Ambulante Poesie: Explorationen deutschsprachiger Reiselyrik seit dem 18. Jahrhundert [1. Aufl.] 9783476051158, 9783476051165

Dass Reisen nicht nur zu Prosa anregen, veranschaulicht in prägnanter Weise die Gattung der Reiselyrik. Neben der kultur

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German Pages VI, 373 [367] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VI
Ambulante Poesie. Reiselyrik in historischer und systematischer Perspektive (Johannes Görbert, Nikolas Immer)....Pages 1-18
»So vergönnt ihr Musen dem Reisenden kleine Gedichte«. Reiselyrik als epigrammatisches Projekt (Ralph Müller)....Pages 19-41
Front Matter ....Pages 43-43
Ein »Barbare« auf Reisen. Goethes Römische Elegien (Christopher Meid)....Pages 45-59
Die reine Wahrheit? Wahrheit und Wirklichkeit als intertextuelle und interkulturelle Konstruktion in Ludwig Tiecks Reisegedichte eines Kranken und Rückkehr eines Genesenden (Dominik Zink)....Pages 61-80
Dolmetscher, Erklärer, Gefährte. Levin Schückings Anthologie Italia. Deutsche Dichter als Führer jenseits der Alpen (1851) (Nikolas Immer)....Pages 81-98
»… wie Blühen und Verderben / Sich tief durchdringt und wunderbar vertauscht«. Zum Verhältnis von Historizität und Gegenwartsbezogenheit in Marie Luise Kaschnitz’ reiselyrischem Textzyklus Südliche Landschaft (Alexander Quack)....Pages 99-116
Texträume. Kulturtechniken des Kartographierens in der Italienlyrik Ingeborg Bachmanns (Yvonne Nilges)....Pages 117-134
Front Matter ....Pages 135-135
Wilde Ritte durch die Nacht, Fahrten tief hinein ins Gebirg. Sidonia Hedwig Zäunemanns gedichtete Expeditionen in und unter den Thüringer Wald (1737) (Sonja Klimek)....Pages 137-155
Reisen ins Gebirge. Heinrich Heines Aus der Harzreise (1824) und Aleksandr Puškins Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija (1829) (1836) (Siegfried Ulbrecht)....Pages 157-178
»Ein ungeheurer Vorrath der herrlichsten Bilder erwartet mich dort…«. Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus (Stefani Kugler)....Pages 179-205
Die Akropolis von Athen in der deutschsprachigen Reiselyrik (1838–1935). Funktionen und Transformationen des deutschen Philhellenismus (Olga Bezantakou)....Pages 207-220
Ausreiselieder. Flucht und Exil in Hilde Domins Gedichtband Hier (1964) (Evelyn Dueck)....Pages 221-235
Front Matter ....Pages 237-237
Im Transit der Zeit. Zur Eisenbahnlyrik zwischen den Weltkriegen (Sarah Thiery)....Pages 239-257
Postkartenpoetik. Richard Dehmels epigrammatisches Reisegedicht Eine Rundreise in Ansichtspostkarten (1906) (Julia Ilgner)....Pages 259-299
Écriture itinérante. Michèle Métails Toponyme : Berlin und der Diskurs des Flanierens (Franz Hessel, Walter Benjamin, Georges Perec) (Bernhard Metz)....Pages 301-330
»Siebzehn Zeilen des Augenblicks«. Zu Durs Grünbeins Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus (2008) (Johannes Görbert)....Pages 331-345
»Fly me to the Moon«. Mond- und Weltraumreisen in Lyrik und lyrics seit 1969 (Ingo Irsigler)....Pages 347-362
Back Matter ....Pages 363-373
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Ambulante Poesie: Explorationen deutschsprachiger Reiselyrik seit dem 18. Jahrhundert [1. Aufl.]
 9783476051158, 9783476051165

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Johannes Görbert Nikolas Immer Hrsg.

Ambulante Poesie Explorationen deutschsprachiger Reiselyrik seit dem 18. Jahrhundert

Ambulante Poesie

Johannes Görbert · Nikolas Immer (Hrsg.)

Ambulante Poesie Explorationen deutschsprachiger Reiselyrik seit dem 18. Jahrhundert

Hrsg. Johannes Görbert Berlin, Deutschland

Nikolas Immer Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien Christian-Albrechts-Universität Kiel Kiel, Deutschland

Dieses Projekt wurde durch die Donation Prof. Dr. Maria Beatrice Bindschedler (Bern) unterstützt.

ISBN 978-3-476-05116-5  (eBook) ISBN 978-3-476-05115-8 https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhaltsverzeichnis JOHANNES GÖRBERT/NIKOLAS IMMER Ambulante Poesie. Reiselyrik in historischer und systematischer Perspektive .... 1 RALPH MÜLLER »So vergönnt ihr Musen dem Reisenden kleine Gedichte«. Reiselyrik als epigrammatisches Projekt ............................................................ 19 I. Kulturelle Konstruktionen CHRISTOPHER MEID Ein »Barbare« auf Reisen. Goethes Römische Elegien ....................................... 45 DOMINIK ZINK Die reine Wahrheit? Wahrheit und Wirklichkeit als intertextuelle und interkulturelle Konstruktion in Ludwig Tiecks Reisegedichte eines Kranken und Rückkehr eines Genesenden......................................................................... 61 NIKOLAS IMMER Dolmetscher, Erklärer, Gefährte. Levin Schückings Anthologie Italia. Deutsche Dichter als Führer jenseits der Alpen (1851) ........................... 81 ALEXANDER QUACK »… wie Blühen und Verderben / Sich tief durchdringt und wunderbar vertauscht«. Zum Verhältnis von Historizität und Gegenwartsbezogenheit in Marie Luise Kaschnitz’ reiselyrischem Textzyklus Südliche Landschaft ...... 99 YVONNE NILGES Texträume. Kulturtechniken des Kartographierens in der Italienlyrik Ingeborg Bachmanns ........................................................................................ 117 II. Spatiale Explorationen SONJA KLIMEK Wilde Ritte durch die Nacht, Fahrten tief hinein ins Gebirg. Sidonia Hedwig Zäunemanns gedichtete Expeditionen in und unter den Thüringer Wald (1737) ..................................................................................... 137

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Inhaltsverzeichnis

SIEGFRIED ULBRECHT Reisen ins Gebirge. Heinrich Heines Aus der Harzreise (1824) und Aleksandr Puškins Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija (1829) (1836) ... 157 STEFANI KUGLER »Ein ungeheurer Vorrath der herrlichsten Bilder erwartet mich dort…«. Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus ..... 179 OLGA BEZANTAKOU Die Akropolis von Athen in der deutschsprachigen Reiselyrik (1838–1935). Funktionen und Transformationen des deutschen Philhellenismus .................. 207 EVELYN DUECK Ausreiselieder. Flucht und Exil in Hilde Domins Gedichtband Hier (1964) ....... 221 III. Generische Transgressionen SARAH THIERY Im Transit der Zeit. Zur Eisenbahnlyrik zwischen den Weltkriegen ................ 239 JULIA ILGNER Postkartenpoetik. Richard Dehmels epigrammatisches Reisegedicht Eine Rundreise in Ansichtspostkarten (1906) ................................................... 259 BERNHARD METZ Écriture itinérante. Michèle Métails Toponyme : Berlin und der Diskurs des Flanierens (Franz Hessel, Walter Benjamin, Georges Perec) ........................... 301 JOHANNES GÖRBERT »Siebzehn Zeilen des Augenblicks«. Zu Durs Grünbeins Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus (2008) .................................................................... 331 INGO IRSIGLER »Fly me to the Moon«. Mond- und Weltraumreisen in Lyrik und lyrics seit 1969 ............................................................................................................ 347 Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger .................................................. 363 Personenregister ................................................................................................ 369

Ambulante Poesie Reiselyrik in historischer und systematischer Perspektive JOHANNES GÖRBERT, NIKOLAS IMMER 1. Reiselyrik in historischer Perspektive Das Reisen zählt zu den ältesten, wirkmächtigsten und einschlägigsten Themen der Literatur. Von der Antike bis zur Gegenwart bildet es einen zentralen Bezugspunkt, um grundlegende Aspekte des menschlichen Daseins zu verhandeln. Die Erfahrung der Reise fordert dazu heraus, über Möglichkeiten von Mobilität und Flexibilität, über Konzepte von Identität und Alterität und über Vorstellungen von Rapidität und Tardität zu reflektieren. Ebenso kann das Reisen Anlass bieten, um über die sich wandelnden Reisebedingungen, die Veränderungen der Transportmittel oder die schriftstellerischen Möglichkeiten nachzudenken, wie sich die Reiseerlebnisse literarisch fixieren lassen. Ebenso facettenreich wie die Themen sind die Formen der Reiseliteratur: Das Spektrum reicht von faktualen zu fiktionalen Genres, von Text- zu Bild-, von Print- zu Onlinemedien, von der knappsten Reisenotiz bis zum ausführlichsten Reiseroman, und nicht zuletzt von sachlicher Reiseprosa bis zur ›sentimental journey‹. Schließlich ist im weitesten Verständnis des Begriffs kaum ein Text vorstellbar, der nicht in irgendeiner Form vom Reisen handelt, sei es im eigentlichen oder im übertragenen Sinne. Im Gegensatz zu dieser Vielfalt muss festgehalten werden, dass die Reiseliteraturforschung bislang keineswegs das gesamte generische Spektrum ihres Gegenstandsbereichs behandelt hat.1 Die einschlägigen Arbeiten konzentrieren sich vorwiegend auf den ›Höhenkamm‹ der Reiseliteratur in Prosa, wozu etwa die Reiseberichte Georg Forsters, Johann Wolfgang Goethes, Heinrich Heines, Hermann

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Vgl. grundlegend: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hg. von Peter J. Brenner. Frankfurt a.M. 1989; Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsbericht als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990; Peter J. Brenner: Art. ›Reisebericht‹. In: Sachlexikon Literatur. Hg. von Volker Meid. München 2000, 741–747; Hans-Wolf Jäger: Art. ›Reiseliteratur‹. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Georg Braungart u.a. hg. von Jan-Dirk Müller. Bd. 3: P–Z. Berlin/New York 2007, 258–261; Andreas Keller, Winfried Siebers: Einführung in die Reiseliteratur. Darmstadt 2017; und aktuell: The Routledge Research Companion to Travel Writing. Hg. von Alasdair Pettinger und Tim Youngs. London 2020.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_1

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Johannes Görbert, Nikolas Immer

von Pückler-Muskaus und Theodor Fontanes zählen.2 Was dagegen fehlt, sind Arbeiten zur Reiselyrik, zu der bislang nur vereinzelte Forschungsbeiträge vorliegen. Das verwundert auch deshalb, weil die Reiseliteratur in Versen der Reiseliteratur in Prosa im Hinblick auf die Traditions- und Kanonbildung im Grunde kaum nachsteht. Mit dem vorliegenden Sammelband soll dazu beigetragen werden, die skizzierte Forschungslücke zu schließen. Aufgrund der Unüberschaubarkeit der zahlreichen Einzelphänomene kann jedoch kein Anspruch auf eine vollständige Erfassung des Forschungsfelds erhoben werden.3 Vielmehr wird im Sinne von ersten ›Explorationen‹ versucht, sowohl übergreifende Entwicklungstendenzen als auch konkrete Erscheinungsformen der deutschsprachigen Reiselyrik seit dem 18. Jahrhundert in den Blick zu nehmen. Analog zur Reiseliteratur in Prosa finden sich bereits in der Antike einschlägige Beispiele für die Reiseliteratur in Versform. Eine geradezu paradigmatische Bedeutung kommt der Odyssee des Homer zu, in der die Irrfahrt zur Metapher für das menschliche Dasein erhoben wird.4 Gleichwohl handelt es sich bei diesem Zeugnis um ein Versepos und selbstverständlich noch nicht um Reiselyrik; obwohl es bereits Gedichte gibt, beginnt sich die Gattung ›Lyrik‹ erst im 16. Jahrhundert herauszubilden.5 Eher modernen Reisegedichten vergleichbar sind in späterer Zeit die Schilderung der Reise nach Brundisium (Brindisi), von der Horaz in seinen Satiren (I,5) berichtet, Ovids Darstellung seiner Fahrt in den Verbannungsort Tomis (heute: Constanța im Südosten Rumäniens) in seinen Tristia (I,1–11),6 oder 2

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Vgl. exemplarisch Johannes Görbert: Die Vertextung der Welt: Forschungsreisen als Literatur bei Georg Forster, Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso. Berlin/Boston 2014; Lukas Bauer: The South in the German imaginary. The Italian journeys of Goethe and Heine. Frankfurt a.M. 2015; Sebastian Böhmer: Fingierte Authentizität. Literarische Welt- und Selbstdarstellung im Werk des Fürsten Pückler-Muskau am Beispiel seines Südöstlichen Bildersaals. Hildesheim/Zürich 2007; Maren Ermisch: »Erzählungen eines letzten Romantikers«. Fontanes Jenseit des Tweed und die deutschen Schottlandreiseberichte des 19. Jahrhunderts. Berlin 2015; Kirsten Wiese: Erwanderte Kulturlandschaften. Die Vermittlung von Kulturgeschichte in Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg und Wilhelm Heinrich Riehls Wanderbuch. München 2007. Die Schwierigkeit der Bestimmung, was Reiselyrik sei und was nicht, hat bereits Carl Thompson betont: »Yet it potentially expands the genre vastly, opening up whole new areas of debate as to what does and does not count as travel writing.« (Carl Thompson: Travel Writing. The New Critical Idiom. London u.a. 2011, 25). »Although a fictive account of a largely legendary traveller, it is The Odyssey that inaugurates the Western tradition specifically of travel writing.« (Ebd., 35). Vgl. Hans-Henrik Krummacher: Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus als Quellen der neuzeitlichen Lyriktheorie. In: Ders.: Lyra. Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin/Boston 2013, 3–76. In den Eingangsversen der ersten Elegie werde die Tristia nicht nur als Exilgedichte ausgewiesen, sondern auch als ein Werk, das im Gegensatz zu seinem verbannten Verfasser selbst auf Reisen gehen wird: »Büchlein, ich neid es dir nicht: Nach Rom wirst du ohne mich reisen. / Ach, daß man mir, deinem Herrn, nicht diese Reise erlaubt!« (Ovid: Lieder der Trauer. Die Tristien

Ambulante Poesie in historischer und systematischer Perspektive

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auch die Vergegenwärtigung einer idealtypischen Flussfahrt in der Mosella des Ausonius, die Charles D. Harrington als »prototype for pure topographical description in poetry« bezeichnet hat.7 In der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Literatur beginnt spätestens mit Oswalds von Wolkenstein deutschsprachigen Reiseliedern und den neulateinischen ›Hodoeporica‹ eine reichhaltige Tradition, die bis in die Gegenwart fortdauert.8 Ein ausdrückliches Lob des Reisens wird Mitte des 17. Jahrhunderts von dem Diplomaten Adam Olearius formuliert, der von 1633 bis 1639 gemeinsam mit dem Dichter Paul Fleming eine Russland- und Persienreise unternommen hatte: »Nur Leute von schlechter geringer Natur und Gemüthe haben lust hinter dem Ofen zu sitzen / und in ihrem Vaterlande gleich als angebundene zu bleiben / aber die seynd Edeler und voller Geist / welche dem Himmel folgen / und zur bewegung lust haben.«9 Fleming, der sich dezidiert »als ›Reisedichter‹ versteht und in dieser Eigenschaft auch Gedichte zu Olearius’ Beschreibung besteuert«,10 publiziert in seiner Sammlung Teutsche Poemata (1642) mehrere Reisegedichte. Während der Eintritt in fremde Kulturbereiche Flemings Erfahrungshorizont entscheidend erweitert, verschafft ihm das Verdienst, ferne Länder besucht zu haben, zugleich gesellschaftliches Ansehen: »Was gilt bey uns ein Mann / der nicht gereiset hat.«11 Im Unterschied zu Flemings barocker Gelehrtendichtung wird ein halbes Jahrhundert später in den frühaufklärerischen Studentenliedern Johann Christian Günthers der Modus des studentischen Reisens verstärkt sichtbar. So heißt es in

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des Publius Ovidius Naso. Aus dem Lateinischen übertragen und hg. von Volker Ebersbach. Frankfurt a.M./Leipzig 1997, 9). Charles D. Harrington: Art. ›Poetry‹. In: Literature of Travel and Exploration. An Encyclopedia. Hg. von Jennifer Speake. New York u.a. Bd. 2, 970 f., hier 970. Vgl. Thomas Schallaböck (Musik), Ulrich Müller (Text): Gesungene Reiseberichte aus dem 15. Jahrhundert: Die Reiselieder des Oswald von Wolkenstein. In: Erkundung und Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Hg. von Xenja von Ertzdorff und Gerhard Giesemann unter Mitarbeit von Rudolf Schulz. Amsterdam/New York 2003, 163–183; Hermann Wiegand: Hodoeporica. Zur neulateinischen Reisedichtung des sechzehnten Jahrhunderts. In: Brenner: Der Reisebericht (Anm. 1), 117–139. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Martin Disselkamp: Georg Fabricius’ Italienfahrt. Reisegedichte und Rom-Beschreibung im System gelehrter Kommunikation. In: Italien und Deutschland. Austauschbeziehungen in der gemeinsamen Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Hg. von Emilio Bonfatti. Padova 2009, 247–272. Adam Olearius: Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse […]. Schleszwig MDCLVI [1656], 1. David Kröll: Zwischen den Wundern Gottes und den Abenteuern der Welt. Narrationen der Fremdheit und des Reisens in der Lyrik von Oswald von Wolkenstein und Paul Fleming. Marburg 2016, 112. Paul Fleming: Teütsche Poemata. Lübeck 1642, 202. Vgl. Hamid Tafazoli: Reiselyrik als Versuch einer transkulturellen Kommunikation in der Frühen Neuzeit. In: Paul Fleming und das literarische Feld der Stadt Tallinn in der Frühen Neuzeit. Hg. von Mari Tarvis. Würzburg 2011, 61–73, hier 63.

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Johannes Görbert, Nikolas Immer

Auf der Reise nach Jauer: »Unser Schaden sind nur Sohlen, / die man leicht ersetzen kan«.12 Die Fortbewegung auf eigenen »Sohlen« verweist zudem auf einen Figurentypus, der in den Reisegedichten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zunehmend in den Fokus gerät: auf den des Wanderers. Begegnet er bereits in Christian Fürchtegott Gellerts mythologischem Gedicht Der Reisende, tritt er prominent in Friedrich Hölderlins Elegie Der Wanderer oder auch in Friedrich Schlegels romantischem Gedicht Der Wanderer in Erscheinung. Zu den bekanntesten lyrischen Gestaltungen des Wanderns dürften die Lieder Wilhelm Müllers zählen, der mit seinem Gedicht Wanderschaft die ausgeprägte Reiselust eines Mühlenbetreibers nachhaltig im kulturellen Gedächtnis verankert hat.13 Parallel zur Entdeckung des Wanderns sind es die Natur- und Kulturräume Italiens, die als ›Sehnsuchtsorte‹ immer stärker in den Fokus der Reiselyrik rücken. Insbesondere Goethe befördert nicht nur mit seiner Italienischen Reise, sondern auch mit seinen Römischen Elegien die zunehmende Italienbegeisterung, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts z.B. in Ludwig Tiecks Doppelzyklus Reisegedichte eines Kranken und Rückkehr des Genesenden oder in August von Platens Zyklus Sonette aus Venedig kenntlich wird. Gleichwohl bleibt die Reiselyrik nicht allein auf den Raum Italiens beschränkt; vor allem in der englischsprachigen Dichtung lässt sich beobachten, wie eine wachsende Zahl geographischer Regionen im Rahmen von travel poems ›erschlossen‹ wird.14 Der Fokus der deutschsprachigen Reiselyrik ist jedoch ebenso auf das Eigene gerichtet: Während die Romantiker vermehrt die Rhein- und Neckarlandschaft entdecken und Heine mit seinen Nordsee-Gedichten »dieses Meer erstmals für die deutsche Literatur erobert«, profiliert August Heinrich Hoffmann von Fallersleben in seinen Reisegedichten einen emphatischen Heimatbegriff.15 Dass die Reiselyrik gleichermaßen reflektiert, wie sich die kulturelle Praxis des Reisens wandelt, lässt sich im 19. Jahrhundert in erster Linie an der Konjunktur der ›Eisenbahngedichte‹ ablesen. Belegen Gedichte wie Joseph von Eichendorffs Sehnsucht oder Nikolaus Lenaus Das Posthorn noch die Ausrichtung auf 12 13 14 15

Johann Christian Günther: Textkritische Werkausgabe in vier Bänden und einer Quellenedition. Hg. von Reiner Bölhoff. Bd. III/1: Dichtung der ersten Wanderjahre 1719–1721. Teil 1: Texte. Berlin/Boston 2014, 97. Vgl. Wilhelm Müller: Wanderschaft. In: Sieben und siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten. 2 Bde. Hg. von dems. Dessau 1821/24, Bd. 1, 7 f. Vgl. auch Müllers Zyklus Reiselieder (ebd., 69–103). Vgl. die Anthologien: The Oxford Book of Travel Verse. Hg. von Kevin Crossley-Holland. Oxford u.a. 1986; The Open Road. Poems on Travel. Hg. von Stephen Pain. London 2000. Heinrich Heine: Reisebilder. Hg. von Bernd Kortländer. Stuttgart 2010, S. 584 (Kommentar). Vgl. Nikolas Immer: Rückkehr ins Vertraute? Die Inszenierung von Heimat in der Lyrik Hoffmanns von Fallersleben. In: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben im Kontext des 19. Jahrhunderts und der Moderne. Internationales Symposion Fallersleben 2017. Hg. von CordFriedrich Berghahn, Gabriele Henkel und Kurt G.P. Schuster. Bielefeld 2019, 185–199.

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das Zeitalter der Postkutschen, reagieren bereits Adelbert von Chamisso mit Das Dampfroß oder Friedrich Rückert mit Die Eilfahrt auf die technische Neuerung der Eisenbahn. Auch wenn Justinus Kerner in seinem Gedicht Im Eisenbahnhofe noch Mitte des 19. Jahrhunderts geltend macht, dass die Nutzung des neuen Transportmittels dazu führe, dass »[d]ie Poesie des Reisens flieht«,16 stellt bereits der Naturalist Karl Henckell in seinem ›Eisenbahngedicht‹ Heimfahrt einen Vergleich zwischen der Reisegeschwindigkeit und der Gedankenbewegung eines Mitfahrenden an.17 Dass das Reisetempo nach der Jahrhundertwende weiter gesteigert wird, kommt etwa in Ernst Stadlers expressionistischem Gedicht Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht zum Ausdruck. Der lyrische Sprecher ist in einem der neuen Expresszüge unterwegs, die bereits auf über 200 km/h beschleunigen können. Für die Reiselyrik hat das die Konsequenz, dass anstatt der Darstellung von Natur und Landschaft zunehmend die Schilderung von Technik und Urbanität ins Zentrum rückt. Stadlers lyrischer Sprecher verkörpert zudem den modernden Reisenden, der nicht mehr der Auffassung ist, singulär und privilegiert unterwegs zu sein: »Wir fliegen, aufgehoben, königlich durch nachtentrissne Luft, hoch überm Strom.«18 Das Reisen ist längst zu einem Massenphänomen geworden – eine Entwicklung, die einerseits als Demokratisierung begrüßt und andererseits als Vulgarisierung abgelehnt wird. Mit dem sich ausweitenden Tourismus beginnt sich außerdem die Ernüchterung einzustellen, dass nicht mehr darauf zu hoffen sei, am Reiseziel »Wunder und Weihen« vorzufinden: »Bahnhofsstraßen und rue’en / Boulevards, Lidos, Laan – / selbst auf den fifth avenue’en / fällt Sie die Leere an –«, schreibt Gottfried Benn in seinem Gedicht Reisen.19 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Reiselyrik des 20. und 21. Jahrhunderts auch als Versuch deuten, der immer stärker um sich greifenden Normierung, Standardisierung und Egalisierung des Reisens etwas Originelles bzw. dezidiert ›Poetisches‹ entgegenzusetzen. So erscheinen beispielsweise 1910 mit Max Dauthendeys Geflügelte Erde und Theodor Däublers Nordlicht zwei ambitionierte Langgedichte, die nicht nur empirische und imaginierte Weltreisen in Tausende von Versen überführen, sondern auch Orient und Okzident lyrisch miteinander versöhnen wollen. 16 17 18 19

Justinus Kerner: Im Eisenbahnhofe. In: Ders.: Der letzte Blüthenstrauß. Stuttgart/Tübingen 1852, 62–64, hier 62. Vgl. Johannes Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. München 1982. Ernst Stadler: Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht. In: Ders.: Dichtungen, Schriften, Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Hurlebusch und Karl Ludwig Schneider. München 1983, 169. Gottfried Benn: Reisen. In: Ders.: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung hg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt a.M. 1982, 384.

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Johannes Görbert, Nikolas Immer

Im Gegensatz zu solchen rhapsodischen Entwürfen gewinnen die Reisegedichte des 20. Jahrhunderts eine akzentuierte politische Dimension, wenn in ihnen die Erfahrung der ›erzwungenen Reise‹ verarbeitet wird. Insbesondere in der Exillyrik rücken Themen wie die Grenzüberschreitung, die Fluchtbewegung und das Emigrantendasein in den Vordergrund, so z.B. in den Gedichten Ich aber ging über die Grenze… von Stefan Heym, Im Kreise gelaufen von Peter Weiss oder Die kleinen Hotels von Walter Mehring. In ihrem Reisegedicht Deutschland, ein Kindermärchen vergegenwärtigt Mascha Kaléko hingegen auf satirische Weise die Rückkehr aus der »Fremde«, indem sie ihre Exilzeit mit derjenigen Heinrich Heines parallelisiert.20 In der Nachkriegszeit kommen beispielsweise in Ernst Jandls Reisebericht oder Peter Rühmkorfs Durchreisebild europäische Metropolen wie Paris und London in den Blick, die aber aufgrund der Flüchtigkeit des Besuchs weitgehend konturlos bleiben.21 Eine klar gesellschafts- und bildungskritische Position bezieht dagegen Hans Magnus Enzensberger mit seinem Gedicht bildungsreise, die Rolf Dieter Brinkmann in seinen Rom-Dichtungen weiter radikalisiert. Mit Blick auf die Reiselyrik des 21. Jahrhunderts lässt sich vorläufig feststellen, dass diese Gedichte zum einen aktualisierend auf Themen aus ihrem Traditionsbestand rekurrieren und zum anderen abwägend auf die Bedingungen einer globalisierten Welt reagieren. Während sich etwa Lutz Rathenow in Deutschland im ICE oder Wolfgang Oppler in Miles & More mit den modernen Transportmitteln auseinandersetzen, reflektieren Jan Wagner in Ein Entdecker oder Walter Helmut Fritz in Kolumbus die reisespezifische Bedeutung historischer Vorgänger.22 Dass sich die Reise in den Raum auch als Reise in die Zeit gestalten kann, veranschaulicht Peter Piontek in seinem Gedicht Flower of Scotland, in dem der Schottland-Besucher für das »Wispern« früherer Zeiten sensibilisiert wird.23 Doch trotz der Reichweite moderner Transportmittel und trotz der weiträumigen Erschließung touristischer Räume erweist sich die Reisefreiheit in einer globalisierten Welt weiterhin als soziales Privileg. So kritisiert Björn Kuhligk in seinem Lang-

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Mascha Kaléko: Deutschland, ein Kindermärchen. In: Dies.: Verse für Zeitgenossen. Hamburg 1958, 56–59, hier 57. Vgl. Kristian Donko: »Abschied ohne Willkommen«. Ernst Jandls frühe Reisegedichte zwischen literarischer Tradition und Nachkriegserfahrung. In: Ernst Jandl. Interpretationen, Kommentare, Didaktisierungen. Hg. von Johann Georg Lughofer. Wien 2011, 41–58. Zum Abdruck dieser Gedichte vgl. die Anthologie Reisen. Gedichte. Hg. von Vanessa Greiff. Stuttgart 2018, 66, 82, 87, 89. Ebd., 95.

Ambulante Poesie in historischer und systematischer Perspektive

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gedicht Die Sprache von Gibraltar den Umgang mit Flüchtlingen im Zusammenhang mit der Abschottungspolitik der Europäischen Union.24 Die leidvolle Erfahrung der gezielten Ausgrenzung und damit die Vergeblichkeit der mit einer Reise verknüpften Hoffnungen hat schon Berthold Viertel in Gekritzel auf der Rückseite eines Reisepasses beschrieben: »Das sind die Völker und die Reiche. / Man wandert aus und wandert ein. / Doch überall ist es das gleiche: / Die Hirne Wachs, die Herzen Stein.«25 2. Reiselyrik in systematischer Perspektive Die Gattungsform der Reiselyrik ist bisher nicht systematisch erforscht worden. Zwar gibt es vereinzelte konzeptionelle Ansätze, aber keine Theorie der Reiselyrik.26 Allein das begriffliche Kompositum macht die doppelte Zugehörigkeit sichtbar: Zum einen lässt sich die Reiselyrik als Binnenform der Reiseliteratur, zum anderen als Subgenre der Lyrik bestimmen. Dabei treten je nach Priorisierung jeweils andere Charakteristika der Gattungsform in den Vordergrund. Die Kennzeichnung der Reiselyrik als eine generische Ausprägung der Reiseliteratur impliziert, die Gattungsform primär thematisch zu qualifizieren. Bei der Bestimmung der Reiseliteratur ist zunächst zu berücksichtigen, dass sie eine Vielzahl heterogener Textformen umfasst: »Formale Verbindlichkeiten kennt die Gattung nicht; die Reisebeschreibung kann als Tagebuch erscheinen, als Brief(korpus), als Stationenverzeichnis oder -chronik, als episodisch ausgeschmückte Reiseerzählung etc.«27 Inzwischen ist explizit dargelegt worden, dass sich hinter diesem »etc.« selbstverständlich auch »Gedichte« verbergen können, »in denen tatsächliche oder erfundene Reiseerlebnisse gestaltet werden«.28 Diese Unterscheidung verdeutlicht zudem, dass der Darstellung des Reisens in der Literatur keineswegs eine überwiegende Tendenz zur Faktualität unterstellen werden darf, auch

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Vgl. Stefan Hermes: Befestigte Grenzen. Zur Kritik europäischer Abschottungspolitik in Björn Kuhligks Langgedicht Die Sprache von Gibraltar. In: Grenz-Übergänge. Zur ästhetischen Darstellung von Flucht und Exil in Literatur und Film. Hg. von Matthias Bauer, Martin Nies und Ivo Theele. Bielfeld 2019, 39–52. Berthold Viertel: Gekritzel auf der Rückseite eines Reisepasses. In: Ders.: Dichtungen und Dokumente. Gedichte. Prosa. Autobiographische Fragmente. Hg. von Ernst Ginsberg. München 1956, 36. Einen ähnlichen Befund formulieren Stefan Elit: Welterfahrungsspiele: Reisethemen in der Gegenwartslyrik. In: Germanica 64 (2019), 131–147, hier 134; Ulrich Vormbaum: Reiselyrik. Module und Materialen für den Literaturunterricht. Braunschweig 2019, 9. Jäger: Reiseliteratur (Anm. 1), 258. Michaela Holdenried, Alexander Honold und Stefan Hermes: Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne. Zur Einführung. In: Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne. Hg. von dens. Berlin 2017, 9–16, hier 12.

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wenn Reisen üblicherweise in real existierenden geographischen Räumen vollzogen werden. Denn ebenso gut ist es möglich, literarische Reisen in imaginativen Räumen stattfinden zu lassen. Wird außerdem die zitierte Differenz hinzugezogen, gewinnt das Ordnungsschema schnell an Komplexität: So können in Reisegedichten faktuale Erlebnisse in faktualen Räumen (z.B. bei Paul Fleming: An den Fluss Moskaw, als er schiede), fiktive Erlebnisse in faktualen Räumen (z.B. bei Peter Huchel: Thrakien), faktuale Erlebnisse in fiktiven Räumen (z.B. bei Kerstin Hensel: Hochmoorsommernachtstraumreise) und fiktive Erlebnisse in fiktiven Räumen (z.B. bei Matthias Claudius: Urians Reise um die Welt) geschildert werden. Der Übersichtlichkeit halber sollen unter dem Aspekt der Raumgestaltung drei Formen von Reisegedichten unterschieden werden: faktuale, fiktionale und reflexive Reisegedichte. Von faktualen Reisegedichten ist dann zu sprechen, wenn die vorherrschende Raumdarstellung im Gedicht auf einen real lokalisierbaren Ort bezogen ist. Die Fokussierung auf einen innertextuellen Ereignisort erlaubt es dabei, vom außertextuellen Entstehungsort des Reisegedichts abzusehen. Das ist deshalb notwendig, weil das Reisegedicht nicht unbedingt schon während, sondern vielfach erst nach einer Reise verfasst wird. Das belegt beispielsweise Chamissos Lyrik über seine Weltumsegelung, deren Ausarbeitung sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte.29 Mit der Zunahme der zeitlichen Distanz gegenüber dem Reiseerlebnis scheint überdies die im Reisegedicht vermittelte Erfahrung an Authentizität und damit auch an Faktizität zu verlieren, was etwa in Chamissos Gedicht Salas y Gomez der Fall ist, in dem anhand eines faktual angesteuerten Reiseziels im Pazifischen Ozean eine fiktive Begegnung der Schiffsbesatzung mit einem einsamen Schiffbrüchigen geschildert wird. Die Konzentration auf die innertextuelle Raumgestaltung ermöglicht es dagegen, dezidiert zu fragen, welcher faktuale Ort auf welche Weise im Reisegedicht vergegenwärtigt wird. Von fiktionalen Reisegedichten ist dann zu sprechen, wenn die vorherrschende Raumdarstellung im Gedicht entweder auf einen fiktiven Ort oder auf einen alternativen Ort bezogen ist, der sich vom innertextuellen Ereignisort in räumlicher Hinsicht signifikant unterscheidet. Ein Beispiel für diesen zweiten Fall stellt Conrad Ferdinand Meyers Gedicht Der Reisebecher dar, in dem die lyrische Sprechinstanz anhand des titelgebenden Erinnerungsobjekts jene duftenden »Matten« imaginiert, über die es in seiner Jugend gewandert ist.30 Im Unterschied zu den faktualen und fiktionalen Reisegedichten wird in den reflexiven Reisegedichten – wie etwa in Hans Magnus Enzensbergers Kleiner Abgesang auf die Mobilität – auf eine explizite Gestaltung der Durchquerung von Räumen durch eine lyrische Sprechinstanz verzichtet.31 29 30 31

Vgl. zu Chamissos Reiselyrik Görbert: Vertextung der Welt (Anm. 2), 170–199. Conrad Ferdinand Meyer: Der Reisebecher. In: Ders.: Gedichte. Leipzig 1882, 71. Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Die Geschichte der Wolken. 99 Meditationen. Frankfurt a.M. 2003, 72.

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Vielmehr dienen diese Gedichte dazu, das Reisen selbst oder spezifische Bedingungen des Reisens zu thematisieren. Ebenso wie sich bei der Raumgestaltung zwischen realen und erfundenen Räumen unterscheiden lässt, kann bei den Reiseerlebnissen zwischen faktualen und fiktiven unterschieden werden. Im ersten Fall bedarf es eines äußeren, zumeist paratextuellen Referenzmediums (Brief, Tagebuch, Bericht etc.), um die Faktualität der dargebotenen Reiseerlebnisse zu beglaubigen. So lässt sich im Fall von Flemings Sonett An den Fluss Moskaw, als er schiede dieses Verfahren der Authentisierung epitextuell durch die Hinzuziehung des bereits erwähnten Reiseberichts von Adam Olearius nachvollziehen.32 Dabei wird eine Korrespondenz, wenn nicht sogar Äquivalenz zwischen der Erfahrungswelt des empirischen Verfassers und der der lyrischen Sprechinstanz vorausgesetzt. Zu berücksichtigen bleibt, dass in der Reiselyrik selbstverständlich auch Rollenfiguren entworfen werden können, deren Erfahrungsbereich sich nicht (mehr) mit dem des empirischen Verfassers deckt. Das ist etwa bei jenem reisenden »Herrn Urian« zu beobachten, dessen von Matthias Claudius geschilderte Weltreisen sich überdeutlich von den biographisch beglaubigten Ausflügen seines Urhebers unterscheiden.33 Je weiter sich schließlich die dargestellten Reiseerlebnisse von gesellschaftlich bekannten Erfahrungsmustern entfernen, um so eher werden sie als fiktive identifiziert. Konstitutiv für ein Reisegedicht ist folglich entweder die explizite oder implizite Kennzeichnung eines Reiseorts oder – im Falle der reflexiven Reisegedichte – die Thematisierung des Reisens selbst. Dabei wird die Kennzeichnung eines Reiseorts vorwiegend mit der Darbietung subjektiver Reiseerlebnisse verknüpft.34 Dass in diesem Zusammenhang von ›Reise‹ gesprochen werden kann, setzt voraus, dass eine »Bewegung im Raum« vollzogen wird oder bereits vollzogen worden ist.35 Bei einer anhaltenden Bewegung kommen im Reisegedicht oder in den zyklisch miteinander verknüpften Reisegedichten mindestens zwei Stationen zur Sprache, über die sich der Reiseverlauf erstreckt. Bei einer bereits abgeschlossenen Bewegung wird der bereiste Raum als ›alteritärer‹ Raum im Verhältnis zum jeweils ›Eigenen‹ kenntlich: beispielsweise über die Behandlung eines 32

33 34 35

Vgl. Fleming: Teütsche Poemata (Anm. 11), 581. In einem späteren Wiederabdruck wird die Authentizität des Geschilderten noch durch die peritextuelle Angabe »1636 Juni 25« verstärkt (Paul Flemings deutsche Gedichte. 2 Bde. Hg. von J.[ohann] M.[artin] Lappenberg. Stuttgart 1865, Bd. 1, 423). Vgl. Matthias Claudius: Urians Reise um die Welt. In: Ders.: Werke in einem Band. Textredaktion: Jost Perfahl. Zürich [1995], 345–348. »[T]he idea that through travel people learn not only about other people and places but about themselves is a leitmotif of modern travel verse« (Crossley-Holland: Travel Verse [Anm. 14], xxxiii). Greiff: Nachwort. In: Dies.: Reisen. Gedichte (Anm. 22), 179–200, hier 182. Vgl. auch Thompsons Definition: »travel […] is the negotiation between self and other that is brought about by movement in space« (Thompson: Travel Writing [Anm. 3], 9).

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kulturgeographisch bekannten Reiseziels oder über die Einschätzung von Fremdheitserfahrungen.36 Insbesondere die lyrisch entfaltete Begegnung mit ›fernen‹ und ›fremden‹ Kulturen und Nationen profiliert die interkulturelle Qualität der Reiselyrik, die neben Formen gesuchter bzw. begrüßter poetischer Welterkundung auch unfreiwillige Praktiken des Reisens wie Flucht und Exil sowie verstörende Reiseerfahrungen – wie etwa die Auseinandersetzung der Autorinnen und Autoren mit globalen Phänomenen des Kolonialismus – mit einschließt.37 Die Kennzeichnung der Reiselyrik als eine generische Ausprägung der Lyrik impliziert wiederum, die Gattungsform primär formal zu qualifizieren. Bestimmend sind in diesem Zusammenhang die Aspekte der Subjektivierung, Pointierung und Emotionalisierung. Indem die Reiseeindrücke wiederholt aus der individuellen Perspektive einer lyrischen Sprecherinstanz präsentiert werden, können subjektive Akzente bei der Erkundung fremder Natur- und Kulturräume gesetzt werden. Vor allem ab dem 19. Jahrhundert bildet die Reiselyrik in gewisser Weise einen Gegenpol zur Konjunktur der populären Reiseführer, die darauf zielen, möglichst objektive Auskunft über konkrete Reiseziele zu geben.38 Ähnliches lässt sich für den Zeitraum davor und danach für die kulturelle Praxis des wissenschaftlichen Reisens festhalten. Darüber hinaus erfordert es die häufige relative Kürze und sprachliche Konzisheit der Gattung ›Gedicht‹, die Reiseerlebnisse möglichst pointiert mitzuteilen: »Because of its concentration and potential intimacy, poetry can render the travel experience with special sharpness.«39 Über die konzentrierte Verwendung von »Tönen, Klangmustern und Rhythmen«, wie es beispielsweise der Einsatz von Reimen ermöglicht, wird außerdem die lyrische Aussage intensiviert.40 Auf diese Weise werden die durch das Reisen evozierte physische Bewegung und die durch die Fremdheitserfahrung evozierte psychische Bewegung miteinander parallelisiert. Im besten Fall kann die Leserin oder der Leser wirkungsästhetisch in dieses doppelte ›movere‹ einbezogen werden. Das einzelne Reisegedicht erscheint in aller Regel nicht isoliert, sondern in einer komplexen Wechselbeziehung mit anderen Lyrik- und Prosatexten sowie in einem gleichermaßen engen wie konkurrenzträchtigen Austausch mit weiteren 36

37 38 39 40

In diesem Sinne bestimmt Jan Röhnert Reisegedichte als »Gedichte, die einen Ortswechsel beschreiben, die Die Fremde oder fremde Räume zum Inhalt haben« (Jan Röhnert: »Meine erstaunliche Fremdheit!« Zur poetischen Topographie des Fremden am Beispiel von Rolf Dieter Brinkmanns Reiselyrik. München 2003, 39). Vgl. grundsätzlich Peter J. Brenner: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts. In: Ders.: Der Reisebericht (Anm. 1), 14–49. Vgl. Bernard Dieterle: Art. ›Lyrik und Interkulturalität‹. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. 2., erweiterte Auflage Stuttgart 2016, 227–235, hier 227 f. Vgl. dagegen Greiff: Nachwort (Anm. 35), 179, die eine solche Konkurrenz in Abrede stellt. Harrington: Poetry (Anm. 7), 971. Keller, Siebers: Einführung in die Reiseliteratur (Anm. 1), 60.

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Dokumentations- und Kunstformen des Reisens wie zum Beispiel mit Reisegemälden, -photographien und -filmen. Im Ergebnis entstehen so zum einen Zyklen und Anthologien von Reiselyrik, zum anderen intermediale bzw. audiovisuelle Text-Bild-Kombinationen, bei denen die Gedichte jeweils Teile eines reiseliterarischen ›Gesamtkunstwerks‹ bilden. Eine auffällige Distanzierung der reiselyrischen von reiseepischen Schreibverfahren durch die oben genannten Aspekte ist hierbei ebenso möglich wie Formen einer bewussten Annäherung, wie sie sich etwa anhand einer prosanahen Diktion und in Erzählgedichten von ›epischer‹ Länge mit einem gesteigerten Informationsgehalt manifestiert.41 Ein ähnliches Spannungsverhältnis lässt sich analog für das Verhältnis von Reisetext und Reisebild geltend machen: Hier sind besonders ›malerische‹, ›photographische‹ oder ›filmische‹ reiseliterarische Verfahren in der Reiselyrik ebenso möglich wie eine Fokussierung auf genuin lyrische Ausdrucksmittel wie bestimmte Versformen, um Reisen künstlerisch zu versprachlichen. Eine weitere Komplexitätssteigerung ergibt sich daraus, dass Reiselyrik häufig sehr reichlich und in gattungstypisch ›verdichteter‹ Form Verfahren der Intertextualität für sich nutzt.42 Daraus folgt, dass neben den peritextuellen Begleitelementen wie etwa weiteren Reisegedichten und -bildern im gleichen Lyrikband sehr oft auch eine Fülle von Epitexten für das Verständnis von Reiselyrik wesentlich ist, auf die das jeweilige Einzelgedicht in einem lobenden bis kritisierenden oder persiflierenden, aneignenden bis überbietenden Gestus Bezug nimmt. Für all diese Querverbindungen bieten die Beiträge des vorliegenden Sammelbands vielfältiges Anschauungsmaterial. Neben diesen Austauschbeziehungen lässt sich über die Verbindung des thematischen mit dem formalen Qualifikationskriterium auch ein wichtiges Differenzmerkmal der Reiselyrik gegenüber der Reiseepik geltend machen. Anders als bei der grundsätzlich ›raumungebundenen‹ Prosa kennzeichnet es die Lyrik – und hier in ganz besonderem Maße das Subgenre der Reiselyrik – nicht selten, dass ihre Formen vielfach an einem bestimmten geographischen Ort geprägt wurden und von dort aus weltliterarisch ›in Bewegung‹ geraten sind. Dies gilt sowohl für Versformen wie den griechisch-römischen Hexameter und Pentameter und den englischen Blankvers als auch für die romanischen Strophenformen Terzine, Ritornell und Stanze und für das Ghasel als arabische Gedichtform.43 Insofern ist es 41 42

43

Vgl. zum Verhältnis von »[e]pische[r] Lyrik und lyrische[r] Epik« Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn 2009, 153–171. Vgl. allgemein zur Intertextualität in der Reiseliteratur Manfred Pfister: Intertextuelles Reisen, oder: Der Reisebericht als Intertext. In: Tales and »their telling difference«. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel. Hg. von Herbert Foltinek u.a. Heidelberg 1993, 109–132. Vgl. zur Provenienz der erwähnten Vers-, Strophen- und Gedichtformen genauer Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2015, besonders 79–124.

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kein Zufall, dass Reisedichter wie etwa Goethe, Heine und Durs Grünbein bei ihren jeweiligen Aufenthalten in Italien, im Harz und in Tokyo auf korrespondierende lyrische Formen wie auf das Epigramm, auf den volksliedhaften Vierzeiler bzw. auf das Haiku zurückgreifen. Obwohl selbstverständlich nicht sämtliche Reiselyrikerinnen und -lyriker diesen Weg über geographisch situierte lyrische Formen beschreiten, liegt es dennoch für die Reiselyrik prinzipiell nahe, sich ein Reiseziel, wann immer es sich anbietet, auch und besonders mithilfe einer vor Ort geprägten bzw. von dort aus weltliterarisch produktiv gewordenen lyrischen Ausdrucksweise schriftstellerisch zu erschließen. Insofern geht der realen oder fiktiven Reisebewegung der Lyrikerinnen und Lyriker oft die Mobilität von traditionsmächtigen Lyrikformen selbst voraus, wodurch nicht nur sprachliche und kulturelle Grenzüberschreitungen, sondern auch Transformationen der Formen selbst stattfinden. In diesem Sinne kann das Reisen tatsächlich als ein »Urstoff der Lyrik« bzw. ein Reisegedicht als eine sozusagen potenzierte Form von Lyrik gedeutet werden: »Ein Gedicht, das nicht unterwegs ist, ist kein Gedicht. Ein Gedicht, welches das Unterwegssein sogar noch thematisiert, ist vielleicht schon ein Doppeltes«.44 Einem solchen Verständnis gemäß avancieren Gedichte zu »mobilen Wunderkammern der Poesie«, die bestens dazu geeignet sind, um sie entweder selbst auf Reisen mitzunehmen oder sich anhand von ihnen im eigenen Zuhause auf »Reisen im Kopf« zu begeben.45 3. Perspektiven dieses Sammelbands Der einführende Beitrag von RALPH MÜLLER bietet ein literaturgeschichtliches Panorama vom 18. Jahrhundert bis in die Literatur der Gegenwart. Seiner Bestimmung zufolge gehört ein Gedicht zur Gattung der Reiselyrik, wenn es »in den Kontext eines minimalen (vermutlich faktischen) Reisenarrativs gestellt werden kann und im Rahmen dieses Kontextes als eine Auseinandersetzung mit einer persönlichen Erfahrung von Fremdem und Anderem an einem anderen Ort erscheint« (21). Grundsätzlich ist die Reiselyrik von einer »starke[n] Tendenz zum Epigrammatischen« (41) gekennzeichnet, was Müller anhand einer Reihe von Gedichten exemplifiziert, angefangen bei den Venezianischen Epigrammen Goethes bis hin zu den Istanbul-Gedichten der Gegenwartslyrikerin Barbara Köhler. Als wiederkehrende Merkmale der Reisegedichte behandelt Müller u.a. Introspektion, Individualität, Kontingenz, Diskontinuität, Moment- und Projekthaftigkeit und die häufige Bezugnahme auf flankierende Bilder und (Prosa-)Paratexte. 44 45

Paul-Henri Campbell: Beim Durchbrechen der Schallmauer; Markus Bundi: Zwischen Sagen und Schweigen. In: Das Gedicht 21 (2013), Sonderausgabe ›Pegasus & Rosinante. Wenn Poeten reisen‹, 122, 121. Barbara Maria Kloos: Sappho on the Road; Knut Schaflinger: Reisen im Kopf. In: Ebd., 111, 120.

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Die erste der drei Sektionen versammelt Beiträge über ›Kulturelle Konstruktionen‹, die Reisegedichte behandeln, die sich der Begegnung mit Südeuropa, speziell Italien, und ganz besonders dem Erbe der griechisch-römischen Antike verdanken. Als wichtige Aspekte der Reiselyrik rücken hierbei vor allem die Themenkomplexe der Intertextualität, Authentizität, Historizität und Gegenwartsbezogenheit der Gedichte in den Fokus. CHRISTOPHER MEID liest Goethes Römische Elegien als »lyrischen Zyklus, der Motive und Schreibweisen epischer Reisedarstellungen spielerisch aufnimmt und reflektiert« (49). Eine wesentliche Rolle kommt den Verfahren der Intertextualität zu: sowohl retrospektiv in der Auseinandersetzung des Weimarer Klassikers mit der antiken Liebeselegie als auch prospektiv im Goethe-Kult, den reiseliterarische Nachfolger Goethes wie etwa der Vormärz-Autor Wilhelm Müller ins Werk setzen. Die Authentizität der Texte wird durch dieses intertextuelle Spiel paradoxerweise nicht gemindert, sondern eher noch gesteigert, indem es gewissermaßen die paradigmatische Essenz von Rom-Aufenthalten offenlegt. Abschließend widmet sich der Beitrag der Selbstinszenierung des Gedicht-Ichs als eines ›Barbaren‹ aus dem ›Norden‹, dessen ›Eroberung‹ einer ›südlichen‹ Geliebten Nationalstereotype aufruft und unterschwellig ironisiert. DOMINIK ZINK setzt sich mit Ludwig Tiecks Italien-Zyklus Reisegedichte eines Kranken und Rückkehr eines Gesunden als einer »Meditation über Wirklichkeit und die Möglichkeiten wahren Sprechens« (80) auseinander. Er betont die Kontextbedingtheit, Kategorien- und Zeichengebundenheit und ebenfalls die Intertextualität von Tiecks Reiselyrik, die im starken Kontrast zur Rezeption der Gedichte als ›unmittelbar authentisch‹ stehen. Stets geht es in den Reisegedichten darum, »das Verhältnis von Kontext und Erfahrung aus[zu]loten« (80). Anhand von Bezugnahmen Tiecks auf Goethe, Shakespeare und weitere Vorgänger widmet sich der Beitrag zugleich der Interkulturalität der Gedichte. Sie stehen der Idee einer ›Kulturgeschichte der literarischen Übersetzung‹ (Héctor Canal) nahe, verdeutlichen anhand ihrer Ablehnung der Napoleonischen Eroberungspolitik aber auch die Grenzen des kulturellen Austauschs. NIKOLAS IMMER nähert sich der ›Italiensehnsucht‹ in der Reiselyrik über die von Levin Schücking herausgegebene Anthologie Italia. Deutsche Dichter als Führer jenseits der Alpen. Schücking, der nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Journalist tätig war, vertritt den Anspruch, mit seiner Sammlung ein »Charakterbild von Land und Volk« (85) zu präsentieren. Dabei passt die Gliederung seiner Anthologie vorliegende Lyrikzyklen wie den von Tieck kulturgeographisch »in einen einlinigen Nord-Süd-Verlauf« (90) ein und kehrt einige intertextuelle Bezüge wie zum Beispiel zu Heines italienischer Reiseliteratur um. Ein weiteres Spannungsfeld eröffnet sich zwischen sozialen Existenz- und historischen Erinne-

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rungssphären in italienischen Metropolen. Schließlich betont der Beitrag »subjektive Wahrnehmungsperspektiven und intertextuelle Referenzräume« (97) als entscheidende Vorzüge der Reiselyrik im Vergleich zu Reiseführern. ALEXANDER QUACK beschäftigt sich mit dem Zyklus Südliche Landschaft von Marie Luise Kaschnitz unter der Leitperspektive des Verhältnisses von »Historizität und Gegenwartsbezogenheit« (99). Er weist nach, dass die Reisegedichte an die lange kulturhistorische Tradition einer Gegenüberstellung von ›hellem Süden‹ und ›dunklem Norden‹ anschließen, diese aber zugleich zeithistorisch um eine ebenso subtile wie deutliche Kritik an den politischen Entwicklungen seit der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland erweitern. Dazu finden sich auch hier Rekurse auf das antike Erbe. Weitere Spezifika der Reiselyrik von Kaschnitz lassen sich aus einem Vergleich ihrer Gedichte mit den analogen Tagebuchaufzeichnungen zu den besuchten Reisezielen ableiten; so zum Beispiel eine Tendenz zur Anthromorphisierung von Städten und Monumenten, die sich in ihrer direkten Adressierung als ›lyrisches Du‹ zeigt. YVONNE NILGES behandelt Italiengedichte von Ingeborg Bachmann als ›abstrakte‹ Reiselyrik, die Literatur als Gegendiskurs im Sinne Foucaults präsentiert. Entgegen der konventionellen Anlassbezogenheit der Gattung setzt Bachmann auf eine themenbezogene Reiselyrik, die Italien als Text-Raum literarisch neu kartographiert und sich von Konzepten der Bildungsreise und des Massentourismus stark distanziert. Wissensordnungen ihrer Gegenwart, die in Richtung Restauration, Klassizität und Identität weisen, subvertiert Bachmann durch eine konsequente Poetik der Innovation, des Nonkonformismus, der Alterität und der Differenz, bei der »geographische und begriffliche Raumgrenzen kunstvoll im Ungewissen bleiben« (124). Das Italien ihrer Gedichte gestaltet sie stattdessen anhand von »multiple[n] Raumsemantiken« und »ambige[n] Mehr-Ebenen-Raumkonzepten« (128) im Sinne einer sprachzentrierten Utopie. Die zweite Sektion über ›Spatiale Explorationen‹ bietet Beiträge zu lyrischen Erkundungen ganz unterschiedlicher Reiseziele, die von der Nähe Mitteldeutschlands bis in die Ferne nach Süden (Griechenland), Osten (Kaukasusregion) und Westen (Nord- und Mittelamerika) reichen. Die Gedichte behandeln dabei ambivalente, vor allem machtpolitische Herausforderungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, die sich etwa mit dem Verhältnis der Geschlechter, mit Konstellationen des Expansionismus und Kolonialismus und mit Erfahrungen von erzwungenen Reisen ins Exil auseinandersetzen. SONJA KLIMEK widmet sich den zu Fuß und zu Pferd unternommenen Thüringer Reisen der frühaufklärerischen Lyrikerin Sidonia Hedwig Zäunemann, wie sie im umfangreichen Gedichtband Poetische Rosen in Knospen dargestellt werden. Der Beitrag skizziert zunächst die Biographie der Dichterin, ihren Bildungsweg, ihr für ihre Zeit unkonventionelles Auftreten, ihre Zuwendung zur Empirie

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und ihre karrierestrategischen Ambitionen, sich als Schriftstellerin an einem Fürstenhof zu etablieren. Anhand von »Pfingst-, Jagd- und Waldgedichten« sowie der poetischen »Beschreibung [einer] Bergwerkseinfahrt« (155) wird anschließend verdeutlicht, wie die autobiographische Selbstdarstellung der Dichterin von einer »ebenso mutig-verwegenen wie fromm-gottvertrauenden Sprechinstanz« (145) geprägt wird, die spirituelle Erlebnisse in der freien Natur ebenso feiert wie technische Errungenschaften unter Tage. SIEGFRIED ULBRECHT vergleicht die beiden Zyklen Aus der Harzreise von Heinrich Heine und Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija von Aleksandr Puškin, um im Zuge dessen auf Konvergenzen und Divergenzen lyrischer und epischer Reiseliteratur einzugehen. Die Zusammenfassung der Einzelgedichte zu Zyklen bringt jeweils neue Konstellationen textlicher Kohärenz mit sich. Als maßgeblich für die Reiselyrik betont der Beitrag vor allem eine »Tendenz zur raumzeitlichen Konzentration« (176) und die Fokussierung auf »Stimmungen, Gefühl[e] und Gedanken« (176). Gleichzeitig weist der Beitrag anhand der Texte Heines und Puškins aber auch »Verfahren der Episierung« (178) nach, z.B. durch »das epische Prinzip der horizontalen Sukzession einzelner Etappen« (176). Obwohl sich beide Autoren persönlich nie begegneten, stehen sie sich doch im Sinne einer »poetisch-poetologische[n] Verwandtschaft« (Renate Lachmann, 161) nah. STEFANI KUGLER liest die Amerika-Gedichte des Spätromantikers Nikolaus Lenau als »exotistische ›Meisterleistungen‹« (205), welche die Eindrücke von einer Amerika-Reise für das eigene Programm einer ›Weltschmerzpoesie‹ vereinnahmen. Lenau stellt Amerika als Ort einer verachtenswerten Kulturferne und einer lebensfeindlichen Natur dar, die er als zutiefst verwoben mit der Trauer um das unausweichliche Zusteuern der menschlichen Existenz auf »Abschied, Vergänglichkeit und Tod« (189) ausgestaltet. Zudem widmet er sich dem zeitpolitisch brisanten Thema der nordamerikanischen Westexpansion und damit der massiven Verdrängung der Native Americans. Anstelle von historischer Exaktheit setzt Lenaus Dekadenz-Lyrik auf Stereotype wie etwa den sogenannten Vanishing American, um »die eigenen Verlusterfahrungen in Zeiten restaurativer Beschränkung und moderner Überforderung zu kritisieren« (200). OLGA BEZANTAKOU zeigt anhand von ›archäologischen‹ Reisegedichten über die Akropolis von Athen Wandlungen im Diskurs des deutschen Philhellenismus im 19. und 20. Jahrhundert auf. Sie skizziert, wie der klassizistische Blick auf Griechenland, der »die Stille, das Maß, die Harmonie, das Licht, den heiteren, reinen Himmel und die Grazie« (208) bevorzugte, um 1900 mehr und mehr von einer »Favorisierung des Archaischen und einer vermeintlich dunklen, primitiven, vorklassischen Epoche« (209) abgelöst wird. Stets spielt der Mythos einer vermeintlichen »›Wahlverwandtschaft‹ zwischen den modernen Deutschen und den alten Griechen« (208) in unterschiedlichen Ausprägungen eine wichtige Rolle. Die

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in aller Regel kritisch-ernüchterte lyrische Perspektive der Reisenden auf das gegenwärtige Griechenland wird durch diesen intellektuellen »Horizont des deutschen Philhellenismus« (209) stark eingeengt. EVELYN DUECK stellt am Beispiel der Fünf Ausreiselieder von Hilde Domin Gedichte ins Zentrum, die während der Flucht der Autorin bis in die Dominikanische Republik, d.h. im Kontext von unfreiwilligen Reisen, entstanden sind. Drei Motivkomplexe werden besonders betont: das Verhältnis zur Muttersprache »als das einzig Verbleibende« (225) und als »derjenige Teil der Heimat«, den Domin aus der Ferne »aktiv gestalten kann« (226); die Hinwendung zu Alltagsgegenständen, welche die »materielle Verbindung herstell[en] zwischen der Vergangenheit im Heimatland und der Gegenwart im Exil« (230) und der Frage, »ob die Literatur der Verfolgten tatsächlich einen Halt und Ausweg bietet« (225). Ziel bleibt es stets, die ersehnte Rückkehr nach Europa durch einen »Freiwilligkeit, Heimat und Identität zurückerobernden Umgang mit Exil und Verfolgung« (234) in lyrischer Form zu versprachlichen. In den Beiträgen der dritten Sektion über ›Generische Transgressionen‹ geht es insbesondere um Grenzüberschreitungen. Räumlich führen die Gedichte bis nach ›Fernost‹ und in den Weltraum; zeitlich schlagen sie einen Bogen von antiken Motivtraditionen zu Konstellationen moderner Zug-, Flug- und Raumschiffreisen; und poetologisch führen sie vor, wie die Reiselyrik literarische bzw. intermediale Kurzformen wie etwa die Postkarte, das Haiku, die Photographie und den Popsong für sich produktiv macht. SARAH THIERY stellt die Eisenbahnlyrik der Weimarer Republik als ein paradigmatisches Medium einer »provisorischen ›Durchgangsepoche‹ zwischen den Weltkriegen« (256) vor. Wo die Bahn im 19. Jahrhundert bei den Romantikern zunächst oft noch als Verkörperung einer »Abkehr von der Natur« und einer »Entpoetisierung der Welt« (241) und im 20. Jahrhundert bei den Expressionisten als »dämonisch-vitalistische Maschine« (242) galt, nutzen Autorinnen und Autoren der Neuen Sachlichkeit das Transportmedium motivisch, metaphorisch und symbolisch, um der Instabilität des politischen und wirtschaftlichen Alltags ihrer Gegenwart Ausdruck zu verleihen. Poetologisch wird außerdem eine besondere Korrespondenz zwischen der Eisenbahn und dem »Textraum des Gedichts« deutlich, »das sich aufgrund seiner generischen Kürze ›in einem Zug‹ bzw. sehr schnell lesen lässt und den Leser selbst zum imaginär Reisenden durch den Text macht« (244). JULIA ILGNER bewertet Richard Dehmels Eine Rundreise in Ansichtspostkarten als »kultur- wie literaturkritisches Formexperiment par excellence« im Kontext »einer lyrischen Klassiker- und Italiendemontage« (299) um 1900. Ihr Beitrag zeigt, wie Dehmel das seinerzeit ebenso moderne wie populäre Text-Bild-Medium der Postkarte dafür nutzt, um die Reiselyrik zu erneuern und die Konventionen einer Bildungsreise zu den Stätten der griechisch-römischen Antike konsequent zu

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unterlaufen. Seine Lyrik sucht »ostentativ die offene Konfrontation« mit intertextuellen Vorgängern, »indem sie das subjektive Empfinden angesichts einer bereisten Destination verabsolutiert und dramaturgisch gezielt gegen die jeweilige literarisch etablierte ›Ansicht‹ ausspielt« (298). Dies geschieht anhand einer medialen Kleinform, die sich in einer evidenten »Wahlverwandtschaft« (273) mit der Lyrik und wiederum speziell mit dem Epigramm befindet. BERNHARD METZ verortet die Berlin-Gedichte Michèle Métails im Diskurs des Flanierens, besonders mit Bezug auf Vorgängertexte von Walter Benjamin, Franz Hessel und Georges Perec. Als wichtige Gemeinsamkeit illustriert der Beitrag die bei den Autoren evidenten Prozesse der »Archivierung und Dokumentation, Ausmessung und Inventarisierung der Straßen, Orte, Topologien und Gedächtnisräume, die eine Bedeutung hatten, was zu Verdauerung und Erinnerung, Sistierung und Erinnerung, zu Transformationen in andere Zeichensysteme« führt (319). Zudem erhellen sich im Vergleich Spezifika von Métails Reiselyrik, die in einem spielerischeren Umgang mit contraintes und einem weniger nostalgischen Verhältnis zur Vergangenheit liegen. Ihre Flanier-Texte entfalten eine »ambulante Poesie«, »die nicht am Schreibtisch entstehen könnte«, »sondern unter freiem Himmel in Kontakt mit der Stadt« (327). JOHANNES GÖRBERT beschäftigt sich mit den Japan-Haikus von Durs Grünbein, die der Band Lob des Taifuns versammelt. Die Gedichte zeichnen sich durch eine »eher synthetische als analytische, eher zusammenführende als auseinanderdividierende reiselyrische Vorgehensweise« (342) aus, die mehrere Ebenen umfasst. Kulturanthropologisch vertreten sie die Position eines Anti-Exotismus, der wesentliche Verbindungslinien zwischen ›West‹ und ›Ost‹ aufzuzeigen sucht; literaturgeschichtlich wird ein enger Bezug zwischen dem klassischen Haiku-Kanon und der weltliterarischen Adaption deutlich; intermedial suchen die Texte den Anschluss an bildliche Formen wie die Photographie; und poetologisch präsentiert der Band das Haiku als eine Gattung, die sowohl für die Elite als auch für die ›breite Masse‹ anschlussfähig ist und ebenso scherzhaft-derb wie vergeistigt-philosophisch von der Reise zum Gedicht führen kann. INGO IRSIGLER weitet den räumlichen Fokus auf Texte aus, die besonders mit Bezug auf die erste Mondlandung im Jahr 1969 imaginierte Reisen in den Weltraum zum Thema machen. In Popsongs von Peter Schilling, David Bowie und Elton John geht es vorrangig um eine »Loslösung des Subjekts vom Irdischen«, die mit dem »Selbstentwurf des Popkünstlers« (351) korrespondiert, der auf Grenzüberschreitungen und Bewusstseinserweiterungen aus ist. Sonette von Gerhard Rühm nehmen die Mondlandung dagegen zum Anlass, um sie in erster Linie als Medienereignis zu reflektieren und um die Prosa von Presseartikeln in den ästhetischen Kontext der Lyrik zu überführen. Durs Grünbeins Cyrano wiederum setzt anhand einer fiktiven Mondreise eine »Suchbewegung nach dem Wesen der

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Poesie« (360) in Szene, die sich zugleich als »kulturelle Bildungsreise durch die Geschichte der Mondreise« (357) deuten lässt. * * * Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Ergebnisse der Tagung Ambulante Poesie. Explorationen deutschsprachiger Reiselyrik seit dem 18. Jahrhundert, die vom 5. bis 7. Juli 2018 an der Universität Bern stattgefunden hat.46 Darüber hinaus konnten für den Sammelband weitere Beiträge eingeworben werden, die die im Tagesverlauf thematisierten und diskutierten Aspekte produktiv ergänzen und erweitern. Danken möchten wir Lana Henning für die tatkräftige Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge und Jens Ossadnik für die rasche und kompetente Herstellung der Satzvorlagen. Ebenso danken wir Elke Flatau für die freundliche und hilfsbereite Betreuung des Sammelbands. Schließlich danken wir der Donation Professor Dr. Maria Beatrice Bindschedler und der Mittelbauvereinigung der Universität Bern für die großzügige finanzielle Unterstützung dieses Projekts. Johannes Görbert und Nikolas Immer, Berlin / Trier, im April 2020

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Vgl. Birgit Gabriela Zehnder: Tagungsbericht: Ambulante Poesie. Explorationen deutschsprachiger Reiselyrik seit dem 18. Jahrhundert, 05.07.2018 bis 07.07.2018 Bern. In: H-Soz-Kult, (30. Januar 2019) [http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8072; letzter Zugriff: 04.04.2020].

»So vergönnt ihr Musen dem Reisenden kleine Gedichte« Reiselyrik als epigrammatisches Projekt RALPH MÜLLER Dass die Germanistik überhaupt die Lyrik gegenüber Prosa-Narrativen vernachlässigt, zeigt sich gerade an der Reiselyrik. Der unlängst erschienene Band Einführung in die Reiseliteratur von Andreas Keller und Winfried Siebers1 beschäftigt sich hauptsächlich mit erzählenden Reportagen und im historischen Überblick figuriert Reiselyrik lediglich als historisches Anhängsel des neulateinischen ›Hodoeporicons‹, dem humanistischen Reisegedicht.2 Gleichermaßen marginal behandelt Brenners monumentale Monographie zum Reisebericht in der deutschen Literatur von 1990 die Lyrik. Die Studie begnügt sich mit zwei Seiten Forschungsreferat zu Wiegands Studie über das humanistische Reisegedicht und einzelnen knappen Verweisen auf weitgereiste Dichter des 17. Jahrhunderts wie Angelus Silesius oder Quirinus Kuhlmann.3 Das ist angesichts eines Gesamtumfangs von über 700 Seiten nicht gerade viel und legt einen inhaltlich schwer zu rechtfertigenden Schwerpunkt auf den Prosabericht. Einen erweiterten Blick entwickelt immerhin der Artikel »Reiseliteratur« im Reallexikon, der sich in lobenswerter Weise nicht im Vornherein an auf Genres wie ›Reisebericht‹ oder ›Reiseroman‹ festlegt.4 Nun gehört zur Rhetorik eines Forschungsfeldes, die Vernachlässigung des Gegenstandsbereichs zu bedauern. Doch wird die Lücke betreffend lyrischer Reisedarstellungen schon dann sichtbar, wenn man bedenkt, dass Goethes Römische Elegien auf der ersten italienischen Reise,5 aber auch die Venezianischen Epigramme im Zusammenhang der zweiten Italienreise in diesem Zusammenhang betrachtet werden können. Doch wirft aber das Bemühen, diese Zyklen als Teil der Reiselyrik zu behandeln, einige Fragen auf. Immerhin fällt es gar nicht so leicht, die Gattungsgrenzen zu ziehen, wenn man ›Reiselyrik‹ zu bestimmen sucht. Nicht jedes Gedicht über eine Stadt im Ausland ist gleich ein Reisegedicht. So beschäftigen sich Grünbeins 1 2 3 4 5

Vgl. Andreas Keller, Winfried Siebers: Einführung in die Reiseliteratur. Darmstadt 2017. Zum Hodoeporicon vgl. Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraums im 16. Jahrhundert. Mit einer Bio-Bibliographie der Autoren und Drucke. Baden-Baden 1984. Vgl. Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte (2. Sonderheft Internationales Archiv für Sozialgeschichte). Tübingen 1990, 147. Vgl. Hans-Wolf Jäger: Reiseliteratur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald Fricke u.a., Bd. 3. Berlin 2003, 258–261. Vgl. den Beitrag von Christopher Meid in diesem Band.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_2

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September-Elegien zwar unter anderem mit New York, aber hauptsächlich mit den außerhalb der Vereinigten Staaten spürbaren mentalen Auswirkungen des Anschlags von 9/11.6 Ganz abgesehen davon, dass ausländische Schauplätze kein Kriterium sind, da sich gegebenenfalls eine Reise auch innerhalb der Landesgrenzen abspielen kann – und vielleicht lässt sich Kurt Martis Gedicht in der StadtBerner Mundart im »aletschwald« im Wallis bereits als Reiselyrik verstehen?7 Was macht also ein Reisegedicht aus? Es ist, trivial gesagt, die Reise selbst, aber schon die Bestimmung einer Reise ist alles andere als trivial. ›Reise‹ wird heute vielfach touristisch verstanden. In diesem Sinne könnten aber nur finanziell gesicherte Schichten reisen, vorübergehend ihren angestammten Platz verlassen, um eine entfernte Gegend freiwillig zu erkunden und danach wieder heimzukehren.8 Was aber ist mit Flucht und Vertreibung? Unter welchen Bedingungen lässt sich die unfreiwillige Bewegung von ›displaced persons‹ als Reise verstehen? Hilfreich erscheint der Vorschlag von Carl Thompson, dass Reisen als eine Begegnung des Selbst mit dem Anderen durch Bewegung im Raum zu verstehen sei, bei dem Differenz und Ähnlichkeit, Alterität und Identität konfrontiert werden.9 Unter dieser Perspektive kann auch die unfreiwillige Bewegung im Raum zur Reise werden, wie es nicht zuletzt auch die Lyrik in der Emigration belegt, etwa Bertolt Brechts Hollywood-Elegien. Ebenso kann auf diese Weise eine Fahrradtour ins benachbarte Dorf oder der Gang zum Supermarkt gegebenenfalls zur Reise werden. Reisen, zumindest in dem Sinn, wie er im Folgenden für die Reiselyrik relevant ist, setzt eine bestimmte Einstellung voraus, bei der Reiseerfahrung im Verhältnis zur eigenen Erfahrung als fremd oder auch überraschend vertraut wahrgenommen wird. Mit dieser Präzisierung ist aber noch wenig darüber gesagt, wie Reisen zum Gedicht kommen. Moderne Reisegedichte, im Gegensatz zum Hodoeporicon, nennen nicht unbedingt das Itinerar, sie erwähnen gegebenenfalls Ort und Datum. Vor allem thematisieren sie selten die Reise als Bewegung im Raum, sondern eher isolierte Reise-Erfahrungen, zumeist in der Form von relativ kurz ausgeführten Be-

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Vgl. Durs Grünbein: Erklärte Nacht. Frankfurt a.M. 2002, 50–52. Übrigens zeigt Grünbeins Artikelserie zu diesem Thema in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass der Autor September 2001 in Deutschland war, vgl. Durs Grünbein: Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (19. September 2001). Vgl. Kurt Marti: rosa loui. vierzg gedicht ir bärner umgangsschprach [1967]. 4. Auflage. Neuwied 1972, 8. Zur Kritik und Naivität dieses Konzepts vgl. Brenner: Reisebericht (Anm. 3), 23. Carl Thompson: Travel Writing. London 2011, 10: »If all travel involves an encounter between self and other that is brought about by movement through space, all travel writing is at some level a record or product of this encounter, and of the negotiation between similarity and difference that it entailed.«

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obachtungen. Gleichzeitig geht es in Reiselyrik weniger um objektive Beschreibung als um die persönliche Erfahrung bzw. ›Introspektion‹.10 Dennoch sind ohne einen rekonstruierbaren Bezug auf einen Reisekontext solche Beobachtungen nicht unbedingt als Reiselyrik erkennbar. Daher muss ein hintergründiger Reisebezug gegebenenfalls auf andere Weise signalisiert werden, etwa in den Paratexten (Vorwort, Titel, Orts- und Datumsangaben). Auf diese Weise kann die Reise zum Thema werden, ohne dass Reiselyrik unmittelbar als thematische Gattung zu erkennen ist. Zur Reiselyrik gehört demnach ein Gedicht, das in den Kontext eines minimalen (vermutlich faktischen) Reisenarrativs gestellt werden kann und im Rahmen dieses Kontexts als eine Auseinandersetzung mit einer persönlichen Erfahrung von Fremdem und Anderem an einem anderen Ort erscheint. Die Venezianischen Epigramme werden hier als ein Ausgangspunkt der modernen Reiselyrik betrachtet. Das Folgende gliedert sich dementsprechend in fünf Teile: Anhand eines Venezianischen Epigramms von Goethe möchte ich die Grundlagen präzisieren. Ihnen wird im zweiten Teil eine gefälschte Sammlung von Gedichten, die sich dem Reisethema widmen, entgegengestellt. Den Abschluss bilden drei Teile zu Reisegedichten der jüngeren Gegenwart. 1. Goethes Venezianische Epigramme Es gibt mehrere Gründe anzunehmen, dass Goethes Epigramm 81, aus dem das Titelzitat stammt und das ich im Folgenden in der Fassung letzter Hand zitiere, im Kontext einer Reise stehen könnte. Wichtige Hinweise bietet der Inhalt: Gleich den Winken des Mädchens, des eilenden, welche verstohlen Im Vorbeigehn nur freundlich mir streifet den Arm, So vergönnt, ihr Musen, dem Reisenden kleine Gedichte: O behaltet dem Freund größere Gunst noch bevor! 11 10

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Vgl. auch Charles D. Harrington: Poetry. In: Literature of Travel and Exploration. An Encyclopedia. Hg. von Jennifer Speake, Bd. 2. New York 2003, 970 f., hier 971: »The greatest strength of poetry in delineating the travel experience, however, has been introspective.« Präzisierend ist anzumerken, dass Harrington mit »poetry« allgemein Versdichtung meint und in diesem Sinne die Introspektion als Entwicklung der Reiselyrik in Abgrenzung zur Reise-Versdichtung versteht: »Originally the vehicle for epic, romance and allegory, in more recent years poetry has become introspective and personal, delineating more intimate and psychological aspects of the travel experience.« Der Musenalmanach auf das Jahr 1796 bietet eine andere Version. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Italien und Weimar 1786–1790 II. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 3,2. Hg. von Karl Richter u.a. München 1990, 143. »Wie die Winke des Mädchens, das keine Zeit hat und eilig / Im Vorübergehen nur freundlich mir streifet den Arm, / So vergönnt, ihr Musen, dem Reisenden kleine Gedichte, / O! behaltet dem Freund größere Gunst noch bevor.« (Ebd., 248 f.) Zur Erklärung der Fassung: Im Eingangsvers wurde der Nebensatz durch ein Partizip Präsens ›eilenden‹ und die Beschreibung ›verstohlen‹ ersetzt.

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Da das Stichwort des »Reisenden« explizit in der zweiten Zeile auftaucht, liegt der Schluss nahe, vielleicht gerade hier mit einem Beispiel eines Reisegedichts zu tun zu haben. Wo diese Reise stattfindet, wird hier nicht explizit, aber der Text steht in einer Sammlung, die gemeinhin mit dem Titel Venezianische Epigramme bezeichnet wird. Mit diesen Epigrammen wurde das Gedicht anonym erstmals unter dem Titel Epigramme. Venedig 1790 in Schillers Musenalmanach veröffentlicht. Die Orts- und Zeitangabe im Titel der Sammlung verweist auf einen Reisekontext. Dieser kann im Fall der Epigramme mit Goethes zweiter Italienreise näher bezeichnet werden und wird auch in Lesarten der Epigramme häufig stark gemacht. Während die erste Italienreise 1786 bis 1788 in der Germanistik als erfolgreiche Flucht und Auslöser der Klassik gefeiert wird, genießt der zweite Italienaufenthalt von 1790 einen schlechten Ruf. Goethe schreibt dem Herzog »im Vertrauen« aus Venedig, dass seiner »Liebe für Italien durch diese Reise ein tödtlicher Stos« versetzt worden sei.12 Vielleicht hat Goethe die räumliche Trennung von Christiane Vulpius und seinem gerademal dreimonatigen Sohn August schlecht vertragen. Diese zweite Reise gilt jedenfalls als Auftragsreise,13 um die Herzogin-Mutter Anna Amalia in Italien abzuholen. In welchem Ausmaß Goethe aber gezwungenermaßen diese zweite Reise antreten musste oder vielmehr aus eigenem Antrieb auf die Reise ging, ist in der Forschung jedoch umstritten.14

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Oswald weist darauf hin, dass »der Sprachfluss artikulierter und leichter wirkt« und die geschilderte Situation »durch die Heimlichkeit größere Anschaulichkeit und Intensität« gewinnt. Vgl. Stephan Oswald: Früchte einer großen Stadt – Goethes Venezianische Epigramme. Heidelberg 2014, 403, Fußnote. Brief an den Herzog Carl August vom 3. April 1790; Johann Wolfgang Goethe: Goethes Briefe. Weimar – Oberitalien – Schlesien – Weimar. 18. Juni 1788–8. August 1792. In: Ders.: Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 9. Weimar 1891, 197. Vgl. auch Kommentar der Münchener Ausgabe: »Gängigen Vorstellungen zufolge handelte es sich um eine von G.s Dienstherrn Carl August angeordnete ›Dienstreise‹: G. habe die Herzogin Anna Amalia von ihrer Italienreise abholen sollen. Doch die Zeugnisse aus dem Spätwinter 1790 sprechen eine andere Sprache: G. selbst war es, der bei der Herzogin die ›angenehme Erwartung‹ geweckt hatte, ihr ›ein Stückchen entgegen gehen‹, und zur Begründung seines Anerbietens ausführte: ›Ohne Kosten macht mirs einen großen Spaß, denn ich muß wieder etwas fremdes sehen.‹«. (Goethe: Italien und Weimar 1786–1790 II (Anm. 11), 486) Vgl. den Brief an Herzog Carl August vom 28. Februar 1790; Goethe: Goethes Briefe. Weimar – Oberitalien – Schlesien – Weimar. 18. Juni 1788–8. August 1792 (Anm. 12), 179. Wobei bisweilen Uneinigkeit besteht, in welchem Ausmaß es vielleicht doch auch auf Goethes eigenen Wunsch stattgefunden haben könnte. Vgl. z.B. Günter Häntzschel: »Überschriften« und »Kapitel«. Die »Welt« der Venetianischen Epigramme Goethes. In: Goethezeitportal (2003) [http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/epigramme_haentzschel.pdf; letzter Zugriff: 09.08.2019]. [Zuerst in: Lichtenberg-Jahrbuch 2000 (2001), 127–144].

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Man sollte also vorsichtig sein, bevor man die Venezianischen Epigramme als Ausdruck einer schwindenden Italienbegeisterung liest. Dennoch haben im Vergleich zur ersten Italienreise sich 1790 die äußeren Umstände der Reise gründlich verändert. Es ist ein Jahr nach dem Ausbruch der Französischen Revolution, und die weitere Arbeit an den Epigrammen wird sich mit Unterbrechungen über die Koalitionskriege erstrecken, an denen Goethe als Beobachter teilgenommen hatte. Die Bedrohung der Ordnung durch die Umwälzungen der Französischen Revolution, wo die »Menge der Menge Tyrann« wurde,15 wird bisweilen in den Venezianischen Epigrammen thematisiert.16 Zu dieser kritischen Reflexion der politischen Situation gesellt sich zudem eine deutliche Italienkritik: Das ist Italien, das ich verließ. Noch stäuben die Wege, Noch ist der Fremde geprellt, stell’ er sich, wie er auch will Deutsche Redlichkeit suchst du in allen Winkeln vergebens; Leben und Weben ist hier, aber nicht Ordnung und Zucht; […] Schön ist das Land; doch ach! Faustinen find’ ich nicht wieder. Das ist Italien nicht mehr, das ich mit Schmerzen verließ.17

Dies steht in einem Gegensatz zur Faszination, die in Goethes Schilderungen des ersten Venedig-Aufenthalts im Herbst 1786 in der Italiänischen Reise zum Ausdruck gebracht wird.18 Im Gegensatz zur Italiänischen Reise lässt sich aber auch die Chronologie des Aufenthalts kaum aus den Gedichten herauslesen. Die Venezianischen Epigramme sind eben kein Reisebericht. Der biographische Bezug vieler Lesarten von Goethes Venezianischen Epigrammen wurde von Stephan Oswald als Belastung für die Rezeption des Werkes bezeichnet.19 Oswald bemüht sich demgegenüber, die Epigramme einem ›epigrammatischen Ich‹ zuzuschreiben, das sich zwischen Autor und Gedicht schiebe. Das Sprecher-Ich der Epigramme sei demnach Teil einer literarischen Fiktion, zu der nicht nur der Inhalt des Gesagten, sondern auch die Figur dessen gehört, der es artikuliert.20 Eine solche Fiktionalisierung des Ichs im Epigramm könnte als 15 16 17 18 19 20

53. Epigramm; Johann Wolfgang Goethe: Epigramme. Venedig 1790. In: Ders.: Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 1. Weimar 1887, 305–331, hier 320. In der Handschrift findet sich noch das 42. Epigramm: »Frankreich hat uns ein Beispiel gegeben, nicht daß wir es wünschten / Nachzuahmen, allen merkt und beherzigt es wohl.« (Goethe: Italien und Weimar 1786–1790 II [Anm. 11], 94). 4. Epigramm; Goethe: Epigramme. Venedig 1790 (Anm. 15), 308. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Italiänische Reise I. In: Ders.: Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 30. Weimar 1903, besonders 97–152. Vgl. Oswald: Früchte einer großen Stadt (Anm. 11), 15. »Die Konsequenz dieser biographischen Deutung war gravierend, weil dadurch das epigrammatische Ich automatisch als die Stimme Goethes verstanden wurde. Auf diese Weise geriet die

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Argument verwendet werden, um auch den Reisebezug zu lockern. Problematisch scheint mir aber, wenn eine Literarisierung nicht ohne Fiktionalisierung denkbar ist. Dass eine unvermittelt biographische Behandlung der Gedichte als Tagebuch einer Reise nicht aufgeht, das ergibt sich schon allein aus der komplizierten Editionsgeschichte der Venezianischen Epigramme. Belege in Briefen lassen zwar erschließen, dass die Epigramme schon bei Antritt der Reise als Büchlein geplant waren,21 und bei seiner Rückkehr im Juli 1790 konnte Goethe bereits ein nennenswertes Konvolut von Epigrammen in einem Heft redigieren.22 Dieser Prozess kann beispielsweise anhand der Faksimile-Ausgabe der Handschriften, die die Handschriften H 56 und 55 für die Rekonstruktion des Entstehungsprozesses zugänglich macht, betrachtet werden.23 Vergeblich wird man aber den Text von Epigramm 81 in den Handschriften suchen.24 Dieser Text ist nämlich erst nach der Reise entstanden. Da von der Reise bis zur ersten umfangreichen Publikation von 1795 in Schillers Musen-Almanach einige Jahre verstrichen, liegt der Schluss nahe, dass insbesondere Epigramm 81 mit zeitlicher Distanz rückblickend auf die Venedig-Reise verfasst wurde. Der unmittelbare Schreibanlass (die Venedig-Reise) und die Abfassung des Gedichts sind also zeitlich deutlich versetzt. Nun wäre es ein übertriebener Formalismus, wenn man aufgrund zeitlicher Distanz von Reise und Gedichtfassung das Epigramm 81 aus der Reiselyrik ausschließen würde. Immerhin zeigt sich in der Publikation die Intention, dass der Text im Zusammenhang mit dem Venedig-Aufenthalt gelesen werden soll. Zudem würde man sich, wenn man den Text wegen der zeitlichen Distanz ausschlösse, einem biographistischen Erlebnislyrik-Konzept verschreiben, das – man kann es eigentlich nur karikieren – den Dichter mit der Feder in der Hand durch die Reisedestinationen treibt, wo er spontan authentische Eindrücke in Verse fasst. Wie die Geschichte des Epigramms 81 zeigt, muss in der Reiselyrik das Verhältnis zwischen Anlass und Gedicht kein unmittelbares sein. Es genügt, dass das Gedicht in die Verarbeitung eines Reisenarrativs gestellt wird. Und dieses Narrativ ergibt sich im vorliegenden Fall nicht

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spezifische Sageweise der Gattung aus dem Blick, in der die Sprecherstimme nicht automatisch mit dem Autor identisch ist und die zum Ausdruck gebrachten Ansichten und Urteile keineswegs mit denen ihres Verfassers übereinstimmen müssen. Häufig ist das Sprecher-Ich der Epigramme Teil der literarischen Fiktion, zu der nicht nur der Inhalt des Gesagten, sondern auch die Figur dessen gehört, der es artikuliert.« (Ebd., 15). Vgl. Ebd., 160. Golz weist darauf hin, dass Goethe Martials Epigramme als Reiselektüre mitgenommen hatte. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Venezianische Epigramme. Eigenhändige Niederschriften, Transkription und Kommentar. Hg. von Jochen Golz und Rosalinde Gothe. Frankfurt a.M. 1999, 365 f. Vgl. Goethe: Italien und Weimar 1786–1790 II (Anm. 11), 488. Vgl. Goethe: Venezianische Epigramme (Anm. 21). Vgl. auch Oswald: Früchte einer großen Stadt (Anm. 11), 403.

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zuletzt dadurch, dass das Gedicht in den Kontext einer Epigrammsammlung gestellt wurde, die sich auf einen Venedig-Aufenthalt des Dichters um 1790 bezieht. Durch diese Einordnung in die Epigramme ist das Gedicht in eine Sammlung geraten, die aufgrund der thematischen Zusammenhänge und Gegensätze zwischen den Gedichten auch als »Zyklus« bezeichnet wird.25 Die Texte beziehen sich demnach aufeinander. Diese Bezüge betreffen auch den Inhalt. Manche Texte über die Lacerten (eigentlich Eidechsen) erschließen sich nur aus der Lektüre einer Reihe von Epigrammen als Gedichte über venezianische Prostituierte. Ebenso wurde die Epigramm-Gruppe um die Gauklerin Bettine mit größerer Aufmerksamkeit bedacht.26 Das Epigramm 81 fügt sich wiederum in eine ganze Reihe von Gedichten, die relativ unabhängig von konkreten Venedig-Referenzen allgemeinere Aussagen bieten.27 Zugleich stellt es einen relativ freizügigen Umgang mit Fragen der Sexualität heraus, in diesem Fall in einem offenkundigen Kontrast zur abwesenden »Liebsten« im vorangehenden Epigramm 80. Nicht nur aufgrund des Titels kann man das Epigramm 81 im Kontext der gleichnamigen Gattung betrachten. Dass die Sammlung in einem frühen Stadium in dieser Hinsicht konzipiert wurde, belegt Goethes briefliche Ankündigung eines »Libellum Epigrammatum« im April 1790.28 Diesen Gattungsbezug signalisiert zudem das beim römischen Epigrammatiker Martial entliehene Motto »Hominem pagina nostra sapit« (›unsere Seiten schmecken nach Mensch / kennen den Menschen‹).29 Einige Epigramme thematisieren diese satirische Funktion, wie etwa der Vorwurf im Epigramm 59: »Seid doch nicht so frech, Epigramme!« In der Antwort werden die Epigramme selbst zu sprechenden Figuren und verteidigen ihren zum Teil ungehörigen Inhalt mit dem Wesen der Welt: »Warum nicht? Wir sind nur / Überschriften; die Welt hat die Kapitel des Buchs.«30 25 26 27 28

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Vgl. z.B. ebd. Vgl. Wolfdietrich Rasch: Die Gauklerin Bettine. Zu Goethes Venetianischen Epigrammen. In: Aspekte der Goethezeit. Hg. von Stanley A. Corngold u.a. Göttingen 1977, 115–136, hier 115 (als »Teilzyklus«). Eibl spricht bei den nachfolgenden Epigrammen von Spänen aus der Zeit der Römischen Elegien. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1756–1799. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. I.1. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt a.M. 1987, 1142. »Ich fürchte meine Elegien haben ihre höchste Summe erreicht und das Büchlein möchte geschloßen seyn. Dagegen bringe ich einen Libellum Epigrammatum mit zurück, der sich Ihres Beyfalls, hoff ich, erfreuen soll.« (Brief an Herzog Carl August vom 3. April 1790; Goethe: Goethes Briefe. Weimar – Oberitalien – Schlesien – Weimar. 18. Juni 1788–8. August 1792 [Anm. 12], 198). Auch das Eingangsepigramm der Venezianischen Epigramme, dieses allerdings in Reimen gefasst (»Wie man Zeit und Geld verthan, / zeiget dieses Büchlein lustig an«), fügt sich in die Tradition des Epigrammbuchs ein. Erst ab 1815 war es Teil der Drucke der Epigramme. Vgl. Johann Wolfang Goethe: Epigramme (Anm. 15), 440. Zur Bedeutung von Martial für diese Gedichtsammlung vgl. u.a. Oswald: Früchte einer großen Stadt (Anm. 11), 115. Sowie auf der Innenseite: »Heac ego mecum / compressis agito labris, ubi,

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Das metrische Muster des reimlosen Distichons, bestehend aus einem Hexameter und einem Pentameter, das Goethe bereits in den Römischen Elegien angewandt hatte, steht also bei den Venezianischen Epigrammen in dem etwas anders gelagerten Kontext einer tendenziell satirischen Gattung. Das ist keineswegs selbstverständlich, denn Ende des 18. Jahrhunderts ist das Epigramm nicht notwendigerweise satirisch pointiert und die Verwendung des Distichons ist in der deutschsprachigen Gattung noch nicht etabliert. Herder hatte sich beispielsweise in seinen Anmerkungen über die Anthologie der Griechen, besonders über das griechische Epigramm (1784) gegen die Auffassung gewandt, ein Epigramm solle satirisch und pointiert sein.31 Goethes Orientierung an Martial in den Venezianischen Epigrammen entspricht demgegenüber dem Lessingschen Modell,32 das eine Zweiteiligkeit des Epigramms, bestehend aus Erwartung und pointiertem Aufschluss, postulierte.33 Damit bezieht das »Libellum Epigrammatum« implizit Position in einem Streit über das richtige Wesen des Epigramms. Und der satirische Gestus und die Freizügigkeit der Worte in Goethes Epigrammen stehen dem römischen Vorbild von Martial wenig nach. Sie haben selbst unter Freunden Goethes Entrüstung ausgelöst und die Überlieferung mancher ungedruckter Epigramme wurde durch Eingriffe mit Rasierklingen in den Manuskripten nachträglich erschwert.34 Mit Martial teilen die Epigramme zudem die Auseinandersetzung mit dem Großstadtleben. Im vorliegenden Fall ist es nicht das Treiben im antiken Rom, aber der Wechsel aus der Kleinstadt Weimar in die Großstadt Venedig dürfte bereits markant genug sein. Die Venezianischen Epigramme wurden daher bisweilen sogar als erste Beispiele von deutschsprachiger Großstadtlyrik behandelt.35 Zumindest ist die Anonymität des Adressanten (im Sinne eines Gegenübers des Adressaten im Gedicht) in einer Stadt mit neuen Attraktionen eine Voraussetzung für das im Epigramm 81 evozierte Geschehen. Das Gedicht beschreibt eine Begegnung in der Stadt, die dem Reisenden zwar ungewohnt, für ihn dennoch als Einladung einer Prostituierten dekodierbar ist. Bei näherem Hinsehen gibt aber gerade das 81. Epigramm wenig preis über Venedig. Das zweite Distichon identifiziert den Reisenden als Dichter und lenkt

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quid datur oti, / illudo chartis. Illoc est mediocribus illis / ex vitiis unum« aus den Satiren von Horaz (I.IV, V. 137–140). Vgl. Johann Gottfried Herder: Anmerkungen über die Anthologie der Griechen, besonders über das griechische Epigramm. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 15. Hg. von Bernhard Suphan. Berlin 1888, 205–221. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm und einiger der vornehmsten Epigrammisten. In: Ders.: Werke, Bd. 5: Literaturkritik, Poetik und Philologie. Hg. von Herbert G. Göpfert und Jörg Schönert. Darmstadt 1973, 420–529. Vgl. Ralph Müller: Theorie der Pointe. Paderborn 2003, 62–64. Vgl. u.a. Goethe: Italien und Weimar 1786–1790 II (Anm. 11), 494. Vgl. auch Oswald: Früchte einer großen Stadt (Anm. 11), 357–377.

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die Aufmerksamkeit weg von der Stadt. Stephan Oswald behandelt das 81. Epigramm überzeugend als ein poetologisches Epigramm. Es ist, wenn man so will, weniger ein Gedicht über eine Reise als eines über Reiselyrik. Der Bezug zwischen der städtischen Begegnung und dem Dichten wird durch einen Vergleich hergestellt: In den ersten zwei Versen wird die flüchtige und einladende Berührung einer Prostituierten geschildert, die mit freundlichem Streifen den Reisenden zum Beischlaf auffordert. Im dritten Vers wird diese Begegnung etwas unkonventionell auf das Empfangen von Epigrammen durch die Musen übertragen: »So vergönnt, ihr Musen, dem Reisenden kleine Gedichte«. Das Epigramm entwickelt in dieser Hinsicht ein etwas ungewöhnliches Inspirationskonzept, in dem der Dichter auf seiner Reise unversehens von der Muse ›angerempelt‹ wird. Dadurch wird das Verhältnis zur Inspiration nicht nur erotisch anrüchig, die Muse selbst wird mit einer etwas aufdringlichen Dirne verglichen, mit der es zu einer im Übrigen flüchtigen Begegnung kommt. Überträgt man diese Überlegungen auf die Epigramme insgesamt, erscheinen diese als ephemere Nebenprodukte aufregender Anlässe und Gelegenheiten, die sich auf der Reise ergeben.36 Das Epigramm 81 verweist in dieser Hinsicht auf den Gelegenheits- und Anlasscharakter sowohl von Epigrammen als auch Reiselyrik im Allgemeinen. Es lässt sich aber überhaupt auf das Dichten beziehen und wird als Meta-Reiselyrik zur Reise-Metalyrik. Nimmt man das Inspirationskonzept ernst, dann zeichnet sowohl das Epigramm als auch die Reiselyrik eine gewisse Zufälligkeit und Diskontinuität aus. Trotz thematischer Gliederung des Epigramm-Zyklus ergeben die kleinen Gedichte kein geschlossenes Werk. Auch im Epigramm 81 erhofft sich der Adressant und Dichter in der letzten Zeile noch größere Gunst: So wie sich der Adressant als Reisender in der fremden Stadt eventuell eine länger anhaltende erotische Beziehung wünschen mag, erbittet der Dichter in diesem Zusammenhang ein umfangreicheres Werk (ein Epos oder ein Drama?).37 Doch richten wir nochmals den Blick auf die Reise als Anlass. Oswald hat in seiner Analyse des Epigramms 81 nachdrücklich auf den Großstadtkontext verwiesen: Bis ins Detail ist hier die venezianische Ausgangssituation geschildert: das lebhafte Treiben auf den Straßen, das anonyme Durcheinander einer großen Anzahl von Passanten, in dem es zu einer überraschenden Begegnung kommt. Diese ist nur scheinbar

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Boyle und Oswald verweisen in diesem Zusammenhang auch auf die fehlende Kontinuität dieser Inspiration: »Abgesriss’ne[n] Gespräch«, das der Wanderer mit den Musen pflegt. Vgl. Oswald: Früchte einer großen Stadt (Anm. 11), 401 f., sowie Nicholas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit, Bd. 1: 1749–1790. München 1995, 766. Vgl. Ernst Maaß: Die Venetianischen Epigramme. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 12 (1926), 68–92; Oswald: Früchte einer großen Stadt (Anm. 11), 404.

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Ralph Müller zufällig, in Wirklichkeit wird sie von der entgegenkommenden jungen Frau absichtsvoll herbeigeführt.38

Das Vokabular, mit dem Oswald seine Analyse präsentiert, könnte darauf schließen lassen, dass er als nächstes über den Poeten als Flaneur spricht, tatsächlich fällt der Vergleich mit Baudelaires A une passante schon eine Seite später.39 Aber auch Oswald ist vorsichtig genug, keinen direkten Weg von den Venezianischen Epigrammen in die Pariser Großstadt des 19. Jahrhunderts anzunehmen.40 Es führt aber ein direkter Weg von dieser epigrammatischen Reiselyrik bis in die Gegenwart. Wie noch zu zeigen ist, kennzeichnet die absichtsvoll-zufällig herbeigeführte Inspiration durch Reise-Erfahrung die Reiselyrik allgemein. 2. Gefälschte Reiselyrik Nach dieser Betrachtung eines Grundtyps der Reiselyrik sei zunächst ein Blick auf einen Fall gefälschter Reiselyrik geworfen, nämlich den Gedichtband Die Reisen. In achtzig Gedichten um die ganze Welt. Der Gedichtband ist nicht in dem Sinne gefälscht, dass eine behauptete Reise nicht stattgefunden hätte, vielmehr waren die enthaltenen Gedichte überhaupt nicht als authentischer lyrischer Ausdruck beabsichtigt. Der Band wurde 1987 unter dem Namen des österreichischen Lyrikers Franz Josef Czernin im Wiener Residenzverlag publiziert.41 Kurz nach der Publikation distanzierten er und sein Kollege Ferdinand Schmatz sich von dieser Buchpublikation in einem weiteren Buch mit dem Titel Die Reise. In achtzig flachen Hunden in die ganz tiefe Grube. »Lieber Herr Jung«, schrieb Czernin in einem Brief, der im letzten Buch abgedruckt wurde, an den damaligen Lektor des Residenzverlags Jochen Jung, heute Verleger des angesehenen Jung und Jung Verlags: »Jetzt, da Sie diesen Brief erhalten, wissen Sie wohl schon, daß DIE REISEN in eine andere Richtung gehen, als sie [sic] geglaubt haben.« Czernin fährt fort: Sie sind mir freundlich entgegengekommen und Ihre Freundlichkeit wie auch Ihre Freude über DIE REISEN war so ansteckend, daß ich mit Ihnen die Modalitäten der Veröffentlichung der Gedichte besprechend, immer wieder vergessen konnte, daß es sich um Gedichte handelte, die ich normalerweise gar nicht schreiben würde.42

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Vgl. Oswald: Früchte einer großen Stadt (Anm. 11), 402. Vgl. ebd., 404. Vgl. ebd., 410. Vgl. Franz Josef Czernin: Die Reisen. In achtzig Gedichten um die ganze Welt. Wien 1987. Franz Josef Czernin, Ferdinand Schmatz: Die Reise. In achtzig flachen Hunden in die ganze tiefe Grube. Mit einem Essay von Franz Schuh und einer Nachschrift von Heimrad Bäcker. Linz o.J. [1987], 110 f.

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Die Publikation war mit Ferdinand Schmatz entstanden und offensichtlich darauf ausgelegt, die Akzeptanz von oberflächlicher Lyrik bloßzustellen. Sie versucht die These zu belegen, dass der zeitgenössische Lyrikgeschmack, der in mittleren und großen Verlagen vertreten wird, leicht zu bedienen ist, diese Lyrik aber ihr sprachliches Material zu wenig reflektiere bzw. gar hintergehe. Dabei geht es um die Widerlegung einer ganzen Poetik des 20. Jahrhunderts.43 Nun ist es nicht gerade der feine Stil, wenn ein angesehener Autor aus der österreichischen sprachexperimentellen Tradition einen engagierten Verleger mit etwas zugänglicheren Gedichten ködert. Czernin und Schmatz sind erfahrene Lyriker, die genau wissen, wie man Gedichte auch machen kann, sodass ihre flink produzierte Dutzendware gar nicht so schlecht wirkt. Sie wirkt gut genug, dass ich mich frage, ob ich kritischer gewesen wäre als der Residenz-Verlag. Immerhin wäre die Sammlung trotz des Stichworts »Reisen« für das Analysekorpus hier gar nicht in Frage gekommen, allein schon weil der erforderliche Kontext eines konkreten Reisenarrativs nicht erschließbar ist.44 Aber die Art und Weise, wie diese Sammlung intendiert schlechter Lyrik die Anforderung von Reiselyrik nicht erfüllt, ist instruktiv für dieses Thema. Der Titel Die Reisen. In achtzig Gedichten um die Welt ist bei näherem Hinsehen banal. Die Banalität merkt man insbesondere im Vergleich zum Titel der polemischen Antwort: Die Reisen. In achtzig flachen Hunden in die ganze tiefe Grube. Dieser Titel erweckt zumindest Assoziationen über die Jules-Verne-Anspielung hinaus zum »Grubenhund«, wie man in den Geisteswissenschaften den akademischen Hoax nennt, und zur literarischen Totengräberei. Aber lässt es sich auch an den Gedichten selbst festmachen, dass es sich um ›dümmere‹ Lyrik oder gar ›beschränkte‹ Reiselyrik handelt? Die »sechsundzwanzigste Reise« wurde auch von Czernin kommentiert, hier sei zunächst diese ›Reise‹ selbst zitiert:

43 44

Ohne Namen zu nennen, kritisieren die Autoren unter anderem etablierte Lyrikerinnen und Lyriker wie Peter Huchel, Ingeborg Bachmann und Paul Celan (vgl. ebd., 35, 40, 41). Es geht also um Unterschiede zwischen ästhetischen Programmen. Ein solcher Kontext fehlt übrigens auch für den kürzlich erschienenen Gedichtband von Czernin, der im Titel und Inhalt vor allem intertextuell funktioniert, insbesondere mit Bezug auf den Liederzyklus Die Winterreise. Vgl. Franz Josef Czernin: reisen, auch winterlich. München 2019.

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Ralph Müller ist mein blick nicht eine schere, deren beine schritte machen, die alle fernen auseinanderschneiden? hat denn die schere keine augen, die zu ringen werden jener finger, die auf ihre ziele zeigen? Und gehen diese ziele nicht auf zwei füssen, deren zehen auf nägel treten, die meine ganze reise zusammennageln?

Man muss gut mit Czernins Werk vertraut sein, um den Betrug zu erkennen. Die Form der wiederholten Suggestivfrage ist aufdringlich, aber Fragen und Wiederholung sind probate Mittel der Poesie. Tatsächlich kritisiert Czernin anhand dieses Beispiels die ›penetrante‹ Redundanz vieler Gedichte, in diesem Fall anhand von drei parallel gestalteten Strophen verwirklicht.45 Der Vorwurf lautet weiter, dass das Verfahren der Permutation in diesem Fall genau in dem Moment abgebrochen worden sei, als es »den anvisierten Tiefsinn als existentielle Großspurigkeit oder aufgeplustertes Innenleben in Frage stellen könnte«.46 Die Form der Suggestivfrage ist im vorliegenden Fall insofern irritierend, als die Position des Adressanten zu den Themen seltsam unbestimmt bleibt. Das Unterscheiden und Scheiden in der ersten Strophe, das Zeigen und Verweisen in der zweiten Strophe, aber auch das Fixieren und der Zweck (der ja ursprünglich nichts anderes war als ein Nagel, wie man noch heute am Wort ›Heftzwecke‹ ersehen kann) werden erwähnt. Aus der Sicht Czernins müssten aber solche Themen die Sprache selbst berühren und nicht einfach Gegenstand melancholischer Innerlichkeit bleiben. Offensichtlich haben wir es in diesem Fall mit den besonderen Ansprüchen einer Poetik zu tun. Es ist anzunehmen, dass ebenso ein Großteil der Reiselyrik wenig Akzeptanz in den Augen von Czernin finden könnte. Dennoch lässt sich diskutieren, inwiefern die Gedichte auch als Reiselyrik nicht überzeugen, weil die 45 46

Vgl. ebd., 24. Ebd., 30.

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Fragen, die die Sprache insgesamt betreffen müssten, nicht zum Gegenstand und Mittel des Gedichts werden. Nichts, was man nicht ebenso zu Hause schreiben könnte. Nichts, was durch den im Gedicht angesprochenen Blick geschnitten würde. Weder entwickelt das Gedicht die vagen Bezüge zur Wirklichkeit noch wirken sich die wiederholten Fragen auf die Haltung und Sprache des Adressanten aus. Auch wenn die Literatur nicht auf Czernins Poetik zu verpflichten ist (man darf wohl anmerken, dass Leserinnen und Leser, die die Gedichte von Celan oder Bachmann schätzen, nicht samt und sonders als Banausen abgetan werden können, sondern auf andere Aspekte Wert legen), lässt sich anhand dieser Fälschung die Herausforderung formulieren, dass bessere Reiselyrik mehr leisten könnte als sprachliche Darstellung eines exotischen Sachverhalts oder versifizierte Introspektion. 3. Verknappung der Reiselyrik Die Auseinandersetzung mit Goethes Venezianischen Epigrammen legte nahe, Reiselyrik insbesondere im Kontext ihres expliziten und impliziten Reisenarrativs zu betrachten. Formfragen des lyrischen Gebildes spielen gerade in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle. So scheint es schon bei Goethe augenfällig, dass ein Reisenarrativ nicht zu umfangreich ausfällt. Die moderne Reiselyrik verfügt, im Gegensatz zum neulateinischen Hodoeporicon,47 über keine versifizierte Darstellung einer Reise mit Abfolge von Stationen in gegebenenfalls lobenswerten Städten und bei wichtigen Gelehrten. Moderne Reiselyrik lässt sich in diesem Sinne kaum durch eine im Gedicht ausgeführte Reisebewegung begründen und ebenso implizit bleibt eine thematische Klammer einer solchen Reise. Anders als im Herbst- oder Liebesgedicht ergibt es sich nicht selbstverständlich aus der Darstellung eines Sachverhalts. Vielmehr muss der Gegenstand als Station oder Inspiration auf einer Reise erkennbar sein. Dies wird in vielen Fällen durch den Titel selbst oder eine peritextuelle Anmerkung von Datum und Ort des Bezugs gelöst, seltener durch Andeutungen im Text selbst. Aus diesem Grund lassen sich moderne Reisegedichte sehr gut in erzählende Reiseberichte einfügen. Gerade romantische und nachromantische Reiseberichte (beispielsweise Wilhelm Müller Rom, Römer und Römerinnen, Heines Reisebilder oder Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg) integrieren eine Vielzahl von Liedern und lyrischen Ansichten in die Texte. In solchen Fällen sichert der Prosatext den Kontext eines Reisenarrativs und führt dieses weiter aus. Eine ähnliche Wirkung können meines Erachtens auch schon Gattungstraditionen und -kontexte erzielen. Ein parodistisches Beispiel, das auf diese Weise funktioniert, 47

Vgl. Wiegand: Hodoeporica (Anm. 2).

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ist beispielsweise Robert Gernhardts Venedichsonett. Den Gattungskontext des Sonetts hat Gernhardt selbst nachhaltig geprägt, insbesondere durch das berühmte Gedicht Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs, das eine wüste Sonett-Beschimpfung (man erinnere sich an die Eingangszeile »Sonette find ich sowas von beschissen«) in vollendeter Sonett-Form arrangiert.48 Relevant für die Reiselyrik ist dagegen die deutsche Tradition des Italien- und insbesondere Venedig-Gedichts, auf die das vorliegende Gedicht parodistisch reagiert. Und damit meine ich nicht nur das Venedig-Gedicht etwa in der Verlängerung über Nietzsche.49 Intertextuell lässt sich die erste Zeile auf Goethes Harfnerlied im Wilhelm Meister Wer nie sein Brod mit Thränen aß,50 aber auch August von Platens (der übrigens einen ganzen Venedig-Zyklus verfasst hat) Tristan-Gedicht Wer niemals die Schönheit angeschaut mit Augen51 beziehen. Gernhardt-typisch werden diese Vorlagen in ihrem historischen Pathos hintergangen. Die Techniken der Komisierung betreffen etwa die Anpassung des Auslauts von Venedig an die im Norden übliche mündliche Aussprache (»Venedich«), hierfür werden auch die Laute der Versanfänge manipuliert, damit sich der Text in das Akrostichon fügt und der Name der Stadt die zwei Quartette abdeckt: Ver niemals in Venedich ist gewesen, Ei, der hat wirklich allerhand versäumt. Nanu! Denkt der, der dort war, ganz verträumt, Ech habe vorher nie davon gelesen, Daß diese Stadt von Wasser ist umschäumt, Indem sie, nicht wie Harz und wie Vogesen, Canz flach sich macht gleich einem blanken Tresen, Horausgesetzt, man hat ihn aufgeräumt:52 48 49

50 51

52

Vgl. Robert Gernhardt: Wörtersee. Gedichte [1981]. Frankfurt a.M. 1997, 164. »An der Brücke stand / jüngst ich in brauner Nacht. / Fernher kam Gesang: / goldener Tropfen quoll’s / Über die zitternde Fläche weg. / Gondeln, Lichter, Musik – / trunken schwamm’s in der Dämmerung hinaus… // Meine Seele, ein Saitenspiel, / sang ich, unsichtbar berührt, / heimlich ein Gondellied dazu, / zitternd vor bunter Seligkeit. / – Hörte Jemand ihr zu?…« (Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile [2. Auflage 1887]. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. V.3. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin 2003, 291). Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. [Erstes bis drittes Buch]. In: Ders.: Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 21. Weimar 1903, 217. Eine neuere Platen-Ausgabe liegt leider nicht vor, aber man kann den Erstdruck (noch mit einer Strophe mehr als in der Fassung-letzter-Hand) in digitalisierter Form im Morgenblatt für gebildete Stände nachlesen. Vgl. August von Platen: Lyrische Stücke aus ungedruckten Dramen. Aus Tristan und Isolde. In: Morgenblatt für gebildete Stände 218 (12. September 1825), 869. Robert Gernhardt: Venedichsonett. Ein Akrostichon. In: Ders.: Später Spagat. Gedichte. Frankfurt a.M. 2006, 113.

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Insofern ist das Gedicht zunächst von der komischen Spannung zwischen hohem Stil und niedrigem Stil sowie dem hochliterarischen Anspruch von Akrostichon und Sonett und der gezwungenen Ausführung geprägt. Das Gedicht zeigt aber mehr als Scheitern an Form und Gegenstand. »Lesen« ist kein gesuchter Reim auf Vogesen; gewiss hätte Gernhardt auch passende Reime auf Taunus, Hunsrück oder Schwarzwald gefunden. »Lesen« wird in einem solchen Gedicht zu einem metapoetischen Kommentar. Wie viele andere Gedichte ist dies ein Gedicht über Gedichte, genauer gesagt über Gedichte, die gelesen werden sollten. Angesichts der Tatsache, dass dies nicht das erste Venedig-Gedicht ist, wäre anzunehmen, dass der Adressant entweder unbelesen ist oder ein unerhörter bzw. ungelesener Vergleich folgt. Die letzte Erwartung wird erfüllt oder besser gesagt: untererfüllt. Der touristische Blick übertrumpft nicht die literarischen Vorbilder, sondern stellt im behäbig gesuchten Vergleich vor, dass Venedig »flach« sei wie ein »Tresen, / Horausgesetzt, man hat ihn aufgeräumt«, und zwar im Gegensatz zu mittelgroßen Gebirgen wie Harz und Vogesen. Der Übergang von vier Quartetten zu den zwei Terzetten ist durch einen auffälligen Doppelpunkt markiert. Nicht, dass der Ton hier ernsthafter würde, aber der Adressant verlässt die literarhistorische Perspektive und nimmt an dieser Stelle eine Außenperspektive auf die Reaktion des Touristen als »aufgeschrecktes Wasserhuhn« ein, der in komischer Weise vom Anblick der Stadt in der Lagune überwältigt wird. So plan ist auch das Wasser der Lagune Ous dem die Stadt wie eine Göttin steigt. Nicht möglich! Denkt entgeistert, wer sie sieht. Er gleicht dem aufgeschreckten Wasserhuhne Tem sich am Horizonte etwas zeigt. Tas es mit jeder Faser an sich zieht.53

Gernhardt bietet im Venedichsonett ein Beispiel, wie mit einem Titel ein Gedichtinhalt in einen Reisekontext gerückt werden kann. In anderen Gedichten hat er einen solchen Kontext auch durch peritextuelle Hinweise angedeutet. Dies zeigen seine ICE-Gedichte im Band Lichte Gedichte.54 Die Titel tragen jeweils in sich selbst ein Mini-Reisenarrativ, beispielsweise Frankfurt / Main – Zürich, 5.5.95 im Gegenlicht oder Zürich – Frankfurt / Main 6.5.95 mit Rückenlicht.55 Das erste Gedicht lobt im gehobenen Ton einer Hymne in freien Rhythmen: »Schön 53 54 55

Ebd. Vgl. Robert Gernhardt: Lichte Gedichte. 5. Auflage. Zürich 1998. Ebd., 138–140.

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streckt das Land sich / Und geht in Terrassen / Über in Berge / ausdauernd geschwungen und sehr grün gestellt / Vor den wölbenden Himmel.«56 Daran schließt sich eine existenzielle Betrachtung über den Menschen an, der – nicht zuletzt hinter dem Fenster des schnellen ICEs – von diesen »Bildern« und den sie bewohnenden Tieren getrennt ist: »Aber / Was weiß vom Jubel / Des Schafes, des Reihers der Mensch / Geschieden von ihnen auf immer / Und eilig.«57 Das zweite Gedicht »mit Rücklicht« gibt demgegenüber eine kurze epigrammatische Antwort in der Form zweier Pentameter, die an das Distichon – die antike und antikisierende Form des Epigramms – erinnert. Mit Rückenlicht verliert die bezaubernde Landschaft ihre Wirkung: »Ohne Geheimnis die Welt. Nur eine Frage der Richtung.« Diese Landschaft verhält sich antithetisch zur vorangegangenen Ansicht, was auch im Gegensatz von »Rundung« und »Fläche« am Ende des Epigramms angedeutet wird, denn »[f]ällt mit der Sonne dein Blick, wirkt das Gerundete flach.«58 4. Reiselyrik als Projekt An den letzten Beispielen lässt sich eine Beobachtung nochmals wiederholen, die sich bereits bei Goethes Venezianischen Epigrammen aufgedrängt hat, nämlich dass Reiselyrik zur Bildung von Gruppen oder gar Zyklen tendiert. In den Lichten Gedichten hat Gernhardt die ICE-Gedichte beispielsweise im Teil Beweglich zusammengestellt. Ausgesprochen lakonisch sind die Hinweise demgegenüber in Nora Bossongs Sommer vor den Mauern, worin Gedichte zu italienischen und chinesischen Stätten verstreut sind, aber der Teil Neue alte Welten durch Referenzpunkte in New York wie 49th Street, Union Square und Trinity Church geprägt ist.59 In Ulrike Draesners Band Berührte Orte wird Weltläufigkeit gar zum Prinzip und umfasst bekannte und exotische Lagen in Marokko (Passstraße des Tizi-nTichka), Damaskus, aber auch von Indien bis Skandinavien.60 Solche Gruppierungen können auch zu Reiseprojekten auswachsen. Von ›Projekten‹ könnte gerade deshalb die Rede sein, wenn die Lyrik nicht nur als vereinzelte Dokumentation einer Reiseerfahrung, sondern als integraler Teil einer literarischen Recherche mit unvertrautem Lokaltermin erscheint. Damit tritt ein literarisches Projekt vor oder zumindest neben einen pragmatischen Reiseanlass und die Recherche professionalisiert und entromantisiert das Reisemotiv, indem der lyrische Ausdruck den journalistischen Praktiken angenähert wird. Es ist wohl 56 57 58 59 60

Ebd., 138. Ebd., 139. Ebd., 140. Vgl. Nora Bossong: Sommer vor den Mauern. Gedichte. München 2011, 33–41. Vgl. Ulrike Draesner: berührte orte. München 2008.

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nicht zufällig, dass ein solches Projekt dann häufig in einem eigenen Buch herausgegeben und von Paratexten aller Art begleitet wird. Als Beispiel hierfür könnte Durs Grünbeins Sammlung von Haikus unter dem Titel Lob des Taifuns stehen, wobei in diesem Fall nicht nur durch die Zusammenstellung eine Reise markiert wird, sondern auch durch die relativ umfangreichen Peritexte, die jeweils über Datum, Ort und Anlass des Haikus Auskunft geben.61 Dies erinnert an die Beiläufigkeit und Anlassgebundenheit, die bei den bisherigen Beispielen beobachtet werden konnten. Zudem gibt Grünbein in den Paratexten einen ausführlicheren Projektbericht. Grünbein spricht bei seinen Haikus von »Reisenotizen in Stenogrammform«.62 Der Text wird somit zum eiligen Medium der Erinnerung und Ersatz für die Sofortbildkamera: Mir, der ich nie photographiere, schien das Haiku die günstigste Alternative zum Polaroid – einer Technik, die nun ihrerseits obsolet ist. Es ging mir darum die einzelnen inneren Aufnahmen sofort begutachten zu können – auf einer weißen Notizbuchseite.63

Die Selbstinszenierung als eigensinniger Reisender ist nicht zu übersehen. Ebenso auffällig ist die Anlass- und Gegenstandsbezogenheit der Gedichte. Diesen Bezug teilen die Gedichte mit dem Epigramm, dessen Merkmale in der exotischen Form des Haikus reaktiviert werden. 5. Fallstudie Barbara Köhler Überzeugend scheint mir das Problem von Referenz, Subjekt, Sprache und äußerer Begegnung in Barbara Köhlers Band Istanbul, zusehends gelöst zu sein, den ich als symptomatisch für die heutigen Reisenden in Sachen Lyrik betrachte. Für den Band erhielt sie 2016 den Peter-Huchel-Preis, einen in den Medien nicht so bekannten, aber unter Lyrikerinnen und Lyrikern höchst angesehenen Preis, mit dem unter anderem auch Monika Rinck, Friederike Mayröcker, Thomas Kling, Durs Grünbein und andere mehr ausgezeichnet wurden.

61

62 63

Vgl. auch den Beitrag von Johannes Görbert in diesem Band. Nach eigener Auskunft war Grünbein 2008 bereits viermal in Japan gewesen (Reisen 1999, 2002, 2003, 2005). Vgl. Durs Grünbein: Lob des Taifuns. Reisetagbücher in Haikus. Mit Übertragungen ins Japanische und einem Nachwort von Yûji Nawata. Frankfurt a.M. 2008, 110. Jedes Haiku ist mit Datum und Ortsangabe versehen, z.B. 16. Oktober 1999, Tokyo Akasaka (ebd., 11). Ebd., 107. Ebd., 107.

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Der Titel Istanbul, zusehends legt bereits die ›blickende‹ Auseinandersetzung mit Fremdheit nahe. Falls es aber Zweifel an einem solchen Reisekontext noch geben sollte, so wird dieser durch die Peritexte des Bandes ausgeräumt. Wir werden informiert, dass Barbara Köhler 2014 in die Großstadt am Bosporus reiste und sich dort längere Zeit im Viertel Beyoğlu aufhielt.64 Es ist gleichzeitig nicht ungewöhnlich für die gegenwärtige Dichtergeneration, dass die Texte von einem Bildprogramm begleitet werden – selbst Grünbein, trotz dezidiert antitechnischer Haltung in Lob des Taifuns, greift auf Bilder zurück. Ohne das Umschlagsfoto von Kacheln zählt der Band 55 Fotos im Verhältnis zu 24 Gedichten und einem zehnseitigen Essay sowie einem Glossar. Einige der Texte bedecken mehr als eine Seite, doch deutet die Anzahl der Fotos bereits auf ein leichtes Übergewicht des bildlichen Mediums. Insgesamt enthält der Band kaum Bilder, die man als touristisch im engeren Sinne einstufen würde, die etwa die Autorin vor der Hagia Sophia zeigen würden. Einzelne Bilder im Band erfüllen allenfalls ein ethnographisches Schema von Reisefotos, die Einheimische mehr oder weniger ungezwungen in ihrem gewohnten Habitat oder bei alltäglichen Verrichtungen zeigen. Es gibt ein Foto, das die Autorin zeigt, das aber zugleich mit Kamera, Spiegel und Fotos von Fotos die ›Sehen‹-Thematik wiederholt, und zwar in einer für den Band typischen Schachtelung: Eingefasst in einer Wand mit großflächiger Plakat-Werbung für die türkische Bierbrauerei Efes ist ein ovaler, goldgerahmter Spiegel (der an van Eycks Arnolfini-Hochzeit erinnert), in dem klein die Autorin mit ihrer Kamera im Moment des Bildaufnehmens zu sehen ist.65 Die Fotografie vertieft wiederkehrende Motive des Bandes. Ich erwähne in kurzer Folge:   

Widerspiegelungen in Fenstern und Spiegeln, die häufig auch Spuren, flüchtige Ansichten und Schatten der Autorin aufweisen.66 Fotoapparate und Kameras.67 Fotos von Fotos, insbesondere mit Gesichtern.68

Am Interesse für Kacheln und Wände, viereckige Flächen, durchsichtigen und undurchsichtigen Wänden ist ein weiterer Zusammenhang zwischen Fotografie und Literatur bei Köhler erkennbar.69 Gerade der Bezug zur viereckigen Fläche trägt 64 65 66 67 68 69

Vgl. den Hinweis der Kunststiftung NRW; Barbara Köhler: Istanbul, zusehends. Gedichte / Lichtbilder. 3. Auflage. Düsseldorf 2016, 86. Ebd., 84. Vgl. ebd., 4, 6, 32, 42, 61, 65. Vgl. ebd., 11, 37, 87. Vgl. ebd., 18, 20 f., 23, 32. Vgl. ebd., 69, 67, 44.

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einen unmittelbar poetologischen Aspekt, denn die Kachelform ist ebenfalls kennzeichnend für die Form von Barbara Köhlers Texten. Auf den ersten Blick widersprechen ihre Texte im Blocksatz der formalen Erwartung gegenüber Gedichten, dass sie – im Gegensatz zur Prosa – linksbündig formatiert sind. Dass es dennoch mehr als Prosa im Blocksatz sein könnte, ist daran absehbar, dass die Gedichte bis in die letzte Zeile keine Abweichungen gegenüber dem Blocksatz aufweisen. Das liegt daran, dass jede Zeile auf eine exakte Zeichenanzahl festgelegt ist. Nehmen wir zum Beispiel das erste Gedicht Nazarlik. Nazarlik ist ein Amulett, das ein blaues Auge darstellt, welches Schutz gegen den bösen Blick bietet. Nazarlik eröffnet die Thematik des Sehens und Nicht-Sehens in diesem Band und verbindet den Blick der Reisenden mit dem Gesehen-Werden in der fremden Großstadt. Die Augenstadt: behängt mit Amuletten gegen den bösen Blick, mit blinkenden Schildern die nichts besagen als: DAS SIEHST DU NICHT, mit Spiegeln und ver siegelten glänzenden Oberflächen, von denen sich das meiste abwischen lässt und die Gärten vorstelln (die gibt es nicht): Medusengärten, Augengärten an denen man sich nicht satt sehen kann; aber das Schauen verliert sich an sie in vorgezeichneten Schwüngen Rhythmen Bögen in Kobalt und Türkis in Schwarz und Weiß wie diese Amulette die Augen der Überwachungskameras (schlaflos in tausendundkeiner Nacht) die jeden auf nehmen und nur zu erkennen geben dass alles registriert wird mit geweiteten Augen die Medusen an den Säulenbasen, auf denen die Stadt nicht ruht, nicht zur Ruhe kommt: abgeweandt, abgewendet ihre Augen starrend gebannten Blicks.70

70

Ebd., [8].

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Jede Zeile besteht aus 37 Anschlägen, die Leerzeichen mitgezählt. Inhaltlich zeichnet sich der Text durch ein jeweils enges Geflecht von semantischen und phonischen71 Ähnlichkeiten aus. Thematisch werden die Motive der Kacheln und glänzenden Flächen aufgegriffen. Man beachte in Vers vier und fünf die »Spiegel«, aber auch die »glänzenden Oberflächen«, die zugleich auf die farbig-glänzenden Kacheln mit Pflanzenmotiven verweisen, ornamentale Gärten, deren Oberfläche zugleich Verblendung und Blickfang ist. Das Schauen wird auch in seiner Bedrohlichkeit aufgezeigt. Zum einen, indem die Adressantin sich beobachtet fühlt, beispielsweise beim Verweis auf die Überwachungskameras (»schlaflos in / tausendundkeiner Nacht)«. Zum anderen werden diese Kameraaugen mit dem abgewandten Blick der Medusen konfrontiert – an dieser Stelle wird zugleich eine touristische Referenz auf die Medusen in Säulenbasen Cisterna Basilica deutlich.72 Es gibt Nicht-Gesehenes und tatsächlich findet sich im Band keine Abbildung eines Nazarlik, es ist sozusagen tatsächlich das Ungesehene. Sehen und Sagen bzw. Nicht-Sehen und Schweigen hat auch eine politische Dimension. Zeitlich liegt Köhlers Reise kurz nach der gewaltsamen Niederschlagung der Gezi-Proteste im Jahr 2013, im Gedicht Zahlen 11.-13.03.2014 gedenkt die Autorin auch des Todes von Berkin Elvan, der im Alter von 14 Jahren am Rande der Gezi-Park-Proteste beim Brotkauf von einer Tränengaspetarde am Hinterkopf getroffen wurde und im März 2014 nach monatelangem Koma verstarb. Die angespannte Situation einer unterdrückten Opposition kurz vor dem versuchten Militärputsch von 2016 ist in Gedichten in Hinweisen auf den stummen Protest des Stehenbleibens auf dem Taksim-Platz enthalten.73 Mehrere Charakteristika der Reiselyrik tauchen in Köhlers Band auf (oder kehren wieder). Wie viele Lyrikerinnen und Lyriker der Gegenwart kommentiert Köhler ihr eigenes Werk, in diesem Fall in einem begleitenden Essay Seeing Sight. Eine Nachbetrachtung. Dieser verweist nochmals nachdrücklich auf den faktischen Kontext einer Reise der Autorin, und die damit verbundene Beschäftigung mit dem Selbst aus Anlass der fremden Stadt, wobei Referenzen auf touristische Bezüge sparsam ausfallen. Der Tourist ist (wie so oft seit dem Aufkommen des Massentourismus im 19. Jahrhundert) das Gegenbild, denn – so die Autorin im Essay –:

71

72 73

Das Verfolgen von Lautähnlichkeiten wächst sich auch zum Wortspiel aus: »ICH HAB NOCH EINEN KOFFER IN / Existanbul. In Realistanbul?! / Oder etwa gar in Aoristanbul? / Optimistanbul: Futuristanbul! / Pessimistanbul Fatalistanbul: / Polizistanbul und Tristanbul. /Spezialistanbul. Egoistanbul, / Solistanbul und Touristanbul. / So: Resistanbul! Artistanbul!« (Ebd., [68]). Vgl. ebd., [7], die Fotografie eines Medusenhauptes der Säulenbasis der Cisterna Basilica, eine der wenigen Abbildungen, die ein identifizierbares touristisches Objekt zeigen. Vgl. ebd., [30] (»VERKEHR [DURAN ADAM]«).

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Touristen sind keine Fremden; Touristen sind Touristen. Für sie gibt es vorgesehene Habitate und Verhaltensweisen, gibt es die Touren, die empfohlen, gefahrlos abzuklappern, und No-go-Areas; es gibt die vorgesehenen Motive, die vertraute Bilder versprechen, in die man selbst problemlos passen wird und so versichert sein kann, teilzuhaben an der Eigenheit des jeweiligen Ortes.74

Köhler versteht dagegen ihren Aufenthalt als »Experiment in Fremdheit«. Und zwar unter den erschwerten Bedingungen, »wenn man nicht glaubt, die eigenen Wahrnehmungsmuster seien auch geeignet für den Rest der Welt«.75 Das ist kein Reisen aus Erfahrungslust oder zur beiläufigen Visite kultureller Denkmäler, sondern ein geplantes Projekt, eine Recherche – nicht unbedingt als teilnehmende Beobachtung, sondern eher Feldforschung als Selbst-Experiment am lebenden und wahrnehmenden Subjekt, dem Selbst. Sehen und Verstehen können bei Wahrnehmungsmustern kaum getrennt werden. Das Ziel, sich ein »Bild [zu] machen von dieser Stadt«, stößt auf »Fremdheit«, aber auch auf das »Unvermögen, etwas einzusehen«.76 Und Verständnisprobleme finden ihre Parallele in glänzenden Oberflächen, dekorierten »Blickblocker[n]«, die ein oberflächliches Sight-Seeing nicht zu durchdringen vermag.77 Stillstellen im Bild und Text wird so zum privilegierten Zugang. Das beschreibt Köhler mit durchaus martialischen Termini. Sie spricht von »Nahkampf mit Distanzwaffentechnik«.78 Gemeint ist insbesondere ihre eigene kleine Kamera, »bloß eine bessere Knipse«,79 die die Autorin stets »schussbereit«80 hält. Das erscheint auch wie Selbstschutz. Köhler spricht direkt von der Fremdheit des Zustandes, »unter Beobachtung zu stehen«81 und zwar sowohl im Rahmen sozialer Kontrolle als auch der Überwachungskameras. Köhlers Projekt-Essay schlägt dann einen kühnen Bogen von der türkischen Sprachpolitik seit Atatürk über die heilige Sprache des Korans hin zur Überlegung des Heilig-Fremden. Und schließlich auch dies: das Interesse für die türkische Grammatik, die die zweiwertige Logik von Aktiv und Passiv und damit von Sehen und Gesehen-Werden in der deutschen Sprache übersteigt. Türkisch, so klärt die Autorin auf, kennt neben der Aktiv- und Passivform noch die Kausativ-, Reziprok-

74 75 76 77 78 79 80 81

Ebd., 72. Ebd. Ebd., 73. Vgl. ebd., 72 f. Ebd., 71. Ebd. Ebd., 73. Ebd., 71.

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und Reflexivform: »görmek«: ›sehen‹, »görülmek«: ›gesehen werden‹, »göstermek«: ›jemandem etwas zeigen‹, »görüsmek«: ›sich sehen‹, »görünmek«: ›sich sehen lassen‹. Diese vielfältigen Bezüge des Sehens sind letztlich nicht ohne eine Wertschätzung des schönsten Blickfangs, des Ornaments, denkbar, das sich unversehens zum Eigentlichen steigert: Muster, Tableaux, Bilder, die nicht narrativ sind, nichts erzählen, sondern im Vorzeigen einladen zum Vollziehen vielfältiger Bewegungen, Berührungen, Windungen, Verbindungen, die sie herstellen, sichtbar machen; organisches Wachstum zitierend, ohne es zu imitieren – eher abstrahieren sie: gestalten eine Natur-Ordnung mittels Reihungen, Rhythmen, Symmetrien. Ein musikalisches, tänzerisches Prinzip und eine Art floraler Mandalas auch: Augenweiden, die dem Sehen Nahrung geben, Substanz.82

Im Hinblick auf Köhlers Gedichte ist dies nicht nur eine Reise-Beobachtung, sondern ein poetologischer Kommentar zu den eigenen Gedichten. Ihre Gedichte sind ebenso rechteckige, kunstvolle (Text-)Flächen. Der Essay ist ein leidenschaftliches Plädoyer, dass der rasende Erzählfluss oder »fifty frames per second« (in Anspielung auf die Abfolge filmisch bewegter Bilder, eventuell auch auf die SadoMaso-Schmonzette von E. L. James), als Bewegung in eine vorgegebene Richtung nicht die einzige Form des Weltzugangs ist. Köhlers Essay plädiert für »Bilder«, die einen »Bewegungsraum diesseits der Bilder« bieten. Bilder, »die wir machen und die uns sehen machen könnten, göstermek, oder uns etwas vormachen, vorspielen: görünmek. Als ob – göruüsmek – die Bilder auch uns sehen könnten, würden und es einen Moment gäbe, in dem es zum Treffen kommt«.83 Reiselyrik – und hier schließt sich nochmals der Kreis zu Goethes flüchtiger Begegnung mit einer Miet-Muse – ist Ergebnis einer absichtlich herbeigeführten, dennoch zufälligen Begegnung mit dem Fremden. 6. Fazit Reiselyrik setzt im Gedicht formulierte Beobachtungen in den Kontext einer Reise. Sie profiliert sich auf diese Weise im Gattungsspektrum der Reiseliteratur, indem sie eine Tendenz zur Kontemplation und Introspektion in ein Thema bringt, das aufgrund von Bewegung im Raum auf den ersten Blick eher für narrative Gattungen geeignet scheint. Positiv gewendet bietet Reiselyrik ein Mittel, um Fremdheitserfahrung in ihrer Fremdheit in isolierten und dennoch zusammenhörigen, kurzen Momentaufnahmen sprachlich fassbar zu machen. Während Lonely Planet 82 83

Ebd., 79. Vgl. ebd., 79.

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oder Reise-Knowhow sicherere Wegleitung durch die Fremdheit einer exotischen Stadt versprechen, bietet Reiselyrik sich demgegenüber als literarisches Dokumentationsmittel besonderer Art an. Zum einen zeigen die Beispiele von Goethe bis zur Gegenwartslyrik, dass auf diese Weise eine individuelle Perspektive auf Gegenstände der Reise ausgedrückt werden kann. Mit dem individuellen Bezug auf das touristische Objekt weist Reiselyrik eine starke Tendenz zum Epigrammatischen auf. Typisch für die Reiselyrik ist dabei die anlassbezogene Momentaufnahme, die eine Beiläufigkeit oder gar Flüchtigkeit des Textentwurfs suggeriert, abgefasst mit dem Schreibzeug bei Goethe und Grünbein, gegebenenfalls mit Unterstützung der Kamera bei Köhler. Zugleich weist die Reiselyrik eine introspektive Tendenz auf, mit deren Hilfe ein Adressant sich seiner selbst vergewissert. Es geht letztlich weniger um den in seiner Exotik wahrgenommenen Gegenstand als um die Haltung der Reisenden. Begegnung mit dem Fremden kann zur Begegnung mit sich selbst und der eigenen Sprache werden.

I. Kulturelle Konstruktionen

Ein »Barbare« auf Reisen Goethes Römische Elegien CHRISTOPHER MEID Bei der literarischen Gestaltung von Reiseerfahrungen kommt in den Jahren um und nach 1800 antiken Formen wie der Elegie oder dem Epigramm eine besondere Bedeutung zu.1 Das hat sicherlich mit einer allgemeinen Wiederbelebung antiker Metren im Umfeld des Weimarer Klassizismus zu tun, dürfte aber auch ganz konkret an dem Vorbild Goethes liegen, der in den beiden Zyklen der Römischen Elegien (1795) und der Venetianischen Epigramme (1796) die Form des elegischen Distichons für lyrische Explorationen nicht nur des bereisten Ortes, sondern darüber hinaus übergreifender kulturhistorischer Zusammenhänge und anthropologischer Befindlichkeiten nutzt.2 Besonders die erstmals 1795 in Schillers Horen publiziert Römischen Elegien3 wurden vielfach als literarische Verarbeitung von Goethes Romaufenthalt verstanden. Eine solche Interpretation kann sich auf Elemente des Textes beziehen: Das lyrische Ich von Goethes Römischen Elegien ist nicht nur ein liebendes, sondern auch ein reisendes Ich; der Sprecher thematisiert seine exotische Herkunft, entwirft und problematisiert das Programm einer Bildungsreise und schildert Episoden aus dem römischen Alltagsleben. Im Zentrum des lyrischen Zyklus steht das Verhältnis von Distanzerfahrung und ihrer Überwindung durch die Anverwandlung der Fremde in kultureller wie auch in erotischer Hinsicht: Es geht damit um die Möglichkeit, Kulturgeschichte sinnlich zu erfahren und diesen Vorgang ästhetisch zu gestalten. Dabei ist die Liebe sowohl Medium der Traditionserfahrung als 1 2

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Vgl. etwa die Sizilische Distichen-Reise des baltischen Schiller-Verehrers Carl Gotthard Graß: Sizilische Reise, oder Auszüge aus dem Tagebuch eines Landschaftsmalers. Stuttgart 1815, 221– 240. Die Forschung zu beiden Zyklen ist mittlerweile kaum zu überschauen. Vgl. den Überblicksartikel von Reiner Wild: Römische Elegien. In: Goethe-Handbuch. Bd. 1: Gedichte. Hg. von Regine Otto und Bernd Witte. Stuttgart/Weimar 1996, 225–232. Vgl. zur neueren Forschung Elisabeth Böhm: Epoche machen. Goethe und die Genese der Weimarer Klassik zwischen 1786 und 1796. Studie zu den Römischen Elegien und den Venetianischen Epigrammen in Schillers Musenalmanach. Bremen 2017. Ich zitiere die Druckfassung der Horen nach der Münchner Ausgabe [MA]: Römische Elegien. In: MA 3.2, 38–77; Nachweise erfolgen im Text unter Angabe von Elegie und Verszahl. Vgl. auch den Kommentar von Hans-Georg Dewitz, ebd., 444–485. Die Bezeichnung Römische Elegien für die hier diskutierte Textgruppe erscheint erstmals am 7. August 1799 in einem Brief mit Schiller; die Handschrift von 1791 trug die Überschrift Erotica romana, in den Horen waren die Texte lediglich mit der generischen Gattungsbezeichnungen Elegien überschrieben. Vgl. MA 3.2, 448 f.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_3

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auch Gegenstand eigenen Rechts – und nicht zuletzt Triebkraft der künstlerischen Produktion. Bei seiner Evokation geglückter Einheit orientiert sich Goethe bekanntlich an den antiken Liebeselegien der ›Triumvirn‹ Horaz, Tibull und Properz sowie an den Dichtungen Ovids. Der vermeintlich authentizitätsgesättigte Text ist tatsächlich ein hochgradig intertextuelles Gebilde, der gerade Referenzen auf antike Prätexte zur Gestaltung anschaulicher Episoden aus dem zeitgenössischen Rom nutzt. Dabei dienen die intertextuellen Referenzen nicht nur dazu, die moderne Dichtung in antike Traditionslinien zu stellen, sondern paradoxerweise auch der Inszenierung von Authentizität. Diese Beobachtung bildet den Anlass, um der schier unüberschaubaren Menge von literaturwissenschaftlichen Äußerungen über die Römischen Elegien eine weitere hinzuzufügen. Der Fokus liegt dabei auf den reiseliterarischen Schreibweisen der Texte. Wie thematisieren die Elegien Reiseerfahrungen? Auf welche Motive greifen sie zurück? Wie nutzt Goethe literarische Traditionen, um Unmittelbarkeit und Authentizität zu fingieren? In einem ersten Schritt diskutiere ich die Römischen Elegien im Hinblick auf ihre Gattungszugehörigkeit und die zyklische Anlage, dann zeige ich an einem reiseliterarischen Rezeptionszeugnis der Römischen Elegien, wie Goethes Texte als Reiseführer rezipiert wurden, um schließlich anhand einer ausführlicheren Analyse der zweiten Elegie das für Reiseliteratur konstitutive Verhältnis von Fremd- und Selbstbild zu erörtern und in diesem Zusammenhang die ironisch aufgeladene Semantik des Barbarischen in den Blick zu nehmen. 1. Die Römischen Elegien – ein lyrischer Reisebericht? Anders als der Titel vermuten lässt, entstanden die Römischen Elegien nicht in Rom, sondern erst zwischen 1788 und 1790 nach Goethes Rückkehr aus Italien in Weimar.4 Im wohl durch Karl Ludwig von Knebel angeregten intertextuellen Dialog mit den römischen Elegiendichtern Horaz, Tibull und vor allem Properz entwirft Goethe das erfüllte Bild eines beglückenden Romaufenthalts,5 während dessen sich die Erfahrung von Sexualität und antiker Kultur wesentlich durchdringen – sinnfällig gefasst in der fünften Elegie, die das Programm des Zyklus prägnant zusammenfasst.6 Bereits das erste Distichon exponiert im Präsens die erhöhte

4 5 6

Vgl. MA 3.2, 444–449. Knebel schickte Goethe am 24. Oktober 1788 einen Band mit Gedichten von Catull, Tibull und Properz. Vgl. ebd., 468. Vgl. Terence James Reed: Liebeslehre. Goethes Fünfte Römische Elegie. In: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Hg. von Olaf Hildebrand. Köln u.a. 2003, 50–69.

