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German Pages 326 Year 2020
Stephanie Heck, Simon Lang, Stefan Scherer (Hg.) »Am grünen Strand der Spree«
Edition Kulturwissenschaft | Band 176
Stephanie Heck (M.A.), geb. 1987, ist Doktorandin am Institut für Germanistik des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Ihre Forschungsinteressen gelten der Fernsehwissenschaft (v.a. der bundesdeutschen Fernsehgeschichte), Formen der Serialität und Fiktionalität sowie des Dokumentarfilms und der Literatur des 17. bis 21. Jahrhunderts. Simon Lang (M.A.), geb. 1989, ist Doktorand am Institut für Germanistik des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Seine Forschungsinteressen gelten der europäischen Film- und Fernsehgeschichte (v.a. Italien und Deutschland), dem Verhältnis von Ästhetik und Politik sowie Formen und Theorien von Populärkultur. Stefan Scherer (Prof. Dr. phil.), geb. 1961, ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Seine Forschungsschwerpunkte sind Mediensozialgeschichte der literarischen Form, Gattungstheorie, Dramatologie, Populäre Serialität, Literatur- und Kulturzeitschriften sowie »Synthetische Moderne« (1925-1955).
Stephanie Heck, Simon Lang, Stefan Scherer (Hg.)
»Am grünen Strand der Spree« Ein populärkultureller Medienkomplex der bundesdeutschen Nachkriegszeit
Die Herausgeber bedanken sich bei der Stiftung Zeitlehren, der KIT Freundeskreis und Fördergesellschaft e. V. und der Stiftung des Landesbank BadenWürttemberg (LBBW) für die Förderung dieses Bandes.
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Inhalt
Ein ›Symposion‹ der Medien: Roman, Hörspiel- und Fernsehmehrteiler Am grünen Strand der Spree als populärkultureller Medienkomplex der bundesdeutschen Nachkriegszeit
Stephanie Heck / Simon Lang / Stefan Scherer | 9
I.
»SO GUT WIE EIN ROMAN«: HANS SCHOLZ’ BESTSELLER (1955)
Leichter werden Zu Programm und Struktur von Hans Scholz’ Roman Am grünen Strand der Spree
Moritz Baßler | 29 Eine neue ›Heimat‹ »am grünen Strand der Spree« Zur Funktion der Mottos in Hans Scholz’ Roman
Roya Hauck | 49 »Geschehen und erzählt, meine Herren, ist durchaus noch nicht dasselbe« Das Verhältnis von Dokumentation und Fiktion in Hans Scholz’ Am grünen Strand der Spree
Hannes Gürgen | 69 Am grünen Strand der Spree – So gut wie ein Künstlerroman
Antonie Magen | 87 So gut wie eine literarhistorische ›Aufheiterung‹ der Nachkriegszeit Scholz’ Roman in der Synthetischen Moderne
Stefan Scherer | 107 Cocktail Studies als historische Alkohologie Zum Alkoholkonsum in der Jockey Bar
Simon Lang | 135
II.
ZWISCHEN(HÖR)SPIEL: GERT WESTPHALS RADIOAUFBEREITUNG FÜR DEN SWF (1956)
Von der Allegorie zum Verismo Radiotechnik, Hörspielästhetik und Phonopoetik um 1955
Gustav Frank | 145 Senderverhalten und Phonoästhetik Rezeptionsgeschichtliche Überlegungen zur Hörspielreihe AM GRÜNEN STRAND DER SPREE
Christina Strecker | 173
III. DURCHBRUCH IM NEUEN MASSENMEDIUM: FRITZ UMGELTERS NWRV-STRASSENFEGER (1960) Spiel | Film Fernsehspiel, Kinofilm und der Fernsehroman AM GRÜNEN STRAND DER SPREE . Zur Spezifik des westdeutschen Fernsehens um 1960
Christian Hißnauer | 191 ›Quality TV‹ made 1960 Aspekte serieller Komplexität im frühen deutschen Fernsehen
Stephanie Heck | 223 Kleiner Bildschirm ganz groß? AM GRÜNEN STRAND DER SPREE im Kontext der zeitgenössischen Filmästhetik
Simon Lang | 249 Der große Boogie-Woogie aus der Macht des Schicksals Musik im Fernsehmehrteiler AM GRÜNEN STRAND DER SPREE
Stephanie Heck / Simon Lang | 273
VI. ANHANG Das mediale Rauschen der Spree Die zeitgenössische Rezeption von Bestseller, Hörspiel und Fernsehmehrteiler
Simon Lang | 289 ›Selfmade‹-Talente Biografien von Hans Scholz und Fritz Umgelter
Stephanie Heck / Simon Lang | 311 Autorinnen und Autoren | 321
Ein ›Symposion‹ der Medien: Roman, Hörspiel und Fernsehmehrteiler Am grünen Strand der Spree als populärkultureller Medienkomplex der bundesdeutschen Nachkriegszeit Stephanie Heck / Simon Lang / Stefan Scherer
Am frühen Morgen, nach einer langen alkoholisierten Nacht, feiert sich eine Herrenrunde in der Westberliner Jockey-Bar in der Fasanenstraße, die Hans Scholz in seinem Roman Am grünen Strand der Spree (1955) zusammenführt, noch einmal als »Symposion« (363).1 Als ein solches ›Gastmahl‹ war die Veranstaltung von Beginn an geplant (vgl. 12), um den alten Freund Major Lepsius ins zivile Leben der west- und konsumorientierten BRD zurückzuführen. Platons Dialog Symposion wiederum verhandelt die erotische Kraft der Liebe im berühmten Kugelmythos: Einst hatten die Götter die ursprüngliche ideale Einheit der Menschen in zwei Hälften getrennt, so dass diese seitdem unendliche Sehnsucht nach ihrer Wiedervereinigung haben. Mit solchen und anderen Bezügen auf die deutsche Literatur von der mittleren Aufklärung bis zur Jahrhundertwende stellt sich Scholz’ Roman in eine Reihe von Traditionen, die an einem gewitterschwülen Tag im späten April des Jahres 1954 wiederbelebt werden, um auch den jüngst vergangenen Nationalsozialismus in den großen Teppich der Geschichte einzuweben. Zu diesem Zweck lassen die ›Novellen‹, die die Mitglieder der Runde in der Tradition rahmenzyklischen Erzählens seit Boccaccio vorlesen oder erzählen2, geschichtsträchtige Zeiten vom Siebenjährigen Krieg über den Zweiten Weltkrieg bis in die jüngste 1
Seitenangaben im Fließtext folgen der Ausgabe: Scholz 1955. Der Titel des Romans wird im gesamten Band kursiv, die der Versionen für das Radio und das Fernsehen wie die Titel anderer Hörspiele, Kino- und Fernsehfilme in Kapitälchen gesetzt.
2
Vgl. Heck/Lang 2018.
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DDR-Nachkriegszeit wiederauferstehen. Zum Schluss beglückwünschen sie mit ihrem Novellenkranz, aus dem ein Buch mit dem Untertitel So gut wie ein Roman hervorgeht, ein schönes neues Paar, das sich durch die Figurationen der Wiederkehr in diesen Novellen gefunden hat. Alle Geschichten handeln vom Krieg, wie auch immer sie sich im Fortgang der Nacht vom ungeheuerlichen Ernst der Shoa zur neuen Reiselust im Zuge des Wirtschaftswunders ›aufheitern‹ (vgl. 284): vom Tagebuch des Soldaten Jürgen Wilms im Zweiten Weltkrieg mit monströsen Sequenzen einer Massenerschießung von Juden während des Russlandfeldzugs bis hin zur finalen Lügengeschichte des Schauspielers Bob Arnoldis, in der Scholz die Italiensehnsucht der Deutschen feiert und persifliert. Die NS-Zeit wird in diesem poetisch ›verketteten‹ ›Geschichtengewebe‹ (235)3 im tragenden Gedanken von der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ (Nietzsche) einverleibt, um all jenen Beteiligten, die den Zweiten Weltkrieg (als Soldaten wie als Zivilisten) überlebt haben, mit einem Symposion in Romanform die Eingliederung ins zivile Leben des Wirtschaftswunderlands BRD zu erleichtern. Am grünen Strand der Spree funktioniert in seiner narrativen Organisation selbst als ein literarisches ›Gastmahl‹, indem der Roman seine gut gelaunte, zunehmend alkoholisierte Darstellung (siehe den Beitrag Cocktail-Studies) mit zahllosen Stimmen, Zitaten, Sprach(ebenen) und Anspielungen auf antike Mythologeme wie auf die deutsche Literatur von der Empfindsamkeit bis zum Berliner Naturalismus um 1890 würzt. Indem er vergangene (Kriegs-)Zeiten im Vorlesen oder Erzählen durch die Mitglieder der Herrenrunde wiederaufleben lässt – stilistisch in Nachahmungen der jeweils damit verbundenen Epoche der Literaturgeschichte –, schreibt er sich in das humane Erbe einer deutschen Literatur und Kultur vor dem Nationalsozialismus ein. Im Hintergrund spielt eine JazzKapelle, während das Symposion von ebenso zahllosen wie witzigen Anspielungen auf Titel, Zitate und Markennamen aus der Populärkultur seit den 1920er Jahren atmosphärisch getragen wird, um auch damit zur Beförderung der guten Laune beizutragen. Nicht nur der Roman selbst aber erweist sich als ein ›Gastmahl‹ literarischer, musikalischer und filmischer Stimmen, bevor er zum Schluss, mit dem beginnenden neuen Tag den Schlager ›Am grünen Strand der Spree‹ anstimmt, um das neue Paar zu bejubeln. Bezieht man nämlich die nachfolgenden Hörspiel- und Fernsehfilmfassungen (in jeweils mehreren Teilen) mit ein, so ergibt sich aus dem triangulären Zusammenspiel auch ein ›Symposion‹ der Medien: ein ebenso neuartiger wie einzigartiger Medienkomplex, in dem sich der aktuelle Stand der Populärkultur der späten 1950er Jahre darstellt und selbst reflektiert. Innovativ 3
Vgl. genauer zu dieser Logik der narrativen Verkettung ebd., 247-252.
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ist diese Integration von Roman, Hörspiel und Film gegenüber ersten Ausprägungen dieser Art im »Berlin Alexanderplatz-Komplex« um 19304, weil mit dem Fernsehen zum einen ein aufstrebendes neues Medium die Massen an den Empfängern zu Hause erreicht; weil mit der regelmäßigen Ausstrahlung mehrerer Teile eines größeren Ganzen in Folgen ästhetische Ausformungen entstehen, in denen sich jene Varianten von Serialität organisieren, die v. a. das Fernsehen ausdifferenzieren wird. Mit der mehrteiligen Verfilmung von Scholz’ Roman durch Fritz Umgelter, die im Blick auf medienspezifische Möglichkeiten des Fernsehens um 1960 insbesondere auch in ihrer cinematischen Virtuosität besticht, kann begründet der Beginn dessen angesetzt werden, was im Serialitätsdiskurs seit den Nullerjahren unter dem Rubrum ›Quality-TV‹ zur Debatte steht (siehe den Beitrag von Stephanie Heck). Dieser Einzigartigkeit in der medienspezifischen Integration von Roman, Hörspiel und Fernsehmehrteiler am Beginn einer neuen Ära von Serialität im Fernsehen (gegenüber ihren Ausprägungen seit der Entstehung von Populärkultur um 18505) widmet sich vorliegender Sammelband. Er untersucht einen medienwie kulturhistorisch signifikanten Zusammenhang der 1950er Jahre, der als Medienkomplex in der Forschung bislang wenig Beachtung gefunden hat. Dieser Zusammenhang ist bemerkenswert, weil sich die Umsetzungen des Romans von Hans Scholz (1955) in einem Radio-Hörspiel (1956) und einem Fernsehmehrteiler (1960) schnell anschließen, in den 1960er Jahren aber ebenso schnell allesamt in Vergessenheit geraten. Die Themen, die Am grünen Strand der Spree behandelt, hatten offenbar einen Nerv der Zeit getroffen, fanden dann in der politisierten Reformära der 1960er Jahre keinen Anklang mehr. Das erklärt, warum gleich nach dem Erscheinen von Scholz’ Erfolgsroman die Hörspielproduktion erfolgte, während das Fernsehen über jene Mittel, die Umgelters mehrteilige Verfilmung auszeichnet, erst um 1960 verfügte. Erst zu dieser Zeit kann das Fernsehen jene cinematischen Verfahren in einer öffentlich-rechtlichen Fernsehspielproduktion 4
Vgl. Segeberg 2003, 84-102; zu den Details des Hörspiels und der Verfilmung, die jeweils auf einen »integralen Bestandteil des epischen Kunstwerks Berlin Alexanderplatz« zurückgehen, vgl. Keppler-Tasaki 2018, 103-124, hier 103. Allgemeiner erkennt Faulstich (2012) in der »erneute[n] Ausweitung des supramedialen Produktverbundes« eine Besonderheit in den »dominanten Medienkulturen der 20er Jahre« durch »Plakat und Film, Zeitschrift und Photo, Schallplatte und Radio, Film und Buch, Radio und Zeitung, usw. Das bedeutet, dass in den 20er Jahren zum ersten Mal eine komplexe integrative Medienkultur ausgebildet wurde« (131); zu den Neuerungen dieser Medienkultur in den 1950er Jahren vgl. Faulstich 2007.
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Zum Ursprung populärer Serialität in der illustrierten Familienzeitschrift Die Gartenlaube vgl. Stockinger 2018.
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realisieren, in denen sich die Abkehr von der bis dahin dominierenden ›Kammerspielästhetik‹ anzeigt. Einzigartig sind in diesem populärkulturellen Medienkomplex daher auch bereits die einzelnen Teile selbst: im komplex erzählten und dennoch viel gelesenen Erfolgsroman auf der einen, in der ebenso virtuosen Verfilmung für das Fernsehen in fünf Teilen auf der anderen Seite. Die mehrteilige Hörspiel-Version in der Mitte markiert demgegenüber eine mediengeschichtliche Übergangssituation, insofern sie die phonoästhetischen Möglichkeiten der 1950er Jahre trotz der Konjunktur des Hörspiels nur bedingt ausspielt (siehe den Beitrag von Gustav Frank). Selbst die Hörspielfassung hat aber im Detail ihr Bezwingendes (siehe den Beitrag von Christina Strecker), auch wenn sie in der zeitgenössischen Rezeption gegenüber dem Roman und der Fernsehfassung weniger Resonanz seitens der Kritik fand. Medienkomplexe in der Populärkultur
Ziel des Sammelbandes ist es, die trimediale Ausgestaltung des Roman-Stoffs von Hans Scholz nicht nur im Rahmen traditioneller Adaptionskonzepte, sondern auch als einen Medienkomplex zu beschreiben, der sich so erst in den 1950er Jahren unter den neuartigen Rahmenbedingungen der bundesdeutschen Populärkultur formieren konnte. Die Aufmerksamkeit der wenigen literatur- und fernsehgeschichtlichen Beiträge galt bislang v. a. dem Umgang mit der jüngsten Vergangenheit, der sich in allen drei medialen Ausprägungen als Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust niederschlägt. Dies geschieht indes nur in einzelnen Episoden. Interessierten bislang insofern nur wenige Teile des Romans wie des Fernsehfilms6 (während der HörspielMehrteiler in der Forschung bislang gänzlich unbeachtet blieb), gerät die Gesamtstruktur im Hinblick auf den medienästhetischen Eigensinn der drei Formvarianten wie auf die verschiedenen Themen der Teile auch in ihrer medienspezifischen Gestaltung mehr oder weniger völlig aus dem Blick. Schon beim Erscheinen des Romans von Hans Scholz – unter dem Titel Am grünen Strand der Spree. So gut wie ein Roman 1955 bei Hoffmann und Campe verlegt – sorgte die Auseinandersatzung mit der jüngeren deutschen Vergangenheit für Aufsehen. Den Kritikern fiel vor allem die Darstellung der Herrenrunde negativ auf: Männer, die als Soldaten den Krieg überlebten, haben im zivilen Leben der Nachkriegszeit als Medienarbeiter wieder Fuß gefasst. Bei ihrer feucht-fröhlichen Zusammenkunft, die sie in einer Westberliner Bar veranstalten, 6
Vgl. Hickethier 2000, 107-109; Koch 2007; Puszkar 2009; Ächtler 2013, 76-80; Adam 2016, 85-90; Munier 2017, 125-127; Adam 2018.
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lassen sie auch ihren Anti-Nationalsozialismus seit den 1930er Jahren so zynisch wie gutgelaunt noch einmal fröhliche Urständ feiern. Das Geschick, mit dem Scholz dabei unterschiedliche Stile der Literaturgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Frühen Moderne mit Tiefenstrukturen der Geschichte Deutschlands verknüpft, ließ Kritiker hinter dem bislang unbekannten und wenig markanten Autornamen das Pseudonym eines renommierten Schriftstellers vermuten (siehe den Beitrag von Stefan Scherer). Man konnte es offenbar nicht glauben, dass ein Neuling zu dieser literarischen Brillanz fähig gewesen sein sollte. Der als Rahmenzyklus angelegte ›Beinahe-Roman‹ (Hellmut Jaesrich; siehe den Beitrag zur zeitgenössischen Rezeption), der sich selbst in die Erzähltradition von Boccaccio und in den Bezugsrahmen der philosophischen Dialoge Platons stellt, avancierte schnell zu einem Bestseller der Nachkriegszeit. Unter dem Titel Through the Night (1959) wurde er dann auch in den USA erfolgreich verlegt. Mit der intermedialen Anlage des Romans schafft Hans Scholz – selbst Werbefachmann, Musiker und Künstler in Personalunion – eine geeignete Vorlage für Adaptionen in den beiden wichtigsten Massenmedien der Zeit: zunächst im neuen Leitmedium Hörspiel, sodann in einer Fernsehverfilmung, an der sich das neue Format des Fernsehspiels seiner ästhetischen Möglichkeiten innewird, in Mehrteilern seriell erzählen zu können. Das Hörspiel entsteht bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung des Romans. Gert Westphal inszeniert es in fünf Teilen für den Südwestfunk (SWF), nachdem der Autor Scholz für die Bearbeitung gewonnen werden konnte; auffällig ist dabei, wie bereits die Rundfunkversion die ›Vielstimmigkeit‹ der literarischen Vorlage mit phonoästhetischen Mitteln aktualisiert. 1960 erfolgt die fernsehfilmische Umsetzung des Bestsellers durch eine zentrale Figur der frühen westdeutschen Fernsehgeschichte, nachdem sich Gerüchte über eine von Max Ophüls geplante Bearbeitung für die große Kinoleinwand nach dessen Tod zerschlagen hatten. Der unter der Regie von Fritz Umgelter entstandene Fünfteiler setzt den öffentlichen Erfolg von Scholz’ Bestsellerroman fort: Nach dem ersten TVMehrteiler SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN (1959) gelingt Umgelter damit der zweite ›Straßenfeger‹ in der bundesdeutschen Fernsehgeschichte. Gegenüber der ersten Romanbearbeitung ist es nun aber bemerkenswert, dass er die erzählerische Versiertheit der literarischen Vorlage mit vergleichbar avancierten fernseh- wie filmästhetischen Mitteln umsetzt – auch dergestalt, dass er in jeder Folge Genres der Filmgeschichte reinszeniert, diese verquickt und parodiert, um seine Könnerschaft nicht zuletzt in filmhistorischer Perspektive zu markieren (siehe den Beitrag von Simon Lang). Auch in dieser Hinsicht geht der Mehrteiler über eine bloße ›Filmisierung‹ des Fernsehspiels, die in dieser elaborierten Form im deutschen Fernsehen erstmals bei Umgelter bemerkbar wird, hinaus. Zugleich bildet
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seine Verfilmung den audiovisuellen Abschluss im Prozess der Anverwandlung eines rahmenzyklisch organisierten Romans zu einem trimedialen Komplex. Von einem Medienkomplex zu sprechen, ist hier möglich, weil die Folge der drei medienspezifischen Ausprägungen zum einen in kurzer Zeit zwischen 1955 und 1960 entsteht; weil er zum anderen die bereits im Roman angelegte Selbstbezüglichkeit, was Grenzen und Möglichkeiten der jeweiligen Ausgestaltung nach Maßgabe ihrer medialen Strukturen angeht, auch im Hörspiel und in der Fernsehfassung ausstellt. Darin zeigt sich der Spree-Komplex in einzigartiger Weise von den (medienkultur-)historischen Bedingungen der 1950er Jahre geprägt. Bewahrt er sich dabei einerseits ein für diese Zeit ungewöhnlich subversives Potenzial, so ist er andererseits Spiegel jener Zeit im Umbruch hin zu einer westorientierten Konsumgesellschaft. Im Feld ihrer neuartigen Populärkultur hat man es mit Umständen zu tun, die den Spree-Komplex in der deutschen Medienkulturgeschichte daher nur mit Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (1929) und dessen Weiterverarbeitungen im Hörspiel und im um 1930 neuen Genre Tonfilm vergleichbar machen. Solche Zusammenhänge als Medienkomplexe zu beschreiben, geht auf Harro Segebergs Studien zu den Adaptionen von Döblins vielstimmigem Großstadtund Montageroman zurück.7 Segeberg spricht sich hier dezidiert dagegen aus, den »Film des Jahres 1931 [...] als die mehr oder weniger angemessene Verfilmung sowie das von Döblin verfaßte Hörspiel Die Geschichte vom Franz Biberkopf (1931) als eine in ähnlicher Weise nachgeordnete akustische Umarbeitung« anzusehen.8 Vielmehr seien der »zuerst in der Frankfurter Zeitung und danach als selbstständiges Buch veröffentlichte[] Roman, die Verfilmung von Phil Jutzi und das Hörspiel als die jeweils eigenständige literarische, filmische, akustische Version in einem ganzen Komplex von Texten zum Thema Berlin Alexanderplatz zu betrachten«.9 Segebergs Ansatz versucht demnach, die im Begriff der Adaption implizierte Hierarchie aufzulösen und die drei Versionen als medienspezifische Ausgestaltungen eines Stoffs gleichberechtigt nebeneinander zu stellen. Untersucht wird damit ein intermedialer Zusammenhang, in den sich die einzelnen Versionen zwar als relativ autonome Bestandteile einfügen, aus denen dann aber in der Einheit zugleich etwas Neuartiges hervorgeht. Vorausgesetzt wird hierbei, dass
7
Zu dieser Vielstimmigkeit von Berlin Alexanderplatz auch im literarhistorischen Tra-
8
Segeberg 2003, 85.
9
Ebd.
ditionsverhalten Döblins vgl. Frank/Scherer 2016.
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die Umsetzung in verschiedenen Medien zeitnah stattfindet.10 Es ließe sich sonst einwenden, dass in der deutschen Kulturgeschichte zahlreiche Stoffe in verschiedenen Medien verwertet worden sind, man aber deswegen nicht zwangsläufig von einem Komplex sprechen muss. Segeberg zeigt dabei auf, dass sich der Zusammenhang zwischen den drei Berlin Alexanderplatz-Fassungen nicht nur daraus ergibt, dass der Stoff jeweils derselbe ist. Vielmehr bildet sich eine eigenständige intermediale Ästhetik durch Prozesse der Medienüberlagerung, -anreicherung und -differenzierung aus. Er beschreibt damit, wie im einzelnen Medium Verfahren der Fremdmedien durch die eigenen, je spezifischen Mittel transformiert und in genuiner Weise neu ausgeschöpft werden. So orientiert sich die Montagetechnik von Döblins Roman am (Stumm-)Film, sie bleibt aber dort ein dezidiert literarisch-sprachliches Verfahren. Der Zusammenhang entsteht also (auch) durch formale bzw. transformationale Intermedialität11, in der die Vorstellung einer einseitigen ›Adaption‹ von Verfahren eines Prätextes aufgehoben ist. Stattdessen entstehen innovative, medienspezifische Darstellungen, die auf der ästhetischen Eigenständigkeit der jeweiligen Ausgestaltung gründen. Die Vergleichbarkeit der beiden Medienkomplexe (Döblin um 1930, Scholz zwischen 1955 und 1960) rechtfertigt sich dadurch, dass sie in historischen Umbruchssituationen entstehen. An ihnen werden Transformationsprozesse beobachtbar, weil sie sich in den jeweiligen ästhetischen bzw. medialen Verfahren niederschlagen. So legt Segeberg für den Alexanderplatz-Komplex dar, wie ein ›neuer (Sprach-)Naturalismus‹, den der Roman gestaltet, nur unter den Bedingungen der veränderten medialen Situation um 1930 umgesetzt werden kann, indem sich neben dem Hörspiel der Tonfilm durchsetzt. In ähnlicher Weise sind im Spree-Komplex vor allem die Formvarianten von Serialität, die sich im Sinne der von Segeberg beobachteten intermedialen Transformation ausbilden, in den späten 1950er Jahren historisch bedeutsam – insbesondere beim Fernsehen, das sie als spezifische Möglichkeit mehrteiliger Verfilmungen in Folge an sich entdeckt. Voraussetzung hierfür ist der hohe Stellenwert, den in den 1950er Jahren die erzählende Literatur zunächst für den Rundfunk im Bereich fiktionaler Narratio10 Die Urheberschaft desselben Autors für alle Ausgestaltungen, wie es bei Döblin der Fall ist, kann dagegen keine zwingende Voraussetzung sein. Scholz war zwar an der Verfilmung für das Fernsehen nicht beteiligt. Aber auch die Verfilmung verwandelt sich in der audiovisuellen Ausgestaltung Strukturvorgaben und Verfahrensweisen des Romans an (siehe dazu auch den Beitrag zur Musik von Stephanie Heck und Simon Lang). 11 Vgl. Schröter 1998, 136-143.
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nen einnimmt. Trotz verschiedener, durchaus prägender Originalstücke greifen die Hörspielproduzenten (wie dann auch die Fernsehmacher) in diesem Jahrzehnt oftmals auf bereits gestaltete Stoffe zurück, die von der Antike über die Klassik bis in die Gegenwartsliteratur reichen. Wenige Monate vor der Übertragung des Hörspiels mutmaßt Kaiser in seiner Besprechung von Scholz’ Roman daher mit süffisantem Unterton, dass dieser gewiss schnell für Funk und Film adaptiert werden wird.12 Dramatisierte Dialoge und Regieanweisungen in Am grünen Strand der Spree lassen derartige Kalküle eines medienaffinen Autors erahnen, so dass Scholz bereits in der Gestaltung seines Romans die Übernahme durch den Rundfunk und das Fernsehen forciert. Das ist auch deshalb mehr als eine Vermutung, weil Figuren in der Erzählung diese Anverwandlung seiner Teile in Drehbüchern wiederholt selbst ansprechen.13 Im Hinblick auf die neuen Möglichkeiten, in den beiden maßgebenden Massenmedien der 1950er Jahre Serialität zu gestalten, lassen sich die intermedialen Zusammenhänge folgendermaßen pointieren: Während der Roman bereits in seiner Anlage serielles Erzählen inszeniert, entwickeln die technisch basierten auditiven und audiovisuellen Medien kraft ihrer Potenz, Mehrteiligkeit über Zeitsprünge hinweg zu organisieren, ästhetische Verfahren, erzählerische Breite entfalten zu können. Sie etablieren dazu serielle Formate, die als Möglichkeit im generisch unbegrenzten Roman bereits angelegt sind. Aus Anlass von Umgelters Verfilmung ist in der zeitgenössischen Kritik nicht ohne Grund vom ›Fernsehroman‹ die Rede (siehe den Beitrag von Christian Hißnauer). Bei Scholz begünstigt v. a. die rahmenzyklische Anlage, dass im intermedialen Transformationsprozess über das Hörspiel zum Fernsehfilm serielle Erzählformen ausgebildet werden können. Die Hörspielabteilung des SWF erarbeitet in dieser Zeit das Konzept der ›großen Form‹: Nach einer Idee von Ernst Schnabel sollen für den Hörfunk groß angelegte, im Prinzip mit der literarischen Epik vergleichbare Erzählformate entwickelt werden. Grundsätzlich ist das Erzählen in regelmäßig ausgestrahlten Fortsetzungen beim Hörspiel nichts Neues. Es wird nun aber neben der abendfüllenden Sendung als Programmform konzeptuell verankert. Beim Fernsehen trägt Umgelters Mehrteiler gerade als seriell angelegtes Werk schließlich dazu bei, dass sich das noch junge Massenmedium endgültig um 1960 durchsetzen kann – also nicht nur, indem es sich vom Kino emanzipiert und dabei zeigt, dass es in 12 Vgl. Kaiser 1956, 437. 13 »›Das Drehbuch sehe ich vor mir‹«, meint Hesselbarth zur Geschichte von Lepsius (65); die von ihm erzählte zweite Geschichte über den General von Hach und zu Malserhaiden wird dann von ihm gleich als »Drehbuchentwurf« bezeichnet, wie auch immer sie sich »unter uns gesagt in Novellenform« (69) präsentiert.
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der Qualität seiner audiovisuellen Gestaltung cinematischen Darstellungsformen nicht nachsteht (siehe den Beitrag von Simon Lang). So demonstriert Umgelters Verfilmung Möglichkeiten fortgesetzten Erzählens, die dem Kinofilm nicht zur Verfügung stehen, gerade im Fernsehen.14 Zugespitzt kann man festhalten, dass der oben erwähnte Diskurs über ›Quality-TV‹ und dessen Potenzen im seriellen Darstellen filmischer Form- bzw. Genrevarianten auf die fernsehgeschichtliche Situation um 1960 zurückgeht (siehe den Beitrag von Stephanie Heck). Das neue Medium im Komplex: Fernsehen Medienkomplexe, wie sie sich um 1930 herausbilden, sind im Fall der Alexanderplatz-Varianten deshalb neu, weil ihnen der Tonfilm zur Verfügung steht. Die besondere Stellung des populärkulturellen Medienkomplexes aus Scholz’ Roman resultiert entsprechend aus der Bedeutung des Fernsehens: nicht nur im Hinblick darauf, seriell auch im Spiel mit Genre-Adaptionen erzählen zu können, sondern zunächst v. a. in jener neuen Perspektive, überhaupt genuin filmische Mittel nun auch im Fernsehspiel einzusetzen. Für die fernsehgeschichtliche Situation um 1960 ist das bis dahin in keiner Weise selbstverständlich. Um realisieren zu können, was noch heute an Umgelters Verfilmung besticht, musste das Fernsehen sich erst dessen vergewissern, was es als Medium auch für fiktionale Formate wie das Fernsehspiel leisten kann.15 Das hat wiederum mit jenen Vorgaben zu tun, die darauf zurückgehen, dass das Fernsehen durch den öffentlich-rechtlichen Programmauftrag im Zeichen einer gebührenpflichtigen »Kundenwirtschaft« gegenüber der »Marktwirtschaft« des Kinofilms16 kulturell Wertvolles zu bieten hat. Bis heute begründet dieser Programmauftrag spezifische Qualitätsansprüche gegenüber rein kommerziellen Interessen durch Unterhaltung. Diese Vorgabe provoziert seit den frühen 1950er Jahren Debatten über Aufgaben und Eigensinn des Fernsehens in Deutschland gegenüber den USA oder anderen europäischen Ländern: Fernsehspiele sollen sich, weil man das LivePrinzip zum Alleinstellungsmerkmal des Fernsehens erklärt, dezidiert vom Spielfilm abgrenzen. Die Eigenlogik, die sich das Fernsehen dabei zuschreibt, äußert sich besonders in den Auseinandersetzungen über Aufgaben und Darstellungs14 Vgl. Schäffner 2002, 100. 15 Zu dem im Folgenden skizzierten Umbruch des Fernsehens um 1960 vor dem Hintergrund einer Debatte, ob das Fernsehen Film sein darf oder ob es sich im Blick auf den Eigensinn eines neuen Mediums nicht vielmehr vom Kinofilm gerade abzuheben habe, vgl. genauer Scherer 2014, 33-46. 16 Eckert 2009, 84.
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prinzipien des Fernsehspiels: Vor diesem Hintergrund diskutiert der Publizist Gerhard Eckert in seinem wirkungsmächtigen Buch Die Kunst des Fernsehens (1953) die Rolle des Programms als Abfolge von aufeinander abgestimmten Sendungen. Dazu bemüht er – das ist im Blick auf den bereits erwähnten Ursprung der modernen Populärkultur durch Massenadressierung um 1850 bemerkenswert – den Vergleich mit der Familienzeitschrift, die ebenfalls »Mannigfaltigkeit« in »nicht anstößige[r] Unterhaltung« mit »amüsante[r] Belehrung« verbinde.17 Eckert erklärt das Live-Prinzip zum eigenständigen ästhetischen Kennzeichen einer ›Kunst‹ im Fernsehen gegenüber dem Spielfilm. Diese Qualität kann dem Fernsehen zugewiesen werden, weil nur es ferne Vorgänge im Augenblick ihres Geschehens miterlebbar mache. Eckert fasst die Unterschiede zwischen Film und Fernsehen insofern produktionsästhetisch: Der »photoelektrische Entstehungsweg des Fernsehens« ist ein anderer »als der photomechanische des Films«, so dass »das Fernsehen eine andere Heimat als den Film hat«18 – »Das Fernsehen vermittelt seine Sendungen gleichzeitig mit ihrer Gestaltung im Studio«19; sein Vorzug gegenüber anderen Medien bestehe daher in der »Gleichzeitigkeit von Entstehung und Erlebnis«.20 Die ästhetischen Konsequenzen liegen auf der Hand: Das Live-Prinzip »erfordert eine langsamere, ruhigere, weniger aggressive Technik der Darbietung, als sie beim Film erforderlich ist«.21 Genau deshalb sollen die Erzählmethoden des Kinos nicht nachgeahmt werden: »Das Heim bleibt ein Heim«, und »Unterhaltung im Heim erfordert ihre besondere Art des Darbietungstempos«.22 Insofern ist das Fernsehen »keineswegs […] zum Verbreiter von Filmen« geeignet.23 Diese in der Fernsehdebatte der 1950er Jahre einflussreiche Unterscheidung prägt das Selbstverständnis des Fernsehspiels bei den Abgrenzungen zum Kinofilm, auf die vor allem die Fernseh-Verantwortlichen besonderen Wert legten: Wird der Film als »Bildkunst im engeren Sinne« angesehen, weil er »stets aus der epischen Bilderzählung wächst«, sei das Fernsehen »ohne Wort überhaupt nicht denkbar«. Diese Einsicht rückt das »Fernsehen näher an den Rundfunk als 17 Ebd., 82. Auch Scholz bringt in seinem Roman einen vergleichbaren Zusammenhang in der Engführung von Ernst Lubitsch mit der Gartenlaube auf (vgl. 301); siehe dazu den Beitrag von Stefan Scherer. 18 Ebd., 74. 19 Ebd., 75. 20 Ebd., 76. 21 René Clair: Réflexion faite, Paris 1951, zit. nach Eckert 2009, 79. 22 Roger Manvell: Drama on Television and the Film. In: BBC Quarterly 7 (1952), Nr. 1, 25ff., zit. nach ebd., 79. 23 Eckert 2009, 79.
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an den Film« heran24; sie markiert damit zugleich die Nähe des Fernsehspiels zum Theater. Eckert erkennt daher im Fernsehen eine ideale Form für den Schauspieler, der eine Entwicklung gestaltet: »Das Fernsehen gibt immer die Persönlichkeit als Ganzes, der Film gibt sie nur in Teilen«.25 Es erlaubt deshalb eine »Konzentrierung nach Art der Bühne«.26 »Der Film ist Massenerlebnis, das Fernsehen Individualerlebnis«.27 Auf dieser Basis kann Werner Pleister in seinem Aufsatz Deutschland wird Fernsehland (1953) den Kulturanspruch des Fernsehens behaupten, weil es keine Hypnose des Zuschauers anstrebe, sondern vielmehr sogar Kitsch ästhetisch entlarve.28 Auch vor diesem Hintergrund wird dem Fernsehspiel die Aufgabe angewiesen, mehr als bloße Unterhaltung zu bieten. Im gleichen Jahr 1953 wird die »Live-Ideologie« aber auch bereits kritisiert: so von Hans Gottschalk, dem späteren Leiter der Fernsehspielabteilung beim Süddeutschen Rundfunk (SDR), in seinem Beitrag Fernsehspiel und Fernsehfilm als Antwort auf Eckert.29 Spätestens mit der MAZ-Aufzeichnung seit Ende 1958 wird einsehbar, dass es zwischen der ›Kunst des Fernsehens‹ und dem Kinofilm keine prinzipiellen Unterschiede gibt: Im Bereich der »Sendeformen und Sendemittel« zeichneten sich, so Gottschalk bereits 1953, »zwei deutlich divergierende Tendenzen ab: die Tendenz zur Live-Sendung […] und die Tendenz, spezifische künstlerische Möglichkeiten des Fernsehens ausschließlich mit den Mitteln des Films zu realisieren«.30 Das künstlerische Prinzip des Fernsehfilms sei nicht abhängig von der Größe des Bildschirms. Zwar seien Totalen wie im Kino wegen des kleinen Bildschirms wenig sinnvoll; es gehe dabei aber nur um graduelle Unterschiede. Auch Gottschalk räumt die »besondere Intimität des ZuschauerBild-Verhältnisses beim Fernsehen« ein; im Live-Prinzip erfülle es sich aber keineswegs.31 Noch 1959 aber werden »gefilmte« Fernsehspiele wegen der ›Live-Ideologie‹ einerseits als »unerträgliche Überfremdung des Fernsehens« kritisiert, »die letz24 Ebd., 80. 25 Ebd., 81. 26 Ebd. 27 Ebd., 83. 28 »Es kann sein, daß das Fernsehen ein Mittel gegen die Schematisierung des Sehens wird. Jede Sorte Kitsch wirkt auf dem Bildschirm kläglich, jedes unkonzentrierte Spiel entlarvt den Spieler, jedes falsche Licht verwandelt sogleich den Schauplatz in eine Gespensterlandschaft. […] Sollte das Fernsehen vielleicht berufen sein, an dieser Neuentdeckung des Menschen mitzuarbeiten?« (Pleister 2009, 90f.). 29 Gottschalk 2009, 94. 30 Ebd. 31 Ebd., 96.
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ten Endes auch den Spielfilm beim Fernsehzuschauer in Verruf bringen« könne.32 Andererseits sieht man ein, dass die Hinwendung zu filmischen Produktionsweisen dem Fernsehspiel aus der Sackgasse helfe: »Das Fernsehen kann und darf auf den künstlerisch gestalteten Spielfilm nicht verzichten.«33 Für die Debatten über die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Kinospielfilm und Fernsehspiel ist neben dem ästhetischen Gesichtspunkt (Totale vs. Intimität)34 die Produktionsinstanz als Kriterium entscheidend. Selbst wenn Film und Fernsehen in den audiovisuellen Gestaltungsweisen keine grundsätzlichen ästhetischen Differenzen trennen, so macht die Aufmerksamkeit auf die Eigenlogik des Mediums, auch was die Differenz zwischen Film- und Seriendramaturgie angeht, plausibel, warum man auf einem Konzept von Fernsehspiel beharrt, das erst nach 1970 endgültig preisgegeben wird: die Kammerspielprinzip-Ästhetik. Umso höher ist daher die Leistung von Umgelters Mehrteiler zu bewerten, der zu den ersten Beispielen einer »Filmisierung des Fernsehspiels« gehört35 – und diese auch dadurch bezwingend macht, dass er szenenweise auf das Kammerspielprinzip zurückgreift, um sich davon zu unterscheiden.
32 Erich Link: Gefilmte Fernsehsendungen, ja – oder nein? In: Rundfunk und Fernsehen 7 (1959), 108-110; zit. nach Brück 2004, 72. 33 Horst von Hartlieb: Film und Fernsehen in den USA. In: Rundfunk und Fernsehen 5/2 (1957), 178; zit. nach Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003, 103f. 34 Das Fernsehspiel gewährt »›nahe Einblicke‹, während der Kinofilm ›weite Überblicke‹ verschafft« (Brück 2004, 71; zit. Hans Gottschalks Grundsätzliche Überlegungen zum Fernsehspiel von 1956). Das Fernsehspiel vermeidet deshalb die Totale genauso wie schnelle und komplexe Bewegungsabläufe. Die Abbildung des menschlichen Gesichts und die verhaltene Darstellung psychischer Zustände werden zum Ideal erklärt. »Die materielle Basis dieser Theoreme war das in der Tat noch relativ kleine Bildformat, aber auch die noch nicht voll entwickelte Bildauflösung sowie unausgereifte Aufnahme- und Beleuchtungstechnik« (Hickethier 1980, 42). 35 Hickethier 2007, 197. Diese Annäherung an den Film sei »bereits in den 60er Jahren angelegt« gewesen, setzt sich flächendeckend aber erst durch das zwischen den Fernsehanstalten und der Filmwirtschaft geschlossene Film-Fernseh-Abkommen (1974) durch. Ende der 1960er Jahre etabliert sich in diesem Rahmen auch das mehrteilige Erzählen durch Eberhard Fechner und Heinrich Breloer, wobei sich das Fernsehen nun »als eine Art Chronist der Mentalitäten von Gruppen und Schichten der Bevölkerung verstand« (ebd.). Bemerkbar wird dies z. B. an der mehrteiligen Verfilmung von Falladas Ein Mann will nach oben, die 1978 aufgrund ihrer neuartigen Televisualität als Serie das Fernsehereignis des Jahres war (vgl. Scherer 2012).
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Der Ernst der ›Aufheiterung‹ durch Populärkultur Bei Segeberg bleibt ein weiterer Aspekt unberücksichtigt, der im Spree-Komplex eine besondere Rolle spielt. Er betrifft die jeweils vermittelte Weltanschauung. Die medialen Ausgestaltungen erzählen nicht nur den gleichen Stoff, sondern sie ähneln sich auch in der Art und Weise, wie sie ›Welt‹ modellieren. Damit liefern sie den Rezipienten Deutungsmuster, mit denen die außerfiktionale in die eigene Lebenswelt eingeordnet werden kann. Im Spree-Komplex bezieht sich dies konkret auf die jüngere Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs, des Nationalsozialismus und des Holocaust sowie auf die deutsche Gegenwart im Zeichen der Teilung in Ost und West. Der Roman wie der Hörspiel- und der Fernsehmehrteiler vermitteln die Idee eines schicksalsbestimmten, zyklischen Laufs der Geschichte, in dem der Einzelne seine bestimmte Rolle zu spielen hat. Liebe, Unterhaltung und Genuss erscheinen in allen drei Varianten als legitime Mittel, das Unabänderliche erträglich zu machen, ohne damit die Opfer dem Vergessen zu überantworten. Im Medienkomplex machen alle drei Ausgestaltungen diese Weltanschauung wiederum über serielle Strukturen mit den je spezifisch zur Verfügung stehenden literarischen, akustisch-sprachlichen oder audiovisuellen Mitteln vernehmbar. Am Medienkomplex, der aus Scholz’ Roman hervorgeht, wird insofern nicht zuletzt offenkundig, wie ambivalent jenes semantische Feld ist, das man unter dem Populären bzw. Populärkulturellen aushandelt. Entscheidend ist, dass sich der Spree-Komplex selbst als ein Produkt der Populärkultur in der jungen Bundesrepublik präsentiert. Betrachtet man die Rezeptionsseite sowie die Verbreitungswege, so können alle drei Formvarianten nach diesem Verständnis kategorisiert werden: Der Roman wird schnell zum Bestseller, während das Hörspiel und der Fernsehmehrteiler über technisch basierte Massenmedien ein großes Publikum erreichen. Dem Argument der breiten Zugänglichkeit stehen aber die avancierten Verfahrensweisen sowie die intertextuellen, intermedialen und selbstreferenziellen Bezüge entgegen, mit denen alle drei Umsetzungen je eigene komplexe ästhetische Strukturen ausbilden. Schon der Roman bedient sich, indem er hochgradig intertextuell aufgeladen ist, verschiedener Verfahren aus dem historischen Repertoire der Höhenkammliteratur, indem er durch explizite wie implizite Verweise an bedeutsame Epochen der deutschen Literaturgeschichte anschließt (Details erschließen die Beiträge von Moritz Baßler, Roya Hauck, Hannes Gürgen, Antonie Magen und Stefan Scherer). Gleichzeitig stellen sich alle drei Formvarianten den üblicherweise damit verbundenen Rezeptionsformen entgegen, zumal sie auf ästhetischer Ebene trotz ihrer verfahrenstechnischen Komplexität die Zugänglichkeit nicht erschwe-
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ren – also keine Kontemplation im Sinne des traditionellen, bürgerlichen Kunstverdikts erfordern. Sie folgen vielmehr einer Unterhaltungsintention, die wiederum nicht in Zerstreuung aufgeht, weil die Darstellungen sehr ernste zeitaktuelle Themen und politisch relevante Fragen auch der jüngsten NS-Vergangenheit eben nicht ausblenden oder gar so ›verdrängen‹, wie es in den 1950er v. a. im Kinofilm gängig war. So konfrontieren alle drei Ausprägungen LeserInnen, HörerInnen und ZuschauerInnen mit einer emotional extrem berührenden Sequenz, in der drastisch eine massenhafte Judenerschießung dargestellt wird, bevor sie in einem Prozess der ›Aufheiterung‹ (vgl. 284) den Blick auf die vergnüglichen Seiten des bundesdeutschen Wirtschaftswunders auch im Vergleich mit der kritisch gesehenen DDR lenken (zu diesem ›Leichter werden‹ siehe den Beitrag von Moritz Baßler). Die Shoa wird darin eben nicht ›verdrängt‹, sondern vielmehr sogar auf eine derart schockierende Weise gestaltet, dass diese Darstellung gegenüber Adornos so berühmtem wie triftigem Einwand, Auschwitz sei ästhetisch nicht zu gestalten, tatsächlich legitim erscheint. Insgesamt verhält es sich dabei vermutlich so, dass diese Passage, für die sich die überschaubare Forschung zum Spree-Komplex bislang vor allem interessiert hat, in der Literatur und Medienkultur der 1950er Jahre sogar einzigartig dasteht. Dennoch macht Am grünen Strand der Spree deutlich, was Kelleter zum Kennzeichen einer populären Ästhetik erklärt: Sie »unterscheidet sich [...] von privat-alltäglicher oder bildungskultureller Ästhetik [...] im unterschiedlichen Grad der Explizitheit, mit der sie die eigenen ästhetischen Operationen als solche markiert und zum Zweck der Selbstbeschreibung positioniert«.36 Allem voran ist es Scholz’ Roman, der durch Abgrenzung poetologisch auf seinen kulturellen Ort verweist: Trotz seiner Versiertheit lehnt er alles Elitäre hoher Kunst entschieden ab, wenn er den Übergang vom Schweren zum Heiteren literarisch ausgestaltet. Vorliegender Sammelband geht den hier skizzierten Zusammenhängen in literatur- wie medienwissenschaftlichen und kulturhistorischen Perspektiven nach. Seine Anlage orientiert sich an der Veröffentlichungsgeschichte der drei Fassungen, so dass in der Abfolge der Beiträge vom literarischen Text über das Hörspiel bis zum Fernsehmehrteiler der multimediale Komplex deutlich werden soll. Vertieft werden die jeweiligen Ausgestaltungen des Spree-Zyklus innerhalb der Sektionen, indem die Beiträge ästhetische Charakteristika, Unterschiede und immanente Voraussetzungen in den medienspezifischen Formvarianten diskutieren.
36 Kelleter 2012, 14.
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Jede Sektion eröffnet mit einem Beitrag, der die drei Umsetzungen in ihrem literatur- bzw. mediengeschichtlichen Kontext der bundesdeutschen Nachkriegszeit verortet. Innerhalb des damit gespannten Rahmens widmen sich nachfolgende Analysen spezifischeren Fragestellungen in Bezug auf ästhetische Verfahrensweisen und Diskurse. Der Sammelband versucht damit, die von der zeitgenössischen Kritik bereits gelobte Vielschichtigkeit von Roman, Hörspiel und Fernsehmehrteiler im Detail herauszuarbeiten: hergestellt nicht zuletzt durch intertextuelle und intermediale Verweisstrukturen auch im Blick auf andere Künste. Zu nennen sind hier die Architektur, das Theater, die Musik oder die Malerei (u. a. im Bezug auf das von Lessing begründete Laookon-Regime oder auf Botticellis Geburt der Venus) neben den durchgespielten Genre-Varianten etwa im Rekurs auf den Künstlerroman. Dabei werden auch mentalitätsgeschichtliche Überlegungen wie die persiflierte Italiensehnsucht der Deutschen oder der historisch zu fassende Alkoholkonsum in den 1950er Jahren nicht ausgeklammert. Im Unterschied zu den bisherigen Forschungsbeiträgen werden diese Aspekte bis hin zum literatur- und medienkulturgeschichtlichen Ort der drei Ausgestaltungen stärker an Werkstrukturen geknüpft, d. h. aus den je medienspezifischen ästhetischen Gestaltungsweisen abgeleitet.
Quellenverzeichnis Primärquellen Primärliteratur Scholz, Hans: Am grünen Strand der Spree. So gut wie ein Roman, 3. Auflage, Hamburg 1955. Hörspiel Am grünen Strand der Spree, R.: Gert Westphal, Lothar Timm, D: Hans Scholz, BR Deutschland 1956, Fassung: CD, Studio Hamburg Enterprises GmbH 2013, 407 Minuten. 1. Einer fehlt in der Runde, 21.8.1956. 2. Der O I spielt Sinding, 24.8.1956. 3. Die Chronik des Hauses Bibiena, 28.8.1956. 4. Kastanien und märkische Rüben, 31.8.1956. 5. Kennst du das Land? 4.9.1956.
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Fernsehfilm Am grünen Strand der Spree, R.: Fritz Umgelter, D.: Reinhart Müller-Freienfels/Fritz Umgelter, BR Deutschland 1960, Fassung: DVD, Studio Hamburg Enterprises GmbH 2013, 500 Minuten. 1. Das Tagebuch des Jürgen Wilms, 22.3.1950. 2. Der General, 5.4.1960. 3. Preußisches Märchen, 19.4.1960. 4. Bastien und Bastienne 1953, 3.5.1960. 5. Capriccio Italien, 17.5.1960. Sekundäriteratur Ächtler, Norman: ›Entstörung‹ und Dispositiv – Diskursanalytische Überlegungen zum Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik. In: Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. von Carsten Gansel und Norman Ächtler, Berlin/Boston 2013, 57-81. Adam, Christian: Der Traum vom Jahre Null, Autoren, Bestseller, Leser. Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945, Berlin 2016. Ders.: Hans Scholz: Am grünen Strand der Spree (1955). In: HolocaustZeugnisLiteratur. 20 Werke wieder gelesen, hg. von Markus Roth und Sascha Feuchert, Göttingen 2018, 99-106. Brück, Ingrid: Alles klar, Herr Kommissar? Aus der Geschichte des Fernsehkrimis in ARD und ZDF, Bonn 2004. Dies./Andrea Guder/Reinhold Viehoff/Karin Wehn: Der deutsche Fernsehkrimi. Eine Programm- und Produktionsgeschichte von den Anfängen bis heute, Stuttgart/Weimar 2003. Eckert, Gerhard: Die Kunst des Fernsehens [1953]. In: Texte zur Theorie und Geschichte des Fernsehens, hg. von Michael Grisko, Stuttgart 2009, 74-84. Faulstich, Werner (Hg.): Die Kultur der 50er Jahre, 2. Aufl., München 2007. Ders.: Die dominanten Medienkulturen der 20er Jahre. In: ders.: Die Mediengeschichte des 20. Jahrhundert, München 2012, 91-132. Frank, Gustav/Scherer Stefan: Textur der Synthetischen Moderne (Döblin, Lampe, Fallada, Langgässer, Koeppen). In: Poetologien deutschsprachiger Literatur 1930-1960. Kontinuitäten jenseits des Politischen, hg. von Moritz Baßler, Hubert Roland und Jörg Schuster, Berlin/Boston 2016, 77-104.
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I. »So gut wie ein Roman«: Hans Scholz’ Bestseller (1955)
Leichter werden Zu Programm und Struktur von Hans Scholz’ Roman Am grünen Strand der Spree Moritz Baßler
I »Uns kann nicht leicht sein« heißt ein Gedicht von Ernst Meister aus dem Jahre 1958. Uns kann nicht leicht sein. Zuviel ist Totenbesitz. Vor mancher Blume gilt ein Verneigen. Die Rosen zum Beispiel. Hinter den Blüten wahrscheinlich ein Spähn. Man muß vorübergehn Im Sichverneigen.1
Es sind die Modalverben, die hier Aufschluss geben über die gemischten Gefühle einer, emphatisch gesprochen, Lyrik nach Auschwitz oder eben einfach einer Literatur, die in den 1950er Jahren ausdrücklich im Bewusstsein der deutschen Verbrechen in der jüngsten Vergangenheit entsteht: »Uns kann nicht leicht sein. / […] Man muß vorübergehn«. Aus dem kollektiven Nicht-Können wird ein irgendwie fremdbestimmtes Müssen, ein il faut. Das Problem entsteht im Um-
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Meister 1958, 84.
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gang mit den klassischen Gegenständen einer positiven Dichtung: dem Schönen und der Liebe, hier topisch in den Rosen allegorisiert. Dieser Umgang steht sozusagen unter Beobachtung, unter Verdacht, hier etwas zu leicht zu nehmen und den Toten, an deren Schicksal man womöglich mit Schuld trägt, nicht den nötigen Respekt zu erweisen. Die lyrische Instanz steht dabei im Plural »uns« – uns Deutschen? Uns Dichtern? Die komplexe Haltung, die sich hier artikuliert, changiert irgendwo zwischen innerer Geltung, verantwortlicher Selbstverpflichtung und dem Sich-Beugen vor einer Gessner-haften Instanz der Fremdbeobachtung. Was geschieht aber, wenn der Plural zum Singular wird, die kollektive Verpflichtung zur individuellen Existenzkrise oder – generisch gesprochen – das Allgemeine der Lyrik zum Partikularen der Epik? In Hans Scholz’ Roman Am grünen Strand der Spree von 1955 ist sehr konkret Hans-Joachim Lepsius betroffen, Major i. G. a. D., der als Spätheimkehrer und Kriegsversehrter von seiner Frau verlassen wird; die Diagnose seines etablierten Vetters Dr. Brabender lautet »Totalkollaps« (8)2: »diese Art Leute bewähren sich am Wolchow nicht übel, wenn sie auch ersichtlich das ceterum censeo mit allen Konsequenzen der Gegenseite zu vollstrecken überließen, nicht wahr, … aber in eigener Sache: völlige Hilflosigkeit. Geht wahrscheinlich zu Lasten der Gefangenschaft.« (10)
Solcherart ins Konkrete geholt, sieht die Sache gleich etwas anders aus. Auch Lepsius kann unter diesen Umständen nicht leicht sein, seinen Freunden aber kann es gerade nicht darum gehen, diesen Zustand zu verstetigen. Das Programm für den Herrenabend, den Dr. Brabender beim Ich-Erzähler Hans Schott anregt, lautet also im Gegenteil: »Hauptsache, daß er zunächst mal auf andere Gedanken kommt.« (11) Schott, seines Zeichens einziger Vertreter der »›Schott-Werbefilm‹ in der Meineckestraße 12 a« (7) in West-Berlin, versteht und resümiert: »Also Fazit: Vier-Herren-Abend im Jockey, Vier-Mann-Symposion, Beginn acht Uhr. Mit Vorlesen als erstem Programmpunkt.« (12) Und mit Freigetränken, denn »Symposion« wird wörtlich genommen und Brabender zahlt. Damit steht der Rahmen für die 370 Romanseiten: Ein klassischer Novellenkranz unter CocktailbarBedingungen – »Boccaccio in der Bar«, titelte der Spiegel damals3 – mit dem
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Seitenangaben im Fließtext folgen der Ausgabe: Scholz 1955.
3
N. N. 1956, 44.
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übergeordneten und ausdrücklichen Programm: Uns – und insbesondere Major i. G. a. D. Hans-Joachim Lepsius – soll leicht werden. II Das geht schon los mit der Art, wie hier gesprochen wird. In der Rahmenerzählung sind die Dialoge gelegentlich dramenartig gesetzt, man verständigt sich in einem zitat- und anspielungsreichen ironischen Konversationston. Wie Dr. Brabender, genannt die »Mummi«, der selbst »nicht Soldat« war (9), hier am Telefon über den Leningrader Kessel spricht, mit flapsigen Resten des Gymnasiallateins durchsetzt – bereits diese Art von schnoddriger Leichtigkeit dürfte im Umfeld der Gruppe 47 allergische Reaktionen ausgelöst haben. Joachim Kaiser urteilte denn auch zeitgenössisch, »dies erfolgreiche Buch [gehört] nicht neben Remarque und Böll, die unbeirrbar Forderungen stellen, sondern es gehört neben Ernst von Salomon und seinen intelligent-zynischen Fragebogen«.4 Diese Einordnung ist so vielsagend wie perfide: Ernst von Salomon, Jahrgang 1902, war in der Weimarer Zeit ein rechter Freicorpskämpfer gewesen, u. a. beteiligt am Rathenau-Mord, und erzählt neusachlich-autobiographisch aus dieser Zeit in Romanen wie Die Geächteten (1930). 1951 feiert er seinen größten Erfolg mit Der Fragebogen, einem Buch, das den Entnazifizierungsbogen der Besatzungsmächte in Romanform ausfüllt und dabei, statt Reue zu zeigen und Humanismus zu predigen, Anklage gegen Misshandlung durch die Amerikaner erhebt. Dabei ist Salomon, selbst kein Nazi, unbestritten ein brillanter Erzähler, der sein Leben lang bei Rowohlt publizierte, dabei aber nie E-Literatur-Pathos verströmt, sondern auch mit der Unterhaltungs-Filmbranche des Dritten Reiches und der Bundesrepublik assoziiert ist. Unter anderem verfasste er die Drehbücher zur 1954 erschienenen Verfilmung von Hellmut Kirsts 08/15 (Regie: Paul May, Hauptrolle: Joachim Fuchsberger). Beide Assoziationen, sowohl die intellektuelle Verweigerung einer ›Stunde Null‹ als eines kompletten ethischen Neubeginns (›unbeirrbare Forderungen‹) als auch das Sich-Hinwegsetzen über die E/U-Grenze in der künstlerischen Produktion, das ja auch die Protagonisten bei Scholz programmatisch praktizieren, werden im Umfeld der Gruppe 47 nicht goutiert. Kaiser liest Scholzens Ton als zynischen. Im Kontext von Am grünen Strand der Spree allerdings soll dieser Ton, so wie der gesamte Freundeskreis aus der Jockey-Bar, an einen Berliner Vorkriegs-Modus aus den ›goldenen Zwanzigern‹ wieder anknüpfen; »the novel, to some degree, attempts to salvage Berlin’s
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Kaiser 1956, 375.
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sophisticated urban culture«, wie Norbert Puszkar es ausdrückt.5 Und dazu gehört neben der Liebe zum Jazz, zum Sport, zum Film, zu Frauen und Alkoholika eben auch eine gewisse Nonchalance des Diskurses, wie sie die Freunde im Rahmenteil des Romans performieren. »Und sage mal … wie steht es mit dem Frauenmaterial?«, erkundigt sich Brabender telefonisch im Laufe des Abends. »Ich: Wo hast du denn den Ausdruck her, du junger Ehemann? Dr. B.: Aus meiner narbenreichen Vergangenheit als Junggeselle. Ich: Frauenmaterial is nich. Wurde auch bisher nicht benötigt.« (222)
Sobald das vergangene Kriegsgeschehen von dieser Art von Diskurs erfasst wird, gerät die Ironie zweifellos in die Nähe des Zynismus, so wenn das Kriegsende öfters als »Endsieg« apostrophiert wird, oder in folgender Szene zwischen dem einbeinigen Koslowski und dem Pianisten Česnick: »Die beiden Benannten reichten sich die Hände. ›Sie gestatten, daß ich sitzen bleibe‹, sagte Koslowski dabei, ›mein eines Bein ist Nachkriegsware.‹ – ›Sie gestatten, daß ich in dieser Sache kein Auge weiter zudrücke‹, gab Česnick zurück, ›sintemalen mein linkes aus Glas ist.‹ – Daraufhin schüttelten sich beide abermals die Hände. Und Heymann, indem er sich zu uns setzte, rief: ›Darauf einen Dujardin!‹« (282)
Man könnte sich eine Literatur vorstellen, in der diese Szene die darin Vorkommenden karikiert. Bei Scholz aber erweisen sich der DDR-Bürger Koslowski und der Musiker Česnick, die beide nicht zum engeren Jockey-Kreis gehören, durch den hier angeschlagenen Ton als adäquate Mitstreiter, die denn auch ihre Geschichten erzählen dürfen, und kaum zufällig wird das durch einen Werbespruch besiegelt. Was nach amoralischem Zynismus aussieht, ist ein in Anführungszeichen geführter Diskurs intellektuell-urbaner Herzlichkeit, der – so die These des Buches – allein in West-Berlin noch seinen Ort hat. Im Osten ist freie Rede nicht gestattet, und Westdeutschland wird als sattes, kapitalistisches Wirtschaftswunderland charakterisiert, in dem Ex-Nazis wie der im letzten Teil auftretende Direktor Gatzka reüssieren. III Betrachtet man näher, wie der Roman seine Versuchsanordnung durchführt, so fallen zunächst einige sehr bewusst inszenierte manifeste Widersprüche auf.
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Puszkar 2009, 313.
Leichter werden | 33
Nach dem Ende des ersten Rahmenteils, der mit den Worten »reklameglitzernden Straßen« endet (13), präsentiert der Text zunächst kommentarlos fünf Seiten Kriegstagebuch aus Polen, datiert auf den Juni und Juli 1941. Sie sind zum einen durchsetzt mit Authentizitätsmarkern, die Quelle betreffend, Einschüben wie »Text verwischt« oder »Blatt eingerissen und unleserlich« (16f.), auch ein Brief wird eingefügt – der Roman reflektiert hier also mediale Aspekte. Zum anderen sind sie durchsetzt mit Verweisen auf die Misshandlung der polnischen Juden, deren Massenvernichtung in der Tat in diesen Monaten ihren Anfang nahm. Erst nach diesen fünf Seiten wird die eigentliche Rahmenerzählung zwischengeschaltet, wir befinden uns in der Jockey-Bar und der Abend läuft ganz offensichtlich nicht wie geplant: »Mir schien, als flösse das Gespräch nicht recht. Man vermied Fragen zu stellen, die Vergangenes hätten berühren müssen, aber daß man sie ungestellt ließ, war nicht eben förderlich.« (21)
Solche Stellen sind immer auch poetologisch zu lesen. Hier zeigt sich, dass die Einführung der Figur des erst vor drei Monaten aus Russland heimgekehrten Lepsius nicht nur in eine Richtung, Richtung Aufheiterung weist. Seine Unvertrautheit mit den Nachkriegszuständen zwingt vielmehr auch die längst in diesen Etablierten zu erneuter Reflexion und Rechtfertigung ihrer Gegenwart, vom Medienwechsel von Literatur und Theater zu Werbung und Film, den sie biografisch verkörpern, bis hin zur Wiederbewaffnung. »Man ist prinzipieller Kriegsgegner«, bemerkt z. B. Arnoldis, »aber, bei Lichte besehen, mehr des vorigen Krieges als des nächsten.« (21) Wenn das Zynismus ist, dann im Publikationsjahr 1955 jedenfalls ein aktuell entlarvender. Das Tagebuch nun, aus dem Lepsius dann weiter vorliest, stammt von einem in Russland verschollenen Angehörigen des Jockey-Kreises namens Wilms, und es wird im weiteren Verlauf die krasseste und unverblümteste Darstellung eines Baby-Jar-artigen Massakers an Juden erzählen, die es bis dato in der deutschen Literatur zu lesen gab. Damit definiert das Romanprojekt von Scholz hier für sich selbst eine enorme Fallhöhe: Uns soll leicht werden, ja, aber eben keinesfalls um den Preis des Verschweigens. Ausgangspunkt des Romans – und übrigens auch der späteren Fernsehserie – ist die Judenvernichtung in ihrer vollen Schwere. (Vernichtungslager wie Auschwitz kommen allerdings nur in Anspielungen vor.6) Da gibt es keine Kompromisse: »Ohne besonderes Murren«, schreibt der Spiegel 1956, »hat Scholz seinen Beinahe-Roman mehrmals umge-
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»Jemand bemerkte: ›Zijeuner jibt’s keene mehr. Di hat Adolf verjast.‹« (182)
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schrieben, ehe der Verlag zufrieden war. Nur als ein Lektor zur Schonung bundesbürgerlicher Nerven – wie Scholz sagt – ›die Juden rausschmeißen‹ wollte, blieb der Autor unnachgiebig.«7 Und dennoch wird angesichts dieser Schrecken und dieser Schuld das Projekt der Aufheiterung nicht aufgegeben. Das ist das Skandalon dieses Romans, und darin liegt auch seine Einmaligkeit, wenn nicht Größe. Der entsprechende Double Bind prägt Am grünen Strand der Spree vom Anfang bis zur letzten Seite. Man sieht das schon an den zwei klaren Vorgaben, die für den Abend gelten: »Thema Ehe und Ehefrauen wird gebeten, heute möglichst nicht anzuschneiden« (22), instruiert maître de plaisir Schott seine Mitstreiter in Rücksicht auf Lepsius’ aktuellen Zustand. Und nach der finsteren Tagebuch-Lesung bittet er darum, im Sinne des Zweckes, den Major »auf die freundlicheren Grade des Zivillebens wieder hinaufzuschrauben«, nicht weiterhin »Kriegsgeschichten aufzuwärmen«: »Bei allem Respekt, ich fand die Aufzeichnungen unseres guten Jürgen Wilms schon ein Äußerstes als Beitrag zum Zwecke des Abends. Eine Geschichte dieser Art ist vollauf genug … Herr Ober, die Festleitung hält es für angemessen, allmählich zum Sekt überzugehen. Eine Henkell-Trocken und eine zweite auf Eis bitte. Und bis das soweit ist, vorher jedem noch einen Canadian!« (69f.)
Die klare intradiegetische Vorgabe lautet also: keine Kriegs- und keine Liebesgeschichten! Tatsächlich aber handeln alle im Rahmen des Symposions dargebotenen Geschichten genau davon, vom Zusammenhang von Krieg und Liebe. Darüber hinaus wird der Abend im weiteren Verlauf sogar noch eine Ehe stiften, wenn auch nicht für Lepsius – das wäre Kitsch –, sondern zwischen Koslowski und der lange Zeit großen Abwesenden des Abends, der von allen angehimmelten Barbara Bibiena. IV Der Roman hat die Struktur eines Novellenzyklus8; die einzelnen Beiträge der Erzähler sind in das fortschreitende Trinkgeschehen in der Jockey-Bar eingebettet. Vergleichen wir den ersten mit dem letzten Beitrag des Abends, wird die Spannweite deutlich. Die aus Russland geschmuggelten Tagebuchblätter des Jürgen Wilms, die Lepsius vorliest, tragen wie gesagt alle literarischen Authen-
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N. N. 1956, 45.
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Vgl. Heck/Lang 2018.
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tizitätsmarker des Dokumentarischen. Sogar auf Fotos wird ausführlich Bezug genommen, die allerdings dem Konvolut nicht beiliegen. Diese erste Binnenerzählung sagt mit allen verfügbaren Verfahren: Hier wird die historische Wahrheit vermittelt. »Ich will dem Jahrhundert ins Gesicht sehen, Herr Hauptmann«, erklärt Wilms denn auch, bevor er sich zu den Erschießungen begibt. Dass diese ausdrücklich gewollte Zeitzeugenschaft allerdings bereits im Modus der Fiktion erfolgt, reflektiert der Text in der Antwort des Hauptmanns: »Hm … Klingt ja mächtig. Bühnenreif sozusagen … Sie schreiben wohl neuerdings, was? … Halber Dichter? …« (54) Tatsächlich wechselt, sieht man genauer hin, ungefähr ab dieser Stelle das Tagebuch seinen Charakter. Die Erschießungen selbst werden in einem Inneren Monolog mit zahlreichen Gedankenpünktchen dargestellt, wie man sie schon von Schnitzlers Leutnant Gustl her in diesem Modus kennt. »Ein Peitschenschlag. Einzelfeuer. Zwei schwarze Zöpfe fliegen mit einem Ruck nach vorn. Und die gefällte Gestalt tut einen plumpen Sprung von der Stufe hinab wie in ein Bassin. Schwimmerin ohne Hoffnung. Lebt nicht mehr … Immer fein säuberlich Schicht auf Schicht. Sephardimtyp: schwarz, stolz, schlank, glühend, spanisch, maurisch, elfenbeinern: Suleika. Beardsley ist ein maurischer Zeichner … Ich liebe dich, ich liebe dich wieder. I love you again, bei mir biste scheen … Da steht ein Herr an der sandgelben Arena und zerreißt langsam Juttas photographisches Abbild. Ist das die Möglichkeit? Da fliegen Juttas persilweiße Shorts und braune, glänzende Schenkel. War blond. Da fliegt Juttas rechter Fuß in der hohen Korksandalette … Brauchst nicht betrübt sein ob deiner Füße … Aber ist doch Größe vierzig … Aber liebes Dummchen, du bist doch groß und prächtig, das stört doch keinen … Zerreißt hier Photos, und das stört keinen. Das Baby klagt in der Grube, und die Schlange klagt …« (60f.)
In wilder Gedankenflucht vermischen sich die gegenwärtigen Bilder des Massenmords in einem stream of consciousness mit Erinnerungen an Wilms’ frühere jüdische Geliebte Esther; sich selbst sieht er dabei von außen, in dritter Person, wie er das Foto seiner blonden, linientreuen Verlobten Jutta über der Grube zerreißt. Intermittierend erscheinen Verordnungstexte und Verse aus dem jüdischen Swing-Klassiker Bei mir biste scheen. Das ist mit Sicherheit keine Tagebuchprosa mehr. Vielmehr erreicht Scholz’ Textur an dieser Stelle die größte Nähe zu avantgardistischen Schreibweisen der emphatischen Moderne. Zurück in der Rahmenhandlung nimmt die Jockey-Band das Thema von Bei mir biste scheen auf und die Gespräche der noch nüchternen Runde kreisen um ernste Themen wie das an den Deportationen beteiligte Nationalsozialistische
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Kraftfahrtkorps (NSKK), die Entnazifizierung, juristische Aspekte der Verurteilbarkeit der NS-Verbrechen und das Verhältnis des NS-Staats zur preußischen Tradition. Am grünen Strand der Spree bekommt an solchen Stellen Züge eines Diskursromans, in dem fiktive Figuren echte historische Diskurse führen. Wie in der Binnenerzählung geht es dabei um historische Wahrheit – folgende Äußerung Hesselbarths z. B. dürfte auch Textmeinung sein: »Wie es denn überhaupt das Dritte Reich falsch deuten hieße, wenn man in ihm eine entsetzliche Sublimierung preußischen Wesens sehen wollte. Das oberdeutsche Element überwog geistig wie personell. Unter dem Beifall aller Provinzialisten und Separatisten deklarierten die Alliierten den Staat Preußen zum Alleinverlierer eines Krieges, der in den Bräukellern zwischen Braunau und dem Stachus, zwischen Tutzingen und Schwetzingen, dem fränkischen Bratwurstglöcklein und den Sonneberger Puppen bis nach Zwickau hin ausgeheckt wurde. Man widerlege dies!« (68)
Radikal konträr dazu gibt sich die letzte Binnenerzählung des Romans, eine heitere erotische Tändelei in drei sogenannten ›Akten‹, angesiedelt in Italien. Erzähler ist der inzwischen stark angetrunkene Schauspieler Arnoldis, der seinem Auftrag – »›Au ja!‹ rief Lepsius. ›Lüg mal, pardon, lügen Sie mal recht schön!‹« (302) – in Form einer spontan improvisierten Geschichte nachkommt. Als ein westdeutsches Fabrikantenpaar, das nach einem Autounfall auf seinen Wagen warten muss, zur Runde stößt, Dr. Gatzka und sein Katzilein, genügen Arnoldis ein paar Bemerkungen der Gattin über ihr voreheliches Leben in einer Villa bei Florenz, um eine komplett erfundene erotische Geschichte zu erzählen – »›Wahrheitsgehalt gleich Null!‹ rief Lepsius« (358). Der Clou besteht darin, dass Arnoldis dabei so brillant improvisiert, dass Katzi am Ende nicht abgeneigt ist, sich in der Protagonistin Cornelia tatsächlich selbst wiederzuerkennen, was ihren Mann sehr verstimmt. Noch die dickst aufgetragene Lüge kann also als Wahrheit durchgehen. Dazu passt auch die Pointe der Italiengeschichte selbst, in der nicht der erotisierte Ich-Erzähler mit Gitarre, sondern ein schneidiger Italiener in schwarzer Uniform, der angeblich unmittelbar vor seinem Kriegseinsatz in Libyen steht, die schöne Cornelia erobert. »Kriegsausbrüche muß man nutzen« (348), belehrt dieser den Düpierten am nächsten Tag, die Uniform habe er deshalb vorsorglich aus Cinecittà entliehen, in den Krieg wolle er jedoch keinesfalls ziehen, denn: »Unter uns gesagt, Helden sind impotent … oder werden es.« (350). Diese finale Geschichte bewirkt in der Runde allgemeine Heiterkeit und Gesang, der sich als Vergessen tarnt. Auf eine Nachfrage Dr. Gatzkas, der als einziger not amused ist, zur Identität der Figuren heißt es: »›Hick!‹ machte der
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Intrigant. ›Müssen entschuldigen … hick! … aber wir trinken jetzt seit elf Stunden…‹« (353)9 V In der Tat hat man an dieser Stelle einen langen Weg zurückgelegt von der dokumentarisch beglaubigten, verfahrenstechnisch aufwändigen Baby-Jar-Szene, die für Wilms zum Anlass wird, sein Verhältnis zu den zwei Frauen in seinem Leben zu reflektieren, einer Jüdin und einer ›Arierin‹ (in deutlicher Nähe zu Celans Todesfuge von 1948 – »dein goldenes Haar Margarethe / dein aschenes Haar Sulamith«); von der Parallelführung von zerschossenen Frauenkörpern in der Grube und dem zerrissenen Foto Juttas zu den geradezu über-intakten Körpern der erotischen Urlaubskomödie. Zweifellos ist Leserinnen und Lesern am Ende ›leichter‹, aber das Niveau des Romans hat unterdessen bei aller konsequenten Verheiterung des Tons nicht nachgelassen. Unterschwellig bleibt aufgrund kleiner Details der Zusammenhang stets bewusst: Es sind dem improvisierenden Arnoldis zugesteckte Details ausgerechnet von Juttas Italienurlauben aus der Binnenerzählung um Jürgen Wilms, die ihn sein Lügengewebe glaubhaft spinnen lassen. Umgekehrt erinnert Wilms sich während der Erschießungen an einen unbeschwerten Frankreichurlaub mit der jüdischen Geliebten. Um ein weiteres Beispiel zu geben: Ein Versprecher Dr. Gatzkas lässt offenbar werden, dass dieser im NSKK eine Rolle gespielt hatte, sein entnazifiziertes Leben also auf Lüge beruht. Und das gilt ganz explizit (»lügen Sie mal recht schön!«) ja auch für die erreichte Heiterkeit der Runde und ihrer Narrationen selbst, noch dazu ermöglicht durch elfstündige konsequente Einnahme der Droge Alkohol. »Die Musiker waren auf den Vorkriegs-Pasodoble verfallen: ›Es ist alles Komödie, es ist alles nicht wahr … ‹«, heißt es im Text (364). Und ganz am Schluss lobt Arnoldis eine morgendlich flötende Amsel10 mit den Worten »wir brauchen Trost.« (368) In vielen Details verweisen so der Anfang auf das Ende voraus und das Ende auf den Anfang zurück. Am grünen Strand der Spree ist bei aller angestrebten Leichtigkeit ein durchaus dicht gefügter Text. Geht man von der Italien-Episode eine Binnenerzählung zurück, so findet man eine Geschichte aus einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager in der
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Man könnte bei der Lektüre dieses Romans die Praxis übernehmen, die sich bei Kultfilmen wie WITHNAIL & I (1987) etabliert hat, und mittrinken, was die Personen in der Diegese jeweils konsumieren.
10 Das Amsel-Motiv ist über Robert Musils gleichnamigen Text Die Amsel (1928) mit Krieg und Liebe verbunden.
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Champagne. Auch hier findet sich das Thema ›erotische Faszination durch Uniformen‹, hier allerdings von Frauen in Uniform auf die Kriegsgefangenen – »Zauber der Travestierung« (289). Vor allem aber geht es hier ausdrücklich um die Leichtigkeit der Improvisation, wie Arnoldis sie dann literarisch vorführen wird. Der Erzähler Česnick, ein Musiker, lernt sie hier von den Amerikanern, als diese ihn in der Lager-Jazzband engagieren. »Ich kann Ihnen sagen, man konnte von den Leuten nur lernen.« (291) Das gilt insbesondere für ihre Haltung zur eigenen Kunst, wie sie ein brillanter Schlagzeuger der Amis an den Tag legt: »Wie gesagt, der knatterte nur so um sich … Und wissen Sie, was der sagt … mal, als er sich so richtig ausgegeben hatte, alles, was raus wollte, sagt er: That’s all, I can do for you! Und lacht mich an…« (291)
Entsprechend hat »die ganze story« denn auch, trotz des Lager-Settings, ein explizit so genanntes »happy end«, »wie Lubitsch der Große, ›Gartenlaube‹, fünfundachtzigster Jahrgang. Aber Breitleinwand, sage ich Ihnen.« (301) Das ist alles poetologisch zu lesen, als Anknüpfung an eine große Unterhaltungstradition, die trotzdem Schweres adäquat verarbeiten kann, wie der aus Berlin stammende jüdische Hollywood-Regisseur Ernst Lubitsch in TO BE OR NOT TO BE (1942) die Annexion Prags. Bezeichnend auch, dass Česnick selbst seine Geschichte, der besseren Wirkung willen, mit offenem Ende erzählt und das Happy End erst nachgetragen werden muss; die ›Lüge‹ der Fiktion verschweigt hier also gerade das gute und nicht etwa das schuldhaft-schlechte Wahre. Das ist raffiniert gemacht! Setzen wir dagegen nochmal vorn an und gehen von Wilms’ Tagebuch aus ein, zwei Binnenerzählungen weiter, der Maler Hesselbarth ist jetzt mit Erzählen dran, so sehen wir zunächst die ebenfalls noch finstere Geschichte eines russischen Mädchens, mit dem sich der Erzähler anfreundet und die schließlich als Partisanin erschossen wird. Dann folgt jedoch, ganz nach Programm, eine Geschichte aus Norwegen, »zweifellos weniger düster, wenn auch nicht eigentlich rosig« (86), in der man die Partisanin und ihren Liebhaber laufen lässt. Lepisus’ Frage am Ende lautet: »Sie gestatten, daß ich frage, Hesselbarth, ist das denn nun ein Drehbuch?« (125). Hesselbarth setzt ihm auseinander, hier handle es sich um ein Rohdrehbuch, einen Filmstoff in Novellenform, womit sich die Reflexion des Textes auf die Medien und ihr Verhältnis zur historischen Wahrheit konsequent fortsetzt. Das Happy End zwischen der schönen Norwegerin und dem Deutschen ist hier jedenfalls auch den Verkaufsabsichten an internationale Filmstudios zu verdanken. (Die Nachfrage nach fiktionalen Kriegs- und Liebesgeschichten sei international erheblich, wie Arnoldis bemerkt: »Tatsächlich, ich
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komme aus Uniformen gar nicht mehr raus, und zwar erfreue ich mich da meist derartiger Ranghöhen, daß ich von Majoren – Film-Majoren natürlich – nur so umspielt bin«, 20f.). VI Soweit folgt also die Anordnung der Binnenerzählungen, stimmig korreliert mit dem alkoholinduzierten Lockerungsprozess des Rahmens, dem Programm der Aufheiterung und des Leichterwerdens. Weniger deutlich fügen sich die mittleren Passagen des Romans ins Schema, die von Hesselbarth kolportierte historische Erzählung aus dem Siebenjährigen Krieg, die von ihm verlesenen Briefe Babsibys, Schotts Bericht aus Markgrafpieske in der »Ostzone« sowie Koslowskis Geschichte von ebendort. Hier scheint eine zweite, etwas andere Poetologie am Werk, die des »Geschichtengewebes« oder, in Koslowskis Worten, die »stufenweise Durchwirkung der Verschollenheiten mit Fäden der Gegenwart« (235). Der rote dieser Fäden ist dabei – cherchez la femme – die erwähnte Barbara Bibiena. Die historische Binnengeschichte erzählt von ihrem chilenischen Vorfahren Ettore, der 1759 in die Schlacht von Kunersdorf gerät und dort von einem Sterbenden, Wenzel von Zehdenitz, Grüße aufgetragen bekommt, die ihn nach Berlin und zur unverhofften Wiedervereinigung des ausgewanderten und des daheimgebliebenen Teils der Familie Bibiena führen. 180 Jahre später, im Jahre 1939, so berichten die Briefe, fährt die junge Barbara mit einem weiteren von Zehdenitz, Hans, der sich gerade freiwillig gemeldet hat, nach Kunersdorf, um die Aufzeichnungen Ettores mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Hesselbarth gegenüber, dem sie die Ettore-Story erzählt, während dieser ihr Portrait malt, besteht sie auf der Valenz ihrer Fiktion, obwohl dieser ob der Detailgenauigkeit und anderer Wunderlichkeiten (Indianer im Siebenjährigen Krieg!) mehrfach zweifelt: »Sie sollen alles glauben« (133). Im DDRMarkgrafpieske schließlich geht es um das Grab eben jenes Hans von Zehdenitz, der dort 1945 von den Russen erschossen wird. Die damals beteiligte SchäferBärbel, ihrerseits Wiedergängerin einer sagenhaften Figur aus dem Jahre 1528, und Hansens einstige Verehrerin Barbara treffen dort in den 1950ern unter geheimnisvollen Umständen aufeinander, wobei letztere, incognito, auch Koslowski kennenlernt. In diesen kunstvoll ineinander verschachtelten Geschichten finden sich erstens zahlreiche Äquivalenzen über die Zeiten hinweg; der Krieg wird hier, wenn man so will, als ein Anthropologikum repräsentiert, als Vater aller Dinge, ständig präsente conditio der Lebens- und Liebesgeschichten zu allen Zeiten. Dabei wird er tendenziell von seinen je konkreten politischen Anlässen entkoppelt:
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»›Hans‹, fragte ich [d. i. Barbara], ›bist du denn ein Nazi?‹ ›Nein‹, antwortete er, ›das ist hier kein Mensch.‹ ›Aber wenn dein Hitler zu den Waffen ruft, mußt du trotzdem dabei sein!‹ ›Mein Hitler?! Wir? Wir haben mit dem Pflaumenaugust nichts zu tun, aber…‹ ›Was: aber?‹ ›…Mein Gott, das verstehst du nicht. Das versteht man ja selber kaum. Alle Zehdenitze haben alle Kriege…‹ ›Aber du Dummer, das ist doch kein Grund.‹ ›Tja, das weiß man eben nicht, ob das nicht ein Grund ist.‹« (173)
Zweitens gibt es neben den Äquivalenzen aber auch metonymische Verknüpfungen, Erzählfäden, die von der Schlacht von Kunersdorf lückenlos, wenngleich auf verschlungenen Pfaden, zum Happy End des Romans als Ganzem führen, der Hochzeit von Koslowski und Barbara. All das wird ständig von poetologischen Randbemerkungen über Lüge, Fiktion, Peripetie (165) oder die stimmige Einführung neuer Personen (219) begleitet. So fügt sich alles in reflektierter Weise zum epischen Ganzen eines »Geschichtengewebes«. Und drittens dienen die DDR-Episoden zur Charakterisierung einer neuen Diktatur auf deutsch-preußischem Boden, wo, während die NS-Geschichte noch nicht aufgearbeitet ist, schon längst wieder ähnliche Zustände herrschen: Man darf nicht offen reden, wird bespitzelt und gegebenenfalls interniert; »sie kommen ja immer nachts, diese Schergen der Staatsschizophrenie, ganz wie bei Hitler!« (198) Diese Parallelen dienen, so scheint mir, so wenig wie Hänschens Waffentreue einer simplen Ent-Schuldung. Eher verweisen sie als Parallelen auf die Komplexität der jeweiligen historischen Situation. Landdoktor Brose etwa stellt fest, wie Flucht (zur Zeit des Romans gibt es ja noch die grüne Grenze) und Dableiben gleichermaßen ›Schicksal‹ zur Folge haben: »Soll keiner kommen eines Tages, wenn uns der Westen oder wer befreit, wir wär’n Kommunisten jewesen oder Opportunisten oder wat. Nischt sind wir jewesen, aber jeblieben sind wer, und opportun is es nich, aber vielleicht nötig!« (189)
In der 1945er-Geschichte erfahren wir von Vergewaltigungen und Wohltaten durch dieselben Russen, Flucht hat gute und fatale Seiten, Loyalität kann aus Dummheit oder höherer Moral stattfinden und es gibt Heldentum, aber auch »Umstände, wo moralisches Verhalten gefährliche Torheit wird oder wenigstens ehrenwerter Blödsinn«, wie Koslowski bemerkt, woraufhin der Erzähler antwortet: »Na also! Die Welt ist eine Kugel aus lauter Standpunkten.« (215) Statt unbeirrbare Forderungen zu stellen, entscheidet sich Scholz’ Roman im Zweifel
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für eine Komplexität, die angesichts dieser Weltkugel immer auch Relativität bedeutet. VII Dazu gehört wie gesagt auch, dass das Verhältnis zur historischen Wahrheit in diesem Roman immer ein medial vermitteltes ist, und das wissen bereits seine Figuren sehr genau: »Geschehen und erzählt, meine Herren, ist durchaus noch nicht dasselbe«, bemerkt etwa Koslowski (257). Das macht den Text nicht unmoralisch oder zynisch, wie man von Gruppe 47-Seite aus argwöhnte, seine Erzählmoral lehnt vielmehr das Beharren auf einem Absoluten, sowohl der Schuld als auch der historischen Wahrheit, auf einer 1:1-Lesbarkeit der Welt ab. Poetologisch geschieht dies unter dem Stichwort ›Expressionismus‹, und zwar überraschenderweise mitten in der ›absolutesten‹ Szene des Romans, der Judenerschießung. Beim Anblick der auf ihre Ermordung wartenden Juden reflektiert Wilms dort: »Ist gar nicht wahr, daß man in einem Menschenauge etwas lesen kann. Man liest nichts gegebenenfalls. […] Du liest nichts, sage ich dir. Nichts. Meine tiefste Nichtachtung allem Expressionismus. Dieser Künste Gebärden sind so eitel aufgesetzt, so flach unwahr […]. Der Mensch im Angesichte des Ungeheuren sieht nicht anders aus als der Mensch, der nach Kartoffeln ansteht. Der Rest ist Selbstbespiegelung des Herrn Künstlers […].« (60)
Sehr viel später im Roman, in Vorbereitung der Jazz-Erzählung Česnicks, nimmt die Runde dieses Thema wieder auf. Jeder der anwesenden Künstler muss sich Lepsius gegenüber rechtfertigen, warum er nicht länger Kunst im emphatischen Sinne macht. Der Dichter Schott hat eine Werbeagentur, der Maler und der Schauspieler arbeiten für Film und Fernsehen, und der Musiker Česnick arrangiert für »Rias, SFB. Mache Filmmusik. Kleine Fische.« Als eigene Komposition schwebt ihm »da so etwas vor, etwas …wie soll ich sagen? ... etwas mit aufheiternder Tendenz! …Jawohl! Haargenau! … Etwas Zartes, Heiteres, Bescheidenes.« (284) Poetologisch gelesen wird die Maxime des Herrenabends – aufheiternde Tendenz – hier als allgemeines Gesetz einer zukünftigen Literatur und Medienkunst imaginiert. Vehement abgelehnt wird dagegen: »›Kunstgetue und Kunstdünkel und Kunst, Kunst, Kunst…die Faxen habe ich dicke bis zur Vergasung. Mag sein, daß ich mich in diese Frage tatsächlich etwas verbissen habe.‹ ›Zart, heiter, bescheiden‹, wiederholte Arnoldis, ›schön wär’s ja!‹
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›Parole einer anti-expressionistischen Geistesbewegung‹, bemerkte Hesselbarth, ›die expressionistische hieß: grob, ernst, unbescheiden. Adolf der Hitler war Expressionist, außer wenn er malte.‹« (284)
Heute schlucken wir bei der Formulierung »bis zur Vergasung«,11 aber Scholz legt eine hohe Sensibilität für NS- und Wehrmachtssprache an den Tag, etwa angesichts von Wörtern wie »Krad« und »Sani« (75f.), und so scheint ihm auch dieser Ausdruck hier näher besehen nicht einfach zu unterlaufen, sondern bewusst gesetzt. Absolutheitsanspruch innerhalb der Kunst führe zu »Expressionismus«,12 außerhalb der Kunst jedoch zu deutlich größeren Katastrophen. Česnick hält seine Utopie eines pragmatischen Ansatzes dagegen: »wenn die Kunst selbstvergessener wäre, anspruchsloser eingeordnet, Beruf unter Berufen, dann käme das heraus, was mir vorschwebt« (284f.). Das kann in Analogie zur Übertragung von Expressionismus auf NS-Politik also nicht nur als ein Plädoyer für eine marktaffine, sondern auch als Plädoyer für eine demokratische, nichtelitäre Kunst gelesen werden. Gefordert wird am ehesten, was Bachtin eine heteroglossische Kunst nennt, das Gegenteil jedenfalls wären Sinnmonopole aller Art. »… Diese Staatsgier nach Monopolen«, klagt auch DDR-Bürger Koslowski: »Das macht nicht etwa bei Gas, Kohle und Strom halt. Das können auch Artikel sein wie Schulwissen und Bildung. Lehrstoff nach Staatsbelieben! Schwarze Staaten verabfolgen schwarzen, rote roten, braune braunen Bildungsstoff. Bildungsmonopol und beschränkte Lieferung! Reiner Lehrstoff als solcher? Na, wo kämen wir denn da hin […]!« (209)
Auch dieses Plädoyer bleibt freilich pragmatisch beschränkt: »Hesselbarth: Demokratische Politik treiben, heißt die unvermeidliche Unsinnsquote auf einem erträglichen Minimum halten. Weiter kann es nichts heißen!« (67) Was Kaiser nur als Zynismus lesen kann, entpuppt sich erneut als Ausdruck eines sehr bewussten und eher vorsichtigen Relativismus. Im engeren Sinne literarische Bezugsgröße und Vorbild für die hier avisierte Literatur ist Theodor Fontane, der im Text selbst mehrfach zitiert wird. Fontane
11 Der Ausdruck stammt aus der Chemie und ist älter als die Vernichtungslager der Nationalsozialisten. 12 Wohlgemerkt im innerdiegetisch definierten Sinne – dass die tatsächliche Literatur und Kunst des Expressionismus zu den ersten gehörten, die von den Nazis verfemt und verbrannt wurden, lässt Scholzens Ausdruck (aber nicht das von ihm damit Gemeinte) von heute aus betrachtet als eher unglücklich erscheinen.
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steht, wie Scholz, der später Feuilletonchef des Berliner Tagesspiegel wird und noch später zehn Bände Wanderungen und Fahrten durch die Mark Brandenburg publiziert, publizistischen Zusammenhängen nahe und wurde als Literat lange Zeit nicht für voll genommen. Interessant ist auch, dass Bernd W. Seiler noch 1983 behaupten kann: »Der einzige Autor von Rang, der die Warenwelt noch wirklich ganz unbefangen in die Lebenserfahrungen seiner Figuren einbezieht«, sei eben Fontane gewesen.13 Scholz tut das, im Gegensatz zu den Autoren der Gruppe 47, ebenfalls konsequent. »Darauf einen Dujardin!« Überhaupt praktiziert sein Roman, was er predigt: Statt angemaßter Bedeutungstiefe – »Man liest nichts gegebenenfalls« – breitet er extrem welthaltige, detailreiche Panoramen aus, mit zahlreichen Orts-, Personen- und Markennamen, Musikstücken, historischen und literarischen Anspielungen, Fetzen aus vielen europäischen Sprachen, in allen nur denkbaren Registern und Dialekten. Als Text seiner Figuren – es gibt ja keine Rede im Roman, die nicht personal zugeordnet und dadurch zugleich beglaubigt wie relativiert wäre – schreibt er diesen, also der munteren Jockey-Bar-Gesellschaft, genau jenen souveränurbanen Geist und Witz zu, den er als generelle Kunsthaltung fordert. Dabei wird interessanterweise jedoch gerade die personale Erzählsituation vermieden, also ein fokalisiertes Erzählen in dritter Person, und damit der PseudoRelativismus einer auktorialen Überformung subjektiver Positionen, wie er über die Kafka-Rezeption zu einem beliebten Verfahren ›existenzialistischen‹ Nachkriegserzählens geworden war. Hinzu kommt Scholz’ mehrfach überlieferte Behauptung, er habe sich praktisch nichts ausgedacht, nahezu alles in Am grünen Strand der Spree beruhe auf selbsterlebten oder zumindest dem Autor kolportierten Tatsachen: »Ich kann nicht über etwas schreiben, was ich nicht gesehen habe.«14 Das gilt übrigens auch für die Exekutionen. Dass Scholz deren Schilderung nicht seinem Alter Ego Schott, sondern dem nicht aus Russland zurückgekehrten, in der Runde also abwesenden Wilms zuschreibt, versetzt ihn in die Lage, »to incorporate a testimony to the Holocaust without allowing it to be instrumentalized for absolution«, so zumindest die These von Puszkar.15 Was die auftretenden Personen angeht, könnte das Buch vermutlich auch als Schlüsselroman gelesen werden, so ist Barbara Bibiena angeblich nach der deutschen Schönheitskönigin Susanne Erichsen gestaltet.
13 Seiler 1983, 287. 14 N. N. 1956, 45. 15 Puszkar 2009, 313.
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Man könnte in der hier propagierten bescheidenen Schreibweise, die zwar sicher keine Trivialliteratur (»nun nicht Nesthäkchengepimpel und Hauchblättchenseufzer, Weialawei, Tanz der Särge von Grieneisen«, 284), aber erst recht eben keine deutsche KUNST in Großbuchstaben sein will, geradezu einen Vorläufer dessen sehen, was mehr als zehn Jahre später als postmoderne oder PopLiteratur einen neuen Anlauf nehmen wird – Cross the border, close the gap. Wenn meine These stimmt, dass es in dieser Prosa um Komplexität und Partikularität geht, müsste man sie angesichts der Alternative Thomas Pynchons, ein Roman könne entweder eine komplexitätsreduzierende Entwirrung der Erzählfäden leisten oder deren fortschreitende Verknotung, jedenfalls dem postmodernen Bereich eines »progressive knotting into« zurechnen.16 Und es sind ja nicht nur Erzählfäden, sondern auch diskursive Fäden aus den unterschiedlichsten kulturellen Bereichen, die hier verwoben werden. An Texten wie Scholz’ Am grünen Strand der Spree wird augenfällig, dass es – jenseits bloßer Verdrängung – in den 1950er Jahren durchaus alternative literarische Optionen des Umgangs mit der NS-Zeit gegeben hat. Gleichfalls vergessene damalige Erfolgsautoren wie Erwin Sylvanus oder Werner Warsinsky könnten diesen Befund bestätigen. Auch die Liste der Fontane-Preisträger ist hier interessant: Neben Scholz finden sich in dieser Zeit weitere von der Gruppe 47 geschmähte Autoren wie Gerd Gaiser und Arno Schmidt, Außenseiter wie Albert Vigoleis Thelen und Martin Kessel, medienaffine Leute wie Ernst Schnabel, der Erfinder des Radio-Features, oder Publizisten wie Günter Blöcker und Golo Mann. Die Gruppe 47 hat bekanntlich sehr bewusst Literaturpolitik betrieben und bestimmte Autoren wie Heinrich Böll geradezu aufgebaut. So erinnert sich Marcel Reich-Ranicki verschiedentlich: »Wir, die wir zu Bölls Ruhm beigetragen haben, sahen keinen anderen Ausweg. Es gab keinen anderen. Die konservative Kritik wollte Gerd Gaiser zur Galionsfigur der Literatur machen. Den antisemitischen, exnazistischen Schriftsteller. Das konnten wir nicht zulassen. Wir haben uns auf Böll als Gegenkandidaten geeinigt. Es gab andere, die besser waren. Aber sie waren nicht geeignet.«17
Vielleicht gehört Scholz zu diesen anderen, »die besser waren«, aber »nicht geeignet« schienen. Vergleicht man jedenfalls die oben anzitierte Baby-JarSzene mit der Judenerschießung, die in Bölls Wo warst du, Adam? (1951) er-
16 Vgl. Pynchon 1987, 3. 17 Zit. nach Wackwitz 2010.
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zählt wird, so wirkt letztere heute unangemessen melodramatisch, um nicht zu sagen kitschig. Der Lagerkommandant lässt eine Gefangene bei der Musterung vorsingen: »Filskeit starrte sie an: sie war schön – eine Frau – er hatte noch nie eine Frau gehabt – sein Leben war in tödlicher Keuschheit verlaufen – hatte sich, wenn er allein war, oft vor dem Spiegel abgespielt, in dem er vergebens Schönheit und Größe und rassische Vollendung suchte – hier war es: Schönheit und Größe und rassische Vollendung, verbunden mit etwas, das ihn vollkommen lähmte: Glauben. Er begriff nicht, daß er sie weiter singen ließ, noch über die Antiphon hinaus – vielleicht träumte er – und in ihrem Blick, obwohl er sah daß sie zitterte – in ihrem Blick war etwas fast wie Liebe – oder war es Spott – Fili, Redemptor mundi, Deus, sang sie – er hatte noch nie eine Frau so singen hören.«18
Die erlebte Rede soll hier durch die Gedankenstriche maximal gegenwärtig wirken wie ein Innerer Monolog, ist dabei jedoch ganz und gar unglaubwürdig, weil auktorial durchsetzt (»sein Leben war in tödlicher Keuschheit verlaufen«). Der Täter soll gleich mehrfach, nämlich sowohl als sexuell unerfüllt als auch in seinem Rassenwahn und in seiner Gottesferne entlarvt werden, die Jüdin, die den christlichen Text singt, verkörpert dagegen das Schöne, Gute und Wahre, was durch Polysyndeton und Wiederholung (»Schönheit und Größe und rassische Vollendung«) unmissverständlich betont wird. Die Botschaft des katholischen Böll schimmert durch die personale Tätersicht allzu erkennbar hindurch, was den ganzen Text in seinem Verfahren dubios wirken lässt. Und selbstredend ist der Gesang so ergreifend, dass alle Gefangenen bezaubert sind und sich der Nazi nicht anders zu helfen weiß, als die Frau und alle anderen panikartig erschießen zu lassen. Diese vermeintlich enorme humanistische Wirkung echter Kunst, von der der Text hofft, er könnte sie selbst erzielen, ist ein Erfolgsrezept auch des Populären Realismus unserer Tage (z. B. in Bernhard Schlinks Der Vorleser, 1995, oder dem oscargekrönten Film DAS LEBEN DER ANDEREN, 2006). Das ist schlicht Realismus, der seinen humanistischen ›unbeirrbaren Forderungen‹ formal nicht recht gewachsen ist, und damit das Gegenteil von dem, was Scholz praktiziert, allerdings ist es eben auch von Expressionismus meilenweit entfernt. VIII »Uns kann nicht leicht sein«, das gilt allgemein und für das kollektive Gedächtnis der Deutschen, zumal jener der 1950er Jahre, die in der NS-Zeit bereits ver-
18 Böll o. J., 407f.
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antwortlich aktiv waren. In jedem partikularen Fall wie dem des Spätheimkehrers Hans-Joachim Lepsius dagegen gilt: Er muss zu neuer Leichtigkeit finden. Wie kann das ohne Verdrängung gehen? Struktur und Textur von Hans Scholz’ Bestseller Am grünen Strand der Spree sind als literarisches Angebot einer Antwort auf diese Frage zu lesen. Die Passage, die der Roman von den finstersten Abgründen deutscher Geschichte zu seinem betrunkenen, erotisch tändelnden Ende zurücklegt, bleibt bis heute irritierend. In die offizielle Literatur und Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland haben das Buch und sein Ansatz trotz der erfolgreichen Verfilmung 1960 bislang keinen nachhaltigen Eingang gefunden. Welchen Anteil die Kulturpolitik der Gruppe 47 dabei wirklich hatte – und ob nicht deren moralische Literatur, die ausdrücklich einer besseren Prosa moralisch weniger eindeutiger Autoren vorgezogen wurde, eine ganz eigene Form der Verdrängung praktizierte –, dies zu entscheiden würde weitere Studien erfordern. Wie nicht zuletzt der vorliegende Band zeigt, sind immerhin derzeit Ansätze erkennbar, Scholz’ Buch und die darauf basierende Fernsehserie neu zu würdigen.19 Zu Anfang heißt es im Roman einmal angesichts der Umtriebe der Besatzungsmächte nach 1945: »Hier mußten Sie nämlich Spaß verstehen und müssen es noch.« (28) ›Spaß verstehen‹ heißt hier, das Gegebene hinnehmen, sich den Umständen, die man nicht ändern kann, beugen, ohne dabei seinen Humor und seine Handlungsfähigkeit zu verlieren. Das ist Programm: Am Ende, als Barbara Bibiena im Morgengrauen noch zur angeheiterten Runde stößt, kommt es durch Missverständnisse zu einer frostigen Stimmung zwischen Koslowski und ihr. Erst als den Herren allmählich klar wird, dass der soeben entschwundene Dr. Gatzka ausgerechnet Barbaras Auto gerammt und dabei mit seinem teuren Mercedes eine eher lächerliche Figur gemacht hatte, heißt es: »Da amüsierten sich die Herren mit gutem Grund, so daß selbst Koslowski lachen mußte. Und weil er das tat, und weil Bastienne das sah, verflog auch ihre verdrossene Miene« (367) – und alles geht gut aus. »Uns kann nicht leicht sein«, aber im Medium der Kunst forcierte Schwere, hier »Expressionismus« genannt, ist – nach Scholz – notwendig pharisäerhaft, wenn nicht gar von echtem Übel, wo sie sich mit absoluten Überzeugungen und Urteilen paart. Fiktionale Medien eignen sich, wie sein einziger Roman Am grünen Strand der Spree vorführt, vielmehr besonders gut für verschiedene Grade von Leichtigkeit und Schwere, die sich miteinander in einem Werk verschränken lassen. Das ist keine Verdrängung oder Wehrertüchtigung, wie jener gleichnamige »Gruß der Reichshauptstadt an unsere Kameraden aus dem Fel-
19 Vgl. ebenso Graf 2013.
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de«, den der Berliner Oberbürgermeister 1943 an die Front verschicken ließ. Es ist auch kein Zynismus, sondern transportiert eine andere Art von Ethik, die ich abschließend mit den Worten des sattsam betrunkenen Hesselbarth von den letzten Romanseiten her benennen möchte, in denen er sich auf einen weiteren preußischen Vorfahren beruft: »›So wahr ich Leben atme.‹ Meine Herren: Kleist! wenn auch nur in kurzem Zitat … ›Gemacht zu süßerm Ding, als sich zu schlagen.‹« (366)20
Quellenverzeichnis Primärliteratur
Böll, Heinrich: Wo warst du, Adam? In: ders.: Werke. Romane und Erzählungen I: 1947-1951, hg. von Bernd Balzer, Köln o. J., 308-447. Meister, Ernst: Zahlen und Figuren. Gedichte, Wiesbaden 1958. Pynchon, Thomas: Gravity’s Rainbow [1973], London 1987. Scholz, Hans: Am grünen Strand der Spree. So gut wie ein Roman, 5. Aufl., Hamburg 1955. Sekundärliteratur
Graf, Dominik: Verliebte Männer im Krieg. 1960 drehte Fritz Umgelter den Fernseh-Fünfteiler AM GRÜNEN STRAND DER SPREE. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 76 (2.4.2013), 33. Heck, Stephanie/Lang, Simon: »So gut wie ein Roman«? Hans Scholz’ Am grünen Strand der Spree (1955). In: Rahmenzyklus in den europäischen Literaturen. Von Boccaccio bis Goethe, von Chaucer bis Gernhardt, hg. von Christoph Kleinschmidt und Uwe Japp, Heidelberg 2018, 233-251. Kaiser, Joachim: So gut wie ein UFA-Film. In: Texte und Zeichen 2 (1956), H. 5, 536-545.
