Altes Reich und Neue Dichtung: Literarisch-politisches Reichsdenken zwischen 1740 und 1830 9783110364460, 9783110363173

Max Weber Prize+Bavarian Culture Prize This study explores German literary figures’ reflections on the empire from the

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German Pages 636 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee
1. ,Das neue Bild vom Alten Reich‘ in der Geschichtswissenschaft
2. Reichsbewusstsein und literaturwissenschaftliches Konzept
Kapitel 1: Reich als Kontext
1. Reisen in ,Deutschland‘
2. Politische Lebenswelt: Goethes Karriere im Alten Reich
3. Dichtung auf Reichsgrund?
3.1 Kontextsuggestion: Schillers Räuber und die deutsche Republik
3.1.1 Bausteine eines Mythos: Despot, Rebell, Flucht
3.1.2 Karl Moors ,deutsche Republik‘
3.1.3 Schauplatz ,deutsches Reich‘
3.2 Die Macht der Bilder: Jean Pauls Reichsmetaphorik
Kapitel 2: Reich als Text
1. Verrechtlichung der Reichsidee
2. ,Reichspublicistik‘ und Nationalliteratur
2.1 Appelle zur Eintracht: Hermannsdichtung aus dem Geist der ,Reichspublicistik‘?
2.1.1 Hermannsmythos und Reichsbewusstsein
2.1.2 Hermannsdichtung im Kontext des Österreichischen Erbfolgekriegs
2.1.3 Hermannsdichtung nach 1763
2.1.4 Hermannsdichtung am Ende des Alten Reichs
2.2 Deutsche Art und Kunst: Reichsverfassung und Ästhetik
2.2.1 Originalkunst und Nationalcharakter
2.2.2 Die Puppe Karls des Großen
2.3 Philosophie des Faktischen: Die ,Reichspublicistik‘ im Frühwerk Herders
2.3.1 Historiographie und Wissenschaft
2.3.2 ,Idiotistische‘ Geschichtsschreibung
2.3.3 Die Göttinger Preisschrift von 1774
2.3.4 Herders Deutschlandbegriff oder: ,Das Reich spricht deutsch‘
2.4 Dramatisches irregulare aliquod corpus: Reichsvariationen in Goethes Götz von Berlichingen
2.4.1 Goethes Studium des Reichsrechts
2.4.2 Götz und Weislingen
2.4.3 Kaiser ohne Reich
2.4.4 Reich ohne Kaiser
2.4.5 Kaiser und Reich
2.4.6 Schönes Monstrum
2.5 Götz-Nachfolge: Populäre Dramen zwischen Territorialund Reichspatriotismus
3. Staatengleichgewicht und europäische Kultur
3.1 Patriotismus und Kosmopolitismus: Wielands Bild vom Alten Reich vor 1789
3.1.1 Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten (1758) und Der goldne Spiegel (1772)
3.1.2 Kühler und heißer Patriotismus: Reichskultur zwischen Abderitentum und Kosmopolitismus
3.1.3 Deutschland im höchsten Flor wenn es nur will (1780/1786)
3.2 ,Deutsche‘ und ,Europäische Freiheit‘ bei Schiller
3.2.1 Universalgeschichte als Philosophie der Evolution
3.2.2 Bonum-durch-Malum: Altes Reich und Schillers ,Historiodizee‘
3.2.3 Die ,deutsche Freiheit‘ in der Geschichte
Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?
1. Nationaltheater und föderale Nation
2. Wielands Teutscher Merkur und die ,Reichsöffentlichkeit‘
3. Das Heilige Griechische Reich deutscher Nation: Herders Institut für den Allgemeingeist
3.1 Die Traditionswahl ,Griechenland‘
3.2 Herders Kulturpolitik
3.3 Der Institutsplan
Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast
1. Schiffbruch mit Zuschauer: Die Perspektive aus dem Reich
1.1 Wielands Theatrum revolutionis und der sichere Platz im Reich
1.1.1 Theatralität und Distanz
1.1.2 Politische Religion und Reichstradition
1.2 Herders Experimentum revolutionis und die höhere Haushaltung der Dinge
1.3 Politik als Beruf: Goethes literarischer Kampf gegen den politischen Dilettantismus
2. Wielands Verfassungspatriotismus in der Vorrede zum Historischen Calender für Damen (1792)
3. Reichszerfall und Formgewinn
Kapitel 5: Abgesänge und Arbeit am Mythos
1. Schein und Sein
2. Krisis und brüchige Utopie
2.1 Wielands Traum von einem modernen Reichsstaat in den Gesprächen unter vier Augen
2.1.1 Was ist zu thun? Apokalypse und pragmatische Reichspolitik
2.1.2 Träume mit offenen Augen: Von offener Verfassung zur gestalteten Verdichtung
2.2 Translatio pacis in Goethes Märchen
2.2.1 Die politische Bedeutung der Roentgen-Schreibtische
2.2.2 Friedensreich mit Fragezeichen
2.3 Die ,Einungsutopie‘ im Wilhelm Tell oder die verpasste Reichsreform
2.3.1 Ideal und Gegenwart: Wilhelm Tell und der Graf von Habsburg
2.3.2 Demokratische Reichsromantik?
3. Das Rad der Fortuna
3.1 Spiegel der Reichskrise: Schillers Wallenstein-Trilogie
3.1.1 Die Wiederkehr des Dreißigjährigen Kriegs
3.1.2 Form versus Inhalt
3.1.3 Treue-Dilemma
3.2 Similitudo temporum: Wielands Aristipp und die Cicero-Briefe
3.2.1 Der Untergang der Poleis-Welt im Aristipp
3.2.2 Die Cicero-Übersetzung als Palliativum
3.3 Fausts unheiliges Reich
3.3.1 Das Reichsmotiv im Fauststoff
3.3.2 Sich selbst historisch: Goethes autobiographische Retrospektive
3.3.3 Der Reichszerfall im Faust II
3.3.3.1 Archetypen der Reichskrise: Eigennutz und Zwietracht
3.3.3.2 Ein Staat jenseits des Reichs: Fausts Lehen
4. Ausblick: Historisierung, Spiritualisierung, Verjüngung
4.1 Das heilige Reich: Arnim, Novalis, Schlegel, Wetzel und Eichendorff
4.1.1 Kompensation des Reichsverlusts
4.1.2 Spiritualisierung der Reichsnation
4.1.3 Wetzels Magischer Spiegel und Eichendorffs Examensarbeit
4.1.4 Das verborgene Reich in Ahnung und Gegenwart und im Taugenichts
4.2 Das nationale Reich: Heinrich von Kleist
Fazit: Altes Reich und Neue Dichtung
Bibliographie
1. Quellen
2. Lexika
3. Forschungsliteratur
Namensregister
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Altes Reich und Neue Dichtung: Literarisch-politisches Reichsdenken zwischen 1740 und 1830
 9783110364460, 9783110363173

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Markus Hien Altes Reich und Neue Dichtung

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

82 ( 316 )

De Gruyter

Altes Reich und Neue Dichtung Literarisch-politisches Reichsdenken zwischen 1740 und 1830

von

Markus Hien

De Gruyter

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort Zugl. Diss. Universität Würzburg

ISBN 978-3-11-036317-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036446-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039119-0 ISSN 0946-9419 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Konrad Triltsch, Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde 2013 als Dissertation an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg angenommen und für die Drucklegung geringfügig überarbeitet. Jüngere Forschungsliteratur konnte nur teilweise berücksichtigt werden. Zur Entstehung und Publikation haben viele beigetragen, bei denen ich mich herzlich bedanken möchte. An erster Stelle ist mein Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang Riedel zu nennen. Dank gilt ihm nicht nur für die intensive Betreuung mit unzähligen Gesprächen, sondern auch für die Bereitschaft, seine Schüler eigene Wege gehen zu lassen und sie auf diesen nachhaltig zu ermuntern und zu unterstützen. Mein Zweitgutachter Prof. Dr. Helmut Pfotenhauer ließ sich ebenso nicht nur auf das Thema ein, sondern stand mit Rat und Tat während der gesamten Promotionszeit und darüber hinaus zur Verfügung. Auch bei ihm möchte ich mich für sein großes Engagement nachdrücklich bedanken. Ohne mein Studium der Geschichtswissenschaften und den engen Kontakt zu Herrn PD Dr. Frank Kleinehagenbrock wäre diese Arbeit nicht entstanden. Im Dialog mit ihm und dank seinen Hinweisen auf zentrale Werke und Fragen der frühneuzeitlichen Geschichtswissenschaft wurde das Thema geboren. Bis zur Drucklegung konnte ich auf seine fachwissenschaftlichen Kenntnisse zurückgreifen. Für diese intensive Unterstützung möchte ich meinen größten Dank aussprechen. Als Doktorand in der Germanistik mit einem Thema, das eng an die Geschichtswissenschaft anschließt, bedarf es beratender Gespräche mit Experten der benachbarten Disziplin. Für die Möglichkeit, das Thema in seinem Oberseminar an der Friedrich-Schiller-Universität Jena vorzustellen und mit ihm zu diskutieren, möchte ich Herrn Prof. Dr. Georg Schmidt herzlich danken. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Wolfgang Burgdorf für zwei wegweisende Gespräche in München. Für die finanzielle und ideelle Unterstützung der Dissertation bin ich der Studienstiftung des deutschen Volks zu Dank verpflichtet. Bei Prof. Dr. Ernst Osterkamp und Prof. Dr. Werner Röcke bedanke ich mich sehr für die Aufnahme in die Reihe Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. Die Drucklegung wurde freundlicherweise durch einen umfangreichen Druckkostenzuschuss der VG Wort finanziert. Frau Dr.

VI

Danksagung

Manuela Gerlof und Frau Dr. Anja-Simone Michalski vom Verlag De Gruyter danke ich für die freundliche und kompetente Zusammenarbeit. Mein Dank gilt schließlich der Universität Würzburg, dem Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst gemeinsam mit der Bayernwerk AG für die Verleihung des Kulturpreises Bayern 2014 sowie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften für die Verleihung des Max-Weber-Preises 2014. Meinen Eltern und Schwiegereltern sowie Cornelia Greiner danke ich für die Hilfe beim Lektorat des Manuskripts. Ganz besonders danke ich meiner lieben Frau Hannah Hien. Ihre Unterstützung als Lebensgefährtin sowie ihr Rat und ihre Korrekturen als Geisteswissenschaftlerin waren unverzichtbar und gingen weit über jedes gewöhnliche Maß hinaus. Würzburg/Bamberg, im November 2014

Inhalt Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee . . . . . . . . . . . . . . . . 1. ,Das neue Bild vom Alten Reich‘ in der Geschichtswissenschaft 2. Reichsbewusstsein und literaturwissenschaftliches Konzept . . .

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Kapitel 1: Reich als Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Reisen in ,Deutschland‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politische Lebenswelt: Goethes Karriere im Alten Reich . . . . . 3. Dichtung auf Reichsgrund? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Kontextsuggestion: Schillers Räuber und die deutsche Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Bausteine eines Mythos: Despot, Rebell, Flucht . . . 3.1.2 Karl Moors ,deutsche Republik‘ . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Schauplatz ,deutsches Reich‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Macht der Bilder: Jean Pauls Reichsmetaphorik . . . .

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Kapitel 2: Reich als Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verrechtlichung der Reichsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. ,Reichspublicistik‘ und Nationalliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Appelle zur Eintracht: Hermannsdichtung aus dem Geist der ,Reichspublicistik‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Hermannsmythos und Reichsbewusstsein . . . . . . . 2.1.2 Hermannsdichtung im Kontext des Österreichischen Erbfolgekriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Hermannsdichtung nach 1763 . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Hermannsdichtung am Ende des Alten Reichs . . . . 2.2 Deutsche Art und Kunst: Reichsverfassung und Ästhetik 2.2.1 Originalkunst und Nationalcharakter . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Puppe Karls des Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Philosophie des Faktischen: Die ,Reichspublicistik‘ im Frühwerk Herders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Historiographie und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 ,Idiotistische‘ Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . .

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VIII

Inhalt

2.3.3 Die Göttinger Preisschrift von 1774 . . . . . . . . . . . 2.3.4 Herders Deutschlandbegriff oder: ,Das Reich spricht deutsch‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Dramatisches irregulare aliquod corpus: Reichsvariationen in Goethes Götz von Berlichingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Goethes Studium des Reichsrechts . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Götz und Weislingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Kaiser ohne Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Reich ohne Kaiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.5 Kaiser und Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.6 Schönes Monstrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Götz-Nachfolge: Populäre Dramen zwischen Territorialund Reichspatriotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Staatengleichgewicht und europäische Kultur . . . . . . . . . . . . . 3.1 Patriotismus und Kosmopolitismus: Wielands Bild vom Alten Reich vor 1789 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten (1758) und Der goldne Spiegel (1772) . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Kühler und heißer Patriotismus: Reichskultur zwischen Abderitentum und Kosmopolitismus . . . . 3.1.3 Deutschland im höchsten Flor wenn es nur will (1780/1786) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 ,Deutsche‘ und ,Europäische Freiheit‘ bei Schiller . . . . . . 3.2.1 Universalgeschichte als Philosophie der Evolution 3.2.2 Bonum-durch-Malum: Altes Reich und Schillers ,Historiodizee‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die ,deutsche Freiheit‘ in der Geschichte . . . . . . . . Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nationaltheater und föderale Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wielands Teutscher Merkur und die ,Reichsöffentlichkeit‘ . . . . 3. Das Heilige Griechische Reich deutscher Nation: Herders Institut für den Allgemeingeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Traditionswahl ,Griechenland‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Herders Kulturpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Institutsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schiffbruch mit Zuschauer: Die Perspektive aus dem Reich . . 1.1 Wielands Theatrum revolutionis und der sichere Platz im Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Theatralität und Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Politische Religion und Reichstradition . . . . . . . . . 1.2 Herders Experimentum revolutionis und die höhere Haushaltung der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Politik als Beruf: Goethes literarischer Kampf gegen den politischen Dilettantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wielands Verfassungspatriotismus in der Vorrede zum Historischen Calender für Damen (1792) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Reichszerfall und Formgewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 5: Abgesänge und Arbeit am Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schein und Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Krisis und brüchige Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Wielands Traum von einem modernen Reichsstaat in den Gesprächen unter vier Augen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Was ist zu thun? Apokalypse und pragmatische Reichspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Träume mit offenen Augen: Von offener Verfassung zur gestalteten Verdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Translatio pacis in Goethes Märchen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die politische Bedeutung der Roentgen-Schreibtische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Friedensreich mit Fragezeichen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die ,Einungsutopie‘ im Wilhelm Tell oder die verpasste Reichsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Ideal und Gegenwart: Wilhelm Tell und der Graf von Habsburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Demokratische Reichsromantik? . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Rad der Fortuna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Spiegel der Reichskrise: Schillers Wallenstein-Trilogie . . . . 3.1.1 Die Wiederkehr des Dreißigjährigen Kriegs . . . . . . 3.1.2 Form versus Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Treue-Dilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.2 Similitudo temporum: Wielands Aristipp und die Cicero-Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Der Untergang der Poleis-Welt im Aristipp . . . . . . 3.2.2 Die Cicero-Übersetzung als Palliativum . . . . . . . . . 3.3 Fausts unheiliges Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Das Reichsmotiv im Fauststoff . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Sich selbst historisch: Goethes autobiographische Retrospektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Der Reichszerfall im Faust II . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.1 Archetypen der Reichskrise: Eigennutz und Zwietracht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.2 Ein Staat jenseits des Reichs: Fausts Lehen 4. Ausblick: Historisierung, Spiritualisierung, Verjüngung . . . . . 4.1 Das heilige Reich: Arnim, Novalis, Schlegel, Wetzel und Eichendorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Kompensation des Reichsverlusts . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Spiritualisierung der Reichsnation . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Wetzels Magischer Spiegel und Eichendorffs Examensarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Das verborgene Reich in Ahnung und Gegenwart und im Taugenichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das nationale Reich: Heinrich von Kleist . . . . . . . . . . . .

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Fazit: Altes Reich und Neue Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621

Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee Außerhalb der Historikerzunft hat es das ,Alte Reich‘ immer noch schwer.1 Während das wilhelminische Kaiserreich (1871 – 1918) und ohnehin das ,Dritte Reich‘ (1933 – 1945) auch jenseits von Fachkreisen bekannt sind, weckt das ,Erste‘, das ,Heilige Römische Reich‘, meist nur diffuse Erinnerungen an ein hochmittelalterliches Kaisertum. Innerhalb der knapp tausendjährigen Geschichte dieses Reichs weist der frühneuzeitliche Abschnitt (1486/1495 – 1806) jedoch einen ganz eigenen politisch-rechtlichen Charakter auf. Von ,Altem Reich‘ spricht die Geschichtsforschung dabei, um sowohl den Unterschied zum Kaiserreich von 1871 zu markieren als auch um Expansionsansprüche, die mit Blick auf den weiten Lehensverband über den frühneuzeitlichen Quellenbegriff ,deutsches Reich‘ legitimiert wurden, zu vermeiden. Das Reich der Frühen Neuzeit bestand aus zahlreichen großen, mittleren und kleineren Herrschaften, die als ,reichsunmittelbare‘ Stände einem gemeinsamen Reichsverband angehörten, der von einem Kaiser, Reichsgesetzen und Reichsorganen zusammengehalten wurde. Die zentripetalen Kräfte unterlagen im Laufe der Zeit mehr und mehr den zentrifugalen Tendenzen. Nach tradierter Vorstellung entmachtete der Westfälische Frieden von 1648 den Kaiser gegenüber den Reichsständen weitgehend. Im kollektiven Gedächtnis hat sich daher für das 17. und 18. Jahrhundert das Bild staatlicher Zersplitterung und politischer Ohnmacht festgeschrieben. Als Franz II. am 6. August 1806 die Kaiserkrone niederlegte, reagierten die Zeitgenossen angeblich mit Indifferenz. Der Untergang des Alten Reichs habe Goethe weniger interessiert als der Streit seines Kutschers,2 liest man oft in Anspielung auf eine Ta1

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Vgl. Wendehorst, Stephan/Westphal, Siegrid: Das Alte Reich: Monstrum oder Paradies? Eine Einführung, in: Lesebuch Altes Reich, hrsg. v. dens., München 2006, S. 1 – 7; Burckhardt, Johannes: Wer hat Angst vor der Kleinstaaterei? Grundlagen und Perspektivismus des deutschen Föderalismus, in: Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext, hrsg. v. Lothar Ehrlich/Georg Schmidt, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 33 – 46. Goethe, Johann Wolfgang von: Tagebücher, August 1806, in: WA, Abt. III, Bd. 3, S. 155; in diesem Sinne zitiert bei: Schulz, Gerhard: Die deutsche Literatur

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

gebuchnotiz des Dichterfürsten. Ist damit ein zweifelsfreier Beleg für den „sang- und klanglosen“3 Untergang des Reichs gefunden? Goethes Eintrag ist Teil eines Pools notorisch falsch verstandener, scheinbar reichsfeindlicher Zitate.4 Sie werden gleichsam als argumentum auctoritatis verwandt, um den Mangel eines politischen Rahmens für die deutsche Nation im 18. Jahrhundert zu belegen. Schon in Auerbachs Keller singt Frosch ja spottend „das liebe, heil’ge Röm’sche Reich, / Wie hält’s nur noch zusammen?“5, und in einem berühmten Xenion der Weimarer Dioskuren mit dem Titel Deutsches Reich heißt es obendrein „Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden.“6 Wer wagt da zu widersprechen? Wenn Schiller in seinem Fragment Deutsche Größe „Deutsches Reich und deutsche Nation“ für „zweierlei Dinge“7 erklärt, artikuliert er offenbar nichts anderes als das zentral- und nationalstaatliche Defizit seiner Zeit. Die Folgen dieser Kontextbeschreibung sind nicht zu übersehen: Trotz reger Beschäftigung mit dem Verhältnis von Dichtung und Politik spielt das Alte Reich in literaturwissenschaftlichen Arbeiten keine nennenswerte Rolle. Die Literatur entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts offenbar jenseits der Reichsgeschichte oder war nur negativ auf diese bezogen. Im Zeitalter der Aufklärung bestand das Reich nach Meinung vieler nur noch ,nominell‘. Der politische Bezugsrahmen für die deutschen Schriftsteller kann bei dieser Setzung anders als in Frankreich und England einzig der vorgeblich absolutistische Kleinstaat sein. „Gesamtstaatliche Anarchie verband sich mit Machtfülle und absolutistischer Willkür im einzelnen“, schreibt Gerhard Schulz, der in seiner Geschichte der Deutschen Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration die politische Struktur Deutschlands unter der bezeichnenden Überschrift „Kleinstaaterei und Kulturnation“ resümiert.8 Die Dichter kämpften

3 4

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zwischen Französischer Revolution und Restauration, 2 Bde., München 1983/ 1989, Bd. 2, S. 3. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800 – 1918, Bd. 1: 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 14. Zu diesem „Zitatenpool“ gehören auch Pufendorfs Aussage, das Reich gleiche einem ,Monstrum‘, und Hegels Satz aus der Verfassungsschrift, Deutschland sei kein Staat mehr. Dazu: Burgdorf, Wolfgang: Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806, 2. Aufl. München 2009, S. 189 f. Goethe: Faust I, in: MA, Bd. 6,1, S. 592. Schiller: Deutsches Reich, in: MA, Bd. 1, S. 267. Schiller: Deutsche Größe, in: MA, Bd. 1, S. 474. Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, Bd. 1, S. 22.

Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

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deshalb gegen die „deutsche Misere“ (K. Marx/F. Engels) des „Feudalabsolutismus“9 an und betrieben aus Mangel an politischer Einheit eine utopische Staatsbildung „aus den Elementen der Kulturnation“10, sie bildeten sich ein „Machtsubstitut“, einen „Staatsnationsersatz“11. Dem Begriff der Kulturnation kommt – gleichviel ob mit dem Vorwurf des Eskapismus gepaart12 oder als Politik höherer Ordnung im Sinne einer „Politik der Unpolitischen“13 – eine gewichtige Funktion in der Beschreibung der Epochen des Sturm und Drang, der Weimarer Klassik und der Romantik zu. Politisches Zentralereignis, das allein sowohl die Zeit vor als auch nach 1789 in den meisten literaturwissenschaftlichen Darstellungen organisiert, ist die Französische Revolution. Nationalpolitische Fragen spielen im Falle Deutschlands scheinbar erst in den antinapoleonischen Kriegen und der Restaurationszeit eine Rolle, während sie davor nur als Territorial- und Kulturgeschichte zu fassen sind, da es einen politisch-geographischen Deutschlandbegriff noch nicht gab. So findet sich in der bemerkenswerten Einzelleistung Gert Uedings unter dem Titel Klassik und Romantik zwar ein Kapitel über die Französische Revolution, jedoch keines zum Alten Reich.14 Verzichtet man ganz auf einen literaturhistorischen Epochenbegriff zugunsten einer ereignisgeschichtlichen Gliederung, wie es Schulz und Ueding getan haben, stellt sich die Frage nach den reichsgeschichtlichen Koordinaten aber noch viel dringlicher.15 Wie unbestreitbar groß die Wirkung der Französischen Revolution auf die deutsche Geistes- und 9 Stellvertretend für viele: Sautermeister, Gert: Die Räuber – Generationenkonflikt und Terrorismus, in: Zum Schillerjahr 2009 – Schillers politische Dimension, hrsg. v. Bernd Rill, München 2009, S. 13 – 23, hier S. 13. Dort spricht er von der im „Feudalabsolutismus erstarrte[n] Kleinstaaterei Deutschlands“. 10 Frühwald, Wolfgang: Die Idee kultureller Nationsbildung und die Entstehung der Literatursprache in Deutschland, in: Nationalismus in vorindustrieller Zeit, hrsg. v. Otto Dann, München 1986, S. 129 – 142, hier S. 131. 11 Wiedemann, Conrad: Deutsche Klassik und nationale Identität. Eine Revision der Sonderwegs-Frage, in: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiker, hrsg. v. Wilhelm Voßkamp, Stuttgart 1993, S. 541 – 569, hier S. 560 und 565. Frühwald spricht ebenso von einem „bewußte[n] Surrogat für die deutsche Staatsnation“, Frühwald: Die Idee kultureller Nationsbildung, S. 131. 12 Grimm, Reinhold/Hermand, Jost (Hrsg.): Die Klassik-Legende, Frankfurt a.M. 1971. 13 Craig, Gordon A.: Die Politik der Unpolitischen: Deutsche Schriftsteller und die Macht 1770 – 1871, München 1993. 14 Vgl. Ueding, Gert: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789 – 1815, 2. Aufl. München/Wien 2008. 15 Ebd.; Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, 2 Bde.

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

Literaturgeschichte auch war, es ist doch fraglich, ob das Jahr 1789 in der Tat als passende Zäsur gelten kann und nicht vielmehr die Folgeereignisse einen weit größeren Einschnitt bedeuteten. Dazu gehört der seit Mitte der 1790er-Jahre spürbare Anfang vom Ende des Heiligen Römischen Reichs mit seinen unabweislichen Konsequenzen für die Konstitution der Weimarer Klassik und die Entstehung der Romantik. Reichsgeschichte und Literaturgeschichte hängen, so zeigt schon diese freilich nicht ganz neue Überlegung, eng zusammen. Vor allem aber war das Alte Reich nicht nur ein selbstverständlicher Bestandteil der politischen und nationalen Identität dieser Generationen und so auch ihrer Werke, seine Wahrnehmung wurde mitunter sogar von den Literaten und den literarischen Debatten intensiv mitbestimmt. Wie auch immer es um das Reich in der verfassungsgeschichtlichen Realität bestellt war, das ,Reich in den Köpfen‘ hat seine eigene Geschichte.

1. ,Das neue Bild vom Alten Reich‘ in der Geschichtswissenschaft16 Tieferer Grund für die beinahe ausnahmslose Tilgung des Alten Reichs innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung ist die eminente Bedeutung, welche die Epochen der ,Goethezeit‘ für die nationale Identitätsbildung in Deutschland gespielt haben. Sturm und Drang, Weimarer Klassik und Romantik dienten im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder als Mittel nationaler Sinn- und Identitätsstiftung.17 Zwar boten diverse Formulierungen einer ,Deutschen Sendung‘ um 1800 Anknüp16 Vgl. Schindling, Anton: Kaiser, Reich und Reichsverfassung 1648 – 1806. Das neue Bild vom Alten Reich, in: Altes Reich, Frankreich und Europa. Politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. Olaf Asbach/Sven Externbrink/Klaus Malettke, Berlin 2001, S. 25 – 54. 17 Zur nationalen Lesart etwa Schillers: Gerhard, Ute: Schiller im 19. Jahrhundert, in: Schiller-Handbuch, hrsg. v. Helmut Koopmann, Stuttgart 1998, S. 758 – 772. An der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ließe sich von Georg Gottfried Gervinus über Hermann Hettner zu Wilhelm Scherer zeigen, wie sehr allein das Konzept der Weimarer Klassik auf den Fluchtpunkt des Nationalstaats zielte. Immer mehr erhielt die Vollendung des Geistigen in Schiller und Goethe eine prophetische Bedeutung für die kommende staatliche Größe. Vgl. Voßkamp, Wilhelm: Klassik als Epoche. Zur Typologie und Funktion der Weimarer Klassik, in: Literarische Klassik, hrsg. v. Hans-Joachim Simm, Frankfurt a.M. 1988, S. 248 – 277, hier S. 259 – 266.