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Stimmung des reisenden Deutschen (»Froh empfind’ ich mich nun auf klassischem Boden begeistert, / Lauter und reizender spricht Vorwelt und Mitwelt zu mir«; V. 1 f.), der seine Tage mit gelehrter Lektüre verbringt, die sinnlich beglückenden Liebesnächte mit der jungen Römerin aber keineswegs als Gegensatz dazu versteht, sondern geradezu als steigernde Erfüllung der Antike-Erfahrung, verbürgt doch der Kontakt mit dem weiblichen Körper das bessere Verständnis antiker Skulptur: Und belehr ich mich nicht? wenn ich des lieblichen Busens Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab. Dann versteh ich erst recht den Marmor, ich denk’ und vergleiche, Sehe mit fühlendem Aug’, fühle mit sehender Hand. (V. 7–10)

Die fünfte Elegie listet in deutlicher Nähe zu Herders Plastik-Aufsatz (1778) synästhetische Vorstellungen auf.7 Diese Arten des sinnlichen Erkenntnisgewinns stehen zumindest in mittelbarem Bezug zu Schreibweisen der zeitgenössischen Reiseliteratur um 1800, die zunehmend die reine Gelehrtenreise zugunsten sinnlicher Arten der Wirklichkeitserfassung abwertet. Die Römischen Elegien zitieren zwar Motive der traditionellen Bildungsreise, stellen aber ihre Überbietung durch die Versinnlichung der Fremde ins Zentrum. Gerade die Kombination von Bildungsund Vergnügungsreise verbürgt eine ganzheitliche Erfahrung von Gelehrsamkeit und Genuss.8 Derartige punktuelle Übereinstimmungen bieten selbstverständlich keine hinreichende Begründung, um Goethes Römische Elegien als ambulante Poesie zu klassifizieren. Schließlich wäre es kaum erkenntnisfördernd, jeden lyrischen Text, der in irgendeiner Weise fremde Orte thematisiert, als Reisegedicht zu rubrizieren. Dazu sollte wohl die explizite Darstellung oder Reflexion von Reisen treten. Bei ersten, notwendigerweise tastenden Annäherungen an das theoretisch noch nicht fest umrissene Feld der Reiselyrik kann es sich als hilfreich erweisen, Definitionen verwandter Gattungen in den Blick zu nehmen, um das proprium lyrischer Reiseverarbeitungen näher zu bestimmen – dezidiert nicht in normativer Absicht, sondern zunächst deskriptiv, um ein heuristisches Merkmalsraster zu entwickeln, das wiederum als Grundlage künftiger Annäherungen an das Thema dienen kann. 7

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Vgl. Johann Gottfried Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Träume [1778]. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hg. von Jürgen Brummack/Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1994, 243–326. Zu Herders Einfluss auf Goethes Elegien vgl. die Ausführungen von Reed: Liebeslehre (Anm. 6), 58–60. Vgl. zur Reiseliteratur der Aufklärung Uwe Hentschel: Studien zur Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Autoren – Formen – Ziele. Frankfurt a.M. u.a. 1999; Keyßlers Welt. Europa auf Grand Tour. Hg. von Achatz von Müller. Göttingen 2018.

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Reiseberichte schildern laut Barbara Korte »eine Reise in ihrem Verlauf und stellen somit Erzähltexte dar«.9 Legt man dieses strenge Kriterium an die Römischen Elegien an, so muss man konzedieren, dass nicht die Rede davon sein kann, dass dort eine komplette Reise dargestellt würde – das trifft aber auch auf eine Vielzahl kanonisierter Prosa-Reiseberichte nicht zu. Gleichwohl handelt es sich bei Goethes Elegien nicht einfach um die Aneinanderreihung ›lyrischer‹ Impressionen, sondern durchaus um einen Zyklus mit genuin epischen Elementen – darin im Übrigen der antiken Elegie verbunden, die vielfach narrative Züge aufweist.10 Neben den antiken Prätexten gehören auch die motivverwandten zeitgenössischen Reiseberichte in das Umfeld von Goethes Dichtung.11 Sie aktualisiert Schreibweisen der römischen Liebeselegie und verweist zugleich auf Tendenzen des empfindsamen Reiseberichts, der in programmatischer Abkehr von gelehrten Auflistungen von ›Fakten‹ die Subjektivität des Reisenden ins Zentrum stellt.12 Die narrativen Elemente der einzelnen Elegien sind dabei leichter zu fassen als die Gesamtanlage des Zyklus. Vorgeschlagen wurden etwa eine Dreiteilung, eine Vierteilung bzw. eine axialsymmetrische Gliederung des Elegien-Zyklus.13 Dass kein Konsens über die Gliederungsprinzipien besteht, liegt an der komplizierten Entstehungs- und Publikationsgeschichte, die verhindert, dass eine definitive Version identifiziert werden kann. Überlegungen, die auf Zahlenverhältnissen basieren, müssen demnach ebenso spekulativ bleiben wie die Rekonstruktion einer Liebeshandlung – zu unklar ist die Gesamtzahl der zu berücksichtigenden Texte und ihre Anordnung.14

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Barbara Korte: Der englische Reisebericht. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne. Darmstadt 1996, 1. Vgl. Niklas Holzberg: Die römische Liebeselegie. Eine Einführung. 2., völlig überarbeitete Auflage. Darmstadt 2001. Vgl. Albert Meier: Von der enzyklopädischen Studienreise zur ästhetischen Bildungsreise. Italienreisen im 18. Jahrhundert. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hg. von Peter J. Brenner. Frankfurt a.M. 1989, 284–305. Vgl. Uwe Japp: Amor / Roma. Goethes Liebeskonzeption in den Römischen Elegien. In: Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800. Hg. von Carsten Rohde. Berlin/Boston 2013, 145–163, hier 147: »Zwar werden kleinere Liebesgeschichten in Versen erzählt, zum Beispiel die Geschichte von der Verabredung in der Schenke oder diejenige von dem ungerechtfertigten Verdacht, aber ergibt sich daraus eine kohärente Erzählung mit Anfang, Mitte und Ende?« MA 3.2, 454 f. Vgl. Horst Rüdiger: Goethes Römische Elegien und die antike Tradition. In: Goethe-Jahrbuch 95 (1978), 174–198, hier 181 f.: »Doch eine wirklich zwingende Absicht der Anordnung ist weder aus zwanzig noch aus zweiundzwanzig noch gar aus allen vierundzwanzig Stücken (einschließlich der beiden Priapeen) zu erkennen.«

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Dessen ungeachtet lässt sich in den Römischen Elegien doch ein inhaltlicher Bogen feststellen: Die erste Elegie gestaltet die Erwartung des frisch in Rom eingetroffenen Sprechers, der sich (wohl in Kenntnis der zeitgenössischen Apodemik) zum typischen Reisenden stilisiert:15 »Noch betracht’ ich Paläst und Kirchen, Ruinen und Säulen, / Wie ein bedächtiger Mann sich auf der Reise beträgt.« (I, V. 9 f.) Die folgenden Gedichte berichten variierend von der Erfüllung der Liebeshoffnung und ihren beglückenden Auswirkungen auf den Sprecher. Vor diesem Hintergrund scheint es fruchtbarer, den Zyklus als eine Variationenreihe zu verstehen: Nachdem der Boden bereitet ist und die zentralen Themen gesetzt wurden, spielen die verschiedenen Elegien diese Themen durch; dabei lassen sie sich durchaus als autonome Texte lesen, als Texte jedoch, die in sich vielfach erzählen und mithin episch strukturiert sind. Ein Minimalkonsens besteht über den Prolog- bzw. Epilogcharakter von erster und letzter Elegie. Dabei setzt der Zyklus gleichsam medias in res mit der Apostrophe der römischen Bauwerke ein, die metonymisch für die Stadt stehen – »Saget Steine mir an, o! sprecht, ihr hohen Paläste« (I, V. 1) –, die darauffolgenden Elegien tragen analeptisch zuvor Geschehenes, namentlich die Alpenüberquerung des »nordischen Gastes«, nach und stellen ausschnitthaft Momente der Romerfahrung in den Mittelpunkt (vor allem die zunehmende Vertrautheit mit der Stadt und ihren Bewohnern), ehe die abschließende zwanzigste Elegie noch einmal eine poetologische Wende nimmt:16 »Dir Hexameter, dir, Pentameter sei es vertrauet / Wie sie des Tags mich erfreut, wie sie des Nachts mich beglückt.« (XX, V. 21 f.) Dort adressiert der Sprecher abschließend die Elegien: »Und ihr, wachset und blüht, geliebte Lieder und wieget / Euch im leisesten Hauch lauer und liebender Luft, / Und, wie jenes Rohr geschwätzig, entdeckt den Quiriten / Eines glücklichen Paars schönes Geheimnis zuletzt.« (XX, V. 29–32) Die Liebesdichtung erscheint somit als Frucht der Reise und als Medium intimer Aussprache – zwar hochgradig stilisiert, aber zugleich zu Versuchen der Referentialisierung einladend.

2. Müller – Goethe – Ovid Mit einem Reisebericht in Distichen haben wir es also nicht zu tun, wohl aber mit einem lyrischen Zyklus, der Motive und Schreibweisen epischer Reisedarstellungen spielerisch aufnimmt und reflektiert – und der eben deshalb von Zeitgenossen 15 16

Vgl. Reiner Wild: Goethes klassische Lyrik. Stuttgart/Weimar 1999, 41: Im »Eingangsgedicht wie überhaupt in den Elegien des Zyklus« spreche »der Reisende, der Besucher aus dem Norden, der Fremde, der bei seiner Ankunft ein Rom sieht, das geprägt ist von seiner Geschichte«. Vgl. Japp: Amor / Roma (Anm. 12), 147 f.: »Die Narration der Römischen Elegien endet offen: mit ironisch exponierter Prädominanz des Aussprechens gegenüber dem Verschweigen und der Hereinholung einer expliziten Selbstreferenz der Dichtung.«

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als versifizierter biographischer Bericht gelesen wurde, allerdings in denkbar unterschiedlicher Weise. Denn während für den Weimarer Zirkel die kaum verschlüsselten Bezüge auf der Hand lagen – es gehe um die literarisierte, nach Rom transponierte skandalträchtige Liebeserfahrung mit Christiane Vulpius, die Goethe wenige Wochen nach seiner Rückkehr aus Italien kennengelernt hatte –,17 verstanden spätere deutsche Romreisende den Zyklus als versifizierte Reiseschilderung. In seinem Reisebericht Rom, Römer und Römerinnen (1820) beschreibt der Vormärzdichter Wilhelm Müller eine typische Kneipenszene:18 Eine Tradition unter den deutschen Malern hat den Namen der Osterie aufbewahrt, in welcher Göthe das anmuthige Abentheuer erlebte, das er in der funfzehnten römischen Elegie beschrieben hat. Die Osterie trägt das Zeichen einer goldenen Glocke und liegt auf dem Platze am Theater des Marzellus, unfern dem Ghetto degli Ebrei. Heute wanderte eine Gesellschaft fröhlicher Deutscher nach dieser Schenke, vielleicht mit so klassischer Begeisterung, als ob ihre unscheinbaren Mauern die Überbleibsel einer antiken Popina oder Taberna wären. Der Oste hatte eine Normalgestalt und stand mit eingestemmten Armen neben dem grünen Baume vor seiner Halle, die uns mit ihren nackten schwarzen Steinwänden und unbehobelten Tafeln und Bänken nicht abschreckte. Wir ordneten uns nach Burschenbrauch an einem Tische, der Präses las die römischen Elegieen, und der Wein mundete köstlich auf die Gesundheit des großen, lieben Meisters. Wer uns den Ort gezeigt hätte, wo er gesessen, und den Fleck, wo der verschüttete Wein hingeflossen, der wäre uns heute magnus Apollo gewesen.19

Müllers Text kann als Musterbeispiel für das gelten, was Manfred Pfister als »intertextuelles Reisen« bezeichnet hat: Entgegen der lange tradierten Annahme, dass die Reiseerfahrung unverstellte Erfahrung unbekannter Räume bedeute und ihre Literarisierungen gleichsam spontane Ergüsse authentischer Erfahrung seien, hat 17

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Symptomatisch ist Karl August Böttigers Beschreibung der Weimarer Reaktionen auf die Römischen Elegien: »Es brennt eine genialische Dichterglut darinnen, und sie stehn in unserer Literatur einzig. Aber alle ehrbaren Frauen sind empört über die bordellmäßige Nacktheit. Herder sagte sehr schön, er habe der Frechheit ein kaiserliches Insigel aufgedrückt. Die ›Horen‹ müßten nun mit dem u gedruckt werden. Die meisten Elegien sind bei seiner Rückkunft im ersten Rausche mit der Dame Vulpius geschrieben. Ergo –« (MA 3.2, 450 f.). Vgl. Wild: Goethes klassische Lyrik (Anm. 15), 52: »Als skandalös konnten die Römischen Elegien nur dann empfunden werden, wenn ihre literarische Inszenierung nicht erkannt oder nicht akzeptiert wurde.« Vgl. auch Nikolas Immer: Die Götter Italiens. Goethes mythoerotische Elegien. In: Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800. Hg. von Carsten Rohde. Berlin/Boston 2013, 107– 124. Vgl. Julia Bohnengel: Dem italienischen Volk begegnen. Wilhelm Müllers Rom, Römer und Römerinnen und Christian August Vulpius’ Scenen zu Rom. In: Komparatistik (2014/2015), 247–268; Uwe Hentschel: Müllers Rom, Römer und Römerinnen – ein moderner Reisebericht? In: Ders.: Wegmarken. Studien zur Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. u.a. 2010, 151–158. Wilhelm Müller: Rom, Römer und Römerinnen, Bd. 2. Berlin 1820, 187 f.

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Pfister herausgearbeitet, dass Reisen gerade auch textuellen Spuren folgt und vielfach von vorgängigen Lektüreerfahrungen von Reiseführern aber auch belletristischen Werken geprägt ist.20 Die wahrnehmungslenkende Rolle von Literatur wird in reiseliterarischen Texten in produktionsästhetischer Hinsicht wirksam. Auch Reiseberichte, die gemeinhin als authentisch und wirklichkeitsgesättigt gelten, sind zumeist Beispiele einer ›Literatur auf zweiter Stufe‹,21 die sich in vielfacher Hinsicht auf Prätexte beziehen. Oftmals rekurrieren Reiseberichte auf Texte desselben Genres, treten in eine Art von ›Wahrnehmungskonkurrenz‹ mit den Prätexten, auf die sie antworten bzw. denen sie zuweilen entschieden widersprechen. Daneben kommentieren und transformieren sie literarische Traditionen, die mit den bereisten Orten verbunden sind. Expliziter Referenzpunkt für Wilhelm Müller sind Goethes Römische Elegien. Müllers Reisebericht will gleichsam den Schlüssel zu dem biographischen Substrat der Texte liefern. Authentisiert wird er durch eine lokale Tradition der in Rom lebenden Künstler, die – so die implizite Aussage der Passage – das Erbe des großen Romreisenden weiter tradierten. Zentral sind die Begriffe des ›Erlebens‹ und des ›Beschreibens‹, die suggerieren, Goethe habe seine Rom-Erfahrungen in elegischen Distichen protokolliert, die für denjenigen, der über das nötige Kontextwissen verfüge, ohne weiteres zu entschlüsseln seien. Die weinselige Runde, von der Müller berichtet, gewinnt geradezu religiöse Züge, wenn der »Präses« der offensichtlich hierarchisch organisierten Jugend ihren sakralisierten Referenztext laut vorträgt. Der Reisebericht inszeniert hier die gemeinsame Lektüre als gruppenkonstituierendes Ritual, als ›Erinnerungsmahl‹, in dem der »große[], liebe[] Meister« als anwesend gedacht wird. Sie generieren einen Erinnerungsort des Goethe-Kultes, der den angeblichen Schauplatz eines literarisch verarbeiteten Erlebnisses zur identitätsstiftenden Wallfahrtsstätte macht. Dabei geht – und darin dürfte die Müller unbewusste Pointe des Textes liegen – die Huldigung an dem eigentlichen Gehalt des Textes vorbei: Denn während bei Goethe die Episode der Anbahnung einer Liebesnacht mit der geliebten Römerin dient, bleiben die teutonischen Malertouristen lärmend und pokulierend unter sich. Konkret rekurriert Müller auf die 15. Römische Elegie, die auch im Text explizit erwähnt wird. Dort beschreibt der Sprecher des Gedichts, bei dem es sich für Müller und seine zechenden Malerfreunde ohne jeden Zweifel um Goethe selbst 20

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Vgl. Manfred Pfister: Intertextuelles Reisen, oder: Der Reisebericht als Intertext. In: Tales and »their telling difference«. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel. Hg. von Herbert Foltinek u.a. Heidelberg 1993, 109–132; Ders.: Autopsie und intertextuelle Spurensuche. Der Reisebericht und seine Vor-Schriften. In: In Spuren Reisen. Vor-Bilder und Vor-Schriften in der Reiseliteratur. Hg. von Gisela Ecker und Susanne Röhl. Berlin 2006, 11–30. Die Bezeichnung übernehme ich von Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt a.M. 1993.

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handelt, eine gesellige Kneipenszene. In einer nicht näher spezifizierten Osteria begegnet der Sprecher seiner heimlichen Geliebten, die ihm auf artistische Weise heimlich die Uhrzeit ihres nächsten Stelldicheins anzeigt – mit schlagendem Erfolg, denn bereits das Wissen um die bevorstehenden Liebesfreuden wirkt aphrodisierend: Lauter sprach sie, als hier die Römerin pfleget, credenzte, Blickte rückwärts nach mir, goß und verfehlte das Glas, Wein floß über den Tisch und sie, mit zierlichem Finger, Zog auf dem hölzernen Blatt Kreise der Feuchtigkeit hin. Meinen Namen verschlang sie mit ihrem, ich schaute begierig Immer dem Fingerchen nach und sie bemerkte mich wohl. Endlich zog sie behende das Zeichen der römischen Fünfe Und ein Strichlein davor; schnell und sobald ichs gesehn, Schlang sie Kreise durch Kreise die Lettern und Ziffern zu löschen, Aber die köstliche Vier blieb mir ins Auge geprägt. Stumm war ich sitzen geblieben und biß die glühende Lippe Halb aus Schalkheit und Lust halb aus Begierde mir wund. Noch so lange bis Nacht! dann noch vier Stunden zu warten! Hohe Sonne du weilst und du beschauest dein Rom! (XV, V. 13–26)

Im Zentrum steht die gelingende Kommunikation zwischen Kellnerin und Gast, die mit Blicken beginnt und in Schrift mündet – über Details der antizipierten körperlichen Vereinigung wird der Rezipient hingegen im Unklaren gelassen, auch wenn das Zerbeißen der eigenen Lippe den deutlichen Charakter einer Ersatzhandlung besitzt: Küsse und Bisse reimen sich auch bei Goethe. Die Elegie inszeniert eine textuelle Spur: Zum einen in der Umwidmung des rohen Tisches zum »hölzernen Blatt« und des vergossenen Weins zur Tinte, zum anderen in der Referenz auf antike Prätexte. Denn anders als es Müllers Goethe-Huldigung vermuten lässt, handelt es sich bei der 15. Elegie vermutlich nicht um das Protokoll einer originellen Kontaktaufnahme,22 sondern um die Variation eines Topos, der aus der antiken erotischen Elegiendichtung bestens bekannt ist. Goethes Quelle ist Ovid. In der vierten Elegie des ersten Buchs der Amores entwirft der Sprecher eine Eifersuchtsszene: Er imaginiert die Begegnung mit seiner Geliebten und ihrem Ehemann bei einem Gastmahl und fasst die Möglichkeit nonverbaler Kommunikation ins Auge. Anders als in Goethes Elegie ist es bei

22

Vgl. zum biographischen Substrat Roberto Zapperi: Das Inkognito. Goethes ganz andere Existenz in Rom. München 1999. Zapperi weist darauf hin, dass die auch in den einfachen römischen Lokalen üblichen Tischdecken eine solche Kontaktaufnahme unmöglich gemacht hätten. Vgl. ebd., 136 f.

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Ovid der Mann, der seiner Geliebten geheime Signale gibt:23 »verba superciliis sine voce loquentia dicam; / verba leges digitis, verba notata mero.«24 Und auch in der fünften Elegie des zweiten Buchs der Amores ist noch einmal die Rede von einer geheimen Botschaft im Wein. Dort nimmt der Sprecher eine Beobachterposition ein: »ipse miser vidi, cum me dormire putares, / sobrius apposito crimina vestra mero.«25 Das Vergehen besteht eben in der geheimen Kommunikation, die aber für den kundigen Beobachter in Ovids Elegie zu entschlüsseln ist; er unterläuft mithin das Geheimnis: »non oculi tacuere tui conscriptaque vino / mensa, nec in digitis littera nulla fuit.«26 Goethes Elegie nimmt diese Motive auf, variiert sie aber folgenreich. Denn während es sich bei Ovid um Konstellationen erotischer Eifersucht handelt, wacht bei Goethe der »Oheim« über die junge Römerin, die sich zudem in einer monogamen, wenn auch weitgehend geheimen Beziehung mit dem Sprecher befindet – für einen anderen Modus ist auch seine Angst vor Geschlechtskrankheiten zu ausgeprägt, wie sie die 18. Elegie deutlich artikuliert: Aber ganz abscheulich ists auf dem Wege der Liebe Schlangen zu fürchten und Gift unter den Rosen der Lust; Wenn im schönsten Moment der hin sich gebenden Freude Deinem sinkenden Haupt lispelnde Sorge sich naht. Darum macht mich Faustine so glücklich, sie teilet das Lager Gerne mit mir, und bewahrt Treue dem Treuen genau. (XVIII, 5–10)

Zwar galten die Römischen Elegien den Zeitgenossen als anstößig, verglichen mit ihren antiken Quellen sind sie jedoch geradezu dezent und klassisch gedämpft zu nennen.27 Was Wilhelm Müller als biographischen Bericht in elegischen Distichen auffasste, ist also zuallererst ein kunstvolles intertextuelles Spiel mit Motiven der 23 24 25 26 27

Publius Ovidius Naso: Liebesgedichte – Amores. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Niklas Holzberg. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Berlin 2014. Nachweise unter Angabe von Buch, Elegie und Verszahl im Text. In der Übersetzung von Holzberg: »Lautlos redende Worte sprech mit den Brauen ich, Worte / liest von den Fingern du ab, Worte, gemalt in den Wein.« (Ovid I 4, V. 19 f.). »Wein war aufgetischt, und du glaubtest, ich schliefe; da sah ich / nüchtern euren Vergehn selber, ich Elender, zu« (Ovid II 5, V. 13 f.). »Nicht warn stumm deine Augen, beschrieben mit Wein war der Tisch schon, / und die Schrift habt ihr oft mit den Fingern geformt.« (Ovid II 5, V. 17 f.). Ähnlich auch Immer: Die Götter Italiens (Anm. 17), 124, der die bändigende Wirkung des strengen Metrums unterstreicht. Diese Beobachtung gilt lediglich für die in den Horen publizierten Texte, anders liegen die Verhältnisse in den priapeischen Gedichten Goethes. Vgl. Erik Schilling: Goethes Römische Elegien und Venezianische Epigramme vor dem Hintergrund der Carmina Priapeia. In: Kreative Praktiken des literarischen Übersetzens um 1800. Gattungstypologien und Theorieversuche. Hg. von Alexander Nebrig und Daniele Vecchiato. Berlin/ Boston 2018, 199–218.

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römischen Liebeselegie. Wird aber durch diese Erkenntnis der Rezeptionsmodus Müllers und seiner Zechbrüder als naive Fehllektüre abgetan? Genügt mithin der Hinweis auf die Artifizialität der Texte, um andere Deutungen zu widerlegen? Die Lage ist komplexer: Schließlich setzt gerade das intertextuelle Spiel programmatisch Authentizitätseffekte und zitiert eben die vermeintlich realitätsgesättigten Elemente der antiken Dichtung. Goethe nutzt also intertextuelle Referenzen, um Authentizitätseffekte zu erzeugen. Selbst wenn die Traditionsbezüge als solche identifiziert werden, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass dadurch der ›Realitätsgehalt‹ der modernen Dichtung dementiert würde. Sie sind ebenso sehr als Beleg für die Allgemeingültigkeit des Dargestellten deutbar: Die Römischen Elegien transportieren ein paradigmatisches Rom-Erlebnis, das jenseits der konkreten biographischen Verifizierbarkeit Anspruch auf Wahrheit erhebt, insofern es die Essenz des ›Römischen‹ enthält. Das kann auch aufgrund einer historischen und anthropologischen Kontinuitätsthese gelingen. Das alte Rom ist (im wahrsten Sinne des Wortes) in den modernen Römerinnen und Römern greifbar. Die Versinnlichung der Antike-Erfahrung lässt sich so ohne weiteres in den Bereich der Erotik verlagern, während wiederum der Geschlechtsakt durch Bildungsreferenzen hypostasiert wird. 3. Barbarisches. Selbst- und Fremdbild in den Römischen Elegien Der Reisende in den Römischen Elegien sieht sich mit der allgemein bekannten Doppelbezüglichkeit kulturhistorisch aufgeladener Stätten konfrontiert: Im Zentrum des Interesses steht die Vergangenheit des Ortes, die dem gebildeten Reisenden bestens vertraut ist, ja die im Falle Roms als wesentlicher Bezugspunkt der eigenen kulturellen Identität dient; die Zeugnisse des Altertums lassen sich aber nicht isoliert von ihrer modernen Umgebung betrachten. Fremd ist für den Gast aus dem Norden zumeist nicht die Welt der Antike und der Renaissance, sondern das Alltagsleben der Gegenwart. Folglich bewegen sich auch die meisten Reisetexte über (kultur-)historisch bedeutende Stätten in dem Spannungsfeld von Antizipation und Erfüllung oder aber Antizipation und Enttäuschung. Auch die Römischen Elegien loten dieses komplexe Verhältnis aus, lassen aber von Beginn an keinen Zweifel daran, dass sie eine gelingende Erfahrung der Fremde anstreben:28 Ziel ist die versinnlichende Aneignung der antiken Kultur in der wechselseitigen Durchdringung von Antike und Neuzeit, wie sie bereits die erste Elegie einfordert. Das moderne Rom und seine Bewohner erscheinen so gerade nicht als Hindernis für den gelingenden Kontakt mit der Kultur der Antike, 28

Vgl. die Ausführungen von Peter J. Brenner: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts. In: Der Reisebericht. Hg. von dems. Frankfurt a.M. 1989, 14–49.

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sondern als Medium. Im Hintergrund steht die in den Römischen Elegien zwar unausgesprochene, aber immer latent vorhandene Vorstellung einer Kontinuität, die auch auf Faktoren wie Klima und Vererbung zurückzuführen ist. Für Goethe sind in den Bewohnerinnen und Bewohnern Roms der 1780er Jahre die antiken Römerinnen und Römer präsent, wie er in einem Brief an das Ehepaar Herder vom 10. November 1786 betont: Wenn man so eine Existenz ansieht die 2000 Jahr und drüber alt ist, durch die Wechsel der Zeiten so manigfaltig und von Grund aus verändert, und doch noch derselbe Boden, derselbe Berg, ia oft, dieselbe Säule und Mauer, und im Volcke noch die Spuren des alten Carackters; so wird man ein Mitgenoße der großen Rathschlüße des Schicksals.29

Goethe listet hier zunächst die natürlichen Rahmenbedingungen auf, die den Lauf der Zeit unverändert überstanden hätten. Zu den beständig wirkenden geographischen Faktoren wie »Boden« und »Berg« treten die noch immer sichtbaren materiellen Überreste der antiken Zivilisation und schließlich der römische Volkscharakter, der altrömische Eigenschaften konserviere. Für den Reisenden hat Rom den Charakter eines lehrreichen Schauspiels. Dass an diesem Erinnerungsort der westlichen Kultur schlechthin Geschichte erfahrbar werde, ist ein nicht sonderlich origineller Gedanke. Folgenreicher ist die These von der anthropologischen Kontinuität, rückt sie doch den (intimen) Kontakt mit den Einheimischen in den Rang einer ernsthaften Geschichtsbetrachtung: Wer mit Römerinnen schläft, wird »Mitgenoße« der antiken Welt, die nicht mehr klar von der Gegenwart zu trennen ist. »Vorwelt« und »Mitwelt« kommen im Geschlechtsakt gleichermaßen zum Vorschein; in der Elegie wiederum findet diese Synthese ihre ästhetische Gestalt. Das Thema des erotischen Kulturkontakts spielt in der zweiten Elegie eine zentrale Rolle. In der Struktur des Zyklus nimmt sie die Rolle einer nachgeholten Exposition ein, indem sie die Reise des Sprechers thematisiert und die Gründe für seine Flucht nach Italien angibt. In diesem Zusammenhang spielt sie nicht nur mit kulturellen Stereotypen, sondern leitet aus der Geschlechterdifferenz und der geradezu grotesk ausgestellten kulturellen Fremdheit eine spezifische Logik der Paarbeziehung ab. Die Elegie ist an die Daheimgebliebenen gerichtet. In einer mehrfach gestuften Absage wendet sich der Sprecher an die »[s]chöne[n] Damen und Herren der fei-

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Johann Wolfgang Goethe an das Ehepaar Herder, 10.11.1786. In: Ders.: Italien – Im Schatten der Revolution. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 3. September 1786 bis 12. Juni 1794. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt a.M. 1991 (FA II, Bd. 3), 159. Vgl. zu dieser Äußerung Zapperi: Das Inkognito (Anm. 22), 109.

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neren Welt« (II, 2) sowie an die »übrigen«, die ihn »in großen und kleinen / Zirkeln« »oft nah der Verzweiflung gebracht« (II, 5 f.) hätten. Die Verse liefern die Gründe für die Reise nach; sie liegen in der Tristesse seiner bisherigen Existenz, in der Langeweile des Immergleichen und nicht zuletzt in der penetranten, enervierenden Neugier des literarischen Publikums. Hinzu kommt der Verdruss über die Zeitläufte – im Hintergrund steht die Französische Revolution, so dass das Gedicht auch eine eskapistische Perspektive eröffnet.30 Gegenüber dieser Welt erscheint der römische Aufenthalt als »Asyle« eines Flüchtlings, in dem sich der Sprecher in Amors »Fittig« (II, 17) geborgen fühlt. Ebenso sehr wie die erotische Erfüllung trägt die Unwissenheit der Geliebten zur Entspannung des Reisenden bei. Sie weiß nichts über die Welthändel, sondern gibt sich mit den Erzählungen ihres exotischen Geliebten zufrieden, auf dessen Bedürfnisse sie sich konzentriert – ein klarer Indikator für die Logik einer Paarbeziehung, die auf die Erfüllung männlicher Bedürfnisse durch die denkbar stereotyp gezeichnete Frau ausgerichtet ist: Sie erkundigt sich nie nach neuer Märe, sie spähet Sorglich den Wünschen des Manns, dem sie sich eignete, nach. Sie erfreut sich an ihm, dem freien rüstigen Fremden, Der von Bergen und Schnee, hölzernen Häusern erzählt; Teilt die Flammen, die sie in seinem Busen entzündet, Freut sich, daß er das Gold nicht wie der Römer bedenkt. Besser ist ihr Tisch nun bestellt, es fehlet an Kleidern, Fehlet am Wagen ihr nicht, der nach der Oper sie bringt. Mutter und Tochter erfreun sich ihres nordischen Gastes, Und der Barbare beherrscht römischen Busen und Leib. (II, 19–28)

Der Fremde des Gedichts besticht durch Naturnähe und Gesundheit; Deutschland ist aus römischer Perspektive ein kaltes Land, in dem immer Winter herrscht und dessen Bewohner in Holzbaracken hausen. Die Kälte der Landschaft wird mit der heißen Liebesglut kontrastiert. Der Text spielt hier ironisch mit Topoi der Liebesdichtung, vor allem aber mit Nationalstereotypen – ein für Reiseliteratur geradezu konstitutives Merkmal, die vielfach präformierte Meinungen transportiert, also Stereotype, die die »konstanten, wahrnehmungsresistenten und polyfunktionalen Muster, mit denen kulturelle Differenzen im nationalen Maßstab erfaßt werden«,31

30

31

Die Erstfassung nennt explizit den Verdruss über den Erfolg des Werther, der Goethe überall hin verfolgt hätte. Vgl. MA 3.2, 38, 40. Dass Goethe diesen autobiographischen Bezug tilgte, ist ein weiteres Indiz für die (auch durch das Vermaß gestützte) objektivierende Tendenz des Zyklus. Vgl. Wild: Goethes klassische Lyrik (Anm. 15), 42 f. Ruth Florack: Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur. Tübingen 2007, 232.

Ein »Barbare« auf Reisen. Goethes Römische Elegien

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bezeichnen. Diese »in Worte oder Bilder gefaßte verallgemeinerte Wahrnehmungen der Welt«32 werden nun in literarischen Texten vielfach ästhetisch fruchtbar gemacht: Die Verwendung stereotyper Elemente ist oftmals gerade nicht Zeichen von diffusen Vorurteilen und unreflektierter Ausblendung der Realität, sondern vielmehr künstlerisches Mittel,33 so auch hier, wo die hyperbolische Kontrastierung von Nationalstereotypen der geschilderten Vereinigung von Norden und Süden latent ironische Züge verleiht. Der »nordische Gast« erscheint als vitaler »Barbare«. Dieser Begriff ist im Sprachgebrauch Goethes (entsprechend seiner üblichen Semantik) ansonsten weitgehend negativ besetzt. Bei Goethe erscheinen Barbaren primär »als grausame, rohe, auf niedriger Kulturstufe stehende, ungebildete, auch körperl[ich] dem antiken Schönheitsbegriff nicht entsprechende häßliche Menschen«.34 Nicht so in den Römischen Elegien: Hier bringt der Barbare gleichermaßen erotische wie auch finanzielle Beglückung in den bedürftigen Süden. Dabei wohnt der Semantik des Barbarischen auch eine gewalttätige Komponente inne, schließlich wird der Reisende zum Eroberer stilisiert, der Leib und Seele seiner Geliebten »beherrscht«. Der Text rückt militärische und politische Unterwerfung in die Nähe erotischer Dominanz; dabei drängt sich unweigerlich die Assoziation zu den zahlreichen germanischen ›Barbarenzügen‹ in den Süden auf. Aus den Eroberungs- und Plünderungszügen mit substantiellen germanischen Anteilen sind aus der Spätantike die Plünderungen Roms in den Jahren 410 n. Chr. (Alarich), 455 (Geiserich), 472 (Ricimer), 546 (Totila) zu nennen, aus dem Mittelalter die Plünderung Roms durch Kaiser Heinrich IV. bzw. Robert Guiskard (1084) und schließlich in der Neuzeit der Sacco di Roma (1527, Karl V.). Die Plünderungen Roms im Jahr 387 v. Chr. durch die Gallier unter Brennus und 846 n. Chr. durch die Sarazenen mögen für das Verständnis der Römischen Elegien am Rande mit hineinspielen. Diese historischen Bezüge sind bei der Interpretation der Elegie mitzudenken, setzt sie doch die durch kulturelle und erotische Interessen motivierte Italienreise in Beziehung zu den destruktiven Eroberungszügen der Vergangenheit. Auch 32 33

34

Hans Henning Hahn: 12 Thesen zur Stereotypenforschung. In: Nationale Wahrnehmung und ihre Stereotypisierung. Beiträge zur Historischen Stereotypenforschung. Hg. von dems. und Elena Mannová. Frankfurt a.M. u.a. 2007, 15–24, hier 16. Vgl. Emer O’Sullivan: Das ästhetische Potential nationaler Stereotypen in literarischen Texten. Auf der Grundlage einer Untersuchung des Englandbildes in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur nach 1960. Tübingen 1989, 26: »Die Auseinandersetzung mit dem bewußten Umgang mit Stereotypen aber scheint mir die zentrale Frage der literarischen Stereotypenforschung überhaupt zu sein.« (Hervorhebung im Original). Goethe-Wörterbuch. Hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. 2: B – einweisen. Stuttgart u.a. 1989, Sp. 56 f.

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wenn es sich im Horizont des Gedichts um eine friedliche Unterwerfung handelt, ist die in der Elegie entworfene, ja gefeierte Beziehung in hohem Maße asymmetrisch. Schließlich »teilt« zwar die römische Geliebte die sexuelle Lust des »Barbaren«, seine Attraktivität resultiert aber nicht zu einem unwesentlichen Bestandteil aus seiner finanziellen Potenz: Er ist schlichtweg wohlhabender und freigebiger als seine römischen Nebenbuhler. Wenig überraschend bezieht sich auch dieser Passus auf die antike Elegiendichtung. In der 16. Elegie des zweiten Buchs von Properz’ Elegien beklagt der Sprecher des Gedichts, dass sein potenter Nebenbuhler, ein bereits in der achten Elegie erwähnter Prätor, aus Illyrien zurückgekehrt sei und ihm seine Cynthia abspenstig mache.35 Zu allem Unglück ist dieser Prätor wohlhabend, was seine Anziehungskraft für die tendenziell käufliche Cynthia erhöht. Die Elegie ist geprägt von Rache- und Todeswünschen gegenüber dem Prätor, der abwertend als »barbarus« bezeichnet wird: »barbarus excussis agitat vestigia lumbis / et subito felix nunc mea regna tenet« (II 16, V. 27 f.).36 Hans-Georg Dewitz hat die Bedeutung dieser Properz-Passage für Goethe ignoriert, wenn er schreibt, sie wolle »inhaltlich nicht passen, da der ›Barbar‹ bei Properz ein erfolgreicher Nebenbuhler des Dichters ist«.37 Das verkennt aber gerade die Pointe der Elegie: Indem sich der Reisende die Fremdzuschreibung zu eigen macht, betont er ausdrücklich seine Potenz; gesprochen wird hier aus der Perspektive des beglückten Nebenbuhlers, der möglicherweise – so die Logik des zu Ende gedachten Vergleichs – den Einheimischen verdrängt hat. Auch hier geht es also um eine Eroberung, um eine Besitzergreifung. Die Volte gegen die geizigen Römer nimmt Properz’ Minderwertigkeitsgefühle gegenüber dem finanzkräftigen und potenten Prätor wieder auf. Bei Properz wie auch bei Goethe geht es um die Eroberung der (käuflichen) Römerin durch den ›Barbaren‹. Diente bei Properz die Bezeichnung »barbarus« wahrscheinlich als Abwertung und nicht als Herkunftsbezeichnung, macht sich der Sprecher in der zweiten Elegie die stereotype Abwertung, die abschätzige Fremdzuschreibung, zu eigen und verkehrt sie ironisch in ihr Gegenteil. Die Reise nach Rom wird zum Triumph des Barbaren.

35 36 37

Vgl. Properz/Tibull: Liebeselegien – Carmina. Lateinisch – Deutsch. Neu hg. und übersetzt von Georg Luck. Zürich 1996. Nachweise aus den Elegien von Properz unter Angabe von Buch, Elegie und Verszahl im Text. Vgl. die Übersetzung von Georg Luck (Properz: Liebeselegien [Anm. 35], 91): »Mit nackten Lenden springt ein Barbar herum / – und schon hat er Glück und übernimmt jetzt mein Reich!« (II 16, V. 27 f.). MA 3.2, 464.

Ein »Barbare« auf Reisen. Goethes Römische Elegien

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4. Die Römischen Elegien als ambulante Poesie. Perspektiven und Fragen Goethes Römische Elegien sind (wie auch seine Venetianischen Epigramme) Reisegedichte.38 Sie thematisieren die Erfahrungen eines Reisenden, gestalten das Verhältnis zwischen Herkunftssphäre und dem bereisten Land und entwickeln sinnliche und geistige Strategien der Distanzüberbrückung. Vergleicht man den Elegienzyklus mit den Schreibweisen des zeitgenössischen Reiseberichts, fällt unmittelbar auf, dass Goethes Elegien einerseits Motive der eher sachlichen Gelehrtenreise aufnehmen, zugleich aber auch in der starken Subjektivierung gewisse Anklänge an die ›empfindsamen‹ Reisen in der Nachfolge von Laurence Sterne vorliegen. Umgekehrt dürften sich im Prosa-Reisebericht des ausgehenden 18. Jahrhunderts zunehmend ›lyrische‹ Tendenzen ausmachen lassen.39 Für Zeitgenossen gab die elegische Form keinen Anlass, die Texte fiktional zu verstehen: Ganz im Gegenteil galten sie als authentische Gefühlsaussprache – und die nachträglichen Mystifikationen des Autors taten ein Übriges, derartige Interpretationen zu fördern. Der alte Goethe kannte jedenfalls Wilhelm Müllers oben zitierten Rom-Reisebericht. Eine im Nachlass überlieferte Notiz dazu lautet: »Zu notieren und zu verteilen.«40 Dass im Jahr 1866 an der von Müller beschriebenen Osteria auf Veranlassung des bayerischen Königs Ludwig II. eine Gedenktafel angebracht wurde,41 verdeutlicht die Hartnäckigkeit der (auto-)biographischen Legende.

38 39

40 41

Um Großstadtdichtung handelt es sich allerdings nicht. Vgl. aber Malte Osterloh: Versammelte Menschenkraft. Die Großstadterfahrung in Goethes Italiendichtung. Würzburg 2016. Zu denken wäre etwa an die Evokationen des ›erhabenen‹ Rheinfalls in der Reiseliteratur des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Vgl. Uwe Hentschel: Naturerfahrung und Landschaftsdarstellung in den Beschreibungen des Rheinfalls von Schaffhausen im 18. und 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Österreichischen Goethe-Gesellschaft 106/107 (2002/2003), 81–117. Vgl. auch die hilfreiche Sammlung: Sie waren am Rheinfall. Der Rheinfall in der europäischen Literatur. Texte vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Hg. von Heinrich Gebhard Butz. Zürich 2009. MA 3.2, 453. Vgl. Zapperi: Das Inkognito (Anm. 22), 135.

Die reine Wahrheit? Wahrheit und Wirklichkeit als intertextuelle und interkulturelle Konstruktion in Ludwig Tiecks Reisegedichte eines Kranken und Rückkehr eines Genesenden DOMINIK ZINK In einem Brief an Ludwig Tieck lobt Rahel Varnhagen im August 1823, kurz nach dem erstmaligen zusammenhängenden – allerdings noch nicht ganz vollständigen – Erscheinen der beiden Gedichtzyklen Reisegedichte eines Kranken und Rückkehr des Genesenden, voller Begeisterung diese Texte, indem sie das Urteil fällt, sie seien »rein wahr«.1 Der Beitrag versucht zu zeigen, dass dieses Urteil einerseits nicht überrascht, weil die Gedichte von sich aus nahelegen, der Kategorie der Wahrheit eine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Andererseits jedoch ist dieses Lob verfehlt, denn das Konzept, das Varnhagen hier im Sinn zu haben scheint, ist gerade eines, das quer zu dem liegt, was der Doppelzyklus als Wahrheit und Wirklichkeit zu entwerfen versucht. Die These wird sein, dass Ludwig Tieck in seinen Reisegedichten2 Wirklichkeit als abhängig von den Kontexten denkt, in denen sie wahrgenommen wird, welche wiederum zeichenhaft organisiert sind. Da Wirklichkeit somit kontextuell verfasst ist, muss ein wahres Sprechen über die Wirklichkeit intertextuell sein, was besonders deutlich wird in interkulturellen Situationen auf der Reise, denn hier mischen, überlagern und kreuzen sich Kontexte. Tieck geht es um eine selbstreflexive Darstellung von interkultureller Erfahrung, die ein besonderes Schlaglicht auf ›die Wirklichkeit‹ wirft. Ulrich Breuer folgend,3 der den Zyklus als eine politische Stellungnahme zum napoleonischen Europa deutet, sollen hier erweiternd die ästhetischen Strategien nachgezeichnet werden, die Tieck veranschlagt, um das Politische überhaupt denken zu können. Diese Fähigkeit wirft unvermeidlich 1 2

3

Rahel Varnhagen: An Ludwig Tieck. Berlin, 13. August 1823. In: Dies.: Gesammelte Werke. 10 Bde. Hg. von Konrad Feilchenfeldt u.a. Bd. 9: Briefe und Tagebücher aus verstreuten Quellen. Hg. von Konrad Feilchenfeldt. München 1983, 661–664, hier 664. In diesem Beitrag ist mit der Abkürzung Reisegedichte wie in der Forschung üblich immer der komplette Doppelzyklus bestehend aus Reisegedichte eines Kranken sowie Rückkehr des Genesenden gemeint. Die Gedichte werden zitiert nach: Ludwig Tieck: Reise-Gedichte. In: Ders.: Schriften. 12 Bde. Hg. von Manfred Frank u.a. Bd. 7: Gedichte. Hg. von Ruprecht Wimmer. Frankfurt a.M. 1995, 164–262. Vgl. Ulrich Breuer: Schwarze Schleier. Zur Transformation der Melancholietherapie in Ludwig Tiecks Reisegedichten. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 17 (2005), 93–121.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_4

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Fragen nach der Möglichkeit auf, ob – und wenn ja wie – das Eigene und das Fremde wahrgenommen werden können. Dabei wird sich die spezifische Form der Reiselyrik in mehrerlei Hinsicht als zentral herausstellen: Es wird sich erstens zeigen, dass Tieck formal an die Tradition der Reiseliteratur der Aufklärung durchaus differenziert anschließt, zweitens dass es vor allem die lyrische Form ist, die es erlaubt, die interkulturelle Situation in ihrer Faktizität zu ihrem Recht kommen zu lassen, sie aber gleichzeitig in ihrer Kontingenz und Veränderbarkeit zu begreifen. Die auf seiner Italienreise 1805 und 1806 entstandenen und erst ab 1823 veröffentlichten Reisegedichte sind in vielerlei Hinsicht besondere Texte im Werk Ludwig Tiecks. Es sind Gelegenheitsdichtungen, zumeist reimlos und in freien Rhythmen, die wohl mit dem Plan niedergeschrieben wurden, sie zu überarbeiten, was jedoch nie geschah.4 Sie dokumentieren eine Reise, die Ludwig Tieck zwar lange ersehnt hatte, die er aber nicht primär als Bildungsreise, sondern vor allem als Kur antrat. Tieck litt an der Gicht bzw. an rheumatischen Gelenkschmerzen, was nach der herrschenden medizinischen Meinung in einem nicht ganz geklärten Zusammenhang mit melancholischen Zuständen stand. Ein Aufenthalt im südlichen Klima Italiens galt als erfolgsversprechende Therapie dieses psychosomatischen Leidens.5 Tieck dokumentiert in den Reisegedichten tagebuchartig seine Anreise über die Brenner-Route, seinen ca. einjährigen Aufenthalt in Rom, seine Ausflüge in Latium und seine Abreise über den Lago Maggiore und die Schweiz zurück nach Dresden. Im Zusammenhang mit Varnhagens Urteil über die außergewöhnliche Wahrhaftigkeit der Texte steht ihre Aussage, es handle sich um einen »ganz neuen Tiek«.6 Das überrascht im Hinblick auf Tiecks Gesamtwerk nicht, zumal dann nicht, wenn man auf seine zuvor entstandenen lyrischen Texte blickt. Wie Roger Paulin zusammenfasst, war die lyrische Produktion in Tiecks frühromantischer Phase in den 1790er Jahren vor allem durch eine Abkehr vom Semantischen und eine Hinwendung zum Lautlichen gekennzeichnet. Tieck »war bemüht, die Musik und ihre Klangfarben synästhetisch in Sprache zu überführen«.7 Von dieser Poetologie ist in den Reisegedichten nichts mehr zu finden. Zwar stehen sie auf der Motivebene wegen der Italienbegeisterung und der Bewunderung der Kunst der Renaissance und des Mittelalters in einer Linie mit den frühesten Werken Tiecks wie dem Roman Franz Sternbalds Wanderungen oder den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Hinsichtlich der Form allerdings spielen die

4 5 6 7

Vgl. Ruprecht Wimmer: Kommentar. In: Tieck: Schriften Bd. 7 (Anm. 2), 644–689, hier 646. Zum zeitgenössischen medizinischen Diskurs in den Reisegedichten vgl. Breuer: Schwarze Schleier (Anm. 3), 97–103. Varnhagen: An Tieck (Anm. 1), 661. Roger Paulin: Ludwig Tieck. Stuttgart 1987, 47.

Wahrheit und Wirklichkeit als intertextuelle und interkulturelle Konstruktion 63 Reisegedichte eine absolute Sonderrolle, weil sie als Reiseliteratur und als Gelegenheitsdichtungen innerhalb der Großgattung Lyrik nicht unterschiedlicher zu Tiecks früheren Produktionen sein könnten. Konkret kann der poetologische Unterschied auf folgenden Punkt zugespitzt werden: Sowohl Reiselyrik als auch Gelegenheitsdichtungen haben einen besonderen Bezug zu den Kategorien Wahrheit, Wirklichkeit und Authentizität, weil beide Arten von Literatur sehr häufig gerade nicht die Prämisse setzen, fiktional zu sein. Sie tun dies, indem sie die Frage nach der referenziellen Wahrheit gerade nicht suspendieren, sondern verschiedene Strategien bemühen, um direkt auf außertextliche Referenzen zu verweisen. Im Folgenden wird gezeigt, wie diese beiden Formen durch ihre Kombination diesen Effekt noch verstärken. Zunächst zu den Implikationen, die die Texte als Gelegenheitsdichtung mit sich bringen. Wolfgang Adam hat sich vor allem damit auseinandergesetzt, welche Rezeptionshaltung und, daraus folgend, welcher methodische Zugang den Reisegedichten in ihrer spezifischen Gestalt als Gelegenheitsgedichte angemessen wäre.8 Er hat sie einerseits gegen Diffamierungen der älteren Forschung in Schutz genommen, aber andererseits »keine Rettung oder Überbewertung der Reisegedichte« intendiert.9 Er legt dar, dass Tieck in diesem Zyklus lyrische Innovationen einführt, die sich rezeptionsgeschichtlich vor allem im Hinblick auf Heinrich Heines Nordsee-Zyklus als entscheidende Vorarbeiten erweisen werden,10 und kennzeichnet diese Poetik als ein Oszillieren »zwischen den Polen der authentischen Dokumentation und einer literarischen Überformung«.11 Adam macht deutlich, dass durchaus ein sehr bewusster künstlerischer Gestaltungswille in den einzelnen Gedichten nachzuweisen ist, suspendiert aber die Frage, inwiefern in diesem Zyklus auch eine übergeordnete formale Struktur zu entdecken sein könnte. Stattdessen verlegt er sich darauf, zu zeigen, dass »die gelungene Vermittlung der Unmittelbarkeit und Authentizität als die eigentliche poetische Qualität dieser Gedichte« anzusehen sei.12 In diesem Sinne fasst er dann auch das Genre der Gelegenheitsdichtung: Diese Dichtung könne ein Schlaglicht auf eine bestimmte Begebenheit werfen; die Begebenheit erweise sich wiederum als Gelegenheit, die zur Dichtung 8 9 10 11 12

Wolfgang Adam: Kleine Begebenheiten aus Italien: Ludwig Tiecks Reisegedichte. In: Texte, Bilder, Kontexte. Interdisziplinäre Beiträge zu Literatur, Kunst und Ästhetik der Neuzeit. Hg. von Ernst Rohmer u.a. Heidelberg 2000, 119–174. Ebd., 122. Vgl. ebd., 142. Bezeichnenderweise sieht Adam gerade in Bezug auf die lyrischen Möglichkeiten der Darstellung von Wahrheit und Lüge Tieck als Vorgänger Heines. Ebd., 124. Ebd., 138. Vorausgreifend kann gesagt werden, dass es in diesem Beitrag darum gehen wird, zu zeigen, dass es Tieck nicht um eine »Vermittlung der Unmittelbarkeit« geht, sondern dass er die Begriffe des Realen, der Wirklichkeit und der Wahrheit genau in Auseinandersetzung mit diesem Paradox der ›vermittelten Unmittelbarkeit‹ neu zu denken versucht.

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Anlass gebe. Die Qualität der einzelnen Dichtungen sieht Adam analog zu Varnhagen, die er zustimmend zitiert, in der gelungenen Erzeugung von Authentizität. Das Verhältnis zwischen der tatsächlichen Begebenheit und dem sie abbildenden Gedicht ist auch für Ruprecht Wimmer der entscheidende Punkt in seiner Untersuchung der Reisegedichte. Er geht sogar so weit, zu sagen, dass »sich in den allermeisten Fällen ein intertextueller Deutungsansatz« erübrige.13 Damit meint er sicherlich nicht, dass es keine Intertexte aus der Literaturgeschichte gäbe, denn er geht in extenso auf diese ein, sondern dass ein Ansatz, der Interrelationen zwischen den einzelnen Gedichten untersuchte, nicht lohnenswert wäre. Da Wimmer wie Adam und Varnhagen davon ausgeht, dass primär das Verhältnis zwischen Text und Referenzsituation von interpretativem Interesse sei, hält er es nicht für fruchtbar, den übergeordneten Doppelzyklus auf mögliche bedeutungskonstitutive Strukturmerkmale hin zu untersuchen. Obwohl es in diesem Beitrag um genau diese Strukturen gehen wird, muss dennoch gesagt werden, dass es natürlich erst einmal nahe liegt, einen Zyklus, der über so lange Zeit entstanden ist und der so offensichtlich einer Diariums-Logik folgt, auf diese Logik hin zu interpretieren. Zumal dieser Eindruck dadurch verstärkt wird, dass es sich um Reiseliteratur handelt. Ebenso wie die Gelegenheitsdichtung, als die Tiecks Reisegedichte in Rezeption und Forschung aufgefasst wurden, eignet auch der Reiseliteratur ein besonderer Bezug zur außertextlichen Realität. So bezeichnen Andreas Keller und Winfried Siebers in ihrer Einführung in die Reiseliteratur nach dem Hinweis, dass es sich um »eine Gruppe von durchaus heterogenen Texten« handelt, als grundlegende Gemeinsamkeit aller Texte folgende: »[S]ie stehen jeweils in Verbindung mit der faktisch erlebten bzw. potentiell noch zu erlebenden Bewegung eines Subjekts im realen Raum […].«14 Um als authentische Berichte inszeniert zu werden, kann aus einer Menge von Beglaubigungsstrategien geschöpft werden, worunter z.B. intensive Körpererfahrungen wie Krankheit, aber auch die Nennung realer Zeugen zählen, wodurch wiederum Überprüfbarkeit suggeriert wird.15 Von beiden Strategien macht Tieck Gebrauch, wenn er bereits im Titel auf seine Krankheit 13 14 15

Ruprecht Wimmer: Gesundung im Süden. Ludwig Tiecks lyrischer Zyklus Reisegedichte eines Kranken. In: Zwischen Sprachen und Kulturen: Das kritische Wort. Festschrift für Italo Michele Battafarano. Hg. von Elmar Locher. Würzburg 2006, 291–306, hier 292. Andreas Keller, Winfried Siebers: Einführung in die Reiseliteratur. Darmstadt 2017, 16. Ebd., 65. Übrigens behaupten Keller und Siebers natürlich nicht, dass Reiseliteratur tatsächlich ›wahrer‹ wäre als andere Formen von fiktionaler oder nonfiktionaler Literatur. Im Gegenteil zeigen sie, dass es durchaus sogar eine »Affinität zu Lüge« (ebd., 64) gibt. Somit steht in der Reiseliteratur nur die Dimension der referenziellen Wahrheit deutlich stärker im Vordergrund als bei anderen Genres. Dies genau ist auch der Punkt, warum oben behauptet wurde, Varnhagens Urteil sei nachvollziehbar. Was sie übersieht, ist jedoch – so die These –, dass es Tieck nicht so sehr darum geht, wahre Dinge zu erzählen, als darum, auf die Möglichkeitsbedingungen eines Sprechens zu reflektieren, das sich erfolgreich als wahr ausstellt.

Wahrheit und Wirklichkeit als intertextuelle und interkulturelle Konstruktion 65 verweist und sowohl Freunde wie Carl Friedrich von Rumohr (231)16 als auch Rivalen wie August von Kotzebue (219) erwähnt. Die Authentifizierungs-Effekte der Gelegenheitsdichtung einerseits und die der Reiseliteratur andererseits summieren sich jedoch nicht nur auf, sondern sie verstärken einander – vor allem in der Wahrnehmung der Zeitgenossen. Varnhagen schreibt an Tieck: »[S]ie ennuyieren mich mit; bringen mich auf’s Aeüsterste; [sic] machen mich lachen: ich sehe Wände, fresco’s, [sic] Markt, Alles. Ich glaubte an so etwas nach Goethes Elegien nicht[.]«17 Die Authentizität, von der Varnhagen so begeistert ist, ist genau das, was Tiecks Rom-Gedichte vor denen Goethes auszeichnet. Gerade im Kontrast zu Goethes Römische Elegien – die Italienische Reise war zur Zeit der Äußerung noch nicht erschienen – muss die unprätentiöse, freie, prosanahe Form so wirken, als sei lediglich das zu beschreibende Erlebnis bei der formalen Ausgestaltung berücksichtigt worden und allein die Akkuratesse der Darstellung einer individuellen Begebenheit der handlungsleitende Zweck gewesen. Es ist also durchaus nachvollziehbar, dass Varnhagen, Wimmer und Adam in den Reisegedichten den (geglückten) Versuch sahen, einzelne Reisesituationen scharfsinnig zu erfassen und ingeniös darzustellen. Ulrich Breuer hat in seiner Studie Schwarze Schleier jedoch gezeigt, dass die beiden Zyklen zusammengenommen durchaus auch in ihrer Gesamtkomposition mit Gewinn interpretiert werden können. Er vertritt die These, dass das Prädikat der Krankheit, das ursprünglich dem lyrischen Sprecher beigelegt ist, in Bewegung gerät und eine politische Dimension erhält. Weil die Krankheit von Anfang an semantisch unterbestimmt ist, kann eine »Übertragung der Krankheit vom Reisenden auf die Stadt Rom und später auch auf die deutschen Verhältnisse« einsetzen.18 Breuer macht deutlich, dass der Zyklus in seiner Gesamtheit als ästhetisches Artefakt ernst genommen werden kann, ohne dass eine Autorintention supponiert werden müsste, die sich dahingehend äußerte, dass der Text einem vor der Niederschrift abgefassten Plan entsprechend ausgearbeitet hätte werden müssen. Sollte es so scheinen, als sei das nicht der Erwähnung wert, sei daran erinnert, dass die oben genannten Interpretationen entweder implizit (Varnhagen und Adam) oder explizit (Wimmer) aufgrund der Tatsache, dass es sich um Gelegenheitsdichtung handelt, diese Perspektive nicht einnehmen, sondern lediglich das Verhältnis zwischen Darstellung und dargestellter Situation für relevant halten. Breuer legt dar, dass die Verbundenheit der jeweiligen Gedichte mit der ihnen entsprechenden Situation zwar tatsächlich vorliegt, und ebenso, dass dadurch die angesprochenen Authentizitäts-Effekte entstehen; er zeigt jedoch auch, dass es übergreifenden Semantiken, Motive und Struk-

16 17 18

Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf Tieck: Reisegedichte (Anm. 2). Varnhagen: An Tieck (Anm. 1), 662, Hervorhebung im Original. Breuer: Schwarze Schleier (Anm. 3), 113.

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turen gibt, die es dennoch erlauben, eine Gesamttextaussage als Destillat zu formulieren. Es liegt an der zeitgenössischen diskursiven Unbestimmtheit der Krankheit selbst, dass diese Interpretation gelingen kann. »Entscheidend für die literarische Transformation der Reisetherapie ist die Unbestimmtheit der Krankheit des Reisenden, weil sie der Therapie unterschiedliche – medizinische, religiöse, politische – Funktionskontexte eröffnet.«19 Hier soll nun an Breuers methodologische Überzeugung dahingehend angeschlossen werden, als es sinnvoll sein kann, auch in einem Arrangement aus Gelegenheitsdichtungen nach einer Gesamttextaussage zu suchen. Des Weiteren ist Breuer auf der inhaltlichen Ebene zuzustimmen, dass die Reisegedichte einen – für Tieck neuen – Versuch darstellen, das Politische zur Sprache zu bringen. Es soll jedoch vor allem eine Frage gestellt werden, die weder von Breuer noch von den anderen vorgenannten Interpreten zufriedenstellend untersucht worden ist: Welches Konzept von Wahrheit und welches Konzept von Wirklichkeit entwerfen diese Texte? Die These ist, dass es für Tieck so etwas wie eine unmittelbare Erfahrung gar nicht gibt. Er ist sich im Gegenteil sehr bewusst darüber, dass Wahrnehmung immer Kategorien voraussetzt, die diese bedingen. Obwohl eine solche Aussage unweigerlich an Kants kritische Epistemologie erinnert, denkt Tieck überhaupt nicht von einer transzendentalphilosophischen, sondern von einer sehr viel praktischeren Seite her. Ihm geht es nicht um die formalen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, sondern um die praktisch-ästhetischen. Jede konkrete Erfahrung ist von einem Erwartungshorizont bedingt, der bestimmt, welche Dinge in den Fokus rücken können und welche nicht. Das Verständnis eines jeden Wahrnehmungsobjekts wiederum ist vom Kontext abhängig, von dem her es verstanden wird. Gleich im ersten Gedicht Abreise lässt Tieck diese Grundskepsis gegenüber einer einfach gegebenen Selbstidentität der Dinge erkennen, indem er nicht nur die Wahrnehmungen in kontextueller Abhängigkeit zeigt, sondern sogar sein eigenes Selbst: Sobald die Reise beginnt, sobald sich der Kontext ändert, stellt der lyrische Sprecher sich die Frage: »Bin ich’s noch[…]?« (164) Der lyrische Sprecher bejaht diese Aussage: »Ja, der Schmerz ist mit gefolgt / Und spannt über Feld und Wald / Einen schwarzen Schleier aus.« (164 f.) Von dieser Textstelle geht auch Breuers Interpretation aus. Es ist klar, dass sich das Schmerzen-Haben erstens als Attribut vom Ich löst, dass dieses Attribut zweitens als Quasi-Agens auftritt, indem es reißt und sich ausspannt, und dass es drittens deswegen von einer Qualität des Ichs zu einer Qualität der Landschaft werden kann. Breuer zeigt allerdings nicht mehr, dass dieses Spiel nicht auf die Schmerzen eingeschränkt ist. Es ist in der Literatur – zumal in der romantischen – sicher kein Novum, dass dieselbe Landschaft aufgrund einer 19

Ebd., 121.

Wahrheit und Wirklichkeit als intertextuelle und interkulturelle Konstruktion 67 melancholischen Stimmung düster, aufgrund einer jubilarischen Stimmung jedoch heiter erscheinen kann. Obwohl Eichendorff und andere Spätromantiker die Korrespondenz von Stimmung und Naturwahrnehmung sicher noch exzessiver ausgestalten werden als Tieck, hat auch er bereits in seinen Novellen-Märchen wie Der blonde Eckbert (1779) oder Der Runenberg (1804) diese Technik durchdekliniert. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass es hier nicht nur um ein Phänomen der Stimmung geht, sondern vielmehr darum, dass die wahrgenommene Wirklichkeit eine semiotische Struktur hat. Es ist bemerkenswert, dass der lyrische Sprecher der Reisegedichte die eigene Selbstidentität im ersten Text schon in Zweifel zieht und an die Selbstidentität der Umwelt knüpft. Im Folgenden kippt diese noch romantisch anmutende Verschiebung von Gefühlszuständen auf Gegenstände der äußeren Welt jedoch um in eine Ästhetik, die gerade nicht mehr als romantisch, sondern im Gegenteil als realistisch beschrieben worden ist und sogar als »AntiRomantik« bezeichnet wurde.20 Der erste Text, in dem ganz konkret die Wahrnehmung der Wirklichkeit mittels kulturell elaborierter Schemata beschrieben wird, ist das Gedicht Trident. Der lyrische Sprecher steigt »vom Schmerz erschöpft« (170) vom Wagen und fragt sich, weil es insgesamt neun andere Gehbehinderte und Kranke erblickt: »Und her nach Italien komm’ ich / Um zu genesen?« (Ebd.) Sogleich bemerkt er jedoch: »An der Wand sind alle Masken / Arlechin, Pierrot, Brighella und Pantalon / In kräftigen Farben / bunt gemalt« (ebd.). Diese zufällige Bemerkung strukturiert nun die Antwort auf die entmutigende Frage an sich selbst, warum man in einem Land, das anscheinend voller Kranker ist, Genesung erhoffen sollte. Die Kranken, einschließlich des Sprechers, werden mit den Charakteren aus der Commedia dell’arte parallelisiert: »Und nun sitzen wir all und bilden ein Concilium, / Und referieren, / Judicieren, / Lamentieren, […].« (170 f.) Das Concilium der Kranken tauscht sich über 18 Verse hinweg über Krankheit, Kur und Ärzte aus, gibt einander Ratschläge zur Genesung und redet sich vor allem ein, sie könnten etwas an ihrer Situation ändern, bis der Sprecher allein und resümierend feststellt: »Und die alte gute Zeit, / Die Geduld, die unerlaßlich, / Gutes Wetter, und ein Zufall, / Muß wie immer, so auch hier, / Wohl das Beste tun.« (171) Der Bezug auf die Commedia setzt den Rahmen, auf den hin die Situation verstanden werden soll. Wie Brighella, Pierrot und Arlecchino versuchen, gegeneinander zu intrigieren, einander Fallen zu stellen und die Oberhand über den jeweiligen Gegenspieler zu erlangen, ohne dass einer die Gesamtsituation überblicken könnte, wähnen sich auch die Kranken, in einer für sie undurchschaubaren und nicht steuerbaren Situation souverän Handelnde zu sein. Der lyrische Sprecher nimmt hier zwei Blickpositionen 20

Stefan Scherer: Anti-Romantik (Tieck, Strom, Lilliencron). In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005, 205– 236.

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auf sich selbst ein. Zum einen begreift er sich als Teil des Personals einer Komödie, wodurch er sich der Lächerlichkeit preisgibt, zum andern kann er diesen Standpunkt auch verlassen und imaginiert sich als Theaterzuschauer. Er nimmt sich dann zwar selbst (als Teil des Personals) in der Orientierungslosigkeit wahr, kann diese Situation aber (als Zuschauer) mit einer milden Ironie hinnehmen und muss nicht daran verzweifeln, weil er um das gute Ende weiß, das notfalls auch durch einen unwahrscheinlichen Zufall herbeigeführt werden kann. Diese Sicherheit, die auch noch einmal durch den regelmäßigen Trochäus der letzten Verse verstärkt wird, bietet einen gewissen Trost. Dieser jedoch wird nicht dadurch erzeugt, dass tatsächlich der lyrische Sprecher oder der empirische Autor Tieck daran glauben würde, dass es mit der Krankheit in der Realität ein gutes Ende nehmen müsse, vielmehr entsteht er dadurch, dass ein Beschreibungsschema gefunden worden ist, das es erlaubt, diese Situation auf diese Art einzuordnen: Die gelungene Beschreibung tröstet. Es wird damit hier schon sehr deutlich, dass die ursprüngliche Wahrnehmung der Situation genauso wie die Darstellung im Gedicht in hohem Maße von den Intertexten und damit von den Kontexten bedingt ist, die aufgerufen werden.21 Dies wird in den beiden Gedichtzyklen in mehrerlei Hinsicht durchdekliniert. Im Gedicht Verona, das auf Trident unmittelbar folgt, spricht der Sprecher, der noch niemals zuvor in Verona gewesen ist, von »zarten Erinnerungen, / Die wie frohe Kinder, mahnend, neckend, / Sinnig lächelnd um mich gaukeln, / Mir dies und jenes zeigen« (171 f.). Die Erinnerungen sind jedoch immer Erinnerungen an Texte: sowohl solche an die historische Geschichte wie beispielsweise die des Scaliger-Geschlechts als auch solche an den hauptsächlich durch Shakespeare vermittelten Stoff von Romeo und Julia bis hin zu den Erinnerungen an den deutschsprachigen Sagenkreis, die Dietrich von Bern, Hildebrand und das Personal des Nibelungenlieds umfassen. Verona wird somit zu einer Projektionsfläche von textuell erzeugten Erwartungen. Es zeigt sich hier bereits, dass ein kontextueller Wahrnehmungsbegriff eine interkulturelle Dimension hat, weil sich die italienischen, deutschen und britischen Kontexte überlagern. Dies wird im weiteren Verlauf der Interpretation noch eine entscheidende Rolle spielen. 21

Die enorme Bedeutung, die Intertexte für den Reisebericht haben, hat bereits Manfred Pfister herausgestellt. Vgl. z.B. Manfred Pfister: Intertextuelles Reisen, oder: Der Reisebericht als Intertext. In: Tales and »Their Telling Difference«. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. Festschrift für. Franz K. Stanzel. Hg. von Herbert Foltinek u.a. Heidelberg 1993,109–132. Hinsichtlich der Kategorien, die Pfister bildet, würden Tiecks Reisegedichte am ehesten unter die der Dialogischen Intertextualität fallen. Da es sich bei Tieck allerdings um einen Reisebericht in Kunstform handelt, Pfisters Fokus aber eher auf der klassischen Bericht-Form liegt, kann davon gesprochen werden, dass eine neue Kategorie gebildet werden müsste, die Pfister als »MetaReise« (ebd., 132) ganz zum Schluss seines Aufsatzes kurz anschneidet, dann jedoch als Spezifikum der Postmoderne bezeichnet.

Wahrheit und Wirklichkeit als intertextuelle und interkulturelle Konstruktion 69 Es können hier bei Weitem nicht alle Einzeltexte genannt werden, die sich damit auseinandersetzen, wie Wirklichkeit konstruiert wird. Es sollen aber einige Typen von Text-Welt-Verhältnissen genannt werden, die Tieck wiederholt verwendet. Eine der selbstironischen Form nahestehende Verwendung von literarischen Schemata zur Wirklichkeitskonstruktion ist die, die Tieck im Gedicht Kleines Theater in der Arena (175–77) nutzt. In der Arena von Verona wird eine Dramatisierung von Die Leiden des jungen Werther gegeben, allerdings in einer Fassung mit Happy End. Die Rezeption von Goethes Briefroman ist einerseits eines der prominentesten interkulturellen Literaturphänomene. Andererseits ist sie durch den sogenannten Werther-Effekt vielleicht eine, die die Abhängigkeit einschlägiger Wirklichkeitskonstruktionen von textuell entwickelten und popularisierten Schemata geschichtlich am deutlichsten exemplifiziert hat. Hochinteressant ist jedoch vor diesem Hintergrund, dass Tieck gerade im Hinblick auf diesen Text sich über eine vermeintliche Determiniertheit durch den Kontext lustig macht. »Carola piange! ruft Werther / Im süßesten Schmerze melodischen Lauts, / Und alle Hände, Fächer, Tücher, Beine, Stöcke / Erregen das lauteste Getümmel freudigen Beifalls, / Und tausend Tränen fließen.« (175) Legt die hyperbolische Alliteration schon nahe, dass sich der Text über die Affektiertheit der Zuschauer lustig macht, zeigt der weitere Verlauf, dass die angeblich so authentisch nachempfundenen Gefühle keineswegs so tief und unüberwindlich sind: Es beginnt zu gewittern und auf einmal »suchen alle Schutz, wo keiner zu finden, / Unten kehrt man Bank und Sessel um, / […] Alles murrt und zank, Niemand weiß weswegen, / Und der geliebte Werther / Muß im Monologe / Der Leidenschaft gebieten und inne halten, –« (176). Waren die Emotionen beim Publikum zuvor noch vermeintlich echt, authentisch und durch nichts zu unterdrücken, so zeigt schon ein wenig Regen, dass mancher tief empfundene Affekt, den der Kontext nahelegt, eigentlich nur affektiert ist – zumal wenn man bedenkt, dass es sich hier um ein Stück handelt, das gut ausgeht. Dieser Umstand, der dem ganzen Text die Tragik und damit auch die Ernsthaftigkeit nimmt, stört das Publikum nicht; Regen dagegen schon. Tieck zeigt hier, dass es ihm nicht darum geht, zu behaupten, es gäbe so etwas wie eine Determination des Empfindens oder der Wahrnehmung durch den Kontext. Vielmehr interessiert er sich sowohl für den Zusammenhang von Kunst und Erleben als auch dafür, wie dieser Zusammenhang Wirklichkeit erzeugt. Dieser Zusammenhang kann allerdings in ganz unterschiedlicher Weise Effekte zeitigen: Das ist z.B. an den beiden Gedichten zu erkennen, die mit Villa Borghese überschrieben sind. Der erste Besuch dieses Sehnsuchtsortes, von dem der lyrische Sprecher »als Knabe schon träumte« (192), verläuft enttäuschend, weil die überzogenen Erwartungen nicht erfüllt werden und vor allem, weil er sich als triumphierend einziehender Held imaginiert hat. »Statt des lebensfrohen Jünglings, / Sehn wir den Kranken, Leidendend hier, Dem der reine blaue Himmel, /

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Die Baumeskronen, / Der Duft der Myrthen, / Nur Wehmut hauchen?« (Ebd.) Die Erfahrung ist so enttäuschend, dass dieses Gedicht eines der wenigen ist, das die Grundstimmung einer heiteren Ironie nicht aufrecht halten kann, sondern in eine düstere Melancholie umschlägt. Es endet mit den Versen: »Und ruhend im Sessel, / Können kaum Gespräche, / Leichte Blätter, / Den Lebensmüden / Erheitern und laben.« (192 f.) Im zweiten Gedicht mit dem Titel Villa Borghese dreht sich die Bewertung völlig: Zunächst beschreibt der lyrische Sprecher zwar die Vegetation, die Architektur und die Springbrunnenanlagen des berühmten Parks, so dass man meinen könnte, es werde hier vielleicht tatsächlich unmittelbar die Schönheit der gestalteten Natur geschildert und authentisches Erleben und Genießen habe nichts mit kontextueller Vermittlung zu tun. In den letzten beiden Dritteln des Gedichts wird jedoch nachgereicht, weswegen dieser Genuss, der vorher nicht möglich war, nun erlebt werden kann: Er fühlt sich endlich verbunden mit den Vorbildern, für die dieser Ort steht und deretwegen dieser Ort überhaupt zum Sehnsuchtsort geworden ist. Goethe, so vermutet Tieck bei der Niederschrift, habe hier den Torquato Tasso gedichtet, weswegen sein Genius in der Natur allgegenwärtig sei: »Und jedes lispelnde Blatt, / Des Lorbeers rauscht deinen Namen, / Die Springquellen reden von dir, / Und ein Geisterschauer / Fliegt über mir hinweg / Und säuselt noch heilig in den fernen Pinien.« (218) Weil der lyrische Sprecher einen sinnvollen Platz für sich selbst in den Kontexten gefunden hat, die für ihn an diesem Ort thematisch werden, fühlt er sich wohl. »Des Mittelalters Wunder, / Die Kraft der Religion, / Die Helden der Vorzeit, / Treten vor mich hin, / Mit Glanz umflossen.« (Ebd.) Der Ort kann nun einen Sinn einlösen, den der Text versprochen hat: Die Erfahrung wird zum Teil der Rezeption der Texte. Neben Gedichten, die auf Kontexte aus Literatur, Theater und Kunst anspielen, gibt es auch solche, die zeigen, dass auch in alltäglichen Zusammenhängen das So-Sein der Dinge von sinnstiftenden Kontexten abhängt. So zeigt Fahrt nach Mantua (177), dass das Gerücht über ein Ungeheuer, das sein Unwesen in der Gegend treiben soll, sowohl die Wirklichkeit der Einheimischen strukturiert, weil sie daran glauben und dieses Monster damit als Teil ihrer Lebenswelt anerkennen, als auch die Wirklichkeit der Reisegesellschaft. Denn sie, die dem Gerücht nicht glaubt, zieht dennoch aufgrund dieses Gerüchts eine Unterscheidung zwischen der aufgeklärten eigenen Gruppe und den unaufgeklärten Dorfbewohnern. Der deutlichste Hinweis, dass die Reisegedichte sich tatsächlich mit der Frage nach den kontextuellen Konstruktionsbedingungen von Wirklichkeit auseinandersetzen, wird selbst durch einen Verweis auf einen Intertext gegeben. Im Gedicht San Lorenzo und Bolsena, welches die letzte Station beschreibt, bevor Rom erreicht wird, inszeniert der lyrische Sprecher eine fiktive Anrede an Shakespeare:

Wahrheit und Wirklichkeit als intertextuelle und interkulturelle Konstruktion 71 Und deiner dacht’ ich, Brittischer Freund, Der mich nie verläßt, Durch dessen Augen Ich Welt und Menschen sehe, Und dein blaues helles Gedicht Twelth Night steigt vor mir auf, In dem sich lustberauscht Alle Gestalten Im hellen Azur Scherzend bewegen. (190)

Mit Twelth Night ist As You Like It gemeint, wie Ruprecht Wimmer in seinem Kommentar zeigt.22 Das mit Sicherheit berühmteste Zitat aus diesem Stück lautet: »All the world’s a stage, / And all the men and women merely players«.23 Ob Tieck wirklich dieses Zitat im Sinn hatte, ist selbstverständlich nicht zu beweisen. Da es aber das poetologische Prinzip von Shakespeares Stück zusammenfasst, kann davon ausgegangen werden, dass es Tieck genau um den im Zitat angesprochenen Sachverhalt geht, denn nach einem ganz ähnlichen Prinzip sind die Reisegedichte gestaltet. Bei Shakespeare entsteht die wesentliche Dynamik dadurch, dass die unterschiedlichen Charaktere sich immer wieder als jemand anderes ausgeben. Die Schauspieler spielen zwar je eine Rolle, aber diese ›echte‹ Rolle ist nicht, wer sie in den einzelnen Szenen sind. Entscheidend sind dagegen die jeweiligen Rollen, die sie für die anderen spielen. Auf die Spitze wird dieses Verwirrspiel getrieben, als Rosalind, die sich vor Orlando, den sie eigentlich liebt, als Mann ausgegeben hat, mit ihm vereinbart, dass sie so tut, als sei sie Rosalind. Wenn man in Betracht zieht, dass im Elisabethanischen Theater alle Rollen von Männern gespielt wurden, dann ergibt sich die Situation, dass ein männlicher Schauspieler eine weibliche Figur spielt, die sich als Mann verkleidet und in dieser Verkleidung, um ihrem Geliebten nahe zu sein, so tut, als wäre sie ein Frau. Neben der genuinen Komik, die gerade dadurch entsteht, dass hier überdeutlich auf die Verwobenheit von Kontext und Möglichkeiten der Wirklichkeitswahrnehmung angespielt wird, wird vor allem klar, dass die Aussage, die ganze Welt sei Bühne und alle Männer und Frauen nur Spieler, tatsächlich exemplifiziert wird. Denn nicht nur Rosalind spielt für Orlando, sondern natürlich auch der Schauspieler für das Publikum. So erscheint das, was als Wesenskern des Theaters missverstanden werden könnte, das

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Wimmer: Kommentar (Anm. 4), 658 f. Folio: 2.7.140 f. zit nach: William Shakespeare: As You Like It. In: Ders.: The Arden Shakespeare. Third Series. 40 Bde. Hg. von Richard Proudfoot u.a. Bd. 3: As You Like It. Hg. von Juliet Dusinberre. London 2006, 227.

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Schauspielen, als integraler Teil der conditio humana, das zwar Möglichkeitsbedingung des Theaters ist, das aber eben nicht auf es eingeschränkt ist. Ebenso muss eine solche Vorstellung von grundsätzlich erzeugter Wirklichkeit sich von der naiven Authentizitätsvorstellung, Wahrheit sei unmittelbar erfassbar, verabschieden. Wenn die Welt eine Bühne ist, dann ist die Bedeutung aller in ihr erscheinenden Dinge und Wesen nicht durch diese selbst festgelegt, sondern durch das Stück, das gegeben wird, d.h. durch den Kontext. Wenn nun der lyrische Sprecher kurz vorm Erreichen seines Ziels, Rom, behauptet, dass es Shakespeare sei, »durch dessen Augen / [er] Welt und Menschen sehe« (190), dann ist klar, dass die Kategorie der Wirklichkeit nicht gedacht werden kann als ein factum brutum, dessen Sinn und Bedeutung unmittelbar erfasst werden könne. Rom als das Zentrum sowohl der antiken als auch der mittelalterlich-christlichen Welt und somit auch als Ursprung aller von Tieck bewunderten Kunst, ist durchaus als zentraler Signifikant naiver Authentizitätsphantasmata hergenommen worden – sowohl vulgär-romantisch als auch epigonal klassizistisch. Gerade dadurch, dass direkt vorm Eintritt nach Rom an Shakespeares Einsicht in die Relativität des So-Seins der Dinge erinnert wird, wird diese Art von Authentizität als ein unterkomplexes Konstrukt entlarvt, das aufgrund der notwendigen, unendlichen Offenheit eines jeden Zeichensystems niemals realisierbar sein wird. Wirklichkeit ist für Tieck immer vermittelt und niemals unmittelbar, weswegen es auch kein letztgültiges Einlösen und Arretieren von Sinn geben kann. Wahres Sprechen über die Wirklichkeit muss dementsprechend die vermittelnden Kategorien offenlegen und nicht so tun, als könnten sie übergangen werden. Wahres Sprechen muss den Kontext erfassen und daher grundlegend intertextuell verfasst sein. Nicht nur der Bezug auf As You Like It wird hergestellt, um einer allzu naiven Form von Authentizität eine Absage zu erteilen, auch enthält bereits die Landschaftsbeschreibung zu Beginn dieses Gedichts eine doppelbödige Kritik: Wie der Weg sich senkt, Steigen Inseln, Felsen, aus dem Wasser, Lieblich erhellt, Als wenn der violblaue Duft See und Insel und Fels Löste in Lieblichen Traum. Ja, dies sind die lichten Formen, Die warmen, heitern Töne, Die der Zauberer aus Lothring So wundervoll schafft: […] (189 f.)

Wahrheit und Wirklichkeit als intertextuelle und interkulturelle Konstruktion 73 Der ›Zauberer aus Lothringen‹ ist Claude Gellée (geb. zwischen 1600 und 1605, gest. 1682), der als Claude Lorrain als einer der größten Landschaftsmaler überhaupt in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Der Bezug auf ihn bereitet den Bezug auf Shakespeare in gewisser Weise vor, denn Lorrains Gemälde prägen die Erwartungshaltung europäischer Bildungsreisender des 17. und 18. Jahrhunderts auf der einen Seite sehr, weil seine Landschaftsmalerei die Vorstellung vom romantischen Italien stark geprägt haben.24 Auf der anderen Seite sind diese Idyllen keinesfalls realistisch zu nennen, denn sie sind im Sinne der zeitgenössischen Barockästhetik stark idealisiert.25 Neben der Tatsache, dass Lorrain die Landschaft von architektonischen Spuren der nachantiken Welt bereinigt hatte, war vor allem die Farbgebung dafür verantwortlich, dass seine Darstellungen wie Ideallandschaften wirkten. Dies war den Zeitgenossen jedoch durchaus bekannt. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts waren sogenannte Claude-Gläser in Mode:26 getönte und leicht gewölbte Spiegel, die man in die entsprechende Landschaft mitnahm, um diese dann in ihnen genießend zu betrachten oder um die Spiegelung abzumalen. Man stellte sich mit dem Rücken zur Landschaft, hielt den Spiegel leicht über den Kopf und betrachtete die Landschaft, die hinter einem lag. Durch die Verfremdung im Spiegel erschien die Landschaft dann erst in Lorrains Manier. Wie Manfred Schneider festhält, muss davon ausgegangen werden, dass Tieck die Claude-Gläser kannte: »Neben dem Fernglas und Skizzenbuch gehörte auch das Claude-glass um 1800 zur Ausrüstung der Touristen wie heute der Photoapparat.«27 Auch der Verweis auf Lorrain zeigt also schon, dass das, was als Authentizität rezipiert wird, ein kontextuell-diskursiv gestalteter Effekt ist und damit letztlich das Gegenteil von Unmittelbarkeit. Denn Authentizitätserfahrungen hängen

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Vgl. Marcel Röthlisberger: Claude Lorrain. The Paintings. New York 1979. Röthlisberger beginnt sein großes Überblickswerk mit dem Satz: »Claude Lorrain has at all times been considered the greatest of the landscape painters.« (Ebd., 3). Vor allem ist aber zu bemerken, dass Lorrains Werk nicht nur mit der Landschaft um Rom selbst, sondern vor allem auch immer mit Italienreisen im Rahmen der Grand Tour assoziiert worden ist, die vor allem junge britische Adelige und Bürgerssöhne unternommen haben. Vgl. hierzu: Michael Kitson: Art. ›Claude Lorrain‹. In: The Dictionary of Art. 34 Bd. Hg. von Jane Turner. Bd. 7. London 1996, 389–403, besonders das Kapitel IV. Posthumous reputation and influence (ebd., 400–402). Zum Realismusbegriff bei Lorrain mit besonderer Berücksichtigung seiner barocken Implikationen vgl. John R. Martin: Baroque. New York u.a. 1977. Für eine kurze Einführung in das Medium des Claude-Glases, der auch Claude-Spiegel oder in England, wo dieser travel knick-knack besonders en vogue war, black mirror oder Claude-glass genannt wurde, vgl. Malcom Andrews: The Search of the Picturesque. Landscape Asthetics and Tourism in Britain, 1760–1800. London 1989, 67–74. Ausführlich zum Claude-Glas vgl. Arnaud Maillet: The Claude Glass. Use and Meaning of the Black Mirror in Western Art. New York 2004. Manfred Schneider: Die Gewalt von Raum und Zeit. Kleists optische Medien und das Kriegstheater. In: Kleist-Jahrbuch (1998), 209–226, hier 215.

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von den Mitteln der Darstellung ab und sind gerade nicht möglich bei deren Abwesenheit – geschwiege denn durch deren Abwesenheit. Der Bezug auf den Briten Shakespeare einerseits und der auf den Lothringer Lorrain andererseits, von denen gesagt wird, dass mit ihren Augen bzw. durch ihre sprachlichen sowie gemalten Bilder Italien und Rom wahrgenommen werde, lässt schon vermuten, dass auch die nationale oder kulturelle Identität von der Kritik, die die Authentizität betrifft, nicht verschont bleiben wird.28 Nicht nur diese interkulturelle Kreuzung der Blicke allerdings, sondern vor allem die inhaltlichen Punkte, die der Text als Kritik an der Möglichkeit von Unmittelbarkeit verwendet hat, zeigen, dass eine Sicht auf Wirklichkeit, wie sie vom Text entwickelt wurde, eine interkulturelle Dimension hat, die die Möglichkeit eröffnet, das Politische zu denken. Es gibt nur wenige Stellen in den Reisegedichten, die ausdrücklich die Politik zum Thema machen. Offensichtlich ist aber dennoch, dass Kultur, Tradition und Gedächtnis mehr oder weniger mit der Kategorie der Nation verknüpft sind.29 Dies geschieht hauptsächlich über die Sprache. Nationale Kulturen sind damit für Tieck durchaus identifizierbar, weil eine Kultur ähnlich dem Konzept eines signifying system die virtuelle Allheit zeichenhafter Formen ist,30 die innerhalb einer Sprache zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite – und hier steht Tieck doch in einem gewissen Kontrast zum romantischen Zeitgeist – kann es für ihn deswegen natürlich weder Essenz, noch Wesen oder gar einen die Kultur definierenden Volksgeist geben. Vielmehr steht Tieck einer rezent in der Germanistik von Héctor Canal wieder ins Spiel gebrachten Idee einer Kultur als »Kulturgeschichte der literarischen Übersetzung« nahe.31 Eine Kultur wäre demnach das Produkt der in sie eingegangen Übersetzungen. Dies beschreibt genau den Konnex von Interkulturalität und Intertextualität, den Tiecks Reisegedichte nahelegen. Sie sind geradezu 28

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Im Falle von Claude Lorrain scheint die interkulturelle Dimension noch deutlicher hervorzutreten als bei Shakespeare, denn er war »[b]orn in Lorraine, apprenticed in Germany, and trained in Napels and Rome«, wo er dann auch gelebt hat und gestorben ist. Vgl. Pamela Askew: Introduction. In: Claude Lorrain 1600–1682: A Symposium. Hannover u.a. 1984, 9–11, hier 9. Breuer: Schwarze Schleier (Anm. 3), 114 f., hat gezeigt, dass die politische Dimension von Tieck selbst zunächst verschleiert wurde, da bei der Erstveröffentlichung aufgrund der brisanten politischen Lage die letzten, deutlich politisch gefärbten Gedichte ausgespart bleiben mussten, was auch bis zu Breuers eigenem Beitrag wiederum die Forschung veranlasst hat, nicht nach politischen Implikationen in den Reisegedichten zu suchen. Zum Terminus signifying system vgl. Norbert Mecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft. München 2009, 15. Héctor Canal: Romantische Universalphilologie. Studien zu August Wilhelm Schlegel. Heidelberg 2017, 21. Canal bezieht sich in seinen Ausführungen ausdrücklich auf Horst Turk: Die literarische Übersetzung als Herausforderung der Literaturwissenschaft. In: Die literarische Übersetzung in Deutschland. Studien zur Kulturgeschichte in der Neuzeit. Hg. von Armin Paul Frank u.a. Berlin 2004.

Wahrheit und Wirklichkeit als intertextuelle und interkulturelle Konstruktion 75 Exemplifikation einer solchen Übersetzung, da sie selbst Texte deutscher Sprache sind, die permanent Schemata, Formen, Strukturen aus der italienischen, französischen, schweizerischen oder britischen, aber auch antiken Tradition aufgreifen und somit ›übersetzen‹. Das Gedicht Bücher zeigt, dass, dieser Überzeugung entsprechend, Kultur nicht als abgeschlossener Container gedacht werden darf. Der lyrische Sprecher spricht davon, dass er in Italien »die Töne / Voller und gewaltiger / Von euch, ihr Hochgeweihten« (202), vernimmt. Diese Hochgeweihten sind die italienischen Nationaldichter Dante, Ariost, Petrarca, Boccaccio, Tasso, Tassoni, Bojardo, Lorenz. Gleichzeitig macht sich das Gedicht lustig über diejenigen Reisenden, die sich in die Kontexte ihrer eigenen Kultur einsperren, als wären sie Container: Der Engländer, der »zum Ätna hinauf / Den Teekessel schleppt, / Um am Krater / Wie an Londons Kamin / Den chinesischen Trank zu schlürfen.« (202) Ein besonderer ironischer Seitenhieb besteht natürlich darin, dass Tieck hier deutlich macht, dass jede nationale Kultur immer schon im interkulturellen Austausch steht. Wie man hier sieht, vergisst der Engländer – wenn er besonders englisch bleiben möchte –, dass der Tee, der ihn englisch macht, es selbst nicht ist.32 Gleich nach den englischen Reisegepflogenheiten werden die der Deutschen persifliert, da sie sich durch das Mitführen ihrer eigenen Literatur noch weit mehr gegen interkulturelle Einflüsse abschließen als die Engländer. Dieses Gedicht allerdings zu sehr in die Richtung zu interpretieren, dass es einen genuinen Zusammenhang zwischen Kultur und Boden gäbe, wäre höchst unplausibel. Gegen diese inadäquate Auslegung sprechen zwei der zentralsten Gedichte. Zunächst Schmerz in der Lust: In diesem Text beschreibt der lyrische Sprecher das Überangebot an Möglichkeiten, die Rom zu allerlei Unternehmungen bietet, um dann davon zu berichten, dass er momentan alle verfügbare Zeit auf philologische Studien verschiedener Texte verwendet, die im Vatikan archiviert sind. Tatsächlich hat Tieck während seines Aufenthalts in Rom die dort lagernden Heidelberger Handschriften von verschiedenen mittelalterlichen deutschen Texten untersucht.33 Oben wurde schon gezeigt, dass Tieck, kurz bevor das Ziel Rom erscheint, Shakespeare und Claude Lorrain bemüht, um einem verkürzten Wahrheitsbegriff eine Absage zu erteilen, der davon ausginge, Wahrheit wäre der Fall, wenn eine Bedeutung in einem Signifikanten gebannt wäre. Hier nun zeigt der Text nicht nur Rom als das Ziel der Reise, sondern er gewährt einen Blick in das Innerste des Inneren des christlichen bzw. katholischen Schrifttums: in die nicht öffentliche Bibliothek des Vatikans. Imaginiert man dies als das Zentrum des Zentrums, in dem vielleicht doch ein eindeutiger Sinn zu finden wäre, so sieht man, dass der 32 33

Es ändert an der prinzipiellen Gültigkeit seines Arguments natürlich nichts, dass Tieck im Falle des englischen Tees vielleicht besser von einem indischen als von einem chinesischen Getränk gesprochen hätte. Wimmer: Kommentar (Anm. 4), 666.

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Text auch hier konsequent ist. Es wäre ein Leichtes gewesen, diese Situation literarisch so zu gestalten, dass im Zentrum der Christenheit, im Zentrum Europas, im Zentrum der Welt der sinnsuchende Reisende in seinem Studium der Heidelberger Handschriften zu seinem Ureigensten gelangt: dem Deutschen. Tieck aber entscheidet sich anders: Anstatt das Deutsche zum Schatz im heiligsten Ort, zur arché des Archivs oder zum Wahren an sich zu erklären, ironisiert der Sprecher gegen eine solche Haltung: »Und ich mußte nach Rom gehen, / Um erst recht stockdeutsch zu werden.« (209) Anstatt zu beschreiben, dass das deutsche Wesen ihn affiziere oder dass er einen deutschen Volksgeist durch die Blätter vernehmen könnte, macht er sich lustig über seine protestantisch-preußische Arbeitswut, denn darauf bezieht sich dieses durchaus pejorativ gemeinte »stockdeutsch«. Zuvor schon hatte er geschrieben: »Jetzt hat ein Unruh stiftender / Irrer und schlimmer Geist / Mir noch die Arbeit gehäuft. / Der Verführer hat mich in den Vatikan gelockt«. (208) Mit einer heiteren Ironie, die vor allem auch ihn selbst trifft, rückt Tieck sein protestantisches Arbeitsethos hier – im Herzen des Katholizismus – semantisch in die Nähe des Teufels. In diesem Zentrum inszeniert Tieck also alles andere als irgendeine ›reine‹ Kultur. Im Gegenteil, es ist ein Punkt interkultureller Überlagerungen und selbstironischer Distanzierung von vermeintlichen Essentialismen. Das zweite zentrale Gedicht, das als Beleg gegen eine Verknüpfung von Kultur und Boden und für die These, Kulturen seien wesentlich interkulturell, angeführt werden kann, ist Die spanische Treppe. Erzählt Schmerz in der Lust in geographischer Hinsicht vom Ziel der Reise, so tut Die spanische Treppe dies in teleologischer Hinsicht. Denn Zweck der Reise war, wie schon oben erwähnt, die Genesung vom psychosomatischen Symptomkomplex der melancholischen Gicht. Obwohl letztlich Zweifel an der Rekonvaleszenz des lyrischen Sprechers bleiben und obwohl auch der historische Tieck weiter an Rheumatismus litt, wird im Text die Therapie, die Spanische Treppe in Rom auf und ab zu gehen, als äußerst erfolgreich dargestellt. »Schon fühl’ ich mich leichter, / Heitrer, kräftiger, / Die Fesseln lösen sich gelinde, / Und dankbar schau’ ich hinauf / Zu meinem hohen Arzte.« (194) Der Punkt, an dem die Genesung gelingt, muss als Brennpunkt stärkster interkultureller Überlagerung gesehen werden: Hier geht ein Deutscher in Italien eine spanische Treppe auf und ab, die zu einer von Ludwig XII. gestifteten Kirche führt und größtenteils von einem anderen Franzosen, Etienne Gueffier, finanziert wurde! Hier nun findet sich auch einer der wenigen Hinweise auf die konkrete politische Situation zur Zeit der Reise und Niederschrift:

Wahrheit und Wirklichkeit als intertextuelle und interkulturelle Konstruktion 77 Doch das Volk der Römer, Das wie die Schlange die Sonne scheut, Und weite Umkreise zieht, Dem Schatten folgend, Schauet bedenklich, Die Häupter schüttelnd, Aus kühlen Räumen, Und hinter vergatterten Fenstern, Auf das deutsche Wunder. Geht doch die Weltuhr jetzt in allen Reichen Neuen, nie gesehenen Gang, Wird man doch überall, Das Unerhörte gewohnt; So sieht auch schon trägern Auges, Der weniger Staunende Mein Treppenbad ruhiger an. (194 f.)

Das Wunder der Genesung wird in einem nicht weiter ausgeführten Zusammenhang mit ebenso nicht weiter spezifizierten Ereignissen von welthistorischem Rang gesetzt. Diese Ereignisse sorgen allerdings dafür, dass das gerade noch beschriebene Erstaunen über das Wunder gleich wieder relativiert und zurückgenommen wird. Die Welt scheint aus den Fugen zu sein, weswegen man sich eigentlich über gar nichts mehr wundern müsse. Die hier nur angedeuteten Ereignisse sind die Eroberungen Napoleons. Außer ihm gäbe es in der Zeit der Niederschrift nichts, was tatsächlich dafür sorgte, dass »die Weltuhr jetzt / in allen Reichen / Neuen, nie gesehen Gang« geht. Die chronometrische Metapher deutet dabei nicht nur auf die historische Dimension Napoleons hin, sondern kann auch als ein direkter Verweis auf den Kalender der Französischen Revolution verstanden werden, der im Jahr 1805 noch gilt. Was hier nur anklingt, wird an anderer Stelle offen ausgesprochen: unversöhnliche Ablehnung gegen das napoleonische Frankreich. Das Gedicht Politik spricht von der Trikolore als »Die mir verhaßte / Dreifarbige Schleife der Weltbeherrscher« (220). In eben diesem Gedicht erzählt der lyrische Sprecher davon, wie er mit einem politisch Gleichgesinnten oftmals zusammensitzt: »Und Kranker erhitzt den Kranken, / Indem wir bauen, zerstören, / Europa neu gestalten, / Und die geflügelten Wünsche / Vor den großen, schweren Karren / Des Unglücks spannen.« (Ebd.) Woher ist diese unversöhnliche Haltung gegenüber Frankreich motiviert, wo doch die Reisegedichte bisher nicht nur als ein Plädoyer für einen interkulturellen Dialog kenntlich wurden, sondern sogar für eine Haltung, die von der Überzeugung getragen ist, dass der interkulturelle Austausch ein unhintergehbares

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Konstituens von Kultur ist? Die Antwort findet sich am deutlichsten ausgesprochen im Gedicht Mayland: Welches Barbarengezücht Wohl aus dem fernsten Norden, Völker, die niemals noch von Kunst gewußt, Die keine Bücher kennen Und nur im Gemälde Einen lächerlichen Affentrieb des Menschen fühlen, Haben dein Meisterwerk, o alter Leonardo, So beschimpft und entstellt? Wie? Spuren von Kugeln? Ein Pferdestall war in diesem heiligen Saal? O ihr wilden Nomaden, Die ihr der grausamen Zeit frevelnd vorausarbeitet, Zu zerstören, was die Liebe schuf, Wissenschaft und Begeisterung. (249)

Tieck klagt an, dass napoleonische Truppen das berühmte Fresco Leonardo da Vincis, Das Abendmahl, im Refektorium von Santa Maria della Grazie in Mailand beschädigt und fast zerstört haben. Es nimmt wohl kaum wunder, dass Tieck gerade dieses Beispiel wählt, um seine Gegnerschaft zu Napoleons Eroberungs- und Besatzungspolitik zu erläutern, denn es wird dadurch sehr deutlich, dass die zum Ausdruck gebrachte Wut gegen die Franzosen nicht aus dem Gefühl der Überlegenheit hervorgeht, sondern Resultat des tief empfundenen Unrechts ist, als das Tieck die napoleonische Bilderstürmerei begreift. Auch das Prädikat der Krankheit, das im letzten Gedicht des Zyklus Dresden dem »Vaterland« (262) beigelegt wird und dessen Weg Breuer in seiner Studie nachgezeichnet hat, ist Ausdruck der Trauer über das bevorstehende »unglückselige Dunkel«, (ebd.) womit einerseits das nutzlose Leid des Krieges, andererseits die unrechtmäßige Okkupation gemeint ist. Tieck spricht sich nicht so sehr gegen die Franzosen an sich aus, weswegen Breuer in Bezug auf seine zugespitzte These, Tieck sehe Heilung in der »deutsche[n] Literatur und [der] deutsche[n] Philologie«,34 zu widersprechen ist. Denn sowohl in den Reisegedichten als auch in Tiecks tatsächlicher philologischer, editorischer und translatorischer Arbeit wird klar, dass der Reichtum der Philologie in der Verschiedenartigkeit der Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks liegt und dass Nationalphilologie zwar deshalb sinnvoll betrieben werden kann, weil es de facto eben verschiedene Sprachen gibt, aber nicht weil nach einer vermeintlichen Superiorität der einen Sprache, Kultur oder Nation gegenüber ei-

34

Breuer: Schwarze Schleier (Anm. 3), 121.

Wahrheit und Wirklichkeit als intertextuelle und interkulturelle Konstruktion 79 ner anderen gesucht werden solle. Gerade die Unterstellung eines solchen Superioritätsanspruchs seitens der Franzosen ist ja gerade der Grund von Tiecks unerbittlicher Gegnerschaft. Zuletzt sollen die angesprochenen Beobachtungen noch einmal gattungspoetisch zusammengeführt werden. Denn es ist alles andere als nebensächlich, dass Tieck seine Reisebeobachtungen lyrisch festhält. In der Forschung ist die Gattung der Reisegedichte im Falle Tiecks bereits häufig zum Thema gemacht worden, wobei hauptsächlich versucht worden ist, die Nähe zur Prosa zu erklären, während jedoch nie Gründe angegeben wurden, warum überhaupt lyrisch gearbeitet wurde. So stellt sich bei derart einseitigen Betrachtungen unweigerlich die Frage: Warum schrieb Tieck nicht gleich Prosa?35 Folgende These soll hier vorgeschlagen werden: Die Reisegedichte können als Antworten auf zwei Traditionen von Reisetexten gesehen werden, zwischen denen sie vermitteln. Zum einen entsteht im 18. Jahrhundert die Idee, dass ein schriftliches Dokument desto authentischer ist, je weniger Zeit zwischen Erleben und Aufzeichnung verstreicht. So wird, wie Andreas Hartmann beschreibt, 1786 eine Erfindung, das Beyer’sche Portfefeuille, zur Sensation, die es erlaubt in der Manteltasche simultan zum Erleben das Erlebte aufzuzeichnen.36 »Das Bestreben, Ereignisse und ihre Aufzeichnungen zu synchronisieren, geht erklärtermaßen mit einer Ausgrenzung des Gedächtnisses einher. In den Augen der Zeitgenossen schiebt dieses Konzept den Imaginationen einen Riegel vor«.37 Die Synchronizität soll verhindern, dass sich irgendetwas der Situation Fremdes in ihre Beschreibung mischt. Hartmann zeigt in seiner Studie allerdings, dass dieses Konzept der Unmittelbarkeit, dem sicher auch Rahel Varnhagens eingangs zitiertes Authentizitäts-Konzept nahesteht, nur ein Extrem im 18. Jahrhundert darstellt. Das andere ist die sogenannte Apodemikenkultur. Apodemiken sind Reiseanleitungen, die genauestens vorgeben, was auf einer Bildungsreise erlebt werden kann und soll und die mit der Textsorte des Reisetagebuchs zusammen auftritt. »Der Reisende […] wird nach diesem Programm quasi als Buchhalter auf den Weg geschickt, um aufzusuchen und zu notieren, was ihm im vorhinein bekannt ist.«38 Apodemiken verengen den Blick auf das vermeintlich Wesentliche, das dann im Reisetagbuch wiederum als das Erlebte notiert wird. Es ist leicht zu erkennen, dass diese beiden Konzepte sich einander diametral entgegenstehen. Das erste sieht in jedem kontextuellen Einfluss eine Verfälschung, ohne zu verstehen, dass Kontext eine conditio sine qua non für jedwede Erfahrung ist. Das zweite Konzept geht davon aus, dass eine Erfahrung sich auf 35 36 37 38

Vgl. z.B. Adam: Kleine Begebenheiten (Anm. 8), 126 f. Andreas Hartmann: Reisen und Aufschreiben. In: Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. Hg. von Herrmann Bausinger u.a. München 1991, 152–159, hier 152. Ebd., 153. Ebd., 157.

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den Kontext reduzieren lässt, was sogar zu der absurden Situation führt, dass einige Autoren dafür votieren, »daß sich der Aufbruch von Zuhause erübrigt.«39 Tieck steht in der Mitte zwischen diesen Extremen. Es wurde in diesem Beitrag zwar eher die Seite in den Reisegedichten stark gemacht, die den Kontext als Bedingung für eine Erfahrung sieht, denn wie auch gezeigt wurde, sind die Texte nicht selten unter Zuhilfenahme eines naiven Authentizitätsbegriffs interpretiert worden, der sich auf Unmittelbarkeit reduziert. Dennoch ist aber auch klar, dass Tieck im Kontext keine determinierende Kraft sieht. Gerade deswegen ist es für Tieck sinnvoll, Kunst wie die Reisegedichte zu produzieren, die das Verhältnis von Kontext und Erfahrung ausloten, die Kontexte untersuchen und übersetzen; und gerade in der Form des Gedichts zeigt sich diese Zwiespältigkeit. Denn die einzelnen Gedichte sind wie die einzelnen Situationen abgeschlossen, sie sind kurze Texte und beschreiben tatsächlich kleine Begebenheiten, wie Adam im Titel seines Aufsatzes schreibt.40 Es ergibt sich aber durch das Arrangement die Möglichkeit, unterschiedlich auf die verwendeten Kontexte Bezug zu nehmen. Es eignet der Lyrik, dass sie sowohl diese Macht der Gestaltung als auch die grundlegende Kontextbedingtheit hervortreten lassen kann. Es eignet der Situation in der Fremde oder auf der Reise, dass sich sowohl vermeintlich unauflösliche Verknüpfungen zwischen Kontexten plötzlich lösen als auch dass bislang unthematische Verknüpfungen plötzlich ihre Persistenz zeigen. Genau wegen diesen Eigenschaften der Reisesituation und diesen Eigenschaften der Lyrik ist Tiecks Reiselyrik eine gelungene Meditation über Wirklichkeit und die Möglichkeiten wahren Sprechens.

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Ebd., 158. Adam: Kleine Begebenheiten (Anm. 8).

Dolmetscher, Erklärer, Gefährte Levin Schückings Anthologie Italia. Deutsche Dichter als Führer jenseits der Alpen (1851)1 NIKOLAS IMMER Wenn im Deutschland des späten 18. Jahrhundert eine vorwitzige Herumtreiberin die Frage stellte, ob man denn das Land kenne, in dem die Zitronen blühen, dürfte es nicht wenige Zuhörerinnen und Zuhörer gegeben haben, die diese Frage bejahen konnten. Auch wenn nicht jeder dieses Land mit eigenen Augen gesehen haben mochte, war es im kollektiven Bewusstsein doch so sehr präsent, dass sich schon bald eine veritable ›Italiensehnsucht‹ herausbildete.2 Die Vorstellung von Italien als kulturell und künstlerisch inspirierendem Reiseziel verdankte sich nicht nur den kunsthistorischen Forschungen Johann Joachim Winckelmanns, sondern auch den Reiseberichten deutscher Dichter wie Goethe, Seume oder Heine. Parallel zu diesen Darstellungen, die teilweise erst im frühen 19. Jahrhundert publiziert oder verfasst wurden, entdeckten die sogenannten ›deutschrömischen‹ Künstler die italienische Hauptstadt als neue Wirkungsstätte. In diesem Zeitalter des anbrechenden Massentourismus erschien 1866 der Baedeker-Band über Mittel-Italien und Rom, dessen primäre Funktion darin bestand, die Reisenden »durch die Strassen der grossen italienischen Städte zu den wichtigsten Bauwerken, [und] zu den herrlichsten Naturschönheiten [zu] begleiten«.3 Als knapp einhundert Jahre später dank des einsetzenden Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik erneut zahlreiche Deutsche in den Süden strömten, avancierten insbesondere Nord- und Mittelitalien endgültig zu massentauglichen Urlaubsregionen. Diese nachhaltige Italienbegeisterung hat der Spiegel im März 2006 auf den Punkt gebracht: »Vollgas ins Land der Sehnsucht«.4

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Vgl. Italia. Deutsche Dichter als Führer jenseits der Alpen. Gewählt und hg. von L.[evin] Schücking. Frankfurt a.M. 1851. Zitate aus dieser Anthologie werden im Folgenden mit der Sigle ›It‹ und der entsprechenden Seitenzahl nachgewiesen. Vgl. Marino Freschi: Die deutsche Italien-Sehnsucht von Winckelmann bis Heine. In: Studia Germanica Posnaniensia 32 (2011), 5–19; ferner: Kunstliteratur und Italienerfahrung. Hg. von Helmut Pfotenhauer. Tübingen 1991; Italien in Aneignung und Widerspruch. Hg. von Günter Oesterle, Bernd Roeck und Christine Tauber. Tübingen 1996. K.[arl] Baedeker: Italien. Handbuch für Reisende. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom. Coblenz 1866, S. III. Vgl. Anonym: Vollgas ins Land der Sehnsucht. In: Spiegel Online (31. März 2006) [https:// www.spiegel.de/reise/europa/italien-vollgas-ins-land-der-sehnsucht-a-408547.html; letzter Zugriff: 24.08.2019].

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_5

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Wie schon angedeutet, speiste sich die Italophilie des 18. und 19. Jahrhunderts in erster Linie aus der Literatur. Neben zahlreichen Reiseberichten und Reiseromanen waren es die Reisegedichte, in denen bestimmte geographische Regionen Italiens poetisch erschlossen wurden. Um die darin exponierte Italiensehnsucht einem lesefreudigen Publikum möglichst konzentriert zu vermitteln, sind diese Dichtungen bis heute in lyrischen Anthologien versammelt worden, von denen eine Auswahl aufgezählt sei: Ciao, Belleza. Deutsche Dichter über Italien. Ein Lesebuch (hg. von Petra und Manfred Hardt, 1988), Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühn. Italien im deutschen Gedicht (hg. von Peter Hamm, 1992), »Auch ich in Arkadien!« Deutsche Italiengedichte von Rilke bis George (hg. von Yvonne P. Alefeld, 2011), Italien – eine Reise in Gedichten (hg. von Dietrich Bode, 2016) und Bella Italia. Italienreisen im Gedicht (hg. von Hansjürgen Blinn, 2017). Am Ursprung dieser Reihe steht Levin Schückings Lyrikanthologie Italia. Deutsche Dichter als Führer jenseits der Alpen, die 1851 im Verlag von Carl Jügel in Frankfurt am Main erschienen ist. Dass Schücking mit dieser lyrischen Blütenlese tatsächlich eine eigene Tradition zu begründen beginnt, hat schon ein zeitgenössischer Rezensent bestätigt.5 Zwar stellt dieser Kritiker zu Beginn seiner Besprechung fest, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus eine Vielzahl von Lyrik-Anthologien erschienen seien. »Was [aber] noch fehlte«, so schreibt er weiter, »waren poetische Reise-Sammelwerke, in denen ein durch Natur und Geschichte bedeutendes Land sich prismatisch in den Anschauungen vieler wiederspiegelt. Levin Schücking ha[be] den Gedanken einer solchen Anthologie so eben in Bezug auf Italien auf das glücklichste verwirklicht«.6 Im Folgenden wird zunächst dargelegt, in welchem biographischen Kontext sich Schücking entschließt, seine Anthologie herauszugeben. Im Anschluss wird nach der Gestaltung und Anlage der Sammlung gefragt und die konkrete Darbietung einzelner Gedichte untersucht. Dabei soll der thematische Schwerpunkt auf der Frage liegen, inwiefern darin Verbindungen zwischen den Aspekten ›Reise und Bewegung‹ sowie ›Reise und Erinnerung‹ gestiftet werden.

5

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Vgl. Anonym: Rezension der Italia. In: Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 176 (25. Juni 1851), 2809–2811, hier 2809. Die Neuartigkeit von Schückings Anthologie hat schon Bernhard Walcher hervorgehoben: »Mit der Schückingschen Italia liegt eine lyrische Reiseanthologie für Italienreisende vor, die von zwei Textsorten, Anthologie und Reiseführer profitiert und sie zu einem neuen Texttypus verbindet, dem poetischen Reiseführer.« (Bernhard Walcher: »Deutsche Dichter als Führer jenseits der Alpen«. Die Romgedichte in Levin Schückings lyrischer Reiseanthologie Italia. In: Zwischen Goethe und Gregorovius. Friedrich Rückert und die Romdichtung des 19. Jahrhunderts. Hg. von Ralf-Georg Czapla. Würzburg 2009, 221–261, hier 226). Anonym: Rezension der Italia (Anm. 5), 2809.

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1. Levin Schücking und Italien In einem biographischen Essay aus dem Jahr 1862, der in der Gartenlaube erscheint, wird Levin Schücking »als einer der sinnigsten deutschen Dichter, [und] als einer der liebenswürdigsten Erzähler charakterisiert«.7 Doch die zahlreichen Romane, Novellen und Erzählungen, die Schücking hinterlassen hat, sind heutzutage nur mehr wenigen Spezialisten vertraut.8 Am ehesten ist er noch dafür bekannt, gemeinsam mit Ferdinand Freiligrath die Anthologie Das malerische und romantische Westphalen (1841) herausgegeben zu haben und als Förderer Annette von Droste-Hülshoffs aktiv geworden zu sein, als der er unter anderem ihre erste Biographie (1862) verfasst hat.9 Neben seiner Arbeit als Schriftsteller war Schücking während einer längeren Periode auch als Journalist tätig. Schon im Alter von 24 Jahren begann er, an Karl Gutzkows neu gegründetem Telegraph für Deutschland mitzuwirken. Dort zählte er bald zu den »fleißigsten Mitarbeiter[n]« sowie – nach der Einschätzung Gutzkows – zu den »besten Rezensenten«.10 Nach einer Zwischenstation bei der Augsburger Allgemeinen Zeitung übernahm Schücking von 1846 bis 1852 die Redaktion des Feuilletons der Kölnischen Zeitung, in deren Auftrag er im Oktober 1847 das erste Mal Italien besuchte. In seinen Lebenserinnerungen (1886) hat Schücking den ersten Eindruck festgehalten, den die Stadt Rom auf ihn machte: Man sah sehr wenig von Rom, man sah etwas wie eine kleine graue Halbkugel in fernster Ferne über der Horizontlinie, aber dennoch schlug den Reisenden aus dem weiten Norden das Herz hoch. Heute [1886], wo es so leicht ist, auf glatten Eisenschienen in ein paar Tagen nach Rom zu rollen, betritt Niemand mehr den Boden der ewigen Stadt mit jenem stürmischen Entzücken, das damals den Wanderer erfüllte, der nach Ueberwindung von Hemmnissen und Beschwerden aller Art mit dem Gefühl kam, ein Glück zu genießen, welches so Wenigen beschert war.11

7 8

9 10 11

S.-W.: Ein westphälischer Dichter. In: Die Gartenlaube (1862), H. 19, 315–317, hier 315. »Der Name des Autors [Levin Schücking] steht für ein fast unüberschaubares, in seiner Komplexität nur schwer zugängliches literarisches Werk, das heterogener kaum zu denken ist.« (Manfred Schier: Levin Schücking. Westfälischer Schriftsteller zwischen Tradition und Emanzipation. In: Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung. Hg. von Walter Gödden und Winfried Woesler. Paderborn u.a. 1992, 105–129, hier 105). Vgl. Das malerische und romantische Westphalen. Hg. von Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking. Barmen 1841; Levin Schücking: Annette von Droste-Hükshoff. Ein Lebensbild. Hannover 1862. Karl Gutzkow an Levin Schücking, 9. Juni 1840; Der Briefwechsel zwischen Karl Gutzkow und Levin Schücking 1838–1876. Hg., eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Rasch. Bielefeld 1998, 55. Levin Schücking: Lebenserinnerungen. 2 Bde. Breslau 1886, Bd. 2, 168 f.

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Als Schücking während der Revolutionsperiode 1847/48 in Italien eintraf, konnte er unmittelbar miterleben, wie es in einzelnen Fürstentümern wiederholt zu Aufständen der italienischen Einheitsbewegung kam. In Rom verfolgte er nicht nur »die Regungen des italienischen Nationalgefühls«, sondern auch die Reformen von Papst Pius IX., die er in seinen Artikeln für die Kölnische Zeitung begeistert würdigte.12 Nach seiner Rückkehr aus Italien im April 1848 ergänzte Schücking die journalistischen Artikel um Beobachtungen, die er in seinem Tagebuch notiert hatte, und gab sie unter dem Titel Eine Römerfahrt (1848) neu heraus. Doch mit dem Sieg der deutschen Reaktion begann das politische Interesse an Italien rasch nachzulassen.13 Wie Ulf Morgenstern nachgewiesen hat, tendierte Schücking in der nachrevolutionären Phase verstärkt zu einem »opportunen Journalismus«, indem er fast vollständig auf die Thematisierung politischer Inhalte verzichtete.14 Parallel dazu vollzog sich ein »Perspektivenwechsel« in der öffentlichen Wahrnehmung Italiens: Das Interesse galt jetzt weniger dem politischen Zeitgeschehen, als vielmehr der kulturgeschichtlichen und kulturgeographischen Bedeutung des Landes.15 In dieser Phase, in der sich Schücking wieder intensiver seinen literarischen Arbeiten widmete, begann er das Textmaterial für zwei Lyrik-Anthologien zu sammeln. Nachdem ihm Gutzkow Mitte Januar 1851 geschrieben hatte: »Erhalten Sie sich Ihre schönen Schweizer- u. Italienträume«, publizierte Schücking nur wenige Monate später die Sammlungen Helvetia und Italia.16 2. Aufbau und Anspruch der Italia Schon fünf Jahre zuvor hatte sich Schücking mit seiner Sammlung Gedichte (1846) selbst als Dichter zu profilieren versucht. Doch ein zeitgenössischer Rezensent hatte ihm sofort entgegengehalten, dass er nur eine literaturgeschichtliche Zwischenposition bekleiden würde:

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Michael Sawall: Der Dichter Levin Schücking und seine »Römerfahrten« (1847–1883). In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 84 (2004), 332–359, hier 335. Vgl. Johannes Hagemann: Levin Schücking. Der Dichter und sein Werk. Emsdetten 1959, 170. Vgl. Sawall: Levin Schücking (Anm. 12), 345. Ulf Morgenstern: Bürgergeist und Familientradition. Die liberale Gelehrtenfamilie Schücking im 19. und 20. Jahrhundert. Paderborn 2012, 169 f. Sawall: Levin Schücking (Anm. 12), 345, mit Beispielen. Gutzkow an Schücking, 11. Januar 1851; Briefwechsel Gutzkow/Schücking (Anm. 10), 96. Vgl. Helvetia. Natur, Geschichte, Sage im Spiegel deutscher Dichtung. Hg. von L.[evin] Schücking. Frankfurt a.M. 1851.

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Schücking steht noch auf der Brücke, die aus der Romantik in die freie lebendige Gegenwart führt, er macht Ansätze, thut Anläufe, die Gestalten am jenseitigen Ufer zu erreichen; aber sie huschen noch lustig an ihm vorüber, und er wendet den Blick wieder rückwärts nach dem Stande, von dem er aus gegangen; […].17

Ferner hatte der Kritiker beobachtet, dass »eine gewisse Frömmigkeit, [und] eine religiöse Stimmung als rother Faden durch die Gedichte sich hinzieht«.18 Diese Tendenz weist beispielsweise das Sonett Michel Angelo’s letztes Sonett auf,19 welches jedoch das einzige Gedicht dieser Sammlung ist, das auf die italienische Kulturgeschichte bezogen ist. Somit weisen die Gedichte von 1846 noch nicht auf die Anthologie Italia voraus, wenngleich Schückings Italia-Sonett Der Moises des Michel-Angelo (It 416) wie ein Pendant zu dem früheren Michelangelo-Sonett erscheint. Insgesamt sind es aber nur wenige eigene Gedichte, die Schücking in seine Anthologie aufnimmt, was auch ein zeitgenössischer Rezensent bemerkt: »Levin Schücking selbst hat uns aus seiner italienischen Reisemappe, allzu bescheiden, nur sechs kleine Nummern, meist Distichen, mitgetheilt. Nach seiner prosaischen Schrift über Italien [Eine Römerfahrt] wären wir begierig gewesen ein mehreres in gebundener Rede zu vernehmen.«20 Doch Schücking entscheidet sich, in seiner 693 Seiten umfassenden Anthologie anderen Dichtern den Vorrang einzuräumen. Passend zum Titel wird die Sammlung mit einem Titelkupfer versehen, das eine allegorische Darstellung Italiens zeigt (Abb. 1). Das Titelkupfer geht zurück auf das Triptychon Die Einführung der Künste durch das Christentum, das der Maler Philipp Veit zwischen 1834 und 1836 für das Städel’sche Kunstinstitut in Frankfurt angefertigt hatte. Dabei wird das Mittelbild von den Personifikationen der Italia (auf der linken Seite) und der Germania (auf der rechten Seite) flankiert. Veits Ausführung dieser Allegorien stößt im Kunst-Blatt von 1838 auf uneingeschränkte Zustimmung: »Italia und Germania. Nicht etwa eine italienische und eine deutsche Frauengestalt, sondern ein Charakterbild von Land und Volk, im Sinnen und Treiben, in Neigung und Handlungen.«21 Analog zu dieser Einschätzung verfolgt auch Schücking den Anspruch, mit den versammelten Gedichten über Italien ein solches »Charakterbild von Land und Volk« zu präsentieren. 17 18 19 20 21

J. Gegenbaur: Sammelrezension von Levin Schücking: Gedichte. Stuttgart/Tübingen 1846; ders.: Die Ritterbürtigen. Roman. Drei Theile. Leipzig 1846. In: Blätter für literarische Unterhaltung (26.–28. Mai 1846), Nr. 146–148, 581–583, 585 f., 589 f., hier 581. Ebd., 582. Vgl. Levin Schücking: Gedichte. Stuttgart/Tübingen 1846, 175. Anonym: Rezension der Italia (Anm. 5), 2810. J.[akob] Felsing: Ueber die Freskomalereien von Ph.[ilipp] Veit in dem Städel’schen Kunstinstitute in Frankfurt a.M. In: Kunst-Blatt (22. März 1838), Nr. 24, 93–95, hier 94. Vgl. Isabel Skokan: Germania und Italia. Nationale Mythen und Heldengestalten in Gemälden des 19. Jahrhunderts. Berlin 2009, 46.

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Abbildung 1: Titelblatt von Levin Schückings Anthologie Italia (1851)

Die Anthologie selbst ist dem Schriftsteller und Archivar Alexander Kaufmann gewidmet, der, wie Schücking im Vorwort mitteilt, ursprünglich die Idee hatte, »die Italia ins Leben zu rufen« (It I). Kaufmann, der in den 1840er Jahren dem sogenannten ›Maikäferbund‹ angehörte, hatte bereits 1846 ein Gedicht mit dem Titel Nebelmorgen im ersten Band von Schückings Rheinischem Jahrbuch publiziert.22 In die Italia nimmt Schücking insgesamt drei Geschichtsgedichte Kaufmanns auf, die dieser ein Jahr später auch in seiner ersten Gedichtsammlung abdrucken wird: Der heilige Walther, Die Bekehrung des Longobarden-Herzogs Ariolf und Das geraubte Roß (It 25–29, 266–268, 645 f.).23 22 23

Vgl. Alexander Kaufmann: Nebelmorgen. In: Rheinisches Jahrbuch 1 (1846), 269 f. Vgl. Alexander Kaufmann: Gedichte. Düsseldorf [1852], 108–113, 118–120, 128–130.

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Entscheidend für die ästhetische Anlage der Anthologie sind jedoch weniger die intermedialen Bezüge, die vom Titelkupfer ausgehen, oder die intertextuellen Bezüge, die mit der Widmung zusammenhängen. Ausschlaggebend ist vielmehr die Gliederung der Gedichte in 14 Abschnitte, die ihrerseits einer klassischen Nord-Süd-Bewegung folgen. Gerahmt von den Abschnitten »Die Ausfahrt« und »Die Heimkehr« werden auf der poetischen Italienreise folgende Regionen durchquert: Das »Königreich Sardinien und Genua«, »Die Lombardei«, »Venedig«, »Die Romagna und die Herzogthümer«, die »Toskana und Florenz«, »Der Kirchenstaat«, »Rom«, die »Umgebung von Rom«, »Neapel«, die »Umgebung von Neapel« und schließlich »Sicilien«. Bernhard Walcher zufolge bilden die angeführten geographischen Bereiche »die Stationen einer schon jahrhundertealten, habituell feststehenden Reiseroute der Italienreisen, die sich sowohl an Hand von Reiseberichten als auch Reiseführern verfolgen lässt«.24 Im Hinblick auf die quantitative Zuordnung der Gedichte zu den aufgezählten Reisestationen ist festzustellen, dass die italienische Hauptstadt nicht nur als Zentrum von Schückings Anthologie, sondern sogar als deren »eigentliches Reiseziel« kenntlich wird.25 Doch trotz der insgesamt 114 Gedichte, die dem »Rom«-Abschnitt zugeordnet sind, werden neben den aufgeführten italienischen Regionen auch andere Städte hervorgehoben: Genua, Venedig, Florenz und Neapel. Die prinzipielle Gleichrangigkeit der poetisch gestalteten Reiseziele bringt auch der »Prospect« zum Ausdruck, der die Anthologie ankündigt: Geographisch und systematisch geordnet ist die Italia ein Führer der an jedem Ort den Wanderer finden läßt wie die deutsche Dichtkunst hervorragender Episoden aus der Geschichte, großer Erinnerungen, erhabener Kunstdenkmale, ehrfurchtgebietender Ruinen, berühmter Städte, anziehender Seiten des Volkslebens u.s.w., sich bemächtigt hat, und der so ein mächtig fesselnder, überall heimischer Dolmetscher und Erklärer, kurz ein Gefährte geworden ist den in Zukunft wohl kein in Italien lebender, kein in Italien reisender oder von da heimkehrender Deutscher wird entbehren wollen.26

Mit dieser personifizierenden Stilisierung der Anthologie zu einem »Führer«, »Dolmetscher«, »Erklärer« und »Gefährte[n]« verbindet sich der werbestrategische Leserappell, bei einer künftigen Italienreise Schückings Sammlung unbedingt mitzuführen. Dabei werden die dargebotenen Gedichte als der beste Beleg für die vitalisierende Wirkung einer Italienreise gewertet, wie es ebenfalls in diesem »Prospect« heißt: »von Goethe und Herder bis auf die Jüngsten herab haben

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Walcher: Deutsche Dichter (Anm. 5), 227. Ebd., 232. Zit. nach Anonym: Rezension der Italia (Anm. 5), 2809.

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die meisten eine Wallfahrt über die Alpen gemacht, um auf dem classischen Boden, in den sonnigen Lüften Hesperiens Inspirationen zu suchen«.27 Mit dieser Charakterisierung wird die Aufmerksamkeit dezidiert auf jene Dichterinnen und Dichter gelenkt, deren lyrische Werke in der Anthologie versammelt sind. Wie der Rezensent der Allgemeinen Zeitung hervorhebt, finden sich darin Gedichte von insgesamt 72 Verfasserinnen und Verfassern, zu denen vier Autorinnen zählen: Friederike Brun, Ida Hahn-Hahn, Betty Paoli und Louise von Gall.28 Die ›Rangliste‹ der Dichterinnen und Dichter dagegen, die in Schückings Anthologie am häufigsten vertreten sind, wird nach der statistischen Auswertung Bernhard Walchers von männlichen Autoren angeführt: August von Platen: 56 Gedichte, Ludwig Tieck: 31 Gedichte, Ignaz von Wessenberg: 26 Gedichte usw.29 Wie diese Zahlen belegen und auch Schücking im Vorwort der Italia schreibt, lag die »Schwierigkeit der Ausführung […] nicht in der Sammlung des Stoffes, sondern in dem Uebermaß des Reichthums« (It I) an deutschsprachiger Italiendichtung. Dass es dem Herausgeber dennoch gelungen sei, eine repräsentative Auswahl zu treffen, bestätigt der zitierte Rezensent: »Wir selbst wüßten aus unserer Lectüre kaum ein oder zwei Gedichte zu nennen, welche wir der Sammlung noch beigefügt wünschten«.30 3. Zur Reiselyrik der Italia Angesichts des kulturhistorisch und -geographisch breiten Panoramas, das Schückings Anthologie entfaltet, stellt sich die Frage, inwiefern das Reisen selbst in diesen Gedichten lyrisch thematisiert und inszeniert wird. Dabei ist festzuhalten, dass keineswegs alle der dargebotenen Gedichte der Reiselyrik im engeren Sinne angehören, sondern teilweise der Geschichtslyrik, der Architekturlyrik oder auch der Künstlerlyrik zugeordnet werden können. Bei seiner Auswahl hat Schücking – aus den skizzierten zeithistorischen Gründen – außerdem versucht, vorwiegend solche Reisegedichte aufzunehmen, die nicht oder nur sehr vermittelt auf die politischen Verhältnisse in Italien anspielen. Ferner ist zu konstatieren, dass er wiederholt auf Gedichtzyklen zurückgegriffen hat, um daraus einzelne oder mehrere Texte zu entnehmen und in die geographisch strukturierten Abschnitte seiner Anthologie einzugliedern. Wie zu zeigen ist, ergeben sich aus dieser Rekomposition der Einzelgedichte neue intertextuelle Bezüge. Unter den Aspekten ›Reise und Bewegung‹ sowie ›Reise und Erinnerung‹ sollen im Folgenden neben einigen ausgewählten Gedichten insbesondere Ludwig Tiecks Doppelzyklus Reisegedichte 27 28 29 30

Ebd. Ebd. Vgl. Walcher: Deutsche Dichter (Anm. 5), 230. Anonym: Rezension der Italia (Anm. 5), 2809.

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eines Kranken und Rückkehr des Genesenden sowie August von Platens Sonette aus Venedig behandelt werden.31 3.1. Reise und Bewegung Eine konstitutive Voraussetzung, um von einer Reise sprechen zu können, ist der Vollzug einer Bewegung zwischen zwei Orten. Während dieser dynamischen Annäherung an eine noch unvertraute Zielstation beginnen sich nicht nur die Fremdheitserfahrungen, sondern auch die Wahrnehmungen des Reisenden zu intensivieren. Parallel zu seiner physischen Bewegung verstärkt sich seine psychische Bewegung, die vorwiegend dann kenntlich wird, wenn sich ihm ein außergewöhnlicher Anblick eröffnet. In diesem Moment des Innehaltens wird die Aufmerksamkeit auf die Alterität des durchquerten Raums gerichtet und dessen spezifische Beschaffenheit in zahlreichen Einzelheiten registriert. Mit einem solchen Modus der Wahrnehmung beginnt beispielsweise Emanuel Geibels Gedicht Italien (It 9 f.), das Schücking in den ersten Abschnitt seiner Anthologie eingeordnet hat, der den Titel »Die Ausfahrt« trägt. Bereits in der Eingangsstrophe wird mitgeteilt, dass den Wanderer eine »eigen[e]« (V. 1) Empfindung überkomme, wenn es ihm gelungen sei, nach der Überquerung des »Gotthard« langsam in Richtung Italien hinabzusteigen. Der vertikale Blick vom Gebirge auf das ausgebreitete Land wird in der zweiten Strophe vergegenwärtigt: Leise theilen sich die Nebel, und es wird so lau die Luft, Aus der Tiefe wie ein Grüßen weht empor verlorner Duft; Noch ein Vorsprung! – sieh, und unten weit und blühend lacht das Thal, Dichte Gärten, Silberseen, überglänzt vom Morgenstrahl. (V. 5–8)

Während der aufziehende Nebel den Blick auf ein landschaftliches Panorama freigibt, bewegt sich der Wanderer weiter bis zu einem »Vorsprung«. Über den Imperativ »sieh«, der sich zugleich an die in Gedanken ›mitreisenden‹ Leserinnen und Leser richtet, wird die Aufmerksamkeit auf die spezifische Beschaffenheit des blühenden »Thal[s]« gelenkt, in dem »Dichte Gärten« und »Silberseen« sichtbar werden. Die bei Geibel entfaltete geographische Reisebewegung, bei welcher der italienische Landschafts- und Kulturraum durch den Blick des Wanderers visuell erschlossen wird, erschöpft sich allerdings darin, sich der italienischen Grenze nur anzunähern. Im Unterschied zu solchen in ihrer Raumerfahrung begrenzten Einzelgedichten können in lyrischen Zyklen weitaus komplexere Reiserouten exponiert werden, indem jedes Gedicht für die Darstellung einer einzelnen Reisestation oder 31

Zu Tiecks Doppelzyklus vgl. auch den Beitrag von Dominik Zink in diesem Band.

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Sehenswürdigkeit reserviert wird. Dieses Verfahren findet beispielsweise in Ludwig Tiecks Doppelzyklus Reisegedichte eines Kranken und Rückkehr des Genesenden Anwendung, der aus insgesamt 72 Einzelgedichten besteht. Schücking wiederum übernimmt aus diesem Corpus 31 Gedichte, deren tatsächliche Abfolge er aufhebt und die er gemäß ihrer geographischen Referenz den Abschnitten seiner Anthologie zuordnet. Aufgrund dieses Verfahrens merkt der Rezensent des Deutschen Museums an, dass man Tiecks Gedichten »überall« begegne, »wo irgend eine bedeutende Stelle zum Rasten einladet«.32 Dem Leser der Italia hingegen bleibt verborgen, dass diese Einzelgedichte ursprünglich integrale Bestandteile von Tiecks Reisegedichten gewesen sind. Die gegenläufige Nord-Süd-Nord-Bewegung, die das strukturelle Charakteristikum von Tiecks Doppelzyklus darstellt, hat Schücking in einen einlinigen Nord-Süd-Verlauf umgeformt. Nachdem Tieck Ende des Jahres 1804 einen schweren Gichtanfall erlitten hatte, reiste er im Sommer 1805 von München nach Rom, wo er sich ein Jahr aufhielt. Die Gesellschaft, mit der er unterwegs war, folgte den üblichen Stationen »über den Brenner, Verona, Mantua, Bologna und Florenz; die Rückreise führte über Mailand und die Schweiz«.33 Mit dieser Route ist ein Reiseverlauf vorgezeichnet, dem die geographische Bewegung in Tiecks Doppelzyklus entspricht. Allerdings entschließt sich der Dichter erst 17 Jahre später, die Reisegedichte im dritten Band seiner Gedichte zu veröffentlichen und sie schließlich 1841 in erweiterter Fassung in der ›Neuen Ausgabe‹ seiner Gedichte zu publizieren. Das besondere Kennzeichen dieser in freien Rhythmen gestalteten Gedichte besteht in »ihrer prosanahen Sprache und ihrer fast impressionistisch anmutenden Art des Festhaltens von Beobachtungen und Stimmungen«.34 Während der Rezensent der Allgemeinen Zeitung betont, dass Tiecks Reisegedichte als »Vorbilder der Nordseegedichte« Heines anzusehen seien – was Heine übrigens bestätigt hat –, heißt es in den Blättern für literarische Unterhaltung, dass Tieck nicht hinreichend lebendige und warme Farben verwendet habe.35 Das erste Gedicht, das Schücking aus Tiecks Doppelzyklus übernimmt und das er in den Abschnitt über »Die Lombardei« einfügt, trägt den unspezifischen Titel Klingendes Thal (It 54 f.). Es stammt aus der erweiterten Fassung von Tiecks Reisegedichten, wo es wiederum fast die Schlussposition einnimmt. Bereits in der

32 33 34 35

Kr.: Rezension der Italia. In: Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben 1 (1851), 460–462, hier 461. Ludwig Tieck: Schriften in zwölf Bänden. Bd. 7: Gedichte. Hg. von Ruprecht Wimmer. Frankfurt a.M. 1995, 645 (Kommentar). Ebd., 646 f. (Kommentar) Anonym: Rezension der Italia (Anm. 5), 2809. Vgl. Anonym: Sammelrezension von Helvetia und Italia. In: Blätter für literarische Unterhaltung 1 (1852), 397–399, 398. Vgl. Tieck: Gedichte (Anm. 33), 647 (Kommentar).

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ersten Strophe konkretisiert der Wanderer seine Reisebewegung, indem er sie mit einem geographischen Fixpunkt in Beziehung setzt: Hinter mir das alte Bellinzona Mit seinen Thürmen und Zinnen: Wie heiter oben und blau Krystallenrein der Himmel, Wie erfrischend die Bergluft, Wie schön die Felsen umher. (V. 1–6)

Die Aussage »Hinter mir« verweist darauf, dass sich der Wanderer stetig von der Schweizer Stadt Bellinzona entfernt. Er betritt ein Tal, in dem zahlreiche Wasserfälle zu sehen sind, deren Rauschen er mit »Orgeltönen« und »Gesangesstimmen« (V. 11 f.) vergleicht. Im Verlauf des Tages gelingt es ihm, das Tal zu durchqueren und abends im »traulichen Jarnico« (V. 27) anzukommen. Dieser zweite geographische Hinweis verdeutlicht zum einen, dass Tiecks Wanderer auf dem Weg von Bellinzona nach Giornico eine Strecke von knapp 30 km zurückgelegt hat.36 Zum anderen wird aber auch kenntlich, dass er eine Süd-Nord-Bewegung vollzogen hat, die zwar der Reiserichtung am Ende von Tiecks Doppelzyklus entspricht, die jedoch der Nord-Süd-Bewegung innerhalb von Schückings Anthologie diametral entgegengesetzt ist. Eine solche Inkongruenz ist bei dem Folgegedicht Tiecks nicht festzustellen, da es allein auf den Lago Maggiore (It 55 f.) bezogen ist. Im Unterschied zur bisherigen Fußwanderung wird die Reise nun per Schiff fortgesetzt: Im heitern Sonnenglanz beschiff’ ich Deine vielbesung’nen Ufer. Dorf und Stadt und Prachtgebäu’, Ferne Berge, nahe Hügel, Gleiten sanft dem lächelnden Blick vorüber. Dort oben dein riesengroßes Bild Gibt uns, o heil’ger Karl, den Segen. (V. 1–7)

Aufgrund der Fahrtgeschwindigkeit des Schiffs wird die Wahrnehmung des Besuchers dynamisiert, der nun das Dorf, die Stadt, die Prachtgebäude, die Berge und die Hügel an sich vorbeiziehen sieht. Schließlich erblickt er ein »riesengroßes Bild« des heiligen Karl, womit die 23,50 m hohe Kolossalstatue des heiligen Karl Borromäus gemeint ist, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Arona errichtet wurde. Mit dieser topographischen Kennzeichnung wird sowohl die Raumbewegung präzisiert als auch eine über die Werkgrenzen hinausgehende Textbewegung

36

Vgl. Tieck: Gedichte (Anm. 33), 685 (Kommentar).