20 Heinrich von Kleist, wohlgemerkt – Ewald von Kleist fiel in der Schlacht von Kunersdorf. Das Zitat stammt aus Der Prinz von Homburg oder Die Schlacht bei Fehrbellin (II/1): »Ein schöner Tag, so wahr ich Leben athme! / Ein Tag, von Gott, dem hohen Herrn der Welt, / Gemacht zu süßerm Ding’, als sich zu schlagen!« Die Rede ist hier vom Tag (der Schlacht), im Kontext bei Scholz kann aber auch der Mensch gemeint sein.
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N. N.: Fontane-Preis. Boccaccio in der Bar. In: Der Spiegel, Nr. 12 (21.3.1956), 44-46. Puszkar, Norbert: Hans Scholz’s Am grünen Strand der Spree. Witnessing and Representing the Holocaust. In: Neophilologus 93 (2009), 311-324. Seiler, Bernd W.: Die leidigen Tatsachen, Stuttgart 1983. Wackwitz, Stephan: Nachdenken über MRR. In: Die Tageszeitung, Nr. 9199 (29.5.2010), 24f.
Eine neue ›Heimat‹ »am grünen Strand der Spree« Zur Funktion der Mottos in Hans Scholz’ Roman Roya Hauck Hans Scholz’ Roman Am grünen Strand der Spree1 zeichnet sich nicht nur durch eine Vielzahl paratextueller Elemente aus.2 Das gesamte Werk durchzieht darüber hinaus ein Netz intertextueller Anspielungen, teils versteckt, teils explizit in Form von direkten Zitaten. Interessant ist dabei die Schnittmenge beider Aspekte, die durch die sieben Mottos entsteht.3 Diese übernehmen bei Scholz sowohl eine das Textgewebe typografisch gliedernde als auch eine kohärenzstiftende Funktion. Auffallend ist die Gemengelage der ausgewählten und an bestimmte Texteingänge gesetzten Bausteine in Zitatform. Mit Ausnahme eines Bibelzitats handelt es sich bei allen Mottos um Textstellen aus der deutschsprachigen ›Hochliteratur‹ des 18. und 19. Jahrhunderts, womit eine bestimmte literarhistorische Tradition präsent gehalten wird. Diese Verweise auf eine zweihundertjährige, genuin deutsche ›Kulturverwurzelung‹ finden ihr Pendant auf der Ebene der histoire in einer multinationalen Familienchronik. Die den Mottos inhärente Schicksalssemantik geht dabei indes über den ›erzählten Stammbaum‹ der Bibienas hinaus. 1
Seitenangaben im Fließtext beziehen sich auf: Scholz 1955.
2
Primär fällt der Untertitel des Romans So gut wie ein Roman ins Auge. Neben einer Widmung findet sich ein Namensregister der Teilnehmer des Symposions. Außerdem ist die kleine Anmerkung in Klammern unter der Namensliste zu erwähnen, die eine Herausgeberfiktion zu Tage treten lässt. Der hier angekündigte Verteiler findet sich am Schluss des Romans.
3
Dietmar Peil merkt an, dass ein Motto als ein »intertextuelles Phänomen« zu verstehen sei, das in der Intertextualitätsforschung bisher kaum Beachtung gefunden habe (vgl. Peil 2007, 648).
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Das Motto als literarisches Phänomen
In seinem erstmals 1801 erschienenen Woͤrterbuch zur Erklaͤrung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdruͤcke erläutert Joachim Heinrich Campe: »Motto, heißt zwar eigentlich nur ein Wort; allein man versteht darunter einen Spruch oder eine Stelle aus irgend einem Buche, die man zur Überschrift eines Aufsatzes waͤhlt, weil man darin irgend einen treffenden oder sinnreichen Bezug auf den Inhalt oder Verfasser des Aufsatzes wahrzunehmen glaubt […]«.4
Der ›sinnreiche Bezug‹ zwischen Motto – in Form eines Zitats5 – und Inhalt des ›Aufsatzes‹ bzw. des »eigentliche[n] Text[es]«6, dem es vorangestellt ist, wird in dieser Definition vorausgesetzt.7 Im Hinblick auf die Überschriftfunktion wird allerdings auch die gesonderte Stellung des Mottos als ›Beiwerk‹ benannt. Dies bedeutet indes nicht, dass sich das Motto durch seine »randständige Positionierung« als »marginale[s] Anhängsel«8 abtun lässt. Jan Erik Antonsen betont vielmehr die Einwirkung von Paratexten auf den Text und führt an, dass »[d]ie Vernachlässigung dieser Elemente [Titel, Widmung, Motto etc.] […] im äussersten [sic!] Fall dazu führen [kann], dass der Leser zentrale Sinnzusammenhänge übersieht«.9 Er weist damit auf den entscheidenden Punkt bei Campe hin, dass ein Motto »in Bezug auf den Text gelesen wird«.10 Es ist allerdings gerade die Amivalenz zwischen Einheit (im Sinne der inhaltlichen Bezugnahme) und Trennung (in Hinblick auf die typografische Sonderstellung sowie die ›Fremdheit‹ als Zitat), die das Motto als literarisches 4 5
Campe 1813, 428. Campe bleibt hier etwas vage, wenn er vom Motto als einem »Spruch oder eine[r] Stelle aus irgend einem Buche« spricht. Böhm führt dies genauer aus, insofern das Motto »aus im engeren Sinne literarischen, wissenschaftlichen, biblisch-religiösen, volkstümlichen, aktuellen [und] privaten Quellen entnommen« ist (Böhm 1975, 247).
6
Vgl. Stanitzek 2004, 7f.
7
Das Motto ist dabei prinzipiell »vor jedem Erzeugnis schriftstellerischer Tätigkeit
8
Stanitzek 2004, 8.
9
Antonsen 1998, 11. Antonsen interessiert sich vor allem für jene Art von Mottos,
verwendbar« (Böhm 1975, 247).
welche »an der Spitze des (Gesamt-)Textes stehen«; deshalb fallen bei ihm solche Mottos aus der Betrachtung, »die nur einzelnen Kapiteln oder Abschnitten eines Textes vorangestellt sind« (ebd., 23). 10 Ebd., 22.
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Phänomen auszeichnet. Antonsen zufolge betont das Präfix im Begriff ›Paratext‹ diesen »ambivalenten Status zwischen einer spezifischen Zugehörigkeit zum Text und einer ebenso evidenten Eigenständigkeit« jener »textlichen Zusatzelemente«.11 Peter Horst Neumann verweist darauf, dass der Zitat-Typ »Motto […] als strukturelles Merkmal die deutlichste Trennung von Objekt und Medium« zeige.12 Der fremde »Text« stehe in Form des Mottos »dem eigenen« gegenüber, was »einen beträchtlichen Spielraum für Bezüge« offeriere.13 Da die »Vermittlung vom Fremden und Eigenem […] formal nicht geleistet« sei, bedürfe es »der Medialität des Lesers, um die gemeinte Beziehung zu realisieren.«14 In diesem Zusammenhang ist die etymologische Herkunft des Wortes Motto sinnvoll einzubeziehen: Diese liegt im Italienischen und bedeutet ›Leitspruch‹ oder ›Witzwort‹.15 Neumann erachtet gerade die zweite Bedeutung als wichtig, unter der Prämisse, dass »wir Witz als die Fähigkeit verstehen, Entferntes zusammenzuschließen, Fremdes mit Vertrautem zu verknüpfen.«16 Über das Motto als Zitat schreibt wiederum Antonsen, dass es »als ein Bruchstück aus einem anderen, fremden Text«, »aus dem früheren Zusammenhang gerissen[]«, »zwischen Titel und Text eine zweite Heimat findet«.17 Aus diesem Grund führt er den Terminus der ›Text-Insel‹ ein: »Der Sinn einer solchen Text-Insel ergibt sich erst, wenn jeweils die Beziehung zum textlichen Kontinent, dem sie doch irgendwie zugehört, erkennbar wird, wenn also der nicht immer offensichtliche Zusammenhang zwischen Motto und Text herausgearbeitet ist.«18 Es wird somit ersichtlich, dass sowohl die alte ›Heimat‹, also der Bezug zum Prätext, sowie der Bezug zum neuen Ko- und Kontext innerhalb einer Motto-Untersuchung für die Deutung maßgeblich sind.19 Neumann macht
11 Vgl. ebd., 20. Auf diesen Punkt geht auch Dembeck ein: »Dabei steht der Paratext zwar neben dem Text, gehört ihm aber gewissermaßen auch an« (Dembeck 2007, 12). 12 Neumann 1980, 301. 13 Vgl. ebd., 301. 14 Ebd., 301f. 15 Vgl. ebd., 300. 16 Ebd., 300f. 17 Antonsen 1998, 11. 18 Ebd. 19 So argumentiert auch Rosemarie Gläser, wenn sie schreibt, dass das Motto als »Textfragment[] mit Zitatcharakter« im jeweils »aufnehmenden Text Assoziationen oder Implikaturen hervorruf[t]« (Gläser 1997, 259).
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darauf aufmerksam, dass »[v]iele Motti […] unmittelbar einleuchten«.20 Es gebe aber auch andere, bei denen »der Leser nach Signalen suchen [werde], nach Beziehungssignalen, mit denen der Verfasser das Spiel zwischen Motto und eigenem Text dirigiert.«21 In einem durch eine Herausgeberfiktion geprägten Werk muss die Frage nach der Konzeption der Mottos natürlich gesondert untersucht werden. Wichtig ist außerdem, dass es sich beim Motto um einen fragmentarischen Werkausschnitt handelt, der im Verhältnis zum Prätext zu einer Verdichtung des Aussagegehalts führt. Gérard Genette unterscheidet in Paratexte vier Funktionen des Mottos, von denen ich die beiden anführe, die für den Roman von Scholz wichtig sind: Die eine Funktion ist die des Kommentierens, so dass das Motto die Bedeutung des Textes »indirekt präzisiert oder hervor[hebt].«22 Dieser Kommentar kann »recht unmissverständlich« sein, so dass Zusammenhänge schnell klar werden. Ebenso kann es der Fall sein, dass der Kommentar »rätselhaft« ist und die Bedeutung »sich erst nach vollständiger Lektüre des Textes erschließt oder bestärkt«.23 In Bezug auf die zweite, für den Roman von Scholz wichtige Funktion kommt Genette auf einen Aspekt zu sprechen, welchen er als »Motto-Effekt«24 bezeichnet: »Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Mottos ist, mit hoher Sicherheit, als solches bereits eine Signatur für die Epoche, die Gattung oder die Tendenz eines Werks.«25 Mottos und Textur Die Mottos in Am grünen Strand der Spree sind einzelnen Abschnitten des Romans vorangestellt und erweisen sich so als Markierungen im Textgewebe. Im Allgemeinen ist auffällig, dass die einzelnen, auch typografisch gekennzeichneten Textabschnitte – Absatz, leere Seite und Initiale zu Beginn des Folgeabschnittes – weder durch Kapitelnummerierung noch einen Titel gekennzeichnet sind.26 Nicht jeder Einzelabschnitt wird durch ein Motto eingeleitet, weshalb sich 20 Neumann 1980, 301. Da innerhalb dieses Zitats die falsche Pluralform ›Motti‹ auftaucht und diese auch bei Genette in der deutschen Ausgabe zu finden ist, sei darauf hingewiesen, dass die korrekte Pluralform ›Mottos‹ lautet. 21 Ebd. 22 Genette 2001, 153. 23 Ebd. 24 Ebd., 155. 25 Ebd. 26 Gleich zu Anfang der Tagebucheinträge von Wilms ist die Erwähnung von Ort und Datum »Maciejowice, 5. Juni 41.« (14) in einem auffallenden Abstand zum Text an-
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die Frage stellt, auf welche Textpassage(n) sich das jeweilige Motto bezieht. Entsprechende Korrelationen bzw. die »literaturspezifische[] Verknüpfung«27 zwischen Prä-, Para- und Kontext sind daher für die Deutung entscheidend. Was für das Motto generell charakteristisch ist, gilt auch für Am grünen Strand der Spree, indem es auch hier mit einer Quellenangabe einhergeht.28 Dem jeweiligen Zitat ist im Roman als kursiv gesetztes Motto neben dem Autorennamen immer eine Werkangabe beigefügt.29 Somit liegen durchweg allographe Mottos im Sinne Genettes vor.30 In Bezug auf die Frage nach dem »Autor des zitierten Textes«31 weist Genette außerdem darauf hin, dass der »rechtmäßige Adressant des Mottos« nicht immer notwendigerweise der Autor sein muss, sondern auch, »zumindest bei einer homodiegetischen Erzählung«, der IchErzähler sein kann.32 Auch könne der Autor das Motto für den Erzähler ›auswählen‹ und es diesem ›schenken‹.33 Im Reallexikon-Artikel zum Lemma Motto heißt es wiederum generalisierend, dass dieses »ein kurzer Text […] [ist], den ein Autor seinem Werk voranstellt«.34 Dies ist prinzipiell natürlich auch unter der Annahme richtig, dass es sich um eine ›Einmischung‹ des Erzählers handelt, der das für ihn ›ausgewählte‹ Motto setzt. Im Roman von Scholz wäre die Setzung der Mottos vor einzelnen Werkabschnitten daher am ehesten dem Rahmenerzähler Hans Schott zuzuschreiben (vgl. 6), der zugleich der stellvertretende Veranstalter der illustren Herrenrunde ist (vgl. 276) und als Herausgeber gelten kann, da das Schriftstück bei ihm argesiedelt. Typografisch ist diese erste Nennung nicht mit den Mottos identisch, die stets kursiv gesetzt sind. Die nachfolgenden Ort- und Zeitangaben sind zudem näher an die Tagebucheinträge gerückt. 27 Baßler 2007, 618. 28 Vgl. Peil 2007, 646. 29 Böhm weist darauf hin, dass die Mottos auch auf potentielle Umgestaltungen bezüglich des »zugrundeliegende[n] Originalzitat[s]« überprüft werden müssten, da dies eine Bedeutung für die Werkinterpretation habe, auch wenn er anmerkt, dass solche Umgestaltungen »sicher oft genug auf Irrtum oder Unachtsamkeit des Autors«, also nicht selten »unbeabsichtigt« seien (Böhm 1975, 19). 30 Genette unterscheidet zwei verschiedene Arten von Mottos: das allographe Motto, welches einen anderen Verfasser aufweist als den des eigentlichen Werks sowie das autographe Motto, welches den gleichen Verfasser wie das Werk aufweist (vgl. Genette 2001, 147ff.). 31 Ebd., 147. 32 Ebd., 150. 33 Vgl. ebd. 34 Peil 2007, 646 [Herv. RH].
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chiviert wird (vgl. 369).35 In Am grünen Strand der Spree ergibt aber auch die Setzung der Mottos durch die verschiedenen Erzähler innerhalb des Romans Sinn, da in der Herausgeberfiktion darauf aufmerksam gemacht wird, dass »[d]iese Geschichten […] hier in der Gestalt [erscheinen], welche die Erzähler selbst ihnen nachträglich in schriftlicher Wiederholung gegeben haben« (5). Am grünen Strand der Spree steht durch die Form des Mottogebrauchs vor einzelnen Romanabschnitten und dem damit inszenierten ›Motto-Effekt‹ in einer weitläufigen literarhistorischen Traditionslinie, die ins ausgehende 18. Jahrhundert zurückreicht.36 Der »Brauch«, ein Motto in Zitatform zu setzen, dringt, so Genette, durch den gothic novel vermehrt in die »erzählende Prosa« ein.37 Genette schließt daraus, dass man im »Zusammenhang mit der Mottoschwemme am Beginn des 19. Jahrhunderts […] zu Recht das Bestreben vermerkt [hat], den Roman […] in eine kulturelle Tradition zu integrieren.«38 Dieser literarhistorisch situierbare Kunstgriff korreliert, wie bereits angedeutet, auf der Inhaltsebene des Spree-Romans insbesondere mit dem Bezug auf die Bibiena-Chronik. Die Geschichte des nach Europa zurückkehrenden Stammvaters der Bibienas geht auf das 18. Jahrhundert zurück (vgl. 131). So kommt es in Am grünen Strand der Spree zu auffälligen Verschränkungen zwischen der Ebene der histoire und des discours, so dass durch die sich aus dem Rahmenzyklus ergebenden Erzählschichtungen und -schachtelungen die einzelnen Mottos als verknüpfende ›Schicksalsfäden‹ führen.
35 Eine Untersuchung zum Verhältnis von Autor, Erzähler und Herausgeber wäre hier nicht uninteressant, dies nicht zuletzt auch wegen der Namensähnlichkeit zwischen dem Autor Hans Scholz und seiner Erzählerfigur Hans Schott. 36 Eine weitere verfahrenstechnische Verknüpfung zu Werken, die um 1800 entstanden sind, wäre das Erzählen in Rahmenzyklen, wie es bei Ludwig Tieck und E. T. A. Hoffmann der Fall ist (vgl. Heck/Lang 2018). 37 Vgl. Genette 2001, 143. Die von Genette angeführten Beispielromane – er nennt die Mystéres d’Udolpho (1794), The Monk (1795) und Melmoth (1820) – weisen allesamt vor jedem Kapitel ein Motto auf (vgl. ebd.). 38 Ebd. 156. So war es dann gerade im 19. Jahrhundert üblich, dass einzelne Romankapitel mit einem Motto einsetzten, während dieser Trend im 20. Jahrhundert wieder abzunehmen scheint (vgl. Peil 2007, 648).
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Verknüpfungen I »Trauet den Weißen nicht, ihr Bewohner des Ufers! (Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker, Madagassenlieder, 4)«39 (7)
Das Zitat entstammt einem Lied aus Herders Sammlung von Volksliedern, welche verschiedensten Nationen entstammen und denen erst im Jahre 1807, also posthum, der Titel Stimmen der Völker in Liedern zugewiesen wurde.40 Die sich aus dem Sammeln ergebende Verbindung heterogener Elemente unter ›einer Flagge‹ lässt nicht nur in Bezug auf die deutschen Volkslieder ein aufkeimendes Nationalgefühl,41 sondern auch ein aufklärerisches und tendenziell kosmopolitisches Humanitätspostulat durchscheinen.42 Der ethnische Einheitsgedanke drückt sich gerade in der »gemeinschaftsstiftenden Gesangstradition«43 aus. Die Stellung des Zitats als erstes Motto lässt vermuten, dass sich diese Bezugnahme auf den ganzen Roman erstreckt. In diesem Zusammenhang ist in erster Linie an die verschiedenen Spracheinlassungen und -verweise (Russisch, Norwegisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Wendisch, Chauque-araukarisch usw.) zu erinnern, die sich durch den gesamten Roman ziehen. Dementsprechend ist das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen und Sprachen innerhalb des Romans Programm. Man denke an Jürgen Wilms, der sich in seinem Tagebuch polnische Vokabeln notiert (vgl. 16, 29) und im Zuge seiner »Sprachstudien« (40, vgl. auch 65) darum bemüht ist, mithilfe der polnischen Kinder ein Wörterbuch zusammenzustellen (vgl. 41). Auch Hesselbarth ist kriegsbedingt mehrsprachig ›zu Gange‹ und nutzt ein deutsch-russisches Militärwörterbuch, um kommunizieren zu können (vgl. 75). Schließlich ist die Figur des Leutnants von Sternberg zu nennen, der nicht nur aufgrund familiärer Hin39 Die hier angegebene Quelle ist insofern nicht korrekt, als es sich beim Lied Trauet den Weißen nicht in der historisch-kritischen Ausgabe nicht um das vierte, sondern um das fünfte der Lieder der Madagasker handelt (vgl. Herder 1885, 500). 40 Vgl. Rölleke 2001, 484. 41 In Arnims und Brentanos Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn (1806-1808) finden sich dagegen nur noch deutsche Lieder, weil auf ausländisches Liedgut vollkommen verzichtet wird (vgl. ebd., 486); vgl. auch Schulz 2007, 794. 42 Allerdings verfügte Herder »eingestandenermaßen über zu wenig deutschsprachiges Material […], dessen Erschließung den romantischen Bemühungen um die Volkspoesie einfach einen andern [sic!] Akzent verleihen mußte« (Rölleke 2001, 487). 43 Schulz 2007, 794.
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tergründe sehr sprachbewandert ist: »So spricht er außer Deutsch und Russisch, Estnisch, Schwedisch und Norwegisch. Auch mit den Lappen kann er sich verständigen, wer weiß woher« (95). Seinen militärischen Rang verdankt er gerade seinen »ausgezeichneten Sprachkenntnisse[n]« (93). Weiterhin ist auf die Chronik der Familie Bibiena zu verweisen, die ein erhöhter Anteil an Mehrsprachigkeit kennzeichnet. Barbara Bibiena selbst ist aufgrund ihrer englischchilenischen Herkunft mehrsprachig aufgewachsen, zudem im Imitieren von Dialekten talentiert (vgl. 254). Ihre ›internationale Ausrichtung‹ zeigt sich nicht zuletzt an ihrer Hilfstätigkeit in China. Aufgrund ihrer politisch bedingten Abwesenheit in Deutschland ist sie des Deutschen nicht mehr so mächtig wie noch vor dem Krieg (vgl. 129), als sie mit ihrem Lehrer Dr. Förster sogar die Familienchronik aus dem Spanischen übersetzte (vgl. 163). In der Bus-Szene (vgl. 176-185) mit ihrem »Omnibustratsch« (200) wird außerdem das Dialektale hervorgehoben, so dass das Lokalkolorit der Gegend um Berlin zur Geltung kommt.44 An Schorin wird durch das Aufrechterhalten einer so gut wie ausgestorbenen Sprache, dem Wendischen, die Bedeutsamkeit von Sprache als kulturellem Erbe aufgezeigt. Koslowski beherrscht »alle schlesischen Tonarten, von der Klangfarbe des »›Schweidnitzer Stadtgrabens‹ bis zu den vokalreichen Gebirgsklängen« (194). Der Protagonist der Arnoldischen Erzählung, Hans-Werner Hofer, wird im Zuge seiner Auslandsreise mit Mehrsprachigkeit konfrontiert. So ist er als Deutscher in Italien und spricht mit den beiden Niederländerinnen Französisch, Italienisch und Deutsch, beschrieben als »dreizüngige[r] Sermon« (vgl. 321). Auf der Sprache bzw. Aspekten der Sprachlichkeit liegt also ein starker Fokus des Romans. Geht man davon aus, dass sich das Motto-Zitat nur auf den ihm folgenden Textabschnitt bezieht, dann wird es vor allem mit den Themen ›Krieg‹ und ›Belagerung‹ bzw. ›Kolonialisierung‹ assoziiert. In den Schilderungen aus Jürgen Wilms’ Tagebuch und in Hesselbarths Erzählungen wird die Belagerung des europäischen Ostens bzw. Nordens durch die Wehrmacht genau beschrieben, wobei es innerhalb verschiedener, von Misstrauen geprägten Anekdoten auch zu Annäherungen zwischen deutschen Soldaten und den in den Gebieten ansässigen ›Einheimischen‹ kommt (vgl. 35, 76ff.). So bestimmt das Motto in Bezug auf seinen Prätext das Verhältnis zwischen dem durch Unrecht herbeigeführten Misstrauen und einer multinationalen Annäherung trotz der kriegerischen Grenzüberschreitung. Insofern kann Völkerverständigung als Devise des Romans gelten.
44 Das ist auch schon vorher der Fall, wenn Ettore durch das Berlin des 18. Jahrhunderts läuft und von einer alten Frau nach dem Weg gefragt wird (vgl. 149).
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II »Um den Friedhof her ein Blitzen Von Herbstesonnenschein, Die roten Berberitzen Hängen über Mauer und Stein. Eine Dreizehner Landwehrfahne Der alte von Bredow trug, Und Hans Rochow von Rekahne Schloß ab den Trauerzug (Aus Fontane: Adlig Begräbnis)« (125)
Bei diesem Motto beachte man im Abgleich mit dem folgenden Romanabschnitt vor allem den Titel von Fontanes Gedicht Adlig Begräbnis, dessen letzte beiden Strophen hier zitiert werden. Erwähnenswert ist, dass dieses Gedicht einem Zyklus angehört, der den Titel Märkische Reime45 trägt. Der Tote wird in Fontanes Gedicht von »Mittelmärk’schen«46 begraben, was die Ortsangabe hervorhebt. Auch die Namen »Bredow« und »Rochow« verweisen auf die Regionalzugehörigkeit der an der Beerdigung Anwesenden. Hier tritt ein deutlicher Zusammenhang zur Spree-Region Berlin bzw. Markgrafpieske zutage. Dem Motto kommt an dieser Stelle eine besondere Funktion zu, denn es fungiert als Rahmungselement des folgenden Abschnitts: Bildet das Ende des Gedichts den Anfang des Romanteils, so gestaltet der Anfang des Gedichts dessen Ende, indem Arnoldis (nachdem das Stichwort »Märkisches Begräbnis« fällt) beginnt, Fontane zu rezitieren und so den Abschnitt ›ausläutet‹ (vgl. 226). Für Hans Scholz – dies sei am Rande erwähnt – nimmt Theodor Fontane als ›märkischer‹ Autor eine nicht unwichtige Rolle ein. Er lässt das mit betonter »Kennerschaft« in einem 1978 bei Kindler verlegten Autorenportrait über Theodor Fontane deutlich werden, indem er stark auf die gemeinsame, geschichtsverknüpfende Regionalzugehörigkeit – die auch im Spree-Roman deutlich wird – verweist: »Ich bin dreizehn Jahre nach Fontanes Tod in Berlin geboren worden […]. Also habe ich das architektonische Krustengehänge dieser Stadt weithin unverändert noch so gesehen, wie Fontane es Abschied nehmend gesehen hat.«47 Der zuvor geschilderte Kunstgriff eines zusammenfallenden Ein- und Ausläutens findet als Gedankenfigur auch hier Betonung. 45 Fontane 1978, 250. 46 Ebd., 250f. 47 Scholz 1978, 7 und 14.
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Das hier vorliegende Motto reiht sich innerhalb der Kategorisierung Genettes in die zweite Rubrik als Kommentar zum Text ein, der Zusammenhänge verdeutlicht: Koslowski, der in diesem Teil auf die Jockey-Runde stößt, kommt just von einem »[a]dlig Begräbnis«, dem vom »steinalte[n]« Herrn v. Queiß (225). In Bezug auf den Titel Adlig Begräbnis wird außerdem auf den in diesem Romanabschnitt beschriebenen Tod des adeligen Fähnrichs Wenzislaus-Bogdan v. Zehdenitz-Pfuell (vgl. 147, 149) verwiesen, dem jedoch keine Trauerprozedur zu Teil wird. Außerdem wird bereits das ›adlige‹ Grab seines Nachfahren HansWratislaw von Zehdenitz-Pfuell erwähnt (vgl. 168), das Babsybi umzubetten plant. An diesem Beispiel zeigt sich, dass das Motto eine Verknüpfung verschiedener Episoden und somit auch historischer Zeitstufen generiert. Als ›Gemeinplatz‹ kann dem Motto eine individuelle Note zukommen. Es dient hier also dazu, das Einzelschicksal einem allgemeinen Fatum zuzuordnen – um es mit den Bibelworten aus dem Prediger auszudrücken: »Was ist’s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist’s, das man getan hat? Eben das man hernach tun wird; und geschieht nichts Neues unter der Sonne.«48 III »Ich bin ein Schuldner beider, der Griechen und der Ungriechen. (Römer 1, 14)« (227)49
Das dritte Motto bildet ein nicht profanes Textfragment in Form eines Bibelzitats und weicht damit von den übrigen Mottos ab.50 Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass eben jene Bibelstelle innerhalb des Romans bereits vorher 48 Prediger 1, 9. 49 Die hier zitierte Übersetzung kann in den gängigen Bibelausgaben nicht exakt gefunden werden. In der Lutherbibel von 1912 heißt es: »Ich bin ein Schuldner der Griechen und der Ungriechen, der Weisen und der Unweisen«. Näher kommt die Fassung von 1545: »Jch bin ein Schüldener / beide der Griechen vnd der Vngriechen / beide der Weisen vnd der Vnweisen«. Es scheint, als sei Scholz hier nach der lutherischen ›Originalfassung‹ gegangen und hätte diese ins Neuhochdeutsche übertragen, was durchaus schlüssig ist, wenn man bedenkt, dass diese den Zeitgenossen Ettores vorlag. 50 Dies ist hier nicht der einzige Bibelverweis: »Doch Stromsperren kommen über Gerechte und Ungerechte, sozusagen« (209); vgl. dazu Mt 5, 45: »Denn er [Gott] lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.« Allerdings handelt es sich hier eher um einen intertextuellen Scherz, der durch eine rhetorische ›Säkularisierung‹ des Bibelwortes evoziert wird.
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erwähnt wird und sich somit nun auch auf ein ›Davor‹ bezieht. In der BibienaChronik weist der »Hirte der Kunersdorfer Gemeinde« auf eben die Stelle hin: »Nunmehro aber heiße es helfen in Gottes Namen und unter Hintansetzung vaterländischer Affektationen. Und es stehe in des Pauli Römerepistel 1, 14 geschrieben: ›Ich bin ein Schuldner beider, der Griechen und der Ungriechen‹, wofür er, Ettore, gottgefällige Exempla darbiete.« (148)
In biblischem Kontext besagt die Aussage des Apostels Paulus, dass dieser es als seine Verpflichtung und Aufgabe sieht, jedem, sei er Jude, Grieche oder Heide, die frohe Botschaft zu verkündigen. Folgt man den Worten des Pfarrers, liegt die Interpretation nahe, dass Ettore, als in diesem Falle ›unparteiische Instanz‹ in der Mitte des Schlachtfeldes, jedem ungeachtet der Herkunft hilft, fühlt er sich doch durch die Worte der Jungfrau verpflichtet. In diesem Teil des Romans wiederholen sich die Worte sogar, diesmal in Ettores Fiebertraum. Hier führt die Wiederholung des Zitats zu einer Art Modulation: »Preußen und Unpreußen … […] Ich bin ein Schuldner« (152). So lässt sich schließen, dass die Nationalität in Anbetracht des hohen Guts der Menschlichkeit keine Rolle spielt, also nichtig ist. Geholfen wird sowohl den verwundeten Preußen als auch den verwundeten Russen (vgl. 148, 152). Bemerkenswert ist dabei zudem, dass es gerade durch die lutherische Negation (›Ungriechen‹ und ›Unpreußen‹) zu einem einigenden gemeinsamen Präfix kommt, was wiederum auf die Gleichheit der Verwundeten verweist. Nun findet dieses Zitat nicht nur vor und im Motto Erwähnung, sondern auch im durch das Motto eingeleiteten Romanteil. Wegen der nunmehr bestehenden ›Vertrautheit‹ des Lesers mit der Bibelstelle unterliegt das Motto hier anderen Voraussetzungen als zuvor, da es sowohl ›rückwärts‹ als auch ›vorwärts‹ werkabschnittsverknüpfend wirkt und so die Textur des Romans als ›Geschichts- und Schicksalsgewebe‹ hervorhebt. Innerhalb der Erzählung Bärbel Krolls über das Verscheiden des Hans-Wratislaw von Zehdenitz-Pfuell heißt es: »Er [Hans] flüstert: Ich bin ein Schuldner beider, der Griechen und der Ungriechen … Er sagt es vielleicht, weil ich schuld bin. Denn ich bin ja schuld …« (274). So kommt es durch Hans zu einer Wiederholung der Worte ›auf einem anderen Schlachtfeld‹ zu einer anderen Zeit. Schließlich kennt Hans die Bibiena-Chronik (vgl. 274), er verweist somit auf ein wiederkehrendes ›Schicksalsmuster‹. Durch die refrainartige Wiederaufnahme des Zitats kommt es so zu einer zeitlichen und intratextuellen Verknüpfung. Bärbel Kroll tritt – zwar in ambivalenter Position – außerdem als ›zweite Pucelle‹ auf, was durch die Gemeinsamkeit der Sommer-
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sprossen und Babsybis Erwähnung des ›Pardeltiers‹ bei ihrem Anblick (vgl. 256) deutlich gemacht wird. Bärbel interpretiert den Begriff des Schuldners wiederum auf eine andere, auf ihre eigene Weise. Hatte das Wort zuvor eine positiv ausgerichtete Konnotation, haftet ihm nun ein negativer Beigeschmack an. Bärbel hat in erster Linie nicht versucht, zu helfen, sondern geradezu wissend die ›Befreiungsschlag‹Katastrophe herbeigeführt. Ihre Schuld büßt sie in der Versorgung der sterbenden deutschen Soldaten und mit dem Ableben ihres Hans. Durch das Bibelzitat und dessen verschiedene Auslegung werden ›zwei Seiten der Medaille‹ veranschaulicht. Die Besonderheit dieses Mottos besteht also darin, dass es als Zitat durch die Mehrfachnennung innerhalb verschiedener Kontexte verknüpfend wirkt, obwohl es jeweils Verschiedenes ausdrückt. IV »Myrtill: … Sie liebt. Damöt: Das glaub ich wohl, allein sie liebt nicht mich. Myrtill: Nun glaub es oder nicht, sie liebt und liebet dich! (Chr. Fürchtegott Gellert: Sylvia, ein Schäferspiel)« (280)
Auch in Bezug auf dieses Motto lassen sich im Verlauf des folgenden Werkabschnittes inhaltliche Anknüpfungspunkte finden, wobei zunächst ganz allgemein (also losgelöst vom Gellert-Zitat) auf die dramatischen Elemente in Am grünen Strand der Spree eingegangen sei. Formal liegt mit dem vierten Motto ein Dramenausschnitt vor.51 Dies ist innerhalb des Romans nicht weiter verwunderlich, da bereits zu Beginn und dann auch im Roman selbst die Darstellungsform so gewählt ist, als habe es der Leser stellenweise mit einem Dramen- oder Drehbuchtext zu tun. Nicht nur sind die Berufe des Handlungspersonals in schauspiel- und filmaffinen Bereichen angesiedelt (vgl. 20, 23, 25): Zwei der erzählten ›Einlassungen‹, die Binnengeschichte über den General v. Hach und zu Malserhaiden sowie die Bibiena-Chronik, sind Drehbuchmanuskripte. Auf Verfahrensebene fällt außerdem auf, dass vereinzelt ein dramatischer Nebentext auftaucht (vgl. z. B. 312). Die Angabe der Figurenrede ist nicht nur bei der Wiedergabe des Telefongesprächs zwischen Schott und Mummi Brabender zu finden, sondern kommt auch ganz plötzlich im Tischgespräch vor (vgl. 65-71 mit Anschluss an die Erzählung über Irene Maria; vgl. auch 276-279). An diesen Stellen tritt der Ich-Erzähler in den Hintergrund, auch wenn seine Perspektive in der Sprecherfigur ›Ich‹ weiterhin präsent bleibt. Eine als solche ge51 Das Zitat scheint relativ zu Anfang des Dramas auf (vgl. Gellert 1988, 39).
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kennzeichnete Figurenrede ist schließlich auch bei der Wiedergabe der Erzählung von Arnoldis zu finden, die durch ihre Verfahren – das Annehmen anderer Rollen der gesamten Tischgesellschaft vor Publikum in Form des Ehepaars Gatzka – an die Tradition der Commedia dell’arte, also an die italienische Stegreif- und Maskenkomödie anknüpft. In diesem Sinne sind sogar Regieanweisungen im Text zu finden (vgl. 304-315). Dabei ist auch die den Roman durchlaufende Theatrum mundi-Metapher bemerkenswert. Dass es sich beim menschlichen Leben um ein »Spiel« (21) der Verstellung handele, wird bereits zu Anfang des Romans erwähnt. Deutlicher wird der Welttheater-Bezug an späterer Stelle, wenn der General in einer der Erzählepisoden Hesselbarths verlauten lässt: »[S]ind wir denn so sehr viel anderes als Schauspieler? […] Schauspieler auf den Brettern des Lebens!« (100). Dass der Roman das Konzept des Welttheaters aufnimmt, wird noch gegen Ende deutlich, indem mit der Ankunft Koslowskis im Jockey innerhalb der Rahmenerzählung ein dramatisches Prinzip aufscheint: »Ihr Auftritt, Herr Koslowski! Sie kommen genau richtig!« (220). Der dem Motto vorangehende Werkabschnitt endet mit der Entdeckung, dass Koslowskis schöne Unbekannte die allen gut bekannte Barbara Bibiena ist. Kurzerhand entschließt man sich, die beiden zusammentreffen zu lassen, wogegen Koslowski sich allerdings wehrt (vgl. 240). Die Herrenrunde übernimmt somit die Funktion, als schicksalssteuernder Spielleiter im Welttheater zu agieren. Die inhaltliche Analogie zwischen Gellerts 1747 veröffentlichtem Lustspiel in einem Aufzug und dem Roman ist offenkundig: Die Figur des Schäferfreundes Myrtill steht innerhalb des Dramendialogs stellvertretend für die JockeyRunde, welche nun – im direkten Abschnitt vor dem Motto – als ›schicksalsmächtiger‹ Kuppler tätig werden will (vgl. 279); und der verliebte Schäfer Damöt steht für Koslowski. Außerdem verknüpft der Verweis auf die Bukolik das Schicksal von Babsybi und Koslowski mit dem der ›Ziegenprinzessin‹ Bärbel Kroll und Schorins Volkssage von der ›Schäferursel‹, die auf einem »historische[n] Ereignis« (233) fußt (vgl. 230-232). Solche impliziten Hinweise gehen über diesen Werkabschnitt hinaus und veranschaulichen erneut die innertextuelle, geschichts- bzw. schicksalsübergreifende Verknüpfungsfunktion der Mottos. Dem Motto folgt eine thematisch passende, fröhlich-heitere Liebesgeschichte: jene von Česnick und Ann Mary, für die auch gewisse Kupplungsaktivitäten nötig waren, um beide zu vereinen. Für den Prisoner of War Česnick und die uniformierte Amerikanerin wird ein französisches Blumenfeld – diesmal also kein Schlachtfeld – zum idyllischen Ort der heimlichen ›Begegnung‹, wie es auch in Gellerts Schäferspiel der Fall ist, wenn Sylvia den schlafenden, ahnungs-
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losen Damöt küsst. Das Motto verknüpft die Liebesgeschichten und deutet auf das Happy End für Koslowski und Babsybi voraus. V und VI »Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühn, Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht… (J. W. von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre) Der gute Ton steht dort um eine Oktave niedriger. (G. Ch. Lichtenberg: über Italien)« (303)
Das sechste und das siebte Motto treten zusammen auf den Plan, was insofern eine Besonderheit darstellt, als die beiden Zitate auch inhaltlich verschränkt werden. Was die Mottos einander annähert, ist mitunter die Tatsache, dass Goethe und Lichtenberg Zeitgenossen waren, von denen der eine bekanntlich in Italien war und der andere von einer Italienreise träumte: »kein Mensch, der es kann, soll Italien ungesehen lassen.«52 Das erste Motto hat seine ursprüngliche ›Heimat‹ in Goethes 1795/96 erschienenem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Es ist das bekannte Lied Mignons und bildet im Prätext den Anfang des ersten Kapitels im dritten Buch – ist also auch in seinem ursprünglichen Kontext ein Abschnittsanfang.53 In Arnoldis’ Erzählung wird auf das ›Mignon-Lied‹ deutlich Bezug genommen: »VitaliaItalia, wo allerdings die Zitronen nicht blühten, weil man September zählte« (315). Eine weitere Anspielung ist die »Limonaia« (327), das idyllische »Lustund Gewächshaus[]« (329) der italienischen Pension, welches in der spontanen ›Lügengeschichte‹ zum Schauplatz der Verführung, zum locus amoenus wird. So ist von »Kübel[n] mit […] Zitronenbäumen« die Rede, welche über Nacht in der Limonaia Platz finden (vgl. 341f.). Eine weitere eindeutige Anspielung auf das zuerst vorangestellte Motto erkennt der Leser an folgender Textstelle: »Mignon! Mignonne! Pochte des jungen Mannes Herz in Adorantenstellung sozusagen« (317). Der Zusatz der weiblichen Form des Adjektivs »Mignonne« (frz. mignon(ne) = hübsch/niedlich/süß) spricht für das erotische Begehren HansWerner Hofers.54 Die französische Bedeutung wird dann auch noch erläutert, 52 Vgl. Lichtenberg 1985, 956. 53 Vgl. Goethe 1950, 145. 54 Das französische Adjektiv findet noch an anderer Stelle Erwähnung. Es geht erneut um die Kunsthistorikerin Dr. Elisabeth Maag: »Zur Sache also! Immerhin war in der
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denn es heißt: »Sie ist süß […].« (317) So bleibt auch hier die Anspielung auf Goethes Mignon mit ihrer Italiensehnsucht präsent. Wilhelm Meisters Lehrjahre ist als ›Prototyp‹ des Bildungsromans bekanntlich durch das Schema der Entwicklung eines jungen Mannes geprägt, welcher »durch Irrtümer und Krisen zur Selbstfindung und tätigen Integration in die Gesellschaft«55 kommt. Dies trifft auch auf den jungen Hofer zu, der wie Wilhelm Meister recht promiskuitiv unterwegs ist. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Protagonisten liegt in ihrem Dilettantismus. Über Hofer heißt es bezeichnenderweise: »Und er klimperte auf der Gitarre, denn zu den vielen unnützen Künsten, darin er dilettierte, gehörte auch diese« (332). Beim zweiten Motto wirkt die ›Quellenangabe‹ für den Sinn des Zusammenhangs genauso wichtig wie das Zitat für sich genommen, denn Arnoldis entscheidet sich letztlich, »über Italien« zu erzählen. Dieser Zusatz »über Italien« ist in Lichtenbergs Sudelbüchern nicht zu finden.56 Das Motto kann – gerade durch die Kombination von Zitat und ›Zusatz‹ – so gedeutet werden, dass es in Italien um die Manieren nicht besonders gut bestellt ist. Dies spiegelt sich in der Erdichtung des Schauspielers jedoch gerade nicht im Verhalten der Italiener wider, sondern im Verhalten und exzessiven Leben seines Protagonisten, des Italien-Reisenden und Touristen Hans-Werner Hofer.57 Hans Scholz selbst schreibt bezüglich des Verhaltens von Touristen: »Ich sage nur, daß das so ist und weiß, daß von eh und je das Reisen Freiheiten geboten hat, die das Zuhause versagt und versagen muß.«58 Eine interpretatorische Verschränkung beider Mottos ist vor allem aufgrund der jeweils ›mitschwingenden‹ musikalischen Komponente möglich. In der Binnenerzählung wirkt die Gitarrenmusik Hans-Werner Hofers als Untermalung einer romantischen Szenerie (auch wenn die Qualität des Saitenklangs nicht so recht überzeugen will, vgl. 349). Der sich auf Reisen befindende Jüngling aus Deutschland wird im Laufe des Geschehens zunehmend als Lüstling charakterisiert, zumal er kaum eine Gelegenheit auslässt, seine Reisebekanntschaften zu verführen. So wird der den Mottos folgende Romanabschnitt vom Themenkreis um Liebe, Lust und Sehnsucht umspannt. Fundiert werden kann dieser Kontext durch den vorangestellten Auszug aus Mignons Lied.
Bibliothek, ja, wartete seiner womöglich die kleine, mignonne, gescheite pistoische …« (345). 55 Jacobs 2007, 230. 56 Vgl. Lichtenberg 1975, 553. 57 Vgl. Scholz 1960. 58 Vgl. ebd.
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Den Reisenden zieht es nach Italien, seinem persönlichen Sehnsuchtsort. Die Gründe von Hans-Werner Hofers Reise liegen primär in dessen Wunsch, »sich in der Welt umzutun« (315). Mit dem Sehnsuchtsmotiv wird in jedem Fall gespielt, denn, so heißt es in Bezug auf seine Zugfahrt: »Und wohl dem, dem’s reiseweise beschieden […], dem der Steinkohlerauch [der Lokomotiven] als Blauer-Blumen-Duft um die Nüstern […] flatter[t]« (316). Durch die Erwähnung der ›Blauen Blume‹ wird wiederum die Assoziation mit dem romantischen Sehnsuchtsmotiv ausgelöst. Damit werden die Wilhelm Meister-Bezüge unterlaufen, indem auf Novalis’ programmatischen Gegenentwurf zu Goethe mit seinem romantischen Roman Heinrich von Ofterdingen angespielt wird. Ein weiterer Reisegrund ist eine Exkursion im Zuge des Studiums der Kunstgeschichte (vgl. 318f.), auch wenn Hans-Werner Hofer der Auffassung ist, dass »man nicht nach Italien führe, um auf Kunstgeschichte allein sich zu beschränken« (319). »[G]anz ohne Kunstgeschichte« (334) möchte er allerdings nicht in Italien verweilen, weswegen er, neben seinen ›Betrachtungen‹ über die VenusCornelia-Katzi in der Dusche, auch einen anständigen Museumstag einlegt. Die um 1800 populäre Bildungsreise zu Kunststätten des Altertums und die daraus resultierende Italiensehnsucht wird durch den Kontrast zwischen Motto und Kotext ironisch gebrochen. Ein innertextueller Bezug findet sich in einem der Briefe Juttas an Jürgen Wilms, den sie während des Kriegs aus ihrem Italienurlaub an die Front schreibt, wenn sie die »Dusche im Garten hinter Bambusrohr« (51) erwähnt. Dieser Brief bildet wiederum den Prätext für Arnoldis’ Erzählung vom erotischen »Brausebad« (314). VII »Laßt uns doch vielseitig sein! Märkische Rübchen schmecken gut, am besten gemischt mit Kastanien. Und diese beiden edlen Früchte wachsen weit auseinander. (J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen)« (351)
Bei diesem Zitat ist bemerkenswert, dass das bereits besprochene zweite Motto aus Fontanes Märkischen Reimen durch die Erwähnung der Regionalangabe mit dem Goethe-Zitat nun wieder in Erinnerung gerufen wird, was zu einer Verknüpfung und Akzentuierung führt. Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn schließlich sind die Geschehnisse der Rahmenhandlung – und zum Teil auch der Binnenhandlung – »[a]m grünen Strand der Spree« angesiedelt. Außerdem kann der Spruch Goethes als Äquivalent zum Sprichwort ›Gegensätze ziehen sich an‹ gelesen werden. In dem Fall stünde das unterirdisch wachsende »Märkische
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Rübchen« für Koslowski und die (ehemals nicht europäische und auf Bäumen wachsende) »Kastanie[]« für Babsybi. Auf diese Weise kann dieses Motto wiederum als Omen für den Ausgang dieser Liebesgeschichte gelesen werden. In einem allgemeineren Sinn ist hiermit zusammengefasst, dass es an weiteren Stellen des Romans zu ›binationalen‹ und »vielseitig[en]« Liebesgeschichten kommt, die zu verschiedenen Zeiten gewissermaßen alle dem Krieg ›geschuldet‹ sind (von Sternberg, Ettore, Česnick). Allerdings kommt im Roman auch zur Sprache, dass es gerade durch Nationalsozialismus und Krieg eben zu verhinderter, »ungeliebte[r] Liebe« (252) kam. In der ›grenzenüberschreitenden‹ Liebe zeigt sich wiederum das Humanitätspostulat Herders, so dass das letzte Motto mit einem Appell an ›Vielseitigkeit‹ den Rahmen schließt. Trotz einer »weit auseinander« (351) liegenden Herkunft kann sich das anfängliche Misstrauen, wie es das erste Motto ausdrückt, in verständiger und harmonischer Liebe auflösen. Durch seine verknüpfende Funktion drückt dies das Motto auch auf der Verfahrensebene aus, wenn es als fremdes, ›aufgenommenes‹ Zitat in seine neue ›Heimat‹ eingegliedert wird. Fazit Es hat sich gezeigt, dass dem Motto als literarischem Phänomen im Blick auf seine ›duale‹ Wesensart in Am grünen Strand der Spree ein besonderer Status zukommt. Durch zwei Kontexte geprägt – den Ursprungstext sowie den Text, in welchem es als Zitat das Motto bildet –, wird es durch ›mitgeführte‹ Implikationen zu einem Bedeutungs- und Wissensträger. Wie gezeigt werden konnte, verweisen die Mottos in Am grünen Strand der Spree auf unterschiedliche Einzelschicksale verschiedener Zeitstufen. Dies begünstigt die grundlegende Polysemie, die daraus entsteht, dass Brücken zum anknüpfenden Kotext geschlagen werden. Die wichtigste Funktion des Mottos in Am grünen Strand der Spree besteht darin, dass es als Omen Ereignisse auf der Erzählebene vorausdeutet, Inhalte zusammenfasst oder kommentiert. Die ›Verbindung‹ zwischen einem Motto und dem jeweils folgenden Abschnitt ist im Roman unterschiedlich ausgestaltet, zumal vermehrt abschnittsübergreifende Mottos vorliegen. Was die Mottos in Hans Scholz’ Roman insgesamt auszeichnet, ist, dass sie als ›roter Faden‹ funktionieren, der in ›Knotenpunkten‹ zusammenläuft. Gerade auf der Inhaltsebene kommt es zu einer Verschränkung ›historischer Schichten‹, die durch ein Motto miteinander verknüpft werden. Ein wiederkehrendes ›Ineinandergreifen‹ verschiedener Anekdoten durchzieht den gesamten Roman und bildet so ein ›Geschichten- und Geschichtsgewebe‹. Das Motto wirkt in Am grünen Strand der Spree demnach doppelt vernetzend: Zum einen subsumiert es einzel-
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ne Anekdoten unter einem Leitspruch, zum anderen verknüpft es als Zitat – als ›Neuankömmling‹ im fremden Text – die von ihm aufgerufenen intertextuellen Resonanzen.
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»Geschehen und erzählt, meine Herren, ist durchaus noch nicht dasselbe« Das Verhältnis von Dokumentation und Fiktion in Hans Scholz’ Am grünen Strand der Spree Hannes Gürgen
Die Veröffentlichung von Am grünen Strand der Spree (1955)1 des bis dato weitgehend unbekannten Kunstmalers und Drehbuchschreibers Hans Scholz wurde von Presse und literarischer Öffentlichkeit mit Lobeshymnen begrüßt: Von einem »Berliner Dekameron«2 war die Rede, von einem Buch, das mit größter »Sorgfalt der Komposition«3 gestaltet und dessen Verfasser ein »wahrer Webmeister«4 der Erzählkunst sei. Gelobt wurde ein Autor, der die »Schwierigkeiten und Symptome unserer Tage« nicht verleugnet, sondern »den Leser zum Komplizen der Helden seiner Welt«5 macht und der den Berlinerischen Dialekt »mit seinen quicklebendigen Eigenheiten […] so virtuos beherrscht«6 wie kein zweiter. Angesichts derartiger Qualitäten avancierte der Roman nicht nur zum literarischen Bestseller, sondern wurde bereits kurz nach seiner Publikation als Hörspiel und in einer fünfteiligen Fernsehverfilmung medial verwertet.7 Die intermediale Anlage des Romans bietet eine ideale Vorlage für entsprechende Adaptionen, zumal die acht Novellen, die in die Rahmenerzählung ein-
1
Seitenangaben im Fließtext folgen der Erstausgabe: Scholz 1955.
2
Korn 1956.
3
N. N. 1956, 44.
4
Biedrzynski 1957, 24.
5
Wieser 1956, 2.
6
Schwab-Felisch 1955, 7.
7
Siehe die Beiträge zur Hörspiel- wie zur Fernsehfassung in vorliegendem Band.
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gebettet sind,8 von Scholz unter Berücksichtigung der jeweiligen medialen Charakteristika selbst in entsprechende Form gebracht wurden. Innerhalb der Romanfiktion werden Textsorten wie Tagebuch, Familienchronik, Briefe u. a.9 von den Romanfiguren als authentische Dokumente beschrieben und verstanden. Die jeweiligen Inhalte dieser Texte werden im Roman dann explizit durch die Figuren auch persönlich beglaubigt und durch ein dichtes Netz an motivischen Bezügen über die einzelnen Erzählebenen hinweg miteinander in Beziehung gebracht. Auch auf diese Weise wird ihr Wahrheitsgehalt betont. Großen Wert wird dabei auf die Mitteilung der Überlieferungsgeschichte des jeweiligen Textes und auf seine spezifische Materialität gelegt. Scholz arbeitet hierzu mit zahlreichen Authentizitätsmerkmalen, um die Leserinnen und Leser von der Existenz des jeweiligen Schriftstücks zu überzeugen und ihren Inhalt entsprechend glaubwürdig zu machen. Neben diesen Beglaubigungen (u. a. durch in den Text integrierte Dokumente) setzt Scholz auch auf eine Glaubbarmachung der erzählten Welt - angefangen bei den Figuren der Rahmenerzählung selbst, die bereits im Paratext mit persönlichen Daten wie Adressen etc. wie als real existierende Personen erscheinen. Eine Authentifizierung des Romaninhalts erfolgt außerdem durch die Wiedergabe von Dialogen im Dialekt. Diese dienen Scholz dazu, den Romaninhalt so wirklichkeitsnah wie möglich erscheinen zu lassen und um den Leserinnen und Lesern eine Identifikationsmöglichkeit zu bieten. Gleichzeitig zeichnet sich der Roman jedoch auch durch stilistische Vielfalt und damit formale ›Brüche‹ aus, welche die Künstlichkeit der Darstellung akzentuieren und daher die Ästhetisierung der Inhalte als narrative Fiktionen ausstellen. Die im Roman auszumachende Polarität zwischen Dokumentation und Fiktion im Erzählen wird dabei durch die erste und die letzte Novelle angezeigt: Das Tagebuch des Jürgen Wilms, verstanden als dokumentarisch-chronistischer Augenzeugenbericht, und die dezidiert als Lügengeschichte angelegte ItalienEpisode stehen einander gegenüber. Die Grenzen von Faktualität und Fiktionalität werden von Scholz innerhalb dieses Spektrums immer wieder verwischt, ja ununterscheidbar gemacht. Dieses Verfahren sorgt für ein teilweise schwer aufzulösendes Spannungsverhältnis: Das literarische Spiel zwischen einer vermeintlichen Authentizität im Dokumentarischen und ostentativer Künstlichkeit im ästhetisch Geformten bestimmt im entscheidenden Maße die Komplexität des 8
Scholz bezeichnet diese acht Binnengeschichten als »Novellen«, die durch ihre Form »sich von selbst den Sendern […], die gerade Seriensendungen produzieren wollten«, anboten (Scholz 1960, 6).
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Daneben lassen sich im Roman weitere Textsorten wie Flugblätter, politische und historische Glossen, Notizzettel oder Visitenkarten finden.
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Romans, auch die der eingebetteten Erzählungen. Leserinnen und Leser werden zu höchster Aufmerksamkeit und Selbstreflexion angehalten, wollen sie zwischen behaupteter ›Wahrheit‹ und Fiktion unterscheiden. Gleichzeitig konfrontieren diese Texte die zeitgenössische Leserschaft mit der eigenen Biografie – im Fall des Tagebuchs mit der eigenen Kriegsvergangenheit und der Frage nach Schuld bzw. Verantwortung für die Shoa, die in einer Erschießungsszene zur Darstellung kommt.10 Im Folgenden soll die literarische ›Gemachtheit‹ des Romans unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Dokumentation und Fiktion untersucht werden. Eine derartige Analyse lässt nicht nur Rückschlüsse über die stilistische und mediensensible Kunstfertigkeit des Autors Hans Scholz zu, sondern sie versucht darüber hinaus auch rezeptionsbezogene Erklärungsmöglichkeiten dafür aufzuzeigen, weshalb der Roman seinerzeit zum literarischen Bestseller avancierte. Autobiografische Bezüge Bereits der Untertitel So gut wie ein Roman, mit der die aufgerufene Gattungszugehörigkeit zur Disposition gestellt wird, weist auf das ambivalente Verhältnis zwischen Faktualität und Fiktionalität hin, insbesondere wenn man sich die biografischen Hintergründe und die Selbstaussagen des Autors vergegenwärtigt. Hans Scholz, 1911 in Berlin geboren, gehörte zu jener Generation, die den Zweiten Weltkrieg aus eigener Erfahrung als Soldat kennenlernte: »Ich war im Laufe des Krieges in […] Polen, Rußland […], war in […] Norwegen bei einer Infanteriedivision. […] Ich habe den Krieg bis zum letzten Tage und als Kriegsgefangener der Amerikaner und der Russen […] mitgemacht«.11 Beginnend mit dem »5. Juni 41« (14), decken sich die Daten des Tagebuchs von Jürgen Wilms, welcher in der diegetischen Gegenwart des Romans im April 1954 noch nicht aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt ist, mit denen von Scholz’ eigenem Aufenthalt in Polen und Russland.12 Darüber hinaus sind Scholz’ Erfah10 Diese Lesart wird auch vom damaligen Lektor von Hoffmann und Campe bestätigt, der die Tagebuch-Textstellen im Roman als zu konfrontativ empfand und Scholz empfahl, »zur Schonung bundesbürgerlicher Nerven« im Erstdruck darauf zu verzichten (vgl. N. N. 1956, 45). 11 Scholz 1966, 110. 12 »In Rußland war ich vom 22. Juni 1941, 12 Uhr 30 Minuten bis zum Februar 1944« (ebd., 111), bemerkt Scholz rückblickend. In den Tagebuchaufzeichnungen von Willms fällt der beschriebene Truppenabmarsch von Polen nach Russland auf den 22. Juni 1941. Dieses historische Datum markiert den Überfall der deutschen Wehr-
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rungen als regelmäßiger (Trink-)Gast und Jazz-Saxophonist in der historischen Berliner Jockey-Bar13, seine Liaison mit einem jüdischen Mädchen in Paris um 193314, sein Aufenthalt als Ordonnanzoffizier in Nordnorwegen im Jahre 194415, seine Bekanntschaft mit der 1950 gekürten Schönheitskönigin Susanne Erichsen16 und schließlich auch seine zahlreichen Malreisen durch die Mark Brandenburg in der frühen Nachkriegszeit17 nachweisbare biografische Stationen, die im macht auf die Sowjetunion. »22. Juni 10 Uhr nach dem Übergang über den Bug (Litowski Bug). Keine Zeit gehabt seit Łuckow [Polen]« (40). 13 Scholz gibt freimütig zu, dass er bei Abfassung von Am grünen Strand der Spree aus seinen »ewigen Saufereien« in der Jockey-Bar »ein bißchen Kapital geschlagen« (N. N. 1956, 44) habe. Diese Aussage bestätigt auch Hellmut Jaesrich, der um das Jahr 1949 in der Jockey-Bar zusammen mit Scholz den Ausführungen eines aus russischer Gefangenschaft entlassenen Majors beiwohnte: »Ich ahnte nicht, […] daß ich den Kern und Angelpunkt seines Buches – die Beschreibung einer feuchtfröhlichen Nacht in der Jockey-Bar zu Ehren eines aus Sibirien heimgekehrten Fliegermajors [der im Roman Hans-Joachim Lepsius entspricht] – wenn auch als unbeteiligter Zaungast am Nebentisch miterlebt hatte« (Jaesrich 1956, 56). Darüber hinaus lässt sich Scholz’ besondere Vorliebe für Tanzmusik und Jazz, »Bei mir biste scheen, please let me explain!« (58), nachweisen (vgl. Scholz 1969, 150). 14 Über diese Zeit schreibt Scholz Jahre später: »Ich mußte mir meine erste richtige Liebe aus dem Herzen reißen. Das Mädchen […] wurde samt den Ihren im Spätsommer 1933 des Landes verwiesen. Sie gingen nach Paris. Ich folgte […] für ein Studienjahr. […] Als ich etwas Geld beisammen hatte, verabredeten wir ein Rendezvous in Italien. Allein als Staatenlose wurde ihr die Einreise […] verweigert. Ich hockte allein in Florenz« (Scholz 1966, 103). Diese biografische Episode findet im Roman ihre Analogie in der Beziehung von Jürgen Wilms zu seiner jüdischen Freundin Ruth Esther Loria. Die Stadt Florenz verweist dagegen auf die letzte, vom Schauspieler Bob Arnoldis erzählte Lügengeschichte, die von den Liebesabenteuern Hans-Werner Hofers berichtet. 15 Dieser Lebensabschnitt wird in der zweiten Binnenerzählung um die Geschichte des Freiherrn von Hach und zu Malserhaiden im Roman verarbeitet. 16 Susanne Erichsen stand Pate für die zentrale Frauenfigur im Roman, die schöne und emanzipierte Barbara Bibiena. Auch nebensächliche Details wie die Tatsache, dass Erichsen zwei Pferde besaß und in Pichelsdorf Reitunterricht nahm, wurden von Scholz verwertet, so wenn beispielsweise Bibiena mit »langen Reithosen« (361) zu den Herren in die Jockey-Bar tritt (vgl. Erichsen/Hansen 2003, 12). 17 Scholz’ Eindrücke und Erlebnisse über Land und Leute der Region Brandenburg werden Jahre später in der zehnbändigen Reihe Wanderungen und Fahrten in der Mark Brandenburg (1973-1984) behandelt. In Am grünen Strand der Spree ist das
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Roman auf verschiedenen Erzählebenen verarbeitet und über die Figuren als persönlich verifizierte Erlebnisse mitgeteilt werden. Scholz betont in vielen Selbstaussagen, dass »alles stimmt«18, dass seine Schilderungen »Anspruch auf etwas wie dokumentarische Wahrheit besitzen«19 und man es »nie mit erfundenen Figuren zu tun habe[]«.20 »Ich kann nicht über etwas schreiben, was ich nicht gesehen habe«21, bekräftigt er auch an anderer Stelle den autobiografischen Zug seines Romans. Paratext und Rahmenstruktur Durch den Paratext wird der Leser schon zu Beginn in ein raffiniert inszeniertes Szenarium eingeführt: »Anlaß, Verlauf und Schluß des nächtlichen Zusammenseins […] vom 26. auf den 27. April [1954] […] bilden ein Rahmenwerk um die Geschichten, die damals in der alten Jockey-Runde vorgebracht worden sind« (5). Hans Schott, Scholz’ alter ego, wird die Rolle des verantwortlichen Editors zugeteilt, der die vorgebrachten Geschichten »getreu nacherzählt« und unter Rücksprache mit den einzelnen Erzählern sicherstellt, dass sie »in der Gestalt«, welche jene »nachträglich in schriftlicher Wiederholung gegeben« (5) und bestätigt haben, erscheinen. Anlass für das Buch ist demnach der Einzug von Peter und Barbara Koslowski in das wiederaufgebaute ›Haus am Roseneck‹ als Einstandsgeschenk, aber auch als Erinnerung an jene im Roman dargestellte Nacht in der JockeyBar, in der sich das Paar wiederbegegnete und dann endgültig zusammenfand. Aufgelistet gleich den dramatis personae eines Stücks und namentlich genannt werden – mit Ausnahme von Peter Koslowski, für den das Werk bestimmt, und Jürgen Wilms, welcher noch in einem russischen Gefangenenlager interniert ist – alle in jener Nacht anwesenden Erzähler. Mit dem editorischen (und kleiner gedruckten) Zusatz »(Das Schriftwerk ist in sieben Exemplaren hergestellt worbrandenburgische Dorf Markgrafpieske ein zentraler Handlungsort in gleich zwei ›Novellen‹. In der ursprünglich für den Roman vorgesehenen, aber später separat unter dem Titel Schkola veröffentlichten ›Novelle‹ [hier taucht dieser Paratext jedoch nicht auf dem Titelblatt auf!], wird der Besuch eines unbenannten Ich-Erzählers »zum ersten Male hier in Markgrafpieske« (Scholz 1958, 21) berichtet – ein Erlebnisbericht, der sich kritisch mit dem gesellschaftspolitischen Leben in der frühen DDR auseinandersetzt. 18 N. N. 1956, 46. 19 Scholz 1960, 6. 20 Scholz 1976, 110. 21 Ebd., 44.
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den. Verteiler siehe am Schluß)« (5) wird der Eindruck erweckt, man habe es hier mit einem limitierten Schriftstück für einen auserwählten und exklusiven Freundeskreis zu tun. Die ausführlich zum Abschluss des Buches mitgeteilten Personendaten und Adressen, beispielsweise »Peter und Barbara Koslowski, Berlin-Grunewald, Miquelstraße 39-41 • Hans-Joachim Lepsius, p. t. Bruxelles p. a. ›America-Meridional S. A.‹ rue de Verbaelst 7« (370), unterstützen die Glaubwürdigkeit des Romans, indem er als ein mehrfach autorisierter und authentifizierter Text erscheint. Damit wird gleich zu Beginn die Aufmerksamkeit auf die wahrheitsgetreue Darstellung in Texten unterschiedlicher Textsortenzugehörigkeit gelenkt, die im gesamten Roman eine große Rolle spielt. Die Rahmenerzählung von Am grünen Strand der Spree beginnt zunächst mit einem Zitat von Gottfried Herder: »Trauet den weißen nicht, ihr Bewohner des Ufers!« (7). Mit diesem vorangestellten Motto22 wird nicht nur thematisch auf die zu erwartende Romanhandlung verwiesen, sondern auch ein hochkultureller Bildungsanspruch kommuniziert. Die eigentliche Rahmenerzählung beginnt dann mit einem wiedergegebenen Telefonat, einem »Kabinettstückchen witziger Schriftstellerei«23 zwischen »Dr. B.« (Dr. Brabender) und einem hier noch unbenannten »Ich« (das sich später als Hans Schott zu erkennen gibt). Die Leserinnen und Leser sehen sich auf den ersten Seiten in die gleiche Situation wie Schott versetzt: Sie werden lange im Ungewissen darüber gelassen, warum Dr. Brabender überhaupt anruft; sie sind daher gezwungen, dessen Andeutungen in einen Bedeutungszusammenhang zu bringen, was auch deshalb schwer fällt, weil das Gespräch immer wieder unterbrochen wird: »Dr. B.: Nicht doch, nicht doch! Du weißt, du bist doch ein Hort … eh … wie soll ich sagen? … Hort … Augenblick mal, entschuldige! Ich muß hier eben mal ganz kurz … (nicht in den Apparat) … ja … ja … dies auch, legen Sie mir dieses Aktenstück morgen früh noch einmal vor! … (zu mir) Entschuldige! Das waren zwei Unterschriften … Ein Hort also gesellschaftlicher Tugenden und Arbiter der guten Sitten und Gebräuche, nicht wahr … / Ich: Mach’s nicht so spannend, Mummi!« (7)
Hier wird eine Unmittelbarkeit der Darstellung in Szene gesetzt, gewährleistet durch den dramatischen Modus, sowie die Schnoddrigkeit des Berliner Jargons: Unvollendete Sätze, Stockungen, Ellipsen, rhetorische Fragen, Affektlaute und der Gebrauch von Modalpartikeln simulieren das Authentische der mündlichen Rede. Retardierende Momente wie die zwanzigminütige Unterbrechung des Telefonats (vgl. 10), mit denen Schott wie die Leserinnen und Leser auf die 22 Siehe dazu den Beitrag von Roya Hauck im vorliegenden Band. 23 Kaiser 1988, 370.
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Folter gespannt werden, dienen Scholz auch in späteren Romanstellen dazu, eine Alltäglichkeit der Situation zu inszenieren. Leserinnen und Leser sind am Anfang auf dem gleichen Wissenstand wie die Figur Schott und vollziehen im Laufe des Telefonats denselben Erkenntnisprozess – dies ist ein Beispiel dafür, wie Scholz sein Publikum unmittelbar am Geschehen teilhaben lässt, gleichzeitig ist er darauf bedacht, es zum Mitdenken anzuregen. Dr. Brabender bittet Schott darum, sich um den Kriegsheimkehrer Lepsius zu kümmern, damit dieser wieder zurück ins zivile Leben finde. Schott wird hier die Rolle des Spielleiters zugeteilt, der für das entsprechende Arrangement der nachfolgenden Handlung bereits gesorgt hat: »Ich: Also Fazit: Vier-HerrenAbend im Jockey, Vier-Mann-Symposium, Beginn acht Uhr. Mit Vorlesen als erstem Programmpunkt.« (12) Über kurze kommentierende Einschübe des IchErzählers (der sich gleich zu Beginn des Romans vor den ersten Dialogen als solcher zu erkennen gibt) werden die Leserinnen und Leser aber nicht ganz auf sich selbst zurückverwiesen, sondern mit knappen orientierenden Informationen versorgt wie: »Dr. Mathias Brabender, den wir, die unermüdlichen Freunde und Verfasser, gemeinhin die Mummi nennen, hatte abgehängt« (10). An dieser Stelle wird auch mit der Illusion gebrochen, dass das vorliegende Schriftstück allein für einen ausgewählten Freundeskreis bestimmt ist. Zwar wird mit dem benannten ›wir‹ auf diesen exklusiven Zirkel verwiesen, aber die Erläuterungen adressieren auch die externe Leserschaft. In derartigen, beinahe unauffälligen Textstellen wird man der Absicht des Autors gewahr, sein Publikum nicht auszuschließen, sondern ins erzählte Geschehen einzubeziehen. Dennoch hält sich, betrachtet man den gesamten Roman darauf hin, der Ich-Erzähler mit orientierenden Hilfestellungen zurück, so dass die Leserinnen und Leser auf sich allein gestellt bleiben und eigene Schlussfolgerungen ziehen müssen – beispielweise wenn das Tagebuch des Jürgen Wilms als erste, innerhalb der Rahmenerzählung eingebettete Geschichte übergangslos und unkommentiert abgedruckt wird (vgl. 14ff.). Erst mehrere Seiten später werden über die Gespräche der geselligen Runde in der Jockey-Bar die Zusammenhänge aufgeklärt. Der Wissensstand der Leserinnen und Leser entspricht damit abermals dem der anderen Romanfiguren, die das Tagebuch des Jürgen Wilms scheinbar auch zum ersten Mal erzählt bekommen. Über entsprechende Nachfragen und angestellte Vermutungen, wer der Tagebuchschreiber denn überhaupt sei – »›Sie [Hans-Joachim Lepsius] selber konnten es ja wohl kaum sein, der da als Gefreiter getarnt per Ich schreibt. Jetzt bin ich aber neugierig.‹« (24) – wird dem lesenden Publikum dann ganz nebenbei eine Exposition nachgetragen.
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Situationsgebundene Unmittelbarkeit und dialektgetragene Natürlichkeit des Dialogs Wie schon anhand des Telefonats zwischen Schott und Brabender aufgezeigt, wird immer wieder im Roman über verschiedene Figurenbegegnungen, Gespräche und Situationen eine Natürlichkeit bzw. Unmittelbarkeit der Darstellung entfaltet: Noch bevor beispielsweise Hesselbarth, Filmfachmann und Verfasser von Filmmanuskripten, seinen »Drehbuchentwurf […] in Novellenform« (69) über General Johann-Beatus von Hach und zu Malserhaiden24 sowie sein »novellenartiges Exposé« (127) der Familienchronik des Hauses Bibiena vorlesen kann, wird abermals ein retardierendes Moment installiert: Hesselbarth hat beide Texte (noch) nicht vorliegen. Verzögerungen wie diese wirken unprätentiös und ungeplant; so reagieren auch die Anwesenden der Jockey-Runde spontan auf diese Situation und suchen nach Lösungen: »Arnoldis: Und wenn du die Geschichte holen läßt? […] Hesselbarth: Wie? Jetzt mitten in der Nacht? […] Ich: Halt! Stopp mal bitte!« (69) Der dramatische Modus wird von Scholz hier eingesetzt, um die Unmittelbarkeit der Darstellung der Runde zu unterstreichen und für die Leserinnen und Leser glaubhaft zu halten. Während die fehlenden Schriftstücke von einem Pagen geholt werden (69f.), klärt Hesselbarth die Anwesenden mit seinen Erinnerungen über die in Wilms’ Tagebuch erwähnte Stadt Orscha auf: »Ich kann wohl sagen, daß ich dieses Bild gut im Gedächtnis behalten habe« (77). Die Authentizität des mündlichen Vortrags wird über die Verwendung verschiedener Redemittel erzeugt – durch rhetorische Formeln und direkte Anreden (»Sehen Sie«, 72; »Ist das eigentlich be-
24 Hesselbarth weigert sich, die Geschichte des Generals spontan und ohne Skript zu erzählen, verweist stattdessen auf sein ausgearbeitetes »Elaborat« (69) und betont somit die spezifische Qualität seines Textes. Das Drehbuch selbst ist durch einen gehobenen Sprachstil gekennzeichnet, teilweise mutet er auch amtlich an und kann als Parodie propagandistischer bzw. nationalsozialistischer Doktrinen gewertet werden: »Zwecks Durchdringung des Heeres mit nationalsozialistischem Gedankengut sowie behufs Beseitigung reaktionärer und sonstiger dem Endsiege noch entgegenstehender Kräfte hatte nun aber die Planstelle eines NS-Führungsoffiziers befehlsgemäß geschaffen werden müssen« (104). Abweichend von den medienspezifischen Charakteristika eines Drehbuchs sind auch persönliche Bewertungen zu finden wie »So felsenfest stand des Führers Reich denn nun doch nicht mehr« (104) oder »Aber Romantik beiseite!« (112), was selbst die Jockey-Bar-Runde dazu veranlasst, berechtigt und stellvertretend für die Leserinnen und Leser nachzufragen: »›[…] ist denn das nun ein Drehbuch?‹« (125).
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kannt?«, 73; »Ihr kennt es gut und vergeßt’s so wenig wie ich«, 72), durch Interjektionen (»Na ja«, 73; »Übrigens merkwürdig«, 75; »Himmel!«, 101), durch spontane Selbstreflexionen und Selbstfragen (»Wie hieß denn das bloß«, 73; »Wie soll ich sagen«, 80; »Ja, heute will es mir scheinen«, 99) und schließlich durch entsprechende alltäglich anmutende, flapsige Satzwendungen wie »Später hat sich kein Schwanz mehr darum gekümmert« (78). Auch in der Omnibus-Szene der vierten Novelle kommt der Natürlichkeit des gesprochenen Worts ein großer Stellenwert zu. Hans Schott gibt dort, »wenn auch nicht wortwörtlich« (176), die Gespräche von DDR-Bürgern wieder, die er während einer Omnibuspanne auf der Fahrt ins ostdeutsche Markgrafpieske hörte. Es »war jedes Wort zu verstehen, außer wenn zu viele Gesprächsfäden einander durchschossen« (177). Über mehrere Seiten wird den Unterhaltungen im Dialekt unkommentiert Raum gegeben, so dass man einen authentischen Einblick vom Alltag der Bevölkerung (»Jewiß! Hier sind wer nich Staatsbürger, hier sind wer Lagerinsassen. Das heißt: verfolgt is jeder«, 190) wie von den wirtschaftlichen Problemen und Engpässen (»[…] verdammten Mangel an Ersatzteilen, dem elenden Generatorholz, daß immer zu naß geliefert wurde«, 185) und von der politischen Willkürherrschaft in der DDR erhält (»[…] wat Verbrechen is oder nicht, bestimmt der Staat nach sein’n Jeschmack, lieber mal eens mehr wie eens weniger«, 184). Die ›Chronik des Hauses Bibiena‹: Zum Prozess mündlicher Überlieferung und freier Dichtkunst Was Scholz anhand der Familienchronik des Hauses Bibiena veranschaulicht, entspricht der prozessualen Logik oraler Dichtung, wenn Geschichten von Generation zu Generation weitergetragen und ihre Inhalte immer wieder spontan ergänzt und modifiziert werden. Das Konzept mündlicher Überlieferung folgt somit nicht den Prinzipien faktualer Wahrheit, sondern schließt den Prozess spontaner, dichterischer Kreativität während des Erzählvorgangs mit ein. In Hinblick auf die den Roman kennzeichnende Spannung zwischen Dokumentation und Fiktion ist diese Episode insofern bedeutsam, als Scholz hier die Differenz verwischt, indem zuvor aufgestellte Wahrheiten relativiert oder gar in Frage gestellt werden. Was zunächst wahr erscheint, kann auch Fiktion sein und umgekehrt – ein Sachverhalt, der von Scholz in dieser Episode nicht ohne Humor gestaltet wird: Die eigentlich von Fritz Georg Hesselbarth aus einem ebenfalls novellenartigen Exposé heraus nacherzählte ›Chronik des Hauses Bibiena‹ besteht im Grunde genommen aus einem von ihm rekapitulierten »Bericht« (128), den ihm Babsybi einst mündlich, während des Verlaufs einer Porträtmalstunde,
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gab. Immer wieder wird dabei, um die Situation möglichst natürlich und glaubhaft zu halten, Babsybis Erzählung durch den malenden Hesselbarth unterbrochen: »›Soviel ich in Erinnerung habe, Babsybi … nein, nicht so weit nach rechts und etwas heben, bitte! … so, wunderbar! …, sind Sie mit den Bologneser Bibienas doch ein zweites Mal verwandt geworden. Gab es da nicht so irgendeine Geschichte?‹« (129). Der mündliche Charakter der Erzählung wird durch diverse Fragen Babsybis, ihre Suche nach passenden Worten sowie von markierten Sprechpausen begleitet und betont: »›[…] der Urgroßvater … wie sagt man? … mehrerer degrés … Grade, welcher Ettore hieß […] … Sitze ich richtig? Oder?‹« (129f.) Babsybis Bericht scheint jedoch von Hesselbarth sehr vage wiedergegeben zu werden: »[…] so etwa ging die Erzählung von Babsybis schönen Mund fort« (131). Auch für die Richtigkeit dieser Erzählung legt Hesselbarth nicht seine Hand ins Feuer, sondern erklärt vorsichtshalber: »Relato refero: ich erzähle, was mir erzählt worden ist« (174). Entsprechend märchenhaft ist schon der Erzählbeginn Babsybis: »Und es habe, erzählte Babsybi, der unternehmende Vorfahr sich ein blondes von den dortigen Königskindern zum Weibe genommen und sei mit ihm nach Chile gegangen« (128). Der Wahrheitsgehalt der Chronik, zumindest in der erzählten und aus dem Gedächtnis rekapitulierten Version Babsybis, wird von Hesselbarth immer wieder angezweifelt: »›Babsybi? Der Herr Urgroßvater, der hat das wirklich alles so aufgeschrieben, und Sie haben es wirklich so aufmerksam gelesen?‹« (135). Gleichzeitig macht Hesselbarth Babsybi auf ersichtliche Fehler und Inkohärenzen aufmerksam: »›[…] Aber woher wollen Sie wissen, daß er [Ettore] sich im Mittelpunkt der Schlacht befunden hat, wenn er es doch nicht einmal wußte? […] Ich möchte mir aber nun doch mit Verlaub einigen Zweifel gestatten […]‹« (139). Babsybis Beglaubigungen bzw. potentielle Ausreden, vor allem aber ihre emotionalen Reaktionen überzeugen schlussendlich den verliebten Hesselbarth von der Authentizität ihres Berichts. Er lässt sich von Babsybis Schönheit blenden, ist im Folgenden zu jedem Zugeständnis bereit und bestätigt entsprechend ihre Ausführungen: »›[…] Im übrigen kenn’ ich die Geschichte von Ettore natürlich in großen Zügen‹« (140), gleichwohl er noch zuvor den Jockey-Bar-Herren gesteht, dass er »die Bibienachronik keineswegs jemals selbst in der Hand gehabt« (136) habe. Das Verhältnis zwischen Wahrheit und Lüge kann innerhalb der erzählten Welt also selbst von den Figuren nicht mehr unterschieden werden – es sei denn, man vertraut den wiederholt geäußerten Beglaubigungen Babsybis: »›Sie sollen alles glauben‹«, »›Und in der Familienchronik steht es so geschrieben‹« (133), »alles […] stimmt mit der wirklichen Situation überein« (139). Die Teilnehmer der Jockey-Runde scheinen sich voreinander nicht die Blöße geben zu wollen
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(wie die Verlegenheit von Arnoldis zeigt), an Babsybis Worten zu zweifeln, so dass sie den von ihr beschriebenen Inhalt der Chronik stillschweigend anerkennen und damit bestätigen: »Arnoldis räusperte sich und meinte, bis dahin habe jeder die Geschichte so ungefähr im Kopf gehabt. […] ›Übrigens habe ich bei diesen Aufführungen [in denen die Chronik nachgespielt wurde] […] gelegentlich selbst mitgemimt […]‹« (158). Scholz scheint im weiteren Verlauf seine Leserinnen und Leser prüfen zu wollen, inwieweit sie dazu bereit sind, sich auf die Romanfiktion einzulassen, indem er nachträglich Babsybis Äußerungen mit diversen abgedruckten Briefdokumenten, die von ihren Nachforschungen zur Familienchronik berichten (vgl. 159ff.), zu beglaubigen versucht. Dokumentarische Authentizität und chronistischer Anspruch: Das Tagebuch des Jürgen Wilms Generell wird im Roman großen Wert auf die Mitteilung der Überlieferungsgeschichte des jeweiligen Textes und seine spezifische Materialität gelegt. Im Fall des Tagebuchs versichert Lepsius, dass er Jürgen Wilms noch während des Krieges in einem Arbeitslager getroffen habe. Dort habe dieser ihm »ein winziges Bündel Notizbüchlein«, bestehend aus »vier Heftchen«, zukommen lassen (vgl. 28), welches er, eingenäht in seine Manteltasche, nach Bremen geschmuggelt habe. Das Tagebuch ist in einem materiell fragilen Zustand: »Es sind einzelne, meist mit Bleistift geschriebene Blätter, halb ausgelöscht, zum Teil beschmiert oder sonstwie abgerissen, einige, die sich, soweit man entziffern kann, auf Warschau beziehen, bestehen leider nur aus verklebten Fetzen« (29). Lepsius, der aus einem »säuberlich getippte[n] Manuskript« vorliest (19), betätigte sich daher offenbar nachträglich als Editor, indem er die ihm übergebenen Materialien entsprechend aufbereitete: »Alles Lesbare habe ich wörtlich übernommen. Meine Zutat ist nur die Auswahl und die Anordnung unter einem bestimmten Gesichtspunkt. Von den Fotografien existiert keine …« (29). Diese kommentierenden Zusätze, die im Tagebuch in Klammern stehen, suggerieren die tatsächliche Existenz des Textes, wobei durch den wiederkehrenden Verweis auf dessen materielle Verfasstheit – »(Text verwischt)« (16), »(Blatt eingerissen und unleserlich)« (17), »Mittagsh(itze?)« (17), »(dann ist der Text sehr entstellt und im Zusammenhang nicht mehr zu lesen […])« (40) – die Authentizität des Dokuments noch weiter betont wird. Zudem verweisen derartige Informationen auch auf die teilweise schwierigen Situationen, in welchen Wilms seine Notizen aufs Papier brachte: »Dann folgen mehrere fast unleserliche Zettel. […] (Photo 143-157 R). Letzte höchstwahrscheinlich verwackelt wegen Fliegerbombe« (52). Wie am zitierten Beispiel gesehen, werden die in Klammern gesetzten, kommen-
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tierenden Zusätze des Editors notationstechnisch inkonsequent gehandhabt: teilweise wie hier weggelassen oder gar mit Selbstaussagen und Einordnungen von Wilms unterlegt. Manche Textstellen lassen sich nur bei genauem Lesen aus dem Kontext erschließen: »›Was Sie machen?‹ fragte Gallina. (Also: ich habe den Namen des Mädchens so verstanden; wäre zu überprüfen, wie er sich schreibt.)« (41). Die Grenzen zwischen dem Autor Jürgen Wilms und seinem Editor Hans-Joachim Lepsius, zwischen einer im Tagebuch unmittelbar wiedergegebenen Gegenwart und einer aus der zeitlichen Rückschau, d. h. nachträglich angestellten Einordnung verschwimmen. Unsicherheiten bei der nachträglichen Entzifferung der Handschrift seitens des Editors – »…frischung zurück nach Orscha am Dnjepr … (was wohl Auffrischung geheißen haben dürfte)« (52f.) – sowie angestellte Vermutungen über Jürgen Wilms Biografie – »Ich weiß nicht, was er war und bei was für einem Haufen, aus seinen Tagebüchern, die ich hier in Auszügen vor mir habe, geht das nicht hervor« (27) – markieren die Grenzen, das dergestalt überlieferte Schriftstück verstehen zu können. Sie verweisen auf die Wahrscheinlichkeit solcher Überlieferungslagen und bekräftigen somit nur die ›Illusion der Authentizität‹. Das Tagebuch selbst, verstanden als subjektiv-private Textsorte, gibt die unmittelbar erlebten Eindrücke und persönlichen Gedanken von Wilms direkt wieder. Eine derartige Textgattung kennt insofern kein Publikum, ist anders als ein Brief, ein Drehbuch oder ein Flugblatt für keinen konkreten Adressaten bestimmt, sondern dient dem jeweiligen Schreiber u. a. der persönlichen Zwiesprache, der Selbstreflexion und ist somit durch eigene inhaltliche Schwerpunkte und Interessen bestimmt. Entsprechend sind Wilms’ Tagebucheinträge von dessen Vorliebe für fremdsprachliche Etymologie geprägt, deren Erläuterungen manchmal ganze Abschnitte einnehmen, oftmals sperrig erscheinen und hinsichtlich der beschriebenen Handlungsvorgänge keinen Erkenntnismehrwert besitzen. Stattdessen dokumentieren sie einzig Wilms’ Begeisterung für fremde Sprachen und seinen Sprachlernprozess in den besetzten Gebieten: »rynek = Marktplatz. Dr. Zygmunt Wiedeński, lekarz. Poliklinika. Majer Epsztein, handel. Drukarnaia, Hersch Szwarcszild. Farby i lacky, Schalom Riż. Meble, I. Gumpert ... Drukarnaia muß Druckerei heißen« (15). Diese unprätentiöse, vom Autor scheinbar nicht intendierte Darstellung nutzt Scholz bewusst dazu, die Authentizität des Tagebuchs zu verdeutlichen.25 25 Auch in anderen Werken wird die Eigenart von Scholz manifest, sich ausgiebig über etymologische Zusammenhänge auszulassen, indem er beispielsweise über die Sprache des Niedersorbischen aufklärt, »Wotschofska (deutsch = Wasserwirtschaft)« (Scholz 1976, 99), oder die Wortursprünge des Namens ›Berlin‹ erläutert: »Perle ist eine deutsche Vokabel; Perle, sehr alt als Berill, niedersächsisch Berel […], anähneln-
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Obwohl Wilms’ Tagebucheintragungen persönliche Gedanken und Interessen wiedergeben, besitzen sie dennoch dokumentarische Qualität, insbesondere wenn er in chronistischer Manier seine Beobachtungen und Erlebnisse im Kriegssommer 1941 in Polen und Russland notiert: »Maciejowice, 5. Juni 41. / Der Marktplatz steigt gewölbt und schräg an, holprig gepflastert mit Katzenköpfen, Gras dazwischen. Praller, glühender Mittag […]. Die Häuserreihen im Karree gucken sich über den Platz hin gegenseitig an, hell getüncht, ocker, rosa und schlohweiß blendend […]. Die Pfeiler sehen aus, als könnten sie mehr tragen. Zwei von den vielen, niedrigen Giebeln versuchen sich befangen und ungelenk in barocken Wendungen, der eine mit einer gipsernen Volute und einer Vase ohne Pendant, der andere mit einem goldenen Knopf, der sehr erglänzt: die Apteka. / Eine Ju 52 dröhnt jäh über die Dächer. Sie ist von unten himmelblau bemalt und schwankt etwas im Winde. […] Drei Menschen sind auf dem Platz. Drei. Einer barfüßig im Löwenzahn mit dem Gesicht gegen die geböschte Wand. Der steht da. Einer steht zehn Meter hinter ihm auf der breiten Pflasterwölbung, Gewehr über der Hüfte, Stahlhelm. Sieht dem an der Wand auf den Rücken. Und ich stehe im leeren Laubengang mit den verschlossenen Luken und Läden und sehe das, trage die gleiche Uniform wie der im Stahlhelm. Was soll ich hier in Polen?« (14)
Gleich dem Objektiv einer Filmkamera, angefangen von der Totalen bis zu detaillierten Großaufnahmen einzelner Häusergiebel, wird hier der Marktplatz in Maciejowice an jenem 5. Juni 1941 zur Mittagszeit durch den abseitsstehenden Wilms (hier über den point of view) beschrieben. Akustisch und optisch wahrgenommene Sinneseindrücke eines heranfliegenden Flugzeugs stehen neben sachlichen und selbstreflexiven Beschreibungen, beispielweise die Gefangennahme eines Polen. Derartige Textabschnitte halten somit eine unmittelbar erlebte Situation als Augenzeugenbericht fest.26 Die Leserinnen und Leser können sich de Orts- und Flurnamen Barlin, Berlez, Perlin, Berlitt und sei’s auch Perleberg« (Scholz 1959, 146). Scholz’ eigene Interessensgebiete und thematische Vorlieben treten also gerade in Wilms’ Tagebucheinträgen besonders deutlich zutage. Darüber hinaus wird Scholz in seinem Buch Berlin, jetzt freue dich (1960) – eine Art Konglomerat aus politischen Reflexionen, Glossen, Gedichtzitaten sowie sprach- und lokalgeschichtlichen Passagen – auf die Gattung des Reisetagebuchs zurückgreifen. 26 Der Stil der Tagebucheinträge ist der jeweils persönlichen Situation Wilms’ angepasst (Authentizitätsmerkmale), beispielsweise wenn er aufgrund ständiger Truppenverlegungen kaum Zeit zum Schreiben findet und sich kurzhalten muss. Diese Textstellen sind dann knapp, notizartig gehalten und zeichnen sich durch Auslassungen von Subjekt und Verb aus: »Keine Zeit gehabt seit Łuckow. Nicht zum Schlafen. Kaum zum Photographieren. […] Bei Sonnenaufgang heute ungeheurer Artillerieschlag. War ge-
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über das notierte Blickverhalten Wilms’ in die beschriebene Situation hineinversetzen. Gleichzeitig verfolgt der Roman jedoch auch einen chronistischen Anspruch im Versuch, einen authentischen Eindruck vom Kriegsalltag zu vermitteln. Die zahlreichen Fotografien, die zwar nicht mehr erhalten sind, aber von Wilms den jeweiligen Einträgen beigefügt wurden – »104-120 P Warschau, 134/35 P Einheiten des Kw.Trpt. 605 beim Marsch durch die Stadt, dazu heimlich vom Wagen aus 135-137 P ins Ghetto hinein« (40) – markieren diesen dokumentarischen Anspruch des Tagebuchs. Dieser nimmt im weiteren Textverlauf jedoch zugunsten einer verstärkt assoziativen Bewusstseinsdarstellung ab: »Ruth Esther Loria. Im Parke von Versailles fragtest du mich: ›Willst du nicht bleiben?‹ […] Ich bin Jüdin und du Deutscher. […] ›Sieh! Bleu Versailles!‹ / Schwieg. Schäme mich. Lief. Lebe. Schwieg […] Wache der 13. Kp./461. Zwei Mann auf Posten […]. Ich stolperte über den Bahndamm der Linie nach Schmolensk. […] Der Luftzug harfte Musik in den Telegraphendrähten: hm ta ta, hm ta ta! […] Auf den Judenfriedhof zu zog’s den Blick, weil dort im Schwarz-Weiß-Grau der verdorbenen Landschaft die eine Farbe war: das Sandgelb des frischaufgeschütteten Festplatzes. Unter den Birken … tandaradei! Wo unser zweier Bette was … unter den Weiden … […] ›Du kümmerst dich da um Dinge, die dich doch eigentlich als Deutscher gar nicht angehen.‹ / Ich liebe dich nicht mehr, Jutta. Du bist so blond, Jutta. Sandgelb ist dein Haar. Frischaufgeschüttet. Ein Spatengriff, zackig, wie er im Buche steht, für den Reichsarbeitsdienst, ›wo ich mir die ganze Figur verdorben habe.‹« (56f.)
Diese Textstellen, die aus »mehrere[n] fast unleserliche[n] Zettel[n]« (52) bestehen und ohne Datum gekennzeichnet sind, brechen stilistisch mit der chronistischen Tagebuchform vom Anfang. Scholz verlegt sich stattdessen auf eine ästhetisierende Gestaltung: Angefangen vom subjektiven Darstellungsmodus des inneren Monologs über zahlreiche Montagen bis hin zu Onomatopoetika nutzt er ausgiebig das Formenvokabular moderner Literatur der Jahrhundertwende27, um das Psychogramm von Wilms zu gestalten. Der Romantext legt hier die psychische Disposition, ja das Unterbewusstsein von Wilms offen: Über verschiedene Flashbacks werden bestimmte biografische Stationen assoziativ rekapituliert: Fluchtverhalten, Feigheit und anschließendes Schuldbewußtsein (»Ich hätte dich nicht verlassen sollen, Ruth Esther Loria«, 17) kommen dabei immer wieder zum Vorschein und verweisen auf vergangene Ereignisse, die Wilms’ Verhalten auch in der Gegenwart bestimmen – »Aber so bin ich. Stehe bloß immer da und nau 3 Uhr 02. Sang ein Haufen Nachtigallen im Gebüsch am Fluß. Russen wenig Widerstand in unserm Streifen« (42). 27 Siehe dazu den Beitrag von Moritz Baßler im vorliegenden Band.
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gucke; und es ist immer zu spät, etwas zu tun« (30). Der Roman verweist so auf Grundfragen menschlicher Verantwortung, die angesichts der Erfahrungen von Krieg, Diktatur und genereller Unmenschlichkeit zwischen passivem Hinnehmen und aktivem Widerstand schwankt. Wilms’ Erinnerungen an seine jüdische Freundin Ruth Esther Loria in Paris wechseln über nachträglich angestellte Reflexionen (›Schwieg. Schäme mich‹) hinweg abrupt in die optisch (›Zwei Mann auf Posten‹) und akustisch (›hm ta ta, hm ta ta‹) wahrgenommene Gegenwart. Versatzstücke literarischer Zitate (die teilweise abgewandelt sind, so beispielsweise von Walther von der Vogelweide: ›Unter den Birken … tandaradei! Wo unser zweier Bette was‹) sowie von bereits an anderer Romanstelle abgedruckten Briefzeilen seiner Verlobten Jutta (›Du kümmerst dich da um Dinge‹, 50; ›wo ich mir die ganze Figur verdorben habe‹, 33) werden assoziativ mit verschiedenen Sinneseindrücken der erfahrbaren Wirklichkeit verbunden und so in neue Sinnkontexte überführt. Gegen Ende wechseln die in der Ich-Form gehaltenen Textpassagen in die Er-Form, mit dem Anspruch, eine allgemeingültige Repräsentativität zu erzielen: Der eindringliche Appell »Sieh in die Grube, scheener Herr aus Daitschland!« (58) sowie Sätze wie »Er rennt, er rennt, der feige Herr aus Deutschland« (63) sind nur vordergründig auf die Figur Jürgen Wilms bezogen. Vielmehr konfrontieren sie die Leserinnen und Leser (der Nachkriegszeit) mit ihrer eigenen Vergangenheit und der Frage nach der eigenen Schuld bzw. Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten im Kontext der Shoa (für die die im Roman beschriebene Juden-Erschießungsszene stellvertretend steht). Der hier auszumachende Wechsel von chronistischer Dokumentation zu betont artifizieller Fiktion indiziert somit auch einen intendierten Wechsel in der Adressierung, der über die erzählte Welt des Romans hinausgeht. Das literarische Spiel mit Lüge und Wahrheit: Arnoldis’ Italien-Episode Die achte und letzte Novelle, die von Schauspieler Bob Arnoldis aus dem Stegreif erzählt wird und dezidiert als Lügengeschichte angelegt ist, steht dem primär dokumentarisch-chronistischen Anspruch des Tagebuchs von Jürgen Wilms diametral gegenüber. Das Verhältnis von Dokumentation und Fiktion wird von Scholz hier bewusst relativiert, indem die zuvor im Roman installierten Authentisierungsmerkmale ironisiert, aber weiterhin ›glaubhaft‹ gehalten werden. Die
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Geschichte von Hans-Werner Hofer, Arnoldis’ alter ego, spielt wie schon Wilms’ Tagebuch mit zahlreichen literarischen Bezügen28 und Modi. Dem Metier des Schauspielers Arnoldis entsprechend wird seine Geschichte als dreiaktiges Drama inszeniert, das mit einleitendem Nebentext beginnt: »Vorhang auf. Pension der Freifrau v. Mönkhusen [namentlich angelehnt an die Pensionsinhaberin in Juttas Brief Frau von Müncheberg]; in der Umgebung von Florenz. […] Am Tische links unser Hans-Werner und zwei Damen« (320). Bereits zuvor vollzieht sich die Unterhaltung mit Direktor Gatzka über verteilte Rollen im dramatischen Modus spielerisch (vgl. 304ff.); sie nimmt die als Lügengeschichte getarnte, aber eigentlich auf Frau Katzi bezogene Florenz-Episode vorweg. Ganz am Ende weisen sich selbst die innerhalb der Geschichte auftretenden Figuren in ihrer inszenierten Künstlichkeit bzw. in ihrem Kostüm- und Rollenspiel aus, so wenn der Graf Chiaroscuro Hofer gesteht, dass seine Soldatenuniform, die noch zuvor großen Eindruck auf die Frauenfigur Cornelia machte, eigentlich nur aus einem Kostümfundus geborgt, also nicht echt war (vgl. 350). Hofer, der von Cornelia betrogen und daher enttäuscht aus Florenz abreiste, wird also nachträglich über die doppelte ›Realität‹ des Theaters in Form eines ›Spiels im Spiel‹ aufgeklärt – diese Verwechslungskomödie wird dann anschließend in der Rahmenerzählung weitergeführt. Dort will der eifersüchtige Direktor Gatzka in der porträtierten Frauengestalt Cornelia seine Ehefrau Katzi wiedererkannt haben, was wiederum selbst (wie zuvor bei Hofer) zu einer überstürzten Abreise des Ehepaars führt. Nachträglich gesteht Arnoldis, dass seine »alberne Geschichte« (351) in der Tat durch den Besuch des Ehepaars, insbesondere durch die Worte Katzis, inspiriert war: »Die Daten, die sie mir ahnungslos zuspielte: Vicollo San Soundso, Herbst fünfunddreißig […] sind über jeden Zweifel erhabene, eherne Fundamente meiner Erzählung« (359). Die von Arnoldis dargebotene Lügengeschichte wurde von Gatzka also als Wahrheit (miss)verstanden. Arnoldis wurde auch durch Jutta von Prauß’ Briefe, die bereits von Lepsius vorgelesen worden waren, inspiriert, so dass Inhalte authentischer Dokumente innerhalb der Lügengeschichte fiktionalisiert werden – zugleich wird damit von Scholz der Bogen wieder an den Romananfang zu Jürgen Wilms’ Tagebuch geschlagen. So werden den Leserinnen und Lesern die beiden Pole des Romans – Dokumentation auf der einen, Fiktion auf der anderen Seite – wieder ins Bewusstsein gerufen; vor allem wird dabei auf die Relativität der beiden Seiten hingewiesen. 28 Angefangen von Goethes Faust – »oder in welcher Gestalt immer das Ewig-Weibliche hinabzöge« (320) – bis hin zu verballhornten Zeilen des Deutschlandlieds: »Der Hund bellte an der Etsch. Bis an den Belt. Etsch-etsch-etsch-etsch, machte die Lokomotive, wenn man richtig hinhörte« (318).