1. ,Das neue Bild vom Alten Reich‘ in der Geschichtswissenschaft

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fungspunkte für eine solche Instrumentalisierung,18 doch blieben die Projektionen späterer Wünsche für die nationale Metageschichte maßgeblich. Wilhelm Dilthey, Herman Nohl, Hermann A. Korff und andere versuchten um 1900 unter dem Schlagwort ,Deutsche Bewegung‘, in den Werken Goethes und seiner Zeitgenossen das Erwachen der Nation nachzuweisen.19 Aufgrund der deutschen ,Kleinstaaterei‘, dem Mangel an politischen Entfaltungsmöglichkeiten, eroberte der ,Deutsche Geist‘ die kulturelle Krone des Abendlands.20 Kanonisch wurde die daraus resultierende Marginalisierung des Alten Reichs zugunsten einer geistesgeschichtlichen Traditionsbildung in Friedrich Meineckes wirkmächtigem Buch Weltbürgertum und Nationalstaat (1907).21 Die Unterscheidung von Kultur- und Staatsnation ist dem Inhalt nach schon in manchen Äußerungen der Zeitgenossen um 1800 anzutreffen und liegt auch heute noch den meisten Nationalismus-Theorien zugrunde.22 Meinecke implantierte den Begriffen jedoch ein ideologisches Substrat, das einen distanzierten Blick auf die literarischen Epochen und ihre politischen Implikationen verhinderte und subkutan bis in die Gegenwart fortwirkt. Indem er Kultur als Hochkultur fasste und die nationale Größe im Kulturellen als ambivalente Interimslösung auf dem Weg zum fehlenden ,modernen‘ Nationalstaat23 konzipierte, konnte er „praktisch die gesamte Tradition des Alten 18 Kemiläinen, Aira: Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts, Helsinki 1956. 19 Vgl. Dann, Otto: Herder und die Deutsche Bewegung, in: Johann Gottfried Herder 1744 – 1803, hrsg. v. Gerhard Sauder, Hamburg 1987, S. 308 – 340, hier S. 312 – 316. 20 Vgl. z. B. Meinecke, Friedrich: Die Entstehung des Historismus, hrsg. v. Carl Hinrichs, München 1965, S. 2. 21 Meinecke, Friedrich: Weltbürgertum und Nationalstaat, hrsg. v. Hans Herzfeld, München 1962. Vgl. Schmidt, Georg: Friedrich Meineckes Kulturnation. Zum historischen Kontext nationaler Ideen in Weimar-Jena um 1800, in: Historische Zeitschrift 284 (2007), S. 597 – 622. 22 Polenz, Peter von: Zwischen ,Staatsnation‘ und ,Kulturnation‘. Deutsche Begriffsbesetzung um 1800, in: Sprache und bürgerliche Nation. Beiträge zur deutschen und europäischen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts, hrsg. v. Dieter Cherubim/Siegfried Grosse/Klaus J. Mattheier, Berlin u. a. 1998, S. 55 – 70, hier S. 57. Meinecke selbst schließt an A. Kirchoff und Fr. J. Neumann an: Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 10 Fußnote 1. 23 Meineckes Typologie von Staats- und Kulturnation schließt nicht aus, dass auch das ,unpolitische‘ Weltbürgertum einen Staat, der einen „eigenartigen Charakter einer besonderen nationalen Kultur“ trägt, als Nationalstaat auffassen könnte. Dieser „Nationalstaaten in nationalkulturellem Sinne“ ist aber eben gerade nicht jener ,moderne‘ Nationalstaat als politische und kulturelle Willensgemeinschaft,

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

Reichs aus seiner Kulturnation eliminieren“24. Seine große Synthese arbeitete ideengeschichtlich der kleindeutsch-preußischen Meistererzählung vom ,deutschen Beruf Preußens‘25 zu und zielte auf die Versöhnung der universalen Nationalkultur der Goethezeit mit dem preußischen Machtstaat Bismarcks von 1871:26 Die Vereinigung von Geist und Macht in einer nationalstaatlichen ,Gesamtpersönlichkeit‘ erscheint als Fluchtpunkt der deutschen Geschichte.27 Das so verzerrte Bild vom Alten Reich blieb, abgesehen von wenigen Ausnahmen innerhalb der Wissenschaftsgeschichte28 und trotz neuerer Forschungen, bis in die Gegenwart manifester Bestandteil der deutschen Identitätskonstruktion. Unter ganz anderen politischen Vorzeichen liegt der gleiche Fokus auf den modernen Nationalstaat auch der zu Recht umstrittenen Theorie eines ,deutschen Sonderwegs‘ zugrunde.29 Aus der zur ,Norm‘ gesetzten westlichen, vor allem französischen Entwicklung seit der Revolution wird pauschal die Defizienz der deutschen ,Kleinstaaterei‘ abgeleitet, wiewohl das Reich, blickt man etwa auf die Niederlande, die Schweiz, Italien oder Polen, darin durchaus nicht singulär war.30 Ein großer

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um den es Meinecke zu tun ist. Vgl. Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 20. Schmidt: Friedrich Meineckes Kulturnation, S. 598. Droysen, Johann Gustav: Geschichte der Preußischen Politik, Bd. 1: Die Gründung, Berlin 1855, S. 4. Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 39. Es ist von einem biologisch verstandenen „naturhafte[n] Kern“ die Rede (Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 9) und von einer „Nationalpersönlichkeit“ (ebd., S. 15). „Die hohe, all unser Denken und Sorgen um den Staat tragende und rechtfertigende Erkenntnis, daß der Staat eine ideale, überindividuelle Gesamtpersönlichkeit sei, konnte erst voll errungen werden, als die Gemeinschaftsgefühle und Energien der einzelnen Bürger in ihn hineingetragen wurden und ihn zum Nationalstaat umwandelten.“ Ebd., S. 17. Vgl. Berney, Arnold: Reichstradition und Nationalstaatsgedanke (1789 – 1815), in: Historische Zeitschrift 140 (1929), S. 57 – 86; Wenck, Woldemar: Deutschland vor hundert Jahren, Bd. 1: Politische Meinungen und Stimmungen bei Anbruch der Revolutionszeit, Leipzig 1887, S. 108 – 192; Masur, Gerhard: Deutsches Reich und deutsche Nation im 18. Jahrhundert, in: Preußische Jahrbücher 229 (1932), S. 1 – 23. Schmidt, Georg: Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert, München 2009, S. 9 – 20; Langewiesche, Dieter: Der ,deutsche Sonderweg‘. Defizitgeschichte als geschichtspolitische Zukunftskonstruktion nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Zeitwende. Geschichtsdenken heute, hrsg. v. Nikolaus Buschmann/Ute Planert, Göttingen 2008, S. 164 – 171. Vgl. polemisch: Burckhardt: Wer hat Angst vor der Kleinstaaterei?; zur Geschichte der Bewertung des Alten Reichs in der Forschung: Liebmann, Edgar: Die Re-

1. ,Das neue Bild vom Alten Reich‘ in der Geschichtswissenschaft

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Teil der literaturwissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Dichtung, Politik und Nation sind bewusst oder unbewusst abhängig von dieser Lesart. Während der vegetative Nationsbegriff Friedrich Meineckes allgemein abgelehnt wird, wirkt im Gedanken der „Kulturnation“ als „bewusste[m] Surrogat“ die Teleologie zum Macht- und Nationalstaat heimlich fort.31 Keine Frage, das Gefühl einer kulturellen und vermehrt auch politischen Rückständigkeit ist in den literaturprogrammatischen und politischen Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts von Martin Opitz bis Johann Gottfried Herder genauso weit verbreitet, wie die (brüchige) Gewissheit einer kommenden Blüte der Kultur, aber auch des Gemeinwesens. Das Diktum der ,verspäteten Nation‘ unterlegt den zeitgenössischen Monita und Prophetien jedoch die Zielform des homogenisierten und zentralistisch aufgebauten Nationalstaats aus dem späten 19. Jahrhundert, der in aller Regel jenseits ihrer Vorstellungswelten lag.32 Die Gleichung: Nation ohne Nationalstaat = vorstaatliche Volks- oder Kulturnation auf der einen und Adelsnation auf der anderen Seite ist zu einfach, um die identitätsstiftenden Nationsvorstellungen der Zeitgenossen des multiethnischen, vielsprachigen und ständisch-partikularistisch aufgebauten Reichs zu fassen.33 Es ist ein Verdienst der neueren Geschichtsforschung, eine veränderte Perspektive auf das Heilige Römische Reich im 18. Jahrhundert gewonnen zu haben. Allen voran ist der Franz-Schnabel-Schüler Karl Otmar Freiherr von Aretin zu nennen, der das Reich in mehreren Monographien erstmals zeptionsgeschichte des Alten Reichs im 19. und 20. Jahrhundert, in: Lesebuch Altes Reich, hrsg. v. Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal, München 2006, S. 8 – 13. 31 Frühwald: Die Idee kultureller Nationsbildung, S. 131; Wiedemann: Deutsche Klassik und nationale Identität; Sahmland, Irmtraut: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation. Zwischen Patriotismus, Kosmopolitismus und Griechentum, Tübingen 1990. 32 Die verspätete Nationalstaatsgründung führt in dieser Lesart zu einer nationalen Identität, die nicht mehr von Humanismus und Aufklärung geprägt ist, sondern unter antiwestlichen Vorzeichen steht. Vgl. Plessner, Helmuth: Die verspätete Nation, Frankfurt a.M. 1974. 33 Vgl. z. B. Schulze, Hagen: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994, insbesondere S. 126 – 150; gegenüber dem Begriff der Kulturnation kritischer: Dann, Otto: Nationale Fragen in Deutschland: Kulturnation, Volksnation, Reichsnation, in: Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich, hrsg. v. Etienne François/Hannes Siegrist/Jakob Vogel, Göttingen 1995, S. 66 – 82; Dann, Otto: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770 – 1990, 3. erw. Aufl. München 1996.

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

umfassend als Rechts- und Friedensordnung präsentierte, deren Untergang im Dualismus der Großmächte Österreich und Preußen begründet lag.34 Neuere Gesamtdarstellungen aus der Feder des Jenaer Historikers Georg Schmidt und – auf der deutschen Reichsforschung aufbauend – in anglosächsischer Monumentalität von Joachim Whaley betonen stärker die Vitalität der Reichsverfassung und der darauf fußenden politischen Kultur in dieser Phase des ,Niedergangs‘.35 Aus dem Feld der immer noch florierenden Reichsforschung sollen einleitend und zugleich grundlegend für die weitere Arbeit drei Aspekte skizziert werden: 1. Struktur- und Verfassungsgeschichte, 2. Wahrnehmungs- und Kulturgeschichte und 3. Reich und Nation. 1. Struktur- und Verfassungsgeschichte: Historiker wie Volker Press und Georg Schmidt betonen, dass nicht das Reich als ,politisches System‘ oder als ,Reichs-Staat‘,36 wie es in vielen Quellen heißt, per se defizitär war, sondern die Ausrichtung der Forschung an dem Ideal eines monistischen Nationalstaats anachronistisch.37 „Die Vorstellung der staatlichen Einheit in der Vielheit ersetzt im Folgenden das alte Muster politischer Zersplit-

34 Aretin, Karl Otmar Freiherr von: Heiliges Römisches Reich 1776 – 1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, 2 Bde., Wiesbaden 1967; Aretin, Karl Otmar Freiherr von: Das Alte Reich 1648 – 1806, 4 Bde., Stuttgart 1993 – 2000; Aretin, Karl Otmar Freiherr von: Das Reich. Friedensgarantie und europäisches Gleichgewicht 1648 – 1806, Stuttgart 1986. 35 Schmidt, Georg: Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495 – 1806, München 1999; Schmidt: Wandel durch Vernunft; Whaley, Joachim: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien 1493 – 1806, hrsg. v. Axel Gotthard/Michael Haupt, 2 Bde., Darmstadt 2014 (englisches Original 2012). 36 Vgl. die Kontroverse zwischen Schmidt und Schilling: Schmidt, Georg: Das frühneuzeitliche Reich – Sonderweg und Modell für Europa oder Staat der Deutschen Nation?, in: Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, hrsg. v. Matthias Schnettger, Mainz 2002, S. 247 – 277; Schilling, Heinz: Das Alte Reich – ein teilmodernisiertes System als Ergebnis der partiellen Anpassung an die frühmoderne Staatsbildung in den Territorien und den europäischen Nachbarländern, in: ebd., S. 279 – 294. 37 Vgl. zum Begriff des Staats in der Frühen Neuzeit: Pröve, Ralf/Meumann, Markus: Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschreibung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer Begriffsbildungen, in: Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses, hrsg. v. dens., Münster 2004, S. 11 – 49.

1. ,Das neue Bild vom Alten Reich‘ in der Geschichtswissenschaft

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terung.“38 Nicht teleologisch, sondern nur aus dem Verständnis der Zeit heraus lässt sich das Reich als eine Rechts- und Friedensordnung sui generis begreifen. Damit sollen nicht die unübersehbaren und von den Zeitgenossen benannten Mängel der Reichsverfassung wegdefiniert, wohl aber neben ihnen ihre strukturelle Leistungsfähigkeit erkennbar werden. Anders als in vielen geschichts- und literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu lesen, war das Reich eben nicht seit dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs nur noch ein ,nomineller‘ Verbund ,souveräner‘ Staaten. Johannes Burkhardt spricht hier gar von einer „Souveränitätslegende“39. Der Begriff der Souveränität (ius majestatis) wurde in dem Vertragswerk von Osnabrück und Münster (1648) bewusst vermieden (ius territoriale).40 Auch war der Kaiser nicht völlig entmachtet. Das Regelwerk beließ ihm, wie das Beispiel Leopolds I. zeigt, genug Spielraum, um die Rolle des Oberhaupts zu reaktivieren.41 Selbst in den großen Reichskrisen seit Mitte des 18. Jahrhunderts, dem Österreichischen Erbfolgekrieg (1740 – 1748), dem Siebenjährigen Krieg (1756 – 1763) und dem Bayerischen Erbfolgekrieg (1778/1779), um nur die bekanntesten zu nennen, bewies das Reich eine erstaunliche Revitalisierungsfähigkeit.42 Mit der Verstetigung des Reichstags zum „Immerwährenden Reichstag“ seit 1663 war ein Zentrum politischer Reichsöffentlichkeit entstanden, das geradezu „eine Nachrichtenbörse und Informationszentrale“, besonders für die mittleren und kleinen Reichsstände, darstellte – und das galt selbst noch für die Zeit um 1800, wiewohl im Laufe des 18. Jahrhunderts die Funktionsfähigkeit dieses Gesandtenkongresses vielfach aus guten 38 Schmidt: Wandel durch Vernunft, S. 58. 39 Burkhardt: Wer hat Angst vor der ,Kleinstaaterei‘?, S. 33. 40 IPO, Artikel VIII § 1 und Artikel V § 30. Siehe: Burkhardt, Johannes: Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a.M. 1992, S. 99 – 107 (Kap. „Souveränität der Reichsstände?“). 41 Press, Volker: Die kaiserliche Stellung im Reich nach 1648 und 1740. Versuch einer Neubewertung, in: ders.: Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. Johannes Kunisch, Berlin 1997, S. 189 – 222. 42 Press, Volker: Das Wittelsbachische Kaisertum Karls VII. Voraussetzungen von Entstehung und Scheitern, in: ders.: Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. Johannes Kunisch, Berlin 1997, S. 223 – 259; Press, Volker: Friedrich der Große als Reichspolitiker, in: ebd., S. 260 – 288; Schindling, Anton: Friedrich der Große und das reichische Deutschland, in: Ausstellungskatalog: Friedrich der Große. Sein Bild im Wandel der Zeiten, hrsg. v. Wolfgang Kaiser, Frankfurt 1986, S. 13 – 24; Burckhardt, Johannes: Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reichs. 1648 – 1763, 10. neu bearb. Aufl. Stuttgart 2006, S. 396 – 441.

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

Gründen bezweifelt wurde.43 Das Reich war seit dem 16. Jahrhundert in zehn Reichskreise eingeteilt, die zwar in ihrer Funktionstüchtigkeit und tatsächlichen Relevanz von sehr unterschiedlicher Qualität, jedoch insgesamt von hoher politischer Bedeutung waren. Ihnen oblagen nicht nur die Stellung von Reichstruppen, sondern auch die Exekution reichsgerichtlicher Beschlüsse, die Behandlung wirtschaftspolitischer Fragen und anderes mehr.44 Die Arbeitsweise der Reichsgerichte und hier primär des Reichskammergerichts war im Gegensatz zu den Reichskreisen häufiger Gegenstand jüngerer Forschungsarbeiten. Sowohl dem kaiserlichen Reichshofrat als auch dem ständisch geprägten Reichskammergericht konnte so ein weit besseres Zeugnis ausgestellt werden, als die bisherigen Stereotype vermuten ließen.45 Noch bis zum Ende des Alten Reichs arbeiteten die Gerichte trotz steigender Inanspruchnahme und wachsender Überforderung durchaus erfolgreich. Die hohe Frequenz ihrer Anrufung belegt sogar auf das Beste, wie groß die Bedeutung war, die ihnen von Seiten der Reichseinwohner zugeschrieben wurde.46 Es gehört zu den frühneuzeitlichen Spezifika des Alten Reichs, dass in beiden Institutionen nicht nur Reichsstände oder landsässige Adelige als Gerichtsparteien auftraten, sondern sogar Untertanen gegen ihre Herrschaft prozessierten – und nicht selten mit Erfolg.47 Die Ausweitung der rechtlichen Unabhängigkeit grö-

43 Härter, Karl: Reichstag und Revolution 1789 – 1806. Die Auseinandersetzung des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Alte Reich, Göttingen 1992, S. 173; zum Reichstag im 18. Jahrhundert: Stollberg-Rilinger, Barbara: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, S. 227 – 298. Vgl. auch: Friedrich, Susanne: Drehscheibe Regensburg. Das Informationsund Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700, Berlin 2007; Schindling, Anton: Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden, Mainz 1991. 44 Vgl. Dotzauer, Winfried: Die deutschen Reichskreise (1383 – 1806). Geschichte und Aktenedition, Stuttgart 1998. 45 Distelkamp, Bernhard (Hrsg.): Die politische Funktion des Reichskammergerichts, Köln u. a. 1993; Sellert, Wolfgang (Hrsg.): Reichshofrat und Reichskammergericht – Ein Konkurrenzverhältnis, Köln/Weimar/Wien 1999. 46 Zum Ende: Mader, Eric-Oliver: Die letzten ,Priester der Gerechtigkeit‘. Eine Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Berlin 2005. 47 Arndt, Johannes: Der Fall ,Meier Cordt contra Graf zur Lippe‘. Ein Untertanenprozeß vor den Territorial- und Reichsgerichten zwischen 1680 und 1720,

1. ,Das neue Bild vom Alten Reich‘ in der Geschichtswissenschaft

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ßerer Territorien wie Brandenburg-Preußen (ius de non appellando bzw. ius de non evocando) und die starke politische Einflussnahme auf die Gerichte beeinträchtigten allerdings ihren Wirkungskreis fundamental, wenn auch, wie der Reichsjurist Johann Stephan Pütter betont, sogar im Falle eines Appellationsprivilegs bei Rechtsverweigerung zumindest theoretisch noch die Möglichkeit bestand, sich an das Reichskammergericht zu wenden.48 Überhaupt konnten Kaiser und Reich bei mittleren und kleineren Territorien – also der Mehrzahl der Reichsstände – weit häufiger eingreifen, als der Mythos vom ,Absolutismus‘ glauben macht,49 sei es durch den Einsatz kaiserlicher Debitkommissionen im Falle einer Überschuldung oder durch die Exekution reichsgerichtlicher Beschlüsse. Selbst von Fürstenabsetzungen ist hier die Rede.50 Aus den wegweisenden Detailstudien, die das Verfassungsleben des Alten Reichs, die Interaktion der zahlreichen großen und kleinen unmittelbaren Stände vor Augen führen, darf freilich kein Idealbild geschaffen werden, das eine distanzierte Wertung verhindern würde. Während für Preußen-Deutschland und die Nationalsozialisten das Heilige Römische Reich gerade aufgrund seiner Vielstaatlichkeit nicht mythenfähig war,51 bietet es für die Generationen nach 1945, insbesondere seit dem Werden der Europäischen Union, Ansatzpunkt zu neuer Mythisierung.52 Hinter

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Wetzlar 1997; Diestelkamp, Bernhard: Rechtsfälle aus dem Alten Reich. Denkwürdige Prozesse vor dem Reichskammergericht, München 1995, S. 286 – 291. Pütter, Johann Stephan: Beyträge zum Teutschen Staats= und Fürstenrecht, Bd. 1, Göttingen 1777, S. 304. Vgl. Ronald G. Asch/Heinz Duchhardt (Hrsg.): Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550 – 1700), Köln 1996. Die einschlägige Literatur zu den Debitkommissionen bei: Kleinehagenbrock, Frank: Der Umgang mit Finanzkrisen im Heiligen Römischen Reich – Modell für moderne föderale staatliche Ordnungen?, in: Grundlagen, aktuelle Entwicklungen und Perspektiven der Europäischen Währungsunion, hrsg. v. Eckhardt Pache/ Kyrill-A. Schwarz, Baden-Baden 2012, S. 25 – 41; Haug-Moritz, Gabriele: Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, Stuttgart 1992; Troßbach, Werner: Fürstenabsetzungen im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 13 (1986), S. 425 – 454. Alfred Rosenberg erklärte die „großen Rebellen gegen das erste Reich“ zum Vorläufer des Dritten Reichs, zit. n. Kroll, Frank-Lothar: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998, S. 149. Neuhaus, Helmut: Das Reich als Mythos in der neueren Geschichte, in: Mythen in der Geschichte, hrsg. v. Helmut Altrichter/Klaus Herbers/Helmut Neuhaus, Freiburg 2004, S. 293 – 320, hier S. 319 f. Die derzeitige Fokussierung auf das

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

der Neubewertung des Alten Reichs steht die grundsätzliche Desavouierung des Macht- und Nationalstaats durch den deutschen Totalitarismus zwischen 1933 und 1945.53 Die Lobreden der Reichsjuristen auf die politisch-rechtliche Einheit in der Vielheit erscheinen nicht länger als „die große Lüge des Reichsrechts“54, sondern als attraktive Utopie für die verfassungspatriotische Bundesrepublik, deren frühneuzeitliche Vergangenheit damit zum Vorbild des in seiner Vielstaatlichkeit geeinten Europas promoviert wurde – und das über die Grenzen der Historikerzunft hinaus, wie nicht nur manche Reden des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzogs belegen.55 In einem grundlegenden Katalogband zur Geschichte

Feindbild der kleindeutsch-preußischen Geschichtsnarration blendet erstens aus, dass der negative Blick auf die Geschichte des Reichs seit 1648 nicht erst von dieser erfunden wurde, sondern zeitgenössisch bereits existierte – ja sogar das Ideal des einheitlichen Nationalstaats wurde schon im späten 18. Jahrhundert mit dem Ziel einer fundamentalen Reichsreform artikuliert (vgl. Burgdorf, Wolfgang: Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806, Zabern/ Mainz 1998, S. 20 f.). Zweitens beschränkt sich die negative Sicht durchaus nicht auf die spätere preußische Ideologie, sondern war in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts über konfessionelle und politische Grenzen hinweg ubiquitär (vgl. Kraus, Hans-Christof: Die Spätzeit des Alten Reiches im Blick der deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts, in: Was vom Alten Reiche blieb. Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Matthias Asche/Thomas Nicklas/Matthias Stickler, München 2011, S. 33 – 62). Drittens besteht die Gefahr einer kontrafaktischen, selektiven Geschichtsschreibung, die positive Elemente und Potentiale der Verfassung hervorhebt und gleichzeitig offenkundige Mängel in den Hintergrund drängt. Vgl. ausführlich zur Kritik: Eichhorn, Jaana: Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation. Diskurse, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung, Göttingen 2006, S. 311 – 392. 53 Ihr trägt die aus der Verfassungsgeschichte heraus entwickelte Ideengeschichte der Mischverfassung des Schweizer Politikwissenschaftlers Alois Riklin Rechnung. Vgl. Riklin, Alois: Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, Darmstadt 2006, zum Heiligen Römischen Reich am Beispiel von Arnisaeus, Limnaeus, Pufendorf, Leibniz u. a., S. 185 – 224. 54 Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden, Leipzig 1879, S. 103. 55 Vgl. Herzog, Roman: Gesetz und Recht statt Willkür und Gewalt, in: Zukunft durch Erinnerung. Wegmarken deutscher Geschichte, hrsg. v. Michael Rutz, Stuttgart 1999, S. 35 – 50. Davon zu unterscheiden ist der seltene und bizarre Wunsch einer wirklichen Wiederbelebung des Reichs, wie ihn der Sohn des letzten österreichischen Kaisers Otto von Habsburg artikuliert hat: Habsburg, Otto von:

1. ,Das neue Bild vom Alten Reich‘ in der Geschichtswissenschaft

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des Heiligen Römischen Reichs schreibt der Generalsekretär des Europarats in seinem Grußwort: Doch im beginnenden 21. Jahrhundert, das von der Globalisierung geprägt ist, rückt wieder die positive Bedeutung des Begriffes ,Reich‘ in den Vordergrund. Die Völker Europas streben eine engere Verbindung an, im Bewusstsein des wertvollen kulturellen Erbes, das uns Europäer über die Staatsgrenzen hinaus miteinander verbindet.56

Es wäre indes ein Fehler, schlicht einen neuen Fluchtpunkt zu setzen und so die Verzerrung durch die inadäquate nationalstaatliche Norm mit einer Verzerrung durch das moderne, multikulturelle, föderale Europa zu substituieren. Mit Blick auf die neuere Reichsforschung kann davon in aller Regel freilich nicht die Rede sein, und die Warnung, für die Mängel und Schwächen dieser ,Verteidigungs- und Friedensordnung‘ aufgrund des Ideals unserer Gegenwart nicht blind zu sein, mag hier genügen. Ansatzpunkt dieser Arbeit ist nicht die Gegenwart und auch nicht primär die Verfassungs- und Strukturgeschichte des Reichs, sondern die Vorstellungen, die sich die dichtenden Zeitgenossen von dem politischen System machten, in dem sie lebten: das Reich in den Köpfen. 2. Wahrnehmungs- und Kulturgeschichte: Die Wahrnehmung des Reichs und der Reichspolitik wurde bisher nicht systematisch erforscht. Michael North forderte 2005, das Reich weniger in seiner strukturellen Funktionsweise in den Blick zu nehmen, sondern vielmehr als eine Erfahrungs- und Schicksalsgemeinschaft, als „kommunikative Einheit“57. Neben den verschiedenen Zentren der Reichsinstitutionen Wien, Regensburg, Wetzlar und Frankfurt umschlossen die Territorien zahlreiche kulturelle, rituelle und symbolische Bande: etwa die ,Kaisersäle‘ und ,Kaiserzimmer‘, die Krönungsfeierlichkeiten und Reichstagszeremonien, die ubiquitäre Reichsikonographie mit Adler und Kaiserfigur, die architektonische Manifestation des Reichsgedankens im fraglichen ,Reichs- oder Kaiserstil‘, die Reichspost, die Gebetsformel für Kaiser und Reich sowie Die Reichsidee. Geschichte und Zukunft einer übernationalen Ordnung, Wien/ München 1986. 56 Grußwort von Terry Davis, britischer Generalsekretär des Europarates, in: Ottomeyer, Hans/Götzmann, Jutta (Hrsg.): Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Altes Reich und neue Staaten 1495 – 1806, Bd. 1: Katalog zur Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, Dresden 2006. 57 North, Michael: Das Reich als kommunikative Einheit, in: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter, München 2005, S. 237 – 248.

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

vieles mehr.58 Stollberg-Rilinger zeichnet in ihrem wichtigen Buch Des Kaisers alte Kleider die Reichsverfassungsgeschichte am Leitfaden der spezifischen Logik einer symbolisch-rituellen Präsenzkultur bis hin zur ironischen Distanz der Teilnehmer und Beobachter im 18. Jahrhundert nach – eine Distanz, die gleichwohl nicht zum Ende des Symbolsystems und der überkommenen Rituale führte.59 Von besonderer Bedeutung für die vorliegende Arbeit sind die Forschungen zur ,Reichspublicistik‘ – von den Zeitgenossen mit ,c‘ geschrieben –, d. h. zu den auf dem ius publicum romano-germanicum, dem Reichsstaatsrecht, basierenden Veröffentlichungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Zweifellos gehörten die deutsche Kanzleisprache, die Praxis des Reichsrechts, die über die einzelnen Territorien hinaus vergleichbare juristische Methodik sowie die reichsrechtliche peregrinatio academica 60 zu den einheitsstiftenden Elementen des Reichsverbands. Die von Notker Hammerstein und Michael Stolleis untersuchte ,Reichspublicistik‘ bildete aber auch eine eigene Kultur des politisch-rechtlichen Diskurses aus.61 Zahlreiche Arbeiten konnten eindrücklich zeigen, wie sehr das Alte Reich in Zeitschriften, Flugblättern und Preisschriften Gegenstand von Kontroversen war, die bis zu seinem Untergang nicht nur anhielten, sondern in Krisenzeiten sogar erkennbar anschwollen.62 So sehr auch ,idea‘ und 58 Vgl. zu einzelnen Fragen der Wahrnehmungs- und Symbolgeschichte des Reichs die Beiträge zu den Kaisersälen, dem Reichsstil, der Reichssymbolik etc. in: Schilling, Heinz/Heun, Werner/Götzmann, Jutta (Hrsg.): Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806, Bd. 2: Essays, Dresden 2006; zur Wahrnehmung des Reichs an seinem Ende: Mader: Die letzten ,Priester der Gerechtigkeit‘; Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt. Vgl. auch allgemein: Müller, Rainer A. (Hrsg.): Bilder des Reiches, Sigmaringen 1997. 59 Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider. 60 Vgl. Burgdorf, Wolfgang: Die reichsrechtliche Peregrinatio academica im 18. Jahrhundert, in: Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich, hrsg. v. Anette Baumann/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal, Köln 2003, S. 21 – 57. 61 Hammerstein, Notker: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972; Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 – 1800, München 1988. 62 Gagliardo, John G.: Reich and Nation. The Holy Roman Empire as Idea and Reality, 1763 – 1806, Bloomington/London 1980; Burgdorf: Reichskonstitution und Nation. Beiden Autoren geht das immer noch lesenswerte Buch von Hermann Schulz voraus: Schulz, Hermann: Vorschläge zur Reichsreform in der Publizistik von 1800 – 1806, Gießen 1928. Vgl. auch: Waldmann, Anke: Reichspatriotismus

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,reality‘ in Kontrast zueinander gerieten, die ,Publicisten‘ gehörten mit ihren historisch-juristischen Problemerörterungen und den auf diesen Gebrauchstexten aufbauenden Reformprogrammen und -utopien zu den entscheidenden Trägern der Reichsidee bis 1806 und prägten die verfassungspolitischen Diskussionen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.63 Die Literaturgeschichte blieb im Kontext der Wahrnehmungs- und Kulturgeschichte des Reichs, abgesehen von wenigen Ausnahmen, unbeachtet.64 im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, in: Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches, hrsg. v. Otto Dann/Miroslav Hroch/Johannes Koll, Köln 2003, S. 19 – 61. Zum Anstieg in Krisenzeiten: Stolleis, Michael: Reichspublizistik und Reichspatriotismus vom 16. zum 18. Jahrhundert, in: Patriotismus, hrsg. v. Günther Birtsch, Hamburg 1991, S. 8 – 23, hier S. 8 f. 63 Vgl. Angermeier, Heinz: Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat. Verfassungspolitische Konzeptionen und nationales Denken zwischen 1801 und 1815, in: ders.: Das alte Reich in der Deutschen Geschichte. Studien über Kontinuität und Zäsuren, hrsg. v. dems., München 1991, S. 449 – 521; Stolleis, Michael: Die Historische Schule und das öffentliche Recht, in: Konstitution und Intervention. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, hrsg. v. dems., Frankfurt a.M. 2001, S. 33 – 46; Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 – 1914, München 1992, S. 48 ff.; Hammerstein, Notker: Der Anteil des 18. Jahrhunderts an der Ausbildung der historischen Schulen des 19. Jahrhunderts, in: Historische Forschung im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Karl Hammer/Jürgen Voss, Bonn 1976, S. 432 – 450. 64 Siehe stellvertretend die problematische und wenig Neues bringende Zusammenfassung, in der von der Literaturgeschichte so gut wie keine Rede ist: Hartmann, Peter Claus: Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1806. Verfassung, Religion und Kultur, Wien u. a. 2001. Die große Synthese Whaleys befasst sich nicht mit dem Verhältnis der Literatur zum Reich und rekurriert daher in notwendiger Kürze lediglich auf Bekanntes wie Schillers Deutsche Größe, Goethes ,fritzsche‘ Einstellung aus Dichtung und Wahrheit, das Engagement Sachsen-Weimar-Eisenachs in Sachen Fürstenbund sowie die Rolle des Herzogtums als literarisch-geistiges Zentrum im Reich (Whaley, Joachim: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien 1493 – 1806, Bd. 2). Dahingegen mehrere Aufsätze des Historikers Georg Schmidt, stellvertretend: Schmidt, Georg: Das Ereignis Weimar-Jena und das Alte Reich, in: Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext, hrsg. v. Lothar Ehrlich/Georg Schmidt, Weimar 2008, S. 11 – 32; ders.: Deutschland um 1800. Das Umfeld der ,Klassiker‘ und ihre Nationsentwürfe, in: Das Ende des Alten Reiches im Ostseeraum. Wahrnehmungen und Transformationen, hrsg. v. Michael North/Robert Riemer, Wien 2008, S. 156 – 171. Die einzige Monographie zum Thema ist heillos überaltert und weitgehend unbrauchbar: Zeydel, Edwin Hermann: The Holy Roman Empire in German Literature, New York 1918.