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generiert. Schon die Nennung der »vielbesung’nen Ufer« im zweiten Vers unterstreicht, dass der Reisende eine Landschaft betreten hat, die mehrfach dichterisch gestaltet worden ist. Im Hinblick auf die Statue von Karl Borromäus ist etwa an das Ende von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) zu denken, wo Mignons Herkunft aus Arona offengelegt wird und es heißt: »hat man nicht durch jenes große Bildnis auf dem Felsen bei Arona uns seine geistige Größe sinnlich vergegenwärtigen wollen?«37 Tieck seinerseits legt den Akzent auf die ›sinnliche Größe‹ dieser Heiligenfigur, die der Reisende auf seinem Weg zur Isola Bella passiert. Diese Insel gehört wiederum zu den Borromäischen Inseln und besitzt – als eine der herausragenden touristischen Attraktionen – eine mehrstöckige Gartenterrasse. Doch Tiecks Reisender distanziert sich von der künstlichen Anlage des Parks, indem er von seiner »falsche[n] Pracht« und seinen »kalten Grotten« (V. 18) spricht. Als er die oberste Terrasse erstiegen hat, äußert er folgende Schlussverse: »Endlich die Höhe erreicht, / Und Alpen, weiter Himmel und See / Beschämen im klarsten Morgenlicht / Die falsche Künstelei des Gartens.« (V. 26– 29) Mit dieser Opposition von »falscher Künstelei« und natürlicher Alpenlandschaft scheint Tieck ein Gegenbild zu einer bestimmten literarischen Vorlage zu entwerfen. Denn in Jean Pauls Roman Titan (1803–05) schildert der Erzähler, wie der Protagonist Albano de Cesara zur »Kunst-Alpe« der Isola Bella zurückkehrt, die in dieser Beschreibung geradezu harmonisch mit ihrem Umland in Einklang steht: »Die Insel selber lösete schon mit ihren Frühlingen aus Düften und mit dem fernen Kranz aus Alpen die Seele auf.«38 Trotz der Neupublikation des Titan im Rahmen von Jean Pauls Ausgewählten Werken im Jahr 1848 lässt sich kaum abschätzen, inwieweit den Lesern des Jahres 1851 diese intertextuelle Referenz bewusst gewesen ist. Demgegenüber bot ihnen Schückings Anthologie die Möglichkeit, die unterschiedliche Wertung dieser Insel bei Tieck und dem böhmischen Dichter Uffo Horn zu registrieren. Denn in dem kurz darauf folgendem Reisegedicht (It 58 f.), das Horn später seiner Erzählung Die schöne Insel voranstellen wird,39 preist er die Isola Bella ausdrücklich als »Schönste der Inseln!« (V. 1, 11, 21) 37

38 39

Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abteilung I: Sämtliche Werke. Bd. 9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp. Frankfurt a.M. 1992, 974. Jean Paul: Sämtliche Werke. Hg. von Norbert Miller. Abteilung I, Bd. 3: Titan, Komischer Anhang zum Titan, Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana. 6., korrigierte Auflage. Darmstadt 2000, 666 f. Soweit ersichtlich, hatte Horn das Gedicht Isola Bella zuerst in seiner Sammlung Gedichte (1847) publiziert. Vgl. Uffo Horn: Die schöne Insel. Eine Erzählung in acht Kapiteln. In: Prager Morgenpost (15. bis 30. Januar 1858), Nr. 15–30, ohne Paginierung. Diese Erzählung nimmt Horn in seine Sammlung Bunte Kiesel (1859) auf, die wiederum in den Blättern für literarische Unterhaltung rezensiert wird. Darin heißt es über Die schöne Insel: »Uebrigens ist es interessant, in dieser Erzählung den Boden wieder zu betreten, den Jean Paul in seinem Titan verherrlicht

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Im Abschnitt über »Die Lombardei« finden sich noch fünf weitere Gedichte Tiecks, die ihrerseits aus dem ersten Teil des Doppelzyklus stammen, die aber in einer abweichenden Reihenfolge angeordnet sind: Mailand, Palast Te in Mantua, Verona, Die Arena und Juliens Grab. Dabei lässt sich beobachten, dass neben der Raumbewegung, die sich aus der Abfolge der einzelnen Reisestationen ergibt, erneut verschiedene intertextuelle Bewegungen kenntlich werden. Das demonstrieren insbesondere die Eingangsverse des Gedichts Verona (It 86 f.), in denen der Reisende folgende Worte an das Castelvecchio und sein Umland richtet: »Seid mir gegrüßt, du alte Veste, / Du schönes Land, ihr lieben Hügel« (V. 1 f.). Dieser Gestus des vertrauten Begegnens erinnert unmittelbar an den Beginn von Friedrich Schillers zumindest im Ansatz reiselyrischer Elegie Der Spaziergang: »Sey mir gegrüßt mein Berg mit dem röthlich strahlenden Gipfel«.40 Weitaus aufschlussreicher ist es jedoch, dass mit Verona eine der klassischen Stationen benannt ist, die von den deutschen Italienreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts aufgesucht werden. Neben Goethe ist hier exemplarisch wiederum an Heine zu denken, der sich dieser norditalienischen Stadt in seiner Reise von München nach Genua ausführlicher gewidmet hatte. Durch den Wiederabdruck von Tiecks Reisegedichten in Schückings Anthologie wird allerdings die intertextuelle Perspektive umgekehrt: Während Heine in seinem Reisebericht auf die Reisegedichte Tiecks angespielt hatte,41 scheinen Tiecks Reisegedichte nun auf Heines Reiseschilderungen zurückzuverweisen. Deutlich wird das vor allem in Tiecks Reisegedicht über das römische Amphitheater von Verona (It 87 f.): Wie die Harmonie des Werkes Mich erhebt und froh befriedigt, Muß ich still, doch in Verwund’rung Jene alte Zeit bedenken, Da es Sitte und Bedürfniß war, Wilde Thiere, Gladiatoren, Sich im wilden Kampf zerfleischen Und ihr Blut vermischt zu sehen, In so edlem Gefäße fließen. (V. 7–15)

40 41

hat – Isola Bella im Lago-Maggiore.« ([Anonym:] Rezension von Uffo Horn: Bunte Kiesel. Erzählungen. Prag 1859. In: Blätter für literarische Unterhaltung [14. Juni 1860], Nr. 24, 442). Friedrich Schiller: Der Spaziergang. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 2/1: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1799–1805. Hg. von Norbert Oellers. Weimar 1983, 308– 314, hier 308. Heine schreibt über die Piazza delle Erbe, dass »über dem ganzen Platz […] derselbe romantische Zauber« liege wie derjenige, »der uns so lieblich anweht aus den phantastischen Dichtungen des Ludovico Ariosto oder des Ludovico Tieck« (Heinrich Heine: Reisebilder. Hg. von Bernd Kortländer. Stuttgart 2010, 260).

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Die Imagination der römischen Antike veranlasst den Reisenden, in der dritten Strophe einen Vergleich zwischen der vergangenen und der gegenwärtigen Zeit anzustellen. In ähnlicher Weise erinnert auch Heines Erzählerfigur daran, dass »der Römer einst [in dieser Arena] saß und seinen Gladiatoren und Thierhetzen zusah«, um danach ebenfalls einen Vergleich zwischen den blutigen Wettkämpfen der Vergangenheit und den unblutigen Theaterdarbietungen der Gegenwart zu ziehen.42 Über diese Reflexionen, die bei Tieck und Heine in den Vordergrund treten, wird neben der Reisebewegung eine Erinnerungsbewegung initiiert. 3.2. Reise und Erinnerung Wie eingangs zitiert, wird im Vorwort des 1866 publizierten Baedeker-Bands über Mittel-Italien und Rom der Anspruch erhoben, die Reisenden »durch die Strassen der grossen italienischen Städte zu den wichtigsten Bauwerken […] [zu] begleiten«.43 Diese Rede von den »wichtigsten Bauwerken« verdeutlicht, dass die Besichtigung bestimmter Monumente in den urbanen Gebieten zu den obligatorischen Aufgaben eines Reisenden gehört. Damit ist zugleich die Bildungsaufforderung verbunden, diese Denkmäler nicht nur aufzusuchen, sondern auch Kenntnisse über ihre geschichtliche Entstehung und ihre kulturelle Bedeutung zu erlangen. In den Reisegedichten, die sich auf solche urbanen Gebiete oder sogar auf konkrete Monumente beziehen, wird diese Akzentuierung der Vergangenheit gleichsam in Form einer »Erinnerungsanleitung« vollzogen.44 Das werde vor allem anhand jener Gedichte sichtbar, die Schücking im Abschnitt über Rom versammelt hat: »Das Rom-Kapitel der Italia lebt von der Spannung zwischen dem sozialen Existenzraum Rom, in dem der Reisende tatsächlich noch einige der in den Gedichten thematisierten Monumente der Vergangenheit antrifft, und dem Erinnerungsraum, der mit den Gedichten (und Monumenten) eröffnet wird.«45 Tatsächlich exponieren die dargebotenen Reiseund Architekturgedichte eine Vielzahl kanonischer Sehenswürdigkeiten wie etwa das Forum Romanum, das Pantheon oder die Villa Borghese. Die Folge dieser lyrisch gestalteten ›Erinnerungsorte‹ entspricht wiederum den traditionellen »Stationen des Rom-Rundgangs«, wie ihn etwa Ernst Förster in seinem Handbuch für Reisende in Italien (1840) empfohlen hatte.46 Ein wenig anders verhält es sich mit der norditalienischen Stadt Venedig, auch wenn die Länge der einzelnen Artikel in Foersters Handbuch nahelegt, dass 42 43 44 45 46

Ebd., 262. Baedeker: Italien (Anm. 3), III. Walcher: Deutsche Dichter (Anm. 5), 235 f. Ebd., 235. Ebd., S. 239. Vgl. Ernst Förster: Handbuch für Reisende in Italien. München 1840, 550–708.

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die oder der Reisende dort zumindest den Markusplatz mit der Markuskirche, die Rialtobrücke und den Dogenpalast besuchen müsse. Zwar wird in den insgesamt 28 Venedig-Gedichten, die in Schückings Anthologie abgedruckt sind, durchaus auf diese Monumente Bezug genommen, jedoch bleibt der erinnerungspoetische Fokus wiederholt auf das historische Schicksal der Republik Venedig gerichtet. So nimmt beispielsweise der Berliner Dichter Heinrich Stieglitz in den ersten zwei Strophen seines Gedichts Venedig (It 134–138) auf die vergangene politische Größe der einstigen Seemacht Bezug: Wir standen auf dem hohen Thurme, Wir blickten sinnend um uns her, Beruhigt lag nach heft’gem Sturme Das gondelreiche Inselmeer; Tief unter uns, mit Schwert und Lanze, Auftauchend aus dem Wellenbad In ihrem festen Marmorkranze, Umglüht vom Abendsonnenglanze, Sanct Markus wunderbare Stadt.

Als throne herrschend sie noch immer, Zum Sieg dem Fluthgott angetraut, Wob um die Brust sich gold’ger Schimmer Der reichgeschmückten Meeresbraut; Es glühten leuchtend ihre Zinnen Wie damals, als in stolzer Pracht Und Größe ostwärts sie von hinnen, Sich Königreiche zu gewinnen, Entsendet ihrer Flotten Macht. (V. 1–18)

Von einem erhöhten Standpunkt aus, womit wahrscheinlich der Markusturm gemeint ist, versucht die lyrische Sprechinstanz zunächst, das Wahrgenommene topographisch zu erfassen. Doch in der zweiten Strophe ändert sich die räumliche Perspektive in eine historische, so dass die Vorstellung von der mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Großmacht Venedig zunehmend in den Vordergrund tritt. Dieser Rückblick auf die Periode einstiger Herrschaftsstärke dient bei Stieglitz sowie in anderen Venedig-Gedichten vornehmlich dazu, ein Kontrastbild zum gegenwärtigen Venedig zu zeichnen, das deutlich an politischem Einfluss verloren hat. Bereits August von Platens reiselyrische Sammlung Sonette aus Venedig (1825), die der Dichter im September 1824 verfasst hatte,47 ist von dieser Gegenüberstellung strukturiert. Platens Zyklus, der im Erstdruck aus 16 Sonetten besteht, wird nach einer Umarbeitung auf 14 Sonette reduziert.48 Schücking wiederum zieht davon für seine Anthologie ein weiteres Sonett ab.49 Der zyklische Charakter der nunmehr 13 Gedichte bleibt aber insoweit sichtbar, als sie nummeriert hintereinander dargeboten werden.

47 48 49

Vgl. August von Platen: Sonette aus Venedig. Erlangen 1825. Vgl. August von Platen: Gedichte. Stuttgart/Tübingen 1828, 187–200. Aus Platens umgearbeitetem Zyklus hat Schücking das dreizehnte Sonett Weil da, wo Schönheit waltet… nicht übernommen. Möglicherweise erschien ihm die Haltung von Platens Sprecher, der sich als »Fremdling« (Platen: Gedichte [Anm. 48], 199) zu erkennen gibt, zu distanziert.

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Nach der Ankunft in Venedig beschreibt Platens Besucher verschiedene Monumente, die er nacheinander besichtigt: den Dogenpalast, die Seufzerbrücke, den Markusplatz und den Markusturm. Während er die Stadt topographisch erschließt, versucht er, sich auch den Einwohnern anzunähern, die er »als frohes Völkchen lieber Müssiggänger« (III, V. 9) charakterisiert. Doch im fünften Sonett (It 144) schwindet diese Anteilnahme zugunsten einer distanzierten Haltung, die aus der einsetzenden historischen Reflexion resultiert: Venedig liegt nur noch im Land der Träume Und wirft nur Schatten her aus alten Tagen, Es liegt der Leu der Republik erschlagen, Und öde feiern seines Kerkers Räume. Die ehrnen Hengste, die durch salz’ge Schäume Dahergeschleppt, auf jener Kirche ragen, Sie sind nicht mehr dieselben ach! sie tragen Des korsikan’schen Überwinders Zäume. Wo ist das Volk von Königen geblieben, Das diese Marmorhäuser durfte bauen, Die nun verfallen und gemach zerstieben? Nur selten finden auf des Enkels Brauen Der Ahnen große Züge sich geschrieben, An Dogengräbern in den Stein gehauen.

Mit der einleitenden Feststellung artikuliert der Reisende eine Verlusterfahrung, die sich auf die einstige Bedeutung der Seerepublik bezieht: »Venedig liegt nur noch im Land der Träume« (V. 1), womit der vorletzte Vers aus Schillers Gedicht Am Antritt des neuen Jahrhunderts zitiert wird.50 Die metaphorische Rede vom erschlagenen »Leu der Republik« (V. 3) bezieht sich bildlich auf die Markuslöwen und symbolisch auf die Auflösung der Adelsrepublik im Jahr 1797. Im zweiten Quartett wird mit den »ehrnen Hengsten« (V. 5) auf jene Pferde von San Marco verwiesen, die Napoleon hatte plündern lassen, die aber 1815 wieder nach Venedig zurückgebracht worden waren. Trotz dieser Rückführung hält der Reisende daran fest, dass die Pferde die »Zäume« des »korsikan’schen Ueberwinders« (V. 8) nicht losgeworden seien. Angesichts des Verlusts an politischer Bedeutung wird sofort die herausfordernde Frage gestellt, wo »das Volk von Königen geblieben« (V. 9) sei. Damit unterstreicht der Reisende das akute Ge-

50

Vgl. Schiller: Werke (Anm. 40), Bd. 2/1, 129.

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fälle, das zwischen der glorreichen Vergangenheit Venedigs und seiner ruhmlosen Gegenwart besteht. Immerhin gesteht er den modernen Venetianern zu, dass »[d]er Ahnen große Züge« zumindest »selten« noch »auf des Enkels Brauen« (V. 12 f.) sichtbar werden. In den folgenden Sonetten zeigt sich zwar der Kunstenthusiasmus des Reisenden, da seine Auseinandersetzung mit Gemälden Bellinis, Tizians und Canalettos zunehmend in den Vordergrund rückt. Dennoch vermag er seine melancholische Grundhaltung nicht zu überwinden, die sich zu keinem geringen Teil aus dem Bewusstsein vom Verlust der einstigen Größe Venedigs speist. 4. Fazit Levin Schücking hat mit seiner Anthologie Italia. Deutsche Dichter als Führer jenseits der Alpen eine frühe kulturgeographische Gedichtsammlung vorgelegt, in der die bedeutendsten italienischen Regionen und Metropolen literarisch bzw. reiselyrisch erschlossen werden. Ein Rezensent des Deutschen Museums hatte schon gegen Mitte des 19. Jahrhunderts festgestellt, dass die Wanderungen durch Italien »an der Hand des Historikers, des Politikers sogar trübselig geworden« seien.51 Schückings Anthologie veranschauliche dagegen, »welche Wirkung die gestillte [Italien-]Sehnsucht auf unsere Dichterherzen« geübt habe.52 Gleichzeitig ermöglicht es Schückings topographische Gliederung, das Land in einer vom Norden nach Süden sich erstreckenden Reisebewegung zu erkunden – bei der Lektüre zuhause wie direkt vor Ort. Indem bestehende Gedichtzyklen – wie im Falle Tiecks – räumlich aufgebrochen werden, führt die neue Zuordnung zur Akzentuierung einzelner Reisestationen. Insbesondere in Abschnitten über städtische Zentren wie Rom oder Venedig werden anhand von verschiedenen Sehenswürdigkeiten nicht nur urbane Topographien entfaltet, sondern auch die kulturhistorischen Tiefenschichten dieser Erinnerungsorte erschlossen. Somit geht die Reisebewegung in den Raum mit einer Reisebewegung in die Zeit einher. Da auch die Reisegedichte kulturgeschichtliches Bildungswissen transportieren, tritt Schückings Anthologie in Konkurrenz zu den touristischen Reiseführen, die seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts vermehrt zu entstehen beginnen. Doch während die Reiseführer vorwiegend darauf abzielen, den Reisenden mit praktischen Empfehlungen und Ratschlägen zu versorgen, ist es ein Vorzug der Reisegedichte, subjektive Wahrnehmungsperspektiven und intertextuelle Referenzräume eröffnen zu können. Wie der Rezensent in der Allgemeinen Literatur Zeitung resümiert, scheint eine adäquate kulturgeographische Annäherung an Ita51 52

Kr.: Rezension der Italia (Anm. 32), 461. Ebd.

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lien ohne Schückings Anthologie künftig nicht mehr denkbar zu sein. Daher verleiht er seiner Hoffnung Ausdruck, »daß künftig jeder gebildete Deutsche[,] der über den Brenner oder St. Gotthardt wandert, neben seinem ›Förster‹ [auch] den ›Schücking‹ als Reisegefährten mitnehmen wird«.53

53

Anonym: Rezension der Italia (Anm. 5), 2811. Mit Blick auf die Verbreitung von Schückings Anthologie lässt sich immerhin feststellen, dass 1857 eine zweite Auflage gedruckt wird. Vgl. Walcher: Deutsche Dichter (Anm. 5), 224, Anm. 11. Wie Michael Sawall nachgewiesen hat, nimmt der Literaturkritiker Gustavo Straffarello diese Neuauflage zum Anlass, um zwei Jahre später eine Artikelserie über die Italienlyrik deutschsprachiger Dichter in der Gazzatta Piemontese zu veröffentlichen und eigene Übersetzungen von ausgewählten Gedichten aus Schückings Italia zu präsentieren. Vgl. Sawall: Levin Schücking (Anm. 12), 346 f. Auf diese Weise sind die von Schücking versammelten Texte sogar noch im translatorischen Sinne zur Reiselyrik geworden.

»…wie Blühen und Verderben / Sich tief durchdringt und wunderbar vertauscht« Zum Verhältnis von Historizität und Gegenwartsbezogenheit in Marie Luise Kaschnitz’ reiselyrischem Textzyklus Südliche Landschaft1 ALEXANDER QUACK 1. Der 25 Texte umfassende Zyklus Südliche Landschaft ist Teil des Lyrikbandes Gedichte, den Marie Luise Kaschnitz im Jahre 1947 veröffentlichen ließ. Dieser Band stellt kein Konvolut nach dem Krieg entstandener Arbeiten dar,2 kann aber sicherlich als Grundstein dafür gelten, dass Kaschnitz heute als eine »der bedeutendsten deutschen Nachkriegslyrikerin[nen]«3 angesehen wird. Ihre schriftstellerische Laufbahn setzte zwar mit dem »autobiographisch gestimmte[n]«4 und im Jahre 1933 publizierten Roman Liebe beginnt ein, ihren Ruhm verdankt die aus »badisch-elsässischem Adelsgeschlecht«5 stammende und am 31. Januar 1901 in Karlsruhe als Marie Luise von Holzing-Berstett geborene Autorin jedoch »im wesentlichen der Lyrik«.6 Die frühen, vor und während des Krieges verfassten Gedichte

1 2

3 4 5 6

Marie Luise Kaschnitz: Südliche Landschaft. In: Dies.: Gedichte. Hamburg 1947, 27–67. Alle im Folgenden zitierten Primärtexte beziehen sich auf diese Ausgabe; Zitate werden mit der Sigle SL und der entsprechenden Seiten- sowie Verszahl im laufenden Text nachgewiesen. Vgl. Theodor Eduard Dohle: Marie Luise Kaschnitz im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit. Ein Beitrag zu den Publikations- und Wertungsbedingungen der nicht-nationalsozialistischen Autorin. München 1989, 163. Einige der ab 1928 entstandenen Texte des Bandes Gedichte, dessen Herausgabe bereits für das Jahr 1940 geplant gewesen sein soll, hatte Kaschnitz schon während des Krieges publiziert. Dass die eigentlich druckfertige Sammlung erst 1947 erschien, hing, so belegt es ein von der Schriftstellerin verfasstes Schreiben an die Reichsschrifttumskammer (22. Mai 1940), mit der kriegsbedingten Papierknappheit zusammen. Dagmar von Gersdorff: Vom Tod von der Liebe. Zeitgenossin Marie Luise Kaschnitz. In: Marie Luise Kaschnitz. Eine sensible Zeitgenossin. Hg. von Jan Badewien und Hansgeorg SchmidtBergmann. Karlsruhe 2002, 9–35, hier 26. Horst Bienek: Art. ›Kaschnitz‹. In: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. von Herbert Wiesner. München 1981, 269–271, hier 269. Uwe Schweikert: Art. ›Kaschnitz, Marie Luise‹. In: Metzler Lexikon Autoren. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 4. Auflage. Hg. von Bernd Lutz und Benedikt Jeßing. Stuttgart/Weimar 2010, 404–405, hier 404. Gersdorff: Vom Tod von der Liebe (Anm. 3), 30.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_6

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waren dabei »ganz von dem Erlebnis der Landschaft […], von Stimmungen [geprägt]«,7 was auch damit zusammenhängen mag, dass Kaschnitz ihre Inspiration aus zahlreichen Auslandsaufenthalten zu beziehen vermochte, die sie an der Seite ihres Ehemannes verbracht hatte. Ihn, den Archäologen Guido von Kaschnitz-Weinberg, begleitete sie nämlich viele Jahre auf dessen »Studienreisen durch Italien, Griechenland, Nordafrika und die Türkei«, wobei die »Begegnung mit der antiken Kultur, vor allem mit Rom, […] ihr Werk entscheidend geprägt [hat].«8 In die Ewige Stadt kam die junge Marie Luise von Holzing-Berstett erstmals 1924, wo die gelernte Buchhändlerin zunächst eine Anstellung in einem Antiquariat, dann als Sekretärin des Deutschen Archäologischen Instituts fand. Dort lernte sie ebenjenen Guido von Kaschnitz-Weinberg kennen, mit dem sie nach ihrer Heirat 1925 weitere Jahre in der italienischen Hauptstadt verbrachte.9 Nach der Geburt der gemeinsamen Tochter im Jahre 1928 folgte vier Jahre später der Umzug nach Königsberg, bevor Marburg (1937) und letztendlich Frankfurt am Main (1941) zum Wohnsitz der Familie Kaschnitz wurde.10 Bis zu ihrem Tod am 10. Oktober 1974 kehrte Marie Luise Kaschnitz aber immer wieder für längere Zeit nach Rom zurück, weshalb die italienische Metropole neben Frankfurt und dem heimatlichen Bollschweil bei Freiburg den »dritte[n] Fixpunkt«11 in ihrem Leben bildete. Als eine Art Hommage erweist sich vor diesem Hintergrund und in Anbetracht seines anthropomorphisierenden Charakters das im Jahre 1936 geschriebene Gedicht Rom,12 für das »ein ganz spezifischer, lebendiger und wechselseitiger Bezug von Ich und Ort charakteristisch [ist].«13 Dies zeigt sich darin, dass die Hauptstadt Italiens »als Dialogpartner des lyrischen Ich in Erscheinung tritt«,14 indem sie im »lobend-beschwörende[n]«15 Duktus unmittelbar angeredet wird:

7 8 9 10 11 12 13 14 15

Bienek: Kaschnitz (Anm. 4), 270. Ebd., 269. Vgl. Gunter E. Grimm/Ursula Breymayer/Walter Erhart: Ewige Streiterei mit dem ewigen Rom: Marie Luise Kaschnitz. In: Dies.: »Ein Gefühl von freierem Leben«. Deutsche Dichter in Italien. Stuttgart 1990, 273–283, hier 275. Schweikert: Kaschnitz (Anm. 5), 404. Grimm/Breymayer/Erhart: Ewige Streiterei (Anm. 9), 274. Vgl. ebd., 275: Kaschnitz widmete dieses Gedicht dem Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom, Ludwig Curtius, der wohl ein freundschaftliches Verhältnis zur Familie Kaschnitz pflegte und im Jahre 1937 von Hitler seines Amtes enthoben wurde. Nikola Roßbach: »Mein Immernochda«. Ich-Formen in der Lyrik von Marie Luise Kaschnitz. In: Gersdorff: Eine sensible Zeitgenossin (Anm. 3), 47–71, hier 60. Katharina Weil: »Meine Adern Porphyr«. Antikenrezeption im Werk von Marie Luise Kaschnitz. Heidelberg 2017, 186. Philippe Forget: Zur frühen Lyrik von Marie Luise Kaschnitz: 1928–1939. Vergehen und Weiterbestehen als Lebensgrund der Kreatur. Nancy 1974, 127.

Historizität und Gegenwartsbezogenheit in Kaschnitz’ Südliche Landschaft 101 Königlich, Rom, hast du mich immer empfangen. Ob ich von Norden zu dir aus der dunkleren Heimat Sehnsüchtig drängte oder aus reifenden Gärten Ferner hesperischer Täler gesättigt mich wandte: Herrlich umfing mich, vom Fluge der Wolken beschattet Golden und schwarz die Campagna und in der Ferne Hob sich dein ewiger Umriß vom feurigen Himmel. (SL 29, V. 1–7)

Mit ihrem als Städtelob zu klassifizierenden Rom-Gedicht greift Kaschnitz sowohl auf eine seit der Antike bestehende als auch auf eine in der deutschen Literaturgeschichte speziell durch Goethe geprägte literarische Tradition zurück,16 wird Rom in dessen Römischen Elegien doch erstmals als »Stätte der Schönheit, der Lust, des sorgenfreien, dem Augenblick und der Heiterkeit frönenden Lebens, also als kulturelles Gegenprogramm zum Norden gefeiert.«17 Für das aus dem »Norden« (SL 29, V. 2) kommende lyrische Ich besteht die Exklusivität der Ewigen Stadt jedenfalls nicht allein in den königlichen Empfängen, sie ergibt sich vielmehr aufgrund der Differenz zur als »dunkler[]« (SL 29, V. 2) apostrophierten Heimat. Aus kulturhistorischer Sicht hat die Gegenüberstellung von ›dunklem Norden‹ und ›hellem Süden‹ zwar eine lange Tradition, vor dem Hintergrund der zeitpolitischen Situation mag die Verwendung des pejorativ konnotierten Begriffs ›dunkel‹ in seiner komparativen Gebrauchsform jedoch jene Lesart begünstigen, die darauf abzielt, den Ansatz einer kritischen Bezugnahme auf die deutsche Wirklichkeit seit Hitlers Machtübernahme herauszustellen. Schließlich wirkte der Aufstieg der Nationalsozialisten spätestens seit 1933 »zerstörerisch bis in die Familien hinein«: Während vor allem Marie Luise Kaschnitz’ Vater davon überzeugt war, dass Hitler das weltpolitische Ansehen Deutschlands wiederherstellen könne, war Guido Kaschnitz »von vornherein ein Gegner des Regimes«.18 Dass sich die Bezüge zur deutschen Wirklichkeit in der frühen Lyrik von Kaschnitz als nicht eindeutig erweisen, hat Philippe Forget bereits dargelegt, gleichwohl führen die ebenfalls 1936 entstandenen Gedichte Im Sturm19 oder Kloster in Daphne (SL 60) vor Augen, inwiefern die darin enthaltenen Anspielungen eine »zeitbezogene Interpretation« erlauben.20 Ein von Katharina Weil angeführter Vermerk, der mit Verweis auf die von Kaschnitz verfassten Tagebücher erfolgt, verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass von den Nazis 16 17 18 19 20

Vgl. ebd., 126 f. Bernard Dieterle: Art. ›Lyrik und Interkulturalität‹. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hg. von Dieter Lamping. Stuttgart/Weimar 2011, 204–212, hier 205. Gersdorff: Vom Tod von der Liebe (Anm. 3), 22. Vgl. Kaschnitz: Gedichte (Anm. 1), 82 f. Vgl. Forget: Zur frühen Lyrik (Anm. 15), 98; 99–103.

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begangene Untaten wie die im November 1938 initiierten Judenpogrome keinesfalls spurlos an der Autorin vorbeigingen: Die Herausgeber der von Kaschnitz verfassten Tagebücher haben darauf hingewiesen, dass die Autorin […] unüblicher Weise fast eine ganze Seite unbeschrieben gelassen habe. Dies lässt sich nur dann beobachten, wenn die Autorin von tiefgreifenden Erlebnissen und Erfahrungen besonders stark berührt zu sein scheint. […] So lässt sie z.B. im Kontext der Geschehnisse um die Novemberpogrome 1938, in denen auch der mit Kaschnitz befreundete Altphilologe Maas von der SS verhaftet wurde, unter dem auf ›Tage der tiefsten Niedergeschlagenheit, Scham und Trauer‹ verweisenden Eintrag vom 7. bis 14.9. [sic! 7.–14. November, A. Q.] ebenfalls fast eine Seite völlig unbeschrieben.21

Es erscheint daher keineswegs abwegig, dass Kaschnitz’ poetische Hinwendung zur südlichen Landschaft wohl auch mit der gesellschaftspolitischen Entwicklung in der nördlichen Heimat zusammenhängt. Reiselyrisches Dichten kann schließlich auch als Ausdruck des Versuchs verstanden werden, »in vielen Orten oder Landschaften so etwas wie einen existenziellen Dichtungs- und Lebensraum zu finden oder vielleicht genauer: zu schaffen.«22 In der lyrischen Imagination zeigt sich dies im sehnsüchtigen Drängen (vgl. SL 29, V. 3) des lyrischen Ich, das oftmals »[s]tolz war«, dass sich Rom »zur Heimat erboten [hat]« (SL 29, V. 8). Kontrastiv zur nördlichen Dunkelheit entwirft die Sprechinstanz in der fünften Strophe insofern ein Gegenbild, als mit Blick auf die Ewige Stadt abermals eine feierlich-lobende, »psalmodierend-beschwörende«23 Stimmung erzeugt wird: Doch an den andern, den Tagen der heiligen Wandlung Strahltest du von dem lebendigen Licht wie das süße Sinnbild der heimischen Wälder. Klangest vom Jubel Liebender drängender Seelen und gleich einer Harfe Die aus unendlicher Ferne ein Engel berührte Strömtest du rauschenden Klang in die Stille der Nacht. (SL 30, V. 1–6)

21 22 23

Weil: Antikenrezeption (Anm. 14), 198; meine Korrektur verweist lediglich darauf, dass sich Weil hier auf die Novemberpogrome bezieht. Dieterle: Lyrik und Interkulturalität (Anm. 17), 211, hier mit Verweis auf Rainer Maria Rilkes Poetik. Forget: Zur frühen Lyrik (Anm. 15), 125.

Historizität und Gegenwartsbezogenheit in Kaschnitz’ Südliche Landschaft 103 Gleichwohl erschöpft sich die Darstellung mitnichten darin, die Stadt lediglich ästhetisierend anzupreisen; in der dritten Strophe nimmt das lyrische Ich gar eine kritische Betrachtung der römischen Geschichte vor. So hat Forget, der von Rom als einer »geschichtlich […] schwer beladen[en]«24 Stadt spricht, hinsichtlich der im Folgenden zitierten Verse bereits darauf hingewiesen, inwieweit die Christenverfolgung und die Verbrechen der Inquisition alludiert werden: Grausamkeit sah ich in deinen nicht alternden Zügen Und es verriet mir dein Lächeln die Lust der Gewalttat. Aus deinen schimmernden Kirchen und dunklen Palästen Klang es wie tropfendes Blut und ich floh deine Nähe Wehrte der Liebkosung mich deiner herrischen Hand. (SL 29, V. 19–23)

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, was gleichzeitig eine »Auseinandersetzung mit der Gegenwart [impliziert]«,25 spielt aber nicht nur bezüglich des Rom-Gedichts eine Rolle, sondern stellt ein unter Berücksichtigung des gesamten Œuvre wesentliches Strukturmerkmal dar. Für Marie Luise Kaschnitz lag die Beschäftigung mit Stoffen der Vergangenheit nämlich darin begründet, sich so »aus dem Grauen der Wirklichkeit in die ›Zeitlosigkeit‹ zurück [ziehen zu können]«.26 Der die Italien- und Griechenlandgedichte umfassende und mit Südliche Landschaft titulierte Zyklus steht dabei »noch unter dem Einfluß der archäologischen Forschungen von Guido von Kaschnitz-Weinberg und bemüh[t] sich […] um die Darstellung des Überzeitlichen, Mythischen«.27 Im Hinblick auf die formale Struktur dieser Gedichte ist bereits herausgearbeitet worden, dass bei »großer Variabilität in der Verwendung von Metren, Reim- und Strophenformen […] die Sprache durchaus gefaßt und von der Absicht gesteuert [bleibt], mit der formalen Vollkommenheit ein Gegenbild zur chaotischen Außenwelt zu schaffen.«28 24

25 26 27 28

Ebd., 128: »Die schlichte Gleichsetzung von Kirchen und Palästen […] ist gewagt, die jeweils hinzugefügten Adjektive ›schimmernd‹ und ›dunkel‹ heben jedoch die Angleichung etwas auf: bezieht sich doch das Dunkle ebenfalls auf das Tun und Treiben in den Palästen, wobei das Blut auf die grausame Abrechnungen und Machenschaften bei den Großen hinweist, von denen die Geschichte zu berichten weiß, während das Blut in den Kirchen das Opfer Christi und die Christenverfolgung darstellt […]: genau wie ›dunkel‹ hat ›schimmernd‹ für das Auge die Funktion des Filters, es läßt den Blick nicht zu: möglicherweise wird dadurch auf die Verbrechen der Inquisition hingedeutet, die im Namen Gottes begangen wurden […].« Roßbach: Ich-Formen (Anm. 13), 64. Gersdorff: Vom Tod von der Liebe (Anm. 3), 23. Adelheid Strack-Richter: Öffentliches und privates Engagement. Die Lyrik von Marie Luise Kaschnitz. Frankfurt a.M. 1979, 128. Ebd., 183.

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Als Text mit poetologischem Charakter weist das Rom-Gedicht auf für den gesamten Zyklus geltende thematische Grundzüge wie die Todesmotivik, das Nebeneinander von Gegensätzen und die Lichterfahrung voraus. Der Vergleich zwischen vierter und letzter Strophe, wobei einerseits das Todesmotiv dominiert, während andererseits das Lebendige akzentuiert wird, offenbart eine zentrale Polaritätsbeziehung: Die Stadt Rom erscheint dem lyrischen Ich als »Gestorbene« (SL 29, V. 24), die in »tödliche[r] Stille« (ebd., V. 28) aufgebahrt wird, wohingegen sich »die Wasser der trevischen Quelle [ewig erneuern]« (SL 30, V. 14) und »das ewige Zeugnis / Drängenden Geistes und bildender Hände« (ebd., V. 17 f.) stets präsent zu sein scheint. Ein Grundthema zeigt sich also im Zusammenspiel von Gegensätzen, was sich nicht nur im Nebeneinander von Leben und Tod ausdrückt, sondern ebenso in der landschaftlichen Gegenüberstellung von kahler Öde und lebendiger Natur sowie in der Dualität von Vergänglichkeit und Ewig-Währendem.29 Dahingegen erweist sich die Lichterfahrung als weiteres, allgemein feststellbares Thema: So führt Weil anhand der Gedichte Valle di Galera (SL 39 f.), Campanien (SL 53), Bourdzi (SL 55 f.), Kephalari (SL 58 f.) und Sounion (SL 67) vor, inwiefern die Vorstellung vom Süden als »unvergängliches Lichtland«30 beziehungsweise »ewige[s] Lichtreich«31 evoziert wird. Im Kontext der lyrischen Imagination der von Kaschnitz bereisten Orte sei zugleich auf die Tagebuchaufzeichnungen der Autorin verwiesen, denn diese legen zum einen offen, dass sich Kaschnitz im Vorfeld ihrer Reisen intensiver Lektüren widmete, um den Besuch gewisser Sehenswürdigkeiten vorzubereiten; zum anderen lässt sich aufzeigen, dass sie eigene, mit dem Ort verknüpfte Erfahrungen in die Ausgestaltung ihrer lyrischen Texte einfließen ließ.32 Dies soll im Folgenden ebenso anhand des Gedichts Chäronea (SL 61) verdeutlicht werden wie die bereits angedachte Überlegung, wonach der Auseinandersetzung mit Vergangenem auch die Bezugnahme auf Gegenwärtiges immanent ist. Den Fokus auf gerade diesen Text zu richten, erweist sich deshalb als relevant, weil sich aufzeigen lässt, inwieweit Kaschnitz im Rahmen ihrer lyrischen Produktion auch darauf abzielte, ihrer gegenüber dem NS-Regime empfundenen Abneigung Ausdruck zu verleihen. Kann für die Reiselyrik somit eine politische Dimension konstatiert werden, ergibt sich mit

29 30 31 32

Vgl. Forget: Zur frühen Lyrik (Anm. 15), 55; 88 f.; 184 f. Weil: Antikenrezeption (Anm. 14), 191. Ebd., 192. Vgl. ebd., 195; 200–208. Die Parallelführung von Tagebuchnotiz und lyrischem Text soll keinesfalls dem Eindruck Vorschub leisten, als erschöpfe sich die Deutung des Gedichts darin, einen Zusammenhang zur realen Wahrnehmung der Autorin herzustellen. Vielmehr zielt diese Vorgehensweise darauf ab, Aufschluss über die Entstehungsgeschichte bestimmter Verse zu erhalten, was insofern von Bedeutung ist, als sich der künstlerische Umformungsprozess alltäglich gemachter Beobachtungen nachvollziehen lässt.

Historizität und Gegenwartsbezogenheit in Kaschnitz’ Südliche Landschaft 105 Blick auf das vier Jahre später entstandene Gedicht Amalfi (SL 43 f.), das abschließend im Zentrum der Betrachtung stehen wird, vielmehr eine kulturanthropologische: Angesichts seiner ruinenpoetischen Tendenz führt dieser Text in besonderer Weise vor, inwiefern kulturspezifisches Wissen über Vergangenes als Unabdingbarkeit deklariert wird, wenn man der Bedeutsamkeit eines Ortes gewahr werden will. 2. Hinweise auf die Entstehungsgeschichte bestimmter Verse des mit Chäronea überschriebenen Gedichts lassen sich in Anbetracht eines Tagebucheintrags vom 6. November 193633 finden: So berichtet Kaschnitz anfangs davon, dass jener im südöstlichen Mittelgriechenland gelegene Ort mit dem Auto erreicht wurde, nachdem man im rund sieben Kilometer entfernten »Livadia […] schnell und unerquicklich in einem sehr schmutzigen Xenodochion [gegessen hatte]«.34 Ihre darauffolgend konstatierte Empfindung, wonach »Cheroneia […] einen schrecklich traurigen Eindruck [auf sie machte]«,35 scheint sich in den ersten Versen des Gedichtes regelrecht widerzuspiegeln, zumal die Eröffnung in einer klagenden Exclamatio besteht: O öder Weg inmitten Baumwollfeldern, Und Rückblick dann und wann ins Sumpfgebiet, Da wir die Fieberwildnis kaum verlassen, Den Hain von Lebensbäumen schon umfassen Und vor dem schwarzen Grün das hohe Mal… (SL 61, V. 1–5)

Korrespondierend dazu vermerkte Kaschnitz in ihrem Tagebuch: »Die ganze Landschaft, die kahlen Hügel, die Sumpfebene mit ihren abgeernteten Baumwollfeldern und steinigen Äckern, war unbeschreiblich öde.«36 Die Traurigkeit, die Kaschnitz mit diesem Ort verbindet, mag wohl auch damit zusammenhängen, dass sich ihr unmittelbar nach der Ankunft ein bedauernswerter Anblick bot, den sie folgendermaßen Revue passieren lässt: »Es fing damit an, daß wir auf dem Platz ein Auto sahen, in dem ein offensichtlich schwer kranker Mann in Kissen gelehnt saß, während hinten auf dem Auto ein neuer gelber Sarg aufgebunden war.«37 33

34 35 36 37

Vgl. Marie Luise Kaschnitz: Tagebücher aus den Jahren 1936–1966. Hg. von Christian Büttrich, Marianne Büttrich und Iris Schnebel-Kaschnitz. 2 Bde. Frankfurt a.M./Leipzig 2000; im Folgenden wird aus dieser Ausgabe nach dem Schema Sigle (TB) Band, Seitenzahl zitiert, im Falle des zugrundeliegenden Tagebucheintrages vom 6. November 1936 also: TB I, 70–72. TB I, 71; unter dem Begriff ›Xenodochion‹ versteht man eine von der Kirche eingerichtete Fremdenherberge. Ebd. Ebd. Ebd.

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Demgegenüber beschreibt die Autorin an einer anderen Stelle, wie sie beim Überqueren des Sumpfgebietes ein »entzückendes Fohlen […] wild ausschlagend neben einem Karren her[springen sah]«,38 was sich im Gedicht zu einer Szenerie verquickt, in der die Polaritätsbeziehung zwischen Tod und Lebendigkeit eindringlich ausgestellt wird: Ein Fohlen bäumt sich, springt im Dämmerlichte Der Stute nach, die einen Wagen zieht. Drin liegt ein Kranker mit erloschnem Blicke, Der, hinten angeseilt mit derbem Stricke, Den eignen Sarg in seine Heimat führt. (SL 61, V. 16–20)

Das in dieser Strophe durch die Begriffe »Kranker«, »erloschnem« und »Sarg« anklingende Todesmotiv, das unter Rückgriff auf eine authentische Begebenheit ausgestaltet wurde, lässt sich wiederum an den letzten Vers der ersten Strophe zurückbinden, womit Kaschnitz eine Verknüpfung zwischen ihrer Realität und der mit diesem Ort verbundenen Geschichte herstellt: Mit dem dort erwähnten »hohe[n] Mal« (SL 61, V. 5), worauf die Tagebuchnotiz »Dann gingen wir zum Löwen«39 verweist, ist ein im vierten vorchristlichen Jahrhundert errichtetes Monument (Abb. 1) gemeint, das zu Ehren der in der Schlacht von Chaironeia gefallenen Soldaten erbaut wurde.

Abbildung 1: Löwe von Chaironea40 (Mit freundlicher Genehmigung des Bildarchivs Marburg) 38 39 40

Ebd., 72. TB I, 71. Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg. Foto von Walter Schröder (Aufnahme-Datum: 1950/1970) [https://www.bildindex.de/document/obj20352078; letzter Zugriff: 17.07. 2019].

Historizität und Gegenwartsbezogenheit in Kaschnitz’ Südliche Landschaft 107 In jener Schlacht, die sich im August des Jahres 338 v. Chr. ereignete, traf ein aus Athenern und Thebanern bestehendes Bündnis der Griechen auf das aufstrebende und hegemoniale Ansprüche erhebende Makedonien. Angeführt von König Philipp II., dem Vater Alexanders des Großen, erlangte Makedonien insbesondere durch den Einsatz seiner Kavallerie, die vom damals 18-jährigen Alexander kommandiert wurde und die der thebanischen Elitetruppe, der sogenannten Heiligen Schar, entscheidende Verluste zufügte, einen bedeutenden Sieg. Denn damit »gehörte [Philipp] die völlige und eindeutige Herrschaft über Griechenland«, während Alexander erstmals zu »größte[m] Ruhm« gelangte.41 In ihren Aufzeichnungen notierte Kaschnitz dementsprechend: »Ich hatte gerade von der Schlacht von Ch. gelesen, die das Ende der griechischen Freiheit bedeutete. Der Löwe steht auf dem Massengrab der ›heiligen Schar‹ der Thebaner. In der Ebene zu seinen Füßen holte sich Alexander die ersten Lorbeeren.«42 Im Gegensatz zur Schilderung im Tagebuch, wonach der Löwe – »auf seinem häßlichen Steinsockel vor einer Wand von traurigen Zypressen [stehend]« – als »großartig und doch irgendwie degeneriert« beschrieben wird,43 bemüht sich die im Gedicht sprechende Instanz um eine Vermenschlichung des Denkmals, indem sie ihm emotionale Fähigkeiten zuschreibt und damit den bloßen Objektstatus sowie den Eindruck des Erhabenen aufzuheben versucht, der dem Löwenhaften als immanent gilt: So wie ein Mensch der früh, vor langen Jahren, Ein schreckliches Gesicht gehabt und nicht vergessen Und nicht verwinden kann – und hat doch Wogen Der Freude seitdem in sein Herz gesogen – Noch auf dem Antlitz jenen Schrecken trägt… (SL 61, V. 6–10)

Dem heroischen Anklang, der nicht selten solchen Darstellungen anhaftet, die auf historische Ereignisse wie eine Schlacht Bezug nehmen, wird hier bewusst entgegengewirkt. Vielmehr dominiert die Einsicht in das von Entsetzlichkeit geprägte Wesen des Krieges, worauf nicht allein das vom Schrecken gezeichnete Gesicht hindeuten soll, sondern vor allem der letzte Vers der folgenden Strophe:

41 42 43

Vgl. Hans-Joachim Gehrke: Alexander der Grosse. 6., aktualisierte Auflage. München 2013, 24 f. Vgl. TB I, 71. Ebd.

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So ist gefügt in dies Gesicht der Erde Die Schlacht und eines Volkes Untergang. Und daß zur selben Zeit ein Reich entstanden Und Knabenhände ihre Krone fanden All dies ist tot. Es lebt allein der Schmerz. (SL 61, V. 11–15)

Als prägendes Charakteristikum, das dem Ort Chaironeia seine Individualität zu verleihen scheint und in der Personifikation »Gesicht der Erde« zum Ausdruck kommt, erweist sich also jene Schlacht, infolge derer Griechenland seine Hegemonialstellung an Makedonien verlor und sich abzuzeichnen begann, dass der angesichts seiner »Knabenhände« noch junge Alexander schon bald die Nachfolge seines Vaters antreten wird. Dass es sich dabei weniger um ein glorreiches Ereignis handelt, dessen in prunkvoller Weise gedacht werden sollte, markiert sowohl die Sentenz »All dies ist tot« als auch die das Gedicht bestimmende Fokussierung auf das Mahnmal in Gestalt des Löwen. Mit dem diese Strophe beschließenden Vers wird gleichzeitig jene Praxis der Geschichtsschreibung ad absurdum geführt, die Geschichte als Erinnerung an die Taten ›großer Männer‹ versteht; stattdessen rückt das Gedenken an all jene in den Fokus, die im Zuge kriegerischer Handlungen ihr Leben lassen mussten: »Es lebt allein der Schmerz.« In formaler Hinsicht drückt sich die Bedeutung dieses Verses auch in seiner syntaktischen Singularität aus, besteht er doch als einziger im Gedicht aus zwei Hauptsätzen. Bezogen auf die Ganzheit des Textes ist er zugleich der Schluss der mittleren Strophe, die ihrerseits, wie Forget mit Blick auf die formalen Hauptmerkmale der frühen Kaschnitzschen Lyrik ausgeführt hat, jenen Teil darstellt, in dem »der Höhepunkt des Gedichtes […] erreicht wird, so daß der Gradation ein überaus regelmäßiges Bogen-Schema entspricht.«44 Was man als mit jenem Vers verknüpft betrachten könnte, ist die im Anschluss an Kaschnitz’ Kommentar über die Schlacht von Chaironeia zu lesende Notiz: »Aber man spürt nichts von dem Anbruch einer neuen Zeit, nur Untergang und Trauer.«45 Dies ist insofern bemerkenswert, als dieser Einschätzung die bereits zitierte Bemerkung vorausgeht, dass sich Alexander im Zuge der besagten Schlacht »die ersten Lorbeeren [holte].«46 Es stellt sich mithin die Frage, was Kaschnitz damit zum Ausdruck zu bringen versucht, zumal bezweifelt werden darf, dass die Autorin angesichts eines rund 2.000 Jahre zurückliegenden Ereignisses darauf hofft, den Anbruch einer neuen Zeit zu erleben. Vielmehr zeigt sich die Absicht, aus der Geschichte ableitbare Erkenntnisse in die Gegenwart überführen zu wollen, womit sich 44 45 46

Forget: Zur frühen Lyrik (Anm. 15), 180. TB I, 71. Vgl. Anm. 42.

Historizität und Gegenwartsbezogenheit in Kaschnitz’ Südliche Landschaft 109 Kaschnitz in kritischer Weise auf die gesellschaftliche Mentalitätsentwicklung im faschistischen Deutschland und dessen expansive Ausrichtung zu beziehen scheint: Während ein Großteil der in Nazi-Deutschland lebenden Menschen zu glauben bereit war, seit Hitlers Machtübernahme »geh[e] [es] wieder aufwärts«,47 negiert Kaschnitz den vermeintlichen Anbruch einer neuen Zeit. Die zwischen 1933 und 1936 ergriffenen Maßnahmen der NS-Regierung wie der Austritt aus dem Völkerbund, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die Verabschiedung der Nürnberger Rassegesetze oder die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes sind der Autorin eher Anlass dafür, ihrem Bedauern Ausdruck zu verleihen. Über die sentenziöse Zuspitzung im fünfzehnten Vers, womit das Gefühl von »Untergang und Trauer« als unausweichliches Resultat kriegerisch-expansiver Bestrebungen postuliert wird, lässt sich demnach ein Zusammenhang zur deutschen Wirklichkeit herstellen. Der im Kontext der nachfolgenden Strophe (vgl. SL 61, V. 16–20) nur beiläufig wirkende Satz »Es lebt allein der Schmerz« ist nicht nur Ausdruck eines sensiblen Gespürs für politisch fatale Entwicklungen, sondern erweist sich aus heutiger Perspektive als dunkle Prophezeiung jenen weltgeschichtlichen Schrecken betreffend, den der Zweite Weltkrieg ab 1939 mit sich brachte. Nicht unerwähnt bleiben darf der diesem Gedicht unmittelbar vorausgehende und ebenfalls 1936 entstandene Text Kloster in Daphne (SL 60), anhand dessen Forget bereits vorgeführt hat, inwiefern Kaschnitz’ Lyrik zeitbezogen gedeutet werden kann: Dieser Text verhandele »die Bekundung der allmächtigen Gegenwart Gottes in dem gottlos oder wenigstens gottfern gewordenen Deutschland der Nazizeit.«48 Wird mit dem Motiv des Klosters darauf angespielt, sich zurückziehen und auf Distanz gehen zu wollen, was »entweder als Provokation gegen das bestehende Massen-Regime oder auch als Symbol für den Absentierungswillen eines nicht Gleichgesinnten ausgelegt werden [kann]«,49 erfolgt in der dritten Strophe eine religiös konnotierte Anspielung auf den einst zwischen Gott und Israel geschlossenen »alten Bund[]« (SL 60, V. 14). Die Bezugnahme auf die deutsche Wirklichkeit ist naheliegend, schließlich drängt sich damit »die Vorstellung des Antisemitismus auf: die Verfolgung des Volkes Gottes ist ein lebendiges Beispiel dafür, daß der Bund ›lang vergessen‹ [(vgl. SL 60, V. 14)] ist.«50 Das mit Chäronea überschriebene Gedicht endet jedenfalls mit einem abschließenden Verweis auf das Löwen-Mahnmal, wobei sich ein weiterer Blick in die Tagebücher der Autorin als lohnend erweist, wenn man Aufschluss darüber erhalten will, wie die übrigen Verse der letzten Strophe entstanden sind: 47 48 49 50

Ian Kershaw: Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich. Stuttgart 1980, 57. Forget: Zur frühen Lyrik (Anm. 15), 99. Ebd., 99 f. Ebd., 101.

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Die weiße Flocke quillt im Baumwollfelde Und Mücken summen ihre Blutbegier. Ein schwarzes Wasser gurgelt unterm Tange, Doch vor dem dunkeln Hain, dem kahlen Hange, Steht groß der Löwe in der letzten Glut. (SL 61, V. 21–25)

Der hier zur Darstellung kommende Hell-Dunkel-Kontrast fällt geradezu ins Auge, wird doch der vom »schwarze[n] Wasser« und »dunkeln Hain« dominierte Mittelteil der Strophe insofern umrahmt, als der erste Vers auf das Weiß der »im Baumwollfelde« quellenden »Flocke« und der abschließende auf das Leuchten »der letzten Glut« aufmerksam macht. Gleichwohl kann sich des Eindrucks nicht erwehrt werden, dass sowohl die »Blutbegier« der Mücken als auch die durch »Wasser« und »Hain« hervorgerufene Dunkelheit eher von der Bedrohlichkeit der Natur zeugen. Ist mit der »letzten Glut« nun die im Untergehen begriffene Sonne gemeint, wird diese Bedrohlichkeit letztlich dadurch verstärkt, dass mit der einbrechenden Nacht schließlich die völlige Verdunklung droht. In Anbetracht dessen erweist sich der in die Höhe ragende »Löwe« als hell aufstrahlender Fixpunkt. Zieht man nun die Tagebuchaufzeichnungen heran, fällt auf, dass der im Gedicht imaginierten Unheimlichkeit eine reale, allerdings eine im zivilisatorischen Umfeld erlebte Situation zu entsprechen scheint: Auf dem Weg sahen wir uns die Baumwollpflanzen genau an. […] An manchen Pflanzen war die Frucht, klebrig, braun, schon aufgeplatzt, und eine große Menge fester weißer Watte hing heraus. Der Bahnhof war eine Ruine. Wir warteten so lang in einem überdachten Anbau, bis uns die Mücken stachen. […] Dann gingen wir im Regen auf und ab, 4 Stunden lang. Es wurde dunkel, große schwarz-weiße Vögel flogen über den Sumpf. […] Es war sehr feucht und kalt, […] der Zug hatte 1 ½ Stunden Verspätung […] und ein Mann, der im Dunkeln mit uns wartete, behauptete, es wären Schakale im Sumpf. In dem Bahnhof erschien kein Mensch, und es wurde kein Licht angezündet. […] Wir machten uns darauf gefaßt, dort die Nacht zu verbringen. Endlich kam der Zug, mit einem großen Scheinwerferauge, und hielt. Nach dieser nächtlichen unheimlichen Einsamkeit war es ganz unwahrscheinlich, in einem Speisewagen zu sitzen und Tee zu trinken.51

51

TB I, 72.

Historizität und Gegenwartsbezogenheit in Kaschnitz’ Südliche Landschaft 111 3. Ihre im Herbst 1938 unternommene Reise an die im Westen Süditaliens gelegene Amalfiküste kommentierte Kaschnitz mit den in ihrem Tagebuch nachzulesenden Worten: »Die berühmte Fröhlichkeit der Südländer, die so oft nur ein Märchen ist, ist hier wirklich zu finden und besteht in einem beständigen Lebensauftrieb, der jeden armen Teufel in jeder Stunde neu mit Hoffnung und Heiterkeit zu erfüllen scheint.«52 Dieser doch idealisierenden Sichtweise entsprechen weitere Beschreibungen, die Kaschnitz unter Rekurs auf Amalfi, einst »bedeutendste Seehandelsstadt des frühmittelalterlichen Süditalien«,53 in ihren mit Orte betitelten Aufzeichnungen vorgenommen hat.54 So schildert die Autorin an einer Stelle den Weg durch jene Kleinstadt, die der Küstenlandschaft ihren Namen verleiht, wie folgt: Aufrufbar auch der Weg ins Städtchen […]. Das Innere, die übersteile Domtreppe und der Brunnen, die einzige Straße, mit schwarzem Basalt gepflastert, in dem spiegeln sich die herbstlichen Lampen, die Flitterkränze der Madonna und die roten Früchte, die roten Nelken, in dem immer nassen Basalt. Auf die Straßen münden kalkweiße Treppen, Fenster zu beiden Seiten, in den Fenstern Geranien und Fuchsien, die Madonnenbilder einzurahmen, alles rot. Erst am […] Ortsende erlöschen die Farben, da beginnt der unheimliche Bereich […], da hängen aus den scheibenlosen Fenstern Lumpen […]. Da kehren wir um und gehen durch den Ort zurück an den Hafen […] und nach dem zweiten Tunnel kommt der Citrusblütengeruch über die Mauern, und man hört tief unten das Meer.55

Angesichts solcher Darstellungen liegt die Vermutung nahe, dass sich Kaschnitz der Stadt Amalfi in besonderer Weise verbunden fühlt, vor allem wenn man das gleichnamige Gedicht (vgl. SL 43 f.) hinzuzieht, das abgefasst wurde, als der Zweite Weltkrieg schon seit einigen Monaten tobte.56 Ihre tiefe Verbundenheit drückt sich wie im Gedicht Rom dergestalt aus, dass sie die Sprechinstanz mit der

52 53 54 55 56

Ebd., 186. Ernst Kirsten: Süditalienkunde. Bd. 1: Campanien und seine Nachbarlandschaften. Heidelberg 1975, 511. Vgl. Marie Luise Kaschnitz: Orte. Aufzeichnungen. 7. Auflage. Frankfurt a.M. 1973, 21; 95; 173. Ebd., 21. Vgl. TB I, 274: Hinter der Angabe »Winter 39/40« listet Kaschnitz lediglich einige Werktitel auf, darunter auch die folgenden: »[…] Gedichte. Amalfi. […].«; vgl. hierzu außerdem TB I, 273 f., wo Kaschnitz im unmittelbaren Kontext des Kriegsausbruchs (1. September 1939) vermerkte: »27.–31. 8. Drückend schwüle Tage voll von Angst und Erwartung, von Erinnerungen an die Kindheitserlebnisse 1914, von Zukunftsbildern. Große Stille, keine Flieger, nur noch wenig Autos, aber Züge, Züge, fast ununterbrochen, schrill pfeifend. Man kann nichts tun, nichts denken, nichts fühlen als nur das eine: keinen Krieg.«

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Stadt als »personales Gegenüber in der zweiten Person« kommunizieren lässt, womit sowohl der Objektstatus ausgeblendet als auch »ein intimer und emotionaler Bezug hergestellt [wird].«57 In jambischen Fünfhebern verfasst, weist das Gedicht Amalfi zehn vierversige Strophen auf, wobei die Strophengrenze mit einer Ausnahme immer auch die jeweilige Satzgrenze darstellt. Der durch das alternierende Metrum erzeugten Regelmäßigkeit entspricht im formalen Sinne die Kombination aus Kreuzreimen und wechselnden Kadenzen. In inhaltlicher Hinsicht besteht jedoch eine wesentliche Besonderheit des Textes darin, dass er eine Tendenz zur thematisierenden Geschichtslyrik, um genauer zu sein, zur Ruinenpoesie aufweist, und zwar insofern, als »die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart thematisiert [wird].«58 Wie für ein Gedicht jener Bauform charakteristisch, lassen sich »zwei differierende Zeitebenen« konstatieren, was letztlich der Absicht geschuldet ist, »Historizität zu suggerieren«.59 Als eine »von den Elementen immer wieder schwer heimgesucht[e]«60 Stadt, deren historische Insignien man allerdings zu bewahren wusste, kann das lyrisch imaginierte Amalfi in gewisser Weise als eine Art Ruine aufgefasst werden; als Ort also, an dem sich eine »Synthese von Kunst und Natur« vollzieht beziehungsweise an dem sich die Vergangenheit »heraufbeschwören und imaginär vergegenwärtigen lässt.«61 Dennoch bleibt ein nicht unwesentlicher Unterschied zur Ruine im herkömmlichen Sinne bestehen, versteht sich das Gedicht doch keinesfalls als Klage über einen toten Ort, sondern vielmehr als Lobgesang auf die Einzigartigkeit einer seit jeher lebendigen Stadt:

57

58 59 60 61

Katharina Grätz: Zeitstrukturen in der Lyrik. Am Beispiel der Ruinenpoesie. In: Geschichtslyrik. Ein Kompendium. Hg. von Heinrich Detering und Peer Trilcke. 2 Bde. Göttingen 2013, 171– 188, hier 176. In Abgrenzung zum Gedicht Chäronea, das – wie gezeigt wurde – auf einen Ort rekurriert, dem die Autorin eher reserviert gegenüber eingestellt ist, lässt sich mit Blick auf die Texte Rom und Amalfi interessanterweise feststellen, dass jene Städte im Gedicht anthropomorphisiert und als lyrisches Du angesprochen werden, denen sich Kaschnitz im positiven Sinne verbunden fühlt. Peer Trilcke: Art. ›Geschichtslyrik‹. In: Handbuch Lyrik (Anm. 17), 153–157, hier 154. Ebd., 153. Weil: Antikenrezeption (Anm. 14), 187 f. Grätz: Ruinenpoesie (Anm. 57), 178; in Bezug auf den Zeichencharakter der Ruine heißt es weiter: »Denn eine Ruine stellt ja nichts Statisches und Unveränderliches vor, sondern bildet ein Übergangsstadium zwischen ursprünglicher Unversehrtheit und vollständigem Verfall oder, in zeitlichen Kategorien gefasst, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Damit kommt ihr eine transitorische Bedeutung zu; sie rückt einen veränderlichen Zustand innerhalb eines prozesshaften historischen Geschehens vor Augen.«

Historizität und Gegenwartsbezogenheit in Kaschnitz’ Südliche Landschaft 113 Amalfi 62 Dich rühm ich wieder, Stadt, dem weiten Bogen Der starren Felsenberge eingefügt, Die Schluchten steil ins Finstere gezogen, Die reichen Hänge von der Flut umwiegt.

Noch glüht das Gold, das aus den fernen Reichen Des Orients die Schiffe dir gebracht, Noch ragen Türme, die mit Feuerzeichen Weit übers Meer erhellten deine Nacht.

Du Braut des Meeres in Geschmeid und Tränen Beglänzte Stirn, dem Lichte zugewandt Campaniens Stolz und Raub der Sarazenen, Vom grellen Strahl gesegnet und verbrannt.

Den fremden Gast, der in des Mittags Schweigen Vom Bug des Schiffes ferne dich erspäht Wirst du dich stolz, als eine Feste, zeigen, Vom Fels umstarrt, von Wolken überweht.

Du trägst an deinem Leib der Elemente Verderb und Weh, ein unvergänglich Mal Bergüber flogen des Vesuvs Brände Sturzbäche rissen Fels und Haus zutal.

Tief in dem dunkeln Labyrinth der Gassen Glänzt ihm ein Marmorhaupt, ein Fabeltier, Es tragen vor den ärmlichen Gelassen Gebälk und Fenster maurisch reiche Zier.

Es stieg das Meer hochauf zu deinen Füßen Der Kirchen Hallen, der Paläste Flucht Versanken, von den Wellen fortgerissen Und dämmern auf dem Grunde deiner Bucht.

Den Hügel auf, wo deine Toten wohnen, Steigt er im kalten Höhlenwind der Schlucht Und schaut beglänzt die fernen Faraglionen Und Hellas’ Tempel überm Blau der Bucht.

Und doch, du lebst. So fest im Überdauern, So lieblich in des jungen Tages Zeit, Noch breiten zwischen Meereshang und Mauern Ölwald und Wein ihr ewig schönes Kleid.

Und da er fühlt, wie Blühen und Verderben Sich tief durchdringt und wunderbar vertauscht Begrüßt du ihn als einen Sohn und Erben Der alten Reiche, die das Meer umrauscht.

Gleich zu Beginn der ersten Strophe gibt das lyrische Ich seine Absicht preis, die Stadt zum wiederholten Male rühmen zu wollen, um im Anschluss eine Beschreibung der topographischen Lage vorzunehmen (vgl. V. 1–4). Den Vorzügen des Ortes, die darin bestehen, »Braut des Meeres« (V. 5), »dem Lichte zugewandt« (V. 6), »Campaniens Stolz« (V. 7) respektive vom »grellen Strahl gesegnet« (V. 8) zu sein, werden gleichwohl solche Eigenschaften gegenübergestellt, die den evozierten Eindruck des Idyllischen zu relativieren scheinen: So beschreibt der lyrische Sprecher die Stadt als »verbrannt« (ebd.) und von Natureinflüssen gezeichnet, wovon ein »unvergänglich Mal« (V. 10) zeugt. Vollzieht sich die Darstellung bis hierhin im Präsens, erfolgt zur Mitte der dritten Strophe ein Tempuswechsel ins Präteritum, was dem Umstand geschuldet ist, dass die lyrische Sprechinstanz auf ein naturgeschichtliches Ereignis zu sprechen kommt, durch welches das Erscheinungsbild der Stadt nachhaltig geprägt wurde. Dabei kündigt sich bereits in der Beschreibung »Sturzbäche rissen Fels und Haus zutal« (V. 12) an, was in der vierten Strophe schließlich vollends zur Darstellung gebracht wird. Jene

62

SL 43 f. Alle im Folgenden zitierten Textstellen werden ausschließlich mit der entsprechenden Verszahl im laufenden Text nachgewiesen.

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Verse (vgl. V. 13–16) verweisen nämlich auf den im Jahre 1343 durch ein Erdbeben ausgelösten Tsunami, dessen Flutwelle Teile der Stadt mit sich riss und ins Meer hinausspülte.63 Erwähnung findet dieses Unglück zudem in einem auf den 26. November 1343 datierten Brief Francesco Petrarcas an den befreundeten Kardinal Giovanni Colonna: Als »ein einmaliges, in noch keinem Jahrhundert vernommenes Grauen« wird dort jene Katastrophe beschrieben, die wohl weite Teile der süditalienischen Westküste erfasste. Weiter heißt es, »niemals sonst habe man etwas noch Entsetzlicheres, noch Rasenderes gesehen« und es würde allzu lange dauern, wenn man »alle Schrecken jener höllischen Nacht in Worte fassen [wollte].«64 Auch der historisch belegbare Hinweis darauf, dass selbst die prestigeträchtigsten Gebäude in Gestalt der »Kirchen« und »Paläste« (V. 14) unverschont blieben, verstärkt den Eindruck, wonach das Ausmaß dieses »Universalgewitter[s]«65 gewaltig gewesen sein muss. Dennoch wird dem Leser eine unerschütterliche Stadt präsentiert, die ihre Existenz trotz gewaltiger Zerreißproben zu bewahren vermochte, was zu Beginn der fünften Strophe in der Emphase zum Ausdruck kommt: »Und doch, du lebst. So fest im Überdauern« (V. 17). Eine Besonderheit dieses Verses besteht nicht allein in der metrischen Akzentuierung des im Zentrum stehenden Wortes »lebst«, sondern auch insofern, als die syntaktisch markierte Zäsur eine rhythmische Unterbrechung im Versinneren bedingt und damit die Aufmerksamkeit auf das Versende lenkt. Aufgrund der Eigenschaft, »fest im Überdauern« zu sein, war es nämlich zum einen möglich, die Quelle des ökologischen Reichtums (vgl. V. 20) zu erhalten, worauf die Periphrase »ewig schönes Kleid« (ebd.) aufmerksam macht; zum anderen war es der Stadt vergönnt, ihre historischen Insignien wie das aus dem Orient stammende »Gold«66 (V. 21) oder die hoch ragenden »Türme« (V. 23), sprich von der Geschichte hinterlassene Spuren zu ›konservieren‹, wenn auch das mehrmals wiederholte »Noch« (V. 19; 21;

63

64 65 66

Vgl. Kirsten: Süditalienkunde (Anm. 53), 514: »[Dem Seebeben] fielen nicht nur die Stadtmauern an der Seeseite und die Kaianlagen vor ihr, sondern auch der Palast des Dux und die Versammlungshäuser der Adligen […] zum Opfer und konnten […] auch nicht mehr ersetzt werden […].« Francesco Petrarca: Fam. 5,5, an Kardinal Giovanni Colonna. In: Ders.: Familiaria. Bücher der Vertraulichkeiten. Bd. 1: Buch 1–12. Hg. von Berthe Widmer. Berlin/New York 2005, 253–258, hier 253 f. Ebd., 253. Vgl. hierzu das auf den mittelalterlichen Gelehrten Wilhelm Apulus zurückgehende Zitat bei Kirsten: Süditalienkunde (Anm. 53), 513: »Keine Stadt ist reicher an Gold und Silber, an Stoffen aller Art. Zahlreiche Schiffer wohnen hier, erfahren in der Kenntnis der Gestirne und des Meeres. Von Alexanders Stadt wie von der des Königs Antiochos (aus Alexandreia in Ägypten, Antiocheia in Syrien) werden die Waren hierher gebracht über viele Meere hinweg. Araber, Libyer, Sizilianer und Nordafrikaner sieht man hier, fast über die ganze Welt ist dies Volk angesehen, weil es Waren bringt und holt.«

Historizität und Gegenwartsbezogenheit in Kaschnitz’ Südliche Landschaft 115 23) die Warnung beinhält, dass auch lange Zeit Überdauertes irgendwann zu vergehen droht. Mit der siebten Strophe setzt insofern eine Art ›Reisebericht‹ ein, als die lyrische Sprechinstanz den Besuch eines »fremden Gast[es]« (V. 25) in Amalfi schildert. Da der Besucher nicht näher beschrieben und somit der Anonymität überantwortet wird, erscheinen dessen Eindrücke, von denen der Sprecher genauestens zu berichten weiß, als mit dem Anspruch versehen, allgemein gültig zu sein. Jedenfalls präsentiert sich die Stadt »stolz, als eine Feste« (V. 27), während sich der Fremde seinen Weg durch das dunkle »Labyrinth der Gassen« (V. 29) bahnt. In diesem Zusammenhang wird der äußere Eindruck der Verwahrlosung, der angesichts der »ärmlichen Gelassen« (V. 31) aufkommen mag, umgehend durch den Hinweis abgeschwächt, dass »Gebälk und Fenster« (V. 32) über eine »maurisch reiche Zier« (ebd.) verfügen. Weitere bedeutende Hinterlassenschaften der Geschichte offenbaren sich dem Besuchenden dann, wenn er den »Hügel« (V. 33) von Amalfi erklimmt, um von dort die »fernen Faraglionen« (V. 35) zu erahnen, oder »Hellas’ Tempel« (V. 36), womit wohl die unter dem Namen Paestum bekannte und ebenfalls in der Provinz Salerno gelegene Ruinenstätte gemeint ist. Die Präsenz an jenem von Geschichte erfüllten Ort scheint sich folglich bewusstseinserweiternd auszuwirken, weiß der lyrische Sprecher doch von dem aufkommenden Gefühl des Besuchenden zu berichten, »wie Blühen und Verderben / [s]ich tief durchdringt und wunderbar vertauscht« (V. 37 f.). Mit anderen Worten ausgedrückt, beginnt er ein Gespür für »das ewige Ineinander von Vergehen und Bestehen«67 zu entwickeln, was – in zeitlichen Kategorien gefasst – das Zusammenwirken von Vergangenheit und Gegenwart meint. Das Sichbewusstmachen dieses Zusammenwirkens führt demnach zur Überwindung des Nichtvertrautseins und lässt den einst »fremden Gast« im Sinne einer kulturellen Transformation zum »Sohn und Erben / [d]er alten Reiche« (V. 40) werden. 4. Die lyrische Imagination italienischer und griechischer Orte, womit sich die Darstellung eines im Vergleich zum tristen Norden helleren Südens verbindet, hat eine aus kulturhistorischer Sicht lange Tradition. Für die Reiselyrik von Marie Luise Kaschnitz lässt sich vor dem Hintergrund der zeitpolitischen Situation jedoch resümierend konstatieren, dass die poetische Hinwendung zur »Südlichen Landschaft« auch als geistige Abkehr von der als »dunkler« apostrophierten Heimat aufzufassen ist. Die eingehender in den Blick genommenen Gedichte Chäronea

67

Weil: Antikenrezeption (Anm. 14), 188.

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und Amalfi führen dabei ein in unterschiedlicher Weise geartetes Wechselverhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart vor Augen: So zeigt sich unter Hinzuziehung der Tagebuchaufzeichnungen einerseits, dass aus der Geschichte ableitbare Erkenntnisse in die Gegenwart überführt werden, um politisch fatale Entwicklungen kritisch zu beleuchten; andererseits wird die Vorstellung evoziert, dass die Auseinandersetzung mit lokalhistorischen Gegebenheiten einer kulturanthropologischen Transformation gleichzukommen vermag.

Texträume Kulturtechniken des Kartographierens in der Italienlyrik Ingeborg Bachmanns YVONNE NILGES Die Italienlyrik Ingeborg Bachmanns mit Blick auf den vorliegenden Tagungsband als ›Reiselyrik‹ zu klassifizieren, bedarf einer Erläuterung. 1952 unternahm Bachmann mit ihrer Schwester Isolde ihre erste Reise nach Italien; im Spätsommer des Folgejahres wurde das Land jenseits der Alpen jedoch zu jenem Land, in dem Bachmann ihr Domizil bezog. Bis 1957 wechselte Bachmann innerhalb Italiens mehrmals ihre Wohnorte (sie ließ sich auf der Insel Ischia, in Neapel und in Rom nieder), bevor sie zwischen 1958 und 1962 alternierend in Rom und Zürich lebte und nach einer weiteren Station, die sie in Berlin verbrachte, ab Ende des Jahres 1965 erneut und endgültig nach Rom übersiedelte. Die Stadt Rom sollte fortan bis zu ihrem Tod 1973 ihr dauerhafter Wohnsitz bleiben. Mit anderen Worten: Italien – und insbesondere Rom – hatte für Ingeborg Bachmann weit mehr als eine transitorische Bedeutung, wie man diese mit dem Begriff der ›Reise‹ zunächst in Verbindung bringt. Vielmehr war Italien ungeachtet mehrmaliger Wohnungswechsel der einzige konstante geographische Bezugsraum, den Bachmann für sich selbst bestimmte. Der Umstand, dass Bachmann auch innerhalb Italiens episodisch und also temporär auf Reisen ging, spiegelt sich zwar z.T. in ihrer Lyrik wider; die »konkrete Reise oder die reale Anwesenheit vor Ort« jedoch erscheint selbst dann »als abgeschnittener […] Ursprung« einer »imaginären Topographie«,1 so dass wir es in Bachmanns Italienlyrik nie mit traditionell anlassgebundener, sondern stets mit themengebundener Reiselyrik zu tun haben – und hier wiederum mit einer solchen, in der reale Örtlichkeiten »eine Art Grundlage« bilden, auf der Gedanken und Gefühle des lyrischen Ich ohne greifbare Wirklichkeitsreferenz, d.h. weitgehend losgelöst von geographischen Bestimmungen, auf metaphorisch-symbolische Weise »eingetragen werden können«.2 Da bislang noch »keine nennenswerten theoretischen Debatten über eine Reiseliteratur in Gedichtform« existieren,3 möchte dieser Beitrag ganz bewusst eine 1 2 3

Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999, 247. Ebd., 247 f. Johannes Görbert: Reisegedichte (Chamisso). In: Ders.: Die Vertextung der Welt. Forschungsreisen als Literatur bei Georg Forster, Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso. Berlin/München/Boston 2014, 170–199, hier 171.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_7

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abweichende Lesart dessen zur Disposition stellen, was das Kompositum ›Reiselyrik‹, von einer durchaus materiellen Reisetradition ausgehend, im Allgemeinen impliziert. Denn ›Reiselyrik‹ soll im Folgenden differenzierend – und differenziell – verstanden werden.4 Wenn der örtlich fassbare, konkrete Raum zu einem Abstraktum avanciert, lautet der Terminus technicus für einschlägige literaturwissenschaftliche Untersuchungen ›Literaturtopographie‹. Tatsächlich ist der Spatial Turn in den Literaturwissenschaften lange vor allem als Topographical Turn verstanden worden, der seinen entscheidenden Impuls bei Foucault5 und seinen wesentlichen Bezugspunkt in Henri Lefebvres konzipiertem Raum des Wissens hatte.6 Normativ vor allem für die anglo-amerikanischen Cultural Studies, hat Lefebvres Begriff der konzeptionellen »Raumrepräsentationen« in der Produktion des Raums die gleichfalls von ihm stammenden Begriffe wahrgenommener »Raumpraxis« und gelebter »Repräsentationsräume« forschungspraktisch in den Hintergrund gerückt. Der Raum als eine begriffliche Kategorie – ohne direkten geographischen Bezug – hat die literaturwissenschaftliche Raumforschung daher lange bestimmt.7 Wenn wir Reiselyrik als Subgenre der Raumlyrik verstehen, dominieren über das Gegenständliche hinausweisende »Raumrepräsentationen«, mit Lefebvre zu sprechen, derweil nicht nur die literaturwissenschaftliche Raumforschung. Vielmehr werden abstrakte Texträume auch und nicht zuletzt bedeutsam für die Italiengedichte Ingeborg Bachmanns, so dass denn die Frage nach konkreten italienischen Städten und Regionen, nach architektonischen Sehenswürdigkeiten, Seen, Flüssen, Bergen usw. sowie nach deren lyrischer Gestaltung – als Literaturgeographie – im vorliegenden Falle nur begrenzt ergiebig wäre. In Bachmanns Italienlyrik überwiegt also verlässlich die mentale ›Produktion des Raums‹; gleichwohl lässt sich die lyrische Reise durch Italien ungefähr lokalisieren. Denn während in Bachmanns frühen Gedichten noch ein tendenzielles 4

5 6 7

Die Metapher der Lebens-Reise ist, rhetorisch betrachtet, ein bis in die Antike zurückreichender Topos (Navigatio vitae). Auch die Italienlyrik Ingeborg Bachmanns ist in diesem Sinne ›Reiselyrik‹: Aus einer Untersuchungsperspektive, die stärker autorbezogen wäre als die vorliegende kontextorientierte Analyse, würden Bachmanns Italiengedichte diesen Topos auf denkwürdige Weise variieren. Der nachfolgende archäologische Beitrag verfolgt jedoch andere Ziele, indem er im Anschluss an Foucaults diskursanalytische Autorfunktionen die Person Ingeborg Bachmann in erster Linie als Ordnungskategorie für Diskurse voraussetzt. Michel Foucault: Von anderen Räumen [1967]. In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel. Frankfurt a.M. 2006, 317–327. Henri Lefebvre: Die Produktion des Raums [1974]. In: Dünne/Günzel: Raumtheorie (Anm. 5), 330–342. Foucaults Wissensbegriff ist freilich flexibler als derjenige Lefebvres: Die Untersuchung von Aussagesystemen lässt sich sowohl mit immateriellen als auch mit materiellen Fragestellungen des Raumwissens vereinbaren.

Kulturtechniken des Kartographierens in der Italienlyrik Bachmanns

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»Zugleich von Ortlosigkeit und […] totaler Determinierung durch die Zeit« vorliegt,8 sind die Ordnungskategorien des Raumes und der Zeit in Bachmanns späterer Lyrik, um die es uns hauptsächlich zu tun ist, nicht länger adversativ gehalten. Das heißt, wir können beobachten, wie Ort und Zeit sich in Bachmanns Italiengedichten angleichen und gleichsam ineinander übergehen, da der Raum referentieller, die Zeit hingegen fiktionaler versprachlicht und organisiert wird, als es in Bachmanns früher Lyrik noch der Fall gewesen war. »[Z]um Raum wird hier die Zeit«:9 In der Italienlyrik Ingeborg Bachmanns nehmen sowohl spatiale als auch temporale Aussagen eine sehr vage, vexatorische Funktion ein. Ebenso offen bleibt in Bachmanns »Denken der Differenz«10 die lyrische Bezüglichkeit, da ihre Italiengedichte zwischen individuellem und kollektivem Anspruch fluktuieren. Die Kulturtechniken des Kartographierens beruhen in Bachmanns Italienlyrik auf multiplen Raumsemantiken, die Foucaults Diktum von der »Wiederkehr der Sprache« beispielhaft entsprechen.11 Im Folgenden wollen wir uns dieser Italienlyrik – als vorwiegend abstrakter Reiselyrik – näher zuwenden. Bereits in Bachmanns erstem Gedichtband Die gestundete Zeit von 1953 können wir vereinzelt fündig werden; die meisten Italiengedichte finden sich jedoch in Bachmanns zweitem und letztem Gedichtband Anrufung des Großen Bären aus dem Jahr 1956. Dabei gehen wir von einer Umkehrung der klassischen Diskursanalyse aus, die Bachmanns Einzeltexte vor dem Hintergrund des Nachkriegswissens symptomal betrachtet.12 Durch den Gang der von Foucault so benannten »ruhmlosen Archive« sollen die Wissensordnungen der Nachkriegsmoderne in einem entgrenzten Textverständnis untersucht werden.13 Im Zuge dessen werden wir verfolgen können, wie Bachmanns Italiengedichte die diskursiven Praktiken des zeitgenössischen Bildungsdiskurses, des politischen Diskurses, des ökonomischen Diskurses und des Alltagswissens subvertieren.14

8 9 10 11 12

13 14

Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann (Anm. 1), 238. Vgl. hierzu Richard Wagner: Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel [1882]. In: Ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen. 2. Auflage. Leipzig 1887/1888, Bd. 10, 339. Bettina von Jagow: Ästhetik des Mythischen. Poetologien des Erinnerns im Werk von Ingeborg Bachmann. Köln/Weimar/Wien 2003, 22 und passim. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1966]. 9. Auflage. Frankfurt a.M. 1990, 367. Zu dem Begriff der »symptomalen Lektüre« vgl. Klaus-Michael Bogdal: »Das Urteil kommt nicht mit einemmal«. Symptomale Lektüre und historische Diskursanalyse von Kafkas Vor dem Gesetz. In: Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas Vor dem Gesetz. Hg. von dems., Opladen 1993, 43–63. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses [1975]. Frankfurt a.M. 1977, 246. Dass die folgende Untersuchung den diskursanalytischen Grundsätzen der Enthierarchisierung und des Anti-Essentialismus dabei nur bedingt entsprechen kann, versteht sich.

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Yvonne Nilges 1. Wissensordnungen der Nachkriegszeit

Als charakteristisch für die Wissensordnungen der Nachkriegszeit lässt sich die Episteme ›Identitätssuche‹ bestimmen. Was den Bildungsdiskurs betrifft, so verfolgten die Verantwortlichen der 1950er Jahre in Bachmanns Geburtsland Österreich, ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland, eine neu akzentuierte Diskursstrategie des Konservatismus. Der Bildungsdiskurs war hier wie dort vornehmlich restaurativ geprägt und galt der Selbststabilisierung einer verwundeten Gesellschaft.15 Durch die Betonung traditioneller Wertmaßstäbe und altbewährter Kulturgüter wurde der Wiederaufbau in allen Bildungsbereichen gefördert, so dass als ›klassisch‹ zu bezeichnende Strukturen im Bildungsdiskurs dominierten. Dies ist im Geschlechterdispositiv (das auch den politischen Diskurs grundierte16) ebenso erkennbar wie, spezifischer, im Schul- und Hochschulwesen oder, noch spezieller, im Deutschunterricht bzw. im Germanistikstudium.17 Der Kulturbetrieb der 1950er Jahre tastete sich an Vertrautes und verlässlich Vorzeigbares zurück, um zu einem neuen Selbstwert zu gelangen. Klassizität prägte denn auch den Bildungsdiskurs im Hinblick auf Italien; die italienische Bildungsreise, insbesondere tradiert durch Goethe, steckte den Erwartungshorizont ab, mit dem Ingeborg Bachmann bei der Publikation ihrer Italienlyrik zuverlässig rechnen konnte. Auch der politische Diskurs entsprach dem Wunsch nach erfolgreicher Identitätsstiftung. Die Nationalstaaten fanden zu mehr Souveränität zurück. In Westdeutschland und Österreich wurde 1955 die Besatzung aufgehoben; im gleichen Jahr erfolgte in beiden Ländern die Gründung einer eigenen Armee (Bundeswehr bzw. Bundesheer).18

15

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Auf Österreich bezogen vgl. hierzu Edith Blaschitz: »Mit deinen Altersgefährten wirst du an Österreich weiterbauen«. Österreichische und alliierte Bildungsmaßnahmen zur Demokratisierung von Kindern und Jugendlichen (1945 bis 1955). In: Medienimpulse. Beiträge zur Medienpädagogik 50 (2004), 15–23. Vgl. etwa die für die Nachkriegszeit übliche Erwerbslosigkeit von verheirateten Frauen und vor allem Müttern. Das paritätische Ehemodell trat in Österreich im Jahr 1975, in der BRD 1977 in Kraft. Als repräsentativ für Letzteres vgl. die werkimmanente Interpretation der Nachkriegszeit und ihre theoretischen Grundlagen, die zumal von Wolfgang Kayser und Emil Staiger formuliert wurden. Vgl. z.B. Klaus von Schubert: Wiederbewaffnung und Westintegration. Die innere Auseinandersetzung um die militärische und außenpolitische Orientierung der Bundesrepublik 1950– 1952. 2. Auflage. Stuttgart 1972; Gisela Wimmer: Österreich zwischen West und Ost von 1945 bis zum Abschluß des Staatsvertrages. Zur Frage der österreichischen Optionen. Österreichs Selbstverständnis in der zeitgenössischen Publizistik von ÖVP, SPÖ und KPÖ. Würzburg 1978.

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Analog erfolgversprechend verlief der ökonomische Diskurs, der in den 1950er Jahren das sogenannte Wirtschaftswunder zeitigte. Aufbruchsstimmung herrschte; der Lebensstandard der Bevölkerung stieg seit Beginn des Dezenniums in beiden Ländern kontinuierlich an.19 Damit interferieren auch die diskursiven Praktiken des Alltagswissens. Sportliche Erfolge verstärkten das noch junge Selbstbewusstsein. Das »Wunder von Bern« machte Westdeutschland 1954 zum Fußball-Weltmeister, Österreich errang Platz 3; besondere Auszeichnungen gewannen beide Länder auch bei den Olympischen Winterspielen der 1950er Jahre, die 1952 und 1956 stattfanden.20 Westdeutsche wie Österreicher verfügten nun über genügend Kaufkraft, um nach harten, entbehrungsreichen Jahren neue Konsumgüter in Anspruch zu nehmen: Hier ist der beginnende Massentourismus zeitlich zu verorten. Eine volkstümliche Reisekultur als dezidierte Urlaubs-Kultur etablierte sich, und zwar, sofern eine Destination im Ausland möglich war, zunächst und zumal ausdrücklich in Italien. »Man könnte sagen«, schrieb die FAZ 1952, »Deutsch sei zur Zeit die zweite Landessprache in Italien – in so großer Zahl strömen die Besucher von jenseits der Alpen in das in dieser Jahreszeit doppelt herrliche Land.« Und 1954 urteilte der ansonsten nicht zu reißerischen Übertreibungen neigende Rheinische Merkur: »Italien überfüllt!«21

Zu den diskursiven Praktiken des Alltagswissens gehörte in den 1950er Jahren nicht nur die zunehmende Nutzung des populären Fernsehmediums, sondern auch die Konjunktur des volkstümlichen Heimatfilms. Auch hier ging es um die Konstruktion von attraktiver Zugehörigkeit, um die Suche nach einem fasslichen, intakten Selbstverständnis. War der Begriff ›Heimat‹ während der NS-Zeit ein zentrales Propaganda-Wort gewesen, so trivialisierte er sich im idyllischen Heimatfilm der Nachkriegszeit: Die Genre-Bezeichnung ›Heimatfilm‹ ersetzte den zuvor verwendeten, nunmehr belasteten Terminus ›Volksfilm‹. Die klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse blieb dabei – entnazifiziert – bestehen.22

19 20 21 22

Vgl. hierzu beispielsweise Rudolf Pörtner: Kinderjahre der Bundesrepublik. Von der Trümmerzeit zum Wirtschaftswunder. München 1992; Hermann Haslauer: Menschen – Ideen – Erfolge. Eine Spurensuche zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte seit 1945. Linz 2009. Vgl. hierzu z.B.: Die Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft. Hg. von Dietrich Schulze-Marmeling. 6. Auflage. Göttingen 2014, sowie Volker Kluge: Olympische Winterspiele. Chamonix 1924 – Nagano 1998. Die Chronik. 3. Auflage. Berlin 1999. Till Manning: Italien ohne Goethe. Als das Reisen Urlaub wurde. Die erste Welle des Massentourismus schockierte den deutschen Kulturbürger. In: Die Zeit (18. August 2011) [https:// ww.zeit.de/2011/34/Italienfreunde; letzter Zugriff: 01.08.2019]. Vgl. z.B. Jürgen Trimborn: Der deutsche Heimatfilm der fünfziger Jahre. Motive, Symbole und Handlungsmuster. Köln 1998. Ähnliches ist für den österreichischen Heimatfilm der 1950er Jahre zu konstatieren (s. etwa den österreichischen Klassiker des Heimatfilms, Echo der Berge

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Von diesen Interpositivitäten unterschiedlicher Diskurse, die ein archäologisches Modell bilden, grenzte sich der literarische Diskurs der Nachkriegsmoderne nicht durchgängig, wohl aber seiner Tendenz nach ab. Der frühe Foucault hat die Literatur als subversiven Gegendiskurs verstanden, dem es kraft der Qualität der Sprache auf selbstreferentielle Weise gegeben sei, gesellschaftliche Machtstrategien zu desavouieren;23 und ungeachtet dessen, dass selbstverständlich auch in der Literatur Dispositive der Macht bedeutsam werden können, wie Foucault später konzedierte, ist festzuhalten, dass der literarische Diskurs der Nachkriegszeit das, wie wir gesehen haben, relativ kongruente Netzwerk diskursiver Formationen tendenziell unterläuft. Auch Bachmanns Italiengedichte wenden sich keinem ausdrücklichen Aufschwung, keiner Affirmation des ›Positiven‹ und der Prosperität zu. 2. Der literarische Diskurs der Nachkriegszeit Ilse Aichingers Essay Aufruf zum Misstrauen des Jahres 1946 kann in diesem Kontext als Ausgangspunkt genommen werden. Nonkonformismus und Enttabuisierung prägten die Literatur der Nachkriegszeit, die individuell und experimentell war. Dies dokumentierte sich vor allem und sehr augenscheinlich auch gerade in der Lyrik. Die Sprache wurde in Gedichten nun geradezu neu konstruiert: Das Sprachgefüge zerbrach, Selbststabilisierung vermittels der Tradition schien hier gerade nicht mehr möglich. Es ist kennzeichnend für die Lyrik nach Auschwitz, dass die Etablierung einer ›heilen Welt‹, die das nachgezeichnete Diskursfeld der 1950er Jahre bestimmte, wenn nicht als unmöglich, so doch, mit Adorno zu sprechen, als »barbarisch« erachtet wurde.24 Eine kritische Thematisierung dessen, was sich in der Vergangenheit hatte ereignen können oder was implizit noch weiterhin die Gegenwart bestimmte, galt den meisten als geboten. Bei jungen Verfasserinnen und Verfassern, die nach 1945 erstmals schrieben oder publizierten – das gilt auch für Ingeborg Bachmann –, kam hinzu, dass sie sich als eine um ihre Jugend betrogene Generation empfanden. Der Anschluss Österreichs an Nazideutschland fiel mit dem Ende von Bachmanns Kindheit zusammen, das Kriegsende erfolgte ein Jahr nach Ablegung ihrer Matura. Das Dritte Reich assoziierte

23 24

aus dem Jahr 1954; der in Deutschland gebräuchliche Titel des Films lautet Der Förster vom Silberwald). Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge (Anm. 11), 366. Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft [1951]. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild. Frankfurt a.M. 2003, 11–30, hier 30.

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Bachmann mit »Schuld- und Opferbewusstsein« gleichermaßen;25 ein anschaulicher Neubeginn durch eine Verdrängung der Erschütterung ist in ihrer Nachkriegslyrik nicht zu finden.26 Zwar gilt die Episteme ›Identitätssuche‹ für den literarischen Diskurs ebenso wie für die anderen Nachkriegsdiskurse; die diskursive Strategie jedoch, mit der in diesem Fall nach Halt gesucht wurde, weicht von der restaurativ orientierten ›Leitdifferenz‹, um ein Wort aus Luhmanns Systemtheorie in unseren Zusammenhang zu überführen, ebenfalls ihrer Tendenz nach ab. Besonders deutlich wird das anhand des bereits tangierten Heimatbegriffs, der in der Literatur auffallend divergent gewertet wurde, so dass hier eine archäologische Verlagerung kennzeichnend ist. Nicht Heimat, sondern Heimatlosigkeit und geographische Verlorenheit, Differenz anstelle von Identität beherrschten den Diskurs zumal bei jüngeren Verfasserinnen und Verfassern, die – man denke an Borcherts Drama Draußen vor der Tür (1947) – sich von im herkömmlichen Sinne verortbaren Heimaträumen ausgeschlossen fühlten. Stattdessen können wir beobachten, wie die Sprache nun als potenzielle Heimat und Identitätsstiftung erstrebt wird. Bei Bachmann heißt es dazu symptomatisch im Jahr 1955: Das Spielfeld ist die Sprache, und seine Grenzen sind die Grenzen der fraglos geschauten, der enthüllt und genau gedachten, der im Schmerz erfahrenen und im Glück gelobten und gerühmten Welt.27

Die Sprachphilosophie Wittgensteins ist für Bachmanns Auffassung zentral: Sätze vermögen nur Zeichen für die Wirklichkeit zu sein, nicht jedoch die Wirklichkeit selbst. »Sie sind nur Zeichen, die etwas bezeichnen, ohne mit dem Bezeichneten etwas gemeinsam zu haben.«28 Signifikat und Signifikant sind also arbiträr, und »die logische Form, die beiden« laut Wittgenstein »gemeinsam sein muß« und beider Verhältnis zueinander eine verlässliche Struktur gibt,29 sucht Ingeborg Bachmann als – nicht materielle, sondern immaterielle – Heimat in ihren Gedichten evokativ aufzuspüren. Heimat als sprachliche, alternative Konzeption: Dies ist ein Topos innerhalb des literarischen Diskurses, der uns z.B. durch die beiden Distichen Das deutsche Reich und Deutscher Nationalcharakter aus den Xenien von Goethe und Schiller 25 26 27 28 29

Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann (Anm. 1), 237. Vgl. z.B. auch die Gedichte Paul Celans, der mit seinem jüdischen Hintergrund noch weit persönlicher als Bachmann von Traumata betroffen war. Ingeborg Bachmann: Wozu Gedichte? [1955] In: Dies.: Werke. 4 Bde. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. 5. Auflage. München/Zürich 1993, Bd. 4, 304. Ingeborg Bachmann: Sagbares und Unsagbares – Die Philosophie Ludwig Wittgensteins [1954]. In: Dies.: Werke (Anm. 27), Bd. 4, 108. Ebd., 109.

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wohlvertraut ist.30 Als diskursive Strategie ist die sprachliche Heimatbestimmung bis in die Gegenwartsliteratur hinein charakteristisch.31 In den Gedichten Ingeborg Bachmanns, und dies gilt auch für die Italienlyrik, zu der wir nun namentlich kommen, wird indessen nicht allein der Heimatbegriff abstrahiert, sondern der Raumbegriff im Allgemeinen – analog zu dem Begriff der ›Reise‹. Konkrete Ortsbestimmungen werden in Bachmanns Italienlyrik raumsemantisch neu zu produzieren unternommen.32 3. Italien als abstrakte Utopie Ingeborg Bachmanns Italiengedicht Das erstgeborene Land (1956) artikuliert eine Differenz zwischen Heimat und Fremde, indem geographische und begriffliche Raumgrenzen kunstvoll im Ungewissen bleiben: In mein erstgeborenes Land, in den Süden zog ich und fand, nackt und verarmt und bis zum Gürtel im Meer, Stadt und Kastell. Vom Staub in den Schlaf getreten lag ich im Licht, und vom ionischen Salz belaubt hing ein Baumskelett über mir. Da fiel kein Traum herab. Da blüht kein Rosmarin, kein Vogel frischt sein Lied in Quellen auf. 30 31

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Zur Geschichte literarischer (und allgemein künstlerischer) Identitätsstiftung im deutschsprachigen Raum vgl. Dieter Borchmeyer: Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst. Berlin 2017. Zum literarischen Heimatbegriff der Nachkriegszeit bis hin zu Bernhard Schlinks Heimat als Utopie (2000) vgl. Thomas Anz: Heimatgefühle. Literarische Techniken der Emotionalisierung in der Repräsentation prototypischer Räume und Szenarien. In: Raum – Gefühl – Heimat. Literarische Repräsentationen nach 1945. Hg. von Garbiñe Iztueta u.a. Marburg 2017, 17–36. Es wäre aussichtsreich, das Phänomen der »Raumrepräsentationen« innerhalb des literarischen Diskurses der Nachkriegszeit insgesamt noch näher zu beleuchten und im Hinblick auf Bachmanns Autorfunktion zu spezifizieren, beispielsweise auch anhand der Theorie des literarischen Feldes von Bourdieu (relationale Positionsanalyse: Strategien und Positionskämpfe im literarischen Feld). Einer speziell lyrischen Problemstellung könnte z.B. systemtheoretisch nachgegangen werden (mit der Nachkriegslyrik als – qua etwaigem Binärcode – nachzuweisendem autopoietischen System).

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In meinem erstgeborenen Land, im Süden, sprang die Viper mich an und das Grausen im Licht. O schließ die Augen schließ! Preß den Mund auf den Biß! Und als ich mich selber trank und mein erstgeborenes Land die Erdbeben wiegten, war ich zum Schauen erwacht. Da fiel mir Leben zu. Da ist der Stein nicht tot. Der Docht schnellt auf, wenn ihn ein Blick entzündet.33

Das Gedicht »versperrt sich gegen eine Fixierung des evozierten Ortes, dessen Wert vor allem metaphorisch ist«:34 Die Ortsbestimmung zeigt sich hier ebenso dilatorisch wie die Relation von Heimat und Fremde. Habituell Getrenntes wird zusammengedacht, bekannte Italienräume werden als Erinnerungsorte überschrieben und alternative Raumsemantiken neu konstituiert. Dass mit dem »erstgeborenen Land« Italien gemeint ist, erschließt sich nur durch vage geographische Informationen, die in dem Gedicht gegeben werden, sowie durch Bachmanns biographischen Hintergrund. Eine konkrete Reise innerhalb Italiens, nach Kalabrien in ein Dorf namens Le Castella,35 dient, wie eingangs vorweggenommen, lediglich als Folie für die lyrische »Raumrepräsentation« eines überwiegend abstrakten, unbestimmten, klischeefernen Italienraums. Nicht nur das Land Italien wird in Bachmanns Gedicht »erstgeboren«, auch das lyrische Ich erfährt Italien als einen Ort der Wiedergeburt, die sich von der klassischen Tradition, wenn wir an Goethe denken, allerdings verfremdend absetzt. Nichts in diesem Italiengedicht ist ›klassisch‹; sogar der traditionelle Heimatbegriff des literarischen Diskurses wird unterlaufen, weil ›Heimat‹ in multiplen Lesarten aufscheint: als sprachlicher Abstraktionsraum zweifellos, aber auch und ebenso als mehrdeutige Meta-Lesart eines im herkömmlichen Sinne kartierbaren ›Heimatlandes‹.

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Ingeborg Bachmann: Das erstgeborene Land [1956]. In: Dies.: Werke (Anm. 27), Bd. 1, 119 f. Luigi Reitani: »… zum Schauen erwacht«. Ingeborg Bachmanns Italiengedicht Das erstgeborene Land. In: Ingeborg Bachmann. Weiter lesen und weiter schreiben. Hg. von Neva Šlibar. Ljubljana 2010, 196–204, hier 197. Ebd.

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Der Anfang des Gedichtes stellt »eine Umkehrung des traditionellen Topos vom ›locus amoenus‹ dar«,36 und doch sieht die Sprecherinstanz sich in diesem neu tradierten Italienraum genau am rechten Platz: Italien ist nicht mehr das Land der Kunst und der Schönheit, sondern der Ort, wo die Auseinandersetzung mit dem Leid stattfindet. Nicht die Antike und die Natur, sondern Armut und Erdbeben sind die Kennzeichen dieser Landschaft. […] Das erstgeborene Land ist jenes Land, das aus der Konfrontation der Literatur mit dem menschlichen Leid, und also mit dem erlebten Land, entsteht. Nicht die arme Landschaft der Wirklichkeit, sondern eine ersehnte Schönheit, welche utopisch bleibt und die Dramatik des Lebens nicht leugnet: Die Geburt der Utopie aus dem Geist des Schmerzes.37

Bachmanns Gedicht subvertiert die Wissensordnungen der Nachkriegsmoderne, indem es diesen vorsätzlich nicht entspricht. Von der klassischen Ausformung des Bildungsdiskurses (mitsamt der traditionellen Bildungsreise), von österreichischnationaler Selbststabilisierung, von einem Wirtschaftswunder oder Italien als soeben neu entdecktem Urlaubsland kann keine Rede sein; wohl aber und desto eindringlicher von einer »Poetik des Sehens«,38 die aus dem Schmerz erwächst und hierin dem literarischen Diskurs der Nachkriegszeit korrespondiert. Das erstgeborene Land wendet sich gegen die ›unerträgliche Leichtigkeit des Seins‹, welch Letztere die Augen aus Angst vor der Vergangenheit verschließt. Italien avanciert in diesem Gedicht zu einem Erinnerungsort, der – als Textraum – neu kartographiert wird; denn die individuelle und die kollektive Gedächtniskultur verschränken sich in dieser vornehmlich abstrakten ›Produktion des Raums‹, indem das kulturelle Italiengedächtnis mit alternativen, meta-materiellen Aussagen neu überschrieben wird. Bachmanns Gedicht Herbstmanöver (1953) thematisiert den Zweiten Weltkrieg explizit, indem es das Verdrängte, Marginalisierte nunmehr ausdrücklich ins Zentrum rückt. Auch hier geht es um eine Poetik des Hinschauens, darum, zeitgenössische Machtpraktiken als Eskapismus zu desavouieren und zu problematisieren. Und während Das erstgeborene Land vor allem das klassische Italienbild unterminiert, subvertiert Herbstmanöver den aufkommenden Massentourismus, der sich anschickte, als ›Kunst des Handelns‹ im Alltagswissen der 1950er Jahre Fuß zu fassen.39 Dass es sich um Italienlyrik handelt, eröffnen uns auch in diesem Gedicht nur sparsam verwendete geographische Bezüge und der biographische Hintergrund; Bachmanns erste Italienreise, die sie gemeinsam mit ihrer Schwester 36 37 38 39

Ebd., 201. Ebd., 202 f. Ebd., 196. Vgl. Michel de Certeau: Kunst des Handelns [1980]. Berlin 1988, wo in methodischer Anlehnung an die Diskursanalyse u.a. das Reisen als Grundlage der Populärkultur beschrieben wird.

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Isolde unternommen hatte, lag unmittelbar zurück, so dass die Versuchung der Verdrängung, von welcher Herbstmanöver handelt, auch Ingeborg Bachmann selbst vertraut war. Ich sage nicht: das war gestern. Mit wertlosem Sommergeld in den Taschen liegen wir wieder auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit. Und der Fluchtweg nach Süden kommt uns nicht, wie den Vögeln, zustatten. Vorüber, am Abend, ziehen Fischkutter und Gondeln, und manchmal trifft mich ein Splitter traumsatten Marmors, wo ich verwundbar bin, durch Schönheit, im Aug. In den Zeitungen lese ich viel von der Kälte und ihren Folgen, von Törichten und Toten, von Vertriebenen, Mördern und Myriaden von Eisschollen, aber wenig, was mir behagt. Warum auch? Vor dem Bettler, der mittags kommt, schlag ich die Tür zu, denn es ist Frieden und man kann sich den Anblick ersparen, aber nicht im Regen das freudlose Sterben der Blätter. Laßt uns eine Reise tun! Laßt uns unter Zypressen Oder auch unter Palmen oder in den Orangenhainen zu verbilligten Preisen Sonnenuntergänge sehen, die nicht ihresgleichen haben! Laßt uns die unbeantworteten Briefe an das Gestern vergessen! Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber unrecht, mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Hause. Im Keller des Herzens, schlaflos, find ich mich wieder auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit.40

Die auffallenden Genitivmetaphern, welche die Lyrik der Nachkriegszeit kennzeichnen, finden sich auch in Herbstmanöver: »Gegen eine Metaphorik, die ›natürlich‹ erscheinen will, wird eine gesetzt, die das Kalkül erkennen läßt«.41 Das betrifft auch die Kulturtechniken des Kartographierens, die eine neue, differenzielle Gedächtnis- und Erinnerungskultur verfolgen: eine solche, die Italien und seine – jetzt ausdrücklich touristischen – Verlockungen nicht nur als Flucht vor der Vergangenheit begrüßt. Italien wird in Bachmanns Lyrik zu einem unwirklich 40 41

Ingeborg Bachmann: Herbstmanöver [1953]. In: Dies.: Werke (Anm. 27), Bd. 1, 36. Kurt Bartsch: Lyrik als Ort des ›Gedächtnisses‹. Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht Herbstmanöver. In: Littérature, civilisation, linguistique aux concours d’allemand 1997. Hg. von Eugène Faucher und Jacques Lajarrige. Nancy 1997, 359–365, hier 363.

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anmutenden, ambivalenten und mysteriösen Sehnsuchtsland, das für die wahrnehmende Gedankenreise zu sich selber, für die unbestimmte Suche nach der eigenen verlorenen Identität und »Schönheit« steht. Insofern kann Italien als terra incognita, ähnlich wie die deutsche Sprache, fast schon heimatliche Züge annehmen, weil beider tertium comparationis für Bachmann die unscharfe Entgrenzung als Konstruktion abstrakter Räume ist. Bachmanns ›Italienische Reise‹ legt dem Leser in Gedichtform exemplarisch jenen »Zauberatlas« vor, »den nur die Literatur sichtbar macht«: So lesen wir in Bachmanns wenige Jahre später gehaltener Frankfurter Poetikvorlesung Der Umgang mit Namen (1960). Bachmann führt dort aus: »Diese Landkarte deckt sich nur an wenigen Stellen mit den Karten der Geographen. Freilich sind auch Orte darauf eingetragen, die der gute Schüler kennt, aber auch andere, die kein Lehrer kennt«,42 und um eben diese ist es Bachmann in ihren Italiengedichten zu tun. In einer anderen ihrer Frankfurter Poetikvorlesungen, die den Titel Fragen und Scheinfragen trägt (1959), erläutert Bachmann ihr Differenz-Denken wie folgt: Poesie wird […] bitter von Sehnsucht sein müssen, um an den Schlaf der Menschen rühren zu können. Wir schlafen ja, sind Schläfer, aus Furcht, uns und unsere Welt wahrnehmen zu müssen. […] Hie Innerlichkeit und Sinnbezüge, Gewissen und Traum – da Nützlichkeitsfunktion, Sinnlosigkeit, Phrase und sprachlose Gewalt. Denken Sie nicht aus einem Grund, das ist gefährlich – denken Sie aus vielen Gründen.43

Denn, so eine weitere Aussage Bachmanns aus ihrer Rede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar aus dem gleichen Jahr 1959: Aufgabe der Literatur sei es nicht, den Schmerz zu leugnen, seine Spuren zu verwischen, über ihn hinwegzutäuschen. Er muß ihn, im Gegenteil, wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen. […] Wir sagen sehr einfach und richtig, wenn wir in diesen Zustand kommen, den hellen, wehen, in dem der Schmerz furchtbar wird: Mir sind die Augen aufgegangen. Wir sagen das nicht, weil wir eine Sache oder einen Vorfall äußerlich wahrgenommen haben, sondern weil wir begreifen, was wir doch nicht sehen können.44

Die Poetik des Hinsehens, der Ingeborg Bachmann sich verpflichtet, kann keine äußerlich wahrnehmbare sein, weil es darauf ankommt, stattdessen innerlich zu schauen; so dass denn die abstrakten Texträume in Bachmanns Italienlyrik – als multiple Raumsemantiken und ambige Mehr-Ebenen-Raumkonzepte – darauf abzielen, »zu begreifen, was wir doch nicht sehen können«. Der »Zauberatlas« 42 43 44

Ingeborg Bachmann: Der Umgang mit Namen [1960]. In: Dies.: Werke (Anm. 27), Bd. 4, 239. Ingeborg Bachmann: Fragen und Scheinfragen [1959]. In: Dies.: Werke (Anm. 27), Bd. 4, 197 f. Ingeborg Bachmann: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar [1959]. In: Dies.: Werke (Anm. 27), Bd. 4, 275.

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in Bachmanns Kulturtechniken des Kartographierens steht für diese Unbestimmbarkeit. Man könnte sagen: Die Sprache in Bachmanns Italiengedichten erweist sich im Sinne des Poststrukturalismus stets als eine »Double«, um avant la lettre mit Julia Kristeva zu sprechen.45 Eine in sich geschlossene Bedeutung, ein stabiles Zugehörigkeits- und Sicherheitsbewusstsein, kurzum: ›Heimat‹, existiert nicht. So sehr Bachmann den Differenz-Gedanken als poetisches Prinzip und subversive Strategie des literarischen Diskurses affirmiert: Als Kontingenzprinzip der Existenz sucht sie die Differenz jedoch auch gleichzeitig zu überwinden (und unterscheidet sich in diesem Punkt markant von einer poststrukturalistischen Betrachtungsweise). Ein gleichsam lyrisches ›Prinzip Hoffnung‹ kennzeichnet Bachmanns »Poetik des Sehens«. Bei Bloch, so lesen wir, lebt der Mensch noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor der Erschaffung der Welt, als einer rechten. […S]o entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.46

Aus Blochs konkreter Utopie a priori wird in Bachmanns Italienlyrik eine abstrakte Utopie a posteriori. Literatur als Utopie lautet denn auch eine weitere ihrer Frankfurter Poetikvorlesungen aus dem Jahr 1960. Die Identitätssuche dokumentiert sich bei Bachmann in keinem geographischen, konkreten Land, in keiner territorial bestimmten Nationalität und ebenso in keiner Landschaft, keiner Stadt und keinem sonstigen dinghaften Raum; vielmehr avanciert die Sprache zum voluntativen Heimatraum, der freilich nur durch Abstand zum physischen Heimatraum asymptotisch konzipierbar wird – vermittels abstrahierender Verfremdung. In der bereits zitierten Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden, Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar (1959), äußert sich Bachmann über ihr Utopie-Verständnis wie folgt: Der Wunsch wird in uns wach, die Grenzen zu überschreiten, die uns gesetzt sind. […] Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. Daß wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf, meine ich, kommt es an; daß wir uns orientieren an einem Ziel, das freilich, wenn wir uns nähern, sich noch einmal entfernt.47

45 46 47

Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman [1967]. In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hg. von Dorothee Kimmich. Stuttgart 1996, 334–348, hier 341. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Frankfurt a.M. 1969 [1954–1959], Bd. 3, 1628. Ingeborg Bachmann: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. In: Dies.: Werke (Anm. 27), Bd. 4, 276.

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Hierfür finden wir in Bachmanns Italiengedicht In Apulien (1956) ein Beispiel: Unter den Olivenbäumen schüttet Licht die Samen aus, Mohn erscheint und flackert wieder, fängt das Öl und brennt es nieder, und das Licht geht nie mehr aus. […]48

Es ist bezeichnend, dass diese Utopie in Reimen, und zwar in umarmenden Reimen, formuliert ist; sie bilden in diesem Gedicht – buchstäblich – den Rahmen für eine ersehnte und zugleich abstrakt bleibende Heimat, für eine entfernt aufscheinende Harmonie, in welcher ›Heim‹ und ›Reim‹ auf unwirkliche Weise wieder zusammenfinden können. Erneut fungiert der evozierte Raum hier vorrangig als Meta-Raum, und das zugrundeliegende reale Reiseziel, Apulien, weicht ebenso von den Destinationen der klassischen italienischen ›Tour‹ wie von den Sehnsuchtsorten zeitgenössischer Italienurlauber ab. Apulien – als Synonym gerade für wirtschaftliche Kalamitäten, für die »rituelle und magische Dimension der bäuerlichen Bevölkerung«, für den »volkstümlichen Aberglauben des Südens« –49 wird in Bachmanns »Zauberatlas« dergestalt zu einer geistig produzierten Landschaft, welche die Geburt der Utopie aus dem Geist des Elendes thematisiert: ein differenzieller Italienbezug auch hier. Und auch hier entscheidet nur der jeweilige Kontext über die Bedeutung von Metaphern. Auch kann in einem Gedicht ein Bild verschiedene Bedeutungen annehmen. In diesem Zusammenhang wird von Bildbrechung gesprochen, die ein typisches Verfahren der Autorin darstellt. Daher erscheint es unmöglich, [etwa] das Bild des Mohns [in diesem Italiengedicht] eingleisig aufzulösen […]. Der absolute und suggestive Wert der Metapher hängt gerade von ihrer Unbestimmbarkeit ab.50

In Bachmanns Kulturtechniken des Kartographierens hat ein Signifikant üblicherweise verschiedene Signifikate. Das aber heißt: Es gibt gar kein feststehendes Signifikat, nur die Differenzen von Signifikanten in einem offenen, abstrakten Raumsystem. Mit Derrida könnten wir sagen: »Spur« statt Substanz;51 doch ist es gerade

48 49 50 51

Ingeborg Bachmann: In Apulien [1956]. In: Dies.: Werke (Anm. 27), Bd. 1, 130. Luigi Reitani: Der Tarantelbiß. Zum Gedicht In Apulien. In: »In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort…«. Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns. Hg. von Primus-Heinz Kuchner. Wien/Köln/Weimar 2000, 172–183, hier 175. Ebd., 179. Jacques Derrida: Die différance [1972]. In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Hg. von Peter Engelmann. Stuttgart 1990, 76–113, hier 104.

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»Verbindlichkeit«,52 die Bachmanns Aussagen erstreben und unter deren Absenz, anders als in poststrukturalistischer Auffassung, gelitten wird. Den Schmerz zu überwinden, scheint nur in der Utopie möglich: als ›NichtOrt‹ in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs. Eine demgemäß abstrakte Szenerie entwirft auch ein anderes Italiengedicht mit dem Titel Römisches Nachtbild (1956): Hier können Frieden, Ausgeglichenheit und Glück aufscheinen, während ein weiteres Romgedicht, Brief in zwei Fassungen (1956), erneut den Zweifel, die Zweiheit und Zerrissenheit betont. »Ich bin inmitten – was erwartest du?«53 Allen italienischen Örtlichkeiten, seien diese in den Wissensordnungen der Nachkriegszeit als zentrale Erinnerungsorte verankert oder nicht, ist bei Bachmann bevorzugt »eine Transformation des erwarteten Horizonts gemeinsam, eine Neusemantisierung tradierter Kulturgeschichte mit individueller Erfahrung.«54 Dies geschieht, wie wir bereits gesehen haben, nicht allein in Bachmanns Italiengedichten. Was Rom betrifft, so unterläuft die differenziell akzentuierte Wahrnehmung auch in Bachmanns Essay Was ich in Rom sah und hörte, der aus dem Jahr 1955 datiert, die zeitgenössisch obligaten Rombilder: Hören und Sehen kreuzen sich »bald konstruktiv, bald destruktiv und ergänzen sich« zu einer Sprache, mit der aus Rom »Bekanntes verfremdet und in einem Prozeß der Wiederbeglaubigung durch das Subjekt erfahrbar gemacht wird.«55 Das bereits erwähnte Gedicht Römisches Nachtbild, in dem Äquilibristik möglich scheint, ist eine Reminiszenz an das traditionelle italienische Sonett (!): zwei Quartette, zwei Terzette, gleichzeitig jedoch reimlos und ohne festes Metrum. Größtmögliche Gegensätze, die Strenge und die Ordnung des Sonetts sowie die Ungebundenheit und Individualität der freien Rhythmen, scheinen sich hier tatsächlich klärend auflösen zu können. Es ist zudem ein Liebesgedicht, das auch inhaltlich Polaritäten harmonisch auszugleichen sucht, wobei die geographische Lokalisierung durch den Verweis auf »sieben Hügel« und den aufgeweichten Grund des Tibers abstrahiert wird: Wenn das Schaukelbrett die sieben Hügel nach oben entführt, gleitet es auch, von uns beschwert und umschlungen, ins finstere Wasser,

52 53 54 55

Ingeborg Bachmann: Fragen und Scheinfragen. In: Dies.: Werke (Anm. 27), Bd. 4, 199. Ingeborg Bachmann: Brief in zwei Fassungen [1956]. In: Dies.: Werke (Anm. 27), Bd. 1, 127. Bettina von Jagow: Ästhetik des Mythischen (Anm. 10), 133. Ebd., 134.

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taucht in den Flußschlamm, bis in unsrem Schoß die Fische sich sammeln. Ist die Reihe an uns, stoßen wir ab. Es sinken die Hügel, wir steigen und teilen jeden Fisch mit der Nacht. Keiner springt ab. So gewiß ist’s, daß nur die Liebe und einer den andern erhöht.56

Oben und unten vereinen sich in diesem Italiengedicht in der Pendelbewegung des Wir, der Satz »Keiner springt ab« weitet die Utopie »ins Unendliche aus und macht die Bewegung im Raum unendlich wiederholbar.«57 In einem abstrakten, unwirklichen Rom scheint die ersehnte innere Balance fern und nah zugleich, ja wird erst durch die Mediatisiertheit überhaupt erdenklich: der »Einklang von ›Steigen‹ und ›Sinken‹ in der Schaukelbewegung«, der »Einklang des einen mit dem anderen in der Liebe«.58 Der mit der Stadt Rom beispielhaft verbundene Bildungsdiskurs wird bei Bachmann, wie wir gesehen haben, durchweg unterminiert; das Gedicht Römisches Nachtbild reflektiert Goethes Römische Elegien darüber hinaus auf einer noch weiteren, erotisch abweichenden Ebene der Abstraktion. Und auch die Architextualität im Sinne Genettes weicht ab, indem hier keine Elegie, sondern ein – verfremdetes – italienisches Sonett vorliegt. Die Italiengedichte Ingeborg Bachmanns kultivieren eine Art der Grenzüberschreitung, die sich als sprachliche, begriffliche im Sinn der Differenz versteht. Texträume, nicht geographische Räume werden vermessen und in einem »Zauberatlas« aus Erinnerungskultur und Utopie lyrisch dokumentiert. Eine Garantie für die gelingende Synthese gibt es freilich nicht.59

56 57 58 59

Ingeborg Bachmann: Römisches Nachtbild [1956]. In: Dies.: Werke (Anm. 27), Bd. 1, 128. Antonella Gargano: Wahrnehmung und Symbolik. Bachmanns Römisches Nachtbild. In: »In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort…« (Anm. 49), 184–191, hier 188. Ulrich Thiem: Die Bildsprache der Lyrik Ingeborg Bachmanns. Diss. masch. Universität zu Köln 1972, 162. In dem Italiengedicht Schwarzer Walzer (1956) missglückt die habituelle Verschränkung der Wahrnehmung, wie bereits der Titel andeutet, und mit ihr die ansonsten bezeichnende Transformation des Erwartungshorizonts. Grundlage dieses Gedichtes ist die Stadt Venedig, die im perzeptuellen Gedächtnis des lyrischen Ich mit der Walzerstadt Wien assoziiert wird. In dieser Konstruktion multipler Raumsemantiken entsteht keine ungewohnte ›Produktion des Raums‹, in dem bekannte Italienräume subversiv überschrieben und alternative Lesarten neu konstituiert werden. Stattdessen verdoppelt sich der (spätestens seit der Lyrik August von Platens) jetzt

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Italien fungiert in Bachmanns Gedichten als abstrakte Utopie. Während das Land jenseits der Alpen traditionell immer als Heterotopie verstanden worden war und in den 1950er Jahren die zeitgenössischen Diskursformationen vor allem im Hinblick auf den beginnenden Massentourismus prägte, ist für die Italienlyrik Ingeborg Bachmanns das Konzept der Utopie im Sinne des »Zauberatlasses« zentral. Utopien, so Foucaults Topologie, sind – im Gegensatz zu Heterotopien – als »Orte ohne realen Ort […] zutiefst irreale Räume«.60 In der ersten Fassung seiner Ausführungen zu differenziellen Räumen hatte Foucault dies noch detaillierter und ganz ähnlich wie Bachmann ihrerseits erläutert: Es gibt also Orte ohne Ort, und Geschichten ohne Chronologie. Es gibt Städte, [Regionen, Länder,] Planeten, Kontinente, Universen, die man auf keiner Karte und auch nirgendwo am Himmel finden könnte, und zwar einfach deshalb, weil sie keinem [materiellen] Raum angehören. Diese Städte, [Regionen, Länder,] Kontinente und Planeten sind natürlich, wie man so sagt, im Kopf der Menschen entstanden oder eigentlich im Zwischenraum zwischen ihren Worten, in den Tiefenschichten ihrer Erzählungen oder auch am ortlosen Ort ihrer Träume, in der Leere ihrer Herzen, kurz gesagt, in den angenehmen Gefilden der Utopien.61

Dabei ist das andersartige Italien, das sich von den dominierenden Wissensordnungen der 1950er Jahre absetzt, bei Bachmann immer ein fragiles Sehnsuchtsland: eine äußerst diffizile Konstruktion, die stetig der Gefährdung ausgesetzt ist, vom alten »Lastbewußtsein«62 eingeholt zu werden. Diese Daseinsschwere hatte bereits Bachmanns lyrische Anfänge vor Kriegsende durchzogen: »Steige ich, so steig ich hoch / Falle ich, so fall ich ganz«.63 Insofern variiert Bachmanns Italienlyrik das Fazit von Gottfried Benns spätem Gedicht Reisen: dass eine Reise keine

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durchaus klischeekonforme Eindruck von Venedig als Stadt der Morbidität, als Ort omnipräsenter Vergangenheitsschwere. Abstrakte Heimat und Identitätsstiftung sind in Schwarzer Walzer keine Utopie mehr, sondern werden zur Unmöglichkeit. Bachmanns »Poetik des Sehens«, die eine Poetik des differenziellen Sehens ist, gelangt hier an ihre Grenzen. Vgl. hierzu Mathias Mayer: Ein Tod in Venedig. Ingeborg Bachmanns Schwarzer Walzer. In: Ders.: Werke von Ingeborg Bachmann. Stuttgart 2002, 81–93, hier 85: »Die Vision einer Begegnung, der Geschlechter, von Abendund Morgenland, von oben und unten, von Stein und Vogel, von Musik und Farbe – löst sich am Ende in die paradoxe Musik der Stille und der Pausen auf […]. Der Syntheseversuch ist an sein Ende gekommen.« Michel Foucault: Von anderen Räumen (Anm. 5), 320. Michel Foucault: Die Heterotopien [1966]. In: Ders.: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Frankfurt a.M. 2013, 9–22, hier 9. Ingeborg Bachmann: Ich frage [aus dem Nachlass; undatiertes Jugendgedicht]. In: Dies.: Werke (Anm. 27), Bd. 1, 626. Ingeborg Bachmann: Ich [aus dem Nachlass; entstanden 1942/1943]. In: Dies.: Werke (Anm. 27), Bd. 1, 623.

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Gewähr bieten könne, sich selbst zu finden. Dies gilt sowohl für konkrete, geographische als auch für abstrakte Transgressionen. Der verfremdende Abstand multipler, unbeanspruchter Italienräume wird in Bachmanns Lyrik zur Voraussetzung für das utopische Gewahrsein eines heimatlichen »Spielfeldes« der Sprache.

II. Spatiale Explorationen

Wilde Ritte durch die Nacht, Fahrten tief hinein ins Gebirg Sidonia Hedwig Zäunemanns gedichtete Expeditionen in und unter den Thüringer Wald (1737) SONJA KLIMEK Wozu hat uns die höchste Kraft Verstand und Muth ins Herz gegeben, Als daß wir auch nach Wissenschaft, Und edlen Werken sollen streben? Wie manches Frauenbild macht Kiel und Blat bekant; Wie manches ist durch Helden-Thaten Ins Buch der Ewigkeit gerathen. Spieß, Degen, Blat und Kiel schmückt auch die Weiber-Hand.1

1. Sidonia Hedwig Zäunemann, geboren 1711 in Erfurt und gestorben 1740 auf Reisen, gehörte zu den ›gelehrten Frauenzimmern‹ der Frühaufklärung. Die Dichterin, die bis heute jenseits der historischen Frauenliteraturforschung weitgehend unbekannt ist,2 trat vor allem mit ihrem 1738 anlässlich ihrer kaiserlichen Dichterinnen-Krönung veröffentlichten, mit gut 600 Seiten beachtlich voluminösen Gedichtband Poetische Rosen in Knospen hervor. Die gesamte öffentliche Inszenierung ihrer Person zielte auf ihre Selbstermächtigung als schreibende Frau ab. Zäunemann bewegte sich nachweislich mehrfach zwischen ihrem Wohnort Erfurt und dem Städtchen Ilmenau im Thüringer Wald hin und her, in dem ihre verheiratete Schwester lebte. In Ilmenau trat sie dazu mehrfach eine ›Fahrt‹ unter Tage an, indem sie sich offiziellen Bergwerksbegehungen durch die Verwaltungsobrigkeit anschloss. Über diese Reisen und Expeditionen verfasste sie anschließend stark autobiographisch inszenierte aufklärerische Lehrgedichte, die z.T. als Separatdrucke erschienen und später dann auch, in teilweise überarbeiteter Form, in ihre Poetischen Rosen in Knospen aufgenommen wurden. Diese Texte können 1 2

Sidonien Hedwig Zäunemannin, Kayserlich gekrönter Poetin: Poetische Rosen in Knospen. Erfurt 1738, 571. Vgl. für einen Forschungsüberblick Sabine Koloch: Rollenspektrumerfassung – eine heuristische Methode zur Erschließung des Wirkungspotenzials von Autor/inn/en am Beispiel von Sidonia Hedwig Zäunemann: mit Randbemerkungen zur Krise der literaturwissenschaftlichen Germanistik und mit Vorschlägen zu einem Literaturlexikon der Zukunft. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 48,1 (2016), 73–120, besonders 110–116.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_8

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als frühe Beispiele für Reiselyrik von Frauen angesehen werden. Es handelt sich um narrative Gedichte, die die Ortsveränderung des ›Ichs‹ als temporal und sinnhaft verknüpfte Abfolge von Ereignissen darstellen und den Eindruck erzeugen, authentische ›Egodokumente‹ zu sein. Sie evozieren die Vorstellung einer Sprechinstanz (einer sich als ›Ich‹ im Gedicht äußernden Person), die mit der empirischen Autorin Zäunemann identisch sein soll. Historisch fällt die Lyrik Zäunemanns damit aus dem Rahmen des Üblichen: Bis ins späte 18. Jahrhundert hinein gab es bekanntlich noch keine Apodemik (d.h. keine ›Reisetheorie‹ im frühneuzeitlichen Sinne) speziell für Frauen.3 Die meisten bürgerlichen Damen reisten höchstens ein einziges Mal in ihrem Leben, nämlich anlässlich ihrer Verheiratung, zwecks Übersiedlung aus dem Haushalt des Vaters ins Haus ihres Ehemanns.4 Reisen für Verwandtenbesuche kamen unter bürgerlichen wie adligen Frauen zwar gelegentlich auch in späteren Lebensabschnitten noch vor. Sie waren aber eher selten. Forschungsreisen nach Übersee, wie sie etwa die Insektenmalerin und Kupferstecherin Maria Sibylla Merian 1699 bis 1701 in Begleitung ihrer Tochter nach Surinam unternahm, bildeten die absolute und viel bestaunte Ausnahme.5 Geschäfts- oder Dienstreisen erledigten adlige wie bürgerliche Männer im frühen 18. Jahrhundert meist ohne ihre Gattinnen – selbst dann, wenn diese Reisen die Ehemänner häufig für mehrere Monate oder gar Jahre von Wohnort und Familie entfernten.6 Zwar schrieb Zäunemann für den Curieusen und immerwährenden astronomisch-meteorologisch-oeconomischen Frauenzimmer3

4

5 6

Vgl. Irmgard Scheitler: Gattung und Geschlecht. Reisebeschreibungen deutscher Frauen 1780– 1850. Tübingen 1999, 25. – Von den populären Prosa-Reisebeschreibungen von Frauen um 1800 unterscheidet sich Zäunemanns Reiselyrik u.a. auch dadurch, dass sie noch nicht durch Geschlechterstereotype wie Empfindsamkeit und Subjektivität in der Darstellungsweise geprägt ist, wie sie später im Zuge der Rousseau-Rezeption festgeschrieben wurden. Hierbei handelt es sich strenggenommen jedoch, da keine Rückkehr geplant war, nicht um Reisen, sondern um Umzüge. Dies sind Ortsveränderungen, die durchaus außerhalb wie innerhalb der Ehe vorkommen konnten. Da das Ziel einer solchen Reise jedoch nicht kurzfristig besucht, sondern langfristig bewohnt werden sollte, kann man hier kaum von ›Reisen‹ im Sinne einer zeitlich begrenzten Ortsveränderung mit dem Ziel der Heimkehr sprechen. Vgl. Barbara Beuys: Maria Sibylla Merian. Künstlerin, Forscherin, Geschäftsfrau. Berlin 2016. Eine Ausnahme von diesem weiblichen Abstehen von Mobilität bildeten einige Ehefrauen von höheren Militärs: Von ihnen ist überliefert, dass sie ihre Männer manchmal ins Feld begleiten mussten. Eine von diesen mitreisenden Ehefrauen war die Leipzigerin Christiana Mariana von Ziegler, als Dichterin ein Vorbild für Zäunemann. Was ein solches unstetes Wanderleben im Feldlager unter Soldaten für eine adlige Offiziersgattin bedeutet haben mag, kann man einem Sendschreiben Zieglers entnehmen, in dem diese einer namentlich nicht genannten Freundin ihr Mitgefühl dafür ausspricht, dass diese nun erneut mit ihrem Ehemann ins Feld ziehen müsse: Nun beginne, so schreibt Ziegler, das »schwer[e]« Leben im »Zelt« wieder; sie könne sehr gut verstehen, dass die Freundin sich »im rechten Ernst nach einem ruhigen und ordentlichen Leben ganz gewiß sehnen, und sich einen beständigen Aufenthalt einmahl wünschen« werde. (Christianen Marianen von Ziegler: Moralische und vermischte Send-Schreiben, an einige Ihrer vertrauten und guten Freunde gestellet. Leipzig 1731, 89 f.).

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Reise- und Hand-Calender von 1737, der vom Verleger Johann Michael Funke in ihrer Heimatstadt herausgegeben wurde, ein Einleitungsgedicht. Doch der Name täuscht: In diesem Nachschlagewerk geht es nicht um das Reisen von Frauen. Das Buch enthält vielmehr astrologische Ausführungen, einen immerwährenden Kalender, diverse Umrechnungstafeln für Währungen, Maße und Gewichte sowie allerlei praktische Anleitungen für Verrichtungen in Küche, Hof und Wäschekammer (z.B. für den Bau eines Thermometers oder eines Kalenders mit Drehscheiben, die Angaben für erfolgreiches Einpökeln und Tranchieren von Fleisch etc.). Auch Zäunemanns Eingangsgedicht thematisiert nicht das Reisen, sondern variiert nur ein sehr allgemeines Lob auf den Buchdruck, das Lesen und die Bildung – und dies nicht einmal speziell an die im Titel doch genannten Frauen gerichtet, sondern zunächst einmal allgemein an den »Geehrte[n] Leser!«7 Erst in den Schlussversen wird erwähnt, dass sich dieses durch viele praktische und populärwissenschaftliche Inhalte so »nützliche[…] und schöne[…] Buch« speziell an »Frauenzimmer« richte, welche somit explizit zu seiner Lektüre aufgefordert werden.8 Sidonia Hedwig Zäunemann wurde nie verheiratet und zog auch aus keinem anderen Grund jemals um. Sie wohnte ihr gesamtes Leben lang im Haushalt ihres Vaters, eines gebildeten Notars aus der Erfurter Mittelschicht. Nach eigenen Angaben weigerte sie sich, einen der angeblich durchaus zur Verfügung stehenden Freier zu heiraten, und blieb stattdessen aus Überzeugung ledig, was in ihrer Zeit als »äußerst ungewöhnlich« galt.9 Wie so oft bei Frauen in der Frühen Neuzeit, so hatte wohl auch bei der Zäunemann das Erlangen von Bildung einerseits von den finanziellen Mitteln im Elternhaus und andererseits vom Wohlwollen männlicher Familienangehöriger abgehangen: Unterricht erhielten junge Frauen nur, wenn sie bei den für ihre Brüder bestellten Hauslehrern ›mitlernen‹ durften oder wenn sich ein Familienmitglied dazu bereitfand, auch die Mädchen des Haushalts zu unterrichten. Welche dieser Varianten bei Zäunemann zutraf, lässt sich in der Rückschau nicht sagen. Doch kann man aus ihren Werken schließen, dass sie sich rudimentär in der antiken Mythologie auskannte, vor allem die neuere deutschsprachige Literatur gelesen hatte und sich mit dem politischen, durchaus auch dem 7

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Curieuser und immerwährender astronomisch-meteorologisch-oeconomischer FrauenzimmerReise- und Hand-Calender […]. Mit einer Vorrede von Mademoiselle Sidonia Hedwig Zäunemannin. Erfurt 1737, Vorrede, unpaginiert. (Zit. nach dem Digitalisat der SLUB Dresden: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/75865/15/0/; letzter Zugriff: 27.06.2019). Ebd., Ende der Vorrede, unpaginiert. Nikola Roßbach: Wissen, Medium und Geschlecht. Frauenzimmer-Studien zu Lexikographie, Lehrdichtung und Zeitschrift. Bern u.a. 2015, 119. – Vgl. zum ›Jungfernstand‹ (Das andere angeführte Beispiel, die oben genannte Christiana Mariana von Ziegler, wurde erst als finanziell abgesicherte Witwe publizistisch tätig) auch Katherine R. Goodman: Amazons and Apprentices. Women and the German Parnassus in the Early Enlightenment. Rochester, NY/Woodbridge 1999, 129: »For Zäunemann, as for Ziegler, the unmarried state represented freedom. If you could afford it, it guaranteed freedom from wifely obligations.«

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kriegerischen Tagesgeschehen intensiv beschäftigte. Latein- und FranzösischKenntnisse kann man in ihrem Werk dagegen nicht nachweisen.10 Die erstaunlich rege Publikationstätigkeit der Erfurterin wurde möglich, weil in der Frühaufklärung das Streben patrizischer oder adliger Mädchen und Damen nach einer gewissen Teilhabe an Bildung und öffentlicher Kommunikation durchaus von einigen zentralen Persönlichkeiten begrüßt und gefördert wurde. So erwarb sich die hochbegabte junge Frau auch über ihre Vaterstadt hinaus – zumindest im nord- und mitteldeutschen Raum – schon bald einen gewissen Ruf als Sinnbild weiblichen Unabhängigkeitsstrebens. So wurde u.a. bereits 1733 der Leipziger Poetikprofessor Johann Christoph Gottsched auf die damals 22-Jährige aufmerksam und versuchte, in Kontakt mit der jungen Dichterin zu treten. Gottscheds Absicht war es damals, im kulturellen Wettstreit mit Frankreich gezielt auch im deutschsprachigen Raum ›gelehrte Frauenzimmer‹ ausfindig zu machen, sie zu fördern und durch Unterstützung bei der Publikation die Sichtbarkeit ihrer Werke in der Öffentlichkeit zu erhöhen. Die Befürwortung von Frauenbildung und das publizistische Hervortreten junger Autorinnen waren jedoch auch innerhalb aufklärerischer Zirkel nicht unumstritten: So wurden etwa Gottscheds Bestrebungen von Seiten der Erfurter Deutschen Gesellschaft – einer Tochtergründung der von Gottsched damals präsidierten Deutschen Gesellschaft in Leipzig – nicht unterstützt, die Kontaktaufnahme des etablierten Literaturpolitikers zur noch wenig bekannten Nachwuchsdichterin wurde vereitelt.11 In den 1730er Jahren waren dichtende Frauen zwar noch eine Seltenheit, aber mit den Publikationen der Christiana Mariana von Ziegler und nicht zuletzt auch der Luise Adelgunde Victorie Gottsched gab es doch auch in Zäunemanns unmittelbarer Gegenwart berühmte Vorbilder. Regional trat eine größere Zahl von Frauen mit kürzeren Gelegenheitspoesien im familiären oder städtischen Umfeld hervor. Gerade kurze Textsorten wie Glückwunsch- oder Klagegedichte galten durchaus auch für Frauenzimmer als schicklich. Und schließlich wurde auch das

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Vgl. Koloch: Rollenspektrumerfassung (Anm. 2), 104, 117. – Vgl. auch Gisela Brinker-Gabler: Das weibliche Ich. Überlegungen zur Analyse von Werken weiblicher Autoren mit einem Beispiel aus dem 18. Jahrhundert: Sidonia Hedwig Zäunemann. In: Die Frau als Heldin und Autorin. Neue kritische Ansätze zur deutschen Literatur. Hg. von Wolfgang Paulsen. Bern/München 1979, 55–65, hier 58. Vgl. Detlef Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds. Tübingen 2002, 251. – Ein späterer Versuch von Zäunemann, in die Deutsche Gesellschaft in Jena aufgenommen zu werden, scheiterte an deren Grundsatz, prinzipiell keine Frauen aufzunehmen. Vgl. Felicitas Marwinski: Gelehrte Frauen in der Deutschen Gesellschaft zu Jena. Die Gruppe um Anna Christina Ehrenfried von Balthasar. Trägerin des Titels der »Baccalaurea artium et philosophiae«. In: Frauen, Philosophie und Bildung im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Sabine Koloch. Berlin 2010, 219–253, hier 224.