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Resümee Scholz lässt in Am grünen Strand der Spree wiederholt Zweifel an der vorgeblichen, weil behaupteten Authentizität der vorgetragenen Texte zu, so dass Leserinnen und Leser dazu angeleitet werden, selbstständig und kritisch zwischen faktualer und fiktionaler Ebene zu unterscheiden, wobei ein pädagogischer Zug des Autors zu bemerken ist. Diese Tendenz ist Resultat von Scholz’ Biografie und lässt sich auf seine Erfahrungen während der nationalsozialistischen Diktatur, als Soldat während des Zweiten Weltkriegs und nicht zuletzt auf das sozialistische Kontroll- und Reglementierungssystem der DDR zurückführen. Das, was dann im Roman über wechselnde Zeiten bestehen bleibt, sind humanistische Werte wie Freundschaft und Liebe, allen erfahrenen Ungerechtigkeiten, persönlichen Tragödien und politischen Systemen zum Trotz. Wenn im Roman Scholz’ alter ego Jürgen Wilms über die während des Kriegs verübten Gräueltaten reflektiert – »Genügt das reine Bewußtsein der innerlichen Ablehnung? Ist das schon eine Leistung?« (48) –, so wird damit auch eine moralische Grundfrage berührt, nämlich jene von menschlicher Verantwortung und Schuld, die von jedem Einzelnen persönlich beantwortet werden muss. Bewusstsein oder »Selbsterkenntnis«29, wie es in Schkola heißt, bedeutet, Verantwortung für sich und für andere zu übernehmen. Mit der im Roman permanent vollzogenen Grenzverwischung von Dokumentation und Fiktion versucht Scholz jene
angesprochene ›Selbsterkenntnis‹ bei seinem lesenden Publikum zu fördern – gleichzeitig verweist er damit auch auf die Relativität beider Ebenen, ein Konzept, das im Roman schon Peter Koslowski beschreibt: »Geschehen und erzählt, meine Herren, ist durchaus noch nicht dasselbe« (257).
Quellenverzeichnis Primärliteratur Scholz, Hans: Am grünen Strand der Spree. So gut wie ein Roman, Hamburg 1955. Scholz, Hans: Schkola, München [1958].
29 Scholz 1958, 58.
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Sekundärliteratur Biedrzynski, Richard: Über Hans Scholz. In: Literatur-Kalender. Spektrum des Geistes. Ein Querschnitt durch das Geistes- und Verlagsschaffen der Gegenwart 6 (1957), 24. Erichsen, Susanne/Hansen, Dorothée: Susanne Erichsen. Ein Netz und eine Krone. Die Lebenserinnerungen des deutschen Fräuleinwunders, München 2003. Jaesrich, Hellmut: Die Ritter der Tafelrunde. Erlebnisbericht über ein BerlinBuch. In: Der Monat. Eine Internationale Zeitschrift 8 (1956), H. 90, 55-58. Kaiser, Joachim: Erlebte Literatur. Vom Doktor Faustus zum Fettfleck. Deutsche Schriftsteller in unserer Zeit, München 1988. Korn, Karl: Berliner Dekameron 1955. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 24 (28.1.1956), Bilder und Zeiten, [5]. N. N.: Boccaccio in der Bar. In: Der Spiegel, Nr. 12 (31.3.1956), 44-46. Scholz, Hans: 1926. In: Als ich fünfzehn war… Schriftsteller der Gegenwart erzählen, hg. von Eckart Kroneberg, Gütersloh 1969, 141-155. Ders.: Berlin zwischen Wäldern und Seen. In: Berlin. Am Kreuzweg Europas. Am Kreuzweg der Welt, hg. von Ernst Lemmer, Berlin-Wilmersdorf 1959, 146-160. Ders.: Dienst an der Sittlichkeit. Am grünen Strand der Spree unter der Schere des Zensors. In: Die Zeit, Nr. 23 (3.6.1960), 6. Ders.: Jahrgang 1911 – Leben mit allerlei Liedern. In: Jahr und Jahrgang 1911. Hans Mommsen. Hans Scholz. Jan Herchenröder, hg. von Joachim Karsten, Will Keller und Egon Schramm, Hamburg 1966, 54-116. Ders.: Wanderungen und Fahrten in der Mark Brandenburg, Bd. 4, Berlin 1976. Schwab-Felisch, Hans: Am grünen Strand der Spree. Zu dem neuen Berlin-Buch eines neuen Autors. In: Die Zeit, Nr. 42 (20.10.1955), 7. Wieser, Theodor: Am grünen Strand der Spree. In: Neue Zürcher Zeitung und schweizerisches Handelsblatt, Nr. 2096 (25.7.1952), 2.
Am grünen Strand der Spree – So gut wie ein Künstlerroman Antonie Magen Kunst ist eines der zentralen Themen, die Hans Scholz in seinem Roman1 behandelt. So sind bis auf Lepsius alle Mitglieder der Tafelrunde Künstler. Während des Abends in der Jockey-Bar kommen sie gesprächsweise nicht nur immer wieder auf den Gegenstand zu sprechen, sondern betrachten ihn theoretisch in einer Weise, die schließlich zu einer Art philosophischen Ästhetik führt und als Alleinstellungsmerkmal des Romans gelten kann. Zumindest wird im Vergleich mit der Fernsehfassung des Spree-Komplexes das Thema Kunst in der Rahmenhandlung des Romans weit ausführlicher behandelt als das im Film der Fall ist.2 1
Im Folgenden wird die 3. Auflage des Romans mit Seitenangaben in Klammern zitiert: Scholz 1955. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Roman beschränkt sich, von summarischen Hinweisen in Literaturgeschichten abgesehen, auf wenige Aufsätze, die sich weniger mit der Kunstthematik als vielmehr mit den zeithistorischen Hintergründen beschäftigen. Zu nennen ist hier in erster Linie der Beitrag von Puszkar 2009. Im jüngsten Sammelband zur literarischen Holocaust-Rezeption findet sich auch ein Aufsatz zu Am grünen Strand der Spree (Adam 2018). Bereits in seiner Monografie Der Traum vom Jahre Null würdigte Christian Adam den Roman ausführlich vor zeithistorischem Hintergrund (Adam 2016, 85-90). Das Traditionsverhalten im Blick auf das rahmenzyklische Erzählen beleuchten Heck/Lang 2018.
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Im Roman wird an drei Stellen der Rahmenhandlung über Kunst gesprochen: Am Anfang, nach der ersten Episode und zuletzt nach Česnicks Eintreffen. Zu letzterer Gelegenheit werden Aspekte, die früher schon erwähnt wurden, wieder aufgegriffen und weitergeführt, etwa die Definition expressionistischer Kunst (zu dieser s. u.). In der Fernsehfassung entfällt der dritte Gesprächsteil, die beiden anderen finden Eingang. Ebenfalls nicht in die Verfilmung übernommen wird das Gespräch zwischen
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Hinzu kommt, dass die Česnick-Episode, in der Romanversion diejenige, in der das (Berufs-)Künstlertum des Protagonisten am deutlichsten im Vordergrund steht, in der TV-Version wie in der Hörspiel-Fassung ersatzlos entfällt. Im Roman werden somit ästhetische Prinzipien entwickelt, die in der späteren Fernsehfassung auf genuin filmische Weise umgesetzt werden.3 Sie übernimmt dabei auch die autoreflexiven Überlegungen des Romans zum Film: Ausführlich wird diskutiert, inwieweit ausgerechnet Jürgen Wilms’ Tagebuch zur Verfilmung geeignet ist (65). Dabei ist eine Aussage Hesselbarths aufschlussreich, in der er darauf aufmerksam macht, dass die wichtigste deutsche Filmgesellschaft der Nachkriegszeit Deutschlands militärische Vergangenheit zwar verarbeiten würde (20f.), freilich ohne dabei Gegenstände zu berühren, die sich tatsächlich mit Deutschlands Vergangenheit auseinandersetzen (21).4 Darüber hinaus spielt das Thema Kunst nicht nur in den Gesprächen der Rahmenhandlung, sondern in jeder einzelnen Romanepisode in Form einer künstlerischen Betätigung eine Rolle und wird so zu einer Art Leitmotiv, das die Einzelgeschichten thematisch zusammenhält: Jürgen Wilms fotografiert5, im Barbara Bibiena und Hesselbarth, das während der gemeinsamen Porträtsitzung stattfindet, sowie die Briefe, die Barbara Hesselbarth von Sylt schreibt. Beide Stellen sind im Roman ebenfalls wichtig für die theoretische Reflexion des Themas Kunst (vgl. dazu Anm. 21 und Anm. 26). 3
Somit wird das Verhältnis von Literatur und Film praktiziert, das in der Romanfassung beschrieben wird, wenn Hesselbarth die Novelle als Grundlage für das Drehbuch sieht, auf welchem wiederum der Film basiert (12, 125).
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Im Hintergrund steht hier das Genre ›Trümmerfilm‹, das in den unmittelbaren Nachkriegsjahren Konjunktur hatte und in dessen Tradition das Tagebuch des Jürgen Wilms steht. Mit Beginn der 1950er Jahre verschwand es wieder von den Leinwänden und machte Filmen wie 08/15 und CALIPSO Platz, die den Geschmack des Publikums sowohl trafen als auch bildeten (vgl. hierzu Hake 2004, 165f.). Hinzu kommt, dass seit Mitte der 1950er Jahre die Wehrmacht im Film – mit Blick auf die entstehende Bundeswehr – rehabilitiert wurde, was die genannten Titel ebenfalls zeigen (Wilharm 2006, 101); zur »Abneigung gegen eine Konfrontation des Kinopublikums mit der Holocaust-Problematik« vgl. auch Vatter 2009, 49; zur konkreten Darstellung der Wehrmacht in der Fernsehfassung des Spree-Komplexes vgl. den Beitrag von Lars Koch, der jedoch die »Berührungspunkte mit verbreiteten apologetischen und relativierenden filmisch-fiktionalen und nichtfiktionalen Auslegungen der NS-Vergangenheit aus den fünfziger und frühen sechziger Jahren« betont (Koch 2007, 72f.).
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Jürgen Wilms’ Fotografien werden von seinen Kameraden ausdrücklich als Kunst gedeutet (49f.). Zudem wird er ironisch von seinem Vorgesetzten als »[h]alber Dichter« (54) bezeichnet. Künstlertum findet sich auch in den Nebenfiguren, die der Figur
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norwegischen Zwischenspiel dient Kunst dem gesellschaftlichen Zeitvertreib6, und in der historischen Erzählung von Ettore Bibiena hat sich Rosalbas Vater – von Haus aus Architekt und Maler – auf Bühnenmalerei spezialisiert (157).7 In den beiden Markgrafpieske-Episoden wiederum wird mehrmals auf Koslowskis schauspielerische Profession und Begabung verwiesen (194, 207). Zudem wird hier Volkskunst im romantischen Sinn produziert, wenn Bärbel Kroll unter Anleitung des Sagen- und Märchensammlers Schorin einen Aufsatz in »volksliedhafter Tonart« (234, 211f.) schreibt. Schließlich spielt Kunst in der ItalienErzählung, die Bob Arnoldis zum Besten gibt, eine herausgehobene Rolle. Ihr Schauplatz ist Florenz, die Kunststadt par excellence (320). Den Verführungskünsten des fiktiven Hans-Werner Hofer erliegt ausgerechnet eine Kunsthistorikerin, was noch eine andere Perspektive auf den Gegenstand ermöglicht, nämlich die der Wissenschaft(sparodie).8 Damit ist Am grünen Strand der Spree in Jürgen Wilms zugeordnet sind. So berichtet Hesselbarth ergänzend zu Jürgen Wilms’ Geschichte, dass der Bruder von Irene Maria ein Theaterengagement hat (73). 6
Der O I spielt Klavier (90). In dieser Episode ist die Rolle der Kunst zwar am wenigsten präsent, wird aber immer wieder en passant erwähnt. So ist z. B. die Bemerkung des Freiherrn von Hach und zu Malserhaiden zu verstehen, dass alle Menschen »Schauspieler auf den Brettern des Lebens« (100) seien. Hier wird die Untrennbarkeit von Kunst und Leben formuliert, die ins Zentrum des Kunstverständnisses im Roman trifft. Auch ist es keineswegs zufällig, dass hier der Dichter Knut Hamsun als Helfer für politisch Verfolgte (113) inszeniert wird.
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Zum Beruf von Rosalbas Vater vgl. auch 155. Hinzu kommt, dass mehrere von Barbaras Vorfahren »kunstreichste[] Maler und Architekten« (132, vgl. auch 128) waren. Mit diesem Zuschnitt befindet sich Rosalbas Vater in künstlerischer Nähe zu Hesselbarth, der als Maler ebenfalls auf eine performative Kunstform, den Film, umgestiegen ist. Betont werden soll in diesem Zusammenhang auch, dass es sich bei der Tätigkeit von Rosalbas Vater um ein Kunsthandwerk handelt (zu dessen Bedeutung für das Kunstverständnis im Roman s. u.).
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In diesem Zusammenhang sollte ein biografisches Detail nicht unerwähnt bleiben, nämlich das Kunstgeschichtsstudium von Hans Scholz, das sowohl ein einschlägiges Interesse belegt als auch die Grenzen aufzeigt, die die akademische Herangehensweise an das Thema ›Kunst‹ hat. Biografisches findet sich darüber hinaus in den Künstlerfiguren des Romans. Jeder von ihnen vertritt eine Kunstrichtung, die Hans Scholz selbst ausgeübt hat (vgl. Adam 2016, 87f.). Diese Anklänge haben Norbert Puszkar zu dem Befund veranlasst, der Roman sei »in many respects an autobiographical novel«, wenngleich er sich damit in erster Linie auf Scholz’ Stationierung in Polen und Norwegen bezieht, die im Roman Wilms und Hesselbarth widerfährt (vgl. Puszkar 2009, 312). Trotzdem spielt der Künstler im Kunstkonzept des Romans nur eine untergeord-
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mehrfacher Hinsicht das, was die Literaturwissenschaft als ›Künstlerroman‹ bezeichnet hat, wenn auch nicht in klassischer Ausprägung. Im Mittelpunkt stehen zwar diverse Künstlerfiguren, aber kein einzelner Künstler, dessen Entwicklung biografisch ausgearbeitet wäre. Im Gegenteil: Das Kunstkonzept, das dem Roman zugrunde liegt, negiert sogar vorsätzlich ein künstlerisches Individuum.9 Gleichwohl werden die für den Künstlerroman typischen Fragen nach den Aufgaben von Kunst, den Bedingungen ihres Schaffens sowie ihrem Nutzen für die und ihrer Stellung in der Gesellschaft aufgeworfen. Generalnenner der Epoche Die elementarste Aufgabe von Kunst benennt Hans Scholz in seinen Lebenserinnerungen, die zwar erst 1966, ein gutes Jahrzehnt nach Erscheinen seines Erfolgsromans, publiziert wurden, aber Grundsätze formulieren, die bereits in Am grünen Strand der Spree zur Anwendung kommen. Zu lesen ist dort: »Aufgabe […] ist es immer, möglichst viele Phänomene und Leistungen ein und derselben Epoche, und wäre dies auch die eigene, zusammenzuschauen und ihren Generalnenner zu suchen, ihr Strukturgeheimnis, das Gesetz, nach dem sie angetreten«.10
Die Auffassung, dass es Aufgabe von Kunst sei, die eigene Gegenwart möglichst umfassend darzustellen und zu erklären, ist nicht nur der Grundimpetus, aus dem heraus die Tafelrunde zusammenkommt und der darin besteht, den Spätheimkehrer Lepsius mit dem gegenwärtigen Berliner Leben vertraut zu machen. Ferner wird dieses Ziel gleich in der ersten Episode formuliert und inszeniert. Hier äußert Jürgen Wilms nicht nur, dass er »dem Jahrhundert ins Gesicht sehen« (54) wolle, sondern macht sich auch an die künstlerische Umsetzung dieses Vorhabens, indem er versucht, den Alltag des Fronteinsatzes, der aus Misshandlungen der jüdischen Zivilbevölkerung durch Wehrmacht und SS geprägt ist, zu dokumentieren. Er wählt dafür das Medium Fotografie, das als Darstellungsform nete Rolle (vgl. Anm. 9). Zur Biografie von Hans Scholz vgl. auch den Beitrag zu den ›Selfmade‹-Multitalenten Hans Scholz und Fritz Umgelter im vorliegenden Band sowie folgende biografische Artikel: N. N. 1976; zudem Martinez-Seekamp 1991, die weitgehend auf den Lebenserinnerungen von Hans Scholz basieren (vgl. Scholz 1966, 54-116). 9
In diesem Sinne formuliert Česnick das Ideal einer selbstvergessenen, anspruchslosen und bescheidenen Kunst, die »Beruf unter Berufen« (284) ist, in dem ausdrücklich der Künstler und seine Attitüden ausgeschlossen werden.
10 Scholz 1966, 84.
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zwar strenggenommen zwischen Kunst und Dokumentation angesiedelt ist, ihm aber ausdrücklich den Ruf einbringt, Künstler zu sein.11 Die Ungeheuerlichkeit der Ereignisse ist jedoch so groß, dass »sie die Grenze der Wahrnehmungsfähigkeit überschreiten« (55), wodurch sich aus dem Blickwinkel des Künstlers Fotografie als unzureichend erweist, die Schrecken der Schoah darzustellen. Dass sie seitens der Obrigkeit gefürchtet und schließlich verboten wird, weist hingegen auf eine gewisse Wirksamkeit dieser Mischform12, deren dokumentarische Komponente für das Kunstverständnis, das im Roman formuliert wird, weiterhin konstituierend ist. So wählt Jürgen Wilms als zweites Medium das Tagebuch, ebenfalls eine Ausdrucksform mit hohem dokumentarischem Anteil, das durch Erinnerungsassoziationen an seine jüdische Freundin Ruth Ester Loria bestimmt ist.13 Diese setzen sich aus Zitatvariationen des jiddischen Liedtextes Bei mir biste scheen14 zusammen, der Anfang der 1930er Jahre entstand, und aus Anklängen aus der Todesfuge (57)15, die Paul Celan 1948 in seiner ersten Gedichtsammlung Der Sand aus den Urnen veröffentlichte.16 Der Kunstgriff, ein Zitat aus dem Nachkriegsgedicht eines Holocaust-Überlebenden in das fiktive Tagebuch eines Wehrmachtsoldaten im Fronteinsatz zu montieren, ist dabei nicht nur als Einlösung der Forderung zu verstehen, »möglichst viele Phänomene und Leistungen 11 Vgl. hierzu Anm. 5. 12 Sowohl Jürgen Wilms als auch Jutta werden daher mit einem Fotografieverbot belegt (18, 33f., 55), weil seitens der Machthabenden befürchtet wird, dass Fotografien die Kriegsverbrechen und die des Holocaust sichtbar machen. 13 Zur dieser Bewältigungsstrategie, die ausführlich im Detail beschrieben wird, vgl. Puszkar 2009, 319-321. 14 Leitmotivisch kehrt dieser Songtext auch in Scholz’ Lebenserinnerungen wieder, in denen er über seinen Parisaufenthalt 1938 berichtet (Scholz 1966, 106). Wie bereits der Untertitel der Lebenserinnerungen zeigt, kommt der Kunstform Musik ein besonderer Stellenwert zu. Musik wird im Roman entweder (wie im Falle von Bei mir biste scheen) durch ihre Texte ausgedrückt, oder durch die Aktivitäten der Jockey-Kapelle, die das Motiv aus dem Tagebuch des Jürgen Wilms aufgreift und in die Rahmenhandlung überblendet (64). Damit ist Musik diejenige Kunstform, die am deutlichsten eine erinnerungsauslösende Funktion hat (vgl. hierzu auch 294, 300). 15 Dass in das Tagebuch des Jürgen Wilms Zitate aus der Todesfuge von Paul Celan montiert werden, hat erstmals Norbert Puszkar (2009, 321) erkannt. Durch dieses Zitat wird auch eine Auseinandersetzung mit der Gruppe 47 und deren Art, Krieg und Holocaust künstlerisch zu verarbeiten, angedeutet; zum Verhältnis zur Gruppe 47 vgl. den Aufsatz von Moritz Baßler im vorliegenden Band. 16 Celan 2003, 65f.
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ein und derselben Epoche […] zusammenzuschauen«17, sondern weitet die Erfahrung von Jürgen Wilms, angesichts der Massenerschießung der jüdischen Zivilbevölkerung seinen Augen nicht mehr trauen zu können (55), über den Kontext des Romans hinaus auf eine literarhistorische Ebene aus. Präziser gesagt: Durch das Celan-Zitat wird die während der Entstehungszeit des Romans virulente Frage berührt, wie Kunst nach den Gräueltaten des NS-Regimes überhaupt noch aussehen kann.18 Als Antwort formuliert die erste Episode die Einsicht, dass sich Kunst nach den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit einer Erneuerung unterziehen muss. Anders jedenfalls ist Jürgen Wilms Verachtung einer expressionistischen Kunst nicht zu verstehen, womit nicht so sehr die literar- bzw. kunsthistorische Epoche des »Expressionismus« (60) gemeint ist, sondern vielmehr eine Geisteshaltung, die »grob, ernst, unbescheiden« (284) ist, einzig der Selbstdarstellung des Künstlers dient und eindeutig Hitler zugeordnet wird (284).19 Die Frage, wie Kunst nach Krieg und Holocaust überhaupt noch aussehen kann, ist somit der Auslöser für eine komplexe Ästhetik, deren Ziel es ist, den »Generalnenner«20 der Epoche sichtbar zu machen, mithin eine Verbindung der verschiedensten Zeiterscheinungen anstrebt. Diesem heterogenen inhaltlichen 17 Scholz 1966, 84. 18 Im Hintergrund steht das zeitgenössische Nachdenken über Kunst und Literatur nach Auschwitz, das nicht zuletzt durch Adornos 1951 publizierte Äußerung, nach der es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, angeregt wurde (vgl. Adorno 1977, 30); zum Diskussionskontext von Adornos und Celans Texten vgl. Zilcosky 2005; Schöttker 2008; zudem auch die Dissertation von Kim Teubner, die ausführlich auf Celans Adorno-Lektüre sowie auf den Briefwechsel zwischen beiden eingeht (Teubner 2014). 19 Tatsächlich wird der Ausdruck »Expressionismus« im Wortsinne gebraucht, wenn Jürgen Wilms angesichts der Massenerschießungen über die Möglichkeit künstlerischen Ausdrucks räsoniert, genauer gesagt: darüber nachdenkt, wie der innere, nicht sichtbare psychische Zustand derjenigen, die auf ihre Hinrichtung warten, mit künstlerischen Mitteln äußerlich dargestellt werden kann, und wenn er dabei zu dem Schluss kommt, dass eine adäquate Veranschaulichung unmöglich ist. – Eine konkrete Bezugnahme auf die kunsthistorische Epoche ist allenfalls indirekt vorhanden, wenn Wilms einen Vergleich zwischen dem »Mensch im Angesichte des Ungeheuren« und dem »Mensch, der nach Kartoffeln ansteht« (60), vornimmt und mit dieser Vergleichskomponente, die einerseits dem Alltag einer unteren sozialen Schicht entnommen ist, anderseits auf eine existenzielle Situation verweist, ein beliebtes expressionistisches Sujet anzitiert. 20 Scholz 1966, 84.
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Ziel wird kunsttheoretisch durch eine intermediale Ästhetik entsprochen, in der die verschiedensten Kunstgattungen in Beziehung zueinander gesetzt werden. Personifiziert wird sie in den Mitgliedern der Tafelrunde: Mit Bob Arnoldis und Koslowski treten Schauspieler auf, bei Hesselbarth handelt es sich um einen Maler, der ins Filmgeschäft eingestiegen ist, wo er sich als Schriftsteller betätigt. Schott hat sich auf Reklamekunst verlegt, und der nur temporär anwesende Česnick ist Musiker (20, 25, 23, 11, 284). Die Spree-Ästhetik I: Intermedialität und Synthese Mit dieser Ausrichtung greift Hans Scholz auf die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis der einzelnen Kunstgattungen untereinander zurück und berührt ein ästhetisches Thema, das während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts en vogue war. Bezeichnenderweise wird diese Zeit im Roman nicht nur thematisiert, sondern fällt mit der Chronik des Hauses Bibiena als einzige aus dem zeitlichen Rahmen der unmittelbaren Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsjahre heraus – und gibt so (auch) einen Hinweis auf den historischen Ursprung der Gattungsästhetik, die dem Roman zugrunde liegt. So sind es ausgerechnet Barbara, die bis dato letzte Vertreterin der Familie Bibiena, und der Maler Hesselbarth, mit deren Hilfe das Verhältnis von Malerei und Dichtkunst21 exemplifiziert wird.
21 Dies geschieht während einer Porträtsitzung, die als Rahmen für die Chronik des Hauses Bibiena dient. In ihr erzählt Barbara, während Hesselbarth malt, wobei der Ausdruck, den Barbara durch ihre Erzählung bekommt, stimulierend für Hesselbarths Bild wird (137); eine Kunstform regt damit die andere an. Außerdem wird Barbaras Aussehen, das Hesselbarth malerisch darzustellen versucht, in dieser Szene auch explizit beschrieben (128, 130), womit der Gegenstand von Hesselbarths Malerei (Babsybi) in Sprache ausgedrückt wird. Hesselbarths Ekphrasis versucht, »der Anordnung und Coiffure des lackschwarzen und modisch kurzen, an den Spitzen aufgehellten Haares malend nachzugehen« (135). Auch an anderen Stellen des Romans wird besonders das Verhältnis dieser beiden Kunstgattungen beleuchtet bzw. zur praktischen Anwendung gebracht. So wird in der Gurkenepisode die enge Verbindung zwischen literarischer Beschreibung und Malerei hergestellt, in der die Heldin wie ein Bildnis beschrieben wird (77). Darüber hinaus ist das Tagebuch von Jürgen Wilms ursprünglich als Einheit von Text und Fotografie angelegt, in der den Notizen ausdrücklich Bilder zugeordnet werden. Die Fotos sind als Illustration gedacht, die den dokumentarischen Charakter des Tagebuchs verstärken sollen (34). Zudem werden hier als Kunstmittel in der Beschreibung eindrückliche Farbadjektive verwendet, die innerhalb des literarischen Ausdrucks quasi als optisches Element dienen. (16f.)
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Gesprächsweise entwickeln sie die Kategorie Imitation22, die sowohl für die Lessingsche ›Ut pictura poesis‹-Frage23 als auch für den Roman24 wesentlich ist. Dies geschieht nicht zuletzt deswegen, weil durch sie das Ideal der Stiltreue (163) erreicht wird, das einen hohen Standard der oben erwähnten Dokumentation garantiert. Darüber hinaus können durch den Akt der Imitation die unterschiedlichen Kunstgattungen einander angenähert werden. Außerdem diskutieren sie zu einem späteren Zeitpunkt über den Zusammenhang von körperlicher Schönheit und moralischem Wert25, einem zweiten wichtigen Thema von Lessings Laokoon-Schrift.26 22 Barbara Bibiena erinnert Hesselbarth während der gemeinsamen Porträtsitzung daran, »daß die Bibiena gutes Ohr für Sprachen haben« (153f.), das sie bereits als Schulmädchen befähigte, die verschiedenen Rollen der Chronik zu imitieren. Bastienne kann Berlinerisch und Märkisch »nachsprechen« (254). Diese Begabung ist es nicht zuletzt auch, die sie mit Koslowski verbindet, dem ebenfalls ein hohes Maß an Imitationskunst zugesprochen wird, u. a. auch die Kunst, Sprache, d. i. Dialekte, zu imitieren (194). Doktor Brose bezeichnet Koslowski als Imitator (207), was freilich über die Alltagssprache hinausgeht und als Teil seiner schauspielerischen Profession schon zur Kunstform erhoben wird. 23 Sie wird von Lessing als »Nachahmung« bezeichnet (Lessing 1996, 25, 51). 24 Imitiert wird im Roman viel und vielfältig. Fast alle Medien sind in der Lage, andere Medien nachzuahmen. Das beginnt mit der Alltagssprache, die in verschiedenen Zusammenhängen im Roman imitiert wird. So werden sowohl im Tagebuch von Jürgen Wilms (18) als auch in der wörtlichen Rede des märkischen Fischermeisters Pausin (256) Dialekte imitiert. Der ›schichtenspezifischen Sprechweise‹ der Romanfiguren, die Scholz von seinem Vorbild Fontane übernimmt, widmete sich eine frühe Doktorarbeit (vgl. hierzu N. N. 1976). 25 Das geschieht in einer Reihe von Briefen, die Barbara aus ihrem Urlaubsort Sylt an Hesselbarth adressiert und in dem sie ihm von ihrem Gespräch mit zwei anderen Urlauberinnen berichtet, die ihre Schönheit als Verdienst bezeichnen, wohingegen sie selbst sie lediglich als Gnade verstanden wissen will (159-174, v. a. 161f.). 26 Behandelt wird dieses Thema v. a. in den Abschnitten II.-IV. (Lessing 1996, 16-40). Ausdrückliche Hinweise auf Lessing gibt es in der Romanfassung des SpreeKomplexes – im Gegensatz zur Hörspielfassung, wo in der Rahmenerzählung der letzten Folge explizit auf die Hamburgische Dramaturgie verwiesen wird – nicht. Die Laokoon-Schrift sei in diesem Zusammenhang aber dennoch erwähnt, da sie als Zusammenfassung früherer einschlägiger Diskussionen verstanden werden kann (vgl. Fick 2016, 232f.), wodurch nicht zuletzt die These erhärtet wird, dass Hans Scholz auf keine singuläre ästhetische Diskussion dieser Zeit zurückgreift, sondern prinzipiell eine Frage aufgreift, die das 18. Jahrhundert beschäftigte.
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Um das Verhältnis der einzelnen Kunstgattungen geht es aber auch in einer anderen ästhetischen Diskussion des 18. Jahrhunderts, in der die ›Ut pictura poesis‹-Diskussion aufgegriffen und gleichsam durch weitere Kunstarten ergänzt wird. Gemeint ist die frühromantische Debatte um eine »progressive Universalpoesie«, die der Kreis um Friedrich Schlegel im Athenäum führte.27 Auch auf dieses Konzept greift Hans Scholz in mindestens ebenso ausführlicher Weise zurück wie auf die Laokoon-Schrift.28 Hinweise auf die frühromantische Ästhetik gibt es viele, wobei die bereits erwähnte Beziehung der Gattungen Musik, Schauspielkunst, bildende Kunst und Literatur, ergänzt durch eine Binnendifferenzierung literarischer Gattungen29, am augenfälligsten ist – auffällig auch insofern, als dass die Einzelgattungen im Roman durchaus als gleichwertig anerkannt und – nach romantischem Vorbild – ihre Synthetisierung angestrebt wird, die am besten im Film geschehen kann.30
27 Schlegel 1967, 182. 28 Anklänge an romantische Kunstkonzepte gibt es im Roman vielfach, wenngleich sich diese expliziten Erwähnungen weniger auf die Jenaer Frühromantik als vielmehr auf die Heidelberger Romantik beziehen. Dies reicht vom wörtlichen Brentano-Zitat (24) über Märchenelemente (228, 262), die z. T. ironisch gebrochen, den Subtext v. a. der ›Bastien und Bastienne‹-Episode bilden, bis hin zu Schorin, der – nach romantischem Vorbild – Volkssagen sammelt und Bärbel Kroll für ihren »volksliedhafte[n]« Ton lobt (234). 29 Die Frage nach literarischen Gattungen in Am grünen Strand der Spree wäre Stoff für eine eigene Untersuchung, die schon allein durch den Untertitel So gut wie ein Roman aufgeworfen wird. Neben der Form Roman spielen die Formen Novelle und Drehbuch eine Rolle. Die Formen Roman bzw. Novelle werden darüber hinaus in historische Romane bzw. Novellen sowie Geister- und Kriminalromane bzw. -novellen differenziert. Zumindest enthält die ›Bastien und Bastienne‹-Episode sowohl Elemente des Kriminal- als auch Elemente des Geisterromans, wenn das Grab von Hans Wratislaw immer wieder verschwindet und sowohl Leser als auch Figuren daran interessiert sind, die Ursachen hierfür aufzuklären (253). Die Besuche bei Schorin hingegen enthalten Elemente der Geisterliteratur (259). Der Anfang des Romans ist theatralisch und kann als Drehbuch gelesen werden, wenn ein Dialog gestaltet wird, in dem die Sprecher als dramatis personae angegeben werden. Die letzte Episode wird in Akte eingeteilt (320, 334, 350) und enthält Elemente der komischen Oper, wenn die absichtliche Verwechslung von Elisabeth und Dr. Aschenbrenner herbeigeführt und Hans-Werner zum betrogenen Betrüger (345f.) wird. 30 Malerei und Film werden in der Person Hesselbarths zusammengebracht. Außerdem umfasst der Film die literarische Gattung Drehbuch mit ihrer Vorform Novelle (125);
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Darüber hinaus sind es nicht nur die einzelnen Kunstgattungen untereinander, sondern auch die Bereiche Gesellschaft, Philosophie und Geschichte, die nach Vorbild der Frühromantiker31 im Roman von Scholz mit Kunst zusammengebracht werden. Für den gesellschaftlichen Bereich geschieht das in der Grundsituation der Tafelrunde, die sich aus verschiedenen Künstlern zusammensetzt. Der philosophische Aspekt findet in erster Linie durch die Gespräche zwischen Barbara und Hesselbarth Eingang, zudem gibt es hin und wieder wörtliche Verweise auf Philosophen32, und die generelle Verbundenheit von Kunst und Geschichte33 wird an verschiedenen Stellen thematisiert und in Koslowski personifiziert.34 Er ist es auch, der Geschichte und Kunst als Komplementärgrößen versteht. Last but not least ist ein historischer Entwicklungsgedanke grundlegend für das ästhetische Modell, das Hesselbarth als Maler, der in die Filmberatung eingestiegen ist (23), entwirft und in dem die Fotografie die Malerei ablöst, die ihrerseits vom Film ersetzt wird (23). Daneben ist es das unabgeschlossene Kunstwerk, mit dem der Roman auf sein frühromantisches Vorbild verweist, das bereits dort als geeignete Form für eine unendlichen Synthese35 verstanden wird: In diesem Sinne thematisiert Babsybi die Lücken im Diarium ihres Vorfahren (143), und auch die Beschreibung von Jürgen Wilms Tagebuch ist passagenweise nichts anderes als die Darstellung einer unzureichenden Materialität, die durch verlorene Seiten, schlecht leserlichen Textpassagen (16, 29), kurz durch Fragmentierung aller Art geprägt ist. In dieselbe Richtung weist Česnicks Geschichte, der ihr absichtlich ein Ende vorenthält, obwohl sich gerade dieser Teil als wesentlicher Bestandteil, als Happy End, als »Breitleinwand«-Ende (301) entpuppt. Nachgetragen wird es erst durch einen Musiker der Jockey-Kapelle (301f.)36, wodurch eine andere KompoTheaterelemente werden durch Arnoldis’ Tätigkeit für den Film integriert, Musikelemente durch Česnick, der Filmmusik komponiert (284). 31 Schlegel 1967, 182. 32 So beruft sich beispielsweise Schorin auf Epikur (261). 33 Wie eng Kunst und Geschichte im Denken von Hans Scholz verbunden sind, zeigen auch seine Wanderungen und Fahrten in der Mark Brandenburg. Der Titel, deutlich an Fontane als Vorbild angelehnt, vereinigt feuilletonistische Reiseessays mit deutlich historischem Schwerpunkt (Scholz 1973-1984). 34 Dessen Vorfahren setzen sich sowohl aus Künstlern als auch aus Historikern zusammen (193). 35 Im Kunstverständnis der Frühromantik spielt das Fragment eine große Rolle (vgl. Schlegel 1967, 200, 209). 36 Česnick lässt das Happy End »erzählerisch unter den Tisch fallen« (302), wie Arnoldis es ausdrückt.
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nente frühromantischer Ästhetik anklingt, nämlich diejenige eines gemeinschaftlich kreierten Kunstwerks, eines »sympoetischen« Produkts.37 Ähnlich ist die dialogische Grundstruktur des Romans zu deuten, in der das kollektive Geschichtenerzählen im Mittelpunkt steht (281f.)38, für das wiederum die Einzelepisoden charakteristisch sind, die erst in ihrer seriellen Aneinanderreihung ein Ganzes ergeben, oder wie es im Roman ausgedrückt wird, die »Gesamtsumme aller Geschichten« (257) erzielt. Geschaffen ist damit das Ideal eines Kunstwerks, für das ein unfertiges Element zumindest konstituierend ist und das sich schnell als eine wahrhaft menschliche Kunst erweist, auch wenn sie auf den ersten Blick defizitär erscheinen mag. – Jedenfalls können folgende Überlegungen, die Jürgen Wilms in der ersten Episode anstellt, so aufgefasst werden: »Das Nicht-Gelungene kann ergreifender sein als das Gelungene. Man spricht von göttlicher Kunst, wenn sie meisterhaft gelungen scheint. Das Nicht-Gelungene ist menschlicher« (37).
Neben anderen Faktoren39 ist es v. a. der Rückgriff auf das intermediale Kunstprogramm des 18. Jahrhunderts, der Hans Scholz als poeta doctus ausweist.40 Allerdings hieße es, das künstlerische Potential in seinem Roman zu unterschätzen und dessen Intention vollständig misszuverstehen, sähe man hierin nur den bildungsbürgerlichen Rückgriff auf eine historische Ästhetik. Allein schon mit der Einlösung der frühromantischen Forderung einer künstlerischen Synthese durch das Medium Film ist dieses Konzept lebendig gedacht. Es kann daher 37 Schlegel 1967, 185. In diese Richtung geht Hesselbarths Tätigkeit beim Film. Er liefert »Rohdrehbücher« (125), die erst von Fachleuten zu wirklichen Drehbüchern vollendet werden. 38 Hier wird Česnick ausdrücklich eingeladen, eine Geschichte zu erzählen. 39 Zu nennen ist hier v. a. der Gebrauch von Zitaten aus vielfältigsten Zusammenhängen, die unterschiedliche Bildungskontexte meist nur andeuten; vgl. hierzu den Beitrag von Roya Hauck. 40 Angemerkt sei hier, dass im Roman auch der Bildungsbegriff diskutiert und damit auf ein Konzept verwiesen wird, das ebenfalls in der kunsthistorischen Diskussion des 18. Jahrhunderts eine Rolle spielt. Es böte sich eine systematische Auswertung des Bildungsbegriffs, wie er beispielsweise Schillers Ästhetischer Erziehung zugrunde liegt, für Am grünen Stand der Spree an. Da eine derartige Analyse aber den Rahmen des vorliegenden Aufsatzes sprengt, wird auf sie verzichtet und lediglich darauf hingewiesen, dass im Roman von Scholz die gegenwärtigen Zeiten als bildungsfeindlich eingeschätzt werden, da im Nationalsozialismus Bildung in die Kritik geraten und als Schimpfwort verhöhnt worden ist (227).
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nicht verwundern, dass sich Hesselbarth explizit gegen die Musealisierung von Kunst41 ausspricht und fordert, dass Kunst ins Leben hinaustreten solle und ihre Lebendigkeit (23)42, die er als praktische Nutzanwendung versteht, unter keinen Umständen verlieren dürfe. Folgerichtig ist es die praktisch orientierte Variante einer Kunstgattung, die sich aus einer künstlerischen Großform entwickelt und die in seinem evolutionstheoretischen Kunstverständnis historischen Fortschritt markiert: »[A]ls seinerzeit dem Schoße der bildenden Kunst die des Buchdrucks entstieg, schwangen sich Maler und Graphiker haufenweise in den neuen Sattel oder wußten den alten und den neuen zu reiten. Nicht Verkrachte oder Stümper, sondern Leute wie Reuwich, der ›Hausbuchmeister‹, oder wie Kollege Cranach« (23).
Die Spree-Ästhetik II: Gebrauchskunst Damit bekommt Kunst nicht nur einen durch und durch realistischen Charakter43, in dem Sinne, dass sie auf die Wirklichkeit und ihre praktische Gestaltung bezogen ist. Vielmehr wird darüber hinaus eine ganz spezifische Kunstart als Ideal eingeführt. Gemeint ist die Kategorie des Kunsthandwerks, der Gebrauchskunst, als deren Vertreter sich Am grünen Strand der Spree selbst versteht. Das beginnt an prominenter Stelle mit dem Untertitel So gut wie ein Roman, der zwar auf die Großgattung Roman referiert, sich aber gleichzeitig von ihr distanziert und sich selbst als eine Art Gattungssurrogat anpreist, die für den Hausgebrauch bestimmt ist. Ferner ist in diesem Zusammenhang der Rahmen zu sehen, der durch die fiktive Widmung an Peter und Barbara Koslowski und den korrespon41 »Ach, und nun werden die ›Blauen Pferde‹ und ›Zwitschermaschinen‹ mit musealer Ängstlichkeit gehütet und abgestaubt, teure Schlacke vergangener Eruption« (23). 42 Ähnlich ist auch die Einschätzung von Jürgen Wilms zu verstehen, der in seinem Tagebuch notiert: »Ich tue eigentlich nichts lieber auf der Welt, als durch fremde Städte bummeln. Brauchen deshalb keine Sehenswürdigkeiten zu sein. Alles ist sehenswürdig« (45). Hier wird der Gebrauchscharakter von Kunst ausgedrückt, die selbstverständliche Integration von Kunst in den Alltag. Hingegen wird Florenz von Jutta als Ort von Sehenswürdigkeiten empfunden (51), wobei es nicht zuletzt dieses fehlgeleitete Kunstverständnis ist, das zur Diskreditierung ihrer Figur beiträgt. 43 Dieser zeigt sich, wie bereits ausgeführt, in den dokumentarischen Medien Fotografie und Tagebuch. Darüber hinaus ist das Konzept des Geschichtenerzählens (mit Ausnahme der letzten Episode) dem Prinzip »[r]elato refero« (129) verpflichtet, was ebenfalls auf Realismus hindeutet. Kunst dient der Veranschaulichung von Realität (vgl. 257).
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dierenden Verteiler am Schluss geschaffen wird (5, 370). Aus ihm geht hervor, dass das »Schriftwerk […] in sieben Exemplaren hergestellt worden [ist]« (5), also keine Öffentlichkeit erlangt, sondern nur als Erinnerung und für die private Verwendung der Tafelrundenmitglieder gedacht ist. Auch die Medien Fotografie, Tagebuch und Chronik sind unter dem Aspekt der Gebrauchskunst zu verstehen. Ähnlich einzuordnen ist die Reklame, die von Schott vertreten wird, der ausgerechnet Inhaber einer Werbefilmfirma (7) ist, wodurch die in mehrfacher Hinsicht herausgehobene Kunstform Film mit Reklame in Zusammenhang gebracht wird und diese quasi zur Kunstform erhebt. Schließlich sei in diesem Zusammenhang auch die Sprache erwähnt, die, sofern sie im Roman reflektiert wird, zunächst keine literarische ist, sondern Dialekt, Alltags- und Umgangssprache44, die unmerklich und auf dem Umweg über das Zitat erst langsam zu Literatursprache wird.45 Um Gebrauchskunst herzustellen, bedarf es einer besonderen künstlerischen Technik, die ebenfalls thematisiert wird. Die Rede ist von einem musikalischen 44 Alltagssprache spielt im Tagebuch des Jürgen Wilms eine Rolle, in dem sich dieser eine Vokabelsammlung anlegt (16), die der besseren Verständigung mit der polnischen Bevölkerung dient. Wilms Beschäftigung mit der Alltagssprache führt auch zu einer kritischen Reflexion der offiziellen Sprachpolitik und der mit ihr verbundenen Propaganda (15). Zum Phänomen der ›Umtaufung‹ von Orts- und Straßennamen, um das es hier geht, vgl. auch die Lebenserinnerungen (Scholz 1966, 109). 45 Ein Beispiel für diese Technik findet sich im Gespräch der Tafelrunde ganz zu Anfang des Romans, in dem Lepsius Auskunft über die Fabrik von Jürgen Wilms’ Onkel gibt, die ausgebombt wurde. Im Anschluss heißt es: »Erst ganz zum Schluß, Ende 44, wurde mit Aplomb ein Wiederaufbau begonnen, wer weiß, aus welchem kühlen Grunde« (27). Das Eichendorff-Zitat, das hier en passant eingebaut wird, verweist zum einen auf den Bildungshintergrund des Sprechers (zur Bedeutung von Bildung für den Roman vgl. Anm. 40) und imitiert auf diese Weise Berliner Soziolekt. Zum anderen werden Literatur- und Alltagssprache vermischt, ohne dass die Quelle des Literaturzitats genannt würde: Literatur ist selbstverständlich und ohne, dass dies bewusst gemacht würde, in die Alltagssprache integriert, was umgekehrt aber auch bedeutet, dass die Alltagssprache von Haus aus ein literarisches Potential hat. Beispiele dieser Art finden sich im Roman mehrere. Grundsätzlich werden Zitate von den Teilnehmern der Tafelrunde kreativ behandelt und leicht abgewandelt. In diesem Sinne verwendet Česnick ein Hemingway-Zitat (281). Die Anpassungsfähigkeit von Umgangssprache reflektiert Scholz auch in den Lebenserinnerungen. Er beschreibt hier die lebendige Reaktion von Alltagssprache auf politische Sprachverordnungen, der gleichzeitig ein parodistisches und damit widerständiges Element innewohnt (Scholz 1966, 68); zum Widerspruchspotential von Kunst s. u. die Interpretation der Gatzka-Figur.
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Verfahren, das im Gespräch mit Česnick diskutiert und von diesem als bevorzugte Praxis favorisiert wird – die Improvisation. Im Kriegsgefangenenlager, in dem Česnick Bekanntschaft mit dieser Ausdrucksform macht, wird hauptsächlich der von den Amerikanern geschätzte Boogie-Woogie gespielt, dessen Hauptvorteil in seiner Improvisationsfähigkeit liegt (290). Gleiches gilt für Jazz und Dixieland (291). Auch Formulierungen wie »Improvisation über die ›Macht des Schicksals‹ in Jazzrhythmen« (280) oder der »große[] Boogie-Woogie aus der ›Macht des Schicksals‹« (279) deuten auf die Wichtigkeit der Technik Improvisation, die hier gleichzeitig eine synthetisierende Aufgabe wahrnimmt. Sie sorgt für die Verknüpfung bürgerlicher Hochkultur, angedeutet durch Verdis Operntitel, und als solche zunächst das Gegenteil von Gebrauchskunst, mit Elementen der gegenwärtigen Unterhaltungskultur. Damit bekommt künstlerisches Schaffen einen experimentellen Charakter, auf den wiederum Hesselbarth ausdrücklich als Movens seiner künstlerischen Arbeit hinweist (125). Humanismus Exemplarisch werden die Technik der Improvisation und die mit ihr verbundene praktische Anwendung von Gebrauchskunst im Alltag im letzten Abschnitt des Romans vorgeführt. Dass es sich bei der Italien-Episode tatsächlich in mehrfacher Hinsicht um die Umsetzung des künstlerischen Ideals handelt, das im Laufe des Romans entwickelt wird, macht eine kleine Bemerkung von Bob Arnoldis deutlich, der seiner Geschichte »aufheiternde[] Tendenz« (310) attestiert und damit auf eine Formel zurückgreift, die Česnick für das von ihm favorisierte Kunstideal einführt. Sie findet sich in einer derjenigen Passagen, die am kompaktesten über die Beschaffenheit von Kunst Auskunft gibt: »Aber es schwebt mir da so etwas vor, etwas …. Wie soll ich sagen? … etwas mit aufheiternder Tendenz! […] Etwas Zartes, Heiteres, Bescheidenes. Nicht mehr auf die abgetakelte Tour: kieke, kieke, wie krank ich bin! Heissa, wie’s mich schmerzt! Huch, so ein heißes Laster möch’st du auch haben, so eine schöne Seelenpest, aber hast du nicht! Ätsch! … Kunstgetue und Kunstdünkel und Kunst, Kunst, Kunst […]« (284).
Die Lügengeschichte (302) des Bob Arnoldis ist dabei nicht nur durch inhaltliche Elemente (Versatzstücke aus Juttas Briefen an Jürgen Wilms, vgl. 359) auf die erste Episode bezogen, sondern wird darüber hinaus durch ihre ausdrückliche Deklaration als ›Lügengeschichte‹ formal als Gegenteil zur Dokumentation des Jürgen Wilms inszeniert – eine allerdings nur scheinbare Antithese, die nach bewährter Manier synthetisiert wird. In diesem Fall wird die Synthese durch
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Offenlegung der Lüge geschaffen: Die vermeintliche Lüge wird als künstlerisches Verfahren transparent: Bewusst setzt Bob Arnoldis neben Realitätselementen aus der ersten Episode und Fakten, die Katzi ihm (unbewusst) zuspielt (359), Kunstzitate und -klischees ein (309f.), die sowohl bei der Zuhörerrunde im Jockey-Club als auch beim Leser (314) Assoziationsketten evozieren, die eine realistisch anmutende Welt entstehen lassen. Das beginnt mit der Beschreibung des Schauplatzes Italien, von dem es heißt, dass er »teilweise von Böcklin erfunden« (325) wurde. Gleiches gilt für die Figuren, die wie »Marionetten […] von der Firma Spitzweg und Hoffmann im Lichte« (326) sich ergingen. Ein Gast in der Pension wird als Inhaberin eines »Becker-Modersohn-Hauptes« (327) beschrieben. Die Frauenfiguren Elisabeth, Ankie und Cornelia werden allegorisch zu Minerva, Juno und Venus überhöht, ein Verfahren, das übrigens wiederum Lessings Einfluss erkennen lässt.46 Auch die Limonaia, deren Interieur Dr. Aschenbrenner kunsthistorisch mühelos der »Form nach der Nazarenerzeit zuzuordnen« (329) vermag, ist »[e]in Mittelding zwischen Stilleben und Naturtheater […]« (329) und besteht aus »genuinen Requisiten« (329), die alle dem bildkünstlerischen, also dem optischen Bereich entnommen sind. Dies führt – nebenbei bemerkt – auch die praktische Nutzanwendung einer intermedialen Ästhetik buchstäblich vor Augen, die überdies durch schauspielerische und musikalische Zutaten angereichert wird, wenn Hans-Werner als verborgener Gitarrenspieler der Szene zwischen Cornelia und dem Grafen beiwohnt. Später gibt er sich diesem gegenüber als Holländer aus, so dass abermals – nun innerhalb der Episode – mit Versatzstücken aus der Realität gearbeitet wird, die durch Improvisation zu einer (Lügen-)Geschichte werden (348).
46 Lessing 1996, 71. Lessing kommt auf die drei Göttinnen zu sprechen, um den Unterschied zwischen Dichter und Künstler zu veranschaulichen: »Die Götter und geistigen Wesen, wie sie der Künstler vorstellet, sind nicht völlig dieselben, welche der Dichter braucht. Bei dem Künstler sind sie personifizierte Abstracta, die beständig die nämliche Charakterisierung behalten müssen, wenn sie erkenntlich sein sollen. Bei dem Dichter hingegen sind sie wirkliche handelnde Wesen, die über ihren allgemeinen Charakter noch andere Eigenschaften und Affekten haben, welche nach Gelegenheit der Umstände vor jenen vorstechen können« (ebd., 70f.). Die letzte Episode in Am grünen Strand der Spree basiert genau auf dieser Mischung von »personifizierte[n] Abstracta«, die die Wiedererkennbarkeit garantieren, und individuellen Handlungselementen. Daraus erhält die Italien-Episode zum einen ihre extreme Künstlichkeit, die sie als ›Lügengeschichte‹ klassifiziert, zum anderen aber auch jenen realistischen Anstrich, der bewusst eingesetzt wird, um eine moralische Einsicht Gatzkas zu evozieren.
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Damit enthält sie aber auch den Schlüssel zu ihrer Enträtselung, so dass ihre Lügenhaftigkeit (oder besser gesagt: Künstlichkeit) sowohl dem Leser als auch den Teilnehmern der Tafelrunde bewusst ist, mit einer Ausnahme. Die einzige Figur, die die im Wortsinne verstandene »Kunstgeschichte« (338) von Bob Arnoldis für wahr hält, ist Direktor Gatzka. Er bezeichnet sich selbst als »Tatsachenmensch« (305), dem das Sensorium fehlt47, die Künstlichkeit der Geschichte zu erkennen. Jenseits dieser euphemistischen Selbstwahrnehmung ist die Figur als Altnazi gezeichnet, dem es bei der Entnazifizierung – trotz Belastung – gelungen ist, als Mitläufer eingestuft zu werden, und die die Schattenseite des Wirtschaftswunders verkörpert: Erinnerungslos, ohne Geschichtsbewusstsein (305) und damit ohne die wesentlichen Konstitutionselemente der SpreeÄsthetik sieht er Krieg, Nationalsozialismus und deren Folgen (insbesondere den Sonderstatus Berlins) ausschließlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, die es abzuschreiben gilt (306). Es ist aber v. a. Gatzkas Nichtverstehen, aus der die letzte Episode die für das Kunstideal des Romans wesentlich »aufheiternde[] Tendenz« (284, 310) bezieht und somit auch die eingangs gestellte Frage beantwortet, wie Kunst nach dem Holocaust überhaupt noch aussehen kann: Betont wird auch durch die Figur Gatzka noch einmal, dass die Erinnerung an Nationalsozialismus, Krieg und Schoah in der Kunst dokumentiert, gespeichert und weitergegeben werden muss.48 Gemäß dem historischen Entwicklungsgedanken, der der Spree-Ästhetik inhärent ist, darf es aber nicht bei einer konservierenden, musealen Erinnerungskultur bleiben. Vielmehr müssen die Mittel der Kunst auch auf Gegenwart und Zukunft gerichtet sein, was sich nicht zuletzt aus ihrer Aufgabe ergibt, den »Generalnenner«49 einer Epoche sichtbar zu machen. Gerade die Figur Gatzka zeigt, dass es vor allem Gegenwart und Zukunft sind, die von der Kunst kritisch beleuchtet und als lächerlich dargestellt werden müssen, wenn sie den humanistischen Werten der Aufklärung50 widersprechen. 47 Das v. a. im Mangel an Bildung besteht, der zum einen Erkenntnis verhindert und zum anderen Gatzka als Nazi ausweist. Zur Bedeutung von Bildung für den Roman sowie zur Diskreditierung des Begriffs durch die Nazis vgl. Anm. 40. 48 Zur Ästhetik der Aufheiterung in Scholz’ Roman, die den Nationalsozialismus und seine Folgen eben nicht verdränge, vgl. den Beitrag von Moritz Baßler im vorliegenden Band. 49 Scholz 1966, 84. 50 Dass die Aufklärung mit der Absicht inszeniert wird, eben diese humanistischen Werte vorzuführen, wird durch das humanitäre Engagement des Ettore Bibiena im Siebenjährigen Krieg mehr als deutlich, das von seiner Nachfahrin Barbara als Organisatorin von Hilfsmaßnahmen in einem anderen Krieg fortgesetzt wird.
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Damit vertritt die Spree-Ästhetik ein künstlerisches Ideal, das sich inhaltlich aus einer historischen Epoche speist, die im Roman als solche inszeniert wird, freilich ohne dass es sich dabei um einen historisierenden Rückgriff handeln würde. Vielmehr wird die humanistische Kunstauffassung im Grünen Strand der Spree zu dem, was Thomas Mann als ›geistige Lebensform‹ bezeichnet hat. 1966, mehr als ein Jahrzehnt nach Erscheinen des Romans, veröffentlichte Hans Scholz seine Lebenserinnerungen. Hier unternimmt er nicht zuletzt auch den Versuch, die Entwicklung der Moderne (kunst)historisch einzuordnen. Dabei thematisiert er den Bruch, den Hitlers Kampf gegen die Entartung für eine ungehinderte Entfaltung der Moderne bedeutet: »Was die Künste, prototypisch fürs Ganze, vor 50 Jahren errangen, wird als jüngste Errungenschaft aufgetischt. Das kommt von Hitlers Kampf gegen die Entartung. Das kommt vom Provinzialismus der Amerikaner, die mit der Moderne weitgehend erst durch die Emigranten bekannt wurden. Das kommt vom Provinzialismus der Russen, die mit aller Gewalt unterdrücken, daß auch sie einst zu den Aufbruchländern des Neuen gehörten: Kandinsky, Chagall, der Suprematismus, Larionows Rayonistisches Manifest, die Gontscharowa. Alles um 1911. Viele Phänomene der Nachkriegszeit lassen sich als Metastasen des Nationalsozialismus auffassen. Wann werden sie ausheilen«.51
Wie auch immer man diese Aussage einordnet52, eines wird in jedem Fall deutlich: Etabliert wird das Prinzip Moderne, das durch den Nationalsozialismus an seiner natürlichen Entwicklung gehindert wurde. In der Nachkriegszeit erfährt es 51 Scholz 1966, 114f. Ergänzt sei an dieser Stelle noch der Hinweis, dass die nationale Ausrichtung der künstlerischen Moderne auch in Am grünen Strand der Spree eine Rolle spielt. Hier ist es wiederum Česnick, der auf die Zukunftsfähigkeit der amerikanischen Kunst hinweist (293). 52 Nicht ganz eindeutig ist die zitierte Passage in der Frage, welches Moderne-Konzept Scholz favorisiert bzw. wie weit er dieses fasst. Der zeitlichen Fokussierung auf das Jahr 1911, das in erster Linie dem autobiografischen Gesamtzusammenhang geschuldet ist, steht die Erwähnung des Suprematismus entgegen, der kunsthistorisch bis in die 1930er Jahre fruchtbar blieb. Auch der Moderne-›Import‹ durch europäische Emigranten in die USA spricht eher für eine umfassendere, prozesshafte Moderneauffassung, die sich durch bestimmte inhaltliche Elemente (v. a. durch Abstraktion) im bildkünstlerischen Bereich definiert, als für starre Epochengrenzen. Eine grundsätzliche Schwierigkeit birgt auch der Umstand, dass zwar »die Künste, prototypisch fürs Ganze« gesehen werden, dann aber doch ausschließlich kunsthistorische Argumente zur Definition der Moderne herangezogen werden, so dass offenbleibt, inwiefern der Prototyp Kunst auf andere Bereiche übertragbar ist.
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zwar verspätet eine Wiederaufnahme, ist dabei aber immer noch mit Auswüchsen des Nationalsozialismus konfrontiert, der – übrigens im Gegensatz zu der durch »Hitlers Kampf gegen die Entartung« in ihrer Entwicklung unterbrochenen Moderne – mit der ›Stunde Null‹ keineswegs zu einem Ende gekommen ist. – Am grünen Strand der Spree ist dabei der Versuch, sich auf ganz eigene künstlerische Art in diese Gemengelage einzuordnen: Der Roman vermeidet es, direkt an die Moderne von 1911 anzuknüpfen, er greift aber mit ästhetischen Elementen des 18. Jahrhunderts auf eine Vormoderne zurück, in der moderne Tendenzen bereits angelegt sind, die ihm einen historischen Rückschritt hinter die eigentliche Moderne erlauben. Sie geben mithin die Möglichkeit, die Weichenstellung in der Entwicklung der Moderne, die durch »Hitlers Kampf gegen die Entartung« stattgefunden hat, zu revidieren.
Quellenverzeichnis Primärliteratur
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So gut wie eine literarhistorische ›Aufheiterung‹ der Nachkriegszeit Scholz’ Roman in der Synthetischen Moderne Stefan Scherer
Eine überraschend neue Autorschaft und ihr Traditionsverhalten In der deutschen Literaturgeschichte nach 1945 war der »Epochenroman«1 Am grünen Strand der Spree nie völlig aus dem literarischen Gedächtnis verschwunden. Die Debatten im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit über eine Gegenwartsliteratur, die relevant oder gar gültig wäre, hat er dennoch nicht bestimmt – obwohl das »Berlin-Buch«2 in fast allen Rezensionen als literarisch aufregende, ja brillante Neuerscheinung eines gebildeten Routiniers besprochen wurde.3 Hinter dem Allerweltsnamen Hans Scholz vermutete die Kritik daher
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Just 1973, 651: »Jede der eingelagerten »Geschichten wird in einem anderen personalen Stil vorgetragen: aus der Bündelung der Personalstile ergibt sich schließlich eine Art Epochenstil. Panoramatisch liefert Scholz, als Autor nur Medium und auf keinen eigenen Stil festgelegt, das umfassendste Bild der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart überhaupt.« Scholz war selbst der Überzeugung, Kunst habe »möglichst viele Phänomene und Leistungen ein und derselben Epoche, und wäre dies auch die eigene, zusammenzuschauen und ihren Generalnenner zu suchen, ihr Strukturgeheimnis, das Gesetz, nach dem sie angetreten ist« (Scholz 1966, 84); siehe dazu den Beitrag von Antonie Magen in vorliegendem Band.
2
Müller-Schwefe 2013, 9.
3
Einen Überblick über die Besprechungen geben Heck/Lang (2018) und der Artikel zur zeitgenössischen Rezeption in vorliegendem Band.
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sogar ein Pseudonym.4 Statt auf Gottfried Benn (so Hellmut Jaesrich) als Verfasser zu tippen, mit dessen wehmütigem ›Sound der Väter‹5 Scholz’ Roman weder stilistisch noch thematisch etwas gemein hat6, hätte man eher auf die Alltagsmündlichkeit im intertextuell aufgeladenen Konversationston von Arno Schmidt kommen können – wenngleich Schmidt um 1955 noch wenig bekannt war und die literarischen Verfahrensweisen bei Scholz nicht auf jenen ›realistischen Avantgardismus‹ im Rekurs auf die emphatische Moderne seit Joyce zurückgehen, den Schmidts Erzählen kennzeichnet. Im Vergleich mit dem leicht(fertig)en Berliner Sprachgeist »ohne Anhauch des Provinziellen«7 erscheint Schmidts Prosa zudem zu ländlich, obwohl ein solcher, Mündlichkeit simulierender Provinzialismus auch bei Scholz, besonders in der ausgelagerten Novelle Schkola (1958), begegnet – auch hier in zahlreichen politischen Anspielungen, ohne dass damit wie bei Schmidt eine bestimmte politische Haltung bemerkbar wird. Wenn Joachim Kaiser sich mit Blick auf die urbane Sprachlichkeit in Am grünen Strand der Spree an den »Ullstein-Roman« erinnert fühlt8, dann lägen wiederum andere AutorInnen der middelbrow culture um 1930 auch in Deutschland nahe, die hinter dem unterstellten Pseudonym zu vermuten gewesen wären: Erich Kästner etwa (aufgrund der eingangs bemerkbaren Nähe zum Ton seiner
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Vgl. das Resümee von Joachim Kaiser, der den Roman »mit klassenbewußtem Egoismus, verzweifelter Lustigkeit und männlich bezwungener Wehmut auf die Widrigkeiten der Welt« verbindet: »Darum gehört dies erfolgreiche Buch auch nicht neben Remarque und Böll, die unbeirrbare Forderungen stellen, sondern es gehört neben Ernst von Salomon und seinen intelligent-zynischen Fragbogen, der […] ja auch ein formal gelungenes, originelles Experiment«, aber eben »pseudofaschistisch« gewesen sei (Kaiser 1956, 541). Das sei Scholz’ Schreiben dann aber doch nicht.
5
Lethen 2006.
6
Dass man Benn hinter Scholz vermutet, ist allein deshalb bemerkenswert, weil dieser Autor über das intertextuelle Spiel mit unterschiedlichen Stimmen in der Tradition rahmenzyklischen Erzählens, das Scholz’ Prosa kennzeichnet, nicht verfügt; aber auch, weil es bei Benn keine Anrufungen der humanen deutschen Traditionen der Aufklärung und Goethezeit gibt, nicht zuletzt schließlich, weil Benn nicht so gegen den Expressionismus polemisiert hätte, wie es bei Scholz auffällt.
7
Kaiser 1956, 540.
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Ebd. Kaiser goutiert zwar die populäre Gestaltungsweise des ›Gut-gemacht-Mittleren‹ (Thomas Mann) in der middlebrow culture (vgl. dazu Frank 2009), stört sich aber an der Vergnüglichkeit der Herrenrunde, weil er darin ein passives (und insofern zynisches) Hinnehmen statt aktiver Kritik erkennt (vgl. auch Heck/Lang 2018, 255).
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Prosa) oder Autorinnen der ›Neuen Frau‹ wie Vicki Baum und Irmgard Keun.9 Vielleicht hätte dem einen oder anderen Kritiker auch Wolfgang Koeppen in dieser Linie von Autorinnen und Autoren, die im Berlin der späten 1920er Jahre sozialisiert wurden, in den Sinn kommen können, obwohl dessen (erst später berühmt gewordene, zeitgenössisch aber angefeindete) Nachkriegstrilogie gegenüber der ›aufheiternden‹ Gesamttendenz bei Scholz (vgl. 284)10 wiederum zu schwermütig, desillusioniert, ja nihilistisch erscheint. Koeppen ist zudem kein Zyniker, den die zeitgenössische Kritik, wie bei Kaiser gesehen, in Scholz erkannte. Blickt man noch etwas genauer auf solches Traditionsverhalten in der Wiederkehr von Stilgesten der ›Ullstein-Romane‹ in der späten Weimarer Republik, dann ist es für die deutschsprachige Literatur der frühen 1950er wichtig, zu verstehen, dass eine Autorin wie Keun nicht mehr an ihren Erfolg kurz vor dem Nationalsozialismus anknüpfen kann. Zu bemerken ist das an der fehlenden Resonanz ihres Romans Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen (1950): In den 1950er Jahren funktioniert der leichte oder gar leichtfertige Sound, der sie schlagartig berühmt machte, offenkundig allein deshalb nicht mehr, weil die geteilte Stadt jenen urbanen ›Glanz‹ verloren hat, den das Kunstseidene Mädchen Doris ganz direkt an sich verspürt.11 Ähnliches lässt sich für Gabriele Tergits Die Effingers (1951) feststellen, dem Gesellschaftsroman jener dem Journalismus nahen Autorin von Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1931), der erst jetzt wiederentdeckt wird. Ein weiterer Kandidat für das unterstellte Pseudonym ›Hans Scholz‹ wäre in diesem Zusammenhang schließlich Martin Kessel gewesen, der nach 1945 in der Nachkriegszeit genauso wenig Resonanz fand wie Keun, obwohl auch der zweite Berlin-Roman Lydia Faude (1965) literarisch nicht minder furios ausgestaltet war wie sein Erstling Herrn
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Scholz könnte Keun als Besucherin der Jockey-Bar kennengelernt haben, die nicht nur in Das kunstseidene Mädchen (1932) immer wieder auftaucht, meist als Kulisse für das Anbandeln mittelloser junger Frauen mit älteren wohlhabenden Herren oder Künstlern. Biografisch gesehen verhält es sich so, dass Scholz während seines Studiums seit 1930 in einer Tanzkapelle gespielt hat, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es kann daher sein, dass er bereits in der ersten Hälfte der 1930er Jahre öfters im Jockey war.
10 Seitenangaben im Fließtext folgen der Ausgabe: Scholz 1955; siehe genauer zu diesem ›Geschichtengewebe‹ Heck/Lang 2018, 247-252. 11 Vgl. Scherer 2009.
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Brechers Fiasko (1932), mit dem Kessel Thomas Mann, Robert Musil und Alfred Döblin allesamt überbieten wollte.12 Keun und Kessel sind Beispiele für ein Schreiben in der Nachkriegszeit, das vergleichbar heiter und gelassen, so launig und gut gelaunt wie das von Scholz ausfällt. Am grünen Strand der Spree ist allerdings tatsächlich erfolgreich: dabei aber weniger satirisch als die Prosa von Keun, Kessel oder Arno Schmidt auf der einen und nicht so melancholisch bzw. gar nihilistisch eingedüstert wie die Romane Koeppens oder tatsächlich zynisch wie Benns Texte auf der anderen Seite. Im Vergleich mit all diesen AutorInnen ist Scholz’ Roman also populär, weshalb die zeitgenössische Kritik trotz Gespür für die literarische Virtuosität, die in den Beiträgen zu vorliegendem Band erstmals philologisch erschlossen wird, seine Qualitäten im Letzten unterschätzte. Die bestehen in einer komplexen Anverwandlung rahmenzyklischen Erzählens13 und in vielfältigen Traditionsanrufungen, vernehmbar in teils überbordenden intertextuellen wie kulturhistorischen Verweisen z. B. auf Kunstdiskurse der Aufklärung und der Romantik14, nicht zuletzt in poetischen Verfahrensweisen, die Moritz Baßler in seinem Beitrag in vorliegendem Band dazu bringen, ihre Leistungen gegen den biederen Moralismus Bölls auszuspielen. Erstmals hat Barners Literaturgeschichte von 1994 wieder nachdrücklich daran erinnert, dass Scholz’ »Querschnitt durch die Gegenwart des Jahres 1954« zu den aufregendsten Neuerscheinungen Mitte der 1950er Jahre gehörte. Der Roman sei ein »sensationeller Erfolg«15 gewesen, was allerdings mit problematischen Einschätzungen der leichten Konsumierbarkeit in einer »neue[n] Variante des ›Mythos Berlin‹« verbunden wird.16 Man gewinnt daher den Eindruck, dass auch diese Literaturgeschichte die literarische Leistung der Darstellung verkennt.
12 Vgl. Scherer/Stockinger 2004. 13 Vgl. Heck/Lang 2018. 14 Vgl. die Beiträge von Antonie Magen, Roya Hauck und Hannes Gürgen in vorliegendem Band; bei Magen auch mit Überlegungen zur Intermedialität, die Am grünen Strand der Spree als Künstlerroman mit genuin literarischen Mitteln reflektiert. 15 Barner 1994, 183. 16 »Am grünen Strand der Spree thematisiert als wohl frühestes Exempel der westlichen Romanliteratur auch die deutsche Teilung – freilich konzentriert auf Berliner Terrain«. Die »gekonnt hineingemischte Berliner Schnoddrigkeit« biete »ungefährdeten Konsumreiz« (ebd., 184).
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Kanonverhinderung: anstößige Heiterkeit statt Gestaltung ›unbeirrbarer Forderungen‹ Dass der Roman lange Zeit mehr oder weniger völlig aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden war – kaum eine Literaturgeschichte und kaum einer der zahlreichen Forschungsbeiträge zur Literatur und Kultur der 1950er Jahre erinnern an Scholz über die bloße Namensnennung hinaus17 –, geht wohl entscheidend auf die Politisierung von Literatur in den 1960er Jahren zurück. Die polemische Verabschiedung der Ära Adenauer, nun durchgehend als ›Restauration‹ stigmatisiert, ließ den Bestseller von Scholz auch in Beiträgen zur Kulturgeschichte der 1950er Jahre vergessen.18 Selbst der verdienstvolle Marbacher Ausstellungskatalog Konstellationen. Literatur um 1955 (1995), der sich dem Übergang vom ›noch‹ der alten Literaturmodelle zum ›schon‹ neuer Darstellungsformen widmet, führt Scholz nicht auf, obwohl Am grünen Strand der Spree neben Nossacks Spätestens im November und Frischs Stiller zu den aufmerksam registrierten Neuerscheinungen der Saison zählte. Arno Schmidt war mit Das steinerne Herz (1956) dagegen noch eher ein Geheimtipp, obwohl Seelandschaft mit Pocahontas 1955 erstmals in Texte und Zeichen erschien: Diese von Alfred Andersch gerade begründete Literaturzeitschrift gehört neben den Akzenten zu den avanciertesten Organen in solcher Ausrichtung in den 1950er Jahren. Warum insbesondere die Gruppe 47 Am grünen Strand der Spree hasst, macht Moritz Baßler in seinem Beitrag zu vorliegendem Band einsichtig: in erster Linie deshalb, weil das aufheiternde und (im Prozess der alkoholisierten Lockerung der Erzählerrunde durch die Nacht) zunehmend gut gelaunte wie nonchalante19 Erzählen den Nationalsozialismus und seine Folgen verharmlose, obwohl die mittlerweile vieldiskutierte Szene einer Massenerschießung20 diese Interpretation schlichtweg nicht zulässt. In solcher Darstellung von NSVerbrechen ist der Roman für die 1950er Jahre vermutlich sogar singulär. Er entspricht dennoch nicht den poesiologischen Vorstellungen der Gruppe 47, die mit ihren Preisen in der Auszeichnung ›unbeirrbarer Forderungen‹ (Joachim Kaiser) – nach Eich, Bachmann und Böll im Jahr 1955 für Martin Walser und seine noch an Kafka orientierten frühen Erzählungen – zunehmend die öffentlichen Debatten dominieren sollte.
17 Bei Nieberle/Hummel (2004) etwa kommt er nicht vor. 18 Sein Name taucht auch dort nicht auf; vgl. Bollenbeck/Kaiser 2001, Faulstich 2007, Schildt/Siegfried 2009. 19 So Schnell 2003, 202. 20 Vgl. u. a. Puszkar 2009 oder Ächtler 2013.
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So wurden Scholz’ Verdienste in der literarischen Erinnerung an die Shoa vergessen, obwohl die Darstellung gegen Adornos vieldiskutierten Einwand legitim anmutet, artikuliert sie sich doch aus der gebrochenen Sicht eines NSSoldaten. Dieses Vergessenwerden verhinderte auch die fünfteilige Verfilmung von Fritz Umgelter für das Deutsche Fernsehen nicht, die mit ganz eigenen cinematischen Qualitäten das politische Potential der Romanvorlage reproduzierte: durchaus im Sinn jener ›Vergangenheitsbewältigung‹, die in den 1950er Jahren als ›Verdrängung‹ von Kriegsverbrechen durch die Wehrmacht funktionierte.21 Selbst das um 1960 mittlerweile weit verbreitete Fernsehen konnte also nicht dazu beitragen, Scholz im literarhistorischen Gedächtnis zu bewahren.22 Im Kritischen Lexikon der Gegenwartsliteratur (KLG) kommt er nicht vor. Er teilt dieses Schicksal mit Martin Kessel. Mittlerweile findet der Roman, wie vorliegender Sammelband an verschiedenen Facetten ausweist, wieder jene Aufmerksamkeit, die er auch in literarhistorischer Perspektive verdient: nicht nur, was die für die 1950er Jahre singuläre Dokumentation der NS-Gräuel in der berühmten (die Aufmerksamkeit der jüngeren Forschung allerdings auch zu ausschließlich bannenden) Erschießungsszene angeht, sondern nun auch im Blick auf seine komplexe literarische Organisation. Erläuterungsbedürftig erscheint es dabei nun aber gerade, wie Am grünen Strand der Spree trotz seiner vertrackten Anlage eine derart breite zeitgenössische Resonanz erregen konnte: Bereits der expositionslose Einsatz mit einem Telefongespräch in medias res erleichtert den Zugang nicht unbedingt; genauso wenig erscheinen die komplizierten Erzählanordnungen in einem poetisch ›verketteten‹ ›Geschichtengewebe‹ (235) mit intrikaten Genremischungen und Grenzverwischungen zwischen dokumentarischer Beglaubigung und ihrer erzählerischen Relativierung bis hin zu explizit ausgestellten Lügengeschichten leicht nachvollziehbar. Auf jeden Fall aber werden daran die eben auch literarischen Ambitionen ihres Autors kenntlich.23
21 Siehe den Beitrag von Christian Hißnauer in vorliegendem Band. 22 Im Band zur deutschsprachigen Literatur bis 1967 in Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart wird bemerkenswerterweise nur noch die Verfilmung aufgeführt (vgl. Hickethier 1986, 592). 23 Aspekte der literarischen Gestaltung zwischen intertextuellem Traditionsverhalten (in zahllosen System- und Einzeltextreferenzen mit Anspielungen, die z. T. nur noch als Andeutungen bzw. pastichierende Nachahmungen eines Tons zu vernehmen sind) und Spiel mit Genrevarianten der deutschen Literatur (z. B. mit dem romantischen Roman) diskutieren die Beiträge zum Roman in vorliegendem Band: Teils kryptisch verkapselt, teils explizit (so in den Mottos) ausgewiesen, werden solche Bezugnahmen
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Bei Scholz reden Connaisseure unter sich auch gerne in Zitaten, die sie spontan und nicht selten situativ anverwandelt aufbringen: teils zynisch im Kontrast durch den Einbau von Anspielungen auf den Nationalsozialismus, teils aktualisierend in Bezug auf die neue Populärkultur der eigenen Zeit. Um nur vier Beispiele für viele zu geben: »Es rauscht nicht gerade in den Schachtelhalmen, aber es macht sich […] mit Theater, Film, Rundfunk, Fernsehen, vor allem aber mit Synchron.« (20) Scholz kontaminiert hier eine Anspielung auf das ›Rauschen der Wälder‹ bei Eichendorff mit einem Witz über den Geltungsverlust der naturmagischen Lyrik Wilhelm Lehmanns und Oskar Loerkes, die in den neuen Massenmedien der 1950er Jahre (»Synchronisierung fremdsprachiger Filme«, 20) zugleich fortlebt (u. a. in den Idyllen des Heimatfilms). Alles wird im Roman in solchen Anspielungen zum Zweiten auch in Form von Sprach- und Wortspielen relativiert, etwa im witzigen Reden aus Anlass von Babsybis Verbindung mit Koslowski, indem man den »Vorkriegs-Pasodoble […] ›Es ist alles Komödie, es ist alles nicht wahr‹«24 sogleich im gemeinsamen ›Schwofen‹ variiert: »›Es ist alles Kos-Metik‹« (364), wobei man unterstellen darf, dass die Herren auch an die Etymologie des Worts Komödie (aus griechisch kómos) denken. Von Hesselbarth wird die Formulierung sofort mit mythologischen Anspielungen – »›Kos, des Hippokrates ärztliche Insel‹« – aufgeladen (ebd.), während Arnoldis »›Kosmetiker-Tagung‹« als Bonmot dazu einfällt und in dieser selbstbezüglichen Persiflage der eigenen Runde damit beginnt, »Koslowskis Gesicht kunstgerecht zu massieren« (ebd.). All dies formulieren ihre Mitglieder wiederum, nachdem sie vorher das schöne Zusammenfinden »des kleine[n] Herrn Kos« (Koslowski) mit der anmutigen Babsybi – Erinnerungen an Rest-Kenntnisse des Altgriechischen (»Goethe-Gymnasium Frankfurt, Oberprima«) steigen auf – zum neuen Mikrokosmos (»mikros Kos«) erklärt hatten (360f.). Vieles wird in ironischen Relativierungen dieser Art zugleich aber auch als bekannt ausgespielt: so zum Dritten etwa bei den Bezugnahmen auf Lessings Tragikomödie Minna von Barnhelm (1767), die in Berlin nach dem Siebenjähri-
im schnoddrigen Berliner Jargon nicht selten als Bildungsreminiszenzen ohne bestimmte Funktion evoziert, zumal sie sich gerne auch selbst verulken. 24 »Ein Schlager für den Georg Jacoby-Film Der große Bluff wird noch vor der Filmpremiere im Rundfunk gesendet, und zwar zufälligerweise am Abend des 30. Januar 1933 nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und nach der Übertragung des großen Fackelzugs: ›Und nun spielt für Sie das Orchester Dajos Béla. Als erstes hören Sie von Franz Grothe Es ist alles Komödie, es ist alles nicht wahr …‹« (Pacher 2008, XIII)
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gen Krieg handelt und als Zeitstück wiederum in Nachkriegszeiten, gerade auch nach 1945, gerne auf deutschen Bühnen aufgeführt wurde.25 Zeitgenossen wie Hellmut Jaesrich erkennen diese Zusammenhänge sofort.26 Wenn die Herrenrunde sich über »›Die Ehre, die Ehre!‹« (258) lustig macht, dann wird das auf Minnas berühmte Tautologie im Spott über Tellheim hin transparent gehalten, während Riccaut de la Marlinière in der eingelagerten Geschichte (die im Siebenjährigen Krieg spielt) eher nur indirekt durchscheint. Im Ton aber bleibt der Bezug als Pastiche auf den Aufschneider in Lessings Stück (der als einziger von Tellheims Begnadigung durch den König weiß) vernehmbar: »»›Ah, le roi de Prusse!‹, rief der Docteur aus, ›à certains égards l’on pourrait dire: parler de grands hommes c’est parler d’insupportables!‹ Diese Friederik! Man kann sagen, spräken von groß’ Leut ist spräken von Unerträglisch!« und warf ein benagtes Hühnerbein zum Wagen hinaus.« (138)
Auch an dieser Stelle fällt der wie selbstverständliche Einsatz fremder Sprachen auf: Neben Französisch, Italienisch, Englisch und natürlich Latein und Griechisch sind es zahllose weitere Sprachen, die Scholz im Roman zwar kursiv markiert, aber nicht übersetzt aufführt, so dass nur soweit gebildete LeserInnen damit etwas anfangen können. Als viertes Beispiel sei die Anspielung auf Brentanos Märchen Gockel, Hinkel und Gackeleia (1838) erwähnt, als sich die Herrenrunde während der Vorlesung des Tagebuchs an ihren Freund Wilms in der Jockey Bar erinnert, der diesen Titel beim Aufkreuzen von »Hans Hinckel, NS-Staatssekretär, mit einem älteren Herrn und einem Weibsbild« zu »›Hinkel, Gockel und Gackeleia!‹« verdreht und »laut durch den ganzen Jockey brüllte« (24). Gekontert wird der »schreckliche[], allgemeine[] Krach«, den die Engführung mit Brentanos später Märchensatire auslöst, sogleich mit einem weiteren Witz durch ein ähnlich verfremdetes Zitat von Hesselbarth: »›Mach deine Rechnung mit dem Himmler, Vogt!‹« (24). Diese Parodie auf eine Sentenz aus Schillers Wilhelm Tell (1804) bewegt sich allerdings schon auf dem Niveau von Büchmanns Geflügelten Worten. Der Citatenschatz des deutschen Volkes (seit 1864), so dass die Pointe auch weniger gebildeten LeserInnen aufgegangen sein sollte. Den Reichtum solcher, teils parodierender Literatur-, Form- und Tonzitate (oft auch in Anverwandlungen mit NS-Bezügen) aufzuzeigen – er ist im Letzten kaum vollständig zu kontrollieren –, erforderte im Grunde genommen einen
25 Vgl. Scherer 2013, 105-121. 26 Vgl. Jaesrich 1956, 57.
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Einzelstellenkommentar. Erklärungsbedürftig erscheint es gerade vor diesem Hintergrund, wie der Roman trotz seiner ausgestellten Literarizität durch vielgestaltige, teils kontrafaktische Anrufungen der deutschen Höhenkamm-Literatur von der mittleren Aufklärung bis zur Jahrhundertwende um 1955 so populär sein konnte. Was begründet also einerseits den Erfolg eines derart komplex organisierten ›erzählten Erzählens‹27 bei der zeitgenössischen Leserschaft? Und was sind die Gründe für das schnelle Vergessen des Romans im Ausgang der Adenauer-Ära? Anders gefragt: Welche kulturellen Mentalitäten, die in den 1960er Jahren zerfallen sind, steuert Am grünen Strand der Spree Mitte der 1950er Jahre noch erfolgreich an? Folgt man Joachim Kaiser, der den Roman in der zeitgenössischen Kritik am entschiedensten angeht, und im Anschluss daran den Überlegungen von Baßler, dann ist das wohl deshalb der Fall, weil das so aufheiternde wie den Genuss und die Liebe feiernde Erzählen im Blick auf die Behandlung des Nationalsozialismus von einem bestimmten Zeitpunkt an als anstößig galt, obwohl die Verbrechen der Hitler-Zeit mitnichten verharmlost oder gar ›verdrängt‹ werden. Gegen den Expressionismus: Mentalitäten der 1950er Jahre als Erfolgsbedingung Eine Antwort auf die Frage liegt im spezifischen Traditionsverhalten beschlossen, indem Scholz die deutsche Kultur- und Literaturgeschichte von der Aufklärung um 1750 bis an die Grenze der Frühen Moderne aufruft: und damit einen Kanon der deutschen Literatur, den Emil Staiger, Hauptvertreter der in den 1950er Jahren vorherrschenden werkimmanenten Methode, der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung allein für würdig hielt. Wie bei Scholz stellt die hintere Grenze dieser Wertschätzung die Jahrhundertwende dar, während alles, was danach folgte, von Staiger als Machenschaften gemeingefährlicher Existenzen angesehen wurde, die mit Kunst nichts zu tun hätten. Im Zürcher Literaturstreit von 1966 wurde er dann eines Besseren belehrt, indem ihm u. a. Max Frisch die Relevanz auch einer Literatur der Moderne seit dem Expressionismus vor Augen führte.28 Das bezeugt den Strukturwandel einer literarischen Öffentlichkeit, die über die literaturhistorischen Werturteile Staigers (denen in den 1950er Jahren noch kaum widersprochen wurde) nun empört war.
27 So Heck/Lang 2018, 247-252. 28 Vgl. Kaiser 2001.
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Die wechselseitige Beglaubigung von Interpretation und ›vollkommenem‹ Kunstwerk, die Staigers werkimmanenter Ansatz trägt, wird in der germanistischen Literaturwissenschaft ab Mitte der 1950er Jahre in Frage gestellt29, auch indem sie ein Verständnis für jene Epochen entwickelt, die Staiger in seiner Orientierung an der Weimarer Klassik noch missachtet hatte. Seine Hochschätzung bleibt zurückgebunden an eine Werte-Semantik vom humanen Erbe, das seit den Goethe-Feiern von 1949 gegen den Verlust der Mitte (Sedlmayr) Trost und Orientierung verschaffte. An Werken der Moderne (Expressionismus) oder des Vormärz, mit denen sich die Germanistik nachholend seit den 1960er Jahren beschäftigt, sind Staigers Werturteile, die ein harmonisches Gehalt-GestaltGefüge notwendig voraussetzen, nicht mehr aufrecht zu erhalten. Entsprechend vertraut seine Traditionsanrufung noch Mitte der 1960er Jahre darauf, eine Öffentlichkeit so ansteuern zu können, dass sich der Adressat kraft Performanz einer poeto-wissenschaftlichen Rede eingebunden fühlen kann in das bedeutsame höhere Ganze. Mit dem Umbruch in Wahrnehmungen und Einschätzungen der Zeitverhältnisse seit Mitte der 1950er Jahre ändern sich mentale Dispositionen aber auf derart breiter Basis, dass sich im Zürcher Literaturstreit ein nunmehr neu entwickelter Resonanzboden Ausdruck verschaffte. Auch Scholz adressiert in intertextuellen Bezugnahmen auf die deutsche Literatur vom mittleren 18. Jahrhundert über die Goethezeit, den Realismus (Storm, Raabe)30 bis zur Jahrhundertwende (Fontane, Naturalismus) mit seinem Roman jene Mentalitäten der Ära Adenauer, die Trost im guten Erbe fanden. Neben solchem Rekurs auf den bildungsbürgerlichen Kanon gibt es in Am grünen Stand der Spree keine intertextuellen Referenzen auf die internationale Literatur der Moderne (Dos Passos, Joyce) oder auf den Gesellschaftsroman europäischer Autoren seit Mitte des 19. Jahrhunderts – ganz zu schweigen von Großstadtromanen wie Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) oder anderen Totalitätsprojekten der Synthetischen Moderne um 1930, die wie Musil oder Broch
29 Vgl. Scherer 2000; Scherer 2005. 30 Bezugnahmen auf Storm und Raabe sind an verschiedenen Stellen immer wieder spürbar: ein Raabe-Ton (vgl. 195), wie ihn auch Fallada in Wir hatten mal ein Kind (1934) aufruft, genauso wie distinktere Anspielungen etwa auf Raabes Das Odfeld (1888), wo das Modell geschichteter Zeiten (wie auch in Langgässers Gang durch das Ried, 1936) in einer Handlung während des Siebenjährigen Kriegs ebenfalls intertextuell höchst intrikat ausgestaltet ist (vgl. 244). Im Fall von Storm wäre es das Präsenthalten von Novellen wie Der Schimmelreiter (vgl. 205) oder Pole Poppenspäler etwa im Zitat »eine ›schöne Kunstfigur‹«, als die ein »märchenhaft schöne[s] Mädchengeschöpf« (228) erscheint.
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einen ausgreifenden Essayismus in ihr Erzählen integrieren.31 Besonders auffällig ist bei Scholz die Polemik gegen den Expressionismus, der explizit auf Hitler bezogen wird: »Adolf der Hitler, war Expressionist, außer wenn er malte natürlich« – die expressionistische »Geistesbewegung […] hieß: grob, ernst, unbescheiden.« (284) Wenn der Expressionismus seit den 1960er Jahren in der germanistischen Literaturwissenschaft als bedeutsame Ausprägung der deutschen Literaturgeschichte erkundet wird, dann erscheinen solche Urteile über die literarische Moderne fast schon mehr als verfehlt. Erste Impulse, die 1950er Jahre differenzierter als mit dem Totschlagargument ›Restauration‹ zu erfassen, kamen von der Zeitgeschichtsforschung der 1990er Jahre, die feststellt, dass das Jahrzehnt eher als ›janusköpfig‹32 einzuschätzen sei. Die These von der zweigeteilten Dekade durch eine ›Modernisierung im Wiederaufbau‹ ist seit den Arbeiten der Hamburger Zeithistoriker Schildt und Sywottek33 mittlerweile auch kulturhistorisch präzisiert worden. Sie verschiebt das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität im Geltungsverlust eines Traditionsverhaltens sowohl in der literarischen Praxis als auch in der diskursiven Selbstverständigung über Kultur, Politik und Gesellschaft in die 1950er Jahre zurück. Auch literaturhistorisch gesehen zerfällt hier die Synthetische Moderne: ein Begriffsvorschlag für die epochale Einheit 1925-1955, die durch bestimmte Homogenitätsannahmen begründet wird. Der Name für diese Epoche benennt die spezifische Signatur der Literatur zwischen Mitte der 1920er und Mitte der 1950er Jahre als Doppelung von literarischer Modernität und Synthese der literarisch kombinierten Darstellungsmodelle und Traditionsanrufungen auf dem je aktuellen Stand der Formgeschichte.34 Die diskursive Durchsetzung der Homogenitätsannahme ›Restauration‹ als Kennzeichen der 1950er Jahre erfolgte im Kern durch die Politisierung der Öffentlichkeit seit 1960. Von der linkskatholischen Publizistik als Alternative Kampf oder Normalisierung in die Debatte eingeführt35, diente die Restaurationsthese in letzter Konsequenz v. a. dazu, das ›Keine-Experimente‹-Jahrzehnt Adenauers zu erledigen. So unpolitisch, wie es diese These erscheinen ließ, waren die 1950er Jahre jedoch keineswegs. Das »Jahrzehnt des Protests«, das in dieser Phase bereits die kritische Dekonstruktion der Rede von der ›nivellierten
31 Vgl. zu Broch in der Synthetischen Moderne auch Frank/Scherer 2005. 32 So Bollenbeck/Kaiser 2000. 33 Vgl. Schildt/Sywottek 1993. 34 Vgl. zuletzt Frank/Scherer 2019; zu den Kontinuitäten der deutschsprachigen Literatur über 1933 und 1945 hinweg siehe auch Schuster 2016. 35 Vgl. Dirks 1950; Kogon 1952.
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Mittelstandsgesellschaft‹ (Schelsky 1955) – Äquivalent für die ›Volksgemeinschaft‹ in der Nachkriegszeit – anbahnt36, beginnt früher, indem der ›Kampf‹ zur Normalisierung beiträgt: eben nicht als Restauration, sondern als ein entspannteres Tolerieren pluralistischer Zustände. Ein »gesellschaftlich hegemoniales Netz« im ›flexiblen Normalismus‹ westlicher Prägung, der Kapitalismus und ›Normalismus‹ in einer »vollständig verdateten, tendenziell vollständig versicherten, allseitig konkurrierenden und dabei vollständig motorisierten wie motivierten und therapierten Gesellschaft« ›verlötet‹, bildet sich »definitiv erst in den fünfziger Jahren« heraus.37 In der westorientierten Bundesrepublik wird das als ›Amerikanisierung‹ semantisiert, im Unterschied zur Weimarer Republik nun aber nicht mehr eindeutig als ›politischer Kampfbegriff‹ nach einem Rechtslinks-Feindschema.38 Vielmehr löst die demokratische Massenkultur eine gesellschaftliche Semantik auf, die nach Moralbegriffen überzeitlicher Werte kodiert war. Nach 1945 sollte die Normalisierung dagegen im Rekurs auf Kulturtraditionen über den ›Abendland‹-Gedanken zunächst neuhumanistisch und zugleich existenzial-ontologisch begründet erfolgen.39 Genau dieser ›Modernisierung in der Restauration‹ fällt Scholz’ Roman zum Opfer: An Martin Walsers Roman Ehen in Philippsburg (1957)40 und Hans Magnus Enzensbergers Gedichtband Verteidigung der Wölfe (1957) wird ersichtlich, wie die Synthetische Moderne, die noch Ethikangebote macht und Sinnstiftung durch Literatur betreibt, in Darstellungen zerfällt, denen jedwede Ordnungszuversicht abgeht. Autoren wie Walser und Enzensberger lamentieren nicht mehr kulturpessimistisch über den Verlust humanistischer Werte, sondern betreiben wertungsfreie literarische Analysen ihrer Zeit: »Die Kulturindustrie gehört zu unserer Wirklichkeit, statt an ihr gebildet zu nörgeln, sollte man ihre Gesetzmäßigkeiten erforschen«, schreibt Enzensberger in der neuen, für den Anschluss an die internationale Moderne wichtigsten Literaturzeitschrift Akzente41 als Lyriker, der den kunstautonomen Positionen Benns formgeschichtlich einerseits nahe blieb, sich andererseits in seiner zeitkritischen Orientierung nun aber auch entschieden von ihnen distanzierte.
36 Vgl. Schäfer 2000, 129, 118, 120. 37 Link 1999, 294. 38 Zur »Vertagung des Flexibilitäts-Normalismus in Europa«, der in der Zwischenkriegszeit im Unterschied zu Amerika als »bedrohliche Anormalität« wahrgenommen wird, vgl. ebd., 298f. 39 Vgl. Schildt 1999. 40 Vgl. Scherer 1998. 41 Enzensberger 1956, 123.
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Mitte der 1950er Jahre entfällt daher eine Ontologie des Vitalen, an der auch Scholz festhält, so dass eine genuin literarische Deskription konkreter Zeit- und Lebensverhältnisse in nunmehr nicht-normativem Kontext fortgesetzt werden kann. Literatur tritt jetzt als analytisches Korrektiv neben die soziologische Präskription der von Schelsky beschriebenen ›nivellierten Mittelstandsgesellschaft‹. Die synthetische Phase der Literatur- und Kulturgeschichte wird insofern nicht abgelöst von einer ›Postmoderne‹42, sondern von einer Moderne ›nach der Synthese‹. Literatur stellt darin ihre künstlerische und theoretische Aufmerksamkeit von der Bestätigung eines phänomenologisch geglaubten, also vorab unterstellten Sinns auf die Analyse seiner Erzeugung durch Strukturen und Verfahren um. Genannt seien exemplarisch die Mythen des Alltags von Roland Barthes (1957). Michel Foucault hat im Gespräch mit Paolo Caruso von der »Konversion« seiner Generation (der Ende der 1920er Jahre Geborenen) durch Abkehr von der Phänomenologie gesprochen: »Von 1955 an haben wir uns hauptsächlich der Analyse der formalen Bedingungen des Erscheinens von Sinn gewidmet«.43 Wie die frühe Prosa Martin Walsers gehört Enzensbergers Erstling Verteidigung der Wölfe zu den literarischen Zeugnissen der neuen Lage. Auch seine Gedichte eröffnen Einsichten in die Funktionalität der Systeme in einer von Medien (Fernsehen), public relations und Konsum regierten Gesellschaft ohne kulturkritische Ordnungsidee als tröstenden Fluchtpunkt. Auch sie dienen nicht mehr der Kontingenzbewältigung; stattdessen führen sie die Kontingenz in den zitierten Mustern der metaphysischen Überwindung vor – so etwa im fulminanten Gedicht Goldener Schnittmusterbogen zur poetischen Wiederaufrüstung aus der Abteilung ›böse Gedichte‹, in dem Enzensberger gerade auch die unheilvollen Kontinuitäten von NS-Größen wie Hans Globke im Politik-Betrieb der BRD aufspießt.44 Scholz lässt in den eingelagerten ›Novellen‹ seines Romans dagegen ein literarhistorisches Feld wiederauferstehen, das im (auch pastichierenden) Spiel mit
42 Vgl. Tommek 2015. 43 Caruso 1987, 7f. 44 In einer Sequenz dieses lyrischen Panoramas der zeitgenössischen Literatur – »Asphodelen / viellieber, Mohn und Metaphysik, auch Urin / und Gebärmutterkrebs sind eher noch erlaubt, / wenn schon Moderne, verzicht auf Belcanto, / als abendländischer Müll, Globkes Dossiers« – kann man sogar eine ›böse‹ Kritik dessen unterstellen, was Scholz mit seinem Roman noch anstrebt: »Doch empfiehlt sich / bei Konjunktur eher Frivoles, natürlich / im Rahmen! mit der Zeit gehen! Feigheit / nicht nur vorschützen! Leben / und leben lassen […]« (Enzensberger 1997, 87f.).
