dass die Schwierigkeiten des Politischen im Feld der dokumentarischen Gegenwartskunst nicht theoretisch-objektiv gelöst werden können, sondern es nötig ist, sich ihnen in praktischen Analysen offensiv zu stellen. Diesem Imperativ zur Praxis kommt die Studie im zweiten Teil der Publikation anhand von Analysen dreier ausgewählter Video- bzw. Filmarbeiten nach. Um diesen praktischen Analysen einen gedanklichen Orientierungsrahmen zu geben, wird zuvor allerdings noch ein speziell auf dokumentarische Alteritätsdarstellungen zugeschnittenes theoretisches Lektüremodell skizziert (Abb. 4). Dieses Modell basiert auf der heuristischen Annahme, dass im Umgang mit dokumentarischen Medien (M) im Wesentlichen drei hegemoniale Knotenpunkte zusammentreffen: die BetrachterInnen (B), die ProduzentInnen (P) und die Repräsentierten (R). P
B
M
R
Abb. 4: Skizze der Dreiecksstruktur des Dokumentarischen.
Eine ähnliche Grundstruktur des Dokumentarischen entwirft auch der Filmtheoretiker Bill Nichols, wenn er von einem „triangle of communication“80 spricht bzw. von einer „three-fold interaction among (1) filmmaker, (2) subjects or social actors, and (3) audience or viewers“81. Diese Dreiecksstruktur muss vor dem Hintergrund der oben ausgeführten medien- und politiktheoretischen Überlegungen allerdings nach ihren hegemonialen und medialen Bedingungen befragt werden. So sind die drei Instanzen des Dokumentarischen weder autonom noch von vornherein gegeben, sondern erscheinen im Sinn Laclaus/Mouffes als verdichtete Knotenpunkte, die auf jeweils spezifische Art und Weise diskursiv eingebettet sind und durch das
80 Nichols 2001, S. 61. 81 Ebd., S. 13.
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Andere Subjekte dokumentarische Medium (M), auf das sie sich unter historisch kontingenten Produktions- und Rezeptionsbedingungen beziehen, zusammengebracht werden. Dass das Beziehungsdreieck des Dokumentarischen grundlegend diskursiv und durch ein Medium vermittelt und gefiltert ist, muss im Kontext des Dokumentarischen besonders unterstrichen werden. Denn die Realismus- und Authentizitätsrhetorik dieses ‚Genres‘ tendiert dazu, die mediale Instanz der repräsentierten AkteurInnen als unmittelbar ‚präsente‘ Subjekte zu denken. Aus Perspektive der Hegemonietheorie kann darüber hinaus dezidiert nicht von einem friedlichen Beziehungsgeflecht der drei dokumentarischen Instanzen ausgegangen werden, sondern von antagonistischen Machtbeziehungen, die sich in der Logik der Äquivalenz und Differenz wechselseitig durchdringen. Jeder Knotenpunkt des Dreiecks stellt durch seine hegemonialen Artikulationen eine Form der Gleichheit und/oder Differenz zu den anderen beiden Knotenpunkten her, die im Sinn der Psychoanalyse im Idealbild eines hegemonialen Ichs kulminieren soll. Dabei wird dieses Idealbild stets von den anderen Knotenpunkten bzw. dem problematischen ‚Selbst-im-Anderen‘ durchkreuzt. Das verbindende Medium (M) enthält hier zugleich auch den Lacan'schen Bild-Schirm, der das Moment des Verfehlens zwischen den medialen Instanzen beschreibt: Im hegemonialen Dreieck des Dokumentarischen findet sich stets ein Element, das in ein vorläufig etabliertes Machtgefüge der dokumentarischen Instanzen interveniert. So kann etwa die künstlerisch-subjektive Produktionsinstanz das dokumentarische Ideal unmittelbar präsent erscheinender Subalterner irritieren, während umgekehrt der Eindruck einer autonomen Subjektivität der ‚Anderen‘ das Idealbild präzise kalkulierter künstlerischer Reflexivität unterbrechen kann. Wie diese hegemonialen Bewegungen zwischen den dokumentarischen Instanzen beschaffen sind, kann nicht allgemein theoretisch geklärt werden, sondern nur innerhalb von Analysen konkreter Repräsentationen. Auch das hegemoniale Dreiecksmodell ist dementsprechend nicht als ein neues, wissenschaftlich-objektives Analyseschema zu verstehen. Vielmehr muss die Analyse – als eine besondere Form der Rezeption – selbst aktiv in die Dreiecksstruktur eintreten. Aus der Perspektive der Rezeption muss sie sich ihrem eigenen Begehren nach den ‚anderen Subjekten‘ stellen und in konkreten Lektüren die relationalen Machtkonstellationen des Dreiecks selbst gleichsam praktisch zur Aufführung bringen. In dieser vehement involvierten, politisch begehrenden Lektürepraxis stellt das Modell des dokumentarischen Dreiecks eine Art Abstandhalter dar, mit dem eine kritische Distanz zum eigenen Lektürevorgehen erzeugt werden kann.82 Das Modell schärft dabei den Blick für die aktiv durch
82 Bal 2007, S. 4f.
Politik und Rezeption die Analyse mitgestalteten Machtkonstellationen und verhindert auf diese Weise, dass die Lektüren in der einen oder anderen Weise gänzlich geschlossen werden. Mithilfe des Orientierungsrahmens des Dreiecks werden stattdessen in der intensiven Auseinandersetzung mit den Repräsentationen (close readings) verschiedene Lektüreweisen erprobt, die vorläufige und durchaus widersprüchliche politische Bedeutungen herausarbeiten und sich dabei wechselseitig in ihre Grenzen weisen. Das Modell des hegemonialen Dreiecks entspricht damit dem weiter oben erwähnten Konzept der radikalen Demokratie von Laclau/Mouffe, welches darauf basiert, die Brüchigkeit politischer Artikulationen sichtbar und somit verhandelbar zu machen.83 Die begehrte/unmögliche Subjektivität der repräsentierten ‚Anderen‘ nimmt in diesen mehrstufigen Analysen jene zentrale Funktion ein, die ihnen letztlich die oben beschriebene indirekte Subjekt-Qualität verleiht. Dies erkennt auch Mieke Bal, die in ihren Überlegungen zur Kulturanalyse vermerkt: „Even though, obviously, objects cannot speak, they can be treated with enough respect for their irreducible complexity and unyielding muteness – but not mystery – to allow them to check the thrust of an interpretation, and to divert and complicate it. […] Thus, the objects we analyse enrich both interpretation and theory. This is how theory can change from a rigid master discourse into a live cultural object in its own right. This is how we can learn from the objects that constitute our area of study. And this is why we can as well consider them as subjects.“84
Auch wenn Bals Darstellung das Verhältnis von AnalytikerIn und Analysegegenstand sicherlich zu stark harmonisiert, erfasst sie doch sehr präzise den Umstand, dass im Prozess der Analyse die Positionen von AnalytikerIn und Analyseobjekt/-subjekt stets neu zur Disposition stehen. Mit diesen Überlegungen zum hegemonialen Dreieck als Orientierungs- und Gedankenstütze werden in den folgenden praktischen Videolektüren die relationalen Positionen von BetrachterInnen, Repräsentierten und ProduzentInnen analysiert und kritisch diskutiert. Dies geschieht nicht nur, um ein differenziertes Bild der jeweiligen Repräsentationen zu erhalten, sondern auch um die eigene ambivalente politische Position in Relation zu den dokumentarischen ‚Anderen‘ zu verstehen – und praktisch zu verschieben.
83 Laclau/Mouffe 2006, S. 238. 84 Bal 2007, S. 9.
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Teil II Videolektüren
3. Der Kampf um feministische Perspektiven Hot Water – de l'eau chaude, Alejandra Riera, 2001, 33 min.
„We are here because there is a housing crisis. Lots of families live in precarious conditions. There are empty flats but they don't give them to families without money. So if you live on Minimum Income, getting decent houses is a real problem. This is why we are here at SOGINORPA.“1
Mit diesen Worten berichtet Fatoumata, eine der TeilnehmerInnen, über die Beweggründe für eine Protestaktion, die im Herbst 2001 auf Initiative des Vereins Droit au Logement (DAL; dt. Recht auf Wohnen) in der nordfranzösischen Stadt Aniche stattgefunden hat. Zahlreiche Personen besetzten die Vergabestelle für Sozialwohnungen (SOGINORPA) um auf ihre prekäre Wohnsituation aufmerksam zu machen und bessere Unterkünfte einzufordern. Die Aktion wurde von der Künstlerin Alejandra Riera für die medienaktivistische Organisation Avenir Vivable (dt. lebenswerte/lebbare Zukunft) mit der Kamera begleitet. In Folge entstand daraus das Schwarz-Weiß-Video Hot Water – de l'eau chaude, aus dem auch das obige Zitat stammt. Das Video besteht aus vier deutlich voneinander abgesetzten Teilen: Nach einem einführenden Textvorspann zeigt der 17 Minuten lange erste Videoteil verschiedene Frauen, die vor der Kamera ihre Wohnproblematik darlegen, Versäumnisse der Sozialbehörde kritisieren und Veränderungen verlangen. Vor allem zwei Frauen, Aïcha und Fatima, wechseln dabei einander ab. Im vierminütigen zweiten Teil wird das Verhandlungsergebnis präsentiert, das VertreterInnen des Vereins DAL während der Protestaktion mit der Stadtverwaltung ausgehandelt hatten: So sollen in den folgenden Wochen erneut einzelne Härtefälle geprüft werden. Mehrere Protest-TeilnehmerInnen
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Hot Water, Teil 1. Engl. Untertitel des französischen Originaltons. In den folgenden Zitaten des Videos werden – soweit vorhanden – ebenfalls die englischen Untertitel angegeben.
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Andere Subjekte sind mit diesem Ergebnis höchst unzufrieden. Im dritten Teil des Videos begibt sich daher eine der anwesenden Frauen, Nathalie, selbst auf die Suche nach dem verantwortlichen Leiter der Behörde, den sie mit ihrem Fall konfrontieren will. Unterstützt durch die restliche Gruppe versucht sie, ihn zu einer unmittelbaren Wohnungszuweisung zu bewegen. Dieses Bemühen scheitert jedoch und Nathalie bricht weinend zusammen. Der nur wenige Sekunden dauernde vierte Teil zeigt schließlich den Abzug der Protestgemeinde und nennt in einem Epilog die unterschiedlichen Ergebnisse der Aktion für Nathalie, Aïcha und Fatima, die drei Hauptakteurinnen des Videos. Das durch seinen narrativen Spannungsbogen emotional mitreißende Video wird von der Künstlerin Alejandra Riera ausschließlich im Kontext ihres fortlaufenden Projekts Un problème non résolu (dt. Ein ungelöstes Problem) präsentiert. Dieses Projekt basiert im Wesentlichen auf einer kollektiv angelegten, experimentellen Recherche über Orte und Bedingungen politischen Handelns. Dabei werden filmische und fotografische Dokumente sowie diverse Textmaterialien (Bildlegenden und Aufsätze) verwendet und produziert, die sich auf komplexe Weise gegenseitig kommentieren und reflektieren. Riera organisiert diese Dokumente in einer archivartigen Struktur, die sich aus mehreren sogenannten maquettes-sans-qualité (dt. Modelle ohne Qualität) zusammensetzt. Diese maquettes markieren jeweils unterschiedliche Projektphasen und bilden zugleich die Grundlage für spätere Präsentationen der Dokumente im Kunstzusammenhang. Eine Zusammenschau von fünf maquettes, bei der auch das Video Hot Water gezeigt wurde, präsentierte Riera 2004/05 in der Ausstellung Travail en Grève/Work on Strike in der Fundació Antoni Tàpies in Barcelona.2 Im vorliegenden Kapitel wird Hot Water jedoch aus diesem Projektkontext herausgelöst und zunächst weitgehend unabhängig davon untersucht.3 Auf diese Weise wird es möglich, den Fokus auf die unterschiedlichen Repräsentationsebenen des Videos zu richten und in vier Lektüreschritten detailliert zu analysieren. Das erste Unterkapitel konzentriert sich dabei vor allem auf die
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Riera, Alejandra; Fundació Antoni Tàpies (Hg.): Maquetas-sin-cualidad. (en la fecha del 19 de diciembre de 2004) (fragmentos), un problema no resuelto, , vistas parciales un trabajo inacabado, producción autónoma, Ausst.-Katalog, Fundació Antoni Tàpies, Barcelona 2005. Vgl. auch die Besprechung der Ausstellung und des Katalogs durch Bartl, Angelika: „Alejandra Riera: ‚maquettes sans qualité‘“, in: springerin XI/1 (2005), S. 56f, und dies.: „How to engage with it? Addressing Alejandra Riera's Work Through the Book Maquetas-sin-cualidad“, in: Afterall 21 (2009), S. 91-97. Einzelne Aspekte dieses Projektkontexts werden im Laufe des zweiten und dritten Unterkapitels jedoch wieder aufgegriffen und für die Erarbeitung bestimmter Bedeutungsebenen des Videos genutzt.
Der Kampf um feministische Perspektiven dokumentarischen Authentizitätsrhetoriken des Videos, während das zweite Unterkapitel seinen medialen Brüchen nachgeht und das dritte Unterkapitel den Blick auf verschiedene narrative Elemente lenkt, die die Bedeutung des Videos ein weiteres Mal verschieben. Alle drei Lektüreschritte fragen dabei nach der relationalen Position der repräsentierten Personen: Wie werden die ‚anderen Frauen‘ in den verschiedenen Ebenen des Videos zu sehen gegeben? Wie verhält sich die Künstlerin – bewusst und unbewusst – zu ihnen und welche Positionierungen sind vor diesem Hintergrund für die BetrachterInnen möglich bzw. unmöglich? Angetrieben ist diese Frageperspektive dabei vom Begehren, die repräsentierten Frauen als handlungsmächtige Subjekte zu begreifen. Dieses politische Begehren wird im vierten Unterkapitel noch einmal auf den Punkt gebracht und die Frage gestellt, wie eine feministische Gemeinschaft in Bezug auf Hot Water gedacht werden kann.
3.1 „We are here because …“ – die dokumentarische Ebene von Hot Water Obwohl Hot Water eine beinahe klassische Dramaturgie aufweist, ist bereits auf den ersten Blick erkennbar, dass das Video ein Geschehen der ‚realen Welt‘ dokumentiert. Dieser Wirklichkeitsbezug ist mit Volker Wortmann als ein „kulturelles Produkt mit Geschichte“4 zu verstehen, das verschiedene historisch etablierte Bildrhetoriken aufgreift und für die eigenen Bedürfnisse ‚neu erfindet‘.5 In diesem ersten Unterkapitel wird untersucht, auf welche Weise Hot Water die ‚Realität‘ seiner Darstellung vermittelt. Welches politische Thema entwirft das Video auf diese Weise und welche Probleme ergeben sich dabei?
Die Rhetorik des direct Seine Bezugnahme auf ‚reale‘ Geschehnisse kommuniziert Hot Water bereits in den Texttafeln des Vorspanns, die das gefilmte Geschehen von Beginn an in der
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Wortmann 2003, S. 161. An gleicher Stelle führt er aus: „Geschichte meint nicht allein die chronologische Abfolge kanonisierter Filmbeispiele, sondern vor allem die sukzessive Ergreifung des Mediums durch die Authentizitätsdiskurse seiner Zeit; ebenso die sukzessiv sich ausbildende Authentizitätserwartung des Publikum[s] gegenüber den projizierten Bildern.“ Vgl. auch Bill Nichols Unterscheidung verschiedener „documentary modes“ in: Nichols 1991, S. 32-75, sowie ders. 2001, S. 99-138.
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Andere Subjekte „historical world“6 verankern. Angegeben wird sowohl der genaue Zeitpunkt der Aufnahme („Matin du 11 octobre 2001“7) als auch der konkrete Ort des Geschehens („Aniche, nord de la france“, Abb. 1a). Darüber hinaus werden einige der gefilmten Personen (Aïcha, Fatima, Nathalie, Henriette), die Wohnungsvergabestelle SOGINORPA sowie die Organisationen Avenir Vivable und DAL namentlich genannt (Abb. 1b).8 Die gefilmten Personen und Institutionen werden auf diese Weise als konkrete, historische ProtagonistInnen eingeführt. In der letzten Texttafel wird schließlich Riera selbst als Filmemacherin in der Funktion „Camera – montage“ angegeben (Abb. 1c). Diese Information unterstreicht allerdings weniger die künstliche Gemachtheit der Dokumente, sondern hebt in Verbindung mit der Bezeichnung „Vidéo d'intervention“ (dt. Interventionsvideo) hervor, dass die Filmemacherin selbst unmittelbar vor Ort in das gefilmte Geschehen eingebunden war.
Abb. 1 (a, b, c): Videostills aus Hot Water, Vorspann.
Diese dokumentarische Prädisposition des Videos wird in den folgenden Videosequenzen noch weiter vertieft. Bereits auf einer ersten, ästhetischen Ebene verweist die Schwarz-Weiß-Färbung der Filmbilder sowie die unruhige Kameraführung auf den Stil des Direct Cinema und Cinéma Verité der 1950er und
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Nichols 1991, S. 110. Dt. Vormittag, 11. Oktober 2001. Zu lesen ist: „Témoignages de Aïcha, Fatima, Nathalie, Henriette, recueillis dans les locaux de la Soginorpa, société gérant de logement sociaux, lors d'une action de l'association Droit au Logement-Lille./Documents réalisés avec l'association ‚Avenir Vivable‘ (qui vise à promouvoir une utilisation démocratique de la vidéo par des activités de formation, de production et de diffusion), qui prépare un documentaire sur les 10 années d'existance du DAL.“ Dt.: „Zeugenaussagen von Aïcha, Fatima, Nathalie, Henriette, gesammelt in den Räumen der Soginorpa, Gesellschaft zur Gewährleistung von Sozialwohnungen, anlässlich einer Aktion des Vereins Droit au Logement-Lille./ Realisiert wurden die Dokumente in Kooperation mit der Organisation Avenir Vivable, die eine demokratische Verwendung von Video durch Ausbildung, Produktion und Distribution anstrebt und eine Dokumentation über das zehnjährige Bestehen von DAL vorbereitet.“ Übers. A.B.
Der Kampf um feministische Perspektiven 1960er Jahre. Diese historischen Dokumentarfilmströmungen verwendeten tragbare Synchronton-Kameras, mit deren Hilfe sie das ‚reale Geschehen‘ möglichst unmittelbar und spontan einzufangen hofften.9 Unter expliziter Berufung auf diese technischen Neuerungen10 sowie durch den Einsatz neuer Stilmittel etablierten sie eine Rhetorik des direct, die den ZuschauerInnen unmittelbares Realitätserleben suggerieren sollte.11
Abb. 2 (a, b): Videostills aus Hot Water, Teil 1.
Abb. 3: Videostill aus Hot Water, Teil 4.
Ein wichtiges Merkmal des direct, das sich auch in Hot Water findet, ist die Überbetonung der Aufnahmephase.12 So verzichtet das Video konsequent auf Elemente, die außerhalb des dokumentierten Geschehens angesiedelt sind oder auf
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Allerdings unterscheiden sich die beiden Strömungen auch darin, auf welche Weise sie die neue Technik einsetzten. So ist für das Cinéma Verité ein „sich einmischende[r] Filmemacher, der sein Subjekt provoziert“ charakteristisch, während die Filmemacher des Direct Cinema auf eine beobachtende, distanzierte Vorgehensweise setzten. Musser, Charles: „Grenzverschiebungen. Cinéma Vérité und der neue Dokumentarismus“, in: Novell-Smith, Geoffrey (Hg.), Geschichte des Internationalen Films, Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, S. 481. Einen Überblick über beide Strömungen bietet auch Roth, Wilhelm: Der Dokumentarfilm seit 1960, München/Luzern: C. J. Bucher 1982, S. 11-19. 10 Wie Volker Wortmann zeigt, wurde das Argument der technischen Überlegenheit dazu genutzt, um sich von älteren dokumentarischen Erzählmodi abzusetzen, die als KriegsPropaganda in Misskredit geraten waren. Die Möglichkeit, vor Ort zu filmen, war hingegen keineswegs eine Neuerfindung, sondern hatte ihre Vorgänger in der ‚Schnappschusslogik‘ der sozialkritischen Fotoessays. Wortmann 1999, S. 193. Vgl. dazu auch die Beschreibung der Entwicklung des Dokumentarischen aus der Logik der Detektivkamera bei Gunning, Tom: „Embarrassing Evidence: The Detective Camera and the Documentary Impulse“, in: Gaines/Renov, Collecting Visible Evidence, 1999, S. 46-64. 11 Hohenberger 1998, S. 16. Der Begriff direct wird, wie von Hohenberger vorgeschlagen, im Weiteren als Sammelbegriff für unterschiedliche historische Rhetoriken des Dokumentarischen verwendet, die den Eindruck von Echtheit und Unmittelbarkeit vermitteln. 12 Monika Beyerle beschreibt dieses Merkmal ausführlich am Beispiel des amerikanischen Direct Cinema. Beyerle 1997, S. 83.
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Andere Subjekte eine nachträgliche Post-Produktionsphase verweisen (Sprache, Musik, Bilder etc.). Stattdessen entwirft es einen geschlossenen Kosmos der Aufnahmesituation: Das Video beginnt mit dem Betreten des Gebäudes der Stadtverwaltung, wobei die Kamera einer Identifikationsfigur – Aïcha – durch die Tür folgt (Abb. 2a, 2b), und endet mit einer kurzen Einstellung, die das Verlassen der Szene beschreibt, indem Personen gezeigt werden, die vor einem wartenden Fahrzeug stehen bzw. in dieses einsteigen (Abb. 3). Dieser Orientierungsrahmen wird im Video mit einer kohärenten Erzählstruktur gefüllt, die die klassische Einheit von Raum und Zeit beibehält und sich wie von selbst chronologisch zu entfalten scheint. Jeder Teil folgt logisch kausal auf den anderen: Nach dem Warten der Demonstranten (Teil 1) wird das Verhandlungsergebnis präsentiert, welches enttäuschte Reaktionen auslöst (Teil 2) und zum individuellen Vorgehen von Nathalie führt (Teil 3). Das Video wirkt, als hätte es den scheinbar natürlichen, völlig unmanipulierten Ablauf der Protestaktion – den „flow of life“13 – einfach nur übernommen, als sei es „quasi in der Kamera geschnitten worden“.14 Der Eindruck einer rohen, kaum manipulierten Montage wird durch mehrere schwarze Blenden zwischen den einzelnen Einstellungen noch zusätzlich unterstützt, die wie faktische Aufnahmepausen während der Protestaktion wirken. Das Video wird auf diese Weise auch als ästhetisches Objekt rhetorisch in das Geschehen der ‚unmittelbaren‘ Aufnahmephase integriert. Es scheint, als hätte seine dringliche politische Funktion während der Protestaktion keine sorgfältigere Ausarbeitung der Montage zugelassen. Unmittelbarkeit im Sinn des direct vermitteln auch die ungewöhnlich langen Einstellungen des Videos.15 So zeigt der erste Teil von Hot Water ausgedehnte Sequenzen, in denen einzelne Frauen weitgehend ohne Unterbrechung über ihre prekäre Wohnsituation berichten. Die ‚reale Welt‘ scheint sich hier wie in Echtzeit zu entfalten, während die Tatsache, dass eine Auswahl der Aufnahmen getroffen wurde, in den Hintergrund rückt. Gesteigert wird dieser Eindruck noch durch die unverhältnismäßige Länge des 17-minütigen ersten Teils sowie durch seinen repetitiven Charakter: Immer wieder erscheinen die gleichen Naheinstellungen der gleichen Frauen, die über vergleichbare Wohnprobleme sprechen. Die Aufnahmen scheinen so zu einer einzigen, langen Einstellung zu verschmelzen, die das Warten der Frauen wie in Echtzeit miterleben lässt. Diesen Eindruck stören auch die schwarzen Blenden nicht, die den Filmteil mehrmals unterbrechen. Denn zum einen lenken sie den Blick von vereinzelten unsichtbaren
13 Ebd., S. 89. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 90.
Der Kampf um feministische Perspektiven Cuts ab, was die Wirkung der Länge der Einstellungen noch steigert, und zum anderen erscheinen sie als Platzhalter für die ‚real‘ vergangene Zeit zwischen den immer wiederkehrenden, ähnlichen Aufnahmen, wodurch das lange, aufreibende Warten der Frauen noch eindringlicher vermittelt wird.16 Auch den abrupten Kameraschwenks kommt eine wichtige Funktion in der Rhetorik des direct zu. Dieses Element findet sich insbesondere im räumlich bewegten dritten Teil von Hot Water, in dem sich die Kamera nervös auf verschiedene Punkte des Geschehens richtet, aber auch im eher statischen ersten Teil des Videos, in dem die Kamera zwischen den jeweils sprechenden Personen hin- und herschwenkt. Diese abrupten, der Handlung bzw. der Rede nachfolgenden Schwenks setzen dabei eine „search-and-discovery-structure“17 in Gang, die suggeriert, dass die Filmemacherin spontan auf die Ereignisse vor Ort reagiert. Dieser Eindruck wirkt in zwei authentisierende Richtungen: Zum einen scheint sich das gefilmte Geschehen in seinem Verlauf scheinbar natürlich und ohne vorherige Absprache zu entwickeln. Es entsteht der Eindruck, als wäre die reale Welt vom filmischen Prozess völlig unabhängig und frei, als sei sie von ihm unbeeinflusst und unmanipuliert. Und zum anderen verweisen die abrupten Kamerabewegungen – paradoxerweise – auch auf eine anwesende Filmemacherin, die das ihr scheinbar unbekannte Geschehen unmittelbar mit der Kamera verfolgt. Die Kameraschwenks sind in dieser zweiten Dimension Teil eines anthropomorphen Kamerastils, zu dem auch kleinere Bilderschütterungen und die durchgehende Perspektive auf Augenhöhe zählen, die gemeinsam auf eine getragene Handkamera verweisen.18 Die aufgenommenen Bilder repräsentieren dabei nicht nur den sichtbaren Gegenstand vor der Kamera, sondern verweisen auch auf eine filmende Person hinter der Kamera. Obwohl diese Figur visuell abwesend ist, wirkt sie dennoch über die Kamerabewegungen ‚präsent‘19; sie scheint darin gleichsam indexikalisch enthalten zu sein. Für die ZuschauerInnen erweckt dies die Illusion, durch die Augen der Filmenden sehen zu können, d.h. gemeinsam mit ihr direkt am Geschehen teilzunehmen. Der Blick, der den ZuschauerInnen angeboten wird, changiert dabei zwischen einer objektiv-dis-
16 Die schwarzen Blenden substituieren damit das, was Nichols als authentisierende „dead time“ im Dokumentarischen beschreibt: „‚Dead‘ or ‚empty‘ time unfolds where nothing of narrative significance occurs but where the rhythms of every day life settle in and establish themselves.“ Nichols 1991, S. 40. 17 Beyerle 1997, S. 109, vgl. auch ebd., S. 96. 18 Dies bedeutet auch, dass es keine extremen Kamerafahrten gibt, die über den körperlichen Aktionsradius eines Menschen hinausweisen. Vgl. ebd., S. 108-113. 19 Ebd., 110. Nichols prägt in diesem Sinn auch den Begriff der „absent presence“ der Filmemacherin. Nichols 1991, S. 43.
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Andere Subjekte tanzierten Beobachtung, für die das technische Werkzeug ‚Kamera‘ steht20, und der körperlich-subjektiven Erfahrung von Unmittelbarkeit durch die Identifikationsfigur der Filmemacherin.21
Abb. 4 (a, b): Videostills aus Hot Water, Teil 3.
Die Rhetorik des direct wird darüber hinaus auch durch die dramatische Wende des Videos vermittelt: durch den überraschenden, heftigen Wutausbruch von Nathalie (Abb. 4a, 4b). Wie Monika Beyerle am Beispiel des Direct Cinema ausführt, fungieren narrativ und emotional besonders aufgeladene Momente als „privilegierte[…] Authentizitätsgarant[en]“22 des Dokumentarischen, die „dem Erzählfluss des jeweiligen ‚real life drama‘ […] eine poetische, geheimnisvolle Tiefe [verleihen], die in gewisser Weise Raum und Zeit enthoben ist“.23 In seinem fast drei Jahrzehnte zuvor entstandenen Text beschreibt Jean-Louis Comolli diesen Effekt auch als „Paradox des direct“.24 Er bezieht sich dabei auf den Dokumentarfilm La reprise du travail aux usines Wonder (Jacques Willemont, 1968, 10 min.), der einen ganz ähnlichen Wutausbruch einer Frau angesichts einer sich auflösenden Protestgemeinschaft zeigt (Abb. 5).
20 Die vermeintlich indexikalische Technik der Kamera – als ‚pencil of nature‘ (W.H. Fox Talbot) – etabliert dabei eine Distanz zwischen körperlichem Sehen und dem gefilmten Geschehen, die der Beobachtung den Anschein von Objektivität verleiht. 21 Zum Mythos der DokumentarfilmerIn als authentische, ethische Person vgl. Wortmann 2003, S. 177-183, sowie Beyerle 1997, S. 83-89. 22 Ebd., S. 114. 23 Ebd. 24 Comolli, Jean-Louis: „Der Umweg über das direct“ [1969], in: Hohenberger, Bilder des Wirklichen, 1998, S. 244. In diesem Sinn erkennt auch Nichols, dass Dokumente eine gesteigerte Realitätswirkung dadurch erreichen können, dass sie „stranger than fiction“ erscheinen (Nichols 1991, S. 41). Auf ein ähnliches Phänomen zielt auch Tom Holert ab, wenn er davon spricht, dass ein außergewöhnliches ‚Realitätsgeschehen‘ das dokumentarische Bild im Sinn eines „göttlichen oder pantheistischen Wollens und Wirkens“ gleichsam selbst hervorzubringen scheint. Holert 2005, S. 44.
Der Kampf um feministische Perspektiven
Abb. 5: Filmstill aus La reprise aux usines Wonder, Jacques Willemont, 1968, 10 min.
Die Darstellung erinnert Comolli an ein „Brechtsches Szenario […], weil hier das Dokument so wirkt, als sei es Produkt genauester berechneter Fiktion“.25 Allerdings bewirke diese Fiktionalisierung keinen Verlust an Glaubwürdigkeit. Vielmehr reagiere, wie Comolli unterstreicht, „das Dokument […] auf das Schwinden der Realität mit einem Zugewinn an Sinn und Kohärenz […], der ihm in letzter Konsequenz dieser Dialektik womöglich eine größere Überzeugungskraft gibt und seine ‚Wahrheit‘ nach – und wegen – diesem Umweg verstärkt“.26
Auf Hot Water übertragen bedeutet dies, dass die unerwartete Dramatik von Nathalies Wutausbruch eine narrative Identifizierung mit dem Geschehen in Gang setzt, die den Authentizitätseindruck sogar noch steigert. Die Erzählung über Realität vermittelt eine scheinbar selbst erlebte Realität, in deren ‚Wahrheit‘ sich die BetrachterInnen unmittelbar eingebunden fühlen können. Was ist aber nun die ‚Wahrheit‘ von Hot Water, seine dokumentarisch vermittelte Aussage? Um dies zu bestimmen, gilt es im Weiteren, die Rhetorik des direct verstärkt in Relation zum thematischen Gegenstand des Videos zu setzen.
Identifikationen im feministischen Kollektiv Das Geschehen, das in Hot Water als ‚unmittelbar präsent‘ vermittelt wird, ist eine Protestaktion, oder genauer: eine Gruppe protestierender Personen. Diese Gruppe wird bereits in der ersten Sequenz des Videos eingeführt, die für weni-
25 Ebd., S. 246. 26 Ebd., S. 245.
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Andere Subjekte ge Augenblicke einen Raum zeigt, in dem eine aufgebrachte, undifferenzierte Menschenmenge wartet. Direkt im Anschluss erscheint in frontaler Großaufnahme Fatoumata, die die Gruppe als eine Interessengemeinschaft, zu der sie auch selbst gehört, vorstellt: „We are here because …“27. In den folgenden 17 Minuten erscheinen nacheinander weitere Frauen in Großaufnahme: Nathalie, Aïcha, Fatima, Henriette und eine namentlich nicht bekannte Frau (Abb. 6). Dabei vermittelt bereits die formal einheitliche Aufnahmefolge der Personen den Eindruck von Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft. Aber auch inhaltlich wird diese Bedeutung untermauert, indem alle Frauen über ähnliche Wohnungsprobleme berichten und auf vergleichbare Weise das Vorgehen des Sozialamts kritisieren. Dabei ergänzen, bestärken und unterstützen sie sich gegenseitig, verweisen aufeinander und ergreifen zum Teil auch für abwesende Personen das Wort. Kurz: Sie präsentieren sich als eine zusammengehörige, entschlossen kämpfende Protestgemeinschaft.
Abb. 6 (a-f): Videostills aus Hot Water, Teil 1.
Dieser Eindruck der Zusammengehörigkeit wird im zweiten Teil von Hot Water fortgeführt. Hier ist zu sehen, wie die protestierenden Personen dem Verhandlungsergebnis der SozialarbeiterInnen lauschen. Ungewohnt ruhig und langsam zieht die Kamera dabei in einer nahen Drehbewegung an den zuhörenden DemonstrantInnen vorbei (Abb. 7a, 7b), bevor sie in mittlerer Distanz auf einer Gruppe von Protestierenden zu stehen kommt (Abb. 7c). Dabei beschreibt die Kamera durch die Drehung einen Kreis der Wartenden, der deren Geschlossenheit und Zusammenhalt weiter unterstreicht. Auch im dritten Teil, in dem
27 Hot Water, Teil 1. Das Zitat findet sich am Beginn dieses Kapitels.
Der Kampf um feministische Perspektiven es eigentlich um die Situation einer einzelnen Person geht, ist das Moment der Gemeinschaft zentral: Obwohl sich Nathalie in ihrem Wutausbruch vom Kollektiv entfernt, zeigt die Kamera immer wieder die Gruppe der DemonstrantInnen, die sich mit ihr solidarisch zeigen und einen Rückhalt für sie bilden. Dies gilt sowohl für die Szene, in der Nathalie auf den Direktor der Behörde wartet und von der Gruppe begleitet wird (Abb. 8a), als auch für die Szene, in der sie ihn mit ihrem Fall konfrontiert und dabei von anderen DemonstrantInnen umgeben ist (Abb. 8b).
Abb. 7 (a, b, c): Videostills aus Hot Water, Teil 2.
Abb. 8 (a, b): Videostills aus Hot Water, Teil 3.
In diese Gemeinschaft der Protestierenden reiht sich auch die Filmemacherin ein, die durch einige beipflichtende Äußerungen aus dem Off („You pay to be poor“28) ihre Sympathie und Solidarität mit dem Protestkollektiv bekundet. Diese Haltung wird auch auf filmischer Ebene vermittelt, indem die Frauen im ersten Teil des Videos weitgehend ohne Unterbrechung sprechen können. Die Kamera folgt dabei den Reden der Frauen stets nach bzw. setzt nach den schwarzen Blenden erst einen kurzen Moment nach der Tonebene ein. Die Filmemacherin wird auf dieses Weise als interessierte, emphatische Zuhörerin eingeführt, die sich mit ihrer Kamera in den Dienst des Protestkollektivs stellt. Dieses ‚Bündnis‘ zwischen Kamera(-frau) und Protestkollektiv basiert im ersten Teil wesentlich auf dem Versprechen, den Anliegen der Frauen eine zukünftige Öffentlichkeit zu ermöglichen, ihrem Anliegen Gehör zu verleihen. Im dritten Teil, in dem sich Nathalie auf die Suche nach dem Direktor der SOGINORPA
28 Hot Water, Teil 1.
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Andere Subjekte begibt, erhält die begleitende Kamera darüber hinaus auch eine unmittelbare Unterstützungsfunktion: Die Aufzeichnung des Geschehens wird dabei zum potentiellen Druckmittel gegenüber der Behörde, deren Verzögerungs- und Verleugnungstaktik in späteren Auseinandersetzungen nachgewiesen werden könnte. Nathalie scheint sich dieser Beweisfunktion der Kamera durchaus bewusst zu sein, wenn sie vor Beginn ihrer wütenden Suche nach dem Direktor kurz in Richtung Kamera(-frau) blickt (Abb. 9). Es scheint, als wolle sie sich bei ihrem prekären Alleingang der Unterstützung der Kamera versichern. Durch verschiedene Identifikationsprozesse können sich auch die BetrachterInnen von Hot Water als Teil der Protestgemeinschaft imaginieren. Ein Beispiel ist eine Szene im dritten Teil des Videos, in der Nathalie und andere DemonstrantInnen den Direktor der Behörde zur Rede stellen und eine sofortige Lösung für Nathalie fordern. Die Kamera befindet sich hier inmitten der Personengruppe und schwenkt mit heftigen Bewegungen zwischen den jeweils sprechenden Personen hin und her. Dabei überträgt sich zum einen die emotionale, emphatische Haltung der Kamera(-frau) auf die BetrachterInnen, die sich gemeinsam mit ihr unmittelbar ins Geschehen involviert fühlen können. Und zum andereren wird durch die Kameraschwenks auch das klassische Prinzip des Schuss-Gegenschuss-Verfahrens wirksam, bei dem die jeweils gefilmten SprecherInnenpositionen den BetrachterInnen zur momentanen Identifikation angeboten werden. Die Rezeption wird auf diese Weise auch unabhängig von der Figur der FilmemacherIn in das Protestkollektiv ‚eingenäht‘.29 Ein vergleichbarer Effekt findet sich auch im zweiten Teil des Videos, in dem eine Sprecherin der Gruppe DAL das Verhandlungsergebnis mit der Sozialbehörde den im Kreis stehenden DemonstrantInnen verkündet. In dieser Szene ist die Kamera nicht emphatisch bewegt, sondern sie zieht von einem fixen Standpunkt aus langsam an den wartenden Personen vorbei. Die ruhige Kameraführung greift dabei die konzentrierte Stimmung der Zuhörenden auf und überträgt diesen Zustand visuell auf die BetrachterInnen. Darüber hinaus wird die Blickposition durch die Drehbewegung der Kamera in der Mitte des Kreises verortet. Obwohl diese Position für die tatsächlich wartenden ZuhörerInnen unmöglich ist (der Kreismittelpunkt wird von ihnen dezidiert ausgespart), ermöglicht erst dieser Standpunkt – über den visuellen Nachvollzug des Kreises – eine Identi-
29 Dieser Effekt wird auch als Suture bezeichnet. Vgl. dazu Dayan, Daniel: „The TutorCode of Classical Cinema“ [1974], in: Nichols, Bill (Hg.), Movies and Methods. An Anthology, Berkeley: University of California Press, 1976, S. 438-450. Eine allgemeinere und stärker an Lacan orientierte Definition des filmtheoretischen Suture-Begriffs liefert Heath 1981a, S. 76-112. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel 1.2 und 2.2.
Der Kampf um feministische Perspektiven fikation mit der Gemeinschaft der ZuhörerInnen. Die BetrachterInnen werden buchstäblich im Zentrum des Protestkollektivs positioniert.30
Abb. 9: Videostill aus Hot Water, Teil 3.
Eine weitere Identifikationsebene betrifft vor allem die zahlreichen Großeinstellungen von Personen im ersten Teil von Hot Water: Die nahen, emotional bewegten Gesichter der Frauen laden hier zur unmittelbaren, affektiven Identifikation mit ihnen und ihrer Wut ein. Die Filmtheoretikerin Elizabeth Cowie beschreibt diesen Effekt folgendermaßen: „The close-up […] can lead us to identify on the basis of being what we see. […] Although only momentary, this identification supports the adoption of the social actors in the documentary as stand-ins for ourselves within the scene. Together with the image, the speech of social actors in the documentary, whether direct to camera or in relation to an interlocutor in the film, is central to producing identification.“31
In diesem Sinn weist auch Beyerle für das Direct Cinema darauf hin, dass durch Großaufnahmen – insbesondere des Gesichts – eine enge Beziehung zum gefilmten Gegenstand hergestellt wird.32 Die BetrachterInnen von Hot Water können sich also auch hier jenseits der Identifikationsfigur der emphatischen Filmemacherin als Teil der Protestgemeinschaft imaginieren.
30 Interessant ist an dieser Stelle auch, dass für einen kurzen Moment eine zweite Frau mit Kamera im Kreis des Protestkollektivs zu sehen ist, deren Objektiv sich mit dem Blick der filmenden Kamera trifft. Die zweite Kamera(-frau) steht dabei für die zuvor nur über Kamerabewegungen ‚präsent‘ erscheinende, tatsächlich aber unsichtbare Kamerafrau ein und wird so zu einem reflexiven Hinweis auf die Tätigkeit des Filmens. 31 Cowie, Elizabeth: „The Spectacle of Actuality“, in: Gaines/Renov, Collecting Visible Evidence, 1999, S. 30f. 32 Beyerle bezieht sich dabei vor allem auf Gilles Deleuzes Ausführungen zum ‚Affektbild‘. Beyerle 1997, S. 131ff.
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Andere Subjekte Auf inhaltlicher Ebene fällt in Hot Water darüber hinaus auf, dass das gezeigte Protestkollektiv beinahe ausschließlich aus Frauen besteht. Das Video erinnert damit an feministische Dokumentarfilme, wie sie in den 1970er Jahren im Rahmen der zweiten Frauenbewegung entstanden sind. Ein Beispiel für diese Form des ‚Frauenfilms‘ ist etwa der kollektiv produzierte Dokumentarfilm The Woman's Film (Women's Caucus San Francisco Newsreel, 1971, 40 min.), in dem verschiedene, ebenfalls zumeist in Naheinstellungen gefilmte Frauen über ihre Alltagserfahrungen und Strategien innerhalb der patriarchalen Gesellschaftsstrukturen berichten (Abb. 10).33
Abb. 10 (a, b): Filmstills aus The woman's film, Women's Caucus San Francisco Newsreel, 1971, 40 min.
In ihrem Aufsatz The Political Aesthetics of the Feminist Documentary Film (1978) beschreibt die Filmtheoretikerin Julia Lesage die politischen Frauenfilme als ein eigenes Genre.34 Dieses zeichne sich durch einfache Filmstrukturen aus, die sich an den individuellen Biografien der Sprecherinnen orientieren, sowie durch ein Desinteresse gegenüber medialen Experimenten und ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen den beteiligten Personen des Films. Wie Lesage bemerkt, sind die Filme dabei grundsätzlich vom Wunsch getragen, „to present […] a picture of the ordinary details of women's lives, their thoughts […] and their frustrated but sometimes successful attempts to enter and deal with the public world of work and power“.35
33 Weitere Beispiele sind Three Lives (Kate Millet, 1971), Janie's Janie (Geri Ashur, Peter Barton, 1971) und Growing Up Female: As Six Become One (Julia Reichert, James Klein, 1971). 34 Lesage, Julia: „The Political Aesthetics of the Feminist Documentary Film“ [1978], in: Erens, Patricia (Hg.). Issues in feminist film criticism, Bloomington: Indiana University Press 1990, S. 222. Einen kritischen Überblick über den feministischen Dokumentarfilm bietet des Weiteren Erens, Patricia: „Dokumentarfilme von Frauen. Das Private ist politisch“, in: Frau und Film, 52/6 (1992), S. 89-98. 35 Ebd., S. 223.