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

3. Reich und Nation: Vieles von dem hier Angesprochenen kondensiert in der umstrittenen Frage, wie sehr sich die deutschsprachigen Einwohner des Alten Reichs als Teil eines gemeinsamen politischen Staatssystems sahen. Verstand man sich im 18. Jahrhundert als Deutscher im Sinne der Zugehörigkeit zum Reich oder lediglich als Teil der Deutschsprachigen, während politisch nur die regionalen oder territorialen Koordinaten von Bedeutung sein konnten? „Deutschland gibt es ja weder geographisch noch politisch“65, schreibt Hans-Ulrich Wehler, der den deutschen Nationalismus als ein verspätetes Produkt auffasst, hervorgegangen aus der Erfahrung der napoleonischen Fremdherrschaft und dem Kampf gegen dieselbe.66 Georg Schmidt betont hingegen das gerade Gegenteil: „Die komplementäre Staatlichkeit machte das Reich nördlich der Alpen zum deutschen Staat, zur Nation und zum Vaterland – in dieser Hinsicht sind die Quellen eindeutig.“67 Dem Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons darf in der Tat nicht „zuviel Beweislast“ für die Entstehung des Nationalismus aufgebürdet werden.68 Fraglos liegen die ideengeschichtlichen Ursprünge der „imagined community“ ,deutsche Nation‘ im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit.69 Das Reich war dabei durchaus von Bedeutung. Der 65 Wehler, Hans-Ulrich: Nationalismus, Nation und Nationalstaat in Deutschland seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Volk, Nation, Vaterland, hrsg. v. Ulrich Hermann, Hamburg 1996, S. 268 – 277, hier S. 270. 66 Vgl. auch Kallscheur, Otto/Leggewie, Claus: Deutsche Kulturnation versus französische Staatsnation? Eine ideengeschichtliche Stichprobe, in: Nationales Bewusstsein und kollektive Identität, hrsg. v. Helmut Berding, Frankfurt a.M. 1994, S. 112 – 162. Theoretisch avanciert versuchen Giesen und Junge die Entstehung des deutschen Nationalismus nachzuzeichnen, akzeptieren aber trotz aller Reflexion die Setzung des „deutschen Sonderwegs“: Giesen, Bernhard/Junge, Kay: Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der ,Deutschen Kulturnation‘, in: Nationale und kulturelle Identität, hrsg. v. Bernhard Giesen, Frankfurt a.M. 1991, S. 255 – 303, hier S. 257. 67 Schmidt: Wandel durch Vernunft, S. 73. 68 Planert, Ute: Wann beginnt der ,moderne‘ deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit, in: Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen, 1760 – 1960, hrsg. v. Jörg Echternkamp/Sven O. Müller, München 2002, S. 25 – 59, hier S. 27. 69 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, 2. erw. Aufl. Frankfurt/New York 1996. Zum Nationalismus im 16. und 17. Jahrhundert vgl.: Münkler, Herfried: Nation als politische Idee im frühneuzeitlichen Europa, in: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Klaus Garber, Tübingen 1989, S. 56 – 86; Schulze, Winfried: „Sua cuique nationi discrimina“. Nationales Denken und nationale Vorurteile in der Frühen Neuzeit,

1. ,Das neue Bild vom Alten Reich‘ in der Geschichtswissenschaft

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,Wettkampf der Nationen‘ ließ, so Caspar Hirschi, schon an der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit annähernd „stabile Wahrnehmungsmuster“ der „Nationskonstruktion“ als Abstammungs- und Ehrgemeinschaft entstehen.70 Das taciteische ,Germanien‘ verschmolz in der humanistischen Konstruktion mit dem Reich der Gegenwart zu einem nationalisierten Geschichtsverlauf, an dessen Ende die Früchte der frühen Keime standen: Größe, Reichtum und Vielfalt. Der Lobpreis des deutschen Erfindergeistes (Buchdruck, Schießpulver etc.) sollte gegen den Barbarenvorwurf die kulturelle und wissenschaftliche Erstklassigkeit der Deutschen belegen. Eng verbunden damit war die Umwertung der germanischen Rohheit zu deutschen Nationaltugenden (simplicitas, integritas, fides, modestia, virtus), um sich von dem Romanisch-Fremden zu separieren. Die Nationskonstruktion der Humanisten ereignete sich zeitgleich und in Korrelation zur Verdichtung der Reichsverfassung, der sogenannten ,Reichsreform‘ (1495 – 1555).71 Seither war die Reichsidee nicht einfach universalistisch und römisch, vielmehr lässt sich ihre „Nationalisierung“ beobachten.72 Weder im 16. noch im 17. Jahrhundert war die nationalisierte Gelehrtenrepublik an politische Grenzen gebunden, ihre Vordenker werteten den Besitz des universalistischen Imperiums aber als Beleg des deutschen Vorrangs und rekurrierten im politischen ,Ernstfall‘ kritisch oder affirmativ auf den Reichsverband.73 Unter dem emphatischen und

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in: Die Deutschen und die andern. Patriotismus, Nationalgefühl und Nationalismus in der deutschen Geschichte, hrsg. v. Stefan Krimm/Wieland Zirbs, München 1997, S. 32 – 66; Reinhardt, Volker: Nation und Nationalismus in der Frühen Neuzeit, in: Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten. Festschrift für Urs Altermatt, hrsg. v. Catherine BosshartPfluger/Joseph Jung/Franziska Metzger, Stuttgart/Wien 2002, S. 155 – 178; Hirschi, Caspar: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005; Lau, Thomas: Teutschland. Eine Spurensuche 1500 bis 1650, Darmstadt 2010. Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 302 – 347. Vgl. Angermeier, Heinz: Begriff und Inhalt der Reichsreform, in: ZRG Germ. Abt. 75 (1958), S. 181 – 205. Schmidt, Georg: Reich/Reichsidee II. Reformation und Neuzeit, in: Theologische Realenzyklopädie 28 (1997), S. 450 – 457, hier S. 452; Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 9 – 17 und 347 – 352. Vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 270 – 277. Zu Literatur und Reich im 16. und 17. Jahrhundert: Mertens, Dieter: Der Reichstag und die Künste, in: Mediävistische Komparatistik, hrsg. v. Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 295 – 314; Kühlmann, Wilhelm: Reichspatriotismus und humanistische Dichtung, in: Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die eu-

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

schließlich protestantisch vereinnahmten Rechtsterminus ,deutsche Freiheit‘ verstand man schon bald nicht nur die Rechte der Stände gegenüber Kaiser und Reich, sondern seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 und dem Westfälischen Frieden von 1648 auch individuelle Rechte wie (idealiter) Religions- und Eigentumsfreiheit.74 Die Bezeichnung des Reichs wandelte sich entsprechend dieser Nationalisierung von der offiziellen Titulatur ,Heiliges Römisches Reich‘ mit dem einschränkenden Beiwort ,deutscher Nation‘ zu ,teutsches Reich‘ oder einfach ,Teutschland‘ bzw. ,teutsches Vaterland‘.75 ,Reich‘ meinte hier in aller Regel einen politischrechtlichen Verband oder einen territorialen Raum, keine universalistische Idee. Um mit dem quellenkundigen Karl Zeumer zu sprechen: „Als das alte Reich zur Rüste ging, nannte man es nicht mehr Römisches Reich, sondern ,Deutsches Reich‘.“76 Dem entsprach cum grano salis die territoriale Entwicklung: Gewiss, nichtdeutschsprachige Gebiete wie ohnehin verschieropäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt, hrsg. v. Ronald G. Asch/Wulf Eckart Voß/Martin Wrede, München 2001, S. 375 – 393, hier S. 388 ff.; Mertens, Dieter: „Bebilius … patriam … Sueviam … restituit“. Der poeta laureatus zwischen Reich und Territorium, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 42 (1983), S. 145 – 173; Kühlmann, Wilhelm: Alamode-Satire, Kultursemiotik und jesuitischer Reichspatriotismus – Zu einem Gedichtzyklus in den Sylvae (1643) des Elsässers Jacob Balde SJ, in: Simpliciana 22 (2000), S. 201 – 226; Kühlmann, Wilhelm: Der Poet und das Reich. Politische, kontextuelle und ästhetische Dimensionen der humanistischen ,Türkenlyrik‘ in Deutschland, in: Europa und die Türken in der Renaissance, hrsg. v. dems./Bodo Guthmüller, Tübingen 2000, S. 193 – 248; Borgstedt, Thomas: Reichsidee und Liebesethik. Eine Rekonstruktion des Lohensteinschen Arminiusromans, Tübingen 1992; Gardt, Andreas: Nation und Sprache in der Zeit der Aufklärung, in: Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. dems., Berlin/New York 2000, S. 169 – 198. 74 Schmidt, Georg: Die Idee ,deutsche Freiheit‘. Eine Leitvorstellung der politischen Kultur des Alten Reiches, in: Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400 – 1850), hrsg. v. Georg Schmidt/Martin van Gelderen/ Christopher Snigula, Frankfurt a.M. u. a. 2006, S. 159 – 189. 75 Moraw, Peter (Mittelalter); Aretin, Karl Otmar Freiherr von/Hammerstein, Notker (Neuere Geschichte); Fehrenbach, Elisabeth (Neueste Geschichte): Artikel ,Reich‘, in: GG, Bd. 5, S. 423 – 508. Der Haupttitel „Heiliges Römisches Reich“ wurde offiziell bis 1806 für das gesamte supranationale Reich beibehalten, während der zahlreiche Geschichtswerke schmückende Titel „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“ nach dem 16. Jahrhundert nur selten anzutreffen ist, siehe dazu und zur Vielfalt der Bezeichnungen: Weisert, Hermann: Der Reichstitel bis 1806, in: Archiv für Diplomatik 40 (1994), S. 441 – 513. 76 Zeumer, Karl: Heiliges Römisches Reich deutscher Nation. Eine Studie über den Reichstitel, Weimar 1910, S. 30.

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dene Ethnien gehörten bis zu seinem Ende zum Alten Reich. Die Zugehörigkeit war nicht kulturell oder ethnisch, sondern rechtlich, über den Lehensverband und die Reichsinstitutionen bestimmt. Der Anspruch des Kaisers auf Burgund und Italien schwächte sich jedoch in der Frühen Neuzeit spürbar ab, auch Schlesiens Bindung zum Reich war nach 1741 stark gelockert, wenn nicht gar aufgelöst.77 Vor allem aber vereinten die Reichsinstitutionen vornehmlich deutschsprachige Reichsglieder. Kurz: „Die Menschen des 17. und 18. Jahrhunderts […] wussten sehr genau zwischen dem größeren Reichslehensverband und dem engeren Deutschen Reich, das auf dem Reichstag repräsentiert war, zu unterscheiden.“78 Historiker sprechen mit Blick auf die deutsche Geschichte der Frühen Neuzeit von einer „föderativen Nation“79. Charakteristisch dabei ist die prinzipielle Offenheit für unterschiedliche, sich überlagernde ,multiple Identitäten‘. Je nach Kontext traten andere Aspekte in den Vordergrund, sei es die Loyalität zur Konfession, zur Mutterstadt, zum Landesvater und zur Herrscherdynastie oder zur Weltrepublik der Kosmopoliten.80 In diesem Sinne waren auch Reichspatriotismus und Territorialpatriotismus kein notwendiger Widerspruch.81 Überhaupt verbanden sich mit dem Wort ,Vaterland‘ oft nicht primär territorial oder politisch einhegbare moralische und religiöse Wertkonzepte. Das Verhältnis des Alten Reichs zu den Begriffen ,Patriotismus‘ und ,Nation‘ ist daher vielschichtig. Von ,Patria‘ war im 18. Jahrhundert die Rede, wenn ein Dorf, eine Stadt, ein Territorium oder eine Region gemeint 77 Vgl. Conrads, Norbert: Schlesien in der Frühmoderne. Zur politischen und geistigen Kultur eines Habsburgischen Landes, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 368. 78 Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 173. 79 Schmidt, Georg/Langewiesche, Dieter: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000; Schmidt, Georg (Hrsg.): Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität?, München 2010. 80 Schmidt: Wandel durch Vernunft, S. 73 – 81. Vgl. auch die gegenüber eines Reichsbewusstseins zurückhaltende Studie: Gotthard, Axel: Raum und Identität in der frühen Neuzeit. Eine Problemskizze, in: Kultur und Region im Zeichen der Globalisierung. Wohin treiben die Regionalkulturen?, hrsg. v. Sefik Alp Bahadir, Neustadt a. d. Aisch 2000, S. 235 – 368. 81 Etwa im Falle Preußens änderte sich das allerdings in der Folge des Siebenjährigen Kriegs zunehmend: Burgdorf, Wolfgang: ,Reichsnationalismus‘ gegen ,Territorialnationalismus‘. Phasen der Intensivierung des nationalen Bewusstseins in Deutschland seit dem Siebenjährigen Krieg, in: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. v. Georg Schmidt/Dieter Langewiesche, München 2000, S. 62 – 189.

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

war, der Begriff konnte aber zugleich auf großräumigere Einheiten wie das Reich als ,Vaterland‘ und größtes deutsches ,Gemeinwesen‘ übertragen werden. Nur selten war die Bindung an diese ,Pflichtgemeinschaft‘ so emotional besetzt, wie es im Falle des Heimatbegriffs zu beobachten ist. Für das ständisch strukturierte „Reichssystem[]“ stürze sich „kein Curtius in den Abgrund“, schreibt Justus Möser polemisch.82 Der Reichspatriotismus war gleichsam ein sekundärer Patriotismus, ein „Patriotismus […] von zweyter Hand“83. ,Nation‘ meinte hingegen primär das Konzept einer Abstammungs- und Sprachgemeinschaft und wurde im 18. Jahrhundert meist mit ,Volk‘ synonym verwandt. Das ,deutsche Reich‘ mit der politisch-rechtlichen Konnotation dieses Begriffs konnte zum ,Vaterland der deutschen Nation‘ erklärt werden. Beide Begriffe, ,Patria‘ und ,Natio‘, entziehen sich aber einer starren Definition und müssen als „dynamische Kategorien“ verstanden werden, die „sich nur aus dem jeweiligen Kontext“ 82 Möser: Über die deutsche Sprache und Literatur, in: HKA, Bd. 3, S. 71 – 90, hier S. 74. 83 [Wölfling, Christian]: Briefe eines reisenden Franzosen über die Deutschen, ihre Verfassung, Sitten und Gebräuche, Frankfurt/Leipzig 1796, S. 290. Caspar Hirschi nannte jüngst die „Kategorie des Reichspatriotismus“ für den Humanismus, aber auch für die „Reichspublizistik“ des 18. Jahrhunderts irreführend. Die Verbindung des Reichs mit dem Begriff Vaterland erkläre sich aus dem Nationsdiskurs, nicht aus dem Patria-Konzept, Begriffe wie patria imperialis wären daher auch unüblich. Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 41 – 43. Richtig ist, dass etwa Friedrich Carl Mosers Schrift Von dem Deutschen national=Geist, o. O. 1765, vielleicht sinnvoller mit Reichsnationalismus zu fassen wäre. Vgl. Vazsony, Nicholas: Montesquieu, Friedrich Carl von Moser, and the ,National Spirit Debate‘, in: German Studies Review 22, Nr. 2 (1999), S. 225 – 246. Das Wort ,Reichspatriotismus‘ ist jedoch ein Quellenbegriff und stimmt mit der Mehrzahl der ,Reichspublicisten‘ aus dem 18. Jahrhundert sehr viel besser überein, wünschten Juristen wie Johann Jacob Moser oder Johann Stephan Pütter doch in der Regel schlicht als ,Patrioten‘ die Einhaltung von Recht und Gesetz im Reich, Verbesserung der Verfassung und Sicherung des Friedens. Das Reich im 18. Jahrhundert, das übersieht Hirschi, war nicht mehr das universalistische ,Imperium‘ der Humanisten, das die Deutschen ,besaßen‘, es war zur historisch gewachsenen politischen Ordnung des Vaterlands geworden. Immer wieder ist von „Reichs=Patriot“, „reichspatriotischer“ Gesinnung, Bemühung etc. oder „Reichspatriotismus“ die Rede. „Ein unpartheyischer Reichs=Patriot“, Hippolithus a Lapide [Bogislaus Philipp von Chemnitz]: Abriß der Staats-Verfassung, Staats-Verhältniß und Bedürfniß des Römischen Reichs Deutscher Nation […], Mainz/Coblenz 1761, o. S. (Vorrede); Mosers Inhaltsverzeichnis seiner Beherzigungen kündigt ein Kapitel über „Stadt=Land= und Reichs=Patrioten“ an, Moser, Friedrich Carl: Beherzigungen, Frankfurt a.M. 1761.

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erschließen.84 Ganz unterschiedliche Nationskonzepte konnten auf das Bezugssystem ,Reich‘ rekurrieren, ohne dass die Zeitgenossen die ,deutsche Nation‘ allein oder auch nur vornehmlich über das Reich definiert hätten. Die Reichsverfassung offerierte einen politisch-rechtlichen Rahmen als Identitätsangebot, der zugleich „durchlässig“ und offen genug war, um andere Loyalitäten und Identitäten zu umschließen bzw. um von diesen umschlossen zu werden.85 Entscheidend ist, dass, anders als es die These vom deutschen Sonderweg oder die kleindeutsch-preußische Geschichtsnarration glauben machen will, auch im Politischen mit dem föderalen Reichsbewusstsein eine sozial und kulturell übergreifende Nations- bzw. Patriavorstellung aktiviert werden konnte. Der Appell zur Verteidigung des Reichs während der Türkenkriege oder im Konflikt mit Frankreich ließ sich ohne Weiteres als Aufruf zur Verteidigung der deutschen Nation und des deutschen Gemeinwesens gestalten.86 Solch ein Patriotismus konnte kriegerische Töne annehmen, die wenig zum Bild des kosmopolitischen 18. Jahrhunderts passen, aber bereits viel vom Duktus des späteren Nationalismus aufweisen – gleichsam ein fallweiser Reichsnationalismus. Eine scharfe Trennung zwischen dem Patriotismus des 18. und dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts ist daher auch aus reichshistorischer Sicht nicht sinnvoll.87 Mit Ute Planert kann von einer „nationalen Sattelzeit“88 gesprochen werden, in der sich die Vorstellungen von der ,deutschen Nation‘ – eng verbunden mit dem Wachstum einer bürgerlichen Kultur – fundamental 84 Schmidt: Wandel durch Vernunft, S. 78. 85 Ebd., S. 80. 86 Ebd., S. 74; Schmidt, Georg: Teutsche Kriege. Nationale Deutungsmuster und integrative Wertvorstellungen im frühneuzeitlichen Reich, in: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. v. Georg Schmidt/Dieter Langewiesche, München 2000, S. 33 – 61. 87 Vgl. zu dieser Neubewertung der Begriffe ,Patriotismus‘ und ,Nationalismus‘ für das 18. Jahrhundert: Blitz, Hans-Martin: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert, Hamburg 2000; Herrmann, Hans Peter/Blitz, HansMartin/Moßmann, Susanna: Machtphantasie Deutschland, Frankfurt a.M. 1996; aus reichshistorischer Sicht: Schmidt: Teutsche Kriege; anders hingegen: Vierhaus, Rudolf: ,Patriotismus‘ – Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegung, Göttingen 1987, S. 96 – 109; Dann, Otto: Introduction, in: Nationalism in the Age of the French Revolution, hrsg. v. dems./Johan Dinwiddy, London u. a. 1988, S. 1 – 11; Bosse, Heinrich: Patriotismus und Öffentlichkeit, in: Volk – Nation – Vaterland, hrsg. v. Ulrich Hermann, Hamburg 1996, S. 67 – 88, hier S. 67 f. 88 Planert: Wann beginnt der ,moderne‘ deutsche Nationalismus?, S. 27.

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

veränderten, sich über den Gelehrtenkreis hinaus sozial ausweiteten und im ideologischen Anspruch verabsolutierten. Das Bild eines kosmopolitischen, weltbürgerlichen Aufklärungszeitalters, das von exkludierendem Nationalismus nichts wisse, ist dabei genauso in Frage zu stellen, wie die enge Verknüpfung des Nationsbegriffs mit der Massengesellschaft und dem Nationalstaat des 19. Jahrhunderts. In den Theorien Ernest Gellners und Eric Hobsbawms wird die Periode der Frühen Neuzeit – und damit auch das 18. Jahrhundert – aufgrund solcher Setzungen nicht ausreichend reflektiert, sie bildet einen „blinden Fleck“ in der Geschichte des Nationalismus.89 Die Differenz zum Zeitalter der Französischen Revolution und zum Zeitalter der Industrialisierung sollte trotz dieser Kritik keineswegs vollständig beiseite gewischt werden. Sie ist jedoch nur gradueller Natur und liegt primär in der Massenbasis und dem politischen Partizipationsanspruch, nicht aber in den nationalen Denkformen und Argumentationsmustern selbst.90 Vielfach blieb die Reichsidee, das wird oft übersehen, Teil der zunehmend naturalisierten, emotionalisierten und demokratisierten Nationskonzepte der Sattelzeit.91 Nicht mehr allerdings im Sinne des universalistischen ,Imperiums‘, das die Deutschen ,besaßen‘ und als Argument im Kampf um ihren Würdevorrang instrumentalisieren konnten, vielmehr galt das politisch-rechtliche System des Reichs im Schlechten wie im Guten als integraler Bestandteil der deutschen Nationalgeschichte. Seit dem Siebenjährigen Krieg (1756 – 1763) traten allerdings die unterschiedlichen Vaterlandskonzepte immer mehr in Konflikt zueinander, sie verloren an Offenheit und Integrationsfähigkeit. Besonders gilt das für Brandenburg-Preußen.92 Dennoch: Für viele Intellektuelle – man denke an jene, die in Reichsstädten und kleineren bzw. mittleren Territorien aufwuchsen oder lebten – war das Reich auch nach 1763 ein wichtiger Bestandteil ihrer kollektiven Identität, allerdings in höchst divergierender Art und Weise. 89 Vgl. die sehr luzide Besprechung der Nationalismusforschung: Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 17 – 75, hier S. 29. 90 Vgl. Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000. 91 Vgl. zum Wandel der Nationskonzepte: Planert: Wann beginnt der ,moderne‘ deutsche Nationalismus?, S. 25 – 59; Herrmann/Blitz/Moßmann: Machtphantasie Deutschland; Hien, Markus: Natur und Nation. Zur literarischen Karriere einer Fiktion in der deutschen Aufklärung, in: Aufklärung 25 (2013), S. 219 – 246. 92 Zur unvereinbaren Diversifizierung der ,Vaterländer‘ im Kontext des Siebenjährigen Kriegs: Blitz: Aus Liebe zum Vaterland, S. 145 – 280; Burgdorf: ,Reichsnationalismus‘ gegen ,Territorialnationalismus‘.

1. ,Das neue Bild vom Alten Reich‘ in der Geschichtswissenschaft

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Dafür das berühmteste Beispiel: Ausgelöst durch die steilen Thesen Friedrich Carl Mosers in seiner Schrift Von dem Deutschen national=Geist (1765),93 entzündete sich an der Frage nach Rolle und Funktion des Reichs für den Begriff der deutschen Nation die sogenannte ,Nationalgeistdebatte‘ der 1760er-Jahre. Zahlreiche Autoren widersprachen Mosers Nationalgeistdefinition, die ganz vom Reich und seinen Gesetzen ihren Ausgang nahm, allen voran Friedrich Karl Kasimir von Creutz, Justus Möser und Johann Jakob Bülau. Die Kritiker reklamierten, dass die Reichsverfassung nicht ausreiche, einen Nationalgeist zu begründen bzw. die Definition der Nation nicht bei den Reichsständen und Höfen, sondern bei der Stammesund Sprachgemeinschaft, der deutschen Geschichte oder allgemein der Kultur ansetzen müsse. Den Territorien wurde dabei als ,wahren Vaterländern‘ meist deutlich mehr Bedeutung beigemessen als dem Reichsverband, der nur in geringer Beziehung zu den einzelnen Bürgern stünde und deshalb nicht die Basis für einen politischen Nationsbegriff sein könne. Mosers Opponenten negierten aber, das darf nicht übersehen werden, in der Regel keineswegs, dass das Reich der zu reformierende größte politischgeographische Bezugsrahmen einer wie auch immer gefassten deutschen Nation sei.94

93 Moser: Von dem Deutschen national=Geist. 94 Vgl. Bülau, Johann Jakob: Noch etwas zum Deutschen Nationalgeiste, Lindau (am Bodensee) 1766. Bülau will trotz aller Schwächen die Reichsverfassung mit ihrer Uneinigkeit bewahren, weil sie die Deutschen durch ihre Vielfalt vor Despotismus schütze: ebd., S. 198 f.; Creutz, Friedrich Karl Kasimir: Versuch einer pragmatischen Geschichte von der merkwürdigen Zusammenkunft des teutschen Nationalgeistes und der politischen Kleinigkeiten Auf dem Römer in Frankfurt: Supplement des Versuchs einer pragmatischen Geschichte den teutschen Nationalgeist betreffend, oder, gerettete Vernunft gegen die Einwürfe der neuesten National-Publicisten, Frankfurt a.M. 1766 (Anmerkungen zu Mösers Text); ders.: Neue politische Kleinigkeiten, Frankfurt a.M. 1767. „Teutschland“ und „Reich“ sind für Creutz deckungsgleiche Begriffe: „Teutschland ist würklich in solche Staaten getheilet, welche einen Kayser als ihr allerhoechstes Oberhaupt verehren.“ Ebd., S. 45 f.; Möser: Rezension zu ,Von dem deutschen Nationalgeiste‘, in: HKA, Bd. 3, S. 247 – 249. Zur Nationalgeistdebatte vgl. Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 191 – 226; Blitz: Aus Liebe zum Vaterland, S. 283 – 302; Welker, Karl H. L.: Rechtsgeschichte als Rechtspolitik. Justus Möser als Jurist und Staatsmann, 2 Bde., Osnabrück 1996, Bd. 1, S. 194 – 232.

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

2. Reichsbewusstsein und literaturwissenschaftliches Konzept Das Zugehörigkeitsgefühl zum Alten Reich spielte für die nationale Identitätsbildung der deutschen Intellektuellen in der ersten Hälfte der Sattelzeit eine zentrale Rolle, zeichnete sich jedoch durch eine bunte Vielfalt aus, die mit ,Reichspatriotismus‘ oder gar ,Reichsnationalismus‘ nur selten treffend charakterisiert ist. Auch Autoren, die um 1800 von der brüchigen, maroden Verfassung sprachen und den Topos der gotischen Ruine im Umlauf hielten, partizipierten an einer kollektiven Gedächtnisarbeit, die das Reich und seine Geschichte, gleichviel ob affirmativ oder mit kritischer Distanz, in die Konstruktion der nationalen Identität einbezog. Mit dem Verweis auf die ,gotische Ruine‘ allein ist es jedenfalls nicht getan, will man sich der politisch-kulturellen Selbstverortung deutscher Literaten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts nähern. Identitäten sind immer im Fluss, sie entstehen erst – mit kulturwissenschaftlich weitem Bedeutungshorizont gesprochen – durch Narration und deshalb immer wieder aufs Neue:95 Erst die ,Erzählung‘ verknüpft die diskordanten und kontingenten Ereignisse der Geschichte zur dynamischen Kohärenz für die gegenwärtigen Erinnerungsgemeinschaften.96 Der homogene, zentralistisch organisierte Nationalstaat und der mit ihm verbundene nationalistische Imperativ, Staat und Volk zu einer Einheit zu bringen,97 war eine wirkmächtige Fiktion des nationalistischen Zeitalters, die nie Realität wurde. Aus ihr erwuchs jedoch der irreführende Anspruch einer einheitlichen und stabilen Nationalidentität, die häufig und teilweise bis heute zum Maßstab historischer und literaturwissenschaftlicher Arbeiten geworden ist. Während sich über die Risiken und Nebenwirkungen der wissenschaftlichen Verwendung des Begriffs ,kollektive Identität‘ ohnehin trefflich streiten lässt,98 gilt im Blick auf die Zugehörigkeit des 95 Vgl. einführend: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005; Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien/New York 2002, insbesondere S. 87 – 143. (Kap. 4 „Mythos, Gedächtnis, Narration“). 96 Vgl. Ricoeur, Paul: Narrative Identität, in: Heidelberger Jahrbücher 31 (1987), S. 57 – 67. 97 Vgl. Gellner, Ernst: Nationalismus und Moderne, Berlin 1995, S. 64. 98 Vgl. die überscharfe Kritik am „Plastikwort“ ,kollektive Identität‘: Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000, S. 33 ff. Die wissenschaftliche Rekonstruktion eines Konstruktionsvorgangs sollte von dem Verdacht verschont bleiben, unreflektiert durch ihren metaphorischen Sprachgebrauch, der einen kollektiven Akteur voraussetzt, das

2. Reichsbewusstsein und literaturwissenschaftliches Konzept

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Einzelnen zu Kollektiven zugespitzt formuliert das gerade Gegenteil: Multiple oder hybride Identitäten, von denen im postkolonialen Diskurs und nicht nur dort so viel die Rede ist, sind der Regelfall, nicht die Ausnahme.99 Schon gar nicht sind sie allein ein Produkt der jüngeren Vergangenheit, vielmehr lässt sich aus der Frühneuzeitforschung ein genuines Konzept multipler Identitäten ableiten.100 Die geringe Kohäsion des Reichsverbands führte notwendig zu großer Heterogenität im Zugehörigkeitsgefühl der deutschsprachigen Reichseinwohner zu der sie verbindenden politischen Ordnung. Auslegungen der deutschen Vergangenheit differierten oft mehr, als dass sie zusammenstimmten. Im Reich des 18. Jahrhunderts waren die partikularen Bindungen mitunter die weitaus stärkeren Erinnerungsgemeinschaften, man denke z. B. an das Konzept der bayerischen Nation oder an die Gemeinschaft der evangelischen Reichsstände, die im Reich durch Institute wie das Corpus Evangelicorum101 gestärkt wurden. Eine ,Reichsidentität‘ müsste daher gleichsam in Analogie zu dem Begriff „composite monarchy“102 als ,composite identity‘ aufgefasst werden – eine Identität, die andere Identitäten, insbesondere territoriale und regionale, voraussetzt. Natürlich läge der Vergleich zur hybriden und

99

100 101

102

Geschäft der Nationalisten zu betreiben. Vgl. Straub, Jürgen: Identität, in: Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Bd. 1, hrsg. v. Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch, Stuttgart 2004, S. 276 – 303. Inwieweit zwischen multiplen und hybriden Identitäten begrifflich unterschieden werden sollte, ist eine Frage, die hier nicht diskutiert werden kann. Allgemein zum Begriff der hybriden Identität: Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität, 5. Aufl. Hamburg 2012; Bhabha, Homi K.: Die Frage der Identität, in: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, hrsg. v. Benjamin Marins/Elisabeth Bronfen/Therese Steffen, Stauffenberg 1997, S. 97 – 122. Vgl. Schmidt: Wandel durch Vernunft, S. 73 – 81; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 107 – 123. Schindling, Anton: Corpus evangelicorum et corpus catholicorum. Constitution juridique et réalités sociales dans le Saint-Empire, in: 350e anniversaire des Traites de Westphalie 1648 – 1998. Une genèse de l’Europe, une societé à reconstruire. Actes du Colloque International, hrsg. v. Jean Pierre Kintz/Georges Livet, Strasbourg 1999, S. 43 – 55; Kleinehagenbrock, Frank: Die Erhaltung des Religionsfriedens. Konfessionelle Konflikte und ihre Beilegung im Alten Reich nach 1648, in: Historisches Jahrbuch 126 (2006), S. 135 – 156; Kalipke, Andreas: ,Weitläufigkeiten‘ und ,Bedenklichkeiten‘ – Die Behandlung konfessioneller Konflikte am Corpus Evangelicorum, in: Zeitschrift für historische Forschung 35 (2008), S. 405 – 447. Elliott, John H.: A Europe of Composite Monarchies, in: Past & Present 137 (1992), S. 48 – 71.