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verschiedenen Anmutungen vom literarischen Rokoko (vgl. 134) über Kleist45, Goethe46, Storm, Raabe und Fontane bis hin zum Berliner Naturalismus der Jahrhundertwende aufgespannt wird. Am grünen Strand der Spree erzeugt damit Resonanzen auf eine Höhenkammlinie der deutschen Literatur, in dem sich ein westdeutsches Bildungsbürgertum aufgehoben fühlen konnte, das seit den Goethe-Feiern 1949 Trost fand im ›guten‹ Erbe einer auf Humanität abonnierten deutschen Literatur seit der Aufklärung. Die literaturhistorische Grenze dieser Traditionsanrufung reicht bis zur Jahrhundertwende, während Scholz alle Phasen seit den Historischen Avantgarden über die Weimarer Republik bis in die Trümmer- und Kahlschlagtexte der frühen 1950er Jahre geradezu ostentativ ausspart. Der einzige Großautor der deutschsprachigen Moderne, der in diesem literarischen Spiel mit Tönen und Stilgesten vernehmbar bleibt, ist Thomas Mann, präsent v. a. in der durchweg ironischen Erzählhaltung der zweiten Novelle, in der träge, beschäftigungslose höhere Wehrmachtsoffiziere in nördlichen Sommernächten dem Ende des Zweiten Weltkriegs entgegendämmern. Die skizzierte Spannbreite, die gerade mit Blick auf Thomas Manns Erzählen im Kern nur bis zur Jahrhundertwende reicht, repräsentiert den hochkulturellen Kanon der zeitgenössischen Literaturwissenschaft, wie sie federführend von Emil Staiger betrieben wurde. Das erklärt vermutlich auch Scholz’ Kritik des Expressionismus, die bei einem kunsthistorisch gebildeten Autor einigermaßen überrascht: Formuliert er seine Abrechnung mit dem Expressionismus wegen einer Formdissoziation, die keine Kunst mehr ist, sondern nur dilettantisches Geschmiere?47 Oder sieht Scholz darin jene Linie vorgezeichnet, die Kracauer in seinem Filmbuch Von Caligari zu Hitler (1947) zieht? Antonie Magens Überlegungen in ihrem Beitrag zu vorliegendem Band, die einen Abgleich mit den autobiografischen Äußerungen von Scholz über den Expressionismus vornehmen, können eine bestimmte Position nicht erkennen. Zu ambivalent erscheint ihr die im Roman formulierte Kritik des Expressionismus, zumal auch nicht recht klar wird, was Scholz darunter versteht: ein Wort für künstlerischen Dilettantismus, den er mit dem gescheiterten Kunstmaler Hitler in Verbindung bringt – oder eine Linie der ästhetischen Barbarei zu Hitler, die dann aber die Diffamierung als ›entartete‹ Kunst missachtete. Folgt man Moritz Baßler zu dieser
45 Etwa auf Kleists Michael Kohlhaas (vgl. 195). 46 U. a. auf Goethes West-östlichen Divan (vgl. 39). 47 So wird das aus der Perspektive von Wilms formuliert: »Meine tiefste Verachtung allem Expressionismus. Dieser Künste Gebärden sind so eitel aufgesetzt, so flach unwahr, so platt ahnungslos, als unterwiese Onkel Otto Tante Frieda über Pathos…« (60).
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Frage, dann ist expressionistische Kunst für Scholz zu ernst, pathetisch und bedeutungsschwer, d. h. nicht von jener Heiterkeit getragen, die sein Roman im Votieren für das ›Leichter werden‹ anstrebt. Eine weitere Lesart besteht darin, dass für Scholz die Expressionisten unmännlich sind, genauer: infantil und effeminiert, während sich die Jockeys für sarkastisch-schnoddrige Krieger-Männer halten, die anständig bzw. stoisch ertragen haben und sich nicht pathetisch (bzw. hysterisch) aufgipfeln. Die Frage, wie Scholz die Moderne überhaupt bewertet, ist daher nicht leicht zu beantworten. Seine autobiografischen Äußerungen darüber tragen nicht zu ihrer Klärung bei. Problematisch erscheint bereits die Definition von Moderne, die strenggenommen keine ist, sondern nur eine Aufzählung von Beispielen bietet, an die ohne weitere Erklärung der Satz anschließt: »Viele Phänomene der Nachkriegszeit lassen sich als Metastasen des Nationalsozialismus auffassen. Wann werden sie ausheilen«.48 Was ist damit gemeint? Steht die Moderne um 1911, an die man in der Nachkriegszeit wieder anknüpft, neben den »Metastasen des Nationalsozialismus«? Oder werden sie in der Nachkriegszeit gerade in der Wiederaufnahme der Moderne um 1911 erkannt? Eine wie auch immer geartete Konjunktion hätte an dieser Stelle Klarheit geschaffen, aber Scholz formuliert sie nicht. Auch der Kontext klärt diesen Punkt nicht hinreichend.49 In eine ähnliche Richtung geht die Frage, wie der Expressionismus von ihm bewertet wird. Wenn er ganz konkret als kunsthistorische Epoche abgelehnt würde, wäre der Standpunkt nicht unbedingt dem Kracauers, wohl aber dem von Thomas Mann in Bruder Hitler (1938) am ähnlichsten. Eindeutige und belastbare Hinweise sind im Roman nicht zu finden. Scholz vertritt daher keine bestimmte Moderneauffassung, wobei nicht einmal das so leicht zu sagen ist, bedenkt man nur die Anschlüsse an den ›UllsteinRoman‹ um 1930 im Zeichen einer middlebrow culture, die durch die Mitglieder der Herrenrunde gerade als Medienarbeiter in der Konsumkultur und Unterhaltungsindustrie50 goutiert wird51; aber auch das intertextuelle Spiel, das Moritz
48 Scholz 1966, 114f. 49 Vgl. dazu genauer den Beitrag von Antonie Magen in vorliegendem Band. 50 Siehe dazu den Beitrag von Gustav Frank in vorliegendem Band. 51 Vgl. dazu eine Passage nach Česnicks Geschichte, in der z. B. Ernst Lubitsch gerühmt wird: »Erzählt hier lange Enden, die ganze story, mit Gemüse gepflückt und munter ins Horn gestoßen und so, und verschweigt, um was es sich eigentlich machandelt: daß ihm die Amerikanerin, die er vorhin nannte, ein happy end hingezaubert hat wie Lubitsch der Große. Gartenlaube, fünfundachtzigster Jahrgang. Aber Breitleinwand, sage ich Ihnen.« (301)
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Baßler so postmodern, d. h. so virtuos wie ironisch relativierend erscheint, dass ihm dazu Thomas Pynchon und Leslie A. Fiedler einfallen. Das halte ich in dieser Zuspitzung jedoch für eine Fehleinschätzung, weil alle ironischen Relativierungen bei Scholz noch lebensmetaphysisch abgefedert bleiben. Auch wollen mir Baßlers Feststellungen über die Nähe einiger Passagen zu avantgardistischen Schreibweisen der emphatischen Moderne – insbesondere in dem von ihm erkannten stream of consciousness in Wilms Tagebuch – nicht einleuchten. Ich erkenne hier eher die literarische Gestaltung einer memoire involontaire, die im Prozess der Tagebuchaufzeichnung in Erinnerungen an die Liebesbegegnungen mit einer Jüdin aufsteigt. Wegen solcher Momente des unfreiwilligen Erinnerns ist Proust mit seiner Recherche berühmt geworden. Insofern fallen jene Passagen, in denen Baßler Texturen der emphatischen Moderne erkennen will, formgeschichtlich gesehen doch weniger avanciert aus: Proust entwickelt die Virtuosität seiner Pastiches auf literarische Vorbilder des 19. Jahrhunderts (wie sie auch Scholz, wenn auch punktueller, betreibt) bereits zur Jahrhundertwende, zu einer Zeit, in der Schnitzler den Inneren Monolog ausdifferenziert52, während Texturen der emphatischen Moderne erst in den 1910er Jahren aufkommen.53 Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob Scholz überhaupt historisch denkt oder nicht vielmehr Bildungszitate nur als Reminiszenzen auf eine deutsche Literatur und Kultur seit der Aufklärung einstreut, um an ihre humanistischen Werte zu erinnern. Der vom witzigen Sprachgeist des Feuilletons affizierte Autor unterlegt seinem Roman jedenfalls eine ›implizite Poetik‹, die den Ausschluss des Expressionismus erklärt, weil er die avantgardistische Moderne nicht schätzt und aus der Riege der deutschen Großepiker höchstens den ironischen Erzähler Thomas Mann parodistisch anerkennt. Sein Roman verortet sich damit in einer ›nachexpressionistischen‹ Konstellation, geprägt von jenen oben erwähnten AutorInnen, die um 1930 auf den Plan treten. Nur fällt bei Scholz die spezifische Kombinatorik der Synthetischen Moderne durch Anverwandlung verschiedener Traditionen anders aus als etwa bei Döblin, Kästner oder Koeppen. Dass Am grünen Strand der Spree nicht mit literarischen Techniken im Gefolge der Historischen Avantgarden operiert, genauer mit Varianten der forcierten Prosa und
52 Vgl. Scherer 2017. 53 Vgl. Scherer 2020. Baßler gerät m. E. in einen gewissen performativen Selbstwiderspruch, wenn er triftig Scholz’ Vorbehalte gegenüber Absolutheitsansprüchen der Kunst im Expressionismus ausführt: Gelten sie, dann dürfte Scholz keine emphatische Prosa anstreben, wie sie Baßler in seinen Studien zur ›Unverständlichkeit‹ für die Literatur ab 1910 präzise rekonstruiert hat (vgl. zuletzt Baßler 2015, 209-287).
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des filmischen Schreibens oder mit Montagetechniken zur Darstellung der Großstadt, bleibt auf jeden Fall offenkundig. Zugleich fühlt sich ein ästhetisch sensibler Kritiker wie Joachim Kaiser nicht ohne Grund an die Berliner Romane der späten 1920er Jahre erinnert. Tatsächlich ist der Konversationston bei Scholz von einem Berliner Sprachgeist geprägt, der im Unterschied zum Vorbild Fontane nur ›urbanisierter‹ erscheint. Der Berliner Jargon seiner Prosa unterscheidet Scholz aber auch wiederum von jenem Avantgardismus nachexpressionistischer Stadtdarstellungen um 1930 – einschlägig in Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) –, die ihn nur beobachten.54 Insofern lässt der Konversationsstil in Am grünen Strand der Spree zwar an die ›Betriebsamkeit‹55 denken, die in der Prosa Kästners, Keuns, Tergits oder Kessels begegnet – geschuldet einer Schnoddrigkeit und Leichtigkeit in gutgelaunten Causerien, die selbst Anzüglichkeiten im Spiel mit dem Tabuisierten (»bis zur Vergasung«, 284) nicht scheuen.56 Scholz verwandelt sich darin aber wiederum eher den Konversationston Fontanes als Vorbild an: nur jetzt auf dem medienhistorischen Stand der Nachkriegsmoderne, die in einer westorientierten BRD umstellt ist von Reklame, Konsumkultur, Jazz oder von Filmen, für die man Drehbücher braucht. Das wird im Roman, wie die Beiträge in vorliegendem Band in verschiedenen Hinsichten ausführen, auch verfahrenstechnisch vollzogen und reflektiert. Im Vergleich mit Fontane, der ja überhaupt eine zentrale Rolle für das Œuvre von Scholz spielt57, sind die Gespräche im Roman stärker mit dialektalen bzw. soziolektalen Einschlägen nach Maßgabe der phonografischen Methode im Berliner Naturalismus gestaltet. Den hat Fontane als Kunst zwar zeitgenössisch anerkannt. Innerhalb der nicht überschreitbaren Grenze im Blick auf die poetische ›Verklärung‹ war eine phonografische Reproduktion von Redeweisen bis hin zum Dialekt (und auch von älteren Sprachstufen) aber für ihn selbst nicht möglich. Bei Scholz hingegen fällt dieser Naturalismus in verschiedenen Varianten inszenierter Mündlichkeit auf: im Eingang bei den Telefongesprächen, in den launigen Plaudereien der Jockey-Runde, am deutlichsten als Formzitat auf die
54 Die spezifische Kombinatorik aller verfügbaren literarischen Verfahren auch der Moderne macht Döblins Roman zu einem Mastertext der Synthetischen Moderne (vgl. Frank/Scherer 2016). 55 Vgl. Marx 2009. 56 Zum Kontext des anstößigen Zitats, der Scholz’ Sensibilität für Wehrmacht- und NSSprache zeigt, siehe den Beitrag von Moritz Baßler in vorliegendem Band. 57 Siehe dazu den Beitrag von Roya Hauck in vorliegendem Band.
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phonografische Methode von Arno Holz und Johannes Schlaf 58 – nun aber sozialismus- bzw. DDR-kritisch gewendet – in der Omnibus-Szene, die wiederum als Anverwandlung von Goethes Rahmenzyklus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) funktioniert (vgl. etwa 184). So gehen auch diese Sequenzen auf den vorherrschenden Gestus im ganzen Roman zurück: auf die literarisch simulierte Mündlichkeit in der Anverwandlung rahmenzyklischen Erzählens, die nun auch naturalistische Darstellungstechniken nutzt – geschrieben von einem Verfasser, der sich zeit seines Lebens als Berliner Autor verstand und der im gutgelaunten Hedonismus einer urbanen Darstellung zur ›Aufheiterung‹ der Nachkriegszeit beitragen wollte. Am grünen Strand der Spree betreibt damit aber keine Schuldabwehr oder gar eine Verdrängung des Nationalsozialismus. Wie Moritz Baßler zeigt, unternimmt es der Roman vielmehr, zur Heiterkeit und Freude zu ermuntern, ohne die Kriegsvergangenheit auszublenden. Nur leistet Scholz’ Roman keine moralisierende Trauerarbeit, weil das in den neuen Zeiten nach dem Krieg lebensfeindlich wäre: Der Vitalismus in der Ontologie eines Geschichtsgewebes, in dem sich das Immergleiche von Liebe, Schicksal und Krieg an geschichteten historischen Zeiten, die wiederkehren, offenbart, bezeugt aber auch keine ›Unfähigkeit zu trauern‹ (Mitscherlich). Nur zu trauern wäre indes wenig dienlich, im zivilen Leben der Nachkriegsgesellschaft, geprägt von einer Konsumkultur mit neuen Anforderungen, wieder Fuß zu fassen. Genau das aber ist das Programm der Herrenrunde für Lepsius. Indem die Jockeys auf ihren alten Anti-Nationalsozialismus der 1930er Jahre rekurrieren (an den sie z. B. in ihrem Spott auf Hans Hinkel erinnern), müssen sie sich die Schuld nicht zueigen machen. Auch diese ›Geschichte‹ setzen sie dem Siebenjährigen Krieg und jedem anderen gleich: Der Zweite Weltkrieg gehört zu den historisch-sozialen Tatsachen, die unabänderliche Rahmenbedingungen sind, innerhalb derer man überleben muss. Es gibt keinen ›revolutionären‹ Weg, es gibt kein Außen. Wie Fallada und andere AutorInnen sind auch sie auf der Suche nach dem ›richtigen Leben‹ im grundsätzlich und immerwährend ›falschen‹, um Adornos berühmte Formel aus den Minima Moralia (1951) für diese Ethik der Synthetischen Moderne abzuwandeln. In den 1960er Jahren kommt solcherart ›Leiter werden‹ (Baßler), das Kaiser zufolge kritiklos oder sogar zynisch den Nationalsozialismus hinnimmt, dann nicht mehr an. Dies ist am Vergleich mit der Prosa Irmgard Keuns oder Martin Kessels zu ermessen: Der urbane Witz im Sound Berlins, den Kessel (und auch
58 Die Übernahmen in der Darstellung des Sterbens aus Ein Tod (1889) von Holz/Schlaf (aus der Sammlung Papa Hamlet) fallen am deutlichsten in der Todesszene mit HansWratislaw von Zehdenitz-Pfuell auf (vgl. 271-274).
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die Kölnerin Keun) um 1930 in ihrer Prosa vernehmbar machen, erscheint einer moralisierenden Betroffenheitskultur, der die Metropole abhanden gekommen ist, offenbar unangemessen. Statt Scholz goutiert man den Rigoristen Böll. Moritz Baßler kann zeigen, wie sehr der spätere Nobelpreisträger gegenüber dem Virtuosen Scholz abfällt. Entsprechend wird auch Martin Kessel vom Literaturbetrieb der 1960er Jahre nicht mehr geschätzt. Wie bei Scholz scheint auch bei ihm die Politisierung einer Öffentlichkeit, die offenbar nur noch ernste, betroffen machende Gesellschaftskritik akzeptieren kann, ein Grund dafür gewesen zu sein, dass eine der literarischen Qualität angemessene Rezeption seines Romans Lydia Faude (1965) unterblieb. Jetzt hat die vorgebliche Fabulierlust von Grass Erfolg, wie der Preis der Gruppe 47 für Die Blechtrommel (1959) zeigt, weil mit diesem Roman der Anschluss der deutschen Literatur an internationale Entwicklungen der literarischen Moderne gelungen sei. Genauer besehen ist aber auch Grass’ Roman bestimmt von jener moralisierenden Selbstgerechtigkeit, die Bölls Billard um halbzehn aus dem gleichen, vieldiskutierten Jahr 1959 in der Sicherheit dualistisch begründeter Bewertungen von gut und böse kennzeichnet – bei Grass, indem sein Roman triumphalistisch behauptet, man könne gegen Benjamins und Adornos Einwände auch in der Moderne noch ungebrochen erzählen, während Scholz genau diese Problematik des Erzählens im Fortschreiten der Novellen-Vorträge nicht nur aushandelt, sondern immer wieder auch selbst reflektiert.59 Das protzende ›Seht her, wie das doch geht‹, das der Ich-Erzähler der Blechtrommel gegen Adornos StandortAufsatz (1954) gleich im Eingang aufführt, um auch den Nationalsozialismus darstellen zu können, funktioniert aber nur vermittels eines billigen Tricks: aus der fantastischen Erfindung einer Figur heraus, die nicht mehr wachsen will, so dass die Underdog-Perspektive des Schelmen, genauer die Übernahme eines älteren Romanmodells die humoreske Darstellung auch des Kriegs erlaubt – wie bei Grimmelshausen auch bei Grass aus der Perspektive des geretteten IchErzählers. Im Vergleich mit Kessels zweitem Roman stellte die ältere Literaturwissenschaft fest: »Gerade die tragikomischen Geschichten und Romane (Lydia Faude, 1965) Kessels wirkten, in Anbetracht der Virtuosität eines Günter Grass, demodé«60 – »durch Scharfblick und Einfälle fesselnd, hat er [Kessels Roman] zugleich auch etwas fast absonderlich Zeitloses«.61 Auch Scholz’ Roman fällt im Unterschied zu den zeithistorisch konkretisierbaren Bezügen bei Grass ähnlich zeitlos aus. Trotz seiner Gegenwärtigkeit im
59 Vgl. Müller-Schwefe 2013, 10f. 60 Schonauer 1979, 250. 61 Vormweg 1973, 321.
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Blick auf Lebensverhältnisse im Jahr 1954, die Barners Literaturgeschichte an ihm bemerkt hat, eignet Am grünen Strand der Spree diese Zeitlosigkeit v. a. im Anspruch, ein schicksalhaftes ›Geschichtengewebe‹ in komplex perspektivierten Erzählanordnungen zu beglaubigen. Dieses Gewebe historischer (Ge-)Schichten, verknüpft in einem erzählten Erzählen, macht die ›ewige Wiederkehr‹ des Gleichen – des Krieges wie der Liebe – anschaulich. Nur steht der Roman damit nicht für Verzweiflung, sondern für gute Laune und genussorientierte Lebensfähigkeit nach dem Nationalsozialismus: hier in der Zuversicht auf die glückliche Zukunft eines Paares, dem das ganze Konvolut gewidmet ist. Mit seinem Erzählprogramm soll daher nicht nur Major Lepsius, sondern im Kern seine ganze LeserInnenschaft ins zivile Leben der frühen BRD zurückgeführt werden. Die komplizierten Wiedergänger-Figurationen in geschichteten Texturen, die kunstvoll ineinander verwoben werden, dienen insofern auch nicht der Warnung vor dem gewiss wiederkehrenden Krieg, wie es bei Koeppen der Fall ist, sondern einer Zuversicht zum Guten, zu der auch Literatur beitragen soll, gerade weil der Krieg als anthropologische Konstante unabänderlich bleibt. Ein populärer Roman als Reflexionsmedium kultureller Selbstvergewisserung – Stellenwert in der Synthetischen Moderne Auch Scholz’ Roman ist damit getragen von jener lebensmetaphysischen Sinngebung in der Idee, ethische Perspektiven zu vermitteln. Barner hat diese Metaphysik in seiner Literaturgeschichte auf die Doppelformel ›Beschreiben‹ / ›Transzendieren‹62 zugespitzt. Einerseits strebt die Nachkriegsliteratur eine Erfassung dessen an, ›was ist‹, d. h. nüchterne Tatsachenfeststellung. Im Gefolge der Postulate vom ›Kahlschlag‹ soll die ›nackte Wahrheit‹ ausgesprochen werden. Dieser Bezug auf die zeitgeschichtliche Realität stellt andererseits aber bloß ein außerliterarisches Kriterium bereit. Innerliterarisch besteht auch in dieser Linie ein der Literatur abverlangtes Sinn- bzw. Ethikangebot. So kann man die Doppelung von ›Beschreiben‹ und ›Transzendieren‹ zwar auf zwei getrennte Linien in der deutschen Nachkriegsliteratur beziehen: auf die Kriegstexte, die die Existenznot der Besiegten darstellen (so bei Borchert, Böll, H. W. Richter, Schnurre); daneben auf Werke, die eine zweite, mythische Wahrheit beglaubigen wollen, mittels derer die empirische Welt überschritten wird. Letzteres reicht von der Darstellung Kastaliens in Hesses Das Glasperlenspiel (1943), einer Totenstadt in Kasacks Die Stadt hinter dem Strom (1947), aber auch in Heliopo-
62 Vgl. Barner 1994, 35-39.
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lis bei Ernst Jünger, Brundisium in Hermann Brochs Der Tod des Vergil (1945) bis zur Aufführung anderer ›jenseitiger‹ Orte in zahlreichen Werken weiterer Autoren (Langgässer, Nossack, Thomas Mann, Reinhold Schneider).63 Beide Varianten sind aber gleichermaßen grundiert von jener Metaphysik des Lebens, die die Synthetische Moderne trägt. Bei Scholz begründen Figurationen der Wiederkehr diese literarische Metaphysik, indem vergangene Zeiten und Menschen in den eingelagerten Novellen auch stilistisch wiederkehren und auf Figuren der Gegenwart des Jahres 1954 hin transparent gemacht werden. Verfahrenstechnisch geschieht dies u. a. dergestalt, dass etwa in Episoden aus dem Siebenjährigen Krieg das literarische Rokoko auch im Ton der Darstellung wiederaufersteht. Ereignisse der Geschichte und literaturhistorische Epochen, die auf sie beziehbar sind, werden so miteinander zu einem Teppich verknüpft, dass nun auch der Nationalsozialismus eingewebt wirkt. Das literarische Aufheiterungsprogramm des Romans bleibt auf diese Weise trotz seines ironisch-witzigen Gewands lebensmetaphysisch fundiert. Auch bei Scholz ist die ›eigentliche Wirklichkeit‹64 eine innerliche und metaphysische, genauer eine, die das Zeitgeschichtliche übersteigt. In dieser höheren Wahrheit besteht der Sinn des Lebens. Auch hier wird das Reich des Geistes, des Spiels, der Kunst, der Sittlichkeit und Gnade, oder allgemeiner: eine bestimmte Ordnung trotz der schlimmen Kriegsvergangenheiten – eigentlich gerade wegen der brutalen Verhältnisse im NS und der problematischen Kontinuität seiner Eliten in der BRD (Stichwort Globke) – als existent und sieghaft erwiesen. Mit anderen Worten: Jedes Historisch-Gesellschaftliche gibt nur den Spielraum dafür ab, die höhere Ordnung aufscheinen zu lassen. Gerade solche Sinnstiftung wird die neue Generation von Autoren wie Walser oder Enzensberger nicht mehr interessieren. Scholz’ Roman stellt insofern ein Übergangsphänomen in der literaturhistorischen Situation um 1955 dar – ähnlich wie Hans Erich Nossacks Erfolgsroman Spätestens im November, ebenfalls von 1955. Die zeitgenössische Rezeption erkannte hieran die Schwelle einer Umbruchssituation: vom existentialistischen Pathos in einer Darstellung von Angst und Vereinsamung, von gesellschaftlichen Außenseitern und Nonkonformisten, hin zu einem modernen Schreibstil bzw. einem Ton, der die Frage nach der Ich-Identität auf eine Weise verhandelt, wie es zur gleichen Zeit Stiller (1954) von Max Frisch unternimmt. Auch Nossack setzt damit die Doppelung aus nüchternem Lapidarstil und transzendierender Sinngebung im Durchscheinen einer höheren, eigentlichen Wirklichkeit
63 Vgl. dazu auch Dörr 2004. 64 Vgl. Barner 1994, 37.
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fort: hier auf Basis einer Einsicht in die Absurdität des Lebens, das als solches aber noch als Wert wie auch bei Scholz erscheint – bei diesem in seiner Feier des Hedonismus, in der nun auch die aktuelle Populärkultur einbezogen wird. Genau dieses Präsenthalten einer ›richtigen‹ bzw. ›eigentlichen‹ Wirklichkeit dominiert in der frühen Nachkriegsliteratur. So stehen auch die Romane des Außenseiters und Nonkonformisten Wolfgang Koeppen, der nicht der Gruppe 47 angehörte, viel eher in einer Kontinuität seit den 1930er Jahren, als dass seine Warnung vor dem drohenden neuen Krieg auf die politische Literatur der 1960er Jahre vorausweist.65 Noch ist auch Koeppen im Unterschied zu Walser oder Enzensberger dem zeitspezifischen Dualismus in einer Darstellung verpflichtet, die zwischen richtig und falsch, menschlich und unmenschlich, genau zu unterscheiden weiß. Zwischen dem Tod in Rom (1954) und den Ehen in Philippsburg (1957) bricht sich folglich ein neues Schreiben Bahn. Karl Korn, einer der wichtigsten Kritiker der FAZ, belobigt die Ehen in Philippsburg folgendermaßen: »Ein kundiger Soziologe«, schreibt er so scharfsinnig wie bereits bei seinen Besprechungen der Romane von Koeppen und Scholz, »vermöchte wesentliche Züge unserer Wirklichkeit am Modell Philippsburg abzulesen«.66 In den Ehen in Philippsburg kommt tatsächlich zum ersten Mal eine westlich geprägte, von neuen Massenmedien wie dem Fernsehen samt ›Werbefernsehen‹ bestimmte, ›postmaterielle‹ Konsum- und Erlebnisgesellschaft in den Blick, in der sich der erneute Strukturwandel der Öffentlichkeit anzeigt. Zugleich handelt es sich um den ersten Roman der Bundesrepublik, der ihre veränderte Sozialstruktur mit selbst innovativen literarischen Techniken erfasst. Nun kommen auch bei Scholz die neuen Lebensverhältnisse in Westdeutschland zur Sprache, bei ihm aber auf völlig andere Weise als bei Walser. Der hat sich von Kafka emanzipiert, indem er die erlebte Rede für einen personal perspektivierten Gesellschaftsroman adaptiert.67 Scholz hingegen schreibt trotz der Welthaltigkeit68 seiner Prosa keinen Gesellschaftsroman dieser Art, denn er nutzt auch nicht die erlebte Rede Kafkas, an den die existentialistisch getönte Nach-
65 Vgl. Scherer 2010, 74-78; Frank/Scherer 2016, 87-89. 66 Korn 1970, 31. 67 Vgl. genauer Scherer 1998. 68 Baßler erkennt sie in den detaillierten Panoramen des Romans: nicht nur in den zahllosen Lokalitäten und Personen, sondern auch im Reichtum von Markennamen, Musikstücken und Anspielungen.
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kriegsprosa so gerne anknüpft.69 Vielmehr bleibt sein traditionsgesättigtes Erzählen des Erzählens, das seine lebensideologische Fundierung im aufheiternden Gewand einer so urbanen wie witzigen Darstellung verhüllt, trotz seiner komplizierten Anlage kulinarisch genießbar. Genau deshalb fand Am grünen Strand der Spree um 1955 so großen Anklang, wie auch immer diese Darstellung mit den poesiologischen Auffassungen der Gruppe 47 nicht übereinkam. Bemerkbar wird daran, wie Publikumserfolg und kritischer Vorbehalt eines Literaturbetriebs, der neue poetologische Maßstäbe setzte, getrennt voneinander funktionieren, indem bei diesem eine durch Erfahrungen mit Urbanität geschulte Literatur in einer Wirtschaftswundergesellschaft, die aufs provinzielle Maß zurechtgestutzt wurde, durchfällt. Die Literaturgeschichte hat in Scholz’ Roman, wie eingangs zitiert, die poetische Bilanz einer Epoche erkannt. In der Synthetischen Moderne dienen solche Bilanzen der Sichtung und Bändigung der gesellschaftlichen und ästhetischen Modernisierung, indem sie kraft einer Struktur des Doppeltsehens hinter der empirisch erfassten Welt eine zweite Wirklichkeit durchscheinen lässt. Aller Übel in dieser Welt zum Trotz wird so in der literarischen Gestaltung eine höhere Ganzheit präsent gehalten, ohne diese (leere) Mitte je konkretisieren zu wollen. Das damit verbundene Aufscheinen einer Idee von Versöhnung zerfällt Mitte der 1950er Jahre im Zeichen dessen, was zeitgenössisch als ›Posthistoire‹ diskutiert wird: Die »Ideengeschichte«, so die konservative und vormals dem Nationalsozialismus nahe Kulturkritik Gehlens, sei »abgeschlossen«. Nichts Neues sei mehr zu erwarten; mit Benn gesprochen, habe man jetzt mit seinen ›Beständen zu rechnen‹.70 ›Posthistoire‹ bezeichnet insofern ein Bewusstsein, das die universale Zitier- und Kombinierbarkeit aller historischen Perspektiven ohne Aussicht auf eine höhere Integration realisiert hat. In den 1950er Jahren wird diese Diagnose vorangetrieben durch die wachsende Bedeutung einer konsumaffirmativen Pop- und Medienkultur, die in der prosperierenden Bundesrepublik immer weiteren Kreisen verfügbar wird – und auch so als Polemik gegen die Ethikangebote der Synthetischen Moderne funktioniert. Mitte des Jahrzehnts setzt jener mentalitätsgeschichtliche Umbruch ein, der im Zusammenhang von Westbindung und Teilhabe an Konsum und Unterhaltungsindustrie das bildungsbürgerlich-humanistische Reden über die Kunst zunehmend indisponiert erscheinen
69 Diese Abgrenzung von der Kafka-Mode der Zeit betont Joachim Kaiser (vgl. Kaiser 1956, 540); siehe dazu auch den Beitrag zur zeitgenössischen Rezeption in vorliegendem Band. 70 Zit. nach Niethammer 1989, 18f.
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lässt.71 Genau dem fällt Scholz’ Roman trotz seines Sinns gerade für diese Bereiche zum Opfer.
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71 Vgl. Bollenbeck 2000.
Literarhistorische ›Aufheiterung‹ der Nachkriegszeit | 131
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Cocktail-Studies als historische Alkohologie Zum Alkoholkonsum in der Jockey-Bar Simon Lang
Seine Runde erzählender Männer stellt Hans Scholz literaturgeschichtlich nicht nur in die Tradition von Boccaccio, Goethe und E. T. A. Hoffmann. Im Kern geht er damit sogar bis auf Platon zurück, schließlich präsentiert er die Herrenrunde auch als Symposion: als ›Gastmahl‹, bei dem das Vortragen von Geschichten vom Verzehr erlesener Speisen und Getränke begleitet wird. Wie ausgiebig die Figuren in seinem Roman diese Genüsse zelebrieren, belegt die Rechnung, welche am Ende des Abends dem Ich-Erzähler Schott vorgelegt wird: Der benötigt nämlich »Zeit, sie auch nur überschläglich zu lesen«, denn sie listet »mindestens fünfzig Posten auf« (360).1 Das Programm des Leichterwerdens, zunächst ausgerichtet auf den Russland-Heimkehrer Lepsius, setzt demnach nicht nur auf die Tätigkeit des Erzählens, um Eros und Kore bzw. Persephone zu huldigen. Hat Schott zu Beginn des Abends noch den Eindruck, »als flösse das Gespräch nicht recht« (21), leiten zwar auch die heiterer werdenden Geschichten Lepsius wie die Leserschaft auf die angenehmen Seiten der bundesdeutschen 1950er Jahre hinüber. Als Katalysator erweist sich aber ein Mittel, das im wörtlichen Sinn die Zungen lockert und in seinen (kostspieligen) Zubereitungsformen selbst von dem neuen Wohlstand zeugt: Alkohol. So geht beim Herrenabend die wachsende Leichtigkeit mit zunehmender Betrunkenheit einher. Die Rolle, die der Alkohol spielt, wird von Dr. (›die Mummi‹) Brabender, Initiator und Financier des Abends, unterstrichen, hält der es zwischenzeitlich doch für nötig, bei der »Festleitung« (70) Schott nachzufragen: »Und trinkt ihr auch genügend? Was hattet ihr denn bis jetzt?« (222) Das »nächtliche[] Zusammensein[] in der Jockey-Bar vom 26. auf den 27. April [1954]« (5) bietet sich also im besten Sinn als Gelage dar. 1
Seitenangaben im Fließtext folgen der Ausgabe: Scholz 1955.
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Festzustellen ist dabei, dass sich die »Brüder vom langen Gezech und kurzen Gedächtnis« (359) mehr auf das Trinken und weniger auf das Essen kaprizieren. Das Kulinarische, ebenfalls Ausweis einer neuen Wohlstandsgesellschaft, wird zwar durchaus genauso exponiert: Lepsius studiert anfangs noch den »Speisezettel«, der »Dinge zeigt, von denen [er] noch vor einem Vierteljahr annehmen mußte, daß [er] sie nie im eignen Leben wieder zu schmecken bekommen würde«, die er zum eigenen Verwundern nun aber »wieder für das Gegebene hält« (22). Aber es scheint dann beim von Schott bestellten Geflügelsalat zu bleiben, der als »Entree« (22) deklariert wird; weitere Gänge bleiben nur angedeutet und werden nicht dargestellt. Erst als sich das Ehepaar Gatzka aus Oberkassel bei Bonn dazugesellt, d. h. vor dem kunstgeschichtlichen Vortrag des Schauspielers Arnoldis, fühlt man sich bemüßigt, jedem der nun sieben Anwesenden neben Sekt auch »Oystern« (304) zu kredenzen. Um am Ende den »Mordshunger« zu stillen, tun es dann die eher profanen Speisen »Wurst, Käse, Gurken, Eier[] und dergleichen« (358). Die geringe Nahrungsaufnahme ist auch deswegen bedeutsam, weil davon auszugehen ist, dass die Symposianten wenig festen Mageninhalt inkorporiert haben, der die Absorption des konsumierten Alkohols verlangsamt. Auf jeden Fall aber wird daran ersichtlich, dass bei den über fünfzig Posten auf der Rechnung ein erhebliches Ungleichgewicht zwischen Speisen und Getränken herrscht. Dementsprechend wird in der Rahmenerzählung das Trinken häufiger in Szene gesetzt: So teilt der Text wiederholt mit, wie die Figuren Cocktails, Sekt oder zwischendurch auch einmal einen Mokka bestellen, sich von den Kellnern nachfüllen lassen oder selbst eingießen, als es in den Gläsern »staubt« (276), wie sie sich zuprosten und ihre Gläser gelegentlich sogar in einem Zug leeren. Dabei unterlegt Scholz dem Alkoholkonsum eine eigene Dramaturgie: In seiner Funktion als Festleiter sieht Schott etwa nach Lepsius’ Lesung den richtigen Zeitpunkt gekommen, um »allmählich zum Sekt überzugehen« (70). Zuvor gönnen sich die Herren ausschließlich Spirituosen und spirituosenhaltige Drinks, konkret Whiskey und diverse Cocktails. Selbst wenn auch später mehrmals Hochprozentiges geordert wird, ist doch auffällig, dass Wilms’ Schilderungen in der emotional ›härtesten‹ Binnenerzählung von der Aufnahme ›harten‹ Alkohols begleitet wird. Sie werden so gewissermaßen erträglich gemacht. Der für Feieranlässe üblicherweise verwendete Sekt mag dann veranschaulichen, wie sich mit dem Feuchten allmählich auch das Fröhliche verstärkt: Nach der Darstellung des dunkelsten Kapitels jüngerer deutscher Geschichte werden auch die Dialoge der Rahmenerzählung und die eingelagerten Erzählungen wie die alkoholischen Getränke leichter bzw. ›spritziger‹.
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Genauere Angaben zur konsumierten Menge und zu den verschiedenen Darreichungsformen von Alkohol erweisen sich jedoch als schwierig, da im Vergleich mit der langen, von Brabender bezahlten Abschlussrechnung nur eine geringe Anzahl der Getränke explizit benannt wird. Zudem ist davon auszugehen, dass die Herren auch während ihrer erzählerischen Darbietungen alkoholische Getränke zu sich nehmen, die der Text nicht aufführt. Die folgenden Überlegungen zum Alkoholkonsum der Männerrunde beziehen sich also nur auf die alkoholhaltigen Flüssigkeiten, die Scholz im Erzählrahmen seines Debütromans ausdrücklich angibt. Erste Anzeichen des fortgeschrittenen Konsums werden nach Schotts Erzählung seines Besuchs bei Koslowski deutlich. Auf Seite 219 schildert der Festleiter in seiner Rolle als Ich-Erzähler, wie Lepsius »kleine Konstruktionen aus Streichhölzern errichtet und Quirle aus Strohhalmen hergestellt [hatte]. Arnoldis rührte mit einem dieser Strohgebilde in seinem Glase herum.« Hesselbarth »wartete, bis der Kellner den Tisch von allerlei Abfällen des Gelages einschließlich der Zündholzaufbauten befreit und aufs neue eingeschenkt hatte.« (219) Geht man von dem sonst regen Interesse der Zuhörer an den einzelnen Vorträgen aus, lassen sich diese ersten Ermüdungserscheinungen nicht zwingend auf den niedrigen Spannungsgrad von Schotts Geschichte zurückführen, schließlich rätseln die Teilnehmer des Gelages über das dort eingeführte und nicht aufgelöste »große B« (219), also über Babsybi Bibiena. Stattdessen wird hier nun die physische Ermattung spürbar. Die Neubelebung der Runde mag dann auch durch Impulse von außen eintreten, wenn Mummi Brabender sich telefonisch bei Schott nach der Lage erkundigt und Koslowski als würdiger Jockey-Bruder in die Runde der Erzähler integriert wird. Wie bei der Kapelle, die »zur Belebung eine Lage Cognac und danach Sekt« (219) erhält, geht dies aber nicht ohne ein »Prosit auf das Städtchen B.!« (224) vonstatten, womit gewissermaßen der zweite Teil des Textes eingeleitet wird: Als neues Ziel zeichnet sich die Zusammenführung von Koslwoski und Babsybi ab; der edelste Tropfen des Abends, ein nach Arnoldis’ Kunstgeschichte ausgeschenkter Veuve Cliquot (351), darf als Vorzeichen auf dieses feierliche Ereignis betrachtet werden. Der um 20 Uhr (vgl. 12) beginnende Erzählabend endet schließlich mit eben dieser Paarbildung und umfasst zwölf Stunden, das Trinkgelage – folgt man Arnoldis’ Kommentaren gegenüber Gatzka – beschränkt sich dabei auf elf Stunden (vgl. 353). Diesem Zeitraum entsprechen im Roman die Seiten 14 bis 353, so dass sich der zeitliche Verlauf des Abends ungefähr rekonstruieren lässt. Bei dem für den Erzählverlauf wegweisenden Übergang zum Sekt (vgl. 70) lassen sich die vorangehenden 56 Romanseiten, die im Wesentlichen die Verlesung von Wilms Tagebuch enthalten, in eine erzählte Zeit von rund einer Stunde und 50
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Minuten umrechnen. Der Wechsel der Erzählmotivation und damit des Hauptgetränks kann so auf etwa 22 Uhr angesetzt werden. Für diese relativ kurze Zeitspanne ist festzustellen, dass die Runde pro Mann bereits zwei White Ladys, zwei Canadian Cocktails (neben den ersten beiden Flaschen Henkell-Trocken wird noch ein dritter geordert) und einen Whiskey (Red Label, vgl. 25) konsumiert hat. Gemessen an den Zutaten nach gängigen Cocktailzubereitungsarten ergibt sich bereits in dieser relativ kurzen Zeitspanne eine erhebliche Menge Alkohol. Mögen sich verschiedene Rezepte der White Lady bei den nicht alkoholischen Zutaten unterscheiden, so sind stets Gin und Cointreau enthalten, meist im Verhältnis 3:2; bei einer Gin-Menge von 40 ml ergeben sich so rund 25 ml Cointreau. Ein Canadian Cocktail beinhaltet ebenfalls den französischen Orangenlikör, dieser wird hier allerdings mit einem namensgebenden kanadischen Whiskey gemischt, im Verhältnis 1:2; bei 40 ml Whiskey sind dann 20 ml Cointreau erforderlich. Zusammen mit dem Red Label ergibt sich so eine Menge von 80 ml Gin, 90 ml Cointreau und 100 ml Whiskey. Da bei Gin und Whiskey die verwendeten Marken nicht benannt sind, können sie zur Vereinfachung mit jeweils 40 % enthaltenem Ethanol veranschlagt werden. Die Blutalkoholkonzentration kann mit der sog. Widmark-Formel bestimmt werden. Hierfür ist es erforderlich, zunächst die Alkoholmenge, die in den aufgenommenen Getränken enthalten ist, in Gramm umzurechnen. Die Summe der Alkoholika in Litern wird mit ihrem Alkoholvolumenanteil in Prozent und dem spezifischen Gewicht von Ethanol, 0,8 Gramm pro Milliliter, multipliziert. So ergeben sich 25,6 Gramm bei Gin, 28 Gramm bei Cointreau und 32 Gramm bei Whiskey. Insgesamt beläuft sich der Konsum bis dahin auf 85,6 Gramm. Diese Zahl wird dann mit der Multiplikation von Körpergewicht und dem geschlechtsspezifischen Verteilungsverhältnis der Körperflüssigkeit, das bei Männern 0,68 beträgt, dividiert. In der Herrenrunde stellt Lepsius einen Sonderfall dar: Bei ihm muss angenommen werden, dass nach mehr als zehn Jahren Krieg und Gefangenschaft die Unterernährung drei Monate nach seiner Entlassung aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht kompensiert ist. Bei Schott, Hesselbarth und Arnoldis, die allesamt auch wirtschaftlich recht erfolgreich zu sein scheinen, ist ein zeitspezifisch normales Körpergewicht voraussetzbar; mithin genießen sie das, was Lepsius nach kurzer Eingewöhnungsphase wieder für das Gewohnte nimmt, schon wesentlich länger. Der Text erteilt über die äußere Erscheinung der Figuren bis auf den Major keine genaueren Auskünfte. Auch die audiovisuelle Umsetzung des Romans bietet keine Orientierung: Schließlich ist etwa die Wahl von Werner Lieven, der mit seiner korpulenten Erscheinung Hans Schott verkörpert, eher als Entscheidung der NWRV-Fernsehspielabteilung zu bewerten. Das Statistische Bundesamt erfasst in seinen Verzeichnissen das
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durchschnittliche Gewicht der bundesdeutschen Bevölkerung Mitte der 1950er Jahre noch nicht, so dass nach eigenem Ermessen das Körpergewicht der ursprünglichen Resozialisierungshelfer bei 80 Kilogramm veranschlagt werden soll. Vernachlässigt man den geringen Mageninhalt (s. o.), ergibt sich so ein Wert von 1,5 ‰ für den oben festgestellten Zeitpunkt um 22 Uhr. Da der Körper nicht den gesamten Alkohol aufnimmt und der Abbau pro Stunde bei 0,1 bis 0,2 ‰ liegt, kann eine Blutalkoholkonzentration von etwas mehr als 1,0 ‰ angenommen werden. Einem Lexikon der Toxikologie zufolge müssten die Herren der Jockey-Runde um 22 Uhr also bereits die Phase der Euphorie – die durch Wilms’ Tagebuch wahrlich nicht ausgelöst wird – überschritten haben und sich bereits erste körperfunktionelle Einbußen wie etwa Gangstörungen und Konzentrationsprobleme bemerkbar machen.2 Dementsprechend ist es kaum verwunderlich, dass Lepsius sich nach Schotts Erzählung, also rund 150 Seiten bzw. vier Stunden und 50 Minuten sowie vier bis fünf Sektflaschen später, eher mit seinen Streichholzkonstruktionen als mit der vorgetragenen Geschichte beschäftigt. Beim Sekt kommen, folgt man den expliziten Hinweisen im Text, zu den in Schotts Zwischenbilanz benannten vier bis fünf (wohl eher fünf) noch zwei weitere Flaschen (vgl. 303) sowie die von Gatzka spendierte Lage (vgl. 307) hinzu; der scheint mit seinem »Na prost ex!«-Trinkverhalten auch in puncto Alkoholaufnahme »wie Hektor an die Buletten« (309) heranzugehen. Addiert werden müssen neben dem dritten Canadian ein Korn (vgl. 126) und zwei Weinbrände, zu denen auch der Dujardin zu rechnen ist, mit dem die Kriegsversehrungen des einseitig erblindeten Barpianisten Česnick und des einbeinigen Sowjetzonenbewohners Koslowski begossen werden (vgl. 282). Beim Henkell-Trocken wird eine Füllmenge von 0,75 Litern angenommen, so dass bis zu Koslowskis Erscheinen jedes Mitglied der Kerntruppe bereits mindestens eine Flasche intus hat. Mit der von Schott benannten, höchstwahrscheinlich fünften entkorkten Flasche sowie den zwei weiteren Bouteillen, die kurz vor der Ankunft der Gatzkas angebrochen werden, kommen durch den zusätzlichen Konsumenten Koslowski pro Person rund 0,45 Liter hinzu. Es bleibt dabei unberücksichtigt, dass sich das westdeutsche Ehepaar an dem bereits geöffneten Schampus der Herren bedient. Gatzka vergilt dies dann wiederum mit rund einem Glas von 0,1 Litern für jeden (womit er als knausrig entlarvt wird). Die Kernrunde Lepsius, Arnoldis, Hesselbarth und Schott kommt so auf 1,3 Liter Sekt bei für Henkell-Trocken üblichen 11,5 % Alkohol. Den krönenden Abschluss bildet ein Glas des benannten Champagners, der mit 12,5 % zu Buche schlägt. Die Füllmenge
2
Vgl. Löser 1994, 218.
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beträgt vermutlich jeweils 20 ml, der Alkoholanteil des Korn ist bei 40 %, der des Weinbrands bei einem etwas geringeren Gehalt von 36 % anzunehmen. Bei einer Alkoholmenge von insgesamt rund 253 Gramm, einer mittleren Abbaurate von 0,15 ‰ und einem mittlerem Resorptionswert von 90 %3 ergibt sich somit um 7:30 Uhr, als mit Mokka und einem herzhaften Frühstück das vergnügliche Trinken beendet wird, ein Blutalkoholwert von 2,7 ‰. Dem toxikologischen Lexikon zufolge befinden sich Scholz’ Figuren damit im Zustand »sinnlose[r] Trunkenheit«.4 Eigentlich bewegen sie sich schon im Bereich der Gesundheitsgefährdung, da in diesem Promillebereich bereits Vergiftungen möglich sind und der narkotische Zustand, der ab 3,0 ‰ eintreten kann, kurz bevorsteht.5 Doch zielt das Trinken in Am grünen Strand der Spree gerade nicht darauf ab, sich angesichts einer nicht bewältigbaren Vergangenheit zu betäuben. Vielmehr fallen »die Ritter der Tafelrunde«6 gegenüber der anfänglichen Schwere nicht nur durch Leichtigkeit auf, sondern gar durch eine dionysische Euphorie, die dann durch die fast schon gottgleiche, auf jeden Fall aber apollinische Erscheinung Babsybis besänftigt wird. Auch das anfängliche Stocken löst sich daher, erinnert man noch einmal das Symposion bei Platon, im alkoholinduzierten Spiel mit Griechischkenntnissen aus Gymnasialzeiten auf (vgl. 361). Diese (zugegeben etwas zu nüchterne) Rekonstruktion des Alkoholkonsums in der Jockey-Bar mag vor allem eines deutlich machen: dass von empirischen Selbstversuchen des Scholz’schen Aufheiterungsprogramms im Blick auf das Trinken eher abzuraten ist, will man die eigene Gesundheit nicht gefährden. Scholz muss dieses Konzept, glaubt man Augenzeugenberichten, indes ganz erfolgreich selbst praktiziert haben.7 Es darf angenommen werden, dass auch beim Verfassen des Romans das ein oder andere Tröpfchen geflossen ist. Darauf einen Dujardin!
3
Dieser liegt für gewöhnlich zwischen 70 und 90 %, doch soll hier angesichts der nicht berücksichtigten, weil nicht im Text benannten Getränke der maximale Wert angesetzt werden.
4
Löser 1994, 218. Eine kleinere Erweiterung des Texts durch einen Nachbericht wäre daher ganz interessant, da ja beispielsweise der Schauspieler Arnoldis um 14:00 Uhr bereits wieder vor der Kamera stehen muss (vgl. 175). Aber das geht gerade bei dieser Figur wohl problemlos auch in einem Zustand mit Restalkohol.
5
Vgl. Seidel/Steinberg/Appel/Lampen/Bolt/Koss 2013, 628.
6
Vgl. Jaesrich 1956, 55.
7
Vgl. ebd., 55f.
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Quellenverzeichnis Primärliteratur Jaesrich, Hellmut: Die Ritter der Tafelrunde. In: Der Monat 8 (1956), H. 90, 5558. Scholz, Hans: Am grünen Strand der Spree. So gut wie ein Roman, 3. Auflage, Hamburg 1955. Sekundärliteratur Löser, E.: Organische Verbindungen. In: Toxikologie, 5., neu bearbeitete Auflage, hg. von Christian Gloxhuber, Stuttgart/New York 1994, 172-299. Seidel, Albrecht/Steinberg, Pablo/Appel, Klaus/Lampen, Alfonso/Bolt, M. Hermann/Koss, Günter: Kohlenwasserstoffe. In: Toxikologie, 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, hg. von Hans Marquardt, Siegfried G. Schäfer und Holger Barth, Stuttgart 2013, 593-659.
II. Zwischen(hör)spiel: Gert Westphals Radioaufbereitung für den SWF (1956)
Von der Allegorie zum Verismo Radiotechnik, Hörspielästhetik und Phonopoetik um 1955 Gustav Frank Christian Begemann zum Geburtstag
1. Konturen und Funktionen des ›literarischen Hörspiels‹ in der Synthetischen Moderne (1925-1955) Die 1950er Jahre werden häufig als »Radiojahrzehnt«1 und »Blütezeit des Kulturradios«2 apostrophiert. Das Hörspiel gilt in diesen »Golden Days« als »Rundfunkgattung par excellence«3, in der das Medium gleichsam seine vollgültige Realisierung erfährt. Diese von Panegyrikern wie Kritikern geteilte Ansicht, die sich nur in den wertenden Vorzeichen unterscheidet, bedarf in mehrerlei Hinsicht der Korrektur. Zum einen erstreckt sich die besagte Blütezeit von der späteren Weimarer Republik »[b]is weit in die sechziger und siebziger Jahre hinein«, was auf einem praktisch-dramaturgischen wie theoretischen »common sense« beruht.4 Im Zentrum dieses Konsenses steht zum anderen aber nur oder sogar ausschließlich das »literarische Hörspiel«, das von den nicht-literarischen Varianten ausdrücklich unterschieden wird. In diesem »eigentlichen Hörspiel«5 beginnen um 1930 »allegorische[] Figuren«6 zu dominieren; derart »allegorisch zugespitzte Situation[en]«7 bleiben bis zur Mitte der 1950er Jahre so prägend, »daß die literarische Phantasie ihre Parabeln immer weiter von der ungünstig 1
Schätzlein 2012, 71.
2
Wagner 2009, 234.
3
Nickel 1995, 157.
4
Hagen 2002, 284.
5
Schwitzke 1963, 77.
6
Schuster 2016, 187.
7
Böttiger u. a. 2009, 327.
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beurteilten Wirklichkeit abhebt. Die gewonnene Autonomie der Hörspiel-Fiktion wird mit einem Verlust an Realitätsgerechtheit erkauft.«8 Die Unterscheidung der 50er Jahre ist ebenso normativ wie selektiv und schlägt so auch auf die Forschung durch, deren Aufmerksamkeit bis heute auf einen engen Kanon von wenigen Autoren und eine Handvoll Stücken konzentriert ist.9 Dagegen wird die deutsche Jahresproduktion des Jahrzehnts auf ca. 1000, davon 120 bis 300 Originalhörspiele (i. e. für die Realisierung im Radio geschaffene Werke), beziffert.10 Der NWDR sendet bereits 1950 insgesamt »7792 Minuten«11 (das sind ca. 130 Stunden) in seinem Hörspielprogramm, und in allen deutschen Programmen stehen speziell »für literarische Beiträge [...] wöchentlich einhundertfünfzig Stunden Sendezeit zur Verfügung«, was »einem Volumen von fünfzehn Büchern entspricht«.12 Allein der BR, der recht früh ein Gesamtverzeichnis vorgelegt und seine Bestände digitalisiert hat, listet für die ersten elf Jahre von 1949 bis 1959 883 Eigenproduktionen auf, für das Jahr 1956 (in dem Produktion und Ursendung von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE im SWF erfolgen) 79 Titel. Davon entfallen auf die namhaften Vertreter des ›literarischen Hörspiels‹ aber nur fünf, wobei vier sogar auf Koproduktionen mit weiteren ›kleineren‹ Sendern aufgrund der gemeinsam einfacher zu leistenden Finanzierung zurückgehen: Friedrich Dürrenmatts DIE PANNE (17.1.1956, mit dem SDR) und HERKULES UND DER STALL DES AUGIAS (26.6.1956), Günter Eichs DIE LETZTEN TAGE VON LISSABON (31.1.1956, mit RB, SWF), Wolfgang Weyrauchs INDIANISCHE BALLADE (13.3.1956, mit dem HR), Walter Jens’ TAFELGESPRÄCHE (27.11.1956, mit dem HR)13 machen damit nur etwa 6 % aus. Auch wenn mit Bearbeitungen von Shakespeare, Molnar, Büchner, Pagnol, Hawthorne, Felix 8
Barner 1994, 253.
9
Auch die maßgeblichen Literaturgeschichten folgen dieser Vorgabe und behandeln das ›literarische Hörspiel‹ als literarische Gattung im engeren Sinn, ohne seinen Status als Medienkunst überhaupt zu erwägen. Einzige Ausnahme stellt der 10. Band der Deutschen Literatur. Eine Sozialgeschichte (Glaser 1997) dar, der ohne weitere Begründung kein Hörspielkapitel umfasst und in dem somit Günter Eichs maßstabsetzende TRÄUME (1951) nicht einmal erwähnt werden, dafür aber ein Kapitel zum Autorenfilm enthält.
10 Selbst bei diesen Zahlen verlässt sich die Forschung (so Ohde 1986, 474) auf Heinz Schwitzkes von ihr viel kritisiertes Hörspielbuch (1963, 246). 11 Barner 1994, 244 12 So Ernst Schnabel, Intendant des NWDR Hamburg, 1955 auf der Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zum Thema Literatur, Rundfunk, Fernsehen (zit. nach Nickel 1995, 160). 13 Kapfer 1999, 208-214.
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Timmermans, Giraudoux, Gogol, Leonhardt Frank, Raimund, Ibsen, Thoma, Balzac, Musil, Hemingway, Wilder, D. H. Lawrence, Lessing, Dumas, Hebbel, der Bibel (Hiob), Andersen, Strindberg und Tennessee Williams die nationale wie die internationale, die klassische wie die moderne Literatur mit weiteren 34 % breit repräsentiert ist, macht der nicht-literarische Rest beachtliche 60 % aus. Die verbreitete Hervorhebung des ›literarischen Hörspiels‹ zeugt also vom Bestreben der Rundfunkverantwortlichen wie der Feuilletonkritik und der Verfasser selbst, neben seiner Informations- und traditionell anrüchigen Funktion »als allzu billiger Dauerunterhalter«14 auch einen Bildungsauftrag des Radios zu betonen. Dies geschieht im Anschluss an einen emphatischen bürgerlichen Begriff hoher, autonomer Kunst, der seit der Frühen Moderne und den Avantgarden jedoch nicht mehr konkurrenzlos ist. Gestützt wird die Tendenz zur Aufwertung der den Originalhörspielen zugrundeliegenden Texte dadurch, dass sie auch im Buch erscheinen: »Das Hörspielbuch diente dazu, das Hörspiel als literarische Form gedruckt zu legitimieren.«15 Seit 1950 laufen Buchreihen an (Hörspielbuch, zwölf Jahresbände bis 1961, herausgegeben vom SDR; seit 1955 Hörwerke der Zeit, herausgegeben vom Hans Bredow-Institut Hamburg), die ausgewählte Hörspiele so präsentieren wie Literatur und damit kanonisieren. Suhrkamp setzt 1963 mit einem von Karl Markus Michel herausgegebenen und mit einem kritischen Nachwort versehenen Band in seiner Spectaculum-Reihe schon einen Schlusspunkt: Texte moderner Hörspiele. Die Verbindung ist zudem eine einseitige: Das Originalhörspiel soll zum Buch werden und nicht vom vorgängigen Buch kommen! Der Druck macht jedoch nicht das Hörspiel selbst zugänglich. Vielmehr führt die Mediumspezifik des Buches dazu, dass es weitgehend bloß mit seinem Text identifiziert wird. Text, Sprache und Autorleistung werden damit herausgestellt, während die Mediumspezifik des Radios unerhört bleibt. Diese setzt sich zusammen aus der Realisierung im Studio als einer kollektiven Produktionsleistung in Verbindung mit den jeweils eingesetzten Techniken der Schallhervorbringung, -aufzeichnung und -übertragung sowie mit der Spezifik der Stimmen vor dem Mikrofon. Auch wenn die Textvorlage und die Inszenierung selbst einer Auslöschung der medienspezifischen Bedingungen Vorschub leisten, wird diese durch die Druckfassungen verstärkt und das Hörspiel im kulturellen Gedächtnis vor allem als literarischer Text verankert. Als dafür exemplarisch darf Günter Eichs vielzitierte Verszeile »Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!«16 14 Schnabel 1955, 155. 15 Nickel 1995, 185. 16 So etwa bei Koch/Glaser 2005, 244.
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gelten, die eben noch nicht Teil der Ursendung seiner TRÄUME war, sondern erst in der Druckfassung erschien.17 Und erst 1955 finden die Verse Eingang in die Neufassung des Südwestfunks Baden-Baden – ein Jahr bevor dort AM GRÜNEN STRAND DER SPREE unter der Regie von Gert Westphal produziert wird, damals auch Leiter der Hörspielabteilung beim SWF (1953-1959, nachdem er von 19481952 Oberspielleiter von Radio Bremen war). Westphal spricht dafür auch diese neuen Gedichte ein, die Eichs TRÄUME am Anfang und Ende rahmen. Die Stimme des »König[s] der Vorleser«18 verleiht dieser Lyrisierung zusätzliches Gewicht.19 Ebenso wie die Mediumspezifik wird auch die Vielfalt der Produktionen ausgeblendet, vor allem die äußerst umfangreiche und heterogene Gruppe von nichtliterarischen Hörspielen. Das mit Blick auf angloamerikanische Vorbilder noch in der NS-Zeit erfolgreich entwickelte Feature (eine faktual-fiktionale Mischform mit variablen Anteilen von journalistischen und literarischen Formen wie Reportage, Dokumentation, Kommentar und Spielszenen) ist zu diesem Zeitpunkt schon in eigene Abteilungen ausgelagert: Diese »organisatorische Trennung aber von Hörspiel- und Featureproduktion im Bereich des NWDR 1950 deutet bereits die Verengung des Hörspielbegriffs in den folgenden Jahren an.«20 Dieser Trennung liegt nicht so sehr eine Skepsis gegenüber der Hörerbeteiligung zugrunde, zu der etwa Ernst Schnabel (1946-1949 zunächst Chefdramaturg, dann Leiter der Abteilung Wort beim NWDR, schließlich 1951-1955 Intendant des Hamburger Funkhauses) aufgerufen hatte. Zwar lässt gerade sie einen anderen Rundfunk als den, der staatlicher Funkhoheit unterworfen und unidirektional ist, denkbar erscheinen. Sie erinnert damit aber nur allzu schwach an Bert Brechts im Kalten Krieg verpönte ›kommunistische‹ Ideen vom Rundfunk als Kommunikationsapparat. Brecht hatte es in den frühen 1930er Jahren für wünschenswert erachtet, dass Empfänger und Sender jederzeit ihre Rollen tauschen können. Schnabel erarbeitet seine Features 1947 aus »ca. 35 000 Briefen«21 und 1950 aus
17 Eich 1953, 190. 18 Kipphoff 1984. 19 Die Fassung des SWF (Erstsendung: 25.1.1955, Länge 73:35) ist eine Mischung aus Übernahme und Neuproduktion. Der ursprüngliche zweite Traum ist gegen einen sechsten Traum ausgetauscht, den Fritz Schröder-Jahn für den SWF inszeniert hat. Gert Westphal hat die neuen Gedichte und Zwischentexte eingesprochen. Die Mitwirkenden der Träume 1, 3, 4, 5 sind die der Hamburger Ursendung (NWDR: 19.4.1951, Länge 70:05). 20 Schnell 1993, 271. 21 Barner 1994, 91.
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80 00022 Einsendungen. Er gilt Alfred Andersch im Rückblick als ein Meister solch »glänzend organisierter und zu organischen Einheiten komponierter Collagen aus Zitat, Dokument, Reportage, story und Dichtung«.23 Am 16. Mai 1947 lief DER 29. JANUAR, eine 80-minütige Text-Montage aus »150 Splitterszenen«24, welche die Redaktion aus den Zuschriften ausgewählt und dramaturgisch bearbeitet hatte. Quasi-dokumentarisch wird so versucht, einen einzigen Tag im von Not gezeichneten Nachkriegsdeutschland darzustellen. Was die Gattung des Features dabei so problematisch erscheinen lässt und zur Abtrennung vom Hörspiel führt, sind Fragen der Form. Seine Verfahrensweisen lassen nämlich die Medientechnik von Schnitt und Montage sowie die Differenz von Tönen und Stimmen bei 156 Sprecherinnen und Sprechern offen zu Tage treten, also weder eine ungestörte Illusion noch den Eindruck einer kohärenten Welt aufkommen. Das »Durcheinander der Stimmen und Rufe«, das zur »geistig-seelischen Verwirrung« führt, war allerdings schon 1929 als vom Rundfunk zu lösendes Problem von Fritz Walther Bischoff, Intendant der Schlesischen Funkstunde (19291933) und des Südwestfunks Baden-Baden (1946-1965), identifiziert worden.25 Wie eng und normativ der Begriff des ›literarischen Hörspiels‹ in der Praxis der Dramaturgen tatsächlich gefasst und wie klein der so geformte Kanon ist, kann ein Blick etwa auf den bereits arrivierten Heinrich Böll und sein ZUM TEE BEI DOKTOR BORSIG (ORF 1955, HR 1955, DDR 1961) verdeutlichen. Obwohl Böll, 1951 zweiter Träger des Preises der Gruppe 47 nach Günter Eich, hier gegen Geld, Sehen und Werbung und damit für Geist, Hören und Kunst optiert, hat er wie seine Hauptfigur Robert Probleme, sein Werk unterzubringen. Auch nach einer Umarbeitung wird es von der Dramaturgie des NWDR unter Heinz Schwitzke abgelehnt, der Sender tritt von der vorgesehenen Koproduktion mit dem HR zurück. Das Stück rückt Werbung und Medien ins Zentrum – hier in Gestalt eines moralischen Konflikts von Geld und Geist, Werbung und Kunst – und muss schon deshalb im Zusammenhang mit AM GRÜNEN STRAND DER SPREE interessieren, weil auch hier die Existenz einer bundesrepublikanischen Populärkultur (Werbung, Film26, Schlager, Tourismus) fraglos vorausgesetzt und zudem verdeutlicht wird, dass sie jene der Vorkriegszeit fortsetzt. Die Werbebroschüre, die der junge Dichter Robert für den Werbeleiter eines Pharmaunternehmens, 22 Würffel 1978, 77. 23 Andersch 1976, 560. 24 Barner 1994, 91. 25 Zit. nach Kümmel 2004, 177. 26 Außer dem Ex-Generalstäbler und Russlandheimkehrer Lepsius sind alle mit der Konsumkultur und Unterhaltungsindustrie verflochten: »Schott Werbefilm«, Bob Arnoldis: »Film, Funk und Fernsehen«, »Filmberater« Hesselbarth.
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Dr. Borsig, am Ende doch nicht textet, sollte ein schwerverkäufliches Mittel gegen Farbenblindheit durch das Schüren von ›Angst‹ an den Kunden bringen helfen. ›Angst‹ ist ein existentialistischer Kernbegriff, der hier zwar verwendet wird, aber als Ergebnis einer medialen Kampagne der Angst-Mache eines Pharmakonzerns erscheint. Trotz seiner moralisierenden Kritik an solcher Praxis dürfte diese Rückführung auf die sozioökonomischen Tatsachen Bölls Stück für den Hamburger Sender unmöglich gemacht haben. Da nützt es auch nichts, dass Böll sich sonst versiert an den zeitgenössischen Maßstäben orientiert: ›Blindheit‹ etwa – und in abgeschwächter Form die Situation der ›Finsternis‹ – ist bekanntlich die Urszene der Rundfunk- wie der Hörspielgeschichte. Ein den primären Sehsinn aussparendes Medium bedarf der Legitimation und generiert dazu immer wieder ganz bestimmte Settings, Bedingungen und Umstände des aufmerksamen, konzentrierten Hörens, das es gegenüber einem scheinbar nur oberflächlichen, raschen und äußerlichen Sehen privilegiert und ausspielt. Das spiegelt sich auch darin, dass der 1952 erstmals vergebene Hörspielpreis der Kriegsblinden zu einem maßgeblichen Instrument der Kanonisierung aufsteigt. Bölls Werk vereint neben dieser sonst kaum verständlichen positiven Reverenz auf die ›Blindheit‹ weitere Qualitätsmerkmale auf sich, die eine Traditionslinie des ›literarischen Hörspiels‹ kennzeichnen: Es basiert auf einer Kammerspielsituation mit wenigen profilierten Sprechern und es geht »›live‹ in den Äther«, d. h. es wird »kein vorher besprochenes Tonband abgespult«, wie der Spiegel Nr. 11 vom 9. März 1955 anerkennend meldet.27 Es handelt sich also um einen in den 1950er Jahren bereits äußerst raren und deshalb bemerkenswerten Fall, denn die 1935 entwickelte und seither verbesserte MagnetbandAufzeichnung ist bei den Sendern bereits Standard geworden. Nicht als technisch bedingte Einschränkung, sondern als Qualitätsmerkmal gilt die LiveSendung seit der frühen Hörspieltheorie Richard Kolbs deshalb, weil der Sprecher dabei seine Stimme nicht an einen technischen Aufzeichnungsapparat richten muss, sondern in Quasi-Unmittelbarkeit direkt an den Hörer: »Das Mikrophon wird zum Ohr des Hörers« in einer intimen Situation stilisiert, in der die »Wand zwischen beiden – Räumlichkeit und Körperlichkeit – [...] gefallen« ist.28 27 N. N. 1955, 37. 28 Kolb 1932a, 54. Das ist 1957 bei Maximilian Weller (Weller 1957) nicht viel anders, wenn er das Mikrofon als »jenes Gerät, das als Symbol und Verkörperung des Rundfunks gilt«, apostrophiert: »Es enthüllt die oft verborgenen Wesenheiten der Stimme, verinnerlicht sie gleichzeitig und prägt ihr einen ›Kammerspielton‹ auf […]. Daraus ergeben sich Intimität und Verdichtung des Ansprechens gegenüber dem Empfänger, wobei auch die ›Einsinnigkeit‹ des akustischen Erlebens die Hörfähigkeit steigert [...].« (183)
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Meint Kolb »daher mit Recht behaupten« zu können, »daß der Funk entkörpert«29, so kann er daraus folgern, dass die Stimme des Sprechers verinnerlicht »zur Stimme des eigenen Ich«30 wird. Eine Vielzahl von Werken seit den späten 1920er Jahren macht das Hörspiel so zum Medium der Selbsterforschung, des Gewissens und damit zum Einfallstor eines sozial und ideologisch induzierten überindividuellen Bewusstseins. Daran ändert sich von den 1920er Jahren bis in die 1950er Jahre nichts, in denen die Gewissenserforschung des Einzelnen nach der Erfahrung von Nationalsozialismus, Weltkrieg und Shoa überhaupt erst ihren Höhepunkt erreicht. Als Muster und »das vortrefflichste Rundfunkwerk jener Jahre«31 gilt Eduard Reinachers DER NARR MIT DER HACKE32, 1930 produziert von Ernst Hardt, 1925 bis 1933 Intendant der Kölner WERAG. Kontraintuitiv verbinden sich hier Toneffekte (die sich der neuesten Medientechnik »hochempfindliche[r] Neumann-Kondensator-Flaschen-Mikrophone«33 verdanken) über das Konstrukt der inneren Stimme nicht nur mit der inneren Bühne, sondern auch mit einer sprachmagischen Welterzeugung durch das »schöpferische[] Wort«.34 Es regiert ein »magisches Kunstprinzip«35, das auf dieser inneren Bühne das durchaus konkret dargestellte Realitätsdetail durchsichtig macht für eine »andere[], unbegreifliche[], magische[]«36 Wirklichkeit. In dieser gilt häufig die Logik des Traums und des individuellen Gewissens. Diese magische Ontologie kann auch »ins Metaphysische«37 kippen und zur »Manifestation des Absoluten«38 überhöht werden. Jörg Schuster hat als erster herausge29 Kolb 1932a, 14. 30 Ebd., 55. 31 Schwitzke 1963, 96. 32 Erzählt wird die Geschichte des Mönchs Doin, der einst als Ritter einen Beleidiger getötet hat. Um zu büßen, schlägt er 40 Jahre lang nur mit seiner Hacke einen Gang durch einen Berg, der den Bewohnern eines abgelegenen Dorfes den lebensgefährlichen Weg über einen Pass abkürzen soll. Während er wachend durch harte Arbeit im Granit sühnt, wiederholt er schlafend immer wieder den Mord, wie die Hörer durch einen eines Nachts auftretenden ›Traumgeist‹ erfahren. 33 Hagen (2002, 11) macht zurecht darauf aufmerksam, dass es erst mit diesen damals modernsten technischen Mitteln gelingt, »neben den stentoralen Bruststimmklängen von Hermann Probst als ›Doin‹ und Kurt Ehrhardt als sein ›Geist‹ die harten, obertonreichen Klänge der Hacke frequenzgenau, weil frequenzdynamisch [zu] übertragen.« 34 Kolb 1932a, 52. 35 Schwitzke 1960, 24. 36 Ebd., 35. 37 Kolb 1932a, 50. 38 Ebd., 52.
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arbeitet, wie weit diese magisch-realistische Denkweise über den engen Kreis einiger weniger Literaten um die kurzlebige Dresdner Literaturzeitschrift Die Kolonne (1929-1932) hinaus verbreitet ist und wie lange sie Konjunktur hat. Aus dieser spezifischen Transzendierung der technischen Materialität und der Mediumspezifik des Radios erklärt sich auch, warum die von Walter Ruttmann 1930 mit seinem Stück WEEKEND so erfolgreich erprobte Schallaufzeichnung auf der Tonspur eines unbelichteten Filmstreifens, der mit dem TriergonLichttonverfahren arbeitet, von den Rundfunkverantwortlichen nicht übernommen wurde.39 (Zudem ist der Ton im Film der Konkurrent des jüngeren Radios.) Daraus erklärt sich auch die Ablehnung des technisch ebenso möglichen wie während der NS-Zeit erwünschten Gemeinschaftsempfangs selbst bei einem Rundfunkfunktionär wie Richard Kolb, der den Nazis nahesteht: »Aber es ist falsch, daraus schließen zu wollen, dass die Tendenz und die Konzeption des Hörspiels kollektivistisch sein müsse, wie vielfach behauptet wird. Seine Wirkung wird [...] stets menschenumspannend sein, was aber ebenso sehr über das individuelle wie über das kollektive Bewusstsein des Hörers erreicht werden kann.«40 Von Kolb, seit Februar 1933 zunächst Intendant der Funkstunde in Berlin, seit April dann Intendant bei der Bayerischen Rundfunk GmbH, wo er zum 1. Oktober 1933 bereits wieder ausscheidet, stammt mit dem 1932 veröffentlichten Horoskop des Hörspiels eines der maßgeblichen theoretischen Bücher, das verstreute Publikationen seit 1927 zusammenfasst.41 Es ist der zentrale Referenz39 Ursendung: 13. Juni 1930, 21 Uhr, über die Berliner und die Schlesische Funkstunde im Rahmen des Programms »Hörspiele auf Tonfilmen«, in dem auch das Hörspiel HALLO! HIER WELLE ERDBALL! von Fritz Walther Bischoff auf Tri-Ergon neuproduziert und ausgestrahlt wurde. Damit sollte erprobt werden, ob den Zuhörern ein Unterschied zwischen vorproduzierten und live gesendeten Hörspielen auffällt. Ton-Schnitt und Montage werden in WEEKEND der Analyse von Strukturen des Hörraums und der Laut-Sprache dienstbar gemacht, ebenso der Produktion ›unerhörter‹ Semantiken wie am Beispiel von Goethes Ballade Der Erlkönig als Gegenstand kindlichen Memorierens vorgeführt, oder zur Reproduktion sozialer Rhythmen wie der Raum-Zeit des neuen Weekends oder des »Jazz der Arbeit« genutzt (vgl. Hanrahan 2012). 40 Kolb 1932a, 110-111. 41 Natürlich hat es gleichzeitig auch andere Ansichten gegeben wie die von Walter Benjamin, Bert Brecht oder Rudolf Arnheim, die aber alle ins Exil getrieben wurden. Insbesondere Arnheims Radio, 1936 erschienen in London bei Faber & Faber (engl. Fassung von Rundfunk als Hörkunst, Manuskript 1933), versteht den »Rundfunk als Ausdrucksmittel« und kritisiert gerade das, was Kolb und seine Nachfolger fordern: »daß der Phantasiebetrieb des inneren Auges beim Rundfunkhörer nicht begrüßens-
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text, auf den sich noch Heinz Schwitzkes Hörspielbuch von 1963 überwiegend zustimmend bezieht. Schwitzke selbst befindet sich zu diesem Zeitpunkt aber bereits in der Defensive. Am Ende einer Epoche fasst er deren Konsens noch einmal zusammen, als dieser bereits nicht nur praktisch unterlaufen, sondern auch explizit einer vehementen Kritik unterzogen wird: 1961 erscheint Friedrich Knillis Das Hörspiel. Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels; und von Michels kritischem Nachwort zum Spectaculum-Band 1963 war auch schon die Rede. Das drängt Schwitzke in seiner Bilanz einer zu Ende gehenden Epoche zu einer prägnanten, meist polemisch unverblümten Zuspitzung seines ›Systems‹ von Leitsätzen (seine ›Hamburger Dramaturgie‹42), die ansonsten in der Praxis der Dramaturgen unausgesprochen blieben. 2.
Die radiophone Sonosphäre um 1955
Einige dieser Leitsätze, die dem ›literarischen Hörspiel‹ seine spezifischen Konturen verleihen und seine Funktion bestimmen, gilt es kurz zu erläutern. Sie stellen die Folie dar, vor der AM GRÜNEN STRAND DER SPREE als ein Phänomen des Übergangs in Erscheinung treten kann. 2.1 Fern-Sprecher oder die »Brechung der Vorherrschaft der Technik «43 Reineckers DER NARR MIT DER HACKE gilt allen Theoretikern, von Kolb bis Schwitzke, als das unumstrittene Positivbeispiel für das ›literarische Hörspiel‹ und seine Metaphysik der inneren Bühne, die aus einer Dominanz des bedeutsamen dichterischen Wortes über Ton und Geräusch der äußeren Welt resultiert. Friedrich Wolfs SOS … RAO RAO … FOYN – »KRASSIN« RETTET »ITALIA« (Ursendung 5.11.1929, WERAG, Köln, Regie: Rudolf Rieth, zugleich Berliner Funkstunde, Regie: Alfred Braun, Länge 01:04:03) fungiert dagegen als das abschreckende Gegenbeispiel eines vollkommen misslungenen, weil nicht-literarischen Hörspiels. Die Ablehnung von Wolfs Stück beruht zum einen auf seinen zeitaktuellen dokumentarischen Zügen: Es greift mit dem Absturz des Luftschiffs »Italia« bei seiner abenteuerlichen Nordpolfahrt und der spektakulären Suche und Rettung eine aktuelle Mediensensation auf und setzt sie in die 20 Szenen einer abwechslungsreichen narrativen Spielhandlung im dramatischen Modus um. Diese dokumentarischen Züge schlagen sich in entsprechenden Verfahwert ist, nicht zu fördern ist, sondern im Gegenteil das Verständnis für die eigentlichen Bereicherungen, die er aufbieten kann, sehr behindert.« (Arnheim 2001, 88) 42 Wagner 1999, 220. 43 Kolb 1932b, 4.
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ren der Darstellung nieder: Notrufe der verunglückten »Italia« werden in der ganz eigenen, künstlichen Sprache der Funker abgesetzt und mit den entsprechenden Geräuschen ihrer technischen Apparaturen gepaart, die sich von Beginn an in den Vordergrund schieben. Weltweit wird der ›Äther‹ nach diesen Signalen abgehört, deren Kode nicht die lyrische Sprache, sondern das Morsealphabet ist, während die Funkstationen sich gleichzeitig über das Ausbleiben eines Notrufs austauschen, bis schließlich einem sowjetischen Funkamateur an der Murmanküste mit seinem Kurzwellengerät gelingt, woran die institutionalisierten Profis vom faschistischen Rom bis zum kapitalistischen New York scheitern. Da mit dem Funk das technische Grundprinzip auch des Radios eine zentrale Rolle im dokumentierten Geschehen spielt, weist das Stück zudem autopoetische Züge auf: indem es die Medien – vor allem den Gegensatz zwischen dem unidirektionalen Radio, in dem das Stück gehört bzw. konsumiert werden kann, und der wechselseitigen und weltumspannenden Kommunikationsleistung des Funkens – im Stück in Szene setzt. Dabei verknüpft es, ohne die Basis der dokumentierten Tatsachen jemals verlassen zu müssen, propagandistisch geschickt den Gegensatz von Radio und Funk mit dem Gegensatz der politisch-ideologischen Systeme: eines militaristischen Faschismus und friedliebenden Kommunismus. Es führt die Hybris des schon am Namen »Italia« als nationalistisch kenntlichen Prestigeprojekts und des faschistischen Individual-›Helden‹ General Nobile als Scheitern an der erhabenen Natur des Polarmeeres vor. Es feiert dagegen die Solidarität der Werktätigen sowie die Leistung des Internationalismus und des Kollektivs, das sowohl den Funkamateur und seinen Apparat umfasst als sich auch in der leistungsfähigen Maschine, dem Eisbrecher »Krassin«, regelrecht verkörpert.44 Dadurch tritt die Umweltreferenz des Stücks hervor, sowohl was die Dokumentation historischer Tatsachen als auch die politische und medienpolitische Intervention mit einem Votum für den Sowjetkommunismus und die Arbeiter-Radio-Bewegung anbelangt. Im Gegensatz zum ›literarischen Hörspiel‹ ist SOS … RAO RAO … FOYN, das signalisiert schon der lautmalerische Funkspruch im Titel, nicht für die innere Bühne des individuellen Gewissens, sondern für die Bühne der Öffentlichkeit mit dem Zweck der politischen Intervention in anhängige Streitsachen oder »vorwiegend für die Antenne geschrieben«.45
44 Dass das sowjetische Schiff, das noch bis in die 1950er Jahre als der leistungsstärkste Eisbrecher der Welt galt, von der zaristischen Marine in Auftrag gegeben und 1916 in einer englischen Werft in Newcastle gebaut worden war, bleibt dabei unerwähnt. 45 Denn: »Antenne gleich offenes Sprachrohr in die Welt hinaus, Mikrophon gleich Kündung inneren persönlichen Wesens.« (Schwitzke 1963, 48)
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2.2 Lärm oder das Hörspiel vom Geräusch erlösen Während Wolfs Arbeit in Bausch und Bogen verdammt wird, findet ein anderes Hörexperiment des Weimarer Radios mehr Gnade vor den strengen Ohren der Theoretiker, weil es keine »Ideologie oder irgendeine der damals miteinander streitenden Meinungen über den Krieg« »nach vorn«46 spielt: die national wie international erfolgreiche BRIGADEVERMITTLUNG von Ernst Johannsen (Ursendung 17.10.1929 in der Deutschen Stunde in Bayern, Länge 55:00). Ort der Handlung ist der Unterstand einer tief unter dem Artilleriebeschuss eingerichteten Telefonvermittlung an der Westfront des Jahres 1918. Dokumentiert werden die Alltäglichkeit des nur hörbaren Krieges und die Sinnleere des Sterbens; beides erscheint dabei aber als existentielle Universalie. Dennoch verbindet sich diese Urszene des Radios, die überschaubare Gruppe von Figuren in der von der sichtbaren Welt abgeschlossenen dunklen Kammer, mit einer seiner technischen Alternativen: Die unidirektionale Kommunikation per Schallwellen, die sich an viele richtet, macht die kabelgebundene und störanfällige, aber wechselseitige des Telefons, mit der nur ein Zuhörer erreicht werden kann, zum Gegenstand seiner Metakommunikation. Kriegs- und Friedenszeit werden so bis in die Erfolge ihre Medientechniken kontrastiert. Aus der ›Vermittlung‹ beider Elemente resultiert Schwitzkes Ambivalenz. Einerseits macht das Kammerspielartige in der Behandlung einer gleichsam zeitlosen Situation der Sinnlosigkeit allen Krieges BRIGADEVERMITTLUNG akzeptabel, andererseits führen die Thematisierung und Ausstellung der Medientechniken, auch wenn sie zugunsten des Radios ausfallen, zur kategorischen Abwertung als »Lärm«. Um dagegen die Überlegenheit des ›literarischen Hörspiels‹ der 1950er Jahre und seiner »Geräuschökonomie« zu betonen, spielt Schwitzke eine Münchner Neuinszenierung gegen die nicht aufgezeichnete Uraufführung aus: »Freilich, wenn es ebenfalls als Aufnahme erhalten wäre, so fänden wir zweifellos auch darin genug Lärm investiert. Vielleicht zu unserm und Johannsens Glück kennen wir heute das 1929 in München uraufgeführte Werk nur in einer Neuproduktion von Kurt Reiss (eine der letzten Inszenierungen vor seinem Tode 1960), in der sich die Geräuschökonomie modernen Hörspielstils und alle Zartheit dieses einzigartigen Funkregisseurs bewähren.«47
Das »ebenfalls« bezieht sich hier auf Wolfs SOS … RAO RAO … FOYN, das eines der ganz wenigen Stücke der Frühzeit ist, das aufgezeichnet wurde und deshalb 46 Schwitzke 1963, 130. 47 Ebd., 96.
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in seiner Originalfassung überliefert ist. En passant versetzt er so auch der eigentlich verpönten Aufzeichnungstechnik einen Seitenhieb, wenn sie ja auch nur dazu dient, die Negativbeispiele zu überliefern. 2.3 Fotodokumente oder »Begrenzung als ›Nurhörbarkeit‹«48 Wie gegen Reinachers NARR MIT DER HACKE und seine Theoretiker gerichtet, betont Rudolf Arnheims Rundfunk als Hörkunst die Sinnlichkeit des »herzhaften Tönens«, das als »Erbsünde wider den Geist« missverstanden würde. Bei Arnheim reimt sich akustisch gerade nicht auf asketisch: »Das Hörspielwort soll nicht in einem akustischen Büßergewand einhergehen. Es soll in allen Klangfarben schillern«.49 Wort, Ton und Geräusch gelten ihm als gleichwertige Gestaltungsoptionen. Er betrachtet sie als Grundlage, um das hervorzutreiben, was man mit Clement Greenbergs Laokoon-Aufsatz von 1940 als medium specificity, als Mediumspezifik verstehen kann50 – darin unterscheidet sich die Auralität des Radios etwa von der Visualität des Films oder derjenigen der Fotografie. Auch Arnheim erkennt in der Mediumspezifik eine Begrenzung; die Grenzen gleichsam von der Innenseite des Akustischen her zu erkunden, macht für ihn jedoch die Leistung von Hörkunst aus. Dagegen will die Theorie von Kolb und seinen Nachfolgern die »›Nurhörbarkeit‹«gerade nicht als Mediumspezifik verstanden wissen. Hörkunst deuten sie anders als Arnheim oder Greenberg als gesteigerte Form von Literatur, die sich von aller Materialität und Medialität auch des Drucks löst und zur ursprünglichen Stimme zurückkehrt, wobei jedoch die »Stimme als körperlose Wesenheit«51 fungiert. Anders als in Greenbergs Rechtfertigung der abstrakten Moderne kommt es nicht zu einer Purifikation des radiophonen Mediums, sondern des dichterischen als des schöpferischen, durchaus auch wirklichkeitszeugenden magischen Wortes. Dennoch ist beiden Fraktionen der Gedanke einer Mischung von Medien wie eines dadurch verfahrenstechnisch bewirkten mimetischen oder illusionistischen Bezugs auf die Wirklichkeit fremd. »Realismus und Kollektivismus töten das Hörspiel als literarische Form«, so Schwitzkes Einwände gegen Wolfs Stück im Anschluss an Kolbs Invektiven gegen das »Herabsinken des Hörspiels in das grob Realistische«.52 Während dem »Funk [...] die Ausdrucksmöglichkeit für das rein Realistische«53 fehlt, eignen sich die visuellen Medien für die Abbildung der 48 Kolb 1932a, 13. 49 Arnheim 2001, 23. 50 Greenberg 1940. 51 Kolb 1932a, 52. 52 Schwitzke 1963, 96. 53 Ebd.
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oberflächlichen Wirklichkeit besonders. Insofern gilt es thematische Referenzen auf sie ebenso wie die Nachahmung ihrer Verfahren (wie etwa Schnitt und Montage) zu vermeiden; letzteres etwa im Sinne des ›schreiben wie Film‹, das den Aufzeichnungen von Irmgard Keuns Kunstseidenem Mädchen Doris 1932 als Leitvorstellung dient. Wo die Nachahmung von Verfahren stattfindet, ist die Ein-Mischung von Fotografie oder Film mit dokumentarischem Anspruch ein Indikator sowohl für Materialität und Medialität des Radios (das zudem kein Funk ist) als auch für eine außermediale Realität. 2.4 »Und dann trägt uns sozusagen eine Handbewegung über den letzten Krieg hinweg«54 Die Funktion der Ausblendung von Medialität, Materialität und Realität kann ebenfalls Schwitzkes ambivalente Reaktion auf BRIGADEVERMITTLUNG verdeutlichen. Wenn er auf die Neufassung des NDR (Ursendung 12.4.1959, Länge 57:00) zu sprechen kommt (später wird auch vom Rundfunk der DDR eine Neufassung eingespielt, Ursendung 9.10.1963, Regie: Hans Knötzsch, Länge 44:50), dann hebt er hervor, dass es nur zweier Erzählersätze am Anfang und Ende bedurfte, um das Stück zu aktualisieren: »[W]ährend 1929 ein einzelner Reisender angesichts des ehemaligen Schlachtfeldes sich erinnert, sind es nun zwei, Vater und Sohn, die beide hier gekämpft haben – in zwei Kriegen, ›von denen mindestens einer überflüssig war‹. Und dann trägt uns sozusagen eine Handbewegung des Älteren über den letzten Krieg hinweg«.55
Wieder eher en passant wird zumindest einer der Weltkriege gerechtfertigt, in summa aber wird nicht nur der zweite mit einem Handstreich zum Verschwinden gebracht, sondern auch die Geschichte seit 1918, ja Geschichte überhaupt wie die akustische Signatur des ersten Weltkriegs (von Fliegerpfeil und Trommelfeuer) im mit »alle[r] Zartheit«56 inszenierten Existential des immergleichen Krieges. Diese »Zartheit« als akustische Signatur des ›literarischen Hörspiels‹ in den 1950er Jahren äußert sich nicht nur in der »Kündung inneren persönlichen Wesens«57, in einer durch bedeutungsschwere Pausen akzentuierten Monophonie vor dem Mikrofon-Ohr. Sie besteht auch in der Bevorzugung der weichen Blen-
54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Schwitzke 1963, 48.
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de58 vor dem harten Schnitt, wie er 1930 in WEEKEND, den Ruttmann selbst einen »blinde[n] Film«59 nennt, so ertragreich vorgeführt worden war.60 Was mit der Lichttonspur des Films experimentelle Übertragung gewesen und seither in Vergessenheit geraten war, hätte mit der Magnetaufzeichnung der reinen Tonbänder Standard sein können und blieb doch Ausnahme. Zwar wird mit der Mediumspezifik des Radios und seiner Aufzeichnungstechniken experimentiert, doch nicht in den Hörspielabteilungen. Im Studio für Elektronische Musik beim WDR in Köln entsteht seit 1955 Karl Heinz Stockhausens am 30. Mai 1956 uraufgeführter GESANG DER JÜNGLINGE IM FEUEROFEN (Länge: 13:40).61 Ganz im Sinne Greenbergs arbeitet Stockhausen einerseits an der Identifikation und Manipulation aller musik- respektive mediumspezifischen Parameter und an ei58 Die »akustische Blende« war bereits in den späten 1920er Jahren entwickelt und beschrieben worden. Obwohl damals die Grundlage noch nicht Aufzeichnungen sind, etwa auf Schallplatte, sondern die Live-Inszenierung in verschiedenen Senderäumen, wird die Blende hier eindeutig als Teil einer technischen Dramaturgie und keiner magischen Ontologie aufgefasst: »Der Beamte am Verstärker übernimmt dabei eine ähnliche Funktion wie der Filmoperateur. Er blendet, wie wir es in Ermanglung einer ausgesprochen funkischen Terminologie nennen, über, d. h. er läßt durch langsame Umdrehung des Kondensators am Verstärker das Hörbild, die beendete Handlungsfolge verhallen, um durch ebenso stetiges Wiederaufdrehen dem nächsten akustischen Handlungsabschnitt mählich sich steigernde Form und Gestalt zu verleihen. Durch Parallelschaltung im Spiel über zwei Senderäume ist es möglich, Szenen akustisch ineinander tauchen zu lassen. Wiederum berühren sich hier Hörbild und Film in ihrem dramaturgischen Aufbau. Vor allem aber wird ersichtlich, daß akustische Dramaturgie ohne technische Dramaturgie nicht zu denken ist.« (Rundfunk Jahrbuch 1929 1929, 202f.) 59 Goergen 1989, 90. 60 Vgl. Eisner 1930. 61 Der GESANG greift den apokryphen griechischen Teil aus dem apokalyptischen Buch Daniel, Kap. 3, auf, in dem die Errettung von drei glaubensfesten Juden durch den Engel des Herrn aus dem Feuerofen des Nebukadnezar berichtet wird. In den Darstellungen werden zumeist die verfahrenstechnischen Innovationen der elektronischen Musik hervorgehoben, weniger jedoch, dass nur sie es erlauben, die Erzählung aus dem Tanach in die historische Gegenwart von Shoa und Ende der NS-Diktatur zu transponieren und damit zu einem angemessen Versuch von Kunst nach Auschwitz zu gelangen, die die Zerstörung des Humanismus und die Errettung durch Gott darstellbar macht. Mit der Verknüpfung von Apokalypse und Metaphysik steht Stockhausen anderen Werken der Synthetischen Moderne nahe, etwa Elisabeth Langgässers Roman Das unauslöschliche Siegel von 1946.
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ner möglichst vollständigen Kontrolle über das Klanggeschehen, wobei er andererseits alles vermeidet, was zur Illusion beiträgt: figurative Elemente wie Themen und Motive sowie die Verwendung vorgefundenen Materials wie Alltagsgeräusche. Seine Tonquellen sind folglich Sinus- und Impulsgeneratoren sowie mit Tonbandtechnik nachbearbeitete Knabenstimmen. Der GESANG ist für fünf Kanäle konzipiert, während Rundfunk bis 30. August 1963 und die Schallplatte bis 1957 noch einkanalig (mono) ausgelegt waren. Die raumkonstituierende Bewegung des Tons schafft eine zusätzliche Ebene der Komposition. Während für das ›literarische Hörspiel‹ höchstes Ziel »das leise eindringliche Zwiegespräch mit dem einzelnen Hörer«62 darstellt, ist Textverständlichkeit für Stockhausen nur eine weitere kompositorische Variable, so dass Geräusch, Ton und Wort nicht lediglich gleichwertig nebeneinander stehen wie bei Ruttmann, sondern apparatgestützt ineinander transformiert werden. Voraussetzung sind Zerlegung und Frequenzmodulation auch der Stimmpassagen, die über Ruttmann hinaus auch unterhalb der Wort- und Lautebene ansetzt. An die Stelle von Semantik und Sinn treten die Prinzipien der Kombinatorik und Serialisierung. Bei Stockhausen kommt die Komposition notwendigerweise aus dem Lautsprecher, eine LiveEbene kann es hier nicht mehr geben. So erscheint zwar kein Interpret auf der Bühne, dennoch kann das Wort sich hierbei nicht mehr »als zeugende Kraft« über »die Stimme als körperlose Wesenheit [...] erheben.«63 3.
»’ch wel dir sogn , dir glaich zu hern« oder »Foto 73 auf jeden Nachttisch! Mit Tonband!«64
Einen unmittelbaren Zusammenhang von Sprechen und Hören in der Liebe beschwört die erste Zeile »’ch wel dir sogn, dir glaich zu hern« des Liedes Bei Mir Bistu Shein, das 1932 für ein jiddisches Musical in New York geschrieben wurde und dem die Andrews Sisters 1938 in einer englischen Fassung mit dem Titel Bei mir biste scheen international zum Durchbruch verhalfen. Im Roman Am grünen Strand der Spree verbindet dieser Swing metadiegetische und intradiegetische Ebene miteinander: Die Aufzeichnungen des Jürgen Wilms zitieren ihn im Zusammenhang mit seiner verlassenen und verleugneten jüdischen Liebe Ruth
62 Schwitzke 1963, 80. 63 Kolb, Horoskop 1932, 64. 64 Scholz 1955, 64. Seitenangaben im Fließtext folgen dieser Ausgabe. Überall, wo es nur auf den Text ankommt, wird nach dieser Ausgabe zitiert, wo es auf die Hörspielqualitäten ankommt, wird auf das Hörspiel nach dem Timecode der CD Scholz 2009 verwiesen.
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Esther Loria.65 Er gilt als »das Neueste vom Neuen« im Seebad Deauville und im Paris der unmittelbaren Vorkriegszeit, »du sangst es mit« (77). Und die Band der Jockey-Bar spielt ihn ebenfalls. Der Schweizer Swing-Musiker Teddy Stauffer gibt an, eine deutschsprachige Version auch in Nazi-Deutschland gespielt zu haben.66 Und Zarah Leander, erfolgreicher Ufa-Star im Dritten Reich, singt das Lied 1938 in Stockholm unter dem deutschen Titel Bei mir bist du schön auf Schwedisch für Odeon ein (med Einar Groth’s Orkester, Odeon D 2967 / SA 255956a). Ebenso wie an Stockhausens GESANG wird auch an Scholz’ – der nicht nur an der Bearbeitung, sondern auch als Sprecher des Hans Schott mitwirkt – Roman Am grünen Strand der Spree ersichtlich, dass ein neues Hörspiel bereits neben dem ›literarischen‹ schon um 1955 Kontur gewinnt und nicht erst, nachdem die Kritik Karl Markus Michels erfolgte oder Friedrich Knilli ein »totales Schallspiel« propagiert hatte.67 Das »Neue Hörspiel«68 hat zudem neben seinen oft genannten beiden Wurzeln – der Mediumspezifik des ›Schallspiels‹ einerseits und der Tendenz zum Dokumentarischen andererseits – eine gern übersehene dritte Wurzel: die Kontinuität der urbanen Populär- und Freizeitkultur seit der Weimarer Republik und ihrer Tendenz zur Selbstbeobachtung.69 Im Verein mit Schlager, Jazz und Swing, Tanzorchester, Schallplatte und Grammophon dienen die Schallplatten-Konzerte im Radio der Unterhaltung einer gemischten Hörerschaft, die neben dem Bildungsauftrag in der Weimarer Republik ebenso wie neben der Propagandamission im Dritten Reich geduldet werden musste. Bereits am Beginn aller fünf Folgen des Hörspiels wird diese Traditionslinie deutlich hörbar. Sie setzen mit dem Swing eines Tanzquintetts als Erkennungsmelodie ein, der weiter erklingt, auch als der Rahmenerzähler spricht. Die extradiegetische Situation selbst scheint damit während eines Tanztees in einem Hotel oder einer Bar angesiedelt und so entspannte urbane Unterhaltung an »reklameglitzernden Straßen« (15) angekündigt – dieselbe Melodie erklingt in der intradiegetischen Jockey-Bar wieder und vermittelt diese beiden Ebenen miteinander.
65 Zum Zeitpunkt seiner Aufzeichnungen im Juni 1941 vermutet Wilms sie unterschwellig bereits tot, wenn er im Kotext an die Zeilen aus Wildes Salome denkt: »La lune [..] ressemble à une femme morte« (40). 66 Stauffer 1994, 35. 67 Knilli 1961. 68 Vgl. dazu Döhl 1988. 69 Die neuen Medien Radio (Ruttmanns WEEKEND) und Film (Siodmak/Ulmers MENSCHEN AM SONNTAG, 1930) beobachten diese Freizeit- und Konsumgesellschaft ebenso, wie sie sie mitproduzieren.
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Auf der intradiegetischen Binnenebene verabreden sich vier Freunde in der West-Berliner Jockey-Bar, die eine Nacht lang (metadiegetische) Geschichten erzählen und zwei von deren Protagonisten zum Happy Ending führen. Sie beginnt im naturalistischen medias in res mit einer Telefonszene. Hierbei fungiert der Roman unmittelbar als Vorlage, der sie im dramatischen Modus einschließlich der Sprecherangaben und Regieanweisungen (für das nicht direkt in den Hörer respektive ins Mikrofon Sprechen) enthält. Dennoch setzt die Realisierung dieser Szene zwischen Dr. Brabender (Gert Westphal) und Hans Schott (Hans Scholz) ganz eigene Akzente: Tonfall, Sprachmelodie und Geschwindigkeit der besetzten Sprecher und die tatsächliche pragmatische Sprachsituation erzwingen gewisse Einschübe und Ergänzungen. Rauheit und Tonlage ihrer Stimmen tragen darüber hinaus unmittelbar und entscheidend dazu bei, wie wir diese Figuren einschätzen, wie sympathisch wir sie finden, wie wir das bewerten, was sie zu sagen haben, weil sie es sagen, wie sie es sagen, aber auch dass sie es sagen und nicht nicht sagen. All das setzt zugleich einen bestimmten Zeitindex, macht uns über das Sprechen die Sprache fremd, nicht nur einzelne Wörter, die wir nicht mehr kennen, macht uns aber auch die Töne und Geräusche fremd, die um das Medium Telefon vom Jahr 1956 notwendig entstehen. Allein diese Eingangsszene trägt etwa ein so deutliches zeittypisches Gendering ein, das aus dem Zusammenspiel von Gesprächsinhalt, nämlich der Abrechnung mit Lepsius’ kalt-berechnender Exfrau, und der Präsentation der Sekretärin am Hörer wie dem Umgangston mit dieser Sekretärin (»Die grüne Mappe, Fräulein Zänker, die grüne... na, ich seh’ sie von hier...«, 9) aufgebaut wird. Geschlechterrollen sind hier so schnell und eindeutig festgelegt, wie es der Text allein niemals aussagen kann. Der Tonfall macht überdies Verkehrsformen einer bestimmten Gruppe und Schicht von Männern kenntlich, die aus humanistischen, bürgerlich-akademischen Bildungsreminiszenzen zusammengesetztem Konversationston, aus lakonisch männerbündischen, also unentwirrbar spartiakisch-militärisch-militaristischen Verkürzungen und Verknappungen auch im »schnoddrigen Leutnantsjargon« (27) der durch Wehrmacht und Verwaltung Gegangenen bestehen. Ihre Mitglieder, die auf gemeinsame Erlebnisse wohl seit der Vorkriegszeit (nicht seit der Weimarer Republik) zurückblicken, haben sich mit denselben Tugenden in der Medien- und Werbebranche der Konsumkultur im Zeichen des »westliche[n] Wirtschaftswunder[s]« (8) bereits mehr oder weniger gut wieder etabliert – wenn auch weniger gut als der spendable Gastgeber, der Jurist Dr. Mathias Brabender, dessen Karriere qua Absenz (es fehlt also nicht nur einer in der Runde) im Dritten Reich nicht erzählt wird. Im und neben dem Gendering artikuliert sich so eine historische Klassenlage, etabliert sich eine soziale Schicht von Medienarbeitern, die in einer prekären Zwischenposition zwischen oben und unten stehen.