Der Kampf um feministische Perspektiven Ein erklärtes Ziel der Filme ist es dabei, das sexistische oder gänzlich abwesende Bild der ‚Frau‘ durch Bilder des ‚wahren Lebens‘ der Frauen zu ersetzen, wie Christine Gledhill schreibt: „to […] replace their falsity, lies and escapist illusions with reality and the truth“.36 Dennoch geht es den feministischen Filmen, wie Lesage präzisiert, nicht um die Vermittlung von ‚Realität‘ per se. Im Vordergrund steht nicht das einfache Sichtbarmachen von „real-life individuals“37, sondern die Möglichkeit, den gefilmten Frauen eine Plattform zu verleihen, auf der sie aus ihrer Perspektive sprechen können.38 Die Filme sind damit wesentlich an den feministischen Zielen der Frauengruppen selbst orientiert. Sie wollen ein kritisches Bewusstsein unter den beteiligten und rezipierenden Frauen vermitteln und ein politisches Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen. Lesage vermerkt: „The feminist documentaries represent a use of, yet a shift in, the aesthetics of cinéma vérité due to the filmmakers' close identification with their subjects, participation in the women's movement, and sense of the films' intended effect. The structure of the consciousnessraising group becomes the deep structure repeated over and over in these films.“39
Diesem politisch-strategischen Anspruch der Frauenfilme trägt auch Bill Nichols Rechnung, der sie als spezielle Variante dokumentarischer Reflexivität beschreibt. Denn obwohl sie die dokumentarische Form selbst nicht in Frage stellen, setzen sie, wie er meint, deren Rhetorik ganz bewusst dazu ein, um gesellschaftliche Probleme aufzuzeigen und Veränderungen zu bewirken: „Rather than provoking our awareness primarily of form, politically reflexive documentaries provoke our awareness of social organization and the assumptions that support it.“40
36 Gledhill, Christine: „Recent Developments in Feminist Film Criticism“, in: Quaterly Review of Film Studies 3/4 (1978), S. 462. 37 Lesage 1990, S. 233f. 38 Ebd. In diesem Sinn betont auch Wilhelm Roth, dass die Filme v.a. „inhaltliche Diskussionen auslösen […], informier[en], Mut mach[en] und Solidarität schaff[en]“ wollen. Roth 1982, 96. Vgl. in diesem Sinn auch Muser 1998, S. 486. 39 Lesage 1990, S. 235. 40 Nichols 2001, S. 129f. Mit explizitem Bezug auf Lesages Beschreibung der feministischen Dokumentarfilme unterstreicht Nichols: „If the reflexive mode of representation serves to make familiar experience strange, to draw attention to the terms and conditions of viewing, including the subjective position made available to the viewer, the feminist documentaries described by Lesage, despite an apparent lack of awareness of the ‚flexibilities of the cinematic medium‘, achieve precisely this result.“ Ebd., S. 65.
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Feministische Gegenlektüren Die feministischen Dokumentarfilme werden aber nicht nur positiv bewertet. Vielmehr sind sie auch innerhalb des Feminismus heftiger Kritik ausgesetzt, sowohl was ihre dokumentarisch-realistische Form betrifft als auch ihre strategisch-politische Gemeinschaftsstruktur. Die Kritik an der realistischen Form der Filme wurde in erster Linie durch VertreterInnen der Apparatustheorie formuliert.41 Insbesondere die feministischen Filmtheoretikerinnen Claire Johnston und Eileen McGarry richteten sich früh gegen den dokumentarischen Frauenfilm.42 Im bereits erwähnten Aufsatz Women's Cinema as Counter Cinema (1973) bemerkt Johnston: „The tools and techniques of cinema themselves, as part of reality, are an expression of the prevailing ideology: they are not neutral, as many ‚revolutionary‘ film-makers appear to believe. It is idealist mystification to believe that ‚truth‘ can be captured by the camera or that the conditions of a film's production (eg. a film made collectively by women) can of itself reflect the conditions of its production.“43
Diese Kritik weiterführend unterstreicht auch McGarry, dass realistische Techniken wie Tiefenschärfe, Zentralperspektive, continuity editing etc. die Fragmentiertheit und Kontingenz der Realität verschleiern und auf diese Weise die dominante patriarchale Ordnung perpetuieren. Dabei sei es weitgehend unerheblich, welchen Inhalt die realistischen Bilder präsentieren. Auch kritisch-feministische Gegenbilder von Frauen blieben an die Bewertungskategorien der dominanten Ideologie gebunden und würden in bestehende Stereotype eingeordnet: „In a documentary film, therefore, the way the appearance of the woman is coded in both the natural and the filmic worlds (operating in conjuncture) removes any possibility of the reality of the women's apparence being transferred innocently or neutrally to the screen; people who are real will be judged according to how they do (or don't) measure up to current codes. […] In other words, the real woman becomes the coded stereotypes, the hag, the chick, etc.“44
41 Zu einer allgemeinen Darstellung dieser Theorieströmung siehe auch den Exkurs zur Apparatustheorie in Kapitel 1.2. 42 Johnston 1999, S. 31-40.; McGarry, Eileen: „Documentary, Realism and Women's Cinema“, in: Women and Film II/7 (1975), S. 50-59. 43 Johnston 1999, S. 36. Herv. i. Orig. 44 McGarry 1975, S. 55f. Herv. i. Orig.
Der Kampf um feministische Perspektiven Auch Elizabeth Cowie unterstreicht in diesem Sinn, dass die ‚Wahrheit‘ des Dokumentarischen wesentlich von der „‚believability‘ of the documentary's world – its verisimilitude“ abhängt.45 In Bezug auf ‚politische Dokumentationen‘ bedeutet dies, dass sie, wenn sie glaubwürdig sein wollen, die repräsentierten ‚Anderen‘ nicht in die Position des Wissens/der Macht kommen lassen dürfen, sondern als passive Produkte einer gesellschaftlichen Situation darstellen müssen.46 Den BetrachterInnen wird dabei, wie Cowie weiter darlegt, eine Solidaritätsposition angeboten, in der sie sich aus ihrer Rezeptionsposition als machtvolle ‚HelferInnen‘ imaginieren können.47
Abb. 11 (a, b, c): Videostills aus Hot Water, Teil 1.
Im Fall von Hot Water kann diese Problematik insbesondere in Bezug auf den ersten Teil nachvollzogen werden. Indem die Frauen über die Probleme der Wohnungsvergabe berichten, vermitteln sie zwar thematische Informationen, dieses ‚Wissen‘ hat in Relation zur Filmemacherin und den BetrachterInnen jedoch kaum hegemoniales Potential, da die grundlegenden Parameter der Protestaktion bereits im Vorspann – also schon vor den Reden der Frauen – bekannt gegeben wurden. Die Frauen wiederholen und paraphrasieren somit ein bereits verfügbares Wissen, dem sie nur noch Details und persönliche Erfahrungswerte hinzufügen. Ihre Berichte verweisen dadurch vor allem auf sie selbst bzw. ihren dokumentarisch ‚präsent‘ gemachten Erfahrungskörper. Dieser Umstand wird noch dadurch gesteigert, dass die Reden im Laufe des Videos zunehmend emotional und wütend vorgetragen werden, ohne dass dabei ein effektiver, handlungslogischer Fortschritt erzielt würde. Sie scheinen sich erfolglos und beinahe zwanghaft um ein und denselben Punkt zu drehen, sodass ihr gemeinschaftlicher, starker Protest letztlich doch hilflos und hysterisch übertrieben erscheint. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist eine Szene am Ende des ersten Teils, in der Aïcha ihre wütende Rede mit ausladenden Gesten untermalt (Abb. 11) 45 Cowie 1999, S. 30. 46 Ebd. Als Beispiel führt Cowie die Darstellung einer Kriegswitwe an, die nur über ihren leeren Kühlschrank sprechen, jedoch keine politischen Analysen liefern darf, um glaubhaft zu bleiben. 47 Ebd., S. 31.
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Andere Subjekte und dabei genau jenes stereotype Weiblichkeitsbild der Hysterikerin aufruft, wie es u.a. Jean-Martin Charcots Fotografien aus der psychiatrischen Anstalt Salpêtrière Ende des 19. Jahrhunderts vorformuliert haben.48 Diese Darstellungsweise der repräsentierten Frauen erscheint umso problematischer, als ihren vermeintlich authentischen Körperbildern eine scheinbar neutrale und körperlose Blickposition gegenübersteht, welche die repräsentierten Vorgänge aus sicherer Distanz beobachten kann. Diese Wahrnehmungsstruktur haben Christian Metz und Laura Mulvey bereits Mitte der 1970er Jahre am Beispiel des klassischen Erzählfilms als voyeuristische Schaulust beschrieben.49 Insbesondere Mulvey arbeitete dabei die Verbindung zur dualen Geschlechterideologie heraus. Demnach erscheinen Frauenfiguren meist als anti-narrative, sexualisierte Bild-Fetische, die von einem machtvoll narrativierten männlichen Blick weitgehend ungestört angeeignet werden können: „The presence of woman is an indispensable element of spectacle in normal narrative film, yet her visual presence tends to work against the development of a story-line, to freeze the flow of action in moments of erotic contemplation.“50
In Hot Water erscheinen die repräsentierten Frauen zwar kaum erotisch aufgeladen, doch auch hier ermöglichen insbesondere die Großaufnahmen der wütenden Frauen ein voyeuristisches Genießen des Spektakels ihrer ‚realen Wut‘.51 Die Rhetoriken des direct, die eine unmittelbare Teilhabe an dieser Wut suggerieren, verschleiern zugleich die Machtdifferenz zwischen Subjekt und Objekt des Blicks. Der voyeuristische Anteil des Betrachtens erscheint angesichts der vermeintlich ‚gemeinsamen Position‘ im Protestkollektiv vernachlässigbar und legitim. An dieser Stelle schließt nun auch die zweite Kritikebene an, die das Konzept einer einheitlichen, geschlossenen Gruppenidentität des Feminismus in Frage stellt. Diese Ebene wurde zu Beginn der 1980er Jahre verstärkt durch marginalisierte Gruppen innerhalb des Feminismus aufgebracht – insbesondere durch
48 Vgl. Didi-Hubermann, Georges: L'invention de l'hysterie. Charcot et l'iconographie photographique de la salpetrière, Paris: Macula 1982. 49 Metz 2000; Mulvey 1989, S. 14-26. Siehe dazu auch den Exkurs zur Apparatustheorie in Kapitel 1.2. 50 Ebd., S. 19. 51 Cowie spricht in einem vergleichbaren Sinn von einem „spectacle of actuality“. Cowie 1999, S. 19.
Der Kampf um feministische Perspektiven women of color und lesbische Feministinnen.52 Sie weisen darauf hin, dass ein ausschließlich auf Geschlechterdifferenz basierter Feminismus den Blick auf Unterschiede und Hierarchien zwischen Frauen verstellt. Das duale, heterosexuelle Geschlechtermodell wird dabei reproduziert und ein eurozentrisches Idealbild etabliert; Differenzen jenseits der ‚weißen‘ und dualen Geschlechterdifferenz bleiben hingegen als unsichtbare Störfaktoren innerhalb des Feminismus zurück. Die Unterscheidung zwischen ‚Norm‘ und ‚Differenz‘ wird auf diese Weise unbemerkt fortgeschrieben.53 Diese Problematik hat auch Judith Butler in ihrem einflussreichen Buch Das Unbehagen der Geschlechter (1991) theoretisch aufgearbeitet.54 Aus ihrer Perspektive wird das geschlechtliche Subjekt erst in der symbolischen Geschlechterordnung konstituiert, in der auch der Feminismus eine wesentliche Rolle spielt. Feminismus stellt somit selbst feministische ‚Subjekte der Macht‘ her, die zum einen einer essentiell gesetzten hegemonialen Männlichkeit untergeordnet bleiben und zum anderen selbst hegemonial gegenüber ‚Anderen‘ agieren.55 Die hegemoniale Position des Feminismus ist dabei nicht nur auf einer bewussten Ebene gegen das Patriarchat gerichtet, sondern kann auch andere, unbewusste Ebenen – etwa gegen nicht-weiße oder homosexuelle Personen – umfassen. Butler wendet sich somit ebenfalls gegen die Vorstellung eines scheinbar universell-emanzipativen Projekts ‚Feminismus‘, das auf einem einfachen, gegenhegemonialen Subjekt ‚Frau‘ basiert: „Die Unterstellung, daß der Feminismus für ein Subjekt, das er selbst konstituiert, eine breitere Repräsentation erreichen kann, hat ironischerweise die Konsequenz, daß die feministischen Zielsetzungen zu scheitern drohen, weil sie sich weigern, der konstitutiven Macht ihrer eigenen Repräsentationsansprüche Rechnung zu tragen. Diese Schwierigkeit verringert sich auch nicht, wenn nur zu ‚strategischen‘ Zwecken an die Kategorie ‚Frau(en)‘ appelliert wird. Denn Strategien haben stets Bedeutungen, die über die angestrebten Ziele
52 Vgl. dazu Whelehan 1996, S. 88-124. In den strukturalistischen Medienkritiken der 1970er Jahre ist die Kritik am Feminismus als einheitliche politische Front hingegen noch kein Thema. So plädiert etwa Johnston für ein ‚anderes‘, dezidiert kollektives Frauenkino. Johnston 1999, S. 40. 53 Zur Argumentation der women of colour siehe auch in Kapitel 1.3 den Abschnitt Das produktive Problem der ‚anderen Frauen‘. 54 Butler 1991. 55 Ebd. Zur paradoxen Konstitution des Subjekts durch Unterwerfung vgl. auch Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1997] 2001.
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Andere Subjekte hinausgehen. In diesem Fall können wir die Ausschließung selbst als eine solche unbeabsichtigte, aber folgerichtige Bedeutung erachten.“56
Vor diesem Hintergrund muss auch für Hot Water das Ideal einer geschlossenen feministischen Protestgemeinschaft in Frage gestellt werden. Die Fokussierung auf ‚starke Frauen‘ befördert die Vorstellung einheitlicher ‚Weiblichkeit‘ und verstellt den Blick auf mögliche Differenzen innerhalb der feministischen Gemeinschaft. Darüber hinaus bleibt festzuhalten, dass Produzentin und BetrachterInnen kaum mit den gleichen prekären Wohnbedingungen konfrontiert sind wie die Frauen im Video. Das dokumentarisch vermittelte übergreifende Konzept von Gleichheit in Hot Water verdeckt aber diese Differenzen und verharmlost somit mögliche Spannungen zwischen den protestierenden Frauen und den Personen im Kunstraum. Die dokumentarische Inszenierung einer ‚feministischen Wahrheit‘ von Hot Water bleibt letztlich sowohl in repräsentationskritischer als auch in identitätstheoretischer Hinsicht problematisch. Eine grundlegende Skepsis gegenüber dieser Dimension des Videos artikuliert auch Riera selbst, wenn sie im Text Notes à propos de HOT WATER – de l'eau chaude, extraits fragt: „À quoi ressemble notre salle de bains? À quoi nous engageons-nous lorsque nous filmons ou lorsque nous écrivons à propos d'êtres vivants? Comment laisser voir ou entendre la discontinuité existant entre le temps-action d'un enregistrement, et le temps-processuel de la transcription, de l'écriture, du montage, de la projection ou de la présentation d'une chose enregistrée… Comment laisser voir le passage des multiples mains qui travaillent en silence dans l'écoulement de tous ces temps?“57
Riera stellt die Frage, was die Badezimmer der Filmemacherin und der RezipientInnen von jenen der protestierenden Frauen unterscheidet. Sie fordert dazu auf, die eigenen hegemonialen Interessen, die im filmischen Engagement
56 Butler 1991, S. 20. 57 Der französische Text ist einem unveröffentlichten Manuskript der Künstlerin entnommen. Die spanische Übersetzung findet sich in Riera/ Fundació Antoni Tàpies 2005, S. 238. Dt.: „Wo liegt die Ähnlichkeit mit unserem Badezimmer?/ Wofür engagieren wir uns, wenn wir über andere Menschen schreiben oder sie filmen?/ Wie kann die Diskontinuität sichtbar gemacht werden, die zwischen der unmittelbaren Aufnahme-Zeit und der prozessualen Zeit der Übersetzung, des Schreibens, der Montage, der Projektion oder der Präsentation einer Sache liegt … Auf welche Weise können die vielen Hände sichtbar gemacht werden, die in aller Stille kontinuierlich daran gearbeitet haben?“ Herv. i. Orig., Übers. A.B.
Der Kampf um feministische Perspektiven für andere enthalten sind, genau zu überprüfen. Dabei rückt sie zugleich die Gemachtheit des Videos – die „temps-processuel“ der Postproduktion – in den Vordergrund. Genau diese Hinweise erschüttern jedoch die dokumentarische Unmittelbarkeitsrhetorik und regen dazu an, die ‚feministische Wahrheit‘ des Dokumentarischen, den dokumentarischen Eindruck einer unproblematischen, egalitären Video-Gemeinschaft kritisch zu reflektieren.
3.2 Mediale und räumliche Strategien der Distanzierung Eine solche kritische Haltung muss allerdings nicht nur von außen an Hot Water herangetragen werden, sondern sie kann auch aus dem Video selbst herausgelesen werden. Im Folgenden wird diesen kritisch-reflexiven Momenten sowohl auf medialer Ebene als auch in Bezug auf die Präsentationssituation des Videos im Projekt Un problème non résolu genauer nachgegangen.
Die Loop-Struktur des ersten Teils Wie bereits beschrieben, vermitteln die Großaufnahmen der wütenden Frauen im ersten Teil von Hot Water den Eindruck eines unmittelbar ‚präsenten‘ Protestkollektivs, an dem auch Filmemacherin und BetrachterInnen teilhaben. Genau diese Sequenz irritiert aber zugleich auch die Rhetorik des direct. Ein wesentlicher Grund dafür ist die extreme Dauer, Monotonie und Intensität der Szene: 17 Minuten lang sind immer wieder die gleichen Frauen (vor allem Aïcha und Fatima) zu sehen, die stets in den gleichen Großaufnahmen frontal in die Kamera sprechen. Dieses strenge Einstellungsformat wird kein einziges Mal unterbrochen oder aufgelockert. Weder gibt es Kamerafahrten, die den Ort des Protests erkunden, noch Aufnahmen der desolaten Wohnungen, über die die Frauen berichten. Diese Monotonie wird durch die markanten schwarzen Blenden, die die Sequenz unterbrechen, sogar noch verstärkt: Wie Knut Hickethier betont, leiten schwarze Blenden üblicherweise größere räumliche, zeitliche oder thematische Sprünge in der Narration eines Films ein und wecken daher die Erwartung filmischer Veränderung.58 Diese zunehmend sehnlich erwartete Veränderung wird aber in Hot Water immer wieder enttäuscht. Nach jeder Blende erscheinen erneut die gleichen Frauen, die ihre Forderung nach ‚heißem Wasser‘ wiederholen. Trotz leichter Veränderungen entsteht so
58 Hickethier, Knut: Film und Fernsehanalyse, Stuttgart / Weimar: Metzler 1996, S. 127.
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Andere Subjekte der Eindruck des ‚Immer-Gleichen‘. Wie in einer Wiederholungsschleife scheint das Filmgeschehen nach jeder schwarzen Blende wieder den selben Inhalt von vorne abzuspielen. Der erste Teil von Hot Water erinnert damit an sogenannte loop-printings des strukturellen Films der 1960er und 70er Jahre.59 Diese Strömung des Experimentalfilms zeichnet sich dadurch aus, dass sie den gefilmten Inhalt auf ein Minimum reduziert und diesen in langen, meist repetitiven Sequenzen zeigt. In Andy Warhols Film Empire (1964, 485 min.) wird beispielsweise das Empire State Building über acht Stunden lang ohne Unterbrechung aus einer starren Perspektive gefilmt und Ken Jacobs Film Soft Rain (1969, 9 min.) besteht aus einer dreimal hintereinander abgespielten Einstellung, die den Blick auf eine verregnete Straße zeigt. Die Monotonie des Inhalts soll dabei die Aufmerksamkeit auf die apparativen Funktionsweisen des Films lenken: auf seine mediale Künstlichkeit und auf die materiellen Bedingungen der Rezeption.60 Auch für Hot Water kann in diesem Sinn festgestellt werden, dass sich der repetitive Charakter der ersten Sequenz störend auf das dokumentarische Narrativ – die vermeintlich ‚direkte‘ Teilhabe am Protest-Kollektiv – auswirkt. Die Länge der Sequenz sowie die schwarzen Blenden machen zwar das lange Warten der Frauen ‚unmittelbar‘ nachvollziehbar, zugleich lässt der Wiederholungseffekt aber das „Spektakel der Realität“61 auch zunehmend langweilig und übertrieben erscheinen, sodass ein emotionaler Abstand zum Geschehen entsteht. Die Identifikation mit dem Protestkollektiv löst sich weitgehend auf und der Blick öffnet sich auf die mediale Gemachtheit der dokumentarischen Rhetorik von Unmittelbarkeit und Kollektivität. In dieser Repräsentationsdimension entspricht Hot Water weitgehend dem Ideal der zuvor beschriebenen (post-)strukturalistischen Filmkritik, die im reflexiven ‚Fremd-Machen‘ des dokumentarischen Inhalts ein aufklärerisches, politisch aktivierendes Potential sieht. Für Johnston etwa geht es im kritischen feministischen Film explizit darum, zu untersuchen, „how cinema works and how we can best interrogate and demystify the workings of ideology“.62 Sie schreibt:
59 Sitney, Adams P.: „Structural Film“ [1969], in: Dixon, Wheeler W./Foster, Gwendolyn A. (Hg.), Experimental Cinema. The Film Reader, London/New York: Routledge 2002, S. 228. 60 Vgl. Vogel, Amos: Film als subversive Kunst. Kino wider die Tabus – von Eisenstein bis Kubric, Reinbeck: Rowolt [1974] 2000, S. 118. 61 Cowie, Elizabeth: „Identifizierung mit dem Realen – Spektakel der Realität“, in: Angerer, Marie-Luise/Krimps, Henry P. (Hg.), Der andere Schauplatz. Psychoanalyse/ Kultur/Medien, Wien: Turia und Kant 2001, S. 164. 62 Johnston 1999, S. 40.
Der Kampf um feministische Perspektiven „[I]t is not enough to discuss the oppression of women within the text of the film; the language of cinema/the depiction of reality must also be interrogated, so that a break between ideology and text is affected.“63
Johnston entwirft damit ein dekonstruktivistisches Frauenkino, das in der Analyse der medialen Signifikationssysteme die Mechanismen sexistischer Bedeutungsproduktion sichtbar macht.64 Zu berücksichtigen bleibt allerdings, dass in diesem Filmkonzept der Produktionsinstanz eine neue, zentrale Bedeutung zukommt. Dabei erscheint die Filmemacherin von Hot Water als eine rationale Instanz, die jenseits der ‚unmittelbaren Emotionalität‘ während des Aufnahmeprozesses ein wohldurchdachtes künstlerisch-kritisches Konzept verfolgt. Mit der Inszenierung des Wiederholungseffekts scheint sie explizit auf die verblendende Funktion des Dokumentarischen aufmerksam machen und die BetrachterInnen in eine kritische Distanz zum filmischen Geschehen bringen zu wollen. Den Kern dieser Vorstellung bildet dabei ein emanzipatorisch aufgeladenes Konzept ‚künstlerischer Intentionalität‘65, bei dem die von der Produktionsinstanz ins Werk eingeschriebenen medien-kritischen Bedeutungen möglichst lückenlos von den erkennenden BetrachterInnen eingelöst werden sollen. Im erkennenden Nachvollzug durch eine informierte ‚Kunst-Lektüre‘66 scheint sich so die kritisch-reflexive Bedeutung des loop-printing von der politisch idealisierten Subjektposition der Künstlerin auf die Rezeption zu übertragen. In Relation zu den repräsentierten ‚Frauen‘ ist eine solche Lektüreweise allerdings problematisch. Weitgehend unreflektiert bleibt nämlich, dass sich auf diese Weise der Abstand zwischen den scheinbar idealen KritikerInnen des Dokumentarischen (Künstlerin und BetrachterInnen) und den weiterhin körperlich-passiv ins Dokumentarische eingeschriebenen Frauen effektiv vergrößert. Im selben Maße, wie die Loop-Struktur die BetrachterInnen in den
63 Ebd., S. 37. 64 Auch Mulvey argumentiert aus feministischen Gründen für ein künstlerisch-experimentelles Ausstellen der kinematografischen Codes im Experimentalfilm. Mulvey 1989, S. 26. 65 Amos Vogel spricht auch vom „Kalkül des Künstlers“, das im strukturellen Film durchscheine. Vogel 2000, S. 118. 66 Roger Odin setzt diesen Begriff – in Unterscheidung zu einer ästhetischen Lektüre – als Beschreibung der dominanten institutionellen Sicht auf Kunst, die deren Bedeutung und Wert wesentlich aus dem Wissen um die KünstlerInnen und deren Stellung im Kunstsystem ableitet. Odin, Roger: „Kunst und Ästhetik bei Film und Fernsehen. Elemente zu einem semio-pragmatischen Ansatz“, in: montage/av 11/2 (2002), S. 47.
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Andere Subjekte kritischen Reflektionsraum der Kunst holt, verweist sie die Frauen auf ihren objekthaften Platz innerhalb des Bildes. In der Loop-Struktur werden die übertrieben agierenden ‚hysterischen Frauen‘ erneut zu einer anschaulichen Metapher von Alterität67, die nun zwar auf die ‚falsche‘ dokumentarische Rhetorik verweist, dabei jedoch weiterhin aus einer scheinbar kritischen, intellektuellen Distanz heraus visuell genossen werden kann. Diese problematische Idealvorstellung des strukturellen Films, wie sie u.a. Johnston vertritt, geht indes nicht gänzlich auf. So unterstreicht etwa Rosalind Krauss, dass der experimentelle Film keineswegs auf einfache, logisch-rationale Strukturen reduziert werden kann – etwa im Sinn einer „single, indivisible experimental unit that would serve as an ontological metaphor […] for the essence of the whole“68 – sondern er stets auch andere, komplexe und durchaus widersprüchliche Bedeutungsebenen impliziert.69 Im Fall von Hot Water etwa wird die politische Idealisierung der Loop-Struktur von der extremen emotionalen Intensität der Reden der Frauen durchkreuzt. Denn während der gesamten 17 Minuten des ersten Teils steigert sich die Wut der Frauen immer mehr, ohne dass die Ursache dafür (die schlechten Wohnverhältnisse) und das Ziel ihrer Vorwürfe (die Vergabepraxis der Behörde) sichtbar gemacht würden. Ohne narrative, kathartische Filmbewegung persistiert die Wut der Frauen unaufgelöst während des gesamten ersten Videoteils. Dabei übersteigt sie die narratologische Funktion innerhalb der dokumentarischen Erzählung und wird zu einem autonomen Element, das auch jenseits der Thematik des Videos wirksam werden kann. Potentiell kann sich die Wut der Frauen dabei auch gegen die Instanzen der Produktion und Rezeption wenden. Vor dem Hintergrund einer durch die Loop-Struktur des Videos tendenziell distanzierten Rezeption ist es durchaus naheliegend, dass die BetrachterInnen die immer wiederkehrenden Vorwürfe der Frauen auf sich selbst beziehen und letztlich durch die Frauen aus der dokumentarischen ‚Wahrheit‘ des Protestkollektivs ‚vertrieben‘ werden. Zugleich erhalten die repräsentierten Frauen auch in Bezug auf die künstlerische Konstruktion der Loop-Struktur relative Autonomie, sodass sie nicht mehr gänzlich der vermeintlich rationalen, ideal-kritischen Position der Künstlerin untergeordnet sind. Ausschlaggebend ist hier der Umstand, dass sich die Kamera stets zeitverzögert auf die sprechenden Frauen richtet, weshalb die 67 Zur Funktion der Allegorie bei der Etablierung und Normalisierung der Geschlechterdifferenz vgl. Wenk, Silke: Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln: Böhlau 1996.. 68 Krauss, Rosalind: ,A Voyage on the Northern Sea‘. Art in the Age of the Post-Medium Condition, London: Thames & Hudson 1999, S. 30. 69 Ebd. Vgl. in diesem Sinn auch die komplexe Weiterentwicklung der Apparatuskritik in den 1980er Jahren u.a. durch de Lauretis 1984.
Der Kampf um feministische Perspektiven Wiederholung im Loop letztlich von den wütenden Reden der Frauen aktiv ausgelöst bzw. vorweggenommen erscheint. Dabei stellt diese exzessive, sich emotional steigernde Loop-Dimension der Frauen einen deutlichen Kontrast zur konstant bleibenden, langweiligen Form des künstlerischen loop-printing dar (für das etwa die schwarzen Blenden in Hot Water stehen), wodurch die Differenz zwischen dem prekären Ort der Protestaktion und dem kontemplativen Ort der Rezeption im Kunstraum deutlich markiert wird. Die Wut der Frauen scheint die BetrachterInnen nicht nur aus dem imaginierten kollektiven Protestraum auszuschließen, sondern sie auch explizit auf deren privilegierte soziale Position im Kunstraum vor dem Video zu verweisen. Unter diesen Bedingungen wird es zunehmend schwieriger, sich in einer politisch sicheren repräsentationskritischen Position einzurichten. Nicht nur die dokumentarische Identifikation mit dem Protestkollektiv, sondern auch der Rückzug daraus wird problematisch. In dieser unsicheren Situation fördert die bedrohliche, wiederkehrende ‚Präsenz‘ der wütenden Frauen eine Reflexion darüber, weshalb die BetrachterInnen nicht tatsächlich vor Ort waren und sich dem Protest angeschlossen haben, weshalb sie (im Kunstraum) nicht mit der gleichen Vehemenz heißes Wasser einfordern (können) und warum ihnen die Reden der Frauen tendenziell hysterisch und übertrieben erscheinen.
Un problème non résolu Das ambivalente ‚Eingespannt-Sein‘ zwischen dokumentarischer Identifikation und medienkritischer Distanz wird auch durch die Präsentation von Hot Water im Kontext des Projekts Un problème non résolu verstärkt.70
70 So verortet bereits die erste Textblende des Vorspanns das Video konstitutiv im Projekt. Zu lesen ist: „Alejandra Riera: Un problème non résolu / Documentation vidéo mise en consultation, partie de Travail-en-cours: / Dispositif integrant images photographiques, legendes, textes, documents vidéo. / (maquette sans qualité) Alejandra Riera“ (dt.: „[…] Videodokumente zur Stellungnahme, Bestandteil des workin-progress: Präsentationszusammenhang mit Fotos, Bildlegenden, Texten und Videodokumenten […]“). In einem Brief vom 19. September 2004 schlägt Riera folgenden Zusatztitel des Videos vor: „fragments extraits de la 3ème maquette-sans-qualité de Un problème non résolu, vues partielles (agencements discontinus d'images photographiques et légendes, de textes, de documents video en consultation et de récits de pratiques) initiés en 1995 par Alejandra Riera.“ (dt.: „Fragmente der 3ème maquettesans-qualité des Projekts Un problème non résolu diskontinuierliche Anordnung von Fotografien, Legenden, Texten, Videodokumenten und praktischen Erzählungen, 1995 initiiert von Alejandra Riera.“) Übers. A.B.
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Andere Subjekte In diesem Projekt werden verschiedene Materialien – Texte, Fotografien und filmisches Dokumentationsmaterial – in sogenannten maquettes-sans-qualité angeordnet. In der Ausstellung Work on Strike/travail en grève wurden fünf maquettes in Form von farblich markierten Wandabschnitten präsentiert, wobei das Video Hot Water als Teil der dritten maquette auf eine Holztafel mitten im Raum projiziert wurde (Abb. 12 und 13).71
Abb. 12: Ausstellungsansicht, Work on Strike/travail en grève, Fundació Antoni Tàpies, Barcelona, 2004/2005.
Abb. 13: Ausstellungsansicht, Work on Strike, 3ème maquette-sans-qualité, mit dem Video Hot Water (ganz links)
Indem Riera das Video inmitten einer Fülle von Dokumenten und Materialien zeigt, entscheidet sie sich explizit gegen ein Präsentationskonzept, das filmische Arbeiten einzeln und in abgedunkelten Räumen ausstellt. Mit solchen ‚black-boxes‘ wird im Allgemeinen versucht, eine möglichst fokussierte, 71 Für eine genauere Beschreibung dieses Präsentationszusammenhangs siehe Bartl 2005, 56f, sowie dies. 2009. Für die erste maquette vgl. Noack, Ruth: „Gewaltstrukturen, strukturelle Gewalt und die Macht der Bilder. Gedanken zu einem Kunstwerk im Jahr des Scheiterns der ,Operation Provide Comfort‘“, in: Springer. Hefte für Gegenwartskunst März/Mai (1997), S. 24-31.
Der Kampf um feministische Perspektiven kinoähnliche Situation im Ausstellungsraum herzustellen, um die imaginativen, identifikatorischen Effekte des Filmischen zu unterstützen.72 Der offene Installationszusammenhang von Un problème non résolu verweigert sich solchen Rezeptionsbedingungen. Stattdessen können die BetrachterInnen die technischen Vorrichtungen und das Arrangement der Materialien im Blick behalten; die besondere Materialität und Medialität des Videos bleibt erkennbar. Ein gänzliches Abtauchen in das dokumentarisch vermittelte Geschehen wird – ähnlich wie im Fall des loop-printing – unwahrscheinlich. Der von Riera angelegte Präsentationskontext stellt somit erneut eine Intervention in die dokumentarische Unmittelbarkeits-Rhetorik dar und befähigt die BetrachterInnen dazu (oder unterstützt sie zumindest darin), die Bedingungen des dokumentarischen Illusionismus zu erkennen und in kritische Distanz zu den darin enthaltenen Identifikationsangeboten zu gehen.73 Zu bedenken bleibt allerdings, dass den BetrachterInnen mit dem Installationsraum des Projekts auch ein ‚positiver‘ Identifikationsort angeboten wird. Dieser Ort erscheint umso attraktiver, als er diverse Möglichkeiten bietet, dem verunsichernden Inhalt des Dokumentarvideos (etwa den aggressiven Frauen der Loop-Struktur) zu entgehen – sowohl durch die Rezeptionsangebote der unzähligen weiteren Dokumente, zwischen denen sich die BetrachterInnen in den maquettes bewegen, als auch durch die Präsentationsform selbst, die ebenfalls eine formal und inhaltlich bedeutungsvolle Struktur darstellt. In Bezug auf letzteres ist vor allem die formal-ästhetische Ähnlichkeit der maquettes zu klassischen Themen- und Fotoausstellungen auffällig, die sich häufig durch eine strenge Gliederung, ein ordnendes Farbdesign an den Wandflächen und die Kombination von Fotografie/Film und Text auszeichnen. Als ein bekanntes Beispiel einer solchen thematischen Fotoausstellung ist die 1955 von Edward Steichen im Museum of Modern Art in New York ausgerichtete Ausstellung The Family of Man. Die Ausstellung zeigte mehr als 500 Fotografien, die in 37 thematischen Kapiteln (u.a. zu Geburt, Arbeit, Krieg, Familie …) assoziativ angeordnet waren und versuchten, das menschliche Leben in seiner Gesamtheit
72 Die Apparatustheorie kritisierte genau diesen Präsentationsmodus, da er einen künstlichen Regressionszustand auslöse, in dem die ZuschauerInnen die realistischen Filmbilder als ‚Realität‘ akzeptieren und die eigene passive Rezeptionsposition verdrängen. Vgl. insb. Baudry 1980, S. 41-62, und Metz 2000, S. 13-72. 73 In einem vergleichbaren Sinn bemerkt auch Mark Nash, dass im Kunstraum häufig die Bewegungsmöglichkeit der BetrachterInnen und damit einhergehend die fragmentierte Rezeption von filmischen Arbeiten als eine Form der Befreiung gesehen wird. Nash, Mark: „Bildende Kunst und Kino. Einige kritische Betrachtungen“, in: Documenta11_ Plattform5: Ausstellung, 2002, S. 129f.
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Andere Subjekte anschaulich zu machen (Abb. 14). Wie Mary Ann Staniszewski in ihrem Buch The Power of Display (1998) hervorhebt, verfolgte Steichen mit dieser speziellen Präsentationsform ein ausdrücklich politisch-edukatives Anliegen, das sich von zeitgleichen künstlerischen Ausstellungskonzepten, die ein weitgehend zweckfreies ästhetisches Erleben anstrebten, deutlich unterscheidet: „In MoMA's laboratory years, Steichen […] did not consider the gallery a neutral container for aestheticized images and objects. Like the objects and images exhibited, the installations were viewed as creations that manifested agendas and ideas and involved politics, history, capitalism, commerce, the commonplace, and, of course, aesthetics.“74
Mit einer ganz ähnlichen Organisationsform der Materialien suggerieren auch die maquettes eine dezidiert politische Argumentation. Rieras feministischsozialkritisches Projekt steht dem ideologischen Horizont von The Family of Man jedoch inhaltlich entschieden entgegen, der, wie vielfach kritisiert wurde, auf die Vermittlung einer vermeintlich allgemeingültigen, globalen ‚Wissensperspektive‘ abzielt, deren hegemoniales Zentrum die national-paternalistische Position der USA bildet.75 Rieras Projekt verweigert demgegenüber einen schlüssigen und einheitlichen Bedeutungszusammenhang, der aus der Anordnung der heterogenen Dokumente herauszulesen wäre. Die Organisationsform der maquettes ist, wie die Künstlerin selbst betont76, explizit diskontinuierlich angelegt, um dem Ideal einer kohärenten Wissensposition der BetrachterInnen entgegen zu wirken. Diese diskontinuierliche Anordnung kann jedoch durch einen distanzierten Blick auf die präsentierte Heterogenität ebenfalls in eine kohärente Bedeutung über die ‚Undiszipliniertheit der Welt‘ überführt werden.77 Auf diese Möglichkeit verweist auch die Kunstkritikerin und Kuratorin Ruth Noack am Beispiel einer Fotocollage der ersten maquette:
74 Staniszewski, Mary Anne: The Power of Display. A History of Exhibition Installations at the Museum of Modern Art, Cambridge, MA: MIT Press 1998, S. 258. 75 Vgl. dazu auch Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1957] 1964, S. 17ff. 76 Riera/Fundació Antoni Tàpies 2005, S. 9. 77 In diesem Sinn beschreibt Liz Kotz am Beispiel des Expanded Cinema von Stan VanDerBeek, dass die aufwendig inszenierte ‚Undiszipliniertheit‘ des Mediums weitgehend bruchlos in die amerikanische Freiheitsund Wohlstandsideologie integrierbar ist. Kotz, Liz: „Die Disziplinierung des Expanded Cinema“, in: Michalka, Matthias (Hg.), X-Screen, Ausst.-Kat., MUMOK Wien/Köln: König 2003, S. 56f.
Der Kampf um feministische Perspektiven „Die Vielzahl der Themen, die Vielzahl der Motive, die Vielzahl der Bildästhetiken haben in dieser All-over-Bewegung vor allem einen Effekt: sie vermitteln ein Bild von Welt. […] Die dadurch produzierte Welt erscheint tatsächlich als einzige, ganze, vollständige Welt.“78
Für die dokumentarisch repräsentierten Frauen in Hot Water würde eine solche distanziert-kohärente Perspektive bedeuten, letztlich umso stärker als Repräsentantinnen des ‚echten Lebens‘ zu erscheinen – als „biopolitische Produkte“ und „vitalistische Fetische“79, wie Hito Steyerl formuliert. Der dokumentarische Anspruch der Videorhetorik würde dabei weiter untermauert und der Abstand zwischen dem vermeintlich umfassenden Blick der BetrachterInnen und den vermeintlich authentischen Körpern der Frauen sogar noch vergrößert.
Abb. 14: Ausstellungsansicht, The Family of Man, MoMa, New York, 1955.
Die Dokumente des Projekts Un problème non résolu sind jedoch in den maquettes keineswegs völlig beliebig und zusammenhanglos angeordnet. Obwohl keine einheitliche ‚große Narration‘ aus den maquettes herausgelesen werden kann, lassen sich immer wieder inhaltliche Verbindungslinien zwischen einzelnen Dokumenten entdecken, die einen gänzlich distanzierten Blick auf die Repräsentationen verhindern. Die maquettes fordern durch diese Verknüpfungen eine genaue Lektüre der Dokumente und binden dabei die BetrachterInnen in ihre Thematik ein. Diese Verknüpfungstätigkeit betrifft sowohl kleinere Zusammenhänge, wie etwa zwischen Bild und Textunterschrift, als auch größere Verbindungslinien, die sich beispielsweise durch wiederkehrende Motive und
78 Noack 1997, S. 29. 79 Steyerl 2003, S. 19. Vgl. dazu auch Kapitel 1.3.
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Andere Subjekte Figuren ergeben.80 So tauchen in den ersten drei maquettes mehrfach zwei Frauenfiguren – Leyla Zana und Hiam Abbass – auf, deren visuelle Verknüpfung dazu anregt, aktiv nach Verbindungen und Differenzen zwischen ihnen zu suchen. Im folgenden Abschnitt wird der Inszenierung des Verhältnisses der beiden Frauenfiguren näher nachgegangen. Dies geschieht nicht zuletzt deshalb, weil diese Auseinandersetzung auch Anlass für eine inhaltliche Lektüre von Hot Water gibt, die sich verstärkt mit Fragen der Differenz beschäftigt.
3.3 Differenzierende Narrationen Leyla Zana und Hiam Abbass Beim Betrachten der Fotocollage der ersten maquette fällt rasch auf, dass zwei Frauenfiguren mehrfach in ähnlichen Posen erscheinen (Abb. 15).81 Als Ausgangspunkt kann eine schwarz-weiße Pressefotografie ausgemacht werden, die eine Frau und einen Mann mit zwei Kindern auf einer Bank sitzend zeigt. Schräg unter dieser Abbildung ist eine Farbfotografie zu sehen, in der eine zweite Familie die gleiche Szene nachstellt. Aus diesen Fotografien wurden jeweils die Portraits der beiden Frauen vergrößert und in der Collage nebeneinander positioniert – umgeben von weiteren Fotografien und Filmstills, die die beiden Frauen zeigen. Mithilfe einer Bildlegende, die sich am Rand der Collage befindet, können die BetrachterInnen deren Namen und soziale Kontexte in Erfahrung bringen. So ist etwa zu lesen, dass es sich bei der Frau in der Pressefotografie um Leyla Zana handelt, die als erste kurdische Abgeordnete ins türkische Parlament gewählt wurde und sich aufgrund ihrer politischen Aktivitäten mehrere Jahre in Gefangenschaft befand (genauso wie ihr Ehemann, den sie auf dem Foto im Gefängnis besucht).82 Und die Frau in der Farbfotografie wird als Hiam Abbass vorgestellt, die als palästinensische Schauspielerin in Paris lebt und arbeitet. Der Bildlegende zufolge ist sie auf dem Foto gemeinsam mit ihrer Familie in ihrer Pariser Wohnung zu sehen.
80 Vgl. dazu den Katalog Riera/Fundació Antoni Tàpies 2005 sowie Bartl 2009. 81 Eine ausführliche Diskussion der ersten maquette, in der auch auf das Verhältnis der beiden Frauenfiguren eingegangen wird, findet sich in Noack 1997, S. 29f. 82 Vgl. ebd., S. 26, sowie Riera 2005, S. 42.
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Abb. 15: Detailansicht der Ausstellung Work on Strike, 1ère maquette-sans-qualité.