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Verfassen von ›Geistlichen Gedichten‹ akzeptiert, galt die Erbauungsliteratur traditionell doch als geeignete Lektüre für Frauen.12 Der 1738 erschienene Gedichtband der damals 27-jährigen Sidonien Hedwig Zäunemannin, Kayserlich gekrönter Poetin, Poetische Rosen in Knospen ist denn auch zeittypisch gegliedert in eine Abteilung »Geistliche Gedichte« (3–151) und eine nicht explizit als ›Weltliche Gedichte‹ bezeichnete Gruppe aus insgesamt vier weiteren Abteilungen, die nach dem Anlass (dem ›casus‹ der Kasualpoesie) geordnet sind: 1. »Leichengedichte« (d.h. Klage- und Trostgedichte bei Todesfällen; 153–210), 2. Gratulationen in Form von »Hochzeit-Gedichte[n]« (213–275) und 3. als Sammelbecken eine Gruppe von »Lob-[,] Ehren- und Glückwünschende Gedichte[n]« (zu diversen Anlässen wie akademischen Promotionen und beruflichen Erfolgen, Grüße und Glückwünsche zu Namens-, Geburts- und Neujahrstagen, aber auch bei Abreisen von Privatpersonen oder Herrschern etc.; 277–470). Aufschlussreich ist die letzte Abteilung der ›Weltlichen Gedichte‹ mit dem Sammelnamen »Vermischte Gedichte« (473–638). Hierin finden sich zahlreiche panegyrische Gedichte auf Ereignisse aus dem Polnischen Erbfolgekrieg (1733–1738) und dem dahinterstehenden Kampf zwischen dem französischen Königshaus und dem habsburgisch-österreichischen Kaiser (der die sächsischen Ansprüche auf die polnische Krone unterstützte) um die Vormachtstellung in Europa. Als Erfurterin war Zäunemann Untertanin des Erzbischofs und Kurfürsten von Mainz, der mit dem sächsischen Herrscher verbündet war, doch nahm man ihr als Jungfer ihre leidenschaftliche Parteinahme für die Sache des sächsischen Kurfürsten sehr übel: Mit Gedichten Auf die Abziehung derer hiesigen Churfürstl. Maynzischen Soldaten nach den Rhein (484– 487) oder Auf die Belagerung und Eroberung der Reichs-Festung Kehl (494–497), »Soldaten Ode[n]« (479–482; 555–557) und einer »Soldaten Cantata« (519–521) sowie mit ihren diversen »Sendschreiben« an »Hochfürstliche Durchlaucht[en]« und »Exzellenz[en]« überschritt Zäunemann in den Augen ihrer Zeitgenossen definitiv die Grenzen der Schicklichkeit, was ihr noch 1752 Christoph Martin Wielands abschätziges Urteil, sie sei »eine halbe Amazon und Maitresse eines Sächsischen Herzogs« gewesen, einbrachte.13 Im Unterschied zur etwa zeitgleich dich-

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Vgl. Stephanie Blum: Poetologische Lyrik der Frühaufklärung. Gattungsfragen, Diskurse, Genderaspekte. Hannover 2018, 207 f. 1739 veröffentlichte Zäunemann aber mit Die von denen Faunen gepeitschte Laster eine 3200 Verse lange Satire auf tadelnswürdiges Verhalten von Männern und Frauen, womit sie in einer Gattung hervortrat, die per se als für Frauen völlig ungeeignet angesehen wurde. Vgl. Wielands Brief vom 2. Juni 1752 aus Tübingen an Volz, in dem Wieland sich beschwert, dass an der Universität in Göttingen nach Zäunemann erneut eine Frau, dieses Mal die »Jungfer Dilthey von Stadthagen«, gekrönt worden sei (Wielands Briefwechsel. Bd. 1: Briefe der Bildungsjahre 1750–1760. Hg. von Hans Werner Seiffert. Berlin 1963, 81–84, hier 83. Der Hinweis

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tenden und nur wenige Jahre älteren, dafür aber adligen und finanziell abgesicherten Christiana Mariana von Ziegler konnte es sich die ledige und somit für die Zeit nach dem Tod ihres Vaters völlig unabgesicherte Zäunemann nicht erlauben, nur zu ihrem eigenen Vergnügen und zur Verschönerung privater oder regionaler Feierlichkeiten zu dichten. Für Zäunemann war ihr Dichten eine quasi-professionelle Tätigkeit, mit der sie sich gezielt als gelehrte Dichterin bekannt machen musste, wenn sie ihr gewähltes Lebensmodell absichern wollte.14 So stand sie stets unter dem Druck, zu produzieren und zu publizieren und so eine Position im sich um 1730/40 aus dem Feld der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik emanzipierenden, distinkt ›literarischen Feld‹ zu erobern,15 aber vor allem adelige Gönner auf sich aufmerksam zu machen.16 Sie nutzte dafür alle ihr zur Verfügung stehenden medialen Kanäle, trat in gelehrten, aufklärerischen Wochenzeitungen hervor und ergriff auch sonst jede sich ihr bietende Chance zur strategischen Selbstdarstellung als ›gelehrtes Frauenzimmer‹. So enthält ihr Gedichtband von 1737 auch explizit keine der sonst üblichen Vorreden oder Rechtfertigungen von Männerhand, die die schreibende Frau in ihrem Tun legitimieren.17 Sidonia Hedwig Zäunemann wendete sich von Beginn an selbst an ihre Leserschaft. Durchaus kämpferisch inszenierte sie sich in ihrer Vorrede als Nachfolgerin der gleichaltrigen Italienerin

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auf diesen Brief findet sich bei Gisela Brinker-Gabler: Deutsche Dichterinnen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart [1978]. Frankfurt a.M. 21979, 44). – Dass Zäunemann »Maitresse eines Sächsischen Herzogs« gewesen sei, ist wohl eher Wielands Phantasie entsprungen. Die üble Nachrede zeigt jedoch, wie unangenehm die Jungfer Zäunemann mit ihrer offenen Werbung um Patronage ihrer dichterischen Tätigkeit ihren Zeitgenossen aufstieß. – Goodman (Amazons and Apprentices [Anm. 7], 5) merkt an, dass »Amazone« im 17. Jahrhundert eine vor allem in Frankreich geläufige Bezeichnung für gebildete Frauen war, die sich ›anmaßten‹, sich intellektuell mit Männern zu messen. Auch Zäunemanns frankophiles Vorbild Christiana Mariana von Ziegler sang in ihrem Gedicht Ob Einer Dame erlaubet In Waffen sich zu üben das Lob der »Amazonin« und identifizierte sich mit diesen Frauen: »In Männer-Hertzen wohnt nicht Hertz und Muth allein, / Das Frauenzimmer kan auch Heroinen seyn« und »den blancken Degen« wie den »Kiel« führen (Christiana Mariana von Ziegler: Versuch in gebundener Schreib-Art. Leipzig 1728, 42). Vgl. Anke Detken: Gekrönte Poetinnen. Gelegenheitsdichtung von Ziegler und Zäunemann. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Hg. von Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger und Jörg Wesche. Tübingen 2004, 263–281, hier 267. Vgl. dazu Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Berlin 2015, 517 f. Vgl. Brinker-Gabler: Das weibliche Ich (Anm. 10), 44 f.: »[M]it bürgerlicher Gelegenheitsdichtung war allenfalls ein Taschengeld zu verdienen. Überhaupt zeigt ihr Beispiel, daß es für eine Frau in der bürgerlichen Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts keine unabhängige Existenzmöglichkeit gab, wenn sie unverheiratet blieb. Sie konnte nur im Elternhaus leben wie Sidonia Zäunemann oder bei Verwandten als Haus- und Kindermädchen; war sie katholisch, stand ihr wenigstens noch der Weg ins Ordensleben offen.« Margaretha Susanna von Kuntschs 1720 in Halle erschienene Sämmtliche Geist- und weltliche Gedichte beispielsweise enthielten eine schon auf dem Titelblatt angekündigte »Vorrede von MENANTES« (Christian Friedrich Hunold), in der der bekannte Dichter mit der Autorität seiner Kennerschaft die Werke der Kuntsch dem Lesepublikum empfahl.

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Laura Bassi (1711–1778), die 1732 in Bologna zur Doktorin der Philosophie promoviert worden war und nun an der dortigen Universität als erste weibliche Professorin Europas Philosophie und Physik lehrte.18 Für die Zäunemann war es wichtig, sich auf starke, erfolgreiche Frauen als Vorbilder und Rechtfertigung für ihr eigenes, wenig demutvolles Tun zu berufen. So widmete sie ihren Gedichtband der damals alleinregierenden und unverheirateten Zarin von Russland, Kaiserin Anna Iwanowna. Der Gedichtband offenbart über Widmungsadressen und panegyrische Oden ein erstaunlich großes Netzwerk – oder zumindest die Ambition, sich ein solches Netzwerk zu schaffen – zu verschiedenen deutschen Herrscherfamilien. Bereits das Frontispiz des Gedichtbandes, der als ›Buch zur Krönung‹ inszeniert wird, zeigt die Dichterin in ihrer neuen Rolle als kaiserlich gekrönte »poeta laureata«.

Abbildung 1: Sidonien Hedwig Zäunemannin, Kayserlich gekrönter Poetin: Poetische Rosen in Knospen. Erfurt: Johann Heinrich Nonne, 1738 (Mit freundlicher Genehmigung der HAB Wolfenbüttel, Signatur M: Lo 8278)

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Vgl. John L. Flood: Poets Laureate in the Holy Roman Empire: A Bio-bibliographical Handbook. Vol. 4. Berlin 2006, 2283.

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Als Druckvorlage wurde ein älteres Portrait der Dichterin retuschiert, das 1735 in der Zeitschrift Hamburgische Berichte von neuen Gelehrten Sachen veröffentlicht worden war und auf dem sie ein Diadem statt des späteren Lorbeerkranzes trägt.19 Die Krönung war als Bekenntnis zur Frauengelehrsamkeit ein Teil der kulturpolitischen Großoffensive, mit der die neu gegründete ›Georgia Augusta‹ im Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg der Universität Leipzig im benachbarten Kursachsen den Rang der besten deutschen Aufklärungsuniversität ablaufen sollte. In den ersten 15 Jahren nach ihrer Gründung wurden an der GeorgAugust-Universität zu Göttingen nicht weniger als sieben Frauen in den Stand der kaiserlich gekrönten Dichterin erhoben. Zäunemann war die erste in dieser Reihe. Die ›Verleihung‹ von Doktorring und Lorbeerkranz erfolgte am 3. Januar 1738 allerdings ›in absentia‹, denn Frauen hatten keinen Zutritt zu den Universitätsgebäuden. Die Insignien ihrer neuen Würde wurden ihr, nebst einem prunkvollen Krönungsdiplom, am 11. Januar im Erfurter Rathaus durch den ranghöchsten Göttinger Studenten, Reichsgraf Heinrich XI. Reuß von Plauen, überreicht.20 Die Dichterkrone galt akademisch als Entsprechung zum Doktorat. Sidonia Hedwig Zäunemann wurde somit – zumindest pro forma, ohne eine Universität wie die in Göttingen überhaupt betreten zu dürfen – in die höheren akademischen Kreise aufgenommen. Die Inszenierungen Zäunemanns als Autorin zwischen männlich und weiblich konnotierten Rollenzuschreibungen sind jedoch nicht so eindeutig ›emanzipatorisch‹, wie es die anachronistische Rückprojizierung des modernen Begriffs glauben machen könnte: So zeigt das Frontispiz die Dichterin im kostbaren Rokoko-Gewand mit Schnürbrust und Wespentaille,21 die Schreibfeder in der zierlichen Hand. Diese piktorale Darstellung entspricht nicht dem bis anhin von ihr in der Öffentlichkeit verbreiteten Bild eines couragierten ›Mannweibes‹, war sie doch in der Zeitschrift Thüringische Nachrichten von Gelehrten Sachen22 dem Le-

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Abbildung im digitalen Portraitindex: http://www.portraitindex.de/documents/obj/oai:baa. onb.at:7750401; letzter Zugriff: 30.05.2018. Vgl. Flood: Poets Laureate (Anm. 18), 2284. – Die »bekannte katholische Universität in ihrer Heimatstadt Erfurt« nahm unterdessen »kaum Notiz von ihr« (Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500–1800). Stuttgart 1987, 272). Vielleicht handelt es sich um eines der Kleider, die die Herzogin von Sachsen-Weimar Zäunemann geschenkt hatte (vgl. Brinker-Gabler: Das weibliche Ich [Anm. 10], 63) und das Zäunemann somit als eine weitere Hommage an die edle Mäzenin für das Frontispiz ihrer Gedichtsammlung auswählte. Zum Wirken Zäunemanns in diesen aufklärerischen Zeitschriften vgl. Roßbach: Wissen, Medium und Geschlecht (Anm. 9), besonders 139–180 (Kapitel: »Mediale Präsenz, mediales Produkt: ›die berühmte Thüringische Tichterin, die Jungfer Zäunemannin‹ in den Hamburgischen Berichten von neuen Gelehrten Sachen«). – Hier sind alle Beiträge Zäunemanns zur Hamburger Zeitschrift abgedruckt.

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sepublikum zuvor als durchaus unkonventionelle Frau vorgestellt worden, die allein und in Hosen über Land ritt23 und sogar zweimal – in Männerkleidung! – ins Bergwerk zu Ilmenau eingefahren sei. 2. Das erste Reisegedicht in diesem Gedichtband befindet sich, obwohl es klar auf einen autobiographischen Anlass verweist, nicht in der Abteilung der ›Casualia‹, sondern im ersten Teil, unter den »Geistliche[n] Gedichte[n]«. Das Gedicht Andächtige Feld- und Pfingst-Gedanken trägt den Untertitel: »Als ich den ersten heiligen Pfingst-Tag von Erfurt nach Ilmenau reisete, wobey es beständig donnerte, blitzte, auch zuweilen etwas regnete.« Ein Reisegefährte wird in diesem Gedicht nirgendwo erwähnt. Vielmehr markiert der Text eine Adressantin, die sich vor allem an Gott als ihren Adressaten wendet: Wie vielmahl bin ich schon den Weg allhier geritten, Und dennoch, GOtt sey Lob! ist nie mein Roß geglitten: Mein Pferd ist nie gestürzt, so scharf ich auch gejagt. Zwar einmahls machte mich mein Hengst etwas verzagt; Allein dein starker Schutz ließ mich nicht in den Hecken, Vielwenger in Gefahr verzagen oder stecken.24

Diese ›expositio‹ erfolgt im narrativen Modus. Hier wird von einer autodiegetischen Erzählinstanz einmal berichtet, was bereits mehrfach in der Vergangenheit geschehen sei (d.h. es wird iterativ erzählt), dass nämlich die Adressantin auf einem »Hengst« (also nicht etwa auf einem für Damen geeigneteren Zelter) in »scharf[em]« Galopp einen zunächst nicht näher bezeichneten Weg geritten und dass ihr dabei trotz ihres halsbrecherischen Tempos nie etwas passiert sei, denn Gott selbst habe die mutige Adressantin ja immer beschützt. Das Gedicht erweckt somit die Vorstellung einer ebenso mutig-verwegenen wie fromm-gottvertrauenden Sprechinstanz. Das eine bedingt dabei das andere: Gerade, weil sie sich so sicher unter Gottes »starke[m] Schutz« weiß, kann sie in der irdischen Welt so munter drauflospreschen. In diesem Sinne verbinden die folgenden Verse den gebethaften Lobpreis des Herrn mit der (erneut iterativen) Beschreibung vieler Widrigkeiten auf ihren bisherigen Reisen sowie ihres in solchen Lagen gezeigten Mutes: 23

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»Zu der Zeit reisten nur adelige Frauen […] in Männerkleidern, um incognito besser gegen Überfälle geschützt zu sein; bürgerliche Frauen reisten überhaupt viel seltener – […] die Ausflüge der Zäunemann waren ungewöhnlich, zeigten auch zugleich die engen Grenzen des weiblichen Lebensbereichs, aus dem sie bewußt auszubrechen versuchte, um sich weitere Erfahrungsmöglichkeiten zu verschaffen« (Becker-Cantarino: Der lange Weg [Anm. 20], 21). Zäunemann: Poetische Rosen (Anm. 1), 117.

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Du Höchster! warst mein Schirm, dein Engel brachte mich Gesund und wohl nach Haus; und darum preis ich dich. Wenn mich ein Regen-Guß den ganzen Weg geführet, Daß ich kein trocknes Fleck an Kleid und Leib verspühret; Wenn mich der Sturm gedreht, so hab ich doch gelacht; Es hat mir nichts geschadt. Wenn mich die finstre Nacht, Da kaum vor Dunkelheit die Pfützen zu erblicken, Mich über Stock und Stein und über schmahle Brücken Und Berge hingeführt, nahm ich doch nie Gefahr, Noch Schrecken, oder Furcht, noch Widrigkeiten wahr.25

Dem Wetter kommt hier eine dramaturgische Funktion zu: Von Regen, Sturm und sogar »finstre[r] Nacht« ist die Rede, von »schahle[n] Brücken« und »Bergen«, die es zu überwinden gegolten habe. Überraschend erfahren die Leserinnen und Leser nun auch, dass der Ritt durch den dunklen Wald gelegentlich gar »des Nachts« stattgefunden habe. Nicht nur Wetter und Tageszeit, auch die Landschaftsszenerie wird umgedeutet. Anstatt den dunklen Wald mit seiner Unkultiviertheit und potenziellen Gefährlichkeit als klassischen ›locus horribilis‹ oder als christlich-frühneuzeitlichen ›locus melancholicus‹ zu schildern, deutet die Adressantin ihn vielmehr zum ›locus amoenus‹ um. Auch die topische Stille des furchteinflößenden Schreckensortes26 kann ihrem Gemütshaushalt nichts anhaben, im Gegenteil: Der finstre Tannen-Wald hat mich gar nicht erschrecket, Vielmehr sein sanft Geräusch die größte Lust erwecket. Versuchts, es reiset sich des Nachts in Wäldern schön; Ich habs erst nicht geglaubt; nun hab ich es gesehn.27

Auf Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, für die jede Reise auch immer mit einer gewissen Gefahr für Leib und Leben verbunden war, weshalb man vornehmlich tagsüber, bei mildem Wetter und in der Gruppe mit möglichst wehrhaften Gefährten reiste, muss diese Schilderung bizarr gewirkt haben: Dieses »Ich« genießt seine einsamen, wilden Ritte durch den nächtlichen Wald! Die Verse fordern aber auch zur Nachahmung, zur eigenen Erfahrung auf: Die nun angesprochenen Leserinnen und Leser mögen es selbst einmal versuchen, um mit eigenen Augen zu sehen, wie schön der Wald des Nachts in Wirklichkeit ist. Der Appell, mit einem literarisch überlieferten Vorurteil aufzuräumen durch Empirie, spricht deutlich für 25 26 27

Ebd. Vgl. zu dieser Topik immer noch grundlegend die Darstellung bei Klaus Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln/Wien 1974, 226–263. Zäunemann: Poetische Rosen (Anm. 1), 117.

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einen frühaufklärerischen Impetus des laut Titel doch eigentlich vor allem »andächtige[n] [P]fingst«-Gedichts. Das sonst berufne[28] Fleck läßt mir auch keinen Grauen Noch Zittern und Gefahr wie etwa andern schauen. Wenn Blitz und Donner-Knall den Tannen-Wald erfüllt, Und in denselbigen gesaufet und gebrüllt: Hat man mich vor der Fluth und Donner warnen wollen, So hab ichs nicht geacht. Denn die Gerechten sollen In Unglück und Gefahr und in der Todes-Pein, Doch allezeit beherzt und frischen Geistes seyn.29

Das schier grenzenlose Gottvertrauen der Adressatin geht jedoch zunehmend in Hybris und fahrlässige Nichtbeachtung realer Gefahren über: Bey Tage und bey Nacht, zu Hause und in Gründen, Kan mich die Hand des HErrn stets treffen oder finden: Drum fürcht ich mich vor nichts. Du mein Immanuel! Du führst mich stets; durch wen? durch deinen Raphael.[30] GOtt Lob! der führt mich auch an diesem heilgen Tage, Und schützet mich gewiß vor aller Noth und Plage.31

An dieser Scharnierstelle endet das iterative Erzählen der ›expositio‹; es beginnt ein neues, dieses Mal singulatives Erzählen, die eigentliche ›narratio‹ des Gedichts. Die folgenden knapp 400 Verse beschreiben einen wunderschönen Sonnentag, ebenjenen im Titel genannten Pfingsttag, an dem die Adressantin durch schier arkadische Landschaften reitet. Es sind jedoch keine paganen Schäferszenen, an denen sie nun vorbeikommt, sondern Orte, die biblische Assoziationen bei ihr auslösen. Die grünen Wiesen erinnern sie an die Gegend, »worinnen Abraham / Und Jacob ihre Heerd«32 geweidet haben mögen. Die Idylle wird christlich ausgedeutet. Es folgen ein paar topische Argumente des ursprünglich horazischen Landlobs (›laus ruris‹) in seiner typischen Verknüpfung mit Zivilisationskritik, wie sie etwa durch die ab 1700 in zahlreichen Auflagen verbreiteten und stark von Horaz geprägten Neben-Stunden unterschiedener Gedichte des Freiherrn von Canitz oder durch die 1725 publizierten Lettres sur les Anglais et les Français et sur les

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D.h. ›verrufene‹. Gemeint ist ein im Volksmund verschriener Ort, an dem es angeblich spukt. Ebd., 117 f. Raphael ist im Alten Testament der Erzengel, der im Buch Tobit den Tobias auf seiner Reise nach Ninive begleitet und schützt. Ebd., 118. Ebd., 120.

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Voyages des wegen pietistischer Neigungen aus dem reformierten Bern vertriebenen Dichters Beat Ludwig Muralt bekannt waren. Beide Bücher hatten einen Einfluss auf Albrecht Hallers 1734 in der ersten Auflage seines Versuch Schweizerischer Gedichten [!] erschienenes Lehrgedicht Die Alpen. Diese Prätexte stehen im Hintergrund, wenn Zäunemann schreibt: »So geht’s in Städten her, so geht’s bey Höfen zu! / Auf Dörfern lebet man in still und süsser Ruh.«33 Wie bei Haller, so verbindet sich auch in anderen Prätexten der Zäunemann, etwa in Barthold Hinrich Brockes’ seit 1721 erscheinender, schlussendlich 9-bändiger Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott und in Gerhard Tersteegens Liedersammlung Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen (1729) in den poetischen Naturgedichten aufklärerisches Gedankengut mit pietistisch geprägter Frömmigkeit.34 Bei Zäunemann macht sich gerade in diesem Pfingst-Gedicht entsprechend auch ein stark spiritualistischer, die Amtskirche als Institution ablehnender Zug bemerkbar. Während die Adressantin durch den Wald reitet, hat sie ihr ganz eigenes PfingstErlebnis:35 Wie ist mir? hör ich nicht der Glocken Thon erklingen? Ja! ja! man wird jetzund das Halleluja singen. Man singt: Komm Heilger Geist, und kehre bey uns ein; Man stimmt es freudig an, man schlägt die Paucken drein. Die Paucken hör ich zwar nicht in der Kirch erschallen, Ich hör an ihrer statt den Donner heftig knallen. Allein sein Brüllen stöhrt mich in der Andacht nicht, Ich zeige jetzt wie sonst ein frölich Angesicht.36

Die auf den ersten Seiten entwickelte Thematik eines aus heutiger Sicht emanzipatorischen Ritts durch die ungebändigte Natur, ein Ausbrechen aus den für Frauen gesellschaftlich als schicklich angesehenen Grenzen, wird hier völlig verlassen. Es geht vielmehr um religiöse ›Emanzipation‹, um ein ›Ausgehen‹ (oder eher: ›Ausreiten‹) eines einzelnen Christenmenschen aus den festgeschriebenen Riten der Amtskirchen. Das von Menschen gemeinhin gefürchtete Gewitter wird der Adressantin zur Gotteserfahrung, der Wald zum ›natürlichen Gotteshaus‹, 33 34 35

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Ebd., 121. Vgl. dazu z.B. Hans-Jürgen Schrader: Literatur und Sprache des Pietismus. Ausgewählte Aufsätze. Hg. von Markus Matthias und Ulf-Michael Schneider. Göttingen 2019, 147 f. Pfingsten, am 50. Tag nach Ostern gefeiert, ist der letzte Tag der Osterzeit. Es ist das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes und der darauffolgenden Entsendung der Apostel auf ihre Missionen (vgl. Apg 2,1–41) und gilt insofern als die Geburtsstunde der christlichen Kirche. Christliche Erweckungsbewegungen haben sich seit der Antike immer wieder auf diese Urszene der ›Geisterfüllung‹ (der Inspiration einfacher Menschen durch den Heiligen Geist als dritte Person Gottes) berufen. Zäunemann: Poetische Rosen (Anm. 1), 122.

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Blitz und Donner zu Botschaften Gottes an sie persönlich, die sie mit dem künstlichen ›Lärmen‹ in den steinernen Gotteshäusern kontrastiert. Mein Pfingst-Fest feyre ich so heilig unterm Blitze Im Feld, als wenn ich sonst in einer Kirche sitze. Nichts stöhret meinen Geist; nichts hindert meine Ruh; Ich weiß, mein Tröster hört mir aus den Wolken zu.37

Die Gegenüberstellung kulminiert in der pfingstlichen Bitte um Geisterfüllung und spirituelle Reinigung der Adressantin: »Ach! reinige mein Herz, du werther Heilger Geist!«38 Hier feiert jemand Gottesdienst allein in wilder Natur, ganz ohne Priester oder Gemeinde. Hier spricht jemand direkt zu Gott, welcher in den Wolken wohnt und zuhört. Die Reise ist also mehr als einfach nur ein (wenn auch unkonventioneller) Reiseweg von Erfurt nach Ilmenau. Es ist ein spiritueller Aufbruch und ein Ausbruch aus dem gesellschaftlich geregelten Zusammenleben. Diese dissidente Haltung mag so manchen Vertreter lutherischer Orthodoxie in Zäunemanns Heimatstadt befremdet haben.39 Das Gedicht wird nun vollends zum Gebet: Immer wieder wird Gott in der Hypostase des Heiligen Geistes adressiert und um Beistand angefleht. Das betende Ich ist sich seiner Exponiertheit und Gefährdung offenbar bewusst: Es donnert! wie? wenn GOtt auf dich erzürnet wäre Dieweil du sein Geboth und seine heilge Lehre Aus deinen Augen setzst! Du thust was GOtt verbeut; Wie so? was ist es denn? du trägst ein Mannes-Kleid! Hat nicht der HErr gesagt? es soll ein Greuel heisen, Der sich in andrer Tracht den Augen sucht zu weisen!40

Im Gedicht artikuliert sich also eine junge Frau, die sich ihrer ›Sonntagspflicht‹ (dem Kirchgang) entzieht, um stattdessen allein auf ihrem Hengst durch Wald und Feld zu sprengen – und dies auch noch in Männerkleidern! Welch Skandalon für eine patrizische Jungfer! Das Gedicht inszeniert jedoch – seinen eigenen Anfang aufnehmend – die innere Überwindung der von außen an das Ich herangetragenen Anfeindungen durch Gottvertrauen: Es nutzt die Herangehensweise der damals 37 38 39

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Ebd. Ebd. An der bekannten Universität in Erfurt, die wegen der kurmainzischen Landeshoheit in diesem Teil des Stammlands der Reformation katholisch war, hatte man ohnehin nie Notiz von dieser nonkonformistischen Tochter der Stadt genommen, weshalb ihre Dichterinnenkrönung ja auch nicht von Erfurt, sondern vom kurhannoveranischen Göttingen ausging (vgl. Becker-Cantarino: Der lange Weg [Anm. 20], 272). Zäunemann: Poetische Rosen (Anm. 1), 125.

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neuen historisch-kritischen Exegese und argumentiert, solche Gesetze hätten, wie alle anderen Gesetze im Buch Levitikus, lediglich im ›Alten Bund‹ (d.h. bis zum Letzten Abendmahl, zur Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi und dem dadurch begründeten ›Neuen und ewigen Bund‹ Gottes mit den Menschen) gegolten: Schließlich stutzten sich Männer ja seitdem auch ungestraft den Bart, äßen Christen Huhn und Schwein, heirateten Pastoren Witwen. All dies war laut Levitikus den alten Hebräern verboten. Die selbstbewusste, gebildete Frau wehrt sich also mit Vernunftgründen gegen die an sie und ihr als unbotmäßig empfundenes Verhalten herangetragenen Vorwürfe: Darf auch ein Priester jetzt nach einer Witwe fragen; So darf ich auf dem Pferd auch wohl ein Manns-Kleid tragen. Nein, dieserwegen beißt mich mein Gewissen nicht; Deshalber ziehet mich der HErr nicht vors Gericht, Er straft mich nicht darum. Ich kan zu allen Zeiten In solcher Tracht durch Blitz und Donner frölich reiten.41

Das Gedicht endet nicht etwa mit der Ankunft des Ichs am Zielort Ilmenau, sondern mit einem Stoßgebet als ›conclusio‹: Wer GOtt zum Freunde hat, der hat nicht noth zu klagen; Denn GOtt will ihn ja selbst auf seinen Händen tragen. Behüte Stadt und Dorf vor Einschlag und vor Brand, Nimm Volk und Vieh in Schutz und gieb, daß unser Land Durch Hagel und durch Fluth nicht überschwemmet werde. Erhalte Saat und Frucht; Beschütz, was auf der Erde Und auf den Bäumen wächst, vor deines Feuers Grimm, Und sieh dich stets in Gnad nach deinen Volcke üm!42

Aus ihren Lebensumständen wissen wir, dass die Zäunemann häufig von Erfurt Besuche bei ihrer nach Ilmenau verheirateten Schwester machte. Das Gedicht verzichtet jedoch darauf, den »Tannenwald« näher als den Thüringer Wald zu identifizieren. Hier soll offenbar keine singuläre Reise an einem konkreten Pfingsttag im Leben der empirischen Autorin geschildert werden. Das ganze Gedicht ist vielmehr Ausdruck einer am Einzelfall exemplifizierten, aber über diesen Einzelfall hinausweisenden Lebens- und Glaubenseinstellung.

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Ebd., 126. Ebd., 127.

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3. Ganz anders verfährt die Zäunemann in einem anderen ihrer Reisegedichte: Das Ilmenauische Bergwerk, wie solches den 23. und 30. Jenner des 1737. Jahres befahren, und bey Gelegenheit des gewöhnlichen Berg-Festes mit poetischer Feder uf Bergmännisch entworfen wurde. Den 5ten Merz 1737. Die exakten Orts- und Zeitangaben machen deutlich, dass wir es hier mit prototypischer Casualpoesie zu tun haben, deren Entstehen an einen ganz konkreten gesellschaftlichen Anlass gebunden ist und das für die zeremonielle ›Verewigung‹ dieses Anlasses verfasst wurde. Das Gedicht ist denn auch in die Abteilung der »Vermischten Gedichte« einsortiert, anders als die auf ein allgemeines spiritualistisches Bekenntnis hinauslaufenden »Andächtigen Feld- und Pfingst-Gedanken« in den »Geistlichen Gedichten«. Ermöglicht wurde der Zäunemann diese für ein ›Frauenzimmer‹ höchst ungewöhnliche Einfahrt ins Bergwerk vermutlich durch ihren Schwager Gottfried Polycarp Kunad, der als Bergamtsphysikus in Ilmenau tätig war.43 Das aus 36 Strophen bestehende aufklärerische Lehrgedicht erschien zunächst 1737 als Separatdruck44 und dann als kommentierter Teilabdruck in den Hamburgischen Berichten von neuen Gelehrten Sachen,45 ehe es 1738 in den Gedichtband Poetische Rosen in Knospen aufgenommen wurde. Dem eigentlichen Bergwerksgedicht gehen jeweils ein Widmungsgedicht an den Herzog Ernst-August von Sachsen-Weimar sowie eines an den Kurfürsten von Sachsen und König von Polen, Friedrich August, voran, was für Zäunemanns konstante Bemühungen um Patronage spricht: Gerade der sächsische Kurfürst war ein klug gewählter Patron, denn er hatte als Mit-Teilhaber ein finanzielles Interesse an den Ilmenauischen Bergwerken. Nach dem Verstext werden noch das offizielle Protokoll von Berginspektor Tromler zu dieser Bergwerksbefahrung46 und die dem Separatdruck beigegebene, ebenfalls von Tromlers Hand stammende Plan-Skizze der Ilmenauer

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In Zäunemanns Gedichtband finden sich ein Glückwunschgedicht zu seiner Promotionsfeier im Dezember 1734 (ebd., 338–343), ein Epithalamium zu seiner Hochzeit mit Zäunemanns Schwester Martha Paulina am 27. Juli 1735 (ebd., 240–245) sowie ein Gratulationsgedicht zu seiner Ernennung zum »Stadt-, Land- und Bergwerks-Physicum« durch »Ihro Hochfürstl. Durchlaucht zu Sachsen-Weymar« im Dezember 1735 (ebd., 386–388). Auch diese Texte bewegen sich im Rahmen typischer Casualpoesie. Das Ilmenauische Bergwerk, wie solches den 23sten und 30sten Jenner des 1737. Jahres befahren, und bey Gelegenheit des gewöhnlichen Berg-Festes mit poetischer Feder uf Bergmännisch entworfen wurde, von Sidonia Hedwig Zäunemannin aus Erfurt. Den 5ten Merz 1737. Erfurt, druckts Joh. Heinrich Nonne. Nachgedruckt bei Roßbach: Wissen, Medium und Geschlecht (Anm. 9), 163–166. Vgl. Zäunemann: Poetische Rosen (Anm. 1), 584–587.

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Schächte abgedruckt, anhand derer die Leserinnen und Leser die im Gedicht auftauchenden Schachtnamen identifizieren und den genauen Verlauf der tatsächlichen Bergwerksbegehung nachverfolgen können.47 Das Bergwerksgedicht greift viele Topoi auf, die auch schon im Pfingst-Gedicht begegneten, beispielsweise die Freude an der eigentlich furchteinflößenden Natur, nämlich dem verschneiten Winterwald, dem zerklüfteten Gebirge48 und den dunkeln Stollen des Bergwerks, und den Appell an ihre Leserinnen und Leser, die alten ›Vorurteile‹ aufzugeben und durch eigene Erfahrung zu ersetzen: Vergnügen? Ist die Luft nicht rauh? Liegt nicht ein festes Eis in Gründen? Bedecket nicht anjetzt ein tief gefallner Schnee Die grün- und finstern Tannen-Wälder, Die sonst mit Klee geschmückten Felder, Der Thäler buntes Kleid und auch der Berge Höh? […] Es sieht ja alles dürr und grauß, Todt, furchtsam und erstorben aus. Doch nein! du hegest falschen Wahn, Versuchs! du wirst dein Herz ergötzen.49

Im Unterschied zum Landlob des Pfingstgedichts steht hier jedoch die Bewunderung für die Errungenschaften der Zivilisation im Vordergrund: für die moderne Bergbau-Technik, das Räderwerk der Entwässerungskunst und die Hubverfahren der Fördertechnik.50 Als es ans Umkleiden geht (denn natürlich legt das Ich auch in diesem Gedicht wieder Männerkleidung an, und zwar die vorgeschriebene Bergmannskluft mit Kittel, »Schacht-Hut« und »Gruben-Licht«)51 werden erneut die Bedenken gegen Frauen in Männerkleidern vorgebracht und entkräftet. Bedenkt man das hochadelige Zielpublikum der Widmungsadressen, so ist es aus sozialhistorischer Perspektive umso bemerkenswerter, wie Zäunemann in den dann folgenden Versen den täglichen Arbeits- und Überlebenskampf der Berg-

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Hier von einem »lyrisch-fiktionalen Text« zu sprechen, der eine »ganz spezifische Nähe zur Wirklichkeit behauptet« (Roßbach: Wissen, Medium und Geschlecht [Anm. 9], 126), wird der Wahrnehmung wohlinformierter zeitgenössischer Leserinnen und Leser wohl ebenso wenig gerecht wie der Intention der Autorin. Neben dem Wald und der Einöde ist das Gebirge mit seinen zerklüfteten Felsen ein klassischer Ort für den Schrecken der Natur im ›locus horribilis‹. Vgl. Garber: Der locus amoenus (Anm. 26), 240–254. Zäunemann: Poetische Rosen (Anm. 1), 567. Vgl. ebd., 568 f. Vgl. ebd., 570.

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leute unter Tage schildert, wo Grubeneinsturz, plötzliche Explosionen oder Wassereinbrüche an der Tagesordnung sind. Als auch auf ihrer eigenen »Fahrt« in den Stollen eine plötzliche Gefahr entsteht und die Gruppe von drei Männern und einer Frau fluchtartig zurückweichen muss, fängt sich das »Ich« nach kurzer Panik rasch wieder, denn: »Getrost! Gott wohnt auch in der Erden«!52 Und dann erteilt Zäunemann nach der Topik des Schäfergedichts im 17. Jahrhundert auch der Poetik der Nachahmung literarischer ›exempla‹ eine Absage: Ihr Künstler! Bildet euch nicht ein, Ihr wüstet alles auszuzieren. Des Stollens Gang und sein Gestein, Weiß schönre Farben aufzuführen. Kommt! schaut den Sinter an; hier ist er lieblich grün; Bald will er reinem Purpur gleichen; Bald muß ihm Schnee an Farbe weichen.53

Wahrhaft dichten könne nur, wer seine Gegenstände aus eigener Anschauung kennt – ein starkes Statement im etwa zeitgleich beginnenden »Kulturkampf« zwischen der Nachahmungspoetik Johann Christoph Gottscheds und der mit den Schweizern Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger und Albrecht Haller assoziierten Position, die den Rekurs auf eigene Erfahrungen in der literarischen Darstellung (vor allem von Affekten) zu legitimieren beginnt.54 Mit ihrer versifizierten Absage an Bücherwissen und ihrem Bekenntnis zur Empirie steht Zäunemann ganz in der Tradition aufklärerischer Lehrdichtung: »Auch die eigene Erfahrung und Erkundung der Natur und der zivilisatorischen Einrichtungen, die außerhalb des eigenen Horizonts lagen, gehörte zum neuen Lebensgefühl der Aufklärung – allerdings fast ausschließlich für Männer.«55 Doch nicht nur, dass das Erkenntnis durch Empirie suchende Subjekt eine Frau ist, ist hier innovativ. Bereits in der Einleitung ihres Gedichtbandes betonte Zäunemann explizit den Innovationscharakter ihres Bergwerksgedichts, denn »von einer solchen Einrichtung und Abfassung ist meines Wissens noch nichts zum Vorscheine gekommen.«56 Wie im Gedicht selbst, so führt sie ihre überlegene Erfahrung als Argument gegen rein poetologisch argumentierende Literaturkritiker an, die mit den dargestellten 52 53 54

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Ebd., 576. Vgl. ebd., 580. Vgl. dazu Detlef Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen 2009, 60–104. Vgl. Becker-Cantarino: Der lange Weg (Anm. 20), 271. Zäunemann: Poetische Rosen (Anm. 1), unpaginiert (S. 3 der „Vorrede“).

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Gegenständen nicht vertraut und insofern gar nicht angemessen über ihr Bergwerksgedicht zu urteilen befähigt seien: Es können auch nicht alle Kenner der Dichtkunst davon vollkommen urtheilen, weil sie solches größten Theils nicht verstehen. Es ist zum Ruhm des Bergwerks und dererjenigen, so damit umgehen abgefaßt worden, sintemahlen dieser Stand ein solcher Stand ist, dem die Republick und die ganze menschliche Gesellschaft nicht geringen Dank schuldig ist, und welcher dahero auch gleich andern Ständen ein Lobgedichte mit allem Rechte verdienet. Und auf solche Art gehört es freylich mehrentheils nur vor Bergverständige.57

Die Zäunemann wusste mithin sehr genau, dass sie die Grenzen der Schicklichkeit weit überschritt, als sie sich an derart neue Sujets und Erfahrungsbereiche heranwagte. Auch die bewusst verwendeten Spolien aus der Bergmannssprache (ist das Gedicht doch laut Untertitel »uf Bergmännisch entworfen«) brechen mit den Konventionen einer idealisierenden, der Lebensrealität enthobenen Schäferdichtung gründlich. Die Poetischen Rosen in Knospen enthalten ein weiteres Gedicht, Wald-Gedicht betitelt, in dem die Dichterin sich einer Männerdomäne zuwendet, dieses Mal der Jagd, und dabei – analog zur rauen Bergmannssprache im Bergwerksgedicht – gezielt »Weydmännische Redensarten« einarbeitet.58 Insofern ist es wohl auch als strategisches Verhalten zu deuten, dass die Zäunemann sich mit dem Bergbau, der Jagd und dem Soldatenleben nicht einfach irgendwelche männlich besetzten Themen in ihrer Dichtung ›eroberte‹, sondern dass sie damit gezielt drei in ihrer Zeit »fürstliche Domänen« abarbeitete, um potente Gönner aus der höfischen Welt auf sich und ihr Werk aufmerksam zu machen. Die um Patronage werbende Haltung verband die Zäunemann mit fast allen gelehrten, aber von Hause aus unversorgten Dichtern der Frühen Neuzeit. Dass sie eine Frau war, versuchte sie gezielt als Alleinstellungsmerkmal auszuspielen, um erhöhte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es muss also kein Nachteil gewesen sein, zumal da die Zäunemann offenbar durchaus eine gewisse, für ihren Stand eher ungewöhnliche ›Reisefreiheit‹ genoss. Ihr Frausein hätte ihr zudem – zumindest theoretisch und bis zu einem gewissen Alter – für den Fall eines Scheiterns ihrer angestrebten literarischen Karriere bei Hofe immer noch die Alternative einer Eheschließung zwecks Sicherung ihres Lebensstandards offen gehalten – ein ›Plan B‹, der für gelehrte, aber brotlose Künstler wie den 1727 völlig verarmt gestorbenen Johann Christian Günther nicht zur Verfügung stand.

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Ebd. Vgl. ebd., unpaginiert (S. 4 der „Vorrede“).

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Dass es letztlich weder zu ›Plan A‹ (der erfolgreichen Etablierung am Hof) noch ›Plan B‹ kam, liegt an einer plötzlichen Wendung, die am 11. Dezember 1740 eintrat. Wie so oft war die Zäunemann auf der Reise von Erfurt nach Ilmenau durch den winterlichen Thüringer Wald zu ihrer Schwester unterwegs, als sie in der Nähe der Stadt Plaue in dem von einem vorhergegangenen Unwetter angeschwollenen Fluss Gera ertrank. Literatur und Leben schienen hier auf derart erstaunliche Art ineinanderzugreifen, dass sich die Fremdinszenierungen der Dichterin nach diesem dramatischen Tod implizit aus ihren Gedichten bedienten: Die Göttingische Zeitung vermeldete, sie sei »über einen schmalen Steg gegangen, der von dem stürmenden Winde ergriffen und in das Wasser geworfen worden.« Ähnlich lautete die Darstellung in den Hamburgischen Berichten.59 Beide lassen Assoziationen zu Zäunemanns einsamen Ritten über »schmahle Brücken« aus dem »Feld- und Pfingst«-Gedicht zu. Obwohl keiner dieser Berichte ein Pferd,60 geschweige denn Männerkleidung erwähnt, wurde die Parallele zu ihren Wagemut ausdrückenden Pfingst-, Jagd- und Waldgedichten sowie zu ihrer Beschreibung der Bergwerkseinfahrt gezogen: Zäunemann ging als die »wilde, dem Untergang geweihte Amazone,«61 als verwegene, aber letztlich gerade deshalb gescheiterte Kämpferin für die Rechte der Frau, als kleine Randbemerkung in die Literaturgeschichte ein: Ihre »Lebenserzählung«, so wie sie in den 1740er Jahren rückblickend inszeniert wurde, »transportiert nicht, was ist, sondern was sein soll: Eine Frau, die die Grenzen ihres Geschlechts überschreitet, wird vom Schicksal mit Vernichtung bestraft.«62 Während mit dem Wandel des Frauenbildes in der Rousseau-Nachfolge sich das Interesse an emanzipierten, »gelehrten Frauenzimmern« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend verflüchtigte, stießen sich spätere Kritiker unter dem Vorzeichen der sich nun herausbildenden Autonomieästhetik am panegyrischen Duktus von Zäunemanns höfischen Widmungsgedichten ebenso wie an ihrer frühaufklärerischen Begeisterung für Empirie, Wissenschaft und Sozialrealismus und schließlich auch am religiösen Pathos ihres nonkonformen Spiritualismus. Ihre frühen ›Reisegedichte einer Frau‹ gerieten mit ihrem niemals nachgedruckten einzigen Gedichtband weitgehend in Vergessenheit und konnten daher auch keine eigene Gattungstradition begründen.

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Beide Berichte zitiert bei Roßbach: Wissen, Medium und Geschlecht (Anm. 9), 134. Es ist aber wohl auch nicht anzunehmen, dass die Zäunemann die knapp 50 Kilometer von Erfurt nach Ilmenau an diesem Wintertag ausnahmsweise einmal zu Fuß bewältigen wollte. Roßbach: Wissen, Medium und Geschlecht (Anm. 9). Ebd., 135.

Reisen ins Gebirge Heinrich Heines Aus der Harzreise (1824) und Aleksandr Puškins Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija (1829) (1836) SIEGFRIED ULBRECHT »Die Verwandtschaft von Reisen und Erzählen leuchtet ein, wie aber steht es mit dem Verhältnis von Reisen und Gedichten?«1 Die in einem Band für den Abiturunterricht an deutschen Gymnasien aufgeworfene generelle Frage stellt sich auch im Rahmen der vorliegenden Studie, in der es um die zyklische Reisedichtung, namentlich den poetischen Reisezyklus, geht, der in der Literaturwissenschaft bislang eher wenig Beachtung erfahren hat. Unter einem poetischen Reisezyklus wird in der Forschung gemeinhin eine zyklische Sammelstruktur verstanden, in der eine Reihe von relativ autonomen Gedichten als Glieder einer ›Reise‹ angeordnet sind.2 Das spezifische Synergiepotenzial dieses Texttyps ergibt sich aus dem Zusammenwirken der in der Genotextstruktur konstitutiven Merkmale der ›Zyklisierung‹ und des ›Reisesujets‹. Als künstlerische Verfahren bieten beide die Möglichkeit, scheinbar unmittelbare Bilder aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen zu neuen semantischen Einheiten und somit zu einem kohärenten Ganzen zu ordnen. Vergleichend analysiert werden aus dem Korpus dieses Texttyps das Werk von Heinrich Heine (1797–1856) Aus der Harzreise (1824) mit dem Werk von Aleksandr Puškin (1799–1837) Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija (1829) (1836) [Gedichte, die während einer Reise verfasst wurden (1829)]. Die Untersuchung hat zum Ziel, ähnliche und verschiedene Merkmale in den einzelnen Texten und ihrer zyklischen Struktur nachzuweisen.

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Reiselyrik. Gedichtsammlung. Hg. von Ulrich Vormbaum. Hallbergmoos 2018, 4. Vgl. Igorʼ V. Fomenko: Liričeskij cikl: stanovlenie žanra, poėtika [Der Gedichtzyklus: die Entstehung des Genres, Poetik]. Tver’ 1992, 52. Die Übersetzungen fremdsprachiger Zitate stammen vom Verfasser – Siegfried Ulbrecht. In die vorliegende Studie fließen auch Forschungsergebnisse des Vf.s aus früheren Arbeiten ein. Aus Platzgründen seien hier nur folgende Überblicksdarstellungen genannt: Siegfried Ulbrecht: Zum Problem der literarischen Zyklisierung. In: Zeitschrift für Slawistik 45 (2000), H. 3, 334–358; Ders.: Das literarische Verfahren der Zyklisierung in der Germanistik. Mit einem Ausblick auf die slavische Philologie sowie Ansätze einer europäischen Zyklusforschung. In: Weimarer Beiträge 54 (2008), H. 4, 612–623; Ders.: Zum Problem der Gattungsinterferenz in der russischen Lyrik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: am Beispiel ausgewählter poetischer Reisezyklen. In: Zyklusdichtung in den slavischen Literaturen. Beiträge zur Internationalen Konferenz, Magdeburg, 18.–20. März 1997. Hg. von Reinhard Ibler. Frankfurt a.M. 2000, 545–561.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_9

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Insgesamt setzt sich der Beitrag aus drei Teilen zusammen: Der erste Teil besteht aus Erläuterungen zum poetischen Reisezyklus (textgeschichtliche Entwicklung und typologische Ausformung). Kurz wird auch die Beziehung zwischen Heine und Puškin gestreift. Im zweiten Teil, dem Kernteil der Abhandlung, geht es um die literarische Verarbeitung von Eindrücken, Überlegungen und Einsichten, die im Zusammenhang mit den Reisen ins Gebirge entstanden sind und in den besagten beiden Reisetexten zum Ausdruck kommen, wobei vor allem strukturelle Konstituenten wie Raum-Zeitprinzip, lyrisches Subjekt, Motivik/Thematik und Zyklustitel in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Dem gehen Informationen zur jeweiligen Biographie und Textgeschichte mit einher. Im Schlussteil werden die Forschungsergebnisse vergleichend resümiert. 1. Der poetische Reisezyklus Im Folgenden werden zunächst für den Reisezyklus relevante Ergebnisse aus der bisherigen Forschung dargestellt. Der poetische Reisezyklus entwickelt und etabliert sich in der russischen Literatur in der Übergangsphase von der klassischen und romantischen zur realistischen Kunst zwischen 1820 und 1850.3 Die Voraussetzung für die Entstehung dieses Texttyps bewirken gattungsspezifische Veränderungen innerhalb der Reiseliteratur und der Lyrik. Die bevorzugt narrativen Reisetexte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die als wesentliche Grundlage des poetischen Reisezyklus generell gelten können, haben es mit einem zunehmenden Eindringen lyrisch-expressiver Elemente zu tun.4 Parallel dazu bilden sich in der Lyrik verstärkt zyklische Strukturen mit thematischen Schwerpunkten heraus. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts formierten sich zahlreiche »neue Typen« zyklischer Formen, deren Kompositionsprinzip einen ›natürlichen‹, scheinbar ›objektiven‹, d.h. logisch-kausal nachprüfbaren Ereignisverlauf oder Zeitfluss widerspiegeln: »Bewegung nach Tagen, Jahreszeiten, Wander- oder Reise-›Sujet‹«.5 3

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Vgl. Larissa E. Ljapina: ›Moja poezdka‹ P. Eršova i tradicii putevych ciklov [›Meine Reise‹ von P. Eršov und die Traditionen der Reisezyklen]. In: Petr Pavlovič Eršov - pisatel’ i pedagog. Tezisy dokladov i soobščenij Vserossijskoj naučno-praktičeskoj konferencii, 22–24 nojabrja 1989 g. Išim 1989, 41–42, hier 41; Fomenko: Liričeskij cikl (Anm. 2), 52. Die Geschichte der Reiseliteratur und die Literatur der Grand Tour erfahren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen grundlegenden Wandel. Vor allem Werke wie Laurence Sternes Sentimental Journey (1768) und Goethes Italienische Reise (1817) lösen einen tiefgreifenden und nachhaltigen Prozess der »Versubjektivierung« (Christoph Bode: Beyond/Around/Into One’s Own. Reiseliteratur als Paradigma von Welt-Erfahrung. In: Poetica. 26 (1994), H. 1–2, 70–87, hier 80) der Gattung aus. »dviženie sutok, vremen goda, ›sjužet‹ stranstvija ili putešestvija« (Michail Darvin: Russkij liričeskij cikl. Problemy istorii i teorii [Der russische Gedichtzyklus. Probleme der Geschichte und der Theorie]. Krasnojarsk 1988, 70). »The cyclic repertoire also includes a wide assortment of

Heines Aus der Harzreise und Puškins Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija 159 In der deutschen Literatur erlangt die zyklische Reisedichtung in der Zeit zwischen 1815 und 1830 große Beliebtheit. Die meisten Dichter kehrten damals – wie Helena Mustard erläutert – wieder zu dem Typ des ›arranged cycle‹6 (»ex post facto arrangements of poems not intended previously as a group«7) zurück, der bereits im 18. Jahrhundert vorherrschend war.8 Angesagt war die Veröffentlichung von Lyriksammlungen, in denen die Reise- und Wanderthematik eine bedeutende Rolle spielte. Bezeichnend für diesen Zeitraum sei eine ausgeprägte epische Tendenz, die zweifellos dem zunehmenden Trend zum Realismus entsprach, und die dem Typ des ›narrative cycle‹9 (= thematische Sukzession im Sinne narrativer Linearität) zum Aufschwung und zur Blüte verhalf. In dem genannten Zeitraum konstituiert der lyrische Reisezyklus auch sein bis ins 20. Jahrhundert hinein im Wesentlichen gleichbleibendes Formpotenzial. Eine Katalysatorfunktion bei der Entwicklung dieses Textgebildes nehmen Ludwig Tiecks Reisegedichte eines Kranken und Rückkehr eines Genesenden (beide 1805–1806) ein.10 Mustard beschreibt diese beiden bereits narrativen Zyklen11 so: They are arranged in chronological order and trace the course of the journey, but the poems are entirely independent of each other and within the limits of the chronological order could be interchanged at will without altering the character of the cycle.12

Im poetischen Reisezyklus werden »in den einzelnen Gedichten Eindrücke von verschiedenen Abschnitten und Stationen einer Reise lyrisch gestaltet […].«13 Durch die »›Reise‹ als Verfahren«14 (Prinzip einer geographischen und zeitlichsukzessiven Veränderung) bleibt der Reisezyklus an der Grenze zum Epischen, Poemhaften.15 Seine besondere Struktur als eigenständiges textuelles Gebilde ergibt sich aus der Konfrontation und dem Zusammenwirken von Formen der Epik

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thematic-motivic groupings, the most popular among them being those unified by a particular setting or series of locales encountered on a journey.« (David A. Sloane: Aleksandr Blok and the Dynamics of the Lyric Cycle. Columbus, Ohio 1988, 96). Helen M. Mustard: The Lyric Cycle in German Literature. Diss. New York 1946, 5. Ebd. Den gegenteiligen Typ stelle der ›composed cycle‹ (»they are conceived from the very beginning as a group form«; ebd.) dar. Ebd. Zu diesem Doppelzyklus vgl. den Beitrag von Dominik Zink in diesem Band. Vgl. Mustard: The Lyric Cycle (Anm. 6), 57. Ebd., 52. Reinhard Ibler: Zyklisierung als künstlerisches Verfahren im lyrischen Schaffen A.S. Puškins: »Nachahmungen des Korans«. In: Festschrift für Erwin Wedel zum 65. Geburtstag. München 1991, 125-154, hier 128. »›putešestvie‹ kak priem« (Fomenko: Liričeskij cikl [Anm. 2], 52). Vgl. ebd.

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und Lyrik, die durch die Zyklisierung in eine neuartige Verbindung treten.16 Man kann beim poetischen Reisezyklus auch von einem »›hybriden‹ Genre«17 oder einer Mischform sprechen, in der lyrische und epische Tendenzen miteinander rivalisieren und sich gegenseitig überlagern.18 Die Überschneidung von Epischem und Lyrischem zeigt sich auch darin, dass den Gedichtzyklen oft analoge Versuche in der Prosa gegenüberstehen. Puškin verarbeitet seine kaukasischen Reiseeindrücke des Jahres 1829 sowohl in mehreren Gedichten, die teilweise im Reisezyklus Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija (1829) (erschienen 1836) zusammengefasst sind, als auch in einzelnen Prosawerken. Unter ihnen befindet sich das Reisetagebuch Putešestvie v Arzrum [Die Reise nach Arzrum, erschienen 1835]. Formen der Variantenbildung gibt es auch im Werk anderer Zyklusautoren. Zu diesen Autoren gehört Heinrich Heine. Heines Eindrücke aus der Wanderung durch den Harz vom Herbst 1824 liegen als Reisebericht vor.19 Die in die Harzreise ›eingelegten‹ Gedichte20 erscheinen dann in ihrer Gänze als eigenständiger Zyklus Aus der Harzreise in der zyklisch komponierten Lyriksammlung Buch der Lieder (1827). Das Liederbuch wird in der ersten Zeit nach seinem Erscheinen als »ein Begleiter zu den Reisebildern«21 verstanden. In späteren Ausgaben der Reisebilder werden auch die fünf Gedichte, die den Zyklus Aus der Harzreise bilden, weiter gedruckt. 16

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Im Hinblick auf die Begriffe ›Epik‹ und ›Lyrik‹ (»auch als ›Grundgattungen‹ oder ›Naturformen der Poesie‹ bezeichnet«) übernehme ich die Position von Felix Vodička, wonach die beiden Termini »[…] keinen bestimmten Typ geschlossener literarischer Formen [erfassen], sondern vielmehr bestimmte durch literarische (stilistische) Bedingungen und Möglichkeiten gegebene Prinzipien des Schaffens, die sich in Formen vielfältigsten Typs äußern. Gattungen sind nicht notwendig immer nur lyrisch oder episch, daher versagt auch eine auf dieser Gliederung begründete Klassifikation der Gattungen.« (Felix Vodička: Zwischen Poesie und Prosa: zur Funktion des Versromans im Gattungssystem der tschechischen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Postilla Bohemica. Vierteljahreszeitschrift der Konstanzer Hus-Gesellschaft 2 (2/3 1973), 35–67). »›gibridnyj‹ žanr« (Larissa E. Ljapina: Liričeskie cikly putešestvij (1840-e-1860-e gg.) [Die lyrischen Reisezyklen (1840er bis 1860er Jahre]. In: Lekcii po receptivnoj ėstetike. Vyp I. Metodičeskoe posobie dlja studentov filologičeskogo fakul’teta. Rostov-na-Donu 1993, 27–32, hier 28). Vgl. Ulbrecht: Zum Problem der Gattungsinterferenz (Anm. 2), 545–561. Erstveröffentlichung im Januar und Februar 1826 und später im Jahr 1826 erschienen als Die Harzreise im ersten Teil der Reisebilder. »Es sollen auch Verse drin vorkommen die Dir gefallen, schöne, edle Gefühle und dergl. Gemüthskehricht.« (Heinrich Heine an Moses Moser, 25. Oktober 1824; ders.: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris [im Folgenden: HSA]. Bd. 20: Briefe 1815–1831. Bearb. von Fritz H. Eisner. Berlin/Paris 1970, 179). Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe. Hg. von Manfred Windfuhr (im Folgenden: DHA). Bd. 1/2: Buch der Lieder: Apparat. Hamburg 1975, 600.

Heines Aus der Harzreise und Puškins Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija 161 Die Hinwendung Heines oder Puškins zum Gedichtzyklus ist bekanntlich kein singuläres Phänomen, sondern gerade für die Romantik epochentypisch. In der zyklischen Reisedichtung dieser Zeit führt eine zentrale Entwicklungslinie zurück auf Goethes Römische Elegien (1788–1790) und vor allem den West-östlichen Divan (1819, erweitert 1827). Ein mittelbarer Bezug zur zyklischen Dichtung Goethes entsteht durch die Rezeption von Adam Mickiewiczs Sonettzyklen Sonety krymskie (und Sonety odeskie; beide 1826) – erstere haben den West-östlichen Divan als textuelle Folie. Mickiewiczs Krimzyklus entfaltet insbesondere in Russland eine einflussreiche und langanhaltende literarische Tradition.22 Von großer Bedeutung für die Ausprägung des Gedichtzyklus in Russland sind die Zyklen Heinrich Heines aus dem Buch der Lieder.23 So hat die Zyklustechnik Heines, der sich selbst als »Meister in der Anordnung« verstand,24 zwischen 1840 und 1870 für fast alle Zyklustypen modellhaften Wert.25 Die Berührungspunkte zwischen Heine und Puškin sind – wie es bislang schien – nicht sonderlich zahlreich. Persönliche Kontakte liegen nicht vor. Mögliche Inspirationen konnten weder nachgewiesen noch ausgeschlossen werden. Eine »poetisch-poetologische Verwandtschaft«26 konstatiert Renate Lachmann anhand mehrerer Merkmale: gespaltenes Verhältnis zur Romantik; Selbstglorifizierung als Poet; Verhältnis zur Heimat; Reflexion der sozialen Frage; Überschreitung von Stil- und Gattungsgrenzen; Dezentrierung des Sujets. In dem nun folgenden zweiten Teil des Aufsatzes rücken die beiden lyrischen Reisetexte von Heine und Puškin in den Fokus der Betrachtung. Vorrangig analysiert und verglichen wird die jeweilige Zyklusstruktur und deren wesentliche Konstituenten.

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Die gegenseitige Bereicherung zwischen Mickiewicz und Puškin in orientalischen Fragen wurde in der Forschung bereits herausgearbeitet. Zu den aufschlussreichsten Analysen gehört Heinrich Kirschbaum: Im Harem des Imperiums. Die ›Fontäne von Bachčisaraj‹, die ›Krimsonette‹ und der russisch-polnische Orientalismus. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 66 (2009), H. 2, 287–316. Ungeklärt ist bislang jedoch, inwieweit das Zyklusmodell Mickiewiczs auf Puškins Reisezyklus Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija (1829) einwirkt. Vgl. u.a. Ronald Vroon: The Renaissance of the Lyric Cycle in Russian Modernism: Sources and Antecedents. In: Ibler: Zyklusdichtung (Anm. 2), 563–580, hier 569 f. Heine an Julius Campe, 12. August 1852; HSA, Bd. 23, 221. Vgl. Sloane: Aleksandr Blok (Anm. 5), 98. Renate Lachmann: Heine und Puškin. In: Heine-Jahrbuch 51 (2012), 53–85, hier 53.

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Siegfried Ulbrecht 2. Zyklusanalysen 2.1. Aus der Harzreise

Die außertextuelle Motivation von Heines Aus der Harzreise stellt eine mehrwöchige Fußwanderung dar, die der 26-jährige Jurastudent während seines zweiten Göttinger Aufenthaltes in den Herbstferien 1824 unternahm. Der Harz ist im ersten Streckenteil ein zentrales Reiseziel und somit von besonderer dichterischer Bedeutung. Am 19. Oktober bestieg Heine den Brocken und nahm dort Nachtquartier. Mit dem Abstieg nach Ilsenburg endet dann der Zyklustext. Die Wanderung führt ihn des Weiteren nach Weimar, wo er am 2. Oktober mit Goethe zusammentraf. Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Göttingen, dem Ausgangspunkt der Reise, begann er mit ihrer literarischen Verarbeitung. Die Chronologie der Reise liegt dabei der Struktur sowohl der Prosa- als auch der Gedichtvariante des ›Harztextes‹ zugrunde. Nach der Klassifikation von Mustard handelt es sich sowohl bei Heines Aus der Harzreise als auch bei Puškins Reisezyklus um einen ›arranged cycle‹. Darauf soll hier bereits hingewiesen werden. Aufgrund des hohen Selbständigkeitsgrades des Einzelgedichts und der damit verbunden relativ offenen und fragmentartigen Struktur des Gesamtzyklus haben der Zyklustitel und vornehmlich die Überschriften der Einzelgedichte die Funktion einer textübergreifen Vernetzung der »bunten Fäden«.27 Dadurch gelingt es, ein kohärentes textuelles Ganzes herzustellen. Im Folgenden wird das zyklische Sujet in seiner künstlerisch gestaltenden, formalen Ausprägung nachgezeichnet, d.h., so wie es sich der Leser im sukzessiven Ablauf des Rezeptionsakts aneignet. Gedicht [1],28 Prolog, zeigt den zeitlichen und räumlichen Beginn der Reise an, womit ihm eine äußere Rahmenfunktion zufällt. Die Ausgangssituation des Zyklus wird von einem lyrischen Subjekt bestimmt, das einerseits fehlende echte Liebe in seinem städtischen Umfeld beklagt und das andererseits aufgrund seiner beschlossenen Flucht in die Berge lachend auf die Anderen herabblicken kann. Mit der Flucht, die ein Intellektueller aus der Stadt in die idealisierte Natur unternimmt, wird ein »ehrwürdige[r] Topos«29 aufgerufen, der bereits weit in abendländische Literatur zurückreicht (Horaz, Rokokodichtung). Die Flucht lässt auch eine metapoetische Interpretation zu, und zwar im Sinne einer selbstkritischen Distanz zu der bisherigen Dichtung und einem dichterischen Neuansatz.30 27 28 29 30

DHA, Bd. 6, 134. Die eingeklammerten Ziffern bedeuten, dass die Texte im Original nicht nummeriert sind. Die Nummerierung wird nur der besseren Übersichtlichkeit halber, und weil die Reihenfolge der Texte im Gedichtzyklus eine große Bedeutung hat, herangezogen. Peter Christian Giese: Lektürehilfen Heinrich Heine Buch der Lieder. 3. Auflage. Stuttgart/Dresden 1994, 121. Vgl. ebd., 122.

Heines Aus der Harzreise und Puškins Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija 163 In diesem Gedicht sind bereits verschiedene semantische Gegensatzpaare angelegt, die im weiteren Zyklusverlauf mitschwingen und dem Zyklustext einen strukturellen Stempel verleihen: Stadt und Natur, Enge und Weite, steifes Zeremoniell und freiheitliche Ungebundenheit.31 Dieses textstrukturierende Prinzip der Polarität verweist auf die dualistische Weltauffassung der Romantik mit dem damit verbundenen romantischen Lebensgefühl der Gespalten- und Zerrissenheit. Sie geht ursprünglich auf Schellings universales polares Bauprinzip aller Naturerscheinungen zurück. Die satirischen Spitzen – hier im Text insbesondere gegen die städtische Göttinger Gelehrtenwelt – stellen eine Form der Gesellschaftskritik dar, die sowohl den Bezug zur Literatur der Aufklärung herstellt als auch schon eng mit Literatur des Jungen Deutschlands, des Vormärz und dann des Realismus verbunden ist. In den Gedichten des Unterzyklus Bergidylle I–III ist der Übergang von der Stadt in die Natur vollzogen. Die Berge sind nicht nur das geographische Reiseziel, sondern bilden gleichzeitig »den Zielpunkt einer gedanklichen Vermittlung – den geistigen Fluchtpunkt der Reise«.32 Bergidyll ist ein Programmgedicht, in dem im Wesentlichen zwei Themenbereiche miteinander verzahnt sind: a) die Rolle und das Selbstverständnis des Dichters im aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess und b) das Poesie- und Lebenskonzept des Autors vor dem Hintergrund von Aufklärung und Romantik. Die programmatisch-integrative Funktion der Bergidylle zeigt sich bereits an dem Standort selber: Die Idylle spielt auf dem Berge, aber in der Hütte des Bergmanns, verbindet also die aufklärerische Position der Höhe mit der romantischen Tiefendimension der Bergleute und hebt von diesem übergeordneten Standpunkt aus die zuvor thematisierte Opposition zwischen Höhe und Tiefe, Innen und Außen, Vernunft und Gemüt in sich auf.33

Der eigentliche Ort des Geschehens über das ganze dreiteilige Gedicht hinweg bleibt die Wohnstube der Berghütte, in der neben dem glücklichen lyrischen Ich noch ein lyrisches Du, das »unschuldige[] Töchterlein«34 eines im Hintergrund bleibenden Elternpaares zugegen ist. Während draußen die Nacht voranschreitet und die Natur ihre Szenerie entfaltet (Mondschein, rauschende Tannen), entspinnen sich drinnen zwischen den beiden lyrischen Figuren wiederholt einzelne dialogartige Szenen. 31 32 33 34

Vgl. DHA, Bd. 1/2, 984. Olaf Hildebrand: Emanzipation und Versöhnung: Aspekte des Sensualismus im Werk Heinrich Heines unter besonderer Berücksichtigung der Reisebilder. Tübingen 2001, 73. Ebd. DHA, Bd. 6, 612.

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In Bezug auf die Bergwelt werden sämtliche Vorstellungen und Klischees aufgerufen, die man gemeinhin und vor allem unter romantischen Vorzeichen mit dieser Umgebung assoziiert.35 Diese betrifft die Bereiche Klima (schneereiche Winter), Vegetation (Nadelgehölze), Sitten und Gebräuche (Zitterspiel, Weberhandwerk), Mythen und Sagen (Berggeister, alte Weisen, verwunschene Schlösser) sowie den dort ansässigen Menschenschlag (religiös, fleißig). Als wiederkehrende Metaphern, Motive und Themen wird dieses semantische Material der Bergwelt im Zyklusverlauf dann in Träumen, Geschichten, Gesprächen zu einem komplexen syntaktischen Ganzen weiter versponnen. Legt man dem Text eine »esoterische[]«36 bzw. enttarnende, dechiffrierende37 Lesart zugrunde, dann kann man die idyllische Bergwelt auch als Chiffre verstehen, in die die restaurativen deutschen Zustände der 1820er Jahre eingeschrieben sind. Hinter den vielfältigen Masken wie Träumen, Märchen und Mythen, wie Bilder von Kindheit und Jugend steckt der Wunsch nach Emanzipation, d.h. nach Veränderung, Erneuerung und Freiheit.38 Im Berg wohnen also auch die Kräfte der Befreiung und des Fortschritts, die nur auf ihre Aktivierung bzw. Wiedererweckung warten. In der ersten dialogischen Szene in I erzählt die Tochter des Hauses »in verfänglicher Situation«39 aus ihrem noch jungen Leben, das von Geheimnissen, wozu Erlebnisse im Schützenhof zu Goslar gehören, und Ängsten (Berggeister) geprägt ist. Auf der Zither erklingt abschließend die »alte Weise« eines Schlaflieds für Kinder im biblisch-christlichen Glaubenssinne. Ausgehend von den zentralen Bereichen des Religiösen und Geheimnisvollen erschließt sich für den Leser des ersten Gedichts eine christliche-romantische Vorstellungswelt,40 die allerdings bereits mit etwas Erotik bzw. Sinnlichkeit versehen ist. Im nächsten Gedicht bleibt die Kommunikationssituation aufrechterhalten. Aus der naiv-plauderhaften Unterhaltung wird ein ernstes Religionsgespräch, das parodistisch mit der »Gretchenfrage« nach der Religiosität generell beginnt (»Daß du gar zu oft gebetet, / Das zu glauben wird mir schwer, / Jenes Zucken deiner Lippen / Kommt wohl nicht vom Beten her.«41) und im Weiteren konkret an die Fragestellung nach der Zustimmung zum christlichen Dreieinigkeitsdogma geknüpft ist: »Glaubst wohl nicht an Gott den Vater, / An den Sohn und heilʼgen 35 36 37 38 39 40 41

Über »Naturbeschreibungen in der Harzreise« vgl. Leslie Brückner: Adolphe-François LoèveVeimars (1799–1854). Der Übersetzer und Diplomat als interkulturelle Mittlerfigur. Berlin 2013, 329–332. DHA, Bd. 6, 122. Vgl. Gerhard Höhn: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. 3., überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Stuttgart/Weimar 2004, 196. Vgl. ebd. DHA, Bd. 6, 612. Vgl. Hildebrand: Emanzipation und Versöhnung (Anm. 32), 74. DHA, Bd. 6, 108.

Heines Aus der Harzreise und Puškins Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija 165 Geist?«42 Das Ich antwortet nicht nach den Grundsätzen der christlichen Trinitätslehre, sondern entwickelt ein eigenes Glaubensbekenntnis, dem ein historischer Entwicklungsgedanke zugrunde liegt und das wohl an Hegels Trias- und Trinitätsspekulationen angelehnt ist.43 In Heines »Drei-Stufen-Modell«44 fällt dem Heiligen Geist (im Sinne von Hegels »Weltgeist«) auf der dritten und höchsten Stufe seiner Entwicklung die größte Bedeutung zu, und zwar in historischer, politischer und sensualistischer Hinsicht.45 Mit dieser Vorstellung vom Heiligen Geist verknüpft ist das (politisch und sozial engagierte) Selbstverständnis des Dichters, der sich selbst als dessen »Ritter«46 ausgibt und der dessen Ruf folgt: »Tausend Ritter, wohl gewappnet, / Hat der heil’ge Geist erwählt, / Seinen Willen zu erfüllen, / Und er hat sie muthbeseelt.«47 Der Heilige Geist aus der Heineschen Welt- und Glaubenssicht steht stellvertretend für ein umfassendes Befreiungs- und Emanzipationsprojekt. Er ist die Manifestation revolutionärer Zeitläufe (Anspielung auf die Französische Revolution) und somit Motor des geschichtlichen Fortschritts und Wegbereiter der politischen Gleichberechtigung der Menschen: Dieser that die größten Wunder, Und viel größ’re thut er noch; Er zerbrach die Zwingherrnburgen, Und zerbrach des Knechtes Joch. Alte Todeswunden heilt er, Und erneut das alte Recht: Alle Menschen, gleichgeboren, Sind ein adliges Geschlecht.48

Der Heilige Geist offenbart sich darüber hinaus als »Feind«49 gegenüber all denjenigen geistigen und weltlichen Erneuerungsbewegungen, die der Sinnes- und Lebensfreude abgeschworen haben. Damit wird sowohl der Spiritualismus der christlichen Religion als auch jener aus dem Umfeld sozialrevolutionärer Utopien einer sensualistischen Aus- bzw. Umdeutung unterzogen:50 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Ebd. Vgl. DHA, Bd. 1/2, 988; Hildebrand: Emanzipation und Versöhnung (Anm. 32), 77. Hildebrand: Emanzipation und Versöhnung (Anm. 32), 77. Vgl. ebd., 75. DHA, Bd. 6, 109. Ebd. Ebd. Giese: Lektürehilfen Heinrich Heine (Anm. 29), 123. Vgl. Hildebrand: Emanzipation und Versöhnung (Anm. 32), 84; Giese: Lektürehilfen Heinrich Heine (Anm. 29), 123.

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Er verscheucht die bösen Nebel Und das dunkle Hirngespinst, Das uns Lieb’ und Lust verleidet, Tag und Nacht uns angegrinst.51

Wie diese »Doppelstrategie […] gegen den asketischen Geist in seiner religiösen und säkularen Gestalt«52 aufgehen und ein Glaubensreich der Freude und des Genusses und die Vision einer Gesellschaft gleichberechtigter Individuen verwirklicht werden kann, illustriert Heine im dritten Gedicht der Bergidylle. Wiederum eingebunden in eine Gesprächssituation des lyrischen Subjekts mit der jungen Bergmannstochter entspannt sich eine »magisch-idyllische[] Märchenerzählung«,53 in deren Verlauf eine »verwünschte« Schlossgesellschaft vom Bann einer »böse[n] Zauberin[]« gelöst wird.54 Als Losung dafür erforderte es des »rechte[n] Wort[es]«,55 das aber nur das Dichterwort sein kann. Die Berggeister werden geweckt, die Naturkräfte erwachen, und der böse Zauber fällt von den Menschen ab. Die neugewonnene Freiheit und das neue ›adlige Geschlecht‹ (s.o. Gedicht II) werden nun mit poetisch-symbolischer Wortgewalt besungen. Dazu gehören die Blumenmetaphorik (Rosen, Lilien) und die Elemente des Tanzes und des Klangs (Pauken und Trompeten). Mit den Huldigungsszenen in der Mitte und am Schluss des Gedichtes verknüpft Heine den Emanzipationsgedanken unmittelbar mit dem Dichter und dessen literarischem Ausdruck. Durch dessen junge Verse (»junge[] Herrlichkeit«,56 »neue Sorte Verse«57) wird die alte erstarrte Welt hin zu einer neuen sensualistisch geprägten Gesellschaft umgestaltet. In dem »utopischen Entwurf« der Bergidylle sieht Hildebrand das Ziel von Heines »intellektuelle[r] Reise«58 erreicht und damit das Spannungsverhältnis von Aufklärung, Romantik und Religion überwunden: Alle für Heines Sensualismuskonzept maßgeblichen Zielvorstellungen sind darin enthalten, die aufklärerische Konzentration auf die diesseitige Welt des Sinnlichen ebenso wie deren romantisch-märchenhafte Verzauberung und religiöse Heiligung.59

Das in bukolischer Dichtungs- und Gattungstradition stehende nächste Gedicht [3], Der Hirtenknabe, knüpft mehrfach an das vorangegangene Gedicht Bergidylle an. 51 52 53 54 55 56 57 58 59

DHA, Bd. 6, 109. Hildebrand: Emanzipation und Versöhnung (Anm. 32), 84. Ebd., 85. DHA, Bd. 6, 111. Ebd. Ebd., 111, 113. Vgl. Heine an Moses Moser, 11. Januar 1825; HSA, Bd. 20, 184. Hildebrand: Emanzipation und Versöhnung (Anm. 32), 87. Ebd., 87.

Heines Aus der Harzreise und Puškins Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija 167 Es bekräftigt Heines ›Idyllenkonzeption‹, demzufolge hat der Rückgriff auf ein fernes Arkadien oder Goldenes Zeitalter vor allem eine affirmative Funktion im Hinblick auf sein modernes Gesellschaftsideal (»progressive[] Idylle«60). So wird in der letzten Strophe erneut das Motiv sinnlich erfüllter Diesseitigkeit aufgegriffen: In den Armen meiner Kön’gin Ruht mein Königshaupt so weich, Und in ihren lieben Augen Liegt mein unermeßlich Reich!61

Bereits die erste Zeile des dritten Gedichts, »König ist der Hirtenknabe«,62 variiert in bukolischem Gewand das Motiv des zum Erlöser erhöhten Dichters aus Bergidylle, der sich – wie oben geschildert – wie ein König von der Menge huldigen lässt. Beide Gedichte verbindet zudem ein politisches Anliegen – die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich in der arkadischen Literatur (Schäfer- und Hirtendichtung, Idyllendichtung) insbesondere »als satirisch aufgespießtes Auf-dem-Kopf-Stehen der Realität«63 manifestiert. Diesen Konnex zwischen Bukolik und Satire64 vermag Heine in seinem Hirtenlied eindrucksvoll zu verdeutlichen und für seine Kritik an den rückständigen deutschen Zuständen der Restaurationszeit (»schläfrige Idylle«65) nutzbar zu machen. Ihm zu Füßen liegen Schafe, Weiche Schmeichler, rothbekreuzt; Cavaliere sind die Kälber, Und sie wandeln stolzgespreizt. […] Und das klingt und singt so lieblich, Und so lieblich rauschen drein Wasserfall und Tannenbäume, Und der König schlummert ein.66

60 61 62 63 64 65 66

Ebd., 90. DHA, Bd. 6, 114. Ebd., 113. Klaus Garber: Verkehrte Welt in Arkadien? Paradoxe Diskurse im schäferlichen Gewande. In: Idyllik im Kontext von Antike und Moderne: Tradition und Transformation eines europäischen Topos. Hg. von Nina Birkner und York-Gothart Mix. Berlin/Boston 2015, 49–77, hier 70. Vgl. ebd., 59. Hildebrand: Emanzipation und Versöhnung (Anm. 32), 92. DHA, Bd. 6, 113 f.

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Gedicht [4], Auf dem Brocken, setzt unvermittelt mit einem Sonnenaufgang auf dem höchsten Berg im Harz ein (»Heller wird es schon im Osten«67). Weitere Details über den Gipfelaufenthalt und seine Umstände bleiben aus. Vielmehr verspürt das lyrische Subjekt beim Anblick des Naturschauspiels das Bedürfnis, möglichst schnell wieder an den Ausgangsort der Bergidylle zurückzukehren: Hätt’ ich Siebenmeilenstiefel, Lief ich mit der Hast des Windes, Ueber jene Bergesgipfel, Nach dem Haus des lieben Kindes.68

Das ›Haus des lieben Kindes‹ der Bergidylle beherbergt nicht nur generell den fortschriftlichen Geist von Heines Emanzipationsprojekt, sondern zielt – wie aus dem weiteren Gedichtverlauf hervorgeht – auf das für den Zyklus zentrale Thema der unerfüllten Geschlechtsliebe in seiner sinnlich-leiblichen Form. Erneute Verwendung dafür findet die poetische Metapher der ›Lilie‹. Im letzten Gedicht des Zyklus Die Ilse wechselt die Perspektive des Geschehens vom lyrischen Subjekt zur Sagengestalt der Prinzessin Ilse. Dies verwundert auch kaum: Das lyrische Subjekt mutiert nämlich im Zyklusverlauf vom rebellischen Wanderer [1], messianischen Ritter [2], König und Hirten einer ›verkehrten Welt‹ [3] zum letztlich passiven »sorgenkranke[n] Gesell[en]«69 [5], den wohl »[…] die alten Göttinger Zweifel wieder erfaßt haben«.70 Das Gedicht ruft noch einmal die Welt der Bergidylle auf den Plan (Blumenbilder, Märchenmotive, Erhabenheit des dichterischen Ausdrucks). Im Mittelpunkt steht dabei erneut der »erotische[] Erfüllungstraum«71 der Bergidylle, wobei das Heils- und Glücksversprechen diesmal nicht vom lyrischen Subjekt kommuniziert wird, sondern aus dem Munde der Märchenprinzessin Ilse kommt. Die Nixe ist – so Winkler – dadurch Muse und Verführerin zugleich:72 In meinen weißen Armen, An meiner weißen Brust, Da sollst du liegen und träumen Von alter Mährchenlust. 67 68 69 70 71 72

Ebd., 127. Ebd., 128. Ebd., 132. DHA, Bd. 1/2, 993. Hildebrand: Emanzipation und Versöhnung (Anm. 32), 104. Vgl. Markus Winkler: »Ja, die Sage ist wahr«. Der Gegensatz zwischen mythischem und nichtmythischem Wirklichkeitsverständnis und das Motiv der dämonischen Verführerin in Heines Harzreise. In: Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien. Hg. von Irmgard Roebling. Pfaffenweiler 1992, 65–100, hier 76.

Heines Aus der Harzreise und Puškins Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija 169 Ich will dich küssen und herzen, Wie ich geherzt und geküßt Den lieben Kaiser Heinrich, Der nun gestorben ist. […] Doch dich soll mein Arm umschlingen, Wie er Kaiser Heinrich umschlang; – Ich hielt ihm zu die Ohren, Wenn die Trompet’ erklang.73

Die Begriffspaare ›liegen‹ und ›träumen‹, ›herzen‹ und ›küssen‹ suggerieren vordergründig einen Zustand ungestörter ›Ehe‹ zwischen Mensch und Naturgeist, wo die Idylle mit dem Motiv der ›Mahrtenehe‹ verschmolzen ist.74 Der Preis für das Glück der ungestörten ›Mahrtenehe‹ wäre, wie der komische Mißklang signalisiert, den die beiden letzten Verse erzeugen, die künstliche, ja zwanghafte Abschirmung des Ich von der Außenwelt; die Schlachttrompete, die Kaiser Heinrich rufen will, steht synekdochisch für den Appell zur Auseinandersetzung mit der historischen Wirklichkeit.75

Der ›umschlingende Arm der Prinzessin‹ kann sowohl als Ausdruck »sinnliche[r] Begierde« als auch »fesselnder Gewalt« gedeutet werden. Daraus leitet Hildebrand nicht zuletzt die Vermutung ab, dass es Heine hier bereits um die Sichtbarmachung von »Grenzen und Bedingungen einer sinnlichen Lebenspraxis im gesellschaftlichen Raum« gegangen sei.76 Zum Schluss des Zyklus wird also klar, dass Heines Idylle, wie sie in der Berghütte erträumt wurde, mit raum-zeitlichem Abstand Bruchstellen aufweist. Am deutlichsten zeigt sich dies im Hinblick auf das hohe Dichterideal. Aber auch die Alltagstauglichkeit des sensualistischen Lebenskonzepts hält kaum einer ernsthafteren Prüfung stand, wodurch ihm allenfalls die Rolle eines utopischen Entwurfs zufällt.77

73 74 75 76 77

DHA, Bd. 6, 132 f. Vgl. Winkler: »Ja, die Sage ist wahr« (Anm. 72), 81. Ebd., 82. Hildebrand: Emanzipation und Versöhnung (Anm. 32), 106. Vgl. Winkler: »Ja, die Sage ist wahr« (Anm. 72), 87.

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Siegfried Ulbrecht 2.2. Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija (1829)78

Wenden wir uns nun dem Reisezyklus Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija (1829) zu, den Aleksandr Puškin im Jahre 1836 für einen geplanten, aber dann doch unveröffentlicht gebliebenen Band von gesammelten Gedichten als selbständiges und streng geordnetes Ganzes zusammenstellte.79 Entgegen der Aussage im Zyklustitel entsteht der größte Teil der Gedichte des Zyklus nicht »während der Zeit« der Reise im Jahre 1829, sondern erst in den Jahren danach. Auch die Reihenfolge der Gedichte besitzt keine Entsprechung im realen Ablauf der damaligen Reiseetappen. Eine wichtige zyklusbildende Funktion nimmt daher bereits der Zyklustitel ein: Unter dem Einfluss des Zyklustitels ›Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija‹ […] werden alle Gedichte als bestimmte ›Punkte‹, Stationen, als bestimmte Reiseeindrücke eines einzigen lyrischen Subjekts wahrgenommen.80

Diese Reise war eine Art Flucht vor den bedrückenden Verhältnissen und vor allem eine Reaktion Puškins auf seinen Liebeskummer. Das Reiseunternehmen führte ihn zur russischen Kaukasusarmee, und es wurde auch von der russischen Geheimpolizei genau überwacht.81 Der Kaukasus bedeutete für ihn nicht nur ein Stück Freiheit, sondern auch Begegnungen mit »fremden«, d.h. nichtrussischen Kulturen. Vor dem Hintergrund des Kaukasus werden von Puškin seine sowohl anti- als auch proimperialen Haltungen entwickelt. Die russische »Entdeckung« des Kaukasus und die kulturell-politische Aneignung dieses Territoriums wird innerhalb der postcolonial studies inzwischen als »imperiale Geste« und als Beispiel des russischen Orientalismus gedeutet.82 Diese Blickrichtung kann aus Platzgründen nicht weiterverfolgt werden; nur dort, wo es für den gesamten Zykluskontext 78 79

80 81 82

Die Analyse dieses Zyklus entnehme ich weitgehend meinem Aufsatz »Zum Problem der Gattungsinterferenz in der russischen Lyrik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: am Beispiel ausgewählter poetischer Reisezyklen« (Anm. 2). Vgl. Michail Darvin: Problema cikla v izučenii liriki. Učebnoe posobie [Das Problem des Zyklus beim Studium der Lyrik. Ein Lehrmittel]. Kemerovo 1983, 73. Neuerdings wurde der Zyklus in der Sammlung Alexander Sergeevič Puškin: Liričeskie cikly [Gedichtzyklen]. Sankt-Peterburg 2012, 39–45, abgedruckt, aus der ich im Folgenden zitiere. »Pod vlijaniem zaglavija cikla ›Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija‹ […] vse stichotvorenija načinajut vosprinimatʼsja kak nekie ›točki‹, ostanovki dviženija, kak nekie vpečatlenija putešestvija, prinadležaščie edinoj liričeskoj ličnosti.« (Darvin: Problema cikla (Anm. 79), 39). Vgl. Rolf-Dietrich Keil: Puschkin: Ein Dichterleben. Biographie. Frankfurt a.M. 1999, 295 ff. An dieser Stelle sei die grundlegende Arbeit Susan Laytons Russian Literature und Empire: Conquest of the Caucasus from Pushkin to Tolstoy (Cambridge 1994) genannt. Einen Überblick über die postcolonial studies in Russland bringen Alfred Sproede, Mirja Lecke: Der Weg der postcolonial studies nach und in Osteuropa. Polen, Litauen, Russland. In: Überbringen – Über-

Heines Aus der Harzreise und Puškins Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija 171 relevant ist, machen wir einen kurzen Hinweis. An dieser Stelle sei noch hinzugefügt, dass Puškins Kaukasuszyklus in poetologischer Hinsicht wesentlich einfacher strukturiert erscheint als der Harzzyklus von Heine. Der Grundgedanke bei Puškin ist der Lebensweg als Reise, die im Ungewissen endet. Das erste Gedicht, Darožnye žaloby [Reisebeschwerden], verweist zum einen auf den außertextuellen Kontext – Puškins widerwillige Einstellung gegenüber seinen zahlreichen Reiseunternehmungen nach 182983 – und stellt zum anderen innertextuell die eigentliche situative Basis für die folgenden Gedichte des Zyklus dar.84 In der zweiten Strophe wird deutlich, dass die Reise selbst zum zentralen Thema des Gedichts avanciert und auf das tragische, unausweichliche Schicksal des lyrischen Subjekts einwirkt: »Vielleicht hat es Gott so eingerichtet, dass er mich auf dem großen Weg sterben lässt«.85 Die letzten zwei Strophen kennzeichnet neben der tiefen Sehnsucht des Ich nach Heimat und Geborgenheit vor allem der deutliche sujeterzeugende Impuls in Bezug auf den weiteren Zyklusverlauf. Zum Schluss heißt es: »Nun, lauf schon, hüa!..«86 Gedicht [2], Kalmyčke [An die Kalmückin], ist eine Abschiedsszene, der eine Liebesepisode des Ich mit einer einheimischen Kalmückin vorausgeht. Das Thema der Reise aus Gedicht [1] setzt sich hier fort. Dies wird auch durch die rekurrente Verwendung des Lexems »Reisekutsche« (»kibitka«) unterstrichen. Hier handelt es sich um eine eindeutig »orientalistische« Haltung, da das lyrische Du als ein der Kultur fremdes Naturkind dargestellt wird. Die Opposition ›Kultur‹ vs. ›Natur‹ bzw. Zentrum und Rand des Imperiums wird jedoch durch eine doppelte Ironie wieder aufgehoben: von der sogenannten höfischen Kultur der Hauptstadt, die

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formen – Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert. Hg. von Dietlind Hüchtker und Alfrun Kliems. Köln/Weimar/Wien 2011, 27–66. Die Kaukasus-Problematik im Allgemeinen wird in den neuesten Publikationen zu den russisch-georgischen imperialen Beziehungen behandelt. Vgl. u.a. Giorgi Maisuradze, Franziska Thun-Hohenstein: Sonniges Georgien. Figuren des Nationalen im Sowjetimperium. Berlin 2015. Die kulturelle Semantik von Kaukasus und Schwarzem Meer als mythologisierende Opposition ›Erde vs. Wasser‹ (im Sinne von Carl Schmitt) erforscht die Arbeit: Zaal Andronikashvili, Emzar Jgerenaia, Franziska Thun-Hohenstein: Landna(h)me Georgien. Studien zur kulturellen Semantik. Berlin 2018. Vgl. E.V. Slinina: Liričeskij cikl A.S. Puškina »Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija (1829)« [Der Gedichtzyklus A.S. Puškins »Gedichte, die während einer Reise verfasst wurden (1829)«]. In: Puškinskij sbornik. Sbornik naučnych trudov. Leningrad 1977, 3–15, hier 5. »[…] dieses Gedicht hat eine Schlüsselbedeutung für den ganzen Zyklus.« (»[…] eto stichotvorenie imeet ključevoe, opredeljajuščee značenie dlja vsego cikla.«). (Ebd., 4). »Na bol’šoj mne, znatʼ, doroge/ Umeret’ Gospodʼ sudil [.]« (Puškin: Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija [Anm. 79], 39). Dabei soll erwähnt werden, dass das Todesthema, die Todesangst und Vorausahnungen des eigenen Todes konstante Motive der Puškinschen Lyrik sind. Siehe dazu Peter Thiergen: Aleksandr Puškin: Brožu li ja vdoľ ulic šumnych… In: Die russische Lyrik. Hg. von Bodo Zelinsky. Köln/Weimar/Wien 2002, 86–92. »Nu, pošel že, pogonjaj!..« (Puškin: Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija [Anm. 79], 40).

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über englische und französische Bücher redet und sich nach der (fremdländischen) Mode richtet, hält das lyrische Subjekt nicht viel.87 In Gedicht [3], Na cholmach Gruzii… [Auf den Hügeln Georgiens…], ist der Kaukasus das erste Mal ein eigener thematischer Bestandteil, ohne jedoch bereits dynamisierend auf den Fortgang des Sujets einzuwirken. Gleichzeitig rückt die Reise selbst in den Hintergrund, bleibt aber auf dem Zyklushintergrund weiterhin präsent. In Bezug auf die ersten beiden Gedichte des Zyklus spielt das dritte, ›Auf den Hügeln Georgiens...‹, eine ›synthetisierende‹ Rolle. Alle drei sind sehr persönlich, intim: in dem ersten – das ungelöste Drama des Schicksals; in dem zweiten nur eine Episode, ein Treffen, in einer Atmosphäre leichter Sorglosigkeit, eines ironischen Spiels; im dritten – innere Kontemplation, Eintauchen in sich. Es entstand die Variante einer ›Triade‹, in lyrischem Gewand […].88

Diesem spezifischen Zusammenwirken divergierender Einzelgedichte zu einer dialektischen Einheit liegt ein Konstruktionsprinzip zugrunde, das wir auch als »dialektische Montage«89 bezeichnen können. In den Mittelpunkt der zweiten Triade, die insgesamt den wichtigsten Teil des Zyklus ausmacht, rückt die innere Welt des lyrischen Subjekts. Sie steht in unmittelbarem Wechselspiel mit der auf sie einwirkenden äußeren Natur. Der Anblick der Bergwelt mit ihren faszinierenden Elementargewalten hat für das Ich tiefgreifende psychische Veränderungen zur Folge.

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Gerade dieses Gedicht würde eine tiefere Analyse hinsichtlich des Orientalismus und den Fragen der sogenannten ›inneren Kolonisation‹ (Selbstkolonisierung Russlands mit Hilfe fremdländischer Kulturen) verdienen. Von besonderem Interesse ist hier die Beschreibung der Kalmykin, die sich durch »Schlitzaugen, eine flache Nase und breite Stirn« (Puškin: Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija [Anm. 79], 40) auszeichnet, die eindeutig Züge kultureller und rassischer Überlegenheit der Russen gegenüber den kaukasischen Völkern aufweist. Zum Verhältnis Puškins zu den asiatischen Völkern und der ihm zugrundeliegenden doppelten Ironie im Gedicht Exegi monumentum vgl. Reinhard Lauer: Aleksandr Puškin: Ja pamjatnik sebe vozdvig nerukotvornyj… In: Zelinsky: Die russische Lyrik (Anm. 85), 93–99, hier 97. Die sogenannte ›innere Kolonisation‹ wird kritisch im Aufsatz von Sproede/Lecke: Der Weg der postcolonial studies (Anm. 82), 47–50 hinterfragt. »Po otnošeniju k pervym dvum stichotvorenijam cikla, tret’e, ›Na cholmach Gruzii...‹, igraet rolʼ ›sintezirujuščuju‹. Vse tri očen’ ličny, intimny: v pervom – nerazrešennaja drama sudʼby; vo vtorom liš’ ėpizod, vstreča, v atmosfere legkoj bespečnosti, ironičnoj igry; v tretʼem – vnutrennee sozercanie, pogruženie v sebja. Voznik variant ›triady‹, v liričeskom vyraženii [...].« (Slinina: Liričeskij cikl [Anm. 83], 6). Den Terminus entlehne ich der Arbeit Hansen-Löves zum ›Russischen Formalismus‹. Vgl. Aage A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus. Wien 1978, 355.

Heines Aus der Harzreise und Puškins Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija 173 In Gedicht [4], Monastyr’ na Kazbeke [Das Kloster auf dem Kasbek], drängt es das lyrische Ich aus der Tiefe einer Schlucht in eine »in den Wolken schwebende Klosterzelle«90 auf dem Berg Kasbek, um dort in der Nähe zu Gott persönliche Freiheit zu erlangen. Im nächsten Gedicht, Obval [Lawine], das mit dem vorangehenden Gedicht vor allem durch das Motiv der Freiheit verbunden ist, erzählt das Ich eine Episode aus der Geschichte der Natur der kaukasischen Bergwelt, in der sich der wütende Terek einen unterirdischen Weg durch eine gewaltige Eislawine bahnt. Die gefesselte Naturkraft steht hier für das Motiv des Gefangen-Seins. Im Kontext des aus den Gedichten [4] bis [6] bestehenden Unterzyklus steht dieses vergangene Naturereignis, d.h. der dramatische Konflikt zwischen dem Fluss und der Lawine, in erster Linie für die seelischen Kämpfe des Ich-Helden. Das letzte Gedicht aus diesem Kreis, Kavkaz [Kaukasus], welches das ideelle und dramatische Zentrum, den Kulminationspunkt des Zyklus, darstellt,91 lässt den Blick des Lesers auf ein gleichsam der Welt entrücktes einsames lyrisches Subjekt richten. Von einer statischen Position über den Gipfeln des Kaukasus fängt es wie ein Fotograf ausschnitthaft einzelne Eindrücke seiner Umgebung ein und montiert sie in seiner Vorstellung zu einem einzigartigen Naturpanorama. Die eigentliche Aufmerksamkeit des Ich verlagert sich auf den Fluss im Tal, mit dem es mehr und mehr »verschmilzt«.92 Mit der Verbindung von Oben und Unten, Statik und Dynamik, ist eine gewisse Ganzheitlichkeit und innere Harmonie in der Existenz des Ich erreicht. Als zykluskonstituierende Relation erweist sich zunehmend das strukturelle Prinzip der »Kontrastmontage«,93 das in diesem Gedicht unter anderem auch dem widersprüchlichen, kontrastierenden Bild vom »fröhlich wütenden« Terek zugrunde liegt. Ähnlich wie Gedicht [3] hat auch Kavkaz als abschließendes Gedicht der zweiten Triade »synthetisierende« Funktion,94 indem es die beiden wichtigsten Motive aus Gedicht [4] und [5] (Höhe und Terek) vereint. Das Verfahren der dialektischen Montage ist also auch hier verwirklicht. Das siebente Gedicht, Iz Gafiza (lager’ pri Evrate) [Aus Hafis (Lager am Euphrat)], leitet die dritte Triade des Zyklustextes ein, welche die russische Kultur und Geschichte (Auseinandersetzung mit den kaukasischen Völkern, Kosakentum) als Kulisse für die weitere Entwicklung des zyklischen Sujets hat. Der Leser fühlt sich als Zuhörer eines bruchstückhaften Gesprächs,95 in dem ein lyrisches 90 91 92 93 94 95

»v zaoblačnuju kelʼju« (Puškin: Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija [Anm. 79], 41). Vgl. Darvin: Problema cikla (Anm. 79), 40. Slinina: Liričeskij cikl (Anm. 83), 9. Den Terminus prägt ebenfalls Hansen-Löve. Vgl. Hansen-Löve: Formalismus (Anm. 89), 88. Slinina: Liričeskij cikl (Anm. 83), 10. »Ein ironischer Monolog, ein Fragment, ein Gesprächsausschnitt, eine Replik im Dialog - so kann man die Form dieses Gedichts bezeichnen.« (»Ironičeskij monolog, fragment, otryvok iz besedy, replika v dialoge – tak možet byt’ osoznana forma etogo stichotvorenija.«) (Ebd.).

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Subjekt sein Gegenüber von der Teilnahme am Kriegsgeschehen abzuhalten versucht (antimilitaristische Intention). Der Hinweis auf den persischen Dichter verleiht dem Gedicht Zitatcharakter und macht auf die Möglichkeit eines interkulturellen Dialogs aufmerksam.96 Insgesamt unterstreicht dieses Gedicht die spezielle montagehafte Konstruktion des Zyklus, in dem sich sowohl zwischen den Einzelgedichten als auch den Unterzyklen freie Übergänge eröffnen. Andererseits erzielt der Autor durch die wiederholte Verwendung der hier in unmittelbarer Nachbarschaft platzierten Motive ›Schönheit‹ und ›Tod‹ eine gegenläufige Tendenz. Sie rekurrieren auf die beiden Eingangsgedichte und tragen somit zur zyklischen Geschlossenheit bei. Auch in Gedicht [8], Delibaš [Delibaš], geht es um Krieg und Tod, polarisiert und konzentriert in den beiden verfeindeten Gestalten des Kosaken und Delibaschs. Die dramatischen Ereignisse werden aus der Distanz von zwei räumlich auseinanderliegenden Standorten wie von Zuschauern kommentiert. Die Worte »Schaut! Wie sehen die aus?«97 klingen wie eine Anrede an den Rezipienten. Mit ihnen soll an sein Urteilsvermögen appelliert werden. Das Gedicht erhält in gewisser Weise eine Lehr- bzw. Parabelfunktion. Es kann auch als eine Anspielung auf die Sinnlosigkeit des ewigen Kampfes der Russen gegen die Kaukasier verstanden werden. Im neunten und letzten Gedicht, Don [Don], wechselt das Geschehen aus der quasi geschlossenen Welt der Berge in den offenen Raum der Ebene. Ganz nach Kosakenmanier bekundet das Ich seine Ankunft durch die Begrüßung des Flusses im Namen seiner tapferen Söhne. Der Weg, den das Ich am Anfang des Zyklus angetreten hat, endet und verliert sich hier am stillen Don in weinselig-folkloristischer Atmosphäre mit Betonung der großen kulturellen und historischen Tradition. Der Zyklus kann über weite Strecken als eine Begegnung des ›Einheimischen (Russischen)‹ mit dem ›Fremden‹ gesehen werden. Die gedankliche Grundlinie von Puškins poetischem Reisezyklus, die sich »induktiv«98 entwickelt, gründet auf der Suche des Ich nach innerer Harmonie, Ganzheit und persönlicher Freiheit. Der Weg dorthin, der den eigenen Lebensweg versinnbildlicht, ist aufregend und gefährlich. Die Schlussszene lässt jedoch daran 96

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Mit den »schöpferischen Impulsen« für den Puškinschen Zyklus befasst sich der Aufsatz von I.A. Balašova: K voprosu o literaturnych istočnikach »Stichov, sočinennych vo vremja putešestvija (1829)« A.S. Puškina [Zur Frage der literarischen Quellen von A.S. Puškins »Gedichte, die während einer Reise verfasst wurden (1829)«]. In: Lekcii po receptivnoj ėstetike. Vyp I. Metodičeskoe posobie dlja studentov filologičeskogo fakul’teta. Rostov-na-Donu 1993, 4–23. Zur Rezeption europäischer literarischer Muster und Motive bei Puškin als einer für Russland typischen Aneignung des Fremden vgl. Felix Philipp Ingold: Russische Wege. Geschichte Kultur Weltbild. München 2007, insbesondere 458 f. »Posmotrite! kakovy?« (Puškin: Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija [Anm. 79], 45). Darvin: Problema cikla (Anm. 79), 40.

Heines Aus der Harzreise und Puškins Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija 175 zweifeln, dass das Ich seine Vorstellungen wirklich realisieren kann. Die »folkloristische Stilisierung«,99 die bereits in Gedicht [1] in der Anrufung der Mitglieder der Kosakenbruderschaft »Brüder« (»bratcy«) spürbar ist, stellt hier ein Mittel der Ironie, der romantischen Ironie, dar, welche die aufgebaute Illusion entblößt und zerstört. Dieser antiillusionistische Zug ist im Zyklus mehrfach nachweisbar. 3. Zusammenfassung Der poetische Reisezyklus stellt eine wichtige genretypologische Ausprägung der Gattungsform des Gedichtzyklus dar. Einen entscheidenden Einfluss auf den Entwicklungsprozess dieses zyklischen Textgebildes haben Veränderungen sowohl in der romantischen Dichtung als auch in der Reiseliteratur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Die zyklische Struktur schafft neue übergreifende semantische Relationen zwischen den einzelnen Gedichten. Verschiedene innere Erlebnisse oder Reflexionen des Ich-Subjekts, aber auch räumliche und zeitliche Komponenten erlangen einen strukturellen Zusammenhalt und somit semantische Kohärenz. Im Folgenden werden die bisherigen Ergebnisse nochmals im Hinblick auf die strukturellen Konstituenten wie Titel, lyrisches Subjekt, raum-zeitliche Beziehungen, motiv-thematische Relationen reflektiert und fruchtbar gemacht. Dabei wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich in dieser literarischen Textform das ›episch-narrative Motiv der Reise und das lyrische Wesen der Zyklen‹100 zu einer produktiven Mischform der abstrakten Grundgattungen Epik und Lyrik verschmelzen und aufgrund dessen in konkreten Texten ein latentes Schwanken zwischen lyrischer und epischer Merkmalhaftigkeit herrscht. Der Zyklustitel und die Titel der Einzelgedichte (die fast ausnahmslos die Regel sind) stellen sowohl bei Heine als auch bei Puškin wichtige Komponenten des Sinnbildungsprozesses dar und sind maßgeblich an der Herstellung gesamttextueller Kohärenz beteiligt. Der Zyklustitel Aus der Harzreise stellt allerdings nicht nur den Bezug zu Heines Prosawerk Die Harzreise her, sondern kann auch als Anspielung auf die kaum zu verbergende Fragmentartigkeit des Gesamttextes gelesen werden. Diesen zentripetalen Tendenzen wirkt der Prolog gleich anfangs mit seiner sowohl formalen als auch inhaltlichen Rahmenfunktion entgegen. Als eine zentrale zyklusbildende Komponente erweist sich das lyrische Subjekt, das in beiden Zyklen durchgehend vorhanden ist. Bei Heine ist es eine umfassende Instanz, die den romantischen Glauben an die Macht der Kunst transportiert. Das lyrische Subjekt verkörpert vor allem den romantischen Dichter, der auf sich selbst zurückgeworfen, in den Rollen des Revolutionärs und Erlösers agiert. 99 Slinina: Liričeskij cikl (Anm. 83), 13. 100 Vgl. Ljapina: ›Moja poezdka‹ (Anm. 3), 41.

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Darüber hinaus vermag es sich hinter der Figurenmaske bereits älterer literarischer Gattungsformen zu verbergen. Durch das Hinzutreten eines lyrischen Gegenübers entspannen sich in Bergidylle wiederholt dialoghafte Situationen, wodurch das dreiteilige Gedicht einer Dramatisierung ausgesetzt ist. Bei Puškin tritt das lyrische Subjekt häufig als Erzähler oder Beobachter in Erscheinung. Die Umwelt beginnt sich stellenweise gleichsam selbst zu artikulieren, und das lyrische Subjekt nimmt in dem Naturschauspiel die Rolle einer Art »Nebenfigur«101 ein. In der letzten Phase des Zyklus ist die epische Distanz des Subjekts zu den Vorgängen besonders auffällig. Auf der Raum-Zeitachse herrscht in Puškins Reisetext das epische Prinzip der horizontalen Sukzession einzelner Etappen vor. Zu einer Lyrisierung (und somit zu einer Strukturschwankung im epischen Prinzip) führen Abschnitte mit der Tendenz zur raum-zeitlichen Konzentration. In der für den Zyklusverlauf entscheidenden Phase (Gedicht [4] bis [6]) herrscht die »›vertikale‹ Konstruktionsachse über die ›horizontale‹ der zeitlich und räumlich logischen Sukzession«.102 Die räumlichen Bewegungen verlaufen von unten nach oben und symbolisieren den aufgewühlten Seelenzustand des lyrischen Ich. Wie das Bild vom aufgestauten Terek (Zyklusmitte) auch suggeriert, scheint an diesen Stellen die Zeit im Zyklus durch die verdichteten Ereignisse stehenzubleiben. In der Raum-Zeitstruktur existiert also zumindest hier eine Dominanz des lyrischen Prinzips. Von lyrisierender Wirkung sind generell all jene Gedichte, die maßgeblich von Stimmungen, Gefühlen und Gedanken getragen werden, was bei Puškin in Gedicht [3] der Fall ist. In Heines Reisetext zeichnen die semantischen Bedeutungseinheiten zur Reise nur unscharf den linear-logischen Verlauf einer Reise nach. Der Anfang der Reise ist zwar markiert, jedoch gibt es keine Hinweise, die auf das Ende der Reise schließen lassen. Spärlich fallen nicht nur die Angaben räumlich-geographischer Koordinaten, sondern vor allem – wie auch bei Puškin – die Daten zu den zeitlichen Umständen der Reise aus. Während das lyrische Ich bei Puškin auf seiner Reise fast ausnahmslos an realen Schauplätzen anzutreffen ist und somit in ein äußeres Geschehen involviert ist, verlagert sich das Geschehen bei Heine ins Innere. Der Dichter vermittelt Vorgänge, die der inneren, imaginären Welt des lyrischen Subjekts entspringen und häufig die deutsche und auch die antike Mythen-, Sagen- und Märchenwelt als Hintergrund haben. Im Ergebnis entsteht eine eigenmächtige, aus divergierenden Fiktionsebenen geschichtete Realität, die Träume, Hoffnungen und Visionen zu vermitteln versucht. Im Unterschied zu Puškin

101 Slinina: Liričeskij cikl (Anm. 83), 8. 102 Die Formulierung findet sich bei Wolfgang F. Schwarz: Drama der russischen und tschechischen Avantgarde als szenischer Text: zur Theorie und Praxis des epischen und lyrischen Dramas bei Vladimir Majakovskij und Vítězslav Nezval. Frankfurt a.M./Bern/Cirencester 1980, 106.

Heines Aus der Harzreise und Puškins Stichi, sočinennye vo vremja putešestvija 177 kommt bei Heine noch eine kreisende, dem logisch-kausalen Fortschreiten der Ereignisse mit Anfang, Mitte und Ende entgegengesetzte Bewegung hinzu. Diese zyklische Raum-Zeit-Dimension hebt den lyrischen gegenüber dem epischen Charakter des Textes hervor: Betrachtet man die fünf Gedichte der ›Harzreise‹ als zyklisches Arrangement, so erweist sich die ›Bergidylle‹ als Zentrum einer übergreifenden Verweisstruktur: Alle Gedichte deuten auf sie voraus oder beziehen sich anspielungsreich auf sie zurück.103

Was für Heine Programm ist, kann der Leser umfänglich dem dreiteiligen Gedicht Bergidylle entnehmen, das gleich im Anschluss an den Prolog an zweiter Stelle des Zyklus platziert ist. Hier ersinnt der Dichter sein Emanzipationsprojekt, und zwar in historischer, politischer und insbesondere in sensualistischer Hinsicht. Der Heinesche Zyklus dreht sich praktisch um eine thematische Achse. Diese bildet die unglückliche Liebe, die – wie Heine bemerkt – in seinen damaligen Dichtungen in immer neuen »Variazionen« thematisch durchgespielt wird.104 Dadurch, dass das Liebesthema in allen Gedichten präsent ist, avanciert es zur zentralen strukturellen Klammer und trägt entscheidend zur zyklischen Kohärenz bei. Heines Traum von einem besseren irdischen Dasein verbindet die Idee von einer auf das Körperliche gerichteten individuellen Liebe mit der Idee der Menschenliebe im Sinne der Erlösung der Menschheit durch den Dichter. Für Heine ist das »Motiv der schmerzvollen Liebe« überdies eine Metapher des Widerstandes gegen die deutschen Verhältnisse, die politische Unfreiheit und soziale Ungleichheit kennzeichneten.105 In dem letzten Gedicht vermehren sich allerdings die Zweifel an der Umsetzbarkeit solcher Vorstellungen, und man kann fragen, ob sich Heine nicht spätestens jetzt der Haltlosigkeit seiner schönen Illusion bewusst geworden ist. Die wesentlichen Themen des Puškinschen Zyklus stellen die Bereiche Freiheit, Liebe, Natur sowie Geschichte und Kultur (oft als Gegensatz zwischen Eigenem und Fremdem oder als Hin- und Hergerissen-Sein zwischen der Bejahung der imperialen Idee und deren Kritik) dar. Als Metathema lässt sich die Reise ausmachen: Sie symbolisiert den Lebensweg, auf dem Gott den Menschen vor Prüfungen stellt. Die Reisetexte werden in beiden Fällen von zentralen Gedichten getragen: Bergidylle (Heine) und Kavkaz (Puškin). Die Bergidylle wird von Heine in eine Denkfabrik verwandelt; bei Puškin kulminiert dort das Geschehen, und das lyrische Ich wird ein Teil der Natur. Aus den semantischen Feldern von Puškins Text entwickeln sich mitunter Teilsujets, von denen jedes für sich eine Art Geschichte 103 Hildebrand: Emanzipation und Versöhnung (Anm. 32), 104. 104 Heine an Karl Immermann, 10. Juni 1823; HSA, Bd. 20, 91. 105 Vgl. Bernd Kortländer: Nachwort. In: Heinrich Heine: Buch der Lieder. Hg. von Bern Kortländer. Stuttgart 2014, 375–404, hier 393.

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erzählt; sie konzentrieren sich auf relativ selbständige Gedichtgruppen (Triaden), die im Innern dem Prinzip der dialektischen Montage folgen. Mittels der einzelnen Sujetstränge entstehen größere strukturelle Kontexte. Die lyrische Struktur des Zyklus ist hier dem Verfahren der Episierung ausgesetzt. Verstärkt wird die Tendenz zur Episierung noch durch das antiillusionistische Moment im Schlussgedicht.

»Ein ungeheurer Vorrath der herrlichsten Bilder erwartet mich dort…« Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus STEFANI KUGLER Der im Banat geborene österreichisch-ungarische Dichter Nikolaus Lenau (1802– 1850) zählte zu den bekanntesten, erfolgreichsten und »zeitgemäßesten« deutschsprachigen Lyrikern seiner Epoche.1 Er hieß eigentlich Nikolaus Niembsch, Edler von Strehlenau, war dank einer Erbschaft weitgehend finanziell abgesichert, konnte verschiedenen Studien nachgehen und sich letztlich ausschließlich der Poesie widmen. Melancholie und Sinnzweifel begleiteten den Lebensweg des Biedermeierautors, der unter Gefühlen existenzieller Verunsicherung und Heimatlosigkeit litt. Lenau führte über viele Jahre ein rastloses Künstlerdasein ohne festen Wohnsitz und befand sich quasi immer auf der Reise. Hierbei bewegte er sich beinahe ausschließlich im österreichischen, ungarischen und süddeutschen Raum, wo er seit seiner Studienzeit in freundschaftlichem Kontakt zu Mitgliedern der ›Schwäbischen Dichterschule‹ stand, dem ›Seracher Kreis‹ angehörte und literarische Aufmerksamkeit in den Salons fand. Die Jahre 1832 und 1833 stellten diesbezüglich eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Voller Hoffnungen trat der dreißigjährige Lyriker im Frühjahr 1832 eine Überseereise in die USA an, durch die er seinen bisherigen Erfahrungsraum deutlich zu verändern und zu erweitern suchte, von der er jedoch schon einige Monate später ernüchtert nach Europa zurückkehrte.2 Zehn Jahre danach, 1844, erlitt Nikolaus Lenau einen seelischen und körperlichen Zusammenbruch, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Lenaus atmosphärisch verdichtete Stimmungslyrik3 betrauert in einem individuellen spätromantischen Ton die Unzulänglichkeit der Welt und der eigenen Zeit. Die oft liedhaften Gedichte verleihen dem restaurativen Lebensgefühl auf 1 2 3

Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. III: Die Dichter. Stuttgart 1980, 640. Vgl. auch Michael Ritter: Zeit des Herbstes. Nikolaus Lenau. Biografie. Wien 2002, 10. Vgl. Lenau-Chronik 1802–1851. Bearb. von Norbert Otto Eke und Karl Jürgen Skrodzki. Wien 1992, 64–87. Vgl. zur Neuakzentuierung des Begriffs ›Stimmungslyrik‹ in jüngerer Zeit Burkhard MeyerSickendieck: Lyrisches Gespür. Vom geheimen Sensorium moderner Poesie. Paderborn 2011. Folgt man Meyer-Sickendiecks Differenzierungsvorschlag, so zeichnet sich Lenaus auf »Ingressionsprozesse« konzentrierte Lyrik vornehmlich durch »atmosphärisches Gespür« aus (ebd., 379 f.).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_10

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spezifische Weise poetisch Ausdruck, indem sie von einem modernen Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Leben zeugen.4 Bereits für die zeitgenössische Öffentlichkeit, die eine unmittelbare Verbindung zwischen seiner schwermütigen Lyrik und seiner ruhelosen Persönlichkeit sah, stellte Lenau den Inbegriff eines Weltschmerzpoeten dar. Allerdings wusste der Autor eine solche Rezeption durch pathetische Selbstaussagen, in denen er seine Dichtung zu seiner eigentlichen Existenz erhebt, durchaus auch selbst zu befördern. Angesichts der auf der Amerikareise zu erwartenden Strapazen und Entbehrungen äußerte sich Lenau beispielsweise folgendermaßen: Ich brauche Amerika zu meiner Ausbildung. Dort will ich meine Fantasie in die Schule – die Urwälder – schicken. Mein Herz aber durch und durch in Schmerz macerieren, in Sehnsucht nach den Geliebten. Künstlerische Ausbildung ist mein höchster Lebenszweck, alle Kräfte meines Geistes, das Glück meines Gemüthes betracht’ ich als Mittel dazu. Erinnerst Du Dich an das Gedicht von Chamisso, wo der Mahler einen Jüngling ans Kreuz nagelt, um ein Bild vom Todesschmerze zu haben? Ich will mich selber ans Kreuz schlagen, wenn’s nur ein gutes Gedicht gibt. Und wer nicht alles Andere gerne in die Schanze schlägt, der Kunst zu Liebe, der meint es nicht aufrichtig mit ihr.5

Über seine unterschiedlichen Motive für die beschwerliche Reise und seine persönlichen Erlebnisse in den Vereinigten Staaten informieren auch weitere von Lenau vor und während der Reise verfasste Briefe. Sie zeichnen ein klischeehaftes Negativbild der USA und wurden als frühe Dokumente einer eurozentrischen und anti-amerikanischen Sichtweise auf die Vereinigten Staaten und ihre Bewohner bereits genauer untersucht.6 Jedenfalls galt der melancholische Lyriker schon bald nach seiner Rückkehr als Musterbeispiel eines von den USA enttäuschten europäischen Intellektuellen, und seine abwertenden Fremdbeschreibungen dienten als Vorlage für verschiedene fiktionale und nicht-fiktionale Darstellungen der amerikanischen Verhältnisse wie beispielsweise Ferdinand Kürnbergers Roman Der

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Vgl. Hansgeorg Bergmann: Nikolaus Lenau – zwischen Romantik und Moderne. In: Paradoxien der Romantik. Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Wien im frühen 19. Jahrhundert. Hg. von Christian Aspalter u.a. Wien 2006, 421–430, hier 422. Nikolaus Lenau an Karl Mayer, 12.(?) März 1832. In: Ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. im Auftrag der Internationalen Lenau-Gesellschaft von Helmut Brandt u.a. Bd. 5: Briefe 1812–1837. Teil 1: Text. Hg. von Hartmut Steinecke und András Vizkelety. Wien 1989, 181. Lenau bezieht sich auf Adelbert von Chamissos kurz zuvor veröffentlichten Terzinen-Zyklus Das Kruzifix. Eine Künstler-Legende (1831). Wolfgang Müller-Funk: Amerikanische Erfahrungen 1832/33 im Spiegel von Lyrik, Briefen und anderen Textdokumenten. In: Amerika im europäischen Roman um 1850. Varianten transatlantischer Erfahrung. Hg. von Alexander Ritter. Wien 2011, 9–23, hier 15.

Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus 181 Amerikamüde (1855).7 Während die über die Amerikareise vorliegenden historischen Quellen und Briefe in der bis heute noch vielfach biographisch ausgerichteten Lenau-Forschung ausgiebig beschrieben und diskutiert wurden,8 ist das für Lenaus poetische Auseinandersetzungen mit Amerika erst ansatzweise geschehen.9 Deshalb wird der vorliegende Beitrag den Fokus bewusst auf die während und durch den Amerikaaufenthalt 1832/33 inspirierte Reiselyrik Nikolaus Lenaus richten. In einem konkreten motivischen und thematischen Zusammenhang mit dem USA-Aufenthalt des Dichters stehen verschiedene Natur- und Erzählgedichte aus der zweiten selbstständigen Veröffentlichung seiner Gedichte im Jahr 1834, die er den Gruppen Reiseblätter und Atlantica zuordnete, darunter vor allem Der Indianerzug und Die drei Indianer,10 sowie der Zyklus Reiseblätter aus den Neueren Gedichten von 1838 mit prominenten Beispielen wie Der Urwald, Verschiedene Deutung oder Niagara.11 Vorweg sei bereits auf eine auffällige Diskrepanz zwischen den ›faktualen‹ und den fiktionalen Amerikatexten des Dichters hingewiesen: Obwohl Lenau in seinen Briefen in die Heimat über seine Erlebnisse in den Vereinigten Staaten berichtet und im Zuge der kulturellen Fremdheitserfahrungen explizite Bewertungen des und der ›Anderen‹ vornimmt, wendet sich noch keines der während seines 7 8

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Ferdinand Kürnberger: Der Amerika-Müde. Amerikanisches Kulturbild. Frankfurt a.M. 1855 [http://www.deutschestexarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855; letzter Zugriff: 15.01.2020]. Vgl. beispielsweise Karl Gladt: »Es ist ein Land voll träumerischem Trug…«. Kollaktaneen zum Thema »Lenau in Amerika«. In: Lenau-Almanach 1979, 63–82; Rudolf Schier: Das Lenau-Bild Amerikas, das Amerikabild Lenaus. In: Vergleichende Literaturforschung. Internationale LenauGesellschaft 1964–1984. Hg. von Anton Mádl und Anton Schwob. Wien 1984, 169–177; und Norbert Oellers: Der zerstörte Traum. Nikolaus Lenaus Amerika-Abenteuer. In: Literatur und Geschichte. Festschrift für Wulf Koepke. Hg. von Karl Menges. Amsterdam 1998, 139–153. Den besten Überblick über die Reisedaten und Quellen bietet die Lenau-Chronik (Anm. 2). Die ausführlichste neuere Lenau-Biographie widmet der Amerikareise über hundert Seiten und kontextualisiert sie durch Zeugnisse anderer zeitgenössischer Amerika-Reisender wie Alexis de Tocqueville. Vgl. Roman Roček: Dämonie des Biedermeier. Nikolaus Lenaus Lebenstragödie. Wien/Köln/Weimar 2005, 235–341. Vgl. Gerhard J. Auer: »Mag poetischer sein Europa’s Kettengeklirre, / Aber tröstlicher ist Amerika’s Thalergeschwirre«. Die Dichotomie in Nikolaus Lenaus Amerikabild. In: Begegnung mit dem »Fremden«. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses. Hg. von Eijiro Iwasaki. Tokyo 1990, 67–77, und neuerdings vor allem Müller-Funk: Amerikanische Erfahrungen (Anm. 6) und Alessandro Fambini: Lenau, Amerika und der Weltschmerz. In: Wo bleibt das »Konzept«? Festschrift für Enrico De Angelis. Hg. von Carlo Carmassi u.a. München 2009, 108–116. Vgl. Nikolaus Lenau: Werke und Briefe. Bd. 1: Gedichte bis 1834. Hg. von Herbert Zeman und Michael Ritter. In: Ders. Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. im Auftrag der Internationalen Lenau-Gesellschaft von Helmut Brandt u.a. Wien 1995, 324–329, 350 f. Vgl. Nikolaus Lenau: Werke und Briefe. Bd. 2: Neuere Gedichte und lyrische Nachlese. Hg. von Antal Mádl. In: Ders. Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. im Auftrag der Internationalen Lenau-Gesellschaft von Helmut Brandt u.a. Wien 1995, 53–65, 443 f.

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Aufenthalts verfassten Gedichte der ›Neuen Welt‹, ihrer Natur und Bevölkerung zu. In dieser Phase entstehen vielmehr Gedichte, die weiterhin heimatliche Motive und typisierte europäische Landschaften in den Mittelpunkt rücken,12 oder solche, in denen ein Sprecher wehmütig seinen Abschied und den Verlust von Heimat und Jugend beklagt. Den Erläuterungen in der historisch-kritischen Ausgabe zufolge sind ausnahmslos alle Gedichte mit einem konkreten thematischen Amerikabezug frühestens auf der Rückreise, die meisten sogar erst Monate oder Jahre nach der Reise geschrieben worden. Da bereits Gustav Schwab hinsichtlich der lyrischen Produktion seines Freundes befand, dass »[n]icht selten […] eine lange Zeit gelegen sein [mag] zwischen der Geburt eines Liedes und seiner Empfängniß«,13 scheint dieser Sachverhalt zwar durchaus Lenaus gewohnter Arbeitsweise entsprochen zu haben. Dennoch lohnt es sich, diesem Befund unter der Perspektive der Reiselyrik noch etwas genauer nachzugehen. Darüber hinaus bietet es sich gerade wegen Lenaus brieflich geäußerter harscher Kritik an Amerika an, einige während der Reisephase geschriebene Gedichte mit ausgewählten, wieder in der Heimat verfassten Beispielen abzugleichen. Vornehmlich ist zu fragen, welche lyrischen Repräsentationen von Fremdheit oder Entfremdung in den verschiedenen Phasen begegnen. Mit Hilfe welcher Beschreibungs- und Deutungsstrategien wird die Auseinandersetzung mit Alterität geführt, und welcher Standort wird bei der Kulturbegegnung eingenommen? Dient das wahrgenommene ›Andere‹ als Objekt der Identifikation oder als Kontrastfolie, um die eigene Identität davon abzugrenzen? Welche motivischen und metaphorischen Zusammenhänge lassen sich zwischen den Naturschilderungen, der Position des lyrischen Ich oder den dargestellten Menschen feststellen, und wie verhalten sie sich zu außerliterarischen Diskursen über die ›Neue Welt‹ und ihre Bewohner? Auf welche Weise bietet sich die erlebte kulturelle Fremde schließlich doch als poetisches Sujet an, obwohl sie der Lyriker in seinen zuvor verfassten Briefen – wie im nächsten Kapitel skizziert wird – noch als vollkommen prosaisch verwirft?

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Lenau an Emilie und Georg von Reinbeck, 5.3.1833. In: Lenau: Werke und Briefe (Anm. 5), 235–241, hier 236: »Ich war die Zeit über auch nicht ohne poetische Stunden; ich will Ihnen sagen, was ich geschrieben habe. Der Gang zum Eremiten ist fertig in drei Gesängen. – Die Heidelberger Ruine. – Die Abschiedsrose. – Die schöne Sennin in 4 Gedichten – An die Ultraliberalen in Deutschland. – Waldestrost – Der Unentbehrliche – primula veris – Ahasverus, der ewige Jude – und 4 Atlantica […].« Gustav Schwab in einer Besprechung der Gedichte Lenaus vom 7./8.10.1832. Vgl. Eke/ Skrodzki: Lenau-Chronik (Anm. 2), 71.

Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus 183 1. Lenaus Ansichten über Amerika in seinen Briefen Den Quellen zufolge trat Lenau die beschwerliche Reise zum einen deshalb an, weil er in Amerika gewinnbringend Land erwerben wollte;14 zum anderen versprach er sich durch die Begegnung mit der ›Neuen Welt‹ und ihrer Natur »eine wundervolle Wirkung […] auf [s]ein Gemüth« sowie entscheidende neue künstlerische Impulse: Nämlich ich will meine Fantasie in die Schule – in die nordamerikanischen Urwälder schicken, den Niagara will ich rauschen hören, und Niagaralieder singen. Das gehört nothwendig zu meiner Ausbildung. Meine Poesie lebt und webt in der Natur, und in Amerika ist die Natur schöner, gewaltiger als in Europa. Ein ungeheurer Vorrath der herrlichsten Bilder erwartet mich dort, eine Fülle göttlicher Auftritte, die noch daliegt jungfräulich und unberührt, wie der Boden der Urwälder.15

Weitere Beweggründe, die zur Umsetzung der Reisepläne geführt haben, mögen Befürchtungen des Schriftstellers gewesen sein, im Zuge der verschärften Zensurbedingungen im Deutschen Bund nach der französischen Julirevolution von 1830 demnächst Repressalien ausgesetzt zu sein, oder auch Probleme in der Beziehung zu Gustav Schwabs Nichte Charlotte Gmelin. Jedenfalls unternahm der Lyriker seine Reise zu Beginn der europäischen Massenauswanderungen in die USA, die in den Jahrzehnten seit den 1820er Jahren auch Deutschland erfassten. In dieser Phase verließen Hundertausende aus existenzieller Not, wegen der versprochenen demokratischen Freiheit und besseren gesellschaftlichen Aufstiegschancen insbesondere den südwestdeutschen Raum in Richtung Amerika.16 Die junge Republik erschien vielen Europäern als das sprichwörtliche ›Land der unbegrenzten Möglichkeiten‹, das einen Ausweg aus den festgefahrenen politischen Verhältnissen in der Heimat eröffnete. Lenau kündigte hingegen bereits kurz vor seiner Abreise an, allenfalls ein paar Wochen in den Vereinigten Staaten bleiben zu wollen.17 Auch dies spricht dafür, dass er seine Unternehmung als eine Mischung aus lukrativer Geschäfts- und Bildungsreise auffasste.

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Lenau an Anton Schurz, 27. Juli 1832. In: Lenau: Werke und Briefe (Anm. 5), 222–224, hier 222 f.: »Ich werde mir dort eine Strecke Landes kaufen von etwa 1000 Morgen, und den Philippum als Pächter draufsetzen. […] In 3–4 Jahren hat sich dann der Werth meines Eigenthums wenigstens auf das 6fache gesteigert […], in 4 Jahren ist alles kultiviert, und dann kann es, wenn es gut geht, 3000 fl jährlich tragen. […] Verhungern kann ich doch nicht mehr, aber ein reicher Mann kann ich werden in Amerika.« Lenau an Anton Schurz, 16. März 1832. In: Lenau: Werke und Briefe (Anm. 5), 184–187, hier 184. Vgl. Wolfgang von Hippel und Bernhard Stier: Europa zwischen Reform und Revolution: 1800– 1850. Stuttgart 2012, 297. Lenau an Anton Schurz, 27.7.1832. In: Lenau: Werke und Briefe (Anm. 5), 222–224, hier 223.

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Stefani Kugler

Nach gründlichen Reisevorbereitungen brach Lenau am 24. Juni 1832 von Mannheim aus mit einer Auswanderergesellschaft nach Amsterdam auf, von wo aus die zehnwöchige Fahrt über den Atlantik bis nach Baltimore ging.18 Bereits kurze Zeit nach seiner Ankunft Anfang Oktober nahm Lenau seine geschäftlichen Vorhaben in Angriff. Nach Beratungen durch deutsche Auswanderer reiste er nach Economy/Ambridge bei Pittsburgh in Pennsylvania zur Gemeinschaft der Harmonisten, um von dort aus seine Landkaufpläne durchzuführen. Bei dieser pietistischen, in Gütergemeinschaft lebenden Gruppierung, die von dem schwäbischen Handwerker Johann Georg Rapp gegründet und geleitet wurde, hielt sich der Dichter die längste Zeit während seines siebenmonatigen Amerikabesuchs auf.19 Da kaum Zeugnisse aus dieser Zeit existieren, ist lediglich zu vermuten, dass Lenaus Anschauungen über Amerika und die Amerikaner auch durch den nahen Kontakt zu der geschäftstüchtigen, sich auf ein baldiges Weltende vorbereitenden christlichen Gemeinde beeinflusst wurden. Bereits im November 1832 erwarb Lenau für 500 Dollar 162 Hektar Land in Crawford County, Ohio. Der mühsame Weg von Economy zu dem etwa 300 Kilometer entfernten Ort führte über weite Strecken durch die Wildnis und musste mit dem Pferd zurückgelegt werden. Nach der Ankunft auf seinem Besitz bemühte sich der neue Eigentümer dann – einer vielzitierten mündlichen Überlieferung eines Zeitzeugen aus George A. Mulfingers Aufzeichnungen Lenau in America (1897) zufolge –, sein Land eigenhändig zu roden: Lenau hielt sich […] mehrere Wochen im Winter 1832–33 auf seinem Lande auf. Er war ein feiner Herr, der aber keineswegs in den Hinterwald passte. Er trug elegante Kleider und einen Pelzmantel, hatte Tanzschuhe und weisse Handschuhe an, als wenn es auf einen Hofball gehen sollte. Mit Glacéhandschuhen an den Händen ergriff er die Axt, um Bäume umzuhacken, legte sie aber nach ein paar Streichen wieder hin.20

Wieder nach Economy zurückgekehrt, schloss Lenau einen Pachtvertrag mit einem deutschen Auswanderer ab und konnte dann im März 1833 endlich zu den ersehnten Niagara-Fällen aufbrechen; von dort aus ging es schließlich Anfang Mai über New York per Schiff wieder zurück nach Deutschland. Obwohl die Lände-

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Vgl. zu den Stationen von Lenaus Amerikareise die neueren historischen Rekonstruktionen in: Eke/Skrodzki: Lenau-Chronik (Anm. 2), 64–87; Michael Ritter: Einmal Amerika und zurück. Nikolaus Lenaus Amerikareise 1832/33. In: praesent. Das österreichische Literaturjahrbuch 2002, 51–57; Rudolf Schier: Lenaus Landkauf in Amerika. In: »Ich bin ein unstäter Mensch auf Erden«. Begleitbuch zur Ausstellung. Hg. von Eduard Schneider und Stefan Sienerth. München 1993, 163–173; und Oellers: Der zerstörte Traum (Anm. 8). Vgl. Roček: Dämonie des Biedermeier (Anm. 8), 166. George A. Mulfinger: Lenau in America. In: Americana Germanica 1 (1897), Nr. 2, 7–61, und Nr. 3, 1–16, hier Nr. 2, 51 [https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=umn.319510020725704 &view=1up&seq=4; letzter Zugriff: 15.01.2020].

Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus 185 reien in Ohio keinen Profit abwarfen, da der Pächter die Vereinbarungen missachtete,21 sollten sich die Amerikaerlebnisse für Lenau im Hinblick auf sein lyrisches Schaffen als durchaus lohnend erweisen.22 Wie bereits angesprochen wurde, rückt Lenau in seinen aus den USA geschriebenen Briefen die angloamerikanische Bevölkerung und ihre Kultur in ein ausschließlich negatives Licht. Als besonders charakteristisch gilt folgende, bereits kurz nach seiner Ankunft im Oktober 1832 getätigte Äußerung: Bruder, diese Amerikaner sind himmelanstinkende Krämerseelen. Todt für alles geistige Leben, mausetodt. Die Nachtigall hat Recht, daß sie bei diesen Wichten nicht einkehrt. Das scheint mir von ernster, tiefer Bedeutung zu seyn, daß Amerika gar keine Nachtigall hat. Es kommt mir vor, wie ein poetischer Fluch. Eine Niagarastimme gehört dazu, um diesen Schuften zu predigen, daß es noch höhere Götter gebe, als die im Münzhaus geschlagen werden. Man darf die Kerle nur im Wirthshaus sehen, um sie auf immer zu hassen.23

Im Mittelpunkt der diffamierenden Einschätzung, die augenscheinlich die in der Fremde stark verunsicherte eigene Position stützen soll, steht die behauptete materialistische Grundhaltung der ›Anderen‹, die sie für jede höheren Ideale und ästhetischen Eindrücke unempfänglich mache. Mit der Aufwertung von Kapital und Geschäftsinteressen ist für den Spätromantiker zwangsläufig eine Entromantisierung der Natur verbunden – eine Analogie, die er in späteren Bemerkungen über die amerikanische Fauna und Flora wieder aufgreift und vertieft. So wird die im Herbst und Winter (!) erlebte ›fremde Natur‹ als lebensfeindlich, öde und vollkommen unpoetisch aufgefasst: »Die Natur selbst ist kalt. Die Conformation der Berge, die Einbuchtungen der Thäler, alles ist gleichförmig und unfantastisch. Kein wahrer Singvogel; Alles ist nur Gezwitscher und unmelodisches Geflüster«.24 Und schließlich zieht Lenau sogar den Umkehrschluss, dass die ›Mentalität‹ der Menschen unmittelbar auf die in Nordamerika herrschenden natürlichen Umweltbedingungen zurückzuführen sei: Die Natur ist hier entsetzlich matt. […] Dies scheint mir ein poetischer Fluch zu seyn, der auf dem Lande liegt, und von tiefer Bedeutung. Der Natur wird es hier nie so wohl ums Herz, oder so weh, daß sie singen müßte. Sie hat kein Gemüth und keine Fantasie,

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Vgl. den Brief von Philipp Huber an Lenau über dessen Besitz in den USA vom 16.4.1837. In: Eke/Skrodzki: Lenau-Chronik (Anm. 2), 180 f. So auch Oellers: Der zerstörte Traum (Anm. 8), 149; Müller-Funk: Amerikanische Erfahrungen (Anm. 6), 14. Lenau an Anton Schurz, 16.10.1832. In: Lenau: Werke und Briefe (Anm. 5), 228–233, hier 230 f. Lenau an Joseph Klemm, 6. März 1833. In: Lenau: Werke und Briefe (Anm. 5), 243–246, hier 243.

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Stefani Kugler und kann darum ihren Geschöpfen auch nichts dergleichen geben. Es ist was recht Trauriges, diese ausgebrannten Menschen zu sehen in ihren ausgebrannten Wäldern.25

Der nordamerikanischen Kultur und Natur fehle es gleichermaßen an Vitalität und Schöpferkraft, beide seien – hier beruft sich der Dichter auf die im 19. Jahrhundert bereits überholte Klima-These des Naturforschers Georges-Louis Leclerc de Buffon von einer Degeneration Amerikas – schon im Verfall begriffen. Eine Auswanderung nach Amerika habe deshalb auf jedes Individuum sowohl fatale psychische als auch schlimme physische Auswirkungen: Da kommen die armen, gedrängten Menschen herüber, und den lezten himmlischen Sparpfennig, den Gott ins Herz gelegt, werfen sie hin für ein Stück Brod. Anfangs dünkt ihnen das fremde (furchtbar fremde!) Land unerträglich, und sie werden ergriffen von einem heftigen Heimweh. Aber wie bald ist dies Heimweh verloren! Ich muß eilen über Hals und Kopf hinaus, hinaus, sonst verlier’ ich das meinige auch noch. Hier sind tückische Lüfte, schleichender Tod. In dem großen Nebelbade Amerika’s werden der Liebe leise die Adern geöffnet, und sie verblutet sich unbemerkt.26

Spätestens Lenaus Briefe aus dem März 1833 lassen erkennen, dass seine kategorische Ablehnung Amerikas als lebensfeindlich und der Amerikaner als kulturlos auch der eigenen poetologischen Standortbestimmung dienlich ist. Der Dichter kann die Begegnungen mit der Fremde für eine kontrastive Rechtfertigung der eigenen Kunstauffassung nutzen, will doch seine Lyrik vor allem »Herz« und »Gemüth« berühren, die »Fantasie« anregen und eine Übereinstimmung der entworfenen Naturbilder mit inneren Zuständen erzielen.27 Hierfür sollten die im Frühjahr 1832, also wenige Monate vor der Abreise geschriebenen Schilflieder besonders berühmt werden.28 Die Veröffentlichung dieses Zyklus während seiner Abwesenheit steigerte Lenaus Popularität als deutschsprachiger Gegenwartslyriker jedenfalls erheblich. In den formal schlichten, liedhaften Gedichttexten korrespondieren verschiedene Naturphänomene mit der melancholischen Disposition des lyrischen Sprechers. Durch intensive Naturbetrachtungen werden im Ich sinnliche Eindrücke und Empfindungen einer harmonischen Übereinstimmung von Innen und Außen, Subjekt- und Objektwelt, der eigenen Gefühlslage und der allgemeinen Verfasstheit der Welt evoziert. Aufgrund dieser Harmonisierung und Identifi-

25 26 27 28

Lenau an Emilie und Georg Reinbeck, 5. März 1833. In: Lenau: Werke und Briefe (Anm. 5), 235–241, hier 235 f. Ebd., 236. Vgl. hierzu bereits Hans-Georg Werner: Natur in Lenaus Gedichten. In: Lenau-Almanach (1976/78), 94–109, hier 99. Lenau: Schilflieder; ders.: Werke und Briefe (Anm. 10), Bd. 1, 101–105.

Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus 187 kation erscheint der Liebesschmerz des Ich in einer übergreifenden Erfahrung aufgehoben, durch die er zwar nicht überwunden, aber immerhin gelindert werden kann. In seiner Reiselyrik führt Lenau seine spätromantische Poetologie auf der Grundlage seiner Amerikaerlebnisse fort und arbeitet sie weiter aus. Da er die amerikanische Fremde als kunst- und lebensfeindlich auffasste, bot sie sich – entgegen der ursprünglichen Hoffnungen – als Sujet für eine kreative Anverwandlung zunächst nicht an. Dennoch erwies sich das zur »Wüste« erklärte Amerika als idealer Ort, um ein Bekenntnis zu den eigenen ästhetischen Vorstellungen abzulegen. Darauf macht Lenau ausdrücklich aufmerksam, indem er seine Lebensweise in den USA zu einer quasi religiösen Erfahrung, einer »Taufe«, erhebt und obendrein befindet: In dieser grossen, langen Einsamkeit, ohne Freund, ohne Natur, ohne irgendeine Freude, war ich wohl darauf hingewiesen, stille Einkehr zu halten in mich selber, und manchen heilsamen Entschluß zu fassen für meine fernere [sic!] Tage. Als Schule der Entbehrung ist Am. wirklich zu empfehlen.29

Die brieflich geäußerte Kritik an Amerika beschränkt sich also keineswegs auf einen verschärften Kapitalismus, von dem der Autor als privilegierter Europäer ja selbst zu profitieren hoffte.30 Indem Lenau als bekannter Dichter dezidiert ästhetische Grenzziehungen vornimmt und das Stereotyp einer prinzipiellen Kulturferne des ›Anderen‹ untermauert, trägt er zu einem zentralen Ressentiment des ›modernen‹ Anti-Amerikanismus in seiner »eurozentrisch-zivilisationskritischen Ausprägung« bei.31 Zugleich stellte das von Lenau bereits während seines Auslandsaufenthalts fixierte Klischeebild den entscheidenden Bezugsrahmen für seine ›Reiselyrik‹ dar. Denn seine Komponenten ließen sich schließlich doch in spezifische Naturbilder und -repräsentationen umsetzen und so für die eigene poetische Schwerpunktsetzung fruchtbar machen.

29 30 31

Lenau an Emilie und Georg Reinbeck, 5. März 1833. In: Lenau: Werke und Briefe (Anm. 5), 235–241, hier 236. Vgl. Manfred Durzak: Das Amerika-Bild in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart u.a. 1979, 40. Zur einflussreichen »Schlüsselposition«, die Lenaus Amerikabild von Seiten der Forschung zugeschrieben wird, vgl. Dieter Heimböckel: Der Antiniederlandismus als Vorläufer des Antiamerikanismus. Zur strukturellen Homologie nationenbezogener Vorstellungsmuster in der deutschen Literatur. In: Annäherungen. Wahrnehmung der Nachbarschaft in der deutsch-niederländischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. von Gunter E. Grimm u.a. Münster 2004, 25–39, hier 25–27.