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Deutlicher noch als gender und class – etwa in der Differenz zwischen dem einfachen Soldaten Jürgen Wilms und seiner faschismusaffinen Braut Jutta aus wohlhabendem naziaffinen Hause, zwischen Lepsius und seinem »[b]londe[n] Patrizierkind. Bremen. Geld im Hintergrunde, Revenuen aus eigener Fabrik. Pipapo« (9) – wird in diesem ersten Teil jedoch die race zu hören gegeben, die zudem weit weniger von einem bereits etablierten Konsens gedeckt ist.70 Und sie ist es, die sich in refrainartigen oder leitmotivischen Passagen aufgrund ihrer abweichenden Lautung ins Gedächtnis gräbt: »Scheener Herr aus Deitschland« (38, 77 u. ö.) akzentuiert Aspekte, die sonst unausgesprochen, unexpliziert bleiben.71 Wie mit ihnen umzugehen ist, wird nicht diskursiv ausgehandelt, obwohl während der eine Nacht dauernden Zusammenkunft viel gesprochen wird, sondern im Roman an das zyklische Zusammenspiel einer Reihe von Narrationen delegiert, im Hörspiel zudem durch Tonfälle differenziert. Umso mehr fällt es auf und bedarf unten auch weiterer Erläuterung, wenn gerade das Hörspiel auf dieser Ebene abstinent ist und sogar gegen die Vorlage des Romans darauf ver70 Die Klassenfrage etwa wird hier durch den Zwischenstatus von West-Berlin zwischen Westdeutschland und »Ostzone« einer Quasi-Lösung zugeführt. Denn sowohl die Sowjetunion in Teil 1 und die DDR-Realität in Teil 4 werden abgelehnt als auch der Direktor Gatzka aus Oberkassel und seine Frau im fünften Teil düpiert: Weder für Wirtschaftswunder noch für Sozialismus wird Partei genommen. 71 Das Verfahren der memorialen Qualität der Laute wird am Anfang des zweiten Teils mit »Agurzi« wieder aufgenommen, ist da aber schon Teil einer melodramatischen Geschichte Hesselbarths um ein schönes Mädchen, das als Partisanin liquidiert wird. Sie ist es, die es verweigert, sich von ihm zur Flucht vor dem Erschießungskommando verhelfen zu lassen, und sich damit entscheidet, in den Tod zu gehen. Delegiert an die Russin und das außerzeitliche russische Wesen wird hier die existentialistische Einwilligung in eine sowohl von menschlichem Handeln unveränderbare als auch ontologisch unveränderliche Konstante der conditio humana vorgeführt: »Aber sie schüttelte den Kopf, wie nur Russen es vermögen; ein Kopfschütteln, das die eigene Belanglosigkeit veranschaulicht im Angesichte einer Welt, welcher so, wie sie nun einmal ist, verziehen wird.« (113) Diese fatalistische Einwilligung schließt an Günter Eichs DIE MÄDCHEN AUS VITERBO (SWF, BR und RB, Ursendung 10.3.1953, Regie: Karl Peter Biltz) an: Das Hörspiel führt zwei Handlungsstränge parallel, wobei die 13 titelgebenden, in dem (allegorischen) Labyrinth der römischen Katakomben verirrten und zu Tode kommenden Mädchen aus Viterbo einer alten Illustrierten entstammen, die das jüdische Mädchen Gabriele, zusammen mit ihrem Großvater versteckt in Berlin-Willmersdorf, Prinzregentenstraße 96, im Oktober 1943 liest. Anhand konkurrierender Deutungen dieser Geschichte lehrt der Großvater Gabriele die bewusste Einwilligung ins Unabänderliche, als die Verfolger das Versteck stürmen.
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zichtet, Musik zu verwenden oder Ruth Esther Loria »›Bei mir biste scheen, please let me explain!‹«72 (77) auch tatsächlich – die Rolle ist im Hörspiel ja besetzt – singen zu lassen, wo der Roman das nur berichten kann. Vor allem die Telefonszene eingangs des ersten Teils stellt dagegen die Alltäglichkeit des Mediengebrauchs ostentativ aus: Sie lebt von der Störung, der Unterbrechung, der Überlagerung von Stimmen, dem Einbruch und dem Kontrast von Vorder- und Hintergrundgeräuschen, den Pausen, dem Undeutlichen, dem Abreißen. Was ausbleibt, sind die Relevanzindikatoren des Gesagten, die Stimme, die aus der Stille kommt und eine Botschaft, das besondere Wort, sagt oder dieses dem Dialog abringt. Stattdessen kommen verschiedene Ebenen ins Spiel, öffentlich-formell mit der Sekretärin, mit Klienten, und privat-intim unter Freunden, die einen gruppenspezifischen Kode ausgebildet haben, der zunächst fast unverständlich bleibt. Auch dadurch wird hier die Aufmerksamkeit auf Aktualität und Modernität einer hauptsächlich gemischten Kommunikation und wenig wohlgeformter, ebenso international durchmischter Sprache gelenkt und das Medium Telefon selbst als Medium bewusst gehalten.73 Damit knüpft AM GRÜNEN STRAND DER SPREE an Traditionen des frühen nicht-literarischen Hörspiels an (BRIGADEVERMITTLUNG), die auf die Erarbeitung des medientechnisch Genuinen und die Entfaltung des Mediumspezifischen ausgingen (Hans Flesch: ZAUBEREI AUF DEM SENDER, Ursendung 24.10.1924, Südwestdeutsche Rundfunk AG Frankfurt) – und auf seine Konsequenzen für die Alltagswelt (Werner Milch, Fritz Walter Bischoff: HALLO, HIER WELLE ERDBALL! Ursendung 4.2.1928, Schlesische Funkstunde Breslau). Das Hörspiel ist nicht als literarische Gattung begründet worden, es wollte ›funkisch‹ sein, so der zeitgenössische Begriff, der an die Herkunft vom Funken erinnert, mit dem Heinrich Hertz die Maxwellsche These von 1864 in einem empirischen Versuch bewiesen hat. Funk im Unterschied zum Radio ist ein spezifisch deutscher Terminus, Rundfunk auf die Ausbreitung der elektromagnetischen Wellen bezogen, die dem Radio und später dem Fernsehfunk zugrunde liegt, und Telefunken, auf Anregung des Kaisers 1903 von den beiden Elektrokonzernen Siemens & Halske und AEG begründet, ein Markenname. Das Radio orientierte sich aufgrund dieser Herkunft und wirtschaftlichen Verflechtungen an allen anderen elektro72 Der Roman druckt »Bei mir biste scheen« recte und behandelt das Jiddische damit wie das Deutsche, während er die fremdsprachige Passage in Englisch kursiv wiedergibt. 73 Günter Eichs Spätwerk MAN BITTET ZU LÄUTEN (NDR und BR, Ursendung 15.11.1964, Regie: Heinz von Cramer) greift ebenfalls das Telefon als Referenzmedium für das Radio wieder auf, allerdings als existentialistische Allegorie auf die monologische Isolation des modernen Individuums, dem weder die Gehörlosen noch die Angerufenen vernehmlich antworten.
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akustischen Medien und Konsumprodukten wie Schallplatte und Grammophon und natürlich am Telefon, dessen freie und rein technische Kombinatorik von Gesprächspartnern schon vor dem Rundfunkzeitalter auf Walze (AM TELEPHON 1907, Edison Goldguß Walze 15342) gebannt hochgradig faszinierend war – die Telefonvermittlung als Partnervermittlung und Störung moralischer Ideale. Dieselben partnervermittelnden Qualitäten besingt dann der Wiener Shimmy-Fox Die schöne Adrienne hat eine Hochantenne (Tschingtarata-radio)74, wenn die schöne Adrienne aus aller Herren Länder empfängt, was da so gesendet wird: Hochantenne als moderne Form der Empfängnis. Um die Position von Scholz’ und Westphals Hörspiel in diesem Spannungsfeld genauer zu bestimmen, bietet es sich an, nicht die fünfteilige ›Sendereihe‹ als ganze und auch nicht ihr »erstes Kapitel« – wie die Gattungsbezeichnungen der Serie und ihrer Folgen zeitgenössisch lauten – EINER FEHLT IN DER RUNDE (21.8.1956, Länge 01:08:22) in den Blick zu rücken. Denn gern übersehen wird, dass diese Reihe nicht nur schon bald nach den Ursendungen (21., 24., 28., 31.8. und 4.9.1956) aufgrund des Erfolgs im September wiederholt werden musste, sondern dass der SWF auch eine Auskopplung unter dem Titel DER BERICHT DES JÜRGEN WILMS (19.3.1957, Länge 55:57) produziert hat, bei der der Rahmen massiv auf gute fünf Minuten gekürzt ist.75 Das zeigt an, wie sehr auch den Zeitgenossen die Sonderstellung des ersten Kapitels deutlich war: inhaltlich, aber ebenso sehr formal. Der Roman, aber auch die Umsetzung der Rahmenhandlung im Hörspiel erweisen sich dabei als wesentlich avancierter als das in Teil 1 eingelegte Tagebuch des Jürgen Wilms und das überwiegend daraus bestehende selbständige Hörspiel DER BERICHT DES JÜRGEN WILMS. Denn hier ist fast alles aus dem Ro74 Melodie Hermann Leopoldi, Text von Wauwau, Max Kuttner, Tenor. Begleitung: Paul Godwin mit seinem Künstler-Ensemble. Grammophon 20 254 (mx. 3659 ar), ca. Juni 1925. Der mehrfach eingespielte Foxtrott aus dem Jahr 1925 nimmt Bezug auf die Einführung des Radios in Österreich: Radio Wien seit 1924. Er stammt von Theodor Waldau (alias Wauwau) (*1881 Galatz, Rumänien, als Dorku Goldberg; †27. März 1942 im KZ Buchenwald) und Hermann Leopoldi (*1888 als Hersch Kohn in Wien, †1959 Wien) und ist Teil einer amerikanisch jüdisch geprägten populären Schlager- und Freizeitkultur. 75 Das ›Tagebuch‹ wird von einem Sprecher als ›Kapitel aus dem Roman AM GRÜNEN
STRAND
DER
SPREE‹ angekündigt. Nach diesem Paratext beginnt das eigentliche
Hörspiel damit, dass ein anonymer Sprecher (ohne dass er als Lepsius und die Gesprächsrunde, die er adressiert, identifiziert wird) berichtet, wie er in den Besitz des Tagebuchs kam. Es endet, als Wilms sich nach dem Massaker bei Hauptmann Rahn meldet.
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mantext – der explizit ohnedies nur eine Auswahl aus einem sowieso teilweise korrupten Textträger mitteilt, die Lepsius zu einem Lesetext geformt hat – getilgt, was daran erinnern könnte, dass Wilms leidenschaftlicher Fotograf ist.76 Seine Notizbücher nummerieren und verzeichnen akribisch gemachte Fotos und Motive, erzählen von den Schwierigkeiten, an unbelichtete Filme zu kommen, berichten vom Verlust und der Zerstörung der eigenen Kamera als des einzig von den Nazis als dokumentarisch gefürchteten Mediums, von der Fortsetzung der Dokumentation mit einem geliehenen Gerät – selbst ein eingelegter Brief des »Dummchens« Jutta handelt von einer »Contax Karat [...] für 24x36 Film und Kinofilm« (44), und Wilms’ Vorgesetzter versteht dessen Projekt aufgrund der Vielzahl der durchnummerierten Bilder gar als »kinematografisch« (72) dokumentierend. Nun ist aber nicht nur jede Passage ausgespart, die durch Hinweis auf die Medienmischung oder die bei der Dokumentation überlegenen visuellen Medien Foto und Film für Irritation beim Hörer sorgen könnte, sondern vor allem die akustische Ebene reduziert auffällig den Einsatz von Tönen und Geräuschen neben der menschlichen Stimme. Dies ist umso erstaunlicher, als Wilms im Roman selbst den Hinweis darauf gibt, dass neben den Fotos das Tonband von gleicher, ja von noch eindringlicherer dokumentarischer Bedeutung wäre – weil sich die Ohren, anders als die Augen, nicht vor der Wirklichkeit verschließen lassen. »Foto 73 auf jeden Nachttisch! Mit Tonband! Mit Tonband, das sich automatisch einschaltet, sobald einer irgendwo eine nationalistische Kammschwellung verspürt.« (64) Foto 71-73 dokumentieren, wie in Brest-Litowsk zusammengetriebene Juden am 5. Juli 1941 am Sabbat die in der Sonne aufgedunsenen und geräuschvoll aufplatzenden Leichen deutscher Landser aus der Gefechtszone bergen müssen. Der Roman dokumentiert auch diese Geräuschebene, während das Hörspiel sie nicht aufführt. Es rückt stattdessen den Anfang dieser langen Passage ins Zentrum, an dem die Begrenzungen der gewählten individuellen Perspektive gegenüber der strukturellen Gewalt offenbar werden: »Irgendwer hat große Haufen von Juden zusammengetrieben aus allen Teilen der Stadt. Man weiß eigentlich nie recht, wer so etwas zuwege bringt.« (61; Herv. GF) Beobachtet Jürgen Wilms ausgemergelte, reptilienähnlich ausgedörrte, hansbaldung-griensche »jüdische Weiber« (EINER FEHLT IN DER RUNDE, 20:48) in der Mittagshitze beim Straßenbauen mit Schaufeln, so erklingen Stimmen und Arbeitsgeräusche kaum hörbar leise und seine rückblickenden Aufzeichnungen nur untermalend. »Himmel, was täte man eigentlich, wenn...« kann er nur anfangen zu denken, als ihn eine davon an die von ihm verlassene Ruth Esther Loria ge76 Nur gelegentlich gibt es Passagen, wie den SS-Mann der das Fotografieren der Jüdinnen beim Straßenbau verbietet (EINER FEHLT IN DER RUNDE, 22:23).
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mahnt (EINER FEHLT IN DER RUNDE, 21:40). Die ›Hintergründigkeit‹ der Geräusche ist das dramaturgische Gegenstück zum Abbrechen des Satzes und Gedankens. Gerechtfertigt wäre dieser dramaturgische Umgang aber nur, wenn die Geräusche von Wilms selbst herrühren könnten. Sie sind jedoch, wie auch die Entscheidung, dass seine und nicht die Stimme des eigentlich vorlesenden Lepsius erklingt, einer extradiegetischen Instanz zuzuordnen. Diese Instanz korrigiert wiederum Wilms (und Lepsius) hier nicht, sondern verdoppelt deren Zurückdrängen der physischen Präsenz des Grauens durch seine Überführung in Sagbares und in einer beredten Sprache Besprechbares. Zwar gibt es auch im Hörspiel eine Polyphonie der deutschen Dialekte unter den Soldaten, des Jiddischen, der Sprachen Osteuropas, von denen Wilms gleichsam als Sprachethnologe eigene Wörterbücher anlegt. Aber der ›Lärm‹ des Krieges, der Erschießungen und des Grauens wird kaum je laut: Geschütz- oder MG-Feuer (z. B. EINER FEHLT IN DER RUNDE, 44:35 bis 44:44) ist immer nur punktuell und ornamental vernehmbar, nie eigenständig und immer leiser als die Tonspur des Tagebuchsprechers. Es bleibt bei wenigen – die Schmerzensschreie des geprügelten barfüßigen jüdischen Mädchens, das in Wilms den »scheene[n] Herrn aus Deitschland« erkennen wollte –, meist jedoch dialogischen Szenen, die von Wilms’ zum Teil lyrischen Notaten und monologischen Reflexionen dominiert werden, Juttas Briefmonologe einmal ausgenommen. Wenn Wilms sich ihre Briefe passagenweise herbeizitiert, erklingt Juttas Stimme (metametadiegetisch) versetzt in die Schreibsituation des Italienurlaubs. Sie wird eingeleitet und permanent unterlegt mit flotter Tanzmusik des jeweiligen Grand-Hotels und in derselben Lautstärke wie ihre Stimme, so dass Geplapper und Musik als gleich gewichtet erscheinen. Das Hörspiel folgt trotz anderslautenden Titels der Gattungsvorgabe des Romans: Wilms’ Aufzeichnungen werden als Tagebuch bezeichnet und aufgefasst; und diese Gattungszuschreibung stärkt traditionell die Momente des Selbstbezugs, der Selbstaussprache und Gewissenserforschung. Das verhindert, dass das Hörstück in eine magische überzeitliche Realität kippt, wie das die Gattung des Traums begünstigt, die seit DER NARR MIT DER HACKE und von Günter Eichs EIN TRAUM AM EDSIN-GOL77 bis zu seinen TRÄUMEN das ›literarische Hörspiel‹ dominieren. Doch die Titelbezeichnung Bericht mit ihrem sachlich-dokumentarischen Anspruch wird hier nur zum Teil und noch weniger als im Roman eingelöst. Verismus in der genauen Erfassung von Realitätsdetails wird regelmäßig kombiniert mit Fatalismus gegenüber den Realitätsstrukturen, so dass deren so77 Erstdruck 1932 in Die Kolonne, eine in den Programmzeitschriften angekündigte Ausstrahlung durch die Mitteldeutsche Rundfunk AG Leipzig kommt nicht zustande; Neuproduktion SDR Stuttgart, Ursendung 14.9.1950.
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ziale Begründung im Vagen eines »Man weiß eigentlich nie recht, wer so etwas zuwege bringt« verbleiben kann. Wilms Tagebuch nimmt auch hier eine Zwischenstellung ein zwischen Traum und Bericht. Das Übergewicht der poetischen über die sachliche Sprache und das Dominanzverhältnis des gesprochenen Worts über Ton und Geräusch setzen dem Verismus deutliche Grenzen. Wenn das Hörspiel überdies sogar auf die Erwähnung des Swing verzichtet, den Ruth Esther Loria im Seebad Deauville singt, dann geht es weit über solche Gattungsvorgaben des chronologischen Tagebuch-Berichts hinaus. Am Beispiel von Bei mir biste scheen zeigt sich, dass der thematisch radikalste Teil – die detailgenaue Darstellung der tabuisierten Verbrechen auch der Wehrmacht und der Polizei, der Verbreitung des Wissens um diese Verbrechen schon 1941 – verfahrenstechnisch am radikalsten den Mitteln des ›literarischen Hörspiels‹ unterworfen wird: Kein ›Lärm‹ darf eindringen, kaum sind noch Schnitte oder Brüche bemerkbar (wozu der mehrfache Wechsel von intradiegetischer Freundesrunde und metadiegetischer Tagebucherzählung aus dem Roman auf einen einzigen Einschnitt minimiert wird), kein Hinweis mehr auf Medialität und ihre Funktion. Was stattdessen laut wird, ist die Stimme eines individuellen Gewissens, die immer wieder bekennen muss: »Es ist schwer anständig zu sein; ich bin’s nicht.« (40) Das Pathos der Introspektion, der Selbsterforschung und Selbstanklage, welches das Tagebuch als pietistisches Genre in seiner Geschichte begleitet hat, gemischt mit dem hohen Ton moralischer Empörung – das schafft den moralistischen Grundtenor dieser Selbstaus- und -ansprache. Nie sind die Geräusche im Hintergrund – die benannten peitschenden Schüsse sowie die Rufe der Wachmannschaften – lauter als diese Stimme im Vordergrund, nur zweimal das MGFeuer kurz gleichlaut (EINER FEHLT IN DER RUNDE, 59:52-54, 1:01:10-1:01:15), einmal ein Schuss (EINER FEHLT IN DER RUNDE, 1:05:37). Zudem werden die Geräusche zunehmend übertönt von einer leicht anschwellenden dunklen Chormelodie ohne erkennbare Worte, deren Ursprung ungewiss bleibt, jedenfalls den Juden nicht zugeschrieben wird. Zum Pathos der Introspektion gehören auch die merklichen Pausen, sogar mitten im Satzfluss, und damit die geräuschlose Stille (z. B. EINER FEHLT IN DER RUNDE, ab 50:48, als die Erschießung der Juden in Orscha erstmals angesprochen wird). Wilms’ Einsicht: »Es gibt Ereignisse von solcher Wucht, daß sie die Grenze der Wahrnehmungsfähigkeit überschreiten« (EINER FEHLT IN DER RUNDE, 54:17-54:23), wird zwar verbalisiert, hat aber kein Äquivalent auf der immer in mittlerer oder geringer Lautstärke, nie sehr tiefer oder sehr hoher Frequenz ausgesteuerten Tonspur. Überwältigung von der Wucht des Schalls der Ereignisse erfahrbar zu machen, gehört nicht ins Register dieser Dramaturgie.
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Obwohl es der Willkür der Sowjets zugeschrieben wird, dass Wilms der Eine ist, der in der Runde fehlt, ist es diese Leerstelle, die im Gesamthörspiel die Frage aufwirft, was diese Absenz und Wilms’ Substitution durch den Generalstäbler und Legion-Condor-Veteranen Lepsius über die hier implizierte Ontologie aussagt. Der Erzähler macht im Roman (nicht im Hörspiel) selbst auf die Schwierigkeiten des unmittelbaren »’ch wel dir sogn, dir glaich zu hern« aufmerksam: »Man vermied Fragen zu stellen, die Vergangenes hätten berühren müssen, aber daß man sie ungestellt ließ, war nicht eben förderlich.« (26) Im Roman wird die Vermeidung durch die (darum ja so authentische) Fragmentierung der Überlieferung begründet. Darüber hinaus erlaubt die Substitution von Wilms durch Lepsius diesem seine Schuld durch eine Art Stellvertretung zu sühnen; denn Lepsius’ Dienststellung bedeutete »wenigstens vom russischen Standpunkt Verschulden [...] und vielleicht überhaupt Verschulden« (35). Wilms dagegen, so legt die Ordnung dieser Welt nahe, kann seine Schuld durch die fünfundzwanzig Jahre Arbeitslager abgelten. Im Roman spricht Wilms mit der Stimme des vorlesenden Lepsius, während im Hörspiel Wilms’ Part tatsächlich besetzt ist. Der Sprecherwechsel findet als unmerkliche Überblendung mitten im ersten Satz von Wilms’ Tagebuch statt: »[Lepsius] Der Marktplatz steigt gewölbt und schräg an, holprig gepflastert mit Katzenköpfen, [Wilms] Gras dazwischen.« (17); bei einer weiteren Unterbrechung geschieht dies ebenso. Der Konversationston, der die Freundesrunde bis dahin beherrscht hat, weicht einer akzentuierenden, manchmal Pausen setzenden, manchmal dramatisch beschleunigenden Lesung, die in den Ton zögerlicher Gewissenserforschung und pathetischer Selbstanklage umschlagen kann. Wilms’ Stimme und Tonfall machen ihn kenntlich und unterscheiden ihn deutlich von allen anderen Sprechern. Dokumentarische Radikalität auf thematischer Ebene wird hier komplementär von verfahrenstechnischer Konvention gebannt, die dabei noch über die gattungsmäßige Bannung durch die Tagebuchform im Roman hinausgeht. Im akustischen Medium wird dazu nicht nur der ›Lärm‹ der Kriegsverbrechen ausgeblendet, sondern auch fast alle Hinweise auf die dokumentarische Kraft der Medien Tonband, Foto und Film unterdrückt, die der Roman wenigstens gibt – ja sogar die mediumspezifische populärkulturelle Kontinuitätslinie zum jiddischen Swing der 1930er Jahre unterbrochen. Die Handhabung des Hörspiels von 1956 unterscheidet sich zwar deutlich vom numinos Allegorischen etwa in Eichs TRÄUMEN, dennoch ›fehlt etwas in der Runde‹ – und das liegt nicht außerhalb der medium- und genrespezifischen Möglichkeiten.
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Quellenverzeichnis Primärquellen Hörspiele Am grünen Strand der Spree, R.: Gert Westphal, Lothar Timm, D: Hans Scholz, BR Deutschland 1956, Fassung: CD, Studio Hamburg Enterprises GmbH 2013, 407 Minuten. 1. Einer fehlt in der Runde, 21.8.1956. (Länge 1:08:22) 2. Der O I spielt Sinding, 24.8.1956. 3. Die Chronik des Hauses Bibiena, 28.8.1956. 4. Kastanien und märkische Rüben, 31.8.1956. 5. Kennst du das Land? 4.9.1956. Der Bericht des Jürgen Wilms, SWF, 19.3.1957, Länge 55:57, Regie: Gert Westphal. Der Narr mit der Hacke, WERAG 1930, Länge: 58 Min., Regie: Ernst Hardt; Neuproduktionen SDR 1950, 44 Min., NWDR 1952, 40 Min., Regie: Fritz Schröder-Jahn, BR 1963, 46 Min. (Stereo) Die Mädchen aus Viterbo, SWF/BR/RB, Ursendung 10.3.1953, Regie: Karl Peter Biltz. Man bittet zu läuten, NDR/BR, Ursendung 15.11.1964, Regie: Heinz von Cramer. Menschen am Sonntag, Uraufführung 4.2.1930, Regie: Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Drehbuch: Billie Wilder. Weekend, Reichsrundfunkgesellschaft und Berliner Funkstunde (bei Tri-Ergon Filmgesell.), Regie: Walter Ruttmann; Länge: 11:10 auf Schwarzfilm (2000m auf 250m in 240 Sequenzen geschnitten), Uraufführung: 15.5.1930, Berlin (Haus des Rundfunks; interne Vorführung anlässlich der Fünf-JahresFeier der Reichsrundfunkgesellschaft). Primärliteratur Scholz, Hans: Am grünen Strand der Spree, Hamburg 1955. Eich, Günter: Träume. Vier Spiele, Frankfurt a. M. 1953. Sekundärliteratur Alfred Andersch: Die Geheimschreiber. In: Merkur 30 (1976), H. 337, 555-563.
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Senderverhalten und Phonoästhetik Rezeptionsgeschichtliche Überlegungen zur Hörspielreihe AM GRÜNEN STRAND DER SPREE Christina Strecker
Im Vergleich zum Roman und zur Fernsehserie findet der Hörspiel-Mehrteiler AM GRÜNEN STRAND DER SPREE in der Forschung kaum Beachtung. Der Roman fand internationalen Anklang; die Fernsehserie gilt als einer der frühen ›Straßenfeger‹. Zur Rezeption des Hörspiels von 1956 ist dagegen bisher wenig bekannt. Mehrere Gründe sind dafür ausschlaggebend: die Reichweite und die Empfangbarkeit des damaligen Sendeprogramms, die Sendetermine des Radiosenders in Kombination mit den Arbeitsbedingungen der 1950er Jahre, die Konkurrenz anderer Radiosender, die Form eines ›Prototyps‹ des ›Traditionellen Hörspiels‹ und die allgemein große Zahl an Hörspielen in den 1950er Jahren. Über welche Funkwelle genau bei einem Radiosender gesendet und in den einzelnen Haushalten gehört wurde, ist oft nicht mehr eindeutig rekonstruierbar. Der SWF und die Rezeptionsgewohnheiten seiner Hörer Dass in jedem Haushalt durch den Besitz des Volksempfängers die Möglichkeit bestand, Radio problemlos hören zu können, bedarf einer näheren Betrachtung in Bezug auf Reichweite und Empfangbarkeit eines Sendeprogramms der Rundfunkanstalten. Am 15. März 1950 trat der 1948 beschlossene Kopenhagener Wellenplan in Kraft. Dabei wurde die Rundfunkwellenverteilung Europas festgelegt. Deutschland erhielt keine Langwelle und keine exklusiven Mittelwellen mehr. Stattdessen wurden den vier Besatzungszonen jeweils zwei Mittelwellen zugeteilt, die sie mit anderen europäischen Sendern teilen mussten. Die Anzahl der zugewiesenen Mittelwellen verringerte sich somit von 25 auf insgesamt acht. Die Empfangsqualität litt unter Mehrfachbelegungen der Frequenzen, da der
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Wellenplan teilweise ignoriert wurde. Im Fall der französischen Besatzungszone, die später dem Sendegebebiet des SWF entsprach, bedeutete das eine Überlagerung einer der zugewiesenen Frequenzen mit der Münchner US-Station Stimme Amerikas.1 Man sprach von einer allgemeinen »Wellen-Demontage«2. Die Radiostationen setzten daraufhin zum einen auf die Verbesserung der Mittelwelle (MW) mittels Aufstellung von entsprechenden Sendern und zum anderen auf den Ausbau der Ultrakurzwelle (UKW). Diese hatte den Vorteil, mit ihr einen qualitativ besseren Klang mit weniger störenden Nebengeräuschen senden und empfangen zu können. Der entscheidende Nachteil der UKW ist im Vergleich zur Mittel- und Langwelle die Reichweite, die deutlich geringer ausfällt.3 Für den SWF war der Ausbau zudem auf Grund der Mittelgebirgs-Topographie ein riskantes Vorhaben. Dennoch wurden 1954 mittels eines Pariser Kredits 27 UKW-Sender realisiert.4 Der bis dahin verbreitete Volksempfänger war jedoch nicht in der Lage, UKW empfangen zu können. Erst mit der Zeit versorgte sich die Bevölkerung mit einem UKW-Gerät oder einer UKW-Spezialantenne, was sich durch die Währungsreform 1948 verzögerte. Eine Neuanschaffung war selbstredend mit Kosten verbunden, die sich erst ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre mit dem Aufschwung der Wirtschaft decken ließen.5 Im Zuge der ›Wellen-Demontage‹ war es also für die Reichweite und die Klangqualität und damit auch für die Endscheidung, einem Hörspiel lauschen zu wollen, von Bedeutung, ob AM GRÜNEN STRAND DER SPREE 1956 auf UKW oder MW gesendet und gehört wurde. Das Institut für Demoskopie stellte in einer vom Süddeutschen Rundfunk (SDR) in Auftrag gegebenen Studie fest, dass die Hörer mit einem UKWGerät im Gebühreneinzugsgebiet des SDR ihre Hörgewohnheiten in Bezug auf die Wellenlängen-Ausrichtung erst mit der Aufklärung des Senders über die Vorteile langsam umstellten. 1957 gaben schließlich 58 % der Befragten an, »auf UKW besser zu hören als auf Mittelwelle«.6
1
Vgl. Fritze 1992, 193.
2
Tetzner 1949.
3
Eberhard 1962, 29.
4
Vgl. Fritze 1992, 194.
5
Vgl. Eberhardt 1962, Tab. 4, 35. Eberhardts Beitrag zur empirischen Sozialforschung bezieht sich zwar hauptsächlich auf das Gebühreneinzugsgebiet des SDR, bietet aber statistische Zahlen, die ein Abbild der Hörgewohnheiten der 1950er Jahre nachvollziehbar machen.
6
Ebd., 38.
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Seit August 1946 wurden Hörspiele im SWF dienstagabends im ersten Programm auf Mittelwelle und später parallel auf UKW 1 ausgestrahlt.7 Auf UKW 2, im zweiten Programm des SWF, wurden seit 1952 samstagabends »ausschließlich mit um sechs Wochen versetzte[] Wiederholungen«8 gesendet. Die Themenwahl für den Termin im ersten Programm auf MW und UKW 1 zielte auf eine größere, der Termin im zweiten Programm auf UKW 2 auf eine kleinere Hörerschaft ab. Die jeweilige Entscheidung orientierte sich an der Feststellung der Anzahl der Hörerreaktionen auf die ausgestrahlten Sendungen im Verhältnis von 4:1.9 Die Sendetermine der Sendereihe AM GRÜNEN STRAND DER SPREE unter der Regie und Mitwirkung von Gert Westphal, dem Hörspielleiter des SWF von 1953 bis 1958, belaufen sich auf fünf Werktage:10 1. Dienstag, 21.8.1956, 2. Freitag, 24.8.1956, 3. Dienstag, 28.8.1956, 4. Freitag, 31.8.1956, 5. Dienstag, 4.9.1956,
1. Kapitel: EINER FEHLT IN DER RUNDE 2. Kapitel: DER O I SPIELT SINDING 3. Kapitel: DIE CHRONIK DES HAUSES BIBIENA 4. Kapitel: KASTANIEN UND MÄRKISCHE RÜBCHEN 5. Kapitel: KENNST DU DAS LAND?11
Mit Westphal, der sowohl Theater- als auch Hörfunkerfahrung aus seinen vorherigen Tätigkeiten in Bremen mitbrachte, verlagerte sich in der Hörspielabteilung des SWF der Produktionsschwerpunkt weg von der dramatischen hin zur epischen Form. Anstatt sich an Dramen oder Theaterstücken zu bedienen, widmete sich Westphal insbesondere »großen Romanbearbeitungen«12, die in Form von mehrteiligen Hörspielreihen gesendet wurden.13 Erstmalig von Ernst Schnabel verwendet, etablierte sich relativ schnell dafür der Begriff ›die große Form‹. Der SWF selbst sieht in seinem »Geschäftsbericht für das Haushaltsjahr vom 1. April 1956 bis 31. März 1957«14 mit AM GRÜNEN STRAND DER SPREE die »bisher überzeugendste Verwirklichung«15 dieser ›großen Form‹. 7
Wessels 1991, 3, Anm. 1.
8
Ebd., 16.
9
Ebd.
10 Vgl. ebd. 10. 11 ARD-Hördatenbank, http://hoerspiele.dra.de/kurzinfo.php?sessid=027bakmtn1sv2uirf bks7l3h0s6fgkmg85r5gq7rfljp39o5q8e1, Datum des Zugriffs: 18.3.2019. 12 Wessels 1991, 10. 13 Vgl. ebd. 14 SWF 1958, 3. 15 Ebd., 25.
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»Die reiche Fülle an Stoff aus der eben bewältigten Vergangenheit, die der Autor Hans Scholz in seinem Buch mit einem ungewöhnlichen Erzähltalent ausbreitet, wurde so den Hörern in fünf deutlichen Abschnitten übersichtlich geordnet und dennoch zu einem gemeinsamen Hörerlebnis zusammengefaßt. Mit dem Raumanspruch auf fünf Abende entgeht die Hörspielbearbeitung der Gefahr, das reiche Buch zu verarmen, sie geht zugleich das Risiko ein, die Faszinationskraft eines Autors auf Herz und Nieren prüfen zu müssen.«16
In der hörspielästhetischen Umsetzung bedeutet das, dass teilweise ganze Textpassagen des zuvor erschienen Romans mitgelesen werden können. Die Angaben der ARD-Hörspieldatenbank in Bezug auf die Terminwahl lassen vermuten, dass der Freitagstermin zusätzlich für Hörspielreihen freigehalten wurde. In Hinblick auf die Freizeitgestaltung in den 1950er Jahren ist darauf hinzuweisen, dass der Freitagabend keinesfalls das arbeitsfreie Wochenende einläutete. Die Arbeitswoche der deutschen Industrie umfasste 1955 bei über 70 % der Beschäftigten noch sechs Werktage.17 Einer Erhebung des Statistischen Bundesamts Ende September 1955 ist zu entnehmen, dass die »Normalarbeitszeit (definiert als ›regelmäßige betriebliche Arbeitszeit‹)«18 bei 60,3 % der Beschäftigten eine 6-Tage-Woche mit 48 Stunden ausmachte.19 Die Forderung nach einer 40Stunden-5-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich formulierte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) 1955; deren Durchsetzung beanspruchte dann allein in der Metallindustrie stufenweise über 10 Jahre.20 Die beiden Sendetermine an den Freitagen sind daher als übliche Werktagstermine anzusehen. Die Vorstellung des sich am Freitagabend im eigenen Heim befindlichen Bürgers liegt deshalb zunächst nahe. In Anbetracht der in den Sommermonaten herrschenden Wetterbedingungen und Lichtverhältnisse ist allerdings anzunehmen, dass zur Sendezeit die allgemeine Bevölkerung in den Abendstunden, zu denen Hörspiele üblicherweise gesendet wurden, weniger Tätigkeiten innerhalb als vermehrt außerhalb des Hauses nachgingen. Für die Landbevölkerung ist die Sommerzeit zudem gleichbedeutend mit der Erntezeit. Nach Fritz Eberhard eignen sich die Sommermonate daher weniger für ernste Themen im Hörspiel: »Im Sommer pflegt das Programm leichter zu sein als im Winter. Im Sommer werden z. B. weniger ernste Hörspiele gesendet.«21 Dieser 16 Ebd. 17 Vgl. Scharf 1987, Tab. 46, 607. 18 Ebd., 606. 19 Vgl. ebd., Tab. 46, 607. 20 Vgl. ebd., 616. 21 Eberhard 1962, 229.
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Umstand kann erklären, weshalb der erste Teil der Hörspielreihe AM GRÜNEN STRAND DER SPREE im darauffolgenden Frühjahr nochmals als Einzelhörspiel gesendet wurde. Die ARD-Hörspieldatenbank listet diesen Sendetermin wie folgt auf: Am Dienstag, 19.3.1957, wurde das erste Kapitel in einer um ca. zwölf Minuten gekürzten Fassung unter dem Titel DER BERICHT DES JÜRGEN WILMS erneut im SWF gesendet.22 Die Rahmenhandlung um die gesellige Herrenrunde in der Jockey-Bar, die eine relativierende Funktion der grausamen autobiografischen Erfahrungen eines deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg darstellt, entfällt, so dass die für die 1950er Jahre außergewöhnliche Darstellung einer Massenermordung jüdischer Gefangener noch schwerer wirkt. Als Intendant des SDR veranlasste Eberhard beim Institut für Demoskopie in den 1950er Jahren mehrere statistische Erhebungen zur Hörerforschung. Die Ergebnisse beziehen sich zwar größtenteils auf das Gebühreneinzugsgebiet des SDR, bilden aber Hörgewohnheiten der damaligen Zeit empirisch ab, indem u. a. Rundfunkhörer im August 1957 im gesamten Bundesgebiet und West-Berlin zu ihren häufig gehörten Sendungen befragt wurden. Unter den Antwortmöglichkeiten waren Mehrfachnennungen möglich. Der SWF schnitt in Bezug auf die Hörspiel-Sendungen mit einer Quote von 33% in der Bewertung am schlechtesten ab:23 • • • • • • • •
Norddeutscher Rundfunk (NDR): 40% Westdeutscher Rundfunk (WDR): 42% Radio Bremen: 56% Rundfunk im amerikanischen Sektor Berlin (RIAS) + Sender Freies Berlin (SFB): 46% Hessischer Rundfunk (HR): 34% Südwestfunk (SWF): 33% Süddeutscher Rundfunk (SDR): 41% Bayerischer Rundfunk (BR): 38%
Das Gebühreneinzugsgebiet des SWF war – das Saarland und West-Berlin ausgenommen – deckungsgleich mit der französischen Besatzungszone. Es ist also anzunehmen, dass die Hörer des SWF Radiosendungen anderer Gebühreneinzugsgebiete französischer Sender oder die des SDR empfangen konnten.24 Damit steigt die Wahrscheinlichkeit schlechter Einschaltquoten für die Hörspielreihe AM GRÜNEN STRAND DER SPREE. Denn der SWF hatte in seinem eigenen Ein22 ARD-Hördatenbank (wie Anm. 11). 23 Vgl. Eberhard 1962, Tab. 78, 100. 24 Vgl. ebd., 103.
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zugsgebiet neben einer mangelnden Klangqualität der Mittelwelle, einer vergleichsweise geringen Verbreitung von UKW-Geräten und den Sommer- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung also auch noch mit der Konkurrenz anderer Radiosender zu kämpfen. Phonoästhetische Mittel in AM GRÜNEN STRAND DER SPREE Für die Resonanz eines Hörspiels sind nicht nur die Umstände der Sendung, sondern auch jene seiner phonoästhetischen Realisation ausschlaggebend. Als eine primär akustische Kunst, die ihre Wirkung in der auditiven Rezeption entfaltet, verwendet das Hörspiel phonoästhetische Mittel. Dazu gehören Hörspielmusik und Musik im Hörspiel, eine Geräuschkulisse und die Stimmen der Figuren oder des Erzählers. Durch den Einsatz der Blende, nach Heinz Schwitzke »der Atem des Hörspiels«25, werden diese Elemente in Form der Montage zusammengefügt. Die radiophone Realisation wird durch die kognitive Leistung des Hörers mithilfe seiner Vorstellungskraft zum Erlebnis ›Hörspiel‹ vervollständigt. Geräuschkulisse In einem Hörspiel entspricht die Geräuschkulisse weniger den Requisiten eines Theaterstücks, sondern eher denen einer Filmszene. Der tonlose akustische Raum wird mit Geräuschen gefüllt, die wiederum Assoziationen erwecken. Jedes wahrnehmbare Geräusch gleicht insofern einer Einstellung beim Film. Erst das Zusammenspiel der Geräusche, das über Blenden am Mischpult geregelt wird, erzeugt vor dem inneren Auge des Hörers eine Szenerie, die an das Hörbare gekoppelt ist.26 Beim Aufbau dieser ›Inneren Bühne‹27 bedient sich das Hörspiel zweier Phänomene: Es setzt auf den Bekanntheitsgrad von Geräuschen und auf die damit verbundenen Assoziationen gewisser Situationen, die zusammengenommen bestimmte Bilder vor dem inneren Auge beim Hören dieser Geräusche auslösen. In der phonoästhetischen Umsetzung des Romans Am grünen Strand der Spree führen verschiedene Geräuschkombinationen bestimmte Assoziationen herbei. So wird die Jockey-Bar akustisch zu Beginn des zweiten Teils mit folgenden Geräuschen realisiert: ein Feuerzeug in Benutzung, ein brennendes 25 Schwitzke 1963, 190. 26 Vgl. Klippert 1986, 59. 27 Der etablierte Begriff ›Innere Bühne‹ – angelehnt an das Theater – ist für das Abspielen einer Szenerie in der Fantasie des Hörers zwar nicht adäquat genug, aber im weiten Sinne nachvollziehbar, weshalb er weiterhin verwendet wird.
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Streichholz, der Hall des Raums bei Bestellungen an den Ober, Gläserklirren, Trink- und Schluckgeräusche, Husten und Räuspern der Figuren, Korkenknallen, das Spiel eines Saxophons, Händeklatschen und Tischklopfen (OIS, 00:01:5400:10:02). Norwegen wird im zweiten Teil durch andere Geräusche dargestellt: durch tauendes Eis im Plätschern von Wassertropfen, sich aneinander reibende Hände, Hundebellen und das Sausen des Windes (OIS, 01:14:11-01:18:14.). Peter Koslowskis Hütte am Wasser im Osten Deutschlands wird im vierten Teil wiederholt mit Wasserwellen, die gegen das Boot am Steg schlagen, Holzknarren der Ruder oder der Türen im Haus und Käuzchenrufen aufgebaut (KMR, 00:42:11-00:42:15, 00:51:24-00:52:35). Telefonate werden im ersten und fünften Teil mit Telefonklingeln, dem Abheben des Hörers, dem freien Telefonzeichen, dem Betätigen der Wählscheibe und dem Auflegen des Hörers untermalt (EFR, 00:01:39-00:01:42; KDL, 00:09:49-00:12:40). Büroräume – sowohl das Büro von Dr. Brabender im ersten Teil als auch das von Dr. Bon im fünften Teil – wirken mittels Papierrascheln, murmelnden Neben- und Ferngesprächen im Hintergrund und rhythmischem Tippen einer Schreibmaschine geschäftig (EFR, 00:02:19-00:06:37; KMR, 00:50:15-00:50:40). Der Bahnhof und der öffentliche Verkehr einer Stadt im vierten Teil werden durch das Fahrgeräusch eines einfahrenden Zuges, das Quietschen der Zugbremsen, den Ausstoß des Dampfes, die Rufe der Menschenmenge und das Fahrgeräusch eines Omnibusses, die Pneumatik beim Öffnen der Türen oder das Rattern und Klappern eines stehenden Omnibusmotors hervorgerufen (KMR, 00:37:55-00:40:45). Die Geräuschkulissen des Krieges im ersten und im vierten Teil vermitteln Chaos, Verzweiflung und Grausamkeit: Während der Erschießungsszene im ersten Teil sind Flugzeuge, fallende und explodierende Bomben, Schreie, ein Windheulen, das in einen gespenstischen Heulgesang umschlägt, Maschinengewehrschüsse und Fahrgeräusche zu hören (EFR, 00:53:55-01:01:24). Das Schlachtfeld im vierten Teil wird durch das Pfeifen fliegender Granaten oder Bomben, das Rattern von Maschinengewehren, die Schreie und das Stöhnen der verwundeten Soldaten vorstellbar gemacht (KMR, 01:11:33-01:19:15). Hörspielmusik und Musik im Hörspiel Bis in die 1960er Jahre hinein hatte Musik fast ausschließlich eine dramaturgische Funktion im ›Traditionellen Hörspiel‹. Sie fungiert als Ergänzungs-, Intensivierungs- und Strukturierungsmittel, um die Handlung zu unterstützen. Sie schafft, ähnlich wie im Film, Atmosphäre. Dabei ist zwischen Musik im Hörspiel und tatsächlicher Hörspielmusik zu unterscheiden.
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Musik im Hörspiel ordnet sich der Szene unter. Sie ist an mehreren Stellen in AM GRÜNEN STRAND DER SPREE zu finden. Im dritten Teil unterstützen Trompeten und Trommeln die Kämpfer der Schlacht in der Chronikgeschichte über Ettore Galli da Bibiena, von Barbara ›Babsybi‹ Bibiena und Fritz Georg Hesselbarth im Wechsel erzählt (CHB, 00:25:58-00:30:17). Am Ende des vierten Teils sowie in der kurzen Wiederholung zu Beginn des fünften wird in der Jockey-Bar Boogie-Woogie von den Barmusikern, animiert durch die euphorische Herrenrunde, gespielt (KMR, 01:27:03-01:27:31). Im fünften Teil wird in der Limonaia in zwei Szenen von der erfundenen Figur Hans-Werner mehrfach eine Gitarre gestimmt und gespielt (KDL, 00:27:49-00:31:11, 00:40:50-00:46:06). Vereinzelt werden innerhalb der Reihe auch weitere Musikinstrumente wie eine Ziehharmonika, ein Saxofon oder ein Klavier eingesetzt (EFR, 00:19:26-00:20:16; OIS, 00:07:21-00:07:23, 00:38:03-00:38:55). Hörspielmusik dagegen ist den einzelnen Szenen übergeordnet. Sie kann als Leitmotiv oder wie eine Brücke als verbindendes Element eingesetzt werden. Über verschiedene Szenen gelegt, erzeugt sie eine bestimmte Atmosphäre. So steht im ersten Teil die fröhliche, italienisch anmutende Musik bei Juttas Briefen an Jürgen Wilms im krassen Kontrast zu den Kriegserlebnissen des Adressaten (EFR, 00:39:40-00:41:52, 00:46:20-00:48:46). Bemerkenswert ist, wie sich aus dem Geräusch des Windheulens ein gespenstischer Heulgesang entwickelt und die Erschießungsszene im ersten Teil wiederholt mit Unbehagen untermalt und begleitet (EFR, 00:54:48-01:06:34). Der Einbindung der Chronikgeschichte über Ettore in das 18. Jahrhundert entsprechend wird im dritten Teil zu Beginn, vermehrt dann während der Schlachtszenen sowie zum Schluss der Erzählung zeitgenössische Musik eingeblendet (CHB, 00:09:20-00:10:26, 00:28:24-00:28:45, 00:29:54-00:30:45, 00:43:56-00:44:21, 00:49:00-00:53:51). Dadurch erhält die Chronik eine gewisse Leichtigkeit. Im ersten Teil leitet Volksmusik Schorins Erzählung ein und aus und signalisiert dadurch deren märchenhafte Volkstümlichkeit (KMR, 00:31:51-00:32:56, 00:32:36-00:33:52). Im fünften Teil wird im Vergleich zu den anderen Folgen viel Hörspielmusik verwendet. Es wird fröhliche, rhythmische Musik eingesetzt, wenn Bob Arnoldis – teilweise selbst onomatopoetisch begleitend, indem er Zugfahrtgeräusche imitiert – zu Beginn von einer Zugfahrt berichtet. Dabei verändert sie sich unter dem Einsatz von Bass, Flöte und Klavier mehrfach (KDL, 00:05:43-00:09:49, 00:12:41-00:13:22). Sowohl die spontane gemeinsame Studienreise von Elisabeth Maag und HansWerner nach Pistoia als auch sein gemeinsamer Abend mit Anki in der Limonaia wird mit italienischen, teilweise verführerischen Klängen unterlegt (KDL, 00:13:41-00:16:08, 00:22:54-00:31:11). Am Ende der Erzählung kehrt die Hör-
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spielmusik auf der abschließenden Zugfahrt unter Einsatz von Bass und Saxofon zu jazzigen Rhythmen zurück (KDL, 00:48:48-00:59:02). Das zentrale Leitmotiv der Reihe AM GRÜNEN STRAND DER SPREE ist das Jazzstück Jockey-Bounce. Komponiert von Hans-Martin Majewsky und umgesetzt vom Johannes Rediske Quintett, war es als Schallplatte käuflich erwerbbar. Innerhalb des Hörspiels ist es fest mit der Herrenrunde in der Jockey-Bar verbunden und vermittelt der Musikrichtung Jazz entsprechend eine entspannte Abendatmosphäre. Jockey-Bounce übernimmt mehrere Funktionen. Zum einen leitet es die gesamte Reihe und auch jedes einzelne Kapitel ein (EFR, 00:00:0000:01:42; OIS, 00:00:00-00:05:03; CHB, 00:00:00-00:03:50; KMR, 00:00:0000:03:22; KDL, 00:00:00-00:00:32). Allerdings beendet es nicht jedes einzelne Kapitel, sondern nur die Gesamtreihe (KDL, 01:07:45-01:11:10). Zum anderen führt es wiederholt innerhalb der Binnenerzählungen und nach jeder Binnenerzählung zurück zur Rahmenhandlung (EFR, 00:08:34-00:11:27, 00:49:5600:50:41; OIS 00:22:58-00:33:44 und 00:34:27-00:36:31; CHB, 00:53:5300:54:14; KMR, 00:27:00-00:28:49, 01:04:34-01:04:54, 01:23:53-01:25:50; KDL, 00:15:31-00:16:08, 00:58:20-00:59:02, 01:01:39-01:02:14, 01:05:4201:05:28). Bereits die ersten Töne versetzen den Hörer so vor oder zurück auf die erste Erzählebene. Insgesamt werden die beiden Formvarianten Hörspielmusik und Musik im Hörspiel im fünften Teil am häufigsten verwendet, womit dem Inhalt und dem inzwischen beachtlichen Alkoholkonsum entsprechend eine lockere und fröhliche Atmosphäre geschaffen wird. Stimme Die Stimme hat in einem Hörspiel den größten Ausdruckswert. Sie ist einzigartig und unverwechselbar. Alles, was die Stimme an emotiver Aussage über die Figur mit sich bringt – Geschlecht, Alter, Herkunft, Verfassungszustand, Psyche, Klangfarbe – gehört zum Aufbau der ›Inneren Bühne‹. Werner Klippert spricht daher von der »Dreieinheit der Stimme«28: Sie ist die Verkörperung des Ortes, der Handlung und der Figur, da die visuelle Ebene fehlt.29 »Die Stimme schafft nicht Raum, sondern Situation […], eine eigene Welt […], die völlig anders ist als die der visuellen Medien.«30 Im Fall von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE wird mit der Stimme bewusst gespielt. Stimmenwechsel sind oft gleichbedeutend mit dem Erzählebenenwechsel. Im ersten Teil beginnt Hans-Joachim Lepsius innerhalb der Herrenrunde in 28 Klippert 1986, 98. 29 Ebd. 30 Ebd., 105-107.
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der Jockey-Bar, Wilms’ Tagebuch, das seine Kriegserlebnisse dokumentiert, vorzulesen. Sein Vorlese- bzw. Erzählmodus ist ihm deutlich anzuhören. Bis Wilms’ Stimme als autodiegetischer Erzähler letztlich übernimmt, wechseln sich Lepsius’ und Wilms’ Stimme fünfmal ab (EFR, 00:11:15-00:15:60). Zwischendurch fehlen Seiten des Tagebuchs, so dass Lepsius ein paar Sätze überfliegt, bis Wilms’ und Lepsius’ Stimmen sich erneut abwechselnd einen Satz teilen und Wilms’ Stimme weitererzählt (EFR, 00:49:56-00:50:45). Im dritten Teil sind es die Stimmen von Hesselbarth und Babsybi, die durch ihren Wechsel mehrmals den Erzähler und teilweise auch die Erzählebenen tauschen, bis schließlich Babsybis Stimme ihre Briefe an Hesselbarth autodiegetisch zu Ende liest bzw. schreibt (CHB, 00:07:06-00:10:30, 00:15:19-00:17:24, 00:21:01-00:29:48, 00:40:52-00:46:10, 00:52:41-00:54:14, 00:56:42-00:56:45). Einige Stellen weisen Metalepsen auf, beispielsweise im ersten Teil, wenn sich Wilms’ Stimme im Erzählmodus, also nicht Wilms selbst als handlungsteilnehmende Figur, an die Vorbeireisenden richtet; oder im zweiten Teil, wenn sich Arnoldis’ Stimme im gleichen erzählenden Modus an die Kinder wendet (EFR, 00:20:03-00:20:05; OIS, 00:14:00-00:14:23). Dieser Erzählmodus ist an der bewegten Anteilnahme der erzählenden Figuren ›abzulesen‹. Während Koslowski und Hans Schott im vierten Teil miteinander flüstern, flüstert auch Schotts Erzählstimme (KMR, 00:23:09-00:26:47). Arnoldis dagegen untermalt seine Erzählung im fünften Teil mehrfach onomatopoetisch, indem er das Pfeifen einer Zugpfeife und das Zischen einer Dampflokomotive nachahmt (KDL, 00:06:5500:08:05, 00:09:21-00:09:28, 00:15:44-00:15:47, 00:58:24-00:58:34). Stimmenwechsel können auch Szenenwechsel einleiten. Dadurch eröffnen sie nicht nur neue Erzählebenen, sondern auch neue Szenerien. Juttas junge Stimme berichtet in den Briefen an Wilms im ersten Teil so beschwingt wie naiv von ihren Urlaubsereignissen, während Schorins gebrechliche Stimme seine volkstümliche Erzählung im vierten Teil einleitet (EFR, 00:39:40-00:41:52, 00:46:20-00:48:46; OIS, 00:31:58-00:33:46). Über den Klang der Stimme werden so Figurenmerkmale vermittelt; in den genannten Fällen die Naivität der Jugend und die Gebrechlichkeit des Alters. Zur ›Inneren Bühne‹ tragen auch Fremdstimmen bei, die ähnlich wie Geräusche als Requisiten fungieren. Der Begriff ›Fremdstimme‹ ist an dieser Stelle im Sinne einer Stimme, die keiner namens- oder handlungstragenden Figur angehört, zu verstehen. Diese Fremdstimmen sind häufig Stimmen von Nebenfiguren, die ihrer Rolle entsprechend entweder einen Dialekt, einen Akzent oder eine andere Sprache sprechen. Sie werden beispielsweise im zweiten Teil bei der LKW-Panne oder der Fotoübergabe eingesetzt (OIS, 00:26:38-00:28:02,
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00:31:05-00:33:27). Diese Vielstimmigkeit schafft neben einer detailreichen ›Inneren Bühne‹ eine gewisse Vielsprachigkeit. Blende und Montage Das entscheidende technische Verfahren bei einem Hörspiel ist die Blende. Sie ist mit dem Schnitt der Filmtechnik äquivalent zu setzen. Dabei ist in der Wirkung zwischen Raum-, Zeit-, Dimensions- und Stilblende zu unterscheiden. Bewegung im Raum – somit auch der Raum selbst – ist in AM GRÜNEN STRAND DER SPREE besonders an zwei Stellen wahrnehmbar. Im vierten Teil ist dies in Koslowskis Hütte der Fall, als ihr Bewohner unerwartet Besuch bekommt und Schott sich deshalb verstecken muss: Koslowskis Humpeln, ein Stuhlrücken, das Türschließen und -öffnen sowie Schotts Schritte lassen die Figuren im Raum hörbar als sich bewegende erscheinen (KMR, 00:21:41-00:26:47). Im fünften Teil folgt der Hörer Schott in einen anderen Raum der Bar, damit dieser ein Telefonat tätigen kann: Ein Türschließen, dann das Ausblenden der Barmusik, die Drehwählscheibe, das freie Signal der Telefonleitung, das Hörerauflegen, das Türöffnen und das zeitgleiche Einblenden der Barmusik ermöglichen es dem Hörer, in seiner Fantasie filmisch mitzulaufen (KDL, 00:09:39-00:12:41). Zeitblenden finden jedes Mal statt, sobald eine der Figuren eine Geschichte beginnt oder endet. Mittels akustischer Brücken durch Geräusche oder Musik wird der Hörer in die nächste Szenerie ein- bzw. ausgeleitet. Dazwischen wird er wiederholt in das Hier und Jetzt der Herrenrunde in der Jockey-Bar zurückgeholt. Die Binnenerzählungen entsprechen somit kleinen Zeitreisen in die Vergangenheit. Je nachdem, wie präsent oder zurückgenommen die Erzählerstimme ist, laufen der Erzählvorgang der extradiegetischen Ebene und die Geräuschkulisse der intradiegetischen Ebene simultan ab. Parallele Überlagerungen der Erzählebenen sind an mehreren Stellen zu finden: im dritten Teil jedes Mal dort, wo Hesselbarth und Babsi das simultane Geschehen zusammenfassen oder kommentieren (CHB, 00:10:27-00:15:04, 00:27:15-00:29:30, 00:29:54-00:40:52, 00:40:56-00:45:31, 00:46:09-00:49:06, 00:52:41-00:54:14, 00:58:42-01:03:44, 01:03:59-01:11:27, 01:11:41-01:19:56); im fünften Teil gilt dann das Gleiche für Arnoldis und die Herrenrunde (KDL, 00:04:55-00:09:28, 00:13:02-00:16:08, 00:17:08-00:21:43, 00:22:00-00:31:08, 00:33:03-00:39:56, 00:40:50-00:59:00). Eine bemerkenswerte Dimensionsblende ist im ersten Teil während der Erschießungsszene wahrzunehmen. Zwischen Wilms’ Beobachtungen am Massengrab werden an zwei Stellen Erinnerungen an einen gemeinsamen Strandbesuch mit Ruth Esther am Meer eingeblendet. Maschinengewehrschüsse und Fahrgeräusche schlagen plötzlich in Wellenrauschen und Möwenschreie um. Ruth Esthers sanfte Stimme ist zu hören (EFR, 00:59:52-01:01:10). Danach kippt das
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Wellenrauschen erneut in Maschinengewehrschüsse um. Rufe und Schreie, die folgen, können nicht deutlich zugeordnet werden. Es kann sich um gewöhnliche Rufe badender Strandbesucher handeln oder auch um angstvolle Schreie am Massengrab. In der Funktion, einen Schutzmechanismus zu bieten, werden Wilms’ negative Erlebnisse mit positiven überblendet. Wilms’ Unterbewusstsein möchte die selbst beobachtete Grausamkeit der Erschießung nicht noch einmal durchleben müssen, während er das Erlebte in sein Tagebuch schreibt. Zudem sind die Gräuel des Krieges für den Hörer nicht unmittelbar und adäquat umsetzbar. Diese Dimensionsblende bietet die Möglichkeit einer abstrakten Darstellung. Wilms’ Bewusstseins- und Erinnerungsdimension verschmelzen an diesen Stellen. Ruths Stimme erklingt erneut (EFR, 01:01:10-01:02:39). Windheulen und metallisch klingende Rufe bringen Wilms und den Hörer an die Grube zurück. Ein letzter Schuss, der gespenstische Gesang und die Empörung der Täter über Wilms’ Anwesenheit beenden die Szene (EFR, 01:05:37-01:06:39). Stilblenden bzw. Kompositions- und Ausdrucksblenden sind am deutlichsten im fünften Teil wahrzunehmen. Bei den amüsanten Geschichten über HansWerner und seine Erlebnisse auf der Italienreise sind die Anteile der eingesetzten Mittel (Erzählvorgang, Musik, Geräuschkulisse, Kommentare der Adressaten und Figurenrede) kurzweilig in der Wirkung ausbalanciert. Musikalische Vielfalt und Vielsprachigkeit unterstützen die lockere Atmosphäre (KDL, 00:04:5500:09:28, 00:13:02-00:16:08, 00:17:08-00:21:43, 00:22:00-00:31:08, 00:33:0300:39:56, 00:40:50-00:59:00). Die Hörspielreihe AM GRÜNEN STRAND DER SPREE als Prototyp Das Hörspiel war als günstige, abendfüllende, gemeinschaftsbildende Abendveranstaltung in den Jahren nach 1945 konkurrenzlos. Zum einen war ein Hörspiel finanziell und zeitlich aufwandfreier als ein Theater- oder ein Kinobesuch; zum anderen zog der Fernsehapparat erst im Laufe der 1950er Jahre in die deutschen Haushalte. Ein Vergleich mit Literatur, Theater und Film ist aber insofern problematisch, als er die rein akustische Ebene des Hörspiels missachtet: Die visuelle Ebene ist ihm nicht gegeben.31 Allen Hörspielen ist eines gemein: Vor dem Radiogerät im Wohnzimmer saßen die Mitglieder eines Haushalts und lauschten gemeinsam einem gesendeten Hörspiel. Das Hörspiel im Sinne eines Rollenspiels, als Gegenentwurf zur Realität, weist im Schauspiel Parallelen zum Theater auf.32 Sowohl Regisseure als auch Schauspieler wurden oftmals vom Hörfunk für Hörspielproduktionen angeworben. Dementsprechend waren Literaturadapti31 Vgl. Klippert 1986, 50. 32 Vgl. Keckeis 1973, 65.
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onen, die in Zusammenarbeit mit Theaterleuten umgesetzt wurden, häufig vertreten. Das Hörspiel ist dennoch nicht (nur) als literarische Gattung zu betrachten. ›Traditionelle Hörspiele‹ sind akustische Hörtexte, die mittels gesprochener Sprache – nicht gesprochener Schrift – realisiert werden. Der Fokus liegt auf der Produktion bzw. der Realisation mitsamt der eingesetzten radiophonen Mittel und nicht auf der literarischen Vorlage. Umso erstaunlicher ist es, dass große Textpassagen des Romans Am grünen Strand der Spree beim Hören von Westphals ›großer Romanbearbeitung‹ parallel mitlesbar sind. Die Literaturvorlage wurde dem Medium Hörfunk entsprechend nicht experimentell genug ausgereizt, was einen weiteren Grund für die mangelnde Resonanz liefert. Hermann Keckeis umschreibt die gängige Form eines Hörspiels der 1950er Jahre mit dem Begriff ›Prototyp‹ und setzt somit das ›Traditionelle Hörspiel‹ der 1950er Jahre in Kontrast zum ›Neuen Hörspiel‹ der 1960er Jahre. Beim sog. Prototyp handelt es sich um eine schauspielerische Sprachgestaltung, die mit wenig tontechnischen Effekten auskommt. Der akustische Raum der Handlung wird um die Stimme des Sprechers bzw. des Schauspielers, die die Stimme der Figur gestaltet, aufgebaut. Die Geräuschkulisse kann an diese Stimme durch Schritte, Türen etc. gebunden sein; falls das nicht der Fall ist, wird auf Geräusche aus dem Geräuscharchiv des Radiosenders zurückgegriffen. Hinzu kommen Musikanteile. Mittels Blende und Montage werden die einzelnen Elemente zu Szenen zusammengefügt.33 AM GRÜNEN STRAND DER SPREE folgt diesem Prototyp, wie die Analyse der phonoästhetischen Mittel zeigt. In den Jahren zwischen 1954 bis 1964 gab es im SWF jährlich 104 Hörspieltermine – ein Anstieg um das Doppelte im Vergleich zu den Jahren 1946 bis 1954.34 Das große Angebot an Hörspielen im Rundfunk kam nach 1945 dem Wunsch nach Zerstreuung im Alltag entgegen.35 In Anbetracht der Hörspielzahlen kann also AM GRÜNEN STRAND DER SPREE in der gesendeten Hörspielmasse untergegangen sein. Die Summe der aufgeführten Einzelaspekte – die mangelnde Klangqualität der Mittelwelle, die geringe Verbreitung von UKW-Geräten, die Sendetermine des SWF im Sommer, die Arbeitsbedingungen der Bevölkerung in den 1950er Jahren, die partielle Mitlesbarkeit des Romans beim Hören, die Form eines Prototyps des ›Traditionellen Hörspiels‹ und die Masse der Hörspiel-Sendungen ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahren – führte dazu, dass die Hörspielreihe AM GRÜNEN STRAND DER SPREE nicht so erfolgreich war, wie es der Roman und die Fernsehserie waren. 33 Vgl. Keckeis 1973, 86. 34 Vgl. Wessels 1991, Anlage, 36. 35 Vgl. Schneider 1985, 187.
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Die Analyse der phonoästhetischen Mittel zeigt aber auch, dass einige Einzelaspekte in der Realisation aus dem Rahmen des Üblichen fallen. Dazu gehören der Jockey-Bounce als Leitmotiv, der Anstieg des Musikeinsatzes entsprechend der Stimmung und der Atmosphäre im Verlauf der Reihe, der Einsatz der Stimmen als Erzählebenen- und Szenenwechsel und dessen Erzeugung von Vielsprachigkeit sowie die herausragende Dimensionsblende im ersten Teil und die vielfältigen Stilblenden im fünften Teil mittels Blende und Montage. Insofern inszeniert die Hörspielreihe AM GRÜNEN STRAND DER SPREE im Medienkomplex eine eigenständige ästhetische Fassung, die den Umständen entsprechend leider unterging.
Quellenverzeichnis Primärquelle Am grünen Strand der Spree, R.: Gert Westphal, Lothar Timm, D: Hans Scholz, BR Deutschland 1956, Fassung: CD, Studio Hamburg Enterprises GmbH 2013, 407 Minuten. 1. Einer fehlt in der Runde (EFR), 21.8.1956. 2. Der O I spielt Sinding (OIS), 24.8.1956. 3. Die Chronik des Hauses Bibiena (CHB), 28.8.1956. 4. Kastanien und märkische Rüben (KMR), 31.8.1956. 5. Kennst du das Land? (KDL) 4.9.1956. Sekundärliteratur ARD-Hörspieldatenbank, http://hoerspiele.dra.de/kurzinfo.php?sessid=027bakmt n1sv2uirfbks7l3h0s6fgkmg85r5gq7rfljp39o5q8e1, Datum des Zugriffs: 18.3.2019. Eberhard, Fritz: Der Rundfunkhörer und sein Programm. Ein Beitrag zur empirischen Sozialforschung, Berlin 1962 (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik 1). Fritze, Ralf: Der Südwestfunk in der Ära Adenauer. Die Entwicklung der Rundfunkanstalt von 1949 bis 1965 unter politischem Aspekt, Baden-Baden 1992 (Südwestfunk-Schriftenreihe: Rundfunkgeschichte 2). Keckeis, Hermann: Das deutsche Hörspiel 1923-1973. Ein systematischer Überblick mit kommentierter Bibliographie, Frankfurt a. M. 1973. Klippert, Werner: Elemente des Hörspiels, Stuttgart 1986.
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Scharf, Günter: Geschichte der Arbeitszeitverkürzung. Der Kampf der deutschen Gewerkschaften um die Verkürzung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit, Köln 1987 (Schriftenreihe der Otto Brenner Stiftung 40). Schneider, Irmela: Zwischen den Fronten des oft Gehörten und nicht zu Entziffernden: Das deutsche Hörspiel. In: Grundzüge der Geschichte des europäischen Hörspiels, hg. von Irmela Schneider und Christian W. Thomsen, Darmstadt 1985, 175-206. Schwitzke, Heinz: Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte. Köln/Berlin 1963. Südwestfunk: Geschäftsbericht 1956/57, [o. O.] 1958. Tetzner, Karl: Über Wellen-Demontage zu Ultra-Kurz. In: Die Zeit, Nr. 16 (21.4.1949), Zeit Online, https://www.zeit.de/1949/16/ueber-wellen-demontage-zu-ultra-kurz/komplettansicht, Datum des Zugriffs: 18.3.2019. Wessels, Wolfram: »Das Hörspiel bringt …«. Eine Geschichte des Hörspiels im Südwestfunk, Siegen 1991 (Massenmedien und Kommunikation 69).
III. Durchbruch im neuen Massenmedium: Fritz Umgelters NWRV-Straßenfeger (1960)
Spiel | Film Fernsehspiel, Kinofilm und der Fernsehroman AM GRÜNEN STRAND DER SPREE. Zur Spezifik des westdeutschen Fernsehens um 1960 Christian Hißnauer »Sah eben Fernsehprogramm. Bedaure, daß Technik uns kein Mittel gibt, darauf zu schießen.« Bundestagspräsident Dr. Hermann Ehlers (1953)1
Sich zappend durch die Vierundzwanzigstundendauerberieselung einer unübersichtlichen Senderlandschaft bewegen oder Serien für das Bingewatching streamen, waren um 1960 noch völlig unbekannte Kulturtechniken: Im Vergleich zu heute waren die Fernseher noch vergleichsweise klein (aber dafür umso klobiger; es gab regelrechte Fernsehtruhen), das Bild war detaillos, kontrastarm und unscharf, im Format 4:3 – und schwarz-weiß. Der Monoton kam aus einfachen Lautsprechern. Es gab noch das Testbild, die Programmansagerin, den Sendeschluss – und natürlich nur ein Programm: das Deutsche Fernsehen.2 Zumindest das sollte sich 1961 ändern. Das seit 1954 von der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) verantwortete Deutsche Fernsehen3 sollte eine privatwirtschaftlich organisierte, kommerzielle – aber dennoch staatsnahe – Konkurrenz bekommen: das umgangssprachlich sog. Adenauer-Fernsehen, veranstaltet von 1
Ehlers bezieht sich auf das noch nicht bundesweit ausgestrahlte NWDR-Fernsehen,
2
Heute: Das Erste.
3
Sendebeginn: 1. November 1954.
das offiziell zwischen 1952 und 1954 gesendet wurde (vgl. Hickethier 1998).
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der Freies Fernsehen GmbH bzw. der Deutschland-Fernsehen-GmbH.4 Bekanntlich ist daraus nichts geworden.5 Aber offenkundig hatten allein die Bestrebungen einen nicht unwesentlichen Einfluss auf das Deutsche Fernsehen, wie Der Spiegel bereits 1957 zu berichten weiß: »Die Rundfunk-Anstalten – sämtlich ›Anstalten des öffentlichen Rechts‹ möchten sich jedoch den Fährnissen einer solchen privatwirtschaftlichen Konkurrenz nicht aussetzen. […] Obwohl die Verbreitung von Werbesendungen schwerlich zu den gemeinnützigen Aufgaben der ›Anstalten des öffentlichen Rechts‹ gehört, begannen die Funkhäuser eilends regionale Werbefernseh-Sendungen vorzubereiten, um – wie der bayrische FernsehDirektor Dr. Münster freimütig erklärte – ›zu verhindern, daß die falschen Leute Werbefernsehen machen‹.«6
Hickethier sieht in seiner Geschichte des deutschen Fernsehens den Grund für die Einführung des Werberahmenprogramms ausschließlich im »verstärkte[n] Interesse der werbetreibenden Industrie an dem immer attraktiver werdenden Medium«.7 Dies scheint mir etwas zu kurz gegriffen. Die im Spiegel-Artikel 4
Vgl. ausführlich dazu Steinmetz 1996: Doch »die Kommerzialisierung [war] insofern nur eine scheinbare [...], als die privat-kommerziellen Interessenten fast ohne eigenes finanzielles Risiko und statt dessen auf Kosten des Staatshaushalts an Organisation, Personal und Programm beteiligt waren« (21).
5
In seinem wegweisenden 1. Rundfunkurteil gab das Bundesverfassungsgericht den klagenden – damals SPD regierten – Ländern Bremen, Hamburg, Hessen und Niedersachsen recht und erklärte Adenauers Pläne für verfassungswidrig, da sie der Kulturhoheit der Länder entgegenstanden. Der Spiegel schrieb von der »spektakulärste[n] Abfuhr […], die je ein deutscher Regierungschef von einem deutschen Gericht hinnehmen mußte« (N. N. 1961, 18): »Sicher ist […], daß die Richter des Zweiten Senats einen politisch motivierten, von der Wählermehrheit jedenfalls nicht abgelehnten Beschluß des Bundeskanzlers aufhoben, nachdem sie ihn mit der Elle des Grundgesetzes von 1949 gemessen hatten – ein heikles Unterfangen, zu dem der ›allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständige und unabhängige Gerichtshof‹ zwar durch sein Statut ermächtigt ist, zu dem er sich aber bislang nur selten so schroff und niemals so direkt gegen die Intentionen der Bundesregierung bereitfinden mochte.« (Ebd., 19) Das 1. Rundfunkurteil hatte also nicht nur medienpolitisch eine herausragende Bedeutung.
6
N. N. 1957, 56. Als erste Sendeanstalt führte der Bayerische Rundfunk 1956 am Vorabend ein regionales Werberahmenprogramm ein, das vor dem regulären ARD-Programm im Sendebereich des BR ausgestrahlt wurde.
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Hickethier 1998, 135f.
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angedeutete ›proaktive Reaktion‹ auf die drohende Konkurrenz – der SpiegelArtikel verweist z. B. auf den Bedeutungsverlust der BBC in Großbritannien nach Einführung des Privatfernsehens8 – kann man m. E. (auch) als strategische Operation verstehen. Offenbar wollten die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten den Fernsehwerbemarkt besetzen, um a) durch das Angebot eines eigenen Werberahmenprogramms Argumente gegen ein rein werbefinanziertes Programm zu haben, indem der Bedarf und/oder die Notwendigkeit von (noch mehr) Werbezeiten so zumindest implizit in Frage gestellt wird, und/oder b) sich Marktanteile zu sichern, bevor sich der Fernsehwerbemarkt überhaupt etabliert.9 Bemerkenswert an dem Spiegel-Artikel Tendenz zur Unterhaltung ist, dass schon in ihm (fragwürdige) Dichotomien aufgerufen werden, die auch in aktuellen Debatten um das Fernsehen immer noch eine Rolle spielen: »Der deutsche Fernseh-Publizist Dr. habil. Gerhard Eckert begründete in einem Vortrag den unerwarteten Publikumserfolg des englischen Werbefernseh-Programms damit, daß es den privaten Gesellschaften gelungen sei, zugkräftige Unterhaltungssendungen zusammenzustellen. […] ›Man mag über die Tendenz zur Unterhaltung die Nase rümpfen‹, kommentierte Dr. Eckert. ›Umgekehrt ist aber doch wohl die bescheidene Frage berechtigt, wieso der deutsche Fernseh-Zuschauer aus Gründen, die er nicht anerkennt, gezwungen werden soll, andere Sendungen zu verfolgen, als er eigentlich haben möchte?‹10 Auch die Promoter des privatwirtschaftlichen deutschen Werbefernsehens wollen das Schwergewicht ihres Programms […] auf Unterhaltungssendungen legen, also auf einen Programmsektor, auf dem das Deutsche Fernsehen besonders nachhaltig versagt hat. Die Übertragung neuer Theaterstücke, die Wiederholung von Spielfilmen, die keinesfalls älter als fünf Jahre sind, Quizprogramme mit attraktiven Hauptgewinnen, große Ausstattungsrevuen, Fernsehspiel-Serien, Musicals und Hausfrauensendungen mit ›Do-it-your-self‹8
»Auf diese Weise glaubten die Rundfunk-Anstalten verhindern zu können, daß ihnen eine private Fernseh-Gesellschaft ein ähnliches Fiasko bereitet, wie es die staatliche britische Rundfunk- und Fernsehgesellschaft BBC erlitten hat: Nach einer Statistik – die schwerlich anzuzweifeln ist, weil sie von der BBC selbst verkündet wurde – schalten von jeweils hundert englischen Fernseh-Zuschauern nur 28 das BBC-Programm ein. Die restlichen 72 bevorzugen die Sendungen der privaten Werbefernsehgesellschaften.« (N. N. 1957, 56)
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Die Debatte um Werbung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist nie verstummt und gewann vor allem mit der Einführung des sog. Dualen Rundfunksystems in der Bundesrepublik Deutschland 1984 an Dynamik.
10 In ähnlicher Weise sprach der damalige RTL-Programmchef Ludwig Thoma Anfang der 1990er Jahre davon, dass »der Wurm dem Fisch schmecken [muß] und nicht dem Angler.« (Stolle/Volz 1990, 165.)
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Ratschlägen sollen die Zuschauerscharen von den hochgestochenen Belehrsendungen weglocken, mit denen die deutschen Rundfunk-Anstalten sich als Hüter abendländischer Kultur zu legitimieren suchen.«11
In solchen Äußerungen erscheint das Deutsche Fernsehen als ein Programm, das wie eine unterhaltungsfreie Zone wirkt – und das vor allem seine Zuschauer bevormundet (von dem sie sich wiederum nur durch Privatfernsehen emanzipieren können – bzw. durch das sie emanzipiert werden: Emanzipation quasi als passiver Akt). Als ›Kronzeuge‹ wird dabei immer wieder auf Adolf Grimme, den ersten Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR),12 verwiesen: »Wir senden, was die Leute sehen wollen sollen.«13 Allerdings war es »[m]it dem öffentlich-rechtlichen Anspruch […] auch in der Frühzeit des Fernsehens nicht immer ganz so weit her wie öffentlich und rechtlich behauptet.«14 Und natürlich gab es vielfältige Unterhaltungsangebote – Quiz- und Gameshows bspw. bereits im NWDR-Fernsehen seit 195315, Familienserien (IM SECHSTEN STOCK, 1954-1955; UNSERE NACHBARN HEUTE ABEND: FAMILIE SCHÖLERMANN, 1954-1960), Krimireihen (DIE GALERIE DER GROßEN DETEKTIVE, 1954-1955) oder Aufführungen des Ohnsorg-Theaters (SEINE MAJESTÄT GUSTAV KRAUSE, 1954) ab 1954.16 11 N. N. 1957, 57f. [Herv. CH]. 12 Der NWDR umfasste ursprünglich das Sendegebiet von NDR und WDR sowie (bis 1954) SFB. Nach der Auflösung und Teilung 1956 verantwortete und organisierte die neue Dachorganisation NWRV (Nordwestdeutscher Rundfunkverband) bis 1961 die ARD-Programmanteile von NDR und WDR (vgl. Bleicher 1993, 95). 13 Zit. nach Röckenhaus 1993, 14 [Herv. CH]. Dieses Zitat ist allerdings nicht belegt. In den gesammelten Reden von Adolf Grimme findet sich eine solch griffige Formulierung nicht. Dort heißt es: »Gewiß, es [das Fernsehen] soll ein Instrument der Bildung der Menschen hin zum Guten sein. […] Und dieses Fernseh-Soll erfüllt sich, wenn wir als Richtsatz für das Programm das Goethe-Wort beherzigen: ›Man soll den Leuten nicht die Gefühle erregen, die sie haben wollen, sondern die sie haben sollen.‹« (Grimme 1955, 74). Da Röckenhaus keine Quellenangabe zu dem Grimme-Zitat angibt, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um eine Paraphrasierung dieser Textstelle handelt. 14 Hißnauer/Schmidt 2013, 19. 15 Vgl. Hallenberger 1991, 21f. 16 In der gleichen, 1953 gehaltenen Rede, in der Grimme über Das Soll des deutschen Fernsehens spricht (Grimme 1955, 72ff.; siehe auch Fußnote 13), betont er auch: »So harrt das Fernsehen noch der schöpferischen Kräfte, die ihm über die in Film, Hörfunk und Theater vorgefundenen Formen hinaus den eigenen Ausdruck schaffen. Wie diese
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Und das Unterhaltungsangebot scheint – wenig überraschend (s. u.) – zum Ende der 1950er Jahre hin zugenommen zu haben. Bereits 1959 beschwerte sich der Fernsehkritiker der HörZu: »In puncto Unterhaltung fällt dem Fernsehen nichts mehr ein. Es wird weiter gequizt. [...] Der Feierabend des Bundesbürgers wird genormt. Das Einheitsvergnügen des Jahres 1959 heißt: Quiz.«17 Allerdings orientierten sich viele Quiz- und Gameshows der 1950er Jahre noch vergleichsweise stark am Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Es war ein »Vergnügen im Gewand der Abendschule«.18 Erst in den 1960er Jahren emanzipierten sich Quiz- und Gameshows zunehmend als unterhaltende Spiele – auch weil Unterhaltungssendungen (wie bspw. auch Krimis19) sowohl im regionalen Werberahmenprogramm als auch in der Senderkonkurrenz zum ZDF (Sendestart 1963) an Bedeutung gewannen.20 Form nun aussieht, eines muß sie unzerbrechbar auch sein: ein Gefäß der Freude. Denn wenn dies neue Instrument sein Soll im Dienst am Menschen erfüllen will, dann muß es Freude schenken. […] Die heiter-ernste Unterhaltung hat darum im Programm ein legitimes Recht.« (Grimme 1955, 75) 17 Zit. nach Hallenberger 1991, 34. Ähnliches weiß Der Spiegel mit Bezug auf Walter Pindter, der für die Produktion von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE verantwortlich zeichnete, zu berichten: »Walter Pindter[] vermag das Dilemma anschaulich zu schildern: ›Auf dem Sektor Unterhaltung weiß man gar nicht mehr, was man machen soll [sic!] Der Bunte Abend ist tot, Quiz-Sendungen gehen nicht mehr, Zirkus und Varieté will kein Mensch mehr sehen.‹« (N. N. 1959, 89) – Mehr als zehn verschiedene Quizund Spielshows – mit jeweils mehreren Ausgaben – zeigte das Deutsche Fernsehen 1959 in seinem einzigen Programm, das zudem nur wenige Stunden – selten mehr als sechs – am Tag ausgestrahlt wurde (vgl. Hallenberger 1991, 34). 18 Hallenberger 2008, 262. 19 Vgl. Hißnauer 2014. 20 Vgl. Hallenberger 2008, 263f. Dabei war allgemein das Werberahmenprogramm ›gefälliger‹ und deutlich stärker auf Unterhaltung ausgerichtet als das Abendprogramm (vgl. Hickethier 1975/1976). Insbesondere spielen im Werberahmenprogramm schon früh Serien als Instrument der Zuschauerbindung eine dominante Rolle, denn »[d]er Zweck dieses Programms liegt nicht im Programm selbst, nicht in der Unterhaltung, Information oder Belehrung, sondern einzig und allein, eine möglichst hohe Zahl von Zuschauern vor den Fernsehempfänger zu bringen« (Hickethier 1975, 141). Im Unterschied dazu war das Abendprogramm trotz der spätestens seit 1961 vorgesehenen festen Sendeplätze nicht systematisch auf Serien ausgerichtet (vgl. Nowak/Schneider 1989, 95). Die ›Serialisierung des Programms‹ greift dort erst in den 1980er Jahren um sich – als Reaktion auf die neue Konkurrenz durch das Privatfernsehen (vgl. Mikos 1987, 4).
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Für die medien-, vor allem fernsehgeschichtliche Kontextualisierung des ›Fernsehromans‹ AM GRÜNEN STRAND DER SPREE (1960) spielt diese sich anbahnende Programmkonkurrenz eine wichtige – aber bislang kaum berücksichtigte – Rolle, wie sich im Verlauf dieses Beitrages zeigen wird. AM GRÜNEN STRAND DER SPREE entsteht dabei wie der erste, ebenfalls unter der Regie von Fritz Umgelter entstandene ›Fernsehroman‹ des Deutschen Fernsehens – SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN (1959)21 –, in einer kurzen Zeit des Umbruchs und der Professionalisierung im Übergang von der Aufbau- und Experimentalphase des bundesdeutschen Fernsehens in den 1950er Jahren zur Etablierungs- und ersten Differenzierungsphase in den 1960er und 1970er Jahren.22 Die Spezifik des westdeutschen Fernsehens um 1960 scheint auf, wenn man die Verfilmung des damals sehr populären Romans Am grünen Strand der Spree. So gut wie ein Roman von Hans Scholz (1955) in mehrerlei Hinsicht kontextualisiert. In diesem Beitrag soll dies anhand folgender, zum Teil stark ineinandergreifender und sich wechselseitig bedingender Aspekte geschehen:23 • • • • •
der fernsehhistorischen Entwicklung der 1950er und 1960er Jahre, der Etablierung einer Fernsehöffentlichkeit, des Fernsehens als neuem Konkurrenzmedium, des Konzepts ›Fernsehroman‹ und der Thematisierung von NS-Vergangenheit und Judenvernichtung im frühen Fernsehen.
Vom improvisierenden Zauberspiegel der »Bunkerleute«24 zum professionalisierten Massen- und Leitmedium: auf dem Weg in die Fernsehöffentlichkeit Gestandene Hörfunkmacher nahmen das Fernsehen nicht ernst. Sie sahen es – im besten Fall – als eine Spielerei an; eine Haltung, die man auch in den Führungsund Leitungsebenen fand.25
21 Zum ›Fernsehroman‹ siehe auch Hißnauer 2019a. 22 Vgl. auch Hißnauer/Schmidt 2013, 27. 23 Zu weiteren Kontexten siehe auch die Beiträge von Stephanie Heck und Simon Lang in diesem Band. 24 Grimme 1955, 72. Grimme bezieht sich mit der Formulierung »Bunkerleute« (für die ersten Fernsehmacher) darauf, dass die Fernsehabteilung des NWDR in Hamburg zunächst in Flakhochbunkern auf dem Heiligengeistfeld untergebracht war.
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So erzählt der Kameramann Carsten Diercks rückblickend von der Äußerung eines nicht namentlich genannten leitenden Rundfunkredakteurs in den 1950er Jahren: »Seien Sie doch vernünftig. In ein bis zwei Jahren ist doch der ganze Fernsehspuk vorbei!«26 Bekannt ist, dass sogar »der Kölner Intendant Hartmann dem Fernsehen […] zutiefst skeptisch gegenüberstand und ihm keine Chancen einräumte. Als eine eigenständige Aufgabe des WDR erschien ihm das Fernsehen zu unerheblich.«27 – Nur zum Vergleich: Im Jahr 1954 stehen (nach offiziellen Zahlen) 11 658 Fernsehteilnehmern 11 614 974 Radiohörer gegenüber; das Tausendfache.28 Das Deutsche Fernsehen war also noch weit davon entfernt, publizistisch bedeutsam zu sein. Doch das änderte sich schnell. »In den sechziger Jahre [sic!] wurde das Fernsehen zum Allgemeingut.«29 Bereits 1958 gab es über eine Million angemeldete Fernsehnutzer. 1965 waren es schon über zehn Millionen.30 84 Prozent der bundesdeutschen Haushalte verfügten schließlich 1969 über (mindestens) ein Fernsehgerät.31 In den 1960er Jahren wird Fernsehen – als Programm, als Institution, als kulturelle Praxis – zur »Alltagsgewißheit«32, so dass sich auch die Herstellung routinisiert und professionalisiert. Vor allem konnte mehr Geld in das Programm fließen, so dass auch aufwendige Produktionen wie die ersten ›Fernsehromane‹ möglich wurden. Vor allem die Kinowirtschaft sah im Fernsehen eine große Konkurrenz – und der Einbruch der Besucherzahlen Mitte der 1950er Jahre legt nahe, dass es hier einen direkten Zusammenhang gibt, denn zuweilen wurde das Fernsehen als Totengräber des Films betrachtet. Während sich die Zahl der Theaterbesuche 25 Das ist hier natürlich bewusst überspitzt dargestellt. Neben den Skeptikern gab es – wie immer – auch solche, die dem ›neuen Medium‹ sehr positiv und aufgeschlossen gegenüberstanden. Einer von ihnen war Peter von Zahn, der später auch ein Zugpferd im Adenauer-Fernsehen werden sollte. 26 Zit. nach Diercks 1995, 43. 27 Hickethier 1998, 94. 28 Vgl. Adolph/Scherer 1995, 406. Die hier wiedergegebene Tabelle lässt allerdings keine Rückschlüsse darüber zu, wie die Daten erhoben wurden. Daher ist m. E. unklar, worauf sich die Zahlen beziehen: Sind hier also tatsächlich individuelle Zuschauer/-hörer erfasst, Haushalte oder lediglich die angemeldeten Geräte? Hickethier spricht von »angemeldete[n] Teilnehmer[n]« (1998, 201). 29 Ebd., 200. 30 Vgl. Adolph/Scherer 1995, 406. 31 Der Anteil stieg auf 93 Prozent im Jahr 1975 (vgl. Hickethier 1998, 200). 32 Hickethier spricht in diesem Zusammenhang von einer »Verankerung [des Fernsehens] in den Lebensgewohnheiten der Bevölkerung« (ebd., 198).
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nicht negativ veränderte – sie nahm sogar bis in die 1960er Jahre hinein deutlich zu –, gab es einen massiven Einbruch bei den Kinogängern.33 Stieg die Zahl der Besuche/r bis 1956 noch auf 870,5 Millionen, so sank die Zahl danach rapide von 596 Millionen im Jahr 1960 auf 172,2 Millionen im Jahr 1969.34 Für diesen starken Rückgang der Besucherzahlen wird oft das Fernsehen als einzige Ursache angesehen, da es – wie dargestellt – in dieser Zeit des Deutschen Wirtschaftswunders eine starke Zunahme von angemeldeten Fernsehgeräten gab. Doch ein näherer Blick auf die Zahlen macht recht schnell deutlich, dass es noch andere Gründe geben muss, die zum Verfall des Kinopublikums geführt haben, denn damals wie heute gehen vor allem junge Menschen ins Kino, die gegenüber älteren Menschen einen geringeren Fernsehkonsum zeigen.35 Es wäre hier also näher zu untersuchen, wie – und warum – sich das Freizeitverhalten gewandelt hat, bspw. durch veränderte Mobilität. Trotzdem ist ein starker Zusammenhang zwischen der zunehmenden Verbreitung des Fernsehens und dem Bedeutungsverlust des Kinos offensichtlich: »Die steigende Faszination des Fernsehens blieb jedoch ein Motor der wirtschaftlichen Krise des Kinospielfilms.«36 Bleicher betont mit Blick auf Produktionen wie UNRUHIGE NACHT (1955) oder BESUCH AUS DER ZONE (1958)37, »dass vor allem das Fernsehspiel, nicht der Kinospielfilm, in dieser Zeit als Spiegel gesellschaftlicher Realität fungierte«.38 Das bundesdeutsche Kino der 1950er ist hingegen geprägt von Heimatfilmen, Komödien, Revue- und Schlagerfilmen. Natürlich finden sich auch amerikanische Western und Kriegsfilme, Krimis und Thriller, Melodramen und Liebesfilme. Inbegriff der deutschen Piefigkeit ist und bleibt aber der Heimatfilm. In den 1960er Jahren sind die Karl-May- und Edgar-Wallace-Filme sehr erfolgreich – allgemein steckte das Kino aber in einer massiven wirtschaftlichen Krise.39 33 Den gab es bspw. nicht bei den angemeldeten Hörfunkgeräten. Deren Zahl nahm kontinuierlich zu; ebenso stieg die Buchproduktion (vgl. Adolph/Scherer 1995). 34 Vgl. ebd., 417. 35 Vgl. Prommer 1999, 99. 36 Bleicher 2013, 27. 37 Beides sind Produktionen des Süddeutschen Rundfunks, der in den 1950er Jahren bereits als besonders zeitkritisch galt. 38 Bleicher 2013, 21. 39 Mit dem 1968 in Kraft tretenden Filmförderungsgesetz und der Filmförderungsanstalt (FFA) in West-Berlin sollte die wirtschaftliche Situation gerade auch von anspruchsvolleren Filmen verbessert werden; dank der Lobbyarbeit der Filmwirtschaft profitierten aber eher große Produzenten von den Fördergeldern. Und so waren die großen Publikumserfolge der 1970er Jahre u. a. die Reportfilme (SCHULMÄDCHENREPORT
etc.) und die LEDERHOSEN-Filme.
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Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre gibt es dann natürlich auch im Kino einen Aufbruch, bspw. mit der nouvelle vague in Frankreich oder dem Neuen Deutschen Film, der wirtschaftlich aber nicht besonders erfolgreich und stark von Fernsehgeldern abhängig war.40 Hollywood reagiert auf das Fernsehen eher mit Bombast: Cinemascope und Monumentalfilmen. Farbigkeit und Tiefenschärfe sind die Vorteile des Kinos gegenüber dem Fernsehen, auch wenn noch viel auf Schwarz/Weiß produziert wird. Auch in der Darstellung von Gewalt und Sexualität kann das Kino weiter gehen als das Fernsehen: Das gilt insbesondere für B-Movies, die in Deutschland oft in den Bahnhofkinos liefen. Vor allem aber kann das Kino unverbrämt pure Unterhaltungsfilme bieten. Filme wie ROSEN FÜR DEN STAATSANWALT (1959) zeigen, dass dies nicht ausschließlich gilt. Auch UNRUHIGE NACHT wurde für das Kino verfilmt (1958). Insgesamt scheint mir die Einschätzung Bleichers – zumindest für die 1950er Jahre – etwas überspitzt zu sein. Das Fernsehspiel versteht sich bspw. erst in den 1960er Jahren zunehmend als Spiegel bundesdeutscher Realitäten und als zeitkritischer Begleiter gesellschaftlicher Entwicklungen. Dies gilt insbesondere für den NDR, aber auch für den WDR oder Radio Bremen. Das liegt vor allem daran, dass die schnell ansteigende Reichweite und das damit stark erhöhte Gebührenaufkommen auch zu einem neuen Selbstbewusstsein und Selbstverständnis des Fernsehens um 1960 führt. Und dieses neue Selbstverständnis stößt auf ein allgemeines Aufbruchsklima: »Die Vorstellung, mit dem Medium Fernsehen auf die Gesellschaft einzuwirken und sie damit verändern zu können, setzt sich mit dessen Ausbreitung durch. ›Mehr Demokratie wagen‹, dieser Leitspruch Willy Brandts […], formuliert die gesellschaftlich dominante […] Stimmung dieses Zeitraums. Diese von der Politik entworfenen Visionen eines neuen Anfangs trafen auf ein Medium, das sich selbst […] als eine Institution einer neuen, modernen Zeit verstand.«41
40 In den 1960er und vor allem seit den 1970er Jahren gibt es zunehmend eine Konvergenz zwischen Fernsehen und Kino in der Bundesrepublik. So arbeitet Rainer Werner Fassbinder bspw. für beide Medien. Mit dem Film-Fernseh-Abkommen (1974) etabliert sich der sog. Amphibische Film (vgl. bspw. Rohrbach 2009 [1977]), das sind Filme, die in Kooperation von Film- und Fernsehwirtschaft realisiert wurden, so dass eine strikte Unterscheidung zwischen Kino- und Fernsehfilm kaum noch möglich ist. Insbesondere die Autoren des Neuen Deutschen Films profitierten davon (vgl. zum »deutschen Kinofilm zwischen Filmförderung und Fernsehen« ausführlich Bleicher 2013). 41 Hickethier 1998, 199.
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Mit einem Wort: Das Fernsehen wurde politischer – und zunehmend zu einem Politikum.42 Den sich verändernden publizistischen Anspruch – das Fernsehen nimmt sich zunehmend als wichtigen Einflussfaktor wahr43 – kann man an verschiedenen Beispielen belegen. Während z. B. der Fernsehdokumentarismus der 1950er Jahre eher unkritisch die große weite Welt vorführt und die Segnungen des Konsum- und Technikzeitalters preist (z. B. in der Reihe BILDER AUS DER NEUEN WELT; 1955-1960), im Fernsehspiel vor allem Krimis oder Theateradaptionen vorherrschen und – wie bereits erwähnt – erste Kritiker ein Zuviel an Quiz-Sendungen bemängeln, ist das Selbstverständnis und die Situation in den 1960er Jahren eine völlig andere. Daran wird nochmals deutlich, wie stark der Umbruch im bundesdeutschen Fernsehen um 1960 war. Um ein paar Schlaglichter zu nennen: •
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Die SDR-Reihe ZEICHEN DER ZEIT (1957-1973) steht für frühe Zeitkritik im Fernsehen rund um die sog. Stuttgarter Schule des Fernsehdokumentarismus.44 1960 startet das Politikmagazin ANNO – FILMBERICHTE ZU NACHRICHTEN VON GESTERN UND MORGEN, das seit 1962 REPORT heißt. Seit 1961 läuft PANORAMA – ein zuweilen heftig angefeindetes Format.45 Die sog. Zweite Hamburger Schule um den Fernsehspielchef Egon Monk etabliert seit Anfang der 1960er Jahre gesellschaftskritische Fernsehspiele und Dokumentationen.46 Vor allem beginnt hier auch die verstärkte Auseinandersetzung mit der NS-Zeit (s. u.).
42 Zum Politikum Fernsehen siehe auch Hißnauer 2019b. 43 Adolf Grimme prognostizierte schon 1953, dass in naher Zukunft »durch das Fernsehen der Ausgang der Wahlen entscheidend mitbestimmt wird« (1955, 68). 44 Vgl. Hoffmann 1996. 45 Vgl. dazu ausführlich Lampe/Schumacher 1991. In der Literatur wird oft PANORAMA als das erste Politikmagazin des bundesdeutschen Fernsehens bezeichnet, da ANNO eher als »Vorform« (Kreuzer 1988, 10) betrachtet wird: »Das Magazin Anno […] bot zunächst vor allem den filmischen Blick ins Ausland. […] Beiträge über bundesdeutsche Probleme […] bleiben noch in der Minderheit.« (Hickethier 1988, 100) Erst ab 1962/63 dominieren innenpolitische Themen die Politikmagazine. Für die Auslandsberichterstattung der ARD etablierte sich ab 1963 der WELTSPIEGEL – und ersetzte damit auch Peter von Zahns Reihe DIE REPORTER DER WINDROSE BERICHTEN (19611963; vgl. Hißnauer/Schmidt 2013, 62ff.). 46 Vgl. Hißnauer/Schmidt 2013; zu Monk vgl. auch Schumacher/Stuhlmann 2017; Schumacher 2018.