Dass sich die beiden Frauen in den Fotografien stark ähneln und diese Ähnlichkeit durch das Nebeneinanderstellen der Portraits noch besonders hervorgehoben wird, unterstreicht zunächst vor allem die Ikonenhaftigkeit der Figuren. Wie in klassischen Hollywoodfilmen über berühmte Persönlichkeiten scheint auch hier der visuelle Wert größtmöglicher Ähnlichkeit zwischen Schauspielerin und ihrem Vorbild im Vordergrund zu stehen. Während jedoch im realistischen Film der Akt des Imitierens zugunsten der erzählten Geschichte verdrängt wird, ist in Rieras Collage das ‚In-die-Rolle-Schlüpfen‘ deutlich benannt. Eine wichtige Funktion kommt dabei einer Fotografie in der Mitte der Collage zu, die neben einer Hand mit Kaffeetasse einen wie zufällig aufgeschlagenen Zeitungsartikel mit dem Pressefoto von Zana zu sehen gibt. Wie die Bildlegende erläutert, handelt es sich hier um eine Szene, in der Abbass die Fotografie als Vorbereitung auf ihre Rolle studiert und ‚interpretiert‘.83 Dieser Hinweis auf die Tätigkeit der Schauspielerin benennt nicht nur die Aktivität der ästhetischen Verknüpfung beider Figuren, sondern er unterstreicht vor allem auch die Bedeutung einer vertieften inhaltlichen Beschäftigung mit dem Leben der ‚gespielten Figur‘. Diese Dimension des Erarbeitens von biografischem Kontextwissen wird in der Fotokollage auch auf die Aktivität der BetrachterInnen übertragen, die ebenfalls dazu angehalten sind, aus den Bildlegenden und weiteren an den Wänden angebrachten Zeitungsausschnitten und Texten Informationen zu den beiden Frauenfiguren zu erarbeiten. Eben dieses Erarbeiten spezifischen Kontextwissens erschwert jedoch eine Wahrnehmung der beiden Frauenfiguren, die nur auf optischen Ähnlichkeitseffekten basiert und sie zur Bildikone verschmelzen lässt. Stattdessen werden auch Unterschiede zwischen den Frauen erkennbar: auf der einen Seite die prekäre politische Arbeit und Gefangenschaft Zanas, die
83 Ebd.
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Andere Subjekte sie lange Jahre von ihrer Familie trennte, und auf der anderen Seite die weitgehend sichere Situation, in der Abbass mit ihrer Familie in Paris lebt. Die Differenzen der Lebenssituation der beiden Frauen werden in der dritten maquette noch weiter betont. In diesem Präsentationsabschnitt sind zwei Videos zu sehen, die die beiden Frauen unabhängig voneinander vorstellen: Der Dokumentarfilm Lettres à mon ennemie [dt. Briefe an meine Feindin] (Andreas Weiss, 1992/93, 22 min.) zeigt mehrere kurze ‚Videobriefe‘, in denen Zana und die türkische Journalistin Leyla Umar einander ihre konträren Standpunkte zur ‚Kurdenproblematik‘ darlegen. Und im Video Speaking about Roles (1999, 40 min.) spricht Abbass über ihre Arbeit als Schauspielerin, die stark durch ihre Situation als palästinensische Migrantin in Frankreich geprägt ist. Dabei wird Abbass als eigenständige, politische Persönlichkeit wahrnehmbar – unabhängig von ihrer Rolle als Leyla Zana.84 Die vertieften Darstellungen der beiden Frauen sind nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil in der rein ikonischen Ähnlichkeit der Fotografien ein scheinbar universelles Körperbild von ‚Frau‘ bzw. ‚Mutterschaft‘ enthalten ist. Durch die detailreichen Informationen aus den Videos wird diese stereotype Darstellung aufgebrochen. Dies bedeutet aber nicht umgekehrt, dass die Frauen nun gänzlich isoliert und ohne Bezug aufeinander erscheinen würden. Vielmehr wird eine neue, nicht mehr auf Ikonizität basierende politische Verbindung zwischen den Frauen eröffnet, die auf ihren jeweils spezifischen Erfahrungen von ethnischer Differenz und Diskriminierung basiert. Im Fall von Zana betrifft dies etwa die Tatsache, dass sie aufgrund des Tragens der kurdischen Nationalfarben im türkischen Parlament verhaftet wurde, und im Fall von Abbass den Umstand, dass sie aufgrund ihrer arabischen Herkunft kaum Hauptrollen in westlichen Filmen erhält. Für die Lektüre des Videos Hot Water, das in der dritten maquette auf die Videos von Zana und Abbass trifft (Abb. 13), hat dieser thematische Zusammenhang wichtige Konsequenzen: Zum einen wird damit der Blick für die individuellen Besonderheiten der repräsentierten Frauen jenseits ihrer Funktion im ‚feministischen Kollektiv‘ geschärft und zum anderen rückt durch die Auseinandersetzung mit den differenz-politischen Themen bei Zana und Abbass auch in Hot Water das Moment der Differenz verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
84 Deutlich wird dies auch in einer Bildlegende zu einer Fotografie in der zweiten maquette, in der explizit darauf hingewiesen wird, dass Abbass hier gerade niemanden darstellt. Vgl. Riera/Fundació Antoni Tapiès 2005, S. 136.
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Erzählungen der ‚Anderen‘ Ein neuer, inhaltlich interessierter Blick auf das Video Hot Water zeigt, dass die protestierenden Frauen in der ersten Sequenz keineswegs immer wieder die gleichen Forderungen wiederholen, wie dies die schwarzen Blenden der Loop-Struktur suggerieren. Vielmehr sind ihre Reden reich an fragmenthaften Beschreibungen ihrer jeweils besonderen Lebenssituation. So erfahren die RezipientInnen beispielsweise, dass Henriette alleine in einem Wohnwagen lebt, dass sich Nathalie eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit vier weiteren Familienmitgliedern teilt und dass Aïcha einen Sohn hat, dem sie durch ein eigenes Arbeitszimmer bessere Zukunftschancen ermöglichen möchte. Auch ethnische Differenz wird von den Frauen thematisiert. Aïcha und Fatima erwähnen mehrmals, dass ihre aus Nordafrika eingewanderten Eltern lange Zeit in nordfranzösischen Kohleminen gearbeitet haben. Sie untermauern damit ihren rechtmäßigen Anspruch auf Sozialleistungen: Aïcha: „I think that I deserve it given that my father worked thirty years in the mines.“ […] Fatima: „Our parents worked 30 years on the job. My father was also a miner. […] He gave 30 years of loyal services to the mines and that's why we're fighting the SOGINORPA.“ […] Aïcha: „Our parents washed in basins when they worked in the mines. […] My parents have been in France for fourty years. Fourty years washing in basins and it's still going on.“85
Dass Aïcha und Fatima so eindringlich auf die langjährige Arbeit ihrer Eltern in Frankreich hinweisen, ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass sie durch ihre ethnische Herkunft dem klassischen ‚weißen‘ Vorstellungsbild des französischen Staates nicht entsprechen. Dies wird auch an anderer Stelle deutlich, wenn Fatima auf ihre französische Staatsbürgerschaft und ihr Wahlrecht hinweist: „We vote, we're French, we're citizens like everybody else.“86 Indem die beiden Frauen explizit auf ihren gesetzlichen Anspruch auf Gleichheit pochen, klagen sie an, dass – anders als der nationale Egalitäts-Mythos vorgibt – Klassenunterschiede bestehen und diese wesentlich mit ethnischer Differenz gekoppelt sind. Als Migrantinnen der zweiten Generation ist es für Aïcha und Fatima eben nicht selbstverständlich, die gleichen Forderungen an den französischen Staat zu stellen, wie für ‚everybody else‘, also für Mitglieder der eurozentrischen ‚Norm‘. In Hot Water repräsentieren diese ‚Norm‘ die weißen Frauen Nathalie
85 Hot Water, Teil 1. 86 Hot Water, Teil 1.
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Andere Subjekte und Henriette, die – anders als Aïcha und Fatima – ihren Anspruch auf ‚heißes Wasser‘ nicht erst durch ein erarbeitetes Aufenthaltsrecht ihrer Eltern begründen müssen. Vielmehr drohen sie sogar damit, illegal Wohnungen zu besetzen und kritisieren auch die FürsprecherInnen der Organisation DAL offensiv, deren Verhandlungsergebnis mit der Behörde sie als zu schwach ansehen.87 Die Frauen mit migrantischem Hintergrund wie Aïcha, Fatima oder Fatoumata artikulieren solche Kritik und solche Drohungen nicht. Aïcha drückt ihre Enttäuschung über das Verhandlungsergebnis stattdessen in ironisch gebrochener Form aus, indem sie ein Lied auf das ‚ewige Warten‘ singt.88 Es wird deutlich, dass die Artikulations- und Handlungspositionen der nicht-weißen Frauen bei Weitem weniger abgesichert sind als die der weißen Frauen. Für sie steht im Kampf um ‚heißes Wasser‘ mehr auf dem Spiel als bessere Wohnbedingungen: ihr Recht auf legitimen Aufenthalt in Frankreich. Fatima artikuliert diese prekäre Situation, wenn sie unterstreicht: „We grew up in the miners' houses, we live there now and we want to stay there.“89 Mit Blick auf diese Erzählungen der Frauen vertieft und differenziert sich deren Darstellung. Sie treten nun weniger als sichtbare Körper in Erscheinung, deren dokumentarische ‚Präsenz‘ das Bild einer einheitlichen politischen Gemeinschaft authentisiert, sondern werden verstärkt als eigenständige Charaktere wahrgenommen, die ihr spezifisches Wissen, ihre Meinungen und ihre Zukunftswünsche selbstständig kommunizieren und gesellschaftliche Zusammenhänge verhandeln.90 Damit überschreiten sie ihren bildhaften Objektstatus im vermeintlichen ‚Hier und Jetzt‘ des Videos und agieren stattdessen als kritische, politische Subjekte, die sowohl von der filmischen Gestaltung der Produzentin als auch von den Erwartungen der RezipientInnen relativ unabhängig
87 Im zweiten Teil meint etwa Henriette über Nathalie: „The lady said that if she didn't have her house tonight, she'd move in. I'm going to give her a hand“ [Hot Water, Teil 2]. Im dritten Teil artikuliert Nathalie selbst: „Tonight, I'm knocking down that door, thats for sure and if anyone comes, they'd better watch out for their face. The social worker is the same, I'll throw the broom in her face“ [Hot Water, Teil 3]. 88 Aïcha „There's a song: I'll wait, I'll wait for hot water and housing, I'll wait a life long or a night long?“ [Hot Water, Teil 2]. Zur Bedeutung von Ironie als subversive Strategie in marginalisierten Kontexten vgl. u.a. Diederichsen, Diedrich (Hg.): Yo! Hermeneutics! Schwarze Kulturkritik. Pop, Medien, Feminismus, Berlin/Amsterdam: ID-Verlag 1993, sowie Hutcheon, Linda (Hg.): Double Talking. Essays on Verbal and Visual Ironies in Canadian Contemporary Art and Literature, Toronto: ECW Press. 1992. 89 Hot Water, Teil 1. 90 Zur politischen Bedeutung von Utopiefragmenten in Erzählungen von MigrantInnen vgl. auch Castro Varela Maria do Mar: Unzeitgemäße Utopien. Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und Gelehrter Hoffnung, Bielefeld: transcript 2007.
Der Kampf um feministische Perspektiven sind. Sie differenzieren sich nicht nur als besondere Individuen innerhalb der Gruppe, sondern sie konstituieren sich auch aktiv selbst als politische Gruppe, indem sie ihre prekäre soziale Position („we“, „the poor class“) gegen die soziale Dominanzgruppe („they“, „the rich“) geltend machen: Aïcha: „Do they wash in cold water? Do they have baths? […] We're the poor class, we don't have the right to a bathroom. The rich have a bath-room, but we were unlucky enough to be born miner's daughters.“ […] Fatima: „That's where you see the difference. […] There's a hell of difference between taking your bath in a bathtube with all the heat there, and in a basin which you have to go and empty outside afterwards. A hell of difference.“91
Dass sich diese Hinweise auf Differenz auch gegen die Künstlerin und die BetrachterInnen richten, wird an einer Stelle deutlich, an der Aïcha insistiert: „We want to wash in hot water. It makes some people laugh“92 – und die Filmemacherin, die dies auf sich bezieht, entgegnet: „Non, ça fait pas rire, il faut de l'eau chaude, moi ça me fait pas rire.“93 Ähnlich wie in der weiter oben beschriebenen Loop-Struktur scheint es hier, als wendeten sich die Frauen aktiv und explizit gegen ihre Vereinnahmung durch eine einheitliche feministische ‚Video-Wahrheit‘. Ihre Reden durchbrechen das feministische Kollektiv mehrfach, sowohl durch Differenzierungen innerhalb der repräsentierten Frauen als auch in Bezug auf Differenzen gegenüber der Produzentin und den RezipientInnen. Die Frauen können vor diesem Hintergrund nicht mehr unproblematisch als feministisch ‚Gleiche‘ angeeignet werden. Aber auch die formale Distanzierung von ihnen wird zunehmend schwerer, da die Rezeption nun bereits stärker inhaltlich in die konkreten Erzählungen der Frauen involviert ist, deren Themen sie aus den Reden der Frauen herausfiltern musste. Zu beachten bleibt jedoch, dass eine solche sorgfältige Rezeptionshaltung auch in einen „detektivischen Blick“ umschlagen kann, der, wie Ruth Noack für die erste maquette feststellt, „sich selbst als analytischer versteht [und] hinter dem Anspruch, dem Chaos Sinn zu verleihen, seinen eigentlichen Beweggrund, die sinnstiftenden Subjekteffekte, zu verbergen“ versucht.94 In Hot 91 Hot Water, Teil 1. 92 Hot Water, Teil 1. 93 Hot Water, Teil 1. Dt. „Nein, das ist nicht lächerlich, man braucht heißes Wasser, ich lache nicht.“ Übers. A.B. In den englischen Untertiteln des Videos wird dieser Einwurf nicht übersetzt. 94 Noack 1997, S. 28.
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Andere Subjekte Water erscheint eine solche Rezeptionsposition besonders problematisch, da sich die ‚detektivischen‘ BetrachterInnen gerade in Relation zu den chaotischen Reden der ‚Anderen‘ als rational entwerfen können. Es scheint, als könne auch unter Berücksichtigung dieser Narrationsebene von Hot Water letztlich eine überlegene, distanzierte Wissensposition in Differenz zu den ‚anderen Frauen‘ etabliert werden. Im zweiten und dritten Teil des Videos wird allerdings noch eine andere narrative Dimension des Videos wirksam, die im folgenden Abschnitt näher betrachtet werden soll: der dramatische Handlungsverlauf von Nathalies Wutausbruch.
Die narrative Figur der ‚Heldin‘ Die filmische Erzählhandlung von Hot Water entfaltet sich für die BetrachterInnen nicht sofort. Der extrem lange erste Teil des Videos wirkt aufgrund seiner Gleichförmigkeit sogar eher anti-narrativ und wird erst nach dem Einsetzen der diegetische Filmhandlung im zweiten und dritten Videoteil rückwirkend in die Erzähllogik eingebunden. Die zentrale narrative Wende bildet dabei Nathalies Entscheidung, aufgrund des enttäuschenden Verhandlungsergebnisses selbständig in Konfrontation mit der Behörde zu gehen. Nach Ankündigung ihres Alleingangs vor der Gruppe stürmt sie wutentbrannt durch das Gebäude auf der Suche nach dem verantwortlichen Direktor, den sie mit ihrem Fall konfrontieren will. Dabei lässt sie sich von Personen am Empfang weder beschwichtigen noch abweisen. Obwohl der Leiter der Behörde mehrmals verleugnet wird, pocht sie vehement auf ihr Recht, angehört zu werden: „I'll get upset if I want. In any case, I'm not moving from here. I want the director. Let him show his face. […] I'm not an idiot. I'm 23 and I've got my temper and now I want to see the director […] nobody makes me afraid.“95
Durch ihre Beharrlichkeit gelingt es Nathalie schließlich, den Direktor mit ihrem Anliegen zu konfrontieren. In der tatsächlichen Auseinandersetzung, an der auch der Rest der Gruppe teilnimmt, bleibt der Direktor zwar hart (und Nathalie bricht letztlich auch enttäuscht zusammen), dennoch erscheint es wie ihr persönlicher Sieg, dass die verleugnete Autorität endlich vor der Protestgruppe erscheint und sich ihrem Anliegen stellen muss.
95 Hot Water, Teil 3.
Der Kampf um feministische Perspektiven Diese narrative Machtposition von Nathalie wird noch verstärkt, indem sie auch auf anderen filmischen Ebenen machtvoll in Szene gesetzt wird. In der ersten Hälfte des dritten Videoteils ist beispielsweise fast durchgehend die Kamera auf Nathalie gerichtet, wobei diese immer wieder aktiv die Aufmerksamkeit der Kamera auf sich zu lenken scheint. Ihre raumgreifenden Aktionen ermöglichen dabei erstmals einen tieferen Blick in die Räume der Behörde, der im ersten Teil aufgrund der Großaufnahmen verwehrt blieb. Gemeinsam mit Nathalie dringen die BetrachterInnen in das Gebäude vor und ergreifen mit ihr die Blickmacht über den Ort des Geschehens. Darüber hinaus kommt Nathalies Aktion auch insofern eine machtvolle Rolle zu, als sie eine logische und emotional notwendige Konsequenz innerhalb der filmischen Diegese darstellt: Erst durch Nathalies individuellen Ausbruch werden die repetitiven Reden der Frauen in einen narratologisch kohärenten Spannungsbogen eingebunden. Erst ihr Handeln bringt die ersehnte Katharsis für die zuvor aufgestaute Wut der Sprecherinnen und erlöst zugleich die BetrachterInnen aus der unbefriedigenden Loop-Struktur des ersten Videoteils. Die Inszenierung ihres machtvollen, individuellen Gangs durch die Institution macht Nathalie zur handlungstragenden, identifikatorischen Heldin der Erzählung – eine Figur, wie sie u.a. aus dem klassischen Erzählkino bekannt ist. Wie Laura Mulvey in ihrem bekannten Text zeigt, ist diese Rolle jedoch zumeist männlichen Protagonisten vorbehalten, die als starke Identifikationsfiguren die machtvolle Blickposition der ZuschauerInnen narrativieren, während Frauenfiguren meist als anti-narrative, spektakelhafte Bildflächen inszeniert werden.96 Dass in Hot Water der narrative ‚Held‘ eine Frau ist, stellt somit einen emanzipatorischen Bruch in den traditionellen Geschlechterrollen dar. In diesem Sinn erweitert die narrative Wende des Videos die ‚feministische Wahrheit‘ von Hot Water. Nathalies Konfrontation mit der männlich assoziierten Behörde kann als ein stellvertretender Kampf gelesen werden, den sie für das gesamte ‚feministische‘ Kollektiv austrägt. Das individuelle Vorgehen einer einzelnen ‚Heldin‘ baut aber auch die bereits genannten Differenzierungen innerhalb der Protestgruppe weiter aus. So wird Nathalie bereits im zweiten Videoteil von einer Vertreterin der Organisation DAL vorgeworfen, dass sie durch ihre Aktion das Kollektivinteresse der Gruppe verrät bzw. gefährdet: „No, we are defending 30 families. If you act alone, you could upset the agreement we have obtained. You have to keep cool, a little patience.“97
96 Mulvey 1989, S. 19-22. 97 Hot Water, Teil 2.
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Andere Subjekte Durch ihre Einzelaktion bricht Nathalie aber nicht nur aus der Gruppe aus, sondern sie wird darüber hinaus auch erst in Kontrast zu den wartenden Frauen als tatkräftige Heldin profiliert. Die narrative Inszenierung des Videos reproduziert dabei das von Mulvey beschriebene Aktiv/passiv-Schema, indem es eine Unterscheidung zwischen den passiv wartenden Frauen und einer herausragenden, aktiv tätigen Frau einführt. Dabei tritt zunehmend die Tatsache in den Blick, dass diese Unterscheidung mit der ethnischen Markierung der Frauen korrespondiert, die bereits weiter oben herausgearbeitet wurde: Denn es ist ausdrücklich die weiße Französin Nathalie, die zur ‚feministischen Heldin‘ wird, und nicht die nicht-weißen Frauen Aïcha und Fatima. Hot Water wiederholt damit die Problematik des vermeintlich universellen ‚weißen Feminismus‘, der die ‚anderen Frauen‘ auf ihre Differenz – ihren „Dritte-Welt-Unterschied“, wie Chandra Mohanty formuliert98 – reduziert: Während Aïcha und Fatima durch ihre wütenden aber wirkungslos bleibenden Reden in den (orientalistischen) Stereotypen pathetisch-übertriebener und zugleich passiver Weiblichkeit verhaftet bleiben99, kann sich die weiße Protagonistin Nathalie aus diesen Zuschreibungen befreien und in Abgrenzung dazu zur vermeintlich universellen Repräsentantin des feministischen Kollektivs werden. Diese essentialisierende Differenzsetzung in der filmischen Erzählung wird durch die weiter oben beschriebenen differenzierenden Inhalte der Reden der Frauen sogar noch potentiell gestützt und authentisiert. Ihre Hinweise auf soziale und ethnische Differenz, die zuvor noch als Ausdruck einer relativ autonomen, kritischen Subjektivität der Frauen gelesen wurden, können nun – angesichts des Identifikationspotentials der narrativen Figur einer ‚weißen feministischen Heldin‘ – in einen dominanten rassistischen Diskurs re-integriert werden, der sie als Beweis für die Andersheit der ‚anderen Frauen‘ nutzen kann. Problematisch ist dabei vor allem, dass die Äußerungen der Frauen in der Rhetorik des direct als unverfälschte und spontane Produkte der ‚realen Welt‘ erscheinen, sodass die rassistische Dimension der Filmhandlung entnannt werden und sich im kolonialen Unbewussten der BetrachterInnen verfestigen kann. Die unterschiedliche filmische Positionierung der ‚weißen‘ und ‚nicht-weißen‘ Frauen erscheint letztlich völlig natürlich und kann in eine – nun ethnisch geordnete – ‚feministische Kollektiv-Wahrheit‘ wieder eingebunden werden. Doch auch diese Ebene wird noch einmal irritiert. Denn in der Texttafel des Epilogs, die unmittelbar auf die dramatischen Ereignisse um Nathalies Wutausbruch folgt, wird verkündet, dass nur Nathalie eine Wohnung in Folge des
98 Mohanty 1988, S. 159. 99 Zur kritischen Dekonstruktion des Orientalismus siehe Said, Edward: Orientalismus, Frankfurt a.M.: Ullstein [1978] 1981.
Der Kampf um feministische Perspektiven Protests erhalten hat, während Aïcha und Fatima weiter auf Verbesserungen warten müssen: „Nathalie a retrouvé un logement par la suite. Aïcha et Fatima attendent encore l'eau chaude.“100
Genau im gleichen Moment, in dem der Erfolg von Nathalies Einzelaktion festgehalten wird, wird zugleich auch die Gewaltförmigkeit der Differenz zwischen ihr und den beiden ‚nicht-weißen‘ Frauen sichtbar. Die Sonderstellung Nathalies wird damit in ihrer ungerechten, ethnisch diskriminierenden Dimension erkennbar und die Unterschiede der politischen Handlungsmöglichkeiten der Frauen innerhalb der Protestaktion als problematisch benannt. Dass der Epilog direkt auf die emotional mitreißende feministische Heldinnengeschichte folgt, erscheint dabei wichtig. Denn auf diese Weise kann sich das Differenz-Wissen der BetrachterInnen nicht mehr so leicht auf eine rationaldistanzierte Position zurückziehen. Ruth Noack beschreibt eine solche Rezeptionsposition in Bezug auf die erste maquette auch als „affektive[…] Inszenierung […] in der ich mich nicht mehr gegenüber der Medienlandschaft verorten kann, sondern an deren dialogischer Durchdringung teilhabe“.101 In einem vergleichbaren Sinn fordert auch der Schluss von Hot Water die BetrachterInnen dazu auf, die ‚weiße feministische Wahrheit‘ des Videos, ihr rassistisches Potential und die eigene Einbindung darin nachträglich zu reflektieren. In den Fokus gerät dabei das eigene Weißsein bzw. die eigene Identifikation mit einer ‚weißen feministischen Norm‘. Die weiter oben dargelegte postkolonial-feministische Kritik an der dokumentarischen Kollektiv-Rhetorik von Hot Water kann damit nicht mehr aus sicherer Distanz eines theoretischen ‚Außen‘ geübt werden. Die Problematik lässt sich nicht mehr allein auf das Video bzw. die Inszenierung durch die Produktionsinstanz verschieben, sondern sie muss letztlich auch auf die eigene praktische BetrachterInnenposition und ihre identifikatorische Involvierung in das imaginäre feministische Kollektiv bezogen werden.
3.4 Ekstatischer Feminismus Die Lektüreschritte, die im Laufe der letzten drei Unterkapitel unternommen wurden, haben gezeigt, dass sich in Hot Water immer wieder Momente von
100 Hot Water, Teil 3/Epilog; dt. „Nathalie hat in Folge eine Wohnung erhalten. Aïcha und Fatima warten noch immer auf heißes Wasser.“ Übers. A.B. 101 Noack 1997, S. 30.
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Andere Subjekte Unmittelbarkeit und Distanz, Kollektivität und Differenz auf widersprüchliche, einander relativierende Art und Weise überlagern. Das vierte Unterkapitel fragt nun danach, welche Konsequenzen diese Überlagerungen für die Konzeption des Feminismus in Hot Water haben. Ein medien-theoretisches Konzept, das auf der Verknüpfung konträrer Identifikationsebenen beruht, entwickelt Teresa de Lauretis in ihrem Text Strategien des Verkettens (1989) ausgehend von Yvonne Rainers feministischen Erzählfilmen in den 1980er Jahren. Den Kern dieses Konzepts bildet der Begriff der „gebrochenen Kette (subverted support)“.102 De Lauretis beschreibt damit eine mögliche Subjektposition im Film, deren politisches Potential darin besteht, die paradoxe gesellschaftliche Position von Frauen als Bildobjekt und als reale Handlungssubjekte zu erfassen.103 Ein ähnliches politisches Medienkonzept entwirft auch Kaja Silverman in ihrem Text Politische Ekstase (1996). Auch hier geht es um das das paradoxe Zusammentreffen von Verfremdungsund Identifikationsangeboten, das nach Silverman eine politische „Identität mit Abstand“104 ermöglicht. Während de Lauretis mit ihrem Konzept allerdings vor allem auf die Ermächtigung der mittels filmischer Identifikationsangebote traditionell abgewerteten weiblichen Zuschauerinnen abzielt, geht es Silverman stärker um eine Dezentrierung der Rezeption. Ihr Konzept strebt eine Haltung in den filmischen Identifikationsprozessen an, bei der sich die FilmzuschauerInnen nicht auf Kosten der repräsentierten Figuren als machtvolle Subjekte entwerfen, sondern unter Anerkennung ihrer Abhängigkeit von den Repräsentationsinhalten in ein dezidiert politisches Nahe-Verhältnis zu ihnen treten. Auf diese Weise werde es möglich, die repräsentierten ‚Anderen‘ weder gänzlich zu vereinnahmen noch vollständig zurückzuweisen, sondern sie als eigenständige, ‚auratische‘ Subjekte wahrzunehmen, wie Silverman meint: „Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt sie mit dem Vermögen belehnen, unseren Blick zu erwidern, bedeutet offensichtlich, den anderen oder die andere als anderen oder andere zu akzeptieren oder – noch genauer – einzuräumen, daß er oder sie ebenfalls ein Subjekt ist.“105
102 de Lauretis 1994 [1989], S. 48. 103 Ebd., S. 48. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel 1.2 und 2.2. 104 Silverman, Kaja: „Politische Ekstase“ [1996], in: Nagl, Ludwig (Hg.), Filmästhetik, Berlin/Wien: Akademie/Oldenbourg 1999, S. 157. 105 Ebd., S. 160. Vgl. auch dies.: „Die Sprache der Dinge“, in: Buergel, Roger; Noack, Ruth (Hg.), Dinge, die wir nicht verstehen, Ausst.-Kat., Generali Foundation Wien, 2000, S. 33-49.
Der Kampf um feministische Perspektiven Silverman unterstreicht in ihrer Darstellung, dass eine solche ‚auratische‘ Subjektivität wesentlich von den BetrachterInnen abhängt: „Ich spreche von dem oder der ‚Zuschauenden‘ und nicht vom Text […]. Ein Text kann zu dieser Tätigkeit ermutigen, aber zu bewirken vermag er sie nicht.“106 Mit anderen Worten: Für das Zustandekommen einer ‚Identität mit Abstand‘ ist die filmische Form zwar eine wichtige Vorgabe, aktiviert und realisiert werden muss diese Haltung jedoch letztlich von den BetrachterInnen. In der Übertragung dieses Ansatzes auf das Video Hot Water liefert Silvermans Titelbegriff der Ekstase das entscheidende Stichwort, da er den Blick auf die hohe Emotionalität des Protestkollektivs im Video lenkt. Zu denken ist hier neben dem Wutanfall von Nathalie vor allem an den ersten Teil des Videos, in dem das intensive Zusammenspiel der nahen Kamera und der wütenden Frauen ein ‚Zu-viel‘ herstellt, das die BetrachterInnen auf Distanz hält, ohne sie in eine problemlose Distanzierung zum Medialen zu entlassen. Wie im zweiten Unterkapitel erläutert, scheinen sich die repräsentierten Frauen dabei gleichsam selbst von ihrer Indienstnahme durch eine universelle feministische ‚Wahrheit‘ zu emanzipieren. Ekstase kann hier – im Wortsinn des Begriffs – als ein Heraustreten und Überschreiten zugewiesener politischer Identitäten begriffen werden: Jenseits ihrer Funktion als universalistisch geschlossene ‚weibliche Erfahrungskörper‘ des feministischen Kollektivs beanspruchen die repräsentierten Frauen eine relativ autonome, politische Subjektivität für sich.
Abb. 16 (a, b, c): Videostills aus Hot Water, Teil 3.
Abb. 17 (a, b): Videostill aus Hot Water, Teil 3.
106 Silverman 1999, S. 174.
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Andere Subjekte In einer Szene am Ende des dritten Teils wird das Moment der Ekstase im Verhältnis zwischen repräsentierten Frauen, Filmemacherin und BetrachterInnen besonders deutlich: Nachdem die Kamera zunächst als Unterstützung von Nathalies Alleingang fungierte und während der Debatte mit dem Leiter der Behörde als enger Teil des Kollektivs erscheint, ändert sich die Kamerabedeutung an dem Punkt, an dem Nathalie – nach gescheiterter Verhandlung – abseits der diskutierenden Menge weinend zusammenbricht. Obwohl sich Nathalie abwehrend eine Hand vors Gesicht hält, geht die Kamera zunächst auf sie zu, bleibt jedoch nicht auf ihr ruhen, sondern schwenkt im Moment größter Nähe auf den Boden und bricht schließlich ab (Abb. 16, a-c). In der nächsten Einstellung sind verschiedene Personen in Rückenansicht zu sehen, die wie ein Schutzschild um Nathalie geschart sind und sie trösten (Abb. 17a, 17b). Diese kurze Sequenz zeigt ein Moment extremer Emotionalität und Solidarität. Sowohl die Filmemacherin als auch die anderen Protest-TeilnehmerInnen kümmern sich um die gescheiterte, nach ihrem wagemutigen Auftritt erschöpfte ‚Heldin‘ der Aktion. Das Medium Video ist aus diesem Akt jedoch weitgehend ausgeschlossen bzw. wird als überflüssig gekennzeichnet, wie das ‚Auf-denBoden-richten‘ der Kamera zeigt. Ihre Anwesenheit erfüllt nun nicht mehr die gleiche unterstützende Funktion wie zuvor, sondern ihre Nähe erscheint aufdringlich, voyeuristisch und wird von Nathalie, die ihr Gesicht hinter der Hand verbirgt, sogar dezidiert zurückgewiesen. Für die Filmemacherin bedeutet dies, die Kamera wegzulegen, abzuschalten, um off record in die realen Geschehnisse einzugreifen. In ihrer ‚politischen Ekstase‘ tritt Riera dabei aus der medialen, dokumentarischen Funktion als beobachtende Filmemacherin heraus und in den Handlungsraum des gefilmten Kollektivs ein. Dabei lässt sie die BetrachterInnen, für die dieser Akt nicht möglich ist, gewissermaßen vor dem Video alleine. Die ‚politische Ekstase‘ der Filmemacherin bedeutet für die Rezeptionsebene damit einen schmerzlichen Verlust an Identifikationsmomenten mit der politischen Protestgemeinschaft der ‚Anderen‘. Dieser Verlust verweist die BetrachterInnen auf ihre weitgehend passive, praktische Rezeptionsposition im Ausstellungsraum und lanciert zugleich ein Begehren nach einem eigenen politischen Aktionsraum. Dass Riera auf dieses Begehren setzt, es nachdrücklich herausfordert, wird nicht zuletzt deutlich, wenn sie explizit danach fragt, was politisches Engagement sowohl für sie als Filmemacherin als auch für die RezipientInnen bedeuten kann. Im bereits weiter oben zitierten Text formuliert sie: „Que serait ‚l'eau chaude‘ en tant que technique de montage et de transmission? Quelle communauté, quel échange sont possibles entre les vivants, sur-vivants d'une scène de vie et ceux ou celles qui la transmettent où la re-çoivent? Comment vivons-nous ce que nous transmettons?
Der Kampf um feministische Perspektiven Comment ce ‚théâtre de l'eau chaude‘ pourrait se démultiplier à l'aide d'un dispositif discursif, à la fois singulier et collectif, animé par cette chose précise qui manque (ce qui est susceptible de manquer à chacun/e), et que nous avons appelée ‚l'eau chaude‘? Comment ce dispositif, pourrait libérer des colères, des confrontations salutaires, des solidarités, de l'inattendu?“107
Es geht also darum, die gefilmte politische Protestaktion in die eigene politische Realität zu übertragen: Wie könnte das im Video Erfahrene – die Wut der Frauen – in zukünftigen Handlungen fortgeführt werden? Eine Antwort darauf kann nicht stellvertretend gegeben werden (auch nicht im vorliegenden Text), sondern es bedarf einer jeweils eigenen Auseinandersetzung mit ungelösten politischen Problemen – worauf auch der Projekttitel Un Problème non résolu hinzuweisen scheint. Obwohl Riera damit eindringlich ein eigenes politisches Tun von den BetrachterInnen fordert, lässt sie diese in Hot Water auch nicht gänzlich alleine. Vielmehr bietet ihre filmische Tätigkeit auch einen Anhaltspunkt für eine mögliche politische Richtung, in die dieses Tun gehen könnte. Ein wichtiges Element ist dabei der Umstand, dass sie im Video vor allem auf die weiblichen Teilnehmerinnen der Protestaktion fokussiert und sie zu Wort kommen lässt – obwohl an der Aktion auch einige Männer beteiligt waren. Die ‚feministische Dimension‘ der Aktion ist letztlich eine Konstruktion der Filmemacherin, die dem Video damit eine dezidiert politische, feministische Richtung gibt, auch wenn sie die Politik des Feminismus zugleich permanent in Frage stellt. Die feministische Bedeutung des Videos wird dadurch gleichsam selbst ‚ekstatisch‘. Es wird deutlich, dass Feminismus nicht auf einer universellen, biologischen Kategorie ‚Frau‘ basiert, sondern eine mögliche, kontingente politische Perspektive darstellt, die in einer mehrschichtigen, differenzierten Realität aktiv hergestellt werden muss. Im Fall von Hot Water wäre dies etwa eine solidarische Gemeinschaft gegen die feminisierte und ethnisierte Dimension von Armut. Die BetrachterInnen sind aufgefordert, sich in der politischen Ekstase des Femi-
107 „Dt. „Was wäre ‚heißes Wasser‘ im Sinn von Montagetechnik oder medialer Übertragung?/Welche Gemeinschaft, welcher Austausch ist zwischen Menschen möglich, zwischen Überlebenden einer ‚Szene des Lebens‘ und jenen, die sie vermitteln oder rezipieren? Wie leben wir das, was wir übermitteln?/Wie könnte sich dieses ‚Theater des heißen Wassers‘ mithilfe eines diskursiven Dispositivs zugleich einzeln und kollektiv vervielfältigen, beseelt durch genau diese Sache, die fehlt (die wahrscheinlich jedem/r fehlt) und die wir ‚heißes Wasser‘ genannt haben? Auf welche Weise könnte dieses Dispositiv den Zorn, die Konfrontationen, die Solidaritäten, das Unerwartete freisetzen?“ Übers. A.B. Eine spanische Übersetzung dieses Textes findet sich in: Riera/Fundació Antoni Tàpies 2005, S. 238.
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Andere Subjekte nismus auf problematische Weise zu verorten, d.h., die Repräsentationen der wütenden Frauen in die eigene ungesicherte soziale und politische Position zu übersetzen. In dieser paradoxen und nur möglicherweise feministischen ‚Wahrheit‘ des Videos, in der nicht von vornherein geklärt ist, ob bzw. in welcher Form die RezipientInnen politisch agieren, ermöglicht die Lektüre von Hot Water immer wieder neue, fragile Gemeinschaften zwischen den beteiligten Instanzen der Repräsentation.
4. Verschleierte Ansichten The White Station, Seifollah Samadian, 1999, 9 min.
Inmitten einer Vielzahl filmisch-dokumentarischer Arbeiten war auf der Documenta11 (Kassel, 2002) der 9-minütige Kurzfilm The White Station des iranischen Filmemachers Seifollah Samadian zu sehen. Als endlose Projektion in einem halboffenen Raum zählte der Film zu den am meisten beachteten Beiträgen der Ausstellung und erfuhr durchweg positive Kritiken.1 Während Samadian zuvor vor allem im journalistischen und filmischen Bereich tätig war, ist er seit dieser Beteiligung auch einem internationalen Kunstpublikum bekannt. Seine Filme und Fotografien, die sich vor allem mit ungewöhnlichen, überraschenden Ereignissen im iranischen Alltag beschäftigen, werden seither auch in verschiedenen (westlichen) Kunstvereinen und Galerien präsentiert.2 Eine bekannte Filmarbeit ist etwa das Video Teheran, the 25th hour (1999, 25 min.), das die euphorische Feier eines unerwarteten Sieges der iranischen Fußball-Nationalmannschaft in den Straßen von Teheran zeigt. Auch in The White Station sind Menschen in einer Straße in Teheran zu sehen. Das besondere Ereignis ist in diesem Fall jedoch ein ungewöhnlich starker Schneesturm, der die Situation im Außenraum beherrscht. Die Szenerie des Schneesturms wird in The White Station in zwei kurzen Einführungsteilen und einem 9-minütigen Hauptteil vermittelt. Über allen drei Teilen liegt eine durchgehende Tonspur, die übersteigert laute Außengeräusche (Wind und Krähenrufe) zu hören gibt und die Filmteile wie eine akustische Klammer verbindet. Der halbminütige erste Teil, der auch als Vorspann dient, führt zunächst in die Szenerie der Straße ein: Stufenweise zoomt die Kamera 1 2
So etwa in Kunstforum International 161 (2002), S. 367. Beispielsweise in den Ausstellungen Emotion Eins (Frankfurter Kunstverein, 2004), Appel à temoins (le Quartier, Quimper, 2004), Frozen (site gallery, Sheffield, 2003), Taswir (Martin-Gropius-Bau, Berlin, 2009/10), CUE: Artists' Videos (Vancouver Art Gallery, 2010).
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Andere Subjekte in der Schneelandschaft auf ein Schild, das sich vor einer mit Stacheldraht gesicherten Mauer befindet und – wie nicht zuletzt der eingeblendete Titel suggeriert – eine Busstation markiert (Abb. 1a, 1b). Eine weiße Blende (Abb. 1c) markiert den Übergang zum ebenfalls halbminütigen zweiten Teil, der in wenigen Einstellungen einen Innenraum vorstellt: Zu sehen ist die Detailansicht eines grobmaschigen, sich in der Zugluft bewegenden Vorhangsaumes sowie die Untersicht auf ein offen stehendes Fenster (Abb. 2a, 2b). Dieser Blick auf das Fenster mündet nach einer Überblendung (Abb. 2c) in einen Blick aus dem Fenster (Abb. 3), wobei der fließende Übergang die räumliche Transgressionsbewegung eines Fensterblicks nachempfindet. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, dass der nachfolgende dritte Teil von genau jenem, im zweiten Teil eingeführten Fenster aus gefilmt wurde.
Abb. 1 (a, b, c): Filmstills aus The White Station, Teil 1.
Abb. 2 (a, b, c): Filmstills aus The White Station, Teil 2.
Abb. 3: Filmstill aus The White Station, Teil 3.
Der 8-minütige Hauptteil von The White Station besteht vorwiegend aus statischen Einstellungen auf eine deutlich tiefer liegende, verschneite Straßenlandschaft mit Mauern, Hecken, Bäumen und Teilen eines schmucklosen Gebäudes.
Verschleierte Ansichten Außerdem sind mehrere Einzelpersonen und Personengruppen zu sehen, die durch den Schnee stapfen oder stehend an der Bushaltestelle warten, sowie vereinzelt Krähen und vorbeifahrende Fahrzeuge (Abb. 4 a-c). Die schlechten Sichtverhältnisse und die extrem weite Entfernung der Kamera verhindern dabei die Individualisierung der gefilmten Personen, die selbst bei nahem Zoom nur schemenhaft zu erkennen sind.
Abb. 4 (a, b, c): Filmstills aus The White Station, Teil 3.
Eine Frau im traditionellen iranischen Tschador, die sich mit einem Regenschirm gegen den Schneesturm zu schützen versucht, kann aufgrund ihrer markanten Kleidung und ihrer starken Präsenz im Film dennoch als Hauptfigur gelten (Abb. 5 a-c).3 Mit ihr ist auch die Pointe der minimalen Narration des Films verbunden: Als am Ende des dritten Teils der lang ersehnte Bus ankommt, geht sie zwar auf diesen zu, steigt aber – entgegen aller Erwartungen – nicht ein, sondern verlässt das Bild zu Fuß in entgegengesetzter Richtung.
Abb. 5 (a, b, c): Filmstills aus The White Station, Teil 3.
Die Tatsache, dass in The White Station eine verschleierte Frau den widrigen Bedingungen eines Schneesturms ausgesetzt ist, wurde mehrfach als Kommentar auf die Unterdrückung der Frauen im Islam gelesen.4 Im vorliegenden Kapitel 3 4
Im Abspann wird außerdem explizit „The waiting Stranger“ erwähnt, wodurch ihr Sonderstatus noch einmal hervorgehoben wird. Nash, Mark: „Seifollah Samadian“, in: Kurzführer Documenta11_Plattform5, 2002, S. 200; vgl. dazu auch die Aussagen in Samadian, Seifollah/Pichon, Christophe: „24 Miracles per Second (Interview)“, in: Appel à témoins, Ausst.-Kat., Le Quartier, Quimper 2004, S. 112.
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Andere Subjekte wird diese dominante Interpretation allerdings nicht von vornherein übernommen. Vielmehr werden anhand einzelner Aspekte des Films vier verschiedene Interpretationspfade vorgeschlagen, die die Möglichkeitsbedingungen des westlichen Rezeptionskontexts – wie er nicht zuletzt durch den institutionellen Rahmen der documenta-Ausstellung aufgebracht wird5 – bewusst aufgreifen und kritisch nutzen: So wird etwa im ersten Unterkapitel das formale und narrative Zusammentreffen der repräsentierten Elemente des Films beschrieben und hinsichtlich ihrer romantisierenden Authentizitätseffekte diskutiert. Das zweite Unterkapitel konzentriert sich – unter Berücksichtigung einer Lektüreanleitung durch den Künstler – auf die konzeptuelle Ambivalenz klassischmodernistischer Bedeutungsaspekte des Films. Das dritte Unterkapitel geht im Anschluss dem narrativen und strukturellen Blickverhältnis von Filmemacher und verschleierter Frau genauer nach. Und im vierten Unterkapitel wird schließlich – ausgehend von den zuvor erarbeiteten Bedeutungsebenen – die Möglichkeit politisch-emanzipativer Rezeptionsperspektiven diskutiert. In allen vier Lektüreschritten geht es dabei nicht um die Bestimmung einer ‚authentischen‘ Filmbedeutung, wie sie etwa in der Rekonstruktion eines postkolonialen (iranischen) Produktionskontextes vermutet werden könnte, sondern im Fokus stehen die Bedingungen und Effekte der eigenen westlichen Lektürepraxis, die es (selbst-)kritisch sichtbar und in einem anti-essentialisitischen Sinn produktiv zu machen gilt.6
4.1 Authentizitätskonstruktionen im romantischen Naturbild Die Art und Weise, wie in The White Station der Schneesturm zu sehen gegeben wird, inszeniert auf einer ersten, formal-ästhetischen Ebene ein Spiel verschiedener binärer Ordnungsverhältnisse. Besonders auffällig ist zunächst der starke Hell-Dunkel-Kontrast zwischen dem Weiß des Schnees und den dunklen Braunund Grautönen der darin sichtbaren Elemente. An manchen Stellen steigert sich dies zu einer klaren Schwarz-Weiß-Ästhetik. Die reduzierte Farbpalette bzw. gänzliche Farblosigkeit vermittelt dabei die Kälte und Strenge des Schnee5
6
Zur spezifisch westdeutschen Geschichte der Institution documenta vgl. u.a. Kimpel, Harald: documenta. Mythos und Wirklichkeit, Köln: Dumont 1997; sowie Grasskamp, Walter: Modell documenta oder wie wird Kunstgeschichte gemacht?, in: Kunstforum international 49 (1982), S. 15-22. In den folgenden Abschnitten werden daher auch vor allem Vergleichsbeispiele des westlichen Kunstkanons zitiert, die als Effekte der eigenen westlichen Lektürebedingungen auf diesen Kontext zurück verweisen.