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

multiplen europäischen Identität nahe, er sollte aber nicht überstrapaziert werden, denn die europäische Einheit der verschiedenen Nationen ist von dem mehrfach codierten Nationsbegriff der föderalen deutschen Nation und ihrem Bezug zum Reich kategorial verschieden. ,Die‘ Reichsidentität hat es allerdings ohnehin nie gegeben. Mit Blick auf die vorliegende Arbeit lässt sich nur von einem sehr unterschiedlich konturierten Bewusstsein einzelner Personen und Gruppen sprechen, Teil des Reichsverbands und seiner Geschichte zu sein. Der Facettenreichtum dieses Reichsbewusstseins lässt unterschiedliche Reichskonzepte erkennen, denen jeweils eigene ,Erzählungen‘ zugrunde liegen. Sie verdichteten sich aber nur selten zu einer homogenen Reichsidee, die allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen könnte. Die Säkularisierung der Reichsidee im Laufe der Frühen Neuzeit führte auch zu ihrer Pluralisierung. Die Vielfalt und Heterogenität des Reichsbewusstseins rührt aber auch daher, dass das Reich mittels ganz unterschiedlicher Diskurse wahrgenommen wurde. In idealtypischer Vereinfachung lassen sich drei Gedächtnisformationen103 beschreiben, die nicht unabhängig voneinander zu denken sind und durch weitere ergänzt bzw. spezifiziert werden könnten. Neben den Begriff des Reichsbewusstseins tritt dabei der Begriff des Reichsdenkens als aktiver Gestaltungsprozess dieses Zugehörigkeitsgefühls. Das Reich war eine rituelle und symbolische Ordnung.104 Reichsbewusstsein entstand durch die Präsenz des Reichs in komplexen Zeremonien und einer beinahe ubiquitären Symbolik. Mit der von Claude Lévi-Strauss entliehenen Terminologie Jan Assmanns kann von einer „kalten Option“ der Gedächtniskultur gesprochen werden, die sich gegenüber historischen Veränderungen verweigert:105 Noch um 1800 erhielt das Heilige Römische Reich seine Würde durch altehrwürdige Formen und Rituale, die in scharfem Kontrast zur politischen Wirklichkeit von der unveränderten Existenz des Reichs seit dem Mittelalter zeugen sollten. 103 Aleida Assmann unterscheidet nach den Trägern des Gedächtnisses zwischen Individuen, sozialen Gruppen, politischen Kollektiven und Kulturen als unterschiedlichen Gedächtnisformationen. In dieser Arbeit wird der Begriff übergreifend als die aus dem Zusammenspiel mehrerer Akteure, unterschiedlicher Texte und kultureller Praktiken resultierende Formung des Gedächtnisses verstanden. Vgl. Assmann, Aleida: Von individuellen zu kollektiven Konstruktionen der Vergangenheit, in: dies.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2007, S. 21 – 61. 104 Vgl. Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider. 105 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Aufl. München 2007, S. 68 – 70.

2. Reichsbewusstsein und literaturwissenschaftliches Konzept

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Daneben stand, zweitens, das Reich als politisch-rechtliches System. Reichsjuristen und Reichshistoriker kommt hierbei gleichsam die Rolle professionalisierter Gedächtnispfleger zu. Das Reich wurde im ,publicistischen‘ Schriftgut von ,Caesarianern‘ wie von ,Fürstenianern‘ als Hort historisch gewachsener Rechte angesehen, der Reformbedarf der Reichsverfassung keineswegs verschwiegen, jedoch auch hier die Würde durch Anciennität, durch Herkommen und Tradition, herausgestellt. Ihre Reichsauffassung schwankte zwischen ahistorischer Präsenzkultur und historischer Analyse der Veränderungen, die sich in dem positiv-rechtlichen Reichsverband seit dem Frühmittelalter ergeben hatten. In politischen Debatten rekurrierten die ,Publicisten‘ des 18. Jahrhunderts im Anschluss an die Humanisten auf die ,deutsche Freiheit‘: Die Gewalt der Landesherrn und des Kaisers müsse rechtlich limitiert sein, auch der Untertan habe das Recht auf Eigentum und könne frei zwischen den drei Konfessionen wählen. Das historisch-rechtlich begründete Ideal, im Besitz dieser und anderer Freiheiten zu sein, reichte weit über die fachlichen Debatten hinaus – bis hin zu kollektiven Freiheitsvorstellungen des gemeinen Manns.106 Die Rolle der Literatur und der Literaten (drittens) ist im Blick auf das deutsche Reichsbewusstsein dieser Zeit bisher nicht systematisch untersucht worden. Fiktionale Texte und Formen sind jedoch von der Welt, aus der sie stammen, nicht nur mitbestimmt, sie partizipieren am ,kollektiven Gedächtnis‘, reformulieren und konstruieren die gemeinsamen Identitäten implizit oder aktiv (mimesis und poesis) mit.107 Literatur kann die etablierten Erzählungen des kollektiven Gedächtnisses und der Wahrnehmung stützen, sie kann aber auch in Kontrast zu ihnen treten.108 Der Entstehungskontext – hier die Lebenswelt des Alten Reichs oder die Rezeption politisch-juristischer Fragen – schlägt sich in den literarischen Texten nieder. Bedeutsame geschichtliche Ereignisse werden aus dem 106 Vgl. Schmidt: Die Idee ,deutsche Freiheit‘; Schmidt: Wandel durch Vernunft, S. 81 – 85. 107 Vgl. Neumann, Birgit: Literatur als Medium kollektiver Erinnerungen und Identität, in: Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien, hrsg. v. Astrid Erll/Marion Gymnich/Ansgar Nünning, Trier 2003, S. 49 – 78, besonders S. 50 f., 66 – 78. Vgl. auch Nünning, Ansgar: Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis: Grundriß, Leitbegriffe und Perspektiven einer anglistischen Kulturwissenschaft, in: Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden: Eine Einführung, hrsg. v. dems., 2. Aufl. Trier 2004, S. 173 – 197. 108 Vgl. zu den verschiedenen ,Modi‘ des kollektiven Gedächtnisses: Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 201 – 228.

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

Blickwinkel der Gegenwart verarbeitet, virulente Fragen in der Vergangenheit gespiegelt, Literatur als politisches Appellationsmedium genutzt oder auch nur Themen aufgegriffen und in andere Sinnzusammenhänge überführt. Indem Literatur die heterogenen Elemente ihres Entstehungskontexts narrativiert, trägt sie zur Veränderung der kollektiven Wahrnehmung bei. Selten reklamierte die Kunst so emphatisch den Anspruch, Stellvertreter und Schöpfer der Nation in ihrer eigentlichen Bestimmung zu sein, wie im Zeitalter der Kunstperiode – das galt für Klopstock genauso wie für die Weimarer Klassik oder das romantische Konzept der Neuen Mythologie. Die Literatur und die Literaten formten die ,Erzählungen‘ von der deutschen Nation mit, ohne das Reich auszublenden. Sie waren integraler Teil des Reichsdenkens. Es soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass im 18. Jahrhundert höchst divergierende Reichswahrnehmungen und Reichsnarrative koexistierten. Sie reichten von reichspatriotischen, ja geradezu reichsnationalistischen Bekenntnissen über die von Zweifeln geprägte Hoffnung, die nationale Zerrissenheit möge doch zugunsten eines gemeinsamen Nationalgeists, einer Eintracht in der Vielheit überwunden werden, bis hin zur grundsätzlichen Ablehnung der Vielstaaterei und zu purem Spott über die rückständigen Verhältnisse innerhalb des Reichs. In der „reichsdeutschen Kulturgesellschaft“109 bildete sich aber mehrheitlich, das ist die Grundhypothese dieser Arbeit, anschließend an die Argumentationsstrategien der deutschen Humanisten eine nationale und politische Selbstnarration heraus, die sich föderal verstand, die Vielheit der Germanen und Griechen gegen den Zentralismus Frankreichs ausspielte, gleichsam einen dritten Weg beschreiten wollte, der zwischen Zerstreuung und monolithischer Einheit lag: die Utopie also, die negativen Seiten der politischen Vielheit zugunsten einer funktionsfähigen staatlichen und kulturellen Eintracht zu überwinden. Meist lag diesem Verlangen, das sich in ganz unterschiedlichen Reichskonzepten ausdrückte, eine triadische Struktur zugrunde. Auf die Verklärung einer vergangenen Einheit in der Vielheit (Griechen und/oder Germanen) folgte die Stufe der Zerteilung und Entfremdung des mittelalterlichen Chaos und der römisch-aristokratischen Despotie. Die dritte Stufe schien jedoch kurz bevor zu stehen: die Blüte

109 Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770 – 1990, S. 48.

2. Reichsbewusstsein und literaturwissenschaftliches Konzept

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einer politisch-kulturellen Einheit in der Vielheit im Rahmen des aufgeklärten Europas oder aber der Untergang des Reichs und der Deutschen.110 Dieses literarisch-politische Reichsdenken war ein Elitenphänomen, ein Dialog zwischen Literaten, auf Popularität zielenden Geschichtsschreibern sowie Fachjuristen und -historikern. Eine mentalitätsgeschichtliche Untersuchung der Reichswahrnehmung der großen Mehrheit der deutschsprachigen Reichseinwohner ist mit literaturwissenschaftlichen Methoden alleine nicht möglich und wird hier auch nicht intendiert. Vielmehr wird zu zeigen sein, dass, anders als in der Forschung häufig zu lesen, noch für die Autoren des 18. Jahrhunderts das politische Denken und Handeln an einem ,Deutschland‘-Begriff ausgerichtet war, der nicht unabhängig vom Alten Reich vorstellbar ist. In Zedlers Universallexikon lautet ein Lemma „Teutschland, Deutschland, Teutsches-Reich“ und beginnt selbstverständlich mit den „Grenzen Teutschlands“ sowie der inneren Einteilung in Reichskreise.111 Die politische Grenzen transzendierende kulturnationale Öffentlichkeit der Literaten, die auch im 18. Jahrhundert die längst ,exemte‘ und aus dem Reichsverband faktisch gelöste Eidgenossenschaft einschloss, lässt sich nicht als unpolitische Ersatznation begreifen. Das kontextabhängige, variable Verhältnis der humanistischen und barocken Gelehrtenrepublik zum Reich setzte sich vielmehr in veränderter Form fort, wiewohl sich das Verständnis von ,Nation‘ und ,Volk‘ wesentlich transformierte.112 Literaten und progressiv gesonnene ,Publicisten‘ des späten 18. Jahrhunderts, die wie Friedrich Carl Moser mit ihren Schriften den Kreis der Gelehrten und des praktischen Nutzens weit zu überschreiten suchten, argumentierten häufig, wenn sie das Pro und Kontra der Reichsverfassung 110 Zur religiösen Konzeption der drei Stadien seit Joachim von Fiore, die diesem triadischen Schema zumindest sehr verwandt ist: Voegelin, Eric: Die Neue Wissenschaft der Politik, München 2004, S. 122 – 129. 111 O. A.: Teutschland, Deutschland, Teutsches-Reich, in: Zedler, Bd. 43, S. 273 ff. 112 Vgl. Muhlack, Ulrich: Die Germania im deutschen Nationalbewusstsein vor dem 19. Jahrhundert, in: Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, hrsg. v. Herbert Jankuhn/Dieter Timpe, Göttingen 1989, S. 128 – 154; Hirschi: Wettkampf der Nationen, insbesondere S. 389 – 440 und 485 – 488; zum Verhältnis von Gelehrtenrepublik und 18. Jahrhundert: Bosse, Heinrich: Die gelehrte Republik, in: ,Öffentlichkeit‘ im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Wolf Jäger, Göttingen 1997, S. 51 – 76; Eybl, Franz M.: Patriotismusdebatte und Gelehrtenrepublik: Kulturwissenschaftliche Forschungsfelder im Problembereich nationaler Identitätsbildung, in: Das Reich und seine Territorialstaaten im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. Wolfgang Schmale/Harm Klueting, München 2004, S. 149 – 162.

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

abwogen, sowohl synchron als auch diachron nach einer Bonum-durchMalum-Struktur: Der beklagten Spaltung der Konfessionen stand die ansatzweise freie Religionsausübung seit 1648 gegenüber. Der Partikularismus verhinderte zwar eine dauerhafte machtpolitische Einheit und erschwerte ohne Hauptstadt die kulturelle Blüte, bot aber gerade aufgrund der Unmöglichkeit, einen expansiven Krieg von Reichs wegen zu führen, und der Konkurrenz zwischen den Reichsständen die Möglichkeit eines friedlichen Lebens in Europa und Schutz vor Despotismus – sei es auch vielfach durch Flucht, nicht durch ein reichsgerichtliches Urteil. Zudem ermöglichte die föderale Reichsverfassung eine ganz eigene kulturelle Vielfalt, die zur Quelle des (kosmopolitischen) Nationalstolzes schlechthin werden sollte. Die Mängel der Reichsverfassung wurden bei dieser Abwägung genauso benannt wie ihre Qualitäten und Potentiale: Zwar waren die Reichsgerichte strukturell überfordert, die Prozesse langwierig, teuer und mitunter korrupt, doch blieben die Möglichkeit einer Appellation jenseits der territorialen Gerichtsbarkeit und das Ideal von im ganzen Reich gültigen Gesetzen. Mit dem Reich verbanden sich deshalb auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts trotz der evidenten Schwächen noch nationale Hoffnungen. Die ubiquitäre Reichskritik widerspricht dem durchaus nicht. Sie lässt sich vielmehr als charakteristischer Bestandteil der föderalen Identität auffassen, die nur späteren Jahrhunderten paradox erscheint: Zwietracht und Verfall werden beschworen, um das Ziel der Eintracht zu erwirken. Deutschland sei „ein in der Möglichkeit glückliches, in der That selbst aber sehr bedauernswürdiges Volk“113, schrieb der größte Reichspatriot des 18. Jahrhunderts, Friedrich Carl Moser, der, und das ist entscheidend, zugleich der größte Reichskritiker war. „Das Römische Reich ist ein Land, so vor sich selbst besteht, und in dessen Macht ist glückseelig zu seyn wenn es will“, liest man schon bei Gottfried Wilhelm Leibniz beinahe hundert Jahre zuvor.114 Mit dem Aufruf zur Eintracht verband sich in der Reichsre113 Moser: Von dem Deutschen national=Geist, S. 6. 114 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Bedenken welcher Gestalt Securitas publica interna et externa im Reich auf festen Fuß zu stellen, in: ders.: Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe IV: Politische Schriften, Bd. 1: 1667 – 1676, 3. durchgesehene und ergänzte Aufl. Berlin 1983, S. 131 – 214, hier S. 133, § 1. Nicht anders war Johannes Müllers Hoffnung auf den Fürstenbund 1787 von der Überzeugung getragen, dass „wir“ „für alles Gute und Edle […] in der vaterländischen Verfassung“ „die Mittel“ haben, ohne dass er deshalb die offenkundigen Missstände der Reichsverfassung übersah. Müller, Johannes: Darstellung des Fürstenbundes, zweyte verbesserte Aufl. Leipzig 1788, S. 110.

2. Reichsbewusstsein und literaturwissenschaftliches Konzept

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formdiskussion häufig ein Plädoyer für strukturelle Verdichtung und defensive Modernisierung, es zielte aber nur äußerst selten auf einen Nationalstaat im Sinne des 19. Jahrhunderts. Der Wunsch nach nationaler Einheit darf nicht mit der Forderung nach einem nationalen Einheitsstaat verwechselt werden115 – die Appelle zur Eintracht, die Glückseligkeit und Stärke begründen soll, drücken etwas anderes aus. Ein Anagramm aus dem 17. Jahrhundert lautet: Vereinigtes Römisch=Teutsches Reich So es trew einig / schirmet es sich recht.116

Christian Wilhelm von Dohm rechtfertigte den Fürstenbund von 1785 mit der Verteidigung des Gleichgewichts innerhalb der föderalen Reichsverfassung und schmückte seine Schrift mit einem Titelkupfer, auf dem ein Genius abgebildet ist, neben dem ein langer Schild und ein Spieß „der alten Deutschen“ liegen. Der Genius windet Ölzweige um einen Bund Pfeile. Beigegeben ist die Erläuterung: „So wie die zusammengebundenen Pfeile nicht zu zerbrechen sind, so ist das durch Eintracht verbundene Deutschland nicht zu überwinden.“117 Bis in die 1790er-Jahre hielt sich die stolze Überzeugung, „daß Teutschland unüberwindlich“ sei,118 so es in Eintracht zusammenstünde – ein Topos, der sich sowohl in der Literatur als auch in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts findet. Im Spannungsfeld von ,Reichspublicistik‘ und Reichsgeschichte soll in dieser Studie das literarisch-politische Reichsdenken, allgemeiner formu115 Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat, S. 55; ders.: Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation, S. 215. 116 Schottelius, Justus Georg: Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache: Worin enthalten Gemelter dieser HaubtSprache Uhrankunft […], Braunschweig 1663, S. 971. Ein anderes Beispiel wäre Celtis achte Ode aus dem Liber secvndvs carminvm „Ad divam dei genitricem, pro concordia principvm germaniae“: „Diva quae magni genitrix tonantis, / Impera pacem populo furenti, / Ne ruat nostris vitijs gravatus / Theutonus orbis.“ Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und Deutsch, hrsg. v. Wilhelm Kühlmann/Robert Seidel/Hermann Wiegand, Frankfurt a.M. 1997, S. 44. 117 Dohm, Christian Wilhelm von: Ueber den deutschen Fürstenbund, Berlin 1785, Titelblatt und Erklärung des Titelkupfers. 118 O. A.: Teutschland, Deutschland, Teutsches-Reich, S. 294; noch bei Gerhard Anton von Halem, der sich den Defiziten der Reichsverteidigung wohl bewusst war, liest man im Jahre 1790 [!]: „Vor Unterjochung von aussen sichert uns ein Heer von 600,000 geübten Kriegern, die nie übertroffen sind; vor innerer politischer Sklaverei die durch den Fürstenbund befestigte deutsche Reichsverfassung.“ Halem, Gerhard Anton: Hat der Deutsche Ursache, auf seine Nazion stolz zu sein?, in: Neues Deutsches Museum 3 (1790), S. 1204 – 1220, hier S. 1213.

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

liert, das Verhältnis von Literatur und Reichsbewusstsein in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts (ca. 1740 – 1830) untersucht werden – ein Zeitraum, für den sich der Begriff ,Sattelzeit‘ durchgesetzt hat. Dieser Terminus wurde von Reinhart Koselleck – mehr nebenbei, denn definitorisch exakt – als heuristisches Prinzip für die Begriffsgeschichte eingeführt. Die Metapher spielt offenbar auf einen „Bergsattel“119 an und meint das Tal zwischen den beiden ,Bergen‘ der Vormoderne und der Moderne: eine gesellschaftliche Krisenzeit, die von Prozessen wie Verzeitlichung, Demokratisierung, Ideologisierung und Politisierung geprägt sei.120 Odo Marquard griff das Wort ,Sattelzeit‘ auf, um „das Avancement von Geschichtsphilosophie, philosophischer Anthropologie, philosophischer Ästhetik“ gleichermaßen als „Resultat des Zusammenbruchs der Leibniztheodizee“ in dieser Achsenzeit auszuweisen.121 Auch das historische Erzählen spiegelt, so Daniel Fulda, den profunden Transformationsprozess des gesellschaftlichen Wissens und Handelns, den Koselleck wirkmächtig am Wandel des Geschichtsdenkens exemplifiziert hat.122 Nicht minder gilt das für die Vorstellungen von Reich, Staat und Nation: Den topischen Elementen und wiederkehrenden Argumentationsfiguren steht die formale und inhaltliche Verschiebung dieser Begriffe im Laufe des Untersuchungszeitraums gegenüber. Weit mehr als die Vorstellungen vom Alten Reich veränderten sich in dieser Blütephase der deutschen Literaturgeschichte das Konzept von Dichtung und die Selbstauffassung der Dichtergenerationen. Von ,Neuer Dichtung‘ im Kontrast zum ,Alten Reich‘ ist hier die Rede, um auf das Ineinander119 Auf den Bergsattel weist hin: Lützeler, Paul Michael: Hermann Broch. Zweifel als Grundimpuls der Moderne, in: Literarische Moderne: Begriff und Phänomen, hrsg. von Sabina Becker/Helmuth Kiesel, Berlin 2007, S. 227 – 243, hier S. 230. 120 Koselleck, Reinhart: Einleitung, in: GG, Bd. 1, S. XIII–XXVII; Koselleck, Reinhart: Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, in: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 81 – 99, hier S. 82, 91, 95. 121 Marquard, Odo: Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1995, S. 39 – 66, hier S. 47; Riedel, Wolfgang: Die anthropologische Wende: Schillers Modernität, in: Würzburger Schiller-Vorträge 2005, hrsg. v. Jörg Robert, Würzburg 2007, S. 1 – 27. Schiller wird dort als „ein exemplarischer ,Denker der Sattelzeit‘“ (ebd., S. 2) vorgestellt. 122 Vgl. Koselleck, Reinhart: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 38 – 66; Fulda, Daniel: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760 – 1860, Berlin/New York 1996.

2. Reichsbewusstsein und literaturwissenschaftliches Konzept

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greifen von Tradition und Innovation der kulturellen und politischen Konstruktionen anzuspielen. Von Autor zu Autor, von Text zu Text differenzierend ist zu fragen, wie sehr sich Reichsbewusstsein und Kunstauffassung berührten oder einander widersprechend gegenüberstanden, wie sehr die Literaten also die Reichstradition adaptieren bzw. verändern konnten oder in welcher Form sie mit ihr brachen. ,Neue Dichtung‘ meint dabei auch den Aufstieg einer mehrheitlich bürgerlichen Literatur. Deren ambivalentes Verhältnis zum aristokratisch-ständischen Reich innerhalb des genannten Zeitraums zu untersuchen, kann zur näheren Bestimmung dessen beitragen, was unter ,Sattelzeit‘ subsumiert wird. Literarische Texte und programmatische Schriften wichtiger Literaten werden dabei nicht einfach als historische Quellen gelesen, wie es bei einer mentalitätsgeschichtlichen Untersuchung der Fall wäre, sondern ausgehend von ihrer spezifischen rhetorischen und ästhetischen Komposition und ihren jeweiligen Kontexten interpretiert. Damit soll nicht der Versuch gewagt werden, zahlreiche kanonische Texte in ihrem ganzen Umfang neu zu interpretieren, vielmehr soll der Einzelaspekt des Reichsbezugs hermeneutisch rekonstruiert und in einer Kombination aus close reading und Kontextualisierung untersucht werden.123 Dass hier scheinbar eine unzeitgemäße Rückkehr zur nationalen Literaturgeschichte vorgenommen wird, ist nicht programmatisch zu verstehen, sondern thematisch: Die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Reichsbewusstsein kann schlechterdings nicht transnational und transkulturell beantwortet werden. Zugleich fordert eine solche Fragestellung allerdings, dass der Blick vom ,Höhenkamm‘ auf die ,populäre Literatur‘ geweitet wird. Aus pragmatischen Gründen geschieht das innerhalb der Arbeit nur an exemplarischen Stellen, da zur Revision der kanonisierten Lesart eine ausführliche Auseinandersetzung mit den ,großen‘ Autoren nötig ist, deren (Fehl-)Lektüre in der Vergangenheit zur Konstruktion des bisherigen Bildes geführt hat. Der Austausch zwischen Literatur- und neuerer Geschichtswissenschaft ermöglicht es so, große Texte der deutschen Literaturgeschichte jenseits überkommener Fortschrittsnarrative (Aufklärung, Französische Revolution, Nationalstaat und Demokratie) neu zu perspektivieren. 123 Anton Kaes sieht in der engen Verbindung zwischen nationaler Identität und Literatur innerhalb der deutschen Geschichte ein ideales Feld für den interdisziplinären Forschungsansatz des New Historicism: Kaes, Anton: New Historicism and the study of German literature, in: German Quarterly 62 (1989), S. 210 – 219. Zu einem erweiterten diskurstheoretischen Literaturbegriff mit Bezug auf Titzmann und Link vgl. Nünning: Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis, S. 181 ff.

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

Im Zentrum der Arbeit stehen die Werke der ,Weimarer Autoren‘ Wieland, Herder, Schiller und Goethe und in einem Ausblick Texte Eichendorffs und Kleists, doch wird in jedem Kapitel der Blick auf andere Dichter und Denker geweitet. Viele Themen müssen angesichts des großen Zuschnitts der Arbeit unberücksichtigt bleiben oder werden nur an manchen Stellen berührt. Um ein Beispiel zu geben: Je nach regionaler Herkunft, konfessioneller Zugehörigkeit und gesellschaftlichem Stand konturiert sich das Reichsbewusstsein unterschiedlich. Ein protestantischer Reichsgraf wie Julius von Soden schreibt und dichtet anders über das Reich als der katholische Hauptmannssohn Joseph Marius von Babo bzw. ein außerhalb des Reichs aufgewachsener protestantischer Theologe bürgerlicher Herkunft wie Johann Gottfried Herder oder Dichter aus Reichsstädten wie Wieland und Goethe. Die Mehrzahl der hier untersuchten Texte ist allerdings dem im weitesten Sinne bürgerlich-protestantischen Mittelstand zuzurechnen, weshalb eine gesellschaftsspezifische Zuordnung nur in Einzelfällen thematisiert wird. Es geht primär um das in den herangezogenen Texten zum Ausdruck Gebrachte, nicht um eine flächendeckende gesellschaftskritische Studie. Exemplarische Schlaglichter auf die Literatur und ihre Kontexte sollen einem bisher marginalisierten Thema aus dem toten Winkel der Disziplinüberschneidung heraushelfen. Die Arbeit darf und kann deshalb keine Abhandlung über die deutsche Nationalidentität, über Patriotismus und Kosmopolitismus oder über Politik und Gesellschaftskritik in der deutschen Literaturgeschichte um 1800 bieten, vielmehr versucht sie in bewusster Engführung allein den Reichsaspekt aus den ungleich größeren Themenkomplexen herauszudestillieren. Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel und folgt sowohl einem chronologischen als auch einem systematischen Zugriff. Zunächst wird das Reich als Kontext behandelt. In diesem Kapitel geht es weniger um Appelle an die Glieder und Einwohner des Reichs, nicht um politische Reformprogramme oder dichterische Verarbeitungen reichspolitischer und reichsgeschichtlicher Themen, sondern um die Selbstverständlichkeit des Reichsbewusstseins im Leben, Denken und Dichten dieser Zeit. Das Reich war der Kontext, in dem die Reisen vieler Schriftsteller stattfanden und in dem die Biographien vieler Poeten verliefen. Das zeigt die Analyse einschlägiger Reiseberichte wie exemplarisch die ,Reichskarriere‘ Goethes. Dennoch schlug sich das Reichsbewusstsein meist nur implizit in den literarischen Werken nieder, wie die Ausführungen zu Schillers Räuber und zu Jean Pauls Reichsmetaphorik unter Beweis stellen.