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Missstände werden angesprochen und diskutiert, man versucht auch denjenigen eine Stimme zu geben, die bislang nicht zu Wort kamen, z. B. Arbeitern in WILHELMSBURGER FREITAG (1964) oder in den sog. Arbeiterfilmen des WDR wie ICH HEISSE ERWIN UND BIN 17 JAHRE von Erika Runge (1970). LIEBE MUTTER, MIR GEHT’S GUT (1971/73) und SCHNEEGLÖCKCHEN BLÜHN IM SEPTEMBER (1974) von Christian Ziewer/Klaus Wiese.47
Natürlich gibt es auch weiterhin Krimis, Unterhaltungssendungen, Klassikerinszenierungen und Ratespiele, aber das Fernsehen versteht sich deutlich stärker als zuvor nun (auch) als kritischer Begleiter und Beobachter der Entwicklungen innerhalb der Bundesrepublik. Das war einigen zu viel, anderen ging die Kritik nicht weit genug.48 47 Vgl. Collins/Porter 1980; Zimmermann 1980. 48 Die 1960er und frühen 1970er Jahre waren eine Hochzeit der Fernsehpublizistik und des zeitkritischen Fernsehspiels. Mitte bis Ende der 1970er Jahre gab es hingegen nach der Aufbruchphase ›1968‹ wieder vermehrt »politischen Druck auf die Anstalten im Zuge eines konservativen ›roll backs‹« (Hickethier 1980, 292) – was nicht heißen soll, dass es nicht auch in den 1960er Jahren seitens der Politik zum Teil massive Kritik am Programm gab; davon zeugt bspw. die Geschichte des Politikmagazins PANORAMA (vgl. Lampe/Schumacher 1991). Die sog. ›Rotfunkkampagne‹ gipfelte sogar in der Kündigung des NDR-Staatsvertrags – und bereitete auch den Weg für die Einführung des kommerziellen Privatfernsehens (vgl. Hißnauer 2019b). Bereits 1975 warnte Wolf Donner in der Zeit: »In den Funkhäusern führt die permanente Einschüchterungsmühle zu allen Spielarten von verinnerlichter Vorzensur bis zu resigniertem Opportunismus. […] Der enervierende Ruf nach Ausgewogenheit […] beschert dem deutschen Zuschauer ein immer faderes Programm ohne Profil und Innovationen […].« (Donner 1975, 30) »[U]nter dem Schlagwort der ›Ausgewogenheit‹ sind die Unionsparteien nun angetreten, die Rundfunkfreiheit gänzlich zu amputieren«, bemerkte Der Spiegel im selben Jahr (N. N. 1975, 29). Wie überzogen die Kritik am Programm teilweise war, wird deutlich, wenn man sich bspw. Äußerungen der CSU Arbeitsgruppe Publizistik vor Augen führt, die überall »Belege für die Umtriebe roter ›Diffamierungs- und Fälschungszentralen‹ im westdeutschen Funkwesen« sahen: »›In bestimmten deutschen Rundfunk- und Fernsehanstalten‹, so verkündete die Arbeitsgruppe dann am vorletzten Wochenende, würden ständig ›staats- und verfassungsfeindliche Sendungen‹ von ›gewaltigem Ausmaß‹ abgelassen – linksradikale ›Agitation‹ und prokommunistische ›Infiltration‹, kurzum ›geistig-ethische Subversion und Zersetzung‹.« (N. N. 1978, 32) Für die CSU war das Fernsehen in jener Zeit ein »Tele-Kolleg für Linksradikale« (zit. nach N. N. 1974, 122). – Festzuhalten ist: Das Ausgewogenheitspostulat wurde immer mehr zu einem Ausgewogenheitsdiktat
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Bei – im Prinzip – nur zwei Fernsehprogrammen hatte ein einzelner Beitrag oder eine einzelne Sendung im Vergleich zu heute eine deutlich höhere Reichweite. Mehr Menschen sahen die gleiche Sendung, da das Publikum noch nicht so fragmentiert war wie heute. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich mit seinem Nachbarn, seinem Kollegen oder seinem Mitschüler über den gleichen Film oder den gleichen Beitrag austauschen konnte, war also deutlich höher, was für die Herausbildung imaginierter oder virtueller Gemeinschaften49 wichtig ist: »Fernsehen, Radio und Zeitungen formen aus zuvor getrennten Bevölkerungselementen und Milieus eine ›virtuelle Einheit‹, die ihre Identität dadurch gewinnt, daß die gleiche Information in vielen Kopien zeitgleich allen Rezipienten verfügbar gemacht wird.«50
Für die sich herausbildende Fernsehöffentlichkeit wird das sich politisierende Fernsehen in den 1960er Jahren zu einem Leitmedium mit schnell anwachsender Zuschauerschaft. Das steigende Gebührenaufkommen und das neue Selbstbewusstsein führten zu einer Professionalisierung des Fernsehens am Ende der Aufbau- und Experimentalphase, d. h. im Übergang zur Etablierungs- und Diversifizierungsphase. Begünstigt wurde dadurch auch die zunehmende Abkehr von der sog. LiveIdeologie im fiktionalen Bereich, die durch die Einführung der Magnetischen Aufzeichnung (MAZ)51 1958/59 für Studioproduktionen im Fernsehspiel bzw. die vermehrte Verwendung von Film als Aufzeichnungsmedium52 auch technisch möglich wurde und zu einem langfristigen Prozess der »Filmisierung des
(vgl. Hißnauer 2019b): ›Ausgewogen‹ sollte nicht mehr das Gesamtprogramm sein, sondern jede einzelne Sendung. 49 Vgl. dazu v. a. Anderson 1983. 50 Wehner 1997, 100. Aufgrund der Reflexivität des Wissens erzeugen Massenmedien – vereinfacht gesagt – so Konsens-Strukturen (bzw. begünstigen sie), die eine Beziehung zwischen Rezipienten herstellen. Es entsteht quasi ein Vorverständnis über die wichtigen (Welt-)Ereignisse (vgl. Faulstich 1991, 97; Wehner 1997, 101). 51 Zuvor gab es nur das technisch unzureichende Verfahren der FAZ: das tatsächliche Abfilmen vom Bildschirm (vgl. Ellenbruch 2011). Ohne die MAZ gab es zunächst keine Möglichkeit, das elektronische Fernsehbild aufzuzeichnen. Fernsehspiele wurden daher direkt aus dem Studio übertragen – ohne Wiederholungschance bei Texthängern oder anderen Fehlern (wie eine Art ›Theater auf dem Bildschirm‹). Das Studio war dabei die Simultanbühne. 52 Der erste ›reine‹ Fernsehfilm war DER RICHTER UND SEIN HENKER (1957).
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Fernsehens«53 und insbesondere des Fernsehspiels führte.54 Ohne diese Entwicklung wäre auch eine Produktion wie AM GRÜNEN STRAND DER SPREE nicht zu realisieren und als Großproduktion wirtschaftlich ohne die Wiederholungsmöglichkeit auch nicht tragbar gewesen.55 Die Zeit legt nahe, dass gerade die Filmisierung mitverantwortlich für den großen Erfolg der ersten beiden ›Fernsehromane‹ war, da sie u. a. auch andere (Bild-)Ästhetiken und Dramaturgien ermöglicht: »Roman-Verfilmungen im Fernsehen wie SOWEIT DIE FÜSSE TRAGEN [sic!] und AM GRÜNEN
STRAND DER SPREE haben es zu einer Popularität sondergleichen gebracht. Und
das, obwohl sie alle vernünftig scheinenden Fernsehgesetze in geradezu schreckenerregender Weise mißachteten: mit genußreichem Schwelgen in Massenszenen, großzügigster Anwendung der Totalen und einer unbezwingbaren Vorliebe für Außenaufnahmen. Thomas Manns Wort, daß das bewegliche Bild dem Gesetz des Epischen unterliege und daher der Roman eine bessere Textgrundlage als das Drama abgebe, hat sich als klüger denn alle Weisheit der Fernsehdramaturgen erwiesen.«56
Aufzeichnungsverfahren führten auch zu einer Selbsthistorisierung des Fernsehens (es bekommt nun ein ›Gedächtnis‹), denn dadurch wurden die Aufbewahrung und die Wiederholung einzelner Sendungen möglich – und damit auch ein Erinnern im Programm.57 Eine solche Selbsthistorisierung ist aber »keine stabile und dauerhafte«58, da sie von Archivierungs-, Wiederaufführungs- und/oder Veröffentlichungspraxen (als Form der Externalisierung des Programmgedächt-
53 Hickethier 2000, 157. Nach Einführung der MAZ dominierte zunächst noch die Mischform aus elektronisch und filmisch aufgezeichneten Szenen, wie man es z. B. in DAS HALSTUCH (1961), dem wohl bekanntesten DURBRIDGE-Straßenfeger, sieht. Solche Mischformen gab es bereits zur Zeit des Live-Fernsehspiels. 54 Vgl. Hickethier 1998, 247f. Auch im Fernsehdokumentarismus war die ›Direktsendung‹ zunächst das Ideal, doch setzte sich dort aufgrund produktionspraktischer Erfordernisse der Film bereits etwas früher und schneller durch (vgl. Hißnauer/Schmidt 2013). Seit den 1980er Jahren wurde der Film als Aufzeichnungsmedium zunehmend durch die Einführung der Videokamera und digitaler Aufnahmeverfahren abgelöst. 55 Bereits SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN war eine Filmproduktion. 56 Lupus 1961. 57 Heutzutage spielen weitere Verwertungsketten und Distributionskanäle eine zusätzliche Rolle, aber auch sie basieren auf der Aufzeichnung – sprich Archivierung – des Programms. 58 Früh 2017, 299.
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nisses) abhängt.59 Dies macht z. B. auch Harald Martenstein für die Seriengeschichte deutlich, wenn er SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN als erste Serie des Deutschen Fernsehens bezeichnet, obwohl er mit der noch live ausgestrahlten Produktion UNSERE NACHBARN HEUTE ABEND: FAMILIE SCHÖLERMANN (1954-1960) selbst explizit ein früheres – im Wesentlichen nicht überliefertes – Beispiel nennt. Implizit bezieht er sich in seiner Einschätzung auf die durch Wiederaufführung bzw. Wiederholung bedingte Rezeptionsgeschichte von SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN: »FAMILIE SCHÖLLERMANN [sic!] ist in der Vergessenheit versunken, nach Wiederholungen von SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN verlangen die Zuschauer noch heute.«60 Dafür ist die Wiederholbarkeit im Programm – wie gesehen – eine notwendige Voraussetzung:61 Die Bedeutung der Fernseharchive ist somit immens, denn sie sind eine »mächtige Instanz der Ermöglichung, Kontrolle oder Restriktion«.62 Daher lässt sich sagen, dass Archive bzw. Archivierungspraktiken Fernsehgeschichte(n) vor-schreiben.63 – Auch die Erinnerung an das Fernsehen setzt so ›um 1960‹ ein. Zwischen ›zerteiltem‹ Fernsehfilm und Serie: Der ›Fernsehroman‹ AM GRÜNEN STRAND DER SPREE im Kontext von Fernsehspiel, Fernsehfilm und Serie »Der deutsche Fernsehzuschauer will gar kein Zuckerbrot, er will die Peitsche.«64
Um 1960 beginnt nicht nur die Filmisierung des Fernsehens, sondern auch eine erste – noch vergleichsweise zaghafte – Welle der Serialisierung des Programms, für die auch der ›Fernsehroman‹ steht.
59 Zu Aspekten der Fernsehgeschichtsschreibung siehe ausführlich Früh 2017. 60 Martenstein 1996, 25f. 61 Heutzutage sind es eher DVD-/Blu-Ray-Editionen oder webbasierte Angebote wie YouTube oder amazon prime, die ggf. die Erinnerung an solch frühe Produktionen nach eigenen Verwertungs- und Vermarktungsstrategien und Selektionskriterien aktualisieren – im Programm werden sie kaum noch wiederholt. So sind in den vergangenen Jahren bspw. wegen des allgemeinen Serienhypes unheimlich viele alte Serien als DVD veröffentlicht worden, aber selbst ›Klassiker‹ des Fernsehspiels bleiben weitestgehend unzugänglich. 62 Früh 2017, 219. 63 Vgl. ebd., 219ff. 64 Telemann 1959.
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Insbesondere finden sich ab 1959 erste fiktionale Fortsetzungsnarrative: der Krimimehrteiler GESUCHT WIRD MÖRDER X, der zwischen Januar und Februar 1959 – und damit vor den Durbridge-Straßenfegern (1959-1971)65 – ausgestrahlt wurde, und SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN (Februar bis April 1959). Und das ist m. E. kein Zufall. Insbesondere die Prestigeproduktionen SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN und AM GRÜNEN STRAND DER SPREE sollten mit ihrem immensen Aufwand nicht nur die Leistungsfähigkeit des Deutschen Fernsehens gegenüber dem Kino unter Beweis stellen,66 sondern zielten ebenso auf die drohende Programmkonkurrenz. So wie der oben zitierte Spiegel-Artikel bereits 1957 unter anderem die Fernsehspielserie als ein Programmpunkt nennt, der die »Zuschauerscharen« zum Privatfernsehen locken soll, nutzt die ARD nun ihrerseits die Serie, um ihre Zuschauer an das eigene Programm zu binden. Entsprechend setzt auch das ZDF bereits bei seinem Sendestart auf (Krimi-)Serien, um seinerseits für das Publikum attraktiv zu sein.67 Dies gilt vor allem für das Werberahmenprogramm. Im Abendprogramm dominierten Einzelstücke, anthologische Reihen
65 DER ANDERE lief erst im Oktober 1959. In den 1960er Jahren war jeder ›neue Durbridge‹ ein regelrechtes Fernsehevent. 66 »Der Existenzkampf, der da seit Jahren tobt und der, wie jeder bessere Konflikt, im Zeichen friedlicher Koexistenz zu stehen vorgibt, wurde von aller Filmwelt mit dem Schlachtruf ›Wir können was, was Ihr nicht könnt!‹ eröffnet. Farbe, Breitwand, Cinemascope, Vista-Vision, Todd-AO, Starkult, ›Nur für Erwachsene‹ ‒ aus allen Rohren und dicht über die Köpfe der Freiwilligen Selbstkontrolle hinweg kamen ihre Breitseiten. Selbst der oft vermißte ›gute Film‹ mußte als Munition herhalten. Was aber schickte das Fernsehen ins ungleiche Treffen? Nichts. Es wuchs und mehrte sich, hielt es für einen Glücksfall, erfunden worden zu sein, und strickte am trauten Programm. Zwei schlicht, zwei kraus. […] Doch plötzlich, sei es aus Neckerei oder weil sie wieder mal nicht wußte, wie sie sich die Sendezeit vertreiben sollte, plötzlich legte die Fernsehfunkstation Köln ihr Strickzeug beiseite, rief trutzig: ›Ich kann etwas, was Ihr nicht könnt!‹ ‒ und schoß zurück. […] Und wiederum stellte sich heraus: Das Fernsehen kann Romane erzählen; ausführlicher, werktreuer als die Filmindustrie. Es kann sich Zeit nehmen: ein Jahr für die Vorbereitung, zehn Wochen (mit 14tägigen Pausen) fürs Senden.« (Telemann 1960) Telemann vergisst allerdings, dass das Kino die Serie schon lange vor dem Fernsehen kannte, vor allem als abenteuerreiche Kurzfilmserien. 67 Dieses Muster wiederholt sich in den 1980er und 1990er Jahren. ARD und ZDF reagieren zum einen auch vor Einführung des Dualen Rundfunks 1984 bereits proaktiv auf die drohende Konkurrenz durch privatwirtschaftlich organisierte Programmanbieter. Zum anderen wird die Programmkonkurrenz in den 1990er Jahren wesentlich über (Krimi-)Serien ausgefochten (vgl. Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014).
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und Mehrteiler; die ›klassische‹ Episodenserie war dort in den 1960er Jahren noch die Ausnahme. Der ›Fernsehroman‹ steht produktions- wie rezeptionsgeschichtlich zwischen anspruchsvollem Fernsehspiel/-film und Serie68 und ist damit auch ein Beispiel für einen ersten Nobilitierungsversuch des Fernsehens – und der Serie.69 Der Begriff ›Fernsehroman‹ kommt aus der Fernsehpraxis. Er bezeichnet kein ausgereiftes Konzept, keine klar umrissene Erzählform oder gar ein Genre (obwohl bspw. in Der Spiegel 1959 von »der neuen Tele-Gattung ›Fernsehroman‹«70 die Rede ist). Die »Idee des ›Fernsehromans‹« beschreibt Walter Pindter – Produktionsverantwortlicher von SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN und AM GRÜNEN STRAND DER SPREE – sehr allgemein als »in epischer Breite in mehreren Folgen eine Geschichte erzähl[en]«.71 Es handelt sich also um die mehrteilige, aufwendige Fernsehbearbeitung von erfolgreichen, populären Romanen; um Unterhaltung, die aber einem gewissen öffentlich-rechtlichen Anspruch genügen sollte – und sich über die literarische Vorlage legitimierte. Anders gesagt: Der ›Fernsehro-
68 Wird SO WEIT DIE FÜSSE tragen im Abspann als Fernsehfilm benannt, so findet man im Abspann von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE die Bezeichnung Fernsehroman. Der Spiegel spricht mit Blick auf beide Produktionen von »Roman-Serien« (N. N. 1959). Das zeigt, dass die ›Fernsehromane‹ durchaus als Serien diskutiert wurden. – Interessanterweise findet sich in der Spiegel-Ausgabe direkt neben diesem Artikel eine Glosse von Telemann, dem Fernsehkritiker des Spiegels, in der er mit Blick auf Serien von purer Gewalt spricht: »Wie aber bringt man andere dahin, zuzuschauen? Bis vor kurzem hatte sich das Deutsche Fernsehen darauf verlassen, daß seine Abonnenten dieser Tätigkeit aus freien Stücken obliegen. […] Doch muß da unlängst etwas passiert sein, was dieses Vertrauen erschüttert und ernste Zweifel an des Volkes bedingungsloser Schaubereitschaft hervorgerufen hat. Und zwar muß es im Bereich des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbands passiert sein. Denn diese Sendergruppe wendete – statt unsere Neugier wie bisher auf gütliche Weise zu wecken – erstmals rohe Gewalt an: Sie startete die Kriminalserie Der Andere.« (Telemann 1959) DER ANDERE war allerdings nicht die erste Fortsetzungsserie im bundesdeutschen Fernsehen, wie Telemann glaubt. Dies war vielmehr GESUCHT WIRD MÖRDER X (s. o.). 69 Vgl. Hißnauer 2019a. Lupus – Fernsehkritiker der Zeit – bezeichnet den »FernsehFortsetzungskriminalfilm« als »illegitime[n] Bruder dieses Fernseh-Fortsetzungsromans« (Lupus 1961). Telemann schreibt im Spiegel ebenfalls eher abfällig von einem »Abstottern von Räubergeschichten« (Telemann 1959). Zur Nobilitierung der Serien trug offenbar lediglich der ›Fernsehroman‹ bei – als Literaturadaption. 70 N. N. 1959, 90. 71 Pindter zit. nach ebd., 89.
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man‹ ist eine Literaturadaption als abgeschlossene Fortsetzungsserie (Mehrteiler bzw. Miniserie).72 Allerdings war der ›Fernsehroman‹, anders als im Fernsehen der DDR, im bundesdeutschen Fernsehen ein Strohfeuer – mit langer Brenndauer:73 In der Forschungsliteratur werden als Referenztexte für den ›Fernsehroman‹ im bundesdeutschen Fernsehen regelmäßig nur SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN und AM GRÜNEN STRAND DER SPREE genannt – es scheint sich also um eine recht kurzlebige Bezeichnung für eine fernsehspezifische Erzählform gehandelt zu haben. Mehrteilige Literaturadaptionen (nicht nur ›populärer‹ Romane) hingegen finden sich als serielle Form durch die Jahrzehnte (bspw. WER EINMAL AUS DEM BLECHNAPF FRISST, 1962; DAS HAUS IN DER KARPFENGASSE, 1965; REBELLION DER VERLORENEN, 1969; TADELLÖSER & WOLFF/EIN KAPITEL FÜR SICH, 1975/19791980; EIN MANN WILL NACH OBEN, 1978; DIE BUDDENBROOKS, 1979; BERLIN ALEXANDERPLATZ, 1980; DIE BERTINIS, 1988; DIE BASKENMÜTZE, 1991; DER LADEN, 1998; DER TURM, 2012). Sie sind oftmals aufwendige Prestigeproduktionen. Von daher hatte Die Zeit – selbst mit ihrem wording – recht, als sie 1960 prognostizierte: »Daß das Fernsehen […] eigene künstlerische Ambitionen haben kann, das möchten wir bejahen, auch wenn wir uns damit in Gegensatz zu René Clair begeben, der dem Fernsehen abspricht, eine selbständige Kunstform zu sein. Vielleicht könnten wir uns mit ihm aber auch darüber einigen, daß jener fünfteilige Fernsehfilm nach dem Buch AM GRÜNEN STRAND DER SPREE […] jene neue Art des Films ist, die eine große Zukunft hat.«74
Der ›Fernsehroman‹ war auch Wegbereiter für mehrteilige Originalfernsehspiele wie ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG (1972-1973), LÖWENGRUBE (1989-1992), HEIMAT – EINE DEUTSCHE CHRONIK (1984), UNSERE MÜTTER – UNSERE VÄTER (2013), TANNBACH – SCHICKSAL EINES DORFES (seit 2015) oder KU’DAMM 56/59 (seit 2016). Die Literaturverfilmung war somit nicht nur für das Fernsehspiel
72 Wobei sich bei AM GRÜNEN STRAND DER SPREE der Fortsetzungscharakter lediglich aus der Rahmenhandlung ergibt. Es überwiegt der anthologische Charakter lose zusammengebundener Episoden. Auch bei SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN ist der Fortsetzungscharakter eher schwach ausgeprägt. Hier dominiert eher ein episodisches Erzählen. 73 Im Fernsehen der DDR wird die Bezeichnung ›Fernsehroman‹ hingegen langfristig verwendet (vgl. Steinmetz/Viehoff 2007, 204). 74 Müller 1960.
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bzw. den Fernsehfilm, sondern auch für serielle Fortsetzungsnarrative eine »Starthilfe«.75 Auffällig ist allerdings, dass solche Produktionen in der Seriengeschichtsschreibung oftmals unberücksichtigt bleiben – zumindest bis vor kurzem. Seit einigen Jahren werden auch sie auf der einen Seite vermehrt als ›Quality TV made in Germany‹ diskutiert. Zuvor sind sie in der Literatur als ›Mehrteiler‹ i. d. R. im Zusammenhang mit der Entwicklung des Fernsehspiels/-films aufgetaucht. Auf der anderen Seite ist dies aber auch ein Indiz dafür, dass sich solche Produktionen – nach den anfänglichen Erfolgen des ›Fernsehromans‹ – in den 1960er Jahren selbst nicht (mehr) als Serie verstanden, sondern als mehrteilige Fernsehspiele/-filme gesehen werden wollten, denn die Serie stand – trotz des ›Fernsehromans‹ – in den 1960er Jahren (und auch noch lange danach) unter Trivialitätsverdacht. Als Kunstform im Fernsehen galt zunehmend das Fernsehspiel bzw. der Fernsehfilm. Der ›Fernsehroman‹ sollte offenbar nicht mehr die Serie aufwerten, sondern selbst als mehrteiliger Fernsehfilm nobilitiert werden. »Das Drehbuch sehe ich vor mir, hingegen den Produzenten, der das machen würde, wird kein Mensch je zu Gesicht bekommen.« AM GRÜNEN STRAND DER SPREE und die NS-Vergangenheit im Fernsehen »In gewisser Weise war SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN
der erste Holocaust-Film, ein Holo-
caust-Film, in dem wir Deutsche die Juden spielen. […] Die undankbare Rolle der Deutschen wird freundlicherweise von den Russen übernommen.«76
»Und noch etwas kann das Fernsehen, was der Film nicht kann: Es kann politisch unbequem sein«,77 urteilt der Fernsehkritiker Telemann 1960 im Spiegel
75 Hickethier 2007, 65. Durch den Bedeutungsgewinn des Originalfernsehspiels auch bei mehrteiligen Produktionen ist die Vermeidung der Bezeichnung ›Fernsehroman‹ folgerichtig und konsequent, denn sie verweist und bezieht sich vor allem auf die Stoffgrundlage: den zugrundeliegenden Roman. Das Originalfernsehspiel basiert aber eben nicht auf einer Vorlage, sondern ist eigens für das Fernsehen erschaffen. 76 Martenstein 2001. 77 Das ändert sich Mitte/Ende der 1970er Jahre zunehmend, in denen das Kino als Gegenöffentlichkeit wieder an Bedeutung gewinnt (vgl. auch Fußnote 48).
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mit Blick auf den ersten Teil von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE.78 Von daher überrascht es nicht, dass Hans Scholz in seinem vor dem Sendestart des Deutschen Fernsehens spielenden Roman79 sich den »Filmfritzen Hesselbarth« (11)80 noch negativ über die Verfilmungschancen des Kriegs-Tagebuchs von Jürgen Wilms äußern lässt (65). Für das Fernsehen ist eine Adaption kaum fünf Jahre später möglich – und das in einer erstaunlichen Drastik. »Die anderen […] Folgen« des Mehrteilers, resümiert Hickethier, »waren weniger gewichtig, doch diese blieb – lange Zeit vor HOLOCAUST und SCHINDLERS LISTE – in der Diskussion und irritierte die bundesdeutschen Zuschauer nachhaltig.«81 Die fernsehgeschichtliche Bedeutung von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE macht sich daher heute vor allem an dieser ersten Folgen und der sehr frühen – und visuell sehr eindrücklichen – Thematisierung der Judenvernichtung als Wehrmachtsverbrechen im Zweiten Weltkrieg fest. In diesem Zusammenhang wird der zweite ›Fernsehroman‹ mittlerweile fast ausschließlich diskutiert. Auch mit Blick auf die Thematisierung der NS-Vergangenheit ist ›um 1960‹ eine Umbruchsphase im bundesdeutschen Fernsehen. Eine der Wegmarken ist dabei AM GRÜNEN STRAND DER SPREE. Für die Thematisierung der NS-Zeit im bundesdeutschen Fernsehen der 1950er Jahre stellt Christiane Fritsche fest: »Der Vorwurf, das Fernsehen der 50er Jahre habe den Nationalsozialismus totgeschwiegen, ist nicht haltbar. Die Beiträge über das Dritte Reich bewegten sich jedoch in relativ engen Bahnen: Während Themen wie das Leid der deutschen Bevölkerung ausführlich dargestellt wurden, kamen andere Aspekte wie die Struktur des NS-Regimes, seine ideologischen und politischen Voraussetzungen oder die nationalsozialistische Verfolgungspolitik zu kurz.«82
78 Telemann 1960. 79 Zur Erinnerung: die Rahmenhandlung ist im April 1954 verortet. 80 Scholz 1955, 11; Seitenangaben im Fließtext folgen dieser Ausgabe. 81 Hickethier 1998, 156. 82 Fritsche 2003, 74f. Nach Fritsche lassen sich insbesondere für die 1950er Jahre »zwei thematische Schwerpunkte ausmachen« (74): a) die Darstellung der Deutschen als Opfer (vor allem von Krieg und Zerstörung) – darunter zählt sie auch Beiträge zum Thema Widerstand; und b) die Verhandlung moralischer Aspekte wie ›menschliches Verhalten im Krieg‹ bzw. Verlust der Menschlichkeit. – SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN ist vor allem hinsichtlich des ersten Punktes ein vielsagendes Beispiel (siehe dazu das Eingangszitat von Martenstein).
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Dies ändert sich – zumindest tendenziell83 – in den 1960er Jahren. So stellt die erste großen Dokumentationsreihe zum Nationalsozialismus, die vierzehnteilige Produktion DAS DRITTE REICH (1960/61), ausführlich und detailliert die Judenverfolgung und den Holocaust in der Folge DER SS-STAAT dar; über den Eichmann-Prozess (1961) wird ausführlich berichtet.84 Bemerkenswert von den frühen dokumentarischen Produktionen ist vor allem Peter Schier-Gribowskys Film ALS WÄR’S EIN STÜCK VON DIR…, da er bereits 1959 explizit die NS-Verbrechen benennt und gegen damals oft zu hörende Entlastungsargumente deutlich Stellung bezieht.85 Insbesondere thematisiert Schier-Gribowsky die Verdrängung der 83 Das Leid der deutschen Zivilbevölkerung steht auch später – eigentlich bis heute – immer wieder im Mittelpunkt. Auch Produktionen wie DRESDEN (2006) oder DIE FLUCHT (2007) wird daher oft der Vorwurf gemacht, falsche Geschichtsbilder zu vermitteln. Neuere Forschungen scheinen dies zu belegen. So erzählt Silke Satjukow vom Forschungsverbund Geschichtsaneignungen in der Mediengesellschaft in einem Interview mit der Fachzeitschrift Rundfunk und Gesellschaft: »Wir haben verschiedene Untersuchungen zu den Fernsehproduktionen UNSERE MÜTTER – UNSERE VÄTER, DIE FLUCHT sowie zur Neuverfilmung von NACKT UNTER WÖLFEN durchgeführt. […] Ich möchte das Problem am Beispiel UNSERE MÜTTER, UNSERE VÄTER verdeutlichen. Da haben wir ein halbes Jahr lang Befragungen unter jungen Leuten, aber auch intergenerationell in Familien gemacht und Folgendes festgestellt: Die jungen Zuschauer identifizierten sich mit den Protagonisten, als wären sie ihre Großväter. Sie versuchten – hoch emotionalisiert – zu rechtfertigen, weshalb die beiden Protagonisten Friedrich und Wilhelm damals auf so grausame Weise gehandelt, ja sogar gemordet haben. Diese Identifikation mit den ›Filmhelden‹ führte zu einer Entschuldigung und letzten Endes zu einer Entschuldung. Etwas ähnliches [sic!] geschah bei der FLUCHT. Die Probanden führten in Bezug auf die historische Verantwortung aus: Die deutschen Zivilisten seien hilflose Opfer gewesen. Die eigentlichen Täter seien ›die Russen‹, die nun mit Schimpfwörtern wie ›Bestien‹, ›Schweine‹ oder ›Tiere‹ bedacht wurden.« (Satjukow/Keilacker 2016) 84 Vgl. dazu auch Keilbach 2008. Auch zuvor wurde schon über KZ-Prozesse berichtet, so z. B. in der Dokumentation KZ-SCHERGEN. FILMBERICHT ÜBER DEN PROZESS VOR DEM
SCHWURGERICHT BONN GEGEN DIE EHEMALIGEN SS-HAUPTSCHARFÜHRER
GUSTAV SORGE UND WILHELM SCHUBERT (1959). 85 Die 1957 erfolgte Ausstrahlung von Alain Resnais’ Dokumentarfilm NUIT ET BROUILLARD/NACHT UND NEBEL (F 1956) ist die erste explizite Darstellung bzw. Thematisierung des Holocaust im Deutschen Fernsehen (dies laut Classen 1999, 88ff.). Danach sei der Holocaust erst wieder in AM GRÜNEN STRAND DER SPREE so offen angesprochen worden. ALS WÄR’S EIN STÜCK VON DIR… nennt Classen nicht. Auch bei Fritsche 2003 wird Schier-Gribowskys wegweisende Produktion nicht er-
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NS-Verbrechen und entlarvt die Aussage, man habe ja von nichts gewusst, als Lüge. Diese beiden Produktionen sind auch deswegen so bemerkenswert, weil es »heute als verkürzende Verharmlosung« erscheint, den »Zweiten Weltkrieg darzustellen, ohne die Ermordung der Juden zu thematisieren […]. Dies galt jedoch noch nicht in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, in denen die Darstellung des Massenmordes in den Medien noch selten war.«86 Freimütig geben Passanten in ALS WÄR’S EIN STÜCK VON DIR… bei einer Straßenumfrage bspw. zu, von den NS-Verbrechen gewusst zu haben: vor laufender Kamera.87 Und direkt zu Beginn heißt es im Voice-Over-Kommentar: »Sie erinnern sich doch. Sie wissen doch, was Hitler alles auf dem Gewissen hat. Millionen Juden wurden im Namen Deutschlands ermordet. Oder können Sie ehrlich sagen, ich habe davon überhaupt nichts gewusst? Damals. Aber heute, wissen Sie heute, was damals geschah? Weiß es jeder Deutsche? Oder haben wir, wie oft behauptet wird, diese Zeit aus unserem Gedächtnis gestrichen? Eines steht doch fest: Ohne zu wissen, was damals in unserem Namen geschah, werden wir weder die Vergangenheit noch die Zukunft bewältigen. Wenn Sie wissen wollen, was war und was ist, bitte ich Sie jetzt, uns zu folgen.« (ALS WÄR’S EIN STÜCK VON DIR…, 00:00:19-00:01:01)
Autor Peter Schier-Gribowsky legt »eine ungewöhnlich umfassende Darstellung verdrängter Verbrechen und latenter Gefahr [vor]. Der Film ist Protokoll, Analyse, Appell.«88 Er thematisiert nicht nur den NS-Massenmord, sondern geht auch auf die damals aktuelle Situation ein: Hochrangige Nationalsozialisten leben von üppigen Pensionen, ein ehemaliger Lagerkommandant will von Gräueltaten nichts gewusst haben, eine KZ-Überlebende berichtet vom alltäglichen Antisemitismus in der Bundesrepublik, in den Schulen unterrichten zum Teil ›Unbelehrbare‹ ehemalige Nazis und das ehemalige Konzentrationslager Dachau wird zu allen möglichen Zwecken genutzt – nur nicht als Gedenkstätte. Und in Straßeninterviews kann man noch ganz offen zugeben, dass man von dem wusste, was in den KZ geschah. wähnt. Unklar ist beim jetzigen Forschungsstand, inwieweit bereits Prozessberichte wie DER HUPPENKOTHEN-PROZESS (1955) oder KZ-SCHERGEN. FILMBERICHT ÜBER DEN
PROZESS VOR DEM SCHWURGERICHT BONN GEGEN DIE EHEMALIGEN SS-
HAUPTSCHARFÜHRER GUSTAV SORGE UND WILHELM SCHUBERT (1959) ausführlich auf NS-Verbrechen eingehen; zumindest verwenden sie wohl Bildmaterial aus den Konzentrationslagern (vgl. Lachwitz 2015/2016). 86 Hickethier 2003, 118. 87 Vgl. Hißnauer/Schmidt 2013. 88 Ebd., 91.
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Wie bereits zu Beginn der Produktion, so werden auch am Ende die Zuschauerinnen und Zuschauer ganz direkt angesprochen: »Es liegt allerdings an jedem Einzelnen selbst, ob er aus der Vergangenheit sinnvolle Lehren zieht. Was geschah mit den Juden? Wie konnte es dazu kommen? Wie ist die Einstellung zu unseren jüdischen Mitbürgern heute? Das sind Fragen, an denen kein Deutscher achtlos vorbei gehen kann […].« (ALS WÄR’S EIN STÜCK VON DIR…, 01:07:4401:08:03)
ALS WÄR’S EIN STÜCK VON DIR… ist ein Stück gegen das Vergessen und gegen das Verdrängen – nicht nur der Vergangenheit. Auch im Fernsehspiel jener Zeit werden immer wieder verschiedene Aspekte der NS-Herrschaft oder der (alltäglichen) Verantwortung, Verstrickung und Schuld aufgegriffen – auch wenn die explizite Darstellung des Holocaust in der Regel vermieden wird.89 Dabei ging es vor allem in den 1950er Jahren immer wieder um den sog. ›Befehlsnotstand‹: »Die Frage von Schuld und Verantwortung wurde in einen Konflikt zwischen Gewissen und (militärischem) Gehorsam überführt, aus dem es keinen Ausweg gab, und der dementsprechend mit dem Selbstopfer enden mußte. Schließlich spiegelte sich in zahlreichen Fernsehspielen der 50er Jahre eine existenzphilosophische Sicht, in der das Individuum als Antagonist übermächtiger, versubjektivierter Prinzipien zu bestehen hatte […].«90
In den 1960er Jahren hingegen ging es vor allem »um die ›braunen Leichen im Keller‹ der zeitgenössischen Wohlstandsgesellschaft«91, womit die Verdrängung der Schuld und die Verlogenheit der Nachkriegsgesellschaft zum eigentlichen Gegenstand vieler Fernsehspiele wurden. »Das Thema wurde damit freilich auch ziemlich umstandslos in eine Gegenwartsproblematik überführt, wobei den konkreten historischen Konstellationen der NS-Zeit oft nur mehr illustrative
89 Zu nennen sind hier beispielsweise DER SCHLAF DER GERECHTEN (1962), ANFRAGE (1962), AKTE WILTAU (1964), AKTION T4 (1964), GEHEIMBUND NÄCHSTENLIEBE (1964), ZWEI TAGE VON VIELEN (1964) oder HELM (1967). Eine detaillierte, nicht primär inhaltsanalytisch orientierte Aufarbeitung der Thematisierung von Aspekten der NS-Vergangenheit im Fernsehspiel der 1950er und 1960er Jahre und den entsprechenden Inszenierungsweisen und Ästhetiken fehlt – mit Ausnahme einiger Einzelfallbzw. Beispielanalysen – bislang. 90 Classen 1999, 156. 91 Ebd.
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Bedeutung zukam.«92 – Positiv gewendet: Viele Fernsehspiele thematisierten gesellschaftliche Kontinuitäten – vor allem personelle – zwischen dem sog. Dritten Reich und der Bundesrepublik Deutschland. Allerdings scheint mir die Einschätzung Classens etwas vereinfacht. So zeigen z. B. die Fernsehspiele EIN TAG – BERICHT AUS EINEM DEUTSCHEN KONZENTRATIONSLAGER 1939 (1965) und KADDISCH NACH EINEM LEBENDEN (1969) den KZ-›Alltag‹. DIE ERMITTLUNG (1966)93 ist eine Dramatisierung des sog. Auschwitz-Prozesses (1963-1965), um den es auch – zumindest teilweise – in MORD IN FRANKFURT (1968) geht. (In den beiden letztgenannten Produktionen geht es damit auch um den damaligen Umgang mit der Vergangenheit, aber insbesondere in DIE ERMITTLUNG steht das Lagersystem und die alltägliche Gewalt des Massenmords im Mittelpunkt.) Daher betont auch Julia Noah Munier mit Blick auf AM GRÜNEN STRAND DER SPREE: »Umgelters Film ist damit Teil einer sich in der westdeutschen Gesellschaft am Anfang der 1960er Jahre vollziehenden erinnerungskulturellen Fokusverschiebung weg von einer auf der weitgehenden Verdrängung der NS-Verbrechen und der Integration der NS-Täter und -Täterinnen beruhenden Phase der Demokratisierung sowie einer auf das eigene Leid und die ›deutschen Opfer‹ geprägten Perspektive,94 [sic!] hin zu einer […] gesteigerten Aufmerksamkeit gegenüber den von Deutschen begangenen ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ und dem fabrikmäßig organisierten Genozid an zwei Dritteln der europäischen Juden.«95
In AM GRÜNEN STRAND DER SPREE zeigt Fritz Umgelter bereits 1960 quälend lang eine Massenerschießung; sie gilt als erste explizite Visualisierung des Holocaust im bundesdeutschen Fernsehen.96 Es handelt sich um eine Szene, die 92 Ebd. 93 Dabei handelt es sich um eine Fernsehbearbeitung des gleichnamigen Stücks von Peter Weiss (1965), welches zu der damals populären Form des Dokumentartheaters zählt. 94 Dies sieht man so noch in SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN. 95 Munier 2017, 126. Schier-Gribowsky findet in seiner Dokumentation ALS WÄR’S EIN STÜCK VON DIR… eine visuelle Lösung, um dieses fabrikmäßige Töten darzustellen, wenn er mit der Kamera lange Aktenschränke abfährt, deren Schubladen sich nach und nach öffnen und eine unüberschaubare Zahl an Karteikarten freigeben: Jede einzelne steht für ein Schicksal. 96 In der ersten Folge bedient sich Umgelter dabei vor allem »einer Ästhetik des Zeigens durch das Nichtzeigen« und »arbeitet mit der Ikonographie des Holocaust, die aus den
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»auf allgemeinen Unglauben stieß, obwohl sie urkundlich bewiesen ist«, so Der Spiegel 1960.97 Für Die Zeit zeichnet sich die erste Episode des Fünfteilers – DAS TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS – »dadurch aus, daß er mit der tausendfältig belasteten, keineswegs überwundenen Vergangenheit so mutig aufrichtig und nichts beschönigend abrechnet, wie das bisher kein Film gewagt hat«.98 Der oft beschworene »Entlarvungsschock«99, zu dem die Ausstrahlung der US-amerikanischen Mini-Serie HOLOCAUST (1978, deutsche Ausstrahlung 1979) geführt haben soll100, ist von daher vielleicht aus individueller Sicht nachvollziehbar, weil die dramaturgisch wie eine Soap funktionierende Serie vor allem emotional berührte, er widerspricht aber der vorherigen Präsenz des Themas im bundesdeutschen Fernsehen (bzw. in den Medien allgemein). Nichtsdestotrotz führte HOLOCAUST sicherlich auch dazu, dass insbesondere die Judenvernichtung in Fernsehfilmen und Mehrteilern verstärkt auch als emotionales Drama erzählbar wurde. Hervorzuheben ist, dass Umgelter – anders als die Buchvorlage – die Massenerschießung als Verbrechen der Wehrmacht thematisiert: In der Sequenz ist auf den Armbinden der lettischen Volksarmisten »Im Dienst der Deutschen Wehrmacht« zu lesen.101 Das ist deswegen so besonders, weil damals das Bild der ›sauberen Wehrmacht‹ auch im Fernsehen kultiviert wurde.102 So stellt sich die Wehrmacht zusammen mit der einfachen Bevölkerung z. B. in dem Dokumentarspiel DIE BRÜCKE VON REMAGEN (1967) gegen die als ideologisch verblendet dargestellte SS. Erst mit der sog. Wehrmachtsausstellung Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 (ab 1995) und Daniel Goldhagens Buch Hitler’s Willing Executioners: Ordinary Germans and the Holocaust/Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der HoloDokumentaraufnahmen bekannt ist« (Hickethier 2003, 125). Gezeigt werden z. B. keine Leichenberge, sondern lediglich Schuhhaufen, die symbolisch für die Erschossenen stehen. 97
N. N., 1960, 26.
98
Müller 1960, 28.
99
Becker 1980, 184.
100 Vgl. auch Märthesheimer/Frenzel 1979; Classen 2004. 101 Vgl. Sequenz 01:24:15-01:24:27 (die Armbinden werden mehrfach in Detailaufnahme gezeigt). Im Buch ist nur von »[l]ettischen Zivilisten […] mit weißen Binden« (58) zu lesen, die unter der Aufsicht deutscher Polizisten [!] stehen. Während die Verfilmung aus der Massenerschießung ein Verbrechen der Wehrmacht macht, thematisiert das Buch mit diesem kurzen Hinweis die Rolle der Polizeibataillone. 102 Daher ist nicht ganz nachvollziehbar, warum Bruns/Dardan/Dietrich noch 2012 behaupten, dass AM GRÜNEN STRAND DER SPREE »[d]en Dualismus der vermeintlich sauberen Wehrmacht und der ›bösen‹ SS [fort]schreibt« (28).
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caust (1996, deutsch 1996) beginnt eine breite öffentliche Auseinandersetzung mit der Rolle der Wehrmacht im Dritten Reich. AM GRÜNEN STRAND DER SPREE ist daher nicht nur zeitlich ein frühes Beispiel für die Aufarbeitung der NS-Zeit im Fernsehspiel, sondern bemerkenswert, weil der Fünfteiler auch dieses Thema vorwegnimmt. In der zeitgenössischen Rezeption scheint dieser Umstand keine Rolle gespielt zu haben.103 Lars Koch sieht dennoch in dem Film »Parallelen und Berührungspunkte mit verbreiteten apologetischen und relativierenden filmisch-fiktionalen und nichtfiktionalen Auslegungen der NS-Vergangenheit aus den fünfziger und frühen sechziger Jahren«104 – auch wenn AM GRÜNEN STRAND DER SPREE dazu »eine ambivalente Stellung«105 einnehme. Hier lässt sich aber entgegenhalten, dass AM GRÜNEN STRAND DER SPREE genau diese Haltungen (›innere Emigration‹ bzw. die Idee von der Wehrmacht als ›Keimzelle des Widerstandes‹) reflektiert und als Entschuldungs- oder zumindest Entlastungs-Strategien offenlegt.106 Martina Thiele spricht mit Blick auf die 1960er Jahre von der auf »hohem Niveau geführten Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit« im bundesdeutschen Fernsehen (auch wenn Beispiele wie das erwähnte Dokumentarspiel DIE BRÜCKE VON REMAGEN nicht immer dafür sprechen mögen).107 ›Um 1960‹ steht hier für den Beginn der umfassenden und zunehmend kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit mit den genannten Beispielen (ALS WÄR’S EIN STÜCK VON DIR…, 1959; AM GRÜNEN STRAND DER SPREE, 1960; DAS DRITTE REICH, 1960/61; ANFRAGE, 1962).
103 Auch wenn der Roman nicht am Bild der ›sauberen Wehrmacht‹ kratzen will, so ist doch auch der Hinweis auf die Verstrickung der Polizei in die NS-Verbrechen und die Judenvernichtung für jene Zeit m. E. erstaunlich. In der breiten Bevölkerung wurde dies erst mit Christopher R. Brownings Buch Ordinary Men: Reserver Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland/Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen (1992, deutsch 1993) bzw. im Zuge der sog. Goldhagen-Debatte bekannt. 104 Koch 2002, 80. 105 Ebd., 82. 106 Vgl. dazu Hißnauer 2019a. 107 Thiele 2007, 108. Schon in der zeitgenössischen Kritik waren insbesondere die Dokumentarspiele des ZDF in ihrer Auseinandersetzung mit der NS-Zeit sehr umstritten (vgl. Hißnauer 2010/2011).
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›Um 1960‹: Aufbruch in die Fernsehzeit Das bundesdeutsche Fernsehen befindet sich ›um 1960‹ in mehrfacher Hinsicht in einer Umbruchphase. Die Zeit der halbwegs improvisierten Experimente endet, das Fernsehen professionalisiert und politisiert sich. Es macht dem Kino und sich selbst Konkurrenz, indem es filmischer und serieller wird, ein Gedächtnis entwickelt und eigene Erinnerungskulturen entwirft. Es wird zur »Alltagsgewißheit«108 einer neuen Fernsehöffentlichkeit. Die 1960er Jahre werden zum Jahrzehnt des Fernsehens. Die fernsehhistorische Bedeutung der Verfilmung von Am grünen Strand der Spree lässt sich nur durch die spezifischen Rahmenbedingungen ›um 1960‹ verstehen, die ich hier zu skizzieren versucht habe. Dass der ›Fernsehroman‹ dabei heutzutage fast ausschließlich aufgrund seiner ergreifenden Darstellung des Völkermordes an den Juden rezipiert wird, wird ihm nicht gerecht – auch wenn das sicherlich eine seiner größten Leistungen ist. In dieser Deutlichkeit blieb AM GRÜNEN STRAND DER SPREE lange unerreicht. Für die Seriengeschichte ist die Zeit ›um 1960‹ aufgrund der sich anbahnenden Konkurrenzsituation interessant, die die Serienproduktion anregte. Zwar gab es schon, wie gezeigt, zuvor einige serielle Produktionen, aber Serien wurden dann ›um 1960‹ programmstrategisch wichtig. Im regional ausgestrahlten vorabendlichen Werberahmenprogramm waren dies vor allem Episodenserien (bspw. UNTERNEHMEN KUMMERKASTEN, 1961-1962). Im Hauptprogramm startete hingegen die erste langlaufende – und stilprägende – Krimireihe STAHLNETZ (1958-1968). Episodenserien wie ›DIE HESSELBACHS‹109 (1960-1967) waren dort noch eher selten, was sich dann mit dem Erfolg von DER KOMMISSAR (19691976) ändert. Dominant als serielle Form waren im Abendprogramm Mehrteiler, die es seit 1959 im Deutschen Fernsehen gab: GESUCHT WIRD MÖRDER X, der erste ›Durbridge‹ (DER ANDERE) und SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN; 1959 war so auch das Geburtsjahr des ›Straßenfegers‹. Das Fernsehen entdeckt sich ›um 1960‹ auch als Akteur im politischen Diskurs. Innerdeutsche Zustände und die Aufarbeitung der NS-Zeit werden zu wichtigen Themen im Fernsehdokumentarismus, im Magazinjournalismus und im Fernsehspiel. All diese Aspekte kulminieren in AM GRÜNEN STRAND DER SPREE: Ohne die drohende Programmkonkurrenz, einen Professionalisierungsschub aufgrund des 108 Hickethier 1998, 198. 109 Dabei handelt es sich eigentlich um DIE FIRMA HESSELBACH (1960-1961), DIE FAMILIE HESSELBACH (1961-1963) und HERR HESSELBACH UND … (1966-1967). Zuvor gab es schon eine Radioserie und mehrere Kinofilme zu diesem Komplex.
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gestiegenen Gebührenaufkommens, die zunehmende Filmisierung des Fernsehspiels, eine erste Serialisierung des Programms und die Politisierung des Fernsehens wäre eine solche Sendung 1960 nicht denkbar gewesen. Wie keine andere Produktion spiegelt AM GRÜNEN STRAND DER SPREE diese Umbruchzeit des bundesdeutschen Fernsehens wider und kann daher als wichtige Wegmarke in der Entwicklung des Programms gesehen werden. An dem populären ›Fernsehroman‹ scheint die Spezifik des Fernsehens ›um 1960‹ auf: Ohne die Vierundzwanzigstundendauerberieselung einer unübersichtlichen Senderlandschaft war Fernsehen schwarz-weiß, detaillos, kontrastarm, unscharf – und prägend.
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›Quality TV‹ made 1960 Aspekte serieller Komplexität im frühen deutschen Fernsehen Stephanie Heck
Sie befinden sich endlich auf dem Vormarsch und brauchen sich vor ihrer internationalen Konkurrenz auch nicht mehr zu verstecken: die deutschen Serien, so der Grundtenor im aktuellen Feuilleton. Mit BABYLON BERLIN, DARK, BAD BANKS, 4 BLOCKS oder HINDAFING sei nun das Zeitalter der »neuen deutschen Serie«1 eingeläutet worden.2 Bis vor kurzem klang dies noch anders, dienten die deutschen (Fernseh-)Serien am Höhepunkt der feuilletonistischen ›Quality TV‹Debatte3 in den Jahren 2012 und 2013 noch als Negativfolie für die dominierende angloamerikanische und skandinavische Serienlandschaft. Die hiesige Fernsehproduktion stelle »eine deutsche Kulturtragödie«4 dar, Deutschland sei in Bezug auf innovative Formate ein »Zauderland«5, so dass die inländischen Serien im Allgemeinen als »schlecht«6 und »mies«7 abqualifiziert wurden. Georg Diez und Thomas Hüetlin sprachen vor dem Hintergrund einer erkannten Vergleichbarkeit der ›Qualitätsserien‹ mit den großen Gesellschaftsromanen des 19. Jahrhunderts sogar von einer »literarischen Barbarei«8, in der sich die bun-
1
Priesching 2018; teilweise spricht man auch von einer ›neuen deutschen Welle‹ (vgl. hierzu u. a. Gärisch 2018).
2
Vgl. Ströbele 2017.
3
Christoph Dreher (2014, 15) bezieht diesen Höhepunkt im Jahr 2013 unter anderem
4
Gorkow 2013.
5
Diez/Hüetlin 2013, 130.
6
Ebd., 131.
7
Pilarczyk 2012.
8
Diez/Hüetlin 2013, 133.
auf den Erfolg der letzten Staffelhälfte von BREAKING BAD.
224 | Stephanie Heck
desrepublikanische Fernsehöffentlichkeit befinde. Selbst die anschließenden Besprechungen zum deutschen Fernsehen und zur deutschen Serienlandschaft, die an Schärfe verloren hatten, erheben die US-amerikanische Produktion nach wie vor zu einer ultimativen Vergleichsgröße bei der Bewertung deutscher Serien.9 Falls überhaupt ein Blick zurück in die deutsche Fernsehhistorie gewagt wird und es dabei nicht bei der mittlerweile fast schon standardisierten Nennung der jüngeren Musterexempel wie Dominik Grafs IM ANGESICHT DES VERBRECHENS (2010) und Friedemann Fromms WEISSENSEE (2010-2018) bleibt, sind es vornehmlich Produktionen aus den 1970er und 1980er Jahren, die bis heute als positive wie auch als negative Beispiele für die jeweilige Argumentation vereinnahmt werden – darunter MONACO FRANZE (1981-83) und KIR ROYAL (1986) von Helmut Dietl sowie die HEIMAT-Trilogie (1981-2013) von Edgar Reitz oder die Mehrteiler Dieter Wedels. Trotz der verstärkten feuilletonistischen Beschäftigung bleibt eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Spezifika der deutschen Serienlandschaft unter der Perspektive narrativer wie ästhetischer Strukturen noch immer ein Forschungsdesiderat.10 Der Diskurs über ›Quality TV‹ konnte zwar die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf die Fernsehserie und ihre Möglichkeiten lenken, so dass er auch die seit den 1970er Jahren bemerkbaren Bestrebungen beförderte, das Medium Fernsehen zu einem anerkannten Gegenstand akademischer Untersuchungen zu machen.11 Die damit entfachte wissenschaftliche Auseinandersetzung verfolgt dabei aber bisher entweder nur die Aufarbeitung oder Kritik des Qualitätsseriendiskurses oder beschränkt sich mehr oder weniger 9
Exemplarisch sei auf das Medienecho zu DEUTSCHLAND 83 verwiesen, einer Serie, deren Orientierung an amerikanischen Produktionen als besondere Qualität hervorgehoben wurde. Als ›Ritterschlag‹ wurde dann die Erstverwertung der Dramaserie durch den amerikanischen Pay TV-Kanal Sundance TV bewertet (vgl. u. a. Denk 2015; Riehl 2015).
10 »Die Zahl der deutschen Produktionen, die zum wissenschaftlichen Objekt der Begierde werden, hält sich in überschaubarem Rahmen.« (Martens 2014, 269f.) Einen Überblick über die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem ›Quality TV‹Diskurs bietet u. a. Borsos 2017. 11 Die Forderung nach einer Hinwendung zum Fernsehen und zu seinen seriellen Formen als Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft kam in den 1970er Jahren zuerst bei Kreuzer und Schanze auf. Kreuzer begründet sie mit Einsichten in die eigenständigen ästhetischen Qualitäten von Fassbinders ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG (1972/73), das er als frühestes deutsches Serienexempel von Bedeutung anführt (vgl. Kreuzer 2009, 162f.; zudem Klein/Hißnauer 2012, 20; schließlich zuvor Schanze 1972).
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ausschließlich auf Analysen angloamerikanischer oder skandinavischer Serienformate.12 Detaillierte Untersuchungen deutscher Fernsehserien unter synchroner wie diachroner Perspektive, was inhaltliche und formale Spezifika sowie die historische Entwicklung der Serienkultur angeht, fehlen bislang weitgehend; als Ausnahme kann nur die Forschung zur ARD-Reihe TATORT gelten.13 Im Folgenden wird in diesem Rahmen eine Analyse von Fritz Umgelters AM GRÜNEN STRAND DER SPREE aus dem Jahr 1960 vorgenommen. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf die Charakteristika gelegt werden, die im ›Quality TV‹-Diskurs als ästhetische wie erzähltechnische Implikationen serieller Komplexität gelten. Angestrebt wird eine historische Vertiefung der Auseinandersetzung mit ›Qualitätsserien‹. Der aus der Frühphase der bundesdeutschen Fernsehgeschichte stammende Mehrteiler, ein zeitgenössisches »Fernseh-Opus der Superlative«14, weist nämlich bereits all jene Merkmale auf, die im Diskurs über ›Quality TV‹ als ›innovativ‹ und ›anspruchsvoll‹ gelten. Serielle Komplexität entsteht bei diesem ›Straßenfeger‹ durch strukturelle Merkmale, die in der kombinatorischen Wiederkehr experimentelle Mehrfachcodierungen erzeugen.15 Zu den Merkmalen serieller Komplexität gehören einerseits diverse narrative wie formal-stilistische Strukturelemente; andererseits ist der multivalente Verbund dieser Strukturelemente kennzeichnend.16 Das entstehende Netzwerk lässt Mehrfachverbindungen gleichberechtigter Komponenten zu und erhält seine perspektivische Anreicherung wiederum durch die Rahmung kraft einer übergreifenden, leitmotivisch variierten Thematik. Daraus resultiert 12 Vgl. u. a. Schlütz 2016; Lillge/Breitenwischer/Glasenapp/Paefgen 2014; Dreher 2014; Blanchet/Köhler/Smid/Zutavern 2011; Meteling/Otto/Schabacher 2010; Seiler 2008 sowie Schneider 1995. Die vorliegenden Studien zur deutschen Fernsehgeschichte berücksichtigen in der Regel nicht die Aspekte der formal-stilistischen wie narrativen Komplexität auf Basis des ›Quality TV‹-Diskurses. Zu den wenigen Ausnahmen gehört eine Untersuchung zur Stilgeschichte des Fernsehens und der Fernsehserie (vgl. Bleicher/Link/Tinchev 2010). 13 Vgl. Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014a/b. Darüber hinaus finden sich vereinzelte Aufsätze, die sich mit dem deutschen ›Quality TV‹ im Rahmen des seit 2012 bestehenden interdisziplinären Projekts Living Handbook of Serial Narration on Television beschäftigen (siehe dazu das Journal of Serial Narration on Television sowie die Sammelbände und Monographie von Nesselhauf/Schleich 2014/2015a/2015b/2016); vgl. zudem Mikos 2012. 14 N. N. 1960, 48. 15 Vgl. dazu die Definitionen serieller Komplexität bei Rothemund 2012, 55-79, 225-235 passim. 16 ›Multivalent‹ nennt Rothemund eine Komposition, die mehrere Deutungen zulässt.
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die im ›Quality TV‹-Diskurs oft verhandelte Angleichung der Fernsehserie an den ›cinematografischen‹ Stil, so dass der serielle Aufbau die Fortsetzung und Potenzierbarkeit der ästhetischen wie narrativen Gestaltung eines komplexen Kinospielfilms ermöglicht.17 Narrative Anlage und dramaturgische Gestaltung Die Fernsehproduzenten erkannten rasch das vorhandene Potenzial des Bestsellers Am grünen Strand der Spree für eine medienübergreifende Umsetzung.18 Neben der Fülle an Orts- und Zeitwechseln eignete sich v. a. auch die passagenweise stark dramatisierte Dialog- und Szenengestaltung für eine filmische Umsetzung.19 Dabei spielt die Grundstruktur eines populären Werks hinein20, die aus der Kombination von episodenhaft abgeschlossenen und tendenziell unabgeschlossenen Handlungsbögen hervorgeht. So finden die eingelagerten Erzählungen in der exemplarischen Verhandlung ihrer jeweiligen Thematik einen Abschluss. Die im Fokus stehenden Protagonisten durchlaufen einen Erkenntnisprozess; sie fällen eine Entscheidung hinsichtlich ihres Verhaltens und werden mit den sich ergebenden Konsequenzen konfrontiert. Die intra- wie metadiegetischen Erzählungen entsprechen in ihrer Ausgestaltung demnach der dramaturgischen Episodenstruktur serieller Formate.21 Der Konflikt, der den jeweiligen Kern der abgeschlossenen Episodenhandlung darstellt und an der zugrundeliegenden Thematik ausgerichtet ist, wird auch in Umgelters Verfilmung stets von außen an die Protagonisten herangetragen.22 Hierdurch entsteht eine meist tragische Wirkung in den eingelagerten Erzählungen.23 Die Protagonisten durchlaufen den Erkenntnisprozess, der von einer Frauenfigur angestoßen wird, so dass sie lediglich eine marginale, keine grundsätzliche charakterliche Veränderung erfahren.24 17 Die durch Werkanalysen ermittelten Ausprägungen serieller Komplexität können einem Defizit der ›Quality TV‹-Debatte entgegenwirken, die eine Definition der postulierten Komplexität nicht selten schuldig bleibt (vgl. hierzu die Forschungsübersicht bei Rothemund 2012, 37f. passim). 18 Vgl. u. a. N. N. 1959, 90f.; zudem Heck/Lang 2018. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. Hickethier 2007, 117-120; Eschke/Bohne 2010, 138-141. 22 Vgl. ebd. 23 Die letzte, von Bob Arnoldis vorgetragene Binnenepisode kann hingegen dem Komischen zugeschrieben werden. 24 Vgl. zu dieser allgemeinen Strukturierungsoption Eschke/Bohne 2010, 141.
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Die Einzelfolgen von Umgelters Mehrteiler sind in ihrer Episodenstruktur darüber hinaus von einer Dreistrangdramaturgie getragen, die die jeweilige Handlung in drei parallel verlaufende, ineinander verschränkte Subplots25 aufteilt: Der erste Erzählstrang beinhaltet das zentrale (Kriegs-)Geschehen, während der zweite als sog. private line den Beziehungskonflikt ausführt. Diese beiden Handlungslinien finden in jeder Episode eine Ergänzung durch einen weniger dominanten Subplot, der aus der Begegnung mit einer Nebenfigur besteht und nicht selten komische Elemente in die Handlung einbringt.26 Dieser jeweils symmetrisch organisierte und in sich abgeschlossene Handlungsverlauf wird ab der dritten Episode durch die Fortführung der zentralen Liebeshandlung um ›Babsybi‹ Bibiena und Hans-Wratislaw von Zehdenitz-Pfuell respektive Peter Koslowski ergänzt, wobei sich die inhaltliche Weiterführung auf alle Erzählebenen des Mehrteilers erstreckt und die private line somit zum dominierenden Handlungsstrang wird. So wird dieser sich horizontal über drei Episodenfolgen erstreckende Handlungsstrang am Ende des ›TV-Romans‹ durch das Zusammenführen des Liebespaares zwar zu einem vordergründigen Abschluss gebracht, die Zukunft des Paares bleibt im Gegensatz zur literarischen Vorlage aber tendenziell offen.27 In dieser seriellen Verknüpfung und inhaltlichen Ausgestaltung lassen die fünf Folgen eine immer dominanter zu Tage tretende Leitmotivik erkennen, die sich aus dem Prinzip einer alles bestimmenden Schicksalsmacht sowie der Wiederkehr der handelnden Figuren auf (auch historisch) verschiedenen Ebenen er-
25 Vgl. ebd., 131f. 26 Die Gliederung des Plots einer eingelagerten Erzählung in drei Erzählstränge ist auch für die gesamte Rahmenhandlung nachweisbar: Die Einführung von Major a. D. Lepsius stellt den A-Strang dar, während die Bemühungen um die Vereinigung von Peter Koslowski und Barbara Bibiena den B-Strang bilden. Das Direktorenpaar Gatzka, das später zur Herrenrunde hinzustößt, repräsentiert schließlich den C-Strang. 27 Im Roman nimmt die Herausgeberfiktion die Heirat von Barbara Bibiena und Peter Koslowski, den neuerlichen Aufbau des im Besitz der Familie Bibiena stehenden Hauses am Roseneck und den Einzug des Ehepaares in dieses Haus vorweg, während Umgelters Mehrteiler seine Zuschauer lediglich mit der gemeinsamen Fahrt der beiden Protagonisten in einen neuen Morgen und damit in eine noch ungewisse Zukunft entlässt. Ebenso ungewiss bleibt der weitere Lebensweg des ehemaligen Majors Lepsius, der innerhalb des Romans eine durch ›Babsybi‹ vermittelte Anstellung bei der America-Meridional in Brüssel erhält. Die Frage nach dem weiteren Verlauf von Jürgen Wilms Kriegsgefangenschaft bleibt hingegen in beiden Umsetzungen ungeklärt (vgl. Scholz 1955, 5, 365f. sowie 370; CI, 01:23:50-01:29:38).
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gibt. Die Schicksals- und Reinkarnationsmotivik bereits des Romans28 dient der inhaltlichen Verbindung und Bündelung der Erzählstränge und -ebenen, indem sie die prozessuale Entfaltung des Erzählrahmens bzw. die Motivationen zum Erzählen unterstützt. Die Leitmotivik lässt eine zunehmende Verflechtung zwischen der Rahmenerzählung und den episodischen Binnenerzählungen erkennen, so dass die Folgen drei bis fünf stärker als die vorangehenden Teile miteinander verknüpft werden. Zentrales Thema des Fernsehmehrteilers AM GRÜNEN STRAND DER SPREE ist das Verhalten des Einzelnen in Kriegs- und Nachkriegszeiten. Referenzpole des individuellen Verhaltens sind dabei immer wieder Pflichtbewusstsein, Treue und Patriotismus sowie neben gesellschaftlich geprägten Moralvorstellungen vor allem Freundschaft, familiäre Bindungen und Liebe. Eng mit dieser thematischen Ausrichtung verbunden ist die immer wiederkehrende Schuldfrage neben der Frage nach der medialen Prägung von Weltbildern. Während die stark reflexive Gestaltung von Roman und Verfilmung die mediale Vermitteltheit eines Geschehens präsent hält und so auch die damit einhergehende medial beeinflusste individuelle (Welt-)Wahrnehmung hinterfragt29, wird die Schuldfrage in Bezug auf den Einzelnen wie auf das Kollektiv verhandelt. In AM GRÜNEN STRAND DER SPREE treten die Protagonisten der Rahmenhandlung in dem für serielle Strukturen charakteristischen Ensembletyp des Freundeskreises auf.30 Die Gemeinsamkeiten der Figuren Hans Schott, Georg Hesselbarth und Bob Arnoldis erstrecken sich dabei vor allem auf soziologische Aspekte, stellen sie doch allesamt Medienfachleute und somit Vertreter der neuen Nachkriegspopulärkultur dar, was der Ausgestaltung des Fünfteilers eine zusätzliche reflexive Komponente hinzufügt. Auf der Ebene der Rahmenhandlung nehmen der ehemalige Major Hans-Joachim Lepsius und der kriegsversehrte Schauspieler Peter Koslowski eine exponierte Stellung ein, insofern sie im Zentrum der beiden Handlungsziele stehen und sich in ihrer Entwicklung auch durch eine spezifische Fallhöhe vom restlichen Freundeskreis abheben. Das Figurenensemble der Einzelfolgen mitsamt seinem für den fernsehspezifischen Kontext bislang ungewöhnlich großen Ausmaß an Neben- und Episodenrollen ist hingegen von einer typisierten Orchestrierung entlang der zentralen Thematik des Mehrteilers bestimmt. So entsteht, wie auch Lars Koch betont, 28 Vgl. dazu im einzelnen Heck/Lang 2018, 238f. 29 Die Frage nach der Beteiligung von Medien bei der Konstruktion von Weltbildern gewinnt im soziokulturellen Kontext der beiden Weltkriege ihre eigene Brisanz. 30 Für die im Folgenden verwendeten Kategorien der Figurenanalyse vgl. Eschke/Bohne 2010, 42-89; im Hinblick auf Figurentypologien und -konstellationen Hickethier 2007, 121-125.
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eine wiederkehrende In-Group-/Out-Group-Konstellation innerhalb des Figurenarsenals.31 Den weiblichen Hauptfiguren der Binnenepisoden – darunter die namenlose Jüdin in der ersten und die norwegische Svånhild Magnussen sowie die sommersprossige Hannah in der zweiten und dritten Folge – kommt im Rahmen der jeweiligen Episodendramaturgie eine katalysatorische Funktion zu, insofern durch sie der zentrale Wendepunkt beziehungsweise das Erkenntnismoment für die männlichen Protagonisten herbeigeführt wird.32 Es ist jedoch zu betonen, dass die Figurengestaltung im Blick auf die Bewertung von individuellem Verhalten auch bei den Neben- bzw. Episodencharakteren intrapersonale Ambivalenzen präsent hält, diese also keineswegs einseitig gestaltet: Hauptmann Rahn, Offizier Hahneberg, Major a. D. Lepsius sowie der General von Hach und zu Malserhaiden nehmen sich tendenziell widersprüchlich zu der üblichen schematischen Typendarstellung zwischen dem ›guten‹ Wehrmachtssoldaten und den ›bösen‹ Führungsoffizieren und SS-Angehörigen aus.33 Insgesamt weist der Fünfteiler somit einige grundlegende Charakteristika der sog. ›flexi-narrative‹ auf.34 Im begrenzten Rahmen einer frühen Miniserie ermöglicht AM GRÜNEN STRAND DER SPREE durch den Einsatz multipler Handlungsstränge in einem großen Figurenensemble sowie durch die Kombination verschiedener Formatformen innerhalb des gesamten Aufbaus einen multiperspektivischen Zugang zur zentralen Thematik.35 Diese Gestaltung zeichnet sich 31 Vgl. Koch 2007, 71-84, 77f. 32 Die positiv konnotierten Frauenfiguren werden dabei allesamt zur einzigen weiblichen Angehörigen der Jockey-Runde, Barbara Bibiena, ins Verhältnis gesetzt: Hannah lässt den Kriegsschaulustigen Ettore seine humanitäre Pflicht als Ersthelfer erkennen; ebenso löst das Hilfsgesuch Svånhilds die Entscheidung des Generals aus, dem sich auf der Flucht befindlichen Sternberg indirekt zu helfen. Darüber hinaus veranlasst die Begegnung mit der jüdischen Zivilistin Jürgen Wilms zwei Mal dazu, selbst und unter Gefahr für sein eigenes Leben aktiv zu werden. In demselben Maße führt sie Wilms zu der Erkenntnis, dass es ein Fehler war, seine vormalige jüdische Geliebte Ruth Esther in Paris zurückzulassen (vgl. PM, 00:40:40-00:41:53; DG, 01:29:34-01:36:50; TJW, 00:30:57-00:40:33; 01:17:02-01:20:18; 01:23:55-01:28:45). 33 Vgl. TJW, 00:19:10-00:19:40, 00:36:58-00:38:55 passim; DG, 00:42:15:00:45:28; 01:13:30-01:22:25; 01:30:45-01:35:38 passim. 34 Vgl. Nelson 1997, 30f., 40 passim; zudem Piepiorka 2011, 47. Jason Mittell geht in diesem Zusammenhang auf die Kombination offener wie geschlossener Handlungsstränge als Merkmal narrativer Komplexität ein (vgl. Mittel 2006, 32). Auf die von Mittell benannte Genrevielfalt wird im Folgenden noch eingegangen. 35 Vgl. Piepiorka 2011, 47; zur Funktion mehrsträngiger, abgeschlossener wie tendenziell offener Handlungsbögen vgl. Nelson 1997, 42. Freilich lassen sich nicht alle
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ferner durch eine nicht linear gestaltete zeitliche Ordnung aus. Auch dies führt zu einer Steigerung der narrativen Komplexität durch einen vielfältigen verzweigten Aufbau.36 Für das von Mittell herausgestellte Präsenthalten des narrativen Modus und dessen Abweichungen von der Erzählchronologie sind hier die Dialogführung, angereichert mit Kommentaren, Reflexionen und Erklärungen, sowie der variantenreiche Gebrauch verschiedener Medien zur Wiedergabe der einzelnen Erzählungen auf der Rahmenebene entscheidend. Nach dem Prinzip des ›erzählten Erzählens‹ im Roman37 wird auch bei Umgelter das Augenmerk reflexiv auf die narrative Konstruktion selbst gelegt, was neben einführenden und abschließenden Formeln auf der Dialogebene durch die betonte Inszenierung von Erzählsituationen und Erinnerungsvorgängen umgesetzt wird.38 Neben der Verlesung schriftlich basierter Vorlagen wird die mündliche bzw. frei improvisierte Wiedergabe von Erlebnissen inszeniert, die wiederum mit der werkintern vom Roman aufgebauten Spannung zwischen Dokumentation und Fiktion parallelisiert werden kann.39 Merkmale, die komplex erzählte Fernsehserien seit den 1980er Jahren bestimmen, auf die Verfilmung Umgelters übertragen. Beispielhaft zu nennen wären dynamische Schnitte, die in seinem Mehrteiler gänzlich fehlen (vgl. Nelson 1997, 36). Hierbei muss jedoch auch der zeitliche Kontext berücksichtigt werden, mitsamt der jeweiligen medienästhetischen Prägung und seinen technisch bedingten Möglichkeiten. 36 Vgl. Mittel 2006, 36f. 37 Vgl. Heck/Lang 2018, S. 238. 38 Zu nennen ist hier das durch Assoziationen hervorgerufene Erzählen Bärbel Krolls im Angesicht des wiedererlangten Soldatenhelmes (BB1953, 01:24:20-01:25:44). Hervorgekehrt wird die einführende bzw. abschließende Erzählsituation mittels formelhaften Sprachgebrauchs: „Es war einmal ein junger Mann, der sich in der Welt umzutun gedachte […]“ (CI, 00:12:34-00:12:37); vgl. zudem: „Im Jahre 1758 reiste der chilenische Grande Ettore da Bibiena mit seiner araukarischen Dienerschaft […] durch Europa“ (PM, 00:12:46-00:12:59); „Und nun hören Sie bitte, was Jürgen Wilms schreibt“ (TJW, 00:09:40-00:09:42). Peter Koslowski verwendet darüber hinaus die tradierte Schlussformel von Märchen: „Und wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch“ (BB1953, 01:44:14-01:44:18). Dass die rahmende Handlung bei einer audiovisuellen Adaption eines Zyklus sonst selten beibehalten bleibt, betont Mielke ebenso wie den Umstand, dass diese im Falle von Umgelters Mehrteiler eine besondere Bedeutung für die diskursive Verhandlung der Kriegsschuld erhält (Mielke 2006, 503). 39 Zu den schriftlich verfassten und daher vorgelesenen Quellen gehören ein Tagebuch, das ursprünglich Fotografien und Briefe zur unterstützenden Beglaubigung der geschilderten Erlebnisse enthielt, zwei Filmmanuskripte in Novellenform sowie eine alte
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Genrehybridität Die Forschung, die sich mit den aktuellen ›Quality TV‹-Serien beschäftigt, führt als ein prägendes Merkmal immer wieder deren Einsatz verschiedener populärer Genres an.40 Diese Genrehybridität beeinflusst nicht nur die filmästhetische Gestaltung der jeweiligen Serien, sondern auch die spezifische Form ihrer Themenvermittlung und Rezipientenansprache.41 Darüber hinaus kann die vielseitige Verwendung unterschiedlichster Genremuster die Selbstreflexivität des seriellen Formats mitbestimmen, insofern sie die Aufmerksamkeit auf die jeweilige Umsetzung lenkt und damit im Sinne einer operationalen Ästhetik funktioniert.42 Der Mix genretypischer Schemata führt demnach eine komplexitätssteigernde Wirkung herbei und garantiert zudem eine größere narrative Gestaltungsfreiheit, da die produktionsbedingte Festlegung auf nur ein Genre mitsamt seinen dazugehörigen Zuschauererwartungen hinfällig wird.43 AM GRÜNEN STRAND DER SPREE zeichnet sich durch eine Genrehybridität aus, die auf die populären Filmgenres des bundesdeutschen Nachkriegskinos rekurriert. Im Rahmen des frühen ›TV-Roman‹-Formats und der eigenen fernsehspezifischen Möglichkeiten absorbiert der Mehrteiler somit das zeitgenössische Kino mit dessen Formkonventionen. Sind DAS TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS und DER GENERAL dem Kriegsfilm zuzurechnen,44 repräsentiert die dritte Folge PREUSSISCHES MÄRCHEN den historischen Ausstattungsfilm, während BASTIEN UND BASTIENNE 1953 als Kriminalfilm respektive film noir gesehen werden kann. CAPRICCIO ITALIEN weist wiederum deutliche Referenzen auf den zeitgenössisch beliebten Musik- beziehungsweise Schlagerfilm auf. Hierdurch positioniert sich der Mehrteiler zum einen selbst als populärkulturelles Werk inFamilienchronik aus dem 18. Jahrhundert. Die mündlichen Erzählungen beruhen hingegen auf individuell gemachten Erlebnissen, wenn sie sich nicht – wie im Falle von Bob Arnoldis – als reine Fiktion erweisen. Diese Erfindung des Schauspielers hat ihren Ausgang wiederum in einem Brief aus dem Tagebuch von Wilms. Solche Reflexivität im Blick auf die eigene narrative Konstruktion wirkt sich auch auf die formalstilistische Gestaltung der einzelnen Episoden aus. 40 Vgl. hierzu u. a. Klein 2012, 225-240, zudem Mittel 2012, 97-122. 41 Vgl. ebd. 42 Vgl. Mittell 2012, 108-115 passim. 43 Vgl. Piepiorka 2011, 101; im Gegensatz hierzu Klein 2012, 229-231, 236f. passim. 44 DER GENERAL kann aber auch als Militärkomödie bzw. -schwank interpretiert werden (vgl. hierzu u. a. Wulff 2012; Brunner 2012). Damit steht die Folge der deutlich kritischer ausgerichteten Kriegssatire und somit dem ›Antikriegsfilm‹ nahe (vgl. Röwekamp 2012).
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nerhalb der Medienlandschaft der späten 1950er Jahre, dies auch eingedenk deren marktbedingten Aneignungsstrategien im Hinblick auf die Konkurrenzsituation zwischen Film und Fernsehen. Zum anderen wird der Formenkanon des Genrefilms, der im öffentlichen Diskurs der Zeit bereits als Einengung empfunden wird, durch die Einbettung in einen anderen medialen Kontext einer neuen Deutungs- und Reflexionsebene unterzogen. Umgelter verwendet die erwähnten Genremuster nicht nur dazu, den Plot zu unterstreichen. Er stellt auch deren Verfahrensweisen aus, indem er sie je nach Episode parodierend überbetont und damit einer kritisch-distanzierenden Lesart unterzieht. Die variantenreiche Umsetzung der Binnenepisoden in der Anverwandlung populärer Genres der Zeit garantiert eine perspektivische Vielfalt im Blick auf die intraseriell verhandelte Thematik des ›Fernsehromans‹. Beispielhaft gezeigt werden kann dies an der zweiten Folge, die über die benannten genretypischen Merkmale hinaus den Heimatfilm45 als beliebtes Genre im Nachkriegskino aufführt. Die Inszenierung der idyllischen Berglandschaft Nordnorwegens durch ausgreifende Panoramaaufnahmen und Totalen, der establishing shot zu Beginn, der den Blick auf das mit traditionellen Fachwerkelementen versehene Offizierskasino freigibt, sowie die melodramatische Liebeshandlung um die Bauerstochter Svånhild Magnussen und den jungen Leutnant von Sternberg sind hierzu anzuführen (DG, 00:05:37-00:06:02; 00:29:0300:29:43; 01:35:40-01:35:58).46 Der für den Heimatfilm konstitutive Generationen- bzw. Hierarchiekonflikt sowie die Darstellung tradierter Rollenbilder schlägt sich im thematischen Grundkonflikt der Binnenepisode nieder, der zwischen dem jungen Leutnant von Sternberg und seinen ›Ersatz-Vätern‹, dem General und Hauptmann Matthäus, entsteht.47 Nicht zuletzt wird der Natur des Nordens mit ihren charakteristischen Wetterphänomenen ein eigener atmosphärischer Wert zuerkannt: Mit der Mitternachtssonne einsetzend, die die Schlaflosigkeit der Wehrmachtsangehörigen und so auch die erst zu später Stunde statt45 In den Jahren zwischen 1951 und 1958 stellte der Heimatfilm ein Drittel der filmischen Gesamtproduktion dar. Insgesamt handelt es sich für die relativ kurze Zeitspanne von sieben Jahren um 236 Filme (vgl. Uka 2002, 71-89, 82). Willi Höfig führt an, dass der Heimatfilm in den Jahren zwischen 1947 und 1960 »etwa ein Fünftel aller Filme« ausmachte (Höfig 1973, VII). 46 Vgl. zu den Motiven und Verfahren des Heimatfilms Höfig 1973, 183-190; Jess 2012; Faulstich 2005, 142; Uka 2002, 82. Bevorzugte Kulissen, die die idyllische Natur in den Vordergrund des spezifischen Heimatverständnisses rücken, sind der Schwarzwald, das Alpen- und Voralpenland sowie die Heide. 47 Vgl. zu diesem Strukturelement des Heimatfilms Jess 2012; zudem Faulstich 2005, 142; Uka 2002, 82f.
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findenden Kasinoabende zur Folge hat, korreliert die Verkündung des Todesurteils gegenüber dem Leutnant mit dem Anbruch des nordischen Winters. Schließlich wird die wiederkehrende Sonne im darauffolgenden Februar mit der gelungenen Flucht Sternbergs verbunden, während ein Gespräch über Nordlichter dem General als Verständigung über den glücklichen Ausgang ebenjener Flucht dient (DG, 00:07:17-00:07:38; 01:13:04-01:13:25; 01:24:48-01:25:00; 01:33:56-01:35:38). Die ungewöhnliche Kombination charakteristischer Elemente von Kriegsund Heimatfilmen erzeugt in dieser Episode eine paradoxe Wirkung. Sie unterstützt die distanzierte, ironisch-satirische Position gegenüber der dargestellten Division und betont die Absurdität der im völligen Abseits in Norwegen stationierten Gruppe. Zugleich lenkt die atypische Verbindung die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen des Genres Heimatfilm selbst, das sich gerade durch seine ihm unterstellten eskapistischen Tendenzen im öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskurs kennzeichnet.48 Stilistische Gestaltung einer neuen Televisualität Bei der formal-stilistischen Gestaltung des Fernsehmehrteilers lässt sich feststellen, dass Fritz Umgelter die gerade erst neu hinzugewonnenen Gestaltungsmöglichkeiten der filmischen Aufnahmetechnik in variantenreicher Form für die fernsehspezifische Realisation der Einzelfolgen nutzt.49 Vor dem Hintergrund einer Fernsehspielästhetik, die noch durch Langsamkeit, Begrenzung und Theaterhaftigkeit geprägt ist, weist Umgelters Verfilmung durchaus eine »self-conscious performance of style«50 auf, die die Wiedererkennbarkeit im Sinne der von Caldwell veranschlagten neuen Televisualität garantiert.51 Äquivalent zur
48 Verwiesen sei hier auf die neuere Forschung, die für den Heimatfilm durchaus zeitaktuelle Bezüge zur Nachkriegswirklichkeit offenlegt und hierdurch die bis dahin geltenden Ansichten zum Genre relativiert. 49 Siehe dazu den Beitrag von Christian Hißnauer in vorliegendem Band. 50 Caldwell 1995, VII. 51 Televisuality beschreibt Caldwell als eine spezifisch visuell-stilistische Gestaltung von US-amerikanischen Serienformaten ab den 1980er Jahren, die in einer ambitionierten Serienästhetik zu einer selbständigen Kategorie erhoben wird. Wegen der inhaltlichen Rückbindung der Darstellungsweise kann dieses Merkmal nicht in vollem Maße für AM GRÜNEN STRAND DER SPREE veranschlagt werden, auch wenn bereits formale Tendenzen in dieser Richtung festzustellen sind. Bleicher negiert die zeitliche Eingrenzung Caldwells hinsichtlich des deutschen Fernsehens, indem sie auf die immer
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stilistischen Vielfalt des Rahmenzyklus, die auf jeder Narrationsebene des Romans einen Wiedererkennungswert generiert und so auch an späterer Stelle das Anzitieren und Aktualisieren vorangegangener Handlungen ermöglicht, findet Umgelter für die Episodenfolgen und die Rahmenhandlung seines Mehrteilers eine je charakteristische Formensprache. Beispielhaft anzuführen wären für die fernsehfilmische Gestaltung der Rahmenerzählung die wiederkehrenden ausgiebigen Kamerafahrten, die das Westberlin der Nachkriegszeit illustrieren, sowie die durch eine statische Kamera und das Schuss-Gegenschuss-Verfahren gekennzeichnete Kammerspielästhetik in den Jockey-Bar-Sequenzen.52 Schließlich erzeugt der ›Fernsehroman‹ seine intraserielle Kohärenz durch Spiegelungen auf der Ebene der ikonographischen Gestaltung. Das komplexe Verweissystem der literarischen Vorlage erfährt so eine Erweiterung auf der (tele-)visuellen Darstellungsebene. Zur Verdeutlichung der dominanten Reinkarnationsmotivik des Romans wird neben der Mehrfachbesetzung der gleichen Schauspieler die mise en scène einzelner Szenen in leicht variierter Form wiederholt und in die unterschiedlichen Folgen eingebunden.53 Die in die erste Binnenhandlung eingefügte Großaufnahme eines anonymen Soldatengrabes, auf dessen Holzkreuz ein Wehrmachtshelm gesetzt wurde, findet sich entsprechend in der vierten Episode wieder (TJW, 00:54:43-00:54:48; BB1953, 00:34:3300:34:37). Dient das vor dem Hintergrund des Horizonts mit leichter Untersicht abgefilmte Grab in DAS TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS noch als unheilvolle noch bestehenden Forschungslücken in Bezug auf die Stilgeschichte des Mediums Fernsehen hinweist (vgl. Caldwell 1995, VII. sowie 3-72; zudem Bleicher 2010, 4978, 50 passim; darüber hinaus Piepiorka 2011, 50-62). 52 Erweist sich das Schuss-Gegenschuss-Verfahren für die Dialoggestaltung in der Jockey-Bar als das dominante Gestaltungsmittel, so bindet Umgelter zudem Variationen der Kameraführung ein, die unter anderem in Zu- und Wegfahrten oder in Drehbewegungen um die eigene Achse bestehen (vgl. u. a. TJW, 00:00:00-00:02:32; 00:04:35-00:05:10; 00:05:27-00:05:47; DG, 00:00:00-00:00:54; PM, 00:01:2200:02:10). 53 Damit wird zugleich das serielle Prinzip von Wiederholung und Varianz in der bildmotivischen Realisation des Fernsehmehrteilers reflektiert. Mehrfach besetzt sind folgende Schauspieler: Peter Pasetti (Rollen: Peter Koslowski, Ettore da Bibiena), Elisabeth Müller (Rollen: Barbara Bibiena, Rosalba Bibiena), Ursula Dirichs (Rollen: Bärbel Kroll, Hannah), Wolfgang Georgi (Rollen: Major Oljachin, russischer Major 1945) sowie Peter Thom (Rollen: Wenzislaus-Bogdan von Zehdenitz-Pfuell, HansWratislaw von Zehdenitz-Pfuell), Leny Marenbach (Rollen: Gräfin von ZehdenitzPfuell, Frau von Zehdenitz-Pfuell 1939), Helen Vita (Rollen: ‚Katzi‘ Gatzka, Cornelia) und Günter Pfitzmann (Rollen: Bob Arnoldis, Hans-Werner Hofer).
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Vorausdeutung, steht das mittels leichter Aufsicht eingefangene und den subjektiven Blick Barbaras simulierende Motiv in der Nachkriegshandlung von BASTIEN UND BASTIENNE 1953 insofern für einen aussöhnenden Abschluss, als der gefallene Fähnrich durch seine ehemalige Jugendliebe nun seine Identität wiedererlangt. Nicht zuletzt können die sich auf die Bildkomposition auswirkende In-Group/Out-Group-Konstellation sowie die christliche Motivik, die die Rauminszenierung der ersten beiden Episodenfolgen wiederholt bestimmt, als Beispiele für das visuelle Verweissystem genannt werden.54 Umgelters Umsetzung ist jedoch auch durch eigene filmästhetische Mittel gekennzeichnet, mit denen er die rahmzyklische Konstruktion des Romans unterstreicht. So verdeutlicht die Detailaufnahme eines im Bildvordergrund platzierten Sektglases, das durch eine auf Tischhöhe angebrachte Kamera eingefangen wird und den dahinter sitzenden Fritz Georg Hesselbarth nur noch verschwommen zeigt, die voranschreitende Betrunkenheit der Herrenrunde (BB 1953, 01:43:34-01:43:38; 01:43:52-01:44:00). Der Effekt wird verdoppelt, indem Hesselbarth das Glas kurz aufnimmt und dann direkt vor der Kameralinse absetzt, so dass sich der Raumeindruck durch die kurzzeitig wiederhergestellte Tiefenschärfe verändert.55 Die auf diese Weise sich äußernde ›Handschrift‹ des Fernsehregisseurs Umgelter in Bezug auf das je verschiedene In-Szene-Setzen der einzelnen Folgenhandlungen ist auch hinsichtlich der Schuldfrage in der Beteiligung deutscher Soldaten an den Kriegsverbrechen zu bemerken. Der TVMehrteiler greift die bereits in der literarischen Vorlage latent vorhandene Doppelcodierung auf und akzentuiert diese innerhalb der filmischen Umsetzung. Sowohl in der Eingangssequenz des Mehrteilers als auch in der über zwanzig Minuten lang währenden Massenerschießungssequenz, die AM GRÜNEN STRAND DER SPREE in die Fernsehgeschichtsschreibung eingehen ließ, wird eine Differenz zu dem innerhalb der Nachkriegsgesellschaft gängigen, apologetischen Wehrmachtsdiskurs ebenso markiert wie zu den im zeitgenössischen (Kino)Spielfilm verbreiteten Darstellungskonventionen des Krieges und der Kriegsverbrechen.56 Darüber hinaus fügt die in der Gestaltung der ersten und zweiten Folge eingebundene christliche Motivik dem jeweiligen Geschehen eine weitere 54 Vgl. u. a. TJW, 00:16:38-00:16:52; 00:16:57-00:17:08; DG, 01:09:56-01:10:12, sowie 01:10:45-01:11:12. 55 In CAPRICCIO ITALIEN wird die Detailaufnahme der Weingläser von Hans-Werner Hofer und Elisabeth Maag hingegen als symbolischer Verweis auf deren Beziehungsstatus genutzt: Während das Glas der Kunsthistorikerin noch halb gefüllt ist, ist dasjenige Hans-Werners bereits leer (CI, 00:33:08-00:33:16). 56 Vgl. hierzu u. a. den Beitrag von Christian Hißnauer in vorliegendem Band sowie Koch 2007, 71-84.
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kritische Lesart hinzu. Exemplarisch sei Jürgen Wilms genannt, dessen Kopf in der ersten Episode von einem Hitler-Portrait auf der einen sowie einem Christus am Kreuz auf der anderen Seite in Nahaufnahme eingefasst wird. So wird seine innere Zerrissenheit symbolisch verdichtet wiedergegeben, ebenso wie die gegebene Wahlmöglichkeit zwischen unbedingtem Pflichtgehorsam und persönlichem Gewissen (TJW, 00:16:38-00:16:52; 00:16:57-00:17:08). Nicht zuletzt weist Umgelters Gestaltung sowohl innerhalb einzelner Episodenfolgen als auch über deren Gesamtverlauf hinweg eine subtile Verbindung von Dokumentation und Fiktion auf.57 Besticht DAS TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS noch durch seine stark realistische Gestaltung, so verkehrt sich diese Inszenierungsweise bis zu CAPRICCIO ITALIEN in eine bewusste Ausstellung und Überbetonung der Fiktionalität. Bereits die Eingangssequenz der ersten Binnenhandlung ist durch die Verwendung charakteristischer Dokumentarfilmstrategien geprägt. Von Dominik Graf als »vielleicht literarischste[] Einstellung des deutschen Films nach dem Krieg«58 charakterisiert, visualisiert die an den subjektiven Blick von Wilms gebundene, umherschweifende Kamera die von der OffStimme mitgeteilte Raumbeschreibung (TJW, 00:09:48-00:11:28). Die damit erreichte Doppelung, die im Zeigen des gerade Erwähnten besteht, sorgt für eine weitere Beglaubigung des Dargestellten.59 Die erste Binnenepisode montiert dazu Dokumentarfilmaufnahmen ein, die zuvor in Wochenschauen gezeigt wurden und den Vormarsch an der Ostfront zeigen (TJW 00:41:39-00:42:16; 00:58:25-00:58:38).60 Wird der fiktionale Fernsehfilm mit Hilfe solcher Dokumentaraufnahmen authentisiert, so sind es in der dritten Folge PREUSSISCHES MÄRCHEN eingefügte Spielfilmszenen, die im Rahmen der fiktionalen Schlachtendarstellung paradoxerweise dokumentarisch wirken (PM, 00:27:42-00:27:44; 00:27:54-00:28:01; 00:29:02-00:29:25; 00:29:27-00:29:30; 00:29:31-00:29:35 passim).61 Sowohl das Dokumaterial der ersten Folge als auch das Spielfilmmaterial der dritten Folge erfährt durch die Einfügung in den jeweiligen fernsehfilmischen Kontext eine neue Rahmung und wird so in seiner vormals propagandistischen Nutzung entlarvt. In der abschließenden Italien-Episode Hans-Werner 57 Zum Verhältnis zwischen Dokumentation und Fiktion in der Romanvorlage siehe den Beitrag von Hannes Gürgen in vorliegendem Band. 58 Graf 2013, 33. 59 Jürgen Egyptien spricht hier sogar von »eine[m] der frühesten Dokumentarfilme über die Verbrechen an der jüd. Bevölkerung in Polen während des Zweiten Weltkriegs« (Egyptien 2011, 547). 60 Die Archivalien bezeugen dieses Verfahren (AdK Berlin, Fritz-Umgelter-Archiv, Nr. 95, 51, 61, 63). 61 AdK Berlin, Fritz-Umgelter-Archiv, Nr. 153, 43-46.
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Hofers wird der Fokus hingegen auf die karikierende Formüberschreitung in Entsprechung des titelgebenden ›Capriccios‹ gelegt. Durch ausgestellte Kulissenhaftigkeit, bewusstes Overacting und den ausgiebigen Einsatz von Fremdton wird der fiktionale Status der Episode beständig hervorgekehrt.62 Es entsteht eine rekursive Struktur, die die Aufmerksamkeit auf die genuine Fiktionalität des ›Fernsehromans‹ und dessen Darstellung von Welt selbst lenkt.63 Selbstreferenzialität, Selbstreflexivität und Intermedialität AM GRÜNEN STRAND DER SPREE weist durchgehend selbstreferenzielle Verfahren auf, die sich bis hin zur Selbstreflexivität auch in Form intermedialer Bezugnahmen darstellen. Diese spielerische Selbstbezüglichkeit verweist nicht nur auf die neuen Möglichkeiten des zur Zeit der Erstausstrahlung noch jungen Mediums Fernsehen und seiner Formate. Sie thematisiert durch Verweise zu anderen populären Medien und ihren Inhalten auch die Funktionsweise einer Verfilmung im populärkulturellen Zusammenhang der Wirtschaftswunderjahre. Durch diese metareflexive Ebene reagiert der Fernsehmehrteiler auf Konkurrenz- und Vorgängermedien, indem er sich zum neuen, der Zeit gemäßen massenmedialen Produkt erklärt und damit eine eigenständige Positionierung innerhalb des zeitgenössischen medialen Feldes erreicht. So wird etwa in der zweiten Folge DER GENERAL in einer Großaufnahme ein Divisionsangehöriger beim Lesen von Trygve Gulbranssens Bestseller Und ewig singen die Wälder gezeigt (DG, 01:06:55-01:07:00). Bei diesem 1935 erstmals in deutscher Übersetzung erschienenen Roman handelt es sich wie bei Scholz’ Am grünen Strand der Spree um ein später zu einem crossmedialen Medienkomplex ausgeweitetes Werk, das neben zwei literarischen Fortsetzungen 1959 in einer sehr erfolgreichen Verfilmung Paul Mays in die bundesdeutschen Lichtspielhäuser gelangte.64 Fritz Umgelter integriert in seinem frühen Mehrteiler 62 Die Fiktionalität der letzten Binnenhandlung wird auch auf der Plotebene der Rahmenerzählung mehrfach thematisiert, u. a. indem sich die Vertreter der Herrenrunde bei dem Ehepaar Gatzka unter Angabe falscher Namen und Berufe vorstellen (CI, 00:01:20-00:02:15). 63 Knut Hickethier ist daher zu widersprechen, wenn er mit Ausnahme der ersten Folge die »meisten Episoden […] aus heutiger Sicht […] [für] belanglos« hält (Hickethier 2000, 107). 64 Vgl. Trygve Gulbranssen 1956; sowie Koll/Lux/Messias/Strotmann 1995. Im Jahr der Erstausstrahlung von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE gab es zudem eine filmische Fortsetzung von Gustav Ucicky mit dem Titel DAS ERBE VON BJÖRNDAL. Bemerkenswert ist auch hier die durch die Publikationsgeschichte von Gulbranssens Roman
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zudem gerade auch den Kinospielfilm, der Knut Hickethier zufolge erst im Verlauf der 1970er Jahre einen breiteren Eingang in die Produktion fiktionaler Fernsehformen fand.65 AM GRÜNEN STRAND DER SPREE stellt insofern ein richtungsweisendes Werk des Übergangs dar, das sich durch die produktionstechnische Annäherung an die filmische Ästhetik selbstbewusst die Formensprache des größten medialen Konkurrenten bei Wahrung fernsehspezifischer Möglichkeiten zu eigen macht. Bereits die Eingangssequenz in der Jockey-Bar positioniert sich mittels Figurenanlage, Rollenbesetzung sowie durch die Dialog- und Kameraführung gegenüber der Filmbranche der Nachkriegszeit. Die Besetzung des Majors Lepsius mit Malte Jaeger, der an zahlreichen NS-Propagandafilmen mitwirkte, kann als Verweis auf die personelle Kontinuität der Filmschaffenden verstanden werden.66 Neben der bereits erwähnten Gestaltung der Einzelfolgen nach Maßgabe populärer Filmgenres der 1950er Jahre zeichnet sich AM GRÜNEN STRAND DER SPREE durch Anspielungen und Übernahmen aus beliebten Filmgenres der 1920er und 1930er Jahren aus. Exemplarisch genannt werden können hier filmästhetische Anverwandlungen des neusachlichen Films, etwa von Walther Ruttmanns BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT (1927) in der vierten Folge des Fünfteilers (BB1953, 00:00:27-00:01:13). Darüber hinaus eignet sich Umgelter die spezifische Intertextualität der Romanvorlage durch erweiterte intermediale Bezugnahmen an. Zeichnet sich der Bestseller neben literaturhistorischen Stilreferenzen und expliziten Zitaten vor allem durch die Übernahme typografischer, formaler wie inhaltlicher Charakteristika aus Briefen, Tagebuchnotizen sowie Dramentexten aus,67 so erstreckt sich der intermediale Resonanzraum der Verfilmung auf die medienhistorischen wie programmatischen Vorläufer Bildende Kunst, Theater, Printpresse, Fotografie und Radio. Beispielhaft sei auf die Inszenierung einer Plansequenz im Stile des bedingte Verbindung von Vorkriegs- und Nachkriegskultur, die man als kennzeichnendes Bezugssystem für AM GRÜNEN STRAND DER SPREE geltend machen kann. 65 Diese Orientierung am Kinospielfilm wurde durch die konzeptionelle Entwicklung des ›amphibischen Films‹, das Film-Fernsehabkommen von 1974 und das wachsende Selbstverständnis, sich auch als Fernsehregisseur der Filmszene zugehörig zu fühlen, befördert (vgl. Hickethier 2008, 451, 455; zudem Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003, 101-105). Sybille Simon-Zülch weist darauf hin, dass »sich Fritz Umgelter schon damals erklärtermaßen in seiner Filmsprache an amerikanischen Vorbildern orientiert[e]« (Simon-Zülch 2013, 31). Die vorliegende Analyse erkennt hingegen vor allem Bezugnahmen auf den europäischen respektive deutschen Film der Vorkriegsund Nachkriegszeit. 66 Vgl. Schmid 2011. 67 Siehe dazu die Beiträge zum Roman in vorliegendem Band.
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Berliner Impressionisten Leo Lesser Ury verwiesen, die in die zweite Episodenfolge einführt und die abendliche Fahrt eines Pagen aus dem Hotel Kempinski über den Kurfürstendamm darstellt; oder auf eine Prolepse in der Folge PREUSSISCHES MÄRCHEN, die mittels Zoomeffekte evozierenden Zu- und Wegfahrten der Kamera verschiedene Papiertheaterkulissen durchläuft und die Zukunft des Paares Ettore und Rosalba Bibiena raffend wiedergibt.68 Die gestalteten Kulissen und die Kamerabewegungen visualisieren dabei Prinzipien der illusionistischen Rahmenbühne des 17. Jahrhunderts und den als Jahrmarktattraktion fungierenden Guckkasten. Damit werden zwei historische Vorläufer des Films (und des Fernsehens) in die Gestaltung integriert.69 Die so hergestellte 68 Die Angabe des auf Ury verweisenden Stilzitates ist auch im Drehbuch zu finden: »Das Ganze ein Bild des Kurfürstendamms, wie es Lesser Ury gemalt hat« (AdK Berlin, Fritz-Umgelter-Archiv, Nr. 275, 1; vgl. DG, 00:00:00-00:00:53; PM, 01:19:0101:19:54). 69 Vgl. Hüningen/Beilenhoff 2012; Hüningen 2012. Bei Umgelter basieren die gezeigten Kulissen entweder auf bekannten Kupferstichen des 18. Jahrhunderts oder sind deren Manier nachempfunden. So ist ein Modellnachbau von Legeays Opernhaus und Hedwigskirche aus dem Jahr 1747 ebenso zu bemerken wie eine im Stile Füncks realisierte Ansicht von ›Blisses Meierei‹ (vgl. PM, 01:19:01-01:19:18; 01:19:42-01:19:54; Daten durch Einsicht in AdK Berlin, Fritz-Umgelter-Archiv, Nr. 153, 055-057). Im Drehbuch ist vermerkt, dass an dieser Stelle sogar der Einsatz von Tricktechnik geplant war, der die Protagonisten Rosalba und Ettore in der Dekoration zeigen sollte und die Differenzqualität zum Film als Bewegtbildmedium noch stärker hervorgehoben hätte: »Das Bild blendet über in ein Modell der Charlottenburger Wiesen im Stil von C. B. Schwarz um 1780. Trick: in dieser Dekoration reiten Rosalba und Ettore auf die Kamera zu. / Das Bild blendet über in ein Modell des Kurfürstendamms im Stil der Stiche von Rosenberg. Trick: in der starren Dekoration geht Rosalba lächelnd auf Ettore zu, der eine Pfeife raucht und ›die Wölkchen in den Märzwind bläst‹« (ebd., 057). Ein weiterer Verweis auf die Oper als Vorläufer von Film und Fernsehen ist in der fünften Episodenfolge zu finden, in der die Begegnung zwischen Graf Chiaroscuro und Cornelia durch Gesang, bewusstes Overacting und ausgestellter Kulissenhaftigkeit bestimmt ist. Eine dialogische Anspielung auf Cinecittà und somit auf den italienischen Film wird späterhin über die Zugfahrt Hofers mit Chiaroscuro in die Handlung eingebunden, wobei der Name des Grafen gleichzeitig die Bezeichnung einer filmischen Beleuchtungsform mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten darstellt. Auffallend ist darüber hinaus die mehrfache Einbindung von Malerei und Plastik in die Szenengestaltung der letzten Episode (CI, 01:06:33-01:08:34; 01:14:54-01:15:24; 00:29:0600:29:49; 00:47:36-00:47:49; 00:49:23-00:49:49; 00:51:58-00:52:53; 00:58:4000:59:00; 01:08:48-01:09:15.); vgl. ebenso Samlowski/Hüningen/Röwekamp 2012.