Verschleierte Ansichten sturms, in dem die dunklen Formen dem form-auslöschenden weißen Naturelement Schnee gegenüberstehen. Innerhalb der dunklen Bildelemente kann noch ein weiteres Differenzpaar ausgemacht werden: die scharf konturierten, geometrischen Formen der Gebäude, Stromleitungen und Straßenlaternen auf der einen Seite und die weichen, organischen Elemente der Bäume, Sträucher und Figuren auf der anderen Seite. Diese zweite Unterteilung stört dabei das erste Differenzpaar Form/Anti-Form keineswegs. Denn beide Oppositionsverhältnisse kulminieren im dominanten Dualismus von Natur und Kultur, der das westliche Denken seit der Aufklärung prägt.7 Diese Logik ist vor allem auch deshalb naheliegend, weil das zentrale Differenzmoment im Film die Unterscheidung von Innen- und Außenraum ist, die – getrennt durch die Schwelle des Fensters – als Kultur- bzw. Naturraum eingeführt werden:8 Im Kontrast zum vermeintlich geschützten Beobachtungsraum hinter dem Fenster erscheint der Außenraum vor dem Fenster gänzlich von der Witterung beherrscht und wird somit – trotz der urbanen Straßen- und Gebäudestruktur – insgesamt zum ‚Naturraum‘.9 Mit der Inszenierung des im kollektiven westlichen Bewusstsein fest etablierten Gegensatzpaars Natur/Kultur zeichnet The White Station ein klassisches Bild einer aus der Distanz beobachteten unwirtlichen, zivilisationsfeindlichen Natursituation, die den Film grundsätzlich als glaubwürdiges Dokument erscheinen lässt.10 Auf Basis dieser Realismusebene können die inszenierten Oppositionsstrukturen auch zum Teil überschritten und in Frage gestellt werden, ohne deren etablierte Ordnungsverhältnisse außer Kraft zu setzen. Als deutliche Markierungen der Transgression unterstützen sie stattdessen die Authentizitätsrhetorik des Films. So ist etwa im zweiten Teil zu sehen, wie durch das geöffnete Fenster Schnee ins Zimmer des Filmemachers dringt und damit
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Vgl. u.a. Hauser-Schäublin, Brigitta: „Von der Natur in der Kultur und der Kultur in der Natur. Eine kritische Reflexion dieses Begriffpaars“, in: Bredrich, Rolf W./Schneider, Annette/Werner, Ute (Hg.), Natur-Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt, Münster: Waxmann 2001, S. 12-8. 8 Der Gegensatz zwischen Innen und Außen wird auch schon vor dem Erscheinen des Fensters durch das Busschild eingeführt, welches im Schneesturm zum „promising sign“ für eine geschützte Heimfahrt wird. www.filmfestival.gr/docfestival/2001/tributes4_uk.html vom 10.05.2010. 9 Dem entspricht, dass es in erster Linie die Krähen sind, die diesen Außenraum aktiv in Beschlag nehmen, indem sie mit laut schallenden Rufen das Getöse des Sturms begleiten bzw. zum Teil sogar übertönen. Die nur schemenhaft auf der Straße sichtbaren Personen, die sich farblich und stofflich kaum von den Krähen unterscheiden, nehmen durch ihre stumme Wartehaltung hingegen eine eher passive Rolle ein. 10 Nichols 1991, S. 27.
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Andere Subjekte die Grenze zum kulturellen Raum des Kamerablicks, der mit dem filmischen Sehen insgesamt assoziiert wird, überschreitet. Das Vorstellungsbild einer die kulturellen Grenzen negierenden Natur, die bis in den Medien- und Rezeptionsraum hinein ihre Macht entfaltet, wird auch im dritten Filmteil gezeichnet, indem die Sicht der Kamera an mehreren Stellen durch dichten Schneefall und Schneewehen auf der Fensterbank behindert wird (Abb. 4a, 5c). Ähnliches gilt auch für die Tonspur, auf der die Naturgeräusche des Windes und der Krähen übersteigert laut zu hören sind. Dass die Geräusche bereits kurz vor Anfang des Films beginnen und erst nach dem Abspann enden, verleiht ihnen dabei eine von den Filmbildern entkoppelte, beinahe animistische, unheimliche Qualität, die sich bis in den ZuschauerInnenraum auszubreiten scheint.11 Diese Transgressionsbewegungen der Natur steigern den Realismus von The White Station in zweifacher Weise: Zum einen wirkt der Film dadurch wie ein völlig unmanipuliertes Dokument, in das sich der natürliche Fluss des Geschehen wie von selbst eingeschrieben zu haben scheint; Tom Holert spricht in diesem Sinn auch von „der Konstruktion eines ‚acheiropoetischen‘ Bildes“, das wirkt „wie das Dokument eines göttlichen oder pantheistischen Wollens und Wirkens“.12 Und zum anderen werden die BetrachterInnen durch die Inszenierung der extrem nahen und intensiven Natursituation in einen emotional involvierten Zustand gebracht, der die Illusion befördert, das Schauspiel des Schneesturms selbst unmittelbar miterleben zu können.13 Die dokumentarische Rhetorik von Unmittelbarkeit und Authentizität basiert in The White Station auch wesentlich auf der Figur des Kameramanns als Garant für authentische, vor Ort gemachte Aufnahmen.14 Voraussetzung für diesen Eindruck ist der Umstand, dass der Filmemacher durch verschiedene filmisch-strukturelle Mittel als kohärente Handlungsfigur vorgestellt wird – obwohl er im gesamten Film unsichtbar bleibt. Ein wesentliches Element ist dabei das Fenster des zweiten Teils, das als konstanter Beobachtungspunkt erscheint. Vor dem Hintergrund dieser einheitlichen Perspektive wirken die vielen kur-
11 Auf die Verbindung zwischen dem Unheimlichen und der Vorstellung einer beseelten Natur weist auch Sigmund Freud hin. Freud, Sigmund: „Das Unheimliche“ [1919], Gesammelte Werke 12, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 237, 259, 253ff. 12 Holert 2005, S. 44. Ein ‚acheiropoetisches Bild‘ beschreibt, wie Holert an gleicher Stelle ausführt, ein „nicht von Menschenhand geschaffene[s], sondern von Gott selbst gegebene[s] Bild[…]“. Vgl. dazu auch die Analysen zum direct cinema von Beyerle 1997, S. 114-118. 13 Vgl. dazu Beyerles Ausführungen zu den „besonderen Authentizitätsmomenten“ des direct cinema. Ebd., S. 114, sowie Anm. 22-24 in Kapitel 3 der vorliegenden Publikation. 14 Ebd., S. 86-89.
Verschleierte Ansichten zen, narrativ nicht zusammenhängenden Fragmente des dritten Filmteils (26 Einstellungen in acht Minuten) wie ein von Augenbewegungen unterbrochener menschlicher Blick.15 Aber auch mehrere überdurchschnittlich lange Zooms im dritten Teil verweisen auf die Handhabung der Kamera durch eine filmende Person. Diese wird – im Gegensatz zu den anonymen, schemenhaften Gestalten im Außenraum – auch psychologisch charakterisiert: Im zweiten Teil des Films geschieht dies durch die Untersicht auf den bewegten Vorhang vor dem offenen Fenster sowie durch die schräge Kameraposition, die beide als Zeichen für die ‚emotionale Schieflage‘ des Protagonisten lesbar sind.16 Und im dritten Teil des Films erfolgt die psychologische Charakterisierung vor allem dadurch, dass der Zoom an einer Stelle rückwärts läuft, sodass die gefilmte Person im Zentrum immer kleiner wird, bis sie schließlich nur mehr als Punkt in der Landschaft erscheint (Abb. 6a, 6b). Und in einer zweite Sequenz holt die Kamera zwar eine durch den Schnee stapfende Person mit dem Zoom immer näher heran, die Figur verschwindet aber genau in dem Moment hinter einem Gebäude, in dem sie als das Ziel des zuvor eher unfokussiert wirkenden Zooms erkannt wird (Abb. 6c). Beide Male vermitteln die Zooms, dass die gefilmten Objekte dem Blick des Filmemachers entgleiten. Er wird dadurch als verträumter, melancholischer Charakter vorgestellt, der in seiner passiven, isolierten Beobachtungssituation keinen Bezug zur Umwelt findet.
Abb. 6 (a, b, c): Filmstills aus The White Station, Teil 3.
Sowohl die Charakterisierung des Filmemachers als melancholische Figur als auch die Darstellung einer völlig ‚freien‘ Natur rufen die Episteme der Romantik auf, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts formuliert wurden. So bezeichnet etwa Friedrich W.J. Schelling die Natur als „das ursprüngliche Chaos selbst“17, 15 Unterstützt wird dies durch die kontinuierliche Tonspur sowie die Überblendungen und visuellen Ähnlichkeiten zwischen den Einstellungen, die einen perspektivischen Zusammenhang vermitteln. 16 Vgl. Korte, Helmut: Einführung in die systematische Filmanalyse. Ein Arbeitsbuch, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2004, S. 43. 17 Schelling, Friedrich W.J.: Philosophie der Kunst, [1802/03] zitiert nach Yamaguchi, Kazuko: „Das romantische Erhabene“, in: Knatz/Tanahisa, Ästhetische Subjektivität, 2005, S. 126.
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Andere Subjekte das aufgrund seiner machtvollen Eigengesetzlichkeit dem rationalen Zugriff des Menschen entzogen ist: „Das Reale rächt sich hier, und kehrt mit seiner ganzen strengen Notwendigkeit zurück, um hier vielmehr alle Gesetze, welche das Freie sich selbst gibt, zu zerstören und sich ihm gegenüber frei zu zeigen.“18
Diese postulierte Unergründbarkeit und Freiheit der ‚natürlichen Welt‘ produziert dabei einen fundamentalen Riss im rationalistischen Denkmodell des neuzeitlichen Subjekts. In der Romantik wird dieser Riss jedoch durch die ästhetische Kontemplation des Naturerhabenen, welches sinnlicher Ausdruck eines theologischen Ganzen ist, wieder vernäht.19 Als Institution des ästhetisierten Weltbezugs nimmt dabei die Kunst eine zentrale Rolle ein. Lothar Knatz schreibt: „Einzig die Kunst verbleibt als der Bereich, dem gelingen kann, was Wissenschaften und Philosophie versagt bleibt: die Idee des Ganzen und der Einheit zu erfassen und auszudrücken.“20
Diesen ästhetisch-sentimentalen Blick auf eine verlorene Welt-Einheit (die aber gerade dadurch zum Teil wieder gewonnen werden kann) verdeutlichen paradigmatisch die Rückenfiguren in Caspar David Friedrichs Gemälden, die Anfang des 19. Jahrhunderts im Kontext der deutschen Romantik entstanden sind. Das Bild Der Wanderer über dem Nebelmeer (1817/1818, Abb. 7) eignet sich aufgrund einer sehr ähnlichen Naturstimmung besonders gut als Vergleichsbeispiel für The White Station. Zu sehen ist eine zentrale, männliche Rückenfigur, die am Gipfel eines Felsens über eine nebel- und wolkenverhangene Landschaft blickt.21 Diese dominante Rückenfigur im Zentrum des Bildes weist als Betrachter im Bild den KunstbetrachterInnen vor dem Bild den Weg in die ‚erhabene Natur‘. Dabei stattet sie deren Blick mit ästhetisierten Quali-
18 Ebd., S. 125. 19 Ebd., S. 126. 20 Knatz, Lothar: „Romantik und Moderne“, in: ders./Tanehisa, Ästhetische Subjektivität., 2005, S. 111, sowie S. 113-118. 21 Mit einem anderen Erkenntnisinteresse zieht auch Silke Panse die Rückenfiguren von Caspar David Friedrich als Vergleichsbeispiel für die Figur des Filmemachers in neueren Dokumentarvideos (in diesem Fall von Alexandr Sokurov) heran. Panse, Silke: „The Film-maker as Rückenfigur. Documentary as Painting in Alexandr Sokurov's Elegy of a Voyage“, in: Third Text 20/1 (2006), S. 9-25.
Verschleierte Ansichten täten wie ‚Erhabenheit‘, ‚Melancholie‘, ‚einsames Künstlertum‘ etc. aus.22 Die Verknüpfung des narrativen Vermittlerblicks mit dem ‚Künstlerischen‘ erfolgt dabei wesentlich über zwei Elemente: Zum einen durch den Umstand, dass die Rückenfigur im Vergleich zur Naturdarstellung relativ grob und schematisierend gemalt wurde, was die Materialität des Gemäldes ausstellt und damit auf den kreativen Malakt – die Vermittlungstätigkeit des Künstlers – hinweist,23 und zum anderen durch die Geometrisierung des Bildaufbaus, wodurch sich, wie Silvio Vietta bemerkt, „versteckt in den Motiven der Landschaft […] eine neue Malweise der Moderne“24 ankündigt, die der ‚Schöpfungskraft‘ des Künstlers eine zunehmend zentrale Dimension zuspricht.
Abb. 7: Caspar David Friedrich, Der Wanderer über dem Nebelmeer, 1817/1818.
Auch in The White Station wird die implizite, melancholisch-sensible Beobachterfigur mit dem ‚Künstlerischen‘ in Verbindung gebracht: So etwa durch die ausgestellten Zooms, die auf den Akt des Filmens verweisen, oder durch die Schwarz-Weiß-Kompositionen der Einstellungen, die häufig ebenfalls geometrischen Prinzipien folgen (vgl. Abb. 4-6). Wie bei Friedrich verweisen diese geometrischen Strukturen auf die sorgfältige Konstruktion der Bilder durch 22 Vgl. dazu ausführlicher Vietta, Silvio: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild, München: Fink 2001, S. 133-141. 23 Panse 2006, S. 22. Dem entspricht, dass die Malerei das Leitmedium der Romantik war. Knatz 2005, S. 116ff. 24 Vietta 2001, S. 146.
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Andere Subjekte einen Künstler, welcher scheinbar in der Lage ist, die ‚erhabene Stimmung‘ der Naturlandschaft ästhetisch widerzuspiegeln.25 Der Widerspruch zwischen einer völlig unverfälschten, selbstständigen Natur und einer subjektiven, aktiv konstruierenden Perspektive des Künstlers löst sich dabei im romantischen Bildkonzept auf harmonische Weise auf. Der Kulturtheoretiker Terry Eagleton bezeichnet dies als eine „Objektivierung des Subjektiven“26, welche sich im bürgerlich-romantischen Kunstwerk vollziehe und „jedes seiner Elemente zugleich wunderbar autonom und doch dem Gesetz des Ganzen untergeordnet“27 erscheinen lasse. Knotenpunkt dieser positiven Wendung ist dabei die idealisierte Figur des romantischen Künstlers, der zugleich die Position des passiv-kontemplativen Beobachters und des aktiv Schaffenden gegenüber der Natur einnehmen kann.28 In The White Station impliziert diese Konstruktion auch eine narrative Qualität, mit der das gefilmte Geschehen als ‚real‘ befestigt wird. So suggerieren die geometrischen Kompositionen in der Kadrierung (bei gleichzeitigem Fehlen eines offensichtlichen Handlungs- und Spannungsbogens), dass der Künstler die Straßenszene während eines ‚rein ästhetisch‘ motivierten Spiels mit abstrakten Formen einfing; der Schneesturm und die wartenden Menschen erscheinen dabei wie zufällig mitgefilmt. Auf diese Weise kann der Film die unmanipulierte, filmisch-indexikalische Qualität des Dokuments argumentieren und zugleich die künstlerische Subjektivität des Filmemachers betonen. In der Figur des interesselos kreativen Filmemachers verknüpft The White Station auf ‚wunderbare Weise‘ die Authentizitätsstrategien des Dokumentarischen mit jenen des Künstlerischen und vermittelt damit den Eindruck eines ästhetisch erhabenen, realen Naturschauspiels.
25 Dem Künstler werden dabei seismografische Fähigkeiten zugesprochen, die in der Mystifikation des romantischen Genies eine zentrale Rolle spielen. Vgl. Christadler 2006, S. 260. 26 Eagleton, Terry: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie, Stuttgart: Metzler 1994, S. 334. 27 Ebd. 28 Zu einer kritischen Darstellung des Künstlermythos siehe auch Christadler 2006, S. 253-272.
Verschleierte Ansichten
4.2 Die Leere und die Fülle des ‚schwarzen Flecks‘ Das scheinbar ideale Verhältnis von Dokument und künstlerischer Intention in der naturromantischen Darstellung von The White Station enthält jedoch auch problematische Aspekte. Diese werden deutlich, sobald das Augenmerk auf die Beziehung zwischen Filmemacher und sichtbarer Hauptfigur des Films – der Frau im Tschador – gelegt wird. Im Folgenden wird diese Fokussierung vor dem Hintergrund einer Aussage des Künstlers unternommen, in der er die in der Romantik angelegte Bewegung zur Abstraktion in einem modernistischen Sinn radikalisiert. In einem Interview anlässlich der Ausstellung Appel à témoins (le Quartier, Quimper, 2004) distanziert sich Samadian von der Interpretation, sein Film dokumentiere die Situation einer verschleierten Frau im Islam, und betont, dass seine Filme in erster Linie als universelle Kunstproduktionen zu lesen seien, in denen Raum und Zeit als abstrakte Größen erscheinen: „I think that every filmmaker manifests a desire to shatter space and time so as to endow his work with a sort of immortality. If my films manage to free themselves of a specific moment and particular place, then they are free to travel in time and space.“29
Die Vermittlung dieses Anspruchs scheint ihm in The White Station auch tatsächlich bis zu einem gewissen Grad zu gelingen. So gibt der gefilmte Stadtraum weder Auskunft über die konkrete geografische Lage des Geländes noch über die Funktion der modernen, kubischen Gebäude. Wann und warum dieser Ort entstanden ist und von wem er genutzt wird, bleibt nicht nur im Unklaren, sondern erscheint auch weitgehend bedeutungslos. Außer der temporären Nicht-Tätigkeit des Wartens entfalten sich keine Handlungs- und Narrationsstrukturen. Die gefilmte Straße erscheint wie ein von Marc Augé beschriebener „Nicht-Ort“30 – jeglicher Geschichte und kultureller Identität entledigt. Das weitgehende Fehlen einer vordergründigen, inhaltlich-narrativen Bedeutung lenkt den Blick auf die formal-ästhetische Ebene des Films und hier nicht zuletzt auf die Schwarz-Weiß-Kontraste, die durch die Schneedecke her-
29 Samadian in: Samadian/Pichon 2004, S. 112f. 30 Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a.M.: Fischer 1994. Analogien ergeben sich etwa zu dessen Beschreibung der Unverbindlichkeit, Einsamkeit und des Transitorischen dieser Räume. Seine Konzeption einer völlig kapitalisierten „Übermoderne“, die wesentlich auf dem postmodernen Paradigma des Simulakralen beruht, trifft hingegen auf die Darstellung von The White Station nicht zu.
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Andere Subjekte vortreten. In einer Beschreibung der Aufnahmesituation weist Samadian selbst auf dieses Moment hin: „[…] I took my camera and went to look out of the window to watch, and at once I was enthralled by this total whiteness with, here and there, just a few black bits like crows or the very occasional cars that were driving around.“31
Samadian suggeriert mit dieser Aussage, dass der Film vor allem abstrakte Kompositionselemente zu sehen gibt. Dieser anti-mimetische Zug sowie die Vorstellung raum-zeitlicher Universalität verweisen auf die ästhetische Tradition der Abstraktion in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Ein Beispiel für das Streben nach abstrakten Darstellungen in der klassischen Moderne, das sich auch als Vergleichsbeispiel für The White Station eignet, ist Samuel Becketts Videoarbeit Quadrat I (1981, 15 min.). In dieser Arbeit treten nacheinander vier Personen auf, die in einfarbige Kapuzenumhänge gehüllt sind und klar strukturierte geometrische Formationen auf einem hellen Quadrat abschreiten (Abb. 8).
Abb. 8: Videostills aus Quadrat I, Samuel Beckett, 1981, 15 min.
Die formale Strenge dieser Arbeit lässt die Vorstellung eines abstrakten ‚NichtOrts‘ besonders einleuchtend erscheinen. Gilles Deleuze stellt etwa fest, dass es in Becketts Arbeit „um die Erschöpfung, die Ausschöpfung des Raums“32 geht,
31 Samadian in: Samadian/Pichon 2004, S. 112f. 32 Deleuze, Gilles: „Erschöpft“, in: Beckett, Samuel, Quadrat. Stücke für das Fernsehen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1992] 1996, S. 76.
Verschleierte Ansichten und meint damit das automatische, möglichkeits- und bedeutungsentleerte Weitermachen in einem absoluten System.33 Daran anknüpfend erkennt auch der Kunsthistoriker Michael Glasmeier in Becketts Arbeit eine formgewordene ‚Erschöpfung‘, die, wie er meint, „ihre höchste künstlerische Qualität erreicht“ hat.34 Eine ähnliches, von abstrakter ‚Leere‘ gekennzeichnetes Konzept findet sich auch im Film The White Station, in dem sich die Menschen weitgehend isoliert und ohne erkennbares Ziel im Schneesturm bewegen. Dabei verbindet die beiden Arbeiten von Samadian und Beckett insbesondere, dass beide Male Figuren erscheinen, die durch einen Umhang verhüllt sind: In The White Station ist dies die Frau im Tschador und in Quadrat I sind es die vier Figuren, die jeweils in Rot, Blau, Gelb oder Weiß gehüllt sind. Vor allem die Reduktion auf die vier Primfarben scheint im Fall der letzteren Arbeit die individuelle Körperlichkeit der SchauspielerInnen aufzuheben und sie zu einem Teil des abgeschrittenen geometrischen Musters zu machen; sie werden mit der abstrakten künstlerischen Komposition verknüpft. Ganz ähnlich argumentiert Samadian, wenn er mit Bezug auf die Frau im schwarzen Tschador feststellt: „In The White Station I used this chador more as a purely graphic element. When I saw that woman in the distance she was like a kind of black spot on the infinite whiteness.“35
Samadians Aussage kann im Film in den extremen Weitwinkelaufnahmen nachvollzogen werden, in denen die schwarz gekleidete Frau tatsächlich wie ein unbestimmter, dunkler Fleck in der weißen, modernen Stadtlandschaft wirkt (vgl. insb. Abb. 6a, 6b). Dabei scheint ihre formale Einbindung in die Bildkomposition der gleichen modernistisch-abstrakten Ästhetik zuordenbar, der auch Becketts Video verpflichtet ist. Anders als der Begriff der ‚Leere‘ suggeriert, ist die Ästhetik der Abstraktion allerdings keineswegs frei von spezifischer Bedeutung. Auf ihre ideologische Aufgeladenheit verweist etwa Terry Eagleton, wenn er – u.a. am Beispiel von Beckett – darlegt, dass die abstrakte ‚Nicht-Sprache‘ der Moderne eng mit der ent-individualisierenden Ideologie des Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhun-
33 „Den Raum erschöpfen heißt, ihm seine Potentialität entziehen, indem man jedes Zusammentreffen unmöglich macht.“ Ebd., S. 77. Tatsächlich wird in dieser Arbeit wie durch eine unsichtbare Barriere jegliches Zusammenstoßen der Figuren in der Mitte des Quadrats verhindert. 34 Glasmeier, Michael: „Bewegter Stillstand. Alte Meister im Quadrat“, in: Samuel Beckett, Bruce Nauman, Ausst.-Kat., Kunsthalle Wien, 2000, S. 158. 35 Samadian in: Samadian/Pichon 2004, S. 112.
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Andere Subjekte derts verbunden ist.36 In diesem Sinn unterstreicht auch Michael Makropoulos die Funktion der Abstraktion für disziplinierende und normalisierende Sozialtechniken der Moderne.37 Einen wichtigen Beitrag zur Kritik am Modernismus liefert auch die feministische Kunsttheorie.38 So zeigt etwa Rosalind Krauss, dass die universalistischen Diskurse der abstrakten Kunst eng in Zusammenhang mit Konzepten der Originalität stehen.39 Dass in diesen Konzepten dominante Geschlechterverhältnisse reproduziert und naturalisiert werden, legt die Kunstwissenschaftlerin Silke Wenk in einer Diskussion des Debutades-Mythos dar. Dieser Mythos beschreibt, wie eine Frau die Malerei gewissermaßen zufällig erfindet, indem sie die Schattenumrisse ihres Geliebten nachzeichnet. Wie Wenk zeigt, wird dieser Mythos benutzt, um – vor dem Bild naturverbundener, weiblicher Handwerklichkeit – den kreativen Schöpfungsakt als männliche Meisterschaft durchzusetzen. Nach Wenk sagt der Debutades-Mythos somit „weniger etwas über eine mögliche Autorschaft von Frauen aus […], als vielmehr über das Selbstverständnis der Künstler der einsetzenden Moderne und deren Begründung von Autorschaft – in einer mit ‚Weiblichkeit‘ assoziierbaren ‚Natur‘, auf die sich die Künstler nun beziehen und die sie zu vervollkommnen beanspruchen“.40
Dass sich dieses Konzept männlicher Meisterschaft auch in den oben dargelegten ästhetischen Konzepten der modernistischen ‚Leere‘ findet, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass Glasmeier Becketts Quadrat I in eine Tradition „alter Meister“41 stellt und damit den Kanon einer männlich dominierten Künstler-Kunstgeschichte fortschreibt.42 In eben diesen Diskurs begibt sich auch Samadian, wenn er im oben genannten Interview seine ‚universelle Kreativitätsleistung‘ durch das im Film enthaltene abstrakte Moment des ‚schwarzen
36 Eagleton 1994, S. 326-334. 37 Makropoulos, Michael: Modernität und Kontingenz, München: Fink 1997, S. 70-82. 38 Vgl. etwa die zusammenfassende Darstellung in Schade, Sigrid/Wenk, Silke: „Inszenierungen des Sehens: Kunst, Kunstgeschichte und Geschlechterdifferenz“, in: Bußmann, Hadumod/Hof, Renate (Hg.), Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart: Kröner 1995, S. 340-407. 39 Krauss 2000. 40 Wenk 1997, S. 23. 41 Der Untertitel von Glasmeiers Aufsatz über Beckett lautet „Alte Meister im Quadrat“. Er bezieht sich dabei konkret auf Caravaggio, Bellini und Brouwer. Glasmeier 2000, S. 149-159. 42 Zur Kritik des männlich dominierten kunsthistorischen Kanons vgl. insbesondere Salomon 2005, S. 37-52.
Verschleierte Ansichten Flecks vor dem unendlichen Weiß‘ begründet. Nicht nur erhebt er sich damit als Künstler über die dokumentarisch-filmische Naturwiedergabe, sondern er reduziert auf diese Weise zugleich auch die repräsentierte Frau auf ein passives Zeichen in der Hand eines kreativen Schöpfers.43 Dass die Frau dabei – in der naturromantischen Dimension des Films – gleichzeitig Bestandteil der ‚erhabenen Natur‘ ist (ein schwarzer Fleck wie die Krähen), gegen die sich der individualisierte Filmemacher im Innenraum absetzt, lässt die feministische Kritik, dass durch moderne Autorschaftsmythen Geschlechterstereotypen naturalisiert und sedimentiert werden, zusätzlich relevant werden.
Die Frage nach dem Tschador In diesem Zusammenhang darf ein überaus bedeutsamer Unterschied zwischen Samadians The White Station und Becketts Quadrat I nicht übersehen werden. Anders als bei Beckett scheint der Schleier bei Samadian keineswegs die Fähigkeit zu haben, Bedeutung auszulöschen. Vielmehr bleibt der Umhang in The White Station eindeutig als Tschador erkennbar, weshalb er die Darstellung unausweichlich in geografische, kulturelle und geschlechtsspezifische Signifikationssysteme einbindet. In der modernistisch-abstrakten Argumentation Samadians erscheint der Tschador daher eher als ein Störfaktor, wie er selbst einräumt: „Unfortunately I failed to reach that form of universality in The White Station, because of this chador that circumscribes the action in an identifiable geographical zone.“44
Was bedeutet nun dieses Eingeständnis einer verfehlten abstrakten Universalität? Oder mehr noch: Warum ist es für Samadian überhaupt notwendig, sich diesem Ziel und damit auch dem Scheitern auszusetzen? Warum kann oder will er die Markiertheit des Schleiers nicht positiv als (postmodernes) Zeichen von Differenz nutzen? Zunächst ist festzustellen, dass der unerfüllte Wunsch nach Universalität einen zweifachen Mangel impliziert: Aus Perspektive der Moderne ist das Scheitern dieses Wunsches Ausdruck des ‚Zuspätkommens‘ des nicht-westlichen 43 In diesem Sinn unterstreicht auch Michael Pauen, dass die Durchsetzung der Abstraktion mit einer aggressiven Abwertung der Natur einherging. Pauen, Michael: „Die Diskreditierung der Natur. Zur Entwicklung der Ästhetik der Abstraktion“, in: Zimmermann, Jörg/Saenger, Uta/Darsow, Götz-Lothar (Hg.), Ästhetik und Naturerfahrung, Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1996, S. 369-384. 44 Samadian in: Samadian/Pichon 2004, S. 113.
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Andere Subjekte Künstlers, der durch seine kulturelle Differenz dem westlichen Universalismus unabdingbar hinterherhinken muss.45 Und aus einer postmodernen Perspektive bedeutet bereits der Anspruch von Universalität ein ‚Vielzuspätkommen‘, da etwas vergeblich versucht wird, das ohnehin bereits als Illusion und falscher Mythos dekonstruiert worden ist. Samadians unvollständige Universalität verortet sich aber, wie im Folgenden gezeigt wird, genau zwischen diesen beiden Perspektiven und scheint gerade durch den doppelten Mangel einen kritischen, postkolonialen Zwischen- oder Schwellenraum zu eröffnen. Ein Blick auf die ambivalente Funktion des islamischen Schleiers in der Kolonialgeschichte macht verständlich, warum Samadian dem Element des Tschadors so skeptisch gegenübersteht und ihn rhetorisch zurückweist. Bereits Mitte des 20. Jahrhunderts zeigte Frantz Fanon am Beispiel von Algerien die komplexen Funktionen und kolonialen Zusammenhänge des Schleiers auf.46 Wie er darlegt, zeichnet sich der Schleier dadurch aus, dass er seine TrägerInnen hinter einem mehr oder weniger einheitlichen Umhang verbirgt, wodurch diese nach außen hin als anonyme, einheitliche Masse erscheinen. Dabei erhält der Schleier – im Sinn einer Uniform – jedoch selbst eine starke sichtbare Präsenz, die beförderte, dass er im Kolonialismus ein zentrales Symbol für ‚Fremdheit‘ werden konnte, wobei diese ‚Fremdheit‘ essentiell mit ‚Weiblichkeit‘ verknüpft wurde. Neben diesem orientalistischen Aspekt schafft die Anonymisierung durch den Schleier aber auch einen subversiven Freiraum für seine Trägerinnen, die sich, wie Fanon unterstreicht, auf diese Weise der kolonialen Kontrolle ein Stück weit entziehen konnten. Als Konsequenz hefteten sich von Seite der Kolonisatoren sexualisierte Begehrens- und Gewaltdiskurse an den Schleier, die ihn zum Fetisch für die sexuelle und militärische Inbesitznahme des begehrten kolonialen ‚Anderen‘ machten. Ihren Ausdruck fanden sie dabei im Imperativ zur Entschleierung, in dem sich militärische Operationen und scheinbar emanzipative Befreiungsdiskurse miteinander verbinden.47 Ein ähnlicher Mechanismus kann auch im Fall
45 Diese zeitliche Metapher in der westlich-kolonialistischen Vorstellung verdeutlicht Frantz Fanon als: „Ihr kommt zu spät, viel zu spät. Immer wird eine Welt – eine weiße Welt – zwischen euch und uns liegen.“ Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt a.M.: Syndikat [1952] 1980, S. 80; vgl. auch Bhabha 2000, S. 353. 46 Fanon, Frantz: „Algeria Unveiled“ [1959], in: ders., Studies in a Dying Colonialism, London: Earthscan Publications 1989, S. 35-67. 47 Nach Fanon hatten die Argumente der Entschleierung allerdings einen gegenteiligen Effekt, da sie die zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend sinnentleerte und problematisch gewordene Tradition des Verschleierns mit neuem, widerständigen Potential aufluden. Der Schleier wurde in eine doppelt essentialisierende Bewegung eingeschrieben: „To the colonialist offensive against the veil, the colonized opposes the cult of the veil.“ Ebd., S. 47. Vgl. dazu auch Alloula, Malek: Haremsphantasien. Aus dem Postkar-
Verschleierte Ansichten des gegenwärtigen Booms von Medienbildern verschleierter Frauen festgestellt werden. Als begehrte und zugleich abgewertete Figur exotischer Differenz tritt der Schleier vor allem als Symbol des Islam in Erscheinung, den es im Rahmen des ‚Kriegs gegen den Terror‘ zu bekämpfen gelte. Der Schleier wird dabei in einen vermeintlich emanzipatorischen Diskurs der Entschleierung eingebunden, der jedoch in erster Linie imperialistische Unternehmungen des Westens legitimieren und dessen hegemoniale Vormachtstellung absichern soll.48 Auf genau diese übermächtige, deterministische Präsenz des Zeichens ‚Schleier‘ spielt auch Samadian an, wenn er meint: „Yes, I can imagine that the mere presence in the film of a woman dressed in a chador can be taken as calling for struggle against the Islamic regime. Capturing a human being in such a garment is bound to arouse feelings of compassion in the spectator: this woman seems abandoned, left on her own devices. If this same person were dressed in the Western style, she would give us a very different impression.“49
Vor diesem Hintergrund stellt sich Samadians Versuch, den Schleier als schwarzen Fleck zu ent-semantisieren, neu dar: Seine Bewegung hin zur Abstraktion kann in einem derart aufgeladenen Diskursfeld als Zurückweisung der Metonymiekette Schleier-Weiblichkeit-Orient-Unterdrückung verstanden werden. tenalbum der Kolonialzeit, Freiburg: Beck und Glückler [1981] 1997; Yegenoglu, Meyda: „Veiled Fantasies. Cultural and Sexual Difference in the Discourse of Orientalism“ [1998], in: Lewis, Reina/Mills, Sara (Hg.), Feminist Postcolonial Theory, New York: Routledge 2003, S. 542-566, sowie Schmidt-Linsenhoff, Viktoria: „Der Schleier als Fetisch. Bildbegriff und Weiblichkeit in der kolonialen und postkolonialen Fotografie“, in: Fotogeschichte 76/2 (2000), S. 25-38. 48 Donnell, Alison: „Visibility, Violence and Voice? Attitudes to Veiling Post-11 September“, in: Bailey, David A./Tawadros, Giliane (Hg.), Veil. Veiling, Representation and Contemporary Art, Cambridge, MA/London: MIT Press/inIVA 2003, S. 124, 126. Vgl. dazu auch die kritischen Studien zur aktuellen Schleierdebatte bei Maier, Tanja/ Stegmann, Stefanie: „Unter dem Schleier. Zur Instrumentalisierung von Weiblichkeit. Mediale Repräsentationen im ‚Krieg gegen den Terror‘“, in: Feministische Studien 1 (2003), S. 51-61, sowie Wenk, Silke: „Die Wiederkehr der Bilder und imperiale Inszenierungen im Kontext neuer Kriege“, in: Christina von Braun u.a. (Hg.), Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften, Bielefeld: transcript 2009, S. 319-335. In ihrer Studie zu diesem Problemfeld kritisiert Alison Donnell, dass die undifferenzierte, dominante Interpretation des Schleiers als Ausdruck der Unterdrückung differenzierte Auseinandersetzungen mit anderen, positiven und negativen Dimensionen des Islam – darunter auch andere Formen der Diskriminierung von Frauen – unterdrückt. Donnell 2003. 49 Samadian in: Samadian/Pichon 2004, S. 112.
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Andere Subjekte Samadian scheint dabei das subversive Potential des modernen Universalismus gegenüber einem mit orientalistischer Bedeutung aufgeladenen Differenzdiskurs zu nutzen. Es scheint, als befreie er die Darstellung der verschleierten Person durch die Geste der Abstraktion aus ihrem kolonial begehrten wie abgewerteten Opferstatus. Dass die abstrakte Bedeutungsleere in The White Station jedoch verfehlt wird, d.h. der Schleier nicht gänzlich seiner kulturellen Bedeutung enthoben ist, fügt der obigen Differenzkritik zusätzlich noch eine Bedeutungsebene hinzu, die sich auch gegen euphorische, modernistische Emanzipationsversprechen wendet. Diese Ebene richtet sich etwa gegen Eagletons Modernediskurs, demzufolge die scheinbar universellen Systeme der Moderne gerade für „eine chronisch rückständige Kolonialgesellschaft“50 die Möglichkeit bieten, von der Peripherie ins Zentrum zu gelangen. In seiner ästhetischen Theorie schreibt er: „Wenn die überkommenen Nationalsprachen jetzt auf globale semiotische Systeme stoßen […] – wer wäre dann besser geeignet, diese neue Nicht-Sprache zu sprechen als diejenigen, die schon um ihre eigene Sprache gebracht worden sind?“51
Genau diese Vorstellung eines glatten, scheinbar harmonischen Universalismus wird nun von Samadians eingestandenem Scheitern an der ‚Nicht-Sprache‘ gestört. Er konfrontiert damit den eurozentrischen Modernismus von Eagleton, der die Kultur der Kolonialgesellschaften als ‚rückständig‘ denken muss, mit dem verleugneten Anderen der Moderne. Deutlich wird dies etwa, wenn die mit The White Station aufgebrachte Frage nach dem Tschador auch auf die zuvor erwähnte Arbeit Quadrat I von Samuel Beckett bezogen wird. Aus einer differenzkritischen Perspektive wird deutlich, dass auch in dieser Arbeit verdrängte orientalistische Bedeutungen enthalten sind. Glasmeier verweist auch selbst indirekt darauf, wenn er berichtet, dass das Motiv der Umhänge durch Becketts Vorstellungsbild einer „verhüllte[n] Araberin in angespannter Wartehaltung, die sich immer wieder reckt, in die Ferne blickt und dann die Arme hilflos sinken lässt“52 inspiriert gewesen sei. In der Schilderung der Hilflosigkeit der verschleierten Frau schwingt deutlich das zuvor besprochene orientalistische Stereotyp mit, dessen problematische Aspekte jedoch in der Besprechung der meisterschaftlichen Qualität von Becketts Arbeit ausgeklammert werden. Samadians unerfülltes Streben nach Abstraktion kann damit als ein doppelt kritisches, postkoloniales Projekt gelesen werden: Zum einen verweist es
50 Eagleton 1994, S. 331. 51 Ebd., S. 332. 52 Glasmeier 2000, S. 155.
Verschleierte Ansichten auf das Verleugnen von Gewalt in scheinbar emanzipatorischen Differenzkonzepten und zum anderen macht es auf die Gewaltmomente des Verleugnens von Differenz in den Konzepten der Moderne aufmerksam. Sein unperfektes Wiederholen der Moderne ist damit nicht das ‚Zuspätkommen‘ der Peripherie, die zugleich den modernen Universalismus und die postmoderne Wende versäumt hat, sondern es stellt mit Homi K. Bhabha die postkoloniale „Frage der Gegen-Moderne“: „[W]as ist Moderne unter jenen kolonialen Bedingungen, unter denen ihre Durchsetzung selbst die Negierung der historischen Freiheit, der bürgerlichen Autonomie und der ‚ethnischen‘ Wahl einer anderen Gestaltung darstellt?“53
In Bezug auf die oben ausgeführte Problematik des Schleiers könnte diese Frage auch lauten: Welche kulturellen, geschlechtspezifischen und geopolitischen Zusammenhänge blendet das Postulat eines ent-semantisierten/ent-semantisierenden Umhangs aus und was (oder wer) bleibt noch in dessen Verleugnung darin gefangen? Samadians filmische Produktion und seine sprachlichen Äußerungen haben wesentlichen Anteil an der Formulierung dieser postkolonialen Frage. Dennoch bedeutet dies nicht, dass das hegemoniale Gefälle zwischen Künstler und repräsentierter Frau damit aufgehoben wäre. Der kritische Moderne- und Postmoderne-Bezug des Künstlers ist vielmehr weiterhin von problematischen Bedeutungen durchzogen, was sich etwa darin zeigt, dass er in seinen Aussagen weiterhin die Begriffe „chador“ und „woman“ metonymisch verwendet und damit die geschlechtliche Determinierung des Schleiers reproduziert. Die hinter dem Schleier angenommene Frau wird erneut essentiell gesetzt. Unter dieser Bedingung wird ihr Bild erneut zum ‚authentischen Außen‘ der künstlerischen Geste der Abstraktion: Während es auf der einen Seite als Exzess durch die Äußerungen des Künstlers abwertet und verleugnet wird , nutzt er es auf der anderen Seite zugleich auch als Mittel zur Authentifizierung der Aufnahmesituation (etwa indem es als Teil des scheinbar zufällig dokumentierten Geschehens den unmittelbaren ästhetischen Blick des Filmemachers mitkonstruiert). Der durch den Tschador kulturell und geschlechtlich determinierte Körper der Frau bleibt dabei naturalisierter Grund, vor dem die politisch avancierten Konzepte der ‚Postkolonialität‘ und der ‚Gegen-Moderne‘ vorgeführt werden.54 In diesem 53 Bhabha 2000, S. 361. Vgl. dazu auch Kapur, Geeta: When Was Modernism: Essays on Contemporary Cultural Practice in India, New Delhi: Tulika 2000. 54 Vgl. dazu auch die Kritik bei Suleri, Sara: „Woman Skin Deep. Feminism and the postcolonial condition“, in: Ashcroft/Griffith/Tiffin, The post-colonial studies reader, 2007, S. 250-255. Suleri warnt vor der Gefahr der Konstruktion der ‚anderen Frau‘ als au-
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Andere Subjekte Sinn scheint Samadian durch den Diskurs der abstrakten, universellen Formen weniger die Frau aus ihrem Opferstatus zu befreien (wie weiter oben vorgeschlagen), sondern in erster Linie sich selbst, als iranischer Künstler, von den orientalistischen Zuschreibungen durch ein westliches Publikum zu schützen. Zugespitzt formuliert, scheint er sich dabei mit der rhetorischen Verleugnung der verschleierten Frau auch der mit dieser Figur verbundenen Feminisierung entledigen zu wollen, die sich über den Umweg des Orientalismus an seine eigene kulturelle Zugehörigkeit zu heften droht. Im Sinn der feministischen, postkolonialen Theoretikerin Kadiatu Kanneh soll daher auch gegenüber Samadian als postkolonialem Künstler auf der Frage insistiert werden: Unter Rückgriff auf welche geschlechtsspezifischen Körperbilder wird die politische (d.h. auch postkoloniale) Bedeutung der Arbeit argumentiert?55
4.3 Ambivalente Blickverhältnisse Die obigen Überlegungen bezogen sich vor allem auf die Beziehung zwischen der verschleierten Figur und der außerfilmischen Instanz des Künstlers, der über den Film spricht. Im Folgenden wird nun auch die innerfilmische, narrative Figur des Filmemachers in Relation zur repräsentierten Frau berücksichtigt. Wie bereits erwähnt, zeigt der Hauptteil von The White Station eine Straßenansicht, die mit dem einheitlichen Blick eines vor Ort filmenden Kameramanns assoziiert werden kann. Diese Darstellung erinnert an die Ästhetik nicht-fiktionaler Aktualitätenfilme zwischen 1903 und 1917, die der Filmwissenschaftler Tom Gunning in seinem Aufsatz Vor dem Dokumentarfilm (1995) mit dem Begriff der
thentischer Rest auch im theoretischen Diskurs von feministischen, postkolonialen Theoretikerinnen. 55 Kanneh formulierte die Frage mit Bezug auf postmoderne Konzepte: „On whose terms is this celebration of postmodern plurality and difference being conducted?“ Kanneh, Kadiatu: „Feminism and the Colonial Body“, in: Ashcroft, Bill/Griffith, Gareth/Tiffin, Helen (Hg.), The post-colonial studies reader, New York/London: Routledge, 1995, S. 348. Die Frage nach dem Körperbild drängt sich in The White Station nicht zuletzt durch den Schleier selbst auf, da dieser den angenommenen weiblichen Körper verdeckt und die Attribuierung so als ein letztlich ungesichertes Terrain erscheinen lässt. Als ‚ungenügende‘ Repräsentation von Weiblichkeit behält der Schleier hier ein Widerstandspotential, das den dominanten Diskurs der ‚verschleierten Frau‘ als ein wirkmächtiges ideologisches Konglomerat ausstellt. Siehe dazu auch die nächsten beiden Unterkapitel.
Verschleierte Ansichten „filmischen Ansicht“ beschreibt.56 Wie bewegte Postkarten zeigen diese Ansichten fremde Länder und Ereignisse aus einer meist statischen Kameraposition. Die stilistische Einfachheit der Filme stellt jedoch, wie Gunning unterstreicht, keinen Mangel dar (wie dies im Vergleich mit formal elaborierten Spielfilmen erscheint), sondern ist im Sinn des „Kinos der Attraktionen“57 als Inszenierung eines spektakulären Blicks zu verstehen: „[W]ir erfahren eine Ansicht nicht einfach als die Darstellung eines Ortes, eines Ereignisses oder eines Prozesses, sondern gleichzeitig als Mimesis des Betrachtens selbst. Die Kamera tritt buchstäblich als Tourist, Forscher oder Betrachter auf, und das Vergnügen an diesen Filmen liegt gerade darin, daß sie als Surrogat des Schauens erscheinen. Ein erstes Indiz hierfür findet sich in den deutlichen Hinweisen auf die Anwesenheit der Kamera.“58
In seiner Darstellung betont Gunning einerseits die voyeuristische Dimension dieses Medienformats, weist aber auch auf potentiell darin enthaltene reflexive Elemente hin: Die filmische Ansicht ist, wie er schreibt, „in das faszinierende Spiel mit dem listigen, enthüllten und enthüllenden Blick“ eingebettet.59 Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde dieses historische Medienformat, wie Thomas Elsaesser zeigt, für zahlreiche Experimentalfilmer der 1960er Jahre eine wichtige Inspirationsquelle, die daran anknüpfend eine kritisch-reflexive Dimension des Filmischen zu erarbeiten suchten.60 Durch das Aufgreifen der Ästhetik der Ansicht ordnet sich auch The White Station in diese Traditionslinie ein. Im Folgenden wird untersucht, inwiefern sich in dem Kurzfilm ein ähnlich ambivalentes – und möglicherweise auch reflexives – Blickverhältnis zwischen dem Filmemacher und der gefilmten Hauptfigur ergibt. In welche narrativen und strukturellen Machtverhältnisse des Blicks und des Filmischen sind diese beiden Instanzen dabei eingebunden?