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Stefani Kugler 2. Bilder vom »großen Untergang« – Die amerikanische Natur in Lenaus Gedichten

Das kurz vor der USA-Reise geschriebene, aus sechs jambischen Vierzeilern bestehende Gedicht Abschied trägt in den Drucken bis 1834 noch den Untertitel Lied eines auswandernden Portugiesen, der offenkundig von den biographischen Parallelen zu seinem Verfasser ablenken soll. In Abschied wird nämlich eine scharfe Kritik an den politischen Verhältnissen in der Heimat und der dort herrschenden Untertanenmentalität formuliert. Weil das Vaterland »feige dumm, / Die Ferse dem Despoten küßt, / Und seinem Wink gehorchet stumm« (V. 4–6), wendet sich das männliche Rollen-Ich enttäuscht von ihm ab und stattdessen begeistert der »neue[n] Welt« (V. 23) zu.32 Obwohl ihm die Heimat in seiner Jugendzeit durchaus Schutz und Liebe bot, verweigert sie dem erwachsenen Sprecher die unerlässliche Grundlage seiner Existenz, seine »Freiheit« (V. 22), so dass er es kaum noch erwarten kann, dorthin zu gelangen, wo sie ihm endlich gewährt wird. Als diesen lang ersehnten Freiheitsort identifiziert das lyrische Ich in der letzten Strophe die »neue Welt«, spricht sie vertraulich an und erklärt schließlich sie zu seinem »Vaterland« (V. 26).33 Eine so deutliche Distanzierung des Ich von seinem Herkunftsland findet sich in Lenaus späteren Gedichten nicht mehr. Die auf der Überfahrt zu Papier gebrachten und die Atlantikreise thematisierenden Texte sind vielmehr dem Trennungsschmerz gewidmet, den der Verlust des für immer verloren geglaubten heimatlichen Bezugsrahmens beim Sprecher auslöst. So ruft das Rauschen des Meeres im dritten Gedicht der Atlantica (später unter dem Titel An mein Vaterland)34 »sehnsuchtsschwer[e]« (V. 125) Erinnerungen an bekannte Klänge der heimischen Natur (»Eichenlaub«, »Felsenbach«, »Alpenlied« [V. 102, 106, 112]) wach, die das Ich an sein beim Abschied geleistetes Treuegelöbnis gemahnen. Für Lenaus lyrischen Schwerpunkt, »die Melancholie im Spiegel der Natur«,35 stellt während der Monate der Reise der Ozean ein neues Landschaftsbild bereit. Das Meer fungiert in den Atlantica als Raum ambivalenter Stimmungen des Ich, die sich zwischen hoffnungsvollem Bangen angesichts der fremden »Ferne« (V. 6) – repräsentiert 32 33

34 35

Lenau: Abschied; ders.: Werke und Briefe (Anm. 10), Bd. 1, 144. Abschied geht somit keineswegs in Distanz zu der »vaterländischen Dichtung im Zeitalter der Restauration«, sondern überträgt die entsprechende Konzeption unvermittelt auf die USA. Vgl. im Gegensatz dazu Johann Holzner: Abkehr vom Vaterland. Gedichte zur Geschichte Österreichs: von Lenau bis Artmann. In: Lenau-Jahrbuch 29/30 (2003/2004), 11–23, hier 18 f. Lenau: Atlantica; ders.: Werke und Briefe (Anm. 10), Bd. 1, 267–271, hier 270. Die Gedichte wurden wahrscheinlich Anfang 1833 verfasst. Vgl. hierzu Anm. 12. Zaneta Sambunjak: Erkenntnis und Melancholie in den Waldliedern Nikolaus Lenaus. In: Gefühlswelten und Emotionsdiskurse in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Kritian Donko und Neva Šlibar. Ljubljana 2012, 91–98, hier 91.

Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus 189 durch die verführerischen »Seejungfrauen« (V. 26) in der Tiefe –,36 Verlassenheitsgefühlen während einer geheimnisvollen »Stille« des Ozeans (V. 47) und einem nicht enden wollenden Heimweh des Sprechers bewegen, der dem fernen »Vaterland« (V. 89) nun tränenreich nachweint.37 In Die Rose der Erinnerung38 macht sich das lyrische Ich gar zum Vorwurf, sich selbst »aus dem Paradies« (V. 4) verstoßen zu haben. Aus der nun reumütig als »theure[s] Land« der »Freundesliebe«, »Frauengüte« und »Freude« (V. 2, 5, 3) verehrten Heimat ist dem Sprecher lediglich eine Rose geblieben, die ihm die heimische Natur bei seinem Abschied selbst überantwortet hat.39 Dass die Rose mittlerweile verwelkt ist, ihre Farbe und ihren Duft verloren hat, führt den Sprecher zu einer unverhofften Erkenntnis: Angesichts der Vergänglichkeit der Blume gelingt es ihm »plötzlich«, die Flüchtigkeit als das Wesen allen Lebens sinnlich wahrzunehmen: »O Rose, der Erinnerung geweiht! / Mir dünket deiner welken Blätter Rauschen / Ein leises Schreiten der Vergänglichkeit, / Hörbar geworden plötzlich meinem Lauschen!« (V. 30–33)40 In den während der Reise verfassten Gedichten kündigt sich bereits an, dass die subjektive Trauer um Abschied, Vergänglichkeit und Tod als allgemeine Wirklichkeit aufzufassen ist, die dem Wesen der Natur gleichkommt. »Trägt Natur auf allen Wegen / Einen großen, ew’gen Schmerz, / Den sie mir als Muttersegen / Heimlich strömet in das Herz?« (V. 72–75),41 fragt sich das lyrische Ich in Meeresstille und gibt damit das zentrale Muster vor, das Lenaus lyrische Darstellungen der Natur und der Menschen in Amerika im Folgenden bestimmen wird. Die schon in den USA beklagte umfassende Todesverfallenheit bildet den motivischen Kern der zumeist erst Jahre nach der Reise verfassten Amerika-Gedichte. In Der Urwald von 1835 wird Amerika gleich zu Beginn als »Land voll träumerischem Trug« (V. 2) angeprangert, in dem ein der trostlosen Heimat scheinbar glücklich Entflohener noch ein weiteres Mal und desto grausamer um seine Zukunftshoffnungen gebracht wird: Das Land bei dessen lockendem Verheißen Die Hoffnung oft vom Sterbelager sprang Und ihr Panier durch alle Stürme schwang, Um es am fremden Strande zu zerreißen, Und dort den zwiefach bittern Tod zu haben; Die Heimath hätte weicher sie begraben! – (V. 8–13)42 36 37 38 39 40 41 42

Vgl. Lenau: Atlantica; ders.: Werke und Briefe (Anm. 10), Bd. 1, 267 f. Vgl. ebd., 268–271. Lenau: Die Rose der Erinnerung; ders.: Werke und Briefe (Anm. 10), Bd. 1, 302 f. Das Gedicht entstand wahrscheinlich 1832 oder Anfang 1833 in den USA. Vgl. hierzu Anm. 12. Ebd., 302. Ebd., 303. Lenau: Atlantica; ders.: Werke und Briefe (Anm. 10), Bd. 1, 269. Dieses Gedicht des Zyklus Atlantica wurde 1834 unter dem Titel Meeresstille zuerst veröffentlicht. Vgl. ebd., 562. Lenau: Der Urwald; ders.: Werke und Briefe (Anm. 11), Bd. 2, 53 f.

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Die sentenzhafte Formulierung über Amerika als Land des ›doppelten Todes‹ wird in den persönlichen Erinnerungen eines Ich an seinen ehemaligen Ritt durch den amerikanischen Urwald weiter vertieft. Rückblickend stellte sich dem Sprecher die dortige »Wildniß« schon damals als eine dem Tode geweihte »grauenvolle Stätte« (V. 19, 21) eines über Jahrtausende währenden Kampfes dar, dem alles Lebendige zwangsläufig unterliegen muss: Umsonst das Leben hier zu grünen sucht, Erdrücket von des Todes Ueberwucht, Denn endlich hat der Tod, der starke Zwinger, Die Faust geballt, das Leben eingeschlossen, Es sucht umsonst, hier dort hervorzusprossen Durch Moderstämme, dürre Todesfinger. Wohin, o Tod, wirst du das Pflanzenleben In deiner starken Faust, und meines heben? Wirst du sie öffnen, wird sie ewig schließen? So frug ich bange zweifelnd und empfand Im Wind das Fächeln schon der Todeshand, Und fühlt’ es kühler schon im Herzen fließen. (V. 24–35)43

Die direkte Konfrontation mit der bereits abgestorbenen und todbringenden amerikanischen Natur ermöglicht ein visionäres Erleben der eigenen Todesverfallenheit. Der amerikanische Urwald gewährt dem Ich einen Blick »in den finstern Schlund« des »Weltgeheimniß[es]« (V. 39)44 und führt es zu der Erkenntnis, dass alle Hoffnungen auf ein »schönes Leben« (V. 56) und auf göttliche Erlösung bloße Trugbilder sind. »Dem Tode nah, wie nie zuvor, gekommen« (V. 61), hätte es – so erinnert sich der Sprecher – erst eines Impulses von außen bedurft, damit er seinen Ritt überhaupt fortsetzen konnte. Allein der »Lebenslust« (V. 68) des Pferdes sei es nämlich zu verdanken gewesen, dass er nach dieser unmittelbaren Begegnung mit dem Tod schließlich doch noch den Mut zur Weiterreise fasste: Es [das Pferd] blickt mich an mit stiller Lebenslust, Die wärmend mir gedrungen in die Brust, Und ruhebringend wie mit Zaubermacht. Und auf den tief einsamen Waldeswegen Ritt ich getrost der nächsten Nacht entgegen, Und der geheimnißvollen Todesnacht. (V. 68–73)

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Ebd., 53. Ebd., 54.

Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus 191 Die wieder in Europa geschriebenen Gedichte Lenaus mit Amerika-Bezug greifen seine auf der Reise gemachten Erfahrungen allegorisch auf. Obwohl das »Land voll träumerischem Trug« nicht ausdrücklich als die Vereinigten Staaten identifiziert wird, spielen die metaphorische Wendung vom Land, auf das der Schatten der Freiheit fiel, sowie die Schilderung des Rittes durch die Wildnis unmissverständlich auf die tatsächliche Amerikareise des Dichters an. Indem ein Ich rückblickend seine Empfindungen und Reflexionen in der befremdlichen Natur beschreibt, zielt Der Urwald einerseits darauf ab, den Eindruck eines authentischen Erlebens zu vermitteln. Andererseits macht die spezifische Gestaltung der Differenz von erlebendem und erzählendem Ich gerade darauf aufmerksam, dass das Gedicht vornehmlich eine Ausdeutung der persönlichen Erfahrung auf einer höheren Sinnebene bieten will. Durch die im Präsens, in Form des inneren Monologs, dargebotenen Naturbetrachtungen des Ich wird der zeitliche Abstand zwischen der eigentlichen Konfrontation mit der neuartigen Umgebung und ihrer mentalen Verarbeitung zugleich wieder relativiert. Zum gleichnishaften Charakter des Geschilderten trägt überdies die starke rhetorische Ausschmückung des Textes bei, die ganz darauf ausgerichtet ist, »jede Einzelheit in der Naturbeschreibung metaphorisch auszuwerten«.45 Das Gedicht Der Urwald kann als paradigmatisch für Lenaus poetische Auseinandersetzung mit Amerika gelten, da in ihm die ›andere‹ wilde Natur zur zeitlosen Chiffre einer alle Lebensbereiche einbeziehenden Vergänglichkeit erhoben und als solche kenntlich gemacht wird. Die bereits in den Briefen in die Heimat begegnenden zentralen Zuschreibungen an die USA werden jetzt in suggestive Naturbilder überführt, die sich für die poetische Formulierung existentieller ›Wahrheiten‹ fruchtbar machen lassen. Auch in den Amerika-Gedichten bleiben der Zustand der Natur und die Stimmung des Ich unmittelbar aufeinander bezogen – nun aber in einem alles umfassenden Wissen um »des Todes Ueberwucht« (V. 25).46 In den 1836 verfassten Gedichten Verschiedene Deutung und Niagara dienen der von Lenau in Amerika touristisch aufgesuchte Strom und seine Wasserfälle als Sinnbild, um über den unvermeidlichen »großen Untergang« (V. 25) nachzudenken.47 Das beeindruckende Naturphänomen steht für die Lebensreise des Menschen, die zwangsläufig in Sturz und Auflösung endet. Verschiedene Deutung bietet – entgegen seinem Titel – in seinen beiden Teilen eng aufeinander bezogene und sich ergänzende philosophische Betrachtungen über »des Niagara Wellen«, die im Wasserfall zerschellend einen »farbenhellen Regenbogen« (V. 3, 8) erzeugen: 45 46 47

Mary C. Crichton: Mann, Pferd, Wald und Todesgedanken: Ein kritischer Vergleich zwischen Nikolaus Lenaus Gedicht Der Urwald und Robert Frosts Stopping by Woods on a Snowing Evening. In: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses. Teil 3. Basel 1980, 446–453, hier 448. Lenau: Der Urwald; ders.: Werke und Briefe (Anm. 11), Bd. 2, 53. Lenau: Niagara; ders.: Werke und Briefe (Anm. 11), Bd. 2, 57.

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Verschiedene Deutung I. Sieh, wie des Niagara Wellen Im Donnerfall zu Staub zerschellen, Und wie sie, sprühend nun zerflogen, Empfangen goldne Sonnenstrahlen Und auf den Abgrund lieblich malen Den farbenhellen Regenbogen. O Freund, auch wir sind trübe Wellen, Und unser Ich, es muß zerschellen, Nur stäubend in die Luft zergangen, Wird es das Irislicht empfangen. II. »Trüb, farblos waren diese Fluten, Solang sie noch im Strome wallten; Sie mußten vielfach sich zerspalten, Daß sie aufblühn in Farbengluten. Nun fliegt ein jeder Tropfen einsam, Ein armes Ich, doch stralen sie Im hellen Himmelslicht gemeinsam Des Bogens Farbenharmonie.«48

Der gedankliche Zusammenhang zwischen den beiden Teilen, die jeweils eine Strophe umfassen, wird formal durch zahlreiche Äquivalenzbeziehungen unterstützt. So bestehen beide Strophen aus je zwei Satzgefügen, weisen durchgängig jambische Vierheber auf und bieten nacheinander zwei Schweifreime, zwei Paarreime, einen umarmenden Reim und einen Kreuzreim, so dass in nur achtzehn Versen die vier traditionsreichsten Reimbindungen kunstvoll vorgeführt werden. Aufgrund der vielen Übereinstimmungen fallen die kleineren Differenzierungen umso mehr ins Auge: Während die aus zehn Versen gebildete erste Strophe einen Tempuswechsel von Präsens zu Futur enthält, mündet die achtzeilige zweite Strophe, nachdem in ihr der Zustand des Flusses vor Erreichen der Wasserfälle im Präteritum geschildert worden ist, wieder im Präsens und knüpft damit an die anfängliche Beschreibung des Niagara in seiner gegenwärtigen Gestalt in den Fällen an. Auch wird die Aussage des zweiten Teils in ihrer Form als Einzelrede noch dadurch hervorgehoben, dass sie zusätzlich in doppelte Anführungsstriche gesetzt ist. In der ersten Strophe überträgt das lyrische Ich das zuvor detailliert beobachtete Naturereignis auf die menschliche Existenz schlechthin. Indem der Sprecher den impliziten Leser persönlich anruft und als »Freund« (V. 9) in das gemeinsame 48

Lenau: Verschiedene Deutung; ders.: Werke und Briefe (Anm. 11), Bd. 2, 56.

Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus 193 Schicksal aller Menschen einbezieht, konfrontiert er ihn mit der zwangsläufigen Auflösung seiner Ich-Identität. Zugleich wird dieser zerstörerische Vorgang zu der notwendigen Voraussetzung dafür erklärt, das »Irislicht« (V. 12) gewinnen und so zur farbigen Schönheit des Regenbogens beitragen zu können. Doch ist die Kommunikationssituation in der ersten Strophe durchaus nicht so eindeutig, wie es zunächst scheint. Sie kann ebenso als freundschaftliche Selbstansprache des Ich aufgefasst werden. Der Regenbogen bzw. das »Irislicht«, das seit der Antike als Symbol für die Vermittlung zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre, zwischen Diesseits und Jenseits fungiert,49 garantiert außerdem nach dem Verlust des irdischen Daseins eine zwar neuartige, doch umso schönere Existenzweise. Damit gibt Verschiedene Deutung, im Unterschied zu vielen anderen Lenau-Gedichten, zumindest die Hoffnung auf eine transzendente Wirklichkeit noch nicht auf. Während die Sprechinstanz in der ersten Strophe von dem Flussverlauf explizit auf das menschliche Leben schließt und ihn zu dessen Sinnbild erhebt, beschränkt sich die zweite Strophe auf eine detaillierte Beschreibung des wahrgenommenen Naturschauspiels und seiner Effekte. Lediglich die anthropomorphisierende Apposition »Ein armes Ich« (V. 19), die den einzelnen Wassertropfen näher bestimmt, spielt auf die vergleichbare Verfasstheit menschlicher Existenz an. Verschiedene Deutung fordert über das wiederholt aufgegriffene Naturbild also tatsächlich nicht zu divergenten, sondern zu differenzierenden Lesarten heraus. Es wird vorgeführt, wie in lyrischen Gedichten eine bestimmte Idee durch eine nuancierende Metaphorik verbildlicht und facettenreich beleuchtet werden kann. Auf die eher klassische allegorische Umsetzung des ersten Teils folgt im zweiten Teil eine für die Restaurationszeit recht moderne Chiffrierung, bei der die Ähnlichkeitsrelation zwischen Bildspender und -empfänger eher vage bleibt und die nur noch durch ihre semantischen Bezüge zum ersten Teil genauer erschließbar ist. Polyvalenz erzielt das Gedicht außerdem durch seine eigentümliche Kommunikationssituation. Stellte sich in der ersten Strophe bereits die Frage, ob das Ich seine Worte nicht auch an sich selbst richtet, lässt sich auch für die zweite Strophe nicht eindeutig sagen, wer hier eigentlich zu wem spricht. Die doppelten Anführungszeichen legen zumindest nahe, dass die der ersten ähnliche zweite Betrachtung von einer anderen Person – wahrscheinlich dem im ersten Teil als »Freund« Angesprochenen – angestellt wird, die die Analyse des ersten Sprechers bekräftigt und zugleich variiert. Mit dem zentralen Motiv des reißenden Flusses als Bild für den Lebensweg knüpft der Text an eine bedeutende Tradition in der Naturlyrik an, für die in der neueren deutschsprachigen Literatur insbesondere einige Gedichte Goethes als

49

Vgl. Art. ›Regenbogen‹. In: Metzler Lexikon der literarischen Symbole. Hg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. 2. Auflage. Stuttgart/Weimar 2012, 338–340, hier 339.

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mustergültig gelten. Bereits in Goethes früher Sturm und Drang-Hymne Mahomets Gesang (1773) symbolisiert der Strom das menschliche Dasein als künstlerisches Genie, und in seinem berühmten Sonett Mächtiges Überraschen (1807) aus der Weimarer Zeit überblenden sich in den beeindruckenden Naturbildern ideale Vorstellungen vom Menschen wie vom eigenen Künstlertum im Sinne des klassischen Literaturprogramms. Verschiedene Deutung will diese Linie modernisiert fortführen. In seinem Niagara-Gedicht nutzt Lenau die innovative Symbolik des imposanten fremden Flusses, um die Grundidee einer alle Lebensbereiche erfassenden Dekadenz, die seine Lyrik spätestens seit der Amerika-Reise bestimmt, auf komplexe Weise zu entfalten. Indem die Ich-Zersplitterung im Bild des Regenbogens zur notwendigen Voraussetzung für den Gewinn an Schönheit und Harmonie erklärt wird, weist die implizite Ästhetik des Textes überdies bereits auf die literarischen Untergangsszenarien des Fin de Siècle voraus. Eine selbstreflexive Ausrichtung besitzt auch das volksliedhafte Erzählgedicht Niagara, in dem der Fluss erneut das Leben an sich symbolisiert. Der Weg des Gewässers entlang der Urwälder bis zu den Stromschnellen wird hier mit menschlichen Verhaltensweisen und Lebensabschnitten – von der »Jugend heiter« über »frohe[] Muße«, »wildes Ahnen« bis zu einer selbstzerstörerischen »Sehnsucht […] / Nach dem großen Untergang« (V. 2, 8, 16, 24 f.) – assoziiert.50 Während jedoch der normale Wanderer, der für den Menschen im Getriebe des Alltags steht, »Niagara’s tiefen Fall« aufgrund des lauten »Wogenschall[s]« (V. 27, 29) überhört, sich seiner drängenden und zwangsläufigen Bewegung auf ein tödliches Ende hin noch kurz vor seinem Tode nicht bewusst ist, gibt es durchaus eine Person, die schon längst um diesen Umstand weiß: Und so mag vergebens lauschen, Wer dem Sturze näher geht; Doch die Zukunft hörte rauschen In der Ferne der Prophet. (V. 30–33)51

Allein dem Sprecher als einem Poeta vates kommt es zu, über die poetische Deutung der Natur ihr ewiges Gesetz des Niedergangs als die allem Leben vorbestimmte Zukunft zu erfassen. Durch die sowohl räumlich als auch zeitlich konnotierte Formulierung »In der Ferne« sowie durch den abschließenden Tempuswechsel ins Präteritum wird den Rezipientinnen und Rezipienten auch hier nahegelegt, die Sprechinstanz mit dem Verfasser des Gedichts und dessen Auffassung seiner Kunst und seines Künstlertums zu identifizieren. Damit zeugt die autoreflexive

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Lenau: Niagara; ders.: Werke und Briefe (Anm. 11), Bd. 2, 57. Ebd.

Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus 195 Wendung nicht zuletzt von Lenaus dichterischem Selbstbewusstsein und auch Sendungsbewusstsein in der Mitte der 1830er Jahre. 3. Bilder vom »großen Untergang« – Lenaus ›Indianerballaden‹ Die Balladen Der Indianerzug und Die drei Indianer von 1834 stellen eine weitere Variante von Lenaus ästhetischer Umsetzung seiner in den und über die USA gewonnenen Vorstellungen dar. Bei Der Indianerzug handelt es sich um sein erstes Gedicht überhaupt, das auf die in Nordamerika lebenden Menschen und ihre gegenwärtige Situation bezogen werden kann. Im ersten Teil beobachtet ein mitleidiger »Wandrer« (V. 4) eine Gruppe sogenannter ›Indianer‹, die aufgrund der Übermacht der weißen Siedler gezwungen sind, gen Westen zu fliehen, und deshalb wehklagend Abschied von der Heimat nehmen.52 Die tieferen Gründe ihrer maßlosen Verzweiflung werden daraufhin in einer – in Form der direkten Rede präsentierten – Ansprache des »Häuptling[s]« (V. 8) an die Mitglieder seines ›Stammes‹ dargelegt. Sie betreffen die umfassende Zerstörung der eigenen Identität: Aufgrund der räumlichen Expansion der »Weißen« verlieren die ›Indianer‹ ihre »Muttererde« (V. 12 f.), ihren ureigenen Lebensraum Wald, der von jeher den Kreislauf ›indianischen‹ Lebens von der Kindheit über das Erwachsenenalter bis zum Tod bestimmt hat. Die skrupellose Landnahme der ›Fremden‹ hat zudem zur Folge, dass die ›Indianer‹ mit ihrer Heimat auch ihrer religiösen und sozialen Bezüge beraubt werden, ist doch ihre Erinnerung an die väterlichen »Ahnen« (V. 23) und damit das kulturelle Gedächtnis ihrer Gemeinschaft untrennbar mit dem angestammten Naturraum verknüpft: »[...] Den Wald, wo wir den Kindesschlaf genossen, Verlassen wir, der uns sein Wild geboten; Wo liebend wir ein theures Weib umschlossen; Den Wald, wo wir begraben unsre Todten. Naht ihr den Gräbern euch von euren Ahnen, Sey still von euch die Hügelschaar beschlichen, Die Todten nicht zu wecken und zu mahnen, Daß wir von ihrem Glauben sind gewichen. Der Hohn wird kommen, früher oder später, Der gier’ge Pflug wird in die Gräber dringen; Dann muß die heil’ge Asche unsrer Väter Des tiefverhaßten Feindes Saaten düngen!« – (V. 19–30)53

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Lenau: Der Indianerzug; ders.: Werke und Briefe (Anm. 10), Bd. 1, 324–327, hier 324. Ebd.

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Die Repräsentation der indigenen amerikanischen Bevölkerung ist also vorrangig darauf ausgerichtet, sie als eine dem Naturzustand verhaftete Gruppe zu zeichnen, die der räuberischen modernen Landnahme nichts entgegenzusetzen weiß. Da die stereotypen Vorstellungen darüber, wie die ›Indianer‹ in allen Bereichen durch ihre unmittelbare Umwelt beherrscht werden, ihrem Anführer selbst in den Mund gelegt werden, gewinnen sie an Glaubwürdigkeit. Bestätigt wird die Eigenbeschreibung außerdem durch den folgenden Erzählerbericht, in dem sich die ausschließlich affektiv agierenden ›Indianer‹ von den Bäumen ihres Waldes wie von Freunden verabschieden und ihren wilden Abschiedsschmerz durch Flüche, Tränen und martialisches Flintenknallen ungehemmt ausleben.54 Nach einer vage gehaltenen Aussparung55 greift der zweite Teil der Ballade den Handlungsfaden wieder auf und richtet die Aufmerksamkeit auf die desolate Situation des entwurzelten ›Naturvolks‹ in der Fremde. Entfernt vom »Mutterlande« (V. 73)56 folgen die ›Indianer‹ wie gehetzte Tiere ihrem »heißen Trieb« (V. 56) zur Flucht und rasten lediglich, um ihre Grundbedürfnisse nach Schlaf und Nahrung zu stillen. Allein der Fluss Susquehannah erweist sich ihnen als ein »treue[r] Freund« (V. 55) aus der Heimat und begleitet sie in die lebensfeindliche »Waldeswüste« (V. 61).57 Dass die dargestellte Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung ihrer Vernichtung gleichkommt, untermauert die abschließende dramatische Szenerie eines von den »verfluchten Weißen« (V. 12)58 verursachten Waldbrandes. Die pathetische Schilderung der ›Ermordung‹ der heimatlichen Wälder und Tiere durch Brandrodung übernimmt wiederum der alte Häuptling. In seiner rhetorisch ausgefeilten Klage verurteilt er das Vorgehen der Invasoren als grundsätzlichen Verstoß gegen die natürliche Ordnung, der sich zwangsläufig gegen sie selbst richten wird: Und also spricht der Häuptling zum Gefährten: »Siehst du sie morden dort in unsre Wälder? Getrost in unsres Unglück frische Fährten Zieh’n sie den Pflug für ihre Segensfelder. Sie haben frech die Nacht vom Schlaf empöret, Daß sie sich mit dem Flammenkleide schürzet: Hoch brennt der Wald, vom Lager aufgestöret, Das Wild verzweifelt aus den Gluten stürzet.

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Ebd., 325. Ebd.: »Viel Meilen schon sind sie dahingezogen« (V. 49). Ebd., 326. Ebd., 325 f. Ebd., 324.

Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus 197 […] Gewiß, gewiß, mit ihren Saaten wuchern Die Wünsche auch, die sie darunter streuen Von ihren unversöhnlichen Verfluchern; Es wird sie noch an spätem Tag gereuen!« (V. 76–83, 88–91)59

So steht das aufziehende Morgenrot im Osten, das den roten Schein des brennenden Waldes in sich aufnimmt, zum einen für die endgültige Zerstörung der ›indianischen Naturkultur‹ durch die Europäer. Zum anderen weist es bereits auf den zwangsläufigen Untergang der die Natur ausbeutenden ›modernen‹ westlichen Zivilisation voraus. Mit der gewaltsamen Vertreibung der Native Americans aus den nordöstlichen Territorien der USA rekurriert das Gedicht auf ein zeitpolitisch höchst aktuelles Thema: die Westexpansion im Nordamerika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die vor dem Hintergrund bedeutender ökonomischer und politischer Entwicklungen in den USA stattfand. Nach der Amerikanischen Revolution wurde die indigene Bevölkerung massiv durch Siedler verdrängt, die sie durch unfaire Landverkäufe enteigneten und lebensgefährliche Krankheiten einschleppten. Auch erwies sich der von verschiedenen Gemeinschaften organisierte aktive Widerstand in den verschiedenen sogenannten ›Indianerkriegen‹ der Jahrzehnte vor und nach 1800 als letztlich erfolglos und endete in Niederlagen und Massakern.60 Die zunehmende Attraktivität des Westens als Siedlungsraum wurde nach 1800 von zahlreichen Faktoren beeinflusst, von denen die seit der Unabhängigkeitserklärung und der Präsidentschaft Thomas Jeffersons (1801–1809) propagierte Vorstellung von einem agrarisch ausgerichteten Amerika als ideologisches Fundament besondere Aufmerksamkeit verdient.61 Die Stilisierung des ländlichen Lebens zu einer Daseinsform, die der Natur näher stehe, bildete nämlich eine wichtige Bezugsgröße für die Ausdeutung des in der Verfassung formulierten, naturrechtlich begründeten Gesellschaftsvertrags. Da dieser von autonomen, über privates Eigentum verfügenden Individuen getragen werden sollte, erschien das individuelle Streben nach Landbesitz in dem noch unerschlossenen Westen des Kontinents als politisch förderungswürdig und von geradezu republikanisch-nationalem Interesse.62 Lenau unternahm seine vornehmlich zum Landerwerb bestimmte Amerikareise während der Präsidentschaft von Andrew Jackson (1829–1837), der vehement für die Siedlerinteressen und eine weitere Westausdehnung der USA eintrat. Als ehemaliger General an der Frontier lehnte Jackson eine ›Zivilisierung‹ der 59 60 61 62

Ebd., 326. Vgl. Manfred Berg: Geschichte der USA. München 2013, 24. Vgl. Hans-Peter Rodenberg: Der imaginierte Indianer. Zur Dynamik von Kulturkonflikt und Vergesellschaftung des Fremden. Frankfurt a.M. 1994, 46 f. Vgl. ebd., 47.

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Native Americans als wenig aussichtsreich ab, trat für ihre Umsiedlung in spezifische Territorien ein und setzte schließlich sein Wahlversprechen, alle östlich des Mississippi wohnenden ›Indianer‹ in westliche Gebiete zu verbringen, rigoros durch.63 Im Zuge des 1830 vom Kongress verabschiedeten Indian Removal Act wurden die entsprechenden Verhandlungen begonnen, die die ›Indianer‹ zur freiwilligen Abtretung ihrer Gebiete bewegen sollten, jedoch zumeist zweifelhafte Umsiedlungsverträge zum Gegenstand hatten oder zu ihrer gewaltsamen Vertreibung führten. Hiervon waren maßgeblich die Five Civilized Tribes im Südosten betroffen, deren Assimilation zu diesem Zeitpunkt schon deutlich fortgeschritten war.64 Über 50.000 indigene Amerikaner wurden durch die schonungslos betriebene Exklusionspolitik gezwungen, in den Westen auszuweichen. Auf diesem Trail of Tears kamen mehr als 10.000 Menschen ums Leben.65 Die Vertreibung der indigenen Völker in die westlichen Territorien war in den 1830er Jahren alltäglicher Gegenstand der Berichterstattung auch in der deutschen Presse. So informierte die in Augsburg verlegte Allgemeine Zeitung beispielsweise am 7. Juli 1832 gleich auf der ersten Seite über einen Abtretungsvertrag mit den Wyandot über 16.000 Morgen Land für 1,25 $ pro Morgen,66 und im selben Jahr finden sich mehrfach Berichte über die Entwicklungen im Black-Hawk-Krieg, dem letzten ›Indianerkrieg‹ östlich des Mississippi.67 Die skizzierten Zusammenhänge verdeutlichen, dass Der Indianerzug zwar auf ein brisantes, hochkomplexes Zeitgeschehen anspielt, es aber nicht als solches literarisch behandeln will. Die Schilderung bleibt zeitlich vage, verzichtet auf konkrete Hinweise auf die zeitgenössische Umsiedlungspolitik und ihre spezifischen Praktiken und blendet aus, dass die recht verschiedenen indigenen Gruppen teil-

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Vgl. Jürgen Heideking und Christof Mauch: Geschichte der USA. 6. Auflage. Tübingen/Basel 2008, 115–117, hier 115. Vgl. ebd. Vgl. Philipp Gassert, Mark Häberlein, Michael Wala: Kleine Geschichte der USA. Stuttgart 2007, 238. Vgl. Allgemeine Zeitung. Mit allerhöchsten Privilegien (7. Juli 1832), No. 189, 753 [https://digipress.digitale-sammlungen.de/view/bsb10504309_00089_u001/1; letzter Zugriff: 15.01.2020]. Vgl. Allgemeine Zeitung. Mit allerhöchsten Privilegien (6. Juli 1832), No. 188, Außerordentliche Beilage, No. 267/268, 1065. Die zitierte Meldung aus der Missouri-Republican vom 10. Juni lautet: »Es heißt, daß Sak= und For=Indianer das Gebiet am östlichen Ufer des Mississippi, dessen Besiz sie im vorigen Jahre aufgaben, wieder eingenommen haben. Sie zeigen die Absicht, dort zu bleiben, bis man sie mit Gewalt vertreibt, und haben sich für diesen Fall gerüstet und bewafnet« [https://digipress.digitale-sammlungen.de/view/bsb10504309_00073_u001/1; letzter Zugriff: 15.01.2020]. In einer Ausgabe vom Dezember desselben Jahres findet sich ein übersetzter Bericht über die entsprechende »Beendigung und Folgen des Gränzkrieges mit den Indianern« aus dem Washington Intelligencer. Vgl. Allgemeine Zeitung. Mit allerhöchsten Privilegien (18. Dezember 1832), No. 353, Außerordentliche Beilage, No. 517, 2065 [https://digipress.digitale-sammlungen.de/view/bsb10504310_01129_u001/1; letzter Zugriff: 15.01.2020].

Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus 199 weise Widerstand gegen das Vordringen der Siedler leisteten, Verträge oder Bündnisse schlossen, auch rechtlich ihre Interessen zu wahren suchten und sich bereits seit Generationen mit den europäischen Lebensweisen kulturell auseinandersetzten.68 Bei Lenaus ›Indianerballaden‹ handelt es sich keineswegs um engagierte Literatur, die auf eine unmittelbare gesellschaftspolitische Wirkung zugunsten der Betroffenen abzielt, wie es in der Forschung wiederholt nahegelegt wurde.69 Vielmehr knüpft die gefühlsbetonte Darstellung aus Sicht der gewaltsam vertriebenen ›Anderen‹ unverkennbar an die im Zuge der kolonialen Expansion Europas ausgearbeitete Konzeption des ›Indianers‹ als eines ›Edlen Wilden‹ an. Das Idealbild vom zivilisationsfernen ›Naturmenschen‹ und seiner charakterlichen Überlegenheit gegenüber dem moralisch korrumpierten Europäer diente bekanntlich spätestens seit der Aufklärung und Jean-Jacques Rousseaus berühmtem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) dazu, eine spezifisch europäische Gesellschaftskritik zu formulieren.70 Es handelt sich bei diesem eurozentrischen Diskursmuster, wie es Martin Bollacher treffend formuliert, um die »fiktionale Komplementärgeschichte« der soziohistorischen »Realität des Genozids, [die sie] wie ein Schemen des kollektiven schlechten Gewissens begleitet«.71 Neuere Studien zum literarischen ›Indianerbild‹ heben hervor, dass auch die deutsche Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts die Fremdrepräsentation des nordamerikanischen homme naturel mit ausarbeitet.72 Erzählgedichte wie Johann Gottfried Seumes Der Wilde (1793), Johann Gottfried Herders Der betrogene Unterhändler (1797), Friedrich Schillers Nadowessische Todtenklage (1798) oder Karl Lappes Der kleine Derik (1801) greifen den »europaweite[n] Wildenkult«73 auf und bestärken die Vorstellung von ›dem Indianer‹ als einer vorbildlichen, sich durch existenzielle Freiheit, moralische Souveränität und Würde auszeichnenden Figur.74 Welche umfassende Verbreitung dieser in allen Künsten und Textsorten anzutreffende Topos spätestens nach 1800 gefunden hatte, lässt sich nicht zuletzt 68 69 70 71 72

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Jürgen Heideking, Vera Nünning: Einführung in die amerikanische Geschichte. München 1998, 110. Vgl. beispielsweise József Turóczi-Trostler: Lenau. Berlin 1961, 50; oder Horst Brandstätter: Nikolaus Lenau: Die drei Indianer. In: Freibeuter 23 (1985), 97–104, hier 103. Vgl. Rodenberg: Der imaginierte Indianer (Anm. 61), 27. Martin Bollacher: Figurationen des ›edlen Wilden‹ in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Literatur und Geschichte. Festschrift für Wulf Koepke zum 70. Geburtstag. Hg. von Karl Menges. Amsterdam/Atlanta 1998, 51–64, hier 57. Vgl. u.a. Wynfrid Kriegleder: The American Indian in German Novels up to the 1850s. In: German Life and Letters 53 (2000), 487–498; Ladislaus Ludescher: Amerika und die Indianer. Die Darstellung der nordamerikanischen Ureinwohner in deutschsprachigen Balladen des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Die Ballade. Neue Perspektiven auf eine traditionsreiche Gattung. Hg. von Andrea Bartl u.a. Würzburg 2017, 179–221. Bollacher: Figurationen des ›edlen Wilden‹ (Anm. 71), 57. Vgl. Ludescher: Amerika und die Indianer (Anm. 72), 190–195.

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daran erkennen, dass die erwähnten Balladen bereits Eingang in die zeitgenössische, auf eine sittlich-religiöse Erziehung der Jugend ausgerichtete Kinderbuchliteratur gefunden hatten.75 Freilich inszeniert Lenaus Erzählgedicht Der Indianerzug den traditionsreichen Topos des ›Indianers‹ als ›Edler Wilder‹ bereits in seiner romantisierten Form des Vanishing American. Dieser angesichts der gegenwärtigen Geschehnisse im Osten der USA aktualisierten Rezeption lag die Auffassung zugrunde, bei den ›Indianern‹ handele es sich um ein von den zivilisatorisch überlegenen Weißen bereits bezwungenes, zum Untergang bestimmtes ›Naturvolk‹.76 Damit richtete sich der Fokus nur vermeintlich auf die Opfer, denn sie interessierten lediglich als ideale Projektionsfläche, um aus europäischer Perspektive die eigenen Verlusterfahrungen in Zeiten restaurativer Beschränkung und moderner Überforderung zu kritisieren. Im amerikanischen Zusammenhang kam der romantisierten ›Indianerfigur‹ als Vanishing American darüber hinaus eine wichtige Funktion für die Entwicklung des nationalen Selbstbewusstseins zu, da sie der zugewanderten Bevölkerung die Möglichkeit bot, sich »als ›nature’s nation‹ als Träger der positiven Aspekte des indianischen Erbes in der Begegnung mit der Wildnis« zu entwerfen.77 Jedenfalls trug das Narrativ dazu bei, dass die gesellschaftliche Mehrheit ihre Handlungsweise nicht mehr als das hinterfragen oder gar verantworten musste, was sie eigentlich war – skrupellos betriebene Interessenpolitik. Der gewaltsame Ausschluss anderer Kulturen stellte sich in diesem Licht stattdessen als ein zwangsläufiges Geschehen im unaufhaltsamen Prozess der Zivilisation dar. Eine der einflussreichsten literarischen Darstellungen der ›Indianer‹ als aussterbende Nation(en) bietet James Fenimore Coopers historischer Romanzyklus The Leatherstocking Tales, von dem am Ende der 1820er Jahre bereits drei Bände erschienen waren, darunter der berühmteste Roman The Last oft the Mohicans (1826), der sogleich ins Deutsche übersetzt wurde.78 Umgehend fand dieser Topos auch Eingang in die deutschsprachige Literatur, wobei Nikolaus Lenau durchaus

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Vgl. Tobias Heinrich Lotter: Beyspiele des Guten. Eine Sammlung edler und schöner Handlungen und Charakter-Züge aus der Welt- und Menschen-Geschichte aller Zeiten und Völker. 4. Teil. 2. Auflage. Stuttgart 1824, 214–219. Vgl. hierzu die Ausführungen bei Hartmut Lutz: ›Indianer‹ und ›Native Americans‹. Zur sozialund literarhistorischen Vermittlung eines Stereotyps. Hildesheim/Zürich/New York 1985, 142– 151; Rodenberg: Der imaginierte Indianer (Anm. 61), 32–51; Ludescher: Amerika und die Indianer (Anm. 72), 195 f.; und Peter Bolz: Indianer und Deutsche. Eine klischeebeladene Beziehung I. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 126 (2000), 39–47, hier 41. Rodenberg: Der imaginierte Indianer (Anm. 61), 40. Vgl. Karlheinz Rossbacher: Lederstrumpf in Deutschland. Zur Rezeption James Fenimore Coopers beim Leser der Restaurationszeit. München 1972, 26.

Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus 201 nicht der erste oder gar der einzige war, der das Thema in Erzählgedichten behandelte.79 Deshalb kann der Dichter auch keineswegs erst auf seiner Amerikareise auf das entsprechende Muster aufmerksam geworden sein. Eine erstaunliche inhaltliche Nähe zeigen Lenaus Der Indianerzug und Die drei Indianer beispielsweise zu der bereits 1829 veröffentlichten Ballade Der letzte Delaware des österreichischen Dichters Ludwig Halirsch.80 Es spricht einiges dafür, dass Lenau die Gedichtsammlung von Halirsch kannte, da beide Lyriker in Wien gemeinsame Freunde hatten, nicht zuletzt Johann Gabriel Seidl, der Lenaus erste Publikationen herausgab.81 In Der letzte Delaware betrauert der letzte Vertreter der ›Waldland-Indianer‹ – von einer erhöhten Position inmitten der Natur aus – den Verlust des »weite[n] schöne[n] Land[es]« (V. 16) seiner Heimat, aus der er und seine Angehörigen durch die »weiße Schaar« (V. 22) aus dem »ferne[n] Osten […] / Wie die Tauben« (V. 21, 27) vertrieben wurden.82 Mit dem Niedergang seines Volkes korrespondiert das von dem heroischen Protagonisten beobachtete qualvolle Sterben des anthropomorphisierten Waldes in einer Feuersbrunst, worin nur die auffälligste thematische Überschneidung mit Der Indianerzug besteht. Hingegen bleibt der letzte »Delawarenheld« (V. 2)83 aus Halirschs Text, der ebenfalls sämtliche Zuschreibungen eines homme naturel aufweist, sogar noch im Tod mit dem ihn ausschließlich prägenden Lebensraum untrennbar verbunden: Stoisch gelassen stimmt er zunächst einen den »gellenden Vernichtungsdrang« (V. 88) des Feuers übertönenden »allerbesten Sang« (V. 86) an, bevor er sich schließlich freiwillig den Flammen ergibt.84 Bei Die drei Indianer handelt es sich um Nikolaus Lenaus sicherlich berühmtestes USA-Reisegedicht. Seit ihrer Erstveröffentlichung fehlt diese Ballade in kaum einer größeren deutschsprachigen Anthologie, und dies trifft selbst noch auf die Gegenwart zu.85 Ihre bis heute andauernde Attraktivität ist zweifelsohne darauf zurückzuführen, dass es ihr auf besondere Weise gelingt, den zeitspezifischen Vanishing-American-Diskurs zeitübergreifend poetisch zu fassen. Indem das Gedicht 79 80 81 82 83 84 85

Vgl. hierzu die Auflistung der ›Indianergedichte‹ bei Ludescher: Amerika und die Indianer (Anm. 72), 208 f. Vgl. Ludwig Halirsch: Balladen und lyrische Gedichte. Leipzig 1829, 82–86. Vgl. Hubert Lengauer: Seidl, Johann Gabriel. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 12. Wien 2001 ff., 124; Wilhelm Bietak: Art. ›Halirsch, Ludwig Franz Thomas‹. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 7. Berlin 1966, 537; Ritter: Zeit des Herbstes (Anm. 2), 41. Halirsch: Balladen (Anm. 80), 83. Ebd., 82. Ebd., 86. Vgl. hierzu etwa folgende neuere Sammlungen: Deutsche Balladen. Von Bürger bis Brecht. Hg. von Karl Heinz Berger und Walter Püschel. Berlin 1958, 259; Deutsche Balladen. Hg. von Hartmut Laufhütte. Stuttgart 1991, 269; Das Balladenbuch. Hg. von Frank T. Zumbach. Berlin 2016, 324.

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die Figur des sterbenden nordamerikanischen ›Indianers‹ absolut setzt, wird sie einer breiten Leserschaft zur Identifikation angeboten: Die drei Indianer86 Mächtig zürnt der Himmel im Gewitter, Schmettert manche Rieseneich’ in Splitter, Uebertönt des Niagara Stimme, Und mit seiner Blitze Flammenruthen Peitscht er schneller die beschäumten Fluten, Daß sie stürzen mit empörtem Grimme. Indianer steh’n am lauten Strande, Lauschen nach dem wilden Wogenbrande, Nach des Waldes bangem Sterbgestöhne; Greis der eine, mit ergrautem Haare, Aufrecht überragend seine Jahre, Die zwei andern seine starken Söhne. Seine Söhne jetzt der Greis betrachtet, Und sein Blick sich dunkler jetzt umnachtet, Als die Wolken, die den Himmel schwärzen, Und sein Aug’ versendet wild’re Blitze, Als das Wetter durch die Wolkenritze, Und er spricht aus tief empörtem Herzen: »Fluch den Weißen! ihren letzten Spuren! Jeder Welle Fluch, worauf sie fuhren, Die einst Bettler unsern Strand erklettert! Fluch dem Windhauch, dienstbar ihrem Schiffe! Hundert Flüche jedem Felsenriffe, Der sie nicht hat in den Grund geschmettert! Täglich über’s Meer in wilder Eile Fliegen ihre Schiffe, gift’ge Pfeile, Treffen unsre Küste mit Verderben. Nichts hat uns die Räuberbrut gelassen, Als im Herzen tödtlich bittres Hassen: Kommt, ihr Kinder, kommt, wir wollen sterben!«

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Lenau: Die drei Indianer; ders.: Werke und Briefe (Anm. 10), 328 f.

Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus 203 Also sprach der Alte, und sie schneiden Ihren Nachen von des Ufers Weiden, D’rauf sie nach des Stromes Mitte ringen; Und nun werfen sie weithin die Ruder, Armverschlungen Vater, Sohn und Bruder Stimmen an, ihr Sterbelied zu singen. Laut ununterbroch’ne Donner krachen, Blitze flattern um den Todesnachen, Ihn umtaumeln Möwen sturmesmunter; Und die Männer kommen festentschlossen Singend schon dem Falle zugeschossen, Stürzen jetzt den Katarakt hinunter.

Auch in diesem Text stimmen Natur- und Menschenbeschreibungen wieder vollkommen überein. Es besteht eine ungebrochene Kongruenz zwischen der aufgewühlten Gemütslage der den Weißen ohnmächtig unterlegenen, hasserfüllten ›Indianer‹ und dem Katastrophenszenario, das sich in der anthropomorphisierten Landschaft abspielt. Dabei weist »des Waldes bange[s] Sterbgestöhne« (V. 10) bereits auf das unwiderrufliche Schicksal der typisierten Dreierkonfiguration voraus. Der greise Häuptling und seine beiden wehrhaften Söhne bilden eine musterhafte ›natürliche‹, männlich-patriarchale Gemeinschaft, die in unverbrüchlicher Treue und absolutem Gehorsam gegenüber einer anerkannten Führerfigur verbunden ist. Das »tödtlich bittre[] Hassen« (V. 30) der drei Männer auf ihre ehrlosen, sich durch unlautere Mittel durchsetzenden Feinde paart sich mit einer Unerschrockenheit und Tapferkeit, die bis zur Todesverachtung reicht. Im Unterschied zu Der Indianerzug mündet die auch hier wieder in Form einer direkten Rede dargebotene Klage des alten Häuptlings diesmal aber nicht in eine negative Prophezeiung für die Sieger. Stattdessen gilt die aggressive Verfluchung auch der Natur selbst – der »Welle«, dem »Windhauch« und dem »Felsenriffe« (V. 21, 23 f.) –, die sich auf die Seite der fremden »Räuberbrut« (V. 29) gestellt und sie tatkräftig unterstützt habe, statt sie zu vernichten. Damit liefern die Indigenen mehr als eine dem Fremdstereotyp entsprechende mystisch-irrationale Erklärung für ihre Niederlage. Sie müssen an ihrem Untergang letztlich irgendwie selbst schuld sein, werden sie doch gerade von jener Instanz tödlich verraten, die ihr ureigenes Wesen ausmacht. Folgerichtig kommt es im Text den ›Indianern‹ zu, den ihnen drohenden Identitätsverlust im Sinne eines irreparablen Bruchs mit der Natur zu verhindern: Nur durch ihren gemeinschaftlich unternommenen Freitod in den Fluten des Niagara, ihre selbstbestimmte Auslöschung, bleiben sie weiterhin ein wesenhafter Teil von ihr.

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In Die drei Indianer ist das in Ludwig Halirschs Gedicht begegnende Motiv des furchtlosen »letzten Delawaren«, der widerstandslos den Flammentod erleidet, entscheidend verändert worden. Lenau steigert den pathetischen Gestus der Todesverachtung zu einer freiwilligen Selbstvernichtung der Anderen, wodurch die Opfer einer unmenschlichen Vertreibungspolitik zu Handlangern ihrer eigenen Eliminierung gemacht werden. Sein lyrischer Text überträgt den hegemonialen Diskurs über die indigene amerikanische Bevölkerung als aufgrund ihrer Naturabhängigkeit zum Untergang verdammte ›edle Wilde‹ auf perfide Weise auf die Handlungsebene. Die amerikanischen Minderheiten erhalten in diesem Gedicht keine Stimme, und ihre trostlose Situation interessiert nicht als solche. Stattdessen dienen die als unterlegen und im Niedergang begriffenen Anderen dem Dichter lediglich dazu, eigene Verlusterfahrungen zu formulieren: Die ›Indianer‹ verkörpern das Ideal einer freiheitlichen, autonomen Existenzweise, die in der Gegenwart als bereits unrettbar verloren betrauert wird. In Die drei Indianer finden restaurative Zivilisationsmüdigkeit, Fortschrittspessimismus und Entfremdung ihren Ausdruck in einer lustvollen Selbstvernichtungsphantasie; in ihr liegt der lyrische Ausweg aus einer das bürgerliche Individuum überfordernden Moderne. Dabei bestärkt die eindringliche Klage um den zwangsläufigen Untergang der Native Americans auch im Medium der Literatur die klischeehafte Vorstellung einer Dichotomie von indigener gesellschaftlicher Statik und westlichem kulturellem Fortschritt.87 Gerade im Kontext von Lenaus Amerika-Reiselyrik insgesamt wird anschaulich, wie effektiv seine ›Indianergedichte‹ die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Gesellschaft und Kunst maßgebliche Figuration des Vanishing American für das eigene Kunstprogramm instrumentalisieren. Die auf Identifikation zielende Fremdheitskonstruktion inszeniert das ›indianische Schicksal‹ spektakulär im Rahmen der eigenen Dekadenzpoetik: Im Bild der im Wasserfall sterbenden Indianer verbinden sich Todessehnsucht und Schönheit, lässt sich der morbide Reiz des Untergangs auf besonders suggestive Weise gestalten. Betrachtet man Lenaus briefliche Äußerungen und seine Reiselyrik im Kontext zeitgenössischer Alteritätsdiskurse, so fügen sich die zunächst widersprüchlich erscheinenden Effekte der Abwehr und der Faszination gegenüber dem ›amerikanischen Anderen‹ zu einem spezifisch restaurativen Fremdheitsphantasma zusammen. In ihm bietet die ›Neue Welt‹ keinen Ausweg aus der eigenen Problema-

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Lenaus poetische Darstellung der ›Indianer‹ nähert sich – wenn auch unter kulturpessimistischen Vorzeichen – in diesem Punkt der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dominierenden Geschichtsschreibung an, die die Native Americans zu bloßen Statisten der europäischen und amerikanischen Politik erklärte, deren Kulturen durch den Kontakt mit den Europäern zwangsläufig verformt würden. Vgl. Heideking/Nünning: Einführung (Anm. 68), 109.

Dekadenz und Exotismus in ausgewählten Reisegedichten Nikolaus Lenaus 205 tik, sondern führt nur noch tiefer in sie hinein: Die neuen Bewohner der USA repräsentieren eine kulturferne Überzivilisation, die moderne Entfremdung des bürgerlichen Menschen durch das Kapital, während die amerikanische Natur als todbringende Natur imaginiert wird, deren Todesverfallenheit bereits offen zu Tage liegt. Als Inbegriff einer solchen Natur fungieren die nordamerikanischen ›Indianer‹. Wie der Niagara und der amerikanische Urwald wird auch die marginalisierte indigene Bevölkerung zum allegorischen Zeichen für eine nach der Amerikareise des Dichters nun nicht mehr nur in der eigenen Gesellschaft, sondern überall verortete Entfremdung und Degeneration. Für die deutschsprachige Literatur müssen Der Indianerzug und insbesondere Die drei Indianer als exotistische ›Meisterleistungen‹ gelten, die das Thema einer in den 1830er Jahren verschärften genozidalen Umsiedlungspolitik ebenso schonungslos wie virtuos für Lenaus eigenes Kunstprogramm vereinnahmen. Indem die Balladen den hegemonialen Diskurs ungebrochen poetisch überhöhen, vollziehen sie die Exklusionspolitik auf der rhetorisch-ästhetischen Ebene mit.

Die Akropolis von Athen in der deutschsprachigen Reiselyrik (1838–1935) Funktionen und Transformationen des deutschen Philhellenismus OLGA BEZANTAKOU Noch im 18. Jahrhundert war das idealisierte Bild Griechenlands so wirkmächtig, dass »die großen Griechenlandverehrer sich davor fürchteten, das Bild dieses Landes durch empirische Wahrnehmung zu stören«.1 Im Gegensatz zu Winckelmann, Goethe, Humboldt, Schiller oder Hölderlin, die Griechenland – ihr Sehnsuchtsland – nie gesehen hatten, gab es schon seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts immer mehr deutsche Dichter, die nach Griechenland reisten und zahlreiche Gedichte über die Wirkung der griechischen Landschaft mit ihren antiken Denkmälern schrieben. In den letzten Jahren hat die Literaturforschung ihre Aufmerksamkeit daher auch auf die Reiselyrik gelenkt. In diesem Zusammenhang ist Eva Kocziszkys Forschungsbeitrag zur Gattung der Reiselyrik besonders erwähnenswert. Sowohl in ihren Monographien2 als auch in ihrer 2013 gemeinsam mit Jörn Lang herausgegebenen Anthologie deutschsprachiger Reiselyrik3 stellt Kocziszky die Untersuchung der Ruinenpoetik in der Reiselyrik der Moderne in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, anhand ausgewählter, etwa zwischen 1838 und 1935 entstandener Beispiele, die deutschsprachige Griechenland-Reiselyrik, also die Lyrik, die aus einer tatsächlichen, griechischen Erfahrung vor Ort entstanden ist, in Bezug auf ihre ideologischen und ästhetischen Konstruktionen sowie auf die in ihr sichtbaren Transformationen des deutschen Philhellenismus zu untersuchen. Als Ausgangspunkt dient die These, dass Griechenland nicht nur einen realen, sondern auch einen imaginären Ort in der deutschsprachigen Reiselyrik bildet, in dem Sinne, dass die philhellenische Vorstellung und folglich die lyrische Inszenierung der Reisen nach Griechenland von bestimmten ideologischen, politischen und ästhetischen Annahmen, kulturellen Vorprägungen und Vorurteilen beeinflusst ist. Aus der Perspektive der Problematik der Wechselbeziehungen zwischen Philhellenismus und Reiselyrik ergeben sich folgende 1 2 3

Nafsika Mylona: Griechenlands Gedenkorte der Antike in der deutschsprachigen Reiseliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg 2014, 14. Vgl. Eva Kocziszky: Das fremde Land der Vergangenheit. Archäologische Dichtung der Moderne. Köln 2015. Vgl. Tiefenwärts. Archäologische Imaginationen von Dichtern. Hg. von Eva Kocziszky und Jörn Lang. Darmstadt 2013; Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste. Hg. von Eva Kocziszky. Berlin 2011.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_11

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Fragestellungen, denen dieser Beitrag nachgehen möchte: Wie werden die materiellen Überreste der griechischen Antike in der deutschsprachigen Reiselyrik inszeniert? Inwiefern unterscheidet sich die Reiselyrik, die auf tatsächlich stattgefundenen Reisen basiert, von der philhellenischen Lyrik, die, obgleich nicht aus tatsächlichen Reisen entstanden, ebenfalls archäologische Gedächtnisorte thematisiert? Welche Rolle spielen die eigentliche Erfahrung einerseits und die Konstruktionen des kulturellen Gedächtnisses andererseits bei den lyrischen Inszenierungen archäologischer Erinnerungsräume? 1. Hellenismus und deutscher Philhellenismus: Von der Zeit des Klassizismus und des Neuhumanismus zu einer neuen Form des Philhellenismus um 1900 Während im 17. und 18. Jahrhundert die Mehrzahl der Griechenland-Reisenden entweder französischer oder englischer Herkunft war, kamen nach dem griechischen Freiheitskampf und der Gründung des modernen griechischen Staates im Jahr 1830 die meisten Griechenland-Besucher aus Deutschland. Neben der Ernennung Ottos, des Sohnes von Ludwig I., zum König des neuen griechischen Staates im Jahre 1833, spielt die Tradition der Bildung des humanistischen Gymnasiums, die viele Deutsche mit der antiken Literatur und Kultur vertraut machte, eine wesentliche Rolle an einem gesteigerten Interesse an Griechenlandreisen während des 19. Jahrhunderts.4 Daher verliert der deutsche Philhellenismus, der ursprünglich als Oppositionsbewegung eine politische Funktion übernahm und in dessen Zuge die Befreiung des griechischen Volkes gefordert wurde, nicht an Intensität. Im Gegenteil, der deutsche Neuhumanismus setzte den Philhellenismus in das Bildungssystem um und trug so zu einer Weiterentwicklung des deutschen Mythos von der ›Wahlverwandtschaft‹ zwischen den modernen Deutschen und alten Griechen bei, auch mit dem Ziel, die Stellung und Legitimierung der Deutschen gegenüber der kulturellen Vormachtstellung der Franzosen zu stärken.5 Dieser ›Griechenmythos‹ ist bekanntlich auf die idealisierte Kunstauffassung Winckelmanns und das Erbe der klassizistischen Ästhetik zurückzuführen. Die klassizistische Sichtweise, die die Stille, das Maß, die Harmonie, das Licht, den heiteren, reinen Himmel und die Grazie favorisierte, hat das kulturelle Gedächtnis der nachkommenden Generationen stark geprägt. 4

5

Vgl. Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Hg. von Christa Berg. München, 1991; Ludwig von Friedeburg: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt a.M. 1989. Manfred Landfester: Griechen und Deutsche. Der Mythos einer ›Wahlverwandschaft‹. In: Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit. Hg. von Helmut Berding. Frankfurt a.M. 1996, 198–219. Vgl. Mylona: Griechenlands Gedenkorte (Anm.1), 48 f.

Die Akropolis von Athen in der deutschsprachigen Reiselyrik (1838–1935) 209 Der entscheidende Wendepunkt in der ästhetischen Wahrnehmung der griechischen Antike fand etwa um 1900 statt. Das Vorantreiben einer neuen Ästhetik, die über veränderte Normen und Werte verfügte, erfolgte um die Jahrhundertwende unter dem Einfluss der Philosophie Friedrich Nietzsches und der intuitiven Interpretation der Antike durch Johann Jacob Bachofen. Diese Neuinterpretation der Antike führte zur Entstehung einer gewandelten Form der Idealisierung der Antike, die sich sowohl von den Idealen des Neuhumanismus als auch von der empirischen Erforschung der Antike deutlich abhob und den klassizistischen Diskurs untergrub. Das neue Antikenbild stellt somit einen eindeutigen Paradigmenwechsel dar, indem es durch die Favorisierung des Archaischen und einer vermeintlich dunklen, primitiven, vorklassischen Epoche, und nicht zuletzt durch die Infragestellung der historisch-positivistischen Altertumswissenschaft gekennzeichnet ist.6 Aus der Auseinandersetzung sowohl mit der Winckelmannschen Antikenrezeption als auch mit der wissenschaftlichen Disziplin des positivistischen Historismus entsteht eine Form des Philhellenismus, der durch eine neue Semantisierung der Antike charakterisiert ist, der die Entwicklung des ästhetischen Denkens widerspiegelt und der eine intuitive Wahrnehmung der Antike privilegiert. 2. Archäologische Erinnerungsräume im Horizont des deutschen Philhellenismus Die Tatsache, dass die unterschiedlichen Formen der Idealisierung Griechenlands von Winckelmann bis hin zu Bachofen und Nietzsche auf der Antike gründen, erklärt die Ausrichtung des Interesses der deutschen Griechenlandreisenden des 19. und 20. Jahrhunderts an den antiken Kunst- und Bauwerken. Die Verbindung der lyrischen Inszenierungen der griechischen antiken Ruinen mit ästhetischen, ideologischen und kulturellen Konstruktionen, die das Griechenlandbild des deutschen Philhellenismus geformt haben, lässt sich am deutlichsten mit dem theoretischen Konzept des kulturellen Gedächtnisses fassen. Texte, Riten, Bauwerke, Denkmäler sind nach Jan Assmann »Formen der objektivierten Kultur« und fungieren als Träger von Erwartungen und Phantasievorstellungen, die die Formierung des kulturellen Gedächtnisses prägen.7 Diese »Erinnerungsräume« sind gleichzeitig als reale und imaginierte Räume anzusehen, die einen materiellen und symbolischen Aspekt beinhalten. Da-

6

7

Vgl. Manfred Landfester: Nietzsches Geburt der Tragödie. Antihistorismus und Antiklassizismus zwischen Wissenschaft, Kunst und Philologie. In: »Mehr Dionysos als Apoll«. Antiklassizistische Antike- Rezeption um 1900. Hg. von Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof. Frankfurt a.M. 2002, 89–111. Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hg. von Toni Hölscher. Frankfurt a.M. 1988, 9–19.

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her gilt die Betrachtung der lyrischen Darstellungen archäologischer Erinnerungsräume als ein wichtiges methodologisches Instrument, um die Funktion der Reiselyrik, als ein Projektionsraum der unterschiedlichen Funktionen und Transformationen des Philhellenismus wirksam zu werden, besser zu begreifen. Die vorliegenden Betrachtungen zum Thema ›Deutschsprachige Reiselyrik und Philhellenismus‹ sollen sich auf einen solchen Erinnerungsraum beschränken, nämlich auf die archäologische Stätte in oder rund um Athen. Vor allem die Akropolis in Athen gilt nicht nur als die wichtigste architektonische Repräsentation der griechischen Antike, sondern bildet auch die Projektionsfläche vielfältiger Transformationen des ästhetischen Diskurses und fungiert gleichzeitig innerhalb des westeuropäischen Diskurses als Verkörperung eines gemeinsamen europäischen Erbes. Die letztgenannte Funktion, die die Akropolis im philhellenischen Diskurs einnimmt, lässt sich durch die Tatsache erklären, dass die Idealisierung des antiken Griechenlands eng mit der Konstruktion der europäischen Identität verbunden ist und der Abgrenzung des ›Abendlandes‹ gegenüber dem ›Orient‹ dient. Im Mittelpunkt steht die fundamentale Dichotomie zwischen der soziokulturellen Konstruktion Griechen/Barbaren bzw. (»west«-)europäischer/orientalischer kultureller Identität. Die Semantisierung der griechischen Antike als kulturelle Grundlage Europas gründet sich folglich auf die angebliche Überlegenheit der antiken griechischen Kultur und ihre Gleichsetzung mit den Idealen des Fortschritts und der Zivilisation. Vor dem Hintergrund der antagonistischen Beziehungen der europäischen Nationen zueinander transformieren allerdings die Deutschen unter dem Einfluss des Neuhumanismus und des Klassizismus den europäischen Griechenmythos am Ende des 18. Jahrhunderts zu einem nationalen Mythos. Sie präsentieren sich selbst als die Alleinerben der ›auserwählten Nation‹ der alten Griechen. Die Reise nach Griechenland wird »zu einer Suche nach einer authentischen Antiken-Erfahrung«, die auch als ein Identitätskonstruktions- und Legitimierungsverfahren zu verstehen ist.8 Allerdings wird diese tatsächliche Erfahrung durch die Projektionen und die ästhetischen und ideologischen Konstruktionen des kulturellen Gedächtnisses untergraben. Nafsika Mylona erläutert diesen entscheidenden Punkt in ihrer kürzlich erschienenen Monographie zur deutschen Rezeption griechischer Gedenkorte der Antike wie folgt: Das Aufleben von Erinnerungen, d.h. der Rekurs auf das kulturelle Gedächtnis, bedroht die Rezeption des Griechentums durch die Erfahrung; die Erfahrung tendiert sogar dazu, zum zweitrangigen Element der Reise zu werden. Diese Erinnerungen sind nicht auf eine etwaige vergangene Reise zurückzuführen, sondern eher als Metapher für den Prozess der Projektion des kulturellen Gedächtnisses auf den Schauplatz 8

Christopher Meid: Griechenland-Imaginationen. Reiseberichte im 20. Jahrhundert von Gerhart Hauptmann bis Wolfgang Koeppen. Berlin u.a. 2012, 6.

Die Akropolis von Athen in der deutschsprachigen Reiselyrik (1838–1935) 211 des Gedenkortes zu betrachten. Der Gedenkort ruft nämlich Kenntnisse und Phantasien hervor, die der Reise vorangehen.9

Diese Kluft zwischen der empirischen Erfahrung und der durch das kulturelle Gedächtnis bestimmten Erwartung führte gelegentlich dazu, dass die Reise nicht selten zur Enttäuschung wurde, denn die Realität entsprach keineswegs den idealisierten Vorstellungen der Reisenden. Des Öfteren findet sich in der Reiseliteratur, und besonders in der Reiselyrik, allerdings die Isolierung der Ruinen aus ihrer gegenwärtigen Umgebung, was in einer Transzendierung der empirisch erfahrbaren Realität resultiert. Angesichts dieser Aspekte und Funktionen des Antikenbildes scheint die Lyrik die ideale Gattung für die Darstellung eines idealisierten Griechenland-Bildes zu sein, da die Konstruktionen des kulturellen Gedächtnisses, nämlich der idealisierten Vorstellungen von Hellas, sich durch reiche lyrische Mittel, poetische Bilder und sprachliche Figuren eindrücklich darstellen lassen. Die Funktion der Reiselyrik als Projektionsfläche des deutschen Philhellenismus gründet also auf der Betrachtung des Philhellenismus vor allem als Diskurs. Weil dieser von der Verehrung eines imaginären Griechenlands geprägt war – das zwar einmal als sozialgeschichtliche Einheit existiert hatte, das aber, selbst wenn es so war, gerade als nicht existent verehrt wurde –, wird der Philhellenismus von der aktuellen Forschung als ein »crypto-colonial« Diskurs einer sozial-imaginären Institution bezeichnet, die zur europäischen bzw. westlichen Selbstbestimmung beigetragen hat.10 Im Mittelpunkt dieser Annahme steht die These, dass der Fokus des Interesses der deutschen Reisenden fast ausschließlich auf die Antike gerichtet war, während die Gegenwart des Landes unbeachtet blieb. Oftmals tauchen in der Reiseliteratur sogar äußerst negative Beurteilungen der modernen Griechen auf, die als 9 10

Mylona: Griechenlands Gedenkorte (Anm. 1), 36. Dimitris Tziovas: Introduction: Decolonizing Antiquity, Heritage Politics, and Performing the Past. In: Re-imaging the past. Antiquity and Modern Greek culture. Hg. von Dimitris Tziovas. Oxford 2014, 1–26, hier: 3. In ähnlicher Weise bezeichnet Stathis Gourgouris die Funktion des europäischen Philhellenismus als »Kolonialisierung des Ideals« [»colonization of the Ideal«] (Stathis Gourgouris: Dream Nation. Enlightenment, Colonization and the Institution of Modern Greece. Stanford 1996, 124) In seiner Studie untersucht Gourgouris die Auswirkungen des Philhellenismus auf die Entwicklung der neugriechischen nationalen Kultur, insbesondere während der Zeit des Unabhängigkeitskriegs (1821) und der anschließenden Entstehung des neugriechischen Staates (1830). Gourgouris’ Ausgangspunkt bildet die These, dass es sich im Falle Griechenlands um ein an der Verbindungsstelle zwischen Ost und West gelegenes Land handele, welches ideologisch vom kolonialistischen Europa geprägt worden sei. Aus dieser Perspektive hat Gourgouris auf die Zusammenhänge und Parallelen zwischen Orientalismus und Philhellenismus hingewiesen. Dieser Zusammenhang besteht in der Tatsache, dass sich sowohl Orientalismus als auch Philhellenismus mit der Repräsentation einer anderen Kultur befassen, allerdings im Sinne der Ersetzung der anderen Kultur durch bestimmte, von der westlichen Kultur hervorgerufene Projektionen des Anderen, die quasi als Spiegel der westlichen Kultur selbst funktionieren.

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›orientalisierte Subjekte‹ abgelehnt wurden. Dem von der Altertumswissenschaft von Wilhelm von Humboldt und Winckelmann initiierte und später von einer Vielzahl von Wissenschaftlern und Reisenden praktizierte philologische und literarische Philhellenismus ist es nie ganz gelungen, die neugriechische Realität als ›modern‹ zu verstehen, was zur Ausschließung des ›dekadenten‹ modernen Griechenlands aus dem fortschrittsorientierten westlichen Geschichtsmodell geführt hat. Der Philhellenismus ist also nicht bloß die Begeisterung für die altgriechische Kultur, sondern deren Idealisierung, d.h. ihre Semantisierung mit neuer kultureller Bedeutung. 3. Die ›phihellenische‹ deutschsprachige Reiselyrik am Beispiel der Athener Akropolis Kurz nach der Gründung des neugriechischen Staates bereiste Emanuel Geibel im Jahr 1838 Griechenland, wo er zu dieser Zeit als Hauslehrer tätig war. Aus seinem zweijährigen Griechenlandaufenthalt entstand 1840 eine lyrische Sammlung mit dem schlichten Titel Gedichte. Im selben Jahr publizierte Geibel Nachdichtungen verschiedener klassischer griechischer Autoren, zusammen mit dem klassischen Archäologen und Althistoriker Ernst Curtius, der ebenfalls während dieser Zeit Griechenland bereiste. Das Gedicht Auf der Akropolis zu Athen lässt sich in den Teil der Sammlung mit dem Titel Sonette und Distichen aus Griechenland als Intermezzo einordnen: Bei euch, ihr hohen Säulen, laßt mich weilen, Ihr stummen Zeugen wechselvoller Tage, Und laßt sich mein Gemüt ergehn in Klage, Daß nichts entrinnen mag des Schicksals Pfeilen. Die Zeit des Glanzes saht ihr schnell enteilen, Und was ihr dann geschaut, war eitel Plage; Kaum les' ich noch die tausendjähr'ge Sage Des Ruhms in euren unterbrochnen Zeilen. Es will das Herz mir schauerlich bewegen, Wenn ich betrachte solche Weltgeschicke, Wie hier das freiste Volk dem Fluch erlegen. Und wenn ich dann in meine Seele blicke, Scheint mir der eigne Schmerz so klein dagegen, Daß ich ihn lächelnd in der Brust ersticke.11

11

Emanuel Geibel: Auf der Akropolis zu Athen. In: Ders.: Gedichte. Berlin 1840, 173.

Die Akropolis von Athen in der deutschsprachigen Reiselyrik (1838–1935) 213 Wie bereits erwähnt, gilt für die klassizistische Ästhetik der Parthenontempel auf der Akropolis als Inbegriff von Harmonie, Schönheit und Gleichmaß. Angesichts dieses Wahrnehmungskonzepts taucht der Topos des Schweigens schon im zweiten Vers auf, der ebenfalls einen Gemeinplatz in der klassizistischen Dichtung aufruft und auf Winckelmanns Rede von der »edle[n] Einfalt und stille[n] Größe« zurückzuführen ist.12 Die Verehrung des antiken Griechenlands erfolgt im Gedicht allerdings durch die Enttäuschung und die Trauer über das verlorene Ganze, d.h. über das, was nicht mehr existiert. Das Sonett thematisiert folglich das Zusammentreffen des im kulturellen Gedächtnis gespeicherten Griechenlandbildes mit der nun sichtbaren Wirklichkeit der Ruinen. Angesichts dieses Konflikts erscheint die Athener Akropolis nicht als Ewigkeitsversprechen, sondern ganz im Gegenteil als bildhafter Ausdruck der Flüchtigkeit, als Erinnerung an den illusionären Charakter der Ewigkeit. Die Erwartung einer unsterblichen bzw. noch lebendigen Antike erfüllt sich in Geibels Sonett nicht. Etwa 40 Jahre später, nach dem Abschluss eines Studiums in Germanistik, besuchte der Dichter Heinrich Vierordt Italien und Griechenland. Die zwei Gedichte mit den Titeln Die Karyatiden am Erechtheustempel und Die Karyatiden im Exil wurden in seiner 1888 erschienenen Gedichtsammlung Akanthusblätter. Dichtungen aus Italien und Griechenland veröffentlicht: Die Karyatiden am Erechtheustempel Aus dem Trümmerfeld verschwiegen Steigt der Marmorsäulen Hain, Ebne, Stadt und Berge liegen Hell und still im Vollmondschein. Sind es Bienen, leise summend? Harfenklänge, die da wehn, Schwellend erst und dann verstummend In dem Nachtwind untergehn? Nächtlich durch den Tempelfrieden Tönt geheim und lispelnd bang Der Erechtheuskaryatiden Schwesterlicher Trauergesang:

12

Vgl. Kocziszky: Das fremde Land der Vergangenheit (Anm. 2), 242.

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»schaudernd müssen wir beklagen Unserer Schwester Ungemach, Dass sie nicht kann fürder tragen Dieses Götterhauses Dach.[«] […]13 Die Karyatide im Exil Im gestaltenleeren Norden, Ohne Sonn’ und Blumenspiel, Fern von des Ilissos Borden Träumt das Steinbild im Exil. Ach, noch eine jener Sonnen In der Heimat möchte’ ich schaun, Wo, vom Goldnetz übersponnen, Säulen ragen zeitenbraun Könnt’ ich wieder festlich tragen Das Gebälk des Tempelrands, Leise mit den Schwestern klagen Auf den Trümmern Griechenlands!14

Die Gedichte sind als scharfe Kritik an den Briten zu verstehen, denn sie beziehen sich auf Thomas Bruce, den siebenten Earl of Elgin, der 1801 zahlreiche Marmorskulpturen und -fragmente von Bauten der Athener Akropolis abnehmen ließ. Diese umfassen unter anderem eine der Figuren der Korenhalle des Erechtheion. Vierordt erläutert die Thematik der Gedichte mit einer Anmerkung in Form einer Fußnote. Sein Ausgangspunkt bildet die angebliche Sage, dass »die zurückgebliebenen Karyatiden um die verlorene Schwester klagten«.15 Die Landschaft um die Akropolis erscheint »[h]ell und still im Vollmondschein« (V. 4), während die Karyatiden die friedliche Atmosphäre des Erechtheustempels genießen. Dieses aus wohlbekannten Topoi bestehende Antikenbild erscheint auch im zweiten Gedicht Vierordts, das den Titel Die Karyatide im Exil trägt und sich mit der gleichen Thematik befasst: Die vom Earl of Elgin entführte Karyatide befindet sich nun »im gestaltenleeren 13 14 15

Heinrich Vierordt: Die Karyatiden am Erechtheustempel. In: Ders.: Akanthusblätter. Dichtungen aus Italien und Griechenland. Heidelberg 1888, 95. Vgl. Tiefenwärts. Archäologische Imaginationen von Dichtern. Hg. von Eva Kocziszky und Jörn Lang. Darmstadt 2013, 90. Heinrich Vierordt: Die Karyatide im Exil. In: Ders.: Akanthusblätter (Anm. 13), 97. Ebd., 119.

Die Akropolis von Athen in der deutschsprachigen Reiselyrik (1838–1935) 215 Norden / ohne Sonn’ und Blumenspiel« (V. 1 f.). Vierordt greift auf die Klima-Antithese zwischen hellem Griechenland und dunklem London zurück, und nimmt somit indirekten Bezug auf die These Winckelmanns, der dem »sanften und reinen Himmel« den Vorrang der griechischen Kunst zuschrieb.16 Darüber hinaus befinden sich die Karyatiden, die um die verlorene Schwester bzw. um die verlorene Heimat klagen, »auf den Trümmern Griechenlands« (V. 12). Dieser Hinweis auf das Fragmentarische und die Diskontinuität ist auf die romantische Poetik der Ruinenmelancholie zurückzuführen, die Vierordts Wahrnehmung der Antike mitgeformt hat.17 Die Darstellung der nostalgischen Erinnerungen der Karyatiden-Figuren an die Heimat bzw. an ein verlorenes Ganzes spiegelt die Konstruktionen des kulturellen Gedächtnisses wider, die den deutschen Philhellenismus im 19. Jahrhundert geprägt haben. In diesem Zusammenhang können die beiden Gedichte nicht nur als Projektionsflächen von unterschiedlichen ästhetischen Diskursen, sondern auch von politischen Einstellungen interpretiert werden, nämlich der Auseinandersetzung der Deutschen mit anderen mächtigen Nationen Europas, die die Behauptung bezüglich der Sonderbeziehung zwischen deutschem und griechischem Geist geprägt hat. Der deutliche, ästhetische Paradigmenwechsel, der die Betrachtungsweise der griechischen Antike durch die deutschen Philhellenen um die Jahrhundertwende geformt hat, lässt sich im nächsten Beispiel erkennen. Die Malerin und Dichterin Hermione von Preuschen reiste 1906 zum ersten Mal nach Griechenland. Ihr Besuch in Athen hat sie zu dem Gedicht Attische Nacht inspiriert, das in ihrem Gedichtband Kreuz des Südens (1907) erschien. Das Gedicht bildet ein erhellendes Beispiel für die Transformation des philhellenischen Diskurses in Bezug auf die Umstürze des Klassizismus seit der durch Nietzsche vorgenommenen Neuinterpretation der Antike: Vollmond über der Akropolis. Tausend Lichter schimmern von Athen – wie die Seelen aller großen Geister, die einst hier gewirkt – geliebt – verglüht. Weiße Helle fließt um jeden Stein, Hauch und Duft wird jedes harte Dunkel. Stolz das ewig schöne Erechtheion recht die klassisch reinen Mädchenleiber, und des Parthenon erhabener Bau Schwimmt im Mondglanz – gloreolgeküßt.18 16 17 18

Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften. Vorreden, Entwürfe. Hg. von Walther Rehm. Berlin 1968, 43. Vgl. Eva Kocziszky: Dionysische Intensität und wissenschaftsskeptische Zeitkritik. Die Ruinen Griechenlands in der deutschsprachigen Dichtung nach 1900. Ιn: Ruinen in der Moderne. Hg. von Eva Kocziszky. Berlin 2011, 311–336. Hermione von Preuschen: Attische Nacht. In: Dies.: Kreuz des Südens. Berlin 1907, 40.

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In der ersten Strophe des Gedichts erkennt man die Romantisierung bzw. Idealisierung der Ruinen ganz im Sinne der bekannten und bereits erwähnten Topoi der klassizistischen Ästhetik: das Licht, die »[w]eiße Helle« (V. 5), das »ewig [S]chöne« (V. 7), der »des Parthenon erhabener Bau« (V. 9) tauchen auf und beschreiben die Athener Akropolis. In der ersten Strophe des Gedichts nimmt allerdings das lyrische Ich Bezug auf die Mysterien von Eleusis und stellt somit die Thematik der chthonischen, unterirdischen Mächte in den Mittelpunkt, die einen Kontrast zu den bereits erwähnten klassizistischen Bildern und Metaphern bildet: Doch am Niketempel gleißt das Meer, von der Insel Salamis beschlossen. Hehr und heilig in den ewigen Aether ragt Eleusis Tempelpracht darüber. … In den Nächten, silberhell wie heut, zogen hoch vom Parthenon herab, Fackeln tragend, Weihrauchpfannen schwingend, und mit Purpurrosen reich umkränzt, bei der Zymbeln schrillem, heißem Tönen all die Wissenden des Menschenlebens. heißem Tönen Mit dem Siegeszeichen ihrer Liebe, das im Mondglanz blaue Schatten dämmert über ihren sinnentrunken Leib, ziehen sie herab die heilige Straße, weit und weiter – durch Olivenhaine –, an des Meeres schaumbekränzten Ufern, goldig schillernd – eine Riesenschlange. Ueber marmorweiße Tempelstufen wollen sie durch dunkel erzne Pforten, die sich hinter ihnen dröhnend schließen. Durch die attisch veilchenblauen Nächte, ächzen ihre sündenbrünstigen Lieder, bringen um den Schlaf den Liebelosen, zeugen Wollust in den keuschsten Herzen.19

Die Anknüpfung an die nietzscheanische und bachofensche Favorisierung des Archaischen und des Irrationalen erfolgt beispielsweise mit der Ersetzung der »marmorweissen Tempelstufen« des Parthenon durch die »dunkle erznen Pforten« des Tempels in Eleusis und die Hervorhebung der vom dionysischen Rausch geprägten »sündenbrünstigen Lieder« und »heissen Töne«. Die Ruinenmelancholie hat hier

19

Ebd., 41.

Die Akropolis von Athen in der deutschsprachigen Reiselyrik (1838–1935) 217 keinen Platz mehr: Der neue Zugang zur Antike wird durch sexuelle Konnotationen – wie der »sinnentrunkne Leib« und das Erwecken der »Wollust« – ermöglicht, die auf die Erotisierung der Ruinen hinweisen, d.h. auf eine Lebenssteigerung im nietzscheanischen Sinne.20 Das lyrische Ich lässt mit Hilfe der Einbildungskraft die Riten der Mysterien von Eleusis wiederaufleben, was dazu führt, dass der Phantasie und nicht der eigentlichen Erfahrung Vorrang gewährt wird. Oder anders formuliert: Was im Gedicht dargestellt wird, ist das Unsichtbare und nicht das Sichtbare. Darüber hinaus könnte die Ersetzung der großen Göttin der Mysterien, Demeter, durch die orientalische Liebesgöttin Astarte in der vorletzten Strophe vor dem Hintergrund einer neuen Betrachtungsweise der Antike und der Einführung eines neuen Diskurses interpretiert werden, der den historisch-philologischen Diskurs und die klassische Altertumswissenschaft außer Kraft zu setzen vermag. Die Erwähnung der Astarte entspricht nämlich der Bevorzugung einer vorklassischen, primitiven Epoche, die vom harmonischen und hellen Bild der apollinischen Antike weit entfernt ist. Zudem stellt die Verflechtung von griechischen und orientalistischen Elementen die angebliche kulturelle ›Reinheit‹ der Antike sowie die angebliche Inkompatibilität zwischen ›griechisch‹ und ›orientalisch‹ in Frage: Im Taumel, krampfverzerrt, stürzen zu Astarten Füßen nieder, lustzerfleischt – in ungeheurer Brunst, ihrer Jünger ungezählte Scharen. – – Schwarz und ehern hüten Tempelpforten Menschendaseins tiefstes Urgeheimnis. Durch die attisch veilchenblaue Nacht Leuchtet mondweiß die Akropolis!21

Angesichts des ästhetischen Wandels, der den philhellenischen Diskurs nach 1900 entscheidend beeinflusst hat, ist das Beispiel von Theodor Däubler kennzeichnend. Der österreichisch-deutsche Schriftsteller, Lyriker und Kunstkritiker besuchte im Sommer 1921 zum ersten Mal Griechenland, wo er vier Jahre blieb und das ganze Land bereiste. Der in der Reiselyrik des 19. Jahrhunderts hoch gelobte Tempel des Parthenon wird in der Reiselyrik des 20. Jahrhunderts nur en passant erwähnt, während die archaischen Koren des Museums immer mehr an Bedeutung gewinnen.22 Neben seiner Begeisterung für die archaischen Koren des Erechtheion,

20 21 22

Vgl. Kocziszky: Dionysische Intensität und wissenschaftsskeptische Zeitkritik (Anm. 17). Preuschen: Attische Nacht (Anm. 18), 42. Vgl. Mylona: Griechenlands Gedenkorte (Anm. 1), 100.

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denen er in seinen Reiseberichten Ausdruck verleiht,23 vermittelt Däubler auch sein Entzücken für das dunkle, nietzscheanische Griechenlandbild in dem 1924 erschienen Gedicht Eleusis aus der Sammlung Attische Sonette, welches ebenfalls die Mysterien von Eleusis thematisiert: Mit deinem Fackeln. Demeter, entsteigen Wir Sterblichen, dem Hades zu, der Erde. In Fieberfinsterung beschnuppern Pferde Der Heissverheimlichten, bei Heil und Schweigen, Nun meine Schenkel wohl; die Schultern neigen Den Kopf, voll Blutlast, zwischen die Beschwerde Bemühter Mutiger um Plutos Herde: Gespensterte umglasten uns im Reigen. Wir werden stumm: uns Zukunft zu erfahren! Hier wallt die Welt: ich warte bei Enthauchten, Erkennbar noch am Urgeruch von Haaren; […]24

Durch die Verwendung von Bildern wie die »in Fieberfinsterung beschnuppernden Pferde« (V. 3) verweist das lyrische Ich auf das Unbewusste und das Unkontrollierbare des Inneren, das im Gegensatz zum Ruhigen und Stillen des Klassizismus steht. In der zweiten Strophe wird das Ritual der Anrufung der chthonischen Götter und deren Wirkung auf den Betrachter beschrieben. Der dionysische Geist bestimmt den Kontakt des Subjekts mit dem Ort: Das lyrische Ich befindet sich in einem Zustand der Erhöhung und der Ekstase und löst sich von der gegenwärtigen Umgebung ab. Durch die Projektion unterschiedlicher Phantasiebilder (»Plutos Herde« [V. 7], »Gespensterte« [V. 8]) wird der Besuch des antiken Gedenkorts durch die Aktivierung der Erinnerung als Aufhebung der zeitlichen und räumlichen Grenzen erlebt. Die österreichische Dichterin Erika Mitterer reiste in den Jahren 1934/35 nach Griechenland. Eva Kocziszky charakterisiert Mitterers kurzes Gedicht Akropolis, das im Gedichtzyklus Kehr nie Zurück – Griechische Gedichte erschien, als »einzigartig« und »beispiellos« auf der Grundlage der Annahme, dass es »das einzige deutschsprachige Gedicht vor dem Zweiten Weltkrieg ist, das zugleich auf die politische Symbolkraft der Ruine Bezug nimmt«.25 Als Ausgangspunkt für

23 24 25

Theodor Däubler: Griechenland. Hg. von Max Sidow. Berlin 1946, 276. Theodor Däubler: Eleusis. In: Ders.: Attische Sonnete. Leipzig 1924, 23. Kocziszky: Das fremde Land der Vergangenheit (Anm. 2), 122.

Die Akropolis von Athen in der deutschsprachigen Reiselyrik (1838–1935) 219 Kocziszkys Interpretation des Gedichts als »Zeitgedicht« dienen die Verse: »Heilige Zuflucht, Verfolgten und Müden / Gabst du den Frieden – gewähr ihn mir auch«: Tiefer erblauen die Fluten. Im Süden Schweben die Inseln im goldenen Rauch. Heilige Zuflucht, Verfolgten und Müden Gabst du den Frieden – gewähr ihn mir auch. Duldende Demut der Koren, durchstrahle Mich, die die Woge des Wollens durchfloss… – Im Atem des Abends erkaltet der kahle himbeerfarbene Hymettos.26

Als Erika Mitterer Mitte der 1930er Jahre Griechenland bereiste, hatte die Instrumentalisierung und der Missbrauch der griechischen Antike durch das nationalsozialistische Regime bereits begonnen, was erwiesenermaßen zu einer rassistischideologischen Aneignung des deutschen Philhellenismus geführt hat. Aus der Perspektive von Mitterers Opposition zum Nationalsozialismus könnte man zu Recht behaupten, dass das im Gedicht geschilderte Bild der Akropolis als ein Gegengewicht zu Mitterers gegenwärtiger gesellschaftspolitischer Situation fungiert. Indem die griechische Antike – und vor allem die Akropolis – seit der Zeit des Neuhumanismus als Inbegriff der Freiheit und als symbolischer Ort des Friedens semantisiert wurde, wird auf die ursprüngliche politische Funktion des Philhellenismus im Gedicht hingewiesen, da die philhellenische Bewegung eine wichtige Rolle im griechischen Kampf um Unabhängigkeit gespielt hat. In diesem Zusammenhang stehen sowohl der Hinweis auf die Ideale der humanistischen Tradition als auch die Charakterisierung der Akropolis als »Zuflucht« für die »Verfolgten« (V. 3) in Übereinstimmung mit Mitterers geistig-humanistischer und anti-nationalsozialistischer Einstellung. Anhand des Beispiels der Akropolis in Athen wurde der Versuch unternommen, die Funktion der Erinnerungsräume als Projektionsfläche des kollektiven kulturellen Gedächtnisses und der damit verbundenen unterschiedlichen ästhetischen und ideologischen Diskurse aufzuzeigen. Die Dominanz der symbolischen und emotionalen Dimension der Wahrnehmung innerhalb der lyrischen Inszenierungen der Akropolis und der umgebenden Erinnerungstopographie deutet auf deren emblematische Funktion im kulturellen Gedächtnis der deutschen Philhellenen hin, d.h. auf die Funktion der griechischen Antike als Instrument der Selbstbestim-

26

Erika Mitterer: Gesammelte Gedichte. Wien 1956, 18.

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mung unter dem Einfluss des Neuhumanismus und des Klassizismus. Die Infragestellung des klassizistischen Paradigmas und die ästhetische Wandlung des Antikenbildes vor allem durch Nietzsche haben allerdings die erneute Hinwendung zur griechischen Antike und die Schaffung eines alternativen Antikenbildes um 1900 ermöglicht. Jedoch handelt es sich dabei weiterhin um neue Idealisierungen, die diesmal eine moderne Kunstauffassung in ihren Mittelpunkt stellen. Diese Idealvorstellungen sind erkennbar insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, dass bei den lyrischen Darstellungen der archäologischen Gedächtnisorte Griechenlands die deutschen Reisenden im Allgemeinen nach einer Aufhebung der Diskontinuität streben, d.h. nach der Aufhebung der Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die den Gedächtnisorten innewohnt. Denn wie die deutsche Schriftstellerin Isolde Kurz bemerkte, das Besondere an einer Reise nach Hellas war für die Reisenden, dass sie »keine übereinander gehäuften Kulturschichten zwischen dem Altertum und heute« fanden.27 Die Dichter »stilisieren das erfahrene Griechenland mit ihrem Wissen von der klassischen Antike bzw. den klassizistischen Idealvorstellungen oder eines vitalistisch-dionysischen Antikenbildes in der Nachfolge Nietzsches um«.28 Wie Dorothea Ipsen feststellt, verhinderte dieses ideale Griechenlandbild bei den meisten Reisenden eine objektive und kritische Betrachtung des Altertums, »weil ihr Blick verstellt war durch Wahrnehmungskonzepte, die sich nicht an der Realität, sondern an bestimmten Auffassungen von Kunst, Geschichte und dem Wesen der alten Griechen orientierten«.29 Es verhinderte aber auch den Blick auf das gegenwärtige Griechenland, auf sein soziales und politisches Leben.

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Isolde Kurz: Wandertage in Hellas. München 2010, 200. Vgl. Mylona: Griechenlands Gedenkorte (Anm. 1), 33. Hellas Verstehen. Deutsch-griechischer Kulturtransfer im 20. Jahrhundert. Hg. von Chryssoula Kambas und Marilisa Mitsou. Köln u.a. 2010, X. Dorothea Ipsen: Visionäre Aneignung der Antike. Die Wahrnehmung Griechenlands in den Reiseberichten von Gerhart Hauptmann und Isolde Kurz. In: Hellas Verstehen (Anm. 28), 3–14, hier 5.

Ausreiselieder Flucht und Exil in Hilde Domins Gedichtband Hier (1964) EVELYN DUECK Als die Stadt Heidelberg 1992 der schon achtzigjährigen Hilde Domin einen Preis für ihr Lebenswerk verleihen möchte, wehrt sich die Dichterin in einem Brief an die Oberbürgermeisterin Beate Weber entschieden gegen den Namen, den dieser Preis tragen soll. Domin überlegt gar, ihn unter dem Titel ›Literatur im Exil‹1 nicht anzunehmen und argumentiert: »Wie der Titel jetzt steht, fühle ich mich falsch eingeordnet. […] 40 Jahre schreibe ich in Deutschland, 2 schrieb ich in Sto. Domingo.« Als Alternativen schlägt sie »Literaturpreis Exil und Heimkehr. Oder: Literaturpreis Heimat und Exil« vor.2 Im selben Brief unterstreicht die Dichterin noch einmal: »Ich liebe Heidelberg, die wichtigste Stadt meines Lebens.«3 Die Oberbürgermeisterin antwortet nur zwei Tage später in einem längeren Brief und bittet Domin, an dem Namen festhalten zu dürfen. Sie sieht in ihm eine Aufmunterung für jüngere Exildichter, in ihre Heimatländer zurückzukehren. Noch am selben Tag akzeptiert Domin in einem weiteren Brief den Titel des Preises unter der Bedingung, dass in der einführenden Rede deutlich werde, dass sie die »glückliche Heimkehr […] – die ins Wort, die in unser Land – «4 erleben durfte. Domin verdeutlicht damit, dass sie zumindest in erster Linie nicht als Exildichterin wahrgenommen werden will und verallgemeinert die Exilerfahrung zur ontologischen Kategorie: »Natürlich sind wir ja alle Exilanten, auf dieser Erde. Am politischen Exilanten wird dieser unser […] menschlicher status [sic!] nur deutlicher gemacht.«5 1

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Die Preisverleihung fand am 30. Oktober 1992 in Heidelberg statt. Die Laudation hielt der Schweizer Publizist Iso Camartin. Die Preisurkunde betont – wie mit der Autorin vereinbart – die Aspekte ›Rückkehr‹ und ›Heimat‹. Nach Domins Tod 2006 wurde der Preis in »Hilde-Domin-Preis« umbenannt, was Beate Weber der Dichterin in einem Brief vom 3. September 1992 zusicherte. Vgl. Beate Weber: Brief an Hilde Domin, 3. September 1992. In: DLA Marbach (A: Domin/ Auszeichnungen. Konvolut Preis ›Literatur im Exil‹ 1992). Für den Zugang zu diesem Archivmaterial und die Genehmigung zum Druck danke ich dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und Frau Beate Weber-Schuerholz. Hilde Domin: Brief an Beate Weber, 7. Juli 1992 (Anm. 1). Unterstreichungen im Original. Zu Domins biographischen Daten und ihrem »Weg ins Exil« vgl. Michael Braun: Exil und Engagement. Untersuchungen zur Lyrik und Poetik Hilde Domins. Frankfurt a.M. 1993, 21–28. Hilde Domin: Brief an Beate Weber, 7. Juli 1992 (Anm. 1). Hilde Domin: Brief an Beate Weber, 9. Juli 1992 (Anm. 1). Ebd. Zwischen den Worten »unser« und »menschlicher« streicht Domin das Adjektiv »fragiler«. In ihrer Preisrede verweist sie auf die Schöpfungsgeschichte und die Vertreibung aus dem, wie sie es nennt, ›ersten‹ Paradies. Vgl. Hilde Domin: Liebe, die die Sonne bewegt und die andern

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_12

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Dieses Eintreten für die Heimatverbundenheit und die Rückkehr nach Deutschland ist allerdings für Domins literaturtheoretische und autobiographische Schriften ebenso prägend wie das Thema des Exils, welches sie zwischen 1932 und 1953 über Italien und England in die Dominikanische Republik führt.6 Bis in den dichterischen Familiennamen hinein, den Hildegard Palm, geborene Löwenstein, von ihrem Exilort Santo Domingo ableitet, hat Hilde Domin die Erfahrung des Exils zur Grundlage ihrer Selbstbestimmung als Dichterin gemacht und wird – das macht der Briefwechsel um die Preisverleihung deutlich – auch so von ihrem Publikum wahrgenommen.7 In Domins Werk sind diese eigentlichen Gegensätze Heimat und Exil jedoch nicht nur durch den die Exilliteratur prägenden Topos der Sprache verbunden, sondern auch durch die von wenigen anderen Autoren so deutlich formulierte humanistische Position, die sich nach Domins Auffassung beinahe notwendig aus der Exilerfahrung ergebe. In ihrer Preisrede 1992 erklärt sie: »Es ist eine Tatsache, fast ein Gesetz, daß der Exilant, der Verfolgte, in seinem Leid

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Sterne. In: DLA Marbach (A: Domin/ Auszeichnungen. Konvolut Preis ›Literatur im Exil‹ 1992), 6. In Domins Roman Das zweite Paradies beschreibt die Ich-Erzählerin das Paradies mit den Worten, »daß man darin natürlich zuhause ist. In seiner Einmaligkeit. Ohne Furcht, ohne Beschämung, beides noch unbekannt, ohne Notwendigkeit zu Verstellung, zu Kleidern und Masken. Arglos.« (Hilde Domin: Das zweite Paradies. Roman in Segmenten [1968]. 2., überarbeitete Auflage. München 1986, 119). Mit Verweis auf Ernst Bloch schreibt sie in einem Artikel über den ›veruntreuten Begriff‹ Heimat: »Er meint die Unvertreibbarkeit, die Geborgenheit von Anbeginn. Das Dazugehörendürfen, diesseits des Zweifels.« (Hilde Domin: Heimat [1975]. In: Dies.: Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache. Frankfurt a.M. 1993, 13–16, hier 13). »Zuhausesein, Hingehörendürfen, ist eben keine Frage der Kulisse. Oder auch des Wohlergehens. Es bedeutet, mitverantwortlich zu sein. Nicht nur Fremder sein. Sich einmischen können, nötigenfalls. Ein Mitspracherecht haben, das mitgeboren ist. / Dabei ist der Verlust der Zugehörigkeit eine Verwundung, die nie ganz vernarbt.« (Ebd., 15). Vgl. Hilde Domin: »… und doch sein wie ein Baum«. Die Paradoxien des Exils [1984]. In: Dies.: Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache. Frankfurt a.M. 1993, 202–218, hier 204. Zur Auseinandersetzung mit Exil und Rückkehr in Domins dichtungstheoretischen Texten und Essays vgl. Dieter Sevin: Hilde Domin: Rückkehr aus dem Exil als Ursprung und Voraussetzung ihrer Poetologie. In: Ästhetiken des Exils. Hg. von Helga Schreckenberger. Amsterdam/New York 2016, 353–364. In der Literaturwissenschaft wird Domins Werk erst seit Mitte der 1980er Jahre ausdrücklich zur Exildichtung gezählt. Ihr erster Gedichtband Nur eine Rose als Stütze erscheint 1959, zu einem Zeitpunkt also, als die Autorin bereits seit fünf Jahren wieder in Deutschland lebt und die Exilsituation im engen Sinne seit mehr als zehn Jahren beendet ist. Zur Exilliteratur gehört ihr Werk also nur, wenn diese nicht auf die zwischen 1933 und 1945 geschriebenen oder publizierten Texte begrenzt wird. Wolfgang Emmerich nimmt diese Erweiterung in dem von ihm herausgegebenen Sammelband Lyrik des Exils vor und begründet sie in seiner Einleitung als »striktes ZuEnde-Denken dessen, was ›vom Faschismus aufgezwungenes Exil‹ in Wahrheit bedeutet: Noch heute, im Jahre 1985, ist es nicht zu Ende.« (Wolfgang Emmerich: Einleitung. In: Lyrik des Exils. Hg. von Wolfgang Emmerich und Susanne Heil. Stuttgart 1985, 21–77, hier 28). Ausführlicher vgl. Wolfgang Emmerich: Exillyrik nach 1945. In: Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit. Hg. von Jörg Thunecke. Amsterdam/Atlanta 1998, 357–379. Mit Verweis auf die Sekundärliteratur bis 1993 vgl. Braun: Exil und Engagement (Anm. 2), 41–44.

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Gedichte der Liebe und der Menschenfreundschaft schreibt, er, ein Opfer des Menschenhasses. Er könnte nicht leben ohne das Vertrauen in die Menschen, ein Dennoch-Vertrauen.«8 Erst diese Hoffnung macht verständlich, warum Domin nicht nur in die Bundesrepublik der 1950er Jahre zurückkehrt, sondern diese Heimkehr auch als eine ihr Werk prägendere Erfahrung als das Exil beschreibt.9 Zu alltagspraktischen Gründen und der Tatsache, dass Domin ihre Rückkehr als notwendige und engagierte Präsenz der zuvor Verfolgten in Deutschland versteht, kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der im Folgenden im Vordergrund stehen soll.10 Es ist dies der Aspekt der Freiheit: »Wichtiger als das Exil war für mich die Rückkehr, wenn auch die Erfahrung des Exils unverlierbar ist. In der Rückkehr ist Freiwilligkeit.«11 Bereits während der Zeit im Exil hätten ihr Mann und sie versucht: »die Unfreiwilligkeit, soweit es eben fing [sic!], in eine Art Freiwilligkeit« umzuwandeln, »in das ›Angebot‹, unter erschwerten Umständen zu lernen, was es zu lernen gab.«12 In diesem Punkt ließe sich Domins Lyrik mit neueren, von den postcolonial studies beeinflussten Ansätzen der Exilforschung lesen, die, so Denise Reimann, »seit geraumer Zeit entgegen der als einseitig deklarierten exilwissenschaftlichen Fokussierung auf die im Exil erfahrenen Heimat-, Sprach- und Identitätsverluste, das innovatorische Potenzial des Exils als Chance in den Blick […] nehmen.«13 8

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Domin: Liebe, die die Sonne bewegt (Anm. 5), 1. »Der Exilierte kann gar nicht anders als die Sprache lieben. Sie garantiert ihm die Kontinuität seines Menschseins. Zugleich ist es die Muttersprache und die Sprache der Verfolger.« (Domin: »… und doch sein wie ein Baum« [Anm. 5], 209). Noch einmal grenzt sich Domin in einem Brief vom Oktober 1992 ausdrücklich von Erich Fried, Paul Celan und Nelly Sachs ab, die nicht zurückgekehrt seien, um dann in der dritten Person von sich selbst zu schreiben: »Domin ist, das ist das Eigenartige, die einzige Rückkeherin [sic!] weit und breit, und erst recht die einzige mit einem deutschen Pass. / So sollte, nach ihrem Tode, der Dominpreis wirklich Dominpreis heissen und nicht noch einmal Exilpreis.« (Hilde Domin: Brief an Beate Weber, 30. Oktober 1992 [Anm. 1]). Domin vernachlässigt dabei, dass Celan bis zu seinem Tod nicht einfach in seine Heimatstadt Czernowitz zurückkehren konnte. »Doch im Exil gab es keine Leserschaft; und ohne Leser ist eine entscheidende Funktion des Gedichts für Domin nicht erfüllt […] Sprache und Leser sind also als Rückkehrmotivation und gleichzeitig entscheidende Komponente ihrer Lyrikauffassung zu werten.« (Sevin: Hilde Domin: Rückkehr aus dem Exil [Anm. 6], 361). An Nelly Sachs schreibt Domin am 28. September 1966: »Ich glaube aber, dass wir – Rückkehrer oder nicht – dass gerade wir in Deutschland eine Aufgabe haben. […] Wir müssen für die Verfolgten zeugen.« (Hilde Domin, Nelly Sachs: Briefwechsel. Hg. von Nikola Herweg und Christoph Willmitzer. Marbach am Neckar 2016, 93). Unterstreichungen im Original. Domin: Liebe, die die Sonne bewegt (Anm. 5), 4. Ebd., 4 f. Denise Reimann: »denn man liebt immer nur ein Phantom.« Heimatumschreibungen einer Remigrantin in Hilde Domins lyrischem Roman Das zweite Paradies. In: Weibliche jüdische Stimmen deutscher Lyrik aus der Zeit von Verfolgung und Exil. Hg. von Chiara Conterno und Walter Busch. Würzburg 2012, 145–163, hier 145.

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Auch wenn Domin von dem Einfluss vor allem spanischsprachiger Autoren und der angenommenen Herausforderung, sich in vier Sprachen (Deutsch, Italienisch, Englisch und Spanisch14) in Alltag und Arbeit zu bewegen, profitiert hat, scheint es übereilt, in ihrer Lyrik eine Vorwegnahme postkolonialer »Um- und Neuschreibungen von auf die Herkunft rekurrierenden Identitätskonzepten«15 der 1970er Jahre zu sehen. Nicht nur hat Domin in ihren Schriften immer wieder klar gemacht, dass sie an der Heimat Deutschland und ihrer Rückkehr dorthin festhält, sie unterscheidet auch grundlegend zwischen der Erfahrung des erzwungenen Exils und einer freiwilligen Urlaubsreise oder Emigration – ein Aspekt, den der Ansatz des ›Exils als Chance‹ zumindest in den Hintergrund rückt.16 In einem Essay von 1969 definiert sie das Exil als: »Herausnehmen eines Menschen aus dem normalen Kontext seines Lebens, und zwar ein gewaltsames und unfreiwilliges Herausnehmen.«17 Noch 1992 schreibt sie mit Verweis auf Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre: »Exil ist keine Wanderschaft und keine Reise.«18 In ihrem einzigen, 14

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Domin arbeitete bereits in Italien als Sprachlehrerin und Übersetzerin. Braun unterstreicht zu Recht, dass für sie die Sprachproblematik des exilierten Intellektuellen (Fremdheit, Wirkungslosigkeit, Status- und Identitätsverlust) nicht in vollem Maße zutrifft. Vgl. Braun: Exil und Engagement (Anm. 2), 24 f. und 30 f. Zur Rezeption der romanischen Lyrik vgl. ebd., 33–38. Domin selbst leitet aus der Exilerfahrung sogar eine besondere Sicherheit der Sprachverwendung ab. Von der in den 1970er Jahren thematisierten ›Kommunikations- und Identitätskrise‹ lasse sie sich nicht verunsichern: »Wer das wirklich gelebt hat, wer traumatisiert ist, ist dagegen widerständig. Die Sprache, in der ich die Welt gewissenhaft benenne, gewissenhaft mitteilbar mache (und auch so mitteile, daß ich gehört werde), die kann nicht wegnehmbar sein, sie ist die äußerste Zuflucht. Dieses Zuhause verteidige ich bis zu meinem letzten Atemzug.« (Domin: Heimat [Anm. 5], 16). Ihre Biographie entwirft sie 1979 bei der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung als »Lebenslauf ganz von der Sprache her« (Hilde Domin: Leben als Sprachodyssee [1979]. In: Dies.: Aber die Hoffnung. Autobiographisches aus und über Deutschland. Frankfurt a.M. 1993, 21–28, hier 22). Reimann: »denn man liebt immer nur ein Phantom« (Anm. 13), 145. Nuancierter und mit Verweis auf die Sekundärliteratur vgl. Doerte Bischoff, Susanne Komfort-Hein: Einleitung: Literatur und Exil. Neue Perspektiven auf eine (historische und aktuelle) Konstellation. In: Literatur und Exil. Neue Perspektiven. Hg. von Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein. Berlin/Boston 2013, 1–19. »Emigranten, das wären Auswanderer. Wir waren keine Auswanderer, obwohl wir doch ausgewandert waren. Auswanderer sind freiwillige Auswanderer, wir waren unfreiwillige Auswanderer.« (Hilde Domin: Exilerfahrungen. Untersuchungen zur Verhaltenstypik [1969]. In: Dies.: Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache. Frankfurt a.M. 1993, 181–201, hier 185 f.). Domin verweist immer wieder auf Brechts Gedicht Über die Bezeichnung Emigranten: »Aber wir / Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß / Wählend ein anderes Land. […] Vertriebene sind wir, Verbannte.« (Bertolt Brecht: Über die Bezeichnung Emigranten. In: Ich sah das Dunkel schon von ferne kommen. Erniedrigung und Vertreibung in poetischen Zeugnissen. Hg. von Bernd Jentzsch. München 1979, 81). Domin: Exilerfahrungen (Anm. 16), 181 f. Weiter schreibt sie: »Die Situation des Exilierten oder Emigranten hat in nichts eine Ähnlichkeit mit der des Reisenden, wenn auch die Kulissen die gleichen sein mögen.« (Ebd., 183). Vgl. Domin: »… und doch sein wie ein Baum« (Anm. 5), 202. Domin: Liebe, die die Sonne bewegt (Anm. 5), 5.

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stark autobiographisch gefärbten Roman heißt es: »Nur wer ausgestoßen war, wer im bitteren Ernst hat draußen leben müssen, was nicht dasselbe ist wie eine Reise, der weiß, wie sich das eigene Land dem fremden Auge bietet.«19 Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sollen Domins im 1964 erschienenen, dritten Gedichtband Hier veröffentlichten »Fünf Ausreiselieder« sein.20 Es soll gezeigt werden, dass Domin in diesen Gedichten Elemente der Reise und des Exils, der freiwilligen Heimkehr und der unfreiwilligen Vertreibung verbindet ohne dabei jedoch – so die Schlussfolgerung – die Exilerfahrung in einer allgemeinen, postkolonialen Darstellung von Entwurzelung aufzulösen. Dies lässt sich an drei zentralen Relationen aufzeigen: Erstens, am Verhältnis zur Sprache, zweitens, an demjenigen zu Objekten des Alltags und drittens an dem Zweifel, ob die Literatur der Verfolgten tatsächlich einen Halt und Ausweg bietet. Stellvertretend für diese poetologische Ambivalenz steht das Wort ›Ausreise‹, da es sowohl das freiwillige als auch das erzwungene Verlassen eines Staatsgebiets bezeichnen kann. Veraltet ist heute die noch im Wörterbuch der Brüder Grimm verzeichnete Bedeutung des Aufbruchs, des Beginns einer Reise.21 1. Die Sprache – das Unverlierbare In ihrem bereits zitierten Aufsatz Heimat von 1975 ruft Domin mit der Muttersprache als das einzig Verbleibende einen zentralen Topos der Exilliteratur auf: Für mich ist die Sprache das Unverlierbare, nachdem alles andere sich als verlierbar erwiesen hatte. Das letzte, unabnehmbare Zuhause. […] Die deutsche Sprache war der Halt, ihr verdanken wir, daß wir die Identität mit uns selbst bewahren konnten. Der Sprache wegen bin ich auch zurückgekommen.22 19 20

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Domin: Das zweite Paradies (Anm. 5), 98. Der Band wurde von den Kritikern überwiegend positiv aufgenommen. Vgl. Jürgen P. Wallmann: Argumente. Informationen und Meinungen zur deutschen Literatur der Gegenwart. Aufsätze und Kritiken. Mühlacker 1968, 90 f. Vgl. Walter Helmut Fritz: Hilde Domin, Hier: 1964 [Beitrag]. In: Neue deutsche Hefte: Beiträge zur europäischen Gegenwart 12 (1965), H. 104, 114 f. »AUSREISE […] gegensatz, rückreise. / AUSREISEN […] (eigentlich ausreisen, exire, aus der stadt, dem lande; abreisen, abire, von dem ort […].« (Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1: A – Biermolke [1854]. München 1984, 932). »aus|rei|sen […] 1. ins Ausland reisen, die Landesgrenze überschreiten […] 2. (veraltet) verreisen, zu einer Reise aufbrechen […].« (Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. Hg. vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Bd. 1: A–Bedi. Mannheim u.a. 1999, 403 f.). Domin: Heimat (Anm. 5), 14. So beispielsweise Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht Exil: »Ich mit der deutschen Sprache / dieser Wolke um mich / die ich halte als Haus / treibe durch alle Sprachen«. (Ingeborg Bachmann: Exil. In: Ich sah das Dunkel schon von ferne kommen. Erniedrigung und Vertreibung in poetischen Zeugnissen. Hg. von Bernd Jentzsch. München 1979, 54). Vgl. zu Bachmanns Reiselyrik den Beitrag von Yvonne Nilges in diesem Band.

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Die Erfahrung der weit über die Grenzen Deutschlands hinausreichenden Verfolgung wird hier als eine radikale und permanente Verlusterfahrung beschrieben.23 Alles kann und alles ist, wie es Domin ausdrückt, ›verlierbar‹, und nur die Sprache kann als immaterielles Gut mitgenommen werden. Sie bietet auch in anderen Ländern ein Zuhause und sichert, so Domin, die Identität nicht etwa mit dem Heimatland oder gar der Nationalität, sondern mit sich selbst und der eigenen Lebensgeschichte: »Muttersprache ist die Sprache der Kindheit.«24 Aus diesem Grund ist es auch die Sprache – so zumindest Domins Selbstbeschreibung –, die eine Rückkehr nach Deutschland möglich und notwendig macht. In den Sprachen der Exilländer, in denen die Dichterin durchaus gewandt war, ist sie »gern und dankbar zu Gast«, sie werden ihr jedoch nie zur Muttersprache und das Land nicht zum »Land meiner Herkunft, dem Land meiner Sprache«.25 Das Exil bleibt charakterisiert als eine Erfahrung des »Nicht-Dazugehören[s]«, dessen ›Vertracktheit‹ und ›Unheimlichkeit‹ der Dichterin erst im Laufe der Zeit deutlich werden.26 So ist die Rückkehr – nach mehr als zwanzig Jahren im Exil – »sicher […] noch aufregender als das Weggehen«.27 Domin charakterisiert Deutschland als »das Land der Geburt, wo die Menschen deutsch reden.«28 Die Sprache bleibt im Exil jedoch nicht nur ›unverlierbar‹, sondern sie ist auch derjenige Teil der Heimat, den die Dichterin aktiv gestalten kann, in deren Bereich also die die Rückreise nach Deutschland prägende Freiwilligkeit vorweggenommen ist. Im ersten Ausreiselied – welches mit dem Titel Hier namensgebend für den Gedichtband ist – teilt die personifizierte Muttersprache die Erfahrung des Exils. Metaphorisch wird eine Verbindung zwischen der Erfahrung des »Fremdsein[s]« und der physischen Empfindung des Frierens hergestellt, den das ›Ich‹ mit der Sprache teilt:

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»Ich habe sie ja selbst erlebt, die ›permanente Flucht‹. Und ich hatte das Glück, nicht eingeholt zu werden, als ich weit genug gelaufen war, ich durfte sogar zurückkommen, vom Rande der Welt. Nachhause gehen.« (Domin: Heimat [Anm. 5], 15). Ebd., 14. Domin verbindet ihren Beginn als Dichterin mit dem Tod ihrer Mutter: »Als ich nach dem Tode meiner Mutter, über den ich hier nichts sage, an eine Grenze kam, da hatte ich plötzlich die Sprache, der ich so lange gedient hatte. […] Ich war 39 Jahre alt, als mein Leben, wie von selbst, zur Vorgeschichte wurde für das zweite Leben, das ich seither führe.« (Domin: Leben als Sprachodyssee [Anm. 14], 27). Domin: Heimat (Anm. 5), 14. Ebd., 14 f. Ebd., 14. »Die Rückkehr aus dem Exil ist vielleicht noch aufregender als das Verstoßenwerden.« (Hilde Domin: Wohnen nach der Rückkehr [1978]. In: Dies.: Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache. Frankfurt a.M. 1993, 26–33, hier 26). Die Rückkehr sei, so Domin, zudem prägender für ihr dichterisches Werk, »obwohl das nur eine Akzentfrage ist, insofern Rückkehr für mich eben ›Rückkehr aus dem Exil‹ bedeutete.« (Domin: Exilerfahrungen [Anm. 16], 185). Domin: Heimat (Anm. 5), 14.

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Ungewünschte Kinder29 meine Worte frieren. Kommt ich will euch auf meine warmen Fingerspitzen setzen Schmetterlinge im Winter. Die Sonne blaß wie ein Mond scheint auch hier in diesem Land wo wir das Fremdsein zu Ende kosten.30

Wie »Schmetterlinge im Winter« ist das ›Ich‹ dieses Gedichts in eine Jahreszeit und an einen Ort versetzt, die ihre Verletzbarkeit und das Ausgeliefertsein metaphorisch greifbar machen. Den sicheren Kältetod eines Schmetterlings im Winter verhindert die Wärme der Fingerspitzen, auf denen sich die Worte nicht nur im übertragenen Sinne wärmen, sondern auch im ganz eigentlichen Sinne von den warmen Fingerspitzen über die Schreibmaschine aufs Papier gebracht werden. Gemeinsam ist dadurch Worten und Dichterin das Überleben gesichert und selbst die Möglichkeit, sich das Fremdsein – Domin nutzt hier eine kulinarische Metapher – einzuverleiben bzw. zu eigen zu machen. Beide stehen – um mit Paul Celan zu sprechen – der Todesdrohung entgegen und erinnern daran, dass die gleiche Sonne über allen Ländern scheint, selbst wenn sie im Exil nur wenig Wärme spendet.31

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In ihrem Vortrag bei der Preisverleihung der Stadt Heidelberg erklärt Domin, sie habe wegen der Verfolgung keine Kinder bekommen können und die Bücher seien so zu ihren Kindern geworden. Vgl. Domin: Liebe, die die Sonne bewegt (Anm. 5), 10. Hilde Domin: Hier. In: Dies.: Hier [1964]. Frankfurt a.M. 1966, 24. Braun liest die Ausreiselieder, die wie die anderen Gedichte des Bandes in den zwei Jahren nach Domins Rückkehr nach Deutschland geschrieben wurden, als Gedichte über diese Rückkehr und interpretiert die blasse Sonne als diejenige, die über dem Land scheint, »dessen Himmel der aus den Vernichtungslagern steigende Qualm verdunkelte […].« (Braun: Exil und Engagement [Anm. 2], 146 f.). Die Frage, welches ›hier‹ in Domins Gedichtband gemeint sein könnte, hat bereits zeitgenössische Rezensenten beschäftigt. Vgl. Elfe Vallaster: »Ein Zimmer in der Luft«. Liebe, Exil, Rückkehr und Wort-Vertrauen. Hilde Domins lyrischer Entwicklungsweg und Interpretationszugänge. New York 1994, 174 f.

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2. »Wer einmal Flüchtling war, verliert die Beziehung zum Gegenstand«32 Ebenso wie die Dichterin durch das Schreiben sich selbst und den Worten das Überleben sichert, da sie sich gegen die unfreiwillige Vertreibung ein Stück Heimat durch eigene Kraft zurückerobert, so deutet sie auch den Verlust des materiellen Besitzes in einen freiwilligen Entschluss um. Das zweite Gedicht der Ausreiselieder lautet unter dem Titel Ausreisegedicht: Die Gegenstände sehen mich kommen barfuß ich gebe ihnen die Freiheit wieder meinem Bett das mein Bett sein wollte meinem Tisch den Wänden die auf mich zu warten versprachen wie die Wände der Kindheit. Meine sanften Gegenstände ihr wolltet mich sammeln. Gegenstände ihr seht mich gehn.33

Die erste Strophe besteht aus zwei, durch zahlreiche Enjambements in Verse unterteilte Sätze. Diese Verssprünge exponieren das Wort »barfuß« im zweiten Vers und machen es damit zugleich zum Adverb und zum Adjektiv, zu einer Metonymie der vollständigen Besitzlosigkeit – mit Bertolt Brecht gesprochen: »Des Flüchtlings dritte Regel: Habe nichts!«34 In einem solchen besitzlosen Zustand setzt sich das ›Ich‹ in Domins Gedicht in Bewegung. Es kommt zu Beginn des Gedichts und geht am Ende des letzten Verses. Zwischen beiden, also im Raum des Gedichts, macht das ›ich‹ – durch die rhetorische Figur der Personifikation – die es umgebenden Dinge zu Gesprächspartnern. Wieder ermöglicht es die Sprache – und hier die genuin literarische Figur der Personifikation – dem ›Ich‹, zur Handelnden zu werden und damit der eigenen Bewegung die Qualität der Freiwilligkeit zu geben. Die Einrichtungsgegenstände werden als sanft beschrieben, sie wollen die Zugehörigkeit, wollen ›sammeln‹ und – gesteigert zur Prosopopoia – versprechen ›zu warten‹, da sie nicht zu den Dingen gehören, die das ›ich‹ bei der Ausreise mitnehmen kann.

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Domin: »… und doch sein wie ein Baum« (Anm. 5), 207. Hilde Domin: Ausreisegedicht. In: Dies.: Hier [1964]. Frankfurt a.M. 1966, 25. Bertolt Brecht: Die Pfeifen. In: Ich sah das Dunkel schon von ferne kommen. Erniedrigung und Vertreibung in poetischen Zeugnissen. Hg. von Bernd Jentzsch. München 1979, 51.

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Statt materielle Objekte in einem Haus tatsächlich zu sammeln, zählt das Gedicht diese in der ersten Strophe auf und verstärkt die Aufzählung durch eine Wiederholung, die durch das Auslassen der Kommata über die asyndetische Enumeratio hinausgeht: »meinem Bett das mein Bett sein wollte / meinem Tisch / den Wänden die auf mich zu warten versprachen / wie die Wände der Kindheit.«35 Das ›ich‹ ist durch seine Bewegung charakterisiert und die Fähigkeit, die eigene Freiheit dadurch zurückzugewinnen, dass es den Gegenständen ihre Freiheit wiedergibt und sie damit hinter sich lässt.36 Überblendet werden in diesem Ausreisegedicht das Exil und die Rückkehr, also die erzwungene und die freiwillige Ausreise. An beiden Orten versprechen die ›Wände‹ als Synekdoche des Hauses, auf die Rückkehr des ›ich‹ zu warten. Die letzten beiden Verse wiederholen den ersten Vers beinahe wörtlich. Aus dem Deklarativsatz: »Die Gegenstände sehen mich kommen«, der ohne abschließenden Punkt zu den folgenden Versen überleitet, wird in den letzten beiden Versen eine Anrede37 an die personifizierten, in diesem Fall ohne bestimmten Artikel verallgemeinerten Gegenstände: »Gegenstände / ihr seht mich gehn.«38 Die dichterische Arbeit an der Sprache, die durch das Enjambement und die Personifikation hier stellvertretend verkörpert wird, erlaubt dem ›ich‹, die Ausreise anzutreten und damit sich selbst und den Gegenständen die Freiheit wiederzugeben, die das Exil dem Flüchtenden genommen hat. In ihrem theoretischen Essay Wozu Lyrik heute (1968) charakterisiert Domin ihr Unterfangen als: […] ein[en] Versuch aufzuzeigen, ob und inwieweit Freiheit für uns noch in Rufweite ist und wie […] die Vertriebene und Gejagte, und sei es auf Augenblicke, zurückgeholt werden könnte. Die Frage nach der Freiheit, die identisch ist mit der Frage nach der Möglichkeit von Lyrik und Kunst überhaupt, ist die Achse dieses Buchs.39

35 36

37 38 39

Domin: Ausreisegedicht (Anm. 33), 25. In ihrem Essay Paradoxien des Exils von 1984 schreibt Domin: »Wie ich versuche, über das Verlassen der Heimat zu sprechen, entdecke ich zu meinem Erstaunen, daß offenbar die Tatsache, daß ich im Jahre 1932 dem Zwang zuvorgekommen bin, daß ich […] in sehr jungen Jahren mich selber entschied, wissend, daß alles schon entschieden war, daß dies freiwillige Aufgeben des in Wahrheit schon Verlorenen mein ganzes Leben bestimmt zu haben scheint. Es hat meinen Freiheitsbegriff geprägt. Nicht so sehr, daß ich ›in die Freiheit‹ ging, sondern daß ich mir die Freiheit nahm zu gehen.« (Domin: »… und doch sein wie ein Baum« [Anm. 5], 203). Das umgangssprachliche »gehn« verstärkt den Aspekt der Mündlichkeit am Ende des Verses (und des Gedichtes). Domin: Ausreisegedicht (Anm. 33), 25. Hilde Domin: Wozu Lyrik heute. Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft. München 1968, 9. Ihre Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1987/1988) stellt Domin unter den Titel Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Vgl. Hilde Domin: Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1987/1988. Frankfurt a.M. 1993.

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Das dritte Ausreiselied unter dem Titel Ich flüchte mich zu dem kleinsten Ding nimmt den Aspekt der Sprache aus dem ersten Lied zu dem Fokus auf die materiellen Dinge im zweiten Lied hinzu. Dieses dritte Gedicht besteht aus zwei elliptischen Sätzen, die durch Enjambements zu zwei Strophen mit jeweils sechs Versen getrennt werden. Auf der inhaltlichen Ebene ist von »dem kleinsten Ding« die Rede, welches selbst auf die erzwungene Flucht mitgenommen werden kann und damit die materielle Verbindung herstellt zwischen der Vergangenheit im Heimatland und der Gegenwart im Exil. Domin wählt nicht umsonst die Metapher des Mooses, welches über das tertium comparationis des Unbedeutenden das Kleine mit dem Dauerhaften (»Kindheit«, »Ewigkeit«) verbindet. Folglich sind es die »Ewigkeit eines Mooses« und das »kleinste[] Ding«, welche die Dichtung zu einem Oxymoron (›finger-groß‹) verbindet und damit, in der zweiten Strophe, den Schritt über die Grenze ermöglicht: Ich flüchte mich zu dem kleinsten Ding der Ewigkeit eines Mooses feucht fingergroß von der Kindheit bis heute. Ich Gulliver lege mein Gesicht in dies Moos Gulliver dessen Schritt stehe ich auf die Grenze des Lands überschreitet.40

Zweimal bezeichnet sich das ›ich‹ in einer direkten Apposition als Gulliver und damit als einen der berühmtesten Reisenden der Literaturgeschichte aus Jonathan Swifts Roman Travels into Several Remote Nations of the World (1726). Auch er strandet – wie die Dichterin selbst – auf einer fernen Insel, allerdings nach der Karte von Lilliput südwestlich von Sumatra und nicht südöstlich der Vereinigten Staaten. Von Bedeutung ist jedoch vielmehr die Möglichkeit, in literarischen Texten Objekten, Orten oder auch Menschen Namen zu geben und sie damit – wie im Falle Gullivers – erst hervorzubringen. In Domins Gedicht wird dieser Name in einem einzigen Vers gegeben und benötigt hierfür nur zwei Worte: »Ich Gulliver«. Allerdings gelingt allein dieser literarischen Figur die Ausreise so mühelos mit nur

40

Hilde Domin: Ich flüchte mich zu dem kleinsten Ding. In: Dies.: Hier [1964]. Frankfurt a.M. 1966, 26.

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einem Schritt. Domin hat diesen Zweifel an der möglichen Identifikation mit Gulliver – die doch im ersten Vers der zweiten Strophe so stark gemacht wird – in eine auf den ersten Blick irritierende Syntax gebracht: »Gulliver / dessen Schritt / stehe ich auf / die Grenze des Lands überschreitet.«41 Das ›ich‹ steht auf, es bleibt jedoch Gullivers Fuß – und damit metonymisch die Literatur –, der den Schritt über die Grenze macht. 3. Aus(wege) – keine Zeit für Abenteuer Das vierte Ausreiselied antwortet indirekt auf die in den ersten drei Liedern formulierte Hoffnung auf die Literatur mit einem zweifelnden Selbstgespräch. Dem Abenteurer Gulliver wird dort gleich in der Überschrift entgegengehalten, es sei keine Zeit für Abenteuer. Das Gedicht schließt mit demselben, durch eine Verneinung nochmals verstärkten Satz: »Nein, es ist keine Zeit / für Abenteuer.«42 Überschrift und Schlussvers klammern zwei Strophen ein, in denen ein ›du‹ in Form einer Selbstanrede seine eigene Schreib- und Lebenssituation befragt. Dem ist ein einzelner Vers vorangestellt, der den Grund für diese Zweifel nennt: »Wenn die Enden der Welt dir Vorstädte sind«.43 Die Situation lässt sich hier mit dem von Domin geprägten Ausdruck der »›permanente[n] Flucht‹«44 charakterisieren, in der es keine sicheren Orte gibt, da sich die Flüchtenden nie weit genug vom Zentrum der Stadt entfernen können, um über deren Ränder hinaus dessen Einflussbereich zu entgehen. In diesem Zustand der dauerhaften Bedrohung45 eröffne – so die erste Strophe des Gedichts – auch die Literatur keinen Ausweg aus der auf formaler Ebene durch Ellipsen und Alliterationen dargestellten Enge:

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44 45

Ebd. Hilde Domin: Keine Zeit für Abenteuer. In: Dies.: Hier [1964]. Frankfurt a.M. 1966, 27. Ebd. In ihrer autobiographischen Schrift Meine Wohnungen – ›Mis moradas‹ beschreibt sie die Dominikanische Republik als »Zuflucht am Rande, wo man nicht weiter weglaufen kann, so weit ist man schon gelaufen, sondern abwartet, ob man weiterleben darf. Ob die Welt wieder aufgeht.« (Hilde Domin: Meine Wohnungen – ›Mis moradas‹. In: Dies.: Von der Natur nicht vorgesehen. Autobiographisches. Frankfurt a.M. 1993, 71–127, hier 95). Zu der Dominikanischen Republik als Exilland vgl. Braun: Exil und Engagement (Anm. 2), 27 f. Domin: Heimat (Anm. 5), 15. Vgl. die Verwendung des Begriffs schon 1969: Domin: Exilerfahrungen (Anm. 16), 185. In Meine Wohnungen – ›Mis moradas‹ beschreibt Domin die alltägliche Bedrohung der jüdischen Exilanten im Rom der 1930er Jahre: »Dort standen im Schrank die kleinen Handkoffer, gepackt und fertig, mehrere Wochen. Oder war es eine Woche. Endlose Tage. Wir verließen vor 5 das Haus, denn vor 6 kommen sie ja, wenn sie einen abholen, und fuhren mit der ›Circolare Rossa‹ oder der ›Nera‹ rund um Rom.« (Domin: Meine Wohnungen – ›Mis moradas‹ [Anm. 43], 87).

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Wenn die Enden der Welt dir Vorstädte sind du kennst den Geruch du rückst die Buchstaben nebeneinander die öffnen und gehst hinein nicht in Weite in andere Enge.46

Auch wenn das ›du‹ hier aktiv wird, indem es sich wie in den vorigen Gedichten durch das Schreiben in der Muttersprache die mit der Vertreibung verlorene Heimat zumindest im Bereich der Sprache zurückerobert, so führt doch dieser Weg nur mehr in eine »andere Enge« und nicht mehr hinaus in die für Abenteuer so notwendige Weite. Doch bietet nicht gerade die Literatur die Möglichkeit – so die aus zwei Interrogativsätzen bestehende zweite Strophe –, Abenteuer im schützenden Rahmen von Normalität und Häuslichkeit zu erleben? Die Antwort ist eindeutig und schließt als letzter Vers das Gedicht. »Wenn die Enden der Welt dir Vorstädte sind«, kann es ebenso wenig literarische Abenteuer wie die Sicherheit einer häuslichen Normalität geben: Aus deiner Tür wohin denn? Wohnst du nicht häuslich wie jeder einsam wie jeder im Schlund deines Tigers? Nein, es ist keine Zeit für Abenteuer.47

46 47

Domin: Keine Zeit für Abenteuer (Anm. 42), 27. Ebd. Braun sieht im ›Schlund des Tigers‹ einen Verweis auf die »ganze[] Ambivalenz im alttestamentlichen Bild vom Rachen des Löwen (Ps. 22,22; Am. 3,12) als teils gefahrvolle, teils aber schon Rettung verheißende Grenzsituation […]. Wörtlich findet sich das Psalmzitat aus der Vulgata im Gedicht ›Salva nos‹: ›salva nos ex ore leonis‹. Hier bestimmt das Ich Freiheit gerade dadurch, daß furchtloses und wahrhaftiges Benennen des ›Verschlingende[n]‹‚ den Rachen offen [hält] / in dem zu wohnen / nicht unsere Wahl ist‹ […].« (Braun: Exil und Engagement [Anm. 2], 148 f.) Vgl. Hilde Domin: Salva nos 2. In: Dies.: Gesammelte Gedichte. Frankfurt a.M. 1987, 240.

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Gerade der Erfahrung der ›permanenten Flucht‹ wird im letzten Ausreiselied unter dem Titel »Silence and exile« die bisher der Muttersprache und den kleinen Dingen vorbehaltene Qualität des Unverlierbaren zugesprochen: Unverlierbares Exil du trägst es bei dir du schlüpfst hinein gefaltetes Labyrinth Wüste einsteckbar.48

Lehrt die Erfahrung der Flucht, dass alle materiellen Dinge der Heimat verloren gehen können und nur die Muttersprache bleibt, so macht die Rückkehr erfahrbar, dass nun die Exilerfahrung selbst nicht mehr zurückgelassen werden kann. Charakterisiert wird sie metaphorisch als »Labyrinth« und als »Wüste« – Räume also, aus denen man womöglich nicht mehr hinausfindet und die aus diesem Grund lebensbedrohlich werden können. Entscheidend ist allerdings in Domins Gedicht, dass das Verhältnis des ›du‹ zum Exil als aktiver Umgang dargestellt wird. Das ›du‹ trägt es nicht in sich, sondern wie ein Objekt bei sich und es ist nicht etwa von der Erfahrung der Orientierungslosigkeit geprägt, sondern ›schlüpft‹ aktiv in die ›Falten‹ des Labyrinths ›hinein‹. Indem die Exilerfahrung als solche angenommen wird, entfaltet sie ihre beinahe schützende Funktion. Aktiv wird das ›du‹ jedoch – und damit schließen die Ausreiselieder –, indem es die Erfahrung des Exils mit literarischen Verfahren verändert. Aus Exil und Vertreibung werden in einem ersten Schritt die Metaphern ›Wüste‹ und ›Labyrinth‹ und in einem zweiten eine Erfahrung, die dem ›du‹ ebenso unverlierbar wird wie die sprachliche Heimat. Auch der Titel des Gedichts zeigt auf zweifache Weise, was die Literatur zu leisten vermag. Sie lässt das Wort silence, ganz entgegen seiner semantischen Bedeutung, erst visuell und dann im Leseprozess sprechend werden und ruft nicht nur eine Fremdsprache, sondern auch intertextuell einen anderen literarischen Text auf. »Silence, exile and cunning« sind die abschließenden Worte des Künstlerbekenntnisses des jungen Stephen Dedalus in James Joyceʼ ersten Roman A Portrait of the Artist as a Young Man von 1916. Dort heißt es auf den letzten Seiten des Buches:

48

Hilde Domin: »Silence and exile«. In: Dies.: Hier [1964]. Frankfurt a.M. 1966, 28. 1969 schreibt Domin: »Der heutige Bundesbürger ist also um eine Extremerfahrung gebracht, die vielen Menschen meiner Generation so unverlierbar ist wie eine schwere und abscheulich erkenntnisträchtige Krankheit.« (Domin: Exilerfahrungen [Anm. 16], 181). Vgl. ebd., 201.

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Evelyn Dueck I will tell you what I will do and what I will not do. I will not serve that in which I no longer believe whether it call itself my home, my fatherland or my church: and I will try to express myself in some mode of life or art as freely as I can and as wholly as I can, using for my defence the only arms I allow myself to use – silence, exile, and cunning.49

Das fünfte Ausreiselied Domins übernimmt von diesen Waffen des freiwilligen Exilanten Stephen nur die ersten beiden (silence, exile) und streicht die Waffe der Gerissenheit (cunning), deren Zeit mit derjenigen der Abenteuer vergangen zu sein scheint. In ihrem Gedicht wird jedoch eine weitere Waffe hinzugefügt, diejenige der Literatur, zu deren wesentlichen Verfahren das verändernde Zitat gehört, welches die Exilanten und Künstler Daidalos, Stephen, James Joyce und Hilde Domin zusammenführt. Die Dichtung ermöglicht dem ›du‹ einen vielgestaltigen, aktiven und damit die Freiwilligkeit, Heimat und Identität zurückerobernden Umgang mit Exil und Verfolgung. Sie verhindert so, dass das Ziel der Verfolger – das Verstummen der verfolgten Menschen – erreicht wird. 4. Die Freiheit der Dichtung In den Fünf Ausreiseliedern Hilde Domins ist also von einer anderen Reise als etwa der freiwilligen Fahrt in den Urlaub oder der Entdeckungsreise die Rede. Unter dem Eindruck der erzwungenen Ausreise und des Exils wird die Dichtung zu einer immer prekär bleibenden Rückeroberung der Freiwilligkeit und der Hoffnung auf ein nach der Rückreise wieder zu gewinnendes Gefühls der sicheren Zugehörigkeit zum Heimatland, die in der Sprache vorweggenommen wird. In der Literatur erfährt die Dichterin nicht nur ihre eigene Identität als ›unverlierbar‹, sondern gewinnt in der Gestaltbarkeit der Texte diejenige Freiwilligkeit und Aktivität zurück, die Verfolgung und Exil ihr genommen haben. Entscheidend sind dabei zum einen die rhetorischen Stilmittel wie beispielsweise Personifikation, Metapher und das verändernde intertextuelle Zitat, welche die Aspekte der Bezeichnung und der Erweiterung über das real Existierende hinaus verbinden. Zum anderen ermöglichen Enjambements, Ellipsen und Alliterationen gerade der Dichtung, die Sprache auch auf formaler Ebene in Bewegung zu versetzen und damit Räume zu schaffen, die der normale Lauf der Syntax nicht zugelassen hätte. Trotz 49

James Joyce: A portrait of the Artist as a Young Man [1916]. New York 1964, 246 f. 1976 schreibt Domin: »Goethe, Heine, Rilke, Joyce bildeten den Grundstock meiner eigenen Bibliothek und waren dann auch eine Hauptsache in der kleinen Bücherkiste, die mich bei der Auswanderung aus Deutschland, 1932, begleitete.« (Hilde Domin: Im Exil mit Goethe, Heine, Rilke, Joyce. Dankrede bei der Entgegennahme des Rainer Maria Rilke Preises für Lyrik 1976. In: Dies.: Aber die Hoffnung. Autobiographisches aus und über Deutschland. Frankfurt a.M. 1993, 144–148, hier 144).

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selbstreflexiver Infragestellung dieser literarischen Möglichkeiten vermitteln doch sowohl die Ausreiselieder als auch die theoretischen und autobiographischen Texte Hilde Domins den Eindruck, mit der Literatur werde hier die Möglichkeit verbunden, zumindest einen Teil der Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung zurückzugewinnen. Anders als Nelly Sachs, die in ihrem Gedicht Welt, frage nicht die Todentrissenen schreibt: »aber wer heimatlos ist, dem welken alle Wege / wie Schnittblumen hin –«,50 scheinen Domin sowohl diese Heimat in der Sprache als auch die Wege durch und in der Literatur unverlierbar zu sein. Ihre Dichtung ist jedoch nicht im Sinne der postcolonial studies ›ambulant‹ oder ›nomadenhaft‹. Die Bewegung wird nicht verallgemeinert und der Unterschied von Exil und Reise nicht eingeebnet. Das Ziel der Dichterin bleibt das Heimatland, in dem die Muttersprache gesprochen wird. Fraglich erscheint zudem, ob die Perspektive auf das ›Exil als Chance‹ sinnvoll ist, da das Gefühl der Bedrohung auch nach 1945 nicht abrupt aufhört und dem Exil die Unfreiwilligkeit zu sehr eingeschrieben bleibt, um in der Verfolgung Ansätze einer postmodernen Entwurzelung zu sehen. Oft ist gefragt worden, warum gerade die Lyrik in der Exilliteratur eine so große Rolle spielt. Dies lässt sich natürlich mit den schwierigen Editionsverhältnissen erklären. Es könnte jedoch auch sein, dass Gedichte zu diesen kleinen Dingen gehören, die nach Domin mit auf jede Reise, ja sogar barfuß ins Exil mitgenommen werden können.

50

Nelly Sachs: Welt, frage nicht die Todentrissenen. In: Ich sah das Dunkel schon von ferne kommen. Erniedrigung und Vertreibung in poetischen Zeugnissen. Hg. von Bernd Jentzsch. München 1979, 36.