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doppelte Rahmung des Gezeigten reflektiert damit die narrative Schachtelung des Mehrteilers selbst. Perspektivierungen und Vernetzungen: ein frühes Exempel serieller Komplexität »Das Fernsehen ist tot, es lebe das Fernsehen« – so lautet das Fazit von Sven Stollfuß in Bezug auf das Verhältnis zwischen der Diskussion »um die sog. USamerikanischen Qualitätsserien ›neuester‹ Provenienz«70 und der aktuellen Fernsehtheorie. Zum Ausdruck bringt er damit die Folgen des ›Quality TV‹Diskurses: Wurde ein zeitlich wie räumlich stark begrenzter Umfang an seriellen Fernsehproduktionen hervorgehoben, so erfuhren das massenmediale wie kulturelle Umfeld durch diese Herauslösung zugleich eine Abwertung. Die Annahme, durch die Debatte über US-amerikanische Serien, denen man herausragende ästhetische wie narrative Qualitäten zuspricht, das ganze Medium Fernsehen einer größeren Akzeptanz zuführen zu können, erweist sich somit als Trugschluss. Zweifellos zeugen die journalistischen Publikationen wie auch die bisherigen Forschungen zum Themenkomplex von einer erhöhten Aufmerksamkeit. Sowohl der feuilletonistische als auch der sich daraus entwickelnde wissenschaftliche Diskurs um die sogenannten ›Qualitätsserien‹ haben letztlich aber auch dazu beigetragen, die alten Bewertungsschemata von high vs. low culture nur fortzusetzen. Augenscheinlich wird dies besonders im Hinblick auf den Umgang mit dem deutschen Fernsehmarkt und seiner Serienlandschaft, der auch in der wissenschaftlichen Diskussion von nicht geprüften Pauschalurteilen geprägt ist. Der ›Qualitätsseriendiskurs‹ erweist sich folglich gerade im Hinblick auf die nationale Serienforschung als ›Bärendienst‹, tragen die Zustandsbeschreibungen, die aus der von marktökonomischen Interessen bestimmten Debatte unhinterfragt übernommenen werden, dazu bei, die ohnehin spärliche Beschäftigung mit den seriellen Produktionen des deutschen Fernsehens nicht zu befördern. Dabei kann ein genauer »Blick auf die eigentlichen seriellen Produkte«71 aufzeigen, dass die für einen exklusiven Kreis an ›qualitativ hochwertigen‹ aktuellen Primetime-Serien zuerkannten Merkmale auch in der Gestaltung eines bundesdeutschen Mehrteilers nachweisbar sind, der 1960 in der noch jungen Bundesrepublik produziert wurde. Umgelters AM GRÜNEN STRAND DER SPREE stellt serielle Komplexität über den Gebrauch einer Vielfalt von inhaltlich-dramatur-
70 Stollfuß 2012, 89-112, 89. 71 Hahn 2013, 11-26, 18.
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gischen wie formal-stilistischen Gestaltungskomponenten her, die über ein loses Verhältnis hinaus in einem ästhetischen Verweissystem integriert werden. Die den Mehrteiler durchziehende zentrale Thematik sowie die Leitmotivik tragen dazu bei, die Strukturelemente einerseits zu perspektivieren, ihnen andererseits eine eigenständige Relevanz für das ganze Werk zuzuweisen, indem mehrfache Verknüpfungen zwischen ihnen aufgebaut werden. Diese Vernetzung der Elemente, die alle Gestaltungsebenen umfasst, führt bereits bei Umgelter zu der oft beschworenen rewatchability von Qualitätsserien. Nicht vernachlässigt werden darf dabei der spezifische medienhistorische wie kulturelle Hintergrund dieser Produktion, entwickelte das ›Pantoffelkino‹ doch gerade erst genuin fernsehtypische Formen der Vermittlung von kulturkritisch geprägten öffentlich-rechtlichen Bildungsansprüchen und Unterhaltung. Anstelle der reinen Wiedergabe einer Live-Situation erkannte das Fernsehen allmählich die Möglichkeiten, formale Gestaltungsmöglichkeiten von Vorgängermedien produktiv anverwandeln zu können, ohne die fernsehspezifischen Möglichkeiten preiszugeben. Gerade weil sich dieser Wandel am Übergang der 1950er zu den 1960er Jahren noch in einem Anfangsstadium befand und auch anschließend erst allmählich vollzog, ist der zeitgenössisch als fulminante Ausnahmeerscheinung gefeierte ›Fernsehroman‹ umso mehr hervorzuheben. AM GRÜNEN STRAND DER SPREE verweist damit auf film- wie fernsehspezifische Entwicklungen in den 1960er Jahren. Das junge Massenmedium Fernsehen hatte mit dem ›TV-Roman‹ und der zweiten großen Literaturverfilmung Umgelters nach SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN eine Möglichkeit gefunden, die dem Medium entsprechende Option auf regelmäßige Ausstrahlung eines Mehrteilers in Form eines komplexen Erzählens hervorzukehren, ohne dabei die ästhetischen Möglichkeiten des Spielfilms einbüßen zu müssen. Gemessen an der Zeit seiner Entstehung kann Umgelters fünfteiliger Fernsehfilm also durchaus als ›Quality TV‹ um 1960 bezeichnet werden. Diese Feststellung soll unter Berücksichtigung der erkannten Defizite des ›Labels‹ weniger als Appell zu einer erweiterten Definition des ›Qualitätsseriendiskurses‹ durch Aufmerksamkeit auf frühe deutsche Serienproduktionen verstanden werden. Vielmehr sieht sich vorliegender Beitrag als ein Plädoyer, das sich für breiter angelegte Fernsehserienanalysen unter synchroner wie diachroner Perspektive ausspricht. Im Fokus sollte dabei die strukturelle Spezifik eines fernsehseriellen Werks im medienhistorischen wie kulturellen Kontext stehen.
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Kleiner Bildschirm ganz groß? AM GRÜNEN STRAND DER SPREE im Kontext der zeitgenössischen Filmästhetik Simon Lang
Die Ausstrahlung von Fritz Umgelters Fernsehmehrteiler fällt in einen Zeitraum, der in der Geschichtsschreibung des europäischen Kinos als Beginn eines neuen Zeitabschnitts angesehen wird. Hierbei sind es in erster Linie Filme aus Frankreich und Italien, die bei internationalen Festivals für Furore sorgen und schon von den zeitgenössischen Kritikern entsprechend als wegweisend erachtet werden: Macht die nouvelle vague mit François Truffauts LES 400 COUPS, Alain Resnais’ HIROSHIMA MON AMOUR und Jean-Luc Godards À BOUT DE SOUFFLE auf sich aufmerksam, so gelten Michelangelo Antonionis L’AVVENTURA, Federico Fellinis LA DOLCE VITA und Luchino Viscontis ROCCO E I SUOI FRATELLI als Überwindung bzw. Erneuerung des Neorealismus. Trotz einiger bemerkenswerter Arbeiten steht die bundesdeutsche Filmproduktion im Vergleich dazu insgesamt zurück.1 Ein solcher Befund mag sich gerade dann ergeben, wenn man die internationalen Pendants zum Leitbild nimmt, um konkrete Vorstellungen von Filmkunst zu formulieren und nach deren Maßstab Innovation so einzufordern, wie es Walther Schmieding 1961 vornimmt:
1
Noch heute kursiert Kochenraths Begriff des ›Spätufastils‹, mit dem aufgrund der beobachteten Kontinuitäten zum NS-Kino der bundesdeutsche Film pauschal abgeurteilt wurde (vgl. Kochenrath 1966, 30). Seit den 1980er Jahren zeigt sich die Forschung darum bemüht, das negative Image des bundesdeutschen Films der 1950er Jahre zu verbessern. Dies geschieht oft im Verweis auf das Oberhausener Manifest 1962, aber auch auf die zeitgenössische Filmkritik, die durch ihre polemischen Kommentare dazu beigetragen hat, dass sich die noch heute verbreiteten Ansichten ausbilden konnten; für einen Beitrag aus jüngerer Zeit vgl. Dillmann/Möller 2016.
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»Wenn so viele Besucher zu den Fernsehapparaten abwanderten, dann war das nur möglich, weil der Film seine Anziehungskraft verloren hatte. Die Abwanderung ist eher eine Wirkung als die Ursache der Filmkrise; die Ursache der Krise liegt in der künstlerischen Bedeutungslosigkeit. Die Filmwirtschaft hat diesen Zusammenhang nie eingesehen. Sie argumentiert, daß gerade die ›künstlerischen‹ Filme die größten Verluste bringen und also nicht helfen könnten, die Besucher zurückzugewinnen.«2
Tatsächlich erschweren in den 1950er Jahren die Produktionsbedingungen für Kinofilme, dass künstlerische Ambitionen umgesetzt werden können. Da sich die Entflechtung des Ufa-Konzerns bis in die zweite Hälfte des Jahrzehnts hinzieht, können bis dahin nur kleinere Produktions- und Verleihfirmen entstehen; im Vergleich mit industrieähnlichen Strukturen, wie sie in Hollywood vorherrschen, spricht man in der Forschung beim bundesdeutschen Kino im übertragenen Sinn gelegentlich von einem ›Handwerksbetrieb‹. Zugleich können durch die Vertriebsregelungen die Verleihe und Kinobetriebe die Filmproduktion sogar bis zur Auswahl der Rollenbesetzung und des Stabs beeinflussen; außerdem entwickelt der Staat durch die Förderungs- und Bürgschaftspolitik des Bundes sowie durch die FSK indirekt Zensurmöglichkeiten.3 Nicht zuletzt zeigen sich die Zuschauer wenig aufgeschlossen gegenüber ästhetisch ebenso anspruchsvollen wie zeit- und vergangenheitskritischen Arbeiten, so dass die Filmproduktion für das Kino zum »Pakt mit dem Publikum«4 gezwungen ist, sieht es sich doch den Gesetzen des Marktes unterworfen. Das Fernsehen, das solchen ökonomischen Zwängen nicht unterliegt, wird in Schmiedings Ausführungen zwar explizit benannt, aber nicht weiter berücksichtigt. Dabei wird gerade an Umgelters Mehrteiler AM GRÜNEN STRAND DER SPREE deutlich, wie sich das neue audiovisuelle Massenmedium variantenreich Erzähl- und Gestaltungsweisen des Kinofilms aneignet und dabei auf genuin filmische Weise ›künstlerische Bedeutung‹ im Sinne Schmiedings erlangt. Im Umkehrschluss kann konstatiert werden, dass für Umgelter zu diesem Zeitpunkt die Diskussion um eine eigene Ästhetik des Fernsehspiels keine Relevanz mehr besitzt. Dabei sind bereits in der frühen Theoriedebatte um ein fernsehspezifisches fiktionales Erzählformat auch Stimmen zu vernehmen, die sich für die Annäherung an den Film aussprechen.5 Ab der zweiten Hälfte der 1950er 2
Schmieding 1961, 8.
3
Vgl. Uka 2002, 74-80; Hickethier 2009, 33-60; Dillmann 2016, 26-37.
4
Ebd.
5
So betont etwa Hans Gottschalk, erster Leiter der Abteilung Fernsehspiel beim Süddeutschen Rundfunk, die Gemeinsamkeiten von Film und Fernsehen: Das »von der
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Jahre produziert das Fernsehen bekanntlich selbst zunehmend Spielfilme, nachdem Kinofilme von Beginn an einen festen Bestandteil des Fernsehprogramms bilden.6 Auch dramaturgisch und bildästhetisch greift das fiktionale Fernsehen stärker auf Verfahren des älteren Konkurrenzmediums zurück: Wie Ellenbruch speziell für die Bildästhetik zeigt, werden eben durch die nun verwendeten Aufzeichnungstechniken Film und Magnetton die Voraussetzungen geschaffen. Können fiktionale Langformate dadurch komplett vorproduziert werden, so geht damit also einher, dass sich das Repertoire an televisuellen Inszenierungs- und Gestaltungsweisen im Gesamten verbreitert.7 Auch AM GRÜNEN STRAND DER SPREE setzt dezidiert auf filmische Verfahren. Diese lassen sich wiederum profilieren, wenn sie mit den ästhetischen Entwicklungen im Kinofilm verglichen werden. Das Fernsehen emanzipiert sich von der audiovisuellen Konkurrenz nicht nur, indem es deutlich macht, dass es ihm ästhetisch und dramaturgisch in nichts nachsteht. Vielmehr zeigt Umgelter im Umgang mit den filmischen Gestaltungsmitteln und Erzählweisen einen künstlerischen und zeitkritischen Ansatz, durch den sich das junge Fernsehen von einem Großteil der einheimischen Filmproduktion absetzt – und zwar noch bevor die Unterzeichner des Oberhausener Manifests 1962 plakativ den Tod von ›Papas Kino‹ proklamieren und in diesem Zuge explizit Kunstansprüche für den
Wirklichkeit abgelöste Bild« (Gottschalk 1980 [1954], 68) bilde das Material beider Medien, ihr Wesen definiere sich jeweils durch die »Sukzession der Bilder, ihre Bewegung« (ebd.). Unter dieser Voraussetzung erweist sich das Fernsehspiel als begrenzt, da sein »Horizont nicht über ein paar Zimmerdekorationen« (ebd., 69) hinausreicht, während der Film »Möglichkeiten der Raum- und Zeitüberbrückung [besitzt], um in geheimnisvolle, bisher unbekannte Welten vorzustoßen« (ebd.). 6
Diese Filme werden vom Fernsehpublikum durchaus goutiert; die meisten stammen aus dem Bestand der Ufa und sind somit vor Kriegsende produziert worden. Ähnlich wie in anderen Ländern sind auch bundesdeutsche Filmproduktions- und Verleihfirmen an Verbindungen zum Fernsehen durchaus interessiert, um dort Eigenproduktionen zu unterbinden. Plakative Schlagworte wie ›Kein Meter Film dem Fernsehen!‹ dürfen daher nicht überbewertet werden, wenn es gilt, die Gesamtsituation zu beurteilen. Laut Faupel sind es in erster Linie die Kinobetreiber, die sich gegen die Belieferung des Fernsehens mit Spiel-, Kultur- und Kurzfilmen aussprechen (vgl. Faupel 1979, 120f.).
7
Vgl. Ellenbruch 2011. Trotz Mischformen und Ausnahmen neigen Ellenbruch zufolge Fernsehfilme, die mit Filmmaterial produziert werden, eher dazu, Verfahren des Kinos zu übernehmen, während auf Band produzierte Fernsehspiele auch aufgrund der technischen Einschränkungen an das Live-Spiel anschließen.
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Kinofilm erheben.8 Auch wenn Umgelters Mehrteiler nicht direkt auf die Filme von Antonioni, Resnais oder Godard bezogen werden kann, lässt sich doch folgende These formulieren: An seinen fünf Folgen wird deutlich, dass das Fernsehen auf ästhetischer Ebene von dem komplexen Modernisierungsprozess des Konkurrenzmediums Kino nicht unberührt bleibt, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die Fernsehmacher stärker auf Erzähl- und Gestaltungsmittel des Films zurückgreifen. Kino – Kunst – Moderne In der filmhistorischen Forschung gilt die zweite Hälfte der 1940er Jahre als der Zeitraum, in dem das Kino eine moderne Filmästhetik ausbildet. Dies ereignet sich jedoch ausschließlich in Filmen, die einer künstlerisch anspruchsvollen Form des Kinos zugerechnet werden. Der schon benannte Kritiker Schmieding macht seinerzeit den Kunstcharakter eines Films in erster Linie noch an thematisch-inhaltlichen Aspekten wie der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oder dem Zweiten Weltkrieg fest. Die heutige Filmtheorie fasst dagegen ›Kunstkino‹ bzw. (in der internationalisierten Begrifflichkeit) art cinema primär anhand der ästhetischen Verfasstheit, die mit bestimmten Modi der Filmproduktion und -rezeption in Zusammenhang gebracht wird. Neben den narrativen und formalstilistischen Gestaltungsmitteln des Films werden also wirtschaftliche und institutionelle Aspekte ebenso berücksichtigt wie kognitive. Modellbildend sind hier die neoformalistischen Studien von Bordwell, Thompson und Staiger. Ein solches Konzept des Kunstkinos definiert sich jedoch nur relational: Als Pendant fungiert bei Bordwell das ›klassische‹ Kino, dessen charakteristische Erzähl- und Darstellungsweisen maßgeblich durch Hollywood-Produktionen zwischen dem Ende des early cinema um 1917 und der Krise des Studiosystems um 1960 entwickelt und für die internationale Filmproduktion zur Norm werden.9 Das ›klassische‹ Kino zeichnet sich – vereinfacht formuliert – dadurch aus, dass es erzählökonomisch die kohärente, kausal nachvollziehbare Darstellung einer fiktiven Geschichte anstrebt.
8
Wie Günter Rohrbach als ehemaliger Leiter der WDR-Hauptabteilung Fernsehspiel berichtet, genießt das Fernsehen bei den Oberhausenern kein hohes Ansehen, obwohl die Fernsehanstalten einen erheblichen Teil der Produktionen finanzieren (vgl. Eue/Gass 2012, 270-276).
9
Vgl. Bordwell 1985, 156-204; Bordwell/Thompson/Staiger 1985. Für eine dezidiert stilgeschichtliche Einordnung des klassischen Hollywood-Kinos vgl. Hesse/Keutzer/ Mauer/Mohr 2016, 87-99.
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Wie allein der Begriff des ›Klassischen‹ suggeriert, werden bei Bordwell, wie in anderen Studien, diese kinematografischen Formen durchaus aus einer historischen Perspektive betrachtet. Dabei setzt er die Ursprünge des art cinema beim deutschen Expressionismus und französischen Impressionismus an, die Entfaltung sieht er jedoch bei den Neuen Wellen und dem Autorenfilm der 1950er und 1960er Jahre.10 Meidet Bordwell in seiner Untersuchung von 1985 noch den Begriff des Modernen, so setzt Kovács dezidiert darauf, um Bordwells Überlegungen zum Kunstkino historisch zu differenzieren. So können die ästhetischen Besonderheiten in den Varianten von den 1940er bis zu den 1970er Jahren von jenen der Stummfilm- und frühen Tonfilmzeit abgesetzt werden.11 Als spezifische Merkmale der sich seitdem ausbildenden modernen Filmästhetik definiert Kovács Reflexivität, Subjektivität und Abstraktion, worin er Gestaltungsprinzipien der modernen Kunst im Allgemeinen erkennt. Dies bedeutet, dass das Kino nun einerseits auf seinen artifiziellen Charakter reflektiert, andererseits jedoch auch neue Zugänge auf und Deutungsmöglichkeiten für die außerfilmische Realität eröffnet.12 Im Unterschied zum postmodernen Kino versucht das moderne also noch, eine sinnhafte Beziehung zu dieser Wirklichkeit herzustellen: indem die Filme im Rahmen des aufkommenden Autorengedankens eine subjektive Sichtweise organisieren und in der Betrachtung von Wirklichkeit zugleich auf moderne philosophische Denksysteme zurückgreifen. Insbesondere der Existentialismus bildet hier eine wichtige Grundlage, um die Stellung und Konstitution des Menschen nach der Erfahrung des Krieges und dann im Kontext der zunehmenden Entfremdung in den neokapitalistischen Massengesellschaften des Westens oder den totalitären sozialistischen Staaten des Ostens zu interpretieren. Im Vergleich mit dem experimentellen Kino lassen sich die einer so verstandenen Moderne zurechenbaren Filme nach wie vor als narrativ bestimmen. Ihre Verfahren folgen jedoch nicht mehr den Vorgaben räumlicher, zeitlicher und 10 Vgl. Bordwell 1985, 228-233. 11 Wenn Krützen in ihrer filmhistorisch angelegten Studie den Begriff des Kunstkinos dagegen völlig ausklammert, werden die Unterschiede auf diachroner Ebene ausgeblendet: Sie betrachtet Absatzbewegungen, wie Bordwell sie beim art cinema oder auch bei Avantgardekino beobachtet, pauschal als modern (vgl. Krützen 2015, 19-21). 12 Reflexivität wird in den meisten Studien als zentrales, jedoch nicht exklusives Merkmal des modernen Kinos (vor allem auch in seinen Varianten mit politischer Stoßrichtung ab Ende der 1960er Jahre) angesehen (vgl. Stam 1992, 167-207; Kirchmann 1996; De Vincenti 2013, 47-53; Krützen 2015, 341-349; Elsaesser/Hagener 2017, 93-97).
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kausaler Kohärenz, wie sie im ›klassischen‹ Kino für die Dramaturgie bis hin zur découpage gelten.13 Für Kovács zeigen sich die von ihm identifizierten Charakteristika der modernen Filmästhetik konkret darin, dass die Darstellung des Geschehens nun grundsätzlich ambig wird. Sind im tendenziell figurenorientierten Kunstkino gegenüber der eher handlungsorientierten ›Klassik‹ die erzählten Situationen allgemein deutlich komplexer, kennzeichnet sich das moderne Kino dadurch aus, dass es keine nachvollziehbare Auflösung mehr bietet.14 Mit Bordwell formuliert: Der Plot liefert dem Zuschauer nicht genügend Information, um sich die ›fabula‹ bzw. Story erschöpfend erschließen zu können. Realismus und Auteurismus im europäischen Nachkriegskino Mag Kovács’ Taxonomie zunächst reduktiv erscheinen, erweist sie sich heuristisch durchaus als sinnvoll, da sich der von ihm als relevant gesetzte Zeitraum von 1949 bis 1975 weiter differenzieren lässt. Sie kann somit verschiedene Entwicklungsstadien und -parallelen sowie Varianzen aufzeigen, während ein erheblicher Teil der Historisierungen, die sich oft auf Gilles Deleuzes kanonisiertes Konzept des Zeit-Bilds stützen, solche eher einebnen. In Hinblick auf AM GRÜNEN STRAND DER SPREE ist folgende Unterscheidung von Kovács bedeutsam: In der Periode von 1949 bis 1958 wird die filmästhetische Moderne in der von ihm beschriebenen Form durch von der Filmkritik entwickelte Ideen (etwa zur Frage nach der Autorschaft für den Film) sowie verschiedene internationale Vorläufer vorbereitet, so dass sie sich in der Phase zwischen 1959 und 1961 durchsetzen kann. Sind also um 1960 im internationalen Kino die ersten, ästhetisch ›modernen‹ Filme bereits vorhanden, wird in der Bundesrepublik auch das Fernsehen sich der neuen filmästhetischen Paradigmen der Nachkriegszeit gewahr. Als richtungsweisende Entwicklungen gelten unter anderem der italienische Neorealismus und die in Frankreich entwickelte Idee des auteurs, die beide auch im Zusammenhang mit Umgelters Fernsehmehrteiler diskutiert werden können: Die fünf Folgen von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf Erzählmuster populärer Genres zurück13 Dabei ist zu betonen, dass ›Klassik‹ und ›Moderne‹ keine distinkten Stadien einer linearen Entwicklung, sondern als Mengen an filmischen Gestaltungsvarianten, die ab einem bestimmten Zeitpunkt gleichermaßen verfügbar sind und sich in Relation zu einander definieren, verstanden werden müssen: ›Klassische‹ Verfahren verschwinden keineswegs in den 1950er Jahren, ja sie kommen bis heute im Großteil der Kinoproduktionen noch zur Anwendung (vgl. Kovács 2007, 51-55; Krützen 2015, 21f.; Hesse/Keutzer/Mauer/Mohr 2016, 87). 14 Vgl. Kovács 2007, 61-65, 120f.
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greifen und diese unterwandern, wobei Umgelter eben auch die Mittel des Realismus und der stilistischen Überformung nutzt. Der Neorealismus gilt als erste Erneuerungsbewegung im internationalen Kino der Nachkriegszeit, bei der eine (letztlich nicht exakt definierbare) Gruppe von fiktionalen Filmen einen neuartigen Zugang des Kinos zur außerfilmischen Wirklichkeit schafft – dies noch, bevor das britische free cinema, das französische cinéma vérité und das US-amerikanische direct cinema im Bereich des Dokumentarfilms Verfahren entwickeln, die den Eindruck von Unmittelbarkeit erzeugen.15 Auch das ›klassische‹ Kino erweitert in diesem Zeitraum sein Repertoire an Darstellungsweisen. In Hollywood versuchen die Studiosysteme in den 1950er Jahren dem Zuschauer ein Rezeptionserlebnis zu ermöglichen, das den neuen Realismen diametral entgegensteht: Durch die ästhetischen Möglichkeiten, die Filmtechnologien wie Breitwandformate, Stereoton und Farbfilmmaterial bieten, wird die Immersion des Publikums in das Geschehen auf der Leinwand und somit seine ›Wirklichkeitsflucht‹ effektiv befördert. Damit reagiert Hollywood auch auf das Fernsehen mit seinem kleinen Schwarz-Weiß-Bildschirm. AM GRÜNEN STRAND DER SPREE darf jedoch keineswegs direkt mit dem Neorealismus in Verbindung gebracht werden, sondern ist eher vor dem Hintergrund der grundlegenden Entwicklungen zu betrachten, die auf ihn zurückgehen. Seine filmhistorische Bedeutung besteht laut Kovács darin, dass nach diesem Vorbild auch in anderen Nationalkinos Darbietungsweisen entwickeln werden, die durch die Abkehr von der Studiokulisse ästhetisch und dramaturgisch freier ausfallen und im Vergleich natürlicher wirken sollen.16 Obwohl sie meist nur in einzelnen Filmen und gar nur Sequenzen auftreten oder im Entwurfsstadium der Theoriebildung bleiben, werden bis heute bestimmte Praktiken und filmische Stilmittel mit dem Neorealismus assoziiert: so der Dreh außerhalb der Studios, oft an Originalschauplätzen, daneben der Einsatz von Laienschauspielern und improvi15 Auch zeitgenössische Filmtheoretiker wie André Bazin und Siegfried Kracauer gehen vom Neorealismus aus, um in der Referenz auf ›Wirklichkeit‹ das Wesensmerkmal des Kinos als Kunstform zu definieren; daran mag ersichtlich werden, wie auch in dieser Zeit die Filmtheorie noch bemüht ist, das Spezifikum ihres Gegenstands in Abgrenzung zu anderen Medien festzulegen und seinen Kunstcharakter zu legitimieren. 16 Vgl. Kovács 2007, 277-283. Kovács spricht von »some kind of natural-looking, less dramatic, free-style form« (ebd., 277): Nachdem anhand von Viscontis Historienfilm SENSO (1954) in Italien bereits der ›Tod‹ des Neorealismus diskutiert wird, avanciert er ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zum Referenzmodell für Regisseure in Mittel- und Osteuropa, den USA, Südamerika, später auch Indien und Afrika (zur Debatte um SENSO vgl. Aristarco 1975, 859-903; zur internationalen Rezeption des Neorealismus vgl. Liehm 1984, 129-131; Ruberto/Wilson 2007; Giovacchini/Sklar 2012).
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sierendem Schauspiel sowie dialektaler Sprache, der Verzicht auf künstliche Beleuchtung, Plansequenzen und Tiefenschärfe, schließlich die Aufhebung der erzählökonomischen Hierarchie von Vorder- und Hintergrund sowie eine offene Erzählform, die sich in einer episodischen Erzählweise mit irrelevanten Handlungselementen manifestiert.17 Sämtliche dieser Verfahren finden Eingang in das moderne Kunstkino, wobei dieses sich im Bewusstsein um den Konstruktcharakter des Films vom ›klassischen‹ Kino wie vom Neorealismus gleichermaßen absetzt. Dessen Wirklichkeitsversprechen basiert zwar auf dem effet du réel (Roland Barthes), allerdings handelt es sich trotz dieses Eindrucks, dass empirische Realität abgebildet wird, durchweg noch um filmische Fiktionen. Im italienischen Kontext ist es dann der Drehbuchautor Cesare Zavattini, der im Glauben an eine naturgegebene Verbindung des Films zur Wirklichkeit verschiedene Konzepte entwickelt, mit denen jeglicher Eindruck einer Inszenierung vermieden werden soll.18 Grundsätzlich ist der Neorealismus mit Heller als historische ›Verdichtung‹ filmischer Strukturelemente in Verbindung mit diskursiven Zuschreibungen zu verstehen: In so heterogenen Filmen wie Roberto Rossellinis ROMA CITTÀ APERTA (1945), Vittorio De Sicas LADRI DI BICICLETTE (1948) und Luchino Viscontis LA TERRA TREMA (1948) werden Inszenierungspraktiken und Stilmittel genutzt, die von den filmischen Wahrnehmungsgewohnheiten der zeitgenössischen Rezipienten abweichen; auch bei diesen Verfahren handelt es sich um künstliche Operationen, doch werden sie im Vergleich eben als ›realistischer‹ wahrgenommen.19 Wenn Zeitgenossen neorealistische Filme gegenüber dem ›klassischen‹ Erzählkino Hollywoods und dem faschistischen Kino als realistischer bewerten, dann ist jedoch auch die inhaltlich-thematische Seite der Filme nicht unerheblich. Zugleich demonstriert etwa der bundesdeutsche Heimatfilm, dass beispielsweise Außenaufnahmen und Dialektsprache keine Garanten für Realismus sind, gilt er doch als das Genre, das das Verdrängungsbedürfnis am
17 Kritische Studien zeigen gerade, dass viele Filme, die mit dem Neorealismus in Verbindung gebracht werden, in ihrer Gesamtstruktur ästhetisch und dramaturgisch keineswegs innovativ sind; vgl. Wagstaff 2007, Fabbri 2015. 18 Zu Zavattini vgl. etwa Ochsner 2012. 19 Heller 2008, 317. Seit den 1970er Jahren kritisiert die Forschung zum italienischen Kino die Auffassung, dass es sich beim Neorealismus um eine einheitliche Bewegung handelt, sie stellt gar seine historische Singularität infrage. Der Neorealismus erscheint daher als diffuses Phänomen, bei dem bestimmte Merkmale einzelner Filmemacher pauschal einer gesamten ›Bewegung‹ zugesprochen werden. Zur Geschichte der neorealistischen Theoriebildung vgl. Fanara 2000.
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stärksten bedient.20 Als neorealistisch geltende Filme beziehen dagegen kritisch Position zur außerfilmischen Wirklichkeit, die sie portraitieren. Damit geht einher, dass sie mit sozial benachteiligten Personen keine klassischen Heldentypen zu ihren Protagonisten machen: In Filmen mit Kriegssujet werden einfache Leute zu Widerstandskämpfern, die neue Angebote der Identitätsstiftung liefern; gesellschaftskritische Filme zeigen wiederum anhand alltäglicher Situationen die missliche Lage unterprivilegierter Schichten auf, um damit auf übergeordnete, gesamtgesellschaftlich relevante Problemzusammenhänge zu verweisen.21 Der ›neue‹ Realismus stellt also sowohl filmische Konventionen als auch dominante gesellschaftliche Überzeugungen infrage. In einer Zeit, in der unter anderem durch Sartres Konzept einer litterature engagée das Paradigma operativer Kunst entsteht, ist ein solches Modell für Filmemacher und -kritiker mit politischer Ambition und oppositioneller Gesinnung attraktiv: Es lassen sich so Abgrenzungen zum kommerziellen Erzählkino, das in vielen Ländern aufgrund der hohen Importzahlen mit Hollywood assoziiert und der eigenen Filmkultur gegenübergestellt wird, vornehmen – gegebenenfalls auch zum vorbelasteten Kino der Diktatur- und Kriegszeit. (Neo-)Realistische Filme beanspruchen, das zu zeigen, was diese ausblenden oder verklären. Während der Nachkriegszeit werden daher im Bereich des Kinos realistischen Darstellungsformen in der Regel sozialkritische Intentionen zugeschrieben.22 20 So merkt etwa schon der Regisseur Arthur Maria Rabenalt 1959 in diesem Zusammenhang an: »Die Wunschwelt des Heimatfilms hat nichts von einer unerreichbar fernen Traumwelt, ihr Vorstellungsbild ist der Daseinswelt des Publikums sehr benachbart. Lediglich die soziologischen Tatsachenhärten, die wahren Konfliktmöglichkeiten sind ausgewässert – wie ein Heringsfilet –, so daß sie keine echte Dramatik mehr gestatten, nur mehr ein karnevalistisches Spiel der Missverständnisse und Verwechslungen.« (Rabenalt 1959, 57) 21 Das bundesdeutsche Kino bietet zwar mit dem Trümmer- und dem sog. Problembzw. Zeitfilm Formate mit ähnlichem Gegenwartsbezug auf, diese bleiben aber marginal und muten in ihrem Wertehorizont sogar recht konservativ an, so beispielsweise DIE HALBSTARKEN (R.: Georg Tressler, 1955). Filme, die sich gegenüber dem affirmativen Kriegsfilm kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen, bewahren dagegen einen ironischen Modus, so etwa WIR WUNDERKINDER (R.: Kurt Hoffmann, 1959), ROSEN FÜR DEN STAATSANWALT (R.: Wolfgang Staudte, 1959), WIR KELLERKINDER (R.: Wolfgang Bellenbaum, 1960); vgl. dazu Uka 2002, 85f. 22 Wie erwähnt bemisst auch Schmieding die künstlerische Qualität eines Films nicht primär an einer intrikaten Gestaltungsweise, sondern einer kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftsrelevanten Themenkomplexen (vgl. Schmieding 1961, 8, 11f.). Damit entspricht er den Vorstellungen einer neuen Generation an bundesdeutschen
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Auch das Konzept des auteurs zielt auf eine Abweichung von etablierten Darstellungs- und Erzählcodes, begründet diese jedoch durch den Filmemacher, der nun in Anlehnung an das Autorenkonzept seit der Genieästhetik als autonomer, originärer Schöpfer betrachtet wird. Es wird Mitte des Jahrzehnts in Frankreich als Analyseverfahren der cinephil orientierten Cahiers du cinéma entwickelt und in der Filmpraxis durch die nouvelle vague international prominent gemacht.23 In diesem letztlich individualistischen Konzept manifestiert sich also eher die Haltung des Degagements, weil sie einer persönlichen Sicht auf die Dinge den Vorzug gegenüber dem ›Realitätseffekt‹ gibt.24 Voraussetzung für eine filmische Autorschaft ist, dass eine persönliche Handschrift, mithin ein individueller ›Stil‹ erkennbar wird, mit dem der Regisseur seine künstlerische Vision zum Ausdruck bringt.25 In den Fokus rücken damit die spezifisch technischen Gestaltungsmöglichkeiten, die der Film besitzt und vom Regisseur als kreativem Subjekt (in Abgrenzung zum Drehbuchautor) verantwortet werden. Diese cinephil begründete, primär am Formalästhetischen interessierte Herangehensweise der Cahiers du cinéma unterminiert dabei insofern normative Vorstellungen über Filmkunst, als nun auch das populäre Genrekino einen Bereich ausmacht, in dem der Filmemacher seine Kreativität entfalten kann. In Hinblick auf eine moderne Filmästhetik ist demnach entscheidend, dass das Künstlersubjekt seine Vision gegen den massiven Konventionsdruck im hochstandardisierten, arbeitsteiligen Produktionssystem des Kinos durchsetzt: Der Filmemacher muss sich daher nicht zwangsläufig von etablierten Erzählmustern, wie sie die Genres konstituieren, lösen, sondern kann sie nach seinem ästhetiFilmemachern und Kritikern, für die Kracauers Von Caligari bis Hitler ein wichtiges Orientierungsmodell bietet (vgl. Rentschler 2016, 13-24). 23 Dass der Auteurismus filmgeschichtlich mit der nouvelle vague verknüpft, ja gleichgesetzt wird, hängt bekanntermaßen damit zusammen, dass einige der Cahiers-Redakteure zwischen 1958 und 1960 ins Regiefach wechseln. Als nouvelle vague bezeichnet die Fachkritik damals jedoch allgemein eine neue Generation französischer Filmemacher, die in dieser Zeit ihre ersten Spielfilme drehen (vgl. Frisch 2007, 26). Eine besondere Rolle spielt François Truffaut, der seinerzeit als schärfster Kritiker der französischen Filmbranche gilt. In seinem prominenten und damals kontrovers diskutierten Artikel Une certaine tendance du cinéma français differenziert er den auteur vom filmästhetisch anspruchsfreien metteur en scène (vgl. Truffaut 1954). Sein Debütfilm 400 COUPS, der mit Marcel Camus’ ORFEU NEGRO und Resnais’ HIROSHIMA MON AMOUR
Frankreich bei den Festspielen in Cannes 1959 vertritt, wird international als
eines der ersten Beispiele der nouvelle vague wahrgenommen. 24 Vgl. Frisch 2007, 204f. 25 Vgl. ebd., 154-161; Felix 2007, 22-26; Ramos Arenas 2011, 60-75.
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schen Willen variierend gestalten. Damit wird auch die grundsätzliche Ablehnung des Studiosystems Hollywoods, das ja als Inbegriff der industriellrationalistisch organisierten Filmproduktion gilt, revidiert, wie etwa die kultartige Verehrung von Alfred Hitchcock, Howard Hawks oder Samuel Fuller durch die Cahiers-Redakteure zeigt.26 In diesem Sinne ist Godards À BOUT DE SOUFFLE paradigmatisch, da er spielerisch und zugleich hommageartig hochkulturelle Zitate mit Motiven des film noir zusammenführt und darin zugleich einen Stil ausbildet, der den klassischen Regelkodex gezielt bricht: eine stark bewegte, meist mit der Hand geführte Kamera, diskontinuierliche Montagen und falsche Anschlüsse bis hin zum jump cut, unausgewogener Sound und mangelhafte Ausleuchtungen. Auf dramaturgischer Ebene werden Situationen nicht aufgelöst, so dass Aktionen der Figuren, gemessen an den Konventionen des klassischen Kinos, schwer nachvollziehbar bleiben. Daneben sind es Resnais’ HIROSHIMA MON AMOUR und L’ANNÉE DÉRNIÈRE À MARIENBAD, die sich in dieser Zeit den Kohärenzvorgaben des klassischen Kinos dezidiert widersetzen, wobei diese Filme noch einem weniger destruktiven Antrieb folgen. Nach dem sich so darbietenden Vorbild Frankreichs wird die Idee einer filmischen Autorschaft für Regisseure in anderen Ländern zum zentralen Element eines filmästhetischen Erneuerungsprogramms, das im Falle des Jungen Deutschen Films explizit an einen Generationenwechsel geknüpft wird. Bei Filmemachern, die sich an der nouvelle vague orientieren, gründen die Versuche, sich von etablierten, als antiquiert wahrgenommenen Formen des Kinos abzugrenzen, auf dem neuen Selbstbewusstsein eines sich als kreativ und autonom verstehenden Subjekts. Die Formen der Anverwandlung entfernen sich jedoch oft erheblich von den ursprünglichen Ideen, wie nicht zuletzt die elitären und politischen Zielstellungen des Oberhausener Manifests zeigen.27 Kunst und Kritik: AM GRÜNEN STRAND DER SPREE Wie Umgelters Fernsehmehrteiler vor dem Hintergrund solcher filmhistorischen Zusammenhänge mit Erzähl- und Gestaltungsweisen des Kinofilms umgeht, ist bereits an der variantenreichen Übernahme unterschiedlicher Genres in den einzelnen Folgen bemerkbar. Umgelter wird es durch die Serienstruktur eines neuen, fiktionalen TV-Formats möglich, verschiedene populäre Erzählmuster,
26 Vgl. Frisch 2007, 166-170; Felix 2007, 26-30. 27 Die Ansprüche auf künstlerische Erneuerung im Oberhausener Manifest setzen sich dann aber erst um 1965 filmisch um (vgl. Hagener 2012).
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die im Konkurrenzmedium Kino etabliert sind, durchzuspielen und in den Gesamtzusammenhang eines ›Fernsehromans‹ zu integrieren. Durch die Verknüpfung von fernsehspezifischer Serialität und dezidiert filmischen Erzähl- und Gestaltungsweisen kann sich AM GRÜNEN STRAND DER SPREE auch von der literarischen Vorlage lösen (selbst wenn die gelegentlich gestelzten, theatralisch wirkenden Dialoge einen anderen Eindruck vermitteln mögen). Es lässt sich damit behaupten, dass Umgelters Umsetzung auf genuine Weise der stilistischen Vielfalt des Romans von Hans Scholz gerecht wird. Dennoch ist anzumerken, dass die Kammerspielästhetik des theaterhaften Fernsehspiels nicht gänzlich verschwindet; das zeigt sich insbesondere an den im Studio gedrehten Innenaufnahmen. Diese Darstellungsweise wird allerdings spielerisch durch intermediale Bezugnahmen auf das Theater reflektiert. Nähert sich das Fernsehen dem Kinofilm an, so schließt dies also auch den Verweis auf die eigene ästhetische Tradition mit ein.28 Auffällig ist, dass der Regisseur vor allem Schemata und Elemente von Kinogenres aufgreift, die in den 1950er Jahren beim bundesdeutschen Publikum sehr beliebt sind. So finden sich unterschiedlich stark ausgeprägte Anverwandlungen des Kriegs- und des Militärfilms, des Heimat- und Historienfilms, des Kriminalfilms sowie des Schlager- und Reisefilms. Nach Maßgabe der Romanvorlage werden diese jeweils mit einer Liebeshandlung um die männliche Hauptfigur verknüpft. AM GRÜNEN STRAND DER SPREE löst jedoch genreübliche Konfliktlösungsstrategien und Figurencodierungen sowohl mit den Mitteln der Dramaturgie als auch der audiovisuellen Gestaltung auf. Der Fernsehmehrteiler stellt dadurch die vom Kino vermittelten Ideologien und Sinnstiftungsangebote zumindest infrage. In DAS TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS wird etwa das Bild des unbescholtenen Wehrmachtssoldaten unterminiert, auch wenn die anschließenden Folgen deutlich machen, dass das Verhältnis der Deutschen zum Nationalsozialismus komplexer ist, als die einfache Opposition von Gut und Böse suggeriert.29 Selbst die abschließende Episode CAPRICCIO ITALIEN bildet hier keine Ausnahme: Sie verbindet einen parodistischen Bezug auf den Musik- wie den Reisefilm mit der Kritik am westdeutschen Wohlstandsbürgertum, wie vom Ehepaar 28 Vgl. hierzu den Beitrag von Stephanie Heck im vorliegenden Band. 29 Hickethier verweist unter anderem anhand von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE darauf, dass es der Fernsehfilm ist, der »die Grenzen des Kriegsgenres in der Anfangszeit am stärksten zur Thematisierung des NS-Regimes und der Massenvernichtung der Juden verschoben [hat] und sich am deutlichsten gegen die narrativen, oft den Krieg glorifizierenden Konstruktionen einerseits des deutschen und andererseits des amerikanischen Kriegsfilms verwehrt.« (Hickethier 2007, 45)
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Gatzka repräsentiert. Sie zeigt, wie das Kino auch die touristische Italiensehnsucht eines bundesdeutschen Publikums, dem durch die Gatzkas kritisch der Spiegel vorgehalten wird, bedient und befördert. Wenn Umgelter Genrekonventionen unterwandert, ist dies nicht als bloß artistisches Spiel zu betrachten. Vielmehr funktioniert das Verfahren zugleich als kritische Reflexion standardisierter filmischer Erzählmuster, und zwar vor allem in Hinblick auf die Erwartungshaltungen bei den zeitgenössischen Rezipienten: Schließlich werden affirmative Identifikationsangebote konsequent unterbunden. Bei den melodramatischen Liebesgeschichten, die in den vorangehenden Folgen eine zentrale Rolle spielen, ist der Fall dagegen anders gelagert. Stellt sich AM GRÜNEN STRAND DER SPREE hier in eine Genretradition, so deshalb, weil Umgelter damit das drohende Scheitern der sich anbahnenden Liebe auf die jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Ursachen, genauer auf den Krieg in verschiedenen Phasen der (deutschen) Geschichte, zurückführt.30 Gerade dadurch, dass sich Umgelter erkennbar auf vorhandene Schemata des Kinofilms bezieht, treten seine Absetzbewegungen umso deutlicher in ihrer jeweiligen Funktion hervor. Indem der Regisseur Erzählmuster des Kinos auf eigensinnige Weise variiert, reflektiert und unterläuft, macht er also seine filmkünstlerischen Ambitionen geltend. Dabei geht es ihm eben nicht um artistische Selbstgenügsamkeit, sondern um eine zeitkritische Darstellung. Die kritische Perspektive auf die jüngste Vergangenheit und die aktuelle Gegenwart im geteilten Deutschland eröffnet Umgelter nun gerade mit filmischen Mitteln. Von zentraler Bedeutung sind hierbei die Selbstreferentialität und Selbstreflexivität, die der Mehrteiler ausspielt, zeigen sie doch das mediale wie metafiktionale Bewusstsein einer fernsehfilmischen Autorschaft an: Umgelter demonstriert darin sein Wissen über die Funktionsweisen filmischer Verfahren. Wichtig ist, dass sowohl der Realismus als auch die ästhetische Stilisierung gleichermaßen als legitime Gestaltungsmöglichkeiten begriffen werden. Die kunstvolle, primär selbstbezügliche Ausstellung filmästhetischer Gestaltungsmittel schließt demnach eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen nicht aus. So geht Umgelters Kritik an beliebten Kinogenres, die durch apologetische Selbstbilder des unbescholtenen Deutschen die Verdrängung befördert haben, mit dem Anspruch auf Wirklichkeitsnähe einher. Diesen betont AM GRÜNEN STRAND DER SPREE – wie bereits die literarische Vorlage – durch selbstreferentielle Stilbrüche, welche Umgelter vor allem in der fiktionsironischen letzten Folge CAPRICCIO ITALIEN inszeniert. Der Beginn seines Mehrteilers lässt den Zuschauer über den fiktionalen Charakter dagegen noch im Unklaren, indem eine alltägliche, dokumentarisch wirkende Szene am Grenzübergang zwischen 30 Zu diesem Aspekt des Genres Melodrama vgl. Weber 2013, 101.
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Ost- und Westberlin gezeigt wird. Erst der eingeblendete Titel macht kenntlich, wie das folgende Geschehen einzuordnen ist (TJW, 00:00:00-00:01:27). Dabei ist Umgelter in der ersten Folge DAS TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS darum bemüht, die gezeigten Orte, Menschen und Ereignisse historisch glaubwürdig zu (re-)konstruieren: Neben historischem Wochenschaumaterial werden zahlreiche ehemalige Landser als Komparsen und historische Wehrmachtsfahrzeuge für die Inszenierung, die überwiegend an Außendrehorten stattfindet, verwendet. Darüber hinaus wird schon in den ersten Einstellungen dieser Binnengeschichte über die subjektive Kamera und den Fotoapparat von Wilms die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung und die mediale Aufzeichnung von Wirklichkeit gelenkt (TJW, 00:10:59-00:13:47). Wilms wird so als wahrnehmende Figur exponiert. Zwar wird dem Fernsehpublikum der fiktionale Charakter der Darstellung bewusst gemacht, aber innerhalb der Fiktion wird mit Wilms eine Instanz geschaffen, die mit Referenz auf reale historische Ereignisse das Dargestellte authentifiziert: Bei der Erschießung der jüdischen Zivilbevölkerung zieht sich der Film auf eine »Ästhetik des Zeigens durch das Nicht-Zeigen«31 zurück; er macht Wilms zugleich zum Zeugen, der als solcher dem Publikum gegenüber unterstreicht, dass das Unvorstellbare tatsächlich geschehen ist. Solche Beglaubigungsstrategien machen zu Beginn den Anspruch auf Wirklichkeitsnähe für den Fernsehmehrteiler plakativ deutlich.32 Insgesamt betrachtet wird Wirklichkeitsnähe in erster Linie durch das Zusammenspiel der Redeweisen und Figurenausstattung mit den Außenschauplätzen und spezifischen Klangsphären dieser Räume hergestellt. Dies trägt dazu bei, dass die Settings atmosphärisch dicht dargestellt erscheinen. Dabei ist zu beobachten, dass die Bezüge zur außerfilmischen Wirklichkeit audiovisuell betont werden: sei es durch die Wirkung der Dialekte und fremden Idiome, die dem hochgestochenen Kunstjargon einiger ungekürzt aus der Romanvorlage übernommener Dialogpassagen entgegenstehen, seien es Einstellungen und Szenen, in denen der Film die sinnliche Qualität der wahrgenommenen Umgebung spürbar macht. Letzteres manifestiert sich markant in der subjektiven Ka31 Hickethier 2000, 107. 32 Hickethier konstatiert mit Bezug auf AM GRÜNEN STRAND DER SPREE, dass vor allem in den ›Fernsehromanen‹ der Zeit »sowohl fiktionales Spiel wie Darstellung von Wirklichkeit« gezeigt werden, funktionalisiert »im Zeichen der Vergangenheitsbewältigung« (Hickethier 1980, 209). In Hinblick auf die Abgrenzung zu den abstrakt-stilisierenden Darstellungsformen in der Debatte um das Fernsehspiel spricht er gegenüber der zur theatralen Kammerspielästhetik von Naturalismus (vgl. ebd. 208-210). Im Fernsehspiel nimmt in den Jahren nach 1960 das Interesse an einem größeren Bezug zur gegenwärtigen Wirklichkeit dann deutlich zu (vgl. Hickethier 1989, 48-51).
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mera, mit der Wilms in der ersten Episode seine Umgebung erschließt. Es zeigt sich dann beispielsweise auch in BASTIEN UND BASTIENNE 1953, als die fahrende Kamera Bärbel und den sowjetischen Soldaten durch das schmatzende Moor folgt (BB53, 01:30:55-01:31:55). In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass in jeder Folge Plotelemente vorkommen, die vordergründig weder für die jeweilige Binnengeschichte noch den Mehrteiler in seiner Gesamtheit dramaturgisch funktional sind. Ersichtlich wird daran, dass die Digressionen im Roman stellenweise auch für die Verfilmung maßgebend sind. In einigen dieser abschweifenden Szenen ergehen sich die jeweiligen Protagonisten in philosophischen Diskursen, die sich nicht nur auf das dargestellte Geschehen beziehen, sondern allgemeiner Natur sind. Wirken diese dialoglastigen Abschnitte mit ihren »zungengymnastische[n] Übungen«33 einigermaßen artifiziell, kehren andere Passagen die Alltäglichkeit dessen, was sie zeigen, hervor.34 BASTIEN UND BASTIENNE 1953 ist hier paradigmatisch: Schon auf dem Bahnsteig in Erkner folgt der Zuschauer einem kurzen, unbedeutenden Gespräch zweier Volkspolizisten (BB53, 00:07:27-00:07:52); auch in der späteren Szene der Busfahrt nach Markgrafpieske unterhalten sich die Fahrgäste scherzend nur über Nebensächliches, wobei die Geschichte um das Hengstfohlen, die im Roman zu einer Nebengeschichte ausgebaut wird, nur eine kurz erwähnte Anekdote bleibt (BB53, 00:11:10-00:13:24). Die vierte Folge bietet dem bundesdeutschen Publikum durch solche Szenen einen Einblick in das Leben und die Mentalität der Menschen, die in den provinziellen Gegenden der DDR leben. Die Konzeption der Nebenfiguren fällt hier meist stark typisierend aus, wenn etwa am Ehepaar Pausin der innere Widerstand und die traditionsbewusste Ortsbezogenheit vorgeführt werden. Die einzelnen Folgen stellen demnach nicht nur einen Handlungszusammenhang dar, sondern schildern durch prinzipiell irrelevante Elemente die allgemeinen lokalen und historischen Spezifika der dargestellten Situation, um eine Art Alltäglichkeitseffekt zu erzielen. Gerade an Frau Pausins kritischen Tönen gegenüber dem ostdeutschen Sozialismus ist bemerkbar, dass Umgelter sich nicht darauf beschränkt, die jeweiligen Verhältnisse nur vorzuführen. In den einzelnen Folgen werden vielmehr gesellschaftliche Umstände jeweils unter einem bestimmten Blickwinkel betrachtet und somit eingeordnet. Sympathie tragende Figuren wie Frau Pausin und 33 Morlock 1960, 61. 34 Der Film zeigt aufgrund seiner fotografischen Eigenschaften zwangsläufig Details, die keine Bedeutung für die eigentliche Geschichte besitzen. Kirsten spricht nur bei solchen irrelevanten Einzelhandlungen, wie sie auch in AM GRÜNEN STRAND DER SPREE vorkommen, vom Realitätseffekt in Anlehnung an Barthes (vgl. Kirsten 2013, 167176).
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genuin filmische Mittel – genauer die mise en scène – übernehmen hier eine kommentierende Funktion: Die Kamera hebt wiederholt Ausstattungs- und Dekorelemente hervor. So lässt in der Erschießungsszene die fokussierte Armbinde der lettischen Volkssoldaten mit dem Schriftzug ›Im Auftrag der deutschen Wehrmacht‹ die Vorstellung von der Alleinschuld der SS, die die Figur des zynischen Oberst aufruft, fraglich werden (TJW, 01:22:40). In BASTIEN UND BASTIENNE 1953 konterkariert das hinter Koslowski angebrachte Plakat ›Deutschland kann nur wiedervereinigt werden, wenn die Deutschen selbst gemeinsam dafür kämpfen‹ die anti-westliche Rede des Bürgermeisters (BB53, 00:45:39). Mit filmischen Mitteln dieser Art wird im Fernsehen, das sich in dieser Zeit politisiert, eine antikonformistische Haltung in Bezug auf die Themenkomplexe Nationalsozialismus, Holocaust und Ost-West-Teilung demonstriert, indem die Diegese auch durch bestimmte Kameraführungen semantisch verdichtet wird. Auf der Ebene der Bildästhetik finden sich in den Einzelfolgen aber auch avancierte Verfahren, die für die Darstellung funktional nicht relevant sind, so dass sich in ihnen die stilisierten Kompositionen durch die mise en scène ausstellen: In der Umgebung des reich verzierten Rokoko-Saals im PREUSSISCHEN MÄRCHEN verfährt die sich nach oben schraubende Kamera z. B. gleichsam selbst ornamental (PM, 00:14:20-14:47). Auffällig ist die große Tiefenschärfe in zahlreichen Einstellungen; anders als bei Bazin, der in ihr eine Annäherung an die Alltagswahrnehmung sieht, wird der Blick des Zuschauers bei Umgelter nicht ›befreit‹.35 In AM GRÜNEN STRAND DER SPREE fokussiert die Kamera vielmehr oftmals Objekte und Personen im Vordergrund, die durch ihr Arrangement den Blick auf das Geschehen im Mittel- oder Hintergrund lenken. Durchmisst Umgelter auf diese Weise den gesamten Raum des Dargestellten, so demonstriert er damit zugleich, dass die kleine Größe des Fernsehbildschirms keine ästhetische Einschränkung bedeutet. Entsprechend verzichtet AM GRÜNEN STRAND DER SPREE keineswegs auf Landschaftsaufnahmen und Massenszenen, sondern spielt solche filmischen Verfahren mit den (im Vergleich zum Kino naturgemäß begrenzten) Möglichkeiten des Fernsehens im 4:3-Format aus. Auch die entsprechenden Kamerafahrten und -schwenks, die einen panoramaartigen Überblick über eine Szenerie bieten, sind auffällig. Wegen seiner emotional verstärkenden Wirkung kann etwa der zweifache Schwenk mithilfe eines Krans angeführt werden, der in Folge 1 von den nachladenden Volkssoldaten zur Grube, in die die Erschossenen fallen, und dann zu Wilms führt (TJW, 01:19:1401:20:56).
35 Vgl. Bazin 1958, 143f.
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Die Bewegungen der durchweg ungewöhnlich agilen Kamera folgen zwar in der Regel dem Geschehen, aber es finden sich auch solche Kameraführungen wie im ornamentalen Schwenk des PREUSSISCHEN MÄRCHENS, die nur der ästhetischen Stilisierung dienen, die filmischen Gestaltungsmittel also von ihrer mimetischen Funktion lösen. Gelegentlich ergeht sich die mise en scène ähnlich in rein optischen Effekten: beispielsweise am Ende von Folge 4, als Hesselbarths Gesicht durch das Sektglas verzerrt wird (BB53, 01:43:13ff.). An anderen Stellen generiert sie wiederum komische Wirkungen, wenn sie das Geschehen und Kommentare der Figuren mit plakativen Bildmotiven ergänzt: dort etwa, wo der Mitlöhner angeekelt auf einen über ihm befindlichen Elchkopf blickt, nachdem der General am Telefon darum gebeten hatte, bei der nächsten Freigabe zum Abschuss informiert zu werden (DG, 00:53:36ff.). Schreitet die Kamera im TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS nacheinander die startenden Motorräder von Wilms’ Einheit ab, so mag dies die Entindividualisierung des Soldaten im NSHeer symbolisch vermitteln; zugleich besticht die Einstellung formalstilistisch durch den visuellen und akustischen Rhythmus der gleichgestalteten Aufnahmen (TGW, 00:30:19-00:30:52). Dramaturgisch eher unwichtige Szenen und Einstellungen bleiben insgesamt jedoch nebensächlich, während in den jeweiligen Geschichten die (inneren) Konflikte der männlichen Hauptfigur, die durch die zeithistorischen Umstände verursacht werden, im Vordergrund stehen. AM GRÜNEN STRAND DER SPREE erweist sich daher sowohl in jeder Einzelfolge als auch im Gesamtzusammenhang des Mehrteilers als ›klassisch‹ organisierte Narration. Die dargestellten Ereignisse werden stets in einen kohärenten Handlungszusammenhang gebracht; selbst das episodenhaft anmutende TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS zeigt durch die Begegnungen mit dem jüdischen Geschwisterpaar eine dramatische Entwicklung. Wenn eine Folge eine Informationslücke hinterlässt, wird diese im Kontext des Mehrteilers an anderer Stelle letztlich immer gefüllt. Wie die Romanvorlage basiert auch die Fernsehadaption auf dem Prinzip des Schicksals, über das die Figuren, Orte und historischen Situationen der Einzelfolgen in einem ›zyklischen Geschichtsverlauf‹36 eingebunden bleiben. Das Modell einer metaphysischen Ordnung vermittelt sich somit über die kohärente, dezidiert teleologische Narration: Suggeriert der Fernsehmehrteiler die Wiederkehr des Immergleichen, erscheint der Krieg als elementarer Bestandteil im menschlichen Wesen verankert und das Individuum als Wiedergänger in seinem Schicksal als vorherbestimmt; dies wird ja auch dadurch deutlich gemacht, dass verschiedene Figuren von den gleichen Schauspielern verkörpert werden, so
36 Vgl. Heck/Lang 2018.
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etwa Hans-Wratislaw von Zehdenitz-Pfuell und sein Vorfahr Wenzeslaus-Bogdan von Peter Thom. Auch die Verfilmung widersetzt sich also der Vorgabe der Kontingenz, die in Hinblick auf das europäische Nachkriegskino als charakteristisch für eine realistische und später auch moderne Erzählweise betrachtet wird. Der Einzelne wird bei Umgelter wie bei Scholz dagegen in ein sinnhaftes Ganzes eingeordnet. Mit Umberto Eco gesprochen wird über die formale Geschlossenheit des Fernmehrteilers noch ein geordneter Kosmos inszeniert: Wenige Jahre nach der Ausstrahlung von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE stellt Eco im Rahmen seiner Studie zum offenen Kunstwerk die These auf, dass in der filmischen Erzählung nicht die aristotelische Dramaturgie, sondern die »›gewollte[]‹ Zufälligkeit«37 die Anschauung der Welt in der Moderne adäquat widerspiegele. Die für das Fernsehen so innovativen Mittel der Kohärenzbildung, die AM GRÜNEN STRAND DER SPREE mit den Möglichkeiten des jungen Formats ›Fernsehroman‹ ausbildet, erweisen sich nach Maßgabe modernen filmischen Erzählens insofern als unzeitgemäß. Durch Episodenhaftigkeit, Diskontinuität, Fragmentierung oder die Durchdringung von subjektiver und objektiver Welt unterlaufen entsprechende Filme solche Verfahren der Sinnstiftung, um die Erfahrung der Entfremdung in den modernen Massengesellschaften mit neuen narrativen wie formalstilistischen Mitteln des Films evident zu machen. Film(-Kunst) im Fernsehen: Moderate Modernisierung Trotz seiner reflexiven und künstlerisch avancierten Verfahren mag AM GRÜNEN STRAND DER SPREE daher nicht mit der modernen Filmästhetik, wie sie sich im Sinne Kovács’ im zeitgenössischen internationalen Kunstkino entwickelt, vereinbar sein. Entscheidend ist jedoch, dass Umgelter als Regisseur im Fernsehen etablierte filmische Erzähl- und Darstellungsweisen nicht nur übernimmt, sondern auch deren Konventionen herausfordert: Die Folgen tragen im Ganzen einen filmischen Gestaltungswillen zur Schau und akzentuieren ihre gesellschaftspolitischen Dimensionen, wobei sich manche Szenen durch eine starke Orientierung an der Vorlage, die seinerzeit schon Morlock beklagt, noch der älteren, kammerspielartigen Fernsehspielästhetik annähern.
37 Vgl. Eco 1973 [1962], 203. Eco postuliert, dass sich die semantisch ambigen Formen der modernen Kunst »einer ganz neuen Anschauung der physischen Welt und der psychologischen Beziehungen, wie die moderne Wissenschaft sie vor uns stellt, angleichen« (ebd., 266).
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Bringt man AM GRÜNEN STRAND DER SPREE in diesen Punkten tatsächlich mit den Gestaltungsmöglichkeiten in Zusammenhang, die durch den Neorealismus und das auteur-Kino geschaffen werden, so zeigt sich hier eine ganz eigentümliche Verquickung unterschiedlicher Einflüsse: Im kritischen Portrait der deutschen Vergangenheit und Gegenwart verbindet der Mehrteiler populäre Erzählweisen des bundesdeutschen Genrekinos mit einem ausgestellten Realitätsbezug und ästhetischer Stilisierung im Einsatz filmischer Mittel. Wenn Hickethier konstatiert, dass das Paradigma des Autorenfilms in der ersten Hälfte der 1960er Jahre auch für das Fernsehspiel relevant wird und hierbei unter anderem Umgelter als Beispiel nennt, dann darf dies nicht nur daran festgemacht werden, dass ein Regisseur auch das Drehbuch verfasst.38 Umgelter als Fernsehregisseur demonstriert damit vielmehr auch seine filmische Kunstfertigkeit in einer Zeit, in der es thematisch und ästhetisch ambitionierte Arbeiten im krisengeschüttelten Kino der Bundesrepublik schwerer denn je hatten. Das frühe fiktionale Fernsehen, das erst in dieser Phase um 1960 stärker auf filmische Verfahren zurückgreift, bildet also einen Ort, an dem nun auch solche künstlerischen und politischen Ambitionen umgesetzt werden können. Filmhistorisch betrachtet nimmt AM GRÜNEN STRAND DER SPREE insofern eine interessante Zwischenposition ein. Der Mehrteiler überwindet einerseits die narrativen und ästhetischen Muster der Genres, die sich im bundesdeutschen Kino der 1950er Jahre etablieren, indem er neuen Ansätzen folgt. Darin eröffnet er im Vergleich mit diesem Kino einen differenzierteren, in jedem Fall gewagteren Blick auf gesellschaftspolitische Themen, die 1959/60 aktuell sind – angesichts der in dieser Zeit sich verschärfenden Situation zwischen Ost und West vielleicht sogar aktueller denn je. Andererseits zielt der Mehrteiler, ähnlich wie bereits der Roman und das Hörspiel, darauf ab, das Publikum trotz der konfrontativen Darstellung des Holocaust emotional aufzufangen: indem die leichter werdenden Geschichten es in die bundesdeutsche Gegenwart mit ihren Möglichkeiten des Genusses und des Vergnügens führen. Diese Unterhaltsamkeit, die sich im Verlauf der Folgen entfaltet, kann unter anderem gerade dadurch entstehen, dass Umgelter populäre Erzählformen aus dem Unterhaltungskino aufgreift. Anders verhält es sich dann beim elitären Jungen Deutschen Film, der die Debatte um den nationalen Kinofilm seit Oberhausen bestimmt. Im Zuge der gesellschaftlichen Politisierung seit den 1960er Jahren werden dann auch im Film Betrachtungsweisen und Sinngebungsangebote, wie sie AM GRÜNEN STRAND DER SPREE noch bietet, als überholt, aus linker Perspektive gar als reak38 Vgl. Hickethier 1980, 227f. Hickethier erkennt darin vor allem eine Emanzipation des Fernsehspiels von den literarischen Vorlagen, indem durch eine eigenwillige Formung »ein völlig neuer eigenständiger Film« (ebd., 227) entstehe.
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tionär angesehen: Schließlich wird hier der Zweite Weltkrieg in seiner Singularität relativiert und der Einzelne als Wiedergänger gegenüber einem zyklischen und daher unabänderlichen Lauf der Weltgeschichte potentiell seiner Verantwortung enthoben. Mit oft anti-bürgerlichem Affekt begegnet der Großteil der neuen Regisseure der westdeutschen Gesellschaft und ihrer Geschichte dann in Form der Anklage. Hierbei bedienen sie sich moderner filmischer Verfahren, um die Wahrnehmungsgewohnheiten des zeitgenössischen Publikums zu unterwandern, d. h. im Sinne Brechts, der nun wieder stark rezipiert wird, die Einfühlung in das Dargestellte zu verhindern und zur kritischen Selbstreflexion anzuregen. Mit dem damit verknüpften Anspruch, anti-konventionell und singulär zu sein, werden gerade die Genres des konventionellen Erzählkinos für den Großteil des deutschen Autorenkinos zum Problem. In diesem Zusammenhang steht AM GRÜNEN STRAND DER SPREE durch reflektierte und kreative Genrebezüge den ursprünglichen Ideen der cinephilen Cahiers du cinéma letztlich näher als die Oberhausener. Die betonte ästhetische Komplexität, mit der sich die Regisseure des Jungen Deutschen Films von kommerzieller Unterhaltung abgrenzen wollen, erschwert dagegen dem Publikum den Zugang zu ihren Darstellungen. Wie bei Schmieding liegt dem die Ansicht zugrunde, dass das eigentliche Dilemma des Kinos nicht im Zuschauerschwund, sondern im Mangel an künstlerischer Innovation besteht: Ein als ›Kunst‹ konzipierter Film müsse sich letztendlich einem großen Publikum verschließen.39 Eine der Forderungen des Oberhausener Manifests besteht ja dann darin, ein künstlerisch ambitioniertes Kino durch eine neue Filmgesetzgebung und Förderpolitik vom wirtschaftlichen Druck zu befreien. Das Fernsehen dagegen demonstriert mit Umgelters zweitem ›Straßenfeger‹ bereits vorher, dass es als Medium mit filmischen Qualitäten Problemthemen auf avancierte Weise verhandeln und dennoch für ein großes Publikum attraktiv bleiben kann. In Abwandlung von Morlocks Besprechung der Folge DAS TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS40 lässt sich sagen: Im Vergleich zum Kino kann das Fernsehen nicht nur politisch, sondern genau darin auch (film-)künstlerisch sein.
39 Vgl. Schmieding 1961, 8. 40 Morlock 1960.
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Der große Boogie-Woogie aus der Macht des Schicksals Musik im Fernsehmehrteiler AM GRÜNEN STRAND DER SPREE Stephanie Heck / Simon Lang
Dem Barpianisten Česnik kommt in Hans Scholz’ Roman Am grünen Strand der Spree eine besondere Funktion zu. Mit seinen Kommentaren bezieht er sich vordergründig zwar nur auf die Musik. Er eröffnet damit aber auch eine Ebene ästhetischer Reflexion, auf der sich der ganze Text selbstreferenziell positioniert. In den Bezugnahmen auf den Expressionismus werden Absolutheitsansprüche im Bereich der Kunst auf durchaus polemische Weise mit totalitären Weltanschauungen gleichgesetzt: »Kunstgetue und Kunstdünkel und Kunst, Kunst, Kunst ... Die Faxen habe ich dicke bis zur Vergasung.« (284)1 Mit dieser (bis heute tabuisierten) Formel »schwebt« Česnik selbst »da so etwas vor, [...] etwas mit aufheiternder Tendenz! [...] Etwas Zartes, Heiteres, Bescheidenes.« (Ebd.) Dabei nimmt gerade er, der seine Zeit im amerikanischen Gefangenenlager mit »richtige[m] Jazz und Dixieland« (291) verbracht hatte, durch seine »Improvisation über die ›Macht des Schicksals‹ in Jazzrhythmen« (280) am Klavier das Zusammenbringen von Koslowski und Babsybi musikalisch vorweg. Der boogiewoogie del destino, den sich Bob Arnoldis auch im Fernsehmehrteiler von der Jockey-Combo wünscht (BB53, 01:44:36), spiegelt in nuce das Programm des Romans wider: Er greift das zentrale Schicksalsmotiv auf und forciert zugleich die im Werk angelegte Aufheiterungstendenz. Nicht zuletzt deutet er sein Verhältnis zur ›Hochkultur‹ an, da Verdis Oper La forza del destino auf ein Stück Unterhaltungsmusik übertragen wird. Wie schon im Hörspiel fehlt in der Fernsehadaption der Auftritt von Česnik mit diesen Bemerkungen. Dennoch stellt auch hier die Musik wie im Roman einen zentralen semantischen Komplex dar. Während ein Roman Musik nur mit 1
Seitenangaben im Fließtext folgen der Ausgabe: Scholz 1955.
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sprachlich-literarischen Mitteln nachbilden oder simulieren kann, können ihr die beiden anderen Ausgestaltungen aufgrund ihrer medienspezifischen Ausdrucksmöglichkeiten auf eigene Weise gerecht werden. Als auditive bzw. audiovisuelle Medien können sie Musik zu einem eigenen Mittel ihrer Darstellungen machen: nicht nur als Bestandteil der dargestellten Welt, sondern als Gestaltungsmittel, das Ästhetik und Semantik der beiden Mehrteiler wesentlich bestimmt. Gehört Musik sowohl beim Kinofilm als auch im Hörspiel seit den frühen Anfängen zu den elementaren Bestandteilen der Inszenierung, so gilt dies auch für das noch verhältnismäßig junge Fernsehen, das seinerseits aber auch eigene Ausdrucksformen ausbildet. Gerade dem Serienformat ist durch fernsehspezifische Gestaltungsmittel die Möglichkeit gegeben, Verbindungen zwischen den Bestandteilen zu schaffen. Dass diese nicht allein fernsehfilmisch ausfallen, zeigt die mehrteilige Hörspiel-Adaption von Am grünen Strand der Spree, die mit der auf Schallplatte weiterverwerteten Titelmusik Jockey-Bounce zu Beginn jeder Folge solche Zusammenhänge herstellt.2 Im Fernsehmehrteiler wird extradiegetische Musik noch stärker als Mittel zur Erzeugung von Kohäsion eingesetzt, dies nicht zuletzt im Hinblick auf die zentrale Schicksalsmotivik, weil diese über intraserielle Verknüpfungen evident gemacht werden kann. Zugleich ist durch die medienspezifische Möglichkeit, Musik einzusetzen, eine genuine, von der Romanvorlage unabhängige Ebene ästhetischer Reflexion geschaffen: Gerade das Verhältnis von intra- und extradiegetischer Musik macht deutlich, wie auch das Hörspiel und der Fernsehfilm einer ›aufheiternden Tendenz‹ gerecht zu werden versuchen. Die Musik wird so zum Indikator dafür, dass auch der Fernsehmehrteiler sich diese Funktion zuschreibt. Abgrenzung: Hoch-Kunst-Musik Burzik konstatiert in ihrem historischen Überblick über die Musik der 1950er Jahre »eine relativ unversöhnliche Gegenpoligkeit«3, die sich sowohl innerhalb als auch zwischen den verschiedenen Musikgattungen und -genres herauskristallisiert: unter anderem »E-Musik gegen Jazz und U-Musik, Popularmusik gegen Jazz, Schlager gegen Rock’n’Roll.«4 Der Jazz, der im gesamten Medienkomplex Am grünen Strand der Spree eine bedeutsame Rolle spielt, nimmt laut Burzik in diesem Jahrzehnt eine Mittelstellung ein. Einerseits besitzt er in seinen unter2
Das Lied wurde als Single-Schallplatte von dem Plattenlabel Manhattan herausgegeben (Katalog-Nr. 65022 A). Der Komponist ist Hans-Martin Majewsky, eingespielt wurde das Stück vom Johannes Rediske-Quintett.
3
Burzik 2002, 260.
4
Ebd.
Musik im Fernsehmehrteiler | 275
schiedlichen Genrevarianten bei den jugendlichen Subkulturen große Relevanz. Bei den ›Exis‹ etwa dient Jazz dem Ausweis eines gruppenspezifischen, subkulturellen Habitus. Insgesamt betrachtet wird er überwiegend von Jugendlichen aus bildungsprivilegierten Schichten rezipiert, während die Enthusiasten des neuartigen Rock’n’Roll eher aus Arbeiterkreisen stammen.5 Ablehnende Stimmen werden vor allem nach den Halbstarken-Ausschreitungen Mitte der 1950er Jahre laut, wobei der Jazz als Form der Tanzmusik kontrovers diskutiert wird; die Frage nach dem Kunststatus dieser Musikrichtung kommt in der Debatte gar nicht auf. Andererseits wird der Jazz nach Jahrzehnten der Ablehnung auch in Deutschland für die Intellektuellenkultur attraktiv. Seine Befürworter versuchen entsprechend, ihn als Kunstform zu begründen, um ihn zu nobilitieren; exemplarisch wird der Streit zwischen Berendt und Adorno prominent.6 Poiger weist zudem darauf hin, dass der Jazz aufgrund seiner historischen Provenienz aus den USA im Kalten Krieg zum ›Botschafter amerikanischer Demokratie‹ stilisiert wird, zumal die Kulturpolitik der östlichen Staaten diese Musikrichtung unterdrückt. Interessanterweise sprechen sich in diesem Zuge mit Konrad Adenauer und Franz-Josef Strauß sogar konservative Politiker für den Jazz aus.7 Der Fernsehmehrteiler AM GRÜNEN STRAND DER SPREE ignoriert solche Aufwertungsversuche, nimmt aber werkintern Differenzierungen vor, die sich mit Riethmüllers Ausführungen zur bundesdeutschen Musik der 1950er Jahre verbinden lassen: Gerade im Hinblick auf die nationalsozialistische Vergangenheit bleibt »auf dem Gebiet der klassischen bzw. der Musik als bildungsbürgerlicher Kultur ideologisch gesehen alles beim Alten«.8 Klassische Musik ist demnach jener kulturelle Bereich, in dem eine kritische Selbstreflexion ausbleibt; deshalb geht man »trotz des Zweiten Weltkriegs zweifellos davon aus[], dass deutsche Musik die Musik schlechthin sei«.9 Dabei hatte der Nationalsozialismus den Topos von Musik als ›deutscheste aller Künste‹, welcher seit dem 19. Jahrhundert bestand und durch die Entnazifizierungspolitik der Alliierten implizit bestätigt wurde, nur überbetont.10 Neben dem Musical wird nun gerade der Jazz als das Genre, das sich besonders stark den Einflüssen der USA öffnet,
5
Vgl. Hüser 2008, 294.
6
Vgl. Poiger 2000, 142-145.
7
Vgl. Poiger 2000, 163-166.
8
Riethmüller 2007, 222.
9
Ebd., 216 [Hervorh. i. Orig.].
10 Vgl. Riethmüller 1995; Custodis/Geiger 2013, 13.
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als »eine echte Alternative zu einer Kultur« angesehen, »die man seit dem Ersten Weltkrieg und noch mehr seit dem Holocaust kontaminiert sah«.11 Fritz Umgelters Mehrteiler behandelt den Jazz als Bestandteil einer Populärkultur, die er nicht zuletzt deswegen positiv besetzt, weil es sich schon bei der theme music im engeren Sinn gar nicht um Jazz handelt, sondern um eine unterhaltungsmusikalische Variante, genauer einen vom Jazz geprägten Big-BandSound. In diesem Sinn verweist AM GRÜNEN STRAND DER SPREE an manchen Stellen auf seinen populärkulturellen Charakter, etwa durch den Roman Und ewig singen die Wälder von Trygve Gulbranssen in DER GENERAL.12 Diese Folge wartet zudem mit einer Szene auf, die durch Kommentare zur Musik ähnlich programmatischen Charakter gewinnt wie jene von Česnik im Roman. Hesselbarth unterhält sich darin mit zwei weiteren Soldaten seines Ranges über Christian Sindings Klavierstück Frühlingsrauschen, das den allwöchentlichen Casinoabenden der müßig-apathischen 9. Infanteriedivision in Norwegen »eine gewisse kultivierte Note« (DG, 00:13:49f.) verleiht: Soldat 1:
»Ich kann dieses idiotische Musikstück nicht mehr hören. Seit 1940 habe ich es mindestens 200 Mal über mich ergehen lassen müssen. Das grenzt ja an Wehrkraftzersetzung.«
Hesselbarth: »Seien Sie froh. Sindings Frühlingsrauschen ist mir immer noch lieber als die Götterdämmerung.« Soldat 2:
»Genießt den Krieg, der Frieden wird fürchterlich.« (DG, 00:08:23-00:08:41)
Während einer der Oberen über den »ausgesprochen nordischen Charakter« (DG, 00:13:54f.) des Stücks sinniert, muss der IA, der darauf besteht, sich ungestört dem »Kunstgenuss« (DG, 00:10:04) hingeben zu können, selbst zwischenzeitlich gähnen. Der Rest der Division ergeht sich bei Mokka und Likör eher in Unterhaltungen über banale Dinge in der norwegischen Abgeschiedenheit, hält sich also nur der Autorität des IA wegen zurück. Auffällig ist in dieser Folge, wie der gesamte Stab durch ein doppelbödiges Verhalten charakterisiert wird. Nur nach außen wird dürftig eine gewisse Haltung aufrechterhalten, die in Wirklichkeit niemand vertritt. Dies macht den ironischen Gestus der gesamten Folge aus, den die Figuren sowohl der nationalsozialistischen Ideologie als auch der ›hohen‹ Kunst entgegenbringen. Der Hinweis auf Richard Wagners Götterdämmerung ist hier von doppelter Bedeutung. Im Kontext des nonchalanten Dialogs wie der gesamten Story weist 11 Ebd., 225. 12 Vgl. den Beitrag von Stephanie Heck zum Quality TV in diesem Band.
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sie auf den Niedergang des NS-Regimes voraus, im übertragenen Sinn auf den Untergang der ›Götter‹, womit sie auch das Ende der relativ sorgenfreien Zeit des Müßiggangs andeutet. Zugleich ruft sie über Wagner die Vorstellung einer im Vergleich mit Sinding spezifisch ›deutschen‹ Hochkunst auf, die auf die NSIdeologie bezogen wird: Hitler war ein großer Verehrer von Wagners Œuvre, das vom Nationalsozialismus entsprechend propagandistisch instrumentalisiert wurde, zumal ja von Wagner selbst antisemitische Kommentare überliefert sind.13 Bezeichnenderweise beruft sich in der Folge DER GENERAL der nationalsozialistische Führungsoffizier der Division, abwertend als »SA-Siegfried« (DG, 00:56:23) bezeichnet, später auf die »Nibelungenrecken« (DG, 00:57:03), was vor diesem Hintergrund wiederum als Anspielung auf Wagners Opernzyklus verstanden werden kann. Mag DER GENERAL indirekt und mit gewissen Abstufungen (Sinding – Wagner) NS-Ideologie und Hochkunst engführen, so zeigt auch der Mehrteiler wie der Roman an der Musik seine Ablehnung totalitärer Ansprüche an, sowohl weltanschaulich als auch künstlerisch. Wagner dient hier zum einen als allgemeiner Verweis auf (klassische) Höhenkammkunst, zum anderen kann dieser Bezug im Unterschied zum Roman auch als Abgrenzung zu jenem antiquierten Kunstverständnis, das in den 1950er Jahren infrage gestellt wird, interpretiert werden. Im Umkehrschluss kann daraus abgeleitet werden, dass sich der Mehrteiler im Vergleich mit dem Roman der ästhetischen Moderne nicht verschließt, auch wenn die filmische Darstellung dies nicht allzu forciert betreibt. Was sind die Alternativen, die AM GRÜNEN STRAND DER SPREE in seinen fünf Folgen aufbringt? Es sind musikalische Genres, die gegenüber Sinding und Wagner als ›populär‹ ausgewiesen bleiben. Die Unschärfe des Begriffs sei hier produktiv verwendet, denn es handelt sich einerseits um solche Genres, die eher einer modernen Massenkultur entsprechen, andererseits um solche, die demgegenüber traditionsgebundenes Kulturgut, auch im Sinne des Volkskulturellen, konnotieren. Grundsätzlich werden Stücke und Lieder eingesetzt, die auf Seiten der Rezeption im Unterschied zur Kunstmusik keine intellektuelle Anstrengung erfordern. Die erste Variante bietet sich als populäre Unterhaltungsmusik dar, bei der es sich im weiteren Begriffsverständnis um ›Schlager‹ handelt. Schulz weist in ihrer Studie zum Schlagerfilm darauf hin, dass dieser einen »allgemeine[n] ›Erfolgsbegriff‹«14 darstellt, der sich konkret auf »kommerziell erfolgreiche Produk-
13 Als jüngster Beitrag zur Debatte um das Verhältnis zwischen dem Nationalsozialismus und Wagner vgl. von Berg/Maintz/Wagner 2018. 14 Schulz 2012, 70.
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te«15 bezieht. Im Begriffsfeld der Musik bezeichnet das Wort schlicht »eine Musiknummer, die besonders großen Anklang beim Publikum findet«.16 Bei dieser Definition ist also die Rezeptionsseite ausschlaggebend, so dass der Schlager nicht auf eine spezifische Machart zurückgeführt wird. Dementsprechend bezeichnet ›Schlager‹ gegenüber dem heutigen Alltagsverständnis deutschsprachige wie fremdsprachige Lieder, wobei die Genrezugehörigkeit keine Rolle spielt. Vor diesem Hintergrund ist die Auswahl an Musikstücken, die AM GRÜNEN STRAND DER SPREE in der diegetischen Welt präsentiert, genauer zu betrachten. Zunächst sind primär fremdsprachige Lieder bzw. Lieder fremdsprachiger Provenienz bedeutungstragend, so etwa Bei mir biste sheen, L’amour attendra-t-il jusqu’à demain (Eva Busch), Santa Lucia (Herbert Ernst Groh) oder Penny serenade. Abgesehen von solchen Stücken, die wie La donna è mobile aus Verdis Rigoletto schon damals populärkulturell vereinnahmt waren, handelt es sich ausschließlich um Schlager, die aus der Zeit vor dem Kriegsende stammen. Dies mag wiederum mit der zeitlichen Verortung der Binnengeschichten zusammenhängen, etwa im zweiten Erzählrahmen des PREUSSISCHEN MÄRCHENS oder in CAPRICCIO ITALIEN, die jeweils in der Vorkriegszeit 1938 bzw. 1939 angesiedelt sind. Entscheidend ist, dass solche Lieder im Kontext eines Fernsehfilms verwendet werden, der sich mit vergangenen Zeiträumen auseinandersetzt und hierzu jeweils eine spezifische Haltung einnimmt. Diese Lieder sind grundsätzlich doppelt funktionalisiert: In ihnen manifestiert sich die Maxime der Unterhaltung, die im Zuge eines erinnernden Präsenthaltens die dennoch nötige Hinwendung zur Gegenwart forciert. Zugleich wird über solche Musik die Idee einer Kultur vermittelt, die in Opposition zum Nationalsozialismus steht und nach dessen Niedergang als (Wieder-)Anknüpfungspunkt dient, um Identität zu stiften. Es geht mit anderen Worten darum, durch derartige Artefakte auf kulturelle Konstanten zu verweisen, die zugleich als nicht korrumpiert ausgewiesen sind. Besonders markant zeigt sich dies an dem Swing-Stück Bei mir biste sheen der Andrews Sisters (1937), das »von der Reichsmusikkammer verboten« (TJW, 01:32:09ff.) war und den ideologisch aufgeladenen Kulturvorstellungen der Nazis sogar in zweifacher Hinsicht widerspricht: als Lied in jiddischer Sprache, das zudem im Stil des von den Nationalsozialisten als afroamerikanisch verpönten Jazz komponiert ist. Wenn Lepsius das Stück als »sozusagen altes JockeyLied« (TJW, 01:32:03ff.) bezeichnet, wird die Bar (wie auch im Roman) zu
15 Ebd. 16 Ebd.
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einem Hort der gleichermaßen nicht korrumpierten wie bildungsbürgerlich geprägten (Unterhaltungs-)Kultur. Musikalisch wird damit eine kosmopolitische Haltung vermittelt, die die Weltläufigkeit der Gestaltung im Fernsehfilm unterstreicht und sich so zugleich dem Deutschtum im Sinne der nationalistisch-völkischen NS-Ideologie widersetzt: indem sie das ›Fremde‹ feiert. Zugleich stellt sie durch Volks- und Soldatenlieder als weiteren Bezugshorizont Heimatverbundenheit her: Diese repräsentieren eine deutsche bzw. regionalspezifische Tradition, die in Hinblick auf den Nationalsozialismus so behandelt wird, dass sie schon vor ihm vorhanden war und entsprechend nicht vereinnahmbar erscheint. Beispielsweise versinnbildlichen sowohl das Soldatenlied Ich hatt’ einen Kameraden in DAS TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS als auch das als BrandenburgHymne bekannte Märkische Heide, märkischer Sand in PREUSSISCHES MÄRCHEN Werte, die von den Protagonisten bei gleichzeitiger Abwehrhaltung gegenüber dem Nationalsozialismus vertreten werden. Beide Stücke verweisen gleichermaßen auf eine Auffassung des Soldatentums, die trotz ideologischer Aufladung durch den »Pflaumenaugust« Hitler (PM, 01:30:44) auch den Großteil der Wehrmacht kennzeichnet. Das Soldatenlied betont die Kameradschaftlichkeit und den Zusammenhalt gegenüber den nationalsozialistischen Eiferern, während die Hymne die heimatverbundene preußische Tradition der Kriegsteilnahme konnotiert. Die Aspekte des Soldatentums und der Verbundenheit mit der preußischen Heimat verknüpft auch das titelgebende Volkslied Wohin ich wandre durch die Welt (am grünen Strand der Spree) von Rudolf Bial aus dem Jahr 1881, das im Ersten Weltkrieg mit geändertem Text als Soldatenlied genutzt wurde. Mit seiner Liedzeile »Wer weiß, ob wir uns wiederseh’n am grünen Strand der Spree«, die die Teilnehmer der Runde am Ende a cappella intonieren (CI, 01:29:1501:29:37), transportiert dieses Lied das Schicksalsmotiv, das den gesamten TVMehrteiler wie bereits den Roman prägt: Es signalisiert Weltläufigkeit bei stetem Rückbezug auf die Berliner Heimat, und es knüpft diese zugleich an die Kriegsthematik, die in jeder der fünf Folgen den historischen Rahmen der Binnenerzählungen bildet. Diegetischer Ton vs. extradiegetische Musik So wie AM GRÜNEN STRAND DER SPREE in seiner formalen Gestaltung mit Musik umgeht, ist auch das Verhältnis zur anderen auditiven Gestaltungsebene, zum Ton, relevant: Der Fernsehmehrteiler wartet mit einem elaborierten Sound De-
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sign auf, das dem filmischen Realitätsbezug wie der intraseriellen Kohärenzstiftung dient. Auf der einen Seite wird durch die verschiedenen Fremdsprachen und Dialekte sowie durch Atmosphären- und Umweltgeräusche (markant etwa in Form von Windrauschen, Wasserplätschern oder Hundebellen) die außerfilmische Welt nachgebildet. Zahlreiche Tonelemente haben keine Bedeutung für die Handlung, wobei sie als Klangobjekte im On visuell oft gar nicht in Erscheinung treten. Auf der anderen Seite entstehen durch die Wiederholung bestimmter Geräusche Zusammenhänge sowohl zwischen als auch innerhalb der Folgen, weil sie für die Schicksalsmotivik funktionalisiert werden: so beim Rauschen eines Flugzeugs, das sowohl in DAS TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS als auch in BASTIEN UND BASTIENNE 1953 zu vernehmen ist. Dort taucht es auf unterschiedlichen narrativen Ebenen auf, in der Binnenerzählung um Babsybi und Koslowski ebenso wie auf der metadiegetischen Ebene um Bärbel und Hans (BB1953, 00:31:48-00:31:59, 00:57:56-00:58:20, 01:34:23-01:34:42). Am Rattern des Maschinengewehrs, das in den Kriegsszenen der Folgen 1 und 4 zu hören ist, wird dagegen erkennbar, wie solche Verschränkungen allein dadurch entstehen, dass Tonelemente in der Nachsynchronisierung mehrfach genutzt werden. Da diese oft stilisiert erscheinen (und daher gelegentlich eher unnatürlich wirken), können solche Verfahren der realistischen Wirkungsintention des Sound Designs sogar entgegenwirken. Das Maschinengewehr, das während der Judenerschießung zu hören ist, verweist auf eine weitere Funktion der Geräuschkulisse: Sie wird auch dramaturgisch und emotiv-affektiv funktionalisiert, indem etwa die Erschießungsszene in Folge 1 Spannung gerade dadurch herbeiführt, dass auf extradiegetische Musik völlig verzichtet wird. Stattdessen sind es die Geräusche vom Fußstapfen im Schnee und das maschinelle Rattern der Schnellschussgewehre, die zur unerträglichen Wirkung der Szene beitragen. Welche Bedeutung diese Verfahren in der Gesamtstruktur des Mehrteilers besitzen, zeigt der Kontrast, den die Darstellung in CAPRICCIO ITALIEN dazu bildet: Bietet sich diese Folge als Parodie des Schlagerfilms dar, so referiert ihr Titel – hier in Anspielung auf Tschaikowskys Capriccio (s. u.) – auf die zentrale Rolle der Musik, die sodann inner- wie extradiegetisch geradezu überbordend zum Einsatz kommt und gegenüber dem realistisch gestalteten TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS die Fiktionalität der filmischen Darstellung ausstellt. Dieses extradiegetische Pendant findet als dramaturgisches Mittel erst ab der dritten Folge Anwendung, so dass diese Entwicklung mit jener der Titel- und Episodenmusiken korrespondiert, die für jede der fünf Folgen je spezifisch gestaltet werden: Stehen sie anfangs noch der Militär- bzw. Marschmusik nahe, so gehen sie
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in den letzten beiden Folgen in einen swingartigen Stil über. Auf der Makrostruktur des Mehrteilers wird damit im Umfang und im Stil der extradiegetischen Musik der Übergang von einer betont authentisierenden zu einer betont künstlichen Inszenierungsweise beobachtbar; zugleich zeichnet sich darin die aufheiternde Tendenz ab. Extradiegetische Musik Die Filmmusik von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE wurde von Peter Thomas komponiert, der in der Folgezeit eine bedeutsame Rolle im deutschen Fernsehen wie im Kino einnimmt. Er zeichnet beispielsweise für die Musiken der EDGAR WALLACE- und JERRY COTTON-Filmreihen verantwortlich, daneben für die von RAUMPATROUILLE ORION, DER KOMMISSAR, DERRICK oder DER ALTE. Werkbiografisch betrachtet führt Peter Thomas darin seine Kompositions- und Dirigentenarbeit aus dem Bereich der Unterhaltungsmusik weiter.17 Wohin ich wand’re durch die Welt (am grünen Strand der Spree) ist für die formale Gestaltung des Mehrteilers in mehrfacher Hinsicht maßgebend. Als theme music schafft das Stück durch die leitmotivische Wiederholung intraserielle Verbindungen auf der extra- wie auf den innerdiegetischen Ebenen: Die einzelnen Folgen werden so als Bestandteile eines mehrteiligen Erzählens markiert. Interessanterweise ist es gerade der innerdiegetische Gebrauch des Liedes, der den ›Fernsehroman‹ zwar als intern diversifizierte, aber zugleich kohärente Einheit ausweist. So ertönt das Lied als Leitmotiv im Anfangsteil von Folge 1, als Schott sein Autoradio anschaltet, bevor es zusammen mit den Credits auf die extradiegetische Ebene übergeht (TJW, 00:00:58). Am Ende der letzten Folge wird es schließlich von den Teilnehmern der Herrenrunde gesungen, bevor sie am frühen Morgen auseinandergehen (s. o.), so dass es den Anfangs- wie den Schlusspunkt des ganzen Mehrteilers bildet. Die Titel- und Episodenmusiken werden hingegen auf andere Weise dem Prinzip der Serie gerecht: Sie sind zwar individuell gestaltet, stellen dabei aber mehr oder weniger stark ausgeprägte Variationen der theme music dar. Sie übernehmen eine narrative Funktion, indem sie durch die von ihnen geschaffene Atmosphäre die Binnenhandlung räumlich und historisch verorten und Motive an die Darstellung von Figuren oder an einzelne Elemente der Handlung anschließen. Die Nähe zur Militärmusik, die durch den Einsatz von Fanfaren und Pauken in den Orchestrierungen entsteht und auf das Kriegsthema verweist, ist beispielsweise bei den Titel- und Episodenmusiken der Folgen 1 bis 3 als gemein-
17 Zum Werdegang von Peter Thomas vgl. Naumann 2009.
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sames Merkmal hörbar; dennoch spielen die Kompositionen auch folgenspezifische Elemente aus. So leitet am Ende von Folge 2 die Solopartie eines Horns die Abspannmusik ein und verweist damit auf die Tugendhaftigkeit des Generals von Hach und zu Malserhaiden (DG, 01:38:18-01:38:38); im PREUSSISCHEN MÄRCHEN setzt eine spannungsreiche Tonfolge aus Streichern, Flöten und Posaunen ein, die durch die unheilvolle Grundstimmung auf den Tod von HansWratislaw und dem Niedergang der gesamten Familie von Zehdenitz-Pfuell vorausdeutet (PM, 01:34:48-01:35:25); die Folge BASTIEN UND BASTIENNE 1953 wartet dagegen mit einem Liebesmotiv aus Klavier, Streichern und Glocken auf (BB53, 01:47:14-01:47:20). Charakteristischerweise leitet die Titelmusik einer Folge stets auch die individuell gestaltete Abspannmusik ein. Diese bezieht sich ebenso auf die Story, dergestalt, dass sie musikalische Motive der Episode und innerdiegetisch relevante Musikstücke wiederaufgreift. In DAS TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS wird etwa Bei mir biste sheen, das Wilms’ inneren Monolog bei der Judenerschießung begleitet, mit einer militärisch anmutenden Orchestrierung eingespielt, ehe die Abspannmusik wie in den kommenden Folgen des Mehrteilers in die theme music übergeht (TJW, 01:34:38-01:36:40). Die Abspannmusik von CAPRICCIO ITALIEN setzt sich konsequenterweise aus den Episodenmusiken aller vorangehenden Folgen zusammen (CI, 01:30:12-01:32:43). Sie nimmt damit für den gesamten Mehrteiler das vorweg, was die Abspannmusiken der ersten vier Folgen jeweils nur für die eigene Story machen: Sie fungieren als musikalisches Resümee, das auf den Inhalt der jeweiligen Episode zurückverweist. Auch die Gestaltung dieser Musiken ist also darauf ausgelegt, Verbindungen gemäß der Struktur des Mehrteilers herzustellen, indem die einzelne Folge im Abspann von CAPRICCIO auch musikalisch in das Gesamtgefüge eingeordnet wird. Durch den wiederholten Einsatz bestimmter Kompositionen gewinnt Musik durchaus auch motivische Qualitäten im Sinne der seit Wagner bekannten Leitmotivtechnik. In Folge 3 etwa deutet die extradiegetische Musik, die sich am höfischen Stil des 18. Jahrhunderts orientiert, im Zusammenspiel mit der Kulisse des Schlosses Döbberin schon in der Gegenwart der ersten Binnenhandlung auf die eingelagerte Geschichte voraus (PM, 00:06:20-00:08:33), die in der Zeit des Siebenjährigen Krieges situiert ist. Später leitet sie dann bei der Verlesung der Bibiena-Chronik durch Babsybi, zusammen mit der ornamentalen Kamerabewegung, in die Vergangenheit über, so dass auditiv wie visuell das Rokoko aufgerufen wird (PM, 00:12:45-00:14:15, 01:19:41-01:20:41). Entscheidend ist hier, dass sie die erste Begegnung von Babsybi und Hans sowie die Annäherung zwischen Ettore und Rosalba begleitet: Durch ihre Wiederholung auf unterschiedlichen Zeit- und Erzählebenen funktioniert diese Musik zugleich als Lie-
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besmotiv, das die schicksalhafte Verbundenheit der Beziehungen anzeigt. Sie setzt sich damit zugleich von der von Streichern dominierten Passage ab, die am Abend vor der Trennung von Hans und Babsybi ertönt und eher an das KinoMelodram erinnert (PM, 01:23:18-01:25:44). Anders verhält es sich in BASTIEN UND BASTIENNE 1953. Die dort verwendete extradiegetische Musik ist mit elektronischen Tönen versetzt und schließt somit an die neuen Entwicklungen in der westdeutschen Kunstmusik an.18 Auch hier besitzt die Melodie eine Doppelfunktion, indem sie eine bestimmte Stimmung erzeugt und diese zugleich durch Rekurrenzen semantisiert. Hier ist sie jedoch an einen bestimmten Ort gebunden, da sie nur an den Szenen im Jagen 49, wo sich das Grab von Hans befindet, erklingt. Dissonante Tonfolgen vermitteln Verstörung und Unheimlichkeit, wobei das Vibrato der Streicher bei Koslowskis Suche nach Babsybi zusätzlich Spannung erzeugt. Schon beim ersten Besuch weist die Musik auf die mysteriösen Ereignisse um das Verschwinden des Grabes voraus (PM, 00:40:48-00:41:15; 00:43:02-00:43:56; 00:56:4000:58:20). Im CAPRICCIO wird extradiegetische Musik ausgiebig eingesetzt, ja im ironischen Gestus fast schon übertrieben. Die Atmosphäre des Geschehens wird hier durch die jeweils eingespielten Passagen illustriert, die das Erzählte musikalisch nachvollziehen und somit eine paraphrasierende Funktion übernehmen: Zu Beginn der Binnengeschichte um die erfundene Figur des Hans-Werner Hofer ist eine heitere, swingähnliche Melodie zu vernehmen, die von den Soli verschiedener Holzblasinstrumente getragen wird und die Leichtigkeit der Italienreise betont (CI, 00:14:33-00:15:51). Diese Melodie geht dann in eine volksmusikartige Instrumentierung über, als ein entsprechend stereotyp gekleideter Bayer das Abteil betritt, bevor dann die Titelmusik der Folge erklingt (CI, 00:16:2000:17:52). In Wien wird sie daraufhin mit dem zusteigenden älteren Fahrgast in einem ruhigen Violinen-Solo fortgeführt (CI, 00:18:34-00:19:34). Durch regionalspezifische Anpassungen wird also der Reiseverlauf musikalisch nachgezeichnet. Zugleich vermittelt die Musik die emotionale Lage der Figuren, etwa die Liebeseuphorie bei Elisabeth, die geheime Romantik bei Anki oder die erotische Attraktion bei Cornelia; sie kann aber auch eine ironische Haltung zu Hofer einnehmen, der als selbsternannter Don Giovanni an seinem amourösen Verwechslungsspiel scheitert: In Form des mickeymousing karikiert schließlich eine träge Trompetenmelodie, die Hofers Gitarrenspiel variiert, die Gestik und Mimik des niedergeschlagenen, weil getäuschten Taugenichts (CI, 01:08:36-01:09:30). 18 Der NWDR richtet in den 1950er Jahren in Köln ein Tonstudio ein, das zu einem zentralen Ort für Komponisten der elektronischen Musik wird (vgl. Burzik 2002, 251f.).