56 Gunning, Tom: „Vor dem Dokumentarfilm. Frühe ,non-fiction‘-Filme und die Ästhetik der ,Ansicht‘“, in: Kessler, Frank/Lenk, Sabine/Loiperdinger, Martin (Hg.), Anfänge des dokumentarischen Films, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1995, S. 111-122. 57 Gunning 1996, S. 25-34. 58 Gunning 1995, S. 114. 59 Ebd., S. 117. 60 Elsaesser, Thomas: „Realität zeigen: Der frühe Film im Zeichen Lumières“, in: Keitz/ Hoffmann, Die Einübung des dokumentarischen Blicks, 2001, S. 36, sowie Russell 1999, S. 51-75, deren Überlegungen im letzten Unterkapitel ausführlicher aufgegriffen werden.
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Andere Subjekte
Der Blick aus dem Fenster In The White Station befindet sich der Filmemacher hinter dem Fenster eines Hochhauses und beobachtet von diesem distanzierten und uneingesehenen Aussichtsplatz aus die Straße. Außer dem Schneesturm und den wartenden Personen fängt die Kamera jedoch keine besonderen Ereignisse ein. Diese Darstellung lässt in ästhetischer Hinsicht an Bilder von Überwachungskameras denken, die meist aus einiger Distanz das öffentliche Geschehen ohne narratives Interesse einfangen. In The White Station ist somit ein Motiv der Überwachung angelegt, das Michel Foucault in seinem Buch Überwachen und Strafen (1977) machttheoretisch diskutiert. Sein zentrales Beispiel ist dabei das Bentham'sche Panopticon, ein ideales Gefängnisgebäude, bei dem von einem erhöhten Turm aus alle Gefängniszellen eingesehen werden können. Foucault nutzt dieses Modell, um zu zeigen, dass Macht in der Moderne wesentlich durch rationalistisch organisierte Blickverhältnisse ausgeübt wird.61 Er beschreibt das Panopticon auch als „ein verallgemeinerungsfähiges Funktionsmodell […], das die Beziehungen der Macht zum Alltagsleben der Menschen definiert“.62 Aber nicht nur die an Überwachungsbilder erinnernden Aufnahmen formulieren in The White Station ein scheinbar rationales, allgegenwärtiges Sehen, sondern auch das Motiv des Fensters ruft diese Bedeutungsdimension auf. Der Schwellenraum des Fensters gilt seit der Renaissance als Sinnbild für eine geordnete Beziehung von Mensch und Natur, die durch den Blick beherrscht wird. Das Fenstermotiv ist dabei in das Denkmodell der Zentralperspektive eingeschrieben, die von einem mathematischen Blickpunkt ausgehend ein ideales Sehen konstruiert: Die Welt scheint ‚wie durch ein Fenster‘ ansichtig zu werden und sich auf ‚natürliche‘ Weise und völlig logisch dem Betrachter zu erschließen.63 In ihrem Aufsatz Jalousie (1999) fragt die Kunstwissenschaftlerin Irene Nierhaus nach der Funktion des Fenstermotivs im Kontext der dominanten Geschlechterordnung.64 Eines ihrer Beispiele ist die Erzählung Des Vetters Eck-
61 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1977] 1991. Wie Foucault darlegt, geht es dabei um „die Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt“. Ebd., S. 258. 62 Ebd., S. 263. Vgl. dazu auch „Bildfähigkeiten“, in: ders. (Hg.), Imagineering, Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit, Köln: Oktagon 2000, S. 16f. 63 Vgl. dazu Rasche, Stefan: Das Bild an der Schwelle. Motivische Studien zum Fenster in der Kunst nach 1945, Münster: Lit 2003, S. 35, sowie Nierhaus, Irene: „Jalousie. Blick und Bild als Medien der Verräumlichung der Geschlechterdifferenz“, in: dies., Arch6. Raum Geschlecht, Architektur, Wien: Sonderzahl 1999, S. 41. 64 Ebd., S. 35-59.
Verschleierte Ansichten fenster (1822) von E.T.A. Hoffmann, in der zwei Männer durch ein Dachfenster auf einen Markt blicken und die dort einkaufenden Frauen kommentieren. Wie Nierhaus zeigt, wird den beiden Protagonisten dabei ein mächtiges, transzendentales Sehen zugeordnet, während die beobachteten weiblichen Figuren als passive Blickobjekte inszeniert werden, die visuell genossen und moralisch abgewertet werden.65 Ein weiteres Beispiel von Nierhaus ist die bekannte Grafik Der Zeichner des liegenden Weibes (1525) von Albrecht Dürer (Abb. 9), die in einem Innenraum einen arbeitenden Künstler zeigt, der durch ein aufgespanntes Fadennetz (Alberti'sches Fenster) auf eine liegende nackte Frau blickt.
Abb. 9: Albrecht Dürer, Der Zeichner des liegenden Weibes, 1525.
Wie Nierhaus darlegt, wird der blickmächtige männliche Künstler auf bildnarrativer Ebene mit einer rationalen kulturellen Ordnung in Verbindung gebracht, während die in sich versunkene Frau mit dem chaotisch fließenden Prinzip der Natur assoziiert wird, für das nicht zuletzt die durch das Fenster sichtbare Naturlandschaft hinter der Frau steht.66 Durch Dürers zentralperspektivische Darstellung der Frau wird dieser Dualismus auch strukturell in der Grafik wiederholt und den BetrachterInnen praktisch angeboten. Ganz ähnlich stellt sich dies für den realistischen Film dar, der – wie das zentralperspektivische Bild – häufig als ‚Fenster in die Welt‘ gesehen wird. Wie die Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey darlegt, wird auch in diesem Medium ein machtvoller, transzendentaler Blick konstruiert und männlich konnotiert, während Frauen als narrativ entmachtete Blickobjekte zu sehen gegeben werden.67 Aus einer solchen geschlechterkritischen Perspektive wird deutlich, dass auch in The White Station der Fensterblick des Filmemachers in ein duales Geschlechterverständnis eingeschrieben ist. Der Beobachter, der in seiner Kör65 Ebd., S. 42-46. Nierhaus unterstreicht in ihrem Artikel, dass die dominante Fiktion eines ‚reinen‘ Sehens die tatsächliche Kontingenz der Blickverhältnisse verkennt. Die Geschlechterordnung wird reproduziert und legitimiert, indem die Körperlichkeit der beobachtenden männlichen Subjekte verleugnet wird. Ebd., S. 55f. 66 Ebd., S. 48-51. 67 Ebd.
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Andere Subjekte perlichkeit während des gesamten Films unsichtbar bleibt, wird auch hier mit der scheinbar neutralen Ästhetik der (Überwachungs-)Kamera sowie mit dem kulturell assoziierten Innenraum hinter dem Fenster in Verbindung gebracht. Er erscheint als rationaler und transzendentaler Teil der ‚Zivilisation‘, der auf einen Außenraum trifft, in dem eine weiblich assoziierte Figur weitgehend hilflos dem Naturchaos ausgesetzt ist. Die Blickstrukturen in The White Station scheinen die hierarchische Geschlechterordnung ungebrochen zu reproduzieren und durch die realistische, dokumentarische Form des Films weiter zu verfestigen. Die Art und Weise, wie in The White Station der Blick auf die Straße inszeniert wird, impliziert jedoch noch eine weitere Ebene. Von Bedeutung ist dabei, dass der Filmemacher – wie im ersten Unterkapitel gezeigt – durch verschiedene filmische Mittel als psychologische Figur eingeführt wird. In Bezug auf das Blickverhältnis im Film heißt dies, dass auch die psychische Dimension des Voyeurismus mitberücksichtigt werden muss. Diese Dimension ist wesentlich durch die Vorstellung des Verbotenen und Heimlichen geprägt, wie die klassische Szene eines durchs Schlüsselloch blickenden Voyeurs anschaulich macht.68 Eine erhellende Analyse der psychischen Vorgänge des Voyeurismus liefert Jacques Lacan. Wie er feststellt, geht es dabei – entgegen der vorherrschenden Annahme – nicht so sehr um die ‚Wirklichkeit‘ des beobachteten Objekts, das letztlich nur als ein flüchtiger Schatten erscheint, sondern vor allem um die Scham des beobachtenden Subjekts.69 Der Voyeurismus basiert demnach weniger auf dem tatsächlichen Sehen als vielmehr auf der (unbewussten) Vorstellung, von einem imaginierten Anderen bei der verbotenen Handlung überrascht zu werden. Das vom Anderen ausgehende Verbot – der imaginierte strafende Blick des Anderen – gibt der Tätigkeit überhaupt erst seinen (wenngleich ‚perversen‘) Sinn.70 Die Dimension des Voyeurismus als heimliches, verbotenes Sehen wird in The White Station zunächst dadurch vermittelt, dass in mehreren Einstellungen der Schnee auf der Fensterbank den Kamerablick halb verdeckt, wodurch es scheint, als verberge sich der Filmemacher bewusst dahinter (Abb. 4a, 5c). Und
68 Den Aspekt des Versteckten und Nicht-Öffentlichen als zentrales Kriterium des Voyeurismus betont etwa Widmer, Peter: „Das unbewusste Begehren des Voyeurs“, in: Stadler, Ulrich (Hg.), Schaulust. Heimliche und verpönte Blicke in Kunst und Literatur, München: Fink 2005, S. 152f. 69 Lacan 1996, S. 190f. 70 Lacan spricht davon, dass „die Schaulust in der Perversion zum Ausdruck kommt“. Ebd., S. 190. Sein Verständnis von Perversion als Mechanismus der Subjektivierung ist dabei jenem von Foucault ähnlich, der diese als ‚Erfindungen‘ der Moderne denkt, mittels derer die sich selbst kriminalisierenden Subjekte der Macht zugänglich werden. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1976] 1983, S. 41-53.
Verschleierte Ansichten auch der ungewöhnlich lange Rückzoom der Kamera, der sich vom anvisierten Objekt wegbewegt (Abb. 6a, 6b), erweckt den Eindruck, als befürchte der Voyeur, bei seiner Tätigkeit ertappt zu werden. Dieser heimliche, verbotene Blick des Voyeurs verbindet sich in The White Station mit der Überwachungsästhetik der Bilder des Außenraums. Allerdings überlagern sich diese beiden Blickebenen nicht reibungslos, sondern sie unterbrechen und kommentieren sich auch gegenseitig. So lassen die immer gleichen Bilder der öffentlichen Straßenszene die Lust des Voyeurs am Verbotenen in ihrer ganzen Banalität erscheinen. Der begehrte ‚geheimnisvolle Schatten‘ entpuppt sich als unspektakuläre ‚Wirklichkeit‘ wartender Personen, die durch den starken Schneefall einfach nur schlecht zu sehen ist. Der Mechanismus des Voyeurismus wird hier seiner phantasmatischen Grundlage beraubt und der Voyeur tritt in seiner traurigen Position als ein von der Umwelt isolierter Beobachter in Erscheinung. Und umgekehrt subvertieren auch die Gesten des voyeuristischen Settings (das Verstecken, der Rückzug, der geheime Blick etc.) die scheinbar neutrale Machtposition des Überwachungsblicks. Es wird deutlich, dass sich jemand hinter der Kamera befindet – eine Person, der die Blickmacht entgleitet und deren kontingente, geschlechtsspezifische Machtposition nun angreifbar wird.
Orientalismus und Gegenblick im Schleier Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang (erneut) die Tatsache, dass das zentrale Objekt des zugleich machtvollen und ohnmächtigen Blicks ein Tschador ist. Der Blick bezieht sich somit auf ein Element, das etwas verdeckt und potentiell den Wunsch weckt, das dahinter Verborgene sichtbar zu machen, zu entschleiern. Wie bereits ausgeführt, konnte der Schleier im Kolonialismus auf dieser materiellen Grundlage zum Fetisch der sexualisierten und militärischen Inbesitznahme des begehrten, kolonialen ‚Anderen‘ werden.71 Meyda Yegenoglu beschreibt dementsprechend den Schleier als verdichtetes Zeichen für das Vorstellungsbild der geheimnisvollen ‚orientalischen Frau‘ sowie ihrer Aneignung durch Entschleierung: „The mystery that is assumed to be concealed by the veil is unconcealed by giving a figural representation to this mask and to the act of masquerading as an enigmatic figure.“ 72
71 Vgl. Anm. 44-46. 72 Yegenoglu 2003, S. 547. Vgl. auch ebd., S. 549.
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Andere Subjekte In diesem Sinn impliziert der panoptische und voyeuristische Blick des Filmemachers auf die verschleierte Frau, der zuvor noch in seiner kritisch-reflexiven Funktion beschrieben wurde, auch eine machtlogische Bedeutung: Denn im Bild der verschleierten Figur verdichten sich diese Blicke zu einem kolonialistischen Machtdiskurs, bei dem über den Schleier auch das dahinter vermutete Geheimnis der ‚orientalischen Frau‘ greifbar erscheint. Der Blick wird hier keineswegs enttäuscht und entblößt, sondern er kann sich über den orientalistischen Schleier-Diskurs in einer phantasmatischen Fülle des ethnisch und sexuell ‚Anderen‘ aufgehoben fühlen. Diese Bedeutungsebene wird vor allem im westlichen Kunstzusammenhang, in dem der Orientalismus eine lange Bildtradition hat, naheliegend. Der Begriff Orientalismus beschreibt zunächst eine ab dem 18. Jahrhundert verstärkt einsetzende künstlerische und wissenschaftliche Bewegung, in der sich der ‚Westen‘ mit dem ‚Orient‘ auseinandersetzt – ohne dabei jedoch den politischen und ideologischen Hintergrund des Kolonialismus zu benennen.73 Erst mit Edward Saids einflussreichem Buch Orientalism (1978) erfuhr der Begriff eine diskursanalytische Revision und der epistemologische Raum ‚Orient‘ wurde als Produkt des Ineinandergreifens von imperialer Machtpolitik und kultureller Produktion sichtbar gemacht.74 An dieses Projekt anknüpfend zeigt die Kunsthistorikerin Linda Nochlin, wie in der Malerei des 19. Jahrhunderts das vermeintliche Wissen um den Orient visuell inszeniert wurde.75 Nach Nochlin spielt 73 Vgl. dazu die kritische Darstellung in MacKenzie, John: Orientalism. History, theory and the arts, Manchester: Manchester University Press 1995, S. 43, 49f. 74 Said, Edward: Orientalismus, Frankfurt a.M.: Ullstein [1978] 1981. Das orientalistische Wissen, demzufolge der Orient als „irrational, barbarisch/sinnlich/faul, statisch, weiblich“ erscheint (de Toro, Alfonso: „Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität. Materialien zu einem Modell der Hybridität und des Körpers als transrelationalem, transversalem und transmedialem Wissenschaftskonzept“, in: Hamann, Christoph/Sieber, Cornelia (Hg.), Räume der Hybridität. Zur Aktualität postkolonialer Konzepte, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 2003, S. 22), sagt folglich nichts über die ‚Wahrheit‘ seines Objekts aus, sondern vielmehr etwas über jene Instanz, die dieses Wissen als Negativfolie zum westlichen Aufklärungsideal herstellt. Wie Said unterstreicht, gewann „die europäische Kultur an Stärke und Identität […], indem sie sich gegen den Orient als einer Art Surrogat und selbst unterschwelligem Ich absetzte“. Said 1981, S. 10f. 75 Nochlin, Linda: „The Imaginary Orient“ [1983], in: Exotische Welten – Europäische Phantasien, Ausst.-Kat. Institut für Auslandsbeziehungen und Württembergischer Kunstverein, Stuttgart: Edition Cantz 1987, S. 172 -179. Wie sie zeigt, wird der ‚Orient‘ in diesen Gemälden einerseits durch eine immense Bilddichte mythisiert und enthistorisiert, während die glatte, realistische Oberfläche der Bilder eine überlegene, objektive westliche Meisterschaft suggeriert. Nochlin bezieht sich dabei insbesondere auf Arbeiten von Jean-León Gérôme um die Mitte des 19. Jahrhunderts.
Verschleierte Ansichten dabei die Geschlechterdifferenz insofern eine zentrale Rolle, als Darstellungen von Gewalt an Frauen im Kontext des Orientalismus eine Projektionsfläche für sadistische männliche Macht-Fantasien bilden, die erotisch genossen und gleichzeitig moralisch kritisiert werden können.76 Kathrin Hoffmann-Curtius beschreibt dies treffend als „Orientalisierung von Gewalt“.77 Ähnliche Mechanismen wurden auch für jüngere foto- und videografische Bilder ver- und entschleierter Frauenkörper vielfach festgestellt. Wie verschiedene AutorInnen dargelegt haben, werden diese Darstellungen dazu genutzt, um die gewaltvollen kolonialen Herrschaftsverhältnisse auf Basis der dualen Geschlechterordnung zu legitimieren und zu naturalisieren.78 Dass in The White Station eine in einen Tschador gehüllte Person vom Blick des Filmemachers verfolgt wird bzw. ihm weitgehend schutzlos ausgeliefert ist, muss im westlichen Rezeptionskontext genau in diesem Bedeutungszusammenhang gelesen werden. Die geschlechterduale Trennung des Blicks wird durch den kolonialen Diskurs des Schleiers ausgebaut und verstärkt. Zu beachten ist allerdings auch, dass das Element des Schleiers in The White Station an einem Ort in Erscheinung tritt, der dem Stereotyp des ‚Orientalischen‘ durch seinen modernistischen, unwirtlichen Charakter kaum entspricht. Die Kälte, die reduzierte Farbigkeit sowie die Kargheit der Umgebung unterwandern vielmehr die gängigen Bildklischees des ‚Orients‘. Im Kontext des Schneesturms wird der Tschador in seiner praktischen Funktion als nützliche Kleidung und Schutz vor Kälte lesbar, durchaus vergleichbar mit dem Regenschirm, mit dem sich die Frau vor dem Unwetter zu schützen versucht. Unter dieser Bedingung erscheint die verschleierte Frau aber weniger als ein Sinnbild des ‚Orients‘, sondern sie wird zu einer beliebigen Person, die – wie alle anderen auch – dick eingehüllt im Schneesturm auf den Bus wartet. Auf diese Weise von seiner orientalistischen Fetisch-Funktion ein Stück weit befreit, kann nun auch der Schleier in seinem Widerstandspotential gelesen
76 Ebd., S. 174-176. 77 Hoffmann-Curtius, Kathrin: „Orientalisierung von Gewal: Delacroix' ‚Tod des Sardanapal‘“, in: Friedrich, Annegret u.a., Projektionen, 1997, S. 61-78. Für Eugène Delacroix' Tod des Sardanapal (1827/28) legt Hoffmann-Curtius dar, dass der Maler die bildgewaltige Inszenierung von Sardanapals Mord des ‚Weiblichen‘ selbst nutzt, um „wie ein Napoleon des Orients […] sein artifizielles Überleben“ zu sichern. Ebd., S. 74. Herv. i. Orig. 78 Dies gilt auch für jüngere, foto- und videografische Bilder von ver- und entschleierten Frauen. Vgl. etwa Alloula 1981, Yegenoglu 2003, Schmidt-Linsenhoff 2000 und Förschler, Silke: „Die orientalische Frau aus der hellen Kammer. Zur kolonialen Postkarte“, in: Graduiertenkolleg ‚Identität und Differenz‘, Ethnizität und Geschlecht, 2005, S. 77-94.
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Andere Subjekte werden: Denn wie der Vorhang bzw. die Schneewehen, hinter denen sich der Filmemacher verbirgt, ist auch der Tschador eine Sichtbarriere, der den visuellen Zugriff auf ein Dahinter verstellt und eine heimliche Blick-Position möglich macht. Damit wird die verschleierte Frau selbst zur aktiven Instanz, die den Voyeur in seine Grenzen weist. Aus dem determinierten ‚Opfer‘ des Blicks wird ein ungreifbares, immer schon ‚Anderes‘, das in seiner anwesenden Abwesenheit selbst Subjektstatus erhält. Yegenoglu formuliert in diesem Sinn: „[T]he invisible other speaks from its absent location. The countergaze of the other should be located in this absent-presence […]. It is this moment of seeing or these eyes that filter through the veil which frustrate the voyeuristic desire and displaces his surveillant eye.“79
Im Film The White Station ist der Blick der verschleierten Person sowohl durch den Schleier als auch durch die schlechte Sicht weitestgehend verstellt. Doch gerade diese Ungewissheit über das Sehen der ‚Anderen‘ gibt der Vorstellung eines potentiellen heimlichen Zurückblickens Raum. In einer Szene des Films, in der eine zweite, ebenfalls Kopftuch tragende Figur auf die verschleierte Hauptfigur zugeht und sie vermutlich nach dem Weg fragt (Abb. 10a, 10b), wird dies besonders deutlich. In dieser kurzen Sequenz scheint es an einer Stelle, als blicke die zweite Person genau in Richtung Kamera (Abb. 10c). Obwohl unklar bleibt, ob die Hauptfigur im Tschador ebenfalls in diese Richtung schaut, weist der Blick der zweiten Person substituierend darauf hin, dass der tatsächlich nicht greifbare Blick hinter dem Tschador potentiell jenem der Kamera bzw. des Filmemachers begegnen kann. Die zweite Person wird gewissermaßen zur Assistenzfigur des ‚ungewissen Blicks‘ der verschleierten Frau.
Abb. 10 (a, b, c): Filmstills aus The White Station, Teil 3.
Diese Szene hat auch Einfluss auf die Bedeutung des kurz zuvor ausgestellten Rückzooms des Filmemachers, der nun – rückwirkend – vom Blick der verschleierten Frau ausgelöst zu sein scheint. Der unsichtbare Blick hinter dem Schleier wird dabei zu einer imaginierten Reflektion, zu einem potentiellen ‚Zurück-
79 Yegenoglu 2003, S. 557f.
Verschleierte Ansichten Blicken/Blinken‘, mit dem die beobachtete Figur den Blick des voyeuristischen Filmemachers ertappt. Sie wird zur imaginierten, strafenden ‚Anderen‘ der voyeuristischen Szene. Damit kehren sich aber die Machtverhältnisse des Blicks um. In Relation zum voyeuristischen Filmemacher wird die verschleierte Frau nun ihrerseits zur machtvollen, aktiven Instanz der ‚reflexiven Dimension‘ des Films.
Machtbalance und künstlerisches Vergnügen Vor diesem Hintergrund scheint es durchaus nachvollziehbar, dass Samadian sein Verhältnis zur gefilmten Frau als eine „relation based on a perfect balance“80 beschreibt. In diesem Sinn postuliert auch sein Interviewpartner Christophe Pichon ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Filmemacher und repräsentierter Frau, wenn er meint: „[The film is] about a twofold struggle: that of a woman against the wild elements, but also that of a film director struggling with events so that at least something will be recorded – in spite of the snow – on the video tape.“81
Im Bild eines zweifachen Kampfes nähert Pichon die Handlungspositionen der beiden ProtagonistInnen einander an: Auch die zuvor passiv mit dem Naturraum assoziierte Frau erhält nun – wie der Filmemacher – eine relativ bzw. sogar in Opposition dazu angesiedelte Position. Und umgekehrt wird die meist entnannte, scheinbar transzendentale Tätigkeit des Filmemachers in ihrer Unzulänglichkeit und ihrem Begehren erkenntlich und angreifbar gemacht. Diese Angleichung der Subjektpositionen kann in Bezug auf die Narration des Films weiter ausgebaut werden: Während die Frau auf den Bus wartet, wartet auch der beobachtende Filmemacher (mit ihr) auf etwas, ein eintretendes Ereignis. Dabei erhält die gefilmte Figur, die die Kamera dazu zwingt, ihre Aktionen auf Schritt und Tritt zu verfolgen, Gewalt über den Filmemacher. Ein eindrückliches Beispiel für diese Umkehrung der Machtverhältnisse ist die Szene am Ende des Films, in der die Frau – entgegen aller Erwartungen – nicht in den sehnlich erwarteten Bus einsteigt, sondern in eine andere Richtung weitergeht. Indem sie die narrativ aufgebauten Erwartungen enttäuscht, behauptet sie ihre Unabhängigkeit von der Beobachtungsinstanz und bestimmt selbstständig den Ausgang des Films. Samadian weist auf diese Dimension explizit hin:
80 Samadian/Pichon 2004, S. 115. 81 Ebd., S. 113f.
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Andere Subjekte „[…] never knowing what was going to happen, was a real pleasure in itself. It's what I call a ready-made film, a film that leaves reality full latitude to deposit an unexpected event. […] A filmmaker has to be aware of that power, of that violence that lives within each moment […].“82
Für Samadian stellt der Macht- und Kontrollverlust, den die Autonomisierung der gefilmten Frau bedeutet, offensichtlich keinen Mangel dar. Im Gegenteil, er betont sogar den Lustfaktor dieser Situation. Ein wesentlicher Grund dafür scheint zu sein, dass sich die Behauptung der ‚Machtbalance‘ perfekt in die Authentizitäts- und Autorschaftsrhetorik der im ersten Unterkapitel beschriebenen ‚romantischen Dimension‘ des Films integriert. So betont etwa das unerwartete Nicht-Einsteigen der Frau in der letzten Szene zugleich die Unmanipuliertheit des filmischen Geschehens und das besondere Vermögen des Filmemachers, der dies in eine Veranschaulichung der ‚Machtbalance‘ überführen kann. Die Rhetorik ausgeglichener Machtverhältnisse wird so für den Künstler selbst hegemonial verwertbar. Denn er behauptet den Film sowohl als authentisches Zeugnis des Geschehens ‚vor Ort‘ als auch als Beleg für seine ‚reale‘ künstlerische Fähigkeit zur Medienreflexivität, die gerade im westlichen Kunstkontext mit großem symbolischen Kapital aufgeladen ist.83 Deutlich wird dies, wenn Samadian selbst die Fähigkeit betont, aus der Fülle an Möglichkeiten die beste Darstellungsform der ‚Realität‘ auszuwählen: „A filmmaker has to […] find the appropriate way – and usually the shortest path is the best – to communicate them. Ultimately, this means making the best choice from among multiple possibilities.“84
Der Künstler beansprucht damit letztlich die ‚meisterhafte‘ Inszenierung des ausgeglichenen Machtverhältnisses für sich. In Relation dazu erscheint das widerständige Potential der repräsentierten Frau wie ein passives Erwidern der Aktivität des Filmemachers. Die vermeintlich reflexiv aufgeteilte Macht konvergiert erneut im Konzept des ‚genialen Künstlers‘, dessen Rhetorik der Ausgeglichenheit die geschlechterdichotomen Machtverhältnisse der romantischen und modernistischen Blick- und Autorschaftskonzepte – unbemerkt – reproduziert. In diesem Sinn kritisiert auch Donna Haraway: „Die ,Gleichheit‘ der Positionie-
82 Samadian in: ebd., S. 114f. 83 Vgl. dazu Knatz 2005, S. 106-123; Stam, Robert: Reflexivity in Film and Literature. From Don Quixote to Jean-Luc Godard, New York: Columbia University Press 1992, sowie Kapitel 1.2 der vorliegenden Publikation. 84 Samadian/Pichon 2004, S. 115.
Verschleierte Ansichten rung leugnet Verantwortlichkeit und verhindert eine kritische Überprüfung.“85 Das Bild der verschleierten Frau erscheint letztlich auch auf dieser Filmebene als ‚natürliches‘ Objekt, als Produkt eines letztlich allein schöpferischen, romantisch-reflexiven Künstlers.
4.4 Politische Lektüren im westlichen Kunstkontext Angesichts der verschiedenen, in den vorigen Abschnitten herausgearbeiteten hegemonialen Bedeutungsebenen von The White Station erscheint eine einheitliche politische Interpretation des Films zunehmend schwierig – zumal mit Blick auf seine Präsentation im westlichen Kunstkontext. Die Probleme einer solchen Perspektive zeigen sich insbesondere in der vielrezipierten Kurzbeschreibung des Films im Ausstellungskatalog der D11, in der der Kurator und Filmwissenschaftler Mark Nash den Film als ein kritisches Kunstwerk einführt. Er schreibt: „The White Station ist ein poetisches filmisches Haiku, in dessen Zentrum eine einzelne Frau in schwarzem Tschador in einem plötzlichen, unerwarteten Schneesturm in Teheran steht. Ihre dunkle Silhouette hebt sich ab vom weißen Hintergrund, während sie im Schneetreiben an einer Bushaltestelle wartend mit einem dunklen Regenschirm kämpft. […] Der Film ist vor allem ein stilles Zeugnis der postrevolutionären Veränderungen, die zu Lasten der Frauen gehen.“86
Nach Nash fungiert in The White Station die Darstellung einer verschleierten Frau im Schneesturm als ein kritischer Kommentar auf die diskriminierenden Geschlechterverhältnisse im Iran. Der Schleier wird dabei zu einem Indiz der Diskriminierung, das durch die widrigen Witterungsbedingungen, denen die gefilmte Frau ausgesetzt ist, eine poetische Aufladung und politische Kommentierung erhält. Der Umstand, dass die Frau dem Schneesturm standhält bzw. gegen ihn ankämpft, erscheint in dieser Perspektive als Metapher für den Widerstand der unterdrückten Frauen. Dass eine solche Lesart im westlichen Kunstkontext durchaus gängig ist, bestätigt neben Samadian87 auch Christophe Pichon, wenn
85 Haraway 1996, S. 229. 86 Nash 2002, S. 200. 87 Samadian in: Samdian/Pichon 2004, S. 112.
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Andere Subjekte er meint: „people jumped to the conclusion that the film was an allegory of the oppression of women at the hands of the Islamic regime.“88 Diese dezidiert emanzipatorisch ausgerichtete Interpretation des Films ist insofern problematisch, als sich ihre Befreiungsrhetorik wesentlich an das Bild der Verschleierung der Frau heftet. Ähnlich wie in den zur gleichen Zeit aufkommenden Diskursen der sogenannten ‚Kopftuch-Debatte‘89 überlagert sich die vermeintlich feministische Befreiungsrhetorik auch hier mit der Abwertung des ethnisch und kulturell Fremden. Die Gewaltdimension der Argumentation wird dabei ausgeblendet, wie postkoloniale Feministinnen vielfach kritisieren; Birgit Rommelspacher formuliert etwa: „Er [der feministische Orientalismus] ist insofern rassistisch, als in der Verstärkung der Unterdrückungsdimensionen die Überheblichkeit der westlichen Frau immanent ist. Die orientalische Frau wird für die eigenen Anliegen funktionalisiert und dabei abgewertet als besonders bedauernswertes Geschöpf, als Zerrbild westlicher Wirklichkeit, als Demonstrationsobjekt.“90
In diesem Sinn verfertigt auch die genannte ‚feministische‘ Lektüre von The White Station die repräsentierte Frau als bemitleidenswertes Geschöpf, über welches das patriarchale Regime des Islam wie eine Naturgewalt hereinzubre88 Pichon in: ebd. 89 Vgl. dazu u.a. Haug, Frigga/Reimer, Katrin: Politik ums Kopftuch, Hamburg: ArgumentVerlag 2005; Rommelspacher, Birgit: Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft, Frankfurt/New York: Campus Verlag 2002; Maier/Stegmann 2003 sowie Wenk 2009. 90 Rommelspacher, Birgit: „Fremd- und Selbstbilder in der Dominanzkultur“, in: Friedrich u.a., Projektionen, 1997, S. 39. Vgl. in diesem Sinn die Position der women of color. Im Kontext des Orientalismus unterstreicht auch Meyda Yegenoglu, dass feministische Argumentationen instrumentalisiert wurden, um die Räume ‚orientalischer Weiblichkeit‘ anzueignen. Yegenoglu, Meyda: „Supplementing the Orientalist Lack: European Ladies in the Harem“, in: Inscriptions 6 (1992), S. 45-80. Reina Lewis betont in diesem Sinn ebenfalls, dass Orientalismus keineswegs ein einheitlich weißer, männlicher Diskurs ist, sondern durchaus auch (feministisch intendierte) Artikulationen von Frauen umfasst. Lewis, Reina: Gendering Orientalism. Race, feminity and representation, London/New York: Routledge 1996, S. 17-22, 236-241; vgl. auch Haggis, Jane: „White women and colonialism – towards a non-recuperative history“, in: Lewis, Reina/Mills, Sara (Hg.), Feminist Postcolonial Theory: A Reader, New York: Routledge, S. 161ff. Zur Kritik an einem monolithischen Orientalismus-Konzept siehe auch MacKenzie 1995, S. 8-15, sowie Kurz, Isolde: Vom Umgang mit dem Anderen. Die Orientalismus-Debatte zwischen Alteritätsdiskurs und interkultureller Kommunikation, Würzburg: Ergon 2000, S. 171-214.
Verschleierte Ansichten chen scheint (im Film buchstäblich als plötzlicher, unerwarteter Schneesturm). Ausgeblendet wird in einer solchen Sicht jeglicher historische Hintergrund der Revolution im Iran, die – neben dem problematischen Effekt der Etablierung eines islamischen Staates – auch als anti-kolonialer Befreiungsakt gelesen werden muss, der auch aktiv von Frauen und säkularen Feministinnen mitgetragen wurde.91 Stattdessen reproduziert die obige Rhetorik erneut eine Form der ‚Orientalisierung von Gewalt‘, die hinter der Naturmetapher verborgen wird: Der Islam erscheint auf undifferenzierte Weise kalt und gefühllos (wie der Schneesturm) und die verschleierte Frau – als kleiner schwarzer Punkt darin – ihrem Schicksal macht- und hoffnungslos ausgeliefert. Eine solche Reduktion der gefilmten Figuren stellt Fatimah T. Rony auch in den frühen Kolonialfilmen fest. Die Repräsentierten würden darin zu „mere silhouettes, pictographs of the langage par gestes“: „Their faces are unimportant: it is the body that provides the necessary data. And thus, Regnault writes, the ‚savage‘ has no real language: […] They become hieroglyphs for the language of science: race is written into the film.“92
In einem vergleichbaren Sinn verschmilzt auch in The White Station die silhouettenhafte Frau im Schneesturm mit der ahistorischen Ebene der ‚erhabenen Natur‘. Gerade im Kontrast zur psychologisch herausgearbeiteten und diskursiv aufgewerteten Figur des poetisch-reflexiven Filmemachers wird sie dabei ‚verlandschaftlicht‘ („landscaped“).93 Die Vorstellung einer ins Kunstwerk eingeschriebenen Politik entnennt jedoch diese Gewaltdimension sowie den Umstand, dass sie von ihr selbst mitproduziert wurde. In Nashs Filmbeschreibung verstärkt sich diese Problematik noch insofern, als er in seinem Text erwähnt, dass Samadian die Straßenszene von seiner Privatwohnung in Teheran aus filmte.94 Nashs Aussage unterstützt dabei nicht nur die romantisch-authentisierende Vorstellung einer ‚realen‘ und zugleich künstlerisch-sensiblen Blickinstanz wie sie im ersten Unterkapitel dargelegt
91 Vgl. Sheikhzadegan, Amir: Der Griff des politischen Islam zur Macht. Iran und Algerien im Vergleich, Berlin u.a.: Peter Lang Verlag 2003, S. 75-102. Vgl. auch den Film von Sandra Schäfer on the set of 1978ff (58 min., 2011), in dem sie aus verschiedenen Perspektiven die politischen Dimensionen der iranischen Revolution von 1978 aufzeigt und reflektiert. 92 Rony, Fatimah Tobing: The Third Eye: Race, Cinema and the Ethnographic Spectacle, Durham: Duke University Press 1996, S. 58. 93 Ebd., S. 5 94 Dies unterstreicht etwa Nash 2002, S. 200, sowie Samadian in: Samadian/Pichon 2004, S. 113.
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Andere Subjekte wurde. Sie vermittelt die Figur des Künstlers darüber hinaus auch als authentischen ‚Experten‘, der durch seine iranische Herkunft über ein „intimate knowledge“95 verfüge, mit dessen Hilfe der (aus dem Film herausgelesene) Entschleierungsdiskurs als ‚objektiv richtig‘ und legitim behauptet werden kann. Der ‚postkoloniale Künstler‘, der auf diese Weise selbst in seiner ethnischen Herkunft festgeschrieben wird, fungiert dabei als zentrale Identifikationsfigur der ‚politischen Integrität‘ des Films. Dies verdeckt aber nicht nur die Problematik der orientalistischen Projektionen auf die verschleierte Frau, sondern auch die Tatsache, dass sich der im Film inszenierte männliche, meisterschaftliche Blick des Künstlers weitgehend reibungslos in die patriarchalen Strukturen des westlichen Kunstkontexts integrieren lässt.
Reflexive Situierung Die in den obigen Abschnitten entwickelte Kritik der orientalistischen Projektionen auf The White Station muss sich allerdings nicht notwendigerweise gegen den Film richten bzw. dazu führen, ihn insgesamt abzulehnen. Sie kann auch dazu genutzt werden, gemeinsam mit dem Film eine produktive politische Bedeutungsebene zu entwickeln, in der die repräsentierte Frau – jenseits ihrer Instrumentalisierung durch den ‚postkolonialen Künstler‘ – als handlungsfähiges Subjekt erscheint. Auf diese Möglichkeit der Lektüre verweisen auch die postkolonialen Medienwissenschaftlerinnen Rony und Catherine Russell. Rony prägt dafür den Begriff des ‚Dritten Auges‘ (Third Eye), mit dem sie eine Lektürehaltung beschreibt, die durch eine kritische Analyse rassistischer, kolonialer Darstellungen eine politische Verbindung zu den ideologisch verfertigten Bildobjekten zu entwickeln versucht.96 In diesem Sinn zeigt auch Russell, dass in ethnografischen Filmen ein zweiter, emanzipativer Sinn enthalten sein kann, der sich im Zuge
95 Rony 2004, S. 118. 96 Rony macht dies am Beispiel des Hollywoodfilms King Kong anschaulich: „With another eye I see how I am pictured as a landscape, a museum display, an ethnographic spectacle, an exotic. Across geographies plunged in the darkness of watching King Kong, I wasn't the only one witnessing the encounter between the white Explorer and the islander Savage. In a film clamouring with the din of roaring monsters, screaming females, and howling Sumatran Islanders, there is one person who remains observantly silent. The Bride of Kong sits in her grass skirt staring mutely at the spectacle of the white filmmakers trying to talk to her people. I would like to imagine that with another eye she scrutinized this encounter between the Island Chief/Medicine Man und the white Filmmaker/Ship Capitan, and read how they had made her into a spectacle. […]
Verschleierte Ansichten einer kritischen Revision der ersten, rassistischen Bedeutung entfalten könne.97 Sie spricht auch von einem bewusst kalkulierten „misreading designed to produce histories other than the ‚progressive‘ ones of evolutionary anthropology and narrative cinema“.98 Dabei machen es diese Gegen-Lektüren, nach Russell, möglich, die repräsentierten ‚Anderen‘ aus ihrer diskursiven Objektposition zu befreien: „The image is ‚in ruins‘ when it is no longer transparent; early films of native people become legible as documents of colonialism, not documents of native peoples. As allegories of the colonial gaze, these films and protofilms enable us to read the body as a fetish constructed within the ‚time machines‘ of anthropology and cinema.“99
Ein Beispiel, an dem Russell dieses Vorgehen anschaulich macht, ist David Rimmers Film Seashore (1971), eine experimentelle Appropriation einer frühen ethnografischen ‚Ansicht‘, die eine Gruppe ‚Eingeborener‘ an einem flachen Strandstück zeigt. Durch Rimmers repetitive Wiederholung des kurzen Filmstücks werde, so Russell, die ursprüngliche exotistische Spektakularität unterbunden und die Heterogenität und Vielstimmigkeit des Ethnografischen100 aktiviert. Dabei könne sich ein subversiver Sinn entfalten, in dem die Repräsentierten als weitgehend unabhängige Subjekte jenseits des Films erscheinen: „Behind the play of surface flaws, a profilmic space unfolds around the movement of the water and bodies, a space in which people are free of meaning, allowed to wade in the waters of their own time. […] In the decomposition of the ‚primitive narrative‘, the body emerges as an entity prior to character, and historically prior to documentary.“101
Und weiter führt sie aus:
I wanted to cover the Bride of Kong, to unravel the weaving of this narrative, this screen – to pierce through the veil of the imagination of whiteness.“ Rony 1996, S. 17. 97 Russell 1999, S. 6. 98 Ebd., S. 13. 99 Ebd., S. 58. Russell benutzt an anderer Stelle explizit die Formulierung: „release the Other from the ahistoricism of premodernity“. Ebd., S. 10. 100 James Clifford spricht etwa von einer „polyphony“ in ethnografischen Darstellungen, die subversiv eingesetzt werden könne. Clifford, James: The Predicament of Culture: Twentieth Century Ethnography, Literature and Art, Cambridge/MA: Harvard University Press 1988, S. 41. 101 Russell 1999, S. 66.
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Andere Subjekte „Once the trace of contingency, of lived history, can be read back into the image, we can begin to imagine the body outside the archive, before the institutional gaze. This is the potential of dialectical images as a form of experimental ethnography, to deflect origins and authenticity into the profilmic space of the Other, outside and beyond techniques of representation.“102
Nach Russell kann also eine kritische Rezeptionshaltung die relative, imaginäre Unabhängigkeit der Repräsentierten vom Akt der Repräsentation aktivieren. Wodurch aber wird die kritische Lektüre ermöglicht? In Russells Darstellung scheint vor allem Rimmers experimentelle Intervention in den ursprünglichen Film – das mehrmalige Zeigen der Szene – diese ‚Freiheit‘ der Repräsentierten zu bewirken. Die daran anknüpfende Vorstellung eines reflexiven Texts (als Zuschreibung an die ‚kritische Fähigkeit‘ eines Kunstwerks) impliziert allerdings auch Gefahren, die Russell selbst als „Danger of Becoming Art“ bezeichnet.103 Unbenannt und verdeckt bleiben darin die hegemonialen Machtpositionen jenes privilegierten sozialen Kontextes, der die Reflexivität (der Kunst) ermöglicht. Der Soziologe Pierre Bourdieu kritisiert in diesem Sinn die „scholastic fallacy“ der text- bzw. formbasierten reflexiven Ansätze.104 Als Gegenentwurf plädiert er für eine Form der Reflexivität, die der „Diskrepanz Rechnung [trägt], die zwischen dem Modell [der Wirklichkeit] und der praktischen Erfahrung der Akteure [besteht]“.105 Es geht darum, die Partikularität und Relationalität der jeweiligen symbolischen und sozialen SprecherInnenpositionen zu benennen bzw. in der Lektüre selbst die heterogenen Machtdimensionen von Repräsentationen zu berücksichtigen, wie dies etwa in den obigen Abschnitten unternommen wurde.
102 Ebd., S. 75. 103 Ebd., S. 10. 104 Bourdieu, Pierre: „Über die ‚scholastische Ansicht‘“ [1989], in: Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph (Hg.), Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 344, 347. Bourdieu wendet sich damit insbesondere gegen text-reflexive Ansätze der New Ethnography, für die insbesondere die Arbeit von James Clifford steht. Vgl. auch Wacquant, Loïc: „Auf dem Weg zu einer Sozialpraxeologie. Struktur und Logik der Soziologie Pierre Bourdieus“, in: Bourdieu, Pierre/ Wacquant, Loic, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 69ff. 105 Bourdieu in: Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc: „Die Ziele der reflexiven Soziologie. Chicago-Seminar, Winter 1987“, in: dies.: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 101.