2. Reichsbewusstsein und literaturwissenschaftliches Konzept

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Im Kapitel Reich als Text steht das Reich als politische Dimension der Literatur und innerhalb der Literaturprogrammatik von Gottsched und seinem Umkreis bis zum Sturm und Drang im Vordergrund. Das Programm einer genuin deutschen Nationalliteratur wird von der Rezeption ,reichspublicistisch‘ fundierter Schriften begleitet, die auch in einer entsprechend reichspolitischen Nuancierung der Arminiusdichtung des 18. Jahrhunderts ihre Spuren hinterließ. In Herders historiographischem Frühwerk und in Goethes Götz von Berlichingen verschwimmen, folgt man dieser Spur, kulturnationale und reichspolitische Fragen vielfach. Die Rezeption von Schriften ,reichspublicistischer‘ Provenienz konnte freilich auch mit einer explizit kosmopolitisch-aufgeklärten Interpretation der Reichsverfassung und der Reichsgeschichte einhergehen, wie die Analyse der essayistischen und historischen Schriften Wielands und Schillers zeigt. Das dritte Kapitel Literarische Reichsinstitutionen? untersucht das Verhältnis dreier kulturpolitischer Projekte zum Reich. In der Debatte um ein deutsches Nationaltheater ist die Klage über die zersplitterte Verfassung und den Hauptstadtmangel geradezu ein locus communis. Das Verhältnis zur föderalen Nation des Alten Reichs ist jedoch komplizierter. Wielands Teutscher Merkur und Herders Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands (1787) wurden wie die Frage nach einem Nationaltheater häufig zu leichtfertig als Beispiele für die kulturnationale Kompensation der ,deutschen Misere‘ angeführt. Zu zeigen ist, dass die projektierte ,Kulturnation‘ am Ende des 18. Jahrhunderts zwar Defizite ausgleichen sollte, aber meistens nicht einfach gegen, sondern mit der Vielstaatlichkeit des Reichs gedacht wurde: Die kulturnationalen ,Einrichtungen‘ sollten ,literarische Reichsinstitutionen‘ sein. Die Chronologie des zweiten Kapitels wieder aufnehmend, steht im ersten Teil des vierten Kapitels (Wir und nicht Sie) die Rolle des Reichs in der Revolutionswahrnehmung Wielands, Herders und Goethes im Zentrum. In einem zweiten Schritt werden Wielands Verfassungspatriotismus und die literaturprogrammatische Reaktion Schillers und Goethes auf den sich abzeichnenden Reichszerfall seit Mitte der 1790er-Jahre dargestellt. Das fünfte, letzte und zugleich längste Kapitel der Arbeit, Abgesänge und Arbeit am Mythos, widmet sich der Wirkung des Reichszerfalls und des Reichsuntergangs auf die Dichtung. Ausgehend von einem generationenspezifischen Wandel in der Geschichtsauffassung werden unterschiedliche literarische Reaktionsformen auf das Ende des Reichs seit 1795 nachgezeichnet. Wielands Träume mit offenen Augen, Goethes Märchen und Schillers Wilhelm Tell können als brüchige Utopien gedeutet werden, die die Hoffnung auf eine Reichsreform genauso artikulieren wie das

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Einleitung: Literaturgeschichte und Reichsidee

Bewusstsein der Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung. Wielands Aristipp, seine Cicero-Briefe, Schillers Wallenstein, Goethes Dichtung und Wahrheit und sein Faust II präsentieren hingegen ein vorwiegend düsteres Bild der Reichsgeschichte wie ihrer Entwicklungschancen und verbinden diese Resignation mit einem Rückzug aus dem geschichtsphilosophischen Fortschrittsglauben des Aufklärungszeitalters in ein gleichsam geschichtsloses Denken antikphilosophischer Provenienz. Ein Ausblick kontrastiert damit den ,freieren‘ Umgang mit dem Reich im Schreiben der nachfolgenden Generation am Beispiel der Reichsromantik (Novalis, Friedrich Schlegel, Friedrich Gottlob Wetzel, Eichendorff ) und Heinrich von Kleists. Die Generation, die nur die Endphase des Reichs und des alten Europas erlebte, idealisierte oder verjüngte das vergangene Reich entsprechend der politischen Forderungen ihrer Gegenwart und entfernte sich dabei sukzessive von dem 1806 untergegangenen politischen System.

Kapitel 1: Reich als Kontext 1. Reisen in ,Deutschland‘ Seitdem ich außer den Gränzen unsers weiten Reiches bin, ist alles, was auf unser Vaterland Bezug hat, doppelt interessant für mich. In der Fremde vergißt man mehr, daß man ein Rheinländer, ein Sachse, ein Bayer u. s. w. ist, und fühlt dann erst recht, daß man ein Deutscher ist.1

Diese Worte des fiktiven deutschen ,Herausgebers‘ der Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland. An seinen Bruder zu Paris (1783) stammen aus der Feder Johann Kaspar Riesbecks (1764 – 1786). Ein Rezensent nennt die Briefe „immer eins von den wichtigsten Produkten unsers Vaterlandes!“2 Mit den „Gränzen unseres weiten Reiches“ ist zweifelsfrei das Heilige Römische Reich gemeint. Im ersten Brief bekundet der ,Franzose‘ seine Absicht, das ,deutsche Reich‘, das in unzählige „Grafschaften, Baronien, Republiken u. d. gl.“ unterteilt sei, studieren zu wollen. Um dieser unübersehbaren Vielfalt Herr zu werden, erfindet er die Methode, in allen Teilen „Germaniens“ einen „gewissen Mittelpunkt zu wählen“ und diesen mit seiner Umgebung exemplarisch zu schildern.3 Das Unverständnis des ,Franzosen‘ über die verwirrende deutsche Vielstaatlichkeit liegt nicht zuletzt in seiner Herkunft begründet und muss an einer Stelle gar durch eine Fußnote des ,Herausgebers‘ korrigiert werden.4 Wiewohl der Reisende mit Blick auf Frankreich und andere Länder, „wo man in den Hauptstädten, so zu sagen die Nation in einer Nuß beisammen hat“, die deutsche 1

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[Riesbeck, Johann Kaspar]: Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland. An seinen Bruder zu Paris, 2 Bde., zweyte, beträchtlich verbesserte Ausgabe, Zürich 1784, hier Bd. 1, S. 3. Riesbecks Reisebericht wird nach dem Original zitiert, jüngst wurde er neu herausgeben: Riesbeck, Johann Kaspar: Briefe eines reisenden Franzosen, hrsg. v. Heiner Boehncke/Hans Sarkowicz, Berlin 2013. Rezension zu ,Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland‘, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 57, St. 2 (1784), S. 351 – 359, hier S. 359. [Riesbeck]: Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland, Bd. 1, S. 13. „Nebst diesen Städten durchlief ich in sehr kurzer Zeit auch ein Dutzend Fürstenthümer, Grafschaften, Prälaturen, u. d. m., mit deren Namen ich dich nicht schikaniren will.“ Der deutsche Herausgeber fügt hinzu, daß der Franzose hier irre, man ihm aber eben „den Franzosen zu gut halten“ müsse. Ebd., S. 36.

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Kapitel 1: Reich als Kontext

Vielfalt in „Regierungsform, Religion und anderer Dinge“ nicht allein benennt, sondern darüber hinaus feststellt, dass Deutschland durch „kein anderes Band […] als die gemeinschaftliche Sprache“ zusammengehalten werde,5 ist sein Deutschlandbegriff keineswegs der einer reinen Kulturund Sprachnation. ,Vaterland‘, ,Deutschland‘ und ,Heiliges Römisches Reich‘ firmieren immer wieder als Synonyme. Aus Böhmen kommend führt der ,Franzose‘ an späterer Stelle die damals übliche Unterscheidung des weiteren Begriffs ,deutsches Reich‘ von dem ,engeren‘ oder ,eigentlichen Reich‘, Franken und Schwaben, ein: Nun bin ich erst in dem eigentlichen Deutschland. Nur ein kleiner Strich von dem Theil des deutschen Reiches, den ich bisher gesehen, nemlich der nördliche zwischen der Donau und dem Rhein in Schwaben, gehört zu dem alten Germanien, dessen Bewohner den Römern so fürchterlich waren.6

Reich, Landschaft und Geschichte sind verbunden – semiotisierte Gedächtnisorte. Die Einwohner des Alten Reichs werden von dem Herausgeber mit „Landsmann“ und „Landsmännin“ angesprochen.7 Gegen die von Wiener Professoren des „jus publicum von Deutschland“ fälschlich vertretene Auffassung, das Reich sei eine „uneingeschränkteste[] Monarchie“, definiert der Briefeschreiber anderen Gelehrten zustimmend das Reich als „eine Republik […], worinn der Kaiser ohngefähr das Ansehen eines Konsuls oder Diktators“ habe.8 Der große „Einfluß des kaiserlichen Hofes“ auf die Reichsstände am Regensburger Reichstag werde durch „einen Damm“ ausgeglichen, der den Ständen helfe, „ihre Freyheit gegen die innere Vorgewaltigungen sicherzustellen“9. Mit Gabriel Bonnot de Mably10 stellt der ,Franzose‘ deshalb fest: Die Definition der Verfassung des Reichs: ,Sie ist eine durch Gottes Allmacht erhaltene Verwirrung‘ [Fußnote: Est confusio divinitus conservata] gilt in so weit, als man, irriger Weise, das Reich als einen einzigen selbstständigen Staat ansieht; aber betrachtet man es in dem rechten Gesichtspunkt als eine Sammlung vieler freyer Staaten, die sich in ein gewisses System zusammen-

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Ebd., S. 15. Ebd., Bd. 2, S. 3. Ebd., Bd. 1, S. 3 f. und 8. Ebd., S. 250. Ebd., S. 129 f. Mably vergleicht die Entwicklung des Feudalismus Frankreichs mit der des Reichs, L’Abbé de Mably: Observations sur L’Histoire de France, Bd. 2, Genève 1765, Chapitre VI, S. 217 – 235, hier S. 235.

1. Reisen in ,Deutschland‘

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gethan haben, so erblickt man statt der Verwirrung sehr viel Ordnung und anstatt dem blinden Verhängniß viel Klugheit und Vorsicht.11

Die offensichtlichen Schwächen der Reichsverfassung sind nach Ansicht des Reisenden vor allem in der „Eifersucht der größern Häuser“12 zu suchen, nicht notwendig in der politischen Struktur. Durch die französische Brille eines ,Turgotisten‘ und politischen Unitariers gesehen, könnte freilich nur eine größere Verdichtung den Fortschritt der allgemeinen Kultur im Reich beflügeln, sie würde aber – zu weit getrieben – Deutschland auf einen Schlag so mächtig machen, dass das europäische Gleichgewicht in Gefahr stünde.13 Wie das Reich hier und in zahlreichen weiteren Reiseberichten den impliziten politisch-geographischen Rahmen bildet, so kommt ihm auch im ,Weltbild‘ vieler Dichter ein bislang unterschätzter Stellenwert zu. Hans Reiss artikulierte die entscheidende These und das Problem ihrer Beweisbarkeit: „Diese weitreichende Akzeptierung der Existenz des Heiligen Römischen Reichs ist das Bindeglied, das Goethe, Möser und die meisten Aufklärer zusammenfügt.“14 Die Schwierigkeit bestehe nur darin, dass „allgemeine Voraussetzungen […] selten ausdrücklich formuliert [werden]. Nur gelegentlich wird ein Hinweis auf diesen Zustand sichtbar […].“15 Im Fall der föderalen Reichsverfassung gilt das in zugespitzter Form. Wieland formuliert 1786: Glücklich, wenn der Schlummer der Gewohnheit uns nicht gleichgültig, blind und undankbar gegen die größten Wohlthaten unsrer Verfassung gemacht hätte; wenn wir ihrer nicht genössen, wie der Gesundheit, deren hohen Werth man erst fühlt wenn man sie verloren hat!16

Das verfassungsmäßig begründete Reichsbewusstsein ist gleichsam eine sekundär erfahrene, weitaus schwächere, kältere Bindung als die primäre Umgebung. Hier liegt die Pointe der oft in falschem Kontext zitierten Äußerung Wielands aus der Schrift Über deutschen Patriotismus (1793): 11 [Riesbeck]: Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland, Bd. 1, S. 130. 12 Ebd., S. 126. 13 Zu Turgot (durchaus ironisch): ebd., S. 7; zur gesamtdeutschen staatlichen und ökonomischen Einheit: ebd., Bd. 2, S. 410; der ,Franzose‘ votiert auch für die Vereinigung Österreichs mit Bayern: ebd., Bd. 1, S. 169. 14 Reiss, Hans: Goethe, Möser und die Aufklärung. Das Heilige Römische Reich in ,Götz von Berlichingen‘ und ,Egmont‘, in: ders.: Formgestaltung und Politik. Goethe-Studien, Würzburg 1993, S. 143 – 187, hier S. 149. 15 Ebd. 16 Wieland: Zusätze. Deutschland im höchsten Flor (1786), in: GS, Bd. 14, S. 280.

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Kapitel 1: Reich als Kontext

In meiner Kindheit wurde mir zwar viel von allerley Pflichten vorgesagt; aber von der Pflicht, ein Deutscher Patriot zu seyn, war damahls so wenig die Rede, daß ich mich nicht entsinnen kann, das Wort Deutsch (Deutschheit war noch ein völlig unbekanntes Wort) jemahls ehrenhalber nennen gehört zu haben.17

Die Existenz eines deutschen Reichsbewusstseins und eines deutschen Nationalgefühls wollte Wieland damit nicht bestreiten, denn, so fährt er spöttelnd fort, ihm fehlte es später nicht an Gelegenheit, […] das Deutsche Reich, zu welchem (wie ich endlich zu merken anfing) auch meine werthe Vaterstadt gerechnet wird, nach seiner ältesten, spätern, neuern und neuesten Verfassung, und die Deutsche Nazion, nach allem was sich zu ihrem Vortheil und Nachtheil sagen lässt, etwas näher kennen zu lernen.18

Das ist bezeichnend für die Sicht auf das Alte Reich als ,deutsches Vaterland‘. Viele Jahre nach Riesbeck, 1796, inmitten der Koalitionskriege, veröffentlichte auch der Theologe und Prediger Christian Wölfling Briefe eines reisenden Franzosen. Ein Rezensent der Allgemeinen deutschen Bibliothek kritisiert die von Wölfling auf den Nationalstolz zurückgeführte Herleitung der Redensart „unser deutsches Vaterland“ mit dem Hinweis, […] daß dies auch von unserer Staatsverfassung herrühre. In Folge derselben ist unser Vaterland sehr mannichfach, oder wir haben in Deutschland, wenn man sich so ausdrücken darf, mehrere Vaterlande, ein brandenburgisches, ein sächsisches, ein österreichisches, ein bayerisches, u. s. w. Will also ein Deutscher von dem allgemeinen Vaterlande sprechen: so muß er sagen: unser deutsches Vaterland, oder, an das deutsche Publikum, oder, an meine deutschen Landsleute, im Gegensatz der österreichischen oder der brandenburgischen Landsleute.19

Mit dem Widerspruch Wölflings gegen Archenholz’ Italien-Vergleich stimmt der Rezensent hingegen weitgehend überein: „keineswegs“ hätten die Länder „einerley politische Verfassung gemein“, weil Italien zwar, wie Deutschland, aus mehrern großen und kleinen Staaten bestehe; die aber nicht so, wie die Deutschen, durch ein gemeinschaftliches Band zusammengehalten werden. Vielleicht ist dies auch Ursache, warum der Italiener nicht sagt: mein italienisches Vaterland.20

17 Wieland: Über deutschen Patriotismus, in: GS, Bd. 15, S. 587. 18 Ebd. 19 Rezension zu ,Briefe eines reisenden Franzosen über die Deutschen, ihre Verfassung, Sitten und Gebräuche‘, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek 33, St. 2 (1797), S. 475 – 481, hier S. 480. 20 Ebd.

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Immer wieder tauchen in der Literatur um 1800 Begriffe wie das ,besondere‘ und das ,engere‘ gegenüber dem ,gemeinen‘ oder eben ,deutschen‘ Vaterland auf. Aus den multiplen Identitäten dieser Zeit ergibt sich, dass ein Wort wie Vaterland mehrfach besetzt ist. Für die Zeitgenossen bestand dabei offenbar keine größere Schwierigkeit, die einst universale, multiethnische Reichsidee gleichsam in nationale Grenzen einzuziehen. Wölfling unterscheidet in seinem Reisebericht zwischen einem „natürlichen“ oder „Provincial-Patriotismus“ und einem „allgemeinen“ oder „Germanischen Patriotismus“. Zwar käme jeder Deutsche, etwa im Falle der Reichspost, immer wieder mit dem Reich als Rechts- und Privilegienordnung in Kontakt, doch sei die Grundlage für einen „allgemeinen deutschen Patriotismus“ hier nur durch „menschliche[] Gesetze[]“ gegeben und daher gegenüber der primären Bindung an das Geburtsland oder die deutsche Sprache „nur ein schwacher Schatten“, ein „Patriotismus […] von zweyter Hand“.21 Und gerade deshalb gilt: Das Reich ist, trotz aller Mängel und Schwächen seiner maroden Verfassung, der politisch-geographische Erfahrungsraum, der Hintergrund, vor dem die Suche nach einer föderalen Nationalidentität innerhalb der Reiseberichte inszeniert wird. Nur en passant, hervorgerufen durch einen Anlass, tritt das Reich aus dem Schatten der anderen Themen wie der gemeinnützigen Beschreibung von Geographie, ökonomischer und politischer Verhältnisse, von Sitten, Lokalcharakteren, der Reisepraxis sowie der Literatur- und Gelehrtenwelt. Erst die Selbst- oder Fremdbefragung macht das Implizite explizit. Auf diese wenigen Stellen des Reichsbezugs gilt es im Folgenden das Augenmerk zu richten. Die dadurch erfahrbaren Reichsbilder sind freilich alles andere als homogen. Ausschlaggebend ist nicht zuletzt die Herkunft des jeweiligen Verfassers. Die Zugehörigkeit zu ,Nation‘ und ,Reich‘ konfligierte mit den ,Erinnerungsgemeinschaften‘, die sich aus konfessionellen und regionalen Zugehörigkeiten ergaben, ohne sie aber zu unterminieren. Riesbeck war zwar ursprünglich Katholik, doch prägte ihn nicht nur der Reformkatholizismus im Mainzer Kurfürstentum, er stand auch den Illuminaten nahe.22 Sein Deutschlandbild gleicht daher in vielem jenem 21 [Wölfling, Christian]: Briefe eines reisenden Franzosen über die Deutschen, ihre Verfassung, Sitten und Gebräuche, Frankfurt/Leipzig 1796, S. 290 – 293. 22 Vgl. [Pezzel, Johann]: Biographisches Denkmal Riesbeck’s, Verfasser der Briefe eines reisenden Franzosen und anderer Schriften, Kempten 1786, S. 7 f. Riesbeck, der in Mainz zunächst Theologie, dann Jura studierte, versuchte später am Reichshofrat in Wien eine Anstellung zu erlangen. Ebd., S. 14.

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Kapitel 1: Reich als Kontext

protestantischer Schriftsteller, die kühl die ökonomischen, militärischen und politischen Potentiale des zerteilten Reichs dem tatsächlich Erreichten entgegenhielten. Die Sympathie für die aufgeklärten Reformen Josephs II. oder Friedrichs II. entspricht dem genauso wie die Kritik am reichsstädtischen Zunftwesen, an der barocken Formalität der Reichsverfassung und an den verkrusteten Strukturen der katholischen Kirche.23 Während Friedrich Nicolai angesichts der österreichischen Verhältnisse unversöhnlich die sinnliche Depravation des Südens und den Aberglauben geißelt,24 unterstreicht Riesbeck allerdings, dass ein Übel wie die MönchsordenFaulheit nicht in der Konfession, sondern in der Erziehung begründet läge.25 Die Indienstnahme der fingierten Fremdperspektive eines Ausländers bot sich für sein Projekt nationaler Aufklärung besonders an, führte die Beschreibung und Kritik der kulturellen wie politischen Eigenheiten Deutschlands auf diese Weise doch zu einer scheinbar objektiven Darstellung des nationalen Erfahrungsraums, der dabei freilich erst konstruiert wurde. Riesbeck lässt den ,Herausgeber‘ seiner Briefe beteuern, es handle sich um „nichts, als das reine Zeugniß eines Ausländers über den Zustand unsers Vaterlandes“26. Noch dazu seien sie ursprünglich nur für die Lektüre des französischen Bruders gedacht gewesen, also ganz im Modus der Privatheit und Ehrlichkeit geschrieben. Während der ,Herausgeber‘ die Perspektive des deutschen Patrioten vertritt und als solcher zu seinen ,Landsmännern‘ spricht, schreibt der ,Franzose‘ als sachlich-nüchterner Beobachter. Dass es sich bei Reichskritik und Vaterlandsliebe um zwei Seiten derselben Medaille handeln kann, belegt nicht nur die Scham des ,Franzosen‘ angesichts der Kaisergräber zu Speyer, die von französischen Soldaten geplündert worden waren.27 An späterer Stelle schildert er das Fehlen eines Nationalgeists unter den französisch überformten Reichsständen und die daraus entspringenden Folgen – ex negativo ein kaum verhülltes Plädoyer für mehr Reichspatriotismus. Vom Reich als bloßem ,Kontext‘ zum Reich als explizitem Thema (als ,Text‘) ist der Übergang fließend: 23 Z. B.: [Riesbeck]: Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland, Bd. 1, S. 225 f., 235 – 244, 380 – 398; ebd., Bd. 2, S. 286. 24 Vgl. Puchalski, Lucjan: Imaginärer Name Österreich. Der literarische ÖsterreichBegriff an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 109 – 139. 25 [Riesbeck]: Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland, Bd. 2, S. 24 ff.; ebd., Bd. 1, S. 249 f. 26 Ebd., Bd. 1, S. 5. 27 Ebd., Bd. 1, S. 22.

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Der Reichstag zu Regensburg, der einzige Ort, den die zerrissene deutsche Nation als ihren Mittelpunkt und Sammelplatz betrachten kann, und wo die Liebe zur Staatsverfassung, zum Vaterland, und der Nationalstolz die Demosthenen, die Ciceronen, die Burkes und Foxes bilden sollten: dieser Reichstag ist der Tempel des Schlafes, der Fühllosigkeit, der stillen Bestechung, der finstern Rabulisterey, und der stummen Verrätherey.28

Die Reiseberichte des Aufklärungszeitalters, das Beispiel Riesbecks gibt davon Zeugnis, kehrten sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vielfach nach ,innen‘, sie wurden zum Dialog über die deutsche Nationalidentität und dabei zugleich zum kritischen Dialog über das Alte Reich, das der politisch-geographische Raum war, in dem die Reisen stattfanden und in dem die Nation verortet wurde.29 Spätestens seit Johann Georg Keyßlers Neusten Reisen von 1740/1741 gehörten Urteile über die Reichsverfassung anlässlich der zentralen ,Gedächtnisorte‘ wie Regensburg oder Wien zu den impliziten Bestandteilen der innerdeutschen Gattungskonvention. Keyßler

28 Ebd., Bd. 2, S. 157. In seinem letzten Brief betont der ,Franzose‘ ausführlich die ökonomischen und politischen Stärken wie Schwächen Deutschlands. Zum Nationalcharakter heißt es entsprechend: „Der Karakter der Deutschen ist im Ganzen so wenig glänzend, als die Verfassung ihres Reiches. Sie haben nichts von dem Nationalstolz und der Vaterlandsliebe, wodurch sich die Britten, Spanier und unsre Landsleute auszeichnen, so sehr auch ihre Dichter seit einiger Zeit diese Karakterzüge besingen. Ihr Stolz und ihr vaterländisches Gefühl bezieht sich bloß auf den Theil von Deutschland, worinn sie gebohren sind. […] […] Wenn der Karakter der Deutschen nicht das Glänzende andrer Völker hat, so hat er doch seinen guten innern Gehalt. Der Deutsche ist der Mann für die Welt. Er baut sich unter jedem Himmel an, und besiegt alle Hindernisse der Natur. Sein Fleiß ist unüberwindlich. […] Nebst dem Fleiß ist die Redlichkeit immer noch ein allgemeiner Karakterzug der Deutschen. Die Sitten der Landleute und Bürger in den kleinern Städten sind auch noch lange nicht so verdorben, als in Frankreich und andern Ländern.“ [Riesbeck]: Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland, Bd. 2, S. 411 f. 29 Vgl. Echternkamp, Jörg: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770 – 1840), Frankfurt a.M./New York 1998, S. 77 – 82; ebenso die Artikel: Blick auf das Reich: Reisebeschreibungen, in: Ottomeyer/Götzmann: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Bd. 1, S. 98 – 105. Zu Friedrich Nicolai: Jäger, HansWolf: Der reisende Enzyklopäd und seine Kritiker. Friedrich Nicolais ,Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781‘, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 26 (1982), S. 104 – 124, hier S. 112 f.; Martens, Wolfgang: Ein Bürger auf Reisen. Bürgerliche Gesichtspunkte in Nicolais ,Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781‘, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 97 (1978), S. 561 – 585; Puchalski: Imaginärer Name Österreich, S. 109 – 139.

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Kapitel 1: Reich als Kontext

übersah die den Reichsinstitutionen „anklebende Schwachheit“30 nicht, im Gegenteil, er sprach sich aber für die Erhaltung und Verbesserung der Reichsverfassung aus, da „das allgemeine Beste […] des deutschen Staats“31 von ihr bzw. vom Reichstag abhinge. Der weitaus bekannteste Reiseschriftsteller dieses Zeitraums war der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai, seines Zeichens Preuße und Protestant. Seine Reichskritik ist scharf, ja beißend, und der gemeinsame deutsche Vaterlandsbegriff daher auch primär auf die schreibende und lesende Öffentlichkeit, die deutsche Gelehrtenrepublik, gerichtet. Sein zwölfbändiges Werk bezieht sich ausdrücklich auf die Tradition seit Keyßler.32 Er bedauert – nur bedingt zutreffend –, dass noch kein Schriftsteller die Reise in Deutschland zu seinem „Hauptzweck“ erklärt habe.33 Reisen innerhalb Deutschlands würden einen wichtigen Beitrag dafür leisten, dass sich die Deutschen „ertragen und lieben lernen“. Ein Werk wie das seine könne „nützlichste Dienste thun“, indem es die „hauptsächlichsten deutschen Provinzen besonders nach ihrer Verfassung, Religion, Gelehrsamkeit, Industrie und Sitten“ schildere.34 Deutschland bezeichnet Nicolai mehrfach als „unser deutsches Vaterland“35. Er meint damit vornehmlich die Interaktion zwischen ihm und dem deutschsprachigen Publikum. Das politische Reich als deutsches Vaterland wird dahingegen anlassgebunden meist mit negativen Vorzeichen erwähnt. Angesichts einer Führung durch den Regensburger Reichstag schreibt der Berliner: „Dieser Saal machte mir eine ganz besondere Empfindung: Er ist wie das deutsche Reich selbst, alt, weitläufig und verfallen.“36 Grund für die Beschreibung des Reichs mit Metaphern wie Ruine oder baufälligem Haus war nicht zuletzt der auch in diesem Zitat nachwirkende Kontrast zwischen dem neu errichteten prachtvollen Rathaus der Regensburger Bürgerschaft und dem benach30 Keyßler, Johann Georg: Neuste Reisen durch Teutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweiz, Italien und Lothringen, zweyte Abtheilung, neue und vermehrte Aufl. Hannover 1751, S. 1258. 31 Ebd., S. 1441. Ob hier allerdings wirklich „Reichspatriotismus […] zu einem literarischen Programm“ avancierte, wie North meint, ist fraglich, vgl. North: Das Reich als kommunikative Einheit, S. 247. Siehe: Kufeke, Kay: Blicke auf das Reich: Reisebeschreibungen, II.41, in: Ottomeyer/Götzmann: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Bd. 1, S. 101 f. 32 Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, in: GW, Bd. 15, S. VII. 33 Ebd. 34 Ebd., S. VIII. 35 Ebd., Bd. 20, S. XXVI. 36 Ebd., Bd. 15, S. 348 f.

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barten alten Gebäude, in dem das Reich tagte.37 Nach der Besichtigung des Nürnberger Rathauses notiert Nicolai: Am Ende dieses Gangs kommt man in ein nicht eben sehr ansehnliches, und etwas dunkles Zimmer, worinn die Fränkische Kreisversammlung gehalten wird. Doch sieht es noch etwas besser aus, als der Re= und Korrelationssaal und die übrigen Zimmer, wo sich in Regenspurg der Reichstag versammlet. Ein nicht übles Sinnbild der deutschen Reichsverfassung, deren einzelne Theile zwar nicht alle in der besten Verfassung sind, aber doch in besserer Verfassung, als das Ganze.38

Dennoch eliminiert er das Reich nicht aus seinem Deutschlandbild. Meist geht die Kritik an der Reichsverfassung ohnehin in einer Kritik am katholischen Deutschland und seiner angeblich ungezügelten Sinnlichkeit auf.39 Wie Keyßler wünscht er die Aufhebung des Reichstags keineswegs.40 Schon der Titel „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz“ signalisiert, dass ,Deutschland‘ nicht einfach eine Sprachgemeinschaft meint. Implizit ist die als Gelehrtenrepublik adressierte deutsche Leserschaft durch zahlreiche kritische Kommentare über die Verfassung politisch-geographisch an die Grenzen des Heiligen Römischen Reichs rückgebunden. Die ausführlichen Erläuterungen der Reisemöglichkeit mit Reichs- und Extrapost belegen das genauso wie die Tatsache, dass Nicolai etwa den „Fränkischen“ oder „Schwäbischen Kreis“ zur Orientierung heranzitiert.41 Spätere Kritiker, von denen es viele gab, bestätigen das: So bezeichnet ihn der österreichische Dramatiker Lorenz Leopold Haschka als „angemaßten Kunstrichter, und nun auch Inquisitor catholicae pravitatis durch alle Lande des heil. Röm. Reichs deutscher Nation“42.

37 Dazu mit weiteren Beispielen aus Reiseberichten: Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider, S. 249 – 254. 38 Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, in: GW, Bd. 15, S. 212. 39 Ebd., Bd. 15, S. 350: „Man muß gestehen, daß viel weniger dafür gesorgt ist, daß vortrefliche Gesandschaften zum gemeinen Besten des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation sich berathschlagen, als daß sie mit Anstand und Bequemlichkeit schmausen und tanzen können; auch hat für jenes das römische Reich, für dieses aber vortrefliche Gesandtschaften selbst gesorgt.“ 40 Ebd., Bd. 15, S. 392: „Welche Einöde würde Regenspurg seyn, wenn die sämmtlichen Gesandschaften aus der Stadt weg wären!“ 41 Ebd., Bd. 15, S. I; ebd., Bd. 19, S. 138 (neunter Band). 42 Zit. n. Jäger: Der reisende Enzyklopäd und seine Kritiker, S. 118. Kursivierung M. H.