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Solche Verspieltheiten im Einsatz von Filmmusik haben ihren Anteil daran, dass die Binnenhandlung um Hofer als innerdiegetische Fiktion ausgewiesen ist; zugleich offenbaren sie das reflexive Potential, das diese Genreparodie eben auch in Bezug auf den Einsatz von Musik entwickelt. In Hinblick auf die Gesamtstruktur des Mehrteilers trägt sie nicht zuletzt in ihrer affektiv-evokativen Funktion maßgeblich zur Heiterkeit des CAPRICCIO bei, das auch dramaturgisch den Schlusspunkt der zunehmenden Aufheiterung der fünf Folgen im Gesamten bildet. In diesem Zusammenhang ist auch die Titel- und Episodenmusik dieser Folge insofern bemerkenswert, als sie das ästhetische Programm der ganzen Verfilmung hervorkehrt. Der Titel der Folge verweist nicht nur auf den Inhalt, sondern auch ganz direkt auf die Musik, handelt es sich doch um die Variation einer Passage aus Tschaikowskys Capriccio Italien, die statt in der klassischen Orchestrierung im lockeren Orchesterswing eingespielt wird: Hochkulturelle Musik wird so populärmusikalisch gebrochen, wobei die damit erzeugte heitere Stimmung die Unterhaltungsintention hervorkehrt. Fazit Sowohl im Stil als auch im Umfang des Musikeinsatzes erweist sich die gesamte Anlage des Mehrteilers AM GRÜNEN STRAND DER SPREE als äußerst variabel. Dennoch ist eine Logik dahinter erkennbar, die Musik als Gestaltungsmittel zu einem wichtigen Bestandteil der Serienästhetik von Fritz Umgelter macht. Extradiegetische Musik übernimmt eine strukturierende Funktion: Innerhalb der einzelnen Folgen wie auch intraseriell dient sie der Kohärenzstiftung, indem sie an die zentralen Motive und Themen von Schicksal, Liebe und Krieg geknüpft ist. Im Blick auf die Serienstruktur wird jede Folge in einer für sie spezifischen Weise musikalisch gestaltet, etwa durch den höfischen Stil im PREUSSISCHEN MÄRCHEN oder die elektronisch-dissonanten Klänge in BASTIEN UND BASTIENNE 1953. In den je eigenen Variationen der theme music wird jede Episode aber auch in die Gesamtstruktur des Mehrteilers eingebunden. Zugleich ist die Filmmusik an das Ziel der Aufheiterung geknüpft: Nicht nur, dass sie im ganzen Mehrteiler in zunehmendem Maße in dieser Richtung eingesetzt wird, sondern auch stilistisch vollzieht sie einen Wandel. Dieser Einsatz spannt dazu musikhistorisch einen weiten Bogen, der vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht, auch wenn die Präferenz beim swingenden, jazzartigen Big-Band-Sound liegt, den auch die kleiner besetzte Combo in der Jockey-Bar spielt.
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So wird ein bestimmtes, historisch begründetes Konzept von Unterhaltungskultur entworfen. AM GRÜNEN STRAND DER SPREE verweigert sich somit dem vorherrschenden, kulturpessimistisch gefärbten Imperativ von Hochkultur, der eine US-amerikanisch konnotierte, industrielle Kultur der Massen und des Konsums entgegengestellt wird.19 Abgesehen davon, dass zugleich andere neue Formen der Unterhaltungsmusik wie etwa der Rock’n’Roll und moderne Schlager ausgeblendet werden, sind fremdländisch geprägte Musikformen entgegen den damals dominierenden Deutungsmustern genauso grundsätzlich positiv besetzt wie überhaupt kommerzielle Artefakte mit Unterhaltungsfunktion. Konsum und Genuss sind im Mehrteiler demnach nicht negativ konnotiert; beides wird angesichts des metaphysischen Ordnungsmodells, das die ewige Wiederholung von Krieg und Zerstörung einsieht, legitimiert. Zugleich zeichnet sich in Umgelters Mehrteiler auch über die Filmmusik wie durch den Einsatz von Musik im Film der Entwurf einer neuen, westlich orientierten deutschen Identität ab: Jenseits absoluter Geltungsansprüche, wie sie noch in der überwundenen Diktatur maßgeblich waren, vermittelt die Kombination fremdländischer Unterhaltungs- mit traditioneller deutscher Musik die Idee der Weltoffenheit bei gleichzeitigem Rückbezug auf die identitätsstiftende Herkunft.
Quellenverzeichnis Primärquellen Fernsehfilm Am grünen Strand der Spree, R.: Fritz Umgelter, D.: Reinhart Müller-Freienfels/Fritz Umgelter, BR Deutschland 1960, Fassung: DVD, Studio Hamburg Enterprises GmbH 2013, 500 Minuten. 1. Das Tagebuch des Jürgen Wilms (TJW), 22.3.1950. 2. Der General (DG), 5.4.1960. 3. Preußisches Märchen (PM), 19.4.1960. 4. Bastien und Bastienne 1953 (BB53), 3.5.1960. 5. Capriccio Italien (CI), 17.5.1960. 19 Vgl. Schildt 1995, 398-423. Der Fernsehmehrteiler unterläuft also mit seiner musikalischen Gestaltung die zwiespältige Wahrnehmung der USA, die in den 1950er Jahren noch vorherrscht: Erst im Zuge der Westbindung wird ›Amerika‹ auf politischer und wirtschaftlicher Ebene befürwortet, kulturell aber gegenüber der christlich-abendländischen Tradition noch abgewertet.
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Primärliteratur Scholz, Hans: Am grünen Strand der Spree. So gut wie ein Roman, 3. Auflage, Hamburg 1955. Sekundärliteratur Berg, Holger/Maintz, Marie Luise/Wagner, Katharina (Hgg.): Sündenfall der Künste? Richard Wagner, der Nationalsozialismus und die Folgen, Basel u. a. 2018. Burzik, Monika: Von singenden Seemännern und Musikern vom Sirius. Die Musik der fünfziger Jahre. In: Die Kultur der fünfziger Jahre, hg. von Werner Faulstich, München 2002, 249-262. Custodis, Michael/Geiger, Friedrich: Netzwerke der Entnazifizierung. Kontinuitäten im deutschen Musikleben am Beispiel von Werner Egk, Hilde und Heinrich Strobel, Münster u. a. 2013. Hüser, Dietmar: Amerikanisches in Deutschland und Frankreich – Vergleich, Transfer und Verflechtung populärer Musik in den 1950er und 1960er Jahren. In: Am Wendepunkt. Deutschland und Frankreich um 1945 – zur Dynamik eines ›transnationalen‹ kulturellen Feldes, hg. von Patricia Oster und Hans-Jürgen Lüsebrink, Bielefeld 2008, 283-305. Naumann, Gerd: Der Filmkomponist Peter Thomas. Von Edgar Wallace und Jerry Cotton zur Raumpatrouille Orion, Stuttgart 2009. Poiger, Uta G.: Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkley u. a. 2000. Riethmüller, Albrecht: Musik, die »deutscheste« Kunst. In: Verfemte Musik. Komponisten in den Diktaturen unseres Jahrhunderts, hg. von Joachim Braun, Berlin u. a. 1995, 91-104. Ders.: Deutsche Leitkultur Musik und neues Leitbild USA in der frühen Bundesrepublik. In: Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945-60, hg. von Lars Koch unter Mitarb. von Petra Tallafuss, Bielefeld 2007. Schildt, Axel: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und »Zeitgeist« in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995.
IV. Anhang
Das mediale Rauschen der Spree Die zeitgenössische Rezeption von Bestseller, Hörspiel und Fernsehmehrteiler Simon Lang
Roman In der Rezeptionsgeschichte von Hans Scholz’ Roman wird deutlich erkennbar, wie sich im historischen Verlauf die Interessenlage verändert. Seit den 1990er Jahren liegt der Fokus stärker auf der Darstellung des Holocaust im Tagebuch von Jürgen Wilms, aus dem Lepsius vorliest. Die zeitgenössische Literaturkritik beschäftigt sich zwar ebenfalls mit dieser Episode, insgesamt betrachtet steht sie aber keineswegs im Vordergrund. Daraus lässt sich ableiten, weshalb der Roman im kulturellen Kontext der 1950er Jahre solch große Resonanz hervorrufen kann, obwohl er gleich auf den ersten Seiten seine Leserschaft mit dem Völkermord konfrontiert. Besonders der ›Ton‹ und die sich in ihm manifestierende Haltung, mit denen Scholz’ Erstlingswerk diesem Thema begegnet, erweisen sich als der am stärksten kontroverse Punkt für das Feuilleton: Hier scheiden sich die Geister, wenn es darum geht, die historische Bedeutung des Romans zu bewerten und seinen Stellenwert in der Gegenwartsliteratur einzuschätzen. Dabei ist festzustellen, dass sich vor allem das Feuilleton für den populären Roman interessiert, während er in der germanistischen Fachkommunikation kaum wahrgenommen und wenn überhaupt, dann eher kritisch betrachtet wird. Ab dem 8. Juni 1956 erscheint der Text als Fortsetzungsroman in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.1 Das verhältnismäßig große Interesse am Roman mag sich auch daran ablesen lassen, dass schon nach wenigen Monaten bereits die begeisterte Aufnahme seitens des Feuilletons resümiert wird: Die Verleihung des Fontane-Preises an Scholz nehmen der Spiegel und Die Zeit zum Anlass, die 1
N. N. [FAZ] 1956, 2.
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Reaktionen auf seinen Debütroman überblicksartig darzustellen.2 In den meist nahezu euphorischen Besprechungen der Jahre 1955/56 kristallisieren sich verschiedene Interessensschwerpunkte heraus. Der Großteil der Besprechungen verbleibt bei portraitartigen Ausführungen, gilt es doch zunächst, den Debütautor »Hans Scholz – oder wer das auch sein mag«3 einem breiten Publikum bekannt zu machen. Wiederholt wird auf das Gefälle zwischen der künstlerischen Könnerschaft und dem so gewöhnlichen Autorennamen verwiesen, der zu Vermutungen geführt hat, dass es sich nur um ein Pseudonym handle, sich also ein etablierter Schriftsteller dahinter verberge. In Der Monat mokiert sich Hellmut Jaesrich über solche Mutmaßungen und nobilitiert Scholz zugleich: »[...] denn welchem Mitglied unseres Vierteldutzend von Dichterakademien, außer Gottfried Benn vielleicht, wären solche Fähigkeiten überhaupt zu unterstellen?«4 Ist ein solches Autorenportrait angesichts des großen Publikumserfolgs an und für sich nicht ungewöhnlich, sondern der Logik des Feuilletons gemäß eher die zu erwartende Konsequenz, so fallen hier die Kurzschlüsse mit Scholz’ Biografie auf. Wiederholt werden lebensgeschichtliche Details aus dem Krieg, dem beruflichen Werdegang und seinen Ausgehgewohnheiten sowie Bekanntschaften auf die fiktive Geschichte seines Romans übertragen und Ähnlichkeiten zwischen seinem Charakter und den fiktiven Figuren hergestellt. Forciert wird dies nicht zuletzt von Scholz selbst, da er wiederholt die Authentizität der erzählten Geschehnisse unterstreicht, so etwa in Bezug auf die Passage der Judenerschießung: »Ich kann nicht über etwas schreiben, was ich nicht gesehen habe«.5 Die Ähnlichkeiten zwischen Scholz’ Biografie und den Geschichten im Roman veranlassen die Rezensenten dazu, die Schilderungen der Kriegserlebnisse als ›wahr‹ zu betrachten. In den Portraits wird Scholz stets als jener Lebemann der jeunesse dorée präsentiert, den er in den Männern der Jockey-Runde skizziert. Den im Roman vorherrschenden Konversationston eignen sich die Rezensenten dabei zumeist selbst an, um leicht spöttisch und ironisch über den Autor zu berichten. Hier sticht die Darstellung von Hellmut Jaesrich in Der Monat hervor: Er hatte in den 2
N. N. [Der Spiegel] 1956; Koch 1956, 7.
3
Jaesrich 1956, 57.
4
Korn 1956.
5
Vgl. N. N. [Der Spiegel] 1956, 45. Biedrzynski ist der einzige unter den zeitgenössischen Rezensenten, der dies explizit infrage stellt. Er betrachtet Scholz vielmehr als »genau beobachtende[n] Realist[en], der nicht nur an der Rinde des Alltags schürft, sondern tiefer gräbt, ohne dabei tiefsinnig zu werden«, wobei dieser sich »unermüdlich in der Erfindung, aber immer nah an der Wirklichkeit« bewege (Biedrzynski 1956).
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einschlägigen Berliner Lokalen schon vor dem Erscheinen von Scholz’ Erstling flüchtig Bekanntschaft mit dem Autor gemacht, so dass sein »Erlebnisbericht über ein Berlin-Buch«6 im Vergleich mit den Interviews und Erzählungen aus zweiter Hand einen persönlicheren und unvoreingenommenen Blick auf den Neuschriftsteller bietet. Neben dem Debüt von Scholz zeigt sich die Kritik vor allem an der literarischen Verfasstheit des Romans interessiert. In Die Welt bringt Friedrich Luft die Merkmale dieser Prosa so auf den Punkt: »Erstens, er [Scholz] beherrscht den spezifischen Jargon einer gehobenen Berliner Mittelschicht souverän. So spricht man zwischen Halenseebrücke und Bülowbogen heute tatsächlich auf Redaktionen und Büros in Filmkantinen, Verlagshäusern, Konfektionsateliers und Anwaltszimmern. Das ist schnoddrig, verhalten zynisch, ist bunt, kraß, liebevoll verquatscht und hat sein eigenes Sentiment und seine eigene Prägekraft. Der Jargon ist getroffen und als Mittel des Erzählens kunstvoll eingesetzt. Das andere ist die kompositorische Fertigkeit, mit der Scholz zu Werke geht. Er wirft mit den Fäden der Erzählung so kunstvoll zwischen Gestern und Heute und zwischen den einzelnen Rittern dieser Jockey-Runde hin und her, daß man staunt, wie sich anscheinend mühelos das dichte Muster des Buches ergibt.«7
Im Fokus der Rezensenten stehen vor allem die Sprache und die Form des Romans. Dabei werden die Gattungszugehörigkeit und die literaturgeschichtlichen Anknüpfungspunkte der Erzählform diskutiert. Der plakative und zugleich interpretationsbedürftige Untertitel So gut wie ein Roman provoziert diese Reflexionen natürlich, wobei die Kritiker insbesondere die Spannung zwischen rahmenzyklischer Form und Zuweisung zum Roman beschäftigt. Während Am grünen Strand der Spree durch intertextuelle Verweise verschiedene Vorbilder aufruft, stellen die Besprechungen ausschließlich Bezüge zu Giovanni Boccaccios Decamerone her: Die Mitglieder der Jockey-Runde »erzählen sich eine Nacht lang die schönsten Novellen, wie es jene adlige Gesellschaft tat, die vor mehr als fünfhundert Jahren, der Pest in Florenz entronnen, sich die Zeit mit Geschichten vertrieb.«8 Weisen einige der Rezensionen den Bezug bereits in ihrer Überschrift aus, so ändert die FAZ den Untertitel des Fortsetzungsromans in »Ein Berliner Decamerone« um, während der ursprüngliche Untertitel als bloßes »Reklamewort« betrachtet wird.9 6
Jaesrich 1956, 55, Hervorheb. i. Orig.
7
Luft 1956.
8
Korn 1956.
9
N. N. [FAZ], 1956.
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Auch Jaesrich sieht den ausgestellten Bezug zur Gattung des Romans durch bessere Vermarktungsmöglichkeiten begründet, wobei er dem Text »außer der für dieses Markterzeugnis ungefähr gängigen Seitenzahl«10 keine entsprechenden Merkmale zuschreibt. Ähnlich verweist Der Spiegel auf die Entstehungsgeschichte, da Scholz die Binnengeschichten zunächst einzeln als Novellen veröffentlichen wollte, dann aber von »Kenner[n] des Literaturmarktes«11 zur Einbettung in einen Erzählrahmen überredet worden sei; der Beitrag spricht daher von einem »Beinahe-Roman«12. Hans Schwab-Felisch erklärt in der Zeit den Untertitel dagegen integrativ: Die Form des Buches sei »die einer zyklischen Rahmenerzählung, die sich zu einem Roman weite[]«; dabei gebe es »Wucherungen, und einige Erzählungen haben schier Romanformat«.13 Wie Friedrich Luft nennt Schwab-Felisch zudem einen wichtigen Aspekt, der auch von anderen Kritikern nicht unbemerkt bleibt und den er mit der Erzählform in Zusammenhang bringt: Scholz »läßt die Fäden zwischen seinen einzelnen Erzählern hin- und herlaufen, stellt die Erlebnisse in einen größeren [...] Zusammenhang«.14 Schon zeitgenössisch zeigt sich die Literaturkritik also recht sensibel für die literarischen Mittel, die den Text trotz seiner offenen rahmenzyklischen Anlage als kohärente Einheit präsentieren: »So wild die Schauplätze und Personen durcheinandergewirbelt werden, es gibt ein Band, das sich durch alle hindurchschlingt, es gibt der geheimen und offenen Wechselbezüge und Querverbindungen die Fülle«.15 Eben dieses Verweben der Geschichten durch innertextuelle Verweise, Äquivalenzen und Rekurrenzen verschiedener Textelemente macht das Romanhafte gegenüber der zyklischen Form aus, weswegen auch Richard Biedrzynski in der Stuttgarter Zeitung Scholz als »wahre[n] Webmeister an dem Knüpfteppich der Erzählung«16 bezeichnet: »In Wirklichkeit hat er dieses Bündel von Novellen, die auf die verblüffendste Weise Farbe, Zeit,
10 Vgl. Jaesrich 1956, 56. 11 N. N. 1956, 44. 12 Vgl. ebd., 45. 13 Schwab-Felisch 1955. 14 Ebd. 15 Jaesrich 1956, 57. Schwab-Felisch ist der einzige unter den Rezensenten, der Am grünen Strand der Spree dezidiert als Berlin-Roman liest, weil es Scholz in erster Linie »um eine Rehabilitierung Berlins, des Preußischen in seinen guten Erscheinungsformen und des Menschenschlages jenseits der Elbe überhaupt« gehe (Schwab-Felisch 1955). 16 Biedrzynski 1956.
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Ort und Stil wechseln, durch das Scharnier der Rahmenhandlung zu einem fortlaufenden Ganzen zusammengespannt«.17 Gerade die Besprechung von Jaesrich zeigt, dass in der Darstellung von ›Welt‹ der Anspruch auf Totalität durchaus erkannt, wenn auch nicht an die zentrale Schicksalsmotivik angeschlossen wird. Auf der einen Seite lobt Jaesrich wie Thilo Koch die Vielseitigkeit der Ebenen und Perspektiven, die der Roman durch seine zyklische Anlage, sein großes Figureninventar, die unterschiedlichen Fremdsprachen und Dialekte sowie die lokale und zeitliche Situierung der Binnengeschichten herstellt. Auch Joachim Kaiser kann sich die Anerkennung nicht versagen, dass hier »ein Autor nicht seine eigenen Schwierigkeiten kafkaesk ausbreitet, sondern daß er ›Welt‹ zur Sprache bringt, ›Welt‹ im Spiegel wohlpointierter Geschichten, gesehen durch ein kesses Berliner Temperament«.18 Er polemisiert damit gegen die Kafka-Mode in der Literatur der Zeit, die sich in diesem Jahr in Martin Walsers Erzählsammlung Ein Flugzeug über dem Haus besonders deutlich niederschlägt.19 So wird Scholz’ Text auch der Charakter einer Chronik zugeschrieben, da er die »deutschen Ereignisse während und nach dem Krieg«20 portraitiert. Auf der anderen Seite nennt Kaiser aber auch einen Aspekt des Programms, mit dem Scholz die (im wörtlichen Sinn) epische Breite seines Textes und der dargestellten Welt organisiert: So »entdeck[e] man rasch, daß sie [die Einzelgeschichten] alle nur jenes effektvolle Modell wiederholen, das wir bereits auf den ersten sechs Seiten entdecken.«21 Kaiser zielt damit auf den seriellen Charakter der eingebetteten Erzählungen, die stets um die Begegnung einer männlichen Hauptfigur und einer schönen Frau in der historischen Ausnahmesituation eines Krieges kreisen. Was manch anderer Rezensent lobt, wird Kaiser zu einem Kriterium dafür, Am grünen Strand der Spree als »das, was man in den zwanziger Jahren als Ullstein-Roman bezeichnet hätte«22, zu betrachten. Auch Robert Gernhardt, der 1995 den Roman einer Re-Lektüre unterzieht, führt die bloße Variation des immergleichen Prinzips als Grund dafür an, weshalb er trotz seiner Erinnerung an die Begeisterung über Scholz’ Erstling nun eher enttäuscht sei: »Selbst wenn Krieg und Kriegsgreuel die Hauptrolle spielen, wie in der [...] ersten Geschichte, geht es nicht ohne die schöne Polin Gallina ab.«23 17 Ebd. 18 Kaiser 1956, 540. 19 Vgl. Scherer 2008. 20 N. N. [FAZ], 1956. 21 Kaiser 1956, 540. 22 Ebd. 23 Gernhardt 1995.
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So wird ersichtlich, dass die zeitgenössischen Kommentatoren besonders die Gesamtanlage des Texts in den Blick nehmen, sich also für seine ›Komposition‹ interessieren, unter anderem auch in Hinblick auf den Umgang mit dem Holocaust. Karl Korn etwa hebt die »weise[] Oekonomie« hervor, mit der Scholz den Leser gleich zu Beginn mit dem »erschütterndste[n] Stück des Ganzen«24 konfrontiert. Anzumerken ist dabei, dass die Urteile über die Darstellung der Judenerschießung recht unterschiedlich ausfallen – abgesehen davon, dass diese Szene meist nur knapp, wenn überhaupt explizit angesprochen wird. Koch beschreibt sie etwa als exakten Augenzeugenbericht, durch den Scholz’ Text »auch literarisch zu den überzeugendsten Stücken [gehört], die über dieses düsterste deutsche Thema geschrieben wurden – von einem nichtjüdischen Autor zumal«.25 Nicht ganz unproblematisch ist folgender Zusatz, da er die Ambiguität in der Darstellung der deutschen Soldaten verkennt: »Andererseits gibt es auch in der Wehrmacht des Hans Scholz Charaktere mit Zivilcourage, Einsicht, Edelmut, ja, Größe...«.26 In der NZZ spricht Theodor Wieser der Passage dagegen keine dokumentarische Qualität zu, wenn er bemerkt, wie die Sprache die Überforderung der Wahrnehmung evident zu machen versucht: »Für unser Empfinden entsprechen Sprache und Schilderung nicht mehr dem Thema; vielleicht taugt in dieser äußersten Zone nur noch der einfache Bericht.«27 Bei der Verleihung des Heinrich-Stahl-Preises 1960 lobt der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Westberlins den Roman immerhin als »tiefgreifende Besinnung der geistigen Elite des deutschen Volkes«.28 In Hinblick auf die jüngste Vergangenheit scheiden sich die Geister vor allem bei der Sprache, mit der die Figuren sprechen und mit der sie ihre Geschichten erzählen, wohl auch, weil es der Text gerade dadurch schafft, zwar »Trauer, viel Trauer, doch ebensoviel Witz und Fröhlichkeit«29 zu vermitteln. Der Großteil der Feuilletonisten zeigt sich über den gehobenen Konversationston der Jockey-Runde, deren Mitglieder allesamt »der berlinerischen Jeunesse dorée der dreißiger Jahre«30 entstammen, begeistert. Dies liegt darin begründet, dass deren Redensweisen als Widerstand gedeutet wird, mit dem sie ihrer Vergangenheit von Krieg, Tod und Gefangenschaft begegnen. Der Sprachgebrauch wird also so 24 Korn 1956. 25 Koch 1956. 26 Ebd. 27 Wieser 1956. 28 N. N. [Die Welt] 1960. 29 Schwab-Felisch 1955. 30 N. N. [Der Spiegel] 1956, 46.
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interpretiert, dass die Teilnehmer des Symposiums trotz der Ereignisse, die ihnen widerfahren sind, ihren Humor nicht verloren haben. Jaesrich sieht daher in »Scholzens Buch eine Ehrenrettung dieser Generation von fröhlich daherzauselnden Jünglingen aus gutem Hause, die [...] hin und wieder die Gelegenheit hatten, mehr Verstand, Charakter und Humor aufzubringen, als ihnen gemeinhin zugetraut worden war«.31 Schon Korn betont in seiner frühen Besprechung diese »Erzähllust«32, die den Eindruck von Frische erzeugt, mithin eine neuen Art und Weise, die Dinge darzubieten, und als solche positiv bewertet wird. In der Rezension von Wieser deutet sich an, dass dies durchaus als wegweisend erachtet wird: »Die Lust seines Erzählens löst beim Leser ein reines Vergnügen des Zuhörens aus. In der deutschen Nachkriegsliteratur fehlt es nicht an gequälten, krampfhaften Novellen und Erzählungen voll trüber Monologe und tiefsinniger Gebärden.«33 Es ist also eben diese Diskrepanz zwischen der unbeschwerten Sprache und den schweren Themen, die kontrovers diskutiert wird: So kritisiert Uhlig im Merkur Scholz’ Erstling als »allzu glatt Gewobene[s]«, das »nicht immer überzeugend – vor allem in den Kriegsschilderungen – und ein wenig zu geschmeidig in der Sprachführung [ist], wo das Böse hervortreten soll oder das Starre, das Grausame oder das Stupide«.34 Joachim Kaiser, der trotz verschiedener positiver Bemerkungen am härtesten mit dem Roman ins Gericht geht, sieht in dem Ton der Jockey-Runde bloßen Zynismus. Wieser hingegen honoriert noch die Ironie, entziehe sich Scholz doch gerade dadurch »kitschigen Extravaganzen«.35 Kaiser lehnt Am grünen Strand der Spree gerade deswegen ab: Scholz’ »Humor gründet sich nicht auf die ethische Distanz der großen Epiker, sondern auf die Pfiffigkeit des Eudämonisten, des Genußmenschen, der sich an der Weltgeschichte dafür rächt, daß sie ihn vom regelmäßigen Besuch der Jockey-Bar abhielt«.36 Er interpretiert Scholz’ Humor als eine passive, bisweilen verklärende Haltung gegenüber der Vergangenheit, statt diese zum »Objekt[] schriftstellerischer Kritik, gegebenenfalls teilnahmsvoller Kritik«37 zu machen. Der Humor verkomme so zur bloßen Attitüde, womit sich im Text letztlich ein »furchtbares, feuchtfröhlich maskiertes Schweigen«38 manifestiere. Aus dieser Sicht ist das erinnernde Prä31 Jaesrich 1956, 57. 32 Korn 1956. 33 Wieser 1956. 34 Uhlig 1957, 794. 35 Wieser 1956. 36 Kaiser 1956, 541. 37 Ebd., 540. 38 Ebd.
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senthalten zu wenig, gerade wenn der Text zugleich darauf abzielt, den Leser auf die positiven Seiten der Gegenwart aufmerksam zu machen und die Genussmöglichkeiten zu legitimieren. Dies scheint keine Einzelmeinung gewesen zu sein, wie ein Kommentar von Jaesrich nahelegt: »Ja, mir sind schon Leser des Buches begegnet, die an dem üppigen Konsum und dem hochgeschraubten Johnnie Walker und Veuve-Cliquot-Standard der Rahmenhandlung Ärgernis genommen haben. Aber für mein Gefühl gehört das nun einmal dazu – und gerade die heimgekehrten Kriegsgefangenen, die gerne lang genährte Luxus-Wachträume verwirklichen möchten, werden mir darin zustimmen.«39
Die Intention des Romans, Vergangenheits- und Zeitkritik vorzubringen, hierbei aber einer aufheiternden Tendenz zu folgen und so an die Gegenwart des Wohlstands zu erinnern, wird also von einem Großteil der Kritiker durchaus goutiert. Für einige bildet dies gar das Argument, in Scholz’ Debütwerk den lang ersehnten Anschluss an die internationale Gegenwartsliteratur zu sehen. Die konstatierte Weltläufigkeit manifestiert sich demnach nicht nur in der Totalitätssuggestion der dargestellten Welt, sondern auch in der literarischen Machart: »Hier ist der erste Deutsche, der sich in das Grenzgebiet zwischen unterhaltender und großer Literatur vorwagt.«40 Als charakteristisch betrachtet Jaesrich dies für die angelsächsische Literatur, die »dergleichen seit Jahrzehnten in großer Menge geschaffen ha[t], sehr zu unserem Neide«.41 Werner Wink von der Welt fordert entsprechend: »Man rede nun nicht mehr so viel vom Provinzialismus der deutschen Nachkriegsliteratur: hier ist der Gegenbeweis.«42 Die angelsächsische, im Speziellen die US-amerikanische Kritik, kommt dagegen zu eher gegenteiligen Schlüssen, als der Roman Mitte des Jahres 1959 unter dem Titel Through the Night in den Vereinigten Staaten erscheint: Am grünen Strand der Spree wird dort als spezifisch deutsches Buch betrachtet. So gäben die einzelnen Geschichten dem amerikanischen Publikum zunächst »a wonderful picture of the German character and seitgeist [sic!]«43, »insight […] into modern Germany«44: »while not a great novel, Through the Night can be enjoyed as a kind of semi-documentary source material for the haunting problem
39 Jaesrich 1956, 56. 40 Ebd., 58. 41 Ebd. 42 Wilk 1956. 43 N. N. [Kirkus Reviews] 1959. 44 Hill 1959, 15.
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of Germany«45, so Claude Klein im Saturday View. Neben diesen thematischen Aspekten interessiert demnach auch das Kunstkonzept, das sich hinter der Darstellung dieses »dusk-to-dawn champagneklatsch«46 offenbart. Der Verzicht auf den Kunstanspruch, den die heimische Presse als international feiert, wird hier als historisch verankerte Besonderheit der deutschen Kultur wahrgenommen: In der New York Times bezieht Morton dies auf die Tradition der »kleinkunst«47, in die er nach Kästner eben auch Scholz einreiht. Hörspiel Das deutsche Feuilleton ist sich durchaus darüber bewusst, dass das Kino, der Rundfunk und das noch junge Fernsehen an beliebten Stoffen auch aus der Gegenwartsliteratur interessiert ist, um sie je eigens für sich zu verwerten. So tritt schließlich ein, was Kaiser wenige Monate zuvor prognostiziert: »Und man darf sicher sein, daß auch die Hörspielstudios unserer Sender und die Film-Firmen sich über das neue Objekt hermachen werden.«48 In einem hörspieltheoretischen Beitrag aus dem Jahr 1957 sieht es Jan Brockmann dagegen als logische Folge moderner, von Intermedialität geprägter Ästhetik an, wenn ein aktueller Roman für den Rundfunk bearbeitet wird: »Daß ein Teil moderner Romane sich für eine Funkbearbeitung anbietet, steht außer Zweifel. Sie könnten manchmal ebenso ein Hörspiel- oder Filmskript sein. [...] Film, Funk und moderne Epik haben sich wechselseitig stark beeinflusst. [...] Sehr viele der mittlerweile selbstverständlich gewordenen Errungenschaften des Hörspiels sind ohne den modernen Roman gar nicht zu denken. Umgekehrt hat z. B. die Dialogtechnik des Hörspiels großen Einfluß auf die Literatur gewonnen.«49
Mit seinen dramatisierten Textpassagen scheint Scholz’ Roman genau davon Zeugnis abzulegen. Doch auch in dem Programmkonzept, das hinter dem Hörspiel AM GRÜNEN STRAND DER SPREE steht, werden die Gattung des Romans und das Rundfunk-Hörspiel einander angenähert. Der Fachzeitschrift Rundfunk und Fernsehen zufolge wird die ›Sendereihe‹ AM GRÜNEN STRAND DER SPREE von den Verantwortlichen des Südwestfunks als »Beispiel für die angestrebten ›gro-
45 Ebd., 16. 46 Morton 1959, 4. 47 Ebd. 48 Kaiser 1956, 437. 49 Brockmann 1957, 11f.
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ßen Formen des Rundfunks‹«50 konzipiert. Diesen Begriff und die damit bezeichnete Idee übernimmt der SWF von Ernst Schnabel, dem Intendanten des NWDR zwischen 1951 und 1955. Bleibt das Konzept der ›großen Form‹ in seiner Definition recht ungenau, so taucht es in Programmankündigungen und Geschäftsberichten des SWF in dieser Zeit wiederholt auf, um überlange und ggf. mehrteilige Hörspiele zu bezeichnen. Zunächst soll die ›große Form‹ als kulturelles Angebot aus dem kleinteiligen Programmfluss des Rundfunks herausstechen. Doch ist auch eine ästhetische Implikation enthalten, da nach Schnabel das Hörspiel als groß angelegtes, episches Erzählformat das Pendant zum literarischen Roman im Hörfunk werden soll; dabei ist es nicht verwunderlich, dass es sich überwiegend nicht um Originalhörspiele, sondern um Romanadaptionen handelt.51 1956 ist das Jahr, in dem der SWF das Konzept etabliert und dem entsprechende ›große‹ Hörspiele produziert: Neben Schnabels DER SECHSTE GESANG etwa Max Ophüls’ BERTA GARLAN oder Carl Zuckmayers DIE AFFENHOCHZEIT. Programmstrategisch übernimmt AM GRÜNEN STRAND DER SPREE eine zentrale Rolle, da die Sendereihe das Sommerhalbjahr 1956 sowie mit der Wiederholung der gekürzten Wilms-Episode das Winterhalbjahr 1957 abschließen soll.52 Als Beispiel der ›großen Form‹ wird die Übertragung von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE folglich als besonderes Programmereignis inszeniert, wie es sich auch in Programmankündigungen anzeigt. Die Stuttgarter Zeitung führt den Mehrteiler etwa unter der wöchentlich erscheinenden Rubrik Hörenswertes auf und verweist explizit auf die Romanvorlage und den Autor Scholz.53 Insgesamt erfreut sich das Hörspiel in den 1950er Jahren verhältnismäßig großer Aufmerksamkeit, schließlich konnte »keine andere Kunstform [...] ein so breites und treues Publikum an sich ziehen«54; zudem verfassen zahlreiche namhafte Schriftsteller Stücke für den Rundfunk. Auch in der Fach- und Tagespresse wächst das Interesse, doch laut Bloom führt es dort eher »ein Randdasein«55, wenn man es mit dem wesentlich größeren Interesse des Feuilletons an anderen kulturellen Angeboten wie Theateraufführungen oder Kunstausstellungen vergleicht. Daraus mag sich ableiten lassen, dass auch die Adaption eines Bestsellers wie des Romans von Scholz durch eine recht kleine Rundfunkanstalt relativ wenig Resonanz hervorruft. 50 N. N. [Rundfunk und Hörer] 1956, 417. 51 Wessels 1991, 10-12. 52 N. N. [Rundfunk und Hörer] 1956, 417. 53 N. N. [Stuttgarter Zeitung] 1956. 54 Koebner 2006, 244. 55 Bloom 1985, 57.
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Lediglich Die Zeit widmet sich nach der Übertragung dem Hörspiel, wenn es in der Rubrik Funk für Anspruchsvolle besprochen und entsprechend auch qualitativ eingeordnet wird. In der kurzen Besprechung liegt der Fokus maßgeblich auf der Art und Weise der Adaption, also wie Scholz seinen Erstling für den Hörfunk bearbeitet: Schließlich »lag [es] auf der Hand, daß sich der Funk des erfolgreichen, brillanten [sic!] Romans von Hans Scholz Am grünen Strand der Spree annahm«. Wie in der Vorlage habe Scholz »ein gültiges und faszinierendes Bild der Zeit [geschaffen], die wir heute bereits mit der freundlichen Patina des weit hinter uns Liegenden, Überstandenen, zu betrachten pflegen«. Dies gelinge nicht nur, indem er den Stoff »rafft[]«, sondern auch durch die Mittel des Hörfunks, konkret »das gesprochene Wort« im Unterschied zum geschriebenen: »Die Dynamik der Erzählung wurde [...] eher noch gesteigert, die dokumentarische Präzision der Zeugnisse menschlicher Angst, menschlichen Versagens und menschlicher Bewährung noch durchsichtiger herauskristallisiert.«56 Fernsehfilm Die Aufmerksamkeit, die Umgelters Fernsehmehrteiler erhält, ist mit dem Hörspiel kaum vergleichbar. Die fünf Folgen von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE werden in zahlreichen überregionalen wie regionalen Printmedien besprochen; die im Folgenden zitierten Rezensionen sind daher nur als Auswahl aufzufassen, die das Stimmungsbild repräsentativ abbildet. Zugleich bezeugt das große Interesse an dem Mehrteiler die Bedeutung, die dem Fernsehen um 1960 als neuer, massenmedialer Form ästhetischer Praxis und Forum gesellschaftlicher Reflexion zugeschrieben wird. Bereits im Vorfeld macht dieser »Fernsehfilm [...] im Stil der Supermonsterfilme«57 Schlagzeilen. So berichtet Der Spiegel im Oktober 1959 über »das bisher aufwendigste Projekt des deutschen Fernsehens«58, für dessen Produktionskosten Summen zwischen 1,2 und etwas mehr als 2 Mio. D-Mark kolportiert werden. Morlock berichtet nach der Ausstrahlung der ersten Folge von »180 Schauspielern, 4 500 Komparsen, 2 250 Kostümen und 100 alten Wehrmachtsfahrzeugen«59. Die im Vorbericht angeführten Äußerungen des Produktionslei56 N. N. [Die Zeit] 1956. 57 Müller 1960. 58 N. N. [Der Spiegel] 1959, 89. 59 Ebd.; Morlock 1960. Die Angaben werden später relativiert: Wie Die Welt berichtet, waren für die Schlachtszene im PREUSSISCHEN MÄRCHEN nur 60 Darsteller vorhanden sowie 20 Krafträder, die in der Schlussszene die Mobilisierung der Wehrmacht suggerieren sollen. CAPRICCIO ITALIEN sollte sogar tatsächlich in Italien gedreht wer-
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ters Walter Pindter lassen deutlich werden, welche Hoffnungen der NWRV in Umgelters Verfilmung von Scholz’ Roman setzt, um nach dem Erfolg von SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN das neue, auf Unterhaltung ausgelegte Programmformat des ›Fernsehromans‹ zu etablieren. Anders als bei diesem Vorgängerprojekt, das zwar von der »westdeutschen Bildschirmschar [...] als geglückt«60 empfunden worden war, schafft es Umgelter mit AM GRÜNEN STRAND DER SPREE, auch die selbst noch junge Fernsehkritik weitgehend zu überzeugen. Das Verhältnis zur Vorlage von Scholz bildet einen zentralen Aspekt in den zeitgenössischen Rezensionen. Dies betrifft zunächst die serielle Form: Im Vorbericht des Spiegel wird die Episodenstruktur des Prätextes als Kriterium dafür benannt, dass Am grünen Strand der Spree für eine Adaption in Gestalt des ›Fernsehromans‹ ausgewählt worden ist.61 Wie bei der ›großen Form‹ des Hörspiels soll über das Erzählen in Fortsetzungen eine den medialen Spezifika entsprechende quasi-epische Form geschaffen werden. In Der Tagesspiegel schlägt der Rezensent daher Heimito von Doderers Roman Die Strudlhofsteige für ein Folgeprojekt vor, da der »episodenhaft komponierte[] Roman« wie auch andere Bücher »für die Fernsehverfilmung geradezu prädestiniert« seien.62 Hierin zeichnet sich ab, dass die Gattung des ›Fernsehromans‹ oftmals schlicht mit der mehrteiligen Verfilmung von Romanen gleichgesetzt wird, die Frage nach Originalfernsehspielen also gar nicht aufkommt: Daher scheint es, dass »die richtige literarische Vorlage schon der halbe Erfolg«63 ist. Es zeigt sich, dass im Gesamten betrachtet die Rezensenten Werktreue überwiegend positiv bewerten, hierin allerdings zugleich ihren größten Kritikpunkt finden: die schwer sprechbaren Dialoge, die Umgelter und sein Co-Autor Reinhart Müller-Freienfels kaum bearbeitet aus Scholz’ Roman übernehmen. Diese werden von den Kritikern als »filmuntauglich«64 empfunden, womit ersichtlich wird, dass ihnen durchaus an einer angemessenen Umsetzung eines Stoffes gelegen ist. Markant zeigt sich diese Vorstellung der Werktreue bei Braem in der Stuttgarter Zeitung, der in seiner Besprechung der ersten Folge die Nähe zur literarischen Vorlage lobend hervorhebt, aber aufgrund der als gekünstelt empfundenen Sprechweise seine Meinung später korrigiert.65 Da sich die Kritik geleden, wegen des knappen Geldes musste Umgelter dann auf die Bavaria-Filmstudios in München ausweichen; vgl. Ferber 1960c. 60 N. N. [Der Spiegel] 1959, 90. 61 Ebd., 90f. 62 Schlabritz 1960e. 63 Ebd. 64 Vgl. Schlabritz 1960d. 65 Vgl. Braem 1960a, 1960c.
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gentlich sogar auf Scholz’ Roman durchschlägt, fühlt dieser die Notwendigkeit, sich nach Ausstrahlung der letzten Folge im Rahmen einer allgemeinen Stellungnahme zum Mehrteiler dagegen zu wehren. Er selbst hatte die Arbeit am Drehbuch abgelehnt; auch wenn er sich dann insgesamt positiv über die fernsehfilmische Umsetzung äußert, hätte seiner Ansicht nach »etwas mehr Distanzierung von der Vorlage die Transponierung in Bild, Ton und Bewegung begünstigen sollen«.66 Umgelter dagegen begründet dies mit seiner Achtung vor der dichterischen Sprache, so dass das Umarbeiten der Dialoge als illegitime Aneignung durch den Filmemacher erscheint: »Es ist schließlich die Sprache des Autors, eines Dichters, wenn Sie so wollen – und die läßt man eben so stehen.«67 Dennoch wird Umgelters Mehrteiler innerhalb der medienkulturhistorischen Umbruchssituation der Jahrzehntewende eine herausragende Bedeutung zugeschrieben. Die Rezensenten leiten dies in den meisten Fällen aus dem Verhältnis des Fernsehens zum Kino her: Es scheint dem konkurrierenden, aber in der Krise befindlichen Medium audiovisuellen Erzählens den Rang abzulaufen. In Die Zeit geht Erika Müller in ihrer Darstellung der zeitgenössischen Entwicklungen in Kino, Theater und Fernsehen sogar noch weiter, wenn sie am Ende mit einem Verweis auf AM GRÜNEN STRAND DER SPREE schließt: »Der Film braucht also keine Kunst zu sein, die sich ihrem Ende zuneigt; er steht vor einem neuen Anfang, wenn er sich des Fernsehens als eines Übermittlers von Ausdrucksmöglichkeiten klug bedient.«68 Es ist das Fernsehen, das zu Beginn des neuen Jahrzehnts die qualitativ schwache Kinematografie in den Punkten Unterhaltung, Gesellschaftskritik und künstlerische Gestaltung übertrifft. AM GRÜNEN STRAND DER SPREE erscheint dabei als geglücktes Wagnis, durch das das neue Massenmedium im Ganzen in ein weiteres Stadium seines Reifeprozesses vorrückt. Dies geht mit einer allmählichen Abwendung vom traditionellen bürgerlichen Kunstparadigma einher, das in der Frühzeit ja auch die Praxis der Fernsehspielproduktion noch prägt, wie nicht zuletzt die zahlreichen Adaptionen kanonisierter literarischer und dramatischer Werke zeigen. Umgelters zweiter Fernsehmehrteiler wird entsprechend als neuartige und legitime Form populären Erzählens in Fortsetzungen betrachtet, oder allgemeiner: als »Massenunterhaltung«.69 Anders als bei Scholz’ Roman werden eben keine hochkulturellen Vorläufermodelle angeführt, sondern der Kolportageroman Karl Mays oder Scheherazade: Letztere sei
66 Scholz 1960a. 67 Vgl. Ferber 1960a. 68 Müller 1960. 69 Vgl. Ferber 1960a.
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»in der Elektronenröhre wieder auferstanden, und mit ihr alle Geschichtenerzähler der Märkte samt ihrer raunenden Magie, alle Liedersänger an den zuckenden Feuern. Es ist unbestreitbar, daß kaum ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen der vor dem Bildschirm versammelten Zuschauerschar und der Stammgemeinschaft, die dem Barden lauscht und dabei etwas Bärenschinken und Met zu sich nimmt.«70
In einem großen Portrait, das Die Welt Umgelter nach der vierten Sendung Anfang Mai 1960 widmet, wird der Regisseur gar zum »Erfinder«71 dieser neuen Erzählgattung stilisiert. Deren Eigenschaften ›Masse‹ und ›Unterhaltung‹, die dem elitären Kunstverständnis widersprechen, erhalten nun also eine positive Neubewertung. In Pindters Aussagen geht es beim ›Fernsehroman‹ im Vorfeld noch ausschließlich um ein abendfüllendes, für ein breites Publikum attraktives Unterhaltungsformat, das in seiner Machart im Falle von SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN seitens der Kritiker »als keineswegs befriedigend« wahrgenommen wird.72 In der wesentlich besseren Aufnahme von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE zeigt sich dagegen, dass von professioneller Seite andere Ansprüche herangetragen werden als nur die gelungene Darbietung unterhaltsamer Geschichten. So bemerkt Ferber in seinem Portrait zwar anerkennend, dass Umgelter »auch Kriminalromane«73 liest, aber er hält es noch für erforderlich, vorneweg darauf hinzuweisen, dass diese im Bücherregal des Regisseurs neben Camus und Lessing stehen. Bietet sich diese Form serieller Narration als neue Eigenart des Fernsehens an, begründet sich für die Rezensenten die Konkurrenz zum Kino vor allem im Sujet und in der ästhetischen Machart: Denn das Fernsehen gewinnt in diesen Punkten nun auch filmische Qualitäten, wodurch es als avanciertere Variante des älteren Mediums erscheint. Konkret zeigt sich dies in der Anerkennung der Könnerschaft, die sich in Umgelters Inszenierungsstilen manifestiert, daneben in der Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit im Fernsehen, in dem der Regisseur das Potential der »neue[n] moralische[n] Anstalt unserer Tage«74 erkenne. Die Kritiker loben also neben der dramaturgischen Bearbeitung des Stoffes den Umgang mit den filmischen Gestaltungsmitteln und die Auswahl eher unbekannter Schauspieler, schließlich die Art und Weise, mit der der Regisseur diese
70 Ebd. 71 Ebd. 72 N. N. [Der Spiegel] 1959, 89. 73 Vgl. Ferber 1960a. 74 Vgl. ebd.
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führt.75 Ähnlich wie Egbert Hoehl, der in der Deutschen Woche noch von einer »eigengesetzliche[n] Fernseh-Dramaturgie«76 ausgeht, erkennt Ferber in seiner Besprechung der Folge DAS TAGEBUCH DES JÜRGEN WILMS schon einen »neuen Stil der Bildererzählung«: Dieser habe »wenig mehr mit Film und nichts mit photographiertem Theater zu tun, es wird allein von den großen Möglichkeiten und den nicht minder großen Behinderungen des Fernsehschirms bestimmt«.77 In Der Tagesspiegel verweist Robert Schlabritz dagegen auf Umgelters Grenzgängertum zwischen Kino und Fernsehen, wenn er bemerkt, dass der Regisseur »in den vergangenen Jahren einige handwerklich-saubere Regieleistungen« demonstriert habe; begeistert zeigt er sich vor allem über das Ende der ersten Folge, denn »bei den Juden-Erschießungen [...] gelang der Umschlag in das Künstlerische in so einprägsamen Bildern, daß man [...] kaum glauben will, daß das von demselben Mann gemacht wurde, der den biederen So-weit-die-Füße-tragenSchinken herunterdrehte«.78 Die FAZ bescheinigt gar, dass »mit den Mitteln der Kunst« die »nüchterne Reportage« überwunden und eine »Verdichtung« erzeugt wird, mit der »die Unerbittlichkeit der höheren Wahrheit« markant hervortritt.79 Während bei der literarischen Vorlage das Feuilleton noch die künstlerische Überformung der Erschießungsszene moniert, gewinnt ebenjene für die Fernsehkritik dadurch an Eindringlichkeit gegenüber einem Realismus, der das nicht zu erzeugen im Stande sei. Der Welt-Kritiker macht die Kunstfertigkeit des Regisseurs gar zum Argument, um sich in der Debatte über das Darstellungsverbot der Shoa zu positionieren: »Man kann, hier sah man es, auch sehr bittere Dinge in Bildern und Tönen bekannt machen. Man muß es nur können.«80 Hoehl spricht dagegen von »erschütternder Realistik«81, und auch Braem lobt gerade die Nüchternheit der Darstellung: Umgelters Figuren seien »Wirklichkeit, voller Gegenwart«82 und der Regisseur gelange gerade durch den Verzicht auf Rührseligkeiten zu »künstlerische[r] Objektivität«.83 75 Der Kritiker des Tagesspiegel zieht das Casting auch heran, um diesen Mehrteiler polemisch vom Kino abzugrenzen; so spricht er von der »Reichhaltigkeit unseres Schauspielerreservoirs [...], an dem der starsüchtige Film fast immer vorbeigeht« (Schlabritz 1960b). 76 Hoehl 1960b. 77 Ferber/Günzel 1960. 78 Schlabritz 1960a. 79 E. J. 1960. 80 Ferber/Günzel 1960. 81 Hoehl 1960a. 82 Braem 1960a. 83 Ebd.
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Hierin zeichnet sich ab, dass das künstlerische Moment des Fernsehmehrteilers, mit dem dieser in der Konkurrenz zum Kino gewinnt, eben eng damit verknüpft wird, »daß er mit der tausendfältig belasteten, keineswegs überwundenen Vergangenheit so mutig aufrichtig und nicht beschönigend abrechnet, wie das bisher kein Film gewagt hat«84. AM GRÜNEN STRAND DER SPREE wird daher in die Nähe zu Bernhard Wickis DIE BRÜCKE (1959) gerückt, der damals kontrovers diskutiert wurde, weil er entgegen den üblichen Darstellungen des Zweiten Weltkriegs im bundesdeutschen Kino eine kritischere Perspektive eröffnet.85 Morlock sieht den Vorteil des Fernsehens darin, dass es wirtschaftlich unabhängig sei und daher »politisch unbequem sein [kann], ohne Gefahr zu laufen, vor leere Stuhlreihen oder in den Wirkungsbereich von Stinkbomben und weißen Mäusen zu geraten.«86 Vernachlässigt man die Unterschiede zwischen den Rezeptionsmodi und der Breitenwirkung von Roman und ›Fernsehroman‹, so ist auffällig, dass die Szene der Judenerschießung in der ersten Folge wesentlich mehr Aufmerksamkeit erhält als die entsprechenden Passagen des Romans wenige Jahre zuvor.87 Daran mag auch ersichtlich werden, dass sich das Feuilleton und insbesondere die Fernsehkritik in der aufkommenden Politisierung Anfang der 1960er Jahre sensibel für Bezüge zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zeigt, wobei sich in dieser Zeit ja gerade das Fernsehen als politisches Medium zu verstehen beginnt.88 Es ist insbesondere der als konfrontativ empfundene Gestus der Darstellung, der im positiven Sinn Eindruck auf die Rezensenten macht. Braem beschreibt die audiovisuelle Umsetzung von Wilms Tagebuchnotizen als »einen Bilderbogen des Grauens [...], der gerade dadurch nach Humanitas ruft«89; für den Kritiker der FAZ hat es seit Alain Resnais’ Dokumentarfilm NACHT UND NEBEL (1955) »nichts Grauenvolleres auf dem Bildschirm«90 gegeben. Wie Ferber berichtet, bekommt Umgelter für die Konfrontation des Zuschauers mit deutschen Verbrechen »heftigen Protest und heftige Zustimmung«; insgesamt sei der »briefliche Proteststurm« allerdings 84 Müller 1960. 85 Vgl. Braem 1960a; Schlabritz 1960a, 1960b. 86 Morlock 1960. 87 Beim Portrait über Umgelter in Die Welt werden sogar der entsprechende Auszug aus Scholz’ Text und aus Umgelters Drehbuch zum Vergleich direkt nebeneinander in eine Info-Box gestellt, um der Leserschaft die Transformation nachvollziehbar zu machen (vgl. Ferber 1960a). 88 Vgl. den Beitrag von Christian Hißnauer in vorliegendem Band. 89 Braem 1960a. 90 E. J. 1960.
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»ein vergleichsweise zartes Lüftchen geblieben – wenn auch Zeugnisse dafür vorliegen, daß die Härte der ersten Sendung einige selbstgerechte Bundesrepublikaner mit dem Abschirmungsbedürfnis dazu gebracht hat, nach ein paar Minuten empört abzuschalten.«91
Dennoch scheint die erste Folge von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE beim Fernsehpublikum mehr Resonanz bekommen zu haben als die 1960/61 ausgestrahlte dokumentarische Serie DAS DRITTE REICH.92 Eine aus heutiger Sicht problematisch anmutende Sicht vertritt Werner Günzel, ebenfalls in Der Welt, die der ersten Folge eine Doppelrezension widmet. Er spricht anerkennend von einer »eminent politische[n] Tat«: Zwar werde dem deutschen Zuschauer begreiflich gemacht, »was uns die Welt ankreidet und was wir selbst zu unternehmen haben, damit sich derartiges nie, niemals wiederholen kann«; ihre Gültigkeit gewinnt diese konfrontative Darstellung für Günzel aber dadurch, dass sie entgegen »den pausenlos auf uns niederprasselnden ausländischen Vorwürfen« nun von einem Deutschen komme. Seiner Ansicht nach ist in den »jüngsten polnischen und tschechischen Veröffentlichungen […] allzu sehr die politische Absicht« bemerkbar. Der Kritiker lobt die Schattierungen in Umgelters Figurenzeichnung (»Es gibt keine Pauschalunmenschen«); doch scheint in den Bemerkungen ein Revisionismus auf, dem Umgelter ja gerade entgegenarbeitet, wenn Günzel von »in Hitlers Auftrag verübten Verbrechen« spricht.93 Der Großteil der Kritiker stört sich jedoch bereits an der positiveren Darstellung des Generals in Folge 2, wie es etwa bei Hoehl deutlich wird, der das Prinzip von Pflicht als »schuldlose[r] Schuld« anklagt: »Ein falsch aufgefaßtes Pflichtgefühl aber, das gegen jede ethische Einsicht verstößt, ist eindeutig schuldhaft.« Und weiter: »Der Betrachter identifiziert sich zufrieden mit diesem Leitbild des pflichtbewußten Deutschen, denn wie viele Verbrechen, die ›auf höheren Befehl‹ begangen wurden, sind damit legitimiert.«94 In Hinblick auf die Begeisterung der Kritiker über den Mehrteiler Umgelters ist demnach anzumerken, dass diese im Gesamten betrachtet mit der Ausstrahlung der weiteren Folgen allmählich abnimmt. Besonders deutlich zeigt sich der im Gesamten nachlassende Enthusiasmus in den Kommentaren von Braem in der Stuttgarter Zeitung, der seine Rezension zum TAGEBUCH schlicht mit »Grandios.«95 schließt und die zu CAPRICCIO ITALIEN mit »Schlimmer geht nimmer«96 91 Ferber 1960a. 92 Vgl. Bresser 1961. 93 Ferber/Günzel 1960. 94 Hoehl 1960b. 95 Braem 1960a. 96 Braem 1960c.
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eröffnet. Im Unterschied zum Roman liegt es durch den formatspezifischen Modus der Ausstrahlung in Abständen von zwei Wochen nahe, die einzelnen Folgen miteinander zu vergleichen. Die zunehmende Leichtigkeit der Geschichten im Roman bietet sich den Rezensenten dabei als sukzessives Nachlassen künstlerischer Qualität dar; eine Ausnahme bildet BASTIEN UND BASTIENNE 1953, da die Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Frage in dieser Folge durchaus positiv wahrgenommen wird. Insgesamt bleibt die erste Folge maßgebend: »Fritz Umgelter hat die Fallhöhe seiner fünfteiligen Sendung selbst bestimmt. Sie war hoch, ungewöhnlich hoch angesetzt«; während die Folgen 2 bis 4 noch überdurchschnittliche Fernsehunterhaltung bieten, führe »der Sturz [...] beim fünften Teil jedoch ins Bodenlose«.97 In diesem Sinn bemängelt Schlabritz in Der Tagesspiegel schon bei DER GENERAL Umgelters fehlenden Sinn für Ironie,98 während er das PREUSSISCHE MÄRCHEN als »bewegte[n] Bilderbogen von Kriegslust und Liebesweh«99 bezeichnet. Als solches mute es »mehr nach einem verfilmten Eckart von Naso als nach einem Scholz an: Gar so monströs ufa-mäßig hätte diese Fridericus-Rex-Ballade denn doch nicht auszufallen brauchen«.100 BASTIEN UND BASTIENNE 1953 beschreibt er trotz der OstWest-Thematik als »verhaltene[] und zweidimensional auf Atmosphäre angelegte[] märkischen Liebesgeschichte«.101 Schlabritz’ Fazit kann als repräsentativ für die Rezeption von Umgelters zweitem ›Fernsehroman‹ angeführt werden, hält er diesen doch für ein »im großen und ganzen durchaus geglückte[s] Unternehmen« und das Format »endgültig im Fernsehprogramm etabliert«102.
97
Ebd. Die Ablehnung der letzten Folge seitens der meisten Kritiker hängt auch damit zusammen, dass durch die Zensur für einige die Geschehenszusammenhänge nicht nachvollziehbar waren. Da von den Behörden die Duschszene als unsittlich empfunden worden war, musste Umgelter diese erheblich kürzen; dabei kam es zu Unklarheiten zwischen dem Regisseur und dem Intendanten Hans Hartmann, der, mit den Umarbeitungen unzufrieden, kurzfristig selbst Eingriffe veranlasst hatte, da Umgelter am Tag der Ausstrahlung nicht erreichbar gewesen war; vgl. Ferber 1960b. Scholz äußerte sich kritisch über die als übertrieben empfundene Prüderie der Zensur; vgl. Scholz 1960a.
98
Schlabritz 1960b.
99
Schlabritz 1960c.
100 Ebd. 101 Schlabritz 1960d. 102 Schlabritz 1960e.
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Quellenverzeichnis Primärquellen Roman Scholz, Hans: Am grünen Strand der Spree. So gut wie ein Roman, 3. Auflage, Hamburg 1955. Hörspiel Am grünen Strand der Spree, R.: Gert Westphal, Lothar Timm, D: Hans Scholz, BR Deutschland 1956, Fassung: CD, Studio Hamburg Enterprises GmbH 2013, 407 Minuten. 1. Einer fehlt in der Runde, 21.8.1956. 2. Der O I spielt Sinding, 24.8.1956. 3. Die Chronik des Hauses Bibiena, 28.8.1956. 4. Kastanien und märkische Rüben, 31.8.1956. 5. Kennst du das Land? 4.9.1956. Fernsehfilm Am grünen Strand der Spree, R.: Fritz Umgelter, D.: Reinhart Müller-Freienfels/Fritz Umgelter, BR Deutschland 1960, Fassung: DVD, Studio Hamburg Enterprises GmbH 2013, 500 Minuten. 1. Das Tagebuch des Jürgen Wilms, 22.3.1950. 2. Der General, 5.4.1960. 3. Preußisches Märchen, 19.4.1960. 4. Bastien und Bastienne 1953, 3.5.1960. 5. Capriccio Italien, 17.5.1960. Rezensionen Biedrzynski, Richard: Dem Jahrhundert ins Gesicht gesehen. In: Stuttgarter Zeitung, Nr. 81 (7.4.1956), Sonntagsbeilage zur Stuttgarter Zeitung (Die Brücke zur Welt), o. S. Braem, Helmut M. [1960a]: Gesicht unseres Jahrhunderts. In: Stuttgarter Zeitung, Nr. 71 (25.3.1960), 19.
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Ders. [1960b]: Preußisches Märchen. In: Stuttgarter Zeitung, Nr. 93 (22.4.1960), 15. Ders. [1960c]: Am grünen Strand der Spree (5. Teil). In: Stuttgarter Zeitung, Nr. 116 (20.5.1960), 17. Bresser, Klaus: Hitler auf dem Bildschirm. In: Stuttgarter Nachrichten, Nr. 119 (26.5.1961), 3. Brockmann, Jan: Roman- und Novellenbearbeitung für das Hörspiel. In: Rundfunk und Fernsehen 5 (1957), H. 1, 11-15. E. J.: Wider die Trägheit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 74 (28.3.1960), 16. Ferber, Christian/Günzel, Werner: Zwei Stunden enthüllten die ganze, furchtbare Zeit. In: Die Welt, Nr. 71 (24.3.1960), 6. Ferber, Christian [1960a]: »Fernsehroman« – eine neue Massenunterhaltung. In: Die Welt, Nr. 107 (7.5.1960), o. S. Ders. [1960b]: Letzter Schnitt: der Intendant. In: Die Welt, Nr. 120 (23.5.1960), 7. Hill, Claude: »Through The Night,« by Hans Scholz. In: The Saturday Review, Nr. 36 (5.9.1959), 15f. Hoehl, Egbert [1960a]: Unbewältigte Gegenwart – unbewältigte Vergangenheit. In: Deutsche Woche, Nr. 14 (6.4.1960), 12. Ders. [1960b]: Die Legende vom tragischen Pflichtbewußtsein. In: Deutsche Woche, Nr. 18 (4.5.1960), 12. Jaesrich, Hellmut: Die Ritter der Tafelrunde. In: Der Monat 8 (1956), H. 90, 5558. Luft, Friedrich: Das große Berliner Palaver. In: Die Welt, Nr. 18 (21.1.1956), o. S. [Beilage: Die geistige Welt]. Morton, Frederic: The Past Is Also Present. In: The New York Times (23.08.1959), 4f. Müller, Erika: »Was den Menschen Lust gewährt…«. In: Die Zeit, Nr. 15 (8.4.1960), Beilage Seite IV. N. N. [FAZ]: Unser neuer Roman. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 131 (8.6.1956), 2. N. N. [Kirkus Reviews]: THROUGH THE NIGHT by Hans Scholz (24.8.1959). In: Kirkus Reviews Online, https://www.kirkusreviews.com/book-reviews/hansscholz/through-the-night-3/, Datum des Zugriffs: 13.5.2019. N. N. [Rundfunk und Fernsehen]: Chronik. In: Rundfunk und Fernsehen 4 (1956), H. 1, 412-428. N. N. [Der Spiegel]: Boccaccio in der Bar. In: Der Spiegel, Nr. 12 (21.3.1956), 44-46.
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N. N. [Der Spiegel]: Geteilte Unterhaltung. In: Der Spiegel, Nr. 44 (28.10.1959), 89-91. N. N. [Stuttgarter Zeitung]: Hörenswertes. In: Stuttgarter Zeitung, Nr. 190 (17.8.1956), 10. N. N. [Die Welt]: Hans Scholz ausgezeichnet. In: Die Welt, Nr. 93 (21.4.1960), 6. N. N. [Die Zeit]: Funk für Anspruchsvolle. In: Die Zeit, Nr. 36 (6.9.1956), 19. Kaiser, Joachim: So gut wie ein Ufa-Film. In: Texte und Zeichen 2 (1956), H. 9, 536-542. Koch, Thilo: Wozu die Puste reicht... In: Die Zeit, Nr. 12 (22.3.1956), 7. Korn, Karl: Berliner Dekameron 1955. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 24 (28.1.1956), BuZ, 5. Morlock, Martin [Telemann]: Imperfektion. In: Der Spiegel, Nr. 14 (30.3.1960), 61. -r [Robert Schlabritz, 1960a]: Am grünen Strand der Spree. In: Der Tagesspiegel, Nr. 4420 (24.3.1960), 4. Ders. [1960b]: Preußisches Märchen. In: Der Tagesspiegel, Nr. 4432 (7.4.1960), 4. Ders. [1960c]: Abschied von der Gloria. In: Der Tagesspiegel, Nr. 4442 (21.4.1960), 4. Ders. [1960d]: Zu textgetreu. In: Der Tagesspiegel, Nr. 4454 (5.5.1960), 4. Ders. [1960e]: Mehr dergleichen. In: Der Tagesspiegel, Nr. 4466 (19.5.1960), 4. Ders. [1960a]: Der Autor vor dem Fernsehschirm. In: Der Tagesspiegel, Nr. 4474 (29.05.1960), 5. Ders. [1960b]: Dienst an der Sittlichkeit. In: Die Zeit, Nr. 23 (3.6.1960), 6. Schwab-Felisch, Hans: Am grünen Strand der Spree. In: Die Zeit, Nr. 42 (20.10.1955), 7. Uhlig, Helmut: Roman-Thema Berlin. In: Merkur 11 (1957), H. 8 (Nr. 114), 792-796. Wilk, Werner: Mehr als ein Roman. In: Der Tagesspiegel, Nr. 3107 (27.11.1955), 29. Sekundärliteratur Bloom, Margret: Die westdeutsche Nachkriegszeit im literarischen OriginalHörspiel, Frankfurt a. M. u. a. 1985. Koebner, Thomas: Parabelernst und Konversationskomik: Das Hörspiel der fünfziger Jahre. In: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Ge-
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genwart, hg. von Wilfried Barner, 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, München 2006, 244-259. Scherer, Stefan: Durchsetzung einer Form. Wie Martin Walser den Literaturbetrieb erobert. In: Martin Walser. Lebens- und Romanwelten, hg. von Jan Badewien und Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Karlsruhe 2008, 37-67. Wessels, Wolfram: »Das Hörspiel bringt…«. Eine Geschichte des Hörspiels im Südwestfunk, Siegen 1991 (Massenmedien und Kommunikation 69).
›Selfmade‹-Talente Biografien von Hans Scholz und Fritz Umgelter Stephanie Heck / Simon Lang
Zeittafel: Hans Scholz 1911 Hans Rudolf Wilhelm Scholz wird am 20. Februar in Berlin als zweites Kind einer aus Ostpreußen stammenden Mutter und eines Vaters aus Schlesien geboren. Er besitzt eine zwei Jahre ältere Schwester. Sein Vater ist ein örtlich bekannter Rechtsanwalt, Notar und Justizrat. Zu seiner weiteren Verwandtschaft zählen u. a. der Breslauer Naturwissenschaftler Prof. Dr. Paul Scholz sowie Dr. Hermann Rauschning, der ehemalige Senatspräsident von Danzig. Die Familie lebt in einem bürgerlichen Mehrparteienhaus in der Motzstraße. 1914 Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs kommt der Vater als Jurist in die Kommandantur der Marken und entgeht so dem Einsatz als Soldat. 1917 Ab Ostern besucht Hans Scholz die Vorschule des Mommsen-Gymnasiums Berlin. In der Gymnasialzeit sind seine Leistungen mäßig; 1928 muss er die Unterprima wiederholen. Zwar pflegt er Freundschaften mit seinen Mitschülern, aber er bleibt eher Einzelgänger. Er wird zeitweilig Mitglied marxistischer Schulgruppen, hegt aber keine Leidenschaft für Politik. Auch bei der deutschnationalen Jugend ist er für zwei Monate Anwärter. 1919 Ein Bruder wird geboren. 1924 Die Familie zieht in die Fasanenstraße am Kurfürstendamm. In diesem Jahr besucht er am Magdeburger Platz eine Ausstellung von Otto Dix, dem neben Hans Baluschek seine Vorliebe gilt. Scholz interessiert sich schon in seiner Kindheit und Jugend für das Malen, zwei Aquarelle von Berliner Stadtansichten werden in einer Jugendzeitschrift für Kunst abgedruckt. Zudem entwickelt er ein Interesse für Radiotechnik und Jazz.
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1928 Mit der Mutter und seinen Geschwistern reist er in den Herbstferien nach Paris. 1930 Er schreibt sich für Kunstgeschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität ein und beginnt ein Studium der Malerei an den Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst. Er kommt in die Malklasse von Ferdinand Spiegel. In der Studienzeit ist er Mitglied einer Kapelle für Tanzmusik, um Geld zu verdienen; dabei spielt er verschiedenste Instrumente, vor allem Altsaxofon. Schon in seiner Schulzeit Ende der 1920er Jahre war er Mitglied eines Schülerensembles gewesen. Als Musiker gastiert er vermutlich auch in der Jockey-Bar am Kurfürstendamm, die in seinem Roman Am grünen Strand der Spree zum Schauplatz der Rahmenhandlung wird; definitiv lässt sich dies allerdings nicht nachweisen. 1934 Es erfolgt ein zehnmonatiger Studienaufenthalt in Paris. Scholz folgt hierbei einem jüdischen Mädchen russischer Abstammung, zu dem er in Berlin eine Liebesbeziehung pflegte; ihre Familie war im Vorjahr aus politischen Gründen des Landes verwiesen worden. 1935 Nach der Rückkehr aus Paris und dem Studienabschluss arbeitet Hans Scholz als freier Maler. Seine Bilder, meist Aquarelle, folgen einem naturalistisch-gegenständlichen Stil. Schon vor Kriegsbeginn schafft er jedoch auch zahlreiche Wandmalereien, dies auch im öffentlichen Auftrag, unter anderem im Olympischen Lazarett Döberitz. 1937 Neben seiner freiberuflichen Malerei beginnt er an der Privaten Kunstschule des Westens eine Tätigkeit als Lehrer, die er bis 1939 ausübt. Da er keine affirmative Haltung zum Nationalsozialismus zeigt, wird ihm eine Stellung als Lehrer an der Staatlichen Kunstschule verweigert. 1939 Scholz wird Mitglied der Meisterklasse von Ferdinand Spiegel an der Preußischen Akademie der Künste. Im August meldet er sich freiwillig zum Kriegsdienst, wird aber vorerst abgelehnt. Auch eine zweite Initiativmeldung bleibt erfolglos. 1940 Der Eintritt in den militärischen Dienst erfolgt mit der Besetzung Frankreichs. Er wird als Chauffeur für den Kompaniechef einer Kraftwagenersatzabteilung eingesetzt. In seiner Zeit als Soldat gelangt Scholz in insgesamt elf Länder. Als Mitglied des Nachschubs verfasst er mehrere Schriften über das motorisierte Versorgungswesen der deutschen Truppen. 1941 Im Juni gelangt Scholz nach kürzerem Aufenthalt in Polen mit dem Ostfeldzug der Wehrmacht nach Russland, wo er bis Februar 1944 bleibt. 1944 Als Leutnant wird er zu einer Gebirgsdivision in Nordnorwegen versetzt. 1945 Scholz wird der Armee Wenck zugeteilt und bekleidet dort den Posten eines Generalstabsoffiziers. Er wird in der Nähe von Berlin stationiert.
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Im Mai 1945 gerät er in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft. Ein Jahr verbringt er als Prisoner Of War in einem Lager in Frankreich, zeitweise auch in einem Schloss bei Compiègne. Bei den amerikanischen Soldaten macht er sich als Tanzmusiker verdient. Nach seiner Freilassung gerät er in Berlin für drei Wochen in sowjetische Gefangenschaft. An Pfingsten wird Scholz entlassen. Im selben Jahr nimmt er seine Lehrtätigkeit an der Privaten Kunstschule des Westens wieder auf, die er bis 1950 behält. Bis ins Folgejahr arbeitet er als Innenarchitekt und künstlerischer Entwerfer bei der Bauleitung der Sowjetischen Befehlsbauten in Berlin-Karlshorst. In dieser Funktion ist er unter anderem an der Planung der sowjetischen Botschaft in Ostberlin beteiligt. Er realisiert darüber hinaus diverse Wandgemälde in Berlin (Ost) und der DDR. Scholz wird Dozent für Kunstgeschichte an einer Berliner Volkshochschule, die Lehrtätigkeit übt er bis 1954 aus. Zugleich verfasst er für die Deutsche Dokumentar- und Werbefilm GmbH bis 1957 Werbetexte und rund 100 Drehbücher, von denen etwa 60 umgesetzt werden. Im Spätsommer wird sein Erstlingsroman Am grünen Strand der Spree bei dem Hamburger Verlag Hoffmann & Campe veröffentlicht. Scholz wird für Am grünen Strand der Spree im März der Fontane-Preis der Stadt Berlin verliehen. Die fünfteilige Hörspiel-Adaption des Romans wird vom Südwestfunk (SWF) produziert und zwischen dem 21. August und dem 4. September gesendet. Scholz hatte zusammen mit dem Chefdramaturgen des SWF, Manfred Häberlen, die Hörspielfassung ausgearbeitet. Regie führt Gert Westphal, Leiter der Hörspielabteilung beim SWF. Scholz spricht selbst den Part des Hans Schott. Im März und November sendet der SWF mit ZEICHEN UND ZIFFERN. EIN BERICHT IN BRIEFEN ÜBER ISRAEL und KASPAR HAUSER. DER MERKWÜRDIGSTE ALLER MERKWÜRDIGEN KRIMINALFÄLLE weitere Hörspiele von Scholz. Zur historischen Figur publiziert er 1964 unter dem Titel Der Prinz Kaspar Hauser. Protokoll einer modernen Sage ein Sachbuch. Unter dem Titel Schkola wird eine Novelle, die ursprünglich als Binnengeschichte für Am grünen Strand vorgesehen war, publiziert. Im August erscheint in den USA die englischsprachige Übersetzung seines Debütromans unter dem Titel Through the Night. Scholz gibt zusammen mit Karl Hargesheimer den Bildband Berlin. Bilder aus einer großen Stadt heraus, ein fotografisches Portrait der Nachkriegsstadt mit ihren vier Sektoren.
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1960 Hans Scholz wird am 20. April der Heinrich-Stahl-Preis der jüdischen Gemeinde Berlin verliehen. Zwischen dem 22. März und dem 17. Mai werden die fünf Folgen der Fernsehadaption AM GRÜNEN STRAND DER SPREE, entstanden unter der Regie von Fritz Umgelter, ausgestrahlt. Hans Scholz hatte die Bearbeitung des Drehbuchs abgelehnt, sich letztlich jedoch in Form eines Cameo-Auftritts an der Produktion beteiligt. Im gleichen Jahr veröffentlicht er sein monografisches Stadtportrait Berlin, jetzt freue dich! Betrachtungen an und in den Grenzen der deutschen Hauptstadt, ein Skizzenbuch. 1961 Für den Der Spiegel schreitet Scholz im Herbst die Berliner Mauer ab und hält seine Erfahrungen in einer Reportage mit dem Titel Nebenan liegt Preußen begraben fest. Er arbeitet als freier Autor erstmals für das Fernsehen, für das er in den kommenden Jahren wiederholt Aufträge annimmt. Für den Sender Freies Berlin (SFB) verfasst und spricht er die Folge 4 der Reihe BERLIN. GESICHT EINER GROßSTADT, die am Silvesterabend ausgestrahlt wird. Zudem veröffentlicht er die ›unterhaltsame Reisegebrauchsanweisung‹ Berlin für Anfänger. Ein Lehrgang in 20 Lektionen und wird Mitglied des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. 1962 Hans Scholz publiziert die Anthologie An Havel, Spree und Oder, bestehend aus fünf Hörspieltexten und einführenden Erläuterungen zur jeweiligen Hörspielproduktion und ihrer Hintergründe. 1963 Scholz wird bei der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel Chef des Feuilletons. Im gleichen Jahr nimmt ihn die Akademie der Künste Berlin als Mitglied auf. 1964 Als Autor und Sprecher portraitiert er in einem Dokumentarfilm für den SFB den Zeichner E. O. Plauen. 1965 Scholz gibt zusammen mit Heinz Ohff den Band Vöglein singe mir was Schönes vor. Dokumente aus Kindertagen heraus. 1966 Innerhalb der Reihe Jahr und Jahrgang 1911, die von Hoffmann und Campe verlegt wird, veröffentlicht Scholz seinen autobiografischen Essay Jahrgang 1911. Leben mit allerlei Liedern. Darüber hinaus publiziert er, wiederum gemeinsam mit Heinz Ohff, die Anthologie Eine Sprache – viele Zungen. Autoren der Gegenwart schreiben in deutschen Mundarten. 1967 Im Oktober sendet der RIAS ein dreiteiliges Hörfunk-Portrait von Martin Luther, das Scholz anlässlich des 450. Jubiläums des Thesenanschlags verfasst hatte. 1968 Scholz wird Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt. Es erscheint in Zusammenarbeit mit dem Fotografen Max Jacoby
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der Bildband Berlin. Impression, der Momentaufnahmen eines typischen Tagesablaufs in der Großstadt in Wort und Bild einfängt. Ende November strahlt der SFB Le salon imaginaire aus, ein von Scholz verfasster und gesprochener Dokumentarfilm über die Gemäldesammlung der Berliner Akademie der Bildenden Künste. Zum 150. Todestag von Theodor Fontane verfasst er für den RIAS ein Portrait des Schriftstellers, das im Dezember in drei Folgen gesendet wird. Darüber hinaus erscheint der autobiografische Text Aus der braunen Periode in der Anthologie Spreewind. Schriftsteller der Gegenwart erzählen Berliner Geschichten. Scholz schildert darin u. a. seine Studienzeit an den Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst sowie seine Zeit als Lehrer an der Privaten Kunstschule des Westens. Seine Reiseberichte aus dem Nahen Osten Süd-Ost hin und zurück. Luftreiseführer zum östlichen Mittelmeer erscheinen bei Hoffmann & Campe. Er wird dieses Werk fortan als sein gelungenstes bezeichnen. Im gleichen Jahr heiratet er die 21 Jahre jüngere Andrea Zwick. Aus der Ehe geht ein Sohn namens Robert hervor. Scholz wird an der Westberliner Akademie der Künste stellvertretender Direktor der Abteilung Literatur. Seine Wanderungen und Fahrten in der Mark Brandenburg, die er auf den Spuren Fontanes unternimmt, erscheinen zunächst als Serie im Tagesspiegel. Im folgenden Jahr erscheint das erste Buch, bis 1984 werden die Wanderungen zu einer zehnbändigen Reihe ausgebaut. Scholz beschreibt darin die Geschichte und die Landschaft der Region, die er sich unter anderem durch Tagesausflüge in die DDR erschließt. Illustriert werden die Bände mit Aquarellen von Scholz aus den Jahren 1947-52. Auf Grundlage der Berichte sendet der Süddeutsche Rundfunk (SDR) 1974 ein 37-minütiges Hörspiel. Zwei Jahre später produziert der SFB einen zweiteiligen Dokumentarfilm, in dem Scholz mit anderen Kennern über das landschaftliche Erscheinungsbild und die Geschichte Brandenburgs spricht. Es erscheint der Bildband Bilder aus der Mark Brandenburg, den Scholz gemeinsam mit Klaus Lehnartz umsetzt und der kultur- wie mentalitätsgeschichtliche Erörterungen zur Entwicklung Brandenburgs enthält. Hans Scholz beendet seine Tätigkeit als Feuilletonchef des Tagesspiegel und geht in Pension. Er wendet sich nun wieder stärker der Malerei zu. Zusammen mit der international bekannten Fotografin Anno Wilms veröffentlicht Scholz den Bildband Berlin.
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1978 Beim Münchener Kindler-Verlag publiziert Scholz eine Biografie von Fontane, die passagenweise seine persönliche Rezeptionsgeschichte des Autors widerspiegelt. 1981 Der Berliner Senat verleiht ihm den Titel eines Honorarprofessors. 1983 In der SFB-Reihe PAPIERTHEATER tritt Scholz mehrmals in einer Nebenrolle als Theodor Fontane auf. 1988 Er wohnt zuletzt in der Berliner Herbartstraße. Am 20. November stirbt Hans Scholz im Alter von 77 Jahren in seiner Heimatstadt infolge einer Krebserkrankung. Das Œuvre von Scholz umfasst zahlreiche weitere Arbeiten für Presse, Hörfunk und Fernsehen. Er war dabei als Autor, Sprecher und Regisseur tätig. Zeittafel: Fritz Umgelter 1922 Fritz Umgelter wird als Sohn einer bürgerlichen Familie am 18. August in Stuttgart geboren. Über seine familiären Verhältnisse, die Kindheit wie die Jugend ist weiter nichts bekannt. 1940 Nach dem Abitur tritt Umgelter in den Kriegsdienst ein. 1945 Nach Kriegsende beginnt der spätere Fernsehregisseur ein Studium der Philologie, das er an Universitäten in Straßburg, Tübingen und München absolviert. Daraufhin arbeitet er an verschiedenen kleineren Theatern im süddeutschen Raum, bis er als Bühnenbildner zum Landestheater Tübingen wechselt. Nach diesem Engagement geht er zunächst als Schauspieler an die Städtischen Bühnen Augsburg, wo er bereits 1946 kurzzeitig Mitglied des Ensembles war. Später wird er auch Spielleiter. Für den Zeitraum zwischen 1948 und 1953 lässt sich ein Wohnsitz in der Bussenstraße im Stuttgarter Stadtteil Gablenberg nachweisen. 1951 Umgelter wechselt zum Hessischen Staatstheater Wiesbaden, wo er bis 1954 wiederum als Spielleiter und Schauspieler tätig ist. 1953 In seiner Zeit in Wiesbaden kommt er beruflich erstmals mit dem Fernsehen in Kontakt. So inszeniert er für den Hessischen Rundfunk (HR) unter anderem mehrere Folgen der AUGSBURGER PUPPENKISTE. 1955 Beim HR in Frankfurt a. M. übernimmt Umgelter die Abteilung Fernsehspiel, Unterhaltung und Dokumentar, die er bereits im darauffolgenden Jahr wieder aufgibt, um als freier Bühnen-, Film- und Fernsehregisseur zu arbeiten; er wird von der Filmagentur Loewenthal unter Vertrag genommen. In dieser Zeit inszeniert er unterhaltende Stoffe wie DER HUND VON BASKERVILLE, beschäftigt sich jedoch auch mit gesellschaftskriti-
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scheren Vorlagen, so etwa in HELD IN UNSERER ZEIT, EIN VOLKSFEIND, GERICHT ÜBER LAS CASAS. Er führt Regie für das kritische Dokumentarspiel STRAFVOLLZUG UND REFORMBESTREBUNGEN IN DEUTSCHEN GEFÄNGNISSEN (HR, 12.11.1956) über die schlechten Haftbedingungen bundesdeutscher Strafgefangener; das Drehbuch verfasst Reinhart Müller-Freienfels, mit dem Umgelter später für AM GRÜNEN STRAND DER SPREE zusammenarbeitet. Umgelter wird Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und heiratet Ingrid Lipowsky, Theaterwissenschaftlerin und Journalistin. Als Drehbuchautorin und Regieassistentin unterstützt sie fortan seine Arbeit. Der HR strahlt Ende November Umgelters Inszenierung von Schillers Don Carlos aus. Sie zählt bis dahin zu den aufwändigsten Regiearbeiten aus Umgelters Frühzeit, da sie dreieinhalb Stunden dauert und 24 Dekorationen umfasst. Im Dezember wird Umgelters Kinofilm WENN DIE CONNY MIT DEM PETER in Essen uraufgeführt; es ist die erste von nur insgesamt sechs Arbeiten für das Kino. Parallel dazu arbeitet der Regisseur für den NWDR an SO WEIT DIE FÜSSE tragen, dem ersten ›Fernsehroman‹ des bundesdeutschen Fernsehens. Nach insgesamt 79 Drehtagen werden die sechs Teile von SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN zwischen dem 12. Februar und dem 21. April im Abstand von zwei Wochen im ersten Programm der ARD gezeigt. Zwischen den Ausstrahlungen der Einzelfolgen ist Umgelter noch mit der Postproduktion beschäftigt. Bei einem Zuschaueranteil von 90 % wird der Mehrteiler zum ersten ›Straßenfeger‹ der bundesdeutschen Fernsehgeschichte. Im Frühjahr zieht Umgelter in die Freilandstraße im oberbayrischen Ort Olching bei München und beginnt mit den Vorbereitungen zu seiner zweiten Mehrteiler-Regie für den NWDR. Im benachbarten Gröbenzell dreht er später Schlachtszenen des PREUSSISCHEN MÄRCHENS, der dritten Folge von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE. Ende September beginnen die Dreharbeiten, die sich auf insgesamt 119 Tage verteilen. Sie finden überwiegend in Oberbayern und in den Bavaria-Studios Geiselgasteig statt; aus Kostengründen muss für die bis dahin finanziell aufwändigste Produktion des bundesdeutschen Fernsehens auf Aufnahmen in Italien verzichtet werden. Die fünf Folgen von AM GRÜNEN STRAND DER SPREE werden vom 22. März bis 17. Mai im ersten Programm der ARD gesendet. Der Mehr-
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teiler ist beim Publikum ähnlich erfolgreich wie sein Vorgänger, kann gegenüber diesem jedoch auch die Fernsehkritik stärker überzeugen. Nach mehreren Fernsehfilmen für den Bayerischen Rundfunk (BR) und den neu entstandenen Westdeutschen Rundfunk (WDR) inszeniert der Regisseur mit einer Adaption von Hans Falladas Roman Wer einmal aus dem Blechnapf frisst seinen dritten ›Fernsehroman‹; er beschäftigt sich weiterhin kaum mit Originalfernsehspielen. Für den 400. Geburtstag von Shakespeare arbeitet er eine weitere seiner zahlreichen, meist groß angelegten Klassikeradaptionen aus: Seine Inszenierung von KÖNIG RICHARD III. (BR) benötigt 57 Darsteller und rund 140 Komparsen; wie viele seiner Bearbeitungen von Klassikern für das Fernsehen wird auch diese zeitgleich in Österreich und der Schweiz ausgestrahlt. Umgelter zeichnet für den ersten Kinofilm der JERRY COTTON-Kinoreihe, SCHÜSSE AUS DEM GEIGENKASTEN, verantwortlich. Wie die folgenden sieben Teile wird dieser erste von der Constantin Film produziert, den Soundtrack komponiert Peter Thomas, mit dem Umgelter schon für AM GRÜNEN STRAND DER SPREE zusammengearbeitet hatte. Im Zuge der Dreharbeiten, die Anfang des Jahres stattfinden, reist er für einige Außenaufnahmen in die USA. Nach dem Kinofilm wendet sich der Regisseur wieder ernsteren Stoffen für das Fernsehen zu, unter anderem NUN SINGEN SIE WIEDER und DER GUTE MENSCH VON SEZUAN (1966), beide für den SDR. Am 14. März wird seine TV-Adaption von Arnold Weskers Drama Chips with Everything unter dem Titel BRATKARTOFFELN INBEGRIFFEN (SDR) im Deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Im Dezember erhält er für die Produktion von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste den Fernsehpreis für die beste Regie. Bei den Dreharbeiten zu Umgelters Bearbeitung von Eichendorffs Drama Die Freier werden für Außenaufnahmen statt Filmkameras erstmals elektronische Aufzeichnungsgeräte benutzt. Vom 30. Oktober bis zum 2. November wird der Dreiteiler REBELLION DER VERLORENEN (SDR) gesendet, in der die Lebensbedingungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft beleuchtet werden; das Drehbuch nach dem Roman von Henry Jaeger stammt von Wolfgang Menge. Am 12. Februar wird die letzte der insgesamt 13 Folgen von MERKWÜRDIGE GESCHICHTEN ausgestrahlt; gegenüber Umgelters zahlreichen Mehrteilern setzt sich diese Vorabendserie über mysteriöse, übersinnlich anmutende Unglücksfälle aus in sich abgeschlossenen Einzelfol-
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gen von je rund 25 Minuten zusammen. Im März wird Umgelter der Sonderpreis Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen für den Dreiteiler WIE EINE TRÄNE IM MEER (WDR, 1969) nach der gleichnamigen Romantrilogie von Manès Sperber verliehen. Am 9. Mai feiert seine Inszenierung von Goethes Götz von Berlichingen am Nürnberger Schauspielhaus Premiere. In einer Fernsehverfilmung von Julia Tinzmanns dreibändigem Roman Das Klavier (SFB) setzt sich Umgelter mit der Emanzipation der Frau auseinander. Das Thema der weiblichen Gleichberechtigung steht auch in WENN ALLE ANDEREN FEHLEN (HR) im Mittelpunkt. Vom 1. Januar bis zum 4. Februar zeigt das ZDF wöchentlich eine Folge von Umgelters biografischem Historien-Mehrteiler DIE MERKWÜRDIGE LEBENSGESCHICHTE DES FRIEDRICH FREIHERRN VON DER TRENCK, dessen Handlung in Preußen zur Zeit Friedrichs II. angesiedelt ist. Umgelters erste Regiearbeit für die Reihe TATORT wird unter dem Titel DIE RECHNUNG WIRD NACHGEREICHT am 11. April gesendet. Von seinen insgesamt acht TATORT-Folgen produziert er sieben für den HR (Kommissar Konrad und Hauptkommissar Bergmann, Frankfurt a. M.) und eine für den SFB (Kommissar Schmidt, Berlin). Der Regisseur wendet sich nun auch wieder stärker dem Theater zu: in Bregenz und Baden (Schweiz) inszeniert er eine Bühnenadaption des Kriminalromans And Then There Were Non von Agatha Christie. Der HR produziert Umgelters Dreiteiler DER WINTER, DER EIN SOMMER WAR. Mit seinem Sujet über die Teilnahme hessischer Soldaten am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg soll der Historienfilm bei den nationalen Feierlichkeiten zur 200-Jahr-Feier der USA gezeigt werden. Nachdem dies nicht zustande kommt, erfolgt die Ausstrahlung im Deutschen Fernsehen am 19., 21. und 26. Dezember. Nach TRENCK, DIE UNFREIWILLIGEN REISEN DES MORITZ AUGUST BENJOWSKI (ZDF 1974) und DES CHRISTOFFEL VON GRIMMELSHAUSENS ABENTEUERLICHER SIMPLICISSIMUS (ZDF 1975) ist es Umgelters dritter Historienmehrteiler in diesem Jahrzehnt. Zusammen mit Harry Valérien, Redakteur und Moderator des Aktuellen Sportstudios, dreht Umgelter die Dokumentation HELMUT SCHÖN UND DIE NATIONALMANNSCHAFT über den ehemaligen Fußball-Bundestrainer. Im gleichen Jahr dreht er in Jugoslawien die 13-teilige Kinderserie DIE ROTE ZORA UND IHRE BANDE (BR), die vom 1. Januar bis zum 16. März des Folgejahres im ersten ARD-Programm ausgestrahlt wird.
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1981 Seine letzte Regiearbeit sind die ersten Folgen der neuen ZDFSendereihe TRAUMSCHIFF. Drei Wochen nach Ende der Dreharbeiten in der Karibik stirbt Fritz Umgelter in der Nacht zum 9. Mai im Schlaf an einem Herzinfarkt. Seine Lebensgefährtin, die Cutterin Birgit Bosboom, findet ihn leblos in seiner Frankfurter Wohnung. Sein Werk umfasst mehr als 100 (oftmals mehrteilige) Fernsehspiele und Dokumentarfilme sowie mehrere Regiearbeiten für das Theater.
Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Moritz Baßler, geb. 1962, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Münster. Promotion in Tübingen (Die Entdeckung der Textur, Tübingen 1994), Habilitation in Rostock (Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, Tübingen 2005). Zahlreiche Publikationen mit den Schwerpunkten Realismus, Literatur der Klassischen Moderne, Literaturtheorie, Gegenwartsliteratur und Popkultur. An Monografien erschienen zuletzt eine Literaturgeschichte (Deutsche Erzählprosa 1850-1950, Berlin 2015) und ein Buch über Pop-Musik (Western Promises, Bielefeld 2019). Prof. Dr. Gustav Frank, PD für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der LMU München. Studium Germanistik, Geschichte, Philosophie, Wissenschaftstheorie in Passau und Wien. Schwerpunkte: Visuelle Kulturen, Zeitschriften, Geschichte und Materialität der Druckmedien, Narratologie der erzählten Geschichten, Literaturgeschichte der Synthetischen Moderne, Wissenskulturen. Publikationen (Auswahl): Krise und Experiment. Komplexe Erzähltexte im literarischen Umbruch des 19. Jahrhunderts (1998); Einführung in die Bildwissenschaft. Bilder in der visuellen Kultur (2010, mit Barbara Lange); Farewell to Visual Studies (2016, mit James Elkins, Sunil Manghani); W.J.T. Mitchell: Bildtheorie (Hg., 2008); Wissenskulturen des Vormärz (2012, hg. mit Madleen Podewski); Hans Fallada Handbuch (2019; hg. mit Stefan Scherer) Hannes Gürgen, M.A., studierte in Karlsruhe (KIT) Germanistik und Pädagogik; wissenschaftliche Publikationen für das Hans Fallada-Handbuch (2019, hier zu Falladas Poetik im literarischen Kontext des Dritten Reichs, zu Falladas journalistischer Tätigkeit im Verhältnis zum literarischen Werk, zum Roman Wer einmal aus dem Blechnapf frißt), Autor der umfassenden Bibliografie für das Hans Fallada-Handbuch (zus. mit Kristina Kapitel und Alice Hipp); aktuell Promotion am KIT zum Thema Arnolt Bronnen – Literatur, Ästhetik und Medien eines modernen Schriftstellers.
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Roya Hauck, M.A., seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik: Literatur, Sprache, Medien am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Promotion zum Thema Manipulation und Literatur um 1800 mit gefördertem Forschungsaufenthalt in New York und Princeton (2019), betreut durch Prof. Dr. Elisabeth Strowick, Prof. Dr. Stefan Andriopoulos und Prof. Dr. Theodore Ziolkowski; Vortrag über Auszeit und Müßiggang bei Schiller, Goethe und Tieck im Rahmen des 26. Deutschen Germanistentages (2019); Preis der Stadt Karlsruhe (2018) und Auszeichnung für studentisches Forschen am KIT (2016); Deutschlandstipendiatin (2015-2017). Stephanie Heck, M.A., seit 2019 wissenschaftliche Volontärin am Badischen Landesmuseum Karlsruhe; Promotionsprojekt zu dem Medienkomplex Am grünen Strand der Spree; 2013-2015 Leitung des Schlüsselqualifikationsmoduls Wissenschaftliches Schreiben; 2011-2012 Deutschlandstipendiatin; Forschungsinteressen: bundesdeutsche Fernsehgeschichte, Serialität und Fiktionalität, Literatur des 17. bis 21. Jahrhunderts; wissenschaftliche Publikation zu Hans Scholz’ Am grünen Strand der Spree (2018; in: Der Rahmenzyklus in den europäischen Literaturen, zus. mit Simon Lang). Dr. Christian Hißnauer, seit 2017 Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur (Humboldt-Universität zu Berlin). Veröffentlichungen insbesondere zur bundesdeutschen Fernsehgeschichte: Personen beschreiben, Leben erzählen. Die Fernsehporträts von Georg Stefan Troller und Hans-Dieter Grabe (2017), Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe TATORT im historischen Verlauf (2014; zus. mit Claudia Stockinger und Stefan Scherer), Wegmarken des Fernsehdokumentarismus. Die Hamburger Schulen (2013; zus. mit Bernd Schmidt), Klassiker der Fernsehserie (2012; hrsg. zus. mit Thomas Klein), Das bundesdeutsche Fernsehspiel der 1960er und 1970er Jahre (2011; Themenheft der Zeitschrift Rundfunk und Geschichte; Gastherausgeber), Fernsehdokumentarismus. Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen (2011). Simon Lang, M.A., Doktorand am Institut für Germanistik des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT); Promotionsprojekt zu dem Filmregisseur Elio Petri; 2017-18 Stipendiat der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg; 20152017 Lehrtätigkeiten im Bereich des wissenschaftlichen Schreibens; seit 2019 im Bereich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks tätig; Forschungsinteressen: europäische Film- und Fernsehgeschichte (v. a. Italien und Deutschland), politisches Kino, Film- und Medientheorie, Formen und Theorien von Populärkultur.
Autorinnen und Autoren | 323
Dr. Antonie Magen studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Geschichte der Frühen Neuzeit an den Universitäten Augsburg und München. 2003 promovierte sie in Augsburg mit der Arbeit Der Kulturroman – Programm des bürgerlichen Selbstverständnisses. Von 2004 bis 2007 leitete sie die Eichendoff-Arbeitsstelle der Universität Augsburg. Seit 2008 arbeitet sie an der Bayerischen Staatsbibliothek. Sie veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte des 18. bis 21. Jahrhunderts. Zudem war sie als Editorin tätig: 2007 erschienen Eichendorffs historische und politische Schriften, die sie im Rahmen der historisch-kritischen Eichendorff-Ausgabe herausgab, 2015 folgte der Briefwechsel zwischen Fouqué und Varnhagen. Prof. Dr. Stefan Scherer, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), wissenschaftlicher Leiter des Schreiblabors am House of Competence des KIT. Promotion: Richard BeerHofmann und die Wiener Moderne (1993), Habilitation: Witzige Spielgemälde. Tieck und das Drama der Romantik (2003). Publikationen (Auswahl): TieckHandbuch (2011, 2. Aufl. 2016) (zus. mit Claudia Stockinger), Einführung in die Dramen-Analyse (2010, 2. Aufl. 2013), Föderalismus in Serie (2014, zur ARDReihe TATORT, zus. mit Christian Hißnauer, Claudia Stockinger), Hans FalladaHandbuch (2019) (zus. mit Gustav Frank); Sammelbände über Martin Kessel, zur Epochenkonstruktion Synthetische Moderne (1925-1955), zur Lyrik im 19. Jahrhundert, über Irmgard Keun, Hans Fallada, Technikreflexionen in Fernsehserien, Wissenschaftliches Schreiben in Natur- und Technikwissenschaften (zus. mit Andreas Hirsch-Weber). Christina Strecker, M.A., bis 2019 Studium der Germanistik mit dem Schwerpunkt der Medienwissenschaft am Institut für Germanistik des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT); 2015 Lehrtätigkeit im Bereich der Mediengeschichte im Seminar Médias allemands an der Abteilung für Angewandte Fremdsprachen an der Dschanger Universität (UD) in Kamerun im Rahmen einer vom DAAD finanzierten Germanistischen Institutspartnerschaft (GIP) zwischen dem KIT und der UD; 2014-2015 Deutschlandstipendiatin; 2013 und 2014 CollegiumMembership als ›Collegian‹ am 32. und ›Mentor‹ am 33. Stummfilmfestival Le Giornate del Cinema Muto in Pordenone Italien; Forschungsinteressen: Mediengeschichte, Stummfilm, klassische Filmkomödie und Interkulturalität im Film.
Medienwissenschaft Christoph Engemann, Andreas Sudmann (Hg.)
Machine Learning – Medien, Infrastrukturen und Technologien der Künstlichen Intelligenz 2018, 392 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3530-0 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3530-4 EPUB: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3530-0
Geert Lovink
Digitaler Nihilismus Thesen zur dunklen Seite der Plattformen 2019, 242 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4975-8 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4975-2 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4975-8
Mozilla Foundation
Internet Health Report 2019 2019, 118 p., pb., ill. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4946-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4946-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Medienwissenschaft Susan Leigh Star (verst.)
Grenzobjekte und Medienforschung (hg. von Sebastian Gießmann und Nadine Taha) 2017, 536 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3126-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-3126-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-3126-5
Ramón Reichert, Karin Wenz, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Annika Richterich (eds.)
Digital Culture & Society (DCS) Vol. 4, Issue 2/2018 – Digital Citizens 2019, 220 p., pb., ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4477-7 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4477-1
Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)
Zeitschrift für Medienwissenschaft 21 Jg. 11, Heft 2/2019: Künstliche Intelligenzen 2019, 208 S., kart., Klebebindung 24,99 € (DE), 978-3-8376-4468-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4468-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-4468-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de