III. Generische Transgressionen

Im Transit der Zeit Zur Eisenbahnlyrik zwischen den Weltkriegen SARAH THIERY Mit einer Reise assoziieren die meisten von uns heutzutage vor allem eine Urlaubspause fernab des stressigen Berufsalltags. Als dominanter Reisetypus etabliert sich die ›Erholungs- und Freizeitreise‹ in Deutschland jedoch erst ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.1 An dieser Entwicklung sind besonders die Massenverkehrsmittel beteiligt, wie z.B. der Bus oder das Flugzeug – und nicht zuletzt der Zug. Bereits im 19. Jahrhundert revolutioniert die Eisenbahn unsere Reisekultur, denn sie ermöglicht – im Gegensatz zur Wanderung oder zur Fahrt mit der Kutsche – nun ein bequemeres und schnelleres Reisen für eine breitere Bevölkerungsschicht.2 Die gesteigerte Mobilität dieser ›bahnbrechenden‹ Maschine führt außerdem zu verkürzten Distanzen sowie zum Bruch mit vertrauten Wahrnehmungsschemata und stellt die bisherigen Kategorien von Raum und Zeit infrage – wie Heinrich Heine 1843 nach der Eröffnungsfeier mehrerer Eisenbahnstrecken in Paris betont: Die Eisenbahnen sind […] ein […] providenzielles Ereigniß, das der Menschheit einen neuen Umschwung giebt, das die Farbe und Gestalt des Lebens verändert; es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte, […]! Mir ist als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Thüre brandet die Nordsee.3

In Deutschland entsteht die erste Eisenbahnlinie 1835 zwischen Nürnberg und Fürth, woraufhin sich das Streckennetz rasant erweitert und 1880 schon alle Metropolen miteinander verbindet.4 Während der Erste Weltkrieg mit der anschließenden Hyperinflation einen tiefen Einschnitt für den technischen Fortschritt bedeutet, ist die Stabilisierungsphase der Weimarer Republik von neuem Aufschwung geprägt.5 So avanciert die Eisenbahn vor allem in den roaring twenties 1 2 3 4 5

Vgl. Andreas Keller, Winfried Siebers: Einführung in die Reiseliteratur. Darmstadt 2017, 9. Vgl. ebd., 14. Heinrich Heine: Lutezia II. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 14/1. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1990, 58. Vgl. Keller/Siebers: Reiseliteratur (Anm. 1), 7. Vgl. Monika Müller: Zwischen Kunst und Technik. Eisenbahnwaggons und ihre Ausstattung. In: Zug der Zeit – Zeit der Züge: deutsche Eisenbahn 1835–1985, Bd. 1. Hg. von Harm-Hinrich Brandt. Berlin 1985, 563–576, hier 572.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_13

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»zu einem blühenden Wirtschaftsunternehmen«,6 das von 1924 bis 1937 unter die staatlich unabhängige Leitung der ›Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft‹ fällt. In dieser Hochphase erobert die Bahn fast alle Lebensbereiche – nicht nur in Form des Fernzugs oder der Lokalzüge zwischen Stadt und Provinz, sondern auch als U- oder S-Bahn innerhalb der modernen Metropolen.7 Die Eisenbahnreise wird somit Teil der alltäglichen Lebenspraxis, mit der sich besonders die Lyrikerinnen und Lyriker der Neuen Sachlichkeit auseinandersetzen, wie z.B. Erich Kästner, Mascha Kaléko oder Kurt Tucholsky. Als nüchtern-objektive Gebrauchskunst setzt sich diese neusachliche Lyrik vor allem mit den Modernisierungsprozessen in der Weimarer Republik auseinander.8 Wie wird die Eisenbahn(reise) in den neusachlichen Gedichten dargestellt und ästhetisch umgesetzt? Welche Charakteristika sowie Funktionen werden ihr zugeschrieben? Bevor erste Merkmale und Analysekategorien herausgearbeitet werden, soll zunächst die historische Entwicklung der Eisenbahnlyrik näher beleuchtet werden, die sich als neuartiges Subgenre im 19. Jahrhundert herauskristallisiert. 1. Die Eisenbahnreise im Gedicht Bis heute fungiert die Eisenbahn als beliebtes literarisches Motiv und inspiriert vor allem die Lyrik, was zahlreiche Anthologien belegen.9 Zur Gattung des Eisenbahngedichts zählen alle lyrischen Texte, die explizit oder implizit das Bild bzw. die Vorstellung eines Zuges oder einer Zugfahrt evozieren,10 wie z.B. Achim von 6 7 8

9

10

Johannes Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. München 1982, 268. Vgl. Lars Wilhelmer: Transit-Orte in der Literatur. Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen. Bielefeld 2015, 309. Vgl. Sabina Becker: Die literarische Moderne der zwanziger Jahre: Theorie und Ästhetik der Neuen Sachlichkeit. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 27 (2002), H. 1, 73–95, hier 81. Bisherige Forschungsarbeiten haben das Eisenbahngedicht vor allem im Hinblick auf das zentrale Technik-Motiv untersucht, jedoch die Zugfahrt als spezifische Reiseform nur en passant betrachtet. Im Rahmen dieses Beitrages soll daher – mit Bezug auf die produktive Eisenbahnlyrik der Neuen Sachlichkeit – eine erste Konturierung dieser Reiseform vorgenommen werden. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die frühe Gedichtsammlung Die deutsche Eisenbahn im Spiegel ihrer Zeit (1928) oder die Anthologie Die Eisenbahn. Gedichte – Prosa – Bilder (1984). Zudem erhalten Eisenbahngedichte in Reiselyrik-Sammlungen oft eine eigene Rubrik, wie z.B. bei Ulrich Vormbaum Reiselyrik (2018) im Kapitel ›Das Eisenbahnzeitalter‹ oder in Sehnsucht nach dem Anderswo. Reisegedichte (2004) unter dem Titel ›Im Zug der Zeit‹. Einzelne Dichter widmen dem Thema sogar komplette Gedichtbände, wie z.B. Manfred Hausin Vorsicht an der Bahnsteigkante! (21972). Vgl. Alfred Heinimann: Technische Innovation und literarische Aneignung. Die Eisenbahn in der deutschen und englischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Bern 1992, 260. Heinimann betont,

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Arnims Verse über Eiserne Wege (1803), die das leistungsstarke Verkehrsmittel erstmals erwähnen: Wo die Wege noch schlecht, legen wir eiserne Spur, Wo er vom Flusse gesperrt, da spannen wir eiserne Brücken, Also ein eiserner Will schaffet sich immer den Weg.11

Wie hier anklingt, verbessert der Streckenbau der Bahn zwar die Infrastruktur und führt zu wirtschaftlichen Erfolgen, greift aber auch stark in die Landschaft ein. Deshalb reagieren viele Dichter – wie z.B. Joseph von Eichendorff oder Justinus Kerner – skeptisch bis ablehnend auf den Zug und bevorzugen die naturverbundene Fußreise.12 Diese Technik-Kritik kommt in Christian Friedrich Scherenbergs Gedicht Eisenbahn und immer Eisenbahn (1845) zum Ausdruck: »O Eisenbahn, was bist du gekommen, / Hast Wandrers Sehnen uns genommen! […] / Hast unsre Erde uns genommen!«13 Durch die zunehmende Rationalisierung und Technikbegeisterung des Menschen wird eine Abkehr von der Natur und damit eine allgemeine Entpoetisierung der Welt befürchtet. Einige Dichter betonen jedoch die Vorzüge der Bahn, wie z.B. Adelbert von Chamisso in seiner Ballade Das Dampfroß (1830). Damit beginnt sich das negative Bild der Eisenbahn zu relativieren, die in Gottfried Kellers Gedicht Zeitlandschaft (1858) bereits vollständig in die Natur integriert ist:14 »Unten auf des Thales Eisensohle / Schnurrt hindurch der Wagen lange Reihe«.15 Bei weiteren Befürwortern des Zuges – wie z.B. Anastasius Grün – weckt die großflächige Vernetzung sowie der wirtschaftliche Erfolg der Bahn nicht nur die Hoffnung auf ein vereintes Deutschland, sondern auch auf verbesserte Arbeitsbedingungen.16 Im sozialkritischen Eisenbahngedicht Der Eisenbahnzug (1888) von Ferdinand von Saar weist z.B. ein Lokomotivführer auf

11 12 13 14 15 16

dass sich innerhalb der Gedichte oft nur Anspielungen auf Zugteile oder auf die Umgebung finden lassen, wie z.B. auf die Schienen. Achim von Arnim: Eiserne Wege. In: Werke, Bd. 5: Gedichte. Hg. von Ulfert Ricklefs. Frankfurt a.M. 1994, 496. Vgl. Keller/Siebers: Reiseliteratur (Anm. 1), 108. Christian Friedrich Scherenberg: Eisenbahn und immer Eisenbahn. In: Ders.: Gedichte. Berlin 1845, 26–30. Vgl. Heinimann: Technische Innovation (Anm. 10), 267. Gottfried Keller: Zeitlandschaft. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 10: Gesammelte Gedichte Bd. 2. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Walter Morgenthaler, Karl Grob, Peter Stocker u.a. Zürich 2009, 153. Vgl. Gerhard Rademacher: Technik und industrielle Arbeitswelt in der deutschen Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts. Versuch einer Bestandsaufnahme. Frankfurt a.M. 1976, 35.

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die Missstände hin: »Lange Jahre, lange Jahre, / Wettertrotzend, karg gelohnt, / Hab’ ich, daß das Volk hier fahre, / Stumm des Mammons Macht gefront«.17 Daran wird deutlich, dass das Bild der Eisenbahn stets an die soziopolitischen und ökonomischen Diskurse der jeweiligen Zeit gekoppelt ist.18 Ab der Jahrhundertwende verlagert sich das Interesse der Lyrikerinnen und Lyriker von der Maschine auf die subjektiven Reiseerlebnisse und die symbolischen Assoziationsspielräume der Eisenbahn.19 So wird der Zug in Gerrit Engelkes expressionistischem Gedicht Lokomotive (1912) zum ambivalenten Dingsymbol für die menschliche Schöpfungskraft. Die dämonisch-vitalistische Maschine wird animalisiert und löst beim Betrachter nicht nur Angst, sondern auch Faszination aus: »Da liegt das zwanzig Meter lange Tier, / die Dampfmaschine, / auf blank geschliff’ner Schiene, / voll heißer Wut und sprungbereiter Gier...«.20 Im Gedicht Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht (1913) von Ernst Stadler wird die personifizierte Zugfahrt selbst zum rauschhaften Reiseerlebnis des lyrischen Ich. Sobald der Zug die Brücke überquert und die beleuchtete Stadt erreicht, schlagen der anfängliche Weltekel sowie die Beklemmung des Ich in euphorische Lebensbejahung um: Der Schnellzug tastet sich und stößt die Dunkelheit entlang. […] Eine Beklemmung singt im Blut. Dann dröhnt der Boden plötzlich wie ein Meer: Wir fliegen, aufgehoben, königlich, […] hoch überm Strom.21

Die Gefühlsregungen stehen dabei in Wechselwirkung zur Fahrtbewegung sowie zur äußeren Umgebung.22 Da die Reise im Allgemeinen als »Bewegung im Raum«23 verstanden wird, ohne an einen konkreten Raum gekoppelt zu sein, kann sie aber nicht nur physisch, sondern auch imaginiert – in Form einer Gedankenreise – stattfinden. In beiden Fällen wird sie »immer subjektiv er-fahren«.24 Das 17 18 19 20 21 22 23 24

Ferdinand von Saar: Eisenbahnzug. In: Ders.: Werke, Bd. 2: Sämtliche Gedichte. 1. Teil. Gedichte 1860–1903. Nachklänge. Österreichische Festdichtungen. Hg. von Jakob Minor. Leipzig 1908, 144–145. Vgl. Heinimann: Technische Innovation (Anm. 10), 259. Vgl. Poesie & Maschine. Ein Lesebuch: Die Technik in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Markus Krause. Köln 1989, 169. Gerrit Engelke: Lokomotive. In: Ders: Rhythmus des neuen Europa: Gedichte. Jena 1929, 10 f. Ernst Stadler: Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht. In: Ders.: Dichtungen, Schriften, Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Hurlebusch und Karl Ludwig Schneider. München 1983, 169. Vgl. Viering, Jürgen: ›Aufbruch‹ und ›Einkehr‹. Über Ernst Stadlers Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 5: Vom Naturalismus bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Hg. von Harald Hartung. Stuttgart 2011, 185–198, hier 188. Reisen. Gedichte. Hg. von Vanessa Greiff. Stuttgart 2018, 182. Keller/Siebers: Reiseliteratur (Anm. 1), 71.

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reisende Subjekt schlüpft in diesem Moment in die Rolle des »Beobachter[s], der – je nach Perspektive – durch die Welt zieht oder der die Welt an sich vorüberziehen lässt«.25 Entscheidend für die Analyse der Zugfahrt ist demnach das Wechselverhältnis zwischen äußerer Umgebung sowie »zwischen innen und außen, zwischen der Maschine und dem Erlebnis der Menschen«.26 Für die anschließende Untersuchung müssen daher die Eisenbahnfahrt (I.a) sowie die Reisenden (II.a) näher beleuchtet werden. 1.1. Die Eisenbahnfahrt als spezifische Reisesituation Als öffentliches Transportmittel befördert der Zug die Passagiere zum Zielort und stellt für sie – wie das Präfix trans- bereits verdeutlicht – eine Zwischenstation auf der Reise dar. Lars Wilhelmer zählt die Eisenbahn neben dem Hotel oder Flughafen zu den Transit-Orten,27 die durch insgesamt sechs zentrale Merkmale gekennzeichnet sind: Dynamik, Geradlinigkeit, Paradoxie, Flüchtigkeit, Entgrenzung sowie (semantische) Entleerung. Bei seiner Definition unterscheidet Wilhelmer zwischen ›Ort‹ und ›Raum‹, wobei er letzteren als »Ort [versteht], mit dem man etwas macht«.28 Die Nutzung der Eisenbahn mache sie damit zum Transit-Raum, der mehrere Orte bzw. eine komplette Reise umfasse. Als ›Durchgangsort‹, der von vielen Personen genutzt wird, ist der Zug nicht nur dynamisch, sondern auch zielgerichtet und garantiert als ökonomisches Transportmittel »ein möglichst effizientes, direktes Passieren«.29 Daraus ergeben sich zwei weitere Merkmale der Bahn: die Flüchtigkeit und Schnelligkeit. Alfred Heinimann weist auf das vielfältige Repertoire der Lyrik an imitatorischen Mitteln hin, mit dem die rapide Zugfahrt mimetisch abgebildet werden kann.30 Dies fällt z.B. bei Detlev von Liliencrons Gedicht Der Blitzzug (1901) auf, bei dem die pfeifende ›Bahnmelodie‹ der dampfenden Lok durch gehäufte Reibelaute umgesetzt wird: FortfortfortFortfortfort drehen sich die Räder Rasend dahin auf dem Schienengeäder; Rauch ist der Bestie verschwindender Schweif, Schaffnerpfiff, Lokomotivengepfeif.31 25 26 27 28 29 30 31

Greiff: Reisen (Anm. 23), 182. Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung (Anm. 6), 56. Vgl. Wilhelmer: Transit-Orte in der Literatur (Anm. 7), 49. Ebd. Vgl. ebd., 36. Vgl. Heinimann: Technische Innovation (Anm. 10), 326. Detlev von Liliencron: Der Blitzzug. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 3: Gedichte. Hg. von Richard Dehmel. Berlin 1911, 237 f.

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Außerdem spiegelt sich die Schnelligkeit der Reise bereits im Textraum des Gedichts wider, das sich aufgrund seiner generischen Kürze ›in einem Zug‹ bzw. sehr schnell lesen lässt und den Leser selbst zum imaginär Reisenden durch den Text macht.32 Auch die Versifizierung kann die schnelle Fahrtbewegung auf typographischer Ebene abbilden, erinnert sie doch an die geraden Schienenlinien. Bei von Liliencron ist dies z.B. durch das aneinandergereihte Adverb ›fort‹ der Fall. Im Gegensatz dazu können Auslassungen oder Einschübe im Vers den Lesefluss unterbrechen, um auf Pausen oder Störungen im Reiseverlauf hinzuweisen. Aufgrund seiner Schnelligkeit befindet sich der Zug während der Fahrt stets in einem ›Dazwischen‹ und kennzeichnet sich durch eine »relative Positionslosigkeit«.33 In dieser Schwellensituation sei er laut Wilhelmer nicht nur ein entgrenzter Ort »zwischen territorialen oder nationalstaatlichen Grenzen«,34 sondern auch ein entgrenzender Ort – d.h. frei von allen soziopolitischen, kulturellen oder historischen Positionen – und zeichne sich somit durch seine semantische Entleerung aus.35 Dabei wird jedoch vernachlässigt, dass der Zug als zivilisatorisch hergestelltes Artefakt stets auch eine kulturelle sowie historische Zugehörigkeit besitzt und einen sozialen Raum darstellt. Nicht nur durch die Fahrtbewegung, sondern auch durch die Fluktuation der Reisenden befindet er sich »permanent in einem Zustand des Provisorischen«.36 Die Eisenbahn ist also ein paradoxer Ort, da sie zuweilen Orientierung bietet und heterotop ist, aber als Zwischenziel auf der Reise stets instabil bleibt.37 Markus Krause führt im Vorwort zur Anthologie Poesie & Maschine das Merkmal der Paradoxie im Hinblick auf die Situation der Passagiere weiter aus: Fungiert sie [die Eisenbahn] einmal als Stätte der Begegnung, so erscheint sie ein andermal als Ort der Isolation; ermöglicht sie dem einen […] als Raum einer tatsächlich ›erfahrbaren‹ Freiheit den Ausstieg aus der alltäglichen Existenz, so dient sie dem anderen […] als notwendiger Hintergrund individueller Reflexion, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander gespiegelt werden.38

32 33 34 35 36 37 38

Vgl. Wilhelmer: Transit-Orte in der Literatur (Anm. 7), 65. Wilhelmer: Transit-Orte in der Literatur (Anm. 7), 38. Ebd. Ebd., 40. Ebd., 42. Vgl. ebd., 37. Krause: Poesie & Maschine (Anm. 19), 169 f.

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Nach der Abfahrt des Zuges befindet sich auch der Reisende »in einem Schwebezustand des Noch-Nicht und Nicht-Mehr«.39 Die Eisenbahn birgt demnach das »Potenzial zur Neubildung von Identität und zur (inter)kulturellen Selbstverortung«.40 Durch ihre hohe Geschwindigkeit vermag der Zugpassagier – im Gegensatz zum Wanderer – die rasant vorbeiziehenden Ort- und Landschaften nicht mehr zu synthetisieren: »Die Landschaft, […] wird nicht mehr intensiv, auratisch erfahren, […] sondern flüchtig, impressionistisch, eben panoramatisch«.41 Für Wilhelmer wird der Zugpassagier deshalb auch zum »blinden Passagier«.42 1.2. Der Passagier als ›blinder‹ Beifahrer und der sehnsüchtige Nicht-Reisende Der Passagier ist als passiver ›Beifahrer‹ und Kunde stets an die Umwelt (z.B. Wetterbedingungen) oder an die Art des Zuges (z.B. Ausstattung, technischer Zustand etc.) und der Bahngesellschaft (z.B. Fahrpläne, Umstiege etc.) gebunden. Neben dem bereisten Raum stellt »das reisende Subjekt mit seiner Individualität, Religiosität und Nationalität […] per se einen Forschungskomplex«43 dar. In die Deutung müssen daher erstens Identitätsfragen miteinbezogen werden, wie z.B. die Geschlechts- oder Standeszugehörigkeit. Zweitens sind die Perzeptionsvorgänge der Reisenden zu beachten. Dabei sind besonders die verschiedenen Stadien der Wahrnehmung »Sinnesreiz, Verarbeitung und Memorisierung«44 sowie daran anschließende Reflexionen entscheidend: Was passiert während der Fahrt bzw. welche Tätigkeiten führen die Reisenden aus? Vor allem die Literatur wird im Zug zur »imaginäre[n] Ersatzlandschaft«,45 sofern keine zufällige Begegnung und Gesprächssituation entsteht.46 Ferner ist der Passagier auf der Fahrt oft vielen ›Störungen‹ ausgesetzt, die z.B. von Durchsagen über Ticket-Kontrollen bis hin zu Gesprächen oder schnarchenden Nachbarn reichen können. Beispielsweise wird der Traum des lyrischen Ich in Vierter Klasse durch laute Schreie eines Kindes unterbrochen: »Da schreit ein

39 40 41 42 43 44 45 46

Wilhelmer: Transit-Orte in der Literatur (Anm. 7), 38. Hannah Maria Hofmann: Erzählungen der Flucht aus raumtheoretischer Sicht. Abbas Khiders Der falsche Inder und Anna Seghers’ Transit. In: Niemandsbuchten und Schutzbefohlene. Hg. von Thomas Hardtke, Johannes Kleine und Charlton Payne. Göttingen 2017, 97–121, hier 103 f. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München/Wien 1977, 62. Wilhelmer: Transit-Orte in der Literatur (Anm. 7), 95. Keller/Siebers: Reiseliteratur (Anm. 1), 68. Ebd., 71. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise (Anm. 41), 65. Vgl. Heinimann: Technische Innovation (Anm. 10), 345.

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Kindchen neben mir / der Traum entweicht, es bangt mich schier. / Das Weinen klang so weh, so lind; so zart, so mager ist das Kind.«47 Ferner spielen die Reisemotivation und das Reiseziel des Subjekts – sofern bekannt – eine zentrale Rolle: Findet die Reise aus freiem Willen statt, wird sie auferlegt oder ist sie aus bestimmten Gründen unmöglich? Die Auswanderer in Dehmels Vierter Klasse (1891) fahren z.B. nach Hamburg, um von dort aus nach Amerika zu gelangen. Als ›Aufbruch‹ symbolisiert die Zugfahrt hier die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, welche jedoch unerfüllt bleibt, da das kranke Kleinkind kurz vor Hamburg stirbt.48 Neben den Reisenden im Transit müssen außerdem die Nicht-Passagiere berücksichtigt werden, da sie »dieselben verstörenden Wahrnehmungsmuster«49 wie die Reisenden erleben. Bereits der Anblick eines vorbeifahrenden Zuges kann z.B. Fernweh auslösen und den Impuls für eine imaginierte Reise darstellen. 2. Zur Eisenbahnlyrik zwischen den Weltkriegen In Abgrenzung zu den Ekstasen der expressionistischen Gedichte – oder zum dekonstruktiven Dadaismus – orientiert sich die neusachliche Lyrik wortwörtlich an der ›Sache‹ bzw. am Gegenstand und setzt sich vorrangig mit soziopolitischen und -ökonomischen Aspekten in der Weimarer Republik auseinander.50 Als provisorischer Transit-Ort bietet sich die Eisenbahn dafür an, bestehende Ordnungen oder Strukturen zu reflektieren oder diese neu auszuloten.51 Zudem vermag sie besonders die Implikationen des Individuums innerhalb (oder außerhalb) der Gesellschaft sowie des alltäglichen Lebens abzubilden. Welchen ›Platz‹ nimmt das Individuum in der modernen Gesellschaft ein und in welchem Verhältnis steht es zum kollektiven Fortschritt? Während die einen mit dem Zug reisen können (2.1.), sind die anderen hingegen von der Eisenbahnfahrt ausgeschlossen (2.2.).

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Richard Dehmel: Vierter Klasse. In: Ders.: Erlösungen. Eine Seelenwandlung in Gedichten und Sprüchen. Stuttgart 1891, 191–196. Vgl. Heinimann: Technische Innovation (Anm. 10), 288. Wilhelmer: Transit-Orte in der Literatur (Anm. 7), 118. Vgl. Ralf Schnell: Geschichte der deutschen Lyrik Bd. 5: Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Stuttgart 2013, 93. Vgl. Wilhelmer: Transit-Orte in der Literatur (Anm. 7), 309.

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2.1. Im Transit In Erich Kästners Gedicht Eisenbahnfenster (1924)52 wird der panoramatische Blick aus einem fahrenden Zug geschildert: »Felder fliehen / in tanzenden Kreisen« (V. 1 f.). Die kurzen Verse, die in Länge und Rhythmus variieren, setzen die Flüchtigkeit der fragmentarischen Eindrücke auf formaler Ebene um und werden lautlich durch gehäufte s-Laute verstärkt. Die Schnelligkeit der Fahrtbewegung löst ein Schwindelgefühl bei der unbekannten Sprechinstanz aus, denn die »Wiese[n] und Wege / strudeln vorbei« (V. 11 f.). Die personifizierte Natur wird damit zur Projektionsfläche für seine inneren Regungen. Durch die wechselnden Impressionen scheint sich die Umgebung in ständiger Transformation zu befinden, wie der folgende Chiasmus verdeutlicht: »Acker wird Weide; Weide wird Sand« (V. 13 f.). Der unaufhaltsame Wandel – symbolisiert durch die Zugfahrt – vollzieht sich also in rascher ›Szenenfolge‹ (V. 13 f.) und filmischer Schreibweise.53 Die einzelnen Bilder zeigen jedoch keine Naturidylle, sondern eine zerstörerischdystopische Welt: »Berge stürzen / auf Dorf und Tal.« (V. 3 f.) Indem der vertikal ausgerichtete Berg mit der horizontalen Ebene zusammenfällt, wird das Relief der Landschaft vertauscht und der Dualismus von Natur und Zivilisation bildhaft hervorgehoben. Gleichzeitig betonen die gehäuften Aktiv-Verben zwar die Überlegenheit der Naturgewalt, die Modernisierung stellt jedoch einen großen Einschnitt in die Umgebung dar – so unterbricht die »Hügelmühle« (V. 16) den Blick des Fahrgastes, da sie mit ihren Flügeln die »brandrote Sonne entzwei« (V. 18) teilt. Die ›schwarze‹ Farbe der Mühle hebt diesen ›Filmriss‹ des Beobachters als Einwortvers hervor. Die Farbmetaphorik ist indes als implizite Warnung und Appell des Sprechers zu verstehen, der die Endlichkeit der Natur und der symbolischen Lebensreise herausstellt: »Vorbei ist der Weg. / Vorbei ist das Land.« (V. 19 f.). Die technischen Errungenschaften werden bei Kästner jedoch nicht nur kritisch gesehen, sondern verschmelzen im Gedicht Eisenbahnfahrt54 z.B. mit der göttlichen Schöpfung: »Die Landschaft kreist wie eine Platte / auf Gottes großem Grammophon.« (V. 7 f.) Der Mensch begegnet hier seinen Erfindungen also mit Ehrfurcht und Staunen: »Uns wird so eigen! / Wir ziehn den Hut und grüßen sie [die Elektrizitätsmasten] / und schweigen« (V. 16–18).

52 53 54

Vgl. Erich Kästner: Eisenbahnfenster. In: Ders.: Zwischen Hier und Dort. Reisen mit Erich Kästner. Hg. von Sylvia List. Zürich 2012, 32. Hier wie bei den Folgegedichten beziehen sich die anschließenden Versangaben auf die jeweils genannte Primärquelle. Vgl. Gregor Streim: Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt 2009, 28. Vgl. Erich Kästner: Eisenbahnfahrt. In: Ders.: Zwischen Hier und Dort (Anm. 52), 258.

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Im Gedicht Herbst, vom Zug aus (1929),55 bei dem ein distanzierter Sprecher von seiner Zugfahrt »Richtung Berlin« (V. 1) berichtet, überwiegt erneut eine melancholische Stimmung. Die natürliche Umgebung wird hier zum Sinnbild eines Zeitgefühls: Die welkende Natur ist zwar »bunt« (V. 13), aber dennoch geht eine »Traurigkeit« (V. 14) von ihr aus und die reisende Gesellschaft »paßt glänzend in die Jahreszeit.« (V. 16 f.) Der Herbst gilt als ambivalentes Symbol, da er nicht nur für die reiche Erntezeit steht, sondern auch das Jahresende einläutet. Er erscheint in Analogie zur Wirtschaft und Inflation, denn selbst die »Bäume machen Ausverkauf / und verschleudern die bunten Blätter in die Welt« (V. 27 f.). Auch im Zugabteil verweisen die Meldungen einer Zeitung auf die materialistische und unmoralische Gesellschaft: »Man liest ›Ein neuer Bestechungsverdacht… […] / In München hat einer Gold gemacht… // Ein Rechtsanwalt wirft sich vor den Zug…« (V. 18–21). Selbst der Suizid wird gleichgültig aufgezählt und stellt für die unterhaltungssüchtigen und entsentimentalisierten Gemüter nur ein alltägliches Ereignis dar: »Man liest nicht weiter. Man hat genug. […] // Man schläft.« (V. 23–25). Die schlafenden Passagiere werden zum Bild für die passive und entsentimentalisierte Gesellschaft, die den Zwängen der Kapitalmacht ohnmächtig gegenübersteht. Diese Perspektive eröffnet auch Kurt Tucholskys Gedicht Tourist (1928).56 Direkt zu Beginn berichtet das lyrische Ich von seiner Rastlosigkeit: »Ich reise schon zwei Monate – bald bin ich gar nicht / mehr da« (V. 1 f.). Mit jeder weiteren Fahrt entfernt sich das Ich von seiner eigenen Herkunft und verliert mit jeder Zugfahrt einen Teil seiner Identität: »Die scharfen Schneidekanten der Eisenbahnschienen / schälen mir im Gleiten die Aura herunter, eine Haut / nach der andern – ich friere« (V. 3–5). Seine Dissoziation wird zum Strukturprinzip, denn die ungleich langen und reimlosen Verse sind typographisch versetzt. Die Kältemetapher zeigt zudem die Einsamkeit des heimatlosen Ich an, das sich nach Nähe und Zugehörigkeit sehnt. Lediglich in der Regelmäßigkeit der Abläufe und in der Monotonie des banalen Reisealltags findet das Ich etwas Halt und Struktur, wie folgende Parallelismen belegen: »Jeden Abend: ein neues Zuhause. / Jeden Abend: das Klinkengefühl der Hand, der / Orientierungsgang zu Toilette […]« (V. 6–8). Ein Heimatgefühl für Ort und Einwohner kann jedoch nicht entstehen, denn »nachmittags geht ein Zug« (V. 11). Die einsame Zeit im Speisesaal eines Hotels vertreibt sich das Ich mit dem Lesen, das geistigen Input liefert und zur Imagination anregt: »[I]ch esse vom Blatt.« (V. 21) Das Hotel wird zum Rückzugsort ins Innere, zu

55 56

Vgl. Erich Kästner: Herbst, vom Zug aus. In: Ders.: Werke, Bd. 1. Hg. von Franz Josef Görtz. Wien 1998, 339. Vgl. Kurt Tucholsky: Tourist. In: Ders.: Gedichte in einem Band. Hg. von Ute Maack und Andrea Spingler. Frankfurt a.M./Leipzig 2006, 704 f.

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einer »beleuchtete[n] und geheizte[n] Insel« (V. 41), die eine Auszeit von der lärmenden, kühlen Großstadt erlaubt (vgl. V. 34–37). Dass sein Schicksal kein Einzelfall ist, erkennt das Ich selbst: »Wieviel traurige Junggesellen sitzen um mich und tun / ebenso; wer bessert ihnen die Wäsche aus« (V. 22 f.)? Seine Bindungsunfähigkeit lässt sich also auch auf sein Single-Dasein und den Wunsch nach einer Liebesbeziehung übertragen. Außerdem wird die Lokomotive zum Symbol für das männliche Geschlecht und die unerfüllte Sexualität – denn das Ich sieht den Zug vom Aussichtspunkt der Stadt über die »geschwungenen Bogen des blanken Flusses« (V. 32) rutschen. Die personifizierte Großstadt präsentiert sich hier als verführerischer und rauschhafter Ort des »zeugende[n] Leben[s]« (V. 37) und befindet sich in ständigem Wandel: »Immer wird in der Stadt gehämmert und gebosselt, / geklopft und gestampft […]« (V. 34 f.). Die Dauerreise kann für die Suche des Ich nach seinem Platz bzw. nach »seine[r] eigene[n] Erde« (V. 45) innerhalb der Gesellschaft stehen, da es sich als junger Mensch selbst noch in einer transitorischen Lebensphase befindet. Der Tourist verkörpert also die typische Orientierungslosigkeit der Jugend in der Weimarer Republik, die »von einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Erwachsenenwelt und ihren Institutionen durchdrungen [war], die in Krieg, Revolution und Inflation ihre Autorität eingebüßt haben«.57 Eine weitere Sicht auf die Großstadt liefert das Gedicht Heimwärts nach Ladenschluß (1932)58 von Mascha Kaléko, bei dem eine unbekannte Sprechinstanz die allabendliche Heimfahrt mit der Straßenbahn beschreibt. Bevor die Bahn anrollt, warten die zahlreichen Pendler mit »Alltagssorgen in den Augen« (V. 3) und mit ihren »Stadtbahn-Monatskarten« (V. 4) an der Station. Das Innehalten setzt sich auch in der Straßenbahn fort, die sich »[f]auchend – wie ein Wüstenwind aus den Südsee-Kitschromanen« (V. 9) fortbewegt und »[n]aßkalt […] nach Warteraum« (V. 11) riecht. Diese Beschreibung stellt die Ambivalenz der Bahn heraus, die als aggressive Schlange zwar gefährlich erscheint, aber als exotisches Tier auch die Sehnsucht nach Abenteuern sowie nach dem Ausbruch aus dem monotonen Berufsalltag weckt. Während der Fahrt im Waggon imaginieren die müden Männer z.B. schon ihre heimische Ankunft (vgl. V. 13). Nach jedem ruckartigen Halt steigen neue Passagiere in die Bahn, während andere »entlassen« (V. 19) werden. Dieser Umstand verweist auf die Massenarbeitslosigkeit in der Weimarer Republik, die sich ab der Weltwirtschaftskrise 1929 noch verschärfte.59 Die Straßenbahn wird somit zum Bild für das sozioökonomische System, in dem die ›Ausgestiegenen‹ keinen Platz mehr haben. Die winterliche Landschaft sowie die öden Gebäude (vgl. V. 22, 26), spiegeln die allgemeine Trostlosigkeit und Armut der 57 58 59

Vgl. Streim: Literatur der Weimarer Republik (Anm. 53), 73, 77. Vgl. Mascha Kaléko: Heimwärts nach Ladenschluß. In: Dies.: Das lyrische Stenogrammheft. Kleines Lesebuch für Große. München 2016, 18 f. Vgl. Streim: Literatur der Weimarer Republik (Anm. 53), 75 f.

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Menschen wider, die »mitten durch den Großstadtleib« (V. 21) fahren. Das Streckennetz der Bahn wird damit zum Bild für das menschliche Nervensystem und Leben sowie für das Gesellschaftssystem. Eine gesellschaftskritische Position nimmt auch das Gedicht Holz- und Polsterklassenstaat (1928)60 von Erich Kästner ein, das sich auf die Abschaffung der preisgünstigen vierten Zugklasse vom 7. Oktober 1928 bezieht. Die Reichsbahn hatte sich für diese ökonomische Maßnahme entschieden, um der »Abwanderung [der Passagiere] in die unteren Wagenklassen«61 entgegenzuwirken. Die Unterteilung des Zuges in Klassen wird zum Bild für die Kluft zwischen Arm und Reich. Ein unbekannter Sprecher macht in ironisch-sarkastischem Ton auf diesen Missstand der Zweiklassengesellschaft aufmerksam und kritisiert das naive Volk, das sich ausbeuten lässt, da es den »Trick / der sozialen Innenpolitik« (V. 11 f.) nicht erkennt: »Was die Reichsbahn tut, ist wohlgetan. / […] Selbstverständlich ist der Spaß nicht billig. / Und man muß das Eintrittsgeld erhöhen. / Bitte sehr! Es wäre sonst zu schön! / Bitte sehr! Der Deutsche ist ja willig!« (V. 19–24) Der Sprecher kritisiert die unreflektierte und passiv-affirmative Haltung der Massen, die diese Maßnahmen »vollkommen in Ordnung finden« (V. 30). Dass dies jedoch keineswegs »in Ordnung« ist, illustriert dieser letzte Vers des Sextetts, das mit seiner Länge die bisherige Form sprengt und somit die Grenzüberschreitung versinnbildlicht. Auch Kästners berühmtes Eisenbahngleichnis (1931)62 ist ein politisches Gedicht, das von der ziellosen Reise eines kollektiven ›Wir‹ handelt. Weder die Passagiere noch der Schaffner kennen die genaue Fahrtrichtung, weshalb der Zug end- und sinnlos »durch die Jahre jagt« (V. 9). Obwohl eine Bewegung stattfindet, wird kein Fortschritt ersichtlich. Alle Reisenden scheinen in der Monotonie der Abläufe gefangen und lethargisch vor sich hin zu leben: »Wir packen ein. Wir packen aus. / Wir finden keinen Sinn.« (V. 11 f.) Ihre Reise scheint entfunktionalisiert und hat ihre Faszination zugunsten von Gleichförmigkeit und Uniformität eingebüßt – genauso wie auch die Lebensläufe der Passagiere. Ferner wird die Unterteilung des Zuges in Holz- und Polsterklasse metaphorisch auf den Klassengegensatz übertragen: »Die I. Klasse ist fast leer. / Ein feister Herr sitzt stolz / im roten Plüsch und atmet schwer. / Er ist allein und spürt das sehr. / Die Mehrheit sitzt auf Holz.« (V. 26–29) Trotz dieser Ungerechtigkeit verharren alle Fahrgäste in orientierungsloser Haltung und stellen resignierend fest: »Wir sitzen alle im gleichen Zug / und viele im falschen Coupé« (V. 34 f.). Dies kann als indirekter

60 61 62

Vgl. Erich Kästner: Holz- und Polsterklassenstaat. In: Ders.: Werke, Bd. 1 (Anm. 55), 322 f. Eberhard Kolb: Eisenbahnbetrieb in der Ära der Reichsbahn-Gesellschaft. In: Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Lothar Gall und Manfred Pohl. München 1999, 146. Vgl. Erich Kästner: Das Eisenbahngleichnis. In: Ders.: Werke, Bd. 1 (Anm. 55), 209 f.

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Appell an den Leser verstanden werden, der sozialen Ungerechtigkeit entgegenzuwirken. Während die einen im Zug nicht am richtigen Platz sitzen, müssen die anderen auf eine Reise verzichten. Wie im Folgenden gezeigt wird, spielen auch besonders die Nicht-Reisenden in der neusachlichen Eisenbahnlyrik eine zentrale Rolle. 2.2. Verhinderte Zugreisen – Von der Schienen-Sehnsucht oder Wenn einer fortfährt… In der Ballade auf die Züge (1931)63 von Wolfgang Hellmert wendet sich ein sterbendes lyrisches Ich in direkter Ansprache an Gott und bittet ihn um eine letzte »Ausfahrt ans Meer« (V. 12). Das Ende seiner navigatio vitae stellt einen individuellen und einschneidenden Wendepunkt dar, der das Ich zur Selbstreflexion, zur Erinnerung und zum Gebet einlädt. Es findet keine physische, sondern eine Gedankenreise statt und die Eisenbahnfahrt fungiert innerhalb des Gedichts als Sinnbild für das allgemeine Dasein: »Die Züge sind unzählig« (V. 1). Der mehrdeutige Begriff ›Züge‹ im ersten Vers kann daher sowohl mit dem Transportmittel als auch mit dem Vorgang des Atmens assoziiert werden. Wie bereits an anderer Stelle beobachtet, spielt die Eisenbahnlyrik häufig mit der Polysemie dieses Begriffs oder weiteren Redewendungen aus dem Bahnbetrieb. Die dynamische Bewegung, die sowohl für den Atem als auch die Bahn charakteristisch ist, wird auf formaler Ebene durch den regelmäßigen jambischen Dreiheber realisiert. Die ›Züge‹ scheinen in Anlehnung an die im Gedichttitel erwähnte Ballade also regelrecht zu tanzen und werden damit nicht nur als existenzielle, sondern auch als künstlerischpoetische und schöpferische Triebkräfte ausgewiesen. Hier scheint der euphorische Aufbruchswille der expressionistischen Texte nachzuwirken. Die festliche und vitalistische Darstellung der Eisenbahn ergänzt das Ich noch durch eine göttliche Dimension, indem es den Zug über die ihm »geweiht[e]« (V. 6) Natur stellt. Der Sprecher grenzt sich dadurch von den Technik-Kritikern des 19. Jahrhunderts ab (vgl. V. 5) und reflektiert seine eigene Vergangenheit sowie Entwicklung, indem es in den ersten beiden Quartetten auf den Technik-Diskurs rekurriert. So habe der Zug sein »Herz […] selig / Und das Auge groß gemacht« (V. 3 f.), d.h. eine Horizonterweiterung oder gar eine gesteigerte Reiselust bewirkt. Zudem scheint das Ich während des Gebets eine Zugfahrt zu imaginieren, denn die elliptische Reihung von Naturbildern spielt in der letzten Strophe auf den panoramatischen Blick an: »Die großen Berge. Und Bäume« (V. 13). Der rhythmische Bruch innerhalb dieses Verses kündigt bereits den stockenden Atem bzw. den nahenden 63

Vgl. Wolfgang Hellmert: Ballade auf die Züge. In: Ders.: Lyrik und Prosa. Gerbrunn/Würzburg 1980, 43.

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Tod des Ich an. Auch auf inhaltlicher Ebene wird dies deutlich, da die Landschaftsbilder wie letzte Erinnerungen vorm inneren Auge des Ich vorbeiziehen und abrupt in die leuchtende Erscheinung Gottes münden (vgl. V. 14). Die Eisenbahnreise versinnbildlicht so die Bewegung für die ins Jenseits transzendierende Seele. Dass sich dieser Übergang sanft und glücklich vollzieht, implizieren die letzten Erlösungswünsche des Ich nach »Frieden« (V. 19) und »Schlaf« (V. 20), das sich – um es mit dem letzten Wort des Gedichts zu sagen – »nichts« (V. 21) weiter mehr wünscht. Eine (öko-)kritische Sicht auf die Technik eröffnet hingegen das Gedicht Arm Kräutchen (1931)64 von Joachim Ringelnatz, das vom sehnsüchtigen Reisewunsch einer personifizierten Pflanze handelt, die in transitorischer Position »auf dem Damm / […] zwischen Bahngeleisen« (V. 1 f.) steht. Ein unbekanntes lyrisches Ich berichtet in der Vergangenheit von diesem ›armen‹ Sauerampfer, mit dem es sympathisiert. Aufgrund seiner statischen Position grenzt sich das Kraut von den Reisenden ab, die es lediglich beobachtet (vgl. V. 4). Die verpestete Luft der vorbeifahrenden Dampfloks macht die Heilpflanze krank: »Und stand verstaubt und schluckte Qualm / Schwindsüchtig und verloren« (V. 5–7). Der regelmäßige Jambus sowie die Parallelismen und Wiederholungen in der letzten Strophe zeigen den monotonen Alltag des Kräutchens an, das physisch an seinen Platz gebunden und somit unfrei ist: »Sah Züge schwinden, Züge nahn. […] / Sah Eisenbahn um Eisenbahn« (V. 9–11). Besonders hier wird der Eingriff der dominanten Eisenbahn in die Natur und somit die negative Wirkungsmacht der Maschine deutlich. Wie ein Soldat steht der Sauerampfer bei jedem vorbeifahrenden D-Zug »stramm« (V. 3), wodurch eine gesellschaftskritische Lesart möglich wird. Das gewöhnliche Kraut kann nicht nur für die beherrschte Natur, sondern auch allegorisch für die ›kleinen Leute‹ stehen, die dem monotonen Alltag sowie den (kriegs-)politischen und technischen Entwicklungen ihrer Zeit ohnmächtig gegenüberstehen. Selbst der sehnsüchtige Wunsch des Individuums nach Weltflucht, Freiheit sowie nach künstlerisch-produktiver Selbstentfaltung – der sich im imaginierten Bild des »Dampfer[s]« (V. 12) bündelt – bleibt stets unerfüllt. Damit sind dem vereinzelten und fremdbestimmten Individuum alle Reiseformen und Handlungsspielräume verwehrt. Der Einbruch der Eisenbahn in die natürliche Umgebung, wird auch in Oskar Loerkes Gedicht Kleiner Bahnhof (1934)65 zum Thema: »Geranienkübel blühn an Eisenträgern, / Vom Kohlerauch des Kessels plump umarmt.« (V. 7 f.) Selbst die

64 65

Vgl. Joachim Ringelnatz: Arm Kräutchen. In: Ders.: Auf einmal steht es neben dir. Gesammelte Gedichte. Berlin 1950, 241. Vgl. Oskar Loerke: Kleiner Bahnhof. In: Ders.: Gedichte und Prosa, Bd. 1. Hg. von Peter Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1958, 252.

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Tiere fliehen vor den schnellen Zügen bzw. vor ihren »Jägern« (V. 9). Der anonyme Sprecher schildert zudem in distanzierter Haltung seine Beobachtungen am menschenleeren Provinzbahnhof. Da die Kellnerinnen dort »in den leeren Wartesälen« (V. 2) keine Kundschaft haben, verbringen sie ihre Zeit mit Lesen und Stricken. Sie werden jedoch von den »eisernen Signalen« (V. 4) gestört. Die Stille auf dem Land wird also lediglich durch den rasenden Zug unterbrochen, der auch einen »Luftzug« (V. 1) erzeugt: »[V]orher schweigt der Bahnhof klein am Wege, / Da pulst ein Hauch wie Herzschlag herrenlos« (V. 17 f.). Die für die Modernisierung stehende Eisenbahnfahrt erscheint metaphorisch als Atmung und Puls bzw. als existenzielle Antriebskraft des Menschen, die klanglich durch die Alliteration evoziert wird. Der Sprecher bewertet den Fortschritt jedoch kritisch, da die Provinz zugunsten der Großstadt unterdrückt wird. Diese Verdrängung regionaler Eigenheiten ist Folge der Modernisierung und hängt auch mit der Entindividualisierung und Anonymität des Individuums in der Großstadt zusammen: »Nicht mehr der einzelne Mensch steht im Mittelpunkt, sondern urbane Gebilde, Metropolen, mit denen ihnen eigenen Bewegungsmustern«.66 In der Großstadt hat sich die Eisenbahn bereits als alltägliches Verkehrsmittel etabliert, tritt in den 1920er Jahren jedoch in Konkurrenz zum Automobil bzw. zum Individualverkehr. Dies wird im Gedicht Schienen-Sehnsucht67 (1932) von Mascha Kaléko deutlich, da das lyrische Ich eine große Vorliebe für Schnellzüge hegt und sich daher von jenen abgrenzt, die »nur schnittige Achtzylinder« (V. 3) bzw. Automobile favorisieren. Das Ich ist von einem vorbeifahrenden Schnellzug fasziniert, der wie eine ›rauchgraue‹ Schlange (vgl. V. 7) aussieht. Auch das zischende Fahrtgeräusch erinnert an das züngelnde Tier und wird auf klanglicher Ebene – z.B. im Gedichttitel – mithilfe von s-, sch- sowie ts-Lauten realisiert. Als unerreichtes Wunsch- und Traumbild löst die Eisenbahn beim Ich stets eine starke Melancholie aus: »Ich kann auf keinem Bahnsteig der Welt / Mit kühlen Gefühlen stehen / Ich kann nicht, wenn wo ein Expreßzug hält, / Ganz sachlich vorübergehen« (V. 9–12). Die Emotionalität des Sprechers kollidiert hier mit dem neutralen Sprachgestus und macht auf seine innere Zerrissenheit aufmerksam. Das Oxymoron »kühle[] Gefühle[]« (V. 10), das gleichzeitig durch den Schlagreim betont wird, hebt dieses Spannungsverhältnis besonders hervor. Das Ich kann sich weder ein Auto noch ein Zugticket leisten, »weil es wieder einmal nicht reicht« (V. 14). Nicht nur die individuelle Bewegungsflexibilität des Autos, sondern auch die kollektive Zugfahrt bleiben ihm also verwehrt. Stattdessen kann es mit dem Bus fahren – allerdings nur in den südlichen Berliner Stadtteil Steglitz – und reist auch hier allein (vgl. V. 9). Die geographische Gebundenheit versinnbildlicht seine individuelle und kollektive Unfreiheit, und die erträumte Reise stellt einen alternativen 66 67

Keller/Siebers: Reiseliteratur (Anm. 1), 121. Vgl. Mascha Kaléko: Schienen-Sehnsucht. In: Dies.: Das lyrische Stenogrammheft. (Anm. 58), 54.

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Lebensentwurf sowie eine (Welt-)Fluchtmöglichkeit aus dem Alltag dar. Gleichzeitig verkörpert sie den Wunsch des Ich nach emotionaler Nähe. So fährt es nicht nach Paris, da es dort keine Liebe oder Geborgenheit finden kann: »Ich wusste ja ohnedies: / Es wartet niemand in dieser Stadt / Und niemand an ihrer Bahn« (V. 20–22). Es möchte am liebsten an einen Ort reisen, »wo man Sehnsucht nach [ihm] hat« (V. 23). Dabei deutet sich eine geographische Trennung zwischen dem Ich und einer geliebten Person an. Assoziiert man das neutrale Indefinitpronomen ›man‹ mit dem gleich klingenden Begriff ›Mann‹, wird auch eine genderbezogene Lesart möglich. Die ausgegrenzte Position des weiblichen Ich, dem das »individuelle und Neuland entdeckende Reisen«68 – im Gegensatz zum Mann – vorenthalten bleibt, eröffnet demnach eine kritische Sicht auf das Patriarchat. Dass das avisierte Wunschziel auf ewig unerreichbar bleibt, da es »nicht im Reichs-Fahrplan« (V. 24) steht, muss das desillusionierte Ich resignierend hinnehmen. Die ungleichen Geschlechterverhältnisse thematisiert Mascha Kaléko ebenfalls in ihrem Gedicht Wenn einer fortgeht… (1934).69 Dort stellt sie die unsteten und prekären (Liebes-)Beziehungen der Moderne in den Fokus. In nüchterner und verallgemeinerter Weise wird zunächst ein Abschiedsmoment am Bahnhof zwischen anonymen Personen geschildert, die ihre Traurigkeit »so gut es geht« (V. 2) mit einem Lächeln überspielen. Der wiederkehrende und refrainartige Titel zu Beginn der fünf Quartette deutet darauf hin, dass es sich um eine Fernbeziehung handelt, bei der sich die Abschiede ständig wiederholen. Dass die Abreise jederzeit auch zur endgültigen Trennung werden kann, schwingt im »Schluß-Imperativ« (V. 20) der Abschiedsformel »lebe wohl!« (ebd.) mit. Während der Trennung ist dieser Gruß als Aufforderung zu verstehen, und man muss sich bis zum nächsten Wiedersehen gedulden: »Ein schweres Verbum ist das Wörtchen ›warten‹« (V. 19). In dieser Übergangsphase bleibt die Partnerin zuhause, während der Mann verreist: »Wenn einer fortfährt, steht man zwischen Zügen, / Und drin sitzt der, um den sich alles dreht« (V. 5 f.). Die inferiore Stellung der Frau wird indes an ihrer passiven Warteposition deutlich. Ihr bleibt die physische Reise verwehrt, weshalb sie lediglich ihre Gedanken sowie ihr »Herz auf Reisen« (V. 9) schicken kann. Wie der Partner werden auch der »Sehnsucht Außenstände […] / Mit einem D-Zug davongeweht« (V. 3 f.). Indem der emotionale Begriff ›Sehnsucht‹ mit dem wirtschaftlichen Begriff ›Außenstände‹ kollidiert, der auf Geldschulden verweist, wird auf die finanzielle und emotionale Abhängigkeit der Frau aufmerksam gemacht. Die Fernbeziehung ruft bei ihr starke emotionale und körperliche Reaktionen hervor: »Wenn einer fortgeht, braucht man nichts zu essen, / Man wird so leicht vom Tränenschlucken satt« (V. 15 f.). Auch die psychische Belastung kann 68 69

Johannes Pankau: Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit. Darmstadt 2010, 32. Vgl. Mascha Kaléko: Wenn einer fortgeht… In: Dies.: Das lyrische Stenogrammheft (Anm. 58), 135.

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nur schwer überwunden werden, denn es besteht die ständige Gefahr zu »entgleisen« (vgl. V. 11), d.h. in eine Depression zu verfallen und den Alltag nicht mehr bewältigen zu können. Die Eisenbahnreise steht also nicht nur für die unerfüllten Sehnsüchte der Frauen, sondern auch für ihre eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten. Durch die Betonung des ungleichen Geschlechterverhältnisses wird implizite Kritik am traditionellen Rollenbild geübt. Die Frau beklagt sogar selbst ihre Situation: »Man könnte dieses ›alles‹ anders fügen« (V. 7). Sie sucht deshalb nach Lösungs- und Überwindungsstrategien und tritt aus ihrer passiven Rolle heraus. Sie setzt sich schreibend bzw. »stumm« (V. 12) mit ihrer Lage auseinander, so dass jeder Tag zum »Erinnerungsblatt« (V. 14) wird. Die schriftliche Kommunikation vermag die physische Trennung zu überbrücken, sobald man sich z.B. »Ansichtskarten / Und ab und zu mal einen dicken Brief« (V. 17 f.) schickt. Der Schreibprozess hat somit therapeutische Funktion und stellt einen emanzipatorischen Akt dar, der ihr zur aktiven Selbstbestimmung verhilft. Dies spiegelt die Emanzipation der Frau in der Weimarer Republik wider, die als Angestellte z.B. verstärkt für Verlage oder Journale arbeitete, »da sich auch die Rezipientengruppen zunehmend ›verweiblichten‹ und eigene Genres für Leserinnen entstanden«.70 3. Fazit Die Fahrt mit der Eisenbahn fungiert als »die eigentliche Grundsituation des Lebens: Bewegung und Wechsel«71 und steht daher nicht nur für den Fortschritt, sondern auch für Umbrüche oder Zerstörungen. Neben punktuellen Reisemomenten kann die Zugfahrt aber auch die »vergehende (Lebens-)Zeit«,72 die menschlichen Entwicklungsstufen (z.B. Adoleszenz oder Tod) sowie das Dasein als solches skizzieren. Da der Zug als »Vehikel des Kollektiven«73 eng mit politischen, technischen und sozioökonomischen Fragestellungen verknüpft ist, spiegelt er Tendenzen des Zeitgeists der Zwischenkriegszeit wider und kann als bestimmendes Phänomen der Moderne gelten. Gleichzeitig bezieht sich die neusachliche Eisenbahnlyrik auf die individuelle (Lebens-)Situation der Reisenden und illustriert indes die Wechselwirkung zwischen Individuum und Kollektiv, weshalb in den Gedichten besonders das »Verhältnis von Masse und Individuum, Mensch und Technik, Stadt und Land«74 im Fokus steht. Da die Passagiere im Zug in Klassen unterteilt sind, bietet sich die Eisenbahn für die Darstellung der hierarchisierten Gesellschaft an 70 71 72 73 74

Pankau: Literatur der Neuen Sachlichkeit (Anm. 68), 33. Gerhard Rademacher: Technik und industrielle Arbeitswelt in der deutschen Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts. Versuch einer Bestandsaufnahme. Frankfurt a.M. 1976, 37. Rolf Parr: Eisenbahn/Lokomotive/Zug. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. 2., erweiterte Auflage. Stuttgart 2012, 90. Ebd. Heinimann: Technische Innovation (Anm. 10), 336.

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und illustriert daher nicht nur die soziale Schere, sondern verweist auch auf die finanziellen Nöte während der Krisenjahre der Weimarer Republik. Der Ausstieg aus dem Zug kann ferner mit dem Ausschluss aus dem Berufsalltag assoziiert werden, der wiederum auf die verschärfte Massenarbeitslosigkeit um 1930 verweist. Indem der Weg des Zuges durch die geradlinigen Schienen vorbestimmt ist, kann die Zugfahrt außerdem als Sinnbild für den vorstrukturierten und monotonen Lebensalltag dienen – an dem sie selbst großen Anteil hat. Die nunmehr uniformierte und alltägliche Bahnreise verliert jedweden Anreiz. Dies gilt auch für die unspektakulären Lebensverläufe der rastlosen Menschen, die ihre Individualität im schnelllebigen Alltag der Großstadt einbüßen. In den Eisenbahngedichten lässt sich diese Ich-Dissoziation auch durch den Rückzug des lyrischen Ich zugunsten eines kollektiven ›Wir‹ oder ›man‹ beobachten. Die passiven Fahrgäste können nicht nur die unterhaltungssüchtige Massenkultur verkörpern, sondern auch für die orientierungslose Jugend in der Weimarer Republik stehen. Obwohl in den Gedichten diese kritische Sicht auf die Eisenbahnreise überwiegt, ist sie dennoch mit positiven Assoziationen verknüpft und fungiert demnach als polyvalentes Symbol. So strahlt die dynamische Zugfahrt besonders eine Faszination für diejenigen aus, denen eine physische Reise verwehrt bleibt. Als (imaginierter) Ort der Sehnsucht stellt die Eisenbahn für diese Nicht-Passagiere eine Fluchtmöglichkeit aus dem eingeschränkten Alltagsleben in Aussicht und fungiert als Projektionsfläche für unerfüllte Wünsche. Die Zugreise steht daher metaphorisch für die individuelle Selbstbestimmung und -entfaltung, zumal sie den Reisenden eine große (Bewegungs-)Freiheit ermöglicht. Damit gilt sie nicht nur als Symbol für alternative Lebensentwürfe und Handlungsoptionen, sondern auch für die Emanzipation der Neuen Frau. Dass die Nicht-Passagiere allerdings von der Fahrt ausgeschlossen sind, favorisiert ihren Rückzug ins Innere und weist zusätzlich auf ihre soziale Ausgrenzung und Einsamkeit hin. Daher sehnt sich das vereinzelte Individuum der Moderne nach emotionaler Nähe und Zuneigung. Diese innere Destabilisierung und Zerrissenheit des Menschen lässt sich metaphorisch auch auf die politische Staatskrise der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre übertragen. In dieser provisorischen ›Durchgangsepoche‹ zwischen den Weltkriegen scheint die Eisenbahn ein paradigmatisches Medium zu sein, da sie sich als Durchgangs- bzw. Transit-Ort besonders dazu eignet, das Lebensgefühl dieser Zeit zu versinnbildlichen.75

75

Vgl. Wilhelmer: Transit-Orte (Anm. 7), 309.

Zur Eisenbahnlyrik zwischen den Weltkriegen

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Damals wie heute gehört der Zug zu den zentralen Massenverkehrsmitteln und befördert im Durchschnitt allein in Deutschland rund 12,8 Millionen Menschen pro Tag.76 Künftig wird daher zu klären sein, inwiefern sich das Eisenbahngedicht weiterhin verändert hat und welche Funktionen der Eisenbahnreise in der aktuellen Literatur zukommen. Außerdem sei auf das große didaktische Potenzial der Eisenbahnlyrik hingewiesen, die zahlreiche Anreize für den Einsatz im Schulunterricht bietet.

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Deutsche Bahn AG: Daten und Fakten. In: https://www.deutschebahn.com/resource/blob/ 3992278/1d136e983334750ef4f24072d49c7cdf/20190325_bpk_2019_daten_fakten-data.pdf; letzter Zugriff: 13.05.2019.

Postkartenpoetik Richard Dehmels epigrammatisches Reisegedicht Eine Rundreise in Ansichtspostkarten (1906) JULIA ILGNER Ein Blick in ausgewählte lyrische Italienanthologien der letzten Dekaden zeigt, dass der heute weitgehend vergessene, zu Lebzeiten jedoch antonomastisch als »neue[r] Goethe«1 apostrophierte Dichter Richard Dehmel (1863–1920) offenbar nach wie vor als repräsentativer Vertreter italophiler Panegyrik um 1900 gilt.2 Vergleicht man allerdings die im Einzelnen wiedergegebenen Verse, so erweisen sich diese bei näherer Betrachtung allesamt als verschiedene Strophen ein und desselben Langgedichts, nämlich des im ersten Quartalsheft der Neuen Rundschau von 1906, der führenden Kulturzeitschrift des liberalen Bürgertums, publizierten Epigrammzyklus Eine Rundreise in Ansichtspostkarten,3 ohne dass der publizistische Kontext in den anthologischen Sammlungen jedoch eigens ausgewiesen wäre. Was im lyrischen Hausschatz für eine interessierte Laienleserschaft noch verzeihlich erscheinen mag, 1

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3

Vgl. Adolf Bartels: Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen. Neue erw. Ausg. 2. Auflage. Leipzig 1899 [1897], 164, der sich in ambivalenter Wertung Dehmels an dieser Zuschreibung abarbeitet. Die literaturhistorische Stellung Dehmels zu Beginn des 20. Jahrhunderts skizzieren auch Barbara Beßlich: »Corrector Germaniae«. Naturalismus-Kritik, Schönheitsstreben und Nationalpädagogik bei Richard Dehmel. In: Nichts als die Schönheit. Ästhetischer Konservativismus um 1900. Hg. von Jan Andres, Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann. Frankfurt a.M. u.a. 2007, 146–165, hier 146–148; sowie Helmut Scheuer: Richard Dehmel. In: Deutsche Dichter. Hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. 8 Bde. Bd. 6: Realismus, Naturalismus und Jugendstil. Stuttgart 1989, 368–375, hier 368, demzufolge »Dehmel […] tatsächlich vor dem Ersten Weltkrieg der berühmteste deutsche Dichter [war]«. Für ihre engagierte Diskussion und die gemeinsame intertextuelle Spurensuche bin ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Forschungskolloquiums von Kai Bremer an der Universität Osnabrück, insbesondere Katja Barthel und Maike Schmidt, verbunden. Achim Aurnhammer danke ich für seine kritische Durchsicht sowie den Hinweis auf Paul Heyses lyrische Städtebilder (1880). Vgl. Italien im deutschen Gedicht. Gesammelt, geordnet und hg. von Werner Riemenschmid und Karlheinz de Bruyn. Leipzig 1943, 17, 36, 43, 68, 71, 72, 74, 100; Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn. Italien im deutschen Gedicht. Hg. von Peter Hamm. Frankfurt a.M. 1987, 125; Italien-Dichtung. 2 Bde. Bd. 2: Gedichte von der Klassik bis zur Gegenwart. Hg. von Gunter E. Grimm. Stuttgart 1988, 239 f.; Italien. Eine Reise in Gedichten. Hg. von Dietrich Bode. Überarb. Ausg. Stuttgart 2016 [2004], 81; sowie zuletzt »Auch ich in Arkadien!« Deutsche Italiengedichte von Goethe bis George. Hg. von Yvonne-Patricia Alefeld, Gunter E. Grimm und Katharina Junk. Darmstadt 2011, 167–170. Richard Dehmel: Eine Rundreise in Ansichtspostkarten. In: Die Neue Rundschau 17 (1906), H. 1, 232–244. Im Folgenden zitiere ich unter Angabe des Initialkürzels ›RA‹ und der Seitenzahl im Fließtext.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_14

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wird spätestens dann zum Problem, wenn es sich als unkommentierte Dekontextualisierung in der Forschung fortsetzt.4 Denn die isolierte Betrachtung einzelner Strophen verkennt häufig nicht nur die satirisch-polemische Intention sowie die intertextuelle Dialogizität der Rundreise, sondern auch die hochgradig innovative Gestaltung des epigrammatischen Zyklus nach dem Formmodell der Ansichtspostkarte, welche die spezifische Anlage des damals hochmodernen postalischen Korrespondenzmittels als bikodales Medium mit Text- und Bildkomponente sowie die phatische Funktion als Beziehungskommunikat ästhetisch reflektiert und dessen Transposition in den Modus gebundener Sprache erprobt. Dehmel, so die These des im Folgenden unternommenen Deutungsvorschlags, nutzt die gestalterisch attraktive wie modisch-populäre Formvorlage des neuen postalischen Leitmediums, das die philologische Forschung erst für die Lyrik nach 1945 zum Gattungsmodell erhob,5 um das angesichts eines von Peter J. Brenner schon früh proklamierten Funktionsverlusts reiseliterarischer Dichtung6 vermeintlich überkommene Genre apodemischer Poesie unter Rekurs auf die bestehende Tradition zu erneuern und dadurch eine Möglichkeit der generischen Fortschreibung aufzuzeigen. Als zentral erweist sich dabei insbesondere das dialogische Moment, das Dehmel im Gedicht potenziert: Während er auf inhaltlich-diegetischer Ebene das kommunikative Muster aufnimmt und das lyrische Ich in einen – wenn auch einseitigen – Austausch mit der impliziten Empfängerin treten lässt, eröffnet er auf sprachästhetischer Ebene einen komplexen intertextuellen Dialog mit ausgewählten reiseliterarischen Vorgängern wie Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Ludwig Tieck oder August von Platen sowie zeitgenössischen Dichtern wie Hugo von Hofmannsthal oder Stefan George.

4 5

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Vgl. exemplarisch Pascal Cziborra: Lagunenlyrik. Venedig im Spiegel der Dichtung. Eine Studie zur europäischen Literaturgeschichte. Hamburg 2009, 52 f. sowie Anm. 134 im vorliegenden Beitrag. So wurde der Gattungsbegriff verschiedentlich auf Autoren wie Günter Eich oder Peter Rühmkorf sowie auf Vertreter der Konkreten Poesie appliziert. Vgl. etwa Ulrich Ernst: Intermedialität im europäischen Kulturzusammenhang. Beiträge zur Theorie und Geschichte der visuellen Lyrik. Berlin 2002, 259. Eine systematische Betrachtung und damit eine normative Definition des Subgenres steht allerdings m.W. bislang noch aus. Einen interessanten Anachronismus eröffnet auch ein Blick auf die gegenwartsliterarische Lyrikproduktion, die zeigt, dass das Genre ausgerechnet in Zeiten, in denen das Medium Postkarte längst von neueren Kommunikationsformen verdrängt worden ist, offensichtlich wieder an Interesse gewinnt, wie Norbert Hummelts Gedicht feldpostkarte aus dem Band pans stunde (2011) belegt, das die Postkartenthematik am Beispiel einer ›Feldpostkarte‹ aus dem Kriegswinter 1943 verhandelt. Vgl. Peter J. Brenner: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reisens. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hg. von dems. Frankfurt a.M. 1989, 14–49, hier 38.

Dehmels Reisegedicht Eine Rundreise in Ansichtspostkarten

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Dehmels Postkarten-Zyklus ist bislang lediglich punktuell im Kontext der zumeist älteren biographischen oder werkgeschichtlichen Autorenforschung7 sowie jüngerer stoff- bzw. mythogenetischer Studien8 betrachtet worden. Allein Éva Kocziszky hat im Zuge ihrer systematischen Erforschung einer Archäologischen Dichtung der Moderne (2015) die »ganz besondere Erfindung«, die aus der »enge[n] Verbindung zwischen einem Gedichttext und einer bebilderten Postkarte« resultiert, erkannt.9 Da jedoch weder die konkreten Entstehungsbedingungen noch der realhistorische Hintergrund des Gedichts bei den bisherigen analytischen Zugriffen berücksichtigt wurden, sollen im Hinblick auf das Verständnis der Dehmel’schen Gattungsinnovation zunächst die faktualen Grundlagen (1.) der verhandelten Reise(n) im Verhältnis zur mutmaßlichen Textgenese (2.) rekonstruiert werden. Daran anschließend versucht eine gezielte Gattungsanalyse anhand paradigmatischer Parameter aufzuzeigen, inwiefern Dehmel sich mit seiner versifizierten ›Grand Tour‹ in die bestehende Tradition der deutschsprachigen Reiselyrik einschreibt (3.), wobei dem präsumierten Vorbild, der Ansichtspostkarte (3.1.), sowie der epigrammatischen Struktur des Zyklus (3.2.) besondere Berücksichtigung zuteil werden. Um die spezifische Funktionalisierung dieses medialen Adaptationsverfahrens im Modus der Intertextualität (4.) verständlich zu machen, gilt das Interesse schließlich exemplarischen Analysen einzelner reiseliterarisch präfigurierter und mithin hochsemantisierter Stationen der italienischen Route (5.).10 7

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Vgl. die nach wie vor maßgebliche Dehmel-Biographie Julius Babs: Ders.: Richard Dehmel. Die Geschichte eines Lebens-Werkes. Leipzig 1926, 235–238; die knappe Verortung im Kontext des Gedichtbands Weib und Welt (EA 1896) bei Paul vom Hagen: Richard Dehmel. Die dichterische Komposition seines lyrischen Gesamtwerks. Nendeln in Liechtenstein 1967 [EA Berlin 1932], 145; sowie in jüngerer Zeit Matthias Wegner: Aber die Liebe. Der Lebenstraum der Ida Dehmel. München 2000, 223–227. In der maßgeblichen neueren Arbeit zu Dehmels lyrischem Frühwerk, Björn Spiekermanns Heidelberger Dissertationsschrift, findet der Zyklus hingegen keine Erwähnung.Vgl. ders.: Literarische Lebensreform um 1900. Studien zum Frühwerk Richard Dehmels. Würzburg 2007. So hat insbesondere die Strophe Punta della Salute im Kontext der deutschen Venedigdichtung Würdigung erfahren. Vgl. Angelika Corbineau-Hoffmann: Paradoxien der Fiktion. Literarische Venedig-Bilder. 1797–1984. Berlin u.a. 1993, 521, Anm. 338; Cziborra: Lagunenlyrik (Anm. 4), 52 f., Christiane Schenk: Venedig im Spiegel der Décadence-Literatur des Fin de siècle. Frankfurt a.M. u.a. 1987, 432–435; sowie Thea von Seuffert: Venedig im Erlebnis deutscher Dichter. Köln u.a. 1937, 135 f. Die jüngeren Studien von Julia Reimann (Dies.: Venedig ist ein poetisches Wunder. Eine Studie zur Rezeption der venezianischen Renaissancemaler Tizian, Tintoretto und Veronese in der deutschen Literatur. Marburg 2010) und Dorothea Volz (Dies.: SchauSpielPlatz Venedig. Theatrale Rezeption und performative Aneignung eines kulturellen Imaginären um 1900. Bielefeld 2018) berücksichtigen Dehmel hingegen nicht. Vgl. Éva Kocziszky: Das fremde Land der Vergangenheit. Archäologische Dichtung der Moderne. Köln/Weimar/Wien 2015, 50–58, hier 51. Dass Kocziszky in titelverfälschender Abbreviatur von »Postkarten« spricht, schmälert nicht die literaturhistorische Relevanz ihres Befunds. Vgl. außerdem den themenverwandten Beitrag von Olga Bezantakou im vorliegenden Band. Die Favorisierung italienischer Orte wie Mailand, Florenz oder Venedig, die mit insgesamt 27 Strophen den Hauptteil des Zyklus ausmachen, gegenüber den 17 griechisch-antiken Stationen,

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Julia Ilgner 1. Reale Reise und fingierte Reise

Um dem Grad der dichterischen Überformung der Rundreise in Ansichtspostkarten gerecht zu werden, ist es unerlässlich, der eigentlichen gattungsästhetischen Analyse des Epigrammzyklus eine Rekonstruktion der faktischen Reise(n) Dehmels voranzustellen. Denn ein Abgleich mit den tatsächlich unternommenen Fahrten ins ›Land der deutschen Sehnsucht‹ (Weber) zeigt, dass entgegen landläufiger Annahmen einer analogen Versifizierung des real verbürgten Reiseerlebnisses11 die lyrisch evozierte Reise so realiter niemals stattgefunden hat. Stattdessen gehen mindestens zwei unterschiedliche Italien- bzw. Griechenlandfahrten in den Zyklus ein, singuläre Reiseerlebnisse anderer Provenienz nicht mit eingerechnet:12 Dehmels erste vierwöchige Italienfahrt, zu welcher dieser sich in Folge eines psychischen Zusammenbruchs im Winter 1893 veranlasst sah,13 die aber hinsichtlich Route und Bildungserlebnis noch am ehesten einer klassischen Kavalierstour entsprach, sowie eine ausgedehnte zweite Italien- und Griechenlandreise, die der Dichter in Begleitung seiner zweiten Frau Ida Auerbach (geb. Coblenz) – einstmalige Muse seines poetischen Intimfeinds Stefan George – im Frühjahr 1900 unternahm.14 Während Dehmels erste

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darunter Olympia, Mykene, Athen und Delphi, ist im vorliegenden Fall vor allem dem Umstand geschuldet, dass Dehmel der klassischen Antike zeitlebens distanziert gegenüberstand. Vgl. dazu Bab: Dehmel (Anm. 7), 148; sowie Emil Ludwig: Richard Dehmel. Berlin 1913, 31 f. Zudem hat Éva Kocziszky: Land (Anm. 9) im Abgleich mit Dehmels Korrespondenz an Harry Graf Kessler oder Joseph August Beringer ausgewählte griechische Stationen unter dem Aspekt einer impliziten Archäologiekritik anti-akademischer Stoßrichtung einer überzeugenden Analyse unterzogen. Dies suggeriert etwa Bab: Dehmel (Anm. 7), 235. Noch 2009 folgt Marek Fiałek in seiner Studie einem primär autobiographischen Interpretament, indem er den Zyklus als unmittelbares »Ergebnis dieser Reise« begreift (ders.: Dehmel, Przybyszewski, Mombert. Drei Vergessene der deutschen Literatur. Mit bisher unveröff. Dokumenten aus dem Moskauer Staatsarchiv. Berlin 2009, 59). Und auch Kocziszky: Land (Anm. 9) führt lediglich die Griechenlandreise von 1900 als Vorbild für den Postkartenzyklus an. Dass mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Erfahrungen anderer Reisen produktiven Eingang in den Verszyklus fanden, legt Babs Erwähnung eines nicht edierten »enthusiastischen Brief[s]« über den Rheinfall von Schaffhausen an die Brüder Julius und Heinrich Hart nahe. Vgl. Bab: Dehmel (Anm. 7), 236. Dehmels Nervenleiden hatte seinen Ursprung in dem für ihn seit Jahren unerträglichen Anstellungsverhältnisses bei der Privaten Feuerversicherungs-Gesellschaft in Berlin und den damit verbundenen häuslichen Sorgen als Haupternährer seiner Familie, die es ihm unmöglich machten, seinen dichterischen Ambitionen nachzugehen. Er brach symbolträchtig am 17. November 1893, einen Tag vor seinem 30. Geburtstag, nach Italien auf und kehrte aufgrund einer akuten Erkrankung seiner in Berlin verbliebenen ersten Frau Paula vorzeitig um den 15. Dezember nach Deutschland zurück. Seine Route führte ihn über Basel nach Mailand, Genua, Rom bis nach Neapel und Capri sowie retour über Rom, Florenz und Venedig. Seine zweite Grand Tour trat Dehmel als Paarreise gemeinsam mit seiner neuen Lebensgefährtin Ida Auerbach im Frühjahr des Jahres 1900 an. Die gemeinschaftliche Reise zog sich über zwei Monate (von März bis Mai) und führte das Paar von München und Spezgart am Bodensee aus,

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Villegiatur ursprünglich lediglich als eine Art »Erholungsurlaub« und therapeutische Akutmaßnahme gedacht war, wiewohl sie den Charakter eines »radikal gemeinte[n] Befreiungsversuch[s]« nur sehr unzureichend camoufliert,15 stand die zweite Fahrt sieben Jahre später noch einmal unter prekäreren Voraussetzungen: Im Vorjahr hatte der zunehmend etablierte Dichter für eben jene Geliebte nach langem persönlichem Ringen und einer zeitweiligen Ménage à trois seine Frau Paula verlassen, mit der er nicht nur drei leibliche Kinder hatte, sondern auch erfolgreich Jugendbücher verfasste. Die spätere produktive ›Verversung‹ weiter Teile dieser zweiten Fahrt darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das expeditorische Großvorhaben mitnichten eine unbeschwerte Liebes- bzw. »Hochzeitsreise«16 war, wie Dehmel selbst hypertroph suggeriert, sondern in Anbetracht zweier nicht annullierter Ehen und der daraus resultierenden Skandalösität dieser Verbindung der dringlichen Notwendigkeit entsprach, sich zumindest für eine gewisse Zeit der deutschen Öffentlichkeit zu entziehen.17 Entsprechend trägt die Reise durchaus auch Züge einer exilierten Wanderschaft in der Fremde, in welcher die Sprache als immaterielle Ersatzheimat fungiert. Hatte Dehmel, der von sich selbst in seinen zeitnah entstandenen autobiographischen Skizzen behauptete, »sehr reiselustig«18 zu sein, seine erste Welschlandfahrt, die eher ›Petit‹ denn ›Grand‹ Tour war, noch als Flucht »vor Regen, Schnee und Nebel«19 frenetisch herbeigesehnt (»Gleich geht’s los, nach Süden, durch den heiligen Gotthardt. Es lebe die Sonne!«20) und in einer selbstbewussten Imitatio Goethes (und wohl auch Hebbels) zu nichts weniger als einem künstlerischen Erweckungserlebnis stilisiert.21 So dominiert auf der zweiten Reise

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wo sie zuvor längeren Aufenthalt genommen hatten, nach Ravenna, Florenz, Rom und Neapel, von Brindisi aus nach Korfu und insbesondere auf Empfehlung Harry Graf Kesslers hin auf die kleine Insel Pontikonisi, von dort aus weiter auf den Peloponnes und mit Athen und Delphi nach Mittelgriechenland sowie schließlich zurück nach Sirmione am Gardasee. Bab: Dehmel (Anm. 7), 145 bzw. 149. Bereits Bab diagnostizierte in solider Kenntnis des Charakters Dehmels treffend, »[d]aß das keine wirkliche Lösung sein konnte« (ebd., 145). Richard Dehmel an Charles Simon, Brief vom 31.3.1900. In: Ders.: Ausgewählte Briefe. 2 Bde. Bd. 1: Aus den Jahren 1883 bis 1902. Berlin 1923, 346 (im Folgenden zitiert als ›Briefe I‹ bzw. ›II‹). Vgl. hierzu insbesondere Wegner: Liebe (Anm. 7), 220: »Es war in Wahrheit kein freiwilliger Entschluß, es war unvermeidlich, daß sie und Dehmel ihre Zelte in Berlin endgültig abbrachen.« Richard Demel: O. T. In: Richard Dehmel: Bekenntnisse. Berlin 1926, 81–87, hier 82 (Hervorhebung im Original; im Folgenden zitiert als ›Bekenntnisse‹). Richard Dehmel an Franz Oppenheimer, Brief vom 19.11.1893. In: Briefe I, 129. Richard Dehmel an Detlev von Liliencron, Brief vom 17.11.1893. In: Briefe I, 129. Welch prägenden Eindruck das Italienerlebnis zumindest vorübergehend auf Dehmel und sein dichterisches Selbstverständnis hatte, zeigt sich symptomatisch daran, dass er unmittelbar nach seiner Rückkehr begann, Tagebuch zu führen, um sich »mit einiger Sicherheit Allerlei zu sagen, was Andre vorläufig nichts angeht«. Aufgrund der hier artikulierten kathartischen Wirkung sei knapp aus dem Eröffnungseintrag zitiert: »Vor einem Monat bin ich Dreißig geworden und vor wenigen Tagen aus Italien zurückgekehrt. […] Die Wirkung einer ungekannten Natur, eines völlig fremden Landes und Volkes, mit gesammelten Sinnen empfangen, und vor Allem der Ein-

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das sinnliche Liebes- und Naturerlebnis, »denn die Landschaften hier sind ewig schön!«22 Damit einher geht vice versa eine sich sukzessiv steigernde Aversion gegenüber der schier unbewältigbaren Masse an Kunst- und Kulturdenkmälern, die von anfänglich verhaltenem Desinteresse (»Ich verliere übrigens immer mehr die Lust daran: le grec est mort, vive l’homme.«23) in unverhohlenen Überdruss umschlägt (»Die Ruinen mag meinethalben der Teufel holen«24) und schließlich in den Wunsch nach baldiger Rückkehr nach Deutschland sowie einer Klärung der Verhältnisse mündet.25 Dass es dazu früher kommt als ursprünglich geplant, eint beide Reisen jenseits ihres eskapistischen Charakters: Denn die Partnerinnen Dehmels erkranken jeweils lebensgefährlich und trüben dadurch nicht nur vorübergehend die Reise- und Liebesfreude (»Das Leben läßt uns schwer bezahlen für unser Glück«26), sondern führen auch ein vorzeitiges Ende der welschen Befreiungsfahrten herbei. Diese grobe historische Rekonstruktion der verifizierbaren Südfluchten Dehmels soll für die Diskrepanz zwischen empirischem Reiseerlebnis einerseits und

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blick in das schöpferische Wachstum einer vollendeten, zu reifster Frucht gelangten Culturepoche, haben mir für das Wesen und Streben meines Volkes, meiner Zeit und meiner selbst bessere Vergleichsmaßstäbe aufgesteckt« (Richard Dehmel: Tagebuch vom 18.12.1893. In: Bekenntnisse, 9 f., hier 9; im Folgenden zitiert als ›TB‹). Vgl. auch Dehmels Korrespondenz mit der Münchner Dichterin Anna Croissant-Rust (15.12.1893. In: Briefe I, 139 f.) sowie mit Hans Thoma (17.12.1893. In: Briefe I, 140–142), die noch ganz unter dem Eindruck des neuartigen Reiseerlebnisses stand. Richard Dehmel an Detlev von Liliencron, Brief vom 23.4.1900. In: Briefe I, 347 f., hier 348, Hervorhebung im Original. Dehmel wiederholt seine laus naturae beinah mantraartig in der Korrespondenz in kaum variiertem Wortlaut, so auch gegenüber Charles Simon: »Nicht dieser Säulen wegen, die einst schön waren [müsse man nach Griechenland reisen, Anm. J. I.], sondern für die ewig schöne Landschaft!« (Brief vom 24.4.1900. In: ebd., 348). Richard Dehmel an Joseph August Beringer, Brief vom 24.4.1900. In: Briefe I, 348. Dehmels Animosität erstaunt umso mehr, als er zeitlebens ein großer Bewunderer, Förderer und Sammler insbesondere der bildenden Künste war. Dehmels produktive Wechselbeziehungen zum bildkünstlerischen Metier skizzieren Annette Laugwitz: Richard Dehmel und die bildende Kunst. In: WRWlt – o Urakkord. Die Welten des Richard Dehmel. Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, 3. August bis 30. September 1995. Hg. von Sabine Henning, ders., Mathias Mainholz u.a. Herzberg 1995, 53–87; Peter-Klaus Schuster: Leben wie ein Dichter – Richard Dehmel und die bildenden Künste. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzold und Gerd Wolandt. Berlin 1983, 181–221. Wieder in: »Schöne wilde Welt«. Richard Dehmel in den Künsten. Hg. von Carolin Vogel für die Dehmelhaus Stiftung. Göttingen 2020, 67– 130, sowie jüngst Carolin Vogel: Das Dehmelhaus in Blankenese. Künstlerhaus zwischen Erinnern und Vergessen. Hamburg 2019. Richard Dehmel an Roger de Campagnolle, Brief vom 26.4.1900. In: Briefe I, 348 f., hier 348. »Ja, ich freue mich, daß ich wieder in Deutschland bin. So sehr wir Weltbürger sind mit unserem klugen Kopf, das dumme Herz ist doch stärker.« (Richard Dehmel an Detlev von Liliencron, Brief vom 9.7.1900. In: Briefe I, 354). Richard Dehmel an Detlev von Liliencron, Brief vom 30.5.1900. In: Briefe I, 351 f., hier 352.

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der poetischen Fingierung desselben andererseits sensibilisieren. Denn obgleich die fiktive Rundreise zumindest in Teilen mit den faktisch verbürgten Reisen übereinstimmt und topographische Analogien hinsichtlich der besuchten Orte und Sehenswürdigkeiten bestehen, handelt es sich nicht mehr nur um eine »allegorische Verrätselung privaten Erlebens«27 wie in Dehmels früheren Gedichten, sondern um eine lyrisch synthetisierte und mithin fiktional massiv überformte Reise, die textimmanent kaum Hinweise auf die Individualität und Spezifik der unternommenen Fahrten hinsichtlich Jahreszeit, Klima, Begleitern oder Begegnungen vor Ort erlaubt. Für einen text- wie gattungsanalytischen Zugang ergibt sich daraus nicht zuletzt die Konsequenz, eine biographische Lesart des lyrischen Ichs zu vermeiden – zumal sich der Dichter diese in anderem Kontext selbst strikt verbat.28 2. Entstehung und Textgenese Der zeitliche Abstand zwischen realer und erdichteter Reise von über fünf bzw. zwölf Jahren bis zur Veröffentlichung in der Neuen Rundschau neben Texten von Gerhart Hauptmann und Hermann Bahr eröffnet Raum für Spekulationen über die konkrete Textgenese des Zyklus, die aufgrund des größtenteils nicht publizierten Materials hier lediglich annäherungsweise skizziert werden kann.29 So lassen der prosaische Stil sowie der spontane, situative Charakter einzelner Strophen vermuten, dass das Gedicht entweder in einer vorläufigen Fassung direkt vor Ort niedergeschrieben wurde oder dass den Epigrammen zumindest faktual-narrative Reiseaufzeichnungen in Form diaristischer Notate und Korrespondenzzeugnisse zugrundelagen, zumal die betreffenden Ego-Dokumente eklatante Analogien hinsichtlich der stilistischen und lexikalischen Dokumentationsweise des biographischen Reiseerlebnisses aufweisen.30 Als bedeutungskonstitutiver Paratext dürfte

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Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998, 659. »[I]ch bitte nämlich mein poetisches ›Ich‹ nicht mit mir selber zu verwechseln, sondern es immer auf den mir vorschwebenden Lebenshelden […] zu beziehen« (Richard Dehmel: Offener Brief an den Herausgeber der »Kultur«. In: Bekenntnisse, 122–138, hier 131). Hierbei gilt zu berücksichtigen, dass beide Reisepartner während der Reise nicht nur kontinuierlich mit einer Vielzahl von Adressaten korrespondiert, sondern auch zeitnah autobiographische Aufzeichnungen vorgenommen haben. So verweist Wegner: Liebe (Anm. 7), 224, etwa auf Ida Dehmels nicht edierten »Lebensbericht« (Ida Dehmel: Tagebuch. 1.2.1902–8.2.1905, Cb: 4, DehmelArchiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg), der aufgrund der Priorisierung der Verfasserperspektive Richard Dehmels für die vorliegende Darstellung nicht herangezogen wurde. Vgl. exemplarisch Dehmels enthusiastischen Reisebericht über das lombardische Sirmione am Gardasee an Harry Graf Kessler (Brief vom 15.5.1900. In: Briefe I, 349–351) im Vergleich mit der zugehörigen 47. Strophe des Zyklus.

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zudem der hochfrequente Brief- und Postkartenwechsel Dehmels mit seinem Duzfreund und Schriftstellerkollegen Detlev von Liliencron (1844–1909) fungieren,31 den der reisende Dehmel während seiner Villegiatur aufrecht erhält: zum einen weil sich der Dichter hier in ungeschminkter Wahrhaftigkeit offenbart, zum anderen weil der verehrte Altmeister, wie ein Blick in den Nachlass Dehmels in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek zeigt, die Entstehung des Gedichts als kritischer Gegenleser, Korrektor und Kommentator intensiv begleitet hat.32 Über dieses ›literarische Beratertum‹ ist die Dialogizität bereits als konstitutiver Bestandteil in der Textgenese angelegt und im Hinblick auf die spezifisch kommunikative Sprechersituation mitzudenken. Die Annahme, dass Dehmel in seinem formsprachlich exzeptionellen, von seinen übrigen Gedichten divergierenden Text lediglich eine ästhetisch inferiore Kasualdichtung und mithin ein bloßes Nebenprodukt seines lyrischen Werks gesehen hätte, wird durch den Umstand entkräftet, dass er die Rundreise bereits im Folgejahr in seine zehnbändigen Gesammelten Werke aufnahm, wo er sie seinem bis dato bedeutendsten Gedichtband Weib und Welt (EA 1896) beiordnete, sowie auch für alle folgenden Werkausgaben berücksichtigte,33 wodurch sie nicht nur 31

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Die Intensität des Austauschs bezeugen etwa die allein neun Postkarten, die Dehmel während seiner ersten Italienreise an Liliencron schrieb (vgl. Br: D: 1104–1113, Dehmel-Archiv, Staatsund Universitätsbibliothek Hamburg). Leider liegt die Dehmel-Liliencron’sche Korrespondenz lediglich auszugsweise im Rahmen der beiden Auswahl-Briefausgaben vor, eine vollständige Edition steht bislang noch aus. Vgl. Briefe I/II; Detlev von Liliencron: Ausgewählte Briefe. 2 Bde. Hg. von Richard Dehmel. Berlin 1910. Richard Dehmel: Eine Rundreise in Ansichtspostkarten, Ms. 13, Dehmel-Archiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Vgl. ferner auch Richard Dehmel: Gedichtreinschriften in Bänden, Ms. 221, ebd. Gegenüber dem Erstdruck in der Neuen Rundschau weist das Manuskript (Ms. 13) insbesondere folgende Varianten auf: Die 27. Strophe Herberge vor Tripoliza ist abweichend als Herberge vor Helisso tituliert, die Strophe Tripoliza (vormals Nr. 28) entfällt für den Druck vollständig, während die spätere 53. Strophe Triberg im Schwarzwald im Manuskript fehlt. Außerdem besitzt das Manuskript gegenüber dem Erstdruck eine durchlaufende strophische Nummerierung sowie eine abschließende Interpunktion nach jedem Strophentitel. Die Zählung wird für den Abdruck in der Werkausgabe wieder aufgenommen, auf die finale Punktierung der Strophentitel wird hingegen verzichtet; hinzu kommen kleinere stilistische Korrekturen. In einem weiteren Manuskriptkonvolut (Ms. 221) hat sich überdies eine Gedichtreinschrift erhalten, die verschiedene Titelvarianten verzeichnet (»Eine Rundreise Beschauliche Reise in 55 Ansichtspostkarten… 56«) und suggeriert, dass Dehmel in Erwägung zog, den Zyklus bereits in die Anthologie Ausgewählte Gedichte (1905) aufzunehmen. Für die Möglichkeit der Einsichtnahme bin ich Mark Emanuel Amtstätter verbunden. Richard Dehmel: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Bd. 3: Weib und Welt. Dritte, vielfach veränd. und sehr erw. Ausg. Berlin 1907, Bd. 3, 120–139; Ders.: Gesammelte Werke in drei Bänden. Bd. 2: Weib und Welt. Ein Buch Gedichte. Berlin 1913, 105–121; Ders.: Gesammelte Werke in drei Bänden. Bd. 2: Weib und Welt. Zwei Menschen. Der Kindergarten. Berlin 1920, 120–139. Obgleich Dehmel im Zuge der Überarbeitung seiner Werkausgabe immer wieder Umstellungen oder Ergänzungen vornimmt, bleibt die Textgestalt sowie die Position der Rundreise, nachdem er den Erstdruck (1906) für die Werkausgabe von 1907 einmal leicht modifiziert hat (Titelkorrekturen

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eine beträchtliche Verbreitung, sondern auch vereinzelt Nachahmungen erfuhr, etwa in Jakob van Hoddis’ fünfstrophigem Italien-Zyklus (1911).34 Gleichwohl hatte er die Rundreise nicht etwa als stille Lesedichtung zur passiven Rezeption konzipiert, sondern sah ihre wirkungsästhetische Qualität als Spruchdichtung gerade auch in der mündlichen Darbietung als Vortragskunst. Dass Dehmel sich selbst für »ein[en] guten Recitator«35 hielt und »[s]eine Programme immer auf eine möglichst geschlossene Stimmungsfolge hin zusammenstellte«,36 entbehrt vor dem Hintergrund, dass die Reisegedichte im Zuge eines Deklamationsabends vor Wiener Publikum durchfielen, nicht einer gewissen Ironie: [A]ber man konnte diesmal die Wahl der vorgelesenen Gedichte [Dehmel rahmte den Epigrammzyklus mit seinem programmatischen Memorialgedicht Ein Heine-Denkmal und ausgewählten Liebesgedichten, Anm. J. I.], so schön sie an sich sind, nicht loben. Wäre er doch bei jenen seiner Lieder geblieben, die gedankenschwer mitten aus den Kämpfen der Zeit heraus gesungen sind und den Denkenden anregen und hinreißen! Solche Lyrik eignet sich wegen ihres gesellschaftlichen Charakters weitaus mehr zum Vortrage vor einem großen Publikum, [sic] als die intime Spruch- und Liebespoesie. Außerdem ist jene für Dehmel sehr charakteristisch, seine eigentliche Stärke. Daß doch Lyriker sich selbst selten am besten kennen! 37

3. Gattung: Reiselyrik Dass sich – anders als die zeitgenössischen Rezensenten – die Forschung im Fall der Rundreise mit einer Gattungszuschreibung schwer tut – zuletzt sprachen Matthias Wegner (2000) und Marek Fiałek (2009), vermutlich in Anlehnung an

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bzw. Einführung von Untertiteln in Strophe 3, 32 und 53, Änderung einzelner Wörter in Strophe 20, 40, 42 und 53; Anpassung der Schreibweise sowie einzelner Satzzeichen) über die folgenden Jahre weitgehend stabil (mit Ausnahme der Schlussverse in Strophe 20 und 39 sowie einer Versergänzung in Strophe 23): Sie verbleibt im Kontext des Bandes Weib und Welt, direkt gerahmt wird sie allerdings durch zwei thematisch wie entstehungsgeschichtlich verwandte Gedichte, Griechische Pfingsten (ED in: Ausgewählte Gedichte, 1905) sowie das vermutlich exklusiv für die Werkausgabe von 1907 entstandene Wiedersehn. Vgl. auch die Ausführungen in Anm. 32. Vgl. Hansjörg Schneider: Jakob van Hoddis. Ein Beitrag zur Erforschung des Expressionismus. Bern 1967, 35–38. Richard Dehmel: Rundfragen [Juli 1896]. In: Bekenntnisse, 81–87, hier 81. Richard Dehmel: Ansprachen. In: Ebd., 166 f., hier 166. N.N. (Rez.): Richard Dehmel am Lesetische. In: Neues Wiener Tagblatt Nr. 297 (27.10.1905), 8. Dehmel hat den vollständigen Zyklus noch vor seiner endgültigen Fertigstellung und Veröffentlichung in der Neuen Rundschau am 25. Oktober 1905 auf Einladung des Wiener AnsorgeVereins im kleinen Musikvereinssaal vorgetragen, wo das Gedicht, trotz aller Wertschätzung für den Dichter, nicht den gewünschten Erfolg erzielte.

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Julius Bab (1926), irreführend von »Tagebuch«,38 während sich Horst Fritz (1969) und Gerhard Rademacher (1981) unspezifisch mit »kleinen Gedichten«39 bzw. »Zyklus«40 aus der Affäre wandten –, verdeutlicht den exzeptionellen generischen Status der Rundreise. Ältere Studien kommen dem Formprinzip mit Bezeichnungen wie »eine lange Suite von etwa fünfzig epigrammatischen Spruchgedichten«,41 »lyrische[]« bzw. »griechische[] Epigramme[]«42 oder »Epigrammgedichte[]«43 weitaus näher, gleichwohl waren auch sie außer Stande, in der Wahl einer tradierten Versform einen formalästhetischen Mehrwert zu erkennen. Stattdessen monierte man den »Mangel an historischem Sinn« oder attestierte dem als vollendeten ›Jugendstilisten‹ apostrophierten Verfasser aufgrund des Realitätsgehalts seines Gedichts gar einen »Rückfall in den Naturalismus«.44 Den vorläufigen Höhepunkt der Dichterschelte markiert der eingangs zitierte Ida Dehmel-Biograph Wegner, indem er »die literarische Ernte der Reise« zu einer bestenfalls delektablen Sentenzpoesie degradiert: »Abgesehen von einigen witzigen oder hübschen Aperçus war allerdings kaum etwas Gelungenes darunter. Ein Reisepoet war Dehmel nicht […]«.45 Bevor die Unzulänglichkeit eines solch despektierlichen Werturteils, das weder auf einer profunden Textkenntnis noch -lektüre gründet, an ausgewählten Stellen des Gedichts exemplifiziert werden soll, seien der Analyse in Kürze einige Bemerkungen zum verhandelten Inhalt sowie der formalen Faktur des Zyklus vorangestellt. Bereits die strophische Reihung der einzelnen Destinationen, deren linksbündige Absetzung an die Textorganisation in historischen wie zeitgenössischen Reiseführern erinnert, erlaubt den Verlauf exakt zu rekonstruieren: von Straßburg am Oberrhein, das den Auftakt markiert, über den Gotthard zu den oberitalienischen Seen, durch die Lombardei, Ligurien und die Toskana bis nach Rom in Latium. Weiter geht es über die Abruzzen nach Kampanien und in die Basilikata. Vom apulischen Brindisi aus erfolgt die Übersetzung nach Korfu und anschließend aufs griechische Festland, wo beflissen alle Orte antiker Größe passiert werden (Olympia, Mykene, Athen und Delphi), bevor man über den Korinthischen Golf und entlang der ionischen Inseln sowie der albanischen Küste die Rückreise antritt, über die Marken und Umbrien erneut Mittelitalien quert, um schließlich über die nördliche Adria, 38 39 40 41 42 43 44 45

Fiałek: Dehmel (Anm. 11), 59; Wegner: Liebe (Anm. 7), 224. Vgl. auch Bab: Dehmel (Anm. 7), 235: »Den seelischen Ertrag dieser großen […] Reise […] hat Dehmel später in einer Art poetischen Tagebuchs fixiert«. Horst Fritz: Literarischer Jugendstil und Expressionismus. Zur Kunsttheorie, Dichtung und Wirkung Richard Dehmels. Stuttgart 1969, 289, Anm. 20. Gerhard Rademacher: Das Technik-Motiv in der Literatur und seine didaktische Relevanz. Am Beispiel des Eisenbahngedichtes im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. u.a. 1981, 66. N.N.: Dehmel am Lesetische (Anm. 37), 8. Bab: Dehmel (Anm. 7), 235. Hagen: Dehmel (Anm. 7), 145. Elisabeth Darge: Lebensbejahung in der deutschen Dichtung um 1900. Breslau 1934, 194. Wegner: Liebe (Anm. 7), 225.

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den Gardasee und den Brenner zurück nach Deutschland zu gelangen. Bingen am Rhein, die Heimatstadt der Geliebten Ida Auerbach, markiert das Ziel der italograekischen Grand Tour. Aber nicht nur einzelne Orte, Stationen und Sehenswürdigkeiten, auch der transitorische Zustand des Reisens selbst erweisen sich bei Dehmel als gedichtwürdig: Mit dem Gotthard-Tunnel (Str. 3), der Bergstraße von Amalfi nach Salerno (Str. 17), der Bahn nach Potenza (Str. 18), der Erste[n] Klasse nach Brindisi (Str. 20), dem Bergweg bei Patras (Str. 23), der Fahrt zum Parnassos (Str. 34) oder der Wanderstraße am Etsch (Str. 46) nimmt die explizite Thematisierung von Transitstrecken samt ihrer spezifischen Beförderungsmittel rund ein Achtel des Gesamtzyklus ein.46 Implizit reflektiert das lyrische Ich sogar die Historizität der vorgefundenen Mobilitätsbedingungen sowie die technische Revolutionierung derselben, indem es die Bändigung der Landschaft als zivilisatorischen Sieg moderner Ingenieurskunst feiert: »[D]enn hier hat Menschenarbeit Bogen an Bogen, / Triumphbogen durch die Natur gezogen« (RA 236). Auch werden die bereits vorhandenen Transportmodi in ihrer ganzen geschichtlichen Breite ausgelotet: vom antiquierten und unkomfortablen Karriol, einem einspännigen Pferdefuhrwerk, bis hin zur erst wenige Jahre zuvor eröffneten Gotthardbahn, die ihrer Zeit nicht nur als bautechnisches Weltwunder, sondern – gemäß dem selbstgewählten Credo der Betreibergesellschaft – auch als ›The world’s most picturesque route‹ galt, was zu Beginn des neuen Jahrhunderts sogar zur Begründung einer eigenen ›Gotthard-Literatur‹47 führte. Indirekt entspricht die sukzessive Zurücknahme der Natur- und Landschaftspoetik zugunsten einer zunehmenden Verhandlung technischer Aspekte so auch dem epochalen Paradigmenwechsel reiselyrischer Dichtung,48 der ästhetisch auf die Normierung und Standardisierung des massentouristischen Reisens und den damit verbundenen Prestigeverlust der Gattung der Reiseliteratur reagiert. Die lyrisch evozierte Route bildet zugleich auch das makrostrukturelle Formprinzip der zirkulären Anlage, das der programmatische Gedichttitel Rundreise zusätzlich annonciert. Denn formal gliedert sich das Reisegedicht in insgesamt 55 Strophen bzw. 419 Verse, die in ihrem hochgradig symmetrischen Aufbau einer Kranzstruktur folgen: Auf drei Eingangs- bzw. Aufbruchsstrophen (1–3) folgen exakt 17 italienische sowie 17 griechische Etappen (4–20 bzw. 21–37); zehn wiederum italienische (38–47) und acht im weitesten Sinne der Rückkehr nach Deutschland gewidmete Strophen (48–55) komplettieren den Zyklus. Die beiden 46 47 48

Berücksichtigt man weitere Strophen, die Ankunfts-, Abfahrts- oder Transitszenarien behandeln (wie Albanische Küste oder Hafen von Ancona), ließe sich der Anteil auf bis ein Viertel des Gesamtumfangs hochrechnen. Vgl. etwa Carl Spittelers eigens von der Bahngesellschaft in Auftrag gegebenen Reiseführer Der Gotthard (EA 1897). Vgl. Johannes Görberts und Nikolas Immers einleitende Darstellung der Gattungsgeschichte.

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Mittelmeerpassagen in Strophe 20/21 (unvermittelter Ortswechsel von Brindisi nach Korfu) sowie 36/37 (diegetisch inszenierte Überfahrt vom griechischen Festland nach Ancona) zäsieren das Gedicht nach jeweils rund einem Drittel und akzentuieren dadurch die strukturelle Dreiteiligkeit zusätzlich. Und auch die vergleichsweise offene Konzeption, die den Moment des Aufbruchs bzw. der Ankunft weitgehend ausspart, die Reise also medias in res einsetzen und enden lässt, exponiert den zyklischen Charakter des Gedichts. Mit der homogenen Komposition auf der Makroebene kontrastiert die strophische und metrische Gestaltung auf der Mikroebene. So changieren die einzelnen Strophen hinsichtlich des Umfangs zwischen lediglich vier (im Falle von Genua, Tripoliza und Delphi) sowie elf Versen (im Fall von Athen) und variieren scheinbar spielerisch alle nur denkbaren Reimschemata – vom initialen Paar-, über Kreuz- und umarmenden Reim bis hin zum vollständigen Verzicht auf jegliche Endreimbindung. Auch das Metrum weicht zugunsten individueller Versgestaltung wiederholt vom textdominierenden fünfhebigen Jambus mit Tendenz zur Zäsur nach der dritten Hebung ab. So nutzt Dehmel beispielsweise anlässlich der Alpenquerung in der dritten Strophe (Gotthard-Tunnel) das onomatopoetische Potenzial der metrischen Konfiguration, um mittels Trochäus und daktylischem Auftakt den rhythmischen Bewegungsablauf einer Dampflokomotive zu imitieren, wie es für das naturalistische Paradegenre des Eisenbahngedichts, an dem auch der technikaffine Dehmel frühzeitig partizipiert hatte, typisch war.49 Dass die prosanahe Faktur sowie die Nähe zur Blankverstradition indes mit den formkonservativistischen Positionen manch zeitgenössischer Interpreten nur schwer vereinbar waren, verdeutlicht beispielhaft das Votum des Dehmel-Biographen Julius Bab, der dem Zyklus pauschaliter einen Mangel an Lyrizität attestierte: »Das heißt[,] so sehr »lyrisch« sind diese kurzen Gedichte nicht, oder besser, nur wenige sind es. Die große Mehrzahl ist sogar recht stachlig, und es scheint«, so mutmaßt er ob der vermeintlichen Ursache dieses formalästhetischen Defizits weiter, »als ob Dehmel die meisten Dinge mit einer merkwürdig gereizten, polemischen Stimmung angesehen hätte.«50 Babs Diktum ist insofern symp49

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Vgl. hierzu, wenn auch mit z. T. gänzlich anders gearteter Intention und dem Akzent auf den fremdbestimmten Wahrnehmungsbedingungen des Bahnreisenden, Dehmels Gedichte Vierter Klasse (aus dem Band Erlösungen, 1891) sowie Drohende Aussicht (aus Lebensblätter, 1895). Zum Eisenbahngedicht vgl. ferner den Beitrag von Sarah Thiery im vorliegenden Band. Von Dehmels frenetischer Begeisterung für das neue Transportmittel zeugt auch die zeitgleiche Korrespondenz: »Alles hat seine Poesie. Die Poesie der Postkutschen ist gestorben; sie feiert ihre Auferstehung in der Poesie der Bahnfahrt, nur noch verklärter.« (Richard Dehmel an Paula Oppenheimer, Brief vom 10.5.1987. In: Briefe I, 14–20, hier 15). Dass sich darin implizit auch eine kritische Haltung gegenüber der technikskeptischen Vormoderne artikuliert, hat bereits Barbara Beßlich: Corrector (Anm. 1), 151, konstatiert. Bab: Dehmel (Anm. 7), 235. Bab scheint den inneren Widerspruch zwischen Dehmels empirischem Reiseverhalten und der poetischen Überformung zwar registriert zu haben, gelangt jedoch zu keiner

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tomatisch, als es die spezifische gattungskonstitutive Sprechsituation epigrammatischer Dichtung verkennt, die für die zugespitzte Artikulation revisionistischer bzw. nonkonformistischer Positionen geradezu prädestiniert ist. Einem solchen pejorativen Wertungsurteil möchte sich die folgende Analyse nicht anschließen und Dehmels versifizierte Fahrtenbeschreibung stattdessen als epigrammatisches Reisegedicht – und noch konkreter – als sogenanntes ›Postkartengedicht‹ lesen. 3.1. Postkartenpoetik Schon die generische Systemreferenz im Titel lässt wenig Zweifel daran, dass der Medialität in Dehmels Gedichtzyklus eine konstitutive ästhetische und semantische Relevanz zukommt. Mit der Gattungsbezeichnung »Ansichtspostkarte«51 evoziert der Verfasser paratextuell ein seinerzeit hochgradig modernes wie populäres Gruß- und Korrespondenzmittel, das mit der offiziellen Beförderungsbewilligung seitens der Deutschen Reichspost 1885 binnen nur weniger Jahre zum unangefochtenen Erfolgs- und Leitmedium touristischen Reisens sowie zum festen Bestandteil bürgerlicher Repräsentationskultur avancierte.52 Auch Dehmel selbst partizipierte intensiv an der neuen Postkartenkultur. Die eigens angelegten großformatigen Postkartenalben im Nachlass weisen ihn als geradezu leidenschaftli-

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befriedigenden interpretativen Lösung: »Das scheint in diesen nachträglichen Formulierungen vielleicht mehr so, als es in Wirklichkeit der Fall war. Aber soviel ist doch richtig: Der reisende Dehmel ist im höchsten Maße empfänglich für alle Größe und Schönheit der Landschaft. Aber er verhält sich in Italien und auch in Griechenland im Grunde abwehrend gegen alle Denkmäler toter Kulturen und schlägt mit einer gewissen Wollust gegen den Stachel der eingepflanzten Baedeker-Bewunderungen.« (ebd., 235 f.) Dass Bab mit seiner (Fehl-)Einschätzung kein Einzelfall war, zeigt etwa noch 1967 Hansjörg Schneider, der trotz der durchaus registrierten kritischen Momente im Vergleich mit van Hoddis’ Italia-Zyklus konstatiert: »Dehmel fand in Italien noch einmal das beglückende Erleben der schönen, geformten Welt.« (Schneider: Hoddis [Anm. 34], 36). Im vorliegenden Kontext werden die Gattungsbezeichnungen ›Postkarte‹, ›Ansichtskarte‹ und ›Ansichtspostkarte‹ weitgehend synonym verwendet. Mediengeschichtlich markiert das dreiteilige Kompositum jedoch die Einführung und Etablierung der illustrierten Postkarte (gegenüber der älteren nicht-bebilderten Postkarte mit Adressseite). Mit seiner Titelwahl folgt Dehmel demnach der offiziellen Bezeichnung für den Korrespondenzträger seitens der Deutschen Reichspost, während sich im umgangssprachlichen Gebrauch der Zeitgenossen bereits die abbreviierte Form ›Ansichtskarte‹ durchsetzte, die sich auch in der Auswahlausgabe seiner Briefe findet. Vgl. hierzu auch Anm. 64 sowie 66. So lag die Beförderungsquote im Jahr 1900 bei unglaublichen 1,5 Millionen Exemplaren – pro Tag. Vgl. Anett Holzheid: Das Medium Postkarte. Eine sprachwissenschaftliche und mediengeschichtliche Studie. Berlin 2011, 414. Zur medialen Erfolgsgeschichte der Ansichtspostkarte vgl. zuvor bereits Karin Walters Dissertationsschrift: Dies.: Postkarte und Fotografie. Studien zur Massenbild-Produktion. Würzburg u.a. 1995.

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chen Skribenten und Sammler von Ansichtspostkarten jeglicher Provenienz, Motivik und kompositorischer Gestaltung aus.53 Selbst Entwürfe für Postwertzeichen von seiner Hand haben sich erhalten.54 In späteren Jahren, als die Nachfrage nach Dichterporträts und poetischen Spruchkarten stieg, profitierte er schließlich sogar ökonomisch von der medialen Entwicklung.55 Medientheoretisch firmiert unter der Bezeichnung der ›Ansichts-‹ bzw. ›Bildpostkarte‹ Anett Holzheid zufolge »ein[] spezifische[s] Medium[] zu fernschriftlicher Kommunikation« und noch konkreter ein normierter, »gewerblich erhältliche[r] Bildträger mit kultur-geografisch markierter Bildkomponente«.56 Als solches bzw. solcher zeichnet sich die Postkarte durch eine bikodale Ästhetik nach innen aus, die mit visuellem Motiv und applizierter Handschrift einerseits piktorale und textuelle Komponenten im Rahmen eines intermedial-kompositorischen Gesamtgefüges bedeutungsstiftend in sich vereint, andererseits aber auch eine medienkonstitutive dialogische Justierung nach außen hin vornimmt. Denn in ihrer Eigenschaft als phatisches Kommunikat ist sie vor allem Ausdruck fernschriftlich praktizierter Beziehungsarbeit – mit entsprechenden kontaktgenerierenden und -erhaltenden Konstituenten wie personalisierter Anrede, gegenseitiger Versicherung des jeweiligen Wohlbefindens und Abschiedsformel. Neben ihrer textstrukturierenden Funktion, die den veränderten Bedürfnissen einer Schnell- und Kurzkommunikation nach effektiver Texterzeugung geschuldet ist, forcieren solche stereotypen Floskeln und Wendungen auch die Entstehung einer spezifischen ›Postkartendiktion‹, die sich durch »eine Verbindung aus umgangssprachlichen Elementen sowie konventionalen Übernahmen aus dem zeitgenössischen Briefstil«57 auszeichnet und schon bei der Kulturkritik um 1900 im Verdacht stand, einer »Erosion der Schreibkultur«58 Vorschub zu leisten. In Verbindung mit der visuellen Propagierung »eine[r] durch Selektion, Retusche und nachträgliche Koloration ästhetisierte[n] Schönwelt«59 seitens der Kulturindustrie 53

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Vgl. insbesondere die sechs in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek verwahrten Postkartenalben des Dehmel-Nachlasses, die mit ihren schätzungsweise rund 1000 Dokumenten eindrücklich die Dehmel’sche Sammel- und Dokumentationsleidenschaft belegen: Pk-Album I– VI, Dehmel-Archiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Var. 10/45–49, 58, Dehmel-Archiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Bei den Skizzen handelt es sich um eine Briefmarke mit Adler-Motiv sowie der majuskularen Subscriptio »DEUTSCHLAND«. Die Angabe und Erläuterung folgt Schuster (wie Anm. 23), 86, Anm. 61. Man beachte insbesondere die kommerziell vertriebenen Dichterpostkarten während des Ersten Weltkriegs, die wahlweise in Form der Bildpostkarte Dehmel in Lieutenantspositur oder in Form der Textpostkarte patriotische Sprüche, Gedichte und Lieder (etwa das Lied für unsere Flotte oder Deutschlands Fahnenlied) wiedergeben. Holzheid: Medium (Anm. 52), 35. Ebd., 208. Ebd., 269. Ebd., 269 f.

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bot der konfektionierte Postkartenstil mit seiner standardisierten Rhetorik, seiner betonten Nonchalance eines oralen Plaudertons sowie seinem Übermaß an Phraseologismen eine hinreichende Angriffsfläche für antibürgerliche Sprachkritik. Dass ausgerechnet die Postkarte als Formmodell nicht nur, aber im Besonderen für lyrische Dichtung attraktiv werden konnte,60 kommt mithin nicht von ungefähr, gründet aber darüber hinaus auch noch in einer evidenten formalen Wahlverwandtschaft: In beiden Fällen handelt es sich im weitesten Sinne um ein Kurzbzw. Kürzesttextgenre. Ebenso wenig wie das Gedicht war auch die Karte mit ihrer offenen Versendungsform von Beginn an nie rein privat, sondern adressierte neben dem eigentlichen Empfänger immer auch einen weiteren Kreis an potenziellen situativen (Mit-)Lesern. Und schließlich korrespondiert auch der Duktus des neuen Kommunikationsmediums, der »häufig übersemantisiert, andeutend, von der individuellen Rezipiens abhängig«61 war, mit dem uneigentlichen Sprechen gebundener Versdichtung. Nicht zuletzt entspricht die Postkarte der allgemeinen Tendenz zur kleinen Form in der avantgardistischen Literatur der Jahrhundertwende, die von selektiver Wahrnehmung, impressionistischer Momentästhetik, Verkürzung sowie Gattungsmischung geprägt war. Das produktionsästhetische Potenzial, das aus einer Analogisierung von »poetische[m] Kurztextgenre und der signifikanten Kürze von Postkartentexten«62 entstehen kann, scheint Dehmel gleichwohl als einer der ersten Sprachkünstler überhaupt, wenn nicht erkannt, so doch genutzt zu haben. Bereits Anfang der 1890er Jahre lotet er die gestalterischen Möglichkeiten des Mediums aus, indem er sein monologisierendes lyrisches Ich in dem Gedicht »Grüße!!!« / Postkarte von und an Arno Holz (1893) just »den Moment der Lektüre einer erhaltenen Karte ein[fangen]«63 lässt. Von dieser Imitation einer postalischen Rezeptionssituation im Modus einer Art lyrischen ›Freezings‹ bis hin zur altromedialen ›Kaperung der Form‹ ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, zumal das adaptierende Genre diesen geradezu forciert. Denn für die versifizierte Reisedichtung des beginnenden Technik- und Informationszeitalters liegt das neue Medium formal wie konzeptuell auf der Hand, erweist es sich doch, wie die Besprechung des bereits erwähnten Wiener Rezitationsabends im Neuen Wiener Tagblatt erneut zeigt, für das zeitgenössische Publikum als leicht zugänglich und dechiffrierbar: Dann las Dehmel eine lange Suite von etwa fünfzig epigrammatischen Spruchgedichten: »Eine Rundreise in Ansichtskarten.« [sic] Vom Rhein aus macht der Dichter eine 60 61 62 63

Einen kursorischen, nichtsdestotrotz sehr lesenswerten Überblick über die produktive Rezeption der Postkarte in der deutschsprachigen Literatur, etwa bei Marie von Ebner-Eschenbach, Paul Scheerbart oder Arthur Schnitzler, stellt ebenfalls Holzheid (ebd.), 262–268, an. Ebd., 150. Ebd. Ebd.

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Julia Ilgner Reise durch die Schweiz, Ober-, Mittel- und Süditalien, durch Griechenland und Süddeutschland wieder zurück in die Heimat; von jedem landschaftlich oder historisch bedeutsamem Orte aus sendet er seiner Braut einige Verse, soviel eben auf einer Ansichtskarte Platz haben, und hält darin die Stimmung der Ortschaft fest, die er eben passiert oder besichtigt.64

So kennzeichnet die lyrische Rundreise zunächst eine eminent dialogische Struktur, einerseits durch die kontinuierliche Anrede der imaginierten »Braut« bzw. Adressatin als »Geliebte« (RA 233, 236, 239, 243) oder »Seele« (RA 233), andererseits durch eine mittels imperativer und interrogativer Wendungen forcierte Appellstruktur (»Horch«, »Sieh«, »Komm«, insbesondere RA 233). Die vergleichsweise ausgewogene kommunikative Sprechersituation spiegelt sich auch in der paritätischen Verwendung der Personalpronomina (13 mal »ich«, 14 mal »du«, zweimal »wir«) wider, wobei gelegentlich, etwa im Falle der Strophen Florenz, Perugia oder Ravenna, auch einzelne Reisestationen als adressiertes Sujet an die Stelle der Briefpartnerin treten können. Vor allem aber bleibt der Umfang der einzelnen Strophen gemäß der epistolaren Vorlage ›postkartentauglich‹ – eingedenk des Umstands, dass sich diese sowohl im Quer- als auch im Längsformat beschreiben lässt, ein Notationsverfahren, das Dehmel selbst als Postkartenschreiber praktizierte und unbekümmert kombinierte (Abb. 1).

Abbildung 1: Richard Dehmel an Detlev von Liliencron, Postkarte vom 24. November 189365 (Mit freundlicher Genehmigung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg) 64 65

N.N.: Dehmel am Lesetische (Anm. 37), 8. Richard Dehmel an Detlev von Liliencron, Postkarte vom 24.11.1893, Br: D: 1109, DehmelArchiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg [https://resolver.sub.uni-hamburg.de/kitodo/HANSb336081; letzter Zugriff: 04.02.2020]: »Im Schein des Vollmonds, auf einem zweitausendjährigen Säulenstumpf vom Forum Romanum, an der Via Sacra, zwischen den Triumphbogen [sic] des Titus Severus und des Constantinus, teutschen Tichtergruß! Dein Richard [a.o.R. auf dem Kopf stehend nachgetragen] Sonntag geht’s weiter nach Süden!« (Transkription J. I.).

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Indem jede einzelne Zeile jeweils nur so lang ist, wie das Format der Ansichtspostkarte es zulässt, bzw. die einzelnen Strophen nur so viele Verse umfassen, wie »eben auf einer Ansichtskarte Platz haben«, persifliert Dehmel die zeitgenössische Ästhetik derselben. Denn der als Bürgerschreck und Formzerstörer verschriene Dichter agiert gerade nicht regelkonform, sondern unterläuft den Erwartungshorizont des impliziten Empfängers in mehrfacher Hinsicht: Weder hält sich Dehmel mit der fiktionalen Überformung seiner Reiseerfahrung an das Aufrichtigkeitspostulat eines authentischen Zeugenberichts vom realiter besuchten Ort, noch affirmiert er stilistisch die typische Postkartendiktion. Stattdessen spielt er die in der Regel geschönte Bildseite sowie die lediglich affirmativ funktionalisierte Textseite gegeneinander aus und provoziert so gezielt semantische Inkohärenzen zwischen visuellem Motiv und sprachlicher Botschaft. Im Ergebnis entlarvt ein solches Verfahren nicht nur die Leere der stereotypen Postkartenidylle, deren fiktiver Traumweltcharakter für gewöhnlich wenig bis nichts mit der abgebildeten Realität gemein hat. Denn dass Dehmel dieser mimetischen Diskrepanz und Insuffizienz bereits sehr frühzeitig gewahr wurde, belegt exemplarisch ein Korrespondenzstück aus dem Jahr 1891, in dem er sich unter anderem gegenüber seiner Frau Paula darüber echauffiert, »daß [er ihr] von hier aus [s]einen Gruß auf so einem elenden Attest menschlicher Ohnmacht schicken muß«.66 Auch exponiert und reflektiert er sprachkritisch die spezifisch »postkartengebundene[] Sprachverwendung«67 des jungen Mediums, indem dessen hochgradig unpoetische Rhetorik imitierend aufgegriffen und in karikierender Absicht ad absurdum geführt oder ihr ein betont individualisiertes Korrelat gegenübergestellt wird.

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Richard Dehmel an Frau Paula und Käthe B., Ansichtskarte vom 31.5.1891. In: Briefe I, 44. Mit seiner subversiven Medienkritik entspricht Dehmel ziemlich genau jenem visuellen Korrekturund Kommentierungsbestreben der bildenden Künstler, wie es für die sogenannte ›Künstlerpostkarte‹ charakteristisch ist. Vgl. hierzu Bärbel Hedinger: Künstler, Post, Karte – eine Einleitung. In: Die Künstlerpostkarte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von ders. München 1992, 9–18. Holzheid: Medium (Anm. 52), 209.

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Julia Ilgner 3.2. Epigrammatische Struktur

Schon in ihrer altgriechischen Ursprungsbedeutung als ›Aufschrift‹ (griech. ἐπίγραμμα) auf (Grab-)Steinen, Denkmälern oder Statuen erweist sich die Gedichtform des Epigramms68 als wesensverwandtes Pendant zum modernen Kommunikationsmedium der Postkarte. Auch hinsichtlich seiner signifikanten Kürze und Spruchhaftigkeit nimmt das Sinngedicht den oralen Duktus der Postkarte vorweg. Mit Blick auf die dezidiert polemische Verwendung bei Dehmel dürfte sodann vor allem der römische Dichter Martial als gattungskonstitutives Vorbild gelten, hat er doch als Modell- und Musterautor das Epigramm zur satirischen Kurzform par excellence erhoben. Hinzu kommt die konstitutive Zweiteiligkeit, die mit der Schürung einer Spannung bzw. Erwartungshaltung (protasis) auf der einen sowie der anschließenden Auflösung derselben (apodosis) auf der anderen Seite der Bikodalität der Postkarte mit ihrer Text- und Bildkomponente Rechnung trägt – ein Strukturierungsprinzip, das schließlich in die kodifizierte Gattungsnorm von Kürze (brevitas) und Witz (argutia) überführt und noch um das Moment der Finalisierung auf eine »konklusive Pointe«69 hin erweitert wurde. Wie zentral diese epigrammatische Pointierung für das Verständnis von Dehmels Zyklus war, zeigt sich besonders eindrücklich an dem Rezeptionsreflex seines Dichterkollegen Liliencron, der in seiner Korrekturfassung fast ausschließlich die Pointen durch, je nach Lesart, annotierte Plus- oder lateinische Kreuzzeichen (+/†) sowie Kurzkommentare in markantem Orange hervorhob.70 Während Dehmel an der epigrammatischen Reimbindung weitgehend festhält, verfährt er auf der metrischen Ebene deutlich freier: Das seit Goethe tradierte Distichenmaß als Verbindung aus Hexameter und Pentameter und noch mehr die durch Schiller geprägte Mittelzäsur weichen zugunsten eines lockeren Duktus der jambischen Versgestaltung. Dagegen verstärkt Dehmel, als Reverenz gegenüber dem dialogischen Kartenkommunikat, das Moment der Appellfunktion, die Tendenz zur apodiktischen Aussage und auf der Rezeptionsebene die gnomische Apperzeption. Das Gedicht invertiert die postkartentypische Formel von standardisierter Bild- und pseudo-individualisierter Textkomponente: Auf die lyrisch-imaginative Evokation des Reiseziels folgt gerade keine affirmative Beglaubigung. 68

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Zur Gattungstypologie und -genese epigrammatischer Dichtung vgl. insbesondere Theodor Verweyen/Gunther Witting: Das Epigramm. Zum Problem von Struktur und Funktion am Beispiel seiner Geschichte. In: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Ein Symposion. Hg. von Dieter Lamping und Dietrich Weber. Wuppertal 1990, 259–295, deren formgeschichtlicher Favorisierung des epigramma compositum gegenüber dem pointenlosen epigramma simplex die hiesige Darstellung folgt. Ulrich Schulz-Buschhaus: Das Madrigal. Zur Stilgeschichte der italienischen Lyrik zwischen Renaissance und Barock. Bad Homburg v. d. H. u.a. 1969, 158. Dehmel: Rundreise, Ms. 13 (Anm. 32).

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Stattdessen tritt an die Stelle der Schlusssentenz eine Zurücknahme, ein Widerspruch oder eine vergleichbare Revision der zuvor getroffenen Aussage, der bzw. die das Vorangegangene inhaltlich relativiert, diffamiert oder ironisiert und so eine gegenläufige Lesereaktion hervorruft. Mit ihrer Einforderung einer aktiven Rezeptionshaltung seitens des Lesers und ihrer Konzeption hin auf eine finale Clouund Wendungspoetik rückt die Rundreise zudem in die Nähe des »auf intellektueller Kombinatorik fußenden Pointen-Epigramms«.71 Dass es sich bei dieser auf decouvrierende Pointierung zielenden Kippfigur um eine programmatische Maxime für den gesamten Zyklus handelt, stellen zudem bereits der Titel sowie die Auftaktstrophe unmissverständlich klar: Während der Gedichttitel noch die im Gattungskompositum ›Ansichtspostkarte‹ realisierte Bedeutung ›Anblick‹, ›Bild‹, ›Abbildung‹ bzw. im übertragenen Sinne ›Vedute‹, ›Photographie‹ oder ›Illustration‹ eines besuchten Ortes und/oder seiner Sehenswürdigkeiten aufgreift, spielt bereits der erste Vers (»Der Ansicht aller Welt zum Trotz«, RA 232) mit der homonymischen Komponente des Begriffs und aktualisiert mit der Lesart ›Anschauung‹ und ›Sichtweise‹ im Gegenzug gezielt die zweite semantische Ebene. Darüber hinaus lässt sich die adversative Grundierung der Formulierung (»zum Trotz«) als sicheres Indiz dafür lesen, dass der Rundreise gerade nicht an einer bloßen Affirmation bestehender ›Ansichten‹ über das im Folgenden verhandelte Sehnsuchtsland gelegen ist. 4. Intertextuelles Reisen Aufschluss über Dehmels poetisches Traditionsverhalten gibt zunächst die gewählte Route der lyrischen Rundreise, die sich nur prima vista am Modell klassischer Italien- und Griechenlandfahrten orientiert. Tatsächlich stimmt der evozierte Reiseverlauf bei genauerer Betrachtung nur in Teilen mit demjenigen berühmter Vorgänger überein und behauptet stattdessen einen durchaus eigenständigen Charakter: So folgt das lyrische Ich gerade nicht der Via Francigena, dem mittelalterlichen Pilgerweg über Parma, Modena und Bologna nach Rom, sondern quert von Mailand aus tangential die Lombardei in Richtung Riviera di Levante, bis es in Genua das Mittelmeer erreicht, rekapituliert also zumindest auf diesem Abschnitt einen Kursus, wie ihn vor allem der kritische Italienfahrer Heine im dritten Teil seiner Reisebilder (Die Bäder von Lucca, 1830) exerziert und seinerseits als antiklassische Gegenroute popularisiert hat.72 Dass der streitbare Poet für Dehmel 71 72

Verweyen/Witting: Das Epigramm (Anm. 68), 265. Auch diesbezüglich irrt Schneider: Hoddis (Anm. 34), 35, indem er lediglich Goethes Italienische Reise als »Vorbild für seine [Dehmels] Reisebeschreibung« anführt. Zu den berühmten und weniger berühmten Nachreisenden im 19. Jahrhundert zählt u.a. auch die Königsberger Autorin Fanny Lewald, die ihr Reiseerlebnis wiederum im Italienischen Bilderbuch (1847) verarbeitet

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mehr als ein bloßer ›Routengeber‹ war, ja vielmehr als bedeutungsstiftende Autorität für den gesamten Zyklus fungiert haben dürfte, mag man, wenn nicht an der mokanten Sprechsituation der Rundreise, auch daran erkennen, dass Dehmel bei Lesungen den Ansichtspostkarten-Zyklus gezielt in Verbindung mit seinem von ihm selbst hochgeschätzten Gedicht Ein Heine-Denkmal (1895) vortrug.73 Diese lyrische Ehrbezeugung hindert ihn freilich nicht daran, sich an exponierter Stelle, nämlich unmittelbar in der Auftaktstrophe über das Straßburger Münster, auch mit Goethe auseinanderzusetzen,74 wiewohl die Gliederung nach einzelnen Stationen höchstwahrscheinlich Ludwig Tiecks Doppelzyklus Reisegedichte eines Kranken beziehungsweise Rückkehr des Genesenden (1805/1806) entlehnt ist, mit dem Dehmels Zyklus nicht nur den prosanahen Charakter, sondern auch die in der Vorrede artikulierte alltags- bzw. mentalitätsgeschichtliche Perspektive, zahlreiche Aufenthaltsorte sowie den mitunter ironischen Duktus teilt.75 Dass Tieck allerdings nicht zwangsläufig als exklusives Vorbild fungieren muss, zeigt die Popularisierung dieses Formmodells im Verlauf des 19. Jahrhunderts – so auch noch bei Paul Heyse, mit dessen italienischen Städtebildern (aus der Sammlung Verse aus Italien, 1880) Dehmels Zyklus immerhin noch sechs von zwölf Stationen

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hat. Vgl. dazu Ann-Christin Bolay/Julia Ilgner: Epigonales Erzählen und dialogische Intertextualität. Fanny Lewalds literarisches Spiel mit der Tradition im Italienischen Bilderbuch (1847). In: Jahrbuch Forum Vormärz Forschung 19 (2013), 297–324. N.N.: Dehmel am Lesetische (Anm. 37), 8. Dass es sich bei der Paarung nicht um Zufall handelt, indiziert Dehmels wirkungsästhetisch motivierte Deklamationsdevise, die ihm zufolge nicht auf »sinnlich interessante Einzeleffekte«, sondern auf »eine möglichst organische Gesamtwirkung« hin ziele (Dehmel: Ansprachen [Anm. 36], 166 f., hier 166). Zu Dehmels Heine-Gedicht vgl. Christian Neuhuber: »Der kranke Jude und der große Künstler«. Richard Dehmels Gedicht Ein Heine-Denkmal. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 125 (2006), H. 4, 561–579. Dietmar Goltschnigg und Hartmut Steinecke verweisen in ihrer umfänglichen Rezeptionsgeschichte zwar ebenfalls auf Dehmel, allerdings lediglich exemplarisch anhand des Denkmalsgedichts: Vgl. Heine und die Nachwelt. Geschichte seiner Wirkung in den deutschsprachigen Ländern. Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare. Hg. von dens. 3 Bde. Bd. 1: 1856–1906. Berlin 2006– 2011, 346–349. Für die Omnipräsenz Goethes in Dehmels Wirken und Denken sei exemplarisch auf einen Rezitationsabend am 14. März 1906, dem Erscheinungsjahr der Rundreise, im Rahmen der Goethefeier des Vereins für Kunst in Berlin verwiesen. Das Programm, das dank eigenhändiger Annotationen Dehmels auch dessen Vorliebe für Goethes Reise- und Italienlyrik dokumentiert (»Harzreise im Winter«, »Ballade Mignon« [»Kennst du das Land«] u.a.), ist dem Hamburger Katalogband beigegeben: Rüdiger Schütt: Von Kandinsky zu Quadriga. Dehmel als Mitarbeiter expressionistischer Zeitschriften. In: Henning u.a.: WRWlt – o Urakkord (Anm. 23), 205–243, hier 210. Ludwig Tieck: Reisegedichte eines Kranken / Rückkehr eines Genesenden. In: Ders.: Schriften. In zwölf Bänden. Hg. von Manfred Frank. Bd. 7: Gedichte. Frankfurt a.M. 1995, 164–262. So behandeln beide Zyklen etwa die ober- bzw. mittelitalienischen Städte Verona, Florenz, Rom, Orvieto und Pisa. Vgl. auch Wolfgang Adam: Kleine Begebenheiten aus Italien. Ludwig Tiecks Reisegedichte. In: Texte, Bilder, Kontexte. Interdisziplinäre Beiträge zu Literatur, Kunst und Ästhetik der Neuzeit. Hg. von Ernst Rohmer, Werner Wilhelm Schnabel und Gunther Witting. Heidelberg 2000, 118–147; sowie den Beitrag von Dominik Zink in diesem Band.

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teilt.76 Diverse Mythos-Parallelen rekurrieren ferner auf Dichter der Spätromantik wie Lord Byron (Child Harold’s Pilgrimage, 1812–1818) oder August von Platen (Venezianische Sonette, 1825/1834). Hinzu treten onomastische oder titulative Evokationen der großen ›Sänger‹ der bereisten Länder, wie »Dante« (RA 241), »Boccaccio[]« (RA 243) oder Homer (RA 238 f.), die ihrerseits die Gattung reiseliterarischer Dichtungskunst prototypisch konditioniert haben. Natürlich weiß Dehmel um die (literarische wie touristische) Überstrapazierung Italiens als gemeinsames Bildungserlebnis der Kunst- und Kulturelite um 1900, zumal er selbst habituell an der Praxis des ›erlesenen Reisens‹ partizipiert bzw. Nutznießer dieser »Mediatisierung Italiens in nahezu jeder Hinsicht«77 ist. Auch Dehmel dürfte für seine Welschfahrten eine mobile Reisebibliothek (in Form des obligatorischen ›Bücherkoffers‹) mit sich geführt haben, in der sich neben der mutmaßlichen Pflichtlektüre des »Baedeker« (RA 234), Meyer oder GsellFells nachweislich auch Belletristik und ›Fachliteratur‹ befreundeter Dichter und Vielreiser befanden.78 Davon, dass zur beflissenen Vor- und Nachbereitung ab 1900 zunehmend auch der Erwerb visuellen bzw. photographischen Materials gehört, zeugen die insgesamt sechs umfänglichen Postkartenalben im Nachlass Dehmels.79 Als private Memorabilia dokumentieren sie nicht nur den emotionalen Wert der archivierten Erlebnisse (Reisen, aber auch Kunstzeugnisse, historische Ereignisse, Personen u.v.m.) für die einstmaligen Besitzer, sondern auch deren Sammelleidenschaft: Allein die Griechenland- und Italienreise ist mit 74, teils sehr hochwertigen (Kunstpost)karten vertreten.80 Jedoch wäre es müßig, an dieser Stelle alle potenziellen Spuren, Prätexte und Vorbilder, die auf Dehmel eingewirkt haben könnten, aufzeigen zu wollen, zumal eine systematische Erfassung seines literarischen Geschmacksprofils bislang noch 76

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Paul Heyse: Städtebilder [1880]. In: Ders.: Gesammelte Werke. 38 Bde. Bd. 1: Gedichte. Vierte, neu durchges. und stark verm. Auflage. Berlin 1889 [1872], 282–289. Heyse gestaltet im Zuge seiner zweiten Italienreise 1877/78 insgesamt zwölf ober- und mittelitalienischen Städte in Sonettform, von denen sich Mailand, Genua, Pisa, Ancona, Venedig sowie Verona auch bei Dehmel finden. Auch wenn Heyses lyrisches Werk weit weniger Verbreitung fand als sein novellistisches und sich nur sehr vereinzelte Rezeptionsspuren in Dehmels Korrespondenz und Bibliothek ausmachen lassen (so besaß er etwa ein Exemplar von Heyses erstem Roman Kinder der Welt, 1873), ähneln sich insbesondere die Mailänder sowie die Venezianische Strophe hinsichtlich der vorgenommenen Deutung, was allerdings auch auf eine gemeinsame dritte Vorlage (womöglich Platen) rekurrieren könnte. Joseph Imorde: Michelangelo Deutsch! Berlin 2009, 37. Vgl. exemplarisch Dehmels ausführliche Replik auf einen in der Zeitschrift Pan erschienenen Essay Harry Graf Kesslers (vermutlich handelt es sich um den ersten Teil Die Kunst und die religiöse Menge der Schrift Kunst und Religion): Richard Dehmel an Harry Graf Kessler, Brief vom 15.5.1900. In: Briefe I, 349–351, hier 350. Pk-Album: I–VI, Dehmel-Archiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Pk-Album: I, 1–74, Dehmel-Archiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg.

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aussteht.81 Dass sich etwa auch zahlreiche Bände und Beispiele zeitgenössischer Reiselyrik heute weitgehend vergessener Autoren wie Gustav Falke (Neue Fahrt, 1897), Wilhelm Zaiss (Wandrung und Wiederkehr, 1905) oder Maximilian Brand (Meeresstille und glückliche Fahrt, 1906) in Dehmels Bibliothek befanden, sei nur am Rande erwähnt.82 Entscheidender im Hinblick auf eine Verortung der Rundreise im intertextuellen Feld dürfte Dehmels Poetik eines pragmatischen Eklektizismus sein. Denn er selbst ist sich durchaus bewusst, dass er in »eine[r] Zeit […] epigonische[r] Anempfindeleien«83 lebt, erachtet die poetische Ahnenschaft allerdings nicht zwangsläufig als ästhetische Bürde. So räumt er freizügig ein, sich sehr gern »beeinflussen [zu] lasse[n]«, denn er habe »eine gute Verdauung, im Hirn wie im Magen«.84 Indem er die generelle Möglichkeit einer produktiven Aneignung fremden Dichterwortes geradezu emphatisch begrüßt, geht Dehmel sogar noch einen Schritt weiter und deklariert ausgerechnet die literarische Praxis der Epigonalität, die seinerzeit als vielbemühte Kritikervokabel gerade hoch im Kurs stand, zum Indikator wahren Dichtertums: Ein Künstler, der sich nicht auf irgend eine »spezifische Energie« versteift, sondern universale Tendenzen hat, nimmt eben seine technischen Ausdrucksmittel, woher er sie kriegen kann; da liegt der oft erörterte Berührungspunkt zwischen Genie und Dilettantismus. Nur Talente verrennen sich in »ihre« Technik.85

Diesen selbstbewussten Umgang mit dem Traditionalismus, der die künstlerische Souveränität Dehmels offenbart, gilt es mit zu bedenken, will man die Rundreise in Ansichtspostkarten im Kontext ihrer intertextuellen Abhängigkeit von reiselyrischen Vorgängern bewerten. Entsprechend ›bedient‹ Dehmel – in vollem Bewusstsein seiner Traditionalität – in seinem Reisezyklus nicht nur die obligaten Ziele einer Italien- bzw. Griechenlandfahrt, sondern reanimiert auch deren rhetorisches wie motivisches Inventar, wie den für die mediterrane Landschaft prototypischen »Azur« (RA 234) des südlichen Himmels, »goldene Sonnen« und »silberne Monde« (ebd.), verwilderte 81

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Dehmel selbst hat diese manische ›Einflusssuche‹ seitens Kritik und Forschung verschiedentlich problematisiert und mit einer Aussage in einem anderen Kontext, die sich jedoch auf seine Italiendichtung übertragen ließe, die Absurdität dieses Unterfangens wie folgt entlarvt: »[W]as die Stoffwahl anbelangt, könnte man schließlich sämtliche Dichter, womöglich auch noch sämtliche Denker und einige Dutzend Forscher seit Goethe, als meine ›Vorgänger‹ bezeichnen.« (Richard Dehmel: Offener Brief [Anm. 28], 122–138, hier 137. Die Bibliothek Richard Dehmels wird als dritte Hauptabteilung des Dehmel-Archivs in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg verwahrt und ist unter der Gruppensignatur NL DA Bib erschlossen. Richard Dehmel, TB 15.2.1984. In: Bekenntnisse, 37–42, hier 39. Dehmel: Offener Brief (Anm. 28). In: Bekenntnisse, 122–138, hier 129. Ebd., 132.