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Kapitel 1: Reich als Kontext

Sogar verhalten positiv schreibt Nicolai über Schwaben, das zusammen mit Franken in einer Tradition, die bis zu Konrad Celtis und weiter zurückreicht, als Herz des Reichs galt: Verschiedene Schriftsteller deuten darauf, daß im Schwäbischen Kreise und in seiner sonderbaren Mischung von kleinen Herrschaften, Prälaturen, Reichsstädten u.s.w. viel von dem Bilde des Mittelalters, von der confusione divinitus consecrata, welche man für das Unterscheidende der deutschen Reichsverfassung selbst hält, übrig sey. Es kann seyn. Aber der unbefangene zutrauliche Charakter der Einwohner Schwabens gibt auch ein lebhaftes Bild der ehemals so allgemein gepriesenen deutschen Treue und Redlichkeit […].43

Die verwirrende Vielfalt der Reichsverfassung und die taciteischen Charaktermerkmale der Deutschen firmieren hier als symbiotische Einheit. Gegen den Anspruch der Wiener, „Hauptstadt Deutschlands“ zu sein, führt Nicolai die politische Vielgestaltigkeit des Reichs an: Das deutsche Reich wählt seinen Kaiser aus freyer Wahl, und daher ist die kleinste Reichsgrafschaft in Ansehung Wiens nicht für Provinz zu achten, wie man sich doch in Wien von den größten deutschen Ländern so oft einbildet.44

In einer Fußnote verweist der Verfasser sogar auf den kolossalen Irrtum österreichischer Gelehrter, „das Staatsrecht des deutschen Reichs als einen Anhang“45 abzuhandeln. Ähnliche auf die politische Welt des Alten Reichs rekurrierende Bemerkungen finden sich in Nicolais Werk mehrfach.46 Selbst bei einem Autor wie ihm, der durchaus nicht im Verdacht steht, dem 43 44 45 46

Nicolai: Beschreibung einer Reise, in: GW, Bd. 19, S. 137 f. Ebd., Bd. 17, S. 210. Ebd. Wie hier das Reich gleichsam vor Österreich und dem Katholizismus geschützt wird, so verwehrt sich der Preuße, als ein anderer Autor behauptet, Friedrich II. sei während des Siebenjährigen Kriegs der Reichsacht verfallen: „Wenn der Verf. nicht in der deutschen Reichsverfassung und Reichsgeschichte gänzlich unwissend wäre, so würde er wissen, daß die Akten des Reichsgerichts, wo der Achtsproceß erhoben ist, an den Reichstag müssen geschickt werden, und daß nicht nur die Kurfürsten, sondern auch die Fürstlichen Häuser und sämmtliche Stände einstimmen müssen. Die Präliminarien in Wien wird niemand, der einen richtigen Begriff von der deutschen Reichsverfassung hat, für eine Achtserklärung ausgeben können. Es ist ja bekannt, daß, als die Sache in Regenspurg vorkam, die Evangelischen in partes giengen und die Achtserklärung nicht einem zum Vortrag gebracht war.“ Nicolai, Friedrich: Anekdoten von König Friedrich II. von Preussen, und von einigen Personen, die um ihn waren nebst Berichtigung einiger schon gedruckten Anekdoten, in: ders.: Gesammelte Werk, Bd. 7, hrsg. v. Bernhard Fabian und MarieLuise Spieckermann, Hildesheim/Zürich/New York 1985, S. 225 (sechstes und letztes Heft 1792).

1. Reisen in ,Deutschland‘

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System des Alten Reichs wohlgesonnen zu sein, lässt sich zeigen, dass das gemeinsame Vaterland der Deutschen neben der kulturellen Semantik einen klaren politischen Bezugspunkt in eben jenem baufälligen ,deutschen Reich‘ besaß, von dem Nicolai gelegentlich auch explizit schrieb. Dennoch dürfte in summa die Rezeption seines Werks für eine gemeinsame Reichsund Nationalidentität – Letztere hatte er sich ja selbst auf die Fahne geschrieben – kontraproduktiv gewesen sein. Die Nation scheint bei ihm allein im politischen und konfessionellen Dissens des Reichssystems vereint, durch Sitten, Charakter, Konfession und Politik jedoch geschieden. Allerdings darf dieses negative Bild nicht verallgemeinert werden. Besonders gilt das für die Zeit der größten und schließlich finalen Reichskrise um 1800. Der oben zitierte Christian Wölfling etwa schreibt als Reichspatriot bewusst gegen jene an, die Deutschland und das Reich in negativen Farben malen. Sein Ziel ist es, das Verbindende in der Vielfalt aufzuzeigen, das also, was „so viele Staaten von verschiedner Art unter einander verbindet, und dadurch aus Deutschland einen einzigen großen Staatskörper schafft“47. Deutschland als Chaos oder „monströse Repubik“48 zu bezeichnen, lehnt er mit Verweis auf das vor Despotismus schützende „Staatssystem“ ab. „Denn nach diesem System kann kein Fürst weniger Despot seyn, als ein Deutscher.“49 Jeder Untertan könne „gegen seinen eigenen Landesherrn seine Zuflucht entweder zu dem Tribunal nehmen, welches seinen Sitz in Wetzlar hat und die Stände unter dem Namen des Reichskammergerichtes repräsentirt, oder zu demjenigen, welches die Kaiser zu gleichem Behuf in Wien errichtet haben und man den Reichshofrath nennt“50. Er spricht von den „Nationalverträge[n]“ und der „Reichsverfassung“, die „der Deutsche für sein Palladium“ halte.51 Die „deutsche Freyheit“ sei jedoch von „Misbräuche[n], Unordnungen und Verbrechen“ korrumpiert, wie es jedoch bei den Rechten und Freiheiten anderer Staaten auch der Fall sei.52 Wohl gesteht er zu, dass zur Sicherheit der Reichsstände die Reichsverfassung allein nicht genüge, sondern es seit Mitte des Jahrhunderts vor allem die Wirkung des „doppelten Gleichgewichtes“53 zwischen Österreich und Brandenburg im Inneren und den 47 48 49 50 51 52 53

[Wölfling]: Briefe eines reisenden Franzosen, S. 4. Ebd., S. 45. Ebd., S. 47. Ebd., S. 49 f. Ebd., S. 50 f. Ebd., S. 51 f. Ebd., S. 54.

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Kapitel 1: Reich als Kontext

europäischen Mächten im Äußeren sei, die das Reich am Leben erhalten. Er spricht sich jedoch für die Bewahrung des status quo aus, welcher der Vielfalt an Kultur und Wissenschaft am förderlichsten sei.54 Ganz ähnlich, aber weniger apologetisch ruht der Blick des bayerischkatholischen Theologen Klemens Alois Baader (1762 – 1838) auf den Institutionen des Alten Reichs, der in seinen Reisen durch verschiedene Gegenden Deutschlandes in Briefen (1795/1796) eine fachmännische, minutiöse Beschreibung der Regionen mit einem katholisch-bayerischen Reichpatriotismus verband. Baaders Reisebeschreibung beginnt als Gegenentwurf zu Riesbecks Briefen eines reisenden Franzosen. Wer einen „ehrlichen Namen“ habe, solle ihn „zum Siegel und Zeugniß“ auch nennen55 – Riesbecks Reisebericht hingegen sprach durch die anonyme Maske eines Franzosen. Baader schreibt dessen Eingangssätze umkehrend „von der Gränze Deutschlands aus“ und widerspricht dem Negativurteil seines Vorgängers vielfach.56 Die „Zerstückung“ Schwabens in „viele gar zu kleine Herrschaften“, mag zwar einige Nachteile mit sich bringen, so konzediert er, „ebenso wahr ists [aber], daß diese Zertheilung auch selbst dem Ganzen wichtige Vortheile verschafft“57. Die Reichsstadt Augsburg erklärt er trotz einiger Kritik ganz im Gegensatz zum gnadenlosen Verriss Riesbecks zu einer der „schönsten und größten Städte unsers deutschen Vaterlandes“58. Immer wieder finden sich detaillierte Angaben zur Kreiseinteilung, Reichsund Lokalgeschichte, zur fruchtbaren Geographie wie zur geistlichen Kunst und Architektur der einzelnen Städte, Klöster und Abteien, keinerlei Spott hingegen über das morsche Reich angesichts des Reichstags zu Regensburg. Die Reichsstadt schildert er als eine Stadt von Welt, von emsiger Betriebsamkeit, umfassender Gelehrsamkeit und achtunggebietender Tradition.59 „Sehr ehrwürdig und wichtig“ erscheinen ihm auch die Reichskleinodien in Nürnberg.60 Die Gelehrtenkultur und literarische Welt Deutschlands benötige die Sicherung des politischen Reichs, schreibt er 54 Ebd., S. 52 – 64 (sechster Brief ); ebd., S. 62: „Was mich betrifft: so bin ich ich [sic] für Deutschland so, wie es in unsern Tagen ist, und ich glaube, daß die Deutschen aus allen Ständen und in jeder Rücksicht dabey gewinnen.“ 55 Baader, Klemens Alois: Reisen durch verschiedene Gegenden Deutschlandes in Briefen, Bd. 1, Augsburg 1795, Einleitung o. S. 56 Ebd., S. 1; eine lange Fußnote zu Riesbeck S. 4 f. 57 Ebd., S. 8. 58 Ebd., S. 73 – 93. 59 Baader, Klemens Alois: Reisen durch verschiedene Gegenden Deutschlandes in Briefen, Bd. 2, Augsburg 1797, S. 373 – 442. 60 Ebd., S. 42.

1. Reisen in ,Deutschland‘

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anlässlich der finanziellen Lage Nürnbergs während des Reichskriegs, dann würden „die goldenen Zeiten des Friedens für Deutschland“ wieder zurückkehren: „Ja, es wäre unklug, für die litterarischen Bedürfnisse zu sorgen, ehe für die physischen und politischen, so, wie es die Pflicht, und der Patriotismus eines deutschen Reichsstandes verlangt, gehörig gesorgt worden ist.“61 Die Briefe sollten „zugleich einen Beytrag zu einem Repertorium über deutsche Länder= und Städtekunde abgeben“62, weshalb Baader ausführlich namhafte Reichshistoriker und Reichsjuristen, Urkunden und Quellenverzeichnisse zitiert. Das Exempel Baaders belegt, wie wichtig es ist, die Gattungsgeschichte der Reisebeschreibungen auch im Kontext der ,Historiographie‘ zu betrachten.63 Entsprechend führt der BüschingSchüler und Geograph Johann Ernst Fabri Reiseberichte neben reichshistorischen und reichsjuristischen Arbeiten als Quellen in seiner Geographie für alle Stände auf. Wie sein Lehrer beschreibt er Deutschland entlang der Reichskreise: Es ist für ihn klar politisch definiert und fällt mit dem Reichsbegriff zusammen: Deutschland wird bisweilen auch genent, das deutsche Reich oder das heilige römische Reich deutscher Nation u. Lateinisch: Germania, Imperium germanicum, sacrum imperium Romano-germanicum.64

Das gilt auch für die wohl kurioseste Reise durch Deutschland aus dieser Zeit: die Reise eines Marsbewohners auf die Erde. Zur Zeit der Wahl und Krönung Leopolds des Zweiten zum teutschen Kaiser 65 von 1791. In dem irgendwo zwischen Reisebeschreibung, theologisch-politischer Abhandlung und Roman stehenden Werk wandert der aus seinem Luftschiff gestiegene Marsbewohner zur Krönungsfeier nach Frankfurt. Gleichsam der 61 Ebd., S. 83. 62 Ebd., S. III. 63 Vgl. Neuber, Wolfgang: Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik, in: Der Reisebericht, hrsg. v. Peter J. Brenner, Frankfurt a.M. 1989, S. 50 – 67, hier S. 55. 64 Fabri, Johann Ernst: Geographie für alle Stände, Bd. 1, Leipzig 1786, S. 374. 65 [Röhling, Johann Christoph]: Reise eines Marsbewohners auf die Erde. Zur Zeit der Wahl und Krönung Leopolds des Zweiten zum teutschen Kaiser, Auf der Erde 1791. Auch unter dem Titel: [Ders.]: Wanderungen eines Unsichtbaren durch einen Theil von Deutschland, etwas zur Beherzigung für Fürsten und Geistlichkeit, Frankfurt 1795. Die Zeitgenossen empfanden das Buch nicht weniger als merkwürdig: „Um einmal die Zeit zu verlesen, kann es allerdings dienen; um sie aber recht nützlich zu gebrauchen, wird man leicht bessere finden.“ So ein Rezensent: Neue allgemeine deutsche Bibliothek 5 (1801), S. 266 – 267, hier S. 267.

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Kapitel 1: Reich als Kontext

irdische Gegenbesuch zu Carl Ignaz Geigers ungleich berühmterer satirischer Utopie Reise eines Erdbewohners in den Mars. Trotz des romanhaften Zuschnitts – der Marsbewohner wird wie Dante von Virgil durch die Unterwelt von seinem ,Wirt‘ durch das Heilige Römische Reich nach Frankfurt geführt – nimmt der Text gattungstypisch Bezug auf andere Reiseberichte und historische Texte.66 Röhling – so der Name des anonymen Verfassers – schildert die Reichsverfassung unter der programmatischen Überschrift „Teutschlands Eigenheiten“67. Der Marsbewohner und sein Wirt halten die Krönungszeremonie gleichermaßen für überflüssig, beide erkennen aber ihre Funktion an: Das Volk hänge „an alten Gewohnheiten und verjährtem Herkommen“, da es „am Sinnlichen klebt“68. Zudem müsse die „Staats= und Regierungsform“ des deutschen Wahlreichs, so erläutert der Wirt dem Fremdling, beibehalten werden, um dem Vorwurf, ausländische Sitten nachzuäffen, wenigstens in dieser Frage zu entgehen.69 „Die ächte [sic] Teutschen werden noch länger das Uebergewicht behaupten, werden sich ihre Eigenheiten, ihre Staatsverfassung, Sprache und Nationalschrift nicht nehmen lassen.“70 In Röhling spricht ein evangelischer Reichspatriot, der für alle gesellschaftlichen Bereiche, insbesondere Religion und Erziehung, Reformen fordert, da „wir Teutsche […] noch lange das nicht [sind], was wir zu seyn scheinen, oder seyn könnten“71. Den politischen Wirren in Frankreich stellt er dennoch klar die Reichstradition entgegen. Am Ende des Texts kommentiert er die Krönungsfeierlichkeiten Kaiser Leopolds II., mit dessen Machtantritt der Verfasser offensichtlich die Hoffnung einer renovatio imperii verband.72 Das Reich jedenfalls war, so legt dieser kurze Blick auf innerdeutsche Reisebeschreibungen nahe, der Erfahrungsraum, der politisch-geographische Kontext, in dem sich sowohl reichskritische als auch reichspatriotische Schriftsteller bewegten.

66 Vgl. z. B.: [Röhling]: Reise eines Marsbewohners, S. 53. Vgl. Geiger, Carl Ignaz: Reise eines Engelländers durch Mannheim, Baiern und Oesterreich nach Wien, Amsterdam 1790. 67 [Röhling]: Reise eines Marsbewohners, S. 129 – 139. 68 Ebd., S. 137. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 138. 71 Ebd., S. 284. 72 Vgl. die Herrscherpanegyrik: [Röhling]: Reise eines Marsbewohners, S. 301 ff.

2. Politische Lebenswelt: Goethes Karriere im Alten Reich

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2. Politische Lebenswelt: Goethes Karriere im Alten Reich Von Reisebeschreibungen zur biographischen Karriere eines Menschen ist es metaphorisch kein großer Schritt: Benedict Anderson arbeitete im Blick auf die ehemaligen Kolonialgebiete Lateinamerikas die Bedeutung von „gemeinsamen ,Reisen‘“ für die Konstruktion nationaler Identitäten heraus. Funktionäre erleben in dem vergleichbaren Lebensweg anderer Funktionäre ein „Verbundensein“, sie teilen ihren biographischen Erwartungshorizont.73 Der Reichspatriot Friedrich Carl Moser beklagt, dass „das Reisen nach Regenspurg und Wetzlar“74 nicht ausreiche, um einen allgemeinen deutschen Nationalgeist zu erzeugen. Damit weist er ex negativo auf einen von der historischen Forschung betonten Aspekt hin: Für die politischen Eliten des Reichs bot die Struktur des juridifizierten Heiligen Römischen Reichs Berufschancen, die dank vergleichbarer Ausbildungsabschnitte und Karrierewege die Herausbildung eines spezifischen Reichsbewusstseins beförderten. Wolfgang Burgdorf schildert die deutsche peregrinatio academica 75 mit den biographischen Stationen: 1. Studium des Reichsstaatsrechts z. B. in Halle, Leipzig, Jena und vor allem in Göttingen, 2. Aufenthalt am Ort der Reichsinstitutionen, dem Reichskammergericht in Wetzlar, dem Reichstag in Regensburg und dem Reichshofrat in Wien, mit dem Ziel, praktisches Wissen über die Funktionsweise der Reichsverfassung zu erwerben. Oft schloss sich daran, 3., in Anlehnung an die adelige Grand Tour, eine Bildungsreise, z. B. nach Italien, an.76 Für kleinere Territorien boten das Studium des Reichsstaatsrechts und die Praktika an den Reichsinstitutionen die Gelegenheit, fehlende Ausbildungsmöglichkeiten für eigene Beamte zu kompensieren, das ius publicum romano-germanicum „paradigmatisch für das Staatsrecht der Territorien“ zu studieren.77 Das Heilige Römische Reich und die bürgerliche Biographie waren daher aus Sicht der Zeitgenossen durchaus keine unversöhnlichen Gegensätze. Goethe berichtet in Dichtung und Wahrheit, dass der bürgerliche Mittelstand über das geistige und insbesondere das juristische „Studienfache“, an dem allgemeinen Wohlstand des Reichs partizipierte, ja sogar bedeutenden politischen Einfluss geltend machen konnte: „Setzte man 73 74 75 76

Anderson: Die Erfindung der Nation, S. 60 ff. Moser: Von dem Deutschen national=Geist, S. 91. Vgl. Burgdorf: Peregrinatio. Dazu allgemein: Grosser, Thomas: Reisen und soziale Eliten. Kavalierstour – Patrizierreise – bürgerliche Bildungsreise, in: Neue Impulse der Reiseforschung, hrsg. v. Michael Maurer, Berlin 1999, S. 135 – 176. 77 Burgdorf: Peregrinatio, S. 24.

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Kapitel 1: Reich als Kontext

doch bei den höchsten Reichsgerichten und auch wohl sonst, der adlichen Bank eine Gelehrten Bank gegenüber […].“78 ,Reiseziele‘ einer reichstypischen bürgerlichen Karriere waren etwa eine höhere Stelle in der Administration oder Justiz eines Territoriums, die Anstellung an einem der Reichsgerichte oder auch die Berufung auf eine Reichsstaatsrechtsprofessur.79 Die synoptische Zusammenstellung der Reichskarrieren der Sturmund-Drang-Schriftsteller zeigt, wie sehr die Lebenswege dieser Generation im Alten Reich verwurzelt waren: Goethe und Stolberg erhielten Ministerposten, Schlosser, Leisewitz, Boie und Goekingk hatten hohe, Gerstenberg, Merck und Bürger zumindest zeitweise „respektable“ Verwaltungsämter inne.80 Die von der Literaturgeschichtsschreibung ausgiebig fortgesponnene Klage über das Elend der deutschen Dichter- und Gelehrtenlebensläufe spiegelt nur eine Facette der Sozial- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts.81 In zahlreichen Dichter-Nobilitierungen manifestiert sich die soziale Mobilität der frühneuzeitlichen Gesellschaft: Wieland bemühte sich zur Kompensation seines fehlenden Doktortitels bereits in seiner Biberacher Zeit um den Ehrentitel eines comes palatinus caesareus. 82 Goethe wurde 1782 von Kaiser Joseph II. in den Reichsadel aufgenommen, ebenso Schiller im Jahr 1802 durch Franz II. Beide waren damit berechtigt, ein entsprechendes Wappen und ein Siegel zu führen und nutzten dies auch in der Praxis.83 Während Ersterer allerdings darauf verwies, dass sich ein 78 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 752. 79 Burgdorf: Peregrinatio, S. 24. 80 Walther, Gerrit: „… uns, denen der Name ,politische Freiheit‘ so süße schallt“: die politischen Erfahrungen und Erwartungen der Sturm und Drang-Generation, in: Sturm und Drang, hrsg. v. Christoph Perels, Frankfurt a.M. 1988, S. 307 – 327, hier S. 316. 81 Wiedemann: Deutsche Klassik und nationale Identität, S. 554 – 558. 82 Er wurde ihm durch den befreundeten Reichsgrafen Friedrich von Stadion verliehen. Vgl. Zaremba, Michael: Christoph Martin Wieland. Aufklärer und Poet. Eine Biographie, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 130 f. 83 Boyle, Nicholas: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit, Bd. 1: 1749 – 1790, 2. Aufl. München 1999, S. 392. Goethes Wappen bestand aus einem silbern eingefassten blauen Schild, in dessen Mitte ein sechseckiger, silberner Morgenstern strahlte, der sich auf dem gekrönten Helm über dem Schild wiederholte. Schillers Wappen bestand aus einem quergeteilten Schild, oben in Gold mit einem silbernen Einhorn, unten in Blau mit einem goldenen Querbalken. Über dem Schild thronte ein Turnierhelm mit Lorbeerkranz und Adelskrone auf dem sich das Einhorn wiederholte. Siehe: Kneschke, Ernst Heinrich: Die Wappen der deutschen freiherrlichen und adeligen Familien: in genauer, vollständiger und allgemein verständ-

2. Politische Lebenswelt: Goethes Karriere im Alten Reich

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Frankfurter Patriziersohn dem Adel immer ebenbürtig gefühlt habe, stand Letzterer seinem neuen Titel mit ironischer Distanz gegenüber.84 Herder hingegen verband mit seiner Nobilitierung ein rein instrumentelles Interesse: Um den Grunderwerb seines Sohnes Adelbert in Pfalzbayern abzusichern, sorgte er für seine Erhebung in den erblichen Indigenatsadel Bayerns durch den Kurfürsten Maximilian Joseph zum 8. Oktober 1801 – übrigens an seinem Weimarer Landesherrn vorbei, weshalb dieser sich möglicherweise zum Ausgleich um die Erhebung Schillers in den Reichsadelsstand bemühte.85 Bei aller Ironie und Distanz zeigt sich darin doch, wie sehr Leben und Alltag der Dichter von der Welt des Alten Reichs bestimmt waren. Wielands und Goethes Lebenswege sind ohne die Existenz des Heiligen Römischen Reichs nicht zu denken. Beide wuchsen in einer Reichsstadt auf, beide studierten Jura und damit auch das Reichsstaatsrecht, und beide traten schließlich in den Weimarer Fürstendienst. Die Reichsverfassung war dabei ihr ständiger Begleiter: Wieland, der sich noch viele Jahre später süffisant „Pfahlbürger des heiligen Reichs“86 nannte, geriet nach der Wahl zum Kanzleiverwalter in seiner bikonfessionellen Heimatstadt Biberach in die Mühlen eines Reichshofratsprozesses, der schließlich zu seinen Gunsten beigelegt wurde.87 Als Vorlage für den

84

85 86

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licher Beschreibung: mit geschichtlichen und urkundlichen Nachweisen, Bd. 1, Leipzig 1855, S. 170 f. bzw. 382 f. Goethe: Gespräche mit Eckermann, 27. September 1827, in: MA, Bd. 19, S. 582; Schiller an Christian Gottlob Voigt d. Ä., 18. Juli 1802, Nr. 175, in: NA, Bd. 31, S. 153: „Es ist freilich keine kleine Aufgabe, aus meinem Lebenslauf etwas heraus zu bringen, was sich zu einem Verdienst um Kaiser und Reich qualifizierte, und Sie haben es vortreflich gemacht sich zulezt an dem Ast der deutschen Sprache fest zu halten.“ Zaremba, Michael: Johann Gottfried Herder. Prediger der Humanität. Eine Biographie, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 230 f. Wieland: Deutschland im höchsten Flor (1780), in: GS, Bd. 14, S. 272. Ein Pfahlbürger war ein außerhalb der Stadtmauern lebender Stadtbürger. Die Verbundenheit zur Heimatstadt bestätigen zahlreiche Briefwechsel aus der Weimarer Zeit, besonders mit dem Bürgermeister Justin Heinrich von Hillern: Wieland an Justin Heinrich von Hillern, 17. Feb. 1783, Nr. 67, in: WBr, Bd. 8,1, S. 82. Von Hillern wendet sich einmal an ihn, in der Hoffnung Wielands Kontakte nach Wien oder Wetzlar könnten einem Jura-Studenten eine gute Stelle besorgen: Wieland an Justin Heinrich von Hillern, 2. August 1782, Nr. 6, in: WBr, Bd. 8,1, S. 23. Springer, Eugen: Christoph Martin Wieland als Kanzleiverwalter in Biberach, in: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte. Neue Folge, XXII, Heft I (1913), S. 363 – 425; mehrere Briefe betreffen den Reichshofratsprozess: Wieland, in: WBr, Bd. 6, 1, S. 199, 214, 237, 239, 241, 244, 320, 332, 351, 359,

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Kapitel 1: Reich als Kontext

,Prozess um des Esels Schatten‘ in dem satirischen Roman Abderiten kann er nicht unbedeutend gewesen sein. Auch später als Professor für Philosophie in Erfurt im Dienste des Kurfürsten von Mainz berührte ihn die Reichsverfassung im Alltag, etwa als Gutachter für die neu zu besetzende Reichsstaatsrechtsprofessur.88 Mit wachen und kritischen Augen verfolgte Wieland das allgemeine politische Geschehen, ganz besonders in seiner Zeit als Fürstenerzieher in Weimar. Davon wird noch zu handeln sein. Goethes Tätigkeit in Weimar bezeugt die gleichsam alltägliche Präsenz des Reichs allerdings ungemein deutlicher. Oft wurde in der Forschung diskutiert, warum er gegen den Wunsch seines Vaters in den Weimarer Fürstendienst trat. Nicholas Boyle und andere vermerkten die starke Opposition zwischen der reichsstädtischen Lebenswelt seines Vaters und dem Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach: Frankfurt und Justus Mösers politische Gedankenwelt stehen auf der einen, das aufgeklärte Fürstentum und „die Zukunft Deutschlands“ auf der anderen Seite.89 Diese Opposition ist offenkundig schief: Justus Mösers Plädoyer für die politische Vielfalt der Reichsverfassung und der Dienst für ein auf diese föderale Struktur angewiesenes Herzogtum – Goethe selbst stilisiert ein Gespräch mit dem jungen Carl August über Mösers Patriotische Phantasien bekanntlich zum Ausgangspunkt seiner Lebenswende90 – sind genauso wenig notwendige Gegensätze, wie sein Fürstendienst der reichsstädtischen Herkunft fundamental widerspricht. Beide Welten, so unterschiedlich eine republikanisch-aristokratische Reichsstadt von einem Herzogtum mittlerer Größe auch sein mochte, gehörten zum Alten Reich. Während Goethe vor den Toren der Republik Venedig die politische Zugehörigkeit zu dem dort unbeliebten Kaiser herunterspielt und sich rühmt, „so gut als ihr“ „Bürger 385, 437 und 586. Die Reichsgerichte spielen im Übrigen in Wielands Briefen noch mehrfach eine Rolle, z. B. als seine Augsburger Schwiegermutter „den leidigen Weg der Appellation nach Wezlar“ im Kampf um ihr Erbteil wählen musste. An Justin Heinrich von Hillern, 17. März 1780, Nr. 306, in: WBr, Bd. 7,1, S. 269. Nach dem Kommentar (ebd., Bd. 7,2, S. 267) handelt es sich um einen Prozess um das Erbteil von Johann Georg Hillenbrand, dem Onkel ihres ersten Ehemanns. 88 Zu Wielands Arbeitsbereich in Erfurt gehörten auch Vorlesungen über die Reichsgeschichte. Vgl. Kiefer, Jürgen: Christoph Martin Wieland als Mitglied des Lehrkörpers der Erfurter Universität und sein Lehrprogramm, in: Wieland-Studien, hrsg. v. Klaus Manger, Biberach, Bd. 3, Sigmaringen 1995, S. 234 – 243, hier S. 238; zur Reichstaatsrechtsprofessur: Wieland an die Kurfürstliche Regierung in Mainz, 18. Aug. 1771, Nr. 336, in: WBr, Bd. 4, S. 336 ff. Kommentar: ebd., Bd. 6,2, S. 879. 89 Boyle: Goethe, Bd. 1, S. 288. 90 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 686 f.

2. Politische Lebenswelt: Goethes Karriere im Alten Reich

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einer Republik“91 zu sein, bekräftigt er in Dichtung und Wahrheit, dass für jeden Frankfurter die Wahl- und Krönungszeremonie der „Gipfel seines Lebens“92 war. Ebenso erinnert er sich in der Campagne in Frankreich an seinen Großvater, wie er „im Ornat als Schultheiß, mit der goldnen Kette, auf dem Thronsessel unter des Kaisers Bildnis“93 saß. Aus diesem scheinbaren Gegensatz erklärt sich, weshalb Goethes Kindheit und Jugend in der Forschung sowohl zur Beglaubigung seines rein reichsstädtischen ,Bürgerstolzes‘ als auch seiner stark ,reichischen‘ Prägung herangezogen werden konnte.94 Dass Reichsstädte über den Weg des Jura-Studiums den Territorialherren häufig das notwendige Personal lieferten, war im 18. Jahrhundert allerdings längst keine Neuheit mehr.95 Stadt- und Reichskarrieren gehörten so gesehen demselben ,System‘ an, und das hieß nicht zuletzt der reichstypischen peregrinatio academica. Die Biographien von Goethes Vorfahren zeigen die enge Verzahnung reichsstädtischer Lebensläufe mit der Struktur des Heiligen Römischen Reichs.96 Johann Caspar Goethe (1710 – 1782) war nach Auskunft seines Sohns „ein gründlicher ja eleganter Jurist“97. Er hatte in Gießen und Leipzig Jura studiert und absolvierte die übliche Laufbahn: Nach dem Praktikum am Reichskammergericht hospitierte er am Immerwährenden Reichstag in Regensburg sowie am kaiserlichen Reichshofrat. Darauf folgte die Kavalierstour nach Italien und Frankreich. Mütterlicherseits muss bereits der Urgroßvater Johann Wolfgang Textor (1638 – 1701) erwähnt werden, der nach Michael Stolleis als Rechtslehrer und ,Reichspublicist‘ ähnliche Positionen vertreten hatte wie Pufendorf.98 Nicht minder ,reichisch‘ geprägt war Goethes angeheirateter Großonkel Johann Michael von Loën (1694 – 1776), dessen ,publicistische‘ Schriften von Hans Reiss in 91 92 93 94

95 96 97 98

Goethe: Italienische Reise, in: MA, Bd. 15, S. 35. Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 24. Goethe: Campagne in Frankreich, in: MA, Bd. 14, S. 443. Mommsen, Wilhelm: Die politischen Anschauungen Goethes, Stuttgart 1948, S. 56; Srbik, Heinrich Ritter von: Goethe und das Reich (dieser Vortrag wurde am 31. Mai 1939 vor der Goethe-Gesellschaft in Weimar gehalten), Leipzig 1940, S. 10 f. Vgl. Press, Volker: Die Reichsstädte im Reich der Frühen Neuzeit, in: Reichsstädte in Franken: Verfassung und Verwaltung, hrsg. v. Rainer A. Müller, München 1987, S. 9 – 27, hier S. 15. Siehe die Zusammenstellung der Lebensläufe: Pausch, Jutta/Pausch, Alfons: Goethes Juristenlaufbahn, Köln 1996, S. 20 – 28; Wohlhaupter, Eugen: Dichterjuristen, Bd. 1, Tübingen 1953, S. 175 – 179; Boyle: Goethe, Bd. 1, S. 59 ff. Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 736. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 1, S. 235.