Verschleierte Ansichten Im Sinn einer solchen pragmatischen, reflexiven Perspektive, die die eigenen, problematischen Vor-Bilder und Projektionen auf die Repräsentationen mitdenkt, kann nun Russells und Ronys Ansatz wieder aufgegriffen werden. Für The White Station bedeutet dies, dass durch die obigen kritischen Lektüren die verschleierte Frau zunehmend selbst als eine kritische Instanz erscheint, welche von sich aus die mit dem Film entwickelten orientalistischen Authentizitätsrhetoriken in Frage stellen kann. Dabei erhält nun der Schleier auch aktives Widerstandspotential gegenüber der Lektüre bzw. ihrer zentralen Annahme, dass sich hinter dem Tschador eine weibliche Person verbirgt. Die Verschleierung selbst weist darauf hin, dass letztlich keine endgültigen Aussagen über die Körperlichkeit der verschleierten Person möglich sind; ihre angenommene weibliche Identität wird zweifelhaft. Bedeckt der Schleier tatsächlich den Körper einer iranischen Frau oder könnte sich dahinter nicht auch eine europäische Person oder ein Mann befinden? Ist es möglich, dass die Figur von einer SchauspielerIn verkörpert wird, der/die Anweisungen des Filmemachers befolgt? Der ‚kritische Schleier‘ stellt sowohl die Identität der Figur als auch die Authentizität der Arbeit als Dokument in Frage.
Abb. 11 (a, b, c): Filmstills aus The White Station, Teil 3.
Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der kurzen Schlusssequenz des ankommenden Busses zu, auf die sich die Darstellung der im Schneesturm wartenden Personen teleologisch zubewegt. Diese Szene stellt zunächst ein Schlüsselmoment in der dokumentarischen Rhetorik der ‚authentischen, unmanipulierten Realität‘ des Films dar, da hier die Frau durch ihr nicht-kalkulierbares Handeln – die Tatsache, dass sie nicht in den Bus einsteigt – die narrativ aufgebauten Erwartungen enttäuscht. Um dieses authentisierende Moment gleichsam ‚magisch‘ hervorzuheben, lässt Samadian die Szene in slow motion ablaufen und verstärkt auf der Tonebene das Kreischen der Krähen. Zugleich kann dieses Element aber auch eine kritisch-reflexive Lektüre der Szene im oben genannten Sinn befördern: Das langsame Abspielen macht nämlich besonders deutlich erkennbar, dass der ankommende Bus die verschleierte Frau für einige Zeit vollständig verdeckt (Abb. 11a-c). Das Moment des Verschwindens der Figur hält dabei nicht nur – im oben genannten authentisierenden Sinn – offen, warum sie nicht in den Bus einge-
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Andere Subjekte stiegen ist, sondern es muss letztlich sogar fraglich bleiben, ob es sich beide Male um ein und dieselbe Frau handelt. Da die Figur zu keinem Zeitpunkt in ihrer Individualität erkennbar ist, könnte es auch sein, dass die Frau doch eingestiegen ist und nach der Abfahrt des Busses eine zweite verschleierte Figur zu sehen ist. Damit wird in dieser Szene auch auf narrativer Ebene ein Unsicherheitsmoment in der verschleierten Figur verortet. Die angenommene Austauschbarkeit der beiden verschleierten Figuren wird dabei zu einem aufgeladenen Element, das auf das Widerstandspotential des Schleiers genauso verweist wie auf dessen Stereotypisierung und die damit einhergehenden orientalistischen Projektionen. In ihrer rhetorisch-autonomen, dokumentarischen Inszenierung wird die verschleierte Figur letztlich selbst zu einer reflexiven Instanz, die vorhergegangene Projektionen auf sie zurückweist und deren Bedeutungsproduktion durch die westliche BetrachterIn situiert. In ihrem Text Situiertes Wissen (1987) entwirft die feministische Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway eine durchaus vergleichbare praktischrelationale Form von Reflexivität, die „von begrenzter Verortung und situiertem Wissen und nicht von Transzendenz und der Spaltung von Subjekt und Objekt“106 handelt. Dabei wird auch bei ihr „das Wissensobjekt als Akteur und Agent vorgestellt […] und nicht als Leinwand oder Grundlage oder Ressource und schließlich niemals als Knecht eines Herren, der durch seine einzigartige Handlungsfähigkeit und Urheberschaft von ‚objektivem‘ Wissen die Dialektik abschließt“.107
Wie Haraway (in Übereinstimmung mit Bourdieu) betont, muss situiertes Wissen die Partikularität der zusammentreffenden Positionen und Perspektiven in Repräsentationen anerkennen. Zugleich beharrt sie aber auch darauf, eine politische „Verantwortlichkeit dafür zu entwickeln, zu welchem Zweck wir zu sehen lernen“.108 Es geht ihr um eine mögliche Form der Solidarität, die über die Partikularitäten der Positionen hinausgeht. Haraway spricht auch von einem „Netzwerk erdumspannender Verbindungen, das die Fähigkeit einschließt, zwischen sehr verschiedenen – und nach der Macht differenzierten – Gemeinschaften Wissen zumindest teilweise zu übersetzen“.109
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Haraway 1996, S. 227. Ebd., S. 238. Ebd., S. 227. Ebd., S. 223.
Verschleierte Ansichten Aus dieser Perspektive bedeutet reflexives, situiertes Wissen im Fall von The White Station nicht nur, essentielle Körperkonzepte im Bild der ‚verschleierten Frau‘ in Frage zu stellen, sondern auch, gemeinsam mit der ‚weiblich‘ imaginierten Figur ein weiterführendes, feministisches Interesse an der Situation iranischer Frauen zu entwickeln, das über das Klischee ihrer passiven Unterdrücktheit hinausgeht. Dass diese Verantwortung aktiv durch die BetrachterInnen übernommen werden muss, legt auch Samadian nahe, wenn er schreibt: „In The White Station I could just as well have filmed the woman waiting in close-up, but I chose a wide shot with the university buildings, the snow, the crows. […] This means that I always leave spectators free to make a choice: free to choose one part of the image instead of another.“110
Aus dieser Aussage kann zugleich auch herausgelesen werden, in welche Reichung eine reflexiv situierte feministische Bedeutungsproduktion der BetrachterInnen gehen könnte. Den Ausgangspunkt bildet dabei die beiläufige Erwähnung Samadians, dass das Gebäude im Hintergrund zur Universität von Teheran gehört. Unter der Bedingung einer ‚kritischen Instanz‘ der repräsentierten Figur könnte eben diese Erwähnung zur Grundlage einer feministischen Lektüre werden, in der die verschleierte Frau als Professorin imaginiert wird, die nach einer Vorlesung oder einem Seminar auf den Bus wartet. Als solche könnte sie ihre indirekt-reflexive Funktion gegenüber den RezipientInnen entfalten und diese etwa kritisch auf den Sexismus in westlichen Universitäten hinweisen. Dabei wäre die repräsentierte Figur weniger eine Frau, die auf ihre unterdrückte Position im islamischen Regime des Iran reduziert wird, sondern vielmehr – um noch einmal mit Haraway zu sprechen – eine „kodierte Gauklerin, mit der uns auszutauschen wir lernen müssen“.111
110 Samadian in: Samadian/Pichon 2004, S. 116. 111 Haraway 1996, S. 242.
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5. Die essayistische Blindheit operculum, Tran T. Kim-Trang, 1993, 14 min.
The Blindness Series ist eine achtteilige Videoreihe der Künstlerin Tran T. KimTrang, die zwischen 1992 und 2006 entstanden ist. Das Thema Blindheit wird darin nicht nur als physischer Verlust des Sehvermögens behandelt, sondern auch in einem metaphorischen Sinn als Frage nach Macht- und Begehrensverhältnissen im Feld des Sehens.1 Dass Sehen und Sichtbarkeit dabei in negativen Begriffen gefasst werden – als Nicht-Sehen und Unsichtbarkeit – erscheint kaum zufällig. Es verweist darauf, dass die Thematik vor dem Hintergrund der marginalisierten Position der asiatischen Minderheit in den USA gedacht wird, der auch die Künstlerin selbst angehört. Tran schreibt: „Being an immigrant myself has greatly motivated me to make works that celebrate and document stories of recent émigrés.“2 Dabei begründet sie diese inhaltliche Fokussierung mit dem Wunsch, präzisere Repräsentationen als in den Massenmedien zu schaffen: „Because video is such a potent and accessible medium, it demands a responsibility lacking in mainstream corporate media. Part of this responsibility is the commitment to accurately portray the underrepresented.“3
Das vorliegende Kapitel geht diesem künstlerischen Programm der verantwortungsvollen Sichtbarmachung der ‚Anderen‘ anhand einer einzelnen Arbeit der Blindness Series nach. Ausgewählt wurde der vierzehnminütige Videoessay operculum, der sich mit der Praxis kosmetischer Augenlidoperationen bei Asiat1
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Eine kurze inhaltliche Darstellung der einzelnen Videos gibt die Künstlerin – mit Ausnahme des erst 2006 beendeten Epilogs – in: Tran T. Kim Trang: „The Blindness Series: A Decade's Endeavor“, in: Biemann, Stuff it!, 2003, S. 72-82. Ebd., S. 82. Tran T. Kim-Trang: Artist Statement, http://mediaartists.org/content.php?sec=update &sub=interview&interview_id=63 vom 15.09.2011.
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Andere Subjekte Innen beschäftigt. Diese Thematik verhandelt operculum in drei deutlich voneinander abgesetzten Teilen: Der 3-minütige erste Teil führt mit verschiedenen assoziativen Materialien zunächst in das Thema der Augenlidkorrektur ein. Im zweiten Teil ist 10 Minuten lang ein split screen zu sehen, auf dem links ein Textband über ein neuro-chirurgisches Verfahren abläuft, während rechts Aufnahmen einer asiatischen Frau in verschiedenen Arztpraxen zu sehen sind. Der ca. einminütige Schlussteil, der zugleich als Abspann dient, zeigt schließlich einen farblich verfremdeten Ausschnitt aus einem Kung-Fu-Film, über den die Credits des Videos laufen. In der folgenden Analyse von operculum werden drei lose aufeinander aufbauende Interpretationsschritte unternommen: Das erste Unterkapitel arbeitet anhand der Montage des Bild- und Tonmaterials verschiedene Argumentationsstränge des Videos heraus, die sich zu einer scheinbar intentionalen politischen Aussage der Künstlerin zusammenfügen. Diese Bedeutungsdimension wird jedoch im zweiten Unterkapitel durch einen fokussierten Blick auf ein spezielles Element des Videos – das dokumentarische Bild der ‚anderen Frau‘ und die damit verbundenen Machtrelationen – durchkreuzt. Im dritten Unterkapitel wird diese kritische Lektüre schließlich um verschiedene alternative Lektüreansätze erweitert, bei denen auch die asiatische Patientin stärker als Handlungsinstanz in Erscheinung tritt. Zur Frage steht dabei, ob bzw. in welcher Hinsicht eine politische Gemeinschaft der dokumentarischen/essayistischen Instanzen des Videos möglich ist.
5.1 Kritik der Schönheitschirurgie In diesem Unterkapitel geht es zunächst aber um die essayistische Montage von operculum. Auf welche Art und Weise werden die verschiedenen Materialien im Video zu sehen gegeben und welche Bedeutungen werden dadurch nahegelegt?
Der kommerzielle Hintergrund Die erste Einstellung in operculum zeigt für wenige Sekunden den Ausschnitt eines Printmediums – vermutlich eine Werbeannonce – in dem zwei unmittelbar nebeneinander liegende Fotografien eines leicht veränderten asiatischen Augenpaars zu sehen sind. Die Leserichtung von links nach rechts bindet die beiden Fotografien in eine zeitlich zu lesende Fortschrittslogik ein, die das weiter geöffnete, ‚westlicher‘ wirkende Augenpaar auf der rechten Seite als Verbes-
Die essayistische Blindheit serung und anstrebenswertes Ideal benennt.4 Gerahmt wird diese Darstellung von einem Text, dessen Überschrift „Thinking of Eye Surgery“ im Video gut erkennbar ist (Abb. 1a). Dieses Motiv der ‚Vorher/Nachher‘-Fotografien wird – allerdings ohne Textrahmung – im weiteren Verlauf noch zwei weitere Male kurz gezeigt (quergeschnitten mit historischen Operationsfotografien, auf die im nächsten Abschnitt genauer eingegangen wird) (Abb. 1a-e).5 Von Beginn an wird damit kosmetische Augenchirurgie bei AsiatInnen als Thema von operculum eingeführt, wobei die suggestive Rhetorik der wiederholt gezeigten Bilder sowie des Annoncentextes deutlich macht, dass dieses Thema im Kontext von Werbung bzw. den damit verbundenen wirtschaftlichen Interessen verhandelt wird.
Abb. 1 (a-e): Bildfolge der Anfangssequenz, Videostills aus operculum, Teil 1.
Dieser Kontext nimmt auch im weiteren Verlauf einen zentralen Stellenwert ein: So ist nach den ‚Vorher/Nachher‘-Bildern ein durch Gelb-/Grün-/Blau-Töne farblich verfremdetes medizinisches Informationsvideo zu sehen, das Vorbereitungen für eine Augenoperation zeigt, Vorgehen und Risiken der Operation erklärt und schließlich mit einem eingeblendeten altägyptischen Augensymbol endet (Abb. 2a-c). Das Symbol erscheint dabei als das Logo einer kosmetischen Augenklinik, die eben dieses Video zu Aufklärungszwecken produzieren ließ, 4
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Für Marzena Kubisz impliziert das ‚Vorher/Nachher‘ sogar ein zwingendes ‚Entweder/ Oder‘, das jene, die sich keiner Operation unterziehen, abwertet. Kubisz, Marzena: Strategies of Resistance. Body, Identity and Representaion in Western Culture, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2003, S. 30. Zur Verknüpfung dieser Fotografien siehe ausführlicher im nächsten Abschnitt.
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Andere Subjekte und weist in seiner Professionalität die Klinik als wirtschaftlich operierendes Unternehmen aus. Die Praxis der Schönheitschirurgie wird als ökonomische Formation beschrieben. In diese Richtung geht auch die darauffolgende Sequenz, die einen Computerbildschirm zeigt, auf dem an einem digitalen Foto die visuellen Resultate einer zukünftigen Augenoperation simuliert werden (Abb. 3a-c). Parallel dazu ertönt der Popsong Connected von den Stereo Mcs, dessen Textzeile „I'm gonna get myself connected“ wie eine Aufforderung wirkt, Anschluss an die vorgeführten Schönheitsstandards der Computersimulation zu finden. Das Video operculum inszeniert sich an dieser Stelle selbst als Werbespot.
Abb. 2 (a, b, c): Videostills aus operculum, Teil 1.
Abb. 3 (a, b, c): Videostills aus operculum, Teil 1.
Der Fokus auf Werbung und Verkauf findet sich auch im zweiten Teil von operculum: In diesem Teil ist, wie schon erwähnt, auf der rechten Seite des split screen eine Frau zu sehen, die sich von verschiedenen Ärzten über eine Augenoperation aufklären lässt. Auf der Tonebene ist zu hören, wie die Ärzte die optischen ‚Verbesserungen‘ durch eine solche Operation anpreisen und ihre Professionalität betonen. An einer Stelle heißt es etwa: „I find it pretty easy to make a nice improvement… once you take out that fat, it [the eyelid] falls out pretty nicefully…“6, und an einer anderen Stelle rechnet ein Arzt die Preise für eine Operation vor:
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opcerculum, Teil 2.
Die essayistische Blindheit „costwise you are looking at 4000 Dollars for the surgery, laboratories included, the anaesthetist charges four fifty, the operating room, laser supply, followed by everything else is 500, so you have the total of 4950 complete, total, everything done…“7
Die Ärzte werden hier zu Händlern der Ware ‚Schönheit‘, die sie ihrer ‚Kundin‘ zu verkaufen versuchen. Diese verschiedenen Werberhetoriken werden in operculum allerdings nicht neutral wiedergegeben und reproduziert, sondern durch verschiedene formale Interventionen in ihrer medialen Vermitteltheit ausgestellt und kommentiert. Dies geschieht etwa, indem einige Bilder und Aufnahmen vor einer schwarzen Fläche eingerückt werden (wie im Fall der ‚Vorher/Nachher‘-Bilder), durch eine solche abgeschnitten werden (wie im Fall des split screen) oder indem kontextuelle Rahmungen mitgezeigt werden (wie im Fall der Zeitungsannonce). Auch die Gelb-blaue-Farbverfremdung des Informationsvideos dient diesem Zweck, indem sie deutlich dessen abgenutzte Materialität als Found-footage-Element zeigt und so eine Distanz zu den gezeigten Inhalten einführt. Auf inhaltlicher Ebene inszeniert das Video darüber hinaus auch mehrfach Widersprüche, welche die scheinbare Kohärenz und natürliche Logik der Werberhetorik unterbrechen. Im Fall des Informationsvideos bedeutet dies etwa, dass die Darstellung eines sterilen Operationssaals durch die farbliche ‚Verunreinigung‘ der Bilder irritiert wird, die diese Situation unheimlich und bedrohlich erscheinen lassen. Die parallel dazu vorgetragenen Risiken der Operation (genannt wird u.a. auch ‚der äußerst unwahrscheinliche Fall von Blindheit und Tod‘) werden dabei zu einer eindringlichen Warnung, die den eigentlichen Zweck der Aufnahmen, die PatientInnen zu einer Operation zu bewegen, konterkariert. Einen kritischen Einspruch in die Werberhetorik der Schönheitschirurgie inszeniert auch ein Textzitat von Carol Munter, das im ersten Teil von operculum die Sequenz der Computersimulation kurz unterbricht. Während der Popsong weiterläuft, ist zu lesen: „Pursued to its final degree, this fantasy about the rejection of the self and of overcoming every need that wants expression and response. It is a fantasy of stasis, of being finished and complete. On a pedestal, perhaps. Admired, perhaps. But with no needs, no desires, no voice, no sex. What looked like perfection and power turns out to be the ultimate in subjugation: the eradication of the female self.“ [operculum, 2:28]
Der Text verweist auf die unterdrückende hegemoniale Dimension von Schönheitsdiskursen und widerspricht dadurch der Vorstellung eines frei gestaltbaren,
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Andere Subjekte schmerzlosen Körpers, wie sie in den zuvor und danach gezeigten Bildern der Computersimulation angelegt ist. Dass auf dem Computerbildschirm ein weibliches Gesicht zu sehen ist, bestätigt dabei die geschlechtsspezifische Dimension des Zitats und verweist darauf, dass die Mehrzahl schönheitschirurgischer Eingriffe an Frauen vorgenommen wird.8 Die Montage der Sequenz artikuliert damit eine explizit feministische Kritik an der normativen Praxis der Schönheitschirurgie, die u.a. mit dem Versprechen selbstbestimmter Körperlichkeit argumentiert. Suzanne Frazer formuliert dies prägnant: „[…] women's ‚autonomy‘ comes to be rearticulated within the supposedly reasonable limits set by the surgeon. This is an interesting dynamic because while femininity may be being redrawn with greater autonomy, the ‚bottom line‘ reiterated again and again is male authority. Through cosmetic surgery as a technology of gender, very conventional gender dynamics are played out within an apparently liberal script of women's self-definition.“9
In diesem Sinn verweist auch das in die Szene der Computersimulation eingefügte Textzitat von Munter – genauso wie die farbliche Verfremdung des Informationsvideos oder die mediale Kontextualisierung der ‚Vorher/Nachher‘-Bilder – darauf, dass die Machbarkeits- und Fortschrittsrhetorik der Schönheitschirurgie ein ‚falsches Versprechen‘ ist. Es wird eine kritische Distanz eingeführt, die die performative Wiederholung der Werbeästhetik (etwa durch die Kombination von Popsong und Computersimulation) ironisch bricht. Das Erkennen der kommerziellen Strukturen der Schönheitsindustrie geht mit einem Lachen über die sich selbst entlarvende Institution einher.
Genealogie der medizinischen Institution Eine vergleichbare Brechung formuliert im Video auch die Kombination von aktuellen Materialien zur Schönheitschirurgie mit medizinhistorischen Dokumenten. Dabei gerät neben dem kommerziellen Hintergrund auch die medizinische Institution selbst zunehmend kritisch in den Blick. In operculum erfolgt eine solche Zusammenstellung gleich zu Beginn durch die bereits erwähnte Verknüpfung der ‚Vorher/Nachher‘-Bilder mit historischen 8
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Sander Gilman nannte Ende der 1990er Jahre eine Differenz von 89 % Frauen gegenüber 11 % Männern, die sich kosmetischen Operationen unterzogen. Gilman, Sander: Making the Body Beautiful, A Cultural History of Cosmetic Surgery, Princeton: Princeton University Press 1999, S. 32. Fraser, Suzanne: Cosmetic Surgery, Gender and Culture, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2003, S. 193.
Die essayistische Blindheit Operationsfotografien. Die erste dieser Fotografien zeigt einen nach hinten überstreckten Kopf, in dessen Auge ein scherenähnliches Instrument eingeführt wird (Abb. 1b). Und im zweiten Bild ist zu sehen, wie jemand Hand an das Auge einer liegenden Person anlegt, während vom oberen Bildrand ein rundes, rohrartiges Operationsgerät auf das Auge gerichtet ist (Abb. 1d). Beide Fotografien zeigen dabei genau jene Zeitspanne, die in den ‚Vorher/Nachher‘-Bildern fehlt bzw. ausgeblendet wird: der invasive Eingriff des Operationsprozesses selbst. Mehr noch: Die drastisch inszenierten Darstellungen betonen die gewaltvolle Zwangssituation der Operationen und konterkarieren dadurch die Vorstellung einer unkomplizierten, schmerzfreien Gestaltbarkeit des Körpers. Wie in den oben genannten Beispielen wird auch hier die Unaufrichtigkeit der Werbung erkenntlich und – darüber hinaus – auch die Gewaltförmigkeit der Operationen benannt. Im zweiten Teil von operculum erscheinen die medizinhistorischen Dokumente in Form eines Texts, der auf der linken Bildschirmseite des split screen nach oben läuft. Dieser Text besteht aus Zitaten des US-amerikanischen Psychiaters Walter Freeman aus den 1950er Jahren, in denen er die von ihm vereinfachte Operationsmethode der Lobotomie beschreibt, bei der Verbindungsstränge zwischen linker und rechter Gehirnhälfte durchtrennt werden. Dieses Verfahren hinterlässt schwere, irreversible Schäden, wurde aber dennoch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Behandlung diverser psychischer und mentaler ‚Störungen‘ eingesetzt.10 Freeman ‚verbesserte‘ diese Operationstechnik, indem er einen Zugang über die Augenhöhle entwickelte, wodurch er ohne Assistenz und Vollnarkose operieren konnte. Dieses von Freeman detailreich beschriebene Verfahren erinnert an die in operculum kurz zuvor gezeigten historischen Fotografien, weshalb es scheint, als würde sich Freeman exakt auf das Geschehen darin beziehen. So ruft etwa folgende Textpassage genau jenes Bild eines ins Auge eingeführten Geräts auf, das schon im ersten historischen Foto (Abb. 1b) zu sehen war: „[…] I pinch the upper eyelid between the thumb and finger and bring it away from the eyeball. I then insert the point of the transorbital leucotome into the conjunctival sac, taking care not to touch the skin or lashes, and move the point around until it settles against the vault of the orbit.“11
10 Zu den angeblichen ‚Störungen‘, die mittels Lobotomie behandelt wurden, zählte lange Zeit auch Homosexualität. Zu einer kritischen Aufarbeitung vgl. u.a. Valenstein, Eliot S.: Great and Desperate Cures: The Rise and Decline of Psychosurgery and Other Radical Treatments for Mental Illness. New York: Basic Books 1986. 11 operculum, Teil 2.
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Andere Subjekte Die präzise Schilderung eines Operationsvorgangs, bei dem der Arzt immer tiefer in den Körper seiner PatientIn eindringt, lässt in struktureller Hinsicht die Diskurse der modernen Medizin anklingen, die Michel Foucault in seiner Abhandlung über Die Geburt der Klinik (1963) behandelt.12 Nach Foucault ging um 1800 das metaphysische, äußerliche Krankheitskonzept der Klassik in die Vorstellung über, dass Krankheiten im Inneren des Körpers angesiedelt seien und auch dort behandelt werden müssten. Dieser Wandel wurde dabei von einem neuen Subjektverständnis begleitet, welches an die wissenschaftliche Zerlegung des Körpers geknüpft war. Foucault vermerkt: „Es ist von entscheidender und bleibender Bedeutung für unsere Kultur, daß ihr erster wissenschaftlicher Diskurs über das Individuum seinen Weg über den Tod nehmen mußte. Um in seinen Augen zum Gegenstand der Wissenschaft zu werden, um in seiner Sprache eine diskursive Existenz zu gewinnen, mußte sich der abendländische Mensch seiner eigenen Zerstörung stellen.“13
In diesem Zusammenhang kommt der Entwicklung einer neuen Ausdrucksweise eine zentrale Rolle zu, wie Foucault betont. Eines seiner eindringlichen Beispiele ist ein Bericht einer Gehirnentnahme von 1820, in dem ein Mediziner mit nüchternen Worten beschreibt, auf welche Art und Weise die Schädeldecke mit dem Hammer aufgeschlagen werden sollte.14 Neben dem inhaltlichen Moment der Zerstörung (die brechenden Knochen) impliziert für Foucault auch die präzise, sezierende Sprache dieser Ausführungen, die den Körper bis ins kleinste Detail dem Macht-Wissen-Komplex der Moderne zugänglich machen, etwas Gewaltvolles: „[I]m Bezugsrahmen des Todes wahrgenommen, wird die Krankheit erschöpfend lesbar und sie öffnet sich restlos der sezierenden Tätigkeit der Sprache und des Blicks.“15 Dies trifft auch für Freemans minutiöse Beschreibungen der Gehirnoperation zu, die beinahe austauschbar mit Lallemands Ausführungen erscheinen, wenn er etwa meint: „Quite often there is a sudden ‚give‘ or even an audible crack as the orbital plate fractures.“16 Wie der
12 Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.M.: Fischer [1963] 2005. 13 Ebd., S. 207. 14 „Wenn man damit [mit dem Hammer] schwache Schläge ausführt, so werden bei einem vollen Schädel keine Erschütterungen hervorgerufen, die etwas verändern könnten. Am besten beginnt man am hinteren Teil; denn, wenn nur mehr der Hinterkopf zu zerbrechen bleibt, dann ist er meist so beweglich, dass die Schläge fehlgehen …“. Lallemand, zitiert nach Foucault 2005, S. 10. 15 Ebd., S. 207. 16 operculum, Teil 2.
Die essayistische Blindheit Mediziner in Foucaults Beispiel begreift auch Freeman den Körper als ein quasi totes Objekt, das für die vermeintlich objektiven wissenschaftlichen Erkenntnisse der Medizin sorgfältig ausgebreitet muss.
Abb. 4 (a-f): Videostills aus operculum, Teil 2.
Freemans Zitate befinden sich im split screen von operculum direkt neben den Videoaufnahmen aus den Arztpraxen. In diesen Aufnahmen sind die Ärzte zwar durch ihre Stimmen auf der Tonebene äußerst ‚präsent‘, ihre dazugehörigen Körper bleiben jedoch weitgehend unsichtbar. Zu sehen ist stattdessen durchgehend eine Frau, an deren Augen die Ärzte – zum Teil mit einem spitzen Instrument ausgerüstet – Hand anlegen, um mögliche operative Eingriffe und Veränderungen zu demonstrieren (Abb. 4a-f). Ihre Handlungen korrespondieren dabei (genauso wie die historischen Fotografien des ersten Teils) mit Freemans Beschreibung der Operationstechnik am Auge. Darüber hinaus fällt auf, dass die Hände der Schönheitschirurgen stets von links ins Bild reichen. Dadurch scheint es im split screen, als hätte der Textblock ihre Körper abgeschnitten, bzw. als würden sie von Freemans Zitaten verdeckt und überlagert. Sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht verschmelzen damit Freemans Beschreibungen und die Reden der unsichtbaren Schönheitschirurgen zu einer gemeinsamen Instanz der modernen Klinik. Gemeinsam bilden sie eine scheinbar übergreifende abstrakte Diskursmacht im Sinn Foucaults, die sich, ohne eigenen sichtbaren Körper, gegenüber der durchgehend gefilmten Patientin entfaltet.17
17 Dass die Reden der Ärzte zum Teil nicht mit den Videoaufnahmen aus den Arztpraxen synchron laufen, verstärkt diesen Eindruck zusätzlich.
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Andere Subjekte Diese Inszenierung des Machtgefälles zwischen Ärzten und Patientin wirkt umso eindringlicher, als die Frau immer wieder in extremen Nah- und Großaufnahmen gezeigt wird und – im Unterschied zu den wortreichen Ärzten – weitgehend stumm und reglos bleibt. Ihre passive Anwesenheit im Bild wird noch dadurch verstärkt, dass die bewegten Videoaufnahmen teilweise zu Fotografien einfrieren, während die Ärzte weitersprechen und auch der split screen daneben weiterläuft (Abb. 4e, 4f). Die gefilmte Frau erstarrt dabei buchstäblich in einem hypersichtbaren, völlig passiven Bildstatus, in dem sie, wie es scheint, von den Ärzten bis ins kleinste Detail begutachtet und zerlegt werden kann. Die Sprache der modernen Klinik überlagert sich dabei mit einem Blickmodus, der im Sinn des Foucault'schen Panoptikons sieht, ohne selbst gesehen zu werden.18 Dass diese Machtstruktur im Video streng geschlechterdichotom erscheint – d.h. eine weibliche Figur als Blick- und Untersuchungsobjekt einer ausschließlich männlich assoziierten, unsichtbaren Diskursmacht ausgeliefert ist – scheint kaum ein Zufall zu sein. Vielmehr entspricht dies den dominanten Geschlechterverhältnissen der Moderne, auf die nicht zuletzt das Zitat von Carol Munter im ersten Teil des Videos hingewiesen hat.19 Die Darstellung der dominanten Machtverhältnisse in operculum führt durch die Verdichtung der verschiedenen Elemente dazu, dass die eigentlich unsichtbare Diskursmacht der Ärzte gerade in ihrer besonderen entkörperlichten Erscheinungsform sichtbar und angreifbar wird. Dass dabei erneut eine ironische Dimension mitschwingt, macht eine Szene am Schluss des Hauptteils besonders deutlich: Auf der Tonebene versichert ein Arzt wortreich, dass er eine Operationsmethode anwende, bei der das Augenlicht sicher geschützt sei: „[…] if I had a heart attack and we had an earthquake and I died with my foot on the laser pedal it couldn't hurt your eye“.20 Zu sehen ist jedoch zeitgleich, wie das Auge der Patientin weit aufgespreizt wird (Abb. 4c), was den Eindruck höchster Verletzlichkeit erzeugt. Dieser Eindruck wird durch Freemans Zitat auf der anderen Bildschirmseite noch verstärkt, in dem er beschreibt, wie er mit einem langen Instrument in den Körper eindringt:
18 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1977] 1991. Vgl. zu diesem Modell die Ausführungen in Kapitel 4.3. 19 Vgl. dazu u.a. Mulvey 1989, S. 14-38; Schade/Wenk 1995, 383-386, sowie Nierhaus 1999, S. 35-59. Ein bekanntes Beispiel für die Verknüpfung von medizinischem Diskurs und Blickmacht in Bezug auf objektivierte ‚Weiblichkeit‘ sind die Fotografien der Salpetrière, in denen der Neurologe Jean-Martin Charcot Mitte des 19. Jahrhunderts Hysterikerinnen in bizarren Gesten inszenierte. Vgl. dazu u.a. Didi-Huberman 1982. 20 operculum, Teil 2.
Die essayistische Blindheit „I than return the instrument […] and drive it further to a depth of 7 cm …“.21 Bild- und Textebene strafen dabei die beschwichtigende Rede des Arztes Lügen und geben sein offensichtlich ökonomisch motiviertes Bemühen, die Patientin für sich zu gewinnen, der Lächerlichkeit preis.
Schönheit und Rassismus Die Kritik an den kommerziellen Interessen und der Gewaltförmigkeit der Schönheitschirurgie verdichtet sich in operculum auf ein spezielles Problem hin: auf die Normierung von Körpern gemäß eines westlichen Schönheitsideals. Schönheit erscheint damit explizit in Verbindung mit Rassismus. Die strukturellen Grundlagen dieser Verbindung können erneut mithilfe von Foucaults Überlegungen zur modernen Diskursmacht herausgearbeitet werden. In seiner oben genannten Analyse der modernen Klink zeigt Foucault, dass der epistemologische Rahmen, in dem das Subjekt in der Moderne entsteht, nicht nur dessen Pathologisierung, sondern auch die Zurichtung auf eine Norm hin impliziert. Er spricht auch von der „Bipolarität des Normalen und des Pathologischen“.22 Die Verwaltung dieser Differenzierung übernimmt nach Foucault die sogenannte Bio-Macht, welche sowohl Disziplinierungs- als auch Regulierungsmaßnahmen umfasst. Dabei nimmt insbesondere der Sexualitäts-Diskurs, mit dem die Bevölkerung gestalt- und kontrollierbar zu werden verspricht, einen zentralen Platz ein.23 Wie Foucault unterstreicht, entstand vor diesem Hintergrund in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der moderne Rassismus. Um die immer extremeren kolonialen Dominanz- und Ausbeutungsverhältnisse zu legitimieren, wurde der alte Rassismus, der von einem Kampf unversöhnlicher Rassen (im Plural) ausgeht, in eine biologische Lehre des ‚Blutes‘ transformiert, nach der die ‚Reinheit‘ einer einzig ‚wahren menschlichen Rasse‘ vom abweichenden ‚Anderen‘ bedroht wird.24 Der moderne Rassismus basiert demnach – in all
21 operculum, Teil 2. 22 Foucault 2005, S. 53. Herv. im Orig. 23 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1976] 1983, S. 131-153. Vgl. auch Bertani, Mauro: „Zur Genealogie der Biomacht“, in: Stingelin, Martin (Hg.), Biopolitik und Rassismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 228-259. 24 Foucault 1983, S. 144. Foucault denkt dies gemeinsam mit der Konstruktion des Nationalstaates, weshalb er auch den Begriff des „Staatsrassismus“ einführt. Foucault, Michel: Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, Berlin: Merve 1986, S. 26. Vgl. auch Balibar, Etienne: „Der Rassismus: auch noch ein Universalismus“ [1989], in: Bielefeld, Uli (Hg.), Das Eigene und das Fremde: neuer Rassismus in der Alten Welt?
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Andere Subjekte seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen – wesentlich auf der Einführung einer quasi natürlichen Trennlinie „zwischen dem, was leben soll und dem, was sterben muß“.25 Im rassistischen Alltag wird diese Trennlinie häufig durch visuelle Markierungen hergestellt, welche die ‚Norm‘ vom ‚Anderen‘ unterscheidbar machen sollen. Die Kategorie ‚Schönheit‘ spielt dabei insofern eine zentrale Rolle, als mit ihr ein binäres Bewertungssystem (schön/hässlich, gut/schlecht) eingeführt wird. Wie Lola Young zeigt, dient dabei insbesondere der weibliche Körper als Projektionsfläche, auf dem die Verknüpfung von Weißsein/Schönheit bzw. Schwarzsein/Hässlichkeit vollzogen wird.26 Während ‚Schwarzsein‘ als negatives Stereotyp einer zügellosen, devianten Weiblichkeit erscheint, wird in Umkehrung das Vorstellungsbild dessen, was eine vermeintlich gute, d.h. sittsame, schöne Frau ausmacht, vor allem über die Kategorie ‚Weißsein‘ etabliert und essentialisiert.27 Dieser Mechanismus kann in drastischer Weise im Gemälde Hydaspes und Persina vor dem Bild der Andromeda (1640) von Karel van Mander nachvollzogen werden. Das Gemälde visualisiert einen spätantiken Mythos, wonach die äthiopische Königin Persina eine weiße Tochter zur Welt bringt, nachdem sie beim Liebesakt auf das Bild der weißen Andromeda blickte (Abb. 5). Van Mander inszeniert dabei einen Kontrast zwischen der Lüsternheit des schwarzen Königspaares und der unbefangenen ‚natürlichen Körperlichkeit‘ des weißen weiblichen Akts, der „für die Kunstleistung der Sublimierung steht“.28 Naturalisiert wird diese Kontrastsetzung auf bildnarrativer Ebene u.a. durch den
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Hamburg: Hamburger Edition 1998, S. 175-188. Zu den kolonialgeschichtlichen Grundlagen des modernen Rassismus vgl. Geiss, Imanuel: Geschichte des Rassismsus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 121-257, sowie zu Foucaults Staatsbegriff Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg: Argument 1997. Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1996] 1999, S. 295. Young, Lola: „Racializing Femininity“, in: Arthurs, Jane/Grimshaw, Jean (Hg.), Women's Bodies. Discipline and Transgression, London/New York: Cassell, 1999, 6790, S. 67-90. Richard Dyer zeigt die Wirkungsmächtigkeit dieser Differenzierung für die Konstruktion des weißen Weiblichkeitsideals im Hollywoodfilm. Dyer, Richard: „Weiss“ [1988], in: Frauen und Film, 54/55 (1994), S. 77. Vgl. auch Friedrich, Annegret: „Kritik der Urteilskraft oder: Die Wissenschaft von der weiblichen Schönheit in Kunst, Medizin und Anthropologie der Jahrhundertwende“, in: dies. u.a., Projektionen, 1997, S. 164-182, sowie Sykora, Katharina: „Weiblichkeit, das Monströse und das Fremde. Ein Bildamalgam“, in: Friedrich, Projektionen, 1997, S. 132-149. Schmidt-Linsenhoff 2005, S. 27.
Die essayistische Blindheit sehnsüchtigen Blick der schwarzen Frau, mit dem sie sich dem scheinbar ‚universellen‘ Schönheitsideal unterordnet.
Abb. 5: Karel van Mander, Hydaspes und Persina vor dem Bild der Andromeda, 1640.
In den krassen Rassismus dieser Bildrhetorik ist die Problematik der Internalisierung rassistischer Differenzen durch die rassisierten Subjekte eingelassen, die von verschiedenen anti-rassistischen TheoretikerInnen beschrieben wurde.29 Kien Nghi Ha bemerkt etwa: „Durch Anpassung an herrschende Kultur- und Sprachstandards, durch Akzeptanz weißer Schönheitsideale, durch sozio-ökonomische Anspruchslosigkeit und politische Verzichtsleistungen suchen sie [die ‚Anderen‘] eine wesensgleiche Übereinstimmung mit dem rassistischen Subjekt.“30
Vor dem Hintergrund eines auf diese Weise abgewerteten Selbstbilds entstand, wie Sander Gilman im Buch Making the Body Beautiful (1999) zeigt, Ende des 19. Jahrhunderts die Praxis der kosmetischen Chirurgie, die von Beginn an ethnisch motivierte Operationen umfasste, darunter auch Augenoperationen bei AsiatInnen.31 In der Logik des passing wird dabei versucht, mithilfe der operativen Aneignung akzeptierter körperlicher Merkmale Zugang zu rassistisch abgetrennten Räumen der Normgesellschaft zu erlangen. Ziel ist es, „to ‚pass‘ as not too Vietnamese“, wie Gilman formuliert.32 29 Vgl. etwa die Überlegungen der Négritude-Bewegung (Aimé Cesaire, Léopold S. Senghor, Albert Memmi) sowie Fanon 1980, und ders. 2001. 30 Kien Nghi Ha: Ethnizität und Migration, Münster: Westfälisches Dampfboot 1999, S. 88f. 31 Gilman 1999, S. 24f; S. 99-111. 32 Ebd., S. 108. Vgl. auch Bennett, Juda: The Passing Figure. Racial Confusion in Modern American Literature, New York: Peter Lang 1996, sowie Ahmed, Aischa: „Na ja, irgendwie hat man das ja gesehen. Passing in Deutschland – Überlegungen zu Repräsenta-
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Andere Subjekte Die Aufnahme in den rassistischen Mainstream gestaltet sich dabei jedoch überaus schwierig und führt erneut die prekäre Figur des „non-westernWesterner“33 ein. Da der moderne Rassismus, wie oben dargelegt, wesentlich auf dem Konzept der ‚Reinheit des Blutes‘ basiert, stellen die äußeren Merkmale nur den sichtbaren Ausdruck einer im Inneren unauslöschlich eingeschriebenen Andersartigkeit dar. Normierende kosmetische Eingriffe erscheinen als etwas ‚Unechtes‘, als ein ‚Täuschungsmanöver‘ und sind stets der Gefahr ausgesetzt, enttarnt zu werden.34 Um zu funktionieren, muss die Operation als ‚Natur‘ erscheinen, d.h., die Praxis der Schönheitschirurgie muss unsichtbar gemacht werden. Dies verlangt aber nicht zuletzt auch von ihren NutzerInnen Verschwiegenheit über die Operation. Gilman bemerkt: „Silence is acquiescence. […] If the cohort is able to detect the alteration, it will make some further distinction between ‚authentic‘ and ‚inauthentic‘ bodies, and ‚passing‘ becomes impossible.“35
Dem entspricht, dass in operculum die Patientin zumeist stumm bleibt bzw. in den Videostills buchstäblich stillgestellt wird, während zeitgleich die Ärzte wortreich ihre ‚asiatische Physiognomie‘ kommentieren: „Asian eyelids are different to western eyelids. Yours are not so different because they have a good crease, a symmetric crease. It depends on where you come from in Asia. […] I find oriental people have a lot of fat … especially women have a lot of fat in the face everywhere.“36
Entsprechend der oben ausgeführten Verknüpfung von Schönheit, Rasse und Geschlecht unterstreichen dabei die Ärzte ihre ‚Verbesserungsvorschläge‘ immer
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tion und Differenz“, in: Eggers, Maureen M. u.a., Mythen, Masken, Subjekte, 2005, S. 270-282. Vgl. den Begriff des passing auch in queeren Zusammenhängen. Sanchez, Maria/Schlossberg, Linda (Hg.): Passing: Identity and Interpretation in Sexuality, Race, and Religion, New York: NYU Press 2001. Zur Diskussion dieses Begriffs von Nikos Papastergiadis siehe Pritsch, Silvia: „Auf der Suche nach dem Third Space: hybride (Geschlechts-)Identitäten jenseits von Fremdem und Eigenem?“, in: jour fixe initiative berlin (Hg.), Wie wird man fremd?, Münster: Unrast 2001, S. 178-183. Vgl. auch Ha 1999, S. 89. Aicha Ahmed beschreibt diese Logik auch als ‚Ein-Tropfen-Theorie‘, nach der „als Schwarze Person gilt, wer ‚einen Tropfen Schwarzen Blutes‘ in sich trägt“. Ahmed 2005, S. 272. Gilman 1999, S. 26. operculum, Teil 2.
Die essayistische Blindheit wieder mit Verweis auf eine gesteigerte ‚Weiblichkeit‘, die durch die Operation erreicht werden könne: „I think it would look very, very nice if we took some of the fat out, so that it would look a little bit more feminine … we had a little bit more eyelid showing so that you would be able to put on some make up, open your eyes and the make up would still show.“37
Diese Aussagen werden durch die entlarvende Montage des Videos zu Beweisen für die rassistische und sexistische Gewalt der normalisierenden Schönheitschirurgie. Es wird deutlich, dass in operculum die Praxis der Schönheitsoperationen als eine Form der Unterordnung unter rassistische Schönheitsstandards verstanden wird. Dies hebt auch die Künstlerin Tran in einem Artikel über das Video hervor: „The juxtaposition [in operculum] comments on cosmetic surgery as a ‚desperate cure‘ to attain a standard of beauty that demands conformity to a cultural norm, and that can only produce an average.“38
Trans rigoros ablehnende Haltung gegenüber der Schönheitschirurgie vernachlässigt sicherlich, dass diese Praxis gerade durch das Moment des ‚Unauthentischen‘ auch kritisches Potential enthält. Im Sinn von postmodernen Cyborgund Hybriditätsdiskursen39 kann kosmetische Chirurgie auch dazu dienen, starre identitäre Räume aufzuweichen und körperliche Authentizitätsvorstellungen zu irritieren. So betont etwa Gilman: „For the Vietnamese and Koreans in America, aesthetic surgery becomes a means of defining the flexibility of identity as opposed to its permanence.“40 Und auch die Kulturwissenschaftlerin Kathleen Zane unterstreicht in ihrem Artikel Reflections on a Yellow Eye (1999), dass mithilfe chirurgischer Eingriffe bestehende westliche Besitzansprüche auf ‚Schönheit‘ verwirrt werden können: „Where presence signifies impending lack, the Asian's practice of double eyelid surgery cuts into a Western ironic property to signal its transgression upon the seemingly stable-
37 operculum, Teil 2. 38 Tran 2003, S. 74. 39 Vgl. insb. Bhabha 2000, sowie Haraway, Donna: „A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century“ [1985], in: Jones, Amelia (Hg.), The feminism and visual culture reader, London: Routledge 2003, S. 475-497. Für einen kritischen Überblick dazu vgl. Young, Robert: Colonial Desire: Hybridity in Theory, Culture and Race, London: Routledge 1995, sowie Pritsch 2001, S. 171-206. 40 Gilman 1999, S. 109.