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Olivenhaine (RA 236) sowie flammende »Zypressen« (RA 232, 236). Nicht jedoch um die glaubhafte Evokation einer kulissenhaften Ideallandschaft in der Tradition des antiken locus amoenus ist es ihm zu tun. Vielmehr zielt er taktisch auf einen veritablen Traditionsbruch, der sich als solcher auch dem arglosesten Leser offenbaren soll. Verfahrenstechnisch erfolgt dieser im Rahmen des epigrammatischen Formmodells einerseits durch die explosive Amalgamierung hochgradig unterschiedlicher Sujets, was Emil Ludwig an anderer Stelle veranlasst, von »Dehmels Verschmelzungsgelüste[n]«86 zu sprechen, sowie andererseits durch die systematische Deformation und Dekonstruktion des etablierten Mythos vom Süden als Kultur- und Bildungsland.87 Beiden Fällen ist es jeweils um die Erzeugung einer Spannung oder Erwartungshaltung zu tun, nur um sie im Anschluss umso wirkungsvoller brechen bzw. konterkarieren zu können. 5. Ausgewählte Stationen der lyrischen Rundreise 5.1. Die Auftaktstrophe: Straßburger Münster Straßburger Münster Der Ansicht aller Welt zum Trotz steht dieser Turm und krönt – was? – einen Klotz. Er stand beim jungen Goethe sehr in Gunst als Voll- und Höchstbeweis echt deutscher Kunst. Er steht, wie ihn der alte Goethe sah, noch heut höchst unvollendet da. (RA 232)

Ein besonders anschauliches Exempel dieses lyrischen Funktionsprinzips präsentiert Dehmel in der Eröffnungsstrophe, die aufgrund ihrer Initialstellung als programmatisches Prolegomenon für den gesamten Zyklus fungiert. Bereits die erste Gedichtzeile der insgesamt sechsversigen, vier- bzw. fünfhebig jambisch alternierenden Strophe (»Der Ansicht aller Welt zum Trotz«, RA 232) vollführt eine epigrammatische Revision, indem sie, wie bereits in III.b angedeutet, auf die äquivoke Dimension des medialen Titelbegriffs der ›Ansichtspostkarte‹ verweist und dadurch wie eine Kommentierung des eigentlichen Titels anmutet. Denn als Homonym bezeichnet die ›Ansicht‹ nicht nur wie im Fall des titelgebenden Kompositums den ›Anblick‹ bzw. das ›Abbild‹ von etwas (hier: einer touristischen Sehenswürdigkeit bzw. eines Reiseziels), sondern auch die (individuelle) ›Meinung‹ bzw. ›Auffassung‹ von jemandem bzw. »aller Welt«. Und genau gegen Letztere rebelliert das lyrische Sprecher-Ich dadurch, dass es konsequent seine eigene (selbstredend zur communis opinio stets konträr positionierte) ›Ansicht‹ vorbringt. 86 87

Ludwig: Dehmel (Anm. 10), 68. Vgl. Fritz: Jugendstil (Anm. 39), 289, Anm. 20.

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So artikuliert sich in der quasi subtitulativen Selbstkommentierung die poetische Renitenz als reiselyrische Grundhaltung, die sich sogleich auch auf der inhaltlichen Ebene fortsetzt: Denn als erste Station und folglich als Ausgangspunkt der Reise fungiert mit dem Straßburger Münster nicht nur einer der bedeutendsten gotischen Sakralbauten der westlichen Hemisphäre, sondern auch ein literarisch hochgradig präfiguriertes Kulturdenkmal – eine Bedeutungsebene, die Dehmel geradezu ostentativ ausstellt. Entsprechend interessiert sich der chronisch ironische Reisepoet auch weniger für die spektakuläre Westfassade, den Weltgerichtspfeiler oder die astronomische Uhr des Liebfrauenmünsters, das noch in seiner Jugend als höchstes Bauwerk der Welt galt, als für dessen prominente Literarisierung durch den jungen Goethe, auf den die Strophe nicht nur zweifach onomastisch rekurriert (V. 3, V. 5), sondern dessen superlativisches Werturteil »als Voll- und Höchstbeweis echt deutscher Kunst« (V. 4) sie in seinem verbindlich-doktrinären Anspruch auch merklich diskreditiert. Denn während Erwins von Steinbach steingewordener Genius mit seinen »tausend harmonierenden Einzelheiten« auf den kunstenthusiastischen Weimarer in dessen Huldigungsschrift Von deutscher Baukunst (1773) noch einen »ganze[n], große[n] Eindruck«88 auszuüben vermochte, versagt die Wirkung im Falle Dehmels bzw. seines reiselyrischen Ichs. Vielmehr nimmt die Sprecherinstanz die durch den nie vollendeten Südturm bedingte charakteristische Fragmentarik und Asymmetrie der Cathédrale Notre-Dame de Strasbourg zum Anlass, um das berühmte Gotteshaus a limine zum »Klotz« (V. 2) zu diffamieren – ein Diktum, das durch die Wahl des positiv konnotierten Verbs »krönt« (ebd.) und den eingeschobenen, metrisch zäsierenden Fragepartikel »was?« (ebd.) in seiner Abruptheit und Rigorosität zusätzlich forciert wird. Die leicht abgewandelte Anapher in Vers 3 und 5 (»Er stand« / »Er steht«) spielt in Verbindung mit der repetitiven Autoritätsgeste (»der junge Goethe« / »der alte Goethe«) nicht nur die Vergangenheit gegen die Gegenwart aus, womit gleich zu Beginn eine zentrale Grundfigur des Zyklus etabliert wird, sondern verdeutlich auch die grundsätzliche Endlichkeit und somit schwindende Verbindlichkeit der evozierten Referenz: Auch Goethe markiert in der Deutungsgeschichte dieses Kunstdenkmals nur eine Etappe, die es, wenn nicht zu überwinden, so doch zumindest – »[d]er Ansicht aller Welt zum Trotz« – kritisch zu hinterfragen gilt.

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Johann Wolfgang von Goethe: Von deutscher Baukunst (1773). In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Abt. 1, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M. 1998, 110–118, hier 114: »Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte.«

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5.2. Die oberitalienischen Stationen (Mailand und Genua) Mailand Und ward dir vor den tausend Heiligen schwach, die, eitel Marmor, rings den Dom garnieren, dann steige auf sein flaches Dach, das neunundneunzig einzelne Türmchen zieren. Das wird dich, Alles Marmor, wie ein Hain kandierter Weihnachtsbäumchen delektieren – auf einmal siehst du fern im Sonnenschein die Alpen. (RA 232 f.)

Wie sehr die lyrische Italienschelte mitunter von der realen Erfahrung Dehmels abweicht, führen exemplarisch die ober- und mittelitalienischen Strophen vor. Während das lyrische Ich der Rundreise in Mailand (Str. 5) in einer Art Ohnmachtsgebärde angesichts sakraler Reizüberflutung die spektakulären Domterrassen der Kathedrale Santa Maria Nascente mit ihren über 400 Filialen mit »ein[em] Hain kandierter Weihnachtsbäumchen« (RA 233) gleichsetzt, »bewunderte« der kultur- und südhungrige Dehmel »von der Turmplatte des Domes aus die per Dampf durcheilte Landschaft« und bekennt, obgleich ihm die Kälte des italienischen Winters zusetzt: »Trotzdem ist Mailand großartig«: »Der Dom ist geradezu sinnverwirrend mit seinen paar hundert Türmen, paar tausend Schmuckstatuetten und Millionen gotischer Knäufe, Kreuzblumen etc.«89 Nun mag man einwenden, dass es sich bei diesem Städtelob um das parteiische Zeugnis einer adressatengebundenen Italiensicht (gegenüber Dehmels Schwager Franz Oppenheimer und somit der Familie seiner Frau) handelt, zumal sich dasselbe Mailanderlebnis gegenüber dem Duzfreund Liliencron nur einen Tag später gänzlich anders ausnimmt: »Sonnabend Abend, Mailand. Maledetta la tutta Italia! Piovosa, nebliosa, fangosa – brrr! zu deutsch: wässrig, neblig, dreckig!«90 Zumindest aber die Selektivität des Verfahrens erstaunt, denn von »dem einen Abendmahl des Lionardo«, das später im Tagebuch Gegenstand einer hymnischen Bildpreisung wird,91 fällt in der Milaneser 89

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Richard Dehmel an Franz Oppenheimer, Brief vom 19.11.1893. In: Briefe I, 129. Dass die Italienreise von 1893 eindeutig als Folie für die Mailandstrophe fungiert, belegt die situative Ähnlichkeit der beschriebenen Szenerie: So rekurriert der pointierte ›Lichtblick‹ im Schlussverspaar (»auf einmal siehst du fern im Sonnenschein die Alpen« [RA 233]) auf den real erlebten Wetterumbruch in der lombardischen Hauptstadt, wo »zum ersten Mal ein kleiner Sonnenblitz aus dem niedrigen Himmel« kam (Briefe I, 129). Richard Dehmel an Detlev von Liliencron, Brief vom 20.11.1893. In: Briefe I, 129 f. Richard Dehmel, TB 21.2.1894. In: Bekenntnisse, 46–48, hier 46: »Ja, man muß dagestanden haben in Santa Maria delle Grazie; man kann sich nicht mit einem Stahlstich in verkleinertem Maßstab begnügen […]«.

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Strophe kein Wort. Für eine gewisse Verbindlichkeit seines lyrischen Postkartendiktums über die lombardische Stadt gegenüber der empirisch erfahrenen Realität dürfte immerhin sprechen, dass Dehmel daran auch längerfristig nichts zu korrigieren wünscht. Selbst Ida Dehmel, die sonst nicht um ein eigenes Votum verlegen ist, scheint diese Deutungshoheit zu respektieren, indem sie im Zuge ihrer retrospektiven Kommentierung der einzelnen Stationen für das Reisealbum im Falle Mailands auf eine persönliche Annotation verzichtet (wohl auch, weil Mailand keine eigenständige Destination der gemeinsamen zweiten Italienreise war). Stattdessen ergänzt sie das Textfeld der Bildvorderseite um eine nahezu (wort-) konkordante Abschrift der Mailandstrophe und führt so Postkartengedicht und verhandeltes Motiv auf dem gemeinsamen Bezugsmedium (Abb. 2) unmittelbar zusammen:

Abbildung 2: Ansichtspostkarte mit dem Mailänder Dom und handschriftlicher Annotation Ida Dehmels92 Genua Kaufherrin stolze: immer strahlenbreiter trägt sie bergan die meerentnommene Krone, und ihr geringstes Frachtschiff fährt heut weiter als je die kühnste Doria-Traumgallione. (RA 233)

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Pk-Album: II, 37, Dehmel-Archiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Die Abschrift weicht lediglich hinsichtlich eines zusätzlichen Exklamationszeichens am Ende des vierten Verses von der Fassung des Erstdrucks ab.

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Noch frappierender gestaltet sich die Diskrepanz zwischen empirischem Erlebnis bzw. seiner epistolaren Dokumentation und ästhetischer Reproduktion im Falle Genuas (Str. 7), jener Station der ersten Italienfahrt, welche die empfängliche Künstlernatur, ähnlich wie zuvor Wilhelm Heinse,93 mit Abstand am meisten beeindruckt hat: Von keinem anderen Ort finden sich leidenschaftlichere Hymnen und emphatischere Beschwörungen in der Korrespondenz, unabhängig vom adressierten Empfänger: »Ein wundervolles Fleckchen Erde!«, »[e]in Kolossalwerk«, »ein Eden, veredelt durch Menschenwerke, die von Jahrhunderten mächtiger Arbeit und geistesgroßer Cultur erzählen«,94 schwärmt Dehmel gegenüber seiner in Berlin verbliebenen Frau Paula; und gegenüber Liliencron bricht sich seine Begeisterung rückhaltlos Bann: »Genua!!!!!! O Detlev, daß Du das sehen könntest! Hier möchte ich ewig leben.«95 Für die lyrische Rundreise verzichtet Dehmel allerdings auf eine hymnische laus urbis. Anstelle des initiativen Aufrufs eines typisch genuesischen Vedutenmotivs erfolgt – wohl auch in Ermangelung eines echten städtischen Wahrzeichens – die unvermittelte Apostrophierung der traditionsreichen Hafen- und Handelsmetropole als »Kaufherrin stolze« (RA 233), worin wohl der mittelalterliche Beiname Genuas ›La Superba‹ mitschwingt. Noch die zweite Hälfte des Auftaktverses leitet ihre Personifizierung ein und überführt die durch ihre naturgegebene Hang- und Trichterlage spezifische Topographie Genuas in ein imposantes Inthronisierungstableau (»immer strahlenbreiter / trägt sie bergan«, ebd.). Dass es sich dabei allerdings nicht um eine ungebrochene Attribuierung historischer Größe handelt, indiziert die auch in metaphorischer Deutung noch problematische Herrschaftsinsigne der »meerentnommene[n] Krone« (ebd.), denn Genua, das jahrhundertelang autonome Seerepublik außerhalb der italienischen Pentarchie war, besaß nie ein solches Regentschaftsabzeichen, sondern zog die Legitimation seiner Macht stets aus der militärischen wie merkantilen Dominanz des nördlichen Mittelmeerraums. Die Evokation einer hehren Vergangenheit im Auftaktverspaar kontrastiert in gezielter epigrammatischer Brechung, vorbereitet durch die superlativische Wendung, mit der profanen Realität der Gegenwart. Denn in Zeiten moderner Industrialisierung übertrumpft – der doppelte Gebrauch der höchsten Steigerungsform sowie die antonymische Konstruktion auf inhaltlicher Ebene machen dies überdeutlich – noch das »geringste[] Frachtschiff« die »kühnste Doria-Traumgallione« (ebd.). Auch wenn Dehmel in Lexik und 93 94 95

Zu Heinses Genuaerlebnis vgl. Albert Zippel: Wilhelm Heinse und Italien. Jena 1930, 45 f., der auch bereits, allerdings ohne die jeweilige Italienerfahrung systematisch abzugleichen, auf die (künstlerische) Wesensverwandtschaft beider Dichter hingewiesen hat. Richard Dehmel an Paula Dehmel, Brief vom 22.11.1893. In: Briefe I, 130–133, hier 130 f. Vgl. auch Dehmels übrige Briefe an seine Frau im Zeitraum der Reise: Br: D: 246–249, DehmelArchiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Richard Dehmel an Detlev von Liliencron, Postkarte vom 23.11.1893. In: Br: D: 1104–1113, Dehmel-Archiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Hervorhebung im Original.

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Drastik sich nicht vollends dem apodiktischen Urteil seines poetischen Gewährsmannes Heine, der Genua »häßlich über alle Maßen«96 fand, angeschlossen haben mag, so gerät die kürzeste Strophe der gesamten Reisefiktion als Kontrafaktur der längsten faktualen Ortsbeschreibung doch zum nüchternen Abgesang auf die große Geschichte der Stadt, für die im Schlussvers ihr berühmtester Sohn, der Admiral Andrea Doria, den Dehmel in kompositorischer Wortschöpfung onomastisch evoziert, metonymisch einsteht.97 5.3. Florenz Florenz Du Allerschönste, Liebling aller Welt, einst manchem Herrn, nun jedem Gaffer feil, und immer noch von Zier und Reiz geschwellt, so lehnst du stolz auf hehrem Ruhebett, dein Haupt wie eines Turmes Zinne steil, dein Schoß wie offne Rosen lebensfroh, und gar den Busen schmückt als Amulett die heilige Kunst des Fra Angelico. (RA 241)

Im Falle der 42. Strophe über die toskanische Hauptstadt Florenz greift der Dichter schon im Zuge der Titelgebung, die nur vermeintlich das nominelle Muster der jeweiligen Destination wiederholt, implizit auch die vorchristliche Bezeichnung des Siedlungsortes Fiorentina (›die Blühende‹) auf. Dass Dehmel dabei nicht lediglich einer spontanen Eingebung bzw. seiner generellen Lust am assoziationsreichen Wortspiel folgt, belegt die vorherige Etablierung des semantischen Felds in der Florenz-Korrespondenz, wo die Kunst- und Kulturmetropole bereits »zu einem wahren Garten der Meisterschaft« stilisiert wurde, der seine »Knospen und Blüten von hier aus über ganz Italien verstreut«.98 Bereits auf der Ebene des Titels installiert Dehmel damit ein Wortfeld, das sich für die gesamte Strophe als bedeutungskonstitutiv erweist. Doch zunächst ruft er mit der persönlichen, wiederum superlativisch gesteigerten Apostrophierung der Stadt als »Du Allerschönste, Liebling aller Welt« (RA 241) folgerichtig auch den zweiten metaphorischen Beinamen der Etruskerstadt, La bella (›die Schöne‹), auf und schreibt sich in die lange 96 97 98

Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In Verb. mit dem HeinrichHeine-Institut hg. von Manfred Windfuhr. 16 Bde. Bd. 7, I: Reisebilder III/IV. Text. Hamburg 1986, 13–80, 76. Zu Dehmels Bewunderung Dorias (1466–1560), dessen Palazzo er während seines Aufenthalts in der Stadt besichtigt, vgl. Richard Dehmel an Paula Dehmel, Brief vom 22.11.1893. In: Briefe I, 130–133, hier 132. Richard Dehmel an Paula Dehmel, Brief vom 6.12.1893. In: Briefe I, 138 f., hier 139.

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Geschichte florentinischen Städtelobs ein. Während der von ihm hochverehrte Dante Alighieri, dem er mit Dante Guidante (1906) zeitgleich ein eigenes Dichtergedicht widmet,99 seine Heimatstadt allerdings im 15. Gesang der Divina Commedia noch in mariologischer Überformung als reine Virgo beschwört (»Florenz war innerhalb der alten Mauer […] / Voll Maß und keusch, sein Frieden war von Dauer.«100), spielt Dehmel, wie bereits in der Genuastrophe, erneut die Gegenwart gegen die Historie aus. Denn während die »Allerschönste […] einst manchem Herrn« (RA 241) unterstand, womit an das stadtgeschichtlich bedeutsame Patronat der Medici im Quattro- und Cinquecento sowie die nie wieder erreichte kulturelle Blütezeit der secoli d’oro erinnert wird, bietet sie sich heute wahllos »jedem Gaffer feil« (ebd.), wird also von der einstmals exquisiten und begehrten Kurtisane zum ›Mädchen für alle‹ degradiert. Die Personifizierung als wenig wählerische Konkubine und die prostitutive, markant erotisch-sexuelle Konnotation der Szenerie ist gewollt und wird im Fortgang der Strophe nicht nur weitergeführt, sondern sogar noch forciert. In Vers 4 überführt Dehmel die spezifische topographische Lage der Arnostadt an den Hängen des Apennin sowie die durch ihre mittelalterlichen Geschlechtertürme geprägte Silhouette in die dichterische Ekphrasis eines lasziv liegenden Frauenakts: Florenz lehnt »stolz auf hehrem Ruhebett, [ihr] Haupt wie eines Turmes Zinne steil« (ebd.). Als entscheidend sowohl im Hinblick auf die Deutung als auch auf den epigrammatischen Spannungsaufbau erweist sich dabei die ortsuntypische bildkünstlerische Vorlage, die Dehmel aufruft. Denn der spätestens seit den skandalisierten Verwandlungen der Venus (1893) routinierte Beschwörer erlesener Frauenschönheit modelliert seine urbane Aphrodite in Positur und Attitüde gerade nicht nach dem Vorbild der antiken, ihm wohlbekannten Mediceischen Venus101 99

Zu Dehmels Dante-Verehrung vgl. exemplarisch Richard Dehmel an Detlev von Liliencron, Brief vom 13.2.1894. In: Briefe I, 144–147, hier 146: »Detlev, Du weißt, wie ich vor Dante kniee; seine schönsten Stellen habe ich wol zwanzig, dreißig Mal gelesen und sehe sie alle vor mir, wie aus farbigem Erz«. Vgl. ebenso seinen Tagebucheintrag vom 13. Februar 1894 (Bekenntnisse, 36 f.). Und auch im Zuge seiner ersten Italienreise zollt Dehmel der besonderen Aura von Florenz als Heimatstadt des großen Humanisten Tribut, indem er scherzhaft konstatiert, dass »zu allem Überfluß […] auch noch Dante hier geboren« wurde (Richard Dehmel an Paula Dehmel, Brief vom 6.12.1893. In: Briefe I, 138 f., hier 139). Zu Dehmels Rezeption und Übertragung romanischer Sprachen und Autoren vgl. weiterführend Karl Oetter: Richard Dehmel als Übersetzer romanischer Dichtungen. Würzburg 1936. 100 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Vollst. Ausg. Aus dem Italien. übertr. von Wilhelm G. Hertz. Mit einem Nachwort von Hans Rheinfelder sowie Anmerkungen und Literaturhinweisen von Peter Amelung. 6. Auflage. München 1992 [1978], 376. 101 Wie vertraut Dehmel mit den diversen Venustypen, insbesondere der in den Uffizien verwahrten Venus von Medici, war, belegt exemplarisch eine Postkarte Otto Erich Hartlebens, in welcher dieser die Skulptur – in Anspielung auf Dehmels Gedichtzyklus Verwandlung der Venus – anthropomorphisiert: »Die Venus von Medici hat mir – wenn ich sie recht verstanden habe – sie

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oder der ihr nachgebildeten schaumgeborenen Liebesgöttin Botticellis,102 die beide dem Typus der schamhaften Venus pudica angehören und für die Florenz weltberühmt ist. Dehmels weibliche Figur hingegen gibt sich unverhüllt und ungehemmt in all ihrem »Zier und Reiz« (ebd.) dem Betrachterblick preis und stellt sich somit in die Tradition der sinnlich-verführerischen Venus impudica, wie sie insbesondere in der Nachfolge Giorgiones für die venezianische Malerei des 16. Jahrhunderts kennzeichnend war. Dass es sich darüber hinaus höchstwahrscheinlich um die ebenfalls in den Florentiner Uffizien verwahrte Tizianische Venus (Venere di Urbino, 1538) und damit um die Ikone erotischer Aktdarstellung und Weiblichkeit um 1900 schlechthin handelt,103 die Dehmel im Zuge seiner ersten Italienreise auch gesehen haben dürfte,104 plausibilisieren nicht nur die analoge Komposition als liegender Akt sowie der Umstand, dass Tizian diesem als Inbegriff der sinnlichen Renaissance galt,105 sondern auch die in ihrer expliziten Sexualität kaum camouflierte Folgestrophe. Indem sich Fiorentinas »Schoß wie offne Rosen lebensfroh« darbietet, wird mit der voll erblühten Blume, die in ihrer Kelchform bildsymbolisch die weiblichen Genitalien analogisiert,106 nicht nur ein tradierter Topos der Florenz-Enkomiastik sowie das ambigue Floralvokabular konventioneller Venusrhetorik bemüht,107 sondern auch ein bedeutungstragendes Requisit im Tiziangemälde aufgerufen. In ihrer rechten Hand hält Venus ein Bouquet

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sprach italienisch – einen besonders herzlichen Gruß an dich aufgetragen. Sie fügte noch Verschiedenes hinzu, ich verstand nur noch das Wort cambiamenti und glaubte ein Lächeln und dann ein leichtes Schütteln des Hauptes wahrzunehmen. Es war aber schon 4 Uhr und nicht mehr ganz hell und ich kann mich getäuscht haben. Dein Otto Erich.« (Otto Erich Hartleben an Richard Dehmel, Postkarte vom 7.1.1891. In: Otto Erich Hartleben: Briefe an Freunde. In: Die Neue Rundschau 22 (1911), H. 1, 350–365, hier 350). Cleomene di Apollodoro: Venere de’ Medici, Marmorskulptur, 1. Jahrhundert v. Chr., 153 cm; Sandro Botticelli: La nascita di Venere, um 1485, 172,5 x 278,5 cm, Öl auf Leinwand, beide Galleria degli Uffizi, Florenz. Tizian: Venere di Urbino, 1538, 119 x 165 cm, Öl auf Leinwand, Galleria degli Uffizi, Florenz. Zur erotischen Diskursivierung des Bildes von Heinse bis Platen vgl. Reimann: Venedig (Anm. 8), 140–150. Für die Jahrhundertwende vgl. neuerdings die paradigmatische Analyse der literaturästhetischen Wirkungsgeschichte des Gemäldes Amor Sacro e Amor Profano (1514, dt. Himmlische und irdische Liebe) am Beispiel von Heyse, Meyer und Wedekind durch Constanze Baum: Brechung und Begierde. Tizian und die Literatur der Jahrhundertwende. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 27 (2017), H. 3, 510–527. Dehmel verbrachte 1893 insgesamt drei Tage in der Kunstmetropole am Arno (5. bis 7. Dezember). »O, man suche die echte heiße Sinnlichkeit der Renaissance, noch durchströmt vom goldnen Sonnenblut des Tages, aber schon umhüllt vom müde fallenden Saum der Abendschatten, und man steht erglühend und versinkend, stumm, vor Tizian! –«, Richard Dehmel, TB 19.2.1894, 42–45, 45. So gilt Flora, die römische Göttin der Blumen, der Fruchtbarkeit und des Wachstums gemeinhin als Personifikation der (prosperierenden) Stadt Florenz. Dieselbe sexuelle Konnotation der Rosenmotivik dürfte auch in Dehmels programmatischem Liebesgedicht Die Rose (aus dem Band Erlösungen, 1891) mitschwingen, vgl. dazu allgemein Hagen: Dehmel (Anm. 7), 32.

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roter (!) Rosen, das in seinem desolaten Zustand (das Gebinde löst sich auf, die ersten Blüten verwelken bereits) auf die Vergänglichkeit aller irdischen Schönheit verweist. Und da die Dehmel’sche Venus metaphorisch für die Arnostadt steht, indiziert das bildkünstlerische Memento mori im übertragenen Sinne auch die Endlichkeit von Florenz’ historischer Größe sowie im vorliegenden Gattungskontext seine Überkommenheit als vielbewundertes Reiseziel. So sagt die Strophe letztlich weniger etwas über die Stadt und ihre kulturellen Reichtümer als über ihre zeitgenössischen Besucher aus. Hintergrund dieser offen artikulierten Stadtschelte, mit der sich Dehmel nicht zuletzt in die Tradition der biblischen Hure Babylon als Sinnbild urbaner Unmoral einschreibt (Offb 17), bildet die bereits erwähnte massentouristische Dynamisierung des Italienerlebnisses infolge der Eröffnung der Gotthardbahn, die auch breiteren Bevölkerungsschichten einen Aufenthalt im Süden ermöglichte, so dass insbesondere Florenz Ende des 19. Jahrhunderts »zum Ziel eines Reiseproletariats aus entfesselten Gymnasiallehrern und ihren Schülern«108 avancierte – eine Klientel, über die Wilhelm Uhde zur selben Zeit in seinen Florentiner Briefen (1899) urteilte: »Sie sehen alles, aber sie empfinden nichts.«109 Dieses Diktum mangelnder Kunstemphase wiederum deckte sich durchaus auch mit Dehmels eigener touristischer Florenzerfahrung. Denn wiewohl er anlässlich seines ersten Besuchs der toskanischen Hauptstadt voll ehrlicher Bewunderung zugesteht, »der eigentliche Kunstherd Italiens« zu sein, reflektiert er hellsichtig wie selbstkritisch zugleich die grundsätzliche Unmöglichkeit einer auch nur annähernd holistischen Kunsterfahrung und damit auch die ganz persönliche rezeptive Insuffizienz: Man würde Monate brauchen, um nur mit der Schaar [sic] der schöpferischen Geister, die sich hier entwickelt und verewigt haben, geschweige denn mit ihren Werken einigermaßen vertraut zu werden. Die Meisterwerke stehen hier geradezu auf den Straßen herum, an allen Ecken und Plätzen; in den Galerien, Kirchen und Museen mögen sie nach tausenden zählen.110

108 Imorde: Michelangelo (Anm. 77), 36 f., unter Rekurs auf Wilhelm Uhdes dritten Florentiner Brief. Vgl. Wilhelm Uhde: Am Grabe der Mediceer. Florentiner Briefe über deutsche Kultur. Dresden/Leipzig 1899, 14–25. 109 Uhde: Am Grabe der Mediceer (Anm. 108), 11. 110 Richard Dehmel an Paula Dehmel, Brief vom 6.12.1893. In: Briefe I, 138 f., hier 139. Dehmels Florenzerlebnis unterlag mutmaßlich einem ästhetischen Wandel: So nahm sich, den exklusiven Kontakten zu hochrangigen Mitgliedern der Deutschflorentiner wie etwa zu Adolf von Hildebrand (1847–1921), »de[m] führenden Plastiker und Ästhetiker der ganzen Generation«, nach zu folgen, der erste Besuch durchaus vielversprechend aus (Bab: Dehmel [Anm. 7], 147). Erst die zweite Reise scheint diese positive Erfahrung konterkariert zu haben. Vgl. auch Anm. 111.

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Dehmels Florenzerlebnis spiegelt sich motivisch darüber hinaus auch in einer Postkarte mit zeitgenössischer Totalaufnahme der im Herzen der Stadt gelegenen Loggia dei Lanzi wider (Abb. 3), auf welcher, wie ein Notat seiner Reisebegleiterin auf der Kartenrückseite belegt, die eigentlichen Kunstschätze – darunter Cellinis spektakulärer Perseus (Perseo con la testa di Medusa, 1554) und Giambolognas Raub der Sabinerinnen (Ratto delle Sabine, 1579), eine meisterhafte Figura serpentinata – vor lauter Menschenmassen förmlich untergehen.

Abbildung 3: Ansichtspostkarte mit Florenzmotiv (Loggia dei Lanzi), und handschriftlicher Annotation Ida Dehmels auf der Rückseite111

Während der Kunst- und Kulturtourist Dehmel auf der faktischen Reise schließlich kapituliert (»Ich werde nur noch morgen bleiben, weil es zwecklos wäre, noch einen Tag auf flüchtiges Staunen zu verwenden.«112), invertiert das lyrische Ich dieses Szenario in der Rundreise und lässt Florenz zum Opfer seines eigenen künstlerischen Kapitals und Erbes werden: Auf die lyrische Beschwörung der Stadt als Liebesgöttin und Inbegriff weiblicher Sinnlichkeit folgt – gattungsdramaturgisch folgerichtig – der umso harschere Bruch, indem Dehmel das konventionell stets offen zur Schau gestellte Dekolleté der Venus impudica (»und gar den Busen«, RA 241), das die Klimax der epigrammatischen Steigerung markiert, aus-

111 Pk-Album: II, 22, Dehmel-Archiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Die Rückseite der ungelaufenen Karte weist folgende Beschriftung in der Handschrift Ida Dehmels auf: »Dieser Loggia hab ich nie Geschmack abgewinnen können. Diese Häufung von Kunstwerken an öffentlicher Straße giebt [sic] weder einen imponierenden Eindruck, noch kann man die einzelnen Schönheiten genießen.« (Transkription J. I., Hervorhebung im Original). 112 Richard Dehmel an Paula Dehmel, Brief vom 6.12.1893. In: Briefe I, 138 f.

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gerechnet mit der »heilige[n] Kunst des Fra Angelico« (ebd.) dekoriert. Im Gegensatz zur sittsamen Variante, die Brust und Scham züchtig bedeckt, werden die Geschlechtsmerkmale im Falle der voluptuösen Stadtschönheit also gerade akzentuiert, allerdings in höchst provokanter, ja blasphemischer Weise. Denn mit Fra Angelico (i.e. Guido di Pietro, um 1400–1455),113 zitiert er nicht nur das Musterbeispiel eines pictor christianus (Vasari) an, sondern zugleich auch den Lieblingsmaler der europäischen Avantgarde, der in der Nachfolge Oscar Wildes (San Miniato, 1875) und im Zuge des Renaissancismus um 1900 vollends zum ›Engelsmaler‹ avanciert war.114 So wäre es zumindest denkbar, dass Dehmel mit seinem onomastischen Malerzitat, das die christliche Sakralkunst zum »Amulett« (ebd.) und folglich zum weltlichen Frauenzierrat degradiert, auch auf Stefan Georges Gedicht Ein Angelico (aus dem Gedichtband Hymnen, 1890) Bezug nimmt, das dieser in analogisierendem Gestus (und unter massiver Zuhilfenahme von Théophile Gautiers Museumsführer [1882]) nach Fra Angelicos Marienkrönung (1434/35) im Frührenaissancetrakt des Louvre modelliert hatte,115 und somit eine poetologische Lesart intendiert. Denn als Inbegriff und populäre Ikone einer verabsolutierenden Kunstverehrung im Sinne des l’art pour l’art eignet Fra Angelico in besonderem Maße als Projektionsfläche für Kritik an George sowie den seinerzeit grassierenden Ästhetizismus, für den der Herausgeber der Blätter für die Kunst wie kaum ein zweiter Lyriker um 1900 einstand – zumal Dehmel, anders als seine spätere Frau Ida,116 dem Engelsmaler als Apologet einer rein christlichen Kunst auch selbst reserviert gegenüberstand.117 Ein finaler Clou, der sich sowohl 113 Womöglich hat Dehmel dem berühmten Savonarola-Kloster San Marco, für dessen Fresken der kunstsinnige Dominikanerpater aus Fiesole gemeinsam mit seinem Mitbruder Fra Bartolomeo verantwortlich zeichnet, bereits im Zuge seiner ersten Italienfahrt im Winter 1893 einen Besuch abgestattet (immerhin weilte er drei Tage vor Ort), sicher jedoch auf der zweiten Reise im Frühjahr 1900, wie ein entsprechendes Zeugnis Ida Auerbachs nahelegt. Vgl. Pk-Album; II, 24, Dehmel-Archiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. 114 Vgl. etwa auch die figurale Konzeption Fra Angelicos in Paul Ernsts Tod des Cosimo (1911) als Antagonist zu Savonarola. 115 Fra Angelico: L’Incoronazione della Vergine, um 1435, 209 x 206 cm, Louvre, Paris. Théophile Gautier: Guide de l’amateur au Musée du Louvre. In: Ders.: Œuvres complètes. 11 Bde. Bd. 8. Genf 1978, 1–194. Vgl. dazu zuletzt Jutta Saima Schloon: Modernes Mittelalter. Mediävalismus im Werk Stefan Georges. Berlin u.a. 2019, 200 f., derzufolge die monastische Bruderschaft, die mit Fra Angelico aufgerufen wird, auch auf das utopische Ideal eines künstlerischen Bundes verweist, wie er zeitgleich im George-Kreis Gestalt annahm, dessen sozio-literarische Organisationsform der Meister- und Jüngerschaft Dehmel als konsequentem literarischen Einzelgänger in höchstem Maße widerstrebt haben dürfte. 116 Fra Angelico markiert das seltene Beispiel einer ästhetischen Divergenz des reisenden Paares. Jedenfalls scheint Dehmel das enthusiastische Geschmacksurteil seiner Frau, die einer persönlichen Notiz auf einer Postkarte zufolge bekennt, »in Florenz am meisten San Marco mit Fra Angelico« zu lieben, weder zum Zeitpunkt selbst noch nach der Reise geteilt zu haben (zit. nach Pk-Album: II, 24, Dehmel-Archiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg). 117 Vgl. Richard Dehmel an Christoph Flaskamp, Brief vom 26.6.1910. In: B II, 216–220, hier 219.

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in Bezug auf George als auch in Bezug auf Florenz lesen lässt, besteht – quasi als künstlich prolongierte Pointe – darin, dass das durch seine Versendstellung zusätzlich betonte »Amulett« als Apotropaion per definitionem eigentlich die Aufgabe hat, jegliches Unheil und Leid von seinem Träger abzuwenden. Zumindest im Falle von Florenz bewirkt der vermeintliche Glücksbringer jedoch das genaue Gegenteil: Es ist die Kunst selbst, die, zur bloßen Attraktion verkommen, als Publikumsmagnet für die Scharen beflissener Bildungsjünger verantwortlich zeichnet und die »Allerschönste« zum »Liebling aller Welt« prostituiert. 5.4. Venedig Venedig: Punta della Salute Hier möcht ich sterben, alt, wie Tizian starb, doch in verhängter Gondel und allein, durch einen Spalt nur glühn im Abendschein verwitternde Paläste glorienfarb, schlaftrunken schaut die Wasserfläche drein und haucht mir eine Seelenruhe ein, die niemals um ein ewiges Dasein warb – so möcht ich sterben – aber leben: nein! (RA 241)

Einen Höhepunkt innerhalb der gesamten Rundreise markiert die 44. Strophe über Venedig, indem sie die Erwartungen an das architextuelle Muster des Epigramms nicht nur in formvollendeter Weise erfüllt, sondern überdies noch mit einer poetologischen Selbstpositionierung verbindet. Aufgrund ihrer Aufnahme in diverse Venedig-Anthologien dürfte es sich zudem um die bekannteste und am meisten interpretierte Strophe des gesamten Zyklus handeln.118 Mit der Punta della Salute, die auf der Landzunge der Insel Dorsoduro den Eingang zum Canal Grande bildet, wird bereits im Titel einer der markantesten Plätze der Lagunenstadt evoziert, der schon Mitte des 18. Jahrhunderts als venezianisches »Lieblingsmotiv«119 Canalettos galt und von Zeitgenossen wie Antonio Visentini in 118 Vgl. exemplarisch Venedig im Gedicht. Hg. von Pascal Morché. Frankfurt a.M. 1986, 129; Venedig. Der venezianische Traum. Gedichte. Hg. und ausgew. von Tom Schulz und Ron Winkler. Frankfurt a.M. 2015, 94; oder Franz Peter Waiblinger: Reise Textbuch Venedig. Ein literarischer Begleiter auf den Wegen und Kanälen durch die Stadt. München 1988, 208. Auch Grimm: Italien-Dichtung (Anm. 2), 240, sowie Riemerschmid/de Bruyn: Italien (Anm. 2), 36, enthalten diese Strophe. Die Forschungsgeschichte verzeichnet einleitend Anm. 8. 119 Karl Lankheit: Von der napoleonischen Epoche zum Risorgimento. Studien zur italienischen Kunst des 19. Jahrhunderts. München 1988, 19. Vgl. Canaletto: Santa Maria della Salute (ca. 1725), 124 x 213 cm, Louvre, Paris: L’ingresso al canal grande con la dogana e la chiesa della salute (ca. 1730), 49,5 x 73,7 cm, The Museum of Fine Arts, Houston (Texas), oder: La chiesa della Salute (ca. 1735), 53 x 70 cm, Villa Necchi Campiglio, Collezione FAI, Mailand.

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Stichen und Kopien reproduziert wurde. Seine tausendfache Distribuierung als postkartentaugliche Vedute lässt noch Thomas Manns Erzähler in Der Tod in Venedig (1911) vom »erstaunlichsten Landungsplatz« als einzig würdiger Pforte für »die unwahrscheinlichste der Städte« schwärmen, denn »auf dem Bahnhof in Venedig anlangen, [hieße] einen Palast durch eine Hintertür betreten«.120 Wie seinem Schützling Mann war es allerdings schon Dehmel wenige Jahre zuvor mitnichten um eine lediglich affirmative Beschwörung, geschweige denn um eine panegyrische Sublimierung der überreich besungenen Serenissima zu tun, obgleich ihn Venedig als »Märchenstadt«121 anlässlich seines eigenen Besuchs durchaus beeindruckt hatte. Stattdessen adaptiert er zwar gezielt populäre Topoi und Motive des venezianischen Bild- und Sprachrepertoires, jedoch nur um diese im Anschluss nach dem Umkehrprinzip der epigrammatischen Struktur zu persiflieren: So haben die bisherigen Interpreten konsequent die ironische Konnotation des Titels übersehen, denn die Punta della Salute fungiert nicht nur als historisch korrekter topographischer Marker für die einstmalige Hauptanlegestelle am südlichen Ufer des San Marco Beckens,122 sondern ruft auf wortsemantischer Ebene über das italienische ›salute‹ zunächst einmal ganz basal das Begriffsfeld geistigen wie körperlichen ›Wohlbefindens‹ sowie – in der Nebenbedeutung – auch der ›Errettung‹ auf. Denn ihre eigentliche Bezeichnung verdankt Venedigs Tor zum Meer der nahegelegenen Votivkirche Santa Maria della Salute, welche die Republik Anfang des 17. Jahrhunderts als Dank für die Überwindung einer schlimmen Pestepidemie zu Ehren der Heiligen Jungfrau errichten ließ. Auf das lyrische Ich versagt dieser Anblick allerdings seine erbauliche Wirkung und veranlasst es im Gegenzug zu einer emphatischen Bekundung seines Ablebenwollens direkt an Ort und Stelle (»Hier möcht ich sterben«, RA 241). Dass sich der Initialausruf nicht nur als idiomatische Wendung, die bereits im 19. Jahrhundert zum lyrischen Phraseologismus verkommen war,123 sondern inter- wie intratextuell auch 120 Thomas Mann: Tod in Venedig. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher. Bd. 2: Frühe Erzählungen. 1893–1912. Hg. und textkrit. durchges. von Terence J. Reed. Frankfurt a.M. 2004, 501–592, hier 522. 121 Auch wenn Dehmel seinen Aufenthalt in Venedig im Rahmen der ersten Italienreise im Winter 1893 aufgrund einer plötzlichen Erkrankung seiner Frau Paula abbrechen musste und vermutlich nur zwei bis drei Tage in der Lagunenstadt zubrachte, zeugt die Korrespondenz von beträchtlichem Enthusiasmus. Seine Wertschätzung der venezianischen Schule legt zudem nahe, dass er zumindest einige Sehenswürdigkeiten und Kunstdenkmäler wie San Marco, Santa Maria della Salute, die Gallerie dell’Accademia oder Tizians Grabeskirche Santa Maria Gloriosa dei Frari auch tatsächlich in Augenschein nehmen konnte. Vgl. Richard Dehmel an Georg Ebers, Brief vom 9.12.1893. In: Briefe I, 139. 122 Um 1900 war Punta della Salute, wie ein Blick in historische Reiseliteratur und auf Ansichtspostkarten zeigt, die geläufige Bezeichnung und wurde erst später von Punta della Dogana (nach dem gleichnamigen Zollgebäude) abgelöst. 123 Vgl. exemplarisch die mehrfache Verwendung in Balthasar Rebers Lobpreisung der St. Petersinsel im Bielersee und ihres berühmtesten Bewohners Jean-Jacques Rousseau (Die Insel St.

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als Rekurs auf Goethes Überlieferung des volkstümlichen Sprichworts ›Vedi Napoli e poi muori‹ lesen lässt,124 die Dehmel in der Neapelstrophe desselben Zyklus bereits in konterkarierender Intention aufgegriffen hatte (vgl. RA 235), suggeriert, dass der Sterbewunsch keinesfalls positiv konnotiert sein kann. Welche programmatische Bedeutung diese Wendung indes für die gesamte Strophe besitzt, belegen eindrücklich zwei ungelaufene Ansichtspostkarten aus Dehmels Europaalbum (Abb. 4 und Abb. 5),125 deren kolorierte Reproduktion des Dogenpalasts sowie des Canal Grande der Dichter jeweils handschriftlich mit dem Auftakt- bzw. Schlussvers als Bildunterschrift versehen hat. Dass diese ironisch kommentierende Annotation wie zufällig an die überwiegend in Epigrammform gehaltene Subscriptio eines Emblems erinnert, dürfte dabei eine gewollte autopoeitische Finesse Dehmels sein: Genau wie die Venedigstrophe als Ganze, welche sie pars pro toto aufruft, reklamiert die Unterschrift auch in der abbreviierten Versform für sich die Legitimation, das ›Bild‹ Venedigs auszudeuten.

Abbildung 4: Ansichtspostkarte mit Venedigmotiv (Canal Grande) und handschriftlicher Annotation Richard Dehmels

Pierre, 1857), mit der Dehmels Venedigstrophe die analoge Auftaktszenerie der bevorstehenden Landung teilt. 124 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise II (1817). In: Ders.: Sämtliche Werke (Anm. 88), Abt. 1, Bd. 15, 1: Italienische Reise. Teil 1. Hg. von Christoph Michel und HansGeorg Dewitz. Frankfurt a.M. 1993, 191–372, hier 205. 125 Pk-Album II: 50 (Abb. 4), 48 (Abb. 5), Dehmel-Archiv, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg.

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Und tatsächlich wird der mit Verve vorgebrachte Todeswunsch sogleich mehrfach relativiert: So präzisiert das lyrische Ich noch im Auftaktvers seine Letalitätsvorstellung sowohl im Hinblick auf die präferierte Lebensdauer (»alt, wie Tizian starb«, RA 241) als auch, was, wie der adversative Konjunktor zu Beginn des zweiten Verses anzeigt, größere Dringlichkeit suggeriert, hinsichtlich der Art und Weise (»doch in verhängter Gondel und allein«, ebd.). Anhand dieser mehrfach korrigierten Todesphantasie wird deutlich, dass sich die onomastische Referenz auf den großen venezianischen Renaissancemaler nicht nur dessen unmittelbarer Gegenwart in der Pestilenzkirche verdankt, die gleich mehrere bedeutende Tiziangemälde, darunter Das Pfingstwunder (ital. La Pentecoste, 1545/46),126 verwahrt. Die frappante konstellative Analogie verweist, wie bereits Christiane Schenk erkannt hat,127 auch auf Hugo von Hofmannsthals lyrisches Dramenfragment Der Tod des Tizian (1892), dessen Erstausgabe sich in Dehmels Bibliothek befand128 und mit dessen Verfasser Dehmel insbesondere in der mutmaßlichen Entstehungszeit der Rundreise verschiedentlich korrespondiert hatte.129 Entsprechend handelt es sich bei dieser ›Verweis im Verweis‹-Konstruktion mitnichten um ein referentielles Spiel, sondern um einen verdeckten Schlüssel zu Dehmels Kunstverständnis: Während in Hofmannsthals ›Proverb in Versen‹ der Malerfürst von einer dilettierenden Schülerschaft umgeben ist, der es sowohl an Können als auch an Verständnis für wahre Kunst mangelt, lehnt das lyrische Sprecher-Ich eine solche hospizliche Behelfskompagnie entschieden ab und will in seiner letzten Stunde nicht von Unwissenheit umgeben sein. Aus der Boykottierung der Sterbegesellschaft, die bei Hofmannsthal metaphorisch für die Literaten des Jungen Wien stehen, lässt sich nicht zuletzt auch eine poetologische Positionierung des lyrischen Ichs als Alter Ego des künstlerischen Solitärs und Nonkonformisten Dehmel ablesen, der zeitlebens sein dichterisches Einzelgängertum kultiviert und, wie schon zuvor im

126 Tizian: La Pentecoste o Discesa dello Spirito Santo (1545/46), 570 x 260 cm, Basilica di Santa Maria della Salute, Venedig. 127 Vgl. Schenk: Venedig (Anm. 8), 434, die jedoch darauf verzichtet, den Bezug vollends auszudeuten, vermutlich auch weil ihr, wie die falsche Wiedergabe des Auftaktverses vermuten lässt (»So möcht ich sterben als wie Tizian starb«), die ironische Konnotation desselben entgangen ist. 128 Hugo von Hofmannsthal: Der Tod des Tizian. Ein dramatisches Fragment von H. v. H. geschrieben 1892. Aufgefuehrt als Totenfeier fuer Arnold Boecklin im Kuenstlerhause zu Muenchen den 14. Februar 1901. Berlin [1901]. Unter der Signatur NL DA Bib: Mus 281 in der Dehmel-Bibliothek als Teil des Dehmel-Archivs in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek verwahrt. 129 Martin Stern macht zwei Phasen der Intensivierung der Beziehung zwischen Dehmel und Hofmannsthal aus: die Jahre von 1898 bis 1901 sowie von 1902 bis 1906: Vgl. Hugo von Hofmannsthal/Richard Dehmel: Briefwechsel 1893–1919. Hg. von Martin Stern. In: HofmannsthalBlätter 21/22 (1979), 1–130, hier 98.

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Falle Georges, jede Form der Gruppenzugehörigkeit strikt abgelehnt hat.130 Denn dass es sich bei dem Aufruf Tizians explizit nicht um eine Autoritätsgeste in adorierend-affirmativer Funktion handelt, verdeutlicht die Diskrepanz zwischen lyrisch-fiktionalem und faktualem Kunsturteil. So steht die Diffamierung, die der Malerfürst im Gedicht implizit dadurch erfährt, dass er aufgrund seines biblischen Alters zum bloßen Sterbevorbild reduziert wird,131 Dehmels persönlicher Wertung diametral entgegen: War ihm Tizian doch, wie die euphorischen Notate im Kontext seiner ersten Italienreise belegen, nichts weniger als »de[r] größte[] Maler, der jemals auf der Erde stand«,132 und avancierte – in konsequenter Fortschreibung der Florenzstrophe – zum vitalistischen Inbegriff einer »echte[n] heiße[n] Sinnlichkeit der Renaissance«.133 Die Folgeverse 3, 4 und 5 widmen sich schließlich der Beschreibung der Stadt(-ansicht), wobei unklar bleibt, ob es sich um eine Fortsetzung der Todesphantasie aus den Versen 1 und 2 oder um die empirisch erfahrene Gegenwart der Sprecherinstanz handelt, zumal die deskriptive Resonanz auffällig vage und summarisch ausfällt (»verwitternde Paläste [glühn] glorienfarb. / Schlaftrunken schaut die Wasserfläche drein«, RA 241) und folglich wenig dazu beiträgt, die städtebauliche Schönheit der Serenissima zu beschwören.134 Als »schemenhaftes, flüchtiges Venedig, das jeder Anschaulichkeit entbehrt und seinen Ort primär im Text hat«, entspricht auch Dehmels Lagunenstadt der allgemeinen Tendenz zur Entkonkretisierung und damit der Entmythisierung Venedigs bis hin zum »Niemandsland«, wie Angelika Corbineau-Hoffmann sie für die literarische Moderne ausmacht.135 Entscheidend dürfte in diesem Kontext auch sein, dass das lyrische Ich die Serenissima gar nicht erst betritt. Stattdessen verharrt es außerhalb des eigentlichen

130 Auch dass Dehmel in den 1890er Jahren regen Kontakt mit der Berliner Bohème pflegte und häufig im ›Schwarzen Ferkel‹ verkehrte, ändert nichts grundsätzlich an diesem Befund. Vgl. in Bezug auf George auch Anm. 113. 131 Der Mythos von Tizians symbolträchtigem Tod im 99. Lebensjahr, den auch Hofmannsthal fortschreibt, gilt heute zwar als widerlegt, entsprach jedoch dem kunsthistoriographischen Forschungsstand um 1900. Vgl. exemplarisch Hermann Knackfuß: Tizian. 7. Auflage. Bielefeld/Leipzig 1912 [1897]. Neuere Biographen gestehen dem Maler immerhin noch rund 86 Lebensjahre zu (1477–1576). 132 Richard Dehmel an Paula Dehmel, Brief vom 2.12.1893. In: Briefe I, 134–136, hier 136. 133 Richard Dehmel, TB 19.2.1894, 42–45, hier 45. Vgl. auch Anm. 103. 134 Pascal Cziborras (ders.: Lagunenlyrik [Anm. 4]) Auffassung, dass ausgerechnet Dehmel sich »weitestgehend an tatsächliche Beobachtungen und an das konkrete Venedig halte[]« (ebd., 53), entbehrt nicht nur jeglicher textuellen Grundlage, sondern verkennt auch vollends die intertextuelle und poetologische Dimension der Venedigstrophe, was sich eigentlich nur dadurch erklären lässt, dass der Verfasser, wie die fehlende Datierung (ebd., 11) und die indirekte Zitierweise vermuten lässt, den zyklischen Gesamtkontext nicht kannte. 135 Corbineau-Hoffmann: Paradoxie (Anm. 8), 359, weist zudem auf die Präfiguration dieser poetischen Unschärfe in der Venedigliteratur bei C. F. Meyer, Nietzsche oder Trakl hin.

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Schauplatzes und perspektiviert die Lagunenstadt als scheinbar unbeteiligter Betrachter vom Wasser aus, womit es eine extraterritoriale Position einnimmt, welche die revisionistische Lagunenlyrik im Verlauf des 19. Jahrhunderts popularisiert hatte.136 Die Reflexion der emotionalen Wirkung des Ortes auf die empfindsame Künstlernatur des lyrischen Ichs, die diese im Verspaar 6/7 anstellt (»und haucht mir eine Seelenruhe ein, / die niemals um ein ewiges Dasein warb«, ebd.), sowie die nur marginal variierte Wiederholung der Auftaktformel im Schlussvers (»So möcht ich sterben«, ebd.) stimmen schon beinah versöhnlich, sind aber binnenstrophisch doppelt motiviert. Gleiches gilt für den jambischen Fünfheber, der in seiner metrischen Gleichförmigkeit nicht nur den unerbittlichen Rhythmus des Ruderschlags während der abendlichen Gondelfahrt imitiert, sondern in seiner lethargischen Wirkung zugleich auch die konklusive Wendung einleitet. Die epigrammatische Pointe des mittels (wenn auch bei Dehmel inflationär gebrauchten) Exklamationszeichen verstärkten Finalausrufs137 lässt nicht lange auf sich warten und wirkt in ihrer unvermittelten Spontaneität und abrupten Auflösung der aposiopetischen Konstruktion (»aber leben: nein!«, ebd.) umso drastischer.

136 Obgleich es angesichts der schier endlosen »Flut der Venediglyrik« (Cziborra, 52) ein aussichtsloses Unterfangen scheint, bedeutungsstiftende Vorbilder und Einflusstexte mit Bestimmtheit auszumachen, sei zumindest kursorisch auf einen potenziellen prätextuellen Resonanzraum verwiesen. So alludiert die Disposition des Sprecher-Ichs etwa das Ankunftsszenario in August von Platens Venedig „(1825, aka Landung), in dem das lyrische Ich zögernd fragt: »Soll ich ihn [den Markusplatz, Anm. J. I.] wirklich zu betreten wagen?«, ebenso wie die situative Konfiguration in Emil Schönaich-Carolaths Gruß an Venedig (um 1905).« Es bleibt, wie der Titel bereits indiziert, beim bloßen ›Gruß‹. Entsprechend eint alle drei Gedichte das transitorische Moment: Zwar vermag der Anblick der Serenissima noch einen literarischen Assoziationsprozess zu initiieren, jedoch nur um diesen hernach umso wirksamer in eine sepulkrale Apotheose zu überführen: Venedig mutiert zum surrealen Unort, der nur noch zum Ableben taugt. Als Lebens-, Wirkungsund nicht zuletzt Reisestätte im Diesseits hat die Stadt ausgedient – auch Dehmels lyrisches Ich segelt bzw. gondelt bei bester Gesundheit von dannen. Vgl. Cziborra: Lagunenlyrik (Anm. 4), 52; August Graf von Platen: Venedig [1825]. In: Ders. Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Lyrik. München 1982, 379 f. 137 Der exzessive Einsatz von insgesamt 24 Ausrufezeichen im Gesamtzyklus als interpunktive Forcierung des emphatischen Sprechduktus, also umgerechnet in beinah jeder zweiten Strophe, relativiert jedoch die auf Affekt zielende Wirkung in ihrer Drastik.

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Abbildung 5: Ansichtspostkarte mit Venedigmotiv [Dogenpalast] und handschriftlicher Annotation Richard Dehmels

6. Schlussbetrachtung Mit der Wahl eines für den modernen Massentourismus konstitutiven Mediums, der bereits im Titel evozierten ›Ansichtspostkarte‹, gelingt Richard Dehmel ein doppelter Coup. Zum einen adaptiert er ein Form- und Kommunikationsprinzip quasi in statu nascendi, zum anderen nutzt er dieses sowohl rezente wie populäre Medienphänomen seiner Zeit zur produktiven Auseinandersetzung, wenn nicht gar zur Erneuerung reiselyrischer Dichtkunst im Kontext der avantgardistischen Moderne. Denn die Rundreise in Ansichtspostkarten konterkariert konsequent die üblichen Erwartungen an den poetischen Bericht einer Kunst- und Bildungsreise und steht damit zugleich symptomatisch für eine alteritäre Fremdheitserfahrung der nachgeborenen Dichtergeneration um 1900, der es nicht mehr gelingt, im tausendfach abgereisten Musenland der Klassiker selbst schöpferische Inspiration zu finden. Dabei gerät Dehmels lyrische Persiflage allerdings nicht zu einer eskapistischen voyage intérieur wie etwa im Falle der Reiseessayistik Hugo von Hofmannsthals,138 sondern sucht ostentativ die offene Konfrontation, indem sie das subjektive Empfinden angesichts einer bereisten Destination verabsolutiert und dramaturgisch gezielt gegen die jeweilige literarisch etablierte ›Ansicht‹ ausspielt. Formalästhetisch rekurriert Dehmel für seinen Postkartenzyklus dabei auf das Gattungsmodell der epigrammatischen Spruchdichtung, das sich in seiner inter-

138 Vgl. Bärbel Götz: Erinnerung schöner Tage. Die Reise-Essays Hugo von Hofmannsthals. Würzburg 1992, 15.

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medialen Verbindung mit der (Bild-)Postkarte als dem seinerzeit »zentrale[n] Medium bürgerlicher Repräsentationskultur«139 im Kontext einer lyrischen Klassikerund Italiendemontage als kultur- wie literaturkritisches Formexperiment par excellence erweist. Denn die konventionalisierte, leicht dechiffrierbare Form der (versifizierten) Ansichtspostkarte ermöglicht es einerseits, den touristischen Habitus zeitgenössischen Reisens einer kritischen Revision zu unterziehen, sowie andererseits mit dem reiseliterarischen Genre respektive seinen prägenden Protagonisten in einen intertextuellen Dialog zu treten und deren poetische Imagination der Fremde – gemäß dem Credo einer produktiven Epigonalität – bei Bedarf zu demontieren. Dass es Dehmel dabei gelingt, die delektierliche Kurzweiligkeit einer Kasualdichtung mit poetologischen Positionen, einem semantischen Resonanzraum sowie einem hohen Grad an Artifizialität zu vereinen – auch und gerade unter dem Deckmantel der ironischen Brechung des Genres und seiner impliziten Erwartungshaltung –, zeigt die ingeniöse Leistung dieser Formfindung und -füllung und damit nicht zuletzt auch die Belastbarkeit, die Flexibilität und das Innovationsvermögen reiseliterarischen Schreibens im Allgemeinen. Denn der Eindruck einer scheinbar mühelosen, leicht dahin geschriebenen En-passant-Poesie, den die Rundreise aufgrund ihrer Sentenzhaftigkeit, ihres oralen Duktus sowie der damit verbundenen einfachen Lexik evozieren mag, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Dehmels ›Kunst der Kürze‹ das Ergebnis eines aufwändigen Gestaltungsaktes darstellt, wie es sein Dichtungsverständnis grundlegend konditioniert, wonach »Form und Wesen des Kunstwerks […] untrennbar«140 miteinander verbunden sind.

139 Holzheid: Medium (Anm. 52), 210. 140 Dehmel: Rundfragen [Juli 1896]. In: Bekenntnisse, 81–87, hier 86.

Écriture itinérante Michèle Métails Toponyme : Berlin und der Diskurs des Flanierens (Franz Hessel, Walter Benjamin, Georges Perec) BERNHARD METZ Reiselyrik und der Diskurs des Flanierens haben meist wenig gemein; wo es flanierende Schreibweisen gibt, ist deren literarische Ausdrucksform häufig die (kurze) Prosa. In Michèle Métails Toponyme : Berlin werden Berlinlyrik und Flaneurdiskurs in einer Weise verschränkt, die für das Genre ambulanter Poesie als poésie ambulante oder écriture itinérante bedeutsam ist. Ihre lyrischen Arbeiten zur Topographie Berlins weisen Bezüge zum Flanieren à la Franz Hessel und Walter Benjamin sowie dem Infra-Ordinaire Georges Perecs auf. Bei Métail nehmen Beobachten, Dokumentieren und Schreiben in Bewegung im städtischen Raum einen besonderen Stellenwert ein, nicht nur als ambulantes Schreiben, auch als ambulante Poesie. Ihre Berlin-Veröffentlichungen Dédale, Cadastre, Jumelage und Panorama erschienen unter dem Titel Toponyme : Berlin, eine Sammlung von Abbildungen, Collagen und Texten (von Elfriede Czurda als Gehen und Schreiben ins Deutsche übersetzt). Der intertextuelle Resonanzraum, in dem Métails Kunst steht, ist riesig. Darin sind zwei Traditionslinien der deutschen wie französischen Literatur auffällig verwoben, unverzichtbar für die Bestimmung des literarischen Genres einer écriture ambulante: Zum einen das Flanieren, das in Paris seinen Anfang nahm und in der Berlin-Literatur des 20. Jahrhunderts eine wichtige Position besetzt, am prominentesten bei Hessel und Benjamin, aktuell aber etwa noch bei David Wagner oder Julia Zange;1 dieses literarische Flanieren beinhaltet Einbindungen von Abbildungen und Photographien bzw. Schilderungen von Alltagsgegenständen bis hin zu Straßenzügen, Architekturen und städtebaulichen Veränderungen. Zum anderen die Erinnerungsprojekte und Paris-Beschreibungen Perecs (mit dem Métail befreundet war), realisiert unter Einbeziehung von Zeichnungen, Photographien und sogar Filmen, worauf Métails Arbeiten vielfältig verweisen. Ambulante Reiselyrik erfährt so viele neue Facetten.

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David Wagner: Welche Farbe hat Berlin. Berlin 2011. Julia Zange: Realitätsgewitter. Roman. Berlin 2016.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_15

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Zugleich werden Métails literarische wie photographische und künstlerische Arbeiten zur Topographie Berlins, speziell die aus Toponyme : Berlin, als eigenständige gelesen, in denen die angesprochenen literarischen Traditionen fortgeführt und fallengelassen, aufgenommen und abgebrochen werden. Sie erweisen sich damit als vielfach formprägend und als Rahmen (cadrage) und Schwelle (seuil), die zugleich überschritten und woraus ausgebrochen werden kann. Es bildet sich ein Sprachen- und Formenspektrum aus, das – wie meist beim Arbeiten mit contraintes, Spielregeln und Formvorgaben – anders kaum realisiert hätte werden können. Die literarische Tradition ist Voraussetzung solcher Schreibverfahren, als rezeptive in späterer Aneignung; Métails »poésie en trois dimensions« wird nicht nur spatial-topographisch ausgeweitet, sondern sogar hinsichtlich literaturgeschichtlicher Echo- und Resonanzräume.2 Die Berlin- und Paris-Texte Hessels, Benjamins und Perecs werden – neben anderen Diskursen und Stimmen – exponiert referenziert, verbinden sich, vergleichbar dem Ineinanderfließen von Spree und Havel, wie es in Panorama als Textmodell poetologisch vorgestellt wird, zu etwas neuem, einer Jumelage.3 Aus der spezifischen Berliner Topographie und Toponymie, gekoppelt an die literarischen Traditionen des Flanierens, an Materialien wie Karten und Photographien, Praktiken des Gehens und Beobachtens sowie Schreibens in Bewegung entsteht ambulante Poesie als Ausformung von Reiselyrik (Lyrik auf Reisen), wie sie von Métail vielmal bedeutsam realisiert wurde.4 Verschiedene Formen, Materialien, Texte, Orte und deren Namen, geo-

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»Diese mündlichen Veröffentlichungen erzeugen nicht mehr, was ich lese, sondern […] wie das Publikum hört.« (Clarisse Cossais, Michèle Métail: Ich denke die Poesie dreidimensional. In: Deutschlandradio Kultur (30. Juli 2013) [http://www.deutschlandfunkkultur.de/ich-denke-diepoesie-dreidimensional-pdf.media.ab72486a4a891ab95ec5c3e4cb38da23.pdf; letzter Zugriff: 14.12.2019]); »je diffuse mes textes au cours de lectures-performances, accompagnées de projections de diapositives et de diffusions de bandes son. […] la projection du mot dans l’espace représente pour moi le stade ultime de l’écriture. […] j’écris à haute voix. Je corrige mes textes par la lecture orale, je les remanie jusqu’à trouver […] une sorte de rythme intérieur et inconscient peut-être.« (Franck Hofmann, Michèle Métail: Gespräch. In: Transversale. Arts et sciences en recherche. Revue annuelle européenne 2 (2006), 1 [http://www.transversale.org/jb2/hofmann/ jb2_hofmann.pdf; letzter Zugriff: 14.12.2019]). Métails intime Perec-Kenntnis ist evident, auch die vieler weiterer Autoren: »Bien évidemment j’ai beaucoup lu ce qui s’est écrit sur Berlin. Benjamin, Kracauer, Hessel, Nabokov sont les figures tutélaires de mes séjours dans la ville, sans oublier le poète français Jules Laforgue, dont le texte ›Berlin, la cour et la ville‹, qui date de 1887 est méconnu en France. J’ai découvert le Brandenburg avec Fontane et je pourrais citer de nombreux auteurs et photographes dont j’ai admiré le travail sur cette ville.« (Hofmann/Métail: Gespräch [Anm. 2], 1). Vgl. etwa Métails Reistagebücher Voyage au Pays de Shu. Anthologie: journal 1170–1998 (2004) sowie die Lyriksammlung La Route de cinq pieds (2009). Im September 2019 erschien Berlin : Trois vues & rues (2019).

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graphische und lokale Positionen und damit verbundene Geschichte(n), Körperpraktiken wie Gehen/Verharren sowie Kulturtechniken wie Beobachten/Aufschreiben generieren diese ambulatorische Poesie. 1. Franz Hessels und Walter Benjamins Berlin (und Paris) Dass große Städte, und seit der Moderne Großstädte, urbane Lebensformen und Erfahrungen ermöglichen, ist nicht neu und charakterisiert seit der Antike literarische Städtebeschreibungen, etwa von Athen bei Theophrast oder von Rom bei Horaz. Mit Louis-Sebastién Merciers ambulant erschriebenen Paris-Skizzen, zum Tableau de Paris ausgearbeitet, im 19. Jahrhundert mit Autoren wie Louis Huart, Victor Fournel oder besonders Charles Baudelaire, dann mit Léon-Paul Fargue oder Guillaume Apollinaire, gehört die Verbindung von Stadtliteratur und Flanieren zu Paris, ist Teil seiner literarischen Topographie;5 »Den Typus des Flaneurs schuf ja Paris.«6 Flanieren ist, zumindest seit dem 20. Jahrhundert, ein wichtiges Merkmal der Berlin-Literatur, am prominentesten wohl bei Hessel, dessen Spazieren in Berlin (1929) vom befreundeten Passagen-Theoretiker Benjamin als »ganz und gar episches Buch, ein Memorieren im Schlendern, für das Erinnerung nicht die Quelle, sondern die Muse war«,7 rezensiert wurde. Hessels Stadtskizzen, auch seine Feuilletons, Gedichte, Essays, Romane und Erzählungen, sind häufig nostalgisch gefärbt, vergleichen Kindheitserinnerungen mit aktuellen Veränderungen der Stadt, enthalten genaue Beschreibungen des Alltagslebens. Hessel charakterisierte den ›Spazierenden‹, wie er die berlinische Ausformung des Flaneurs nennt, prominent 1932 in Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen. Für ihn seien entspannte Aufmerksamkeit, Sichtreibenlassen, Nichtstun und Bewegungen in und durch die Stadt zentral, wie es in der Überarbeitung »Die Kunst spazieren zu gehn« von 1933 heißt. Hessel schreibt von einer »ambulanten Nachdenklichkeit«, Spazieren sei Kunst, l’art 5

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Wobei in Paris Stadt und Literatur am stärksten verschränkt sind. Karlheinz Stierle argumentiert: »Seit dem Mittelalter ist Paris die europäische Stadt, die das hellste Bewusstsein von sich selbst gewonnen hat. Doch sind es nicht die Philosophen, Soziologen, Historiker oder Urbanisten, die diesem Bewusstsein ihre Stimme geben, sondern die philosophisch gestimmten Stadtflaneure, die Liebhaber, Feuilletonisten, Essayisten, Literaten jeder Art […]. Die Pariser Innovationen der Stadtdarstellung werden daher auch immer wieder zum Modell, an dem eine internationale Stadtliteratur sich orientiert.« (Karlheinz Stierle: Pariser Prismen. Zeichen und Bilder der Stadt. München 2016, 7) »Perec führt den surrealistischen Stadtdiskurs fort, wie wir ihn in Aragons Paysan de Paris (Der Bauer von Paris) und Bretons Nadja finden. […] Noch nie wurde die Obsession endloser Gänge, absichtsloser Blicke, die Selbstauslöschung des Flaneurs mit solcher Intensität dargestellt.« (ebd., 237–239). Walter Benjamin: Die Wiederkehr des Flaneurs. In: Die Literarische Welt 5 (4. Oktober 1929), Nr. 40, 5 f. In: Ders.: Gesammelte Schriften III. Kritiken und Rezensionen. Hg. von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a.M. 1972, 194–199, hier 195. Ebd., 194.

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pour l’art, zweckfrei und jeden Nützlichkeitsdenkens enthoben, vergleichbar dem Dichten, eine interessante Engführung im Kontext ambulanter Poesie: Diese altertümliche Fortbewegungsform auf zwei Beinen sollte gerade in unserer Zeit […] zu einem besonders reinen zweckentbundenen Genuß werden. […] Spazierengehn ist weder nützlich noch hygienisch, es ist ein Übermut, wie – nach Goethe – das Dichten.8

Spazieren und Beobachten, Aufmerken und Schreiben werden verbunden, die Stadt mit ihren Einwohnern und Gesprächen, Leuchtreklamen und Werbeflächen gerät zur Lektürevorlage, zugleich ephemer und flüchtig. Flaneur-Literatur ist dynamische Literatur, wo Gehen und Pausieren, Beobachten und Notieren, Anhalten und Bewegtsein, Wahrnehmen und Aufzeichnen in komplexe Schreib- und Textproduktionen münden. Bei Métail: »Si je marche, c’est pour voir. Le seul vehicule à la vue, ce sont les pieds.«9 Entsprechend bestimmt sie ihre multimedialen Praktiken.10 Parallel dazu charakterisiert Perec sein poetisches Arbeiten (»mon travail«), nicht lange geplant, sondern beim Gehen, ambulant entstanden zu sein: »je crois plutôt trouver – et prouver – mon mouvement en marchant«.11 Neben die Dreidimensionalität durchschrittener Räume rückt die des Gedächtnisses; Erinnerung und Beobachtung geraten übereinander, Kindheit und Erwachsenenleben überlagern sich, Ergebnis ist gebrochene Nostalgie. So macht Hessel jedem den Vorschlag: Steige gelegentlich auf deinen Wegen eine Station vor dem Ziel aus dem Autobus oder Auto und ergehe dich ein paar Minuten. […] Mach Ferien des Alltags aus solchen Minuten und flaniere ein Stück Wegs. In jedem von uns lebt ein heimlicher Müßiggänger, der […] sich grundlos bewegen will. Dem wird die Straße

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Franz Hessel: Die Kunst spazieren zu gehn. In: Ders.: Ermunterungen zum Genuß. Berlin 1933, 167–177, hier 169. Michèle Métail: Rue(s) de Berlin & Allée. In: Transversale. Arts et sciences en recherche. Revue annuelle européenne 2 (2006), 194–209, hier 195. Der Text erschien erstmalig mit allen dazugehörigen Photographien in Métail: Berlin (Anm. 4), 17–53. Vgl. Hofmann/Métail: Gespräch (Anm. 2), 1: »Dès que je marche dans une ville, que je traverse un paysage, j’adopte toujours la même attitude : j’aiguise ma réceptivité, je tente de décupler mes facultés sensitives, j’avance tous sens dehors, concentrée sur la perception de ce qui m’entoure. Lorsque l’œil ›accroche‹, lorsqu’une chose arrête subitement le regard comme un flash, je fais une photo, le plus rapidement possible, sans recherche particulière afin de coller au plus près à ce premier coup d’œil. Le regard n’est pas seul à intervenir dans ce processus, je me déplace souvent avec un petit magnétophone et je réalise des prélévements sonores, lorsqu’une ambiance retient particulièrement mon attention. Parallélement, je prends des notes. Je rassemble ainsi des matériaux différents et complémentaires qui sont indispensables à la rédaction du texte […].« Georges Perec: Notes sur ce que je cherche. In: Le Figaro (8. Dezember 1978), 28. In: Ders.: Penser/Classer. Hg. von Maurice Olender. Paris 1985, 9–12, hier 11.

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ein Wachtraum, Schaufenster sind ihm nicht Angebote, sondern Landschaften, Firmennamen, besonders die Doppelnamen mit dem so verschiedenes verbindenden & in der Mitte werden ihm mythologische Gestalten und Märchenpersonen, die Anschläge an Häusern und Hauseingängen kuriose, erheiternde oder grausige Abkürzungen des Lebens und Treibens. Keine Zeitung liest sich so spannend wie die leuchtende Wanderschrift, die dachentlang über Reklameflächen gleitet [… :] Schrift, die man nicht zurückblättern kann wie ein Buch […].12

Dabei bleibt gerade im allzu Bekannten, das unbekannt und unheimlich wird, vieles zu entdecken; ähnliche Beobachtungen wird Perec formulieren, sie sind u.a. für L’infra-ordinaire bestimmend, sowie für Métails Berlin-Arbeiten, wo es nie ohne »réflexion ambulante« und die Bedeutsamkeiten des Alltags zugeht und auch die »Geschichte von Straßen«13 zentral wird: Ich schicke dich zeitgenössischen Spaziergangsaspiranten nicht in fremde Gegenden und zu Sehenswürdigkeiten. Besuche deine eigne Stadt, spaziere in deinem Stadtviertel […]. Erlebe im Vorübergehn […]. Lern Schwellen kennen, die immer stiller werden, weil immer seltener fremde Füße sie beschreiten […]. Und neben all diesem Bleibenden oder langsam Vergehenden bietet sich deiner Wanderschau und ambulanten Nachdenklichkeit die Schar der vorläufigen, provisorischen Baulichkeiten, […] die zu leuchtenden Farbflecken werden im Dienst der Reklame, zu Stimmen der Stadt, zu Wesen, die rufend und winkend auf dich einstürmen […].14

Ist Spazieren oder Flanieren dem Dichten ähnlich, dann auch dem Lesen, ambulante Poesie, über Nachhallräume der Rezeption. Hessel empfiehlt Enthaltsamkeit von jeglicher Kritik: sein letztes zu Lebzeiten erschienenes Buch, beschlossen durch Die Kunst spazieren zu gehn, hieß Ermunterungen zum Genuß. Es geht ihm um Lektüre ohne Kritisieren, Flanieren ohne Urteilen: Der richtige Spaziergänger ist wie ein Leser, der ein Buch nur zu seinem Zeitvertreib und Vergnügen liest – […] selten […], da die meisten […] sich für verpflichtet halten, ihr Urteil abzugeben (ach das viele Urteilen! Selbst die Kunstrichter sollten lieber weniger urteilen und mehr besprechen. Schön wärs, wenn Kritiker, was sie behandeln, besprechen könnten, wie Zauberer die Krankheiten). Also eine Art Lektüre ist die Straße. Lies sie. Urteile nicht. Finde nicht zu schnell schön und häßlich.15

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Hessel: Kunst (Anm. 8), 169–171. Vgl. Métail: Rue(s) (Anm. 9). Hessel: Kunst (Anm. 8), 171 f. Ebd., 174 f.

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Hessel lebte in Paris und Berlin, von 1906 bis 1913 in Montparnasse, wo er Der Kramladen des Glücks (1913) schrieb; 1920 erschien Pariser Romanze: Papiere eines Verschollenen. Mit Helen Grund (ab 1913 verheiratet; später geschieden zusammenlebend) hatte er zwei Kinder, Ulrich und Stefan (Stéphane), sie jedoch lebte zugleich mit Hessels engstem Freund Henri-Pierre Roché; Truffauts Jules et Jim-Verfilmung basiert darauf. Hessel reiste zwischen Paris und Berlin, publizierte in Tage-Buch und Literarische Welt, neben seiner Arbeit für Vers und Prosa war er ab 1923 Lektor bei Rowohlt, initiierte die Balzac-Ausgabe in 44 Bänden. Er übersetzte viel, neben Balzac Stendhal, Jules Romains’ Les Hommes de bonne volonté und mit Benjamin, der sich 1940 das Leben nehmen sollte, Proust. Hessel wurde wegen jüdischer Herkunft mit Berufsverbot belegt, nach 1933 konnte er in Deutschland nicht mehr publizieren, Ermunterungen zum Genuß war sein letztes Buch. Dennoch konnte er als Lektor und Übersetzer illegal weiterarbeiten. 1938 wurde Ernst Rowohlt (wegen »Tarnung jüdischer Schriftsteller«) selbst mit Berufsverbot belegt. Hessel übersiedelte nach Frankreich. 1940 wurden er und Ulrich als »sujets ennemis« im Camp des Milles bei Aix-en-Provence interniert, aber nicht deportiert; Hessel erlitt einen Schlaganfall und starb bald nach seiner Freilassung in Sanary-sur-Mer 1941. Als Spazieren in Berlin 1929 erschien, kam es nicht wie Hessels andere Bücher bei Rowohlt heraus, sondern bei Hans Epstein in Wien und Leipzig.16 Auf dem Schutzumschlag wird es charakterisiert als: LEHRBUCH DER KUNST / IN BERLIN SPAZIEREN ZU GEHEN / GANZ NAH DEM ZAUBER DER STADT / VON DEM SIE SELBST KAUM WEISS / EIN BILDERBUCH IN WORTEN. Mit 22 Kapiteln, dessen längstes eine 92seitige touristische »Rundfahrt« im Doppeldeckerbus »umgeben von echten Fremden« durch das historische Zentrum umfasst, erschien Spazieren in Berlin parallel zu einem Photoband Sasha Stones (der 1928 den Schutzumschlag zu Benjamins Einbahnstraße entworfen hatte). In Spazieren in Berlin wird Stones Buch entsprechend beworben, Berlin in Bildern erschien mit 90

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Konstantes Thema bei Hessel ist der Versuch, sich andere Städte zu ergehen, anzueignen, ambulant beschreibend. So kann man »Versuch mit Wien« so lesen, wie Métail in Berlin sich eine Stadt zu erschließen: »Wien – [...] Ich bin hingekommen, bin mitten drin.« Doch: »Mit dem bloßen Ansehn von Monumenten in fremden Städten ist es nicht getan. Man muß durch Gewohnheiten eine Art kleines Bürgerrecht erwerben.« Erwähnt wird bei der Beschreibung des Café Central (»das berühmte alte Caféhaus«) jemand, der sich dieses Recht ambulant ergeht: »Er will gar nicht ganz dahin. Er ergeht sich nur. Er ist hier ambulant zu Hause. Ich muß gestehen, daß er meine Sympathie erregt. Seine Bewegungen hypnotisieren mich.« (Franz Hessel: Ermunterung zum Genuß. Kleine Prosa. Hg. von Karin Grund und Bernd Witte. Berlin 1981, 145/148/152 f.).

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Stone-Aufnahmen, 17 herausgegeben von Adolf Behne in der Reihe Orbis Urbium. Schöne Städte in schönen Bildern.18 Auch Hessels Spazieren in Berlin nimmt Anordnungsformen bekannter Reiseführer auf, nicht von ungefähr bezieht er sich auf den Baedeker und historische Berlin-Beschreibungen, aus denen ausgiebig zitiert wird, freilich ironisch distanziert. Die Kapitel heißen u.a.: »Alter Westen«, »Tiergarten«, »Der Landwehrkanal«, »Der Kreuzberg«, »Nach Osten« oder »Südwesten«, freilich ohne reiseführertypische Beigaben von Bildmaterialien wie Karten, Abbildungen oder Photographien.19 Solche Bezugnahmen auf Reiseführer sind meist ironisch gebrochen. So rekurriert Perec in Promenades dans Londres (1981) auf einen Baedeker von 1907, erinnert sich einer Londonreise, die er als Kind unternahm, sowie Élisée Reclus’ Londres illustré (1862).20 Daneben zitiert er Stendhal und gründet darauf

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Berlin in Bildern enthält 96 Aufnahmen, darunter sechs Luftbilder; ab »88. Wannsee« geht es nach Westen, der Band endet mit sieben Potsdam-Ansichten. Auf die Einleitung von Behne folgt eine Widmung an den Stadtbaurat, den Hessel in Spazieren in Berlin – ungenannt – als Stichwortgeber für das Neue Bauen (»Ich lerne«) anführt: »DEM TRÄGER NEUER BAUGESINNUNG IN BERLIN/DEM STADTRAT DR. MARTIN WAGNER«. (Franz Hessel: Spazieren in Berlin. Leipzig/Wien 1929) Auffällig sind Überlegungen zu Berlin als Wasserweg und Hafenstadt, eine von Métail oft benannte Besonderheit: »Panorama, das war an Havel und Spree entlang […] die ganze Stadt zu durchqueren. […] Berlin ist auch ein Hafen, selbstverständlich.« (Michèle Métail: Drei Fragen. In: 50 out of 1000. 50 Jahre Berliner Künstlerprogramm des DAAD 2013, 3’01’’–3’14’’ [https:// vimeo.com/78670729; letzter Zugriff: 14.12.2019]). Vgl. Behne: »Wenige Schritte führen uns auf den Mühlendamm – bis hierher war die Spree schiffbar – und in das früheste Berlin. Hier ist die älteste Kirche nach dem hl. Nikolaus genannt, ein Hinweis auf das alte Schiffergewerbe. […] Schiffsbau eines der wichtigsten Berliner Gewerbe. […] Zwischen Paris und Moskau liegt Berlin […]; es vermittelt zwischen Ost und West. Sein Sinn ist, Brücke zu sein, und von Anfang an ist es zweihaft, hat es zwei Pfeiler, ein Hüben und Drüben, ein Östlich und Westlich der Spree.« (Sasha Stone: Berlin in Bildern. Aufnahmen von Sasha Stone. Hg. von Adolf Behne. Wien/Leipzig 1929, 6–9). Allerdings beginnt Stone mit dem neuen Berlin, die ersten Aufnahmen zeigen das 1926 erbaute Großkraftwerk Klingenberg mit seinen markanten Schornsteinen, parallel Métails Arbeit »Trois vues de Berlin« (in: Triages 14 (2002), 154–157), hierauf folgt als drittes eine Luftbildaufnahme der »WOHNBAUTEN IN DER SCHÖNLANKSTRASSE/von Bruno Taut, 1928. Beispiel des neuen Berliner Miethausbaues: ohne Höfe, Seitenflügel und Hinterhäuser.« (Stone: Berlin [Anm. 17], 10); hieran schließen Alexanderstraße und Alexanderplatz an, hierauf folgt die erwartbare historische Mitte Berlins, Alt-Berlin. Der Bildband endet gleichwohl mit zeitgenössischen Bauten, einem weiteren Bauobjekt Tauts, der »Kolonie Fischtalgrund«, und geht über zu »AvusBahn«, »Stößensee« und »Wannsee«, bevor die Reise abschließend nach Potsdam führt. Es gibt einen Text Hessels, wo dies geschieht, 1930 in Atlantis im mit Photographien bebilderten »Herberge und Heimat. Bilder aus Berlin«; »Trois vues de Berlin« erschien wieder in Métail: Berlin (Anm. 4), 7–15. Im Photoband Georges Perec. Images ist ein auf August 1949 datiertes Photo zu sehen, das Perec in Begleitung der »dames du petit village du Surrey« zeigt (Jacques Neefs, Hans Hartje: Georges Perec. Images. Paris 1993, 42). Vgl. Georges Perec: L’infra-ordinaire. Paris 1989, 77.

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eine Theorie des Flanierens.21 Während Reiseführer bei Métail (im Unterschied zu Stadtplänen und Karten) kaum eine Rolle spielen, sind Stadtviertel und deren Namen bedeutsam; etymologische Erklärungen und Herleitungen, Analogien und Strukturgleichheiten;22 Toponyme : Berlin ist passend betitelt.23 Hessels Ausführungen zu Topographie und Toponymie Berlins umfassen dabei nicht nur bestimmte Viertel und lokale Sehenswürdigkeiten wie Gebäude oder Siedlungen, sondern auch deren soziologische Funktion bis hin zum Städtebau, zudem Flußverläufe, Seen und Gewässer. So zeigt »Der Landwehrkanal«, wie verschiedene Teile der Stadt in Beziehung stehen, wie dies gerade für Toponyme : Berlin charakteristisch ist: »Nicht nur Weichbild und Vorstadt will man durch planmäßige Großsiedlung umgestalten, auch in den alten Stadtkörper soll neuformend eingegriffen werden. […] Und dann das neue Baumaterial: Glas und Beton, Glas an Stelle von Ziegel und Marmor.«24 Perec schreibt später: »Ce qu’il s’agit d’interroger, c’est la brique, le béton, le verre […].«25 Der Landwehrkanal ist auch

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Vgl. Georges Perec: Promenades dans Londres. In: Atlas/Air France (Avril 1981), 6–16. In: Ders.: L’infra-ordinaire (Anm. 20), 82 f.: »Le mieux est donc de suivre le conseil de ce même Stendhal, touriste modèle s’il en fut: »Il ne faut prendre dans un pays ce que qui fait plaisir. Ce qui nous a fait le plus de plaisir à Londres, c’est de flâner dans les rues« (Journal, 9 août 1817). Flâner dans une ville étrangère n’est pas une chose évidente : on a tendance à revenir sur ses pas, on a peur de se perdre, on se limite volontiers aux seuls grands axes ; mais […] il est […] facile de se laisser aller au petit bonheur; il suffit […] de se laisser tenter par une allée plantée d’arbres, une statue équestre, un magasin à la vitrine lointainement alléchante, un attroupement, l’enseigne d’un pub, un autobus qui passe pour que se composent, au gré des heures et du temps qu’il fait, des itinéraires plus ou moins capricieux, plus ou moins sinueux, que viendront jalonner des noms évocateurs de quelque chose, même si on ne sait pas toujours très précisément de quoi […].« Vgl. Michèle Métail: Toponyme: Berlin. Dédale – Cadastre – Jumelage – Panorama. SaintBenoît-du-Sault 2002, 116 oder 132–134: »Zur Havelhöhe Havelklinik sans se lasser de dire son nom […] Havelchaussee Havelweg […] Havel sa ritournelle Am Havelufer/Havelblick Havelmathen Havelwiese Havelfreude Havelkasino/Havelhöhe hauteur d’où voit plus loin«. Dazu zählt Rue(s) de Berlin & Allée, wo es u.a. um Straßen mit »de Berlin« im Namen geht. Lesen, Laufen, Spazieren und Schreiben werden über »livre« und »ville« verbunden: »Jamais je n’ai eu l’impression à ce point, d’ouvrir un livre en parcourant la ville. Non pas une page puis l’autre. […] Je marche à l’endroit de la pliure, entre les pages. […] Allée de Berlin. J’allais, je vais, comme fascinée par la ville dans la ville, où toute une vie pourait s’y vivre sans jamais obliquer vers une rue adjacente.« (Métail: Rue(s) [Anm. 9], 205 f.). Hessel: Spazieren (Anm. 17), 13 f. Georges Perec: Approches de quoi ? In: Cause commune 5 (Février 1973), 3 f. In: Ders.: L’infraordinaire (Anm. 20), 9–13, hier 12.

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bei Benjamin zentral, etwa in Berliner Kindheit,26 und für Métail bedeutsam, womit noch »Der Geschmack süßsalziger Pflaumen« einsetzt.27 Gehen und Schreiben, die deutsche Auswahlausgabe von Toponyme : Berlin, wird eröffnet mit einem Kastanienbaum, der im ersten Gedicht von Cadastre (»effeuillé d’hiver« 12 avril 2000 : marronnier dans la cour) Erwähnung findet. Bei Hessel liest man etwa: Kein Sonnenaufgang über den Bergen, kein Sonnenuntergang an der See läßt den, der in Berlin Kind war, die süßen Morgen- und Abendröten überm Frühling- und Herbstlaub des Kanals vergessen. […] Kastanien beschatten […] das Ufer, Kastanienbäume, die das Kind […] in allen Jahreszeiten kennen lernt; an den feuchtstrotzenden Knospen, den Blütenkerzen und den braunen Früchten, die sich aus stachliger Hülle lösen, hat es im Spazierengehn seinen […] Unterricht in der Botanik.28

Wie in Benjamins Einbahnstraße, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert oder noch im fragmentarischen Passagen-Projekt gibt es bei Hessel ein Vergleichen von Vergangenheit und Gegenwart, die in Konkurrenz zueinander stehen; der Flaneur bewahrt, was vom Neuen verdrängt wird, fortschrittsskeptisch und nostalgisch. Erinnerung und Beobachtung, Kindheit und Gegenwart geraten in Bewegung und in Beziehung zueinander. Zugleich wird auf neueste Verkehrsmittel wie Straßen- oder S-Bahn, selbst auf private Autos, Touristenbusse oder Taxis zurückgegriffen, die Fortbewegung in der Stadt auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigt, wie sie zeitgleich bei Robert Musil (»Der Riese Agoag«) oder Alfred Döblin (»Mit der 41 in die Stadt« zu Beginn von Berlin Alexanderplatz) bedeutende literarische Ausprägungen finden. Perec verzeichnet in »Tentative d’épuisement d’un lieu parisien« nicht nur alle Buslinien, die an der Place Saint Sulpice 26

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»Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. […] Unter den Karyatiden und Atlanten, den Putten und Pomonen aber […] waren mir nun die liebsten jene […] Schwellenkundigen, die den Schritt ins Dasein oder in ein Haus behüten. […] In ihrem Zeichen wurde der alte Westen zum antiken, aus dem die westlichen Winde den Schiffern kommen, die ihren Kahn […] den Landwehrkanal heraufflößen […].« (Walter Benjamin: Tiergarten. In: Berliner Kindheit um 1900, Frankfurter Zeitung 77 (2. Februar 1933), Nr. 87. In: Ders.: Gesammelte Schriften IV, 1. Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Hg. von Tillman Rexroth. Frankfurt a.M. 1972, 235– 304, hier 237–239). »In Berlin, Dezember 2001, bin ich die Ufer des Landwehrkanals in ihrer ganzen Länge abgelaufen, nach denen der Spree und Havel. […] Ich habe die steinerne Brücke photographiert, Thielenbrücke, den Uferpavillon und das Café Senti, das in einem alten Haus liegt. Seine Fassade war mit weißem, sehr fein gearbeitetem Stuck verziert.« (Michèle Métail: Der Geschmack süßsalziger Pflaumen. Übersetzt von Esther von der Osten. In: Berlin Hüttenweg. Stadt erzählen. Hg. von Oliver Lubrich und Hans Jürgen Balmes. Berlin 2006, 227–233, hier 227). Zum Landwehrkanal »L’envers, canal«, mit 36 Photographien nun in Métail: Berlin (Anm. 4), 55–93. Hessel: Spazieren (Anm. 17), 180 f.

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passieren, sondern schildert noch die Londoner Doppeldeckerbusse, »des autobus, de ces fameux autobus rouges à étage«.29 Selbst dies gehört zur Flanerie und ist bei Hessel und Métail zu finden: der Nahverkehr, die Verwendung von Linienplänen und Stadtplänen, wo Verkehrsverbindungen, Buslinien und Haltestellen verzeichnet sind (vgl. Benjamins Pharus-Plan), auch das Aufschlagen der Äste auf dem Doppeldeckerbuss. So schreibt Métail zur Umwegigkeit und Weitschweifigkeit, die der öffentliche Nahverkehr mit sich bringt: »Ich wähle nur selten die kürzeste Strecke, die gerade Linie und die unterirdischen Wege, mir ist die Langsamkeit lieber, die Umwege und die obere Etage im Doppeldeckerbus.«30 Zu den vier Teilen von Toponyme : Berlin heißt es, sie seien verbunden wie U-Bahnstationen: »Des liens apparaissent entre ces textes, à la manière des correspondances qui relient des lignes de métro.«31 Flaneure sind dennoch meist alleine unterwegs und machen sich unabhängig von Fahrplänen, Betriebszeiten und anderen Menschen. Hessel definiert Spazieren als solitäre Praktik: Das Spazierengehn ist nur selten eine gesellige Angelegenheit wie etwa das Promenieren […]. Es ist gar nicht leicht, mit einem Begleiter spazieren zu gehn. Nur wenig Leute verstehen sich auf diese Kunst. […] Und so bist du echter Spaziergänger meist allein […].32

In den später als Berliner Kindheit um Neunzehnhundert publizierten Berlin-Skizzen Benjamins taucht Hessel in Anspielung auf einen Flanerie-Klassiker, Aragons Le Paysan de Paris, als »ein Landeskundiger, ein Bauer von Berlin« auf; er »ging 29

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»le voyageur étranger sera sans doute d’abord déconcerté par l’apparente complexité du réseau, et le nom des stations terminales […] ne lui dira évidemment rien ; s’il se décide à les emprunter, ce qui constitue une des manières les plus agréables de parcourir la ville, et si, comme je l’espère, il choisit de voyager à l’impériale, il aura la surprise rare de découvrir une ville de la hauteur d’un premier étage de maison ; là encore, la différence semble minime, mais, pourtant, tout ce que nous sommes habitués à voir apparaîtra ici d’une manière un tout petit peu nouvelle, dépaysante pour le regard et pour l’esprit.« (Perec: Promenades [Anm. 21], 80). Métail: Geschmack (Anm. 27), 228; vgl. »Je préfère les bus à impériale, ils offrent des perspectives plongeantes au-delà des murs qui obstruent la vue aux piétons. […] Je savoure ces panoramas semi-aériens qui procurent une autre perception du paysage.« (Métail: Rue(s) [Anm. 9], 202). Métail: Toponyme (Anm. 22), 7. Noch Perecs Je me souviens kann dem Flaneur-Diskurs zugerechnet werden; viele der 480 Einträge (»souvenirs«) behandeln Paris und seine gewandelten oder verschwundenen Plätze und Orte und speziell Verkehrsmittel wie Busse und Metro. Dabei wird dem Ephemeren der Werbung und Reklame Bedeutung eingeräumt, Alltag, Kino, Presse, Chanson und Unterhaltung sind Teil städtischer Erfahrung. Hessel: Kunst (Anm. 8), 173 f. Dem schließt sich Benjamin an, nicht zuletzt, was die Kunsthaftigkeit des Flanierens angeht: »Die Stadt als mnemotechnischer Behelf des einsam Spazierenden, sie ruft mehr herauf als dessen Kindheit und Jugend [… :] das unabsehbare Schauspiel der Flanerie, das wir endgültig abgesetzt glaubten. Und nun sollte es hier, in Berlin […] sich erneuern?« (Benjamin: Wiederkehr [Anm. 6], 194).

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die Steige voran«.33 Auch Benjamins fragmentarisches Passagen-Werk mit Paris als Referenz weist viele Bezüge zum Flanieren und speziell zu Hessel auf; der früheste Entwurf »Passagen« stammt von beiden.34 Es handelt sich um einen Text über das Verschwinden, den architektonischen Wandel und die Macht der Erinnerung, die Kraft der Lektüre von Zeichen, für Perec und Métail so zentral.35 Geschildert wird der Abbruch der Passage de l’Opéra, ein Schwellenort, der auch Aragon sehr wichtig war, so ist eine der ältesten Passagen der Stadt verschwunden […]. Wie dieser merkwürdige Wandelgang es bis vor kurzem tat, bewahren noch heute einige Passagen in grellem Licht und düsteren Winkeln raumgewordene Vergangenheit. […] Schon die Inschriften und Schilder an den Eingangstoren (man kann ebensogut Ausgangstoren sagen, denn bei diesen seltsamen Mischgebilden von Haus und Straße ist jedes Tor Eingang und Ausgang zugleich), schon die Inschriften […] haben etwas Rätselhaftes. ALBERT au 83 wird ja wohl ein Friseur sein und Maillots de théâtre werden Seidentrikots sein, aber diese eindringlichen Buchstaben wollen noch mehr sagen.36

Dabei kehrt sich vieles um: was Wohnung war, wird Straße, der Hesselsche Spaziergänger oder Benjaminsche Flaneur wohnt (anders bei Perec, wo dem eigenen Bett und Zimmer zukommt, im Zentrum des Universums zu stehen) draußen, »dem Flanierenden […] tritt die Stadt in ihre dialektischen Pole auseinander. Sie eröffnet sich ihm als Landschaft, sie umschließt ihn als Stube.«37 Interieur und Exterieur fallen ineins, es »trägt das Pflaster dich mütterlich«, schreibt Hessel, »es wiegt dich wie ein wanderndes Bett.«38 Benjamin schreibt,39 wie als Kommentar 33

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Benjamin: Tiergarten (Anm. 26), 238. Zur (Selbst-)Beschreibung als Bauer Perec, der sich charakterisiert als »un paysan qui cultiverait plusieurs champs« und »correspondant chaque fois pour moi à un autre type de travail littéraire« vier aufführt: »sociologique«, »autobiographique«, »ludique« sowie »romanesque« (Perec: Notes [Anm. 11], 9 f.); sowie als Städter: »Je suis un homme des villes ; je suis né, j’ai grandi, et j’ai vécu dans des villes. Mes habitudes, mes rythmes et mon vocabulaire sont des habitudes, des rythmes et un vocabulaire d’homme des villes. La ville m’appartient. J’y suis chez moi : l’asphalte, le béton, les grilles, le réseau des rues, la grisaille des façades à perte de vue, ce sont des choses qui peuvent m’étonnner […].« (Georges Perec: Espèces d’espaces. Paris 1974. In: Ders.: Œuvres. Hg. von Christelle Reggiani. Paris 2017, Bd. 1, 94/619). Vgl. Walter Benjamin und Franz Hessel: Passagen (1927). In: Walter Benjamin: Das PassagenWerk. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1982. In: Ders.: Gesammelte Schriften V/2, 1041–1043, 1341–1348. Etwa: »Ma patrie ce sont les mots, son musée, les inscriptions. Je lis la ville, je ne m’en lasse pas«. (Métail: Rue(s) [Anm. 9], 2008). Benjamin/Hessel 1927 (Anm. 34), 1041. Benjamin: Wiederkehr (Anm. 6), 195. Hessel: Kunst (Anm. 8), 175. »›Wir Berliner‹, sagt Hessel, ›müssen unsere Stadt noch viel mehr – bewohnen.‹ Bestimmt will er das wörtlich verstanden wissen, weniger von den Häusern als von den Straßen. Denn sie sind

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zu Katastern und Quadrierungen, die Métail auf Plänen und Verzeichnissen wiederfindet, sogar auf Gebäude-Fassaden, deren gerahmte Spiegelungen und verzerrte Rechtecke sie photographiert: Wie jede stichhaltige und erprobte Erfahrung ihr Gegenteil mit umfaßt, so hier die vollendete Kunst des Flaneurs das Wissen vom Wohnen. Urbild des Wohnens aber ist die matrix oder das Gehäuse. Das also, von dem man genau die Figur dessen abliest, der es bewohnt. Will man sich nun erinnern, daß nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch Geister, und vor allem die Bilder wohnen, so liegt greifbar vor Augen, was den Flaneur beschäftigt und was er sucht. Nämlich die Bilder wo immer sie hausen. Der Flaneur ist der Priester des genius loci. Dieser unscheinbare Passant mit der Priesterwürde und dem Spürsinn eines Detektivs […]: wie er die Laren unter der Schwelle aufspürt, wie er die letzten Denkmale einer alten Wohnkultur feiert.40

Flaneure als Priester, Initiierte, Schwellenkundige; auch auf Métail, die sich so gut auf Brücken und Schwellen, Verbindungen und Kreuzungen, Rahmungen und Begrenzungen versteht, trifft zu, was Benjamin zu Hessel und dessen Berlin ausführt: Unter der plebs deorum der Karyatiden und Atlanten, der Pomonen und Putten […] sind ihm die liebsten doch jene […] nun zu Penaten, unscheinbaren Schwellengöttern gewordenen Figuren, die angestaubt auf Treppenabsätzen, namenlos in Flurnischen einquartiert, die Hüterinnen der rites de passage sind, die ehemals jeden Schritt über eine hölzerne oder metaphorische Schwelle begleiteten. […] dieser große Schwellenkundige kennt die geringeren Übergänge, die Stadt von Flachland, Stadtteil von Stadtteil abheben: Baustellen, Brücken, Stadtbahnbögen und Squares […].41

2. Georges Perecs Paris Métails Berlin-Arbeiten, die vielfältige Paris-Bezüge aufweisen, korrespondieren mit wichtigen Werken von Georges Perec, besonders mit den Paris-Texten Espèces d’espaces (1974) sowie La Clôture (1976), die ihrerseits eng aufeinander bezogen sind, auch mit dem Lieux-Projekt, das Perec 1969 begann.42 Espèces

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ja die Wohnung des ewig unruhigen, ewig bewegten Wesens, das zwischen Hausmauern soviel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt, wie das Individuum im Schutze seiner vier Wände.« (Benjamin: Wiederkehr [Anm. 6], 196). Ebd. Benjamin: Wiederkehr (Anm. 6), 197. 1969 »Lieux où j’ai dormi« bilden Reflexionen Anfang der 1970er Jahre, im Nachlass ein auf 15. November 1972 datiertes Blatt (48, 6, 17, 0) mit »Programme-bredouille«: »Le lieu : n’importe quel lieu : tous les lieux : dans les rues désertes dans les rues embouteillées, dans les cimetières, dans les cafés, chez soi che les autres, au lit, dans le métro, l’autobus, train, navires, avions./Le temps : n’importe quand, tout le temps, de temps en temps, parfois … […] Écrire le + lentement possible. […] Mettres si l’on veut le lieu, la date, l’heure. Préciser. […] Le Fontenoy,

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d’espaces eröffnete 1974 eine von Paul Virilio herausgegebene Reihe, die Collection L’espace critique bei Éditions Galilée. In diesen Texten wird Raum nicht nur metaphorisch in allen möglichen Bezügen erkundet, sondern wirkt textorganisierend. Beginnend bei der Einzelseite, la page (»J’écris …«), vom Bett (le lit, vgl. Un homme qui dort) über das Zimmer (la chambre) zum appartement (portes, escaliers, murs) bis zu l’immeuble, la rue, le quartier und la ville bis zu la campagne, le pays, L’Europe, le monde und L’ESPACE. Auch bei Perec kommt modernem Flanieren mittels Verkehrsmitteln eine besondere Rolle zu: J’aime marcher dans Paris. Parfois pendant tout un après-midi, sans but précis, pas vraiment au hasard, ni à l’aventure, mais en essayant de me laisser porter. Parfois en prenant le premier autobus qui s’arrête (on ne peut plus prendre les autobus au vol). Ou bien en préparant soigneusement, systématiquement, un itinéraire.43

In Espèces d’espaces führt Perec zum Lieux-Projekt (Notes sur un travail en cours) aus: En 1969, j’ai choisi, dans Paris, 12 lieux (des rues, des places, des carrefours, un passage), ou bien dans lesquels j’avais vécu, ou bien auxquels me rattachaient des souvenirs particuliers. J’ai entrepris de faire, chaque mois, la description de deux de ces lieux. L’une de ces descriptions se fait sur le lieu même et se veut la plus neutre possible : assis dans un café, ou marchant dans la rue, un carnet et un stylo à la main, je m’efforce de décrire les maisons, les magasins, les gens que je rencontre, les affiches, et, d’une manière générale, tous les détails qui attirent mon regard. L’autre description se fait dans un endroit différent du lieu : je m’efforce alors de décrire le lieu de mémoire, et d’évoquer à son propos tous les souvenirs qui me viennent, soit des événements qui s’y sont déroulés, soit des gens que j’y ai rencontrés.44

Am Ende kommen diese doppelten Beschreibungen in versiegelte Umschläge und werden mit weiteren Materialien angereichert, »par exemple des tickets de métro, ou bien des tickets de consommation, ou des billets ce cinéma, ou des prospectus, etc.«: regelrechte Zeitkapseln (»bombes du temps«). Zusätzlich zur doppelten Beschreibung vor Ort (in situ, »sur le lieu même«) und aus dem Gedächtnis (ex memoria, »de mémoire«) geht Perec von zwei Medien aus, es wird auch photogra-

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rue du Bac, 15 XI 72. 15h30./Préciser./Trouver une image, une seule, plate, de préférence. Noter quelque chose de particulièrement insignifiant.« (Georges Perec: Apprendre à bredouiller (1972). In: Georges Perec. Hg. von Claude Burgelin, Maryline Heck und Christelle Reggiani. Paris 1916, 127). Perec: Espèces (Anm. 33), 87/613. Ebd., 76/605.

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phiert: »À plusieurs reprises, je me suis fait accompagner sur les lieux que je décrivais par un ou une ami(e) photographe qui, soit librement, soit sur mes indications, a pris des photos que j’ai alors glissés, sans les regarder […].«45 Daraus resultiere eine Gedächtnisspur und eine des Alterns als »trace d’un triple vieillissement : celui des lieux eux-mêmes, celui de mes souvenirs, et celui de mon écriture.«46 Bei Métail, die photographiert, zeichnet und collagiert, ist die écriture itinérante divers, etwa bei der Darstellung eines Kastanienbaums.47 Perec brach sein Lieux-Projekt 1975 ab;48 Ende 1976 publizierte er Tentative de description de quelques lieux parisiens, fünf Publikationen aus verschiedenen Zeitschriften, sowie bereits 1975 »Tentative d’épuisement d’un lieu parisien«, erschienen im Cause commune-Themenheft »Pourrissement des sociétés«. 1979 folgte in Arc als letzter Text der unabgeschlossenen Serie eine Beschreibung von 1970 der »Allées et venues rue de L’Assomption«, wo Perec 1946 bis 1956 mit seiner Tante Esther und seinem Onkel David Bienenfeld gelebt hatte. Innerhalb von drei Tagen im Oktober 1974 protokollierte er die Place Saint-Sulpice im VI. Arrondissement.49 Zu Métails Schreibprogramm wird in Jumelage. Rue GALVANI Strasse en détail ausgeführt: Un grand nombre, sinon la plupart, de ces choses ont été décrites, inventoriées, photographiées, racontées ou recensées. Mon propos dans les pages qui suivent a plutôt été de décrire le reste : ce que l’on ne note généralement pas, ce qui ne se remarque pas, ce qui n’a pas d’importance : ce qui se passe quand il ne se passe rien, sinon du temps, des gens, des voitures et des nuages.50

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Ebd., 76/605. Ebd., 77/606. Michèle Métail: Gehen und Schreiben. Gedächtnis-Inventar. Gedichte, Fotografien, Erkundungen. Übersetzt von Elfriede Czurda. Berlin 2002, 7. Das französische, für die deutsche Ausgabe neu geschriebene Vorwort Michèle Métails unter http://docplayer.fr/67291018-Michelle-metailfrankrijk.html; letzter Zugriff: 14.12.2019. Vgl. die spätere Einschätzung mit Bezug auf den Film Un homme qui dort: »Depuis 69, j’écris sur une durée de 12 ans un livre sur douze lieux de Paris, un texte assez compliqué. […] J’essaie un peu ainsi d’emprisonner le temps. […] Ce qui est plus important c’est que le lieu du plan final est la rue où je suis né […], où il y ait à la fois des rues abandonnées, des immeubles très modernes, des chantiers de constructions et une découverte générale sur Paris.« (Georges Perec, Bernard Queysanne: Entretien avec Georges Perec et Bernard Queysanne. Propos recueillis par Luce Vigo. In: La revue du cinéma. Image et son (Mai 1974), Nr. 284, 68–74, hier 70). U.a. La date : 18 octobre 1974/L’heure : 10 h 30/Le lieu : Tabac Saint-Sulpice […]/La date : 18 octobre 1974/l’heure : 12 h 40/Le lieu : Café de la Mairie […] La date : 18 octobre 1974/L’heure : 15 h 20/Le lieu : Fontaine Saint-Sulpice (café) […] La date : 18 octobre 1974/L’heure : 17 h 10/Le lieu : Café de la Mairie. Georges Perec: Tentative d’épuisement d’un lieu parisien. In: Cause commune 1 936 (1975), 59–108. In: Ders.: Œuvres (Anm. 33), Bd. 2, 817–858, hier 819.

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La Clôture war 1976 ein in 100 Exemplaren veröffentlichter Privatdruck, wo in siebzehn Gedichten Perecs und siebzehn Photographien Lipinskas das Verschwinden der rue Vilin im XX. Arrondissement in Paris thematisiert wird, wo Perec seine ersten Lebensjahre verbracht hatte. Der Zyklus war kaum bekannt, als er 1980 bei Hachette in der P.O.L-Reihe seines damaligen Lektors und späteren Verlegers Paul Otchakovsky-Laurens (wo 1978 La vie, mode d’emploi und Je me souviens. Les Choses communes I erschienen) unter dem Titel La Clotûre et autres poèmes ein weiteres Mal publiziert wurde. Die Photographien von Christine Lipinska wurden nicht übernommen, ebensowenig andere Graphiken zu weiteren der kürzeren Werke Perecs, Trompe l’oeil (1978) oder Métaux (1980).51 Der Buchausgabe von La Clôture vorangestellt ist ein Frontispiz von Pierre Getzler, dem Espèces d’espaces gewidmet war, das auf La vie mode d’emploi zu referieren scheint, durch den Hausaufriss bzw. Elemente, die auch für die Berlin-Arbeiten Métails wichtig sind: Stadtplan, Maßeinheiten, Bemaßungen, Koordinatensysteme. Die 17 Anagramm-Gedichte, »poèmes hétérogrammatiques«, sind Modell für das Photoformat der 10 Zeilen à 17 Absätzen in Cadastre; »occupé au cordeau« endet: »rêve clos, clôture«.52 So sind zumindest in der Erstausgabe Perecs 17 Gedichte angeordnet als 12 auf 12 Zeilen verteilte Zeichen, den anagrammatisch neugeordneten Buchstaben A, C, E, I, L, N, O, R, S, T und U (sowie jeweils einem weiteren Buchstaben pro Zeile), in der Reihenfolge der Buchstabenhäufigkeit im Französischen (E, S, A, R, T, I, N, U, L, O und C). Die Buchausgabe von 1980 zeigt anders als die 1976 erschienene Erstausgabe nur fertig transliterierte Gedichte (mit Groß-/Kleinschreibung, Zeichensetzung, Parenthesen, Zeilenwechseln und Abständen); das letzte »Car plus en toi s’unit l’archéologue« wurde auf dem Buchrücken abgedruckt.53 La Clôture besteht aus (2x) 17x12x12 Zeichen, es gibt (2x) 17x12=408 A/a, C/c, E/e, I/i, L/l, N/n, O/o, R/r, S/s, T/t, U/u sowie 204 § (nur 1976); ebenso 204 Zusatzzeichen b (22), d (39), F (1)/f (18), G (1)/g (16), H (1)/h (16), j (2), k (1), M (1)/m (24), p (33), q (10), v (7), w (1), x (6) und y (5). Z/z fehlt, aber k und w nicht; La Clôture ist, wie La Disparition, lipogrammatisch, der letzte Buchstabe des Alphabets ist ausgespart. Anders als 1976 wird »antic« (in »l’ours antic«) kursiviert; und es erscheint der Kataster (die contrainte in Cadastre von Métail ist flexibler): 51

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Georges Perec: LA CLÔTURE et autres poèmes. Paris 1980. Es gab auch eine Vorzugsausgabe, vgl. im Impressum: »Il a été tiré de cet ouvrage :/Vingt et un exemplaires sur vergé blanc/de papeteries d’Arches/dont quinze exemplaires/numérotés de 1 à 15/et six exemplaires hors commerce/numérotés de I à VI.« (ebd., 93). Métail: Toponyme (Anm. 22), 29. Die Neuausgabe weist Fehler auf, »titanqiue« im dritten, »toscin« im neunten und »desirs« im fünfzehnten Gedicht. Vgl. Mireille Ribière, Bernard Magné: Les poèmes hétérogrammatiques. Paris 1992, 14.

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Clôture. Sa fin. Nul écrit. Sa mort n’a souci. L’expulsion trace sa ligne, court sur toi, clandestine. L’arc-bouter au sol pincé, au flot inscrit sur le bon cadastre où linceul naît corps.54

Perec lebte in der rue Vilin während der ersten sechs Jahre seines Lebens; 1940 ging sein Vater Icek zur Fremdenlegion und starb wenig später im Weltkrieg, 1942 wurde das sechsjährige Kind vom Roten Kreuz in Kinderheimen und Internaten in Villard-de-Lans bei Grenoble versteckt. Seine Mutter Cyrla wurde, wie die Großeltern und andere Bewohner der rue Vilin, 1943 nach Auschwitz deportiert, anschließend verliert sich jede Spur.55 1945 wurde Perec von Esther und David Bienenfeld aufgenommen und lebte – nicht durchgehend – mit ihnen bis 1957 in der rue de l’Assomption 18, XVI. Arrondissement. Für Perec, der in diversen Schreibprojekten über die rue Vilin einen Zugang zu Kindheit und Familie suchte, muss es schmerzhaft gewesen sein zu sehen, wie seine Straße verfiel und ihre Häuser abgerissen wurden. Die Erinnerung an die Kindheit war so wenig aufzubewahren wie die an seine Eltern und nur literarisch zu sistieren. In den sechs Beschreibungsversuchen der rue Vilin vom 27. Februar 1969 bis 27. September 1975 verweist schon der erste auf das Haus der Kindheit.56 Am Ende sollten alle Gebäude durch Sozialbauten ersetzt sein. La Clôture ist ein Erinnerungsprojekt wie W ou le Souvenir d’enfance, La disparition, Je me souviens oder die Verfilmung von Un homme qui dort: J’ai vécu rue Vilin de ma naissance, en 1936, à l’été 1942. La rue Vilin, dans le 20° arrondissement, entre la rue des Couronnes et la rue Piat, est depuis plusieurs années en train de disparaître. Une à une les boutiques ont été fermées, les fenêtres ont été aveuglées, les maisons ont été abattues laissant place à des terrains vagues et des palissades en ciment.

54 55 56

Georges Perec, Christine Lipinska: LA CLÔTURE. Dix-sept poèmes hétérogrammatiques accompagnés de dix-sept photographies. Paris 1976 (Privatdruck). In: Perec: Clôture (Anm. 51), 21. In: Ders: Œuvres [Anm. 33], Bd. 2, 770 f. Im Photoband Georges Perec. Images ist die »Acte de Disparition« vom 19. August 1947 (Neefs/Hartje: Images [Anm. 20], 41) abgebildet, die nur Verhaftungs- und Deportationstermin nennt. Georges Perec: La Rue Vilin. In: L’Humanité (11. November 1977), 2. In: Ders.: L’infra-ordinaire (Anm. 20), 15–31.

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A plusieurs reprises, au cours de ces dernières années, je suis revenu rue Vilin pour tenter de décrire à la fois les souvenirs qui me rattachent à cette rue (la maison de mes grandsparents au n°1, la maison de mes parents et le magasin de coiffure de ma mère au n°24) et les vestiges chaque fois plus effacés de ce qui fut une rue. En même temps, Christine Lipinska photographiait les traces de cette clôture. Le résultat de ce double travail est un livre que nous vous proposons aujourd’hui. Il se compose de 17 photographies de Christine Lipinska, accompagnées de 17 textes. Chaque photographie a été tirée en 100 exemplaires (format 18 X 24). […] G.P.57

Weitere Bezugnahmen (neben denen in W) auf die rue Vilin gibt es in L’infraordinaire (»La rue Vilin«) sowie in Espèces d’espaces. Wenn in La Clôture alle Buchstaben bis auf Z vorkommen, ergibt das 24; lesbar auch als Verweis auf Perecs Elternhaus, rue Vilin 24. 3. Michèle Métails Paris und Berlin Die in Paris geborene und aufgewachsene Michèle Métail war oft in Berlin, drei lange Aufenthalte fanden 1990, 2000–2001 sowie 2005 statt.58 Der letzte zeigt exemplarisch, wie sich Erinnerungen an frühere Aufenthalte mit aktuellen Beobachtungen überlagern. Es handelt sich um Erinnerungsarbeit, die an der Umbenennung einer Berliner Buslinie ansetzt und topographisch oder toponymatisch vorgeht. Namen von Orten und Objekten sind dabei bedeutungsvoll: Der M29 war […] der umgetaufte 129. […] Ehrlich gesagt kannte ich diese Linie auswendig, von einem Ende zum anderen. Ein Halt, ein Straßenname, ein Geschäft, die Strecke war mit Bildern abgesteckt, die auf unvorhersehbare Weise wieder auftauchten. Ich wusch Gedächtnisschichten aus, die sich in fünfzehn Jahren abgelagert hatten. Meine Strecken überkreuzten sich ohne Chronologie, belebten Empfindungen, Erinnerungen wieder und zeichneten eine innere Kartographie. […] Die durchquerten 57 58

La Clôture. Subskriptionsanzeige 1976. In: Ribière/Magné: Poèmes (Anm. 53), 153. Vgl. Métail zum Flanieren in Berlin: »Ich glaube, daß Berlin eine Stadt zum Schreiben ist. […] Ich war immer, jeden Tag, draußen, ich bin immer viel spazieren gegangen, ich habe alle Buslinien erlebt, Straßenbahnlinien, und auch S-Bahn, U-Bahn, ich bin überall gegangen. Wirklich um die Stadt wahrzunehmen. […] Ich bin eine echte Pariserin, ich bin in Paris geboren, habe dort fünfzig Jahre verbracht, aber Paris, gut: Es gibt eine Einheit in Paris, und das ist auch irgendwie eine Museumsstadt. Und hier in Berlin, das ist ganz offen. […] Ich habe einfach mit langen Spaziergängen angefangen und mit Photoarbeit auch. Und dann habe ich meine Wahrnehmung dieser Stadt niedergeschrieben. […] Ich wollte einmal die Stadt durchqueren […] – ich bin vom Dämeritzsee losgegangen und bis nach Spandau […] habe beschrieben, was ich sah, […] und das ist jetzt schon ganz anders geworden, selbstverständlich.« (Métail: Drei Fragen [Anm. 17], 0’10’’–0’13’’/0’54’’–1’12’’/1’26’’–1’43’’/2’09–2’22’’/3’36–3’59’’) Zum Gegensatz Paris versus Berlin: »Il me semble que c’est là une spécificité de Berlin : la ville est propice à la création car elle est incroyablement vivante et protéiforme. […] A côté Paris est une ville du passé, une ville muséale, très différente.« (Hofmann/Métail 2006 [Anm. 2], 1).

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Bernhard Metz Orte riefen immer wieder Flashs in mir herauf, Rückblenden, die ich zu datieren, zu verorten, untereinander zu verbinden suchte […], das Gedächtnis ist seltsam an den Ort gebunden.59

2000 erschien bei Tarabuste in der Reihe »Chemins fertiles« Toponyme : Berlin mit seinen vier Teilen Dédale : vous êtes ici, Cadastre : la ville, de la ville (plan parcellaire), Jumelage : rue GALVANI Strasse Paris – Berlin (mémoire – inventaire) und Panorama : entre la Spree et la Havel (Le cours de la ville). Die Teile seien wie die Stationen einer U-Bahnlinie verbunden, »à la manière des correspondances qui relient des lignes de métro.«60 Toponyme : Berlin ist ein sorgsam gestaltetes Buch im Format 138x218mm, fadengebunden mit englischer Broschur auf voluminösem Papier und enthält einschließlich des Umschlags 45 Abbildungen (Collagen, Frottagen, Photographien). Auf dem Umschlag ist ein ausgerissener Stadtplanteil zu sehen, Berlin-Charlottenburg, mit der Galvanistraße im Zentrum und der Kreuzung der Bushaltestellen der Linien 101 und 245; womit etwas von Benjamins Faszination, der über den Berliner Pharus-Plan räsonierte (der hier unerwähnt bleibt), zu spüren ist. Toponyme : Berlin verzeichnet die Stadt im Spiegelbild von Fassaden und Verkleidungen, wobei im weiteren Verlauf des Buches auf weitere Ordnungssysteme verwiesen wird, Kataster, Bemassungen, kartographische Darstellungen. So ist ein runder Ausriss auf Milimeterpapier im Buchinneren vorhanden, neben Straßen- und Brückennamen ist entzifferbar: »Kita«, »Stadtreinigung«, »Alter Luisenfriedhof«; ein Zyklus von Jugend bis Alter, Leben bis Tod. Dazu gibt es in Cadastre ein Gedicht (23 octobre 2000 : Alter Luisenfriedhof Cimetière. Guerickestrasse), wo es u.a. heißt: »naissance, la mort/deux dates graves/et gravées d’après/une pierre verdie/de durer son repos«.61 Die auffälligen kreisrund ausgeschnittenen Parallelstrukturen in Dédale. Vous êtes ici erinnern an die Markierungen auf Orientierungskarten; sie sind, wie es einmal heißen wird, rote Kreise. Dédale. Vous êtes ici besteht aus 180 Versen und thematisiert die Aneignung und Entdeckung Berlins, »le passage progressif du lieu inconnu, imaginé, au lieu familier«.62 Das Gedicht wird von fünf Collagen und einer Photographie begleitet, wo in Stadtpläne oder das Straßenregister des Stadtplans eine Abbildung des Berliner Doms sowie eines zerstörten Hauses und eine Luftbildaufnahme weitere rektolineare Strukturen eingepasst bzw. diese überblendet wurden, etwa parallele Bahngleise, die Fassade eines Hauses mit Laterne, Balkone, Pflastersteine oder Metallgitter. Berlin erscheint so nicht zuletzt als La-

59 60 61 62

Métail: Geschmack (Anm. 27), 228 f./230 f. Métail: Toponyme (Anm. 22), 7. Ebd., 51. Ebd., 7.

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byrinth, der Hinweis auf einen Standpunkt misslingt, der Leser bleibt orientierungslos zurück.63 Entsprechend endet das Gedicht mit dem Außerhalb des Kreises: »l’œil incertain d’énigme/le lieu sans cesse au proche, loin/vous êtes ici, en dehors du cercle/passant étrange, étranger ainsi/libre usage, marchant nulle part«.64 Vor allem wird immer wieder an die Unausweichlichkeit von Geschichte erinnert: Die erste Collage zeigt statt des Bahnhofs Zoologischer Garten Bahngleise in rot umrandetem Kreis, daneben einen Davidstern für »Jüdisches Gemeindehaus«. Dédale beginnt: »Voies, voyages, le roulement ferré/dans ses rails et gris, traverses/continu cheminement du ballast/roulant déroulant sur la courbe«.65 Oder es geht darum, wie Siege und Niederlagen einander abwechseln.66 Vieles an Métails Berlin-Arbeiten ist Archivierung und Dokumentation, Ausmessung und Inventarisierung der Straßen, Orte, Topologien und Gedächtnisräume, die eine Bedeutung hatten, was zu Verdauerung und Erinnerung, Sistierung und Erinnerung, zu Transformationen in andere Zeichensysteme führt. Im Vorwort zu Gehen und Schreiben. Gedächtnis-Inventar, wo Jumelage und Cadastre als »Die Stadt, der Stadt. Parzellenplan« sowie »Rue GALVANI Straße. Paris – Berlin. Gedächtnis-Inventar« übersetzt wurden, kommt wieder der Kastanienbaum vor: Ich habe gleich ein Foto gemacht […] – der Baum hatte sich schon verändert. Fünf Tage später beschloß ich, ein Gedicht zu schreiben über den Kastanienbaum im Hinterhof […], um das zu notieren, was vielleicht auf den Fotos nicht sichtbar wurde. […] Als ich erneut im Sucher das Bild des erblühenden Baums justierte, wurde mir klar, daß auch mein Gedicht ein Raster brauchte […]: 10x15, zehn Zeilen mit fünfzehn Buchstaben je Vers. Eine Art Fotoformat-Gedicht.67

Die Entscheidung für eine bestimmte Form ermöglicht, dass etwas entsteht, wie über den »cadrage« geäußert wird: »Ich konnte das Gedicht über die Kastanie schreiben, nachdem ich den Rahmen abgesteckt hatte, wie ich es nenne.«68 Es 63 64 65 66

67 68

»le lieu défini/déchiffré à l’inventaire précis/seuil d’un éconcé inconnu de rues/litanie pour mémoire cadastrée/sur le plan, les aplats de la ville/vous êtes ici, dans le cercle vide/encerclé, cercle rouge […]« (ebd., 13). Ebd., 21. Ebd., 11. »dans le dédale métallique […]/au piédestal des patines, bronze/et les frontons, grand titre, page/des commémorations, oppressant/lacis de souvenirs embrouillés/bribes sans paroles, aucun signe/on achoppe aux images, l’histoire/dans ces monuments trop voyants […]/ici le cercle des faits consignés/graves des guerres, inutilement/triomphes et déclins alternant/jusqu’au retour de repartir, tour/ravivé de la spirale« (ebd., 15–17). Métail: Gehen (Anm. 47), 7. Ebd., 13.

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scheint eine spezifisch städtische Perspektive auf; die Natur in der Stadt (die Kastanie im quadratischen Innenhof) wird gerahmt und quadriert, um alles beschreibbar zu machen, nicht als Landschaft.69 Zu erkennen ist an Toponyme : Berlin, wie produktiv und anregend sich contraintes auswirken: In Cadastre müssen die Gedichte nicht nur mit 10 Zeilen à 17 Anschlägen auskommen, alle sind in Kleinschreibung und reduzierter Zeichensetzung gehalten (es gibt nur Kommata). Schließlich stehen 36 Gedichte mit Datumsangaben (12. April 2000–April 2001) 24 Photographien von ca. 80x220mm gegenüber (die Bemaßungen differieren), als normierte Anzahl von Kleinbildfilmen;70 das Jahr hat sich geschlossen: refermer, quitter où aurait pu vivre d’affilée, la ville renouveau, saison dès que s’achèvent un cycle et retour comme aux regrets communs des lieux marchés, martelés ligne et cadastre71

Dabei werden Orte aufgesucht und beschrieben, die hochgradig geometrisch und rational organisiert sind, wie etwa die Großbaustelle des Potsdamer Platzes oder die Siemensstadt. 72 Selbst Schrebergärten und Gartenparzellen, die deutscheste aller Freizeitbeschäftigungen und deren architektonische Ausformung, sind vertreten, wo rêve und clôture wiederkehren.73 Die Photographien zeigen nicht nur Gebäude, in denen sich etwas spiegelt, sondern geben Raster und Quadrierungen vor, passend zu den Gedichten. Diese stehen mit 24 Photographien auf 24 Doppelseiten; auf den Seiten 27, 31, 35, 39, 43, 51, 55, 59, 63, 67, 71 und 47 erscheinen je zwei Gedichte, die sich spiegeln, meist horizontal und untereinander. Einmal

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»A la campagne, rien ne me scandalise« (Perec: Espèces [Anm. 33], 94/619). Im Vorwort zur deutschen Ausgabe Gehen und Schreiben heißt es: »Ausschließlich im Fotoformat konstruiert, versammelt sie 24** Fotos der Stadt, gesehen durch Spiegelungen, und 36** Gedichte.« In Fußnote: »** Film zu 24 und zu 36 Bildern; Format des Negativs 24 x 36 Milimeter« (Métail: Gehen [Anm. 47], 8). Métail: Toponyme (Anm. 22), 71. Ebd., 27: »sur l’oubli, un trou/par le creusement/[…]/l’abîme de mémoire« (4 février 2001 : Siemensstadt). Ebd., 29: »occupé au cordeau/de la digue, un coin/confiné, parcelle […]/dans ses bordures/prises en limites/rêve clos, clôture« (30 avril 2000 : Laubenkolonie, jardins ouvriers de Spandauer Damm).

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wird davon abgewichen, bei 20 mai 2000 : immeubles Tucholskystrasse stehen sie mit gleichem Anfang und Titel: de face, à la façade ulcérée et rongée par l’effrittement à ses pores, brique […]

de face, à la façade teinte depuis peu ses murs, moulures, du gris de l’enduit […]74

Mitunter wird der Klang der Stadt mitaufgenommen, etwa in 15 octobre 2000 : Haus der Kulturen der Welt. Le carillon.75 Oder bei einem Akkordeonspieler (10 janvier 2001 : un musicien russe à la station de métro Heidelbergerplatz).76 Perec schloss sein Lieux-Projekt, das bis 1981 weiterzuführen gewesen wäre, nicht ab; zudem gibt es bei ihm stärkere contraintes. Bei Métail ist vieles spielerischer, weniger rigide, freier; ihre contraintes sind flexibler, die resultierenden Gedichte gleichwohl gewichtig, lassen Tod, Gewalt und Leid nicht aus, so anlässlich der Gedenkstätte am Bayerischen Platz (21 octobre : Bayerischer Platz. Dans le »Quartier bavarois«, les plaques fixées aux réverbères rappellent les lois promulguées par les nazis à l’encontre des juifs).77 Oder zum 9. November (9 novembre 2000 : manifestation contre le racisme devant la synagoge. Oranienburgerstrasse).78 Es wird präzise notiert, wann der tödliche Unfall des Vaters stattfindet (18 février 2001 : 17h05, prévenue par téléphone, avant la mort de mon père).79 In Jumelage. Rue GALVANI Strasse hinterlassen Kanaldeckel und Pflastersteine bzw. ihre photographischen Abbildungen als »mémoires« auf den Seiten 74 75 76

77 78 79

Ebd., 35. »déniché de la cime/à la volée, corbeau/la cloche envolée/quand bien volent/les feuilles hors/une feuillée déjà/ jaune, jaunissant/sitôt de l’automne/et dix-huit heures/au son du carillon« (ebd., 49). »en affiches la vie/placardée de joie/si facile, si douce/où défile une rame/s’arrête et change/alors d’un couloir/langueur de sons/comme l’accordéon/la voix obsédante/seule sa solitude« (ebd., 65). Wie klingt die Stadt? Wie lässt sie sich zu Gehör bringen? In Son d’une ville – Berlin – Der Klang einer Stadt von Métails Ehemann Louis Roquin gibt das Berliner Telefonbuch Buchstabengruppierungen vor, die zur musikalischen Notation werden (welche zu realisierten Klängen werden kann). Zugrunde liegen im gedruckten Telefonbuch (heute meist nur noch ein Datensatz; Son d’une ville dokumentiert einen medientechnischen Wandel) vier Buchstaben in den Kolumnen, die die Namen auf jeder Seite anführen. So ergeben die »Tétrades« ABAC, BIEG, HEUS 26 Texte mit 26 Objekten und musikalische Notationen, die akustisch realisiert werden können. »désastre des mots/en vigueur de dire/d’interdire, haine/osée quotidienne/dans ses moindres/ d’une vie si intime/intimidée de peur/damner, condamner,/à n’être, naître pas/de la race, un autre« (ebd., 51). »reflet de cristal/la nuit, la coupole/enflammée des ors/désormais hantée/nausée, l’histoire/ ressasse rôdeuse/tandis qu’un signe/pour que s’ébranle/même chancelante/si lente la marche« (ebd., 55). »heurt d’un violent/à terre et pierres/et coma des chairs/les plaies, visage/entailée, contact/percuter frontal/de la perte lourde/chute d’équilibre/tête, traumatisme/au sol, état agonie« (ebd., 69).

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des gedruckten Buches Spuren, sie sind auf Milimeterpapier abgepaust. Frottagen (»estampages«) zersplitterter Bodenplatten werden ebenso dokumentiert wie Abriebe von Kanaldeckeln und Bäumen, den Berliner Linden, oder von Mauerputz.80 Eine akribischere Ausmessung und Inventarisierung der Berliner und Pariser Straßen, ihrer Topologien und Gedächtnisräume ist kaum vorstellbar: »Je voulais revoir les arbres avant l’automne – des tilleuls aux feuilles encore bien vertes. J’en ai comptés 22 sur le trottoir de droite et 20 sur celui d’en face.«81 Dadurch gelingt es nicht nur, Geschichten über Orte zu schreiben, sondern diese als Toponyme in Erscheinung treten zu lassen, vermengt mit Erinnerungen an Métails erste 17 Lebensjahre in der rue Galvani 10 in Paris, aufgerufen durch Flashbacks: »En ›cliquant‹ sur un mot en caractères gras, ressurgit un souvenir d’enfance.«82 Zwischen Paris und Berlin wird – im Flanieren – eine Beziehung gestiftet, werden Orte mittels literarischer Traditionen verschaltet. Zugleich warnt Perec: »Ne pas essayer trop vite de trouver une définition de la ville ; c’est beaucoup trop gros, on a toutes les chances de se tromper.«83 Die fett ausgezeichneten Worte in Jumelage lauten von »Oú commence la rue ?« bis »17 numéros. La rue se termine comme elle a commencé, par un immeuble comptabilisé Guerickestrasse. Un immeuble qui est là sans y être, entredeux./17, le nombre des années passées rue Galvani – de juin 1950 à juin 1967. Alors dans l’hypertexte de ma mémoire, des liens se créent. Ombres projetées des mots, qui font surgir des images, d’une rue vers l’autre, dans un ordre différent.« commence, l’escalier (N°2), fleurs (N°3), déménageur (N°4), table (N°5), deuxroues (N°6), femme au rez-de-chaussée (N°7), cage d’escalier (N°8), mort (N°9), Côté cour (N°10), poussière (N°11), restaurant (N°12), taverser (N°12a), chaussures, langue étrangère, danger pour la vie, réfrigérateur, lettre-père (N°13), Bouddha, Noël (N°14), planches (N°15), antivol (N°16), verres (N°17), pluie und entre-deux.84 Dies erinnert an die doppelte Beschreibung (double description; in

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Zu Frottagen schreibt Perec vom »jeu d’enfants qui consiste à frotter avec la pointe d’un crayon une feuille de papier pour y faire apparaître l’empreinte illusoire de la pièce de monnaie qu’on a d’avance dissimulée sous la feuille, la succession des pulvérisations faisait apparaître sous le papier collé des formes qui y auraient été déjà inscrites, et ce jeu d’échanges entre les caches et les réserves ressemble à quelque chose qui serait une archéologie du vide, où le tableau surgirait lentement de la toile comme une momie peu à peu débarassée de ses bandelettes« (Perec, Georges, Jacques Poli: Peintures ENTOMOLOGIQUES 1978–1979. Textes de Georges Perec. Paris 1979, 6); in Georges Perec. Images ist eine von Perecs »dessins d’enfant, par frottement de la mine« abgebildet (Neefs/Hartje: Images [Anm. 20], 117). Métail: Toponyme (Anm. 22), 76. Ebd., 7. Perec: Espèces (Anm. 33), 83. Métail: Toponyme (Anm. 22), 87–94.

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situ und de mémoire) in Perecs Lieux. Der Blick auf Alltägliches, unter Vernachlässigung bekannter Sehenswürdigkeiten,85 ist auch laut Benjamin Spezifikum des Flaneurs und seines ambulanten Schreibens, im Unterschied zum Reisenden oder Touristen: Und ist die Stadt nicht zu voll von Tempeln, umfriedeten Plätzen, nationalen Heiligtümern, um ungeteilt mit jedem Pflasterstein, jedem Ladenschild, jeder Stufe und jeder Torfahrt in den Traum des Passanten eingehen zu können? Die großen Reminiszenzen, die historischen Schauer – sie sind dem wahren Flaneur ja ein Bettel, den er gerne dem Reisenden überläßt. Und all sein Wissen […] gibt er für die Witterung einer einzigen Schwelle oder das Tastgefühl einer einzigen Fliese dahin […].86

Das »Tastgefühl einer einzigen Fliese«, Pflastersteine und Ladenschilder; es gibt kaum einen literarischen Text, wo solche Stadterkundungen so radikal umgesetzt worden wären wie bei Métail: Sur les deux trottoirs, insérées au milieu des pavés, de grosses dalles de granit dessinent un chemin lisse. J’en ai comptées 756. Je fais l’aller-retour dans la rue en 851 pas, plus 17 pour traverser dans le passage piétons signalé par 34 bandes blanches. Vitesse limitée, zone à 30km/heure. Une pompe à bras numérotée 103. 16 lampadaires. Voici des souvenirs objectifs.87

An literarischen Vorgängern solch objektiver Protokollierung existiert wohl lediglich Perecs »Tentative d’épuisement d’un lieu parisien«. Aufmerksamkeit den Dingen gegenüber sei das Signum des Flaneurs, so wie auch Hessel eine Ethik wertschätzender Beobachtung formuliert: »Und was du alles siehst […]! Was dich alles ansieht! Immer vertrauter wird mit dir die Straße. […] Wenn du unterwegs etwas ansehn willst, geh nicht zu gierig darauf los. Sonst entzieht es sich dir. Laß ihm Zeit, auch dich anzusehn. Es gibt ein Aug in Aug auch mit den sogenannten Dingen.«88 Diese Sichtweise empfand Benjamin als Haltung des Flaneurs, dessen Credo und Überzeugung; in Jumelage. Rue GALVANI Straße ist diese Ethik eigentümlich realisiert: »Nur was uns anschaut sehen wir. Wir können nur –, wofür wir nichts können.« Man hat die Philosophie des Flaneurs niemals tiefer erfaßt als es Hessel mit diesen Worten 85

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»Was kann man da alles erleben! Nicht etwa an den offiziell historischen Stellen, nein, irgendwo in ganz ruhmloser Gegend.« (Franz Hessel: Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen. In: Die Literarische Welt 8 (27. Mai 1932), Nr. 22, 3 f. In: Ders.: Ermunterung zum Genuß. Kleine Prosa. Hg. von Karin Grund und Bernd Witte. Berlin 1981, 53–61, hier 60). Benjamin: Wiederkehr (Anm. 6), 195. Métail: Toponyme (Anm. 22), 83. Hessel: Kunst (Anm. 8), 175 f.

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Bernhard Metz getan hat. […] Und nichts ist für das Verhältnis der beiden Städte – Paris, seiner späten und reifen Heimat, und Berlins, seiner frühen und strengen – bezeichnender, als daß den Berlinern dieser große Spaziergänger baldigst auffallend und suspect wird.89

Métail lässt dem Ephemeren schlechthin, den Blumen, Sinnbildern von Flüchtigund Vergänglichkeit, ihre Aufmerksamkeit, Beobachtungsgabe und Beschreibungskraft zukommen: Es geht um die Farben der Stadt, um Alternativen zum einheitlichen Grau, selbst zu dem der Schwarzweiß-Photographie. Dass der Flaneur verdächtigt wird (»Der Verdächtige«), wie auch Hessel und Benjamin schildern, wiederholt sich.90 Hinzu kommt eine Poetik der Liste und des Enumerativen, ein »inventaire«.91 Alles liest sich wie inspiriert vom Schreibimperativ im einleitenden Text »Approches de quoi ?« (1973 in Cause commune erschienen) in L’infra-ordinaire: »Décrivez votre rue. Décrivez-en une autre. Comparez.«92 Dass beide Projekte Straßen der Kindheit gewidmet sind, verbindet sie, in Jumelage ist es Nummer 10, bei Perec 1 und 24; sowohl in der rue Vilin93 als auch in der Galvanistraße94 finden sich dort Umzugs- bzw. Möbelgeschäfte. Berlin wurde speziell seit dem Mauerfall als Stadt im Wandel tituliert, die sich immerzu ändere, nie fertig sei. Dabei findet sich dies schon 1910 als »Die Bestimmung Berlins«; es sei das »zur mächtigen Millionenstadt und Reichshauptstadt emporgewachsene Berlin dazu verdammt: immerfort zu werden, und niemals zu sein«.95 Bei Hessel heißt es bezogen auf das Flanieren:

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Benjamin: Wiederkehr (Anm. 6), 198. Vgl. Métail: Rue(s) (Anm. 9), 208. Vgl. Métail: Toponyme (Anm. 22), 77 f. Perec: L’infra-ordinaire (Anm. 20), 12. Zuvor: »Ce qu’il s’agit d’interroger, c’est la brique, le béton, le verre, nos manières de table, nos ustensiles, nos outils, nos emplois du temps, nos rythmes. Interroger ce qui semble avoir cessé à jamais de nous étonner.« (Ebd.) Hierauf folgt »La rue Vilin« mit präzise datierten Abschnitten. »Sur la gauche (côté impair), le n° 1 a été ravalé récemment. C’était, m’a-t-on dit, l’immeuble où vivaient les parents de ma mère. […] Au rez-de-chaussée, un magasin, jadis d’ameublement (la trace des lettres MEUBLES est encore visible), qui se réinstalle peut-être en mercerie à en juger par les articles que l’on voit en devanture. Le magasin est fermé et n’est pas éclairé./[…] Au 24 (c’est la maison où je vécus) :/D’abord un bâtiment à un étage, avec, au rez-de-chaussée, une porte (condamnée) ; tout autour, encore des traces de peinture et au-dessus, pas encore tout à fait effacée, l’inscription/COIFFURE DAMES« (Perec: Rue Vilin [Anm. 56], 15 f., 18). »N°4. Un déménageur. Müller. Umzüge & Lagerungen. Nah & Fern. Proche et loin. Je déménage mes souvenirs, les fait passer d’une rue Galvani à une Galvanistrasse: même adresse, c’est plus pratique. […] N°10. Trois entrées. Grille en fer pour la cour où se garent les véhicules, porte vitrée de la boutique et porte pleine de l’immeuble. A droite 21 cubes de verre très épais donnent de la lumière dans le cagibi sous l’escalier. […] Côté cour, le dos des immeubles de la Cauerstrasse.« (Métail: Toponyme [Anm. 22], 88 f.). Karl Scheffler: Berlin. Ein Stadtschicksal. Berlin 1910, 267.