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Kapitel 1: Reich als Kontext

Beziehung zu Goethes Götz von Berlichingen gesetzt wurden.99 Großvater Johann Wolfgang Textor (1693 – 1771) wiederum hatte in Altdorf Jura studiert und arbeitete nach der Promotion am Reichskammergericht. In Frankfurt erlangte er schließlich alle Spitzenämter, war seit 1743 Wirklicher Kaiserlicher Rat und seit 1747 Stadtschultheiß. Das Leben des späteren Dichters wurde von Beginn an durch dieses Umfeld geprägt, und der Bürgersohn sollte, so erinnert er sich im Alter, nach dem Wunsch der Familie einen ähnlichen Weg einschlagen: „Ferner erzählte er [der Vater] mir, daß ich nach Wetzlar und Regensburg, nicht weniger nach Wien und von da nach Italien gehen sollte […].“100 In eingeschmolzener und unorthodoxer Form fügt sich Goethes tatsächlicher Lebensweg durchaus in dieses ,reichstypische‘ Bild: Angefangen bei dem Jurastudium in Leipzig und Straßburg über seine Advokatentätigkeit in Frankfurt bis zum wichtigsten Bestandteil der peregrinatio academica, dem Aufenthalt am Reichskammergericht in Wetzlar, der durch die Publikation der Leiden des jungen Werthers so große literarische Berühmtheit erlangte.101 Selbst noch Goethes Fürstendienst in Weimar, ja sogar seine ,nachgeholte‘ Italienreise lassen sich aus dem Kontext des ,biographischen Systems Altes Reich‘ heraus deuten – wiewohl nicht zu übersehen ist, dass die Geschichte seines Bildungserlebnisses in Italien in vielem geradezu als Gegenentwurf zum aufklärerisch-bildungsbeflissenen Reisestil etwa seines Vaters zu lesen ist.102 Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach der Goethezeit hingegen wird in einer Tradition, die von Fritz Hartung über Hans Tümmler bis zu Ekkehart Krippendorff reicht, zum Muster- und Modellstaat stilisiert und infolgedessen die Frage nach Goethe und der Politik zu sehr auf die Rolle

99 Vgl. Reiss: Goethe, Möser und die Aufklärung, S. 155; Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 81 f. 100 Ebd., S. 36. 101 Vgl. Burgdorf: Peregrinatio, S. 30. Auch eines der Vorbilder für Die Leiden des jungen Werthers, Jerusalem, war vom Herzog von Brauschweig-Wolfenbüttel zur Vorbereitung auf den höheren Staatsdienst nach Wetzlar geschickt worden. Goethes Wetzlarer Zeit hinterließ große literarische Fußstapfen für die nachfolgenden Praktikanten. Zahlreiche sahen sich in der Nachfolge Werthers – Wetzlar hatte durch die Dominanz der Reichsjuristen vor Ort einen ungeheuren Männerüberschuss – und schrieben eigene ,Wertheriaden‘. Siehe: Burgdorf: Peregrinatio, S. 42 ff. 102 Meier, Albert: Nachwort, in: Johann Caspar Goethe: Reise durch Italien im Jahre 1740 (Viaggio per L’Italia), München 1996, S. 487 – 499.

2. Politische Lebenswelt: Goethes Karriere im Alten Reich

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des „Genies“ neben dem „Fürsten“ Carl August reduziert.103 W. Daniel Wilson stellt dem zum Idealtypus gefrorenen „Frieden des klassischen Weimars“ (Hans Tümmler) den unter der Oberfläche schwelenden Unfrieden gegenüber: Von Bauern- und Studentenunruhen ist hier ebenso die Rede wie von der Unterdrückung oppositioneller Meinungen im Umkreis des Hofes.104 Das von Wilson akribisch untersuchte Quellenmaterial erhält aber seine Zuspitzung und polemische Pointe erst dadurch, dass der Vergleich zu anderen Fürstenstaaten des Reichs unterbleibt und politisch, ja ideologisch aufgeladene Begrifflichkeiten späterer Jahrhunderte unkommentiert in eine Zeit transferiert werden, deren politisches Denken von hieraus nicht verständlich wird.105 Für Ideal- und Zerrbild gilt gleichermaßen, dass zu wenig in den Blick kam, wie sehr die ,regionale Praxis‘ mit dem Alten Reich verbunden blieb.106 Seit dem 11. Juni 1776 nahm Goethe

103 Vgl. Sengle, Friedrich: Das Genie und sein Fürst. Die Geschichte der Lebensgemeinschaft Goethes mit dem Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Ein Beitrag zum Spätfeudalismus und zu einem vernachlässigten Thema der Goethe-Forschung, Stuttgart/Weimar 1993; Hartung, Fritz: Das Großherzogtum Sachsen unter der Regierung Karl Augusts 1775 – 1828, Weimar 1923; Tümmler, Hans: Die Zeit Carl Augusts von Weimar 1775 – 1828. Die Ernestiner, in: Geschichte Thüringens, hrsg. v. Hans Patze/Walter Schlesinger, Bd. 5, 1/2, Köln/ Wien 1984, S. 615 – 672; Krippendorff, Ekkehart: „Wie die Großen mit den Menschen spielen“. Versuch über Goethes Politik, Frankfurt a.M. 1988. Dagegen anschreibend und insgesamt ausgewogener urteilend als W. Daniel Wilson: Rothe, Wolfgang: Der politische Goethe. Dichter und Staatsdiener im deutschen Spätabsolutismus, Göttingen 1998. 104 Wilson, W. Daniel: Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar, 2. Aufl. 1999; ders. (Hrsg.): Goethes Weimar und die Französische Revolution. Dokumente der Krisenjahre, Köln/Weimar/Wien 2004. 105 Goethes Arbeit im Geheimen Consilium erhält durch dessen Kollegialitätsprinzip den Beigeschmack der ,Mittäterschaft‘. Von „Menschenhandel“ und „Bespitzelung“ ist die Rede. Wilsons Kritik ist von Emotionen, nicht von Sachlichkeit geprägt. Dem Material wird immer die anrüchigste Interpretation untergeschoben, und es entsteht das Bild eines katastrophalen Unrechtstaats, der in scharfer Diskrepanz zum humanistischen Ideal der Klassik steht. Vgl. Schings, Hans Jürgen: Der Geheimrat und die Guillotine, in: FAZ, 29. August 2005; Vaget, Hans Rudolf: Der politische Goethe und kein Ende. Zum Stand der Diskussion nach dem Jubiläumsjahr 1999, in: Goethe, Aspekte eines universalen Werkes, Jahresgabe 2005 der Ortsvereinigung Hamburg der Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V., S. 124 – 145. 106 Wegweisend: Schmidt, Georg: Goethe: Politisches Denken und regional orientierte Praxis im Alten Reich, in: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 197 – 212.

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Kapitel 1: Reich als Kontext

an den kollegialen Beratungen des Geheimen Consiliums,107 der obersten Behörde des Doppelherzogtums Weimar-Eisenach, teil. Er gab dort sein Votum ab und war an der Abfassung mehrerer Denkschriften, Konzepte und Reskripte etc. beteiligt, auch übernahm er die Leitung einer ganzen Reihe von sogenannten Immediatkommissionen. Überall stieß der Dichter in seinen politischen Aufgaben auf die Gegenwart der Reichsverfassung und die Grenzen einer herzoglichen Herrschaft im Reich. Um das Bild eines ,Territoriums im Reich‘ ausreichend abzusichern, wären freilich profunde Archivrecherchen nötig, die im Kontext dieser Arbeit nicht zu leisten sind. Auf Basis der wissenschaftlichen Literatur sollen daher nur wenige Beispiele, die Goethe direkt tangierten, angeführt werden. Innerterritorial spielte das Reichsrecht in den Verhandlungen mit den Landständen eine gewichtige Rolle. Carl August scheiterte mit dem zeittypischen absolutistischen Versuch, die landständischen Versammlungen und die selbstständige Kassenverwaltung zu hintertreiben. Der Weimarer Landschaftsausschuss konnte, gestützt auf den Jüngsten Reichsabschied von 1654, seine „altherkömmlichen und selbst Reichsgesezmäsigen Zuständigkeiten“ einfordern und dabei auf die „Verfassung der Landes- oder Landschafts-Caßen im ganzen teutschen Reich“ verweisen.108 Als Fürstlicher Kommissar in den Verhandlungen um die Schuldenübernahme durch die Stände und die damit verbundene Frage nach der Finanzierung des Reichskontingents war Goethe 1783/84 von diesen Reichszusammenhängen gleich doppelt betroffen: Zum einen traf er auf sehr lebendige Landstände, die ihre Rechte auch durch die Reichsverfassung verbürgt sahen, zum anderen war die ,Reichsarmee‘ Gegenstand der Verhandlung.109 Noch eindrücklicher ist die Einwirkung der Reichsgerichte in die Territorien.110 In Sachsen-Coburg-Saalfeld hatte der Reichshofrat 1773 107 Diesem unterstanden die untergeordneten herzoglichen Behörden der Herzogtümer, allen voran die jeweilige „Regierung“ und die jeweilige „Kammer“. Vgl. Tümmler, Hans: Goethe als Staatsmann, Köln/Wien 1975, S. 17 ff. Wilson: Goethes Weimar, S. 11 ff. 108 Zit. n. Ventzke, Marcus: Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach 1775 – 1783. Ein Modellfall aufgeklärter Herrschaft?, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 456. 109 Anders als es die Rede von ,Goethes Finanzreform‘ signalisiert, ging die Initiative zum sogenannten ,Steuerkompromiss‘, wie Marcus Ventzke zeigt, nicht auf den Geheimrat, sondern auf die Stände zurück. Ventzke: Das Herzogtum SachsenWeimar-Eisenach, S. 123. Zur ,Finanzreform‘ siehe S. 118 – 122. 110 Siegrid Westphal bemängelt, dass die Wirkung der Reichsgerichtsbarkeit im thüringischen Raum insgesamt aufgrund des landeshistorischen Fokus nach wie vor unterbelichtet sei, wiewohl ihre grundsätzliche Bedeutung offen zu Tage stünde. Westphal, Siegrid: Der politische Einfluß von Reichsgerichtsbarkeit am

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eine kaiserliche Debitkommission eingesetzt, um das Schuldenproblem des Herzogtums in den Griff zu bekommen – dieses war auch zu Goethes Amtszeit noch Gegenstand der Beratungen im Geheimen Consilium.111 Im Rückblick hielt Goethe lapidar den allgemeinen Missstand fest: „Viele Häuser waren verschuldet und kaiserliche Debit-Kommissionen ernannt; andre fanden sich langsamer oder geschwinder auf demselben Wege […].“112 Trotz des Appellationsprivilegs für den Großteil des Landes – das Amt Illmenau war davon nicht betroffen – stand auch das Herzogtum SachsenWeimar-Eisenach im späten 18. Jahrhundert nicht jenseits der Rechtsordnung des Heiligen Römischen Reichs. Um ein Beispiel zu geben: In Goethes Briefen und den Tag- und Jahresheften von 1795, wie auch in den Briefen seines Weimarer Umfelds taucht immer wieder die ,Kalbsche Sache‘ auf, welche ihn schon allein aufgrund der Freundschaft zu Charlotte von Kalb tief bewegen musste.113 Ihr Schwager Johann August Alexander von Kalb (1747 – 1814) erhob Anspruch auf den Sitz seines 1792 verstorbenen Vaters in der jenaischen Ritterschaft, der ihm aber von den Mitständen durch die manipulative Intervention des Herzogs und der Geheimen Räte verwehrt wurde. Kalb klagte erfolglos gegen sie am Reichshofrat – Goethe war offenbar dem Weimarer Geheimrat Voigt bei der Abfassung einer Stellungnahme für Wien behilflich.114 Prozesse mit nichtadeligen Untertanen fielen im thüringischen Raum insgesamt wenig ins Gewicht,115 dennoch konnten die Weimarer Herrscher

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Beispiel der thüringischen Kleinstaaten (1648 – 1806). Eine Projektskizze, in: Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, hrsg. v. Wolfgang Sellert, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 83 – 109, hier S. 84. AS, Nr. 31, Bd. 1, S. 57 ff.: Consens des Herzogs und seines Bruders zur Regelung der Schulden des Hauses Sachsen-Coburg-Saalfeld, 17./18. Februar 1779. Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 85. Goethe: Tag- und Jahreshefte 1795, in: MA, Bd. 14, S. 47, Kommentar, Bd. 14, S. 635. Dazu die zugespitzte Darstellung Wilsons: Wilson: Goethes Weimar, S. 53 – 56, hier auch die wesentlichen Dokumente, vornehmlich Briefe des Geheimrats Voigt an Herzog Carl August, Nr. 253, S. 401 ff.; Nr. 261, S. 408 ff.; Nr. 267, S. 415 ff.; Nr. 291, S. 444 ff.; Nr. 344, S. 508 f.; Nr. 369, S. 527 ff.; Nr. 375, S. 532 f.; Nr. 481, S. 622; Nr. 484, S. 626 ff. Vgl. Voigt an Herzog Carl August, 30. Jan. 1793, Nr. 369, in: Wilson: Goethes Weimar, S. 527 f.; Voigt an Herzog Carl August, 2. Juli 1793, Nr. 481, in: ebd., S. 622 f. Vgl. Westphal, Siegrid: Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648 – 1806, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 493 ff.

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Kapitel 1: Reich als Kontext

nicht einfach gegen sie durchregieren. Der tragische Fall des Landbaumeisters Johann Gottfried Schlegel bezeugt freilich die beschränkten Erfolgsaussichten bei einer Untertanenklage am Reichshofrat gegen den Weimarer Landesherrn.116 Anders lagen die Dinge im Fall eines 1779 beigelegten Streits am Reichskammergericht mit der Stadt Illmenau, den Goethe über den Bericht seines Schützlings Johann Friedrich Krafft ausführlich dokumentieren ließ – von ihm wird noch im Zusammenhang mit der Komödie Die Aufgeregten zu handeln sein.117 In diesem Kapitel mag ein von Willy Flach ausführlich dokumentierter Prozess als Beispiel genügen, der wie ein Lehrstück der positiven und negativen Leistungsfähigkeit der Reichsverfassung anmutet: der Streit um den Zillbacher Forst.118 Hintergrund waren die komplizierten Teilungsverträge zwischen den ernestinischen und albertinischen Herzögen 1660/1661, die – um den langen und verworrenen Weg abzukürzen – dazu führten, dass Weimar Mitte des 18. Jahrhunderts die Forste bei Zillbach besaß, die zu SachsenMeiningen gehörenden Ämter Wasungen und Sand dort aber noch gewisse Holzrechte beanspruchen konnten, für welche diese wiederum gewisse Frondienste an die Weimarer Herzöge zu leisten hatten. Als Ernst August von Weimar schließlich die Ausfuhr der Holzabgaben an die besagten Ämter verbot, erhob nicht nur Sachsen-Meiningen für seine Untertanen 116 Geheimrat Voigt fühlte sich angesichts der Klage Kalbs an die „Schlegelische Reichshofratssache“ erinnert, die „viel verwundeter“ gewesen sei (Voigt an Herzog Carl August, 30. Jan. 1793, Nr. 369, in: Wilson: Goethes Weimar, S. 527 ff.). Der Landbaumeister Johann Gottfried Schlegel wurde nach dem Schlossbrand vom 6. Mai 1774 zum Sündenbock auserkoren. Unter anderem warf man ihm vor, im Kampf gegen das Feuer die falschen Maßnahmen ergriffen zu haben. Von Kammerpräsident Kalb und dem Geheimen Rat Fritsch bedrängt, floh er nach Leipzig und versuchte von dort, seine Rehabilitierung zu erreichen. Schließlich wandte er sich an den Reichshofrat, blieb aber in dem langwierigen Verfahren, das erst 1789 endete, erfolglos. Vgl. Berger, Joachim: Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach (1739 – 1807). Denk- und Handlungsräume einer ,aufgeklärten‘ Herzogin, Heidelberg 2003, S. 280; Wilson: Goethes Weimar, S. 528 Fußnote 126. Dort der Verweis auf die Akten zu Schlegels Prozess: ThHStAW C 1054 – 1057. 117 Vgl. in dieser Arbeit 4. Kap., 1.3 Politik als Beruf: Goethes literarischer Kampf gegen den politischen Dilettantismus. 118 Für das Folgende vgl. den akribisch recherchierten Aufsatz Willy Flachs. In seinem Anhang finden sich die wichtigsten Dokumente: Flach, Willy: Goethes Mitwirkung beim Zillbacher Holzprozeß, in: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 16 (1954), S. 57 – 110, hier S. 86 – 110. Goethes Beteiligung an den Vorgängen ist auch über die Akten des Geheimen Consiliums dokumentiert: AS, Bd. 1, Nr. 62, Dezember 1780, S. 119 – 123; Nr. 104, 29. Juni 1782, S. 189 f.; Nr. 126, 8. Nov. 1782, S. 217 f.; Nr. 191, 19. Mai 1785, S. 381 f.

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Klage beim Reichshofrat (19. Dezember 1742), die Untertanen des Amtes Wasungen (13. Oktober 1769) mischten sich schließlich auf eigene Faust ein, da sie sich durch einen Rezess der beiden Herzoginnen übervorteilt sahen. Seit 1776 war dieser immer wieder ab- und anschwellende Konflikt Gegenstand der Beratungen des Geheimen Consiliums. Wider alle Erwartungen gelang es den Wasunger Untertanen, am Reichshofrat ein Conclusum zu erwirken (4. August 1780), das sogar die Reichsexekution beinhaltete, um ihnen mit militärischen Mitteln zu dem vom Weimarer Herzog verweigerten Holzrecht zu verhelfen. Die Geheimräte und der Herzog fürchteten ernstlich das Eingreifen der fränkischen Exekutionstruppen119 und setzten reichsjuristisch alle Hebel in Bewegung, um die Annullierung des Reichshofratsurteils herbeizuführen.120 Nach dem Weimarer Geheimrat Schmauß handelte es sich dabei um die „schlimmste aller Streitigkeiten, die dem weimarischen Hause auf dem Halse gelegen“121 sei. Wie Willy Flach bemerkt, zwang der Reichshofrat die Weimarer Herrschaft mit dieser enormen Drohkulisse, von ihrem Prinzip abzugehen und mit einfachen Untertanen in Verhandlung zu treten, um schließlich eine Einigung zu finden.122 Goethe urteilte schon im September 1780: Da der Fehler einmal gemacht ist, und die Unterthanen pars geworden sind, und sich nunmehr so sehr durch das Conclusum begünstigt sehen, wäre es wohl das allernötigste an ihre Consulenten und Häupter einen Weg zu suchen.123

Die Einigung von 1784 zögerte sich noch hinaus, da man feststellte, dass die Verträge – neben der Langwierigkeit des Prozesses ein weiteres Negativum der Reichsstruktur – in unterschiedlichen Maßeinheiten (Henneberger und Eisenacher Maß) formuliert und daher neu verhandelt werden 119 Da die Forste zum fränkischen und nicht wie das restliche Herzogtum SachsenWeimar-Eisenach zum obersächsischen Reichskreis gehörten, beauftragte der Reichshofrat den Bischof von Würzburg und Bamberg, Franz Ludwig von Erthal, sowie den Fürsten von Ansbach-Bayreuth als kreisausschreibende Fürsten mit der Durchführung der Exekution. 120 Man erstellte eine von auswärtigen Gutachtern verfasste „Impossibilitätsbescheinigung“, um die Unmöglichkeit der Holzlieferung zu beweisen, trat mit den kreisausschreibenden Fürsten in Verhandlungen, um die Exekution hinauszuzögern, und wandte sich schließlich mit einem Rekursschreiben an den Reichstag (8. Oktober 1782), mit einem Zirkular an die Reichsstände und mit besonderen Schreiben an die Geheimräte befreundeter Höfe. 121 Zit. n. Flach: Holzprozeß, S. 85. 122 Ebd., S. 80. 123 Brief an Bechtolsheim, 14. September 1780, abgedruckt ebd., S. 87.

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mussten.124 Erst im Mai 1785 konnte Weimar an den Reichshofrat und den Reichstag die Beilegung des Konflikts melden. Mag Wilsons Vorwurf, die Geheimräte und der Herzog hätten versucht, den Untertanen den Weg zu den Reichsgerichten zu versperren, auch insgesamt zutreffen,125 so zeigt doch gerade ein solcher Fall, dass die Rechtsordnung des Alten Reichs zwar durchaus nicht mit einem modernen Rechtsstaat verwechselt werden darf, sie aber doch die Macht des Landesherrn beschränkte. Von lediglich nominellen Banden des Fürstentums Sachsen-Weimar-Eisenach zum Heiligen Römischen Reich kann angesichts der realen Furcht vor einer Reichsexekution schwerlich die Rede sein. Vielmehr noch galt die Abhängigkeit vom Reichsverband natürlich in Fragen der ,großen Politik‘. Seit Hans Tümmler ist das insbesondere mit Blick auf den Fürstenbund immer wieder ausführlich dargelegt worden, sodass ein allgemeiner Hinweis hier genügt.126 Mit dem Fürstenbund wollten sich die kleinen und mittleren Reichsstände in den 1770er- und 1780er-Jahren gegenüber den größeren Mächten eine Stimme verschaffen. Er wurde jedoch bald für preußische Zwecke vereinnahmt. Goethe schätzte die Lage Weimars und der Reichsverfassung im Zeitalter des österreichischpreußischen Dualismus durchaus realistisch ein. In einem Brief an Carl August vom Januar 1779 wägt der Geheimrat pragmatisch die unterschiedlichen Handlungsoptionen ab, getragen von dem Wunsch, weder den „alte[n] Verdacht […] gegen die sächsischen Häuser“ auf österreichischer Seite zu schüren, noch das „gute Verhältniss zum königlich Preusischen Hause“ zu stören. Vor dem Hintergrund des Bayerischen Erbfolgekriegs hält er es für aussichtslos, sich an den Reichstag zu wenden, da man dort „bey gegenwärtigen Umständen nur eine leere Theilnehmung“ erhalten könne. Sinnvoll wäre es zwar im Allgemeinen, durch einen Fürstenbund („eine Verbindung mit wohlgesinnten Mitständen“) den kleineren Reichsständen mehr Gewicht zu verleihen, um die Neutralität zwischen Österreich und Preußen wahren zu können und „die Fürsten des Reichs aus ihrer Untätigkeit zu wecken“, doch werde für den speziellen Fall damit nicht schnell genug mit einem Ergebnis zu rechnen sein.127 Goethe stand dem Fürstenbundprojekt skeptischer gegenüber als der enthusiasti124 AS, Bd. 1, Nr. 163, 28. April 1784, S. 300: Zweifel über die Holzmaße bei Abschluss eines Vergleichs mit Sachsen-Meiningen. 125 Wilson: Goethe-Tabu, S. 91 f. 126 Tümmler, Hans: Carl August von Weimar, Goethes Freund. Eine vorwiegend politische Biographie, Stuttgart 1979, S. 47 – 92. 127 Goethe an Herzog Carl August, Ende Januar 1779, Nr. 777, in: WA, Abt. IV., Bd. 4, S. 3 – 9.

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sche Reichspolitiker Carl August.128 Er war aber in die späteren Verhandlungen mit den benachbarten Fürsten und in die zahlreichen Beratungen des Geheimen Consiliums stark involviert und sprach gegenüber dem Gothaer Minister Sylvius Friedrich Ludwig von Frankenberg die Zuversicht aus, dass „diese Verbindung gewiß Effekt und Epoche in dem deutschen System“129 machen werde. Das Reich, so ist deutlich geworden, war einer der wesentlichen politischen Erfahrungsräume für die Dichter in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Von einer rein abstrakten Größe und einer nur nominellen Existenz zu sprechen, ist angesichts der geradezu alltäglichen Präsenz des Reichs besonders in kleinen und mittleren Territorien sowie in Reichsstädten irreführend. Es verwundert daher wenig, dass auch die Literatur nicht jenseits dieser Welt situiert war.

3. Dichtung auf Reichsgrund? 3.1 Kontextsuggestion: Schillers Räuber und die deutsche Republik 3.1.1 Bausteine eines Mythos: Despot, Rebell, Flucht Ein Beispiel dafür, wie sehr die fehlende Kenntnis des Reichskontexts zur Fehlinterpretation eines literarischen Werks führen kann, das sich gar nicht explizit auf das Reich bezieht, ist Friedrich Schillers Erstlingsdrama Die Räuber (1781). Kaum ein Stück hat mehr zum Mythos des politischen Rebellen Schiller beigetragen – und so sehr zu Unrecht. Die politische Interpretation der Räuber begann bereits im 18. Jahrhundert, man denke an die Jenaer Studenten, die zum Missfallen des außerordentlichen Professors dessen eigenes Drama rezitierend für Unruhe sorgten.130 Von ihrem Missverständnis über den Vormärz bis zur sozialgeschichtlichen Interpretation der 1960er- und 1970er-Jahre ist es kein weiter Weg. Klaus R. Scherpe spricht 1979 von einem „aufs Revolutionäre zielende[n] Stück“, 128 Vgl. Schmidt: Politisches Denken und regionale Praxis, S. 208 f. 129 AS, Bd. 1, Nr. 195, 2. September 1785, S. 390. Vgl. zudem: AS, Bd. 1, Nr. 193, 24. Mai 1785, S. 384 ff.; Nr. 194, 28. August 1785, S. 386 ff. 130 Borchmeyer, Dieter: Die Tragödie vom verlorenen Vater. Der Dramatiker Schiller und die Aufklärung – das Beispiel der ,Räuber‘, in: Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs, hrsg. v. Helmut Brandt, Berlin 1987, S. 160 – 184, hier S. 169. Ries, Klaus: Friedrich Schiller – ein politischer Professor?, in: Der ganze Schiller – Programm ästhetischer Erziehung, hrsg. v. Klaus Manger, Heidelberg 2006, S. 67 – 102, hier S. 84 ff.

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und noch Gert Sautermeister folgt im jüngeren Schiller-Handbuch trotz einiger Distanzsignale dieser Linie, wenn er mit düsteren Farben das Bild einer „verrottete[n] feudalabsolutistische[n] Staatsführung“ malt und in Karl Moors Freiheitspathos einen „Vorklang zur Französischen Revolution“ vernimmt.131 Jürgen Wertheimer sieht in dem Drama noch 2005 eine „Totalabrechnung mit dem System des Feudalabsolutismus deutscher Prägung“132 – und das, obwohl die Forschung längst gezeigt hat, wie schlecht das Drama auf diese Art charakterisiert ist. Schließlich setzt es den Protest gegen die politische Ordnung „gleich wieder der Kritik“ aus.133 Die verkürzte, das Thema der Räuber verfehlende Interpretation einer Revolution avant la lettre und ihre Zählebigkeit erklären sich vor allem aus der Suggestionskraft eines stark verzerrten historischen Kontexts, illustriert von Stichworten wie ,Carl Eugens Despotismus‘, ,Schillers Flucht‘ und dem Mythos vom ,Rebellen Schubart‘.134 Peter-André Alt stellt das Heilige Römische Reich in seiner großen Schiller-Biographie mit den topischen Zitaten Goethes und Pufendorfs als ein „bunt schillerndes Gebilde ohne innere Einheit“ vor, das aus annähernd 300 Einzelstaaten mit „politischer Souveränität“ bestünde. Der Kaiser sei nur „Titularregent“ und werde – sic! – „vom Reichstag gewählt“, der aber

131 Scherpe, Klaus R.: Die Räuber, in: Schillers Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1979, S. 9 – 39; Sautermeister, Gert: Die Räuber. Ein Schauspiel (1781), in: Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v. Matthias Luserke-Jaqui, Stuttgart/Weimar 2005, S. 1 – 45, hier S. 23 und S. 31. Sautermeister spricht dort von der im „Feudalabsolutismus erstarrte[n] Kleinstaaterei Deutschlands“. Sautermeister, Gert: Die Räuber – Generationenkonflikt und Terrorismus, in: Zum Schillerjahr 2009 – Schillers politische Dimension, hrsg. v. Bernd Rill, München 2009, S. 13 – 23, hier S. 13; Johnston schreibt gar, dass Schiller „die dramatische Einkleidung“ als „Vorwand“ benutze, „um jakobinische Freiheitsparolen und andere subversive politische Aussagen auf deutsche Bühnen zu bringen“. Johnston, Otto W.: Schillers politische Welt, in: SchillerHandbuch, hrsg. v. Helmut Koopmann, 2. Aufl. Stuttgart 2011, S. 44 – 69, hier S. 49. 132 Wertheimer, Jürgen: Schillers Spieler und Schurken, Tübingen 2005, S. 52. 133 Hinderer, Walter: Die Räuber, in: Schillers Dramen. Interpretationen, hrsg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 11 – 67, hier S. 18. 134 Vgl. z. B. Johnston: Schillers politische Welt, S. 47 f. Johnston gedenkt selbstverständlich der „Exzesse des Herzogs“ und führt anschließend aus: „Für den jungen Schiller ist Politik vor allem Widerstand gegen die Führung eines Staates, die Unterdrückung und Ausbeutung der Untertanen durch privilegierte Individuen kodifiziert.“

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„funktionslos“ sei.135 Nachdem die Reichsgeschichte so abgetan wurde, lässt sich Carl Eugens Herrschaft trefflich als „unumschränkte[] Willkür“ charakterisieren, geprägt von „sexuellen Ausschweifungen“, Jagd, Maskenbällen, Korruption, Erpressung etc.136 Wenn auch die Verdienste des Herzogs um Kunst und Bildung, der Wechsel seines Regierungsstils nach 1770 vonseiten der Schillerforschung meist pflichtschuldig gewürdigt werden,137 bleibt Württemberg in der Regel doch ein Sinnbild von Absolutismus und Despotismus innerhalb der deutschen ,Kleinstaaterei‘: „Es handelt sich um leibhaftige Erfahrungen mit Tyrannen und einem tyrannischen Staatswesen“138, schreibt Walter Müller-Seidel 2010 über Schillers ,Heimatland‘. Zur Inszenierung der dramatisch-politischen Rebellion des Dichters ist damit die ideale Bühne bereitet. Schillers Flucht spielt dabei eine herausragende Rolle, scheint er damit doch, wie Biographen im 19. Jahrhundert formulierten, „gleichsam ein politischer Flüchtling“139 zu sein – den Häschern des Despoten knapp entkommen. Obligatorisch gehört die Reminiszenz an Christian Friedrich Daniel Schubart dazu. In spannendem Präsens berichtet Rüdiger Safranski: Bei der ersten Ruhepause, nachts um zwei Uhr, zieht Schiller ein Heft ungedruckter Gedichte von Schubart hervor und liest dem Freund bei Kerzenschimmer das Gedicht über die ,Fürstengruft‘ vor, die große Anklage gegen den Tyrannen des Württembergischen Landes, das man soeben hinter sich gelassen hat.140

Es ist wahrscheinlich, dass sich die fliehenden Jünglinge nicht wenig staatstragend gebärdeten. ,Se non e vero, e ben trovato‘, lässt sich daher wohl zu der von dem Helfer und Mitflüchtling Andreas Streicher kolportierten, allerdings erst 1836, im Zeitalter des Vormärz zu Papier gebrachten Anekdote sagen.141 Sie erzeugt allerdings – und hier liegt das 135 Alt, Peter-André: Schiller. Leben – Werk – Zeit, 2 Bde., München 2000, Bd. 1, S. 18 – 20. 136 Ebd., S. 28 f. 137 Zur verschwenderischen Hofhaltung: ebd., S. 34 – 37; zum Stilwechsel nach 1770: ebd., S. 39 f. 138 Müller-Seidel, Walter: Friedrich Schiller und die Politik. „Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe“, München 2009, S. 50. 139 Hofmeister, Karl: Schiller’s Leben, Geistesentwicklung und Werke im Zusammenhang, Bd. 1, Stuttgart 1838, S. 177. 140 Safranski, Rüdiger: Schiller oder die Erfindung des deutschen Idealismus, München/Wien 2004, S. 141. 141 Streicher, Andreas: Schiller’s Flucht von Stuttgart und Aufenthalt in Mannheim von 1782 bis 1785, Stuttgart/Augsburg 1836, S. 82.