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Andere Subjekte marker of racial identity as well as its potential threat to the Western gaze. As a possible contestation of the Asianized eye-con, double eyelid surgery carves a racial construction into the body that reflexively reinscribes itself.“41
Zane argumentiert darüber hinaus, dass kosmetische Eingriffe auch als Widerstand gegen traditionelle Weiblichkeitsstereotype innerhalb der ethnischen communities gelesen werden können. Sie implizieren ihrer Meinung nach ein Moment der Befreiung „not simply from race but also from the traditionally limited options within a specific culture's gender-coded relationships“.42 Damit ruft ihre Darstellung indirekt jenes Emanzipationsideal auf, für das auf paradigmatische Weise die Praxis der französischen Künstlerin Orlan steht, die unkonventionelle Körperentwürfe chirurgisch auf ihren Körper übertragen lässt.43
Abb. 6: 9ème Opération ChirurgicalePerformance, Orlan, 1993.
Den Akt der Operation versteht Orlan dabei als Performance, die sie dokumentiert und öffentlich präsentiert. Ihr betont selbstbewusster Umgang mit
41 Zane, Kathleen: „Reflections on a Yellow Eye. Asian i(\eye/)cons and cosmetic surgery“ [1998], in: Jones, Amalia (Hg.), The Feminism and Visual Culture Reader, London/ New York: Routledge 2003, S. 357. 42 Ebd., 361. Darüber hinaus ermögliche die aktive Appropriation westlicher Schönheitsnormen, die finanzielle Potenz der ethnisch marginalisierten Patientinnen zu betonen, wodurch deren soziales Ansehen gesteigert werde. Ebd., S. 360. 43 Zur künstlerischen Praxis von Orlan siehe www.orlan.net (Stand: Januar 2010) sowie Kubisz 2003, S. 12 und S. 79-94, und Davis, Kathy: „‚My Body is my Art‘: Kosmetische Chirurgie als feministische Utopie?“, in: Alheit, Peter/Dausien, Bettina/FischerRosenthal, Wolfram (Hg.), Biographie und Leib. Gießen: Psychosozial-Verlag 1999, S. 247-263. Davids weist kritisch auf den Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Räumen von Schönheitschirurgie und Orlans künstlerischen Performances hin und unterstreicht, dass deren radikales Verleugnen des physischen Schmerzes die widersprüchlichen Widerstandsformen bei schönheitschirurgischen Operationen entwerte. Ebd., S. 260ff.
Die essayistische Blindheit Schönheitschirurgie unterstreicht das befreiende Potential der Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Körpers und steht damit der ablehnenden, institutionskritischen Argumentation von operculum diametral entgegen. (Abb. 6) Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Zane operculum auch explizit als ein Negativbeispiel zitiert, welches die produktiven, identitätskritischen Möglichkeiten des passing völlig ignoriere und stattdessen die gefilmte Protagonistin auf ein passives Opfer der rassistischen Schönheitsdiskurse reduziere: „[In operculum the] discourses of race, gender, and beauty implizit in surgical information are rendered as images of violent torture analogous to the butchering of brain lobes. The client's passivity mimics the body on which a white model of beauty will be imposed. Hence, the film's parody of scientific discourse upstages and effaces the patient's desires and motives, while leaving the complexity of specific power relations unexamined.“44
Auf diese heftige Kritik reagiert Tran in einer Art Gegendarstellung, in der sie einwendet, dass Zanes Fokus auf die individuelle Position der Patientin dem Video nicht gerecht werde und dessen Aussage verpasse: „Can Asians have eyelid surgery without being misunderstood as self-hating or aspiring to be Western? […] I believe that social and political problems have to be sorted out before we can look at cosmetic surgery in such neutral terms. But more importantly, these questions and the writer [i.e. Zane] miss the focus of the video, which is the cosmetic surgery industry and not the individuals who elect to have eyelid surgery. It is an institutional critique.“45
Für Tran liegt der politische Anspruch ihres Videos darin, zunächst die Bedingungen zu benennen, unter denen Schönheitschirurgie stattfindet, bevor über die von Zane geforderte individuelle (feministische) Selbstermächtigung diskutiert werden könne. Dass sie damit einen wichtigen Punkt trifft, macht ein Blick auf die im Video zitierte Operationsmethode der Lobotomie deutlich, deren ‚Effizienz‘ von Freeman in den 1950er Jahren sogar in öffentlichen Schau-Operationen im Fernsehen vorgeführt wurde. Die Logik dieser Behandlungsmethode, die nicht zuletzt bei den unzähligen traumatisierten Kriegsveteranen Heilung im Akkord versprach, verband sich dabei weitgehend reibungslos mit dem Bild der
44 Zane 2003, S. 358. 45 Tran 2003, S. 77.
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Andere Subjekte wirtschaftlich aufstrebenden, erfolgsorientierten amerikanischen Nation.46 Vor diesem Hintergrund wird jedoch Zanes Überlegung, dass die ‚Verwestlichung‘ asiatischer Gesichtszüge einen emanzipierten, feministischen Lebensentwurf ermögliche, höchst fragwürdig. Die Übernahme eines modernen westlichen Weiblichkeitsbildes bedeutet nämlich nicht nur, aus traditionellen Familienstrukturen auszubrechen, sondern auch, sich in ökonomische Strukturen einzufügen, in denen die Aussicht auf Erfolg erneut an ein bestimmtes geschlechtlich markiertes Aussehen gekoppelt ist. Die ökonomische Selbstständigkeit von Frauen wird dabei unabdingbar innerhalb eines sexistischen und rassistischen Systems angestrebt, weshalb die Schleife von Begehren und Verfehlen des Ideals endlos am Laufen gehalten wird.47 Aus dieser Perspektive erscheint die grundlegende Kritik an den Machtstrukturen der Schönheitschirurgie in operculum als ein wichtiges und notwendiges Gegengewicht zu voreiligen euphorischen Befreiungsdiskursen.
5.2 Das dokumentarische Bild der ‚anderen Frauen‘ Mit ihrer Kritik an operculum trifft Kathleen Zane jedoch auch einen wichtigen Punkt: das Problem der Repräsentation der Patientin als passives Opfer. Diesem Aspekt wird das vorliegende Unterkapitel weiter nachgehen, indem es den Blick vor allem auf das dokumentarische Bild der Patientin im Hauptteil des Videos richtet. Vor welche Herausforderungen stellt dieses Detail die zuvor beschriebene institutionskritische Argumentation von operculum?
Der ‚andere‘ Erfahrungskörper Wie bereits erwähnt, erscheinen die Aufnahmen der Patientin im Hauptteil von operculum als videografische Dokumente. Dieser Eindruck wird vor allem durch die amateurhafte Ästhetik des harten, rauschenden Tons und der zum Teil unscharfen Videobilder erzeugt48 sowie durch die künstliche Schwarz-WeißFärbung des Videos, die diesem einen nüchtern-seriösen Anstrich im Sinn von 46 Vgl. dazu Valenstein 1986. 47 Am Beispiel euro-asiatischer Mischfiguren weist auch Sylvia Pritsch darauf hin, dass die Hybridisierung der ethnischen Zugehörigkeit zu einer kompensatorischen Vereindeutigung im Bereich anderer Identitätsmarker (etwa einer hyper-sexualisierten Geschlechtlichkeit) führt. Pritsch 2001, S. 195. 48 Vgl. dazu u.a. Beyerle 1997, S. 108-113.
Die essayistische Blindheit Bill Nichols' „discourses of sobriety“ gibt.49 Der Authentisierung des Gefilmten dient aber auch die Tatsache, dass die meiste Zeit ein Gesicht in Großaufnahme gezeigt wird. Wie bereits anhand des Videos Hot Water dargelegt, tritt durch die große affektive Nähe die filmische Vermitteltheit in den Hintergrund und es entsteht der Eindruck unmittelbaren Realitätserlebens50. Anders als in Hot Water überschreitet die gefilmte Figur in operculum die Grenze des Medialen jedoch nicht, sondern verbleibt passiv innerhalb des filmischen Raums. Ohne ausladende Gesten oder exzessive Emotionalität bleibt sie stumm auf die Äußerungen der Ärzte konzentriert. Die anwesende Kamera scheint sie nicht zu bemerken. Diese Darstellung eines in sich geschlossenen, scheinbar realen filmischen Raums bietet den RezipientInnen einen unbemerkten Blick auf die Frau als passives Bildobjekt an. Unterstützt wird dies durch das bereits erwähnte teilweise Stillstellen der Videoaufnahmen der Frau: Ihr erstarrtes Gesicht wird nicht nur den Ärzten (auf narrativer Ebene) als Untersuchungsgegenstand angeboten, sondern auch (auf struktureller Ebene) dem Blick der BetrachterInnen, die sie als regungslosen Untersuchungsgegenstand in all ihren momenthaften Details studieren können.51 Dabei überlagert sich der strukturelle dokumentarische Blick mit dem Machtdiskurs der Medizin, wodurch der Eindruck von Echtheit und Stofflichkeit eines verletzbaren Körpers der Patientin noch weiter erhöht wird. Dieses Körperbild bleibt auch in der kritischen Distanznahme zum Machtdiskurs der Medizin erhalten, wie sie die essayistische Argumentation von operculum nahelegt. Der vermeintlich ‚reale‘ Körper der Patientin erscheint hier als etwas a priori Integeres, das es vor den Übergriffen der Medizin zu retten gelte. Diese Körpervorstellung ist auch in Foucaults Machtkritik enthalten, wie Thomas Lemke bemerkt: „Festzuhalten ist, daß Foucaults Konzept der Biomacht an die Idee eines integralen Körpers gebunden bleibt; seine Analyse der Machttechniken, die sich auf den Körper richten, um diesen zu formieren und zu parzellieren, setzt selbst noch die Vorstellung eines in sich geschlossenen und abgrenzbaren Körpers voraus.“52
49 Nichols 1991, S. 3f. 50 Beyerle, 1997, S. 131ff. 51 Vgl. dazu auch den Begriff des ‚studiums‘ als einen dominanten Rezeptionsmodus des Fotografischen bei Barth, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1980] 1985. 52 Lemke, Thomas: „Rechtssubjekt oder Biomasse? Reflexionen zum Verhältnis von Rassismus und Exklusion“, in: Martin Stingelin (Hg.), Biopolitik und Rassismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 160-183, S. 163f.
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Andere Subjekte In Bezug auf feministische Kritik an Gewaltrepräsentationen stellt auch die Kunstwissenschaftlerin Sigrid Schade eine solche Denkfigur fest. In ihrem Aufsatz Der Mythos des ‚Ganzen Körpers‘ (1986) wendet sie sich gegen eine radikale Ablehnung von fragmentierten Weiblichkeitsdarstellungen, die als (symbolische) Gewalt am Körper von Frauen verurteilt werden.53 Wie sie darlegt, schreibt diese Kritik selbst das humanistische Ideal körperlicher Ganzheit weiter fort und entnennt die auf Fragmentierung basierenden Konstruktionsprozesse des ‚natürlichen weiblichen Körpers‘. Das darin angelegte Modell der Zweigeschlechtlichkeit wird im Vorstellungsbild eines zu schützenden ‚weiblichen Körpers‘ weiter fortgeschrieben.54 Diese Problematik erkennt auch Zane bei operculum, da das Video, wie sie meint, einen essentiellen, passiven ‚asiatischen Körper‘ inszeniere: „The client's passivity mimics the body on which a white model of beauty will be imposed.“.55 Der von Schade dekonstruierte Mythos einer ‚ganzen Weiblichkeit‘ verknüpft sich hier mit einer mythischen Ganzheit des Asiatischen, die im anti-rassistischen Diskurs des Videos gegen die ‚Verwestlichung‘ asiatischer Augen verteidigt wird. Dabei übernimmt die implizite Forderung nach einem ‚integeren ethnischen Körper‘ nicht nur den Rassismus der Schönheitschirurgie, sondern authentisiert auch die Konstruktion von Rasse. Die Tatsache, dass nicht nur die Abwertung, sondern bereits die diskursive Herstellung der ‚asiatischen Augen‘ einer rassistischen Logik folgt, bleibt unbenannt: Wie Zane zu Recht unterstreicht, ist die einfache Lidfalte nämlich keineswegs ein einheitliches Körpermerkmal, das alle AsiatInnen teilen und ausschließlich AsiatInnen betrifft. Vielmehr handelt es sich um ein abstraktes Symbol „(\ /)“, das als rassistisches Stereotyp alle AsiatInnen zu erfassen vorgibt.56 Indem die Darstellung der Patientin in operculum eine Bedrohung des scheinbar vorgängigen, natürlichen ‚asiatischen Körpers‘ annimmt, welcher in der einfachen Lidfalte verkörpert ist, reproduziert sie genau dieses Stereotyp, das durch die dokumentarische Rhetorik der Portraitaufnahmen zusätzlich naturalisiert wird. Auf diesen Mechanis-
53 Schade, Sigrid: „Der Mythos des ‚Ganzen Körpers‘“ [1986], in: Zimmermann, Kunstgeschichte und Gender, 2006, S. 159-179. Zu einer kritischen Aufarbeitung dieser Diskussion innerhalb der feministischen Kunstwissenschaft vgl. Wenk, Silke: „Repräsentation in Theorie und Kritik: Zur Kontroverse um den ‚Mythos des ganzen Körpers‘, in: Zimmermann, Kunstgeschichte und Gender, 2006, S. 99-113. 54 Schade 2005, S. 167. 55 Zane 2003, S. 358. 56 Ebd., S. 356f.
Die essayistische Blindheit mus zielt Zane mit ihrer Begriffserfindung der „Asian(eyes)ing authenticity“57 ab, die sie durch eine „hybrid-eyes-ed cultural position“58 ersetzen will.
Die Position der Kritik Die Inszenierung eines passiven ‚Erfahrungskörpers der Anderen‘, dem eine absolute Diskursmacht gegenübersteht, wird umso problematischer, wenn die Position der KritikerIn mitberücksichtigt wird. Denn in diesem Vorstellungsgefüge beansprucht die Kritik für sich selbst eine elitäre Position jenseits der vermeintlich umfassenden Diskursmacht (was eigentlich logisch unmöglich ist), während alle anderen sozialen Positionen von den Unterdrückungsmechanismen gänzlich erfasst zu sein scheinen.59 Wie Gayatri Ch. Spivak in ihrem Text Can the Subaltern Speak? (1988) zeigt, führt die ideologiekritische Rede über ‚die Unterdrückten‘ nur umso wirkungsvoller eine Spaltung zwischen dem vermeintlich empirischen Erfahrungskörper der ‚Anderen‘ und der scheinbar transzendentalen Subjektposition der Intellektuellen ein.60 In Bezug auf eine radikal institutionskritische Position gegenüber der ethnisch normativen Schönheitschirurgie, wie sie etwa operculum formuliert, führt Zane diesen Einwand aus: „Labelling Asian surgical clients as mere victims of internalized racism resulting from their enthrallment with the patriarchal gaze of Western cultural imperialism seems to further divide between enlightened or true feminists and these ‚other‘ less privileged ‚natives‘.“61
Zanes Vorwurf richtet sich damit nicht nur gegen eine reduktionistische Darstellung der Machtverhältnisse durch operculum, sondern sie kritisiert auch, dass die Filmemacherin62 die Darstellung einer völlig im Machtdispositiv verhafteten Frau dazu nutzt, um für sich selbst Autonomie und Kritikfähigkeit zu beanspruchen: „The narrative scrutiny of the filmmakers' gazes serves to establish their own contrastive identities against those women who are seemingly unable to resist, interrogate, or control
57 Ebd., S. 355. 58 Ebd., S. 359. 59 Zur Dekonstruktion des umfassenden Diskursbegriffs bei Foucault vgl. auch Laclau/ Mouffe 2006, S. 142ff. 60 Spivak 2008, insb. S. 21-41. 61 Zane 2003, S. 355. 62 Zane bezieht sich neben Tran auch auf eine zweite Filmemacherin, deren Arbeit sie in ihrem Artikel diskutiert.
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Andere Subjekte the manipulation of their desires by the eye-con. […] Occupying positions bonded with a privileged critical perspective, these purported confrontations of the very institutions that endow privilege instead operate in collusion with institutional power. The critiquing narrator is identified as exceptional, as successfully transformed, while locating those other(ed) women outside her critical production.“63
Dieser Einwand trifft auf operculum nicht zuletzt deshalb zu, weil hier, wie bereits erwähnt, der eigentlich kritisierte Blick der Mediziner strukturell durch den Kamerablick wiederholt wird: Die Patientin bleibt dem Blick der BetrachterInnen passiv ausgesetzt, ohne diesen zu erkennen und zu erwidern. Der emanzipatorische Anspruch der essayistischen, institutionskritischen VideoArgumentation entnennt jedoch diese hegemoniale Dimension des Blicks. Mehr noch: Die Vorgabe, im Interesse der Patientin zu sprechen, macht die gewaltvollen Bilder erst erträglich. Der theoretisch informierte Blick erkennt zwar die Gewaltförmigkeit der Darstellung, kann aber trotzdem hinschauen. Ermöglicht wird eine pastorale Haltung, deren Opferdiskurs die Alterität der repräsentierten Frau selbst hervorbringt.64 Eine vergleichbare Problematik haben verschiedene TheoretikerInnen auch in Bezug auf die Essayfilme von Trinh T. Minh-ha65 festgestellt, in denen sie verschiedene experimentelle Montagetechniken dazu einsetzt, um die Illusion absoluter dokumentarischer Wissenspositionen in Frage zu stellen.66 Die Anthropologin Jane Desmond gibt jedoch auch zu bedenken, dass Trinhs brüchige, poetische Behandlung des Themas nicht nur eine reflexive Distanz zur Darstellung etabliert, sondern die einzelnen dokumentarischen Bilder auch aus ihrem historischen Kontext herausreißt und in eine neue ästhetische Oberfläche einbindet. Dabei bestehe die Gefahr, die repräsentierten Personen auf ihre ‚differente Körperlichkeit‘ zu reduzieren und erneut exotistische Phantasien zu bedienen: „While supposedly freeing the reception of the representation from the overdetermination of Western logic, this aestheticization yields a surface poeticism which can unwittingly
63 Ebd., S. 358. 64 Vgl. Russell 1999, S. 4f. 65 Insbesondere ihre Essayfilme Reassemblage (1982), Naked Spaces – Living is Round (1985) und Surname Viet Given Name Nam (1989). 66 Vgl. Trinh T. Minh-ha: Framer Framed. Film Scripts and Interviews, New York/London: Routledge 1992, sowie dies.: Women, Native, Other, Bloomington: Indiana University Press, 1989.
Die essayistische Blindheit romanticize precisely which it intends not to. Decontextualized images and sounds easily slip into aural and visual connotations of ‚exotica‘.“67
Angesichts der Dominanz sedimentierter hegemonialer Blickgewohnheiten überschätze Trinh, so Desmond weiter, die politischen Möglichkeiten der Filmgestaltung.68 Dies kritisieren auch Martina Attille und Maureen Blackwood, wenn sie in Bezug auf Trinhs Filme schreiben: „But why the same fascination with our bodies? She [Trinh] questions her practice as a film-maker, but her words are not enough to challenge some of her more predictable images.“69
Diese Einwände relativieren die Vorstellung künstlerischer Intentionalität grundlegend: Zwar strukturieren die künstlerisch-essayistischen Formsetzungen die Wahrnehmung des Videos, doch die KünstlerIn kann die darin enthaltenen Bedeutungen nicht auf ein einziges, bewusst angestrebtes Ergebnis hin determinieren. Die dokumentarischen Bilder der ‚Anderen‘ scheinen im dominanten westlichen Rezeptionskontext vielmehr ein problematisches, sexistisches und kolonialistisches Eigenleben zu besitzen.70 In ihrer Lektüre von operculum nutzt Zane dieses Eigenleben in einem kritischen Sinn, wenn sie die herausgearbeitete Problematik des objektivierten Bildstatus der Patientin gegen die essayistische Darstellung der Künstlerin wendet. Das darin enthaltene subversive, widerspenstige Potential der ‚passiven Patientin‘ bleibt dabei jedoch wesentlich an die Diskursposition der kritischen Analytikerin gebunden. Bezeichnenderweise wird dieses Potential letztlich auch von Zane selbst wieder geschlossen, indem sie das Video operculum kategorisch ablehnt und für die Zukunft andere künstlerische Darstellungen zum Thema ethnisch normative Schönheitschirurgie fordert. Den narrativen Möglichkeiten einer aktiven, kritischen Patientin innerhalb von operculum geht sie nicht weiter nach. Zanes radikal ablehnender Fokus auf ein Detail von operculum (das Bild
67 Desmond, Jane: „Ethnography, Orientalism and the Avant-Garde Film“, in: Visual Anthropology 4/2 (1991), S. 154. Vgl. auch zur Asynchronität in Trinhs Filmen die kritischen Überlegungen von Lawrence, Amy: „Women's Voices in Third World Cinema“, in: Carson, Diane/Dittmar, Linda/Welsch, Janice (Hg.), Multiple Voices in Feminist Film Criticism, Minneapolis: University of Minnesota Press 1994, S. 407-420. 68 Desmond 1991, S. 155. 69 Attille, Martina/Blackwood, Maureen: „Black Women and Representation“, in: Brudson, Charlotte (Hg.): Films for Women, London: British Film Institute, 1986, S. 207. Zur Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis bei Trinh vgl. auch Russell 1999, S. 4. 70 Vgl. in diesem Sinn auch Schmidt-Linsenhoff 2005, S. 19-38.
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Andere Subjekte der ‚passiven Patientin‘) limitiert damit die Bedeutungsdimensionen des Videos und unterbindet letztlich auch eine weiterführende Auseinandersetzung mit der (un/möglichen) Subjektposition der repräsentierten Figur.
5.3 Die fiktionale Figur der Patientin Bei einem genaueren Blick auf das Video können tatsächlich noch weitere Lektüreebenen entwickelt werden, die die Figur der Patientin in narrative und fiktionale Zusammenhänge einbinden. Dabei tritt sie – jenseits ihres dokumentarischen Opferstatus – auch verstärkt als aktive und reflexive Instanz des Videos in Erscheinung.
Die Künstlerin als Schauspielerin In der Sequenz der Computersimulation im ersten Teil von operculum wird zweimal ein Name über die Portraitbilder der Patientin geschrieben: der Name Trang (Abb. 7a, 7b).
Abb. 7 (a, b): Videostills aus operculum, Teil 1.
Unter der Bedingung, dass der Name bekannt ist, wird die Figur der Patientin auf diese Weise mit der Person der Künstlerin verknüpft. Diese im Video leicht zu übersehende Dimension hebt Tran in ihrer nachträglichen Beschreibung des Videos deutlich hervor. Noch bevor sie auf Form und Inhalt des Videos eingeht, erzählt sie, wie die Aufnahmen entstanden sind: „In operculum (1993), I posed as a potential patient to gather video documentation of eight consultation sessions with cosmetic surgeons in the Beverly Hills and West Los Angeles areas, arguably the world capital of cosmetic surgery. To convince the doctors to allow me to videotape the sessions, I told them my parents were working overseas and that they
Die essayistische Blindheit would pay for the surgery. In order for my parents to decide with me which doctor we would go with, I needed to videotape them. Six out of eight agreed; one was inappropriate for the tape based on the kind of surgery he performed, and the other was captured in audio.“71
Für das Video gab sich Tran also als potentielle Kandidatin einer Augenoperation aus, um so die Filmerlaubnis in den Arztpraxen zu erhalten. Diese Darstellung vermittelt zwei wichtige Informationen: Zum einen macht sie deutlich, dass Patientin und Künstlerin nicht nur ein und dieselbe Person sind, sondern dieses Zusammenfallen in ihrer Tätigkeit als Schauspielerin begründet ist. Die Künstlerin ist nicht tatsächlich die Patientin, sondern sie schlüpfte für die Zeit der Aufnahmen in diese Rolle („I posed as“), wodurch die scheinbar authentische Figur der Patientin explizit im Bereich der Fiktion angesiedelt wird. Und zum anderen wird das Schauspiel durch Trans Ausführungen mit einem klaren Zweck verknüpft: In ihrer Rolle als Patientin will Tran die Ärzte hinters Licht führen – mit dem ausdrücklichen Ziel, das System der Schönheitschirurgie zu enttarnen. Damit steht Tran wesentlich in der Tradition der Undercover-Recherche. Einer der prominentesten Vertreter dieser Praxis ist seit den 1970er Jahren im deutschsprachigen Raum der Journalist und Buchautor Günter Wallraff. Für die Reportage Ganz unten (1985) verwandelte er sich beispielsweise für zwei Jahre in den türkischen Gastarbeiter Ali Levent Sinirlioglu (Abb. 8) und berichtete in seinem Buch über die am eigenen Leib erfahrene Ausländerfeindlichkeit und die prekären Arbeitsbedingungen, denen er in dieser Zeit ausgesetzt war.72
Abb. 8: Ali Levent Sinirlioglu aus Ganz Unten, Günter Wallraff, 1985.
71 Tran 2003, S. 74. 72 Wallraff, Günter: Ganz unten, Köln: Kippenheuer und Witsch [1985] 1988.
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Andere Subjekte Im Einleitungskapitel seines Buchs schreibt Wallraff, dass er seine Tarnung ausdrücklich dazu einsetzte, um die verdeckte ‚Wahrheit‘ der Diskriminierung und Ausbeutung der Gastarbeiter in Deutschland öffentlich sichtbar zu machen: „[…] man muss sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren, muss täuschen und sich verstellen, um die Wahrheit herauszufinden.“73 Im Sinn einer solchen der ‚Wahrheit‘ verpflichteten ‚Lüge‘ operiert auch operculum. Auch hier betrifft das Moment der Täuschung vor allem das innerfilmische Geschehen (d.h. die Ärzte im Video), während die Aufnahme selbst, als ‚wahres‘ Dokument, davon nicht betroffen ist. Im Gegenteil: Trans Bericht zur Entstehung der Aufnahmen verstärkt sogar deren angenommene Authentizität. Denn auf diese Weise werden sowohl das gefilmte Material (die entlarvenden Bilder und Reden der Ärzte) als auch der politische Akt des Filmens selbst in der ‚historischen Welt‘ verankert.74 Trans Informationen zum Entstehungsprozess entsprechen damit der institutionskritischen Argumentation der Videomontage – allerdings mit dem Unterschied, dass nun auch die Figur der Patientin einen deutlich fiktionalen Zug erhält. Auf den ersten Blick scheint es, als eröffne sich damit eine neue Form der Institutionskritik in operculum, in der die repräsentierte Figur nicht mehr als authentisches Opfer festgesetzt werden kann. Ein zweiter Blick relativiert jedoch diesen Anschein: Ausschlaggebend dafür ist der Umstand, dass durch die betonte politische Intention der Täuschung erneut eine Differenz zwischen der kritischen Person der Künstlerin/Schauspielerin und der von ihr gespielten passiven Rolle der ‚anderen Frau‘ in Stand gesetzt wird. Diese Problematik wurde auch in Bezug auf Wallraffs Verwandlung kritisiert: So bemerkt etwa Aysel Özakin, dass Wallraff bei seiner Inszenierung des ‚Ali‘ das klassische Stereotyp des naiven, ungebildeten Gastarbeiters reproduziert, dem alle Türken unterworfen werden75, während sich Wallraff
73 Ebd., S. 12. Seine eindrucksvollen Darstellungen dieser ‚Wahrheit‘ lösten in Folge breite öffentliche Diskussionen aus, was insbesondere die von ihm genannten Konzerne teilweise effektiv in Bedrängnis brachte. Vgl. Berger, Frank: Thyssen gegen Wallraff. Chronik einer politischen Affäre, Göttingen: Steidle Verlag 1988. 74 Trans Ausführungen zum Entstehungsprozess der Aufnahmen sind in diesem Sinn als Authentisierungsstrategie im Sinn der „Überbetonung der Aufnahmephase“ zu verstehen, die Monika Beyerle für das direct cinema identifizierte. Beyerle 1997, S. 8289. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass letztlich erst durch das Wissen über Trans Vorgehen logisch nachvollziehbar wird, warum so viele unterschiedliche Ärzte ein und derselben Patientin gegenüberstehen. 75 Özakin, Aysel: „Ali hinter den Spiegeln. Fragen einer Türkin zum ‚erfolgreichsten Buch der Welt‘: Ist Mitleid der vornehme Ausdruck für Verachtung? Sind wir alle nur unterdrückt und naiv?“ in: literatur konkret 11 (1986), S. 6-9. Diese stereotype Darstellung
Die essayistische Blindheit als Angehöriger der deutschen Mehrheitsgesellschaft aus dieser abgewerteten Position relativ einfach wieder herausbegeben und sogar symbolisches Kapital aus der temporär eingenommenen Verwandlung ziehen kann. Sein politisches Engagement bleibt gerade aufgrund des inszenierten Stereotyps des ‚Anderen‘ ein westliches Privileg. Özakin vermerkt: „Der westeuropäische Intellektuelle darf, ja muss sich von seiner nationalen Identität lösen und alle Arten individueller Abenteuer riskieren, aber einen in der Bundesrepublik lebenden Türken – selbst wenn er Künstler ist – kann man sich außerhalb der sozialen Realität eingewanderter Arbeiter nicht vorstellen.“76
Diese Kritik trifft auf operculum allerdings nur zum Teil zu. Auch hier ist – wie bei Wallraff – die subversive Aktivität des Täuschens vor allem an die privilegierte Position der Künstlerin gebunden, während die von ihr gespielte Rolle weiterhin auf das asiatische Stereotyp der abgewerteten Augenform „(\ /)“ reduziert wird. Trotz der Fiktivisierung der Figur bleibt die Patientin im Video eine Metapher für ‚alle AsiatInnen‘.77 Im Unterschied zu Wallraffs Vorgehen verkleidet sich Tran jedoch nicht als Asiatin, sondern sie sucht eine Situation auf, in der sie auf ihr Asiatisch-Sein reduziert wird. Obwohl sie das Wissen darum bewusst im Video einsetzt, verfertigen letztlich die Ärzte das ‚defizitäre‘ Bild einer nicht-westlichen Frau. Dies bedeutet aber, dass es für die Künstlerin keinen sicheren Rückzugsort im hegemonialen Mainstream gibt, wie dies noch für Wallraff der Fall war. Auch als Künstlerin ist Tran von der Affizierung der rassistischen Stereotype betroffen. In operculum verschwimmen die Grenzen zwischen Schauspiel und ‚Realität‘ – die künstlerische Täuschung bleibt für die Künstlerin letztlich selbst bittere ‚Wahrheit‘. Damit wird es auch für die BetrachterInnen zunehmend schwierig, eine klare Trennlinie zwischen dem rassistischen Blick der Medizin und einer vermeintlich ‚politisch-korrekten‘ eigenen Wahrneh-
reicht, wie Wallraff selbst beschreibt, vom „stechenden Blick“, den er durch extrem dunkle Linsen erreichte, bis zur Formulierung des Anzeigentextes, in dem er damit warb, „Schwerst- und Dreckarbeit auch für wenig Geld“ zu verrichten. Wallraff 1988, S. 11f. Aus ihrer Position als türkische Intellektuelle beschreibt Özakin die schmerzvolle Erfahrung, ständig auf das Bild des ‚Ali‘ reduziert zu werden, folgendermaßen: „Ich bin kurz davor, in der Bundesrepublik mein Selbstvertrauen und mein Wertgefühl zu verlieren. Mitverantwortlich ist ein wohlmeinender, humanistischer, deutscher Progressiver, der mich (das heißt Ali) als Angehörige einer Minderheit schützen will und mich (das heißt Ali) in ein bemitleidenswertes Objekt verwandelt.“ Özakin, 1986, S. 8. 76 Ebd., S. 7. 77 Vgl. Zane 2003, S. 359, die dies auch mit Bezug auf eine biografische Leseweise von operculum unterstreicht.
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Andere Subjekte mung zu ziehen. Im diskursiven Knotenpunkt des ‚asiatischen Körpers‘, der sich sowohl an das Bild der Patientin als auch an die Person der Künstlerin heftet, trifft sich das als rassistisch problematisierte Blickregime der Ärzte potentiell mit jenem der BetrachterInnen. Ohne die Illusion einer moralischen Überlegenheit gegenüber den Ärzten bleibt in operculum der eigene rassistische Blick der BetrachterInnen als permanente Gefahr bestehen. Der ungeklärte Status des Bildes der Schauspielerin verunsichert nicht nur die Machtverhältnisse zwischen Künstlerin, medizinischer Institution und Patientin, sondern auch die scheinbar stabilen und ‚politisch korrekten‘ Kritikpositionen des Videos und der BetrachterInnen. Zu bedenken bleibt dabei allerdings, dass die Grundlage dieser potentiellen Verunsicherung der nachträgliche Erklärungstext ist, in dem sich die Künstlerin dezidiert jenseits ihrer fiktiven Patientinnen-Rolle artikuliert. Dies bedeutet, dass sich potentiell erneut eine Trennung ergibt zwischen der intellektuellen Erzählerin auf der einen Seite, mit der sich die Betrachterinnen politisch identifizieren können, und der von ihr gespielten ‚realen Patientin‘, deren Bild visuell genossen werden kann. Im selben Augenblick, in dem das entlarvende Schauspiel erfahrbar wird und seine Wirkung potentiell entfalten kann, wird es durch das Lesen des Textes für die RezipientInnen auch transparent und rationalisierbar. Das im Text vermittelte Insider-Wissen um das gezielte politische Vorgehen der Produzentin ermöglicht einen direkten, risikofreien Weg zur politischen Botschaft des Videos, während das potentiell irritierende Moment (die ungeklärte Figur der Patientin) auf der rationalisierbaren visuellen Inhaltsebene verbleibt. Die BetrachterInnen können damit weiterhin die Blickund Bildregime des Videos aus der intellektuell überlegenen Distanz genießen, ohne sich über ihre (potentiell rassistische) Position gegenüber der Künstlerin/ Schauspielerin/Patientin Rechenschaft ablegen zu müssen.
Die Erzählung der ‚kritischen Patientin‘ Die Verknüpfung von Künstlerin/Schauspielerin und fiktiver Patientin kann jedoch auch als Anlass für eine Lektüre genutzt werden, die sich stärker auf eine identifikatorische Beziehung mit der repräsentierten Figur einlässt. Dazu muss die essayistische Montage des Videos in eine narrative Struktur verwandelt werden, in der die Figur der Patientin die zentrale handelnde Rolle spielt. Angeregt wird eine solche Leseweise – neben der ‚externen‘ Fiktionalisierung durch den Erklärungstext der Künstlerin – vor allem durch die Schlusssequenz des Videos, die einen Ausschnitt aus dem Spielfilm Kung-Fu Rascals von Steve Wang
Die essayistische Blindheit (1982/1991) zeigt.78 Dass diese Sequenz weder in den Texten von Zane noch in jenen der Künstlerin selbst erwähnt wird, hängt sicherlich damit zusammen, dass die Schlusssequenz zugleich auch als Abspann dient und damit tendenziell als etwas wahrgenommen wird, das nach dem eigentlichen Video folgt. Da darüber hinaus der helle Text der Credits über die farblich verfremdeten, relativ dunklen Filmbilder läuft, treten diese noch zusätzlich in den Hintergrund. Es erfordert ein genaues Hinsehen, um den Inhalt des Filmausschnitts wahrzunehmen: Zu sehen ist im logisch kohärenten Einstellungswechsel, wie eine Person Maskenelemente aufnimmt und an ihren Augenlidern befestigt (Abb. 9 a-d) und eine Perücke aufsetzt (Abb. 9e, 9f).
Abb. 9 (a-f): Videostills aus operculum, Teil 3.
Das filmische Zentrum dieser Sequenzfolge bildet dabei die subjektive Sicht der gefilmten Person, die im Schuss-Gegenschuss-Prinzip des klassischen Hollywoodfilms frontal und in Point-of-view-Einstellungen gefilmt wird.79 Wie Stephen Heath in seinem Aufsatz Narrative Space (1976) darlegt, basiert der narrative Film wesentlich darauf, mithilfe dieses Verfahrens sowie der Einführung kohärenter Identifikationsfiguren fragmentierte Filmelemente in einen reibungslosen Erzählzusammenhang zu bringen.80 Ziel ist es dabei, die ZuschauerInnen glücklich im narrativen Filmraum zu verorten:
78 Titel und Autor des Films werden in den Credits von operculum benannt. 79 In diesem Verfahren kreist die Filmbewegung ständig um die zentrale handlungstragende Figur, in deren scheinbar natürlichen, kohärenten Filmraum die BetrachterInnen identifikatorisch eingewoben werden. Vgl. dazu auch Dayan 1976, S. 438-450. 80 Heath 1981b, S. 40-52.
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Andere Subjekte „the spectator is the point of the film's spacial relations […]. Narrativization is scene and movement, movement and scene, the reconstruction of the subject in the pleasure of that balance […].“81
In operculum entfaltet sich das von Heath beschriebene identifikatorische Vergnügen im narrativen Filmraum („the pleasure of that balance“) erst in der Schlusssequenz, d.h. in der letzten Minute des Videos. Die BetrachterInnen werden daher in einem gerade erst etablierten Zustand der narrativen Identifikation mit einer Hauptfigur aus dem Video entlassen. Eine mögliche Form des Umgangs mit dieser Situation ist, die Schlussszene als Anlass für eine erneute Lektüre von operculum zu nutzen, in der die Handlungsfigur der finalen Spielfilmsequenz mit der Figur der Patientin verknüpft wird. Diese nachträgliche Verknüpfung wird u.a. dadurch unterstützt, dass beide Male eine asiatische Figur sichtbar ist, die im weitesten Sinn mit Veränderungen an ihrem Gesicht beschäftigt ist.82 Auf Basis dieser Verschmelzung wird es nun möglich, aus der essayistischen Materialmontage einen narrativen Handlungsstrang herauszulesen, in dem die Patientin die zentrale aktive Rolle erhält.83 Diese Erzählhandlung könnte etwa so aussehen: Eine asiatische Frau stößt auf eine Annonce für Schönheitschirurgie. Obwohl sie die Rhetorik der ‚Vorher/Nachher-Bilder‘ anziehend findet, kommen ihr auch historische Operationsbilder in den Sinn, durch welche sie die Gewalt der Operationen mitdenkt. Diese Ambivalenz bringt sie in Folge dazu, nähere Informationen zu diesem Thema einzuholen. Sie konsultiert ein medizinisches Informationsvideo zum Operationsablauf sowie den kritischen Text über das Machtdispositiv ‚Schönheit‘ von Carol Munter. Schließlich begibt sie sich in eine Arztpraxis und
81 Ebd., S. 54. 82 Aber auch die Tatsache, dass in der Schlusssequenz erneut der Song Connected erklingt und eine ähnliche blau-grüne, verfremdete Bildästhetik gewählt wird, wie im Ausschnitt des medizinischen Informationsvideos im ersten Teil, begünstigt die Verbindung beider Figuren. 83 Auf die Möglichkeit der linearen Verbindung einer diskontinuierlichen essayistischen Montage verweist auch Jacques Rancière in seinem Aufsatz Der Satz, das Bild, die Geschichte (2005). Am Beispiel der Videoreihe Histoire(s) du Cinéma von Jean-Luc Godard (1988-1998, 240 min.) zeigt er, dass die heterogenen Elemente dieser Bild- und Diskursgeschichte weniger einen dialektischen Schock erzeugen, mit dem eine angebliche ‚Wahrheit des Kinos‘ offengelegt werden könne, sondern zu einem „ursprüngliche[n] Geflüster“ (S. 79) verschmelzen, in dem sich eine Trauer um das Ende des Autorenkinos ausdrückt. Rancière, Jacques: Politik der Bilder, Zürich: Diaphanes 2005, S. 43-82.
Die essayistische Blindheit lässt das mögliche Ergebnis einer Augenoperation an ihrem eigenen Portraitfoto simulieren. Darüber hinaus tritt sie mit den behandelnden Ärzten in Kontakt und lässt sich über mögliche Operationsmodi und ihre Gefahren aufklären. Dabei bleibt ihre Skepsis gegenüber diesen Erklärungen jedoch stets präsent, wie der Fließtext neben ihr (im Sinn einer Gedankenblase) anzeigt. Im Rahmen dieser Erzählung wird der Weg der Patientin in die Behandlungsräume und aus diesen heraus wird dabei insbesondere durch zwei Texttafeln, vor und nach dem Hauptteil, narrativ vermittelt. Die erste Tafel, auf der gefordert wird, dass Kinder aus der Praxis ferngehalten werden (Abb. 10)84, markiert dabei das Eintreten der Frau – als hätte ihr Blick dabei dieses Schild beiläufig aufgeschnappt. Und das zweite Schild am Ende des Hauptteils, welches Verhaltensregeln für die Zeit nach einer Augenoperation nennt (Abb. 11)85, kann als Teil einer Infobroschüre gelesen werden, die der Frau von den Ärzten nach Hause mitgegeben wurde. Ähnlich wie die ‚Gedankenblasen‘ des historischen Materials, die im Sinn einer kritischen Abwägung durch die Patientin gelesen werden können, verleihen ihr auch die beiden Schilder einen kritisch-ironischen Charakterzug. Im Fall des ersten Schildes geschieht dies etwa, indem sie die Räume der Arztpraxen trotz des Wissens um die ausgesprochene Warnung betritt, und im Fall des zweiten Schilds markiert vor allem der sonderbare, unkontextualisierte Hinweis „no sex involving the eyes“ eine ironische Leseweise dieser Regeln durch die ‚kritische Patientin‘.
Abb. 10 und 11: Videostills, operculum, Übergang Teil 1-2 bzw. 2-3.
84 Zu lesen ist zunächst auf Englisch und im Anschluss auf Spanisch: „Due to the nature of cosmetic surgery we ask that no children be brought into this office. Thank you.“ [operculum, Teil 1/2] 85 Zu lesen ist: „After surgery: 1) Keep the eyes cold for the first 24 hrs. 2) If there is a significant loss of vision in one eye 6 hrs or more after the surgery, inform the doctor. If one eyeball is pushed further out of the eye socket more than 1/2 an inch, inform the doctor. 3) Do not sunbathe for the first few month. 4) Light physical activity after 1 week. 5) No sex involving the eyes for two weeks.“ [operculum, Teil 2/3]
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Andere Subjekte Aus der subjektiven Perspektive der Patientin wird in operculum ein aktives, kritisches Eindringen und Verlassen der Institution erzählt. Die Patientin erscheint nicht mehr als passiv-sichtbare körperliche Folie des medizinischen Diskurses, sondern sie ist – umgekehrt – eine über weite Strecken selbst unsichtbar agierende Instanz, welche die Handlung und damit auch die Sichtbarkeit der Schönheitschirurgie vorantreibt. Dabei erhält sie einen emotionalen und intellektuellen Tiefenzug und wird jenseits ihres stereotypen Bildstatus in einen komplex ausgearbeiteten Charakter überführt. Ihr wird – wie von Zane gefordert – eine ambivalente Haltung gegenüber der Schönheitschirurgie genauso zugestanden wie die zuvor einzig der Künstlerin zugeschriebene Kritikfähigkeit und Ironie. Mehr noch: Indem sich die Figur der Patientin gewissermaßen über die essayistische Montage der Künstlerin legt, entzieht sie dieser jene Souveränität eines ‚politischen Außen‘, die ihr zuvor in der essayistischen Argumentation des Videos (und abgesichert durch die zusätzliche Ebene des Erklärungstextes) zugeschrieben wurde. Dies überträgt sich auch auf die BetrachterInnen, die zuvor noch an dieser abgesicherten politischen Wissensposition partizipierten. In der narrativierenden Lektüre der ‚kritischen Patientin‘ ist es stattdessen nötig, sowohl die kritische Diskursmacht als auch die raum-zeitliche Orientierung im Film weitgehend an die Identifikationsfigur der Patientin abzugeben. Dabei müssen die BetrachterInnen – anders als im klassischen narrativen Filmraum, in dem eine scheinbar „all-wahrnehmende“ Blickposition angeboten wird86 – den subjektiven Wendungen der Handlungsträgerin bedingungslos folgen.87 Diese narrative Macht der ‚kritischen Patientin‘ kann im Laufe des Videos auch ins Stocken geraten, insbesondere im statischen Hauptteil von operculum, in dem für zehn Minuten kein Handlungsfortschritt stattfindet und stattdessen das kaum bewegte Bild der passiven Patientin zu sehen ist. Das Aufrechterhalten der narrativierenden Lektüre, in der die repräsentierte Frau zur handelnden Akteurin wird, bedarf hier einer bewussten Anstrengung und Entscheidung der BetrachterInnen. Dies bewirkt aber, dass die relative Macht der ‚anderen Frau‘ als Identifikationsfigur wieder reduziert wird. Gegenüber der aktiven politischen Lektürekonstruktion der Rezeption bleibt die repräsentierte Frau ein formbares Medienelement. Umso wichtiger erscheinen daher jene Stellen des Videos, an denen die Montage der Videosequenzen die Narration der ‚kritischen Patientin‘ nahelegt: die oben genannten Textschilder vor und nach dem Hauptteil sowie der narrative Schlussteil des Videos, der, wie erwähnt, diese Lektüre überhaupt 86 Metz 2000, S. 48. 87 Eine solche radikale Identifikation ist im Hollywoodkino nicht vorgesehen. Heath spricht nur von einzelnen subjektiven Bildern, die eine Markierung im Bild – etwa eine verschwommene Ästhetik – erfordern: „[…] a true subjective image would effectively need to mark its subjectivity in the image itself.“ Heath 1981b, S. 47.