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Mit dem Herumlaufen allein ist es nicht getan. Ich muß […] mich um die Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern, dieser Stadt, die immer unterwegs, immer im Begriff, anders zu werden, ist. Deshalb ist sie wohl auch so schwer zu entdecken, besonders für einen, der hier zu Hause ist …96

Auf Scheffler nimmt Hessel im »Nachwort an die Berliner« explizit Bezug.97 Auch von Métail werden die Veränderungen Berlins aufgezeigt; das Restaurant »Zum schwarzen Kater« in der Galvanistraße 5 gibt es heute nicht mehr, das Geschäft für Computer und Schreibmaschinen unter Nummer 10 ebensowenig. Sonst blieb vieles freilich so wie beschrieben: Galvani, rue Galvani, au numéro 10 à Paris, j’y ai passé les dix-sept premières années de ma vie. […] Qu’y-a-t-il à découvrir au numéro 10 ? Immeuble moderne, 3 étages plus les combles. 12 fenêtres d’appartements, 4 pour la cage d’escalier. Sur le toit, 2 chiens assis et 2 lucarnes. Une boutique de matériel électronique d’occasion au rezde-chausée : machines à calculer, à écrire …98

Veränderungen sind nicht angstbesetzt, nicht traumatisch, werden als Herausforderung angenommen. Das unterscheidet diese Position von derjenigen Perecs, wo Verlust und Verschwinden, die Trauer darüber, dass Kindheit und Erinnerung verloren sind, dominieren, wie in Espèces d’espace am Ende (»l’espace (suite et fin)«): J’amerais qu’il existe des lieux stables, immobiles, intangibles, intouchés et presque intouchables, immuables, enracinés ; des lieux qui seraient des références, des points de départ, des sources : Mon pays natal, le berceau de ma famille, la maison où je serais né, l’arbre que j’aurais vu grandir (que mon père aurait planté le jour de ma naissance), le grenier de mon enfance empli de souvenirs intacts … De tels lieux n’existent pas, et c’est parce qu’ils n’existent pas que l’espace devient question […]:

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Hessel: Spazieren (Anm. 17), 13; vgl. »Abbruch und Aufbau, Ruinenstadt und werdende Stadt« (ebd., 185) zum Urbanhafen oder zu den Projekten des Neuen Bauens wie der Taut-Siedlung Onkel Toms Hütte, was »wohl das Wichtigste ist, was zur Zeit mit Berlin geschieht. Dieses neue, werdende Berlin« (ebd., 210). »Es ist gar nicht so leicht, das Ansehen sowohl wie das Bewohnen bei einer Stadt, die immerzu unterwegs, immer im Begriff ist, anders zu werden und nie in ihrem Gestern ausruht. In seinem geistvollen, aber hoffentlich doch zu pessimistischen Buch ›Berlin, ein Stadtschicksal‹, klagt Karl Scheffler, Berlin sei heute noch wie vor Jahrhunderten recht eigentlich eine Kolonistenstadt, vorgeschoben in leere Steppe. Darum keine Tradition, daher soviel Ungeduld und Unruhe.« (Ebd., 298). Métail: Toponyme (Anm. 22), 75.

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Bernhard Metz Ecrire: essayer méticuleusement de retenir quelque chose, de faire survivre quelque chose : arracher quelques bribes précises au vide qui se creuse, laisser, quelque part, un sillon, une trace, une marque ou quelques signes.99

In rue GALVANI Strasse gibt es, anders als von der rue Vilin, keine Photographien der Häuser – nur einmal sind wenige entfernt zu sehen –, lediglich von Straßenschildern.100 Es ist egal, wie die Nummer 10 in Berlin oder Paris aussieht, Beschreibungen und evozierte Erinnerungen sind wichtiger als Dokumentationen realer Gebäude, wie sie sich heute zeigen (oder eines Tages nicht mehr). Perec entschied sich beim Wiederabdruck von La Clôture, die Photographien (es lagen von der rue Vilin solche Pierre Getzlers vor) fortzulassen, nur Sprache zu belassen.101 Was im Unterschied zu Hessel und Perec bei Métail auffällt, ist die Abwesenheit einer Traum- oder Halbtraumverklärung, nostalgische Momente sind rational ab- und eingegrenzt. Während der Hesselsche Spaziergänger (oder Flaneur; so bei Benjamin, der vom »Traum des Passanten« schreibt) sich in Tagträumen verliert und Perecs Beschreibungen traumhaft verschoben ins Irreale abgleiten (der Protagonist von Un homme qui dort ist Paris-Flaneur,102 in der Verfilmung läuft er am Ende wie in der ersten Einstellung die Rue Villin hinab103) gibt es dies 99 Perec: Espèces (Anm. 33), 122 f. 100 Vgl. Métail: Toponyme (Anm. 22), 82, 87, 96. 101 Noch Métails »Trois vues de Berlin. Friedrichshagen, Charlottenburg, Spandau« verweist auf diesen Wandel. Versammelt werden Lieblingsorte, die im Zusammenspiel von Photographien und Texten dokumentiert werden. Die Berliner Bürgerbräubrauerei in Friedrichshagen, das Elektrizitätswerk in Charlottenburg und das Innere des Spandauer Kühlturms werden dadurch wieder Teil der Stadt, wo sie keinen Platz mehr haben. Die Wiedergewinnung urbaner Räume, die sonst übersehen werden, deutet auch ihren Wandel an. Diese Lieblingsorte Métails in Berlin gibt es heute nicht mehr bzw. ihr Fortbestand ist ungewiss: Die Berliner Bürgerbräubrauerei am Ufer der Müggelspree in Friedrichshagen schloss 2010 und ist heute ein Brauereimuseum, ihr Schornstein wurde rückgebaut; das Elektrizitätswerk in Charlottenburg wurde auf Gas umgestellt, sein Schornstein 2006 abgerissen; der Spandauer Kühlturm gehört zum Kohlekraftwerk Reuter West, das als größter Luftverschmutzer der Stadt gilt und als nicht mehr zeitgemäß seit Jahren in der Kritik steht. Das Motto der Wiederpublikation von »Trois vues de Berlin« in Métail: Berlin (Anm. 4), 6 lautet: »Berlin, où la mémoire a lieu(x)«. 102 Etwa: »Tu te promènes encore parfois. Tu refais les mêmes chemins. Tu traverses des champs labourés qui laissent à tes chaussures montantes d’épaisses semelles de glaise. Tu t’embourbes dans les fondrières des sentiers. Le ciel est gris. Des nappes de brume masquent les paysages. De la fumée monte de quelques cheminées. Tu as froid malgré ta vareuse doublée, tes chaussures, tes gants; tu essayes maladroitement d’allumer une cigarette./Tu fais des promenades plus lointaines […].« (Georges Perec: Un homme qui dort. Paris 1967. In: Ders.: Œuvres [Anm. 33], Bd. 1, 167–242, hier 192) Perec äußerte: »En écrivant Un homme qui dort, je voyais ce type marcher dans les rues […] et j’avais l’impression que cette espèce de decription d’un labyrinthe avait quelque chose de cinématographique.« (Perec/Queysanne: Entretien [Anm. 48], 68). 103 Die Verfilmung von Perec und Bernard Queysanne weist viele Bezüge zum frühen surrealistischen Film mit seiner ausgeprägten Traumlogik auf (allein das brennende Waschbecken), nicht zuletzt durch Schwarzweiß-Ästhetik und Einsatz von Musik zu den Arbeiten Buñuels.

Michèle Métails Toponyme : Berlin und der Diskurs des Flanierens

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bei Métail nicht. Der Ton ihrer Berlin-Texte ist heiter, sogar bei traumatischen Kindheitserinnerungen (in Jumelage), wach, aufgeweckt.104 Zugleich verfremdet sie Wohlbekanntes. Verschiedene Métail-Projekte befassen sich mit Zeichen im öffentlichen Raum bzw. damit, welche Strukturen (X-Formen oder Quadrierungen) anderswo aufzufinden sind. Es kommt zu Analogien und Übertragungen, wie sie auch Hessel als Prinzip seiner Stadtlektüren angibt: »Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben. Um richtig zu flanieren, darf man nichts allzu Bestimmtes vorhaben.«105 Als habe Métail dies gekannt, schreibt sie: Ich kam nach Berlin mit der Idee, mich vom Ort leiten zu lassen. […] Also bin ich in der Stadt umhergegangen und habe versucht, meine Wahrnehmung in ihr zu schärfen. Die Frage des Rahmens und der Linie brachte mich dazu, einem architekturbezogenen Motiv besondere Aufmerksamkeit entgegenzubringen: dem des Gitternetzes, vor allem, wenn es sich mit Glaswänden verband. […] Annäherungen, in deren Gerüst sich […] die katastrale Sammlung aufbaute: […] Der metrische Anspruch erzeugt eine spitzwinklige Syntax mit Brechung der Kontinuität – Fragmentierung auch hier –, vergleichbar diesen unterschiedlichen Empfindungen, die man bei der Reise quer durch die Stadt empfängt, wenn im Vorübergehen aufgeschnappte Straßenszenen, auf Mauern zu lesende Texte, Plakate, Gesprächsbrocken einander ablösen.106

Entsprechend wirkt sich Flanieren und Reisen auf die Form des Gedichts aus. Schon Mercier gab an, er habe sich seine Paris-Beschreibung erlaufen müssen (mes pieds : J’ai tant couru pour faire le Tableau de Paris, que je puis dire l’avoir fait avec mes jambes …). Schreiben und Notieren in Bewegung können ambulante Poesie ergeben, die nicht am Schreibtisch entstehen könnte, nicht in einer Bibliothek, sondern unter freiem Himmel in Kontakt mit der Stadt (bei Hessel: Wohnen

104 Noch in der Nostalgie steht neben der Trauer Freude, so bei der letzten Seminarveranstaltung als Gastprofessorin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin am 15. Juli 2005: »Ich hatte etwas zum Anstoßen vorbereitet, ehe wir auseinander gingen, und bei einem chinesischen Händler ein paar Kleinigkeiten gekauft, darunter ein Päckchen getrockneter süßsalziger Pflaumen. Man durfte nicht mit einer nostalgischen Note enden. Ich ermunterte die Studierenden zum Geschmacksvergleich, wo sie so gut die Literaturen zu vergleichen wußten. […] Ich hoffte, so die Erinnerung an eine Empfindung einzuprägen, die vielleicht eines Tages in dem Gedächtnis des einen oder anderen aufsteigen und die mit diesem Ort verbunden sein würde.« (Métail: Geschmack [Anm. 27], 232 f.). 105 Hessel: Spazieren (Anm. 17), 155. 106 Métail: Gehen (Anm. 47), 8.

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in der Straße, nicht nur im Zimmer). Ambulantes Beobachten, Dichten und Schreiben führen zu poésie ambulante, parallel dazu, wenn Métail anführt, ihr südfranzösischer Garten könne von ihr »nicht nach Plan – abstrakt – gestalte[t]« werden, nur en passant bzw. en marchant: »Man sollte das machen wie ich Bücher schreibe, indem man läuft und sich in dem Raum bewegt, in dem nichts ist.«107 Zusätzlich äußerte sie: » Es handelt sich […] um eine Reise durch die Stadt, in der ich […] zwischen 2500 und 3000 Kilometer zu Fuß gelaufen bin. Das Bild war oft […] ein Präludium des Geschriebenen, und die während dieser Tage […] gefüllten Notizbücher waren mir von Nutzen, verschiedene Texte über Berlin zu komponieren.«108 Zugleich kann dies nicht immer aufrechterhalten bleiben; als sie 2005 auf dem Weg zu einem Seminar ist, das sie dem Thema »inner/außerhalb der seite: der raum des gedichts« widmete, gerät Métail in eine Routine und übersieht das Alltägliche; statt der Straße liest sie in Büchern: Ich hatte sie vernachlässigt, die Straßen, die Reisenden, die Stationen, die Bahnsteige, hatte sie nicht mehr angeschaut. Vielleicht hatte ich zu oft in Berlin gewohnt, meine Wahrnehmungsfähigkeit war mit der Gewöhnung, der Routine abgestumpft. Während früherer Aufenthalte war ich mit einem Notizheft in der Hand und umgehängtem Fotoapparat durch die Stadt gestreift, hatte mich frei jeden Zwanges nach Laune fortbewegt, das Auge hellwach, denn das Flanieren befreit den Blick. Dieses Mal hatte ich ein Ziel, und der Blick hatte nicht mehr das Recht umherzuschweifen. Ich widmete das Seminar dieses Nachmittags Georges Perec und dem Infra-ordinaire.109

Panorama : entre la Spree et la Havel (Le cours de la ville), letzter Teil von Toponyme : Berlin, ist eine optisch-akustische Annäherung an die Stadt. Panorama wird beschrieben als »Relation du voyage entrepris dans la ville en longeant les berges des deux rivières qui la traversent.«110 Dabei werden in szenischer Lesung Photographien projiziert, die entweder schwarzweiß (von jeder der 53 Brücken, wo die verschiedenen Flüsse Berlins gekreuzt werden, plus zwei Fährverbindungen) oder farbig (Photographien von Schildern und Schriften, wo »Spree« und »Havel« auftauchen) gehalten sind; Panorama ist auf zwei Stimmen verteilt,

107 Cossais/Métail: Poesie [Anm. 2], 2; vgl. zu »en passant« und »im Vorübergehn« Hessel: Kunst (Anm. 8), 171 f. 108 Métail: Gehen (Anm. 47), 9. Vgl.: »Bei mir hat alles mit Gehen zu tun! Ich [bin …] in Berlin zwischen 10 und 15km pro Tag gelaufen […]. Ich habe alles erforscht. […]. Die Komposition gibt es nicht vorab, sie entsteht. Vorher muß Material vorhanden sein und sich plötzlich kristallisieren.« (Cossais/Métail: Poesie [Anm. 2], 11). 109 Métail: Geschmack (Anm. 27), 231. 110 Métail: Toponyme (Anm. 22), 7. Eine vergleichbare topographische Erkundung entlang der 36 Brücken, die über den Landwehrkanal führen, stellt »L’envers, canal« (Anm. 27) dar.

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wobei die erste während der Live-Performance die Textanteile der rechten Flußseite (rive droite) spricht, die zweite (von Tonband) die der linken (rive gauche). Neben Photographien gibt es akustische Einsprengsel.111 Diese audiovisuelle Performance wird in Buchform zwangsläufig reduziert wiedergegeben. Der Text ist doppelseitig angeordnet: Auf der linken (geraden) Buchseite setzt er (rechtsbündig) ein, auf der ungeraden wird er (linksbündig) im Zeilenwechsel aufgenommen. Der Buchfalz ist die Grenze bzw. markiert den zwischen beiden Seitenufern situierten Fluss (wobei zu Beginn ein Kartenausschnitt von links unten nach rechts oben den SPREE FLUSS und einige Brücken anzeigt.112 Die Teilung Berlins erfolgt nicht über eine Ost/West-Achse, als die der Falz verstanden werden könnte, sondern chiastisch, entre la Spree et la Havel. Während die Spree im Osten in Berlin ankommt und als Treptower Spree zur Berliner Spree wird, fließt sie von Ost nach West, um als Untere Spree in Charlottenburg (über den Landwehrkanal) in Spandau in die Havel einzumünden. Diese kommt von Norden, um weiter nach Westen zu fließen. Grenzen werden überwunden: Die Spree fließt durch Berlin, wird zur Havel bzw. offiziell östlicher Nebenfluss der Havel, führt aber in Berlin so viel Wasser, dass am Zusammenfluss von Spree und oberer Havel in Spandau die Spree wasserreicher wird als die obere Havel. Viele der Eindrücke und Beobachtungen,113 die auf der linken wie rechten Seite von Havel und Spree aufgenommen werden, werden dokumentiert, scheinen auf wie Elemente eines inneren Monologs bzw. äußeren Dialogs, sind hart aufeinander montiert, oftmals in Form von Übersetzungen deutscher Ausdrücke. Diese betreffen teilweise die (deutsch-)deutsche Geschichte114 als eine unausweichliche Vergangenheit.115 Worte transportieren die Topik des alten (vormodernen) Berlin mit dem für Hessel besonderen Zauber (zum Beispiel des Landwehr-Kanals).116

111 »Dans sa version scénique, ce texte s’accompagne/1er/d’une projection de diapositives où alternent:/- les diapositives en noir et blanc. Vues de la rivière prises ce chacun des ponts qui l’enjambent. (53 plus 2 passages ferry)/- les diapositives en couleur. […]/2ème/de la diffussion de prélèvements sonores effectués en divers points du parcours« (Métail: Toponyme [Anm. 22], 7). 112 Vgl.: »Zb 29 excroissance de la carte encadrée à part/Car dépasserait lá du plan de la ville/ D’où surgit Zb 29 c’est-à-dire sud-est […] Rive droite – page gauche« (ebd., 108). 113 Vgl. Perecs »Travaux Pratiques«: »Observer la rue […]/Noter le lieu : la terrasse d’un café près du carrefour Bac-Saint-Germain/l’heure : sept heures du soir/la date : 15 mai 1973/le temps : beau fixe/Noter ce que l’on voit. Ce qui se passe de notable. Sait-on voir ce qui est notable ?« (Perec: Espèces [Anm. 33], 70/599). 114 Vgl. »1938 la synagogue brûlée« […] — »Wannsee Conférence 1942 où décida terreurghetto-déportation-les camps […] — »[…] 1941/L’année du premier convoi« (Métail: Toponyme [Anm. 22], 132/135 f.). 115 Vgl. ebd., 121/136; zur Toponymie und gewaltsamen Vergangenheit Berlins Métail: Rue(s) (Anm. 9), 198 f. 116 Vgl. Métail: Toponyme [Anm. 22], 114 f.

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Dennoch ist Panorama auch witzig und selbstreflexiv, da die materialen Voraussetzungen seiner Entstehung angeführt werden, etwa wenn die Materialität der Medien durchschlägt.117 Auch die Wirklichkeit hat unzugängliche Stellen, unabhängig von ihrer kartographischen Darstellung; zugleich wird, es geht um Stift und Heft, darauf angespielt, was verdrängte Erinnerung ausschließt, unvermittelt.118 Hier ist die Anverwandlung von contraintes aus vorgängigen Modellen, Strukturen und Ordnungssystemen, Büchern und Texten evident. Katasterpläne werden zugrunde gelegt oder Stadtplanteile eincollagiert, sie bedingen das resultierende Gedicht. Bezugnahmen auf Prätexte bleiben damit nicht nur idealisierend, sondern nehmen diese in ihrer Materialität ernst. Die gleichermaßen akustische Qualität von Panorama wird auch durch andere Erwähnungen aufgenommen, nicht nur optische Fundstücke und aufgenommene Töne, sogar olfaktorische Eindrücke, etwa »Odeurs d’urine des passages piétons«. Panorama und damit Toponyme : Berlin endet, auch wenn Flüsse nie ganz enden und ein Langzeitprojekt Métails, Complément de noms, noch viele Jahre weiterzuschreiben ist, bis es mit »Métail« schließen wird (was Dédale. Vous êtes ici aufnimmt; der Kreis hat sich geschlossen), wie folgt: »BERLIN district Spandau«—»Voyage au 1 : 30 000 et l’eau ligne d’horizon/Aux arrêts des bus le cercle-repère s’est déplacé sur le plan/Vous êtes ici Berlin Stadtplan Berlin, la ville/Ja 28 sud-ouest en bord extrême de carte/ Au-delà de cette limite…«.119

117 »Trou dans la carte inaccèes à la Spree […] »La Spree pliure dans la carte/Se contraste« (ebd., 116 f.) 118 »Rupture brutale dans l’unité de berges/Laideur d’immeubles édifiés à la hâte/Mémoire en lâchers de bombes trous de mémoire/Quand 1939 synagoge l’emplacement commémore monument sept stèles/Ronde de police l’un méfiant des graffitis surveille à côtè mon crayon, cahier«. (ebd., 127) 119 Ebd., 138 f.

»Siebzehn Zeilen des Augenblicks« Zu Durs Grünbeins Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus (2008) JOHANNES GÖRBERT 1. Last und Lust des Reisens »Reisen ist ein Vorgeschmack auf die Hölle.«1 Mit diesem einzeln gesetzten Vers endet das Gedicht Kosmopolit, das der Dresdner Gegenwartslyriker Durs Grünbein 1999 veröffentlichte und dessen Selbstauslegung er zehn Jahre später mit Die Bars von Atlantis einen ganzen Essayband widmete.2 Auch der Rest des Gedichts rechnet mit dem Reisen, speziell mit dem per Flugzeug, ausdrücklich und umfänglich ab. »Dem Körper ist Zeit gestohlen, den Augen Ruhe / Das genaue Wort verliert seinen Ort«, so heißt es etwa über die »Narkose«, den »Schwindel«, die »Leerzeit«, die der Reisende um die Jahrtausendwende herum bei seinem »[Irren] über die Längengrade« offensichtlich zu erdulden hat.3 Falls aber die Position des Texts der Meinung seines Verfassers entsprechen sollte, so haben wir uns Grünbein wohl, nach all dem was wir über sein persönliches Verhältnis zum Reisen wissen, als einen hochgradigen Masochisten vorzustellen. Schließlich existieren derzeit unter den deutschsprachigen Lyrikern sicherlich nicht viele Autoren, die derartig reisefreudig und international unterwegs sind. Auf eine knapp 30 Jahre währende DDR-Sozialisation im Zeichen von Mobilitätsbeschränkungen folgte,4 so Grünbein, speziell direkt nach der ›Wende‹ eine Phase des »hysterisch[en]« globalen Umherreisens: nach Italien und Griechenland, nach Osteuropa und Russland, in die USA, nach Kanada und Australien.5 Lyrische Erträge dieser Ausbrüche aus der ostdeutschen Enge durchziehen seitdem immer 1 2

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Durs Grünbein: Die Bars von Atlantis. Eine Erkundung in vierzehn Tauchgängen. Frankfurt a.M. 2009, 7. Vgl. allgemein einführend zu Grünbeins Werkbiographie Thomas Irmer: Durs Grünbein. In: Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts. Hg. von Ursula Heukenkamp und Peter Geist. Berlin 2007, 711–721 und Hermann Korte: Durs Grünbein. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. von Herrmann Korte, begründet von Heinz Ludwig Arnold [http://www.munzinger.de/document/16000000189; letzter Zugriff: 23.11.2019]. Grünbein: Die Bars von Atlantis (Anm. 1), 7. Vgl. zu Grünbeins Beschäftigung mit dem »Fall der Mauer« als »Befreiung aus der hermetischen Umschlossenheit des Systems« Michael Braun: »Vom Rand her verlöschen die Bilder«. Zu Durs Grünbeins Lyrik und Poetik des Fragments. In: Text und Kritik 153 (2002), 4–18, hier 6. Durs Grünbein/Heinz-Norbert Jocks: Durs Grünbein im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. Köln 2001, 73. An anderer Stelle spricht Grünbein von seinen Reisen als einer »Unhast«, »fixiert

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_16

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wieder Grünbeins Œuvre. Dies gilt etwa für den Band Aroma, der 2010 im Anschluss an ein Jahr als Stipendiat der Villa Massimo erschien,6 ebenso wie zum Beispiel für eine Sektion von Reisegedichten in Strophen für übermorgen von 2007, die laut dem Klappentext »die Unmöglichkeit moderner Mobilität« erweisen soll,7 und für das Titelgedicht von Koloß im Nebel von 2012.8 Mit Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond von 2014 hat sich Grünbein dem Thema zudem auch abseits autobiographischer Reiseerfahrungen zugewandt, mittels der lyrischen Ausformulierung von Weltallphantasmen.9 Im eigentlichen und im übertragenen Sinne unterwegs zu sein, zählt somit zu den Leitaspekten von Grünbeins Schreiben – allen gelegentlichen Diffamierungen des Reisens als kultureller Praxis zum Trotz. 2. Grünbein, Japan, und das Haiku In diesem Beitrag soll es um Grünbeins reiselyrische Auseinandersetzung mit Japan gehen, die der Band Lob des Taifuns von 2008 präsentiert.10 Das schmale Buch setzt ein mit dem ersten Aufenthalt des Autors im sogenannten ›Land der aufgehenden Sonne‹ im Jahr 1999 (auf den das eben zitierte Gedicht direkt Bezug nimmt) und dokumentiert zusätzlich drei weitere Reisen Grünbeins nach Japan, die er 2002, 2003 und 2005 unternahm. Zieht man die Gespräche mit dem Publizisten Heinz-Norbert Jocks unter anderem über das Thema Reisen hinzu, die Grünbein 2001 veröffentlichte, zeigt sich

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auf das bloße Hinaus und Fort«, von einem »melodramatische[n] Immerwoandershin«: Durs Grünbein: Texte, Dokumente, Materialien. In: Peter-Huchel-Preis. Ein Jahrbuch. 1995. Hg. von Wolfgang Heidenreich. Baden-Baden 1998, 45. Durs Grünbein: Aroma. Ein römisches Zeichenbuch. Berlin 2010. Durs Grünbein: Strophen für übermorgen. Gedichte. Frankfurt a.M. 2007, o.S. Durs Grünbein: Koloß im Nebel. Gedichte. Frankfurt a.M. 2012, 93–95. Durs Grünbein: Cyrano oder die Rückkehr vom Mond. Berlin 2014. Vgl. dazu auch den Beitrag von Ingo Irsigler in diesem Band. Durs Grünbein: Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus. Frankfurt a.M. 2008. Zitate aus diesem Band werden im Folgenden mit der Sigle ›LdT‹ und der entsprechenden Seitenzahl nachgewiesen. Vgl. zur »Sonderstellung« des Bands in Grünbeins Werk Iris Hermann: Neuronotizen und Wortmoleküle. Durs Grünbeins japanische Reisetagebücher Lob des Taifuns [https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12796; letzter Zugriff: 23.11.2019]. Für einen Hinweis auf die verschiedenen Ausgaben des Bands »als kalligraphisch geschmücktes Leporello der Buchkünstlerin Veronika Schäpers« (bereits 2004 erschienen), »als ledergebundene Prachtausgabe bei Suhrkamp und gleichzeitig als Bändchen der Insel-Bücherei [die Textgrundlage für den vorliegenden Beitrag]« siehe Frank Milautzcki: Aus der wirklichen Welt gezoomt. Haikus von Durs Grünbein [https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritiken/durs-gruenbein/lob-des-taifuns; letzter Zugriff: 23.11.2019]. Gemeinsam mit Uli Becker, Makoto Ooka, Junko Takahashi, Shuntaro Tanikawa und Taeko Matsushita hatte Grünbein bereits zuvor eine aus Japan stammende Kettengedichtform praktiziert vgl. den Band Licht verborgen im Dunkel. Ein Renshi-Kettengedicht. Hannover 2000.

Zu Durs Grünbeins Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus

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ein ambivalentes Verhältnis des Lyrikers zu Reisezielen einer solchen Art. Grünbein offenbart sich Jocks gegenüber als Reiseautor mit einem besonderen Faible für Europa, Amerika und Australien. In Afrika und Asien hingegen fühle sich der Dichter »sowohl terrestrisch als auch zivilisatorisch derart fremd, daß [er sich] zu Hause nur schwer mit dem Erlebten abfinden kann.«11 Seine »Angst« richte sich an solchen Reisezielen auf einen »völligen Abbruch des inneren Monologs«, an »Orte[n], wo das Andere so übermächtig wird, daß ein Brückenschlag unmöglich ist. Das ist mir mehr als einmal passiert, und ich konnte dann immer nur fliehen.«12 Was Grünbein sich stattdessen vom Reisen erhofft, ist, »in Weltgegenden aufzubrechen«, die zu seinen »[persönlichen] inneren Landschaftsformationen passen.«13 »[Man will] erfahren«, führt er weiter aus, »was an diesen […] Kulturen zu einem selbst gehört, worin man sich wiedererkennen kann.«14 Als Kontrastbeispiel zu einem solchen Wiedererkennen des Eigenen im Fremden nennt Grünbein wiederholt die ostasiatische Kultur Chinas. »Was also soll ich in Hongkong?«,15 fragt er an einer Stelle, oder an einer anderen expressis verbis: »Was soll ich […] in China? Mich dort verlieren? Aber wozu? […] Ich verspüre einfach kein Bedürfnis mehr nach einem Jenseits des Verstehens.«16 Warum also dann Japan, möchte man bei Grünbein nachhaken: Warum ein Land, dessen Kultur aus Sicht der westlichen Fremdheitsforschung als eine der rätselhaftesten überhaupt gilt, ja das in Debatten über das eigene Nationalverständnis oft stolz darauf ist, angeblich von rein gar niemandem außerhalb der eigenen Staatsgrenzen verstanden werden zu können?17 Eine wesentliche Antwort darauf liegt sicherlich in Grünbeins langjähriger Faszination für die lyrische Gattung des Haiku, in dessen Form er seine Reisetagebücher präsentiert.18 Mit einer solchen Ausrichtung seines Lyrikbands entscheidet sich Grünbein dafür, sich seinem Reiseziel mithilfe einer Gedichtform anzunähern, die in Japan selbst geprägt wurde

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Grünbein/Jocks: Gespräch (Anm. 5), 73. Ebd., 73 und 71. Ebd., 71. Ebd. Ebd. 73. Ebd. 71. Vgl. zum »Topos von der Unverstehbarkeit Japans« exemplarisch Uta Schaffers: Fremde – Literatur – Verstehen? Fragestellungen einer Interkulturellen Hermeneutik. In: Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hg. von Fotis Jannidis u.a. Berlin 2003, 349–375, hier 349. Vgl. einführend die Anthologie Haiku. Japanische Gedichte. Ausgewählt, übersetzt und mit einem Essay hg. von Dietrich Krusche. München 162017. Vgl. außerdem das Kapitel »Das japanische Haiku in Deutschland« in Ders.: Literatur und Fremde. Zur Hermeneutik kulturräumlicher Distanz. München 1985, 104–117.

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und die nicht wenigen als ein Inbegriff japanischer Kultur schlechthin gilt.19 Zugleich greift er mit dem Haiku auf eine Gattung zurück, die besonders in den letzten rund 150 Jahren weit über Japan hinaus ausstrahlte und die sich seitdem als »kleinste Gedichtform der Weltliteratur« etablieren konnte.20 Unterschiede im Sprachensystem bedingen hierbei, dass das für das Haiku konstitutive Moren- bzw. Silben-Schema 5-7-5 im Japanischen und im Deutschen ganz unterschiedliche literarische Spielräume mit sich bringt. Wie Haiku-Forscher nicht müde werden zu betonen, lässt sich in 17 japanischen Moren gängigerweise weitaus weniger ›Inhalt‹ transportieren als in 17 deutschen Silben, was Auffüllungen bzw. Aussparungen in den jeweiligen Übersetzungen nach sich zieht.21 Um eine ähnliche Kompaktheit wie in der japanischen Originalgattung zu erreichen, haben Haikulogen für ein 3–5–3 oder gar ein 3–4–3–Schema plädiert: eine Reduktion, die sich aber in der weltliterarischen Adaption, so auch bei Grünbein, nicht durchgesetzt hat.22 Analog dazu folgen Grünbeins Texte in Lob des Taifuns einer Typographie, die ein Haiku auf drei Verse verteilt – ebenfalls im Bruch mit der Konvention im Ursprungsland, die nur eine einzige Zeile vorsieht. Somit verraten die Haikus in Lob des Taifuns, bei all ihrer Offenheit für eine ostasiatische Gedichtform, zugleich ihre spezifisch ›westliche‹ und ›deutsche‹ Provenienz. Auch mit weiteren Regeln der Gattung, auf deren Einhaltung Haiku-Puristen insistieren würden, erlaubt sich Grünbein einen freizügigeren Umgang. Hier und dort streut er in Lob des Taifuns etwa Binnen- und Endreime ein, in einer eigentlich per se reimlosen Gedichtform: Bemerkenswerterweise häufig dort, wo Rückreisen nach Europa geschildert oder Kontraste zwischen Herkunfts- und Reisezielkultur thematisiert werden.23 Zudem verzichtet Grünbein in aller Regel sowohl auf das kireiji, das ›Schneidewort‹, das eine Zäsur im Versablauf markiert, als auch auf das kigo, welches das Haiku in einer bestimmten Jahreszeit situiert. Weiterhin erlaubt er sich Abweichungen und Erweiterungen im Silbenschema, wodurch einige seiner Gedichte nicht mehr dem Haiku, sondern dem ihm historisch vorgängigen Waka entsprechen. Im Ergebnis steht eine reiselyrische Praxis, die mit Andreas Wittbrodt 19 20 21 22 23

Vgl. Irmela Hijiya-Kirschnereit: Warum Haiku? Zum unterschiedlichen Verständnis der HaikuDichtung in Japan und im Westen. In: Dies.: Was vom Japaner übrig blieb. München 2013, 29– 48, hier 30. Arata Takeda: Überschwang durch Überschuss. Probleme beim Übersetzen einer Form – am Beispiel des Haiku. Eine theoretische Überlegung und ein praktischer Vorschlag. In: Arcadia 42 (2007), 20–44, hier 23. Vgl. exemplarisch Hijiya-Kirschnereit: Warum Haiku? (Anm. 19), besonders 45–46; Takeda: Überschwang durch Überschuss (Anm. 20), besonders 30–32. Vgl. literatur- und gattungsgeschichtlich übergreifend (aber zeitlich vor Grünbeins Haiku-Band endend) die Studie von Andreas Wittbrodt: Hototogisu ist keine Nachtigall. Traditionelle japanische Gedichtformen in der deutschsprachigen Lyrik (1849–1999). Göttingen 2005. Vgl. dazu genauer die Ausführungen unten in den Abschnitten V. und X.

Zu Durs Grünbeins Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus

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als »Freestyle-Haiku« bezeichnet werden kann: als ein formbewusster, jedoch aufgelockerter Umgang mit Konventionen der Gedichtform.24 Flankiert werden diese lyrischen Miniaturen, wie es auch in Japan selbst üblich ist, von einer ganzen Reihe von Paratexten: von kurzen Prosakommentaren zu den Gedichten, von den Übersetzungen der Haikus und der Kommentare ins Japanische sowie von zwei essayistischen Nachworten, die von Grünbein selbst und von dem japanischen Germanisten und Übersetzer Yûji Nawata stammen.25 3. Glimpses and Glances Grünbeins Interesse an lyrischen Kurz- und Kürzestformen lässt sich in seiner Werkgenese, wie Benjamin Specht gezeigt hat, bis zu seinem Debütband Grauzone morgens zurückverfolgen.26 Hier schon besteht ein Teilabschnitt zwar nicht aus Haikus, aber doch aus ähnlich knappen Gedichten, die Grünbein unter der Überschrift »Glimpses and Glances« subsumiert; und hier schon strebt der seinerzeitige Dichter der DDR-Agonie einen weltliterarischen Dialog mit »Meister Basho« an, dem klassischen japanischen Haiku-Autor überhaupt.27 Was Grünbein bereits ab seinem ersten Gedichtband an derartigen poetischen Glimpses and Glances interessiert, sind, so ein nachträglicher Selbstkommentar, »Momente, in denen das Reale emblematisch erstarrt.«28 Um solche Wirklichkeitseffekte schriftstellerisch festhalten zu können, erscheint das Haiku geradezu prädestiniert. Durch seine »Ökonomie des Ausdrucks«, so Grünbein, erzwingt die japanische Gedichtform »so etwas wie eine mentale Sofortreaktion« (LdT 108), welche die Distanz zwischen dem Reiseerlebnis und dessen Verschriftlichung möglichst gering halten soll. »Das allerdings«, so Grünbein, »war die stillschweigende Abmachung: alles mußte sogleich notiert 24 25

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Andreas Wittbrodt: Haiku. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. von Dieter Lamping. Stuttgart 2009, 355–359. Vgl. ähnlich auch Nao Witting: Haiku. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2: H–O. Hg. von Harald Fricke. Berlin 2000, 3–6. Ruth J. Owen bezeichnet Grünbeins Haiku-Band entsprechend als »collaborative« bzw. als eine »synthesis of two languages in one text« (Ruth J. Owen: A Poetics of Presence. Travel Cycles in Aroma and Lob des Taifuns. In: Durs Grünbein. A Companion. Hg. von Michael Eskin, Karen Leeder und Christopher Young. Berlin 2013, 182–203, hier 200). Vgl. zu den Übersetzungen, Kommentaren, Erläuterungen und Nachworten in Grünbeins Band auch Bernard Dieterle: Lyrik und Interkulturalität. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hg. von Dieter Lamping. Stuttgart 2011, 227–235, hier 234. Vgl. Benjamin Specht: »(Es gibt / keine Leere)«. Ostasiatische Philosophie und Dichtung in Durs Grünbeins Lyrikband Grauzone morgens (1988). In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 58 (2014), 386–412. Vgl. Durs Grünbein: Grauzone morgens. Gedichte. Frankfurt a.M. 1988, besonders 51–57 und 39. Thomas Naumann: Durs Grünbein. ›Poetry from the bad side‹. Gespräch. In: Sprache im technischen Zeitalter 124 (1992), 442–449, hier 446.

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werden. Kein Zögern, kein langes Umkreisen des Motivs, das Inbild sollte im nächsten Augenblick Schrift werden.« (LdT 107) Nicht ohne Grund rückt Grünbein sein lyrisches Vorgehen für seine japanischen Reisetagebücher in die Nähe der Photographie. Er, der angeblich auf Reisen nie mit Kamera unterwegs ist, bezeichnet das Haiku als »die günstigste Alternative zum Polaroid« (LdT 107) – einem Trägermedium, das es auf seine Weise erlaubt, Erfahrungen auf Reisen umgehend zu dokumentieren. »[Alles ist] sofort gegeben« bzw. »Es ist so gewesen«: Mit Formeln wie diesen bringt Roland Barthes in Die Vorbereitung des Romans jene ›Wirklichkeitseffekte‹ in ähnlicher Weise auf den Punkt, die Haikus und Photos analog für sich reklamieren – allen medialen Unterschieden zwischen der bildlichen Detailfülle des Schnappschusses und der textuellen Lakonie des Kurzgedichts zum Trotz.29 4. Im »Reich der Sinne« Ein Alleinstellungsmerkmal, das Reiseerinnerungen auf Papier von denen auf dem Photo unterscheidet, besteht laut Grünbein außerdem im »Zusammenspiel aller Sinne«, die für die »Rekonstruktion des Erlebten« im individuellen wie im kollektiven Gedächtnis unabdingbar ist.30 »Wie wir heute wissen, funktioniert das Gedächtnis ja synästhetisch«: So verdeutlicht er die lyrische Notwendigkeit, an mehr als nur ein menschliches Sinnesvermögen zu appellieren.31 Gerade Japan mit seiner »ausgeprägten sensualistischen Kultur« erhebt Grünbein hierbei zum prototypischen Testfall einer solchen Art der Annäherung, als »das Reich der Sinne«.32 Dementsprechend baut Grünbein in seine Reisetagebücher eine ganze Reihe von Haikus ein, die auf Synästhesien, also eben auf die »Gesamtempfindung« (Barthes) von mehreren Wahrnehmungsbereichen setzen.33 »Schwierig, sehr schwierig / Ist so ein Spatzenleben / Auf den geschwätzigen Straßen« (LdT 11): So verkoppelt gleich das allererste Haiku des Bandes akustische und optische Reize miteinander. »Den Füßen schmeichelt / Der Blindenpfad durch die Stadt, / Auch wenn man ihn sieht« (LdT 16): Hier sind es wenige Seiten später der Tastsinn und das Sehen bzw. Nicht-Sehen-Können, die kombiniert werden. Diese Reihe ließe sich lang fortführen. Selbst einem auf den ersten Blick trivial-derben Haiku wie »Manchmal zufrieden. / Ein Furz gegen die Brandung, / So ist er, der 29

30 31 32 33

Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978–1979 und 1979–1980. Hg. von Éric Marty. Frankfurt a.M. 2008, 131 und 132 [beide Zitate im Original kursiv]. Vgl. zum Haiku auch die Kapitel »Der Einbruch des Sinns«, »Vorfälle« und »Solches« in: Ders.: Das Reich der Zeichen. Frankfurt a.M. 1981, 94–115. Grünbein/Jocks: Gespräch (Anm. 5), 70. Ebd. Ebd. Barthes: Vorbereitung des Romans (Anm. 29), 112.

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Mensch« (LdT 29), lässt sich zugutehalten, das hier optische, akustische und olfaktorische Sinneseindrücke gleichzeitig angesprochen sind. »Frischer Knoblauchduft / Zieht durch den Bambusgarten / der Koi schnappt nach Luft« (LdT 62), in diesem unscheinbaren Text ist es – abgesehen vom Tastsinn – sogar das gesamte sensuelle Spektrum, das Grünbein auf engstem Raum abdeckt. Es reicht vom Anblick des Bambusgartens, dem Geräusch des Karpfens, dem Geruch der Gewürzpflanze bis hin zum sicherlich bereits angeregten Geschmackssinn, der das sprichwörtliche ›Wasser im Mund‹ angesichts der bevorstehenden Fischmahlzeit zusammenlaufen lässt. 5. Anti-Exotismus Mit seinen japanischen Tagebucheinträgen in Haikus geht es Grünbein jedoch nicht allein um eine technische und synästhetische, sondern auch um eine bestimmte interkulturelle Dimension. Seine Position lautet, dass der Gattung des Haiku das Potenzial innewohnt, Erfahrungen kultureller Alterität, zumindest für die Dauer des repräsentierten poetisch-prägnanten Moments, restlos auflösen zu können. »Über alle Sprachbarrieren und jeden Exotismus gab es etwas, das uns gemeinsam war« (LdT 106), so lautet sein Lektürefazit zum Hauptwerk eines weiteren Haiku-Klassikers aus Japan, zu Die letzten Tage meines Vaters von Issa. »Wie fortgeblasen war auf einmal der Unterschied zwischen ihrer und unserer Wahrnehmung. In der Konzentration auf den intensiv erlebten Augenblick schmolz alle Fremdheit dahin. Man war einander doch im Grunde verwandt […]. Bestätigt fand ich, was mir seit langem das Entscheidende ist bei jeder Lektüre: Wir Planetarier sind ein Gehirn.« (LdT 106) Grünbein geht es mit seiner Poetik des Haikus somit dezidiert um eine möglichst allgemein-menschliche, anti-exotistische Perspektive auf Japan. Er verfolgt mit seinem Haiku-Tagebuch eine Stoßrichtung, die Fremdheitsirritationen zwar nicht verleugnet, aber doch als weitaus weniger maßgeblich einschätzt als anthropologische Konstanten wie Vergänglichkeit, Hinfälligkeit und Wandel. »Traurig der Anblick / So vieler blutjunger Menschen. / Der Grauwolf bist du« (LdT 82), so lautet nur ein Haiku, in dem Grünbein, neben einer gewissen autorfaktualen Midlife-Crisis, zum Beispiel der universalmenschlichen Erfahrung des Älterwerdens Ausdruck verleiht. Ein wesentliches Element dieser anti-exotistischen Herangehensweise besteht darin, dass sich Grünbein in Lob des Taifuns vor allem auf Großstädte wie Tokyo, Kyoto und Hiroshima konzentriert.34 Damit fokussiert er seine Reisege-

34

Vgl. zu Grünbeins »Übertragung des lyrischen Settings in den urbanen Kontext der Metropole« auch Linda Simonis: Kosmophanie und ›modes d’existence‹. Transformationen des Haiku bei

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dichte auf Räume, anhand derer sich japanische Brückenschläge zwischen ›östlicher‹ Tradition und ›westlicher‹ Moderne besonders markant aufzeigen lassen. Dass sich Grünbein in »Metropolen mit ihrer heroischen Urbanität« ganz grundsätzlich eher zuhause fühlt als »in unbesiedelten Landschaften«, verdeutlicht er ebenfalls im erwähnten Interview mit Jocks.35 Obwohl ihn »große Menschenmengen und das dichte Gewühl in den engen Großstadtstraßen [zuweilen] in Panik« versetzten, so Grünbein, schätzt er es dennoch enorm, »im Stadtraum […] die Deutungshoheit [zu behalten] über das, was einem begegnet. […] Im Grunde ist jede Stadt nur die Erweiterung des eigenen Zimmers, man ist niemals ganz obdachlos […] man erkennt sich im […] Brei der Geschäfte und Leidenschaften wieder und bleibt Herr über die eigene Zeit.«36 In diesem Sinne präsentiert Grünbein in Lob des Taifuns gleich eine ganze Reihe von Haikus, die sich sowohl speziell auf den modernen Alltag in der japanischen Hauptstadt als auch, mutatis mutandis, auf vergleichbare Konstellationen in Metropolen in aller Welt hin übertragen lassen. »Tokyo am Morgen – / Nicht die schlafende Schöne, / Godzilla erwacht« (LdT 19) – das ist eine Reverenz sowohl an das prototypische Monster des japanischen Films als auch an den Moloch der biblischen Überlieferung, der die erbarmungslose Macht der Großstadt verkörpert. »Drohend das Brausen / Vorm Hotelfenster draußen – / Kernkraftwerk Tokyo« (LdT 37) – das lässt sich auf das in Japan dauerpräsente (und auch in der Geschichte der Godzilla-Filme immer wieder aufgegriffene) Schreckgespenst des atomaren GAUs beziehen, aber auch auf anderswo lauernde Gefahren der industriellen Energieerzeugung. Oder »Zäh fließt der Verkehr. / Fahrräder schlängeln sich durch. / Zweierlei Menschheit« (LdT 72), das erlaubt Assoziationen zu einer beliebigen Verkehrsszene in Tokyo, aber auch ebenso gut zu so ziemlich jeder Großstadt der Welt. Oder nehmen wir schließlich, um auch hier eine keineswegs vollständige Reihe abzuschließen, das Haiku »Welche Jahreszeit? / Was weiß ich, wo es ringsum / Auf Bildschirmen schneit« (LdT 84). Dass Grünbein dieses Gedicht im »Technikanbeter-[…]-Elektronik-Wunderland« (LdT 84) Akihabara, einem besonders für Elektronik-Geschäfte bekannten Stadtteil von Tokyo, niedergeschrieben hat, leuchtet dem Leser sofort ein; es könnte ihm aber genauso gut im Alexa am Berliner Alexanderplatz eingefallen sein. Trotz dieser Grenzverwischungen zwischen den Kulturen in einer globalisierten Welt tauchen selbstredend ebenfalls zahlreiche genuin japanische Lokalkolorit-Elemente in Grünbeins Haikus auf. Der Blick des reisenden Dichters auf

35 36

Philippe Jaccottet und Durs Grünbein. In: Literatur und Ökologie. Neue literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hg. von Claudia Schmitt und Christiane Sollte-Gresser. Bielefeld 2017, 257–267, hier 263. Grünbein/Jocks (Anm. 5), 73. Ebd., 73 f.

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den Fuji, die Lustschreie der Geisha, das Bad im Onsen, Zen-Tempel und BuddhaStatuen, Pagoden über dem Zederngrün, die Gangster der Yakuza, das Heranpeitschen des (titelgebenden) Taifuns, die Omnipräsenz alltäglicher Höflichkeitsgesten – all das, was den touristischen Blick auf Japan üblicherweise durchzieht, findet sich auch in Grünbeins Reisegedichtband versammelt.37 Und doch gelten bei ihm Phänomene wie diese nicht länger als Exotika, sondern als längst medial vermittelte »Gemeinplätze«, denen gegenüber sich zuallererst die Aufgabe der »Wiedergewinnung des fremden Blicks« stellt.38 Dies scheint vor allem dort zu gelingen, wo sich Grünbein mit Schreib- und Denkpraktiken japanischer Philosophen und Schriftsteller auseinandersetzt. »Nicht Ich denke – hier / Sagt man Mein Kopf hat gedacht. / Mein Blut fließt aus mir. / Nicht Ich blute. Ich sterbe. / Ich, wer ist das? Mein Körper« (LdT 17): Mit diesem Gedicht bezieht sich Grünbein auf den oft behaupteten Gegensatz von ›westlicher‹ Ichzentriertheit auf der einen und ›östlicher‹ Ichvergessenheit auf der anderen Seite. Aber auch hier relativiert Grünbein den angeblichen ontologischen Unterschied zwischen den beiden Welten sofort. »Das japanische Subjekt existiert und ist lebendig und munter«, heißt es im dazugehörigen Kommentar; es existiert im Japanischen angeblich lediglich ein »gewisser Hang zu Passivkonstruktionen.« (LdT 17) Darauf folgt allerdings eine Wendung, die schließlich alles in der Schwebe belässt. Grünbein meint: »Aber auch dieser Eindruck mag täuschen.« (LdT 17) Eine der wenigen unübersehbaren Abgrenzungen zwischen der eigenen und der fremden Ausübung von Autorschaft findet sich dort, wo sich Grünbein mit dem Seppuku, der japanischen Spezialität des rituellen Suizids, auseinandersetzt. »Ich weiß, es war Brauch, / Vorm Tod das Abschiedsgedicht. / Eh er ihn aufschlitzt, den Bauch, / Der Samurai hält Gericht. / Du aber lebst, rauchst« (LdT 70): so lautet ein Waka-Gedicht, mit dem Grünbein auf Diskrepanzen zwischen dem Einst und dem Jetzt, dem plötzlichen Selbstmord samt ein paar letzten Verszeilen in der dritten und dem schleichenden Sterben, befördert durch das Rauchen, in der zweiten Person aufmerksam macht. Unterstützt wird diese Distanzierung durch die Form des Gedichts, die, wie schon angesprochen, bevorzugt in solchen Momenten den für das japanische Original unüblichen Reim einsetzt.

37 38

Vgl. z.B. LdT 12, 21, 44, 51, 71 passim. Grünbein/Jocks: Gespräch (Anm. 5), 72.

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Johannes Görbert 6. Dialog mit Weltliteratur aus ›West‹ und ›Ost‹

Grundsätzlich jedoch fühlt sich Grünbein zu den Größen der japanischen Literatur weitaus stärker hingezogen als abgestoßen – wobei er nebenbei in seinem fingierten Dialog mit Klassikern der außereuropäischen Literatur durchaus die Konkurrenz zu dem kanonischen Autor einer deutschsprachigen Weltliteratur sucht.39 Nicht von ungefähr merkt Grünbein an einer Stelle an, dass ihm der »Kopf schwirrt von Gesprächen«, die sich nicht nur um »Buddha, Humboldt, Japan, Gott und die Welt«, sondern auch, aufschlussreicherweise, um »Goethe« und »Hafis« (LdT 70) drehen und damit über die Dichterkonstellation des West-Östlichen Divans.40 »Ich aber lebe. / Von wegen Stirb und Werde. / Man stirbt nur einmal« (LdT 64), mit diesem Haiku zitiert Grünbein an anderer Stelle ausdrücklich einen der berühmtesten Verse aus Goethes Orient-Band – nur um dessen TranszendenzBotschaft sogleich mit einer Immanenz-Position zu widersprechen. Vermittelnder als der Gegenwartslyriker selbst bewertet Yûji Nawata das Verhältnis zwischen Goethe und Grünbein in seinem Nachwort zu Lob des Taifuns. Nawata meint, dass Grünbein »mit seinen vier Haiku-Zyklen Goethes west-östliche Fackel übernommen« (LdT 126) habe, da der Weimarer anders als der Dresdner Dichter lyrisch zwar bis nach Persien und China, nicht aber bis nach Japan vorgedrungen sei. Abgesehen von dieser angedeuteten Gestik der Anknüpfung und Überbietung des Vorbilds Goethe setzt sich Grünbein in Lob des Taifuns nur recht spärlich mit anderen europäischen und amerikanischen Lyrikern auseinander. In einem Haiku tritt etwa »Mon frère Baudelaire« (LdT 48) als prototypischer Großstadtflaneur, im Nachwort Grünbeins Ezra Pound als »wohl wichtigste[r] Import-Export-Händler für Weltpoesie im Zwanzigsten Jahrhundert« (LdT 102) hervor; insgesamt bleiben die Bezüge auf westliche Traditionen aber relativ übersichtlich.41 39

40

41

Vgl. zum Changieren von Grünbeins Haikus zwischen ›West‹ und ›Ost‹ und zwischen Tradition und Moderne auch Ulrich Johannes Beil: Das ost-westliche Haiku. Anmerkungen zur kürzesten lyrischen Gattung. In: Nanotextualität. Ästhetik und Ethik minimalistischer Formen. Hg. von Franz Fromholzer, Mathias Mayer und Julian Werlitz. Paderborn 2017, 115–129, hier 124–129. Vgl. dazu programmatisch den Band: Von Goethe bis Grünbein. Deutsche Dichter im transkulturellen Dialog. Hg. von Soichiro Itoda, Ralf Schnell und Hi-Young Song. Siegen 2011, in dem sich gleich drei Beiträge mit Lob des Taifuns auseinandersetzen: Anna C. Jansen: Durs Grünbeins Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus in der Tradition der japanischen Dichter Bashô, Buson und Issa (181–197); Nicole Pöppel: Durs Grünbeins Lob des Taifuns – zum »Rätsel Haiku« und (s)einer Poetik (198–220) und Sandra J. Langer: »Der Fahrstuhl spielt Brahms – Das Andere und das Eigene im Anderen in Durs Grünbeins Lob des Taifuns« (221–238). Stefan Matuschek spricht dagegen allgemein von »Intertextualität« als einem »hervorstechende[n] Kennzeichen von Grünbeins Lyrik und schlägt dazu eine dreigliedrige Typologie vor. Vgl. Stefan Matuschek: Assoziativ, konsekutiv, parasitär. Formen und Funktionen der Intertextualität bei Durs Grünbein. In: Authentizität und Polyphone. Beiträge zur deutschen und polnischen Lyrik seit 1945. Hg. von Jan Röhnert u.a. Heidelberg 2008, 237–244.

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Wie die Forschung inzwischen detailliert herausgearbeitet hat, fallen die Reverenzen an den japanischen Haiku-Kanon wesentlich ausführlicher aus.42 Da ist, wie schon erwähnt, Issa, dessen Schilderungen von »Unglück« und »Verwaistsein« (LdT 13) Grünbein speziell während seiner ersten Japan-Reise in den Bann schlagen; da ist Buson, der den poeta doctus aus Deutschland besonders durch die Intellektualität seiner Haikus beeindruckt (vgl. LdT 25); und da ist wiederum der berühmte Bashô, dessen Reisen und Dichten als Einheit zelebrierender Existenz als Haijin, als Wanderdichter, Grünbein unverkennbar nacheifert.43 »Wasser und Wolken / Ziehen wie immer dahin. / Selten noch Dichter« (LdT 26), mit diesem Tagebucheintrag verweist Grünbein in Lob des Taifuns auf das nach wie vor omnipräsente Unterwegs-Sein aller Naturphänomene, denen sich die gegenwärtige Lyrik, anders als die ambulante Poesie vor ihr, nicht intensiv genug annehme.44 Das Haiku erscheint somit nicht nur aufgrund seiner Poetik, sondern auch auf Basis seiner Geschichte, in der die Gedichtform lange bevorzugt auf Reisen praktiziert wurde, als ein probates Mittel, um sich Japan poetisch anzunähern. »Man nehme Bashôs Reisetagebücher als Grundtexte für Grünbeins Reisetagebücher« (LdT 118), empfiehlt auch Nawata im Nachwort, um anschließend die Transformationen zwischen dem 17. Jahrhundert und der Jahrtausendwende prägnant auf den Punkt zu bringen: »Grünbeins Shinkansen ist die Neugeburt von Bashôs Wander-Strohsandalen, seine Hotels sind Reinkarnationen des Graskopfkissens, das Bashô als Metapher des Übernachtens auf Reisen verwandte.« (LdT 118) 7. Poetologie des Haiku Zusätzlich zu diesen technisch und medialen, interkulturellen, literatursoziologischen und literaturgeschichtlichen Gesichtspunkten eröffnen die Gedichte in Lob des Taifuns auch eine poetologische Perspektive auf die Gattung Haiku.45 »Siebzehn Kehlkopfklicks – / Ein Gedicht auf japanisch. / Vorbei, kaum gehört« (LdT 11), mit diesem Tagebucheintrag geht Grünbein sowohl auf die Konzision als auch auf das Basisdemokratische einer schlichten Gedichtform ein, die in diesem Fall, 42 43 44

45

Vgl. exemplarisch den Beitrag von Jansen: Durs Grünbeins Lob des Taifuns (Anm. 40). Vgl. ebd., 182 und 190. Hiroshi Yamamoto: Haiku und Waka als Polaroid. Nachleben der japanischen dichterischen Kurzformen bei Delius, Grünbein und Kling. In: Turns und kein Ende? Aktuelle Tendenzen in Germanistik und Komparatistik. Hg. von Elke Sturm-Trigonakis u.a. Frankfurt a.M. 2017, 301– 314, deutet dieses Haiku von Grünbein ähnlich als »Kritik an der Institutionalisierung der eigentlich nomadenhaften Haiku-Dichtung« (ebd., 307). Vgl. zum »Haiku als Methode« bzw. den »[p]oetologische[n] Überlegungen« in Lob des Taifuns auch Jacqueline Gutjahr: »Die Trance des ersten Augenblicks« – Spielarten des poetischen Wechseltauschs mit Fremde/m am Beispiel von Durs Grünbeins Lob des Taifus. In: Dynamische Gesellschaften – dynamische Kulturen. Sprachliche Verständigung im globalen Zeitalter. Hg. von Ewald Reuter. Tampere 2017, 75–90, hier 84–87.

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wie es im Begleittext heißt, ohne Weiteres von »zwei ältere[n] Damen« (LdT 11) im »Stadtpark« vorgetragen werden kann. »Sie liebten Verse. / Selbst der Kaiser war Dichter, / Und nicht nur im Herbst« (LdT 92), damit beleuchtet Grünbein die andere, aristokratische Seite des Haikus bzw. des Waka, dessen Dichtkunst bis in die höchsten gesellschaftlichen Kreise hinein kultiviert wurde. »Ein Scherz das Ganze! / Selbst wenn er fliegt, der Vers / Er bleibt, was er ist« (LdT 14), mit diesem Kurzgedicht führt Grünbein wiederum den vorherigen egalitären Gedanken weiter und plädiert dafür, es mit der Annahme von Schwere und Tiefe des intellektuellen Gehalts beim Haiku nicht zu übertreiben – bleibt in dieser Gedichtform doch stets auch Platz für Banales und Ungehobeltes. »Wohin willst du denn, Kopf? / He, was treibt ihr da, Füße? / Wir baden, du Arsch« (LdT 20), mit Texten wie diesen führt Grünbein gleich selbst vor, wie sich die japanische Gedichtform im ganz wortwörtlichen Sinne als ›Scherz‹ handhaben lässt. »Das Ich aufgelöst, / Indifferent die Natur / Willkommen, Haiku« (LdT 63), in diesem poetologischen Text geht es wieder vergeistigter zu. Grünbein verweist zu diesem Text auf den »Versuch einer mathematischen Formulierung des HaikuParadoxons« von Takashi Hiraide, der das Haiku als »die Differenz aus einer reellen Zahl a (die für alles Naturhafte steht: Landschaften, Lebewesen, Jahreszeiten, Witterung usw.) und einer nichtreellen Zahl bi (die für den Menschen steht, das flüchtige, unwirkliche Subjekt)« (LdT 63) definiert. »Woher die Klarheit? / Mitten im Versemachen / Durchkreuzt sie das Spiel« (LdT 77), mit diesem poetologischen Haiku schließlich rekurriert Grünbein auf den altjapanischen Ausdruck seiyû für das Dichten, dessen zwei Silben ein Paradox ergeben. Während sei »für klar steht, sauber, rein«, bedeutet yû »soviel wie Spielen«, »Müßigsein« ja gar »in Bordellen [zu] verkehren« (LdT 77). Das Verseschmieden wird hier vorgestellt als ein »elegantes Vergnügen«, wobei »Klarheit« und »Spiel« (LdT 77) beim Dichten als die zwei Seiten ein und derselben Medaille fungieren. 8. Überblendungen von Zeit und Raum Die eher synthetische als analytische, eher zusammenführende als auseinanderdividierende reiselyrische Vorgehensweise Grünbeins offenbart sich außerdem auch an der Art und Weise, mit der er in Lob des Taifuns historische Gegebenheiten behandelt. An dieser Stelle bestätigt sich ein Befund, den Gesa von Essen bereits für den Milleniumswendeband Das erste Jahr von 2001 vorgebracht hat.46 Gemäß ihrer Studie verfolgt Grünbein grundsätzlich eine »Geschichtsauffassung […] in der historische Ereignisse, Erfahrungen und Erinnerungen nicht diachron als in

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Vgl. Durs Grünbein: Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen. Frankfurt a.M. 2001.

Zu Durs Grünbeins Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus

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sich abgeschlossene, weitgehend unverbundene Epochen aufeinander folgen, sondern sich synchron wie Gesteinsschichten übereinander ablagern und in ihren Prägungen immer wieder unversehens zutage treten.«47 Das gilt für Grünbeins Berlin, Dresden und Rom gleichermaßen wie für die Haikus, mit denen er einen kurzen Aufenthalt in Hiroshima porträtiert. Sie präsentieren nicht zuletzt seine Perspektiven auf das japanische Pendant des Kriegs-Infernos von 1945 in seiner Heimatstadt.48 »In Hiroshima / Die schwerste ZenÜbung ist: / Nicht daran denken« (LdT 42), derart führt ein Text das Weiterwirken der Erinnerung in der Gegenwart aus, oder ein anderer das Ineinander von Absenz und Präsenz des vergangenen nuklearen Schreckens: »Die Luft ist rein jetzt. / Dem blanken Himmel sieht man / Die Wolke nicht an.« (LdT 43) Mit einem weiteren Hiroshima-Haiku, mit »Blaue Hortensie, / Auch du, unverwüstliche, / Bist wiedergekehrt« (LdT 42), eröffnet Grünbein abermals einen mehrdeutigen Assoziationsspielraum. Ein ›westlicher‹, deutscher Leser mag hier vielleicht zuerst an Rilkes gleichnamiges Dinggedicht denken, in dem sich bekanntlich das erst scheinbar verblassende, vergängliche Blau der Blume in der letzten Strophe plötzlich »zu verneuen« scheint;49 und einem ›östlichen‹, japanischen Leser, der womöglich viel eher mit der Blumensprache seines Landes, mit dem Hanakotoba vertraut ist, mag zuerst das Attribut ›Stolz‹ in den Sinn kommen, das die »unverwüstliche« respektive »wiedergekehrt[e]« Blume (LdT 42) im einstmals zerstörten, jetzt wieder aufgebauten Hiroshima versinnbildlicht.50 Doch liefert Grünbein auch abseits des Themas der Atombombenabwürfe auf Japan Beispiele einer poetischen Überblendungstechnik von Zeiten und Orten. »Plötzlich die Wehmut – / In der Garküche die Wirtin / Sah aus wie Mutter« (LdT 48), so verknüpft er seine fernöstlichen Reiseeindrücke an einer Stelle gar mit seiner persönlichen Lebensgeschichte. Mit »Der Shôgun-Palast – / Ein Ensemble von Scheunen, / Gesehn von Versailles« (LdT 24), schlägt er außerdem durch das ter-

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Gesa von Essen: »So viele Zeiten zur selben Zeit«. Geschichte und Gedächtnis in Grünbeins Das erste Jahr. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hg. von Kai Bremer, Fabian Lampart und Jörg Wesche. Freiburg i.Br. 2007, 79–102, hier 95. Von einer »Memoria als Konstellation von Gedächtnisorten, an denen Vergangenheit und Gegenwart in Dialog treten und neue Erinnerungsbilder evozieren« spricht auch Oliver Ruf: »Auf gezackten (zackigen) / photographien […] grobkörnige Mnemosyne«: Polaroid-Effekte und Medienreflexionen in der Lyrik der Gegenwart (Durs Grünbein – Thomas Kling). In: Literatur für Leser 4 (2011), 203–218, hier 205. Vgl. zu Grünbeins »distinctive perspective on Hiroshima« mittels der »connection with Dresden« ähnlich Owen: Poetics of Presence (Anm. 25), 192. Rainer Maria Rilke: Blaue Hortensie. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt durch Ernst Zinn. Wiesbaden 1955, 519. Vgl. Hanakotoba – die Blumensprache Japans [https://www.gartenhaus-gmbh.de/magazin/ hanakotoba/; letzter Zugriff: 23.11.2019].

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tium comparationis von zwei zentralen Herrschaftsresidenzen und den dazugehörigen gewaltigen Armeen einen Bogen zu »den Zeugnissen eines ganz anderen Grand Siècle« (LdT 24). Mit Gedichten wie diesen stellt Grünbein lyrische Querverbindungen her, die sich historisch zwar nie ergaben, sich aber nachträglich in seiner ›überlagernden‹ Auffassung von Geschichte knüpfen lassen. 9. Triste Rückkehren Tendenziell ernüchtert fallen Grünbeins Japan-Reisetagebücher in Haikus auffällig häufig immer dann aus, wenn es um die Heimreisen von Japan nach Deutschland über Sibirien geht. »Eis, Eis, nichts als Eis – Unterm Flügel Polarkreis. / Für Stunden kein Trost. / Was im Schulatlas grau war, / Ist zum Grauen geworden« (LdT 32), so lautet eins der tristen Rückfluggedichte von der ersten Reise, das einen ähnlich gereizten Ton anschlägt wie das eingangs zitierte Kosmopolit. »Der Wecker nimmt dir / den falschen Alptraum – im Tausch / Gegen den echten« (LdT 54), so verleiht Grünbein drei Jahre später wiederum der Unlust des Haiku-Dichters über den erneut anstehenden Vielstundenflug über die Kontinente reiselyrischen Nachdruck. »Weißer Spitzensaum / Am Strand von Kamakura. / Das Meer winkt Lebewohl« (LdT 73), so lautet das vergleichsweise versöhnliche Abschiedsgedicht, das ein Jahr später den dritten Tagebuch-Zyklus beschließt. Mit »Streng überm Mundschutz / Funkeln die Brillengläser. / Gleich streicht man dich aus« (LdT 98), thematisiert das letzte Haiku des Bandes jedoch abermals die unvermeidlichen Schattenseiten des Unterwegs-Seins, hier die der Passkontrolle am Flughafen Narita. »Reisen ist ein Vorgeschmack auf die Hölle«,51 genau dieser Vers drängt sich als Quintessenz wiederum auf, sobald es um solche Zumutungen des modernen Reisens geht. 10. Haiku global Und doch liefern Grünbeins Reisetagebücher in Haikus in Lob des Taifuns mannigfache Belege dafür, dass sich eine ambulante Poesie, das Reisen und das Dichten darüber, auf vielfache Weise für Autor und Leser lohnt: als Alternative zur Reisephotographie, als Ausgangspunkt für das Wiedererkennen des Eigenen und des Fremden in einer fernen Kultur, als Wetteifern und Anknüpfen mit Klassikern der Weltliteratur, als poetologische Auseinandersetzung mit der eigenen Praxis des Dichtens, als Ansatzpunkt für das Zusammendenken unterschiedlichster und doch sich dichterisch überlagernder Epochen und Orte, als eine sowohl basisde51

Durs Grünbein: Die Bars von Atlantis. Frankfurt a.M. 2009, 7 (oben das Eingangszitat dieses Beitrags).

Zu Durs Grünbeins Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus

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mokratisch als auch aristokratisch, derb wie kultiviert handhabbare Art des Dichtens, sowie als Dokumentation einer japanischen Reiseerfahrung ›mit allen Sinnen‹. Insgesamt legt Grünbein mit seinen gut 130 Gedichten eine Sammlung vor, die, wie es Irmela Hijiya-Kirschnereit ausgedrückt hat, »an einer globalen Poetik des Haiku feil[t]«, auf Basis einer weltliterarischen Gedichtform, die sich längst weit über ihr Ursprungsland in sämtliche Himmelsrichtungen ausgebreitet hat.52 ›Es verbindet uns mehr als uns trennt‹ – das scheint eine der leitenden Maximen von Grünbeins Reiselyrik zu sein, die selbst ein in so vielerlei Hinsicht fernes Land wie Japan plötzlich recht nah wirken lässt.53 Als poetische Grundlage hierfür dient ihm das »Existogramm«54 des Haiku, das, so eine Figur im Roman Point Omega des amerikanischen Autors Don DeLillo, schließlich, »nichts [bedeutet] als das, was es ist. […] Das menschliche Bewußtsein, in der Natur verortet […] [ein] Satz Gedanken, geknüpft an flüchtige Dinge. Das ist die Seele des Haikus. Entblöße alles bis zur Offenkundigkeit. Erkenne, was da ist. […] Erkenne, was ist, und sei bereit, es verschwinden zu sehen.«55

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Irmela Hijiva-Kirschnereit: Die Nudel im Rinnstein. Alternative zum Polaroid: Durs Grünbeins Haikus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (12. Februar 2009), 32. Specht: »(Es gibt / keine Leere)« (Anm. 26), 411, kritisiert am Beispiel einer Textpassage in LdT 115, dass sich Grünbein »bei der Auflösung von kultureller Alterität ins Allgemein-Menschliche zuweilen am Rande des Verantwortbaren« bewege. Krusche: Das japanische Haiku in Deutschland (Anm. 18), 114. Don DeLillo: Der Omega-Punkt: Roman. Köln 22010, 30. Im Original: »Haiku means nothing beyond what it is. […] It’s human consciousness located in nature […] a set of ideas linked to transient things. This is the soul of haiku. Bare everything to plain sight. See what’s there. […] See what’s there and then be prepared to watch it disappear.« (Don DeLillo: Point Omega: A Novel. New York 2010, 29).

»Fly me to the Moon« Mond- und Weltraumreisen in Lyrik und lyrics seit 1969 INGO IRSIGLER 1. Einleitung Der Traum, das Weltall, seine fremden Planeten und den Mond zu bereisen, existiert bereits seit der Antike. Literarisch gestaltet wird die Mondreise etwa in Francis Godwins Man in the Moone (1638), Cyrano de Bergeracs Gesellschaftssatire Reise zum Mond (1657), Edgar Allan Poes The Unparalleled Adventure of One Hans Pfaall (1835), Jules Vernes De la terre à la lune (1835) oder H.G. Wells’ First Men in the Moon (1896). Formen und Funktionen literarischer Mondreisen sind vielfältig: Nutzt de Bergerac die lunare Reise zur erkenntnisstiftenden Distanzierung von der Welt, um die Verhältnisse auf der Erde satirisch aufs Korn zu nehmen, so setzt Jules Vernes Narration technische Authentizitätssignale und grenzt sich explizit von früheren »imaginären Mondreisen« ab.1 Seine Fiktion »beruht auf einer eigenartigen Mischung von Bewunderung und Karikatur amerikanischer Technikbegeisterung«,2 insofern rückt hier – und seitdem immer stärker – die Fiktion über die technische Machbarkeit des Mondfluges, über Fortschrittsoptimismus oder Technikgläubigkeit in den Mittelpunkt des literarischen Diskurses. Deckt bereits der Mond als literarisches Motiv historisch gesehen ein äußerst heterogenes Bedeutungsspektrum ab,3 so gilt dies in ähnlicher Weise für die Mondreise. Gemeinsam ist den Weltraum- oder Mondreisenarrationen ihre Zeichenhaftigkeit, die in Bart Howards Schlager In Other Words buchstäblich besungen wird: »Fly me to the moon / Let me play among the stars / Let me see what spring is like / On Jupiter and Mars / In other words, hold my hand / In other words, baby, kiss me.«4 Der Song beschreibt ein sich küssendes Liebespaar, das Mondmotiv ruft also die klassische Bedeutung auf, die in Liebeslyrik häufig anzutreffen ist. Der Flug zum Mond bezeichnet metaphorisch die überbordenden romantischen Gefühle, die sich mit irdischen Kategorien nicht hinreichend beschreiben lassen. 1 2 3 4

Roland Innerhofer: Deutsche Science Fiction 1870–1914: Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung. Wien 1996, 235. Ebd. Vgl. Christian Sinn: Art. ›Mond‹. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart/Weimar 2008, 232–233. Vgl. auch Joachim Kalka: Der Mond. Berlin 2016. Berühmt wurde der Song durch die Version Frank Sinatras (1964); sie wurde den Astronauten im Rahmen der Mondlandung per Funk übermittelt und war dadurch weltweit zu hören.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5_17

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Literarische Weltraum- und Mondreisen sind also Träger übertragener Bedeutungen. Seit Neil Armstrong am 21. Juli 1969 die Mondlandefähre Eagle 30 verlassen und unter globaler medialer Beobachtung als erster Mensch den Fuß auf den Mond setzte, stellen sich dichterische Mondreisen zudem immer auch ins Verhältnis zur medialen Realität des historischen Ereignisses. Antizipiert die Literatur vor der Mondlandung die »techn[ischen] Innovationen vor ihrer fakt[ischen] Realisierung«,5 so ›konkurrieren‹ sie danach mit den omnipräsenten Bildern des zur Wirklichkeit gewordenen Traumes.6 Die lyrischen Mondreisen, die ich im Folgenden analysieren möchte, sind allesamt im Umfeld der Mondlandung oder danach verfasst worden. Sie referieren also (beinahe zwangsläufig) auf das (mediale) Ereignis der Mondlandung. Vor diesem Hintergrund geht es mir insbesondere um die poetischen Aneignungsprozesse des historischen Ereignisses, das von Millionen von Menschen live im Fernsehen beobachtet wurde. Da es in der Lyrik nach 1969 überhaupt nur vereinzelt Thematisierungen der Mondreise gibt, lässt sich keine kohärente motivische Entwicklung beschreiben. Gleichwohl lassen sich drei Aneignungsformen unterscheiden, die im Folgenden hinsichtlich ihrer Funktionen näher untersucht werden sollen: Erstens die individuelle Aneignung in Pop-Lyrics; vor allem in der Popmusik wird die Mond- und Weltraumreise zur Chiffre für subjektive Entgrenzungsphantasien, die derjenigen Bedeutung entgegenstehen, die dem historischen Kollektivereignis grundsätzlich zugeschrieben wurde. Zweitens die Übersetzung medialer Berichterstattung über die Mondreise ins Poetische, wie sie die dokumentarischen sonette (1969) von Gerhard Rühm illustrieren. Drittens der kulturhistorische Zusammenschluss von fiktionalen und realen Mondreisen. Anhand von Durs Grünbeins Lyrikband Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond (2014) wird schließlich gezeigt, wie das Bildereignis mit zeitlichem Abstand in die Tradition literarischer Mondreisen eingespeist wird.

5 6

Sinn: Mond (Anm. 3), 233. Die Mondlandung war das bis zu diesem Zeitpunkt größte mediale Massenphänomen, das es den Menschen weltweit ermöglichte, »an der Erfüllung des Traumes zu partizipieren.« (Daniel Grinsted: Die Reise zum Mond. Zur Faszinationsgeschichte eines medienkulturellen Phänomens zwischen Realität und Fiktion. Berlin 2009, 19).

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2. Aneignung im Zeichen der Popkultur: Major Tom, Ziggy Stardust und Rocket Man Im Herbst 1982 wurde Peter Schillings Song Major Tom (Völlig losgelöst) veröffentlicht, der sich über Wochen auf Platz 1 der deutschen Charts hielt und heute als Klassiker der sogenannten Neuen Deutschen Welle gilt.7 Der Popsong thematisiert die Weltraumreise des titelgebenden Major Tom, der bereits im Jahre 1969 von David Bowie in Space Oddity besungen wurde.8 Bowies Song – neun Tage vor der Mondlandung erschienen – bildet ein Gespräch zwischen dem Kontrollzentrum (ground control) und Major Tom ab. Schließlich wird klar, dass der Astronaut nicht mehr auf die Erde zurückkehren kann. Am Ende, nachdem er seiner Frau Liebesgrüße übermitteln lässt (»Tell my wife I love her very much she knows«), treibt er ziellos durchs All: »Here am I floating round my tin can / Far above the Moon / Planet Earth is blue / And there’s nothing I can do.« Die Umstände, weshalb eine Rückkehr zur Erde unmöglich ist, bleiben ungenannt, das relativ entspannte Ende des Liedes lässt vermuten, dass der Astronaut sein Schicksal annimmt, wahrscheinlich sogar selbstbestimmt die Rückkehr zur Erde verweigert. Ein näherer Blick auf die Sprechsituation des Textes lässt jedenfalls zwei unterschiedliche Bewegungsrichtungen erkennen. Während das Bodenzentrum anfangs als Kontrollinstanz des Astronauten fungiert, entzieht dieser sich durch seine Bewegung im Raum allmählich der Kontrolle, bis die Verbindung schließlich abbricht. »Can you hear me, Major Tom? / Can you hear me, Major Tom? / Can you hear me, Major Tom? / Can you…« Die ground control fungiert aber nicht nur als Kontrollinstanz, sondern steht zudem für eine auf Effektivität (»commencing countdown«), Optimierung (»Take your protein pills«), Leistung (»You’ve really made the grade«) und (medialen) Erfolg (»And the papers want to know whose shirts you wear«) abzielende Lebenshaltung. Der Astronaut – so ließe sich die Bildlichkeit des Textes verstehen – stellt der Effizienz den Zustand des schwerlosen, ineffizienten Dahindriftens entgegen (»And there’s nothing I can do«). Der Song ist auf diese Weise nicht nur als kritischer Kommentar auf den Wettlauf der Supermächte zum Mond zu verstehen, sondern er entwirft darüber hinaus einen subjektiv-eskapistischen Gegenentwurf zu einem ökonomisch geprägten Gesellschaftssystem. Peter Schillings Text nimmt überdeutlich Bezug auf Bowies Klassiker, wobei dem auf Effizienz basierenden System (der Westmächte) der Wunsch des reisenden Subjekts nach Flucht und Entgrenzung noch diametraler entgegengesetzt wird.

7 8

Peter Schilling: ›Major Tom (Völlig losgelöst)‹, Album: Fehler im System, WEA 1993. David Bowie: ›Space Oddity‹, Album: Space Oddity, Philips Records 1969.

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Gründlich durchgecheckt steht sie da und wartet auf den Start – alles klar! Experten streiten sich um ein paar Daten die Crew hat da noch ein paar Fragen doch der Countdown läuft Effektivität bestimmt das Handeln man verlässt sich blind auf den ander’n jeder weiß genau, was von ihm abhängt jeder ist im Stress, doch Major Tom macht einen Scherz dann hebt er ab und Völlig losgelöst von der Erde schwebt das Raumschiff völlig schwerelos Die Erdanziehungskraft ist überwunden alles läuft perfekt, schon seit Stunden wissenschaftliche Experimente doch was nützen die am Ende, denkt sich Major Tom Im Kontrollzentrum, da wird man panisch der Kurs der Kapsel, der stimmt ja gar nicht »Hallo Major Tom, können Sie hören woll’n Sie das Projekt denn so zerstören?« doch er kann nichts hör’n er schwebt weiter […] Die Erde schimmert blau, sein letzter Funk kommt »Grüßt mir meine Frau«, und er verstummt Unten trauern noch die Egoisten Major Tom denkt sich, wenn die wüssten mich führt hier ein Licht durch das All das kennt ihr noch nicht, ich komme bald mir wird kalt.

Unten auf der Erde befinden sich die Experten, deren Handeln durch Daten, Effektivität und Gründlichkeit geprägt ist. Auf die technischen Probleme, die einen Kontrollverlust verursachen, reagieren die »Egoisten« panisch. Major Tom indes »schwebt« über diesen irdischen Problemen; auf den Stress im Kontrollzentrum reagiert er mit einem Scherz, ihn führt ein Licht durchs All, womit der Text einen Gegensatz zwischen dem Streben des Systems nach Kontrolle und dem Wunsch

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des Subjekts nach Transzendenz erzeugt. Der Song beinhaltet eine Wissenschaftsund Fortschrittsskepsis (»wissenschaftliche Experimente / doch was nützen die am Ende, denkt sich Major Tom«); er begreift das irdische Expansionsstreben als Egoismus und setzt dieser Position die schwerelose Existenz außerhalb der Fortschrittsideologie entgegen. Die Thematisierung eines Lebens jenseits der gesellschaftlichen Systemgrenzen prägt die Popmusik seit jeher und verweist selbstreflexiv auf die Position des (Pop-)Künstlers. Raum- und Mondreise-Lyrics wie Bowies Space Oddity oder auch Elton Johns Rocket Man9 lassen sich dabei als eine spezifische Ausprägung verstehen, die den prinzipiellen Wunsch nach einer radikalen Grenzüberschreitung, wie er etwa den Doors-Song Break on Through (to the Other Side) prägt,10 als topografische Überschreitung der irdischen Grenzen inszeniert. Bei Elton John, dessen Lied auf Ray Bradburys Kurzgeschichte The Rocket Man (1951) basiert, thematisiert das lyrische Ich sowohl die Angst (»I miss the earth so much I miss my wife / It’s lonely out in space / On such a timeless flight«) als auch die Verheißung einer subjektiven Transformation ins Zeit- und Raumlose, die mit dem Sternenflug verbunden ist: And I think it’s gonna be a long long time ’Till touch down brings me round again to find I’m not the man they think I am at home Oh no no no I’m a rocket man Rocket man burning out his fuse up here alone

Der Text thematisiert irdische Gesellschaftsmodelle wie Familie oder Arbeit (»It’s just my job five days a week«), die der Rocket Man bei seiner Reise gleichsam zurücklässt bzw. überwinden muss. Die Thematik der Loslösung des Subjekts vom Irdischen korrespondiert mit dem Selbstentwurf des Popkünstlers, was sich bei Elton John in den extravaganten Bühnenkostümen zeigte, die seine Performances der 1970er Jahre geprägt haben. Noch deutlicher ist die gegenkulturelle Selbststilisierung des Künstlers als eines Wesens, das nicht von dieser Welt ist, bei dem schon genannten David Bowie ausgeprägt. Bowie avanciert Anfang der 1970er Jahre zur Kunstfigur Ziggy Stardust. Anders als Elton Johns Rocket Man unternimmt der Pop-Artist Bowie allerdings keine Weltraumreise; vielmehr liegt dem Konzeptalbum The Rise and

9 10

Elton John: ›Rocket Man (I Think It’s Going to Be a Long, Long Time)‹, Album: Honky Château, Uni Records, DJM Records 1972. Vgl. Niels Penke: Durchbruch und Ende. The Doors: The Doors. In: Younger than Yesterday. 1967 als Schaltjahr des Pop. Hg. von Gerhard Kaiser, Christoph Jürgensen und Antonius Weixler. Berlin 2017, 101–117.

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the Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars (1971) eine andere Reiseerzählung zugrunde: Der Pop-Artist inszeniert sich als extraterrestrisches Wesen, das gleichsam auf die Erde fällt. Schon das Cover der LP bildet diese Inszenierung klar ab: Es »präsentiert die unwirtliche urbane Straßenszene als perfekten Landeplatz für jenseitige Heimsuchungen.«11 Entsprechend fremdartig wirkt die glamouröse Kunstfigur Ziggy/Bowie in diesem tristen Großstadtsetting: »Wie ein Eroberer von einem anderen Stern posiert er« auf der Rückseite des Albumcovers »die elektrische Gitarre wie eine Waffe auf der Hüfte abgelegt auf ein hohes Geländer gestützt.«12 Die Lieder der LP gruppieren sich in Fortsetzung der paratextuellen Inszenierung um den doppeldeutigen Begriff des Stars: Starman, Lady Stardust, Star und Ziggy Stardust. Der Bowie-Klassiker Starman – der Titel referiert auf die androgyne Kunstfigur Ziggy Stardust und stellt damit die Verbindung zur Künstler-Persona Bowie her – erzählt aus der Ich-Perspektive, wie ein Jugendlicher eine Musiksendung im Radio hört und dabei eine kosmische Erfahrung macht: »That weren’t no DJ that was hazy cosmic jive.« Der folgende Refrain lenkt den Fokus auf den Urheber dieser Musik: There’s a starman waiting in the sky He’d like to come and meet us But he thinks he’d blow our minds There’s a starman waiting in the sky He’s told us not to blow it Cause he knows it’s all worthwhile He told me: Let the children lose it Let the children use it Let all the children boogie13

Der ›Star‹ würde gerne in direkten Kontakt zu seinem Publikum treten, allerdings, so lassen sich diese Verse verstehen, ist er bzw. seine Kunst so außergewöhnlich, dass er befürchtet, sein Publikum um den Verstand zu bringen. Zur Kontaktherstellung bedarf es eines Mediums oder spezifischen Kanals: »We may pick him up on channel two«, heißt es im Song. Die Verbindung zwischen dem weltlichen und überweltlichen, so ließe sich schlussfolgern, lässt sich nur über das Medium der Musik herstellen.

11 12 13

Frank Kelleter: David Bowie. Stuttgart 2016, 5. Ebd., 6. David Bowie: ›Starman‹, Album: The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars, EMI Records 1972.

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In der Popmusik bilden Weltraumreisen demnach künstlerische Identitätskonstruktionen ab. Darin drückt sich der Wunsch nach einer umfassenden Transformation aus: Der Wunsch nach dem Durchbrechen von (musikalischen oder ideologischen) Grenzen, nach dem Erreichen anderer Bewusstseinsräume. 3. Ästhetische Übersetzung: Die Mondsonette von Gerhard Rühm Im Jahr der Mondlandung verfasst der österreichische Lyriker Gerhard Rühm fünfzehn dokumentarische sonette, die ersten vier Gedichte thematisieren das Ereignis der Mondlandung. Vorlage für die Sonette sind Zeitungsartikel, die Gerhard Rühm wörtlich übernimmt und in die Form des Sonetts überträgt, wobei er – um die traditionelle Gattungsform zu wahren – diverse Anpassungen vornimmt. Worte und Silben werden wiederholt, damit der Zeitungstext ins ›Korsett‹ des klassischen Sonetts eingepasst werden kann: Montag, 21.7.1969 Die ersten menschen sind auf dem mond am sónntag, dém dem zwánzigsténsten júli, neunnéunzehnhúndertnéunundséchzig, úm um éinundzwánzig úhr uhr áchtzehn úm sind sínd die béidendén amérik- júli kaníschen ástronáuten néil neil júli neil ármstrong únd und édwin áldrin úm an bórd bord íhres ráumraumschíffes úm um »ádler« áuf dem mónd gelándet júli. in dér gebórgenhéitheit ihrer lándedekápsel lágen étwa nóch fuenf stúnden vor íhnen bís bis síe als érste lánde bewóhner dés planéten érde stúnden den íhren fúss auf eínen frémden lándede hímmelskóerper sétzen sóllten stúnden.14

Vielfach hat die Forschung Rühms Sonette als Destruktionen der klassischen Gedichtform verstanden; die »überkommene literarische Form« diene Rühm dazu, »sie durch sinnlose Reimtechnik ad absurdum zu führen.«15 Die Form werde »zum 14 15

Gerhard Rühm: dokumentarische sonette (1969). In: Ders.: Gesammelte Gedichte und visuelle Texte. Reinbek 1970, 299. Otto Knörrich: Die deutsche Lyrik seit 1945. Stuttgart 1978, 315.

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Inhalt des Textes und zerstört sich dadurch selbst.«16 Diese rein gattungsformale Betrachtung der Sonette übersieht ihren semantischen Gehalt sowie die konzeptionelle Komponente des Gedichtzyklus insgesamt: Schon der Titel verweist auf das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem (dokumentarischen) Inhalt und der poetischen Form. Explizit sind am Ende der Sonette die Nachrichtenquellen der ursprünglichen Zeitungstexte genannt, wodurch das poetische Verfahren der medialen Übertragung explizit kenntlich gemacht wird. Bezieht sich schon die Zeitungsnachricht auf die Bilder der Mondlandung, so erfolgt über die Ästhetisierung des Berichtes eine weitere Distanzierung. Das Gedicht reflektiert also grundsätzlich die Differenz zwischen dem historischen (Bild-)Ereignis und seinen medialen Reproduktionen. Das Ausstellen dieser Differenz vollzieht sich über die Form: Die ästhetische Bearbeitung der Zeitungsmeldung löst die ursprüngliche Kohärenz des Textes auf, sie erzeugt Brüche, erschwert den Lesefluss und verunklart seinen semantischen Gehalt. Das Sonett zeugt auf diese Weise von den Verfremdungen, die medialen Übertragungen eigen sind. Ganz grundsätzlich verweist das erste Sonett demnach auf die mediale Rezeption der Mondlandung. Die Literarisierung der Zeitungsmeldung schafft eine Distanz zum ursprünglichen Ereignis, was die Wahrnehmung der Mondlandung als ein authentisches Ereignis nahezu unmöglich macht. Aus der Summe der vermeintlich dokumentierenden Gedichte ergibt sich im Folgenden eine ästhetische Konzeption ganz eigener Art, die die Mondlandung in einen narrativen Zusammenhang stellt, der strukturell dem Paradigma von Reisetexten folgt. Die Sonette sind insgesamt als mediale Reise konzipiert, die unterschiedliche Stationen abschreitet. Vom Mond (Sonette 1–4) führt der Weg nach Vietnam (Sonett 5), von dort über Ägypten (Sonett 6: kein ende der kämpfe) der Tschechoslowakei (Sonett 7), dem Kurfürstendamm (Sonett 8), Bayreuth bis zu einem Brotmuseum in der Nähe von Göttingen. Der Weg, auf den die Sonette die Rezipientinnen und Rezipienten mitnehmen, führt also vom Großen ins Kleine, von der Weltbühne in die Provinz. Im Unterschied zur klassischen Reiseliteratur steht dabei allerdings kein reisendes Ich im Zentrum, dem im Sinne einer Bildungsreise eine Identitätsentwicklung zugeschrieben werden könnte. Vielmehr muss der Zusammenhang zwischen den Reiseetappen von den Rezipientinnen und Rezipienten selbst hergestellt werden. Der Mond ist also das erste Etappenziel, wobei die Sonette, die sich mit der Mondlandung beschäftigen, auch in sich wiederum eine Reise abbilden: Beschreibt das erste Sonett die Ankunft der ersten »bewohner des planeten erde« (V. 12)17 auf dem Mond, so geht es im zweiten Sonett das raumschiff auf dem rückflug 16 17

Martin Neubauer: Gattungsgeschichte deutschsprachiger Dichtung in Stichworten: Vom Expressionismus bis in die 90er Jahre. Lyrik des 20. Jahrhunderts. Kiel 1995, 106. Rühm: dokumentarische sonette (Anm. 14), 299.

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zur erde18 um das Unterwegs-Sein. Im dritten Sonett erfolgt ein Perspektivwechsel: Hier wird geschildert, welche Erschütterungen von den Seismographen auf dem Mond registriert werden, nachdem die Astronauten sich auf dem Rückflug zur Erde befinden; das vierte Sonett – heute landet apollo19 – beschreibt, wie sich die Crew auf die Heimkehr vorbereitet. Mit dem fünften Sonett, das mit verluste in vietnam20 betitelt ist, kehren die Leserinnen und Leser dann vollends zur Erde zurück: Sie werden gleichsam vom Raum des Außerterrestrischen zum Heimatplaneten zurückgeführt. Mit dem Raumwechsel geht ein semantischer Bruch einher, der die Beschreibung der Mondfahrt als heroisch-erhabenes Ereignis mit den irdischen Kämpfen kontrastiert. Ist in den ersten vier Mond-Gedichten von »geborgenheit«,21 »mutterschiff«22 und »meer der stille«23 die Rede, so beginnt verluste in vietnam wie folgt: »trotz trótz der rélatíven kámpfesrúhe / in ín vietnám, die séit fuenf wóchen / andáuert sínd die díe verlústlust- wóchen / lustzíffern dér amérikáni-rúhe.«24 Das Gedicht nimmt den Begriff der ›Ruhe‹ auf, leitet den Vers allerdings mit einem »trotz« ein. Die kontemplative Stille im Weltraum verkehrt sich angesichts der Begriffe ›Tote‹, ›Gefallene‹ und ›Verlust‹ ins Gegenteil. Die (medial-ästhetische) Reise der Sonette führt vom Himmel direkt in die Hölle (»lustziffer« – Luzifer), was durch das sechste Sonett kein ende der kämpfe unterstrichen wird: Dort wird vom Angriff israelischer Kampfflugzeuge auf ägyptische Stellungen entlang des Suez-Kanals berichtet, die poetische Übersetzung des Berichts betont durch die Wiederholung der Silben das Moment des Kampfes und des Streits. So ist in Vers 9 von den »streitstreitstreitkräfte[n]« die Rede;25 auffällig ist zudem die beständige Wiederholung des Wortes ›zeuge‹, das sich reflexiv auf die bloß mittelbare Zeugenschaft medialer Berichte beziehen lässt. Der Kontrast, der zwischen den Gedichten über die Mondlandung einerseits und den unmittelbar anschließenden Sonetten über die Kriege in Vietnam und den Kampf um den Suez-Kanal andererseits hergestellt wird, bilden also einen (narrativen) Zusammenhang. Gerade die kontrastierende Montage von Mondlandung und Vietnamkrieg lassen sich als zwei Seiten der westlich-amerikanischen Machtdemonstration verstehen, deren Nukleus der Ende der 1960er Jahre auf einen Höhepunkt der Eskalation zusteuernde Kalte Krieg bildet. Eine ähnliche Fallhöhe er-

18 19 20 21 22 23 24 25

Ebd., 300. Ebd., 302. Ebd., 303. Ebd., 299. Ebd., 300. Ebd., 301. Ebd., 303. Ebd., 304.

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zeugen die Gedichte 1 und 7; werden im Eröffnungssonett die Astronauten Armstrong und Aldrin als »bewohner des planeten erde« bezeichnet,26 so ist in der Zeitungsmeldung vom 27. Juli 1969 von »parasiten« die Rede,27 die in der Tschechoslowakei festgenommen wurden. Dem Bild des heroischen Astronauten, der als erster den Fuß auf den Mond setzte, wird die parasitäre Existenz des Menschen auf der Erde entgegengesetzt. Insgesamt, so lässt sich mit Blick auf Gerhard Rühms dokumentarische sonette bilanzieren, wird die Mondreise des Jahres 1969 in einen ästhetischen Bedeutungszusammenhang gestellt, der die mediale Konstruktion von textuellen Ereignisrepräsentationen offen zur Schau stellt. Auf diese Weise distanzieren sich die Gedichte zum einen von der vermeintlichen Authentizität des (Bild-)Ereignisses. Die Rezeption der Mondlandung wird bei Rühm medial übertragen und mit anderen Geschehnissen in Zusammenhang gebracht. Es ergibt sich dadurch eine – gemessen an der affirmativen Rezeption der Mondlandung – alternative Deutung, die über die kontrastive Bezugnahme auf kriegerische Ereignisse poetisch hergestellt wird. 4. Kulturelle Monderkundung: Durs Grünbeins Lyrikband Cyrano oder die Rückkehr vom Mond (2014) Durs Grünbeins Lyrikband Cyrano entstand ca. ein halbes Jahrhundert, nachdem Armstrong als erster Mensch den Mond betreten hatte. Der Band behandelt allerdings weniger diesen historischen Meilenstein, sondern integriert ihn vielmehr in die lange Tradition literarischer und wissenschaftlicher Mondreisetexte. Bereits der Titel führt die Leserinnen und Leser in die Frühe Neuzeit, wo die phantastischimaginierten Reisen ins All ihren Ausgangspunkt nahmen. Seitdem bilden sie eine Konstante innerhalb der Kulturgeschichte, die mit der Mondlandung am 21. Juli 1969 keineswegs endete: Der Gedichtband selbst dokumentiert die Absicht, lunare Erkundungen im Medium der Poesie fortzuschreiben. Das Schlussgedicht Möbius verdeutlicht, dass trotz aller wissenschaftlicher Erkenntnisse, die (Be-)Deutung des Mondes nach wie vor offen ist: »Was ist der Mond? Der treue Hund der Erde, / Faktotum, Außenspiegel, schwankender Geselle, / In seiner Kahlheit wandelnde Beschwerde. // Ein Gong auch, lautlos, korrodierte Narrenschelle, / Ins All gehängt von dem Maestro allen Schwebens.«28 Das Gedicht listet verschiedene Bedeutungsschichten des Mondes auf und stellt sie gleichberechtigt nebeneinander. Der Mond wird sowohl zum Träger religiöser, poetisch-metaphorischer (»ein

26 27 28

Ebd., 299 Ebd., 305. Durs Grünbein: Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond. Berlin 2014, 111. Vgl. zu Grünbeins Reiselyrik auch den Beitrag von Johannes Görbert in diesem Band.

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grauer Riesenpilz«29) und wissenschaftlicher Bedeutungen (»Er hält die Pole, macht das Meer zur Wasserwaage. / Die Erde wäre unbewohnbar ohne ihn.«30). Möbius bildet auf diese Weise die Summe der vorangegangenen Gedichte,31 die sich insgesamt als kulturelle Bildungsreise durch die Geschichte der Mondreise sowie als Motivgeschichte des Mondes lesen lassen. Der Band liefert gleichsam – dies suggerieren die Gedichttitel, die die Namen der Mondkrater tragen – eine kulturhistorische Kartographie des Mondes. Entgegen der Struktur der traditionellen Bildungsreise im Allgemeinen und der narrativen Prägung von literarischen Mondreisetexten im Besonderen folgen die Gedichte allerdings nur sehr bedingt einer Logik der Linearität. Zwar kommt der Band im achten Kapitel, der letzten Sektion, vermehrt auf das historische Ereignis der Mondlandung zu sprechen, allerdings lassen Anfang und Schluss ein zirkuläres Prinzip erkennen. Der Band bezieht sich im Titel auf Cyrano und endet im letzten Gedicht mit Cyrano:32 »Schreib einen Brief an den Mond. Schreib Cyrano…«.33 Und überdies korrespondiert die in Möbius konstatierte Bedeutungsvielfalt mit den unterschiedlichen Reiseszenarien, die im Eröffnungsgedicht ineinander verwoben sind: Er ist zurückgekehrt. Jemand hat ihn gesehen Hinter den Hangars, wo die Fallschirmseide Im Herbstwind raschelt, ein Ballon sich bauscht. Keine großen Sprünge macht er nun mehr, Spielt nicht den Sturzgeborenen, das Mondkänguruh. Getrocknet sind ihm die Freudentränen. Doch hört man ihn atmen, konzentriert wie nie. Er singt uns die Hymne, sein Wiederkehrlied. Und die Erdenluft sagt ihm: es gibt nur sie.34

29 30 31 32

33 34

Ebd. Ebd. Vgl. Jonas Nesselhauf: »Tot he Moon – and back«? Postmoderne Mondreisen bei Landolfi, Pelewin und Grünbein. In: Literatura i Kultura Popularna 20 (2014), 49–64, hier 59. Dass Cyrano de Bergerac im Band eine exponierte Rolle einnimmt, ergibt sich laut Grünbein aus der spezifisch poetischen Prägung seiner Mondreisenarrationen. »Cyrano war das Phantom der Mondsucht Europas, ein Ausbund an lunatischer Metaphorik.« Für Grünbein steht Cyrano für »jene Loslösung vom bloß Realen, die in die Reiche der Science Fiction führte«. Grünbein: Cyrano (Anm. 28), 126. Ebd., 111. Ebd., 11.

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Der Hinweis auf den Ballon steht in der Tradition der fiktionalen Mondfahrten von Jules Verne oder Edgar Allan Poe. In der zweiten Strophe schlägt der Text die Brücke zu den Medienbildern des Jahres 1969, indem auf Neil Armstrongs legendären Satz »That’s one small step for (a) man; one giant leap for mankind«35 angespielt wird. Schließt sich also der Kreis zwischen dem letzten und dem ersten Gedicht, zwischen frühen und späten, fiktionalen und faktualen Texten aus der Mondreisetradition, so manifestiert sich das Moment des Zyklischen schon im Titel des Lyrikbandes: Er verweist grundsätzlich auf Cyrano de Bergeracs Mondreisenarration, verkehrt allerdings die Richtung der Reisebewegung: Aus der »Reise zum Mond« wird die »Rückkehr vom Mond«. Obgleich dann wiederum für die Leserinnen und Leser eine poetische Reise beginnt, die von der Erde zum Mond führt, stellt das Moment der Rückkehr – wie schon der erste Vers des ersten Gedichtes belegt – das wesentliche Gravitationszentrum der Texte dar. Das dritte Gedicht des Bandes Euclides beginnt ebenfalls mit einer Rückkehr: »Und auch er kam zurückgekrochen.«36 Der Text poetisiert das Schicksal der Raumfähre Challenger, die im Jahre 1986 kurz nach dem Start vor dem medialen Auge der Weltöffentlichkeit explodierte. »Raumfähren barsten in tausende Einzelteile / Vor den Küsten Amerikas, über den Sümpfen, / Und machten im Trümmerregen den Fortschritt wett.«37 Im Folgenden ist ein Zitat aus dem Funkverkehr der Raumfähre einmontiert, bevor der Sprecher des Gedichts das Ereignis einzuordnen versucht: »War der Mensch sein Versagen? Was zählte / Sein Schritt über alle Grenzen hinaus, alle Sinne?«38 Der Text endet wiederum im Bild vom Kreislauf. »Bis Neptun wieder verblaßte im Wassermann / Die Sonne am Tiefpunkt stand ihrer Jahresbahn / Und morgens der astronomische Winter begann.«39 Die Rückkehr wird gleichermaßen in den Naturzyklus integriert, das traumatische Ereignis nicht als kulturgeschichtliche Zäsur begriffen, sondern in die Kontinuität historischer Zirkularität gestellt. Die kulturhistorische Mondkartographie Grünbeins zeichnet demnach keine (chronologische), objektive Entwicklung nach; vielmehr stellt sie im subjektiven Verfahren Mond- und Reisebilder verschiedener Epochen und Kontexte nebenund ineinander, wobei eine tendenziell zirkuläre Grundordnung zu erkennen ist. Es geht nicht um die stringente Genealogie, die objektive Festlegung, sondern um den permanenten Bedeutungswandel, der immer vom Standpunkt des Beobachters abhängt. Auf diesen subjektiven Blick verweist bereits das erste Gedicht: Der Titel Riccioli referiert auf den Priester und Astronomen Giovanni Riccioli, der in 35 36 37 38 39

Grinsted: Reise zum Mond (Anm. 6), 171. Ebd., 13 (V. 1). Ebd. (V. 4–6). Ebd. (V. 14–15). Ebd. (V. 17–19).

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seiner Schrift Almagestum novum astronomiam von 1651 ein geozentrisches Weltbild vertreten hat. Durch diesen Verweis wird der Mondfahrer als Mensch und sein beschreibender Blick ins All in den Mittelpunkt gerückt. Das Gedicht berichtet zwar zunächst nicht von der Heroik des Mondfahrers, sondern von dessen Sturz auf den Boden der irdischen Tatsachen. Der Rückkehrer schleicht hinter den Hangars, er macht nun »keine großen Sprünge« mehr. Das Heroische manifestiert sich dann aber in der poetischen Stilisierung: »Er singt uns die Hymne, sein Wiederkehrlied.« Durch das Personalpronomen wird die Subjektivität dieses Reisegedichts verdeutlicht: Es geht nicht um die objektive Erkundung der fremden MondWelt, sondern um die Subjektivität medial vermittelter Monderkundungen. Diese Subjektivität führt zu jener »Bedeutungspluralität«,40 die sich in Grünbeins Lyrikband in den vielfältigen Referenzen auf literarische Mondfahrten widerspiegelt und der auch die Realisierung des Traumes von der Mondlandung im Jahre 1969 nichts anhaben konnte. Zwar intonieren die Gedichte des letzten Kapitels die technische Eroberung des Mondes als Entmystifizierung. So heißt es im Gedicht Newton: »Und eines Tages war es dann soweit: Sie rückten / Mit einer Sonde ihm zu Leibe. Eine Kamera / Entblößte seine Oberflächen Stück für Stück.«41 Der Mond war nun »nackt […] ein Zeitbild – bloßes Dokument«.42 Im Gedicht Timocharis wird allerdings der wissenschaftlichen Erkundung des Mondes der alte Zauber seiner Erscheinung kontrastiv entgegengestellt. In der ersten Strophe wird gesagt, wie der Mond »von alters her« definiert wird: »Das war der Mond […]: Marias Leib – / In seiner Rundung ein Mysterium.«43 Wird im ersten Vers die Gestalt des Mondes mit der schwangeren Gottesmutter und dem Wunder der unbefleckten Empfängnis in Verbindung gebracht, so akzentuiert die zweite Strophe die Folgenlosigkeit der Mondlandung im Jahre 1969: »Für dies Gestirn war er zu platt, der Menschenfloh. / Raketenschnell war, folgenlos, sein später Sieg: / Eiaculatio praecox. Im Kontrollraum ging, // Im Überschwang, die Einsicht unter: Nichts als Dreck / War da zu finden – Sternenstaub und Asche.«44 Die Eroberung des Mondes – so lassen sich diese Verse verstehen – konnte den Mond nicht entzaubern. Am Ende kehrt das Gedicht dem dokumentierenden Bild gleichsam den Rücken und kehrt zum poetischen Ursprungsbild der Maria (»Doch sie blieb unbefleckt«45) zurück. Die Dokumente der ersten historischen Mondreise erweisen sich in Grünbeins Gedichten nur als kulturelle Zitate unter vielen, die sich der Dichter subjek-

40 41 42 43 44 45

Nesselhauf: To the Moon (Anm. 31), 59. Grünbein: Cyrano (Anm. 28), 96. Ebd. Ebd., 95. Ebd. Ebd.

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tiv aneignen und ins Medium des Poetischen einspeisen kann. Dem Gedicht Wargentin46 ist beispielsweise ein Zitat des Astronauten Edwin Aldrin vom 20. Juli 1969 vorangestellt, ganz offensichtlich stammt es aus dem Funkverkehr mit dem Kontrollzentrum: »Phantastische Einsamkeit«. Im Gedicht selbst stellt der Sprecher zu Beginn die Frage: »Was hast du gesehn / Auf den wenigen Sprüngen – du, suspendiert / Von der Erdenschwere, weißes Känguruh Mensch?« Die Frage wird unter Bezugnahme auf Aldrins Aussage poetisch beantwortet: »Die reine Menschenleere – ein Königreich.« In der letzten Strophe werden dieser phantastischimaginierten poetischen Beschreibung die Dokumente der »Bildbände« entgegengestellt, auf denen der »Traum« zum »Tatort mit Reifenspuren« werde: »Klobig ihr Fußabdruck.« Verweisen die Begriffe ›phantastisch‹, ›Königreich‹, ›Traum‹ auf eine subjektiv-poetische Wahrnehmung, so bilden die »Photographs oft the moon« nur dasjenige ab, was tatsächlich zu sehen ist. Grünbein stellt der Banalität der Bilder die poetische Kraft der Sprache entgegen. In Konkurrenz zum Bildmedium versteht sich das Gedicht bei ihm als subjektive poetische Abbildung, was der Vers »Er singt uns die Hymne, sein Wiederkehrlied« selbstreflexiv zum Ausdruck bringt. Die Analogie zwischen der Figur des heimgekehrten Raumfahrers und dem Dichter-Ich, das im Auftaktgedicht aufscheint, wird im kommentierenden Essay Lyrische Libration wieder aufgegriffen. Der Dichter Grünbein präsentiert uns mit dem Gedichtband gleichsam das poetische »Wiederkehrlied« seiner eigenen virtuellen Mondreise. Der Essay lässt sich als Ergebnis einer Suchbewegung nach dem Wesen der Poesie verstehen, die die lunare Reise Grünbeins zeichenhaft abbildet. Die grundsätzliche Erkenntnis über das Wesen des Poetischen ergibt sich aus dem Wesen lunarer Beobachtungen. Grünbein stellt folgende Analogie zwischen dem Effekt ›lunarer Libration‹ und Dichtung her – »ein Effekt, der nur Langzeitbeobachtern erkennbar« ist: Es war dies ein Taumeln, wie es einen ähnlich auch bei gewissen Worten erfassen konnte – festen, verläßlichen Größen wie Liebe, Einsamkeit oder Nacht. Sie waren stets dieselben, und doch im Sprachgebrauch […] niemals konstant […]. Unter dem Druck des je eigenen Lebensproblems nehmen sie die teils gewünschte, teils auch gefürchtete Bedeutung an. Das trifft auf Gedichte zu, aber auch auf gewisse Stellen in Reiseberichten, wenn uns die Länge der Route in immer neue Erlebniszonen versetzt. […] So gleicht das Gedichtelesen dem Blick aufwärts zum Mond, der den Menschen einschließt in seine Intimität, ihn zurückwirft auf seine Existenz, die insgesamt bodenlos ist.47

46 47

Ebd., 106. Ebd., 118 f.

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Die rezeptive Wahrnehmung von Gedichten ist für Grünbein mit dem Eindruck des Schwankens oder Taumelns vergleichbar, der sich bei der astronomischen Langzeitbeobachtung des Mondes einstellt. Die Langzeitbetrachtung dichterischer Mondthematisierung ist analog dazu Bedeutungsschwankungen unterworfen, die an den subjektiven Status der Rezipientinnen und Rezipienten gekoppelt sind. »Dichtersprache« – so reflektiert Grünbein im Folgenden die produktionsästhetische Dimension dieser Erkenntnis, zeichne sich gerade durch die »flüchtige Teilbarkeit der Worte« aus: Sie gleichen den Atomkernen, die von Bedeutungsteilchen umkreist werden, und nie lassen Ort und Impuls, Ausdrucksposition und Gefühlsanlaß, sich punktgenau und augenblicksdeckungsgleich bestimmen. Dichtersprache ist sich der Relativität der Wortbedeutungen bewußt, das eben macht sie aus. Sie ist, mißtrauisch gegen uralte Ladung der Worte, immerfort in semantischer Schwingung, unterwegs zwischen den zeitgemäßen Bedeutungen, die erst im Abstand sich zeigen.48

Die poetische Mondreise, die Grünbein in seinen Gedichten unternimmt, führt so schließlich zur Erkenntnis, dass ein »Wort wie Mond […] keinen absoluten, endgültigen Sinn (ergibt). Was ein Wort meint […] steuert auf seine stürmischen Möglichkeiten zu, die Fülle seiner Nebenaspekte, die Gefühle, Geschichte und der Vorrat an Gemeinsinn bei seiner Nennung erwecken.«49 Die Erkundungsreise des Mondes, die die Gedichte repräsentieren, wird im Essay an die Exploration der Poesie gekoppelt; das nicht abschließbare Projekt der lunaren Kartographie entspricht der Bedeutungsvielfalt der Lyrik selbst. 5. Fazit Die drei beschriebenen lyrischen Aneignungsformen von Mond- und Weltraumreisen stellen insofern einen Sonderfall innerhalb der Reiselyrik dar, als es in ihnen nicht vorrangig um konkrete Reisebewegungen geht, mittels derer die eigene Identität in Abgrenzung vom oder Aneignung des ›Anderen‹ konstruiert wird; sie bilden vielmehr auf einer überwiegend zeichenhaft-abstrakten Ebene Alteritätserfahrungen ab. Die Weltraum- und Mondreise erzeugt eine Distanzierung, die umfassendere kulturelle Reflexionen ermöglichen soll: die Reflexion über die Grenzen der Kunst bzw. des Künstlers, die Bestimmung des Poetischen oder der medialen Praxis. Die untersuchten Gegenstände weisen dabei insbesondere zwei zentrale Reflexionspotenziale auf. Erstens beinhalten sie allesamt eine kunstreflexive Ebene, die sich auf den Gegenstand der Poesie oder den Künstler bezieht. Die 48 49

Ebd., 136. Ebd., 137.

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(poetische) Mondreise verkörpert entweder den Status des Künstlers als Überschreiter herkömmlicher Grenzen (David Bowie/Ziggy Stardust) oder sie wird zur erkenntnisstiftenden Reise, um das Wesen des Poetischen zu bestimmen und zu beschreiben (Durs Grünbein). Zweitens stehen alle genannten Formen in Spannung zum historischen Ereignis der Mondlandung bzw. seiner zeitgenössischen Rezeption. Diese Spannung wird genutzt, um im Medium der Poesie alternative Deutungen und Bedeutungen zu generieren (Gerhard Rühm, Durs Grünbein), die sich von der Symbolik des Realereignisses distanzieren und dadurch Deutungsspielräume ermöglichen oder alternative Deutungen vornehmen.

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger OLGA BEZANTAKOU, Dr. phil., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der LudwigMaximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Intermedialität; neugriechische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert; europäische literarische Moderne; literarische Kommunikation und kulturelle Mobilität; Memory Studies; Postcolonial Studies. Dissertation: Musikalische Verfahren in der neugriechischen Literatur. Intermedialität vom Symbolismus zum Modernismus (2017). Aktuelle Publikationen: Resonances of Henri Bergson’s ›music‹ in the interwar aesthetic discourse of the journal Makedonikes Imeres: the idea of the ›nouveau romantisme‹. In: Byzantine and Modern Greek Studies 43 (2019), H. 1, 117–124; Die Nervenkunst in der Zeit des fin-de-siècle und die Suche nach einer Therapie: Das Beispiel von Nikos Kazantzakis. In: Literatur und Wahnsinn. Hg. von Helene von Bogen u.a. Berlin 2015, 175–184. EVELYN DUECK, Dr. phil., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem trinationalen Projekt des Schweizerischen Nationalfonds an der Universität Lausanne. Im Zentrum des Projekts stehen die im Schweizer Exil entstandenen Literaturübersetzungen zwischen 1930 und 1950. Forschungsschwerpunkte: literarische Übersetzung, Exilliteratur, europäische Aufklärung, Literatur und Wissen. Dissertation: L’étranger intime. Les traductions françaises de l’œuvre de Paul Celan (1971– 2010) (2014). Habilitationsprojekt: Unschärfen. Visuelle Wahrnehmung in Literatur, Optik und Epistemologie der europäischen Aufklärung. Aktuelle Publikationen: „Da nun die Sinne wahr sind“. Die Verlässlichkeit der sinnlichen Wahrnehmung – von Descartes bis Gottsched. In: Lessing Yearbook XLVI (2019), 11–28; Das Eigene und das Andere. Antoine Bermans Theorie der literarischen Übersetzbarkeit und Paul Celans Gedicht Riesiges. In: Zwischen den Sprachen / Entre les langues. Mehrsprachigkeit, Übersetzung, Öffnung der Sprachen / Plurilinguisme, traduction, ouverture des langues. Hg. von Marco Baschera, Pietro De Marchi, Pietro und Sandro Zanetti. Bielefeld 2019, 161–174. JOHANNES GÖRBERT, Dr. phil., ist seit 2018 als Akademischer Mitarbeiter am Zentrum für internationale Angelegenheiten der Technischen Hochschule Wildau tätig. Zuvor Post-Doc in Bern, Freiburg und Berlin und DAAD-Lektorat in Bangkok. Promotion an der Freien Universität Berlin; Magister Artium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Reiseliteratur, Interkulturelle Literaturwissenschaft, Literatur und Naturwissenschaften, Lyrik, Autobiographie. Dissertation: Die Vertextung der Welt. Forschungsreisen als Literatur bei Georg Forster, Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso (2014). © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5

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Aktuelle Publikationen: Redaktion des Forschungsbands der Ausgabe Alexander von Humboldt. Sämtliche Schriften (2019, hg. von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich); Gefühl und Gedächtnis in der Moderne. Lyrikologische Modellanalyse zu Bertolt Brechts Erinnerung an die Marie A. (1920). In: Recherches Germaniques 14 (2019), 171–188; Pazifikismus. Poetiken des Stillen Ozeans (2017, hg. mit Mario Kumekawa und Thomas Schwarz). JULIA ILGNER ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Mittelalter- und Renaissancerezeption, deutsches Italienbild, Intertextualität und Intermedialität (insbesondere Malerei, Photographie und Film), Rezeptionsästhetik, Gattungs- und Erzähltheorie, Historischer Roman sowie Wiener Moderne. Aktuelle Publikationen: Mediävalismus/Renaissancismus im langen 19. Jahrhundert (in Vorbereitung für 2021, hg. mit Nathanael Busch u.a.); Arthur Schnitzlers Filmarbeiten. Drehbücher, Entwürfe, Skizzen (2015, hg. mit Achim Aurnhammer u.a.); Geschichtstransformationen. Medien, Verfahren und Funktionalisierungen historischer Rezeption (2015, hg. mit Sonja Georgi u.a.). NIKOLAS IMMER, PD Dr. phil., ist Vertretungsprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, Heroismusforschung, Lyriktheorie, Erinnerungs- und Nachriegslyrik. Dissertation: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie (2008). Habilitation: Mnemopoetik. Erinnerung und Gedächtnis in der deutschsprachigen Lyrik des 19. Jahrhunderts (2017). Aktuelle Publikationen: Sängerliebe – Sängerkrieg. Lyrische Narrative im ästhetischen Gedächtnis des Mittelalters und der Neuzeit (2019, hg. mit Cordula Kropik); Medialisierungen der Macht. Filmische Inszenierungen politischer Praxis (2018, hg. mit Irina Gradinari und Johannes Pause). INGO IRSIGLER, Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Geschichts- und Technikreflexionen in Literatur und Film; Literatur und Literaturbetrieb; Autorschaft; Spannungsforschung. Dissertation: Überformte Realität: Konstruktionen von Geschichte und Person im westdeutschen Roman der 1950er Jahre (2009). Aktuelle Publikationen: Deutschsprachige Pop-Literatur von Fichte bis Bessing (2019, hg. mit Ole Petras und Christoph Rauen); Einführung in die Literatur der Wiener Moderne (2015, mit Dominik Orth).

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SONJA KLIMEK, PD Dr., ist Senior Researcher im komparatistischen SNF Synergia Project Handbook of Lyric Theory der Université de Fribourg. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Lyrik, transmediale Erzählforschung, Toleranztheorie, historische Trauerforschung, Phantastik transmedial, Kinder- und Jugendliteratur und -medien. Dissertation: Paradoxes Erzählen. Die Metalepse in der phantastischen Literatur (2010). Habilitation: Zur Theorie autobiographischer Gedichte und zur Geschichte der Klagelyrik im 18. Jahrhundert (2020). Aktuelle Publikationen: Grundfragen der Lyrikologie 1: Lyrisches Ich, Textsubjekt, Sprecher? (2018, hg. mit Claudia Hillebrandt, Ralph Müller und Rüdiger Zymner); Sebastian Castellio (1515–1563). Dissidenz und Toleranz (2018, hg. mit Barbara Mahlmann und Daniela Kohler). STEFANI KUGLER, Dr. phil., ist Akademische Oberrätin im Fachteil Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Repräsentationskritik, interkulturelle Literaturwissenschaft und Gender Studies. Dissertation: Kunst-Zigeuner. Konstruktionen des ›Zigeuners‹ in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (2004). Aktuelle Publikationen: Grundlagen der Neueren deutschen Literaturwissenschaft (2019, mit Ulrich Kittstein und Eva Ritthaler); »Dominus providebit«. Repräsentationen von Familie in Thomas Manns Buddenbrooks. In: Mann_lichkeiten. Kulturelle Repräsentationen und Wissensformen in Texten Thomas Manns. Hg. von Julian Reidy und Ariane Totzke. Würzburg 2019, 79–102; grenzen & gestaltung. Figuren der Unterscheidung und Überschreitung in Literatur und Sprache (2015, hg. mit Nikolas Immer und Nikolaus Ruge). CHRISTOPHER MEID, PD Dr. phil., ist Akademischer Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Politik und Literatur; Reiseliteratur; Antikerezeption. Dissertation: GriechenlandImaginationen. Reiseberichte im 20. Jahrhundert von Gerhart Hauptmann bis Wolfgang Koeppen (2011). Habilitation: Systementwurf und Aufklärungserzählung: Der politische Roman im 18. Jahrhundert (2019). BERNHARD METZ, Dr. phil., ist Co-Leiter eines SNF-Projekts an der Universität Bern: Online-Edition der Rezensionen und Briefe Albrecht von Hallers. Expertise und Kommunikation in der entstehenden Scientific community. Forschungsschwerpunkte: Edition und Literatur; Anmerkungs- und Kommentarpraktiken (in literarischen Texten); Typographie und Satztechnik; Geschichte des Lesens; Bücher in Literatur-, Medien- und Wissensgeschichte. Dissertation: Die Lesbarkeit der Bücher. Typographische Studien zur Literatur (2011). Aktuelle Publikationen: »Ich bin eher blind für Gestaltung« – Zur Bedeutung von Typographie,

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Buchgestaltung und Medienverbünden bei Clemens J. Setz. In: Literatur JETZT. Sechs Perspektiven auf die zeitgenössische österreichische Literatur. Hg. von Anke Bosse und Elmar Lenhart. Klagenfurt 2020; Schrift und Material (mit Thomas Nehrlich). In: Alexander von Humboldt: Sämtliche Schriften. Berner Ausgabe. Bd. X: Durchquerungen. Forschung. Hg. von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich. München 2019, 89–128. RALPH MÜLLER, Dr. phil., ist Professor für germanistische Literaturwissenschaft und ihre Didaktik an der an der zweisprachigen Universität Freiburg (Schweiz). Forschungsschwerpunkte: Gattungstheorie in Lyrik und Erzählen sowie Gegenwartsliteratur mit einem besonderen Schwerpunkt auf Schweizer Literatur. Dissertation: Theorie der Pointe (2003). Habilitation: Die Metapher. Kognition, Korpusstilistik und Kreativität (2012). Aktuelle Publikationen: Grundfragen der Lyrikologie 1. Lyrisches Ich, Textsubjekt, Sprecher? (2019, hg. mit Claudia Hillebrandt, Sonja Klimek und Rüdiger Zymner,); Lyrik und Erkenntnis (2019, hg. mit Friederike Reents). YVONNE NILGES, Dr. phil., ist Akademische Oberrätin a.Z. an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Privatdozentin an der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Neuere deutschsprachige Literatur im internationalen Kontext (17. Jahrhundert bis zur Gegenwart); Literatur und Wissen; Literatur und Medienkultur; Literatur und Raum. Dissertation: Richard Wagners Shakespeare (2007). Habilitation: Schiller und das Recht (2012). In Kürze erscheinende Publikationen: Thomas Mann in München: Religion und Narration. Mit digitalen Textanalysen (2020); Frei-Zeit in der Gegenwartsliteratur: Wissensordnungen im Wandel (2020, hg.). ALEXANDER QUACK, M.Ed., ist Lehrbeauftragter an der Universität Trier sowie Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichtslyrik, Heroismusforschung. Dissertationsprojekt: »Charismatische Helden«. Zur ästhetischen Repräsentation herrschaftlicher Größe in der Lyrik der Antinapoleonischen Kriege (1806–1815). Aktuelle Publikationen: Fouqués Sängerkrieg auf der Wartburg – eine »genialische Composition«? In: Sängerliebe – Sängerkrieg. Lyrische Narrative im ästhetischen Gedächtnis des Mittelalters und der Neuzeit. Hg. von Nikolas Immer und Cordula Kropik. Berlin 2019, 137–152; Phraseme der ›NS-Sprache‹. Eine textlinguistische Untersuchung zur Verwendung von Phrasemen in ausgewählten Reden des NSAgitators Joseph Goebbels. In: Formelhafte Sprache in Text und Diskurs. Hg. von Sören Stumpf und Natalia Filatkina. Berlin/Boston 2018, 255–279.

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SARAH THIERY, M.Ed., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachteil Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Masterarbeit: »Denn eigentlich interessiert mich nur alles Historische«. Historische Peripetien in der frühen Geschichtslyrik Theodor Fontanes (2017). Geplante Publikationen: Art. Kobes und Inflationsnovellen. In: Heinrich Mann-Handbuch. Hg. von Andrea Bartl, Ariane Martin und Paul Whitehead (2021, mit Franziska Schößler); Art. Geld und Ökonomie. In: Heinrich Mann-Handbuch. Hg. von Andrea Bartl, Ariane Martin und Paul Whitehead (2021, mit Franziska Schößler). SIEGFRIED ULBRECHT, Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Slavischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik in Prag. Chefredakteur der Zeitschrift Germanoslavica. Zeitschrift für germano-slawische Studien. Forschungsschwerpunkte: Slawisch-deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen, Zyklisierung in der Literatur, Russische und deutsche Avantgarden, Kulturwissenschaften. Dissertation: Die Dramatik des jungen Vladimir Majakovskij und des jungen Bertolt Brecht. Eine kontrastive Analyse unter besonderer Berücksichtigung des Verfremdungsverfahrens und der Montagetechnik (1996). Aktuelle Publikationen: Literatur und menschliches Wissen. Analysen zu einer grenzüberschreitenden Beziehung (2018, hg. mit Helena Ulbrechtová, Frank Thomas Grub und Edgar Platen); Umsiedlung, Vertreibung, Wiedergewinnung? Postkoloniale Perspektiven auf deutsche, polnische und tschechische Literatur über den erzwungenen Bevölkerungstransfer der Jahre 1944 bis 1950 (2017, hg. mit Dirk Uffelmann). DOMINIK ZINK, Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Literaturwissenschaft, Literatur und Wissen, Literatur um 1800, Literatur um 2000, Frühromantik und Frühidealismus, Interund Transkulturelle Gedächtnistheorien. Dissertation: Interkulturelles Gedächtnis. Ost-westliche Transfers bei Saša Stanišić, Nino Haratischwili, Julya Rabinowich, Richard Wagner, Aglaja Veteranyi und Herta Müller (2017). Aktuelle Publikationen: Eine Sprache aus Fleisch und Brot, um zu erzählen, dass man nicht sprechen kann – Aglaja Veteranyis Warum das Kind in der Polenta kocht. In: Unverfügbares Verinnerlichen. Figuren der Einverleibung zwischen Eucharistie und Anthropophagie. Hg. von Yvonne Al-Taie und Marta Famula (2020); Was hat die Interkulturelle Germanistik der Gedächtnistheorie zu sagen? Über das Konzept eines interkulturellen Gedächtnisses. In: Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne. Hg. von Iulia-Karin Patrut, Wolfgang Johann und Reto Rösler. Bielefeld 2019, 7–30.

Personenregister Adorno, Theodor W. 122 Aichinger, Ilse 122 Alarich I. (König) 57 Aldrin, Edwin 356, 360 Alexander der Große 107 Angelico, Fra 286, 291 Anna Amalia von Sachsen-WeimarEisenach 22 Antiochos IV. Epiphanes 114 Apollinaire, Guillaume 303 Apollodoro, Cleomene di 288 Apulus, Wilhelm 114 Aragon, Louis 303, 310–311 Ariosto, Ludovico 75, 93 Armstrong, Neil 348, 356, 358 Arnim, Achim von 240–241 Atatürk, Mustafa Kemal 39 Auerbach, Ida 262, 269, 291 Ausonius, Decimus Magnus 3 Bachmann, Ingeborg 14, 29, 31, 117–134, 225 Bachmann, Isolde 117, 127 Bachofen, Johann Jacob 209, 216 Bäcker, Heimrad 28 Baedeker, Karl 81, 94, 271, 279, 307 Bahr, Hermann 265 Balthasar, Anna Christina Ehrenfried von 140, 293 Balzac, Honoré de 306 Bartels, Adolf 259 Barthes, Roland 336 Bartolomeo, Fra 291 Bashô, Matsuo 335, 340–341 Bassi, Laura 143 Baudelaire, Charles 28, 303, 340 Becker, Uli 332 Bellini, Giovanni 97 Benjamin, Walter 17, 301–303, 306, 309–312, 318, 323–324, 326 Benn, Gottfried 5, 133

Bergerac, Cyrano de 347, 357–358 Beringer, Joseph August 262, 264 Bienenfeld, David 314, 316 Bienenfeld, Esther 314, 316 Bloch, Ernst 129, 222 Boccaccio, Giovanni 75, 279 Bodmer, Johann Jakob 153 Bojardo, Matteo Maria 75 Borchert, Wolfgang 123 Borromäus, Karl 91–92 Bossong, Nora 34 Botticelli, Sandro 288 Bourdieu, Pierre 124 Bowie, David 17, 349, 351–352, 362 Brand, Maximilian 280 Brecht, Bertolt 201, 224, 228 Breitinger, Johann Jakob 153 Breton, André 303 Brinkmann, Rolf Dieter 6 Brockes, Barthold Hinrich 148 Bruce, Thomas 214 Brun, Friederike 88 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 186 Buñuel, Luis 326 Buson, Yosa 340–341 Byron, George Gordon 279 Campagnolle, Roger de 264 Canaletto (Bernardo Bellotto) 97, 292 Carl August von Sachsen-WeimarEisenach 22, 25 Catull 46 Celan, Paul 29, 31, 123, 223, 227 Cellini, Benvenuto 290 Certeau, Michel de 126 Chamisso, Adelbert von 2, 5, 8, 117, 180, 241 Claudius, Matthias 8–9 Colonna, Giovanni 114 Cooper, James Fenimore 200 Croissant-Rust, Anna 264

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Görbert und N. Immer (Hrsg.), Ambulante Poesie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05116-5

370 Curtius, Ernst 212 Curtius, Ludwig 100 Czernin, Franz Josef 28–31 Czurda, Elfriede 301, 314 Dante Alighieri 75, 279, 287 Däubler, Theodor 5, 217–218 Dauthendey, Max 5 Dehmel, Ida 261, 265, 268, 284, 290 Dehmel, Paula 262–263, 270, 275, 285–290, 293, 296 Dehmel, Richard 16, 259–299 DeLillo, Don 345 Derrida, Jacques 130 Döblin, Alfred 309 Domin, Hilde 16, 221–235 Draesner, Ulrike 34 Droste-Hülshoff, Annette von 83 Ebers, Georg 293 Ebner-Eschenbach, Marie von 273 Eich, Günter 260 Eichendorff, Joseph von 67, 241 Elvan, Berkin 38 Engelke, Gerrit 242 Enzensberger, Hans Magnus 6, 8 Epstein, Hans 306 Ernst, Paul 291 Ernst-August I. von Sachsen-Weimar 151 Eyck, Jan van 36 Falke, Gustav 280 Fargue, Léon-Paul 303 Felsing, Jakob 85 Flaskamp, Christoph 291 Fleming, Paul 3, 8–9 Fontane, Theodor 2, 31, 302 Förster, Ernst 94, 98 Forster, Georg 1–2, 117 Foucault, Michel 14, 118–119, 122, 133 Fournel, Victor 303 Freiligrath, Ferdinand 83 Fried, Erich 223 Friedrich August I. von Polen 151

Personenregister Fritz, Walter Helmut 6, 225 Funke, Johann Michael 139 Gall, Louise von 88 Gautier, Théophile 291 Geibel, Emanuel 89, 212–213 Geiserich (König) 57 Gellert, Christian Fürchtegott 4 Genette, Gérard 51, 132 George, Stefan 82, 259–260, 262, 291–292, 296 Gernhardt, Robert 32–34 Getzler, Pierre 315, 326 Giambologna (Giovanni da Bologna) 290 Giorgione (Giorgio da Castelfranco) 288 Gmelin, Charlotte 183 Godwin, Francis 347 Goethe, August 22 Goethe, Johann Wolfgang 1–2, 4, 12–13, 19, 21–28, 31–32, 34, 40–41, 45–49, 65, 69–70, 81–82, 87, 92–93, 101, 120–125, 132, 158, 161–162, 193–194, 207, 224, 234, 259–260, 263, 276–282, 294, 304, 340 Gottsched, Johann Christoph 140, 153 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 140 Graß, Carl Gotthard 45 Gregorovius, Ferdinand 82 Grimm, Jacob 225 Grimm, Wihelm 225 Grün, Anastasius 241 Grünbein, Durs 12, 17, 20, 35–36, 41, 46, 331–345, 356–362 Grund, Helen 306 Gsell-Fells, Theodor 279 Gueffier, Etienne 76 Guiskard, Robert 57 Günther, Johann Christian 3–4, 154 Gutzkow, Karl 83–84

Personenregister Hahn-Hahn, Ida 88 Halirsch, Ludwig 201, 204 Haller, Albrecht 148, 153 Hart, Heinrich 262 Hart, Julius 262 Hartleben, Otto Erich 287–288 Hauptmann, Gerhart 210, 220, 265 Hebbel, Friedrich 263 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 165 Heine, Heinrich 1–2, 4, 12–13, 15, 31, 63, 81, 90, 93–94, 157–169, 171, 175–178, 234, 239, 260, 267, 277–278, 286 Heinrich IV. (Kaiser) 57 Heinrich XI. Reuß von Plauen 144 Heinse, Wilhelm 285, 288 Hellmert, Wolfgang 251 Henckell, Karl 5 Hensel, Kerstin 8 Herder, Johann Gottfried 26, 47, 50, 55, 87, 199 Hessel, Franz 17, 301–312, 323–329 Hessel, Stéphane 306 Hessel, Ulrich 306 Heym, Stefan (Helmut Flieg) 6 Heyse, Paul 259, 278–279, 288 Hildebrand, Adolf von 289 Hiraide, Takashi 342 Hitler, Adolf 100–101, 109 Hoddis, Jakob van 267, 271, 277 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 4 Hofmannsthal, Hugo von 260, 295–296 Hölderlin, Friedrich 4, 207 Holz, Arno 273 Homer 2, 279 Horaz 2, 26, 46, 147, 162, 303 Horn, Uffo 92 Howard, Bart 347 Huart, Louis 303 Huber, Philipp 185 Huchel, Peter 8, 29, 35, 332 Hunbolt, Alexander von 2, 117, 340 Humboldt, Wilhelm von 207, 212

371 Hummelt, Norbert 260 Hunold, Christian Friedrich 142 Issa, Kobayashi 337, 340–341 Iwanowna, Anna 143 Jackson, Andrew 197 James, E. L. (Erika Leonard) 40 Jandl, Ernst 6 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 92 Jefferson, Thomas 197 Jocks, Heinz-Norbert 331–333, 336, 338–339 John, Elton 17, 351 Joyce, James 233–234 Kaléko, Mascha 6, 240, 249, 253–254 Kant, Immanuel 66 Karl V. (Kaiser) 57 Kaschnitz, Marie Luise 14, 99–116 Kaschnitz-Weinberg, Guido von 100, 103 Kästner, Erich 240, 247–248, 250 Kaufmann, Alexander 86 Keller, Gottfried 241 Kerner, Justinus 5, 241 Kessler, Harry Graf 262–263, 265, 279 Kleist, Heinrich von 73 Klemm, Joseph 185 Kling, Thomas 35, 341, 343 Klopstock, Friedrich Gottlieb 46 Knebel, Karl Ludwig von 46 Köhler, Barbara 12, 35–40 Kotzebue, August von 65 Kracauer, Siegfried 302 Kuhligk, Björn 6 Kuhlmann, Quirinus 19 Kunad, Gottfried Polycarp 151 Kuntsch, Margaretha Susanna von 142 Kürnberger, Ferdinand 180–181 Kurz, Isolde 220 Lappe, Karl 199 Lefebvre, Henri 118

372 Lenau, Nikolaus 4, 15, 179–205 Leonardo da Vinci 78 Lessing, Gotthold Ephraim 26 Lewald, Fanny 277–278 Liliencron, Detlev von 243–244, 263–264, 266, 274, 276, 283, 285, 287 Lipinska, Christine 315–317 Loerke, Oskar 252 Lorrain, Claude 73–75 Ludwig I. von Bayern 208 Ludwig II. von Bayern 59 Ludwig XII. (König) 76 Luhmann, Niklas 123 Maas, Paul 102 Majakovskij, Vladimir 176 Mann, Thomas 293 Marti, Kurt 20 Martial 24–26, 276 Matsushita, Taeko 332 Mayer, Karl Friedrich Hartmann 180 Mayröcker, Friederike 35 Mehring, Walter 6 Mercier, Louis-Sebastién 303, 327 Merian, Maria Sibylla 138 Métail, Michèle 17, 301–330 Meyer, Conrad Ferdinand 8, 288, 296 Michelangelo Buonarotti 85, 279, 289 Mickiewicz, Adam 161 Mitterer, Erika 218–219 Moser, Moses 49, 160, 166 Müller, Wilhelm 4, 13, 31, 50–55, 59 Muralt, Beat Ludwig 148 Musil, Robert 309 Nabokov, Vladimir 302 Napoleon I. Bonaparte 13, 61, 77–78, 96, 292 Nawata, Yûji 35, 335, 340–341 Nezval, Vítězslav 176 Nietzsche, Friedrich 32, 209, 215, 220, 296

Personenregister Olearius, Adam 3, 9 Ooka, Makoto 332 Oppenheimer, Franz 263, 270, 283 Oppler, Wolfgang 6 Oswald von Wolkenstein 3 Otchakovsky-Laurens, Paul 315 Otto I. von Griechenland 208 Ovid 2–3, 46, 49, 52–53 Paoli, Betty 88 Perec, Cyrla 316 Perec, Georges 17, 301–317, 320–329 Perec, Icek 316 Petrarca, Francesco 75, 114 Philipp II. von Makedonien 107 Piontek, Peter 6 Pius IX. (Papst) 84 Platen, August von 32, 88–89, 95–96, 132, 260, 279, 288, 297 Poe, Edgar Allan 347, 358 Pound, Ezra 340 Preuschen, Hermione von 215, 217 Properz 46, 58 Pückler-Muskau, Hermann von 2 Puškin, Aleksandr 15, 157–161, 170–178 Queysanne, Bernard 314, 326 Rapp, Johann Georg 184 Rathenow, Lutz 6 Reber, Balthasar 293 Reinbeck, Emilie 182, 186–187 Reinbeck, Georg 186–187 Riccioli, Giovanni 358 Ricimer, Flavius 57 Rilke, Rainer Maria 82, 102, 234, 343 Rinck, Monika 35 Ringelnatz, Joachim 252 Roché, Henri-Pierre 306 Romain, Jules 306 Roquin, Louis 321 Rousseau, Jean-Jacques 138, 155, 199, 293 Rowohlt, Ernst 306

Personenregister Rückert, Friedrich 5, 82 Rühm, Gerhard 17, 348, 353–356, 362 Rühmkorf, Peter 6, 260 Rumohr, Carl Friedrich von 65 Saar, Ferdinand von 241–242 Sachs, Nelly 223, 235 Schäpers, Veronika 332 Scheerbart, Paul 273 Scheffler, Karl 324–325 Scherenberg, Christian Friedrich 241 Schiller, Friedrich 22, 45, 93, 96, 123, 199, 207, 276 Schilling, Peter 17, 349 Schlegel, August Wilhelm 74 Schlegel, Friedrich 4 Schlink, Bernhard 124 Schmatz, Ferdinand 28–29 Schnitzler, Arthur 273 Schönaich-Carolath, Emil 297 Schücking, Levin 13, 81–98 Schuh, Franz 28 Schurz, Anton 183, 185 Schwab, Gustav 182–183 Seidl, Johann Gabriel 201 Seume, Johann Gottfried 81, 199 Shakespeare, William 13, 68–75 Silesius, Angelus 19 Simon, Charles 263–264 Sinatra, Frank 347 Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach 22–23, 32 Spitteler, Carl 269 Stadler, Ernst 5, 242 Stendhal (Marie-Henri Beyle) 306–308 Sterne, Laurence 59, 158 Stieglitz, Heinrich 95 Stones, Sasha 306 Straffarello, Gustavo 98 Swift, Jonathan 230 Takahashi, Junko 332 Tanikawa, Shuntaro 332 Tasso, Torquato 70, 75 Tassoni, Alessandro 75

373 Tersteegen, Gerhard 148 Thoma, Hans 264 Tibull 46, 58 Tieck, Ludwig 4, 13, 61–80, 88–94, 97, 159, 260, 278 Tintoretto, Jacopo 261 Tizian (Tiziano Vecellio) 97, 261, 288, 292–293, 295–296 Tocqueville, Alexis de 181 Totila (König) 57 Trakl, Georg 296 Tucholsky, Kurt 240, 248 Uhde, Wilhelm 289 Varnhagen, Rahel 61–62, 64–65, 79 Veit, Philipp 85 Verne, Jules 29, 347, 358 Veronese, Paolo 261 Vierordt, Heinrich 213–214 Viertel, Berthold 7 Virilio, Paul 313 Visentini, Antonio 292 Vulpius, Christian August 50 Vulpius, Christiane 22, 50 Wagner, David 301 Wagner, Jan 6 Wagner, Richard 119 Weiss, Peter 6 Wells, Herbert George 347 Wessenberg, Ignaz von 88 Wieland, Christoph Martin 141–142 Wilde, Oscar 291 Winckelmann, Johann Joachim 81, 207–209, 212–213, 215 Wittgenstein, Ludwig 123 Zange, Julia 301 Zäunemann, Martha Paulina 151 Zäunemann, Sidonia Hedwig 14, 137–155 Ziegler, Christiana Mariana von 138–140, 142