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Problem – jene den Kontext verzerrende Suggestion, die sich von Streicher über Hermann Kurz’ Roman Schillers Heimatjahre (1843) bis in die Gegenwart teilweise mehr unbewusst als bewusst fortschrieb, etwa wenn vom deutschem Feudalabsolutismus und der Kleinstaaterei gesprochen wird. Kein Zweifel, Carl Eugen war zum Zeitpunkt von Schillers Flucht aus Stuttgart, 1782, längst kein mächtiger Despot mehr, und das Deutschlandbild dieser Generation ist mit ihm keinesfalls hinlänglich beschrieben. Gewiss fristete der Publizist und Held der jungen Generation Christian Friedrich Daniel Schubart zehn Jahre seines Lebens auf dem Hohenasperg, 1777 bis 1787, und wenige Jahre zuvor inhaftierte der Fürst ebenso willkürlich Johann Jacob Moser, den Konsulenten der württembergischen Landschaft, für fünf Jahre, 1759 bis 1764. Hohenasperg und Hohentwiel wurden deshalb zu Miniaturen der französischen Bastille promoviert, Schubart und mit ihm der fliehende Schiller dementsprechend zu Revolutionären. Beide Beispiele, Schubarts und Mosers Haft, sind allerdings berühmte Extremfälle, die sich wenig eignen, den politischen Kontext der Zeit zu exemplifizieren – das damit begangene Unrecht war auch damals offensichtlich. Zum Bild des Despotismus gehört das Gegenbild des Revoluzzers: je finsterer der eine desto leuchtender der andere. So festigte sich der Mythos vom „genialen Rebellen“ Schubart, der dem Ancien Régime mutig den Kampf ansagte.142 Doch brach er wirklich so fundamental mit dem Deutschland seiner Zeit? Keine Frage, er kritisierte lautstark die despotischen Auswüchse und brandmarkte sie als Unrecht, allen voran die rechtliche Stellung bäuerlicher Schichten, den Soldatenhandel und dergleichen mehr. Er kritisierte aber, so muss präzisiert werden, die Fürsten, nicht das Fürstentum an sich.143 Keineswegs warf er in seinem deutschen Patriotismus das Reich schlicht über Bord.144 „Deutschland“ wird in Schubarts Chronik synonym zu „deutschem Reich“ verwandt.145 An dessen Zukunft glaubte er: „Wenn Deutschland ganz in all seinen Gliedern 142 Schwarzbauer, Franz: Schubart und die Deutsche Chronik. Der Versuch, eine Legende zu revidieren, in: Schwabenspiegel 2 (2003), S. 577 – 587. 143 Warneken, Bernd Jürgen: Schubart. Der unbürgerliche Bürger, Frankfurt a.M. 2009, S. 144. 144 So aber: Kraus, Werner: Nationalgeist und Patriotismus, in: ders.: Aufklärung III: Deutschland und Spanien, Berlin 1996, S. 10 – 27, hier S. 19. 145 Unter der Überschrift „Deutschland“ oder „deutsches Reich“ wird die Reichspolitik besprochen, etwa: Schubart: Chronik 1791. Erstes Halbjahr, S. 269 f.: „Deutschland. Der Reichstag sowohl als das Reichskammergericht, beschäftigt sich jetzt mit ungemein wichtigen Gegenständen.“

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harmonierte, wer würde diesen Riesenkörper nach seiner gegenwärtigen Stärke – nicht umstürzen, sondern nur erschüttern können? […].“146 Seine Vision eines künftigen Deutschlands ist nichts anderes als ein verdichteter Reichsverband mit starkem Nationalgefühl in allen Ständen.147 Der erklärte „Cäsarianer“148 bewundert in seiner Chronik den Kaiser in Wien und freut sich daran, wie dieser von den Reichsfürsten umstrahlt werde, die Millionen Einkünfte und mehr als tausendjähriger Adel schmücke.149 Das ist nichts anderes als Reichsromantik, angewandt auf das gegenwärtige Reich. Ausführlich schildert er in patriotisch-begeistertem Ton die Krönung Leopolds II.150 Ständig hoffte er auf eine umfassende Reform der Reichsgerichte und nahm das Reichskammergericht ausdrücklich vor Angriffen in Schutz.151 Aufgrund „unvorsichtige[r], der deutschen 146 Schubart: Deutsche Chronik auf das Jahr 1774. Zweites Vierteljahr, S. 394. 147 „Aber weine nicht, deutscher Mann, die Löwen erwachen, sie hören das Geschrei des Adlers, seinen Flügelschlag und Schlachtruf. Sie stürzen hervor, wie die Cherusker aus den Wäldern stürzten, reißen abgerissene Länder aus den Armen der Fremden, und unser sind wieder ihre fetten Triften und ihre Traubenhügel. Über ihnen wird sich ein deutscher Kaiserthron erheben und schreckliche Schatten auf die Provinzen seiner Nachbarn werfen. – Leser halte dies Gesicht für keinen prophetischen Traum, ‘s kann wahr werden. Die Zeichen der Zeit sind dieser Vermutung sehr günstig. Schon sind wir an Zahl, Maß und Gewicht allen Nationen überlegen. Bleiben wir einig, wie wir’s jetzt sind, so werden wir bald die erste Nation der Welt sein.“ Schubart: Deutsche Chronik auf das Jahr 1774. Drittes Vierteljahr, S. 418 f. Kursivierung von M. H. 148 „Ich bin kein Hippolit, auch kein Eklektiker, sondern ein wahrer Cäsarianer; seh’s also herzlich gern, wenn sich unser deutscher Kaiser vergrößert, und sich wieder zu Gebirgshöhe seiner großen Väter empor arbeitet.“ Schubart: Deutsche Chronik auf das Jahr 1775. Erstes Vierteljahr, S. 102. 149 Ebd., S. 129. 150 Schubart: Chronik 1790. Zweites Halbjahr, S. 794. 151 „Der Kaiser wird nächstens einen Stein in seine Krone sezen, der gleich dem Morgensterne funkelt. Er will, mit Zuziehung aller Reichsstände die langwürdige Prozeßordnung abkürzen und sie den höchsten beiden Reichsgerichten auf 2 Jahre einschränken. Möcht’ er da auch den stolzen Oligarchen Zaum und Gebis ins Maul legen.“ Schubart: Vaterländische Chronik. Erstes Vierteljahr 1787, S. 362; „Deutschland. Der Reichstag sowohl als das Reichkammergericht, beschäftigt sich jetzt mit ungemein wichtigen Gegenständen. Die Schriften wegen der Beschwerden der deutschen Reichsstände gegen die französische Nazionalversammlung, werden tief beherzigt, und das Reichskammergericht arbeitet sich jezo an einem patriotischen Berichte an die höchste Reichsversammlung – die Verbesserung des Justizwesens betreffend.“ Schubart: Chronik 1791. Erstes Halbjahr 1791, S. 269 f.; „In der Lütticher Sache ist es doch nicht so ganz nach dem Takte der deutschen Reichsgeseze gegangen. Die Oestreicher rükten da ins Land, und schrieben nach Belieben Geseze vor, als wenn die übrigen exequierenden

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Reichsverfassung nicht ganz entsprechende[r] Ausdrücke“152 – gemeint ist seine demokratiefreundliche Berichterstattung über die Französische Revolution – musste er allerdings fürchten, dass der Reichstag seine Zeitschrift verbieten werde. Über einen Mittelsmann warb er deshalb bei dem württembergischen Gesandten am Reichstag in Regensburg um Unterstützung. Trotz aller Kritik an der deutschen Untertänigkeit und ihrem fehlenden Freiheitssinn ist ihm aber durchaus zu glauben, wenn er die „entzückte[] Rührung“ erwähnt, mit der „ich von unserm großen Kaiser wie von der Erhabenen deutschen Reichsversammlung spreche und schreibe, und wie ich an wahrer, inniger Vaterlandsliebe keinem Deutschen weiche“153. Eine Revolution im Reich oder einen deutlichen Bruch mit der Reichsverfassung hat er jedenfalls nie erwogen.154 Offenbar zog er aus der Erfahrung seiner württembergischen Gefangenschaft die Lehre, dass dem widerrechtlichen Despotismus nur durch ,mehr‘ Reichsverfassung, nicht durch ,weniger‘ entgegenzuwirken sei. Insofern ist es nicht so sehr verwunderlich, dass ausgerechnet der Rebell nach der Entlassung jahrelang im Dienst seines Peinigers stand.155

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Reichsmächte alle in eine tödliche Paralyse versunken wären. Dem Kaiserlichen Reichskammergericht wirft man auch in dieser Sache Eigenmächtigkeit vor. Aber wer die äußerst bedächtiche Anhänglichkeit dieser Areopagen an den Buchstaben des Gesezes kennt, der muss lachen über diesen Vorwurf. Sobald ein Landfriedensbruch vorhanden ist; so ist dies erhabene Gericht befugt, zu sprechen, was nach dem Reichskodex recht ist. Daß Preußen sich gegen die Sprüche dieses Gerichts nicht so sehr, als gegen die exsequirenden Oestreicher in Lüttich erhob, hat seinen tiefen Grund.“ Ebd., S. 110 f. Schubart an Unbekannt [offenbar aber ein Adliger, der dem württembergischen Gesandten Freiherrn von Seckendorf nahestand], 1. März 1791, Nr. 196, in: Schubart, Christian Daniel Friedrich: Briefe, hrsg. v. Ursula Wertheim/Hans Böhm, München 1984, S. 325. Ebd. „Kein Land in der Welt hat bessere Fürsten, mildere Obrigkeiten (ich sag es mit Überzeugung, und nicht als kriechender Schmeichler) als Deutschland. Sie werden also eure Klagen hören, wenn sie gerecht sind.“ Schubart: Chronik 1790. Zweites Halbjahr, S. 613. Er spricht das unter dem bezeichnenden Titel „Warnung“ aus, gerichtet an die „deutschen Brüder, die ich inniger liebe, als mein Leben“. „Gottes Segen macht unser Vaterland zu einem Paradiese.“ Ebd., S. 612. Man darf auch nicht vergessen, dass weder bei den Reaktionen auf Schillers Räuber noch bei Schubarts Inhaftierung Politik im modernen Sinne des Wortes die entscheidende Rolle spielte. Wichtiger waren die Angriffe auf Religion, Moral und Sittlichkeit. Schubart sollte während seiner Gefangenschaft geradezu ein Umerziehungsprogramm zum wahren Christen durchmachen – den Despotismus Carl Eugens mildert das freilich nicht. Vgl. Warneken: Schubart, S. 229 – 328, hier S. 262.

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Während Schubart seine Freiheit nur auf Druck Preußens zurückerhalten hatte, war das Schicksal Johann Jacob Mosers eng an die Reichsgeschichte gekoppelt.156 Für ihn setzte sich nach Klage der Landstände der Reichshofrat ein. Carl Eugen war ein katholischer Herzog in einem protestantischen Land mit starken Landständen. Seit 1752 ermöglichte ihm der Subsidienvertrag mit Frankreich größere Unabhängigkeit. Nicht zuletzt deshalb waren der berüchtigte Schlösserbau und die Mätressenwirtschaft möglich. Im Streit um die Teilnahme des Herzogtums am Siebenjährigen Krieg eskalierte der Konflikt. Moser, der berühmte Reichsjurist und Vertreter der Landstände gegenüber dem Herzog, wurde gefangen genommen. Die Klage der Landstände in Wien war zwar umgehend erfolgreich, das Conclusum fiel eindeutig in ihrem Sinne aus, doch blieb das Urteil noch lange Zeit aus, ja es wurde zum Politikum. Sowohl der konfessionelle Streit im Reich als auch der Dualismus zwischen Österreich und Preußen kochte über die Entscheidung hoch. Am Ende standen die Freilassung Mosers und die vertragliche Absicherung der Rechte und Privilegien aller württembergischen Stände, die allerdings dafür Teile der Schulden des Herzogs übernehmen mussten. Zum einen zeigt sich hier die „Renaissance der Landstände“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.157 Sie wäre ohne die Reichsverfassung nicht möglich gewesen, welche die Macht des Fürsten beschränkte. Zum anderen aber wird auch deutlich, wie weit die Reichsverfassung noch von einer sicheren Rechtsordnung entfernt war, denn letztlich entschied nicht das Recht, das es durchaus gab, sondern die Konjunktur der österreichischpreußischen Rivalität über die Realisierung des Reichshofratsgutachtens.158

156 Vgl. Gestrich, Andreas: Johann Jacob Moser. Als politischer Gefangener, in: Johann Jacob Moser. Südwestdeutsche Persönlichkeiten. Politiker, Pietist, Publizist, hrsg. v. Andreas Gestrich/Rainer Lächele, Karlsruhe 2002, S. 41 – 56. 157 Vgl. Aretin: Das Reich. Friedensgarantie und europäisches Gleichgewicht 1648 – 1806, S. 35 ff.; Neugebauer, Wolfgang: Landstände im Heiligen Römischen Reich an der Schwelle der Moderne. Zum Problem von Kontinuität und Diskontinuität um 1800, in: Reich oder Nation? Mitteleuropa 1780 – 1815, hrsg. v. Heinz Duchhardt/Andreas Kunz, Mainz 1998, S. 51 – 86, hier S. 57. 158 Haug-Moritz, Gabriele: Die Behandlung des Württembergischen Ständekonflikts unter Herzog Carl Eugen durch den Reichshofrat (1763/64 – 1768/1770), in: Die politische Funktion des Reichskammergerichts, hrsg. v. Bernhard Diestelkamp, Köln/Weimar/Wien 1993, S. 105 – 132. Dieses Beispiel wird in der Reichsforschung häufig für die Funktionsfähigkeit der Reichsverfassung und den verhinderten Absolutismus heranzitiert: Aretin: Das Alte Reich, Bd. 3, S. 162 ff.; Vierhaus, Rudolf: Deutschland im Zeitalter des Absolutismus, 2. durchg. u. ergänz.

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Kein Wunder, dass Johann Jacob Moser engagiert für die Stärkung der Reichsverfassung warb und nicht für ihre Aufhebung.159 Und Schillers Flucht? Jedenfalls war sie keine ,politische Flucht‘, wie es die Kontextsuggestion von Carl Eugens Despotismus und Schubarts Rebellion will. Dennoch behält Schillers Tyrannenerfahrung authentischen Charakter. Mehrfach spricht er von „Herodes“ und „Despot“160, meint damit aber seine Erfahrungen der Militärakademie – sie, nicht die Verfassung Württembergs als pars pro toto eines Fürstentums im Alten Reich, sind der Grundstock seines Tyrannenhasses.161 Schillers Eltern gaben den Sohn erst auf Druck des Herzogs in die Obhut der fürstlichen Kaderschmiede. Ein Epigramm, das seit David Friedrich Strauß gerne Schubart zugeschrieben wird, wiewohl es aus der Feder Leopold Friedrich Günther von Goeckingks stammt, erläutert satirisch die Rolle der Karlsschule für Carl Eugen nach der reichspolitischen Niederlage von 1770 – zugleich das Gründungsjahr der Hohen Karlsschule: Als Dionys von Syrakus Tyrann zu sein Aufhören mußte, ward er ein Schulmeisterlein.162

Schillers Flucht war eine Flucht vor dem Militärdienst und den damit verbundenen Pflichten, die der erwünschten Dichterexistenz widersprachen. Der Regimentsmedikus desertierte. Eine Rückkehr stand ihm im

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Aufl. Göttingen 1984, S. 131 ff.; Demel, Walter: Reich, Reformen und sozialer Wandel 1763 – 1806, Stuttgart 2005, S. 210 f. Mit dem Reichspatriotismus Johann Jacob Mosers formuliert, der sich dem Unterschied zwischen Rechtsnorm und Realität wohl bewusst war und daher von dem spricht, „was geschehen solle“: „Probiere es ein solcher Fürst, Prälat, oder Graf, schreibe Steuern aus so vil er will, halte Soldaten nach Gefallen, usw. und lasse es zur Klage an einem höchsten Reichsgericht kommen, man wird ihm bald nachdrücklich zeigen, daß und wie eingeschränckt seine Landes=hoheit seye.“ Moser, Johann Jacob: Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 13: Von den Teutschen ReichsStände Landen, deren Landstände, Unterthanen, Landes-Freyheiten, Beschwerden, Schulden und Zusammenkünfften. […], Stuttgart 1769, S. 1147 f. Z. B. Schiller an Christian Gottfried Körner, 10. Dezember 1793, Nr. 212, in: NA, Bd. 26, S. 336: „Der Tod des alten Herodes hat weder auf mich noch auf meine Familie Einfluß, außer daß es allen Menschen, die unmittelbar mit dem Herrn zu thun hatten, wie mein Vater, sehr wohl ist, jetzt einen Menschen vor sich zu haben.“ Vgl. den kreativen Text: Kittler, Friedrich A.: Schiller: Archäologie der Psychologie des bürgerlichen Dramas, in: ders.: Dichter, Mutter, Kind, München 1993, S. 47 – 103. Zit. n. Warneken: Schubart, S. 246 f. Hier wird auch die Verfasserfrage diskutiert.

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Übrigen offen, da ihm der Herzog Amnestie versprach,163 doch wäre sein Unbehagen nicht beseitigt worden – im Kern ging es bei dem Konflikt nicht um Kritik an Staat und Recht, sondern um die Entscheidung für einen von der ursprünglichen Bahn abweichenden Lebenslauf. 3.1.2 Karl Moors ,deutsche Republik‘ Schillers Die Räuber beziehen sich nicht direkt auf das Heilige Römische Reich. Seine Rechtsordnung steht jedoch im Hintergrund und bestärkt das Bewusstsein, dass Despotie ein Bruch mit bestehendem Recht sei. Absolutismus, in der Forschung zu den Räubern gerne synonym verstanden mit dem Ancien Régime in Deutschland, ist in diesem Sinne nicht als alte, sondern als neue Ordnung zu sehen, welche die alte, rechtmäßige verletzt. Für das Verständnis von Gesetz und Ordnung in den Räubern ist das von essentieller Bedeutung. Recht versus Unrecht sind die politischen Kategorien, entlang derer die Gegenwartskritik in Schillers frühen Dramen zu ermitteln ist, nicht Revolution versus alte Ordnung. Erst jüngst schrieb Walter Müller-Seidel ganz anders, Karl Moor „denkt an eine deutsche Republik, an eine Republik in Deutschland, ehe es fast anderthalb Jahrhunderte später eine solche auf deutschem Boden geben wird“164. Hauptreferenz für ihn wie für alle revolutionsaffinen Auslegungen ist das berühmte Zitat des Dramenhelden aus I,2: Nein, ich mag nicht daran denken. Ich soll meinen Leib pressen in eine Schnürbrust und meinen Willen schnüren in Gesetze. Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus. Sie verpalisadieren sich ins Bauchfell eines Tyrannen, hofieren der Laune seines Magens und lassen sich klemmen von seinen Winden. – Ah! daß der Geist Hermanns noch in der Asche glimmte! – Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen. (Er wirft den Degen auf den Tisch und steht auf ).165

Von diesem Zitat auf Schillers politische Visionen zu schließen, hält keiner genaueren Betrachtung stand. Die drei politischen Aspekte – die Gesetzeskritik, der Tyrannenhass und das Plädoyer für eine Republik – lassen

163 Vgl. Alt: Schiller, Bd. 1, S. 302 – 309. 164 Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik, S. 80. 165 Schiller: Die Räuber, in: MA, Bd. 1, S. 504. Die Absatzeinteilung von M. H.

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sich getrennt voneinander besprechen und ins Verhältnis zum Reichskontext setzen: 1. Die Gesetzeskritik: Hier spricht ein überschießendes Ich, das sich nicht in die Mühlen gesellschaftlicher Ordnung geben will, würden darin doch Kraft, Geist und Leben erstickt. Einem ähnlichen Lebensgefühl verleiht Jakob Michael Reinhold Lenz in seiner Schrift Über Götz von Berlichingen Ausdruck, wenn er die Gesellschaft als ein Getriebe auffasst, in welchem die Menschen am Ende ihres sinnlosen Lebenswegs Platz für ein neues „Rad“ machen müssen. Eine Kritik, die sich gegen ein beengtes und gewöhnliches Leben richtet, egal in welcher Staatsordnung. Lenz spricht von der „Lücke in der Republik“, in die man hineingestoßen werde – Republik in der ganz allgemeinen Bedeutung von res publica. 166 Die Dialoge der Räuber in derselben Szene illustrieren das Gefühl dieses Ungenügens durch ihren emphatischen Aktionismus: Angesichts des drohenden Schuldenturms offenbaren sie sich ihre Pläne, Grimm fasst die Optionen zusammen: „Pietisten – Quacksalber – Rezensenten und Jauner. Wer am meisten bietet, der hat mich. Nimm diese Hand, Moritz!“167 Spielberg geht es um Größe, nicht um eine neue politische Ordnung: „Zu Helden, sag ich dir, zu Freiherrn, zu Fürsten, zu Göttern wirds euch machen!“168 Einzig Roller besänftigt die überschießende Bande, freilich mit einem gänzlich unrevolutionären Realismus: „Sachte nur! Sachte! wohin? das Tier muß auch seinen Kopf haben, Kinder. […] Auch die Freiheit muß ihren Herrn haben. Ohne Oberhaupt ging Rom und Sparta zugrunde.“169 Möchte man in all dem kein Plädoyer Schillers für Anarchie entdecken, wird daraus keine politische Stellungnahme zu machen sein. In seiner Vorrede heißt es: „Falsche Begriffe von Tätigkeit und Einfluß, Fülle von Kraft, die alle Gesetze übersprudelt, mußten sich natürlicherweise an bürgerlichen Verhältnissen zerschlagen […].“170 2. Der Tyrannenhass: Despotismuskritik ist im 18. Jahrhundert in Literatur und Publizistik, man denke an Friedrich Carl Moser, nicht zuletzt angefeuert durch die Montesquieu-Rezeption topisch.171 Sie ist nicht gegen die bestehende Ordnung per se, sondern gegen Rechtsbrüche im Rahmen 166 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Über Götz von Berlichingen, in: ders.: Werke in drei Bänden, hrsg. v. Sigrid Damm, Leipzig 1987, Bd. 2, S. 637 – 641, hier S. 637. 167 Schiller: Die Räuber, in: MA, Bd. 1, S. 513. 168 Ebd., S. 509. 169 Ebd., S. 513. 170 Schiller: Vorrede zur ersten Auflage, in: MA, Bd. 1, S. 486. 171 Kiesel, Helmuth: „Bei Hof bei Höll“. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von S. Brant bis F. Schiller, Tübingen 1979. Zu Moser: ebd., S. 207 – 220.

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des Bestehenden gerichtet. Karl Moors Verbrechen folgen bekanntlich in Robin-Hood-Manier einem profunden Rechtsgefühl. Er frönt keinem hedonistischen Anarchismus wie Spielberg, „er mordet nicht um des Raubes willen wie wir“, sagt Razmann, aber soll er dir einen Landjunker schröpfen, der seine Bauren wie das Vieh abschindet, oder einen Schurken mit goldnen Borten unter den Hammer kriegen, der die Gesetze falschmünzt, und das Auge der Gerechtigkeit übersilbert, oder sonst ein Herrchen von dem Gelichter – Kerl! Da ist er dir in seinem Element, und haust teufelmäßig […].172

Karl Moor kämpft nicht für eine neue Ordnung. Die Genannten sind Gesetzesbrecher nach damals geltendem Recht („Gesetze falschmünzt“, „Gerechtigkeit übersilbert“), und für eine Verbesserung der bäuerlichen Lebensgrundlage plädierten nicht nur ,Reichspublicisten‘ und Physiokraten, in großen Teilen Deutschlands wurde sie, gefördert von aufgeklärten Herrschern, zunehmend Realität. Ein Topos der aufklärerischen Öffentlichkeit also und kein Rebellionsprogramm. Karl Moors Tragik besteht nun bekanntlich darin, für Recht durch Rechtsbruch zu sorgen. Diesen Rubikon markiert Schiller deutlich: „Mein Geist dürstet nach Taten, mein Atem nach Freiheit, – Mörder, Räuber! – mit diesem Wort war das Gesetz unter meine Füße gerollt […].“173 Die Räuber setzen die „männlichen Rechte“174 gegen die bürgerlichen und sich damit selbst ins – vor allem – sittliche Unrecht (Mord). 3. Das Plädoyer für eine deutsche Republik: Das Wort ,Republik‘ darf nicht unbesehen als politisches Programm gelesen werden. Republik ist für Schiller vieles:175 Zum einen handelt es sich in der Tat um einen politischen Begriff. Die Schweizer Eidgenossen, die vereinigten Niederlande und England sind für ihn ,Republiken‘, ebenso die italienischen Stadtstaaten. Die böhmischen Stände im Dreißigjährigen Krieg gründen in ihrem Aufstand aber genauso „eine Art von Republik“176. Selbst das monarchische Ungarn hat für Schiller dank seiner starken Stände, die ihren König wählen, eine „republikanische Verfassung“177. Seine wohl republikanischsten 172 173 174 175

Schiller: Die Räuber, in: MA, Bd. 1, S. 541. Ebd., S. 515. Ebd., S. 516. Mager, Wolfgang: Artikel „Republik“, in: GG, Bd. 5, 549 – 651, hier S. 580 ff. Speziell zu Schiller: Schmidt, Alexander: Athen oder Sparta? Friedrich Schiller und der Republikanismus, in: Der ganze Schiller. Programm ästhetischer Erziehung, hrsg. v. Klaus Manger, Heidelberg 2006, S. 103 – 130. 176 Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: MA, Bd. 4, S. 393. 177 Ebd., S. 415.

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Dramen, der Fiesco und der Don Karlos, spiegeln dieses weite Feld der Bedeutung wider: Man denke an die Republik Genua unter dem guten „Herzog“ Andrea Doria, der trotz seiner monarchischen Regierungsweise ein Republikaner ist,178 und an die Forderungen des Marquis Posa. Zweifellos ist Posa „ein Bürger derer, welche kommen werden“179, und, wie Hans-Jürgen Schings gezeigt hat, von dem konservativen Egmont Goethes durch die Nähe zu den Illuminaten grundverschieden.180 Doch sind die berühmte Forderung von „Gedankenfreiheit“ und die Weigerung, „Fürstendiener“ zu sein, keine Aussagen über die Staatsform.181 In den Briefen über Don Karlos spricht Schiller von Posas „Ideal republikanischer Freiheit“ und zitiert die Gestalt seines „geträumten Staat[es]“, wie sie der Freiheitsheld auffordernd dem Despoten Philipp von Mensch zu Mensch entgegenruft: Stellen Sie der Menschheit verlorenen Adel wieder her. Der Bürger sei wiederum, was er zuvor gewesen, Der Krone Zweck, ihn binde keine Pflicht als seiner Brüder gleichehrwürdige Rechte. Der Landmann rühme sich des Pflugs und gönne dem König, der nicht Landmann ist, die Krone.182

Das Königtum widerspricht der republikanischen Freiheit Posas nicht, beides nennt er in einem Atemzug. Historisch ist das durchaus nicht abwegig: Die Utrechter Union suchte nach ihrem Abfall von Spanien verzweifelt nach einem europäischen Haus, das sich zum König/Königin hätte wählen lassen, blieb darin aber erfolglos. Posas Worte „Geben Sie, / Was Sie 178 So: Ebert, Udo: Schiller und das Recht, in: Schiller im Gespräch der Wissenschaften, hrsg. v. Klaus Manger/Gottfried Willems, Heidelberg 2005, S. 139 – 169, hier S. 161. 179 Schiller: Don Karlos, in: MA, Bd. 2, S. 121. 180 Schings, Hans-Jürgen: Freiheit in der Geschichte. Egmont und Marquis Posa im Vergleich, in: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 60 – 76; Schings, Hans-Jürgen: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten, Tübingen 1996, insbesondere S. 101 – 129. 181 Schiller: Don Karlos, in: MA, Bd. 2, S. 121 und 126. 182 Schiller: Briefe über Don Karlos, in: MA, Bd. 2, S. 235. Der Verweis auf