Die essayistische Blindheit erst herausfordert. An diesen Stellen wird durch das Versprechen auf Kontinuität die Lektürebedeutung verselbstständigt; die BetrachterInnen werden als begehrende psychische Subjekte unbewusst in den Erzählraum eingewoben. Dies steht der Illusion einer autonomen politischen Lektürekonstruktion, die den Subjekteffekt der Patientin willentlich steuern kann, jedoch weitgehend entgegen.
Das Lachen der ‚Anderen‘ Berücksichtigt werden muss in diesem Zusammenhang auch der Inhalt der Schlusssequenz. Wie erwähnt, ist hier eine Figur zu sehen, die das Erscheinungsbild ihres Gesichts verändert. Sorgsam überklebt sie zunächst das eine, dann das andere Augenlid mit Maskenelementen, bevor sie eine dunkle KurzhaarPerücke aufsetzt. Das Ergebnis dieser Verwandlung betrachtet sie im Anschluss in einem Spiegel (Abb. 9 und Abb. 12a).
Abb. 12 (a, b, c): Videostills, operculum, Teil 3
Die körperlichen Attribute (dunkle Haare, einfache Augenlider) sowie die Namenszuschreibung Lao Ze, die über der Figur eingeblendet ist (Abb. 12a), ordnen die Figur dabei dem Vorstellungsraum des ‚Asiatischen‘ zu, weshalb sie in der obigen Lektüre mit der Patientin der ersten beiden Teile narrativ verknüpft werden konnte. Zugleich stellt die Tätigkeit der Figur jedoch auch einen deutlichen Kontrast zu den zuvor argumentierten Parametern der Schönheitschirurgie dar. Während in den ersten beiden Teilen die Gewalt der medizinischen Institution gegenüber einem passiven Körper im Vordergrund steht, ist es nun die gefilmte Figur selbst, die ihr Äußeres verändert. Dabei geht sie nicht nur äußerst behutsam vor, sondern sie widersetzt sich auch dezidiert dem zuvor propagierten ‚westlichen‘ Schönheitsideal. Stattdessen strebt sie nun aktiv ein asiatisches Aussehen an, das nicht zuletzt durch die Namenszuschreibung Lao Ze selbst zum klassischen ‚Asien-Stereotyp‘ tendiert. Dass die Figur das zuvor rassistisch abgewertete Körperbild dabei ausdrücklich positiv bewertet, signalisiert sowohl ihr wohlwollendes Lachen über ihr Spiegelbild (Abb. 12b) als auch ein affirmierendes Fingerzeichen, mit dem das Video endet (Abb. 12c).
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Andere Subjekte Mit dieser inhaltlichen Wendung bringt die Schlusssequenz von operculum die klassisch emanzipativen Konzepte der Bürgerrechtsbewegungen der 1970er Jahre auf: Zum einen den selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen Körper im Sinn der Women's-Health-Bewegung88 und zum anderen die Umkehr der rassistischen Bewertungsskala von Schönheit im Sinn der Black-Power-Bewegung.89 In der Argumentationslogik dieser Emanzipationskonzepte hebt auch die Figur der Schlusssequenz die Unterdrückungsmechanismen der Schönheitschirurgie, welche die asiatische Frau zuvor als passives Objekt verfertigten, auf und verkehrt sie in ihr Gegenteil. Potentiell schreibt diese Darstellung – ähnlich wie die genannten Befreiungskonzepte – dabei einen Körperbegriff weiter fort, der die dominanten Vorstellungen einer geschlechtlichen und ethnischen Essenz letztlich unangetastet lässt.90 Für operculum trifft diese Problematik allerdings nur bedingt zu, da der oppositionelle neue Körperbezug der Figur explizit im Rahmen einer Kostümierung stattfindet. Anders als das ‚Natur-Machen‘ der Schönheitschirurgie wird nun die Veränderung des ‚ethnischen Körpers‘ unmissverständlich als ein performativer Akt vorgeführt. Ethnizität wird in ihrer Künstlichkeit und Gemachtheit, als Maskerade, sichtbar. Diese offensive Darstellung des Verkleidens steht Judith Butlers Konzept der Geschlechter-Parodie nahe, das diese in kritischer Erweiterung zum Maskerade-Konzept von Lacan und Joan Rivière
88 Vgl. The Boston Women's Health Book Collective (Hg.): Our bodies, ourselves: a new edition for a new era, New York: Touchstone 2005. 89 Vgl. Carmichael, Stokely u.a.: Black Power: The Politics of Liberation, New York: Vintage 1992. Vgl. dazu auch die Konzepte der Négritude, u.a. Senghor, Léopold Sédar: Négritude und Humanismus, Düsseldorf: Diederichs 1967. 90 So warnen etwa feministische TheoretikerInnen, dass in den Konzepten ‚weiblicher Autonomie‘ auch Vorstellungen einer vermeintlich‚ ursprünglichen Weiblichkeit‘ enthalten sind, welche die dominante Zweigeschlechtlichkeit auf ihre Weise naturalisieren. Vgl. u.a. Butler 1991 sowie Schade 1987. Und auch verschiedene postkoloniale Studien bemerken kritisch, dass die identitätspolitische Aufwertung marginalisierter ethnischer Kategorien die Einteilung essentieller Kategorien von Ethnizität und ‚Rasse‘ unangetastet lässt. Vgl. u.a. Hall, Stuart: Wer braucht Identität?, 2004, S. 167-187; Ha 1999, S. 96, sowie Bhabha 2000. Auch Foucault wendet sich dezidiert gegen die Annahme einer ursprünglichen Subjektivität, wenn er unterstreicht, dass „die Praktiken vom Individuum nicht selbst erfunden werden. Das sind Schemata, die es in seiner Kultur vorfindet, die ihm von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner sozialen Gruppe vorgeschlagen, nahegelegt und aufgezwungen werden.“ Foucault, Michel: „Freiheit und Selbstsorge. Gespräch mit Michel Foucault am 20. Januar 1984“, in: Becker, Helmut u.a. (Hg), Interview 1984 und Vorlesung 1982, Frankfurt a. M.: Materialis [1985] 1993, S. 19.
Die essayistische Blindheit entwickelte.91 Wie Butler unterstreicht, kann die parodistische Performance nicht nur oberflächliche Zugehörigkeiten verwirren, sondern auch biologische Begründungen von (Geschlechter-)Identität in eine ironisch-kritische Distanz bringen.92 Im Sinn dieser Überlegung kann auch für operculum festgehalten werden, dass die sich spielerisch verkleidende Figur eine ironische Distanz zu den rassistischen und sexistischen Parametern und Mechanismen der Schönheitschirurgie herstellt. Ihr wohlwollendes Lachen über ihre Maskerade wird auf diese Weise zu einem Ver-Lachen der Institution, die in ihrer parodistischoppositionellen Inszenierung keinen machtvollen Platz mehr hat. Dieses ironisch-subversive Potential der Schlusssequenz wird erst durch ihre kontrastive Verknüpfung mit den ersten beiden Teilen des Videos möglich. Es ist also wesentlich der Montage und damit der Aktivität der Künstlerin geschuldet, die diese Kontrastsetzung herstellte. Damit scheint Trans essayistische Argumentation letztlich doch Zanes Forderung nach der Ermöglichung einer widerständig-hybriden Patientinnenposition zu erfüllen. Die parodistische ‚Patientinnen-Figur‘ und die durch die Montage argumentierende Künstlerin fallen damit in einer gemeinsamen politisch-ironischen Subjektposition zusammen, an der auch die BetrachterInnen mit ihrer Lektüre der ‚kritischen Patientin‘ partizipieren können. Es scheint, als etablierte sich letztlich doch eine politische Gemeinschaft zwischen BetrachterInnen, Künstlerin und repräsentierter Figur, die sich in einer ironisch-kritischen Oppositionshaltung gegen die Schönheitschirurgie treffen. Bedeutet dies, dass die zuvor genannten problematischen Strukturen der dokumentarischen Videoteile rückwirkend aufgehoben werden? Die Möglichkeit des versöhnlichen Miteinander-Lachens in der Schlusssequenz scheint dies zu suggerieren. Ein Detail der Schlusssequenz bringt jedoch noch eine Wendung, die einen solchen versöhnlichen Schluss erheblich irritiert. In der allerletzten Einstellung wird aus Perspektive der filmischen Figur gezeigt, was genau sich im Spiegel abbildet und sie zum Lachen brachte: Es ist nicht, wie zunächst angenommen, ihr eigenes Spiegelbild, sondern eine Portraitaufnahme des Kung-Fu-Darstellers Bruce Lee, dessen Körperbild sie offensichtlich in der vorangegangenen Maskerade imitierte. In der Narrationslogik der Sequenz scheint sich dabei ihr wohlwollendes Lachen auf ihre gelungene Maskerade zu beziehen. Für die BetrachterInnen stellt der Sprung vom erwarteten Spiegelbild zur tatsächlichen Fotografie jedoch eine Überraschung und ein Irritationsmoment dar. Der Spie91 Butler 1991, S. 75-93. Butler kritisiert an diesen älteren Konzepten vor allem, dass sie die dominanten symbolischen Strukturen, welche die Maskerade antreiben, unhinterfragt lassen. 92 Ebd., 190-208. Vgl. im postkolonialen Zusammenhang auch Bhabhas Konzept der Mimikry. Bhabha 2000, S. 125-136.
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Andere Subjekte gel, der eigentlich die Körpereinheit der Figur bestätigen sollte,93 wird zum Objekt der Täuschung bzw. Enttäuschung. Dies wird noch dadurch gesteigert, dass die Spiegelfläche in der unmittelbar davor gezeigten Einstellung dezidiert sichtbar ist, d.h. der Spiegel als echter Spiegel vorgeführt wird (Abb. 13). Dabei ist er allerdings nicht auf die Figur im Video gerichtet, sondern zeigt in entgegengesetzte Richtung in den Raum der Rezeption. Die glänzende Oberfläche des Spiegels blinkt gleichsam in Richtung der BetrachterInnen, wie ein Versprechen auf das vermeintlich in Folge sichtbare Spiegelbild der Figur. Dass im Anschluss eben dieses Versprechen nicht eingelöst wird, sondern das Bildnis von Bruce Lee erscheint, aktiviert die ‚falsche‘ Spiegelseite dabei nachträglich in einem reflexiven Sinn für die BetrachterInnen. Im narrativen Nicht-Spiegel-Bild scheint die ‚kritische Patientin‘ den BetrachterInnen buchstäblich den Spiegel vorzuhalten (Abb. 14 a, 14 b).94 Die unmögliche Reflektion des Nicht-Spiegel-Bildes konfrontiert die RezipientInnen mit ihrer besonderen Rolle in der Bedeutungsproduktion des Videos: Das ‚falsche‘ Bildnis von Bruce Lee zeigt an, dass die Lektüre bis zuletzt von einem einheitlichen, ganzen Körper der repräsentierten Figur ausgegangen ist, dessen Kohärenz sich wesentlich über den kontinuierlichen Bezug auf Ethnizität (‚das Asiatisch-Sein‘), aber auch in Bezug auf das Geschlecht der scheinbar ‚offensichtlich weiblichen‘ Patientin herstellte. Diese Zuschreibung war die unbefragte Voraussetzung für die Verknüpfung der Schlusssequenz mit den ersten beiden Videoteilen in der Lektüre-Figur der ‚kritischen Patientin‘. Dass ausgerechnet der Schauspieler Bruce Lee – ein international bekanntes Kampfsport-Idol – im vermeintlichen Spiegel erscheint, ist dabei von besonderer Bedeutung: Zum einen steigert seine Berühmtheit als Medienfigur die Künstlichkeit der parodistischen Darstellung, was die Vorstellung natürlicher Ethnizität ins Wanken bringt. Und zum anderen führt seine in den Filmen vermittelte Hyper-Männlichkeit die angenommene eindeutige Geschlechtszuschreibung der ‚anderen Frau‘ ad absurdum.
93 Vgl. dazu auch Lacan, Jacques: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion“, in: ders., Schriften I [1949], Freiburg/Br.: Olten 1973, S. 61-70. 94 Ein vergleichbares reflexives Moment beschreibt Heath anhand des Films Death by Hanging (Oshima Nagisa, 1968, 117 min.): In diesem Beispiel ist es – ebenfalls am Schluss des Films – der Blick einer Katze, der, wie Heath ausführt, die narrativ unmögliche Kamera spürbar macht und auf die filmischnarrative Positionierung des ZuschauerInnensubjekts verweist: „[…] the cat gazes off into the camera, to something never seen, abruptly absent. […] Thus pulled, thus framed, the cat says something important that has been the whole insistence here: events take place, a place for some one, and the need is to pose the question of that ‚one‘ and its narrative terms of film space.“ Heath 1981b, S. 68f.
Die essayistische Blindheit
Abb. 13 (a, b, c): Videostills, operculum, Teil 3.
Abb. 14 (a, b): Videostill, operculum, Teil 3 und Detail.
Unter diesen Bedingungen wendet sich die ironische Distanzierung der Maskerade nicht mehr allein gegen die medizinische Institution, sondern auch gegen die BetrachterInnen selbst. Das Lachen der Figur scheint sich auch auf ihre Überraschtheit und Enttäuschung angesichts des ‚unechten Spiegelbilds‘ sowie auf die vorausgegangenen Lektüreannahmen der ‚anderen Frau‘ zu beziehen. Dies erschwert die Vorstellung eines oppositionellen Miteinanders, das sich zuvor als gemeinsames Verlachen der Institution artikulierte. Das Lachen der ‚Anderen‘ wendet sich letztlich in einem doppelt emanzipativen Akt sowohl gegen die Dominanzverhältnisse der Schönheitschirurgie als auch gegen die politisch-identifikatorische Umklammerung durch die BetrachterInnen des Videoessays. Obwohl dieses Lachen den Höhepunkt sowohl der Fiktionalität der Figur als auch der Medien-Reflexivität des Videos darstellt, ist es damit paradoxerweise gleichzeitig auch das Moment, an dem die Figur das Video als ‚reale‘ historische Akteurin zu transzendieren scheint. In seinem Text Representing the Body (1991) beschreibt Bill Nichols diesen Effekt im Kontext des Dokumentarischen als „magnitude“.95 Diese trete im Moment einer Krise in Kraft, im Zusammentreffen gegenläufiger filmischer Konventionen, „when the balance of person, character, and icon is put to the test“.96 Dabei entstehe eine Spannung zwischen
95 Nichols 1991, S. 229. 96 Ebd., S. 262.
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Andere Subjekte Repräsentation und Repräsentiertem, die es ermögliche, den dargestellten Körper als einen Effekt der Rezeption gleichsam zu ‚verlebendigen‘: „The magnitudes opened up by a text are not merely a matter of naming something of profound importance but, more tellingly, of situating the reader in a position where these magnitudes receive subjective intensity.“97
In der letzten Einstellung von operculum wird das Lachen zu einem solchen Krisenmoment, in dem die lachende Figur – durch unsere Wahrnehmung – ihren relativ unabhängigen Subjektstatus artikuliert. Im ‚realen‘ körperlichen Akt des Lachens der fiktiven Figur emanzipiert sich diese von ihrer Fiktionalität genauso wie von ihrer dokumentarischen Indexikalität und erscheint jenseits ihrer medialen Bedingtheit als „person [that] acts as agent in history“.98 Wie Nichols weiter formuliert, liegt gerade darin das politische Potential der Rezeption begründet: „These questions move us toward a politics of phenomenology, a recognition of the priority of experience not as a structure to bracket and describe but as the social ground or foundation for actual praxis.“99
Das ‚Politische‘ ist weder im Willen der BetrachterIn noch im intentionalen Anspruch der Künstlerin noch im Handeln der repräsentierten Person angesiedelt. Es wird in den pragmatischen ‚sozialen‘ Bewegungen zwischen diesen Instanzen möglich, die beständig zusammen-, auseinander- und gegeneinanderlaufen und durch die sich die verschiedenen Instanzen des Videos als handelnde Subjekte konstituieren und destabilisieren. Obwohl dies dem gesamten Video als Potential inhärent ist, kulminiert es in der ambivalenten Konstellation des reflexiven Lachens der ‚Anderen‘. In diesem performativen Akt spannt sich der politische Raum von operculum als ein gemeinsamer, wenngleich unversöhnter auf.
97 Ebd., S. 232 98 Ebd., S. 263. 99 Ebd., S. 232. Herv. im Orig.
6. Politische Rezeption und die Position der ‚Anderen‘
„Vom platonischen Philosophenkönig bis hin zum Begriff des Proletariats als der ‚universellen Klasse‘ haben wir es mit einer ganzen Richtung in der politischen Theorie zu tun, die die Legitimität von Macht auf eine privilegierte epistemologische Stelle zu gründen versucht. Unserer Auffassung nach jedoch beginnt wirkliche Demokratie erst dann, wenn diese Verbindung aufgebrochen wird, das heißt, wenn die rein konstruierte Natur sozialer Verhältnisse ihre Ergänzung in den rein pragmatischen Gründen der Ansprüche auf Machtlegitimität findet.“1
Die vorangegangene Auseinandersetzung mit dokumentarischen Arbeiten im Kunstfeld kreiste auf unterschiedliche Weise um einen zentralen Problempunkt: um die ungeklärte politische Bedeutung von Darstellungen marginalisierter Personen. Wie gezeigt wurde, kommt den dokumentarischen Arbeiten zwar insofern emanzipatorisches Potential zu, als sie gesellschaftlich ausgeklammerte Themenbereiche sichtbar und verhandelbar machen, doch dieses Potential kann nicht einfach in einen politischen ‚Gehalt‘ der Werke überführt werden. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass die dokumentarische Sichtbarkeit der ‚Anderen‘ auch potentiell deren prekäre, sozial abgewertete Situation festschreibt und sie auf medialer Ebene erneut objektiviert. Diese grundlegende Ambivalenz der Repräsentationen wird im Kunstkontext jedoch häufig durch Konzepte ‚politischer Kunst‘, die bestimmten Formentscheidungen eine ‚richtige‘ politische Wirkung zusprechen, verdrängt. Dabei wird das Problem des Politischen aber nur aufschoben und wirkt – der kritischen Bearbeitung entzogen – weiter fort. Ein idealisierter Begriff ‚politischer Kunst‘ erweist sich
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Laclau/Mouffe 2006, S. 28.
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Andere Subjekte somit als ungeeignet und – mehr noch – als kontraproduktiv. Denn er zieht letztlich eine weitere Differenzierungsebene ein: die Unterscheidung zwischen einer scheinbar ideal-emanzipatorischen Elite des Kunstbereichs und dem vermeintlich uninformierten, weiterhin in sozialen Machtverhältnissen verhafteten ‚Rest‘, zu dem neben dem ‚normalen‘ Publikum auch die dokumentarisch repräsentierten ‚Anderen‘ zählen, auf deren vermeintlich authentischer Alterität sich die idealisierte ‚Politik‘ der Kunst gründet. Vor diesem Problemhintergrund entwickelte die Studie einen alternativen Ansatz im Umgang mit dokumentarischen Repräsentationen. Unter Zuhilfenahme der Hegemonietheorie nach Laclau/Mouffe sowie der Lacan'schen Psychoanalyse wurde ein methodisch-theoretischer Rahmen entwickelt, der Politik als eine pragmatisch-begehrende Tätigkeit begreift, die von verschiedenen Seiten limitiert und durchkreuzt wird. Übertragen auf den Bereich des Medialen bedeutet dies, dass neben dem Produktionsbereich auch dem Rezeptionsbereich eine konstitutive, politische Rolle bei der Herstellung von Bedeutung zukommt. Dabei ist die Rezeption (genauso wie die Produktion) als eine begehrende, in sich gespaltene Instanz zu denken, die in antagonistischen Relationen zu anderen Ebenen der Repräsentation steht. In den Vordergrund rückt damit die unhintergehbare Relationalität und Vorläufigkeit politischer Subjektpositionen. Diese Subjektivität betrifft allerdings nicht nur die klassischen Akteure der Produktion und Rezeption (die keineswegs als geschlossene, apriorische Subjekt-Entitäten zu denken sind), sondern auch unterschiedlichste Bildelemente, die – insofern sie in das pragmatische, antagonistische Beziehungsnetz der Repräsentationen eingebunden sind – ebenfalls Subjektstatus erlangen können. Im Fall der in der Studie untersuchten dokumentarischen Medienkunst sind die begehrten und umstrittenen repräsentierten ‚Anderen‘ ein solches Element. Ihre antagonistische Subjektivität gründet dabei gerade darin, den von Produktions- und Rezeptionsseite an sie gerichteten Subjektivitätsanspruch (das Subjecting) auf unterschiedliche Weise zu durchkreuzen. Vor diesem Hintergrund konnte für die dokumentarischen Repräsentationen ein heuristisches Modell entworfen werden, das die drei zentralen Knotenpunkte – ProduzentInnen, RezipientInnen und repräsentierte ‚Andere‘ – in einem antagonistischen Dreiecksverhältnis darstellt, in dem sich diese permanent als Subjekte konstituieren und subvertieren. Das Modell des dokumentarischen Dreiecks skizziert allerdings nur eine abstrakte Grundstruktur, die keine konkreten Aussagen über die tatsächlichen Machtbeziehungen in einer Arbeit bereitstellt. Erst in der konkreten Rezeptionspraxis realisieren sich die hegemonialen Machtdynamiken auf jeweils spezifische Art und Weise bzw. werden als vorläufige Machtkonstellationen manifest. Dieser Umstand unterstreicht erneut die bedeutungskonstitutive, politische Rolle der Rezeption und zeigt,
Politische Rezeption und die Position der ‚Anderen‘ dass Aussagen über visuelle Medien niemals objektiv oder ‚politisch richtig‘ sein können. Jede Form der Auseinandersetzung mit Repräsentationen geht von einem kontingenten sozialen Standpunkt aus und ist begehrend-hegemonial auf sie gerichtet, ohne sie gänzlich erfassen oder kontrollieren zu können. Diese Einsicht bedeutete auch für die vorliegende Untersuchung, im zweiten Teil der Publikation selbst in die politische Lektürepraxis einzusteigen, um gleichsam performativ konkrete Machtrelationen in Gang zu bringen. Umgesetzt wurde dies anhand von drei Analysebeispielen (die Video- bzw. Filmarbeiten Hot Water, The White Station und operculum), denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet wurde. Unter Verwendung verschiedener (vor allem feministischer und postkolonialer) Theoriekonzepte wurden in Bezug auf die jeweiligen Arbeiten mehrere pragmatisch-politische Lektüreperspektiven entwickelt und miteinander in Konflikt gebracht. Durch dieses Zusammenführen heterogener Perspektiven konnten nicht nur die kontingenten Wirkungsweisen verschiedener Rezeptionspolitiken praktisch nachvollziehbar gemacht werden, sondern zugleich konnten auch die antagonistischen Machtpositionen der jeweils eigenen Rezeptionstätigkeit aus kritischer Distanz betrachtet und analysiert werden. Diese doppelte, involvierte und kritisch-distanzierte Lektürehaltung ermöglicht die selbst-reflexive Ausrichtung der Studie, die anerkennt, dass die politische Positionierung der eigenen Rezeption stets durch die Position der ‚Anderen‘ in Frage gestellt werden kann. Politische Rezeption kann aus dieser Perspektive nicht mehr bedeuten, auf pastorale Weise eine scheinbar objektive Otherness festzustellen, sondern sich in Relation zu den repräsentierten ‚Anderen‘ der eigenen Verantwortung bei der Herstellung von Differenz und politischer Gemeinschaft zu stellen. Damit folgen die Videolektüren im Wesentlichen dem Konzept der ‚radikalen Demokratie‘ nach Laclau/Mouffe, dessen Ziel es ist, totalitäre Machtansprüche aufzubrechen und zu irritieren, indem latente und manifeste Antagonismen forciert werden.2 Ein mit diesem politik-theoretischen Konzept durchaus vergleichbarer, in den vorangegangenen Kapiteln jedoch nicht methodologisch eingeführter Ansatz ist Jacques Rancières Konzept des Politischen. In seinem Buch Das Unvernehmen (1995) beschreibt Rancière Politik als einen Prozess, bei dem etablierte Machtordnungen durch den ‚Skandal‘ eines paradoxen ‚Anteils der Anteillosen‘ verändert werden. Rancière spricht auch von der „Verrechnung“3, die dieses Paradox in der Logik einer bestehenden Machtordnung darstellt. Er vermerkt: 2 3
Ebd., S. 189-238. Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, [1995] 2002, S. 19. Rancières Begriff der Verrechnung trifft sich hier im Wesentlichen mit dem Moment des Verfehlens der Psychoanalyse sowie mit dem hegemonietheoretischen Begriff des Antagonismus.
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Andere Subjekte „Politik existiert, wenn die natürliche Ordnung der Herrschaft unterbrochen ist durch die Einrichtung eines Anteils der Anteillosen. Diese Einrichtung ist das Ganze der Politik als spezifische Bindungsform. Sie definiert das Gemeinsame der Gemeinschaft als politische Gemeinschaft, das heißt als geteilte, auf einem Unrecht gegründet, das der Arithmetik des Tausches und der Verteilung entwischt.“4
Im Sinn eines solchen, auf kontingente Weise (neu-)geordneten Gemeinschaftsbereichs ist auch Rancières Begriff der ‚Aufteilung des Sinnlichen‘ zu verstehen. Diesen definiert er in seinem gleichnamigen Essayband folgendermaßen: „Eine Aufteilung des Sinnlichen legt sowohl ein Gemeinsames, das geteilt wird, fest als auch Teile, die exklusiv bleiben. […] Eine Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar, wer, je nachdem, was er tut, und je nach Zeit und Raum, in denen er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann.“5
Das ‚Sinnliche‘ beschreibt in diesem Konzept keine unmittelbare Authentizität (etwa der Kunst oder des Dokumentarischen), sondern das Potential des Medialen, verschiedene Subjektinstanzen miteinander zu verbinden. Zugleich macht der Begriff der ‚Aufteilung‘ deutlich, dass diese Verbindung nicht als problemlose Äquivalenz zu denken ist, sondern dass die einzelnen Instanzen jeweils spezifisch am ‚Gemeinsamen‘ der Repräsentationen teilhaben. Rancières Ansatz entspricht damit weitgehend dem Dreiecksmodell der Studie, das zeigt, dass zwischen ProduzentInnen, Repräsentierten und BetrachterInnen immer wieder ‚(Neu-)Aufteilungen des Sinnlichen‘ möglich sind. Wie bereits erwähnt, wurden Rancières Theorien nicht für die Erarbeitung des methodisch-theoretischen Ansatzes der Studie verwendet. Dies liegt vor allem daran, dass seine Texte kaum bzw. nur implizit die Verknüpfung von (politischem) Handeln mit Macht thematisieren. Eine systematische Darstellung dieses Zusammenhangs erwies sich aber als unabdingbar, um die Lektürepraxis als einen Prozess zu bestimmen, der grundlegend – d.h. auch auf der Ebene des Subjekts – in relationale Machtdynamiken eingebunden ist. Aus diesem Grund wurden in der Studie vor allem die Hegemonietheorie und die Psychoanalyse zur Erarbeitung des methodologischen Rahmens herangezogen bzw. in den konkreten Analysen die verschiedenen ideologiekritischen Positionen des Feminismus und Postkolonialismus genutzt.
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Ebd., S. 24. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books [2000] 2006, S. 25.
Politische Rezeption und die Position der ‚Anderen‘ An dieser Stelle soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Rancières Begriff des ‚Anteils der Anteillosen‘ in Bezug auf den Gegenstand der Studie durchaus treffend ist. Denn er erfasst präzise den besonderen Status der dokumentarisch repräsentierten ‚Anderen‘, die zwar als begehrte Subjekte in den Arbeiten anwesend sind, deren angestrebter Subjektstatus aber durch die Repräsentationen auch grundlegend verfehlt wird. In dieser widersprüchlichen Gleichzeitigkeit liegt das politische Potential der begehrten/unmöglichen ‚anderen Subjekte‘: Gerade weil die Repräsentierten im prekären Status als Anteillose in der Kunst wahrgenommen werden, haben sie Anteil am umstrittenen Diskursraum der Kunst. Vermittelt durch Lektüren, die sich dem Begehren nach den ‚anderen Subjekten‘ stellen, ist es letztlich der ambivalente, beunruhigende Subjektstatus der ‚Anderen‘, der formalistische Konzepte ‚politischer Kunst‘ in die Grenzen weist und nicht aufhört, immer wieder neue Arten der begehrenden Auseinandersetzung herauszufordern. Die Verrechnung des ‚Anteils der Anteillosen‘ bildet damit die Grundlage, auf der die vorliegende Studie das Konzept einer selbst-reflexiven politischen Rezeptionspraxis entwickelte und in den mehrstufigen Video- und Filmlektüren praktisch nachvollziehbar machte. Das Konzept der Politik der Rezeption legt, wie der Name schon sagt, den Fokus auf die Rezeptionsseite des Medialen. Diese Fokussierung ist jedoch keineswegs zwingend. Dass es keine natürliche Privilegierung einer politischen Instanz geben kann, unterstreicht bereits das Modell des hegemonialen Dreiecks, das alle drei dokumentarischen Instanzen gleichberechtigt miteinander verbindet. Die zentrale Stellung der Rezeptionsinstanz in den vorangegangenen Kapiteln ist folglich eine bewusste, d.h. politische Entscheidung. Dies bedeutet nicht, dass die Schwerpunktsetzung beliebig gewählt wäre. Sie basiert vielmehr auf zwei konkreten Wahrnehmungen: Zum einen der Umstand, dass die kunstwissenschaftliche Untersuchung auch selbst aus einer nachträglichen Rezeptionsperspektive in Bezug auf den untersuchten Gegenstand operiert, d.h. als Rezeption radikal in ihr Untersuchungsfeld involviert ist.6 Auf diese Dimension macht nicht zuletzt die pragmatische Ausrichtung des hegemonietheoretischen Politikbegriffs aufmerksam, der – wie zuvor dargelegt – in seinen je spezifischen, vorläufigen Artikulationsformen auch selbst nur innerhalb konkreter Rezeptionspraxen erfasst werden kann. Der privilegierte Stellenwert der Rezeptionstätigkeit ist in der kunstwissenschaftlichen Studie also buchstäblich pragmatisch begründet. Oder anders ausgedrückt: Auch die Tätigkeiten der Produktion können in wis-
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Das Verfassen einer wissenschaftlichen Studie ist allerdings immer auch eine Produktion, die im Fall der vorliegenden Untersuchung insofern eine besondere Form annimmt, als sie wesentlich auf den Nachvollzug beschriebener Rezeptionsprozesse abzielt.
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Andere Subjekte senschaftlichen Untersuchungen nur aus Perspektive der Rezeption beschrieben werden, weshalb diese Beschreibungen unabdingbar auf die konkreten, relationalen Rezeptionspolitiken der Studie zurückverweisen.7 Die vorliegende Publikation stellt genau diese unumgehbare (wenngleich häufig ausgeblendete) Dynamik kunstwissenschaftlicher Forschung in den Vordergrund. Hier klingt bereits der zweite Grund für die Fokussierung auf die Rezeptionsebene an: die vielfach festgestellte Problematik, dass in diversen Medienfeldern – und insbesondere im Kunstkontext – immer noch die Rezeptionsseite zugunsten der mit idealisierten Begriffen des Künstlerischen assoziierten Produktionsseite vernachlässigt wird. Den KünstlerInnen, FilmemacherInnen, FotografInnen, JournalistInnen etc. werden überhöhte, personalisierte Fähigkeiten der Bedeutungsproduktion zugesprochen, die sich im Fall der dokumentarischen Medienkunst meist mit dem Eindruck unmittelbarer sozialer Dringlichkeit verbinden. Wie in der Studie gezeigt wurde, resultiert diese Verknüpfung in der problematischen Vorstellung eines künstlerisch intendierten, politischen ‚Gehalts‘ der Kunst. Vor diesem Hintergrund versteht sich die perspektivische Zuspitzung auf das Konzept einer relationalen Politik der Rezeption sowohl als Kritik als auch als strategische Gegenreaktion zum produktionsorientierten (Politik-)Diskurs der Kunst – ohne jedoch der (künstlerischen) Produktion politische Verantwortung absprechen zu wollen. Das Konzept der politischen Rezeption wurde in der Studie mit Blick auf einen genau definierten Gegenstandsbereich entwickelt: Repräsentationen subalterner Personen in der dokumentarischen Medienkunst. Dieser Bereich forderte aufgrund seiner hohen politischen Aufladung in besonderem Maße das Nachdenken über Fragen des Politischen bzw. die politische Praxis der Rezeption heraus und beeinflusste dabei die Art und Weise, wie in der Studie politische Rezeption gedacht und praktiziert wurde. Die prinzipielle Ausrichtung der Studie – ihr anti-essentialistischer Politikbegriff und seine Anwendung in der Rezeptionspraxis – ist jedoch durchaus auch auf andere Medienbereiche übertragbar und kann/soll in diesen auch weitergeführt werden. Mit diesem methodologischen Anspruch ist die Untersuchung auch dem Unternehmen einer kritischen Ikonologie verpflichtet, wie sie Sigrid Schade und Silke Wenk in semiologischer Erweiterung von Erwin Panofskys dreigliedrigem Analysemodell entwerfen.8 Dieser Anspruch darf jedoch – wie Schade/Wenk u.a. mit Blick auf
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Die praktische Politik der (künstlerischen) Produktion findet hingegen auf eine anderen Ebene statt: auf der Ebene der konkreten Herstellung von Medienproduktionen und ihrer begehrenden Bezugnahme auf eine imaginäre Rezeptionsinstanz. Schade, Sigrid; Wenk, Silke: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld: transcript 2011, S. 65-82.
Politische Rezeption und die Position der ‚Anderen‘ Mieke Bals Konzeptbegriff unterstreichen – keineswegs als Gebrauchsanleitung missverstanden werden, die schematisch auf beliebige Gegenstände anwendbar wäre, sondern die methodologischen Konzepte müssen immer wieder im Austausch von angewandten Theorien und untersuchtem Gegenstand entwickelt werden.9 In diesem Sinn will die vorliegende Arbeit kein methodisches ‚Rezept‘ für eine ‚richtige‘ politische Rezeptionsweise dokumentarischer Kunst anbieten. Stattdessen zeigt sie durch die Praxis ihrer Lektüren konkreten Möglichkeiten auf, wie sich die vielschichtige, antagonistische Rezeptionstätigkeit in Relation zu anderen hegemonialen Instanzen des Dokumentarischen und der Kunst entfalten kann. Die Studie versteht sich damit in erster Linie als Aufforderung, sich der hegemonialen Relationalität der eigenen politisch-begehrenden Wahrnehmungs- und Analysetätigkeit bewusst zu werden bzw. zu bleiben. Im Fall der vorliegenden Publikation ermöglichten die speziellen Arbeitsbedingungen einer wissenschaftlichen Arbeit eine besonders große Ausführlichkeit der Analyse. Dies bedeutet allerdings nicht, dass ein hegemoniekritischer, selbst-reflexiver Rezeptionsmodus ausschließlich auf diesen Handlungsraum limitiert wäre oder nur in der dargelegten Breite und Tiefe stattfinden kann. Vergleichbare politische Lektüremodi sind auch in kleinerem Umfang und jenseits wissenschaftlicher Arbeitsräume – etwa im Museum, im Kino oder beim alltäglichen Medienkonsum – möglich bzw. werden in diesen Kontexten auch auf unterschiedliche Weise realisiert. Dies betrifft auch Rezeptionssituationen, in denen mehrere BetrachterInnen zusammen kommen. Diese dialogischen Situationen scheinen sich sogar besonders für die Umsetzung des erarbeiteten Rezeptionsbegriffs anzubieten, da hier die politische und hegemoniale (Multi-)Perspektivität der jeweiligen Positionen sowie ihre Verschiebungen im Austausch mit den Werken besonders deutlich sichtbar werden können. Die Publikation bietet damit auch Anknüpfungspunkte an das Arbeitsfeld der Kunstvermittlung, die ein Nachdenken darüber provozieren, wie emanzipative und selbst-reflexive Modi gelenkter und/oder kollektiv erarbeiteter Auseinandersetzung mit Kunst konzipiert werden können.10 Mit dem Konzept der Politik der Rezeption will die Publikation dazu anregen, sich etwaigen Unklarheiten oder Unbehaglichkeiten gegenüber visuellen 9
Ebd., S. 65-68. Vgl. auch Bal 2007, S. 1-11; sowie die Diskussion von Bals Konzeptbegriff in Kapitel 2 der vorliegenden Studie. 10 Dabei müssen auch die relationale Position der VermittlerIn zwischen Institution, Kunstwerken und Publikum berücksichtigt werden, wodurch sich die Komplexität der zu behandelnden Machtverhältnisse weiter erhöht. Vgl. dazu auch die aufschlussreichen Berichte und Analysen in: Mörsch, Carmen und das Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung: Kunstvermittlung 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts, Zürich/Berlin: Diaphanes 2009.
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Andere Subjekte Zusammenhängen stellen und dem eigenen Begehren genauso wie den sich einstellenden Widerständen kritisch nachzugehen. Gerade im Kunstkontext, in dem nach wie vor die Fetischisierung künstlerischer Bedeutung wirkungsvoll praktiziert wird, bedeutet dies für die RezipientInnen nicht nur eine Verunsicherung und Destabilisierung, sondern auch einen Akt der Emanzipation. Eine politische und selbst-reflexive Rezeptionspraxis fordert ihre verantwortungsvolle Rolle im Streit um die politische Bedeutung visueller Medien ein, ohne die Schwierigkeiten, die dieses Tun beinhaltet, zu verdrängen.
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Abbildungen
Kapitel 2 Abb. 1: Skizze nach Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse [1964]. Das Seminar Buch XI, Weinheim/Berlin: Quadriga 1996, S. 97. Abb. 2, 3: Skizze nach Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse [1964]. Das Seminar Buch XI, Weinheim/Berlin: Quadriga 1996, S. 112. Abb. 4: Skizze der dokumentarischen Dreieckstruktur, Angelika Bartl
Kapitel 3 Abb. 1-4, 6-9, 11, 16, 17: Alejandra Riera, Hot Water – de l'eau chaude, 2001, 32 min.; Quelle: Archiv maquettes-sans-qualité, Alejandra Riera. Abb. 5: Jacques Willemont, La reprise aux usines Wonder, 1968, 10 min.; Quelle: www.thealit.de/lab/streik_academy/pages/projekte.php (Stand: Mai: 2010). Abb. 10: Women's Caucus San Francisco Newsreel, The Woman's Film, 1971, 40 min.; Quelle: www.twn.org/catalog/previewwin/gvwin.aspx?pid=17 (Stand: Mai 2010) Abb. 12, 15: Work on Strike/travail en grève, Fundació Antoni Tàpies, Barcelona, 2004/2005; Quelle: Archiv Fundació Antoni Tàpies; Fotos: Lluis Bover. Abb. 13: Work on Strike/travail en grève, Fundació Antoni Tàpies, Barcelona, 2004/2005; Quelle: Archiv Fundació Antoni Tàpies; Foto: Marc Coromina. Abb. 14: The Family of Man, Museum of Modern Art, New York, 1955; Quelle: Staniszewski, Mary Anne: The Power of Display. A History of Exhibition Installations at the Museum of Modern Art, Cambridge, MA.: MIT Press 1998, S. 244.
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Andere Subjekte
Kapitel 4 Abb. 1-6, 10, 11: Videostills aus: Seifollah Samadian, The White Station, 1999, 9 min. Abb. 7: Caspar David Friedrich, Der Wanderer über dem Nebelmeer, Öl auf Leinwand, 1817/1818, 98 × 74 cm; Quelle: Hofmann, Werner: Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrnehmung, München: Beck 2000, S. 11 Abb. 8: Samuel Beckett, Quadrat I, 1981, 15 min.; Quelle: Samuel Beckett, Bruce Nauman, Ausst.-Kat., Kunsthalle Wien, 2000, S. 168. Abb. 9: Albrecht Dürer, Der Zeichner des liegenden Weibes, Holzschnitt, 1525, 7,5 × 21,5 cm; Quelle: Albrecht Dürer. Master Printmaker, Ausst.-Kat., Museum of Fine Arts, Boston, MA 1971, S. 276.
Kapitel 5 Abb. 1-4, 7, 9-14: Videostills aus: Tran T. Kim Trang, operculum, 1993, 14 min. Abb. 5: Karel van Mander, Hydaspes und Persina vor dem Bild der Andromeda, Öl auf Leinwand, 1640, 271 × 134 cm; Original in Farbe; Quelle: Below, Irene; Bismarck, Beatrice von (Hg.): Globalisierung/Hierarchisierung. Kulturelle Dominanzen in Kunst und Kunstgeschichte, Marburg: Jonas 2005, S. 26. Abb. 6: Orlan, 9ème Opération Chirurgicale-Performance, 1993; Original in Farbe; Quelle: www.orlan.net/9eope.php (Stand: Mai 2010). Abb. 8: Günther Wallraff, Ali Levent Sinirlioglu; Quelle: www.guenter-wallraff. com/ (Stand: Mai 2010).
Studien zur visuellen Kultur Angelika Bartl, Josch Hoenes, Patricia Mühr, Kea Wienand (Hg.) Sehen – Macht – Wissen ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung 2011, 216 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1467-1
Antke Engel Bilder von Sexualität und Ökonomie Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus 2009, 258 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-915-2
Claudia Mareis Design als Wissenskultur Interferenzen zwischen Designund Wissensdiskursen seit 1960 2011, 450 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1588-3
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Studien zur visuellen Kultur Sigrid Schade, Silke Wenk Studien zur visuellen Kultur Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld 2011, 232 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-990-9
Philipp Weiss Körper in Form Bildwelten moderner Körperkunst 2010, 274 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1550-0
Anja Zimmermann Ästhetik der Objektivität Genese und Funktion eines wissenschaftlichen und künstlerischen Stils im 19. Jahrhundert 2009, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-860-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Studien zur visuellen Kultur Sigrid Adorf Operation Video Eine Technik des Nahsehens und ihr spezifisches Subjekt: die Videokünstlerin der 1970er Jahre 2008, 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-89942-797-4
Kerstin Brandes Fotografie und »Identität« Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre 2010, 288 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1586-9
Silke Büttner Die Körper verweben Sinnproduktion in der französischen Bildhauerei des 12. Jahrhunderts 2010, 374 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1544-9
Kathrin Heinz Heldische Konstruktionen Von Wassily Kandinskys Reitern, Rittern und heiligem Georg September 2012, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1944-7
Marion Hövelmeyer Pandoras Büchse Konfigurationen von Körper und Kreativität. Dekonstruktionsanalysen zur Art-Brut-Künstlerin Ursula Schultze-Bluhm 2007, 284 Seiten, kart., zahlr. Abb., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-633-5
Jennifer John, Sigrid Schade (Hg.) Grenzgänge zwischen den Künsten Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen 2008, 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-967-1
Renate Lorenz Aufwändige Durchquerungen Subjektivität als sexuelle Arbeit 2009, 236 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1196-0
Tanja Maier Gender und Fernsehen Perspektiven einer kritischen Medienwissenschaft 2007, 280 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-689-2
Barbara Paul, Johanna Schaffer (Hg.) Mehr(wert) queer – Queer Added (Value) Visuelle Kultur, Kunst und Gender-Politiken – Visual Culture, Art, and Gender Politics 2009, 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1057-4
Johanna Schaffer Ambivalenzen der Sichtbarkeit Über die visuellen Strukturen der Anerkennung 2008, 200 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-993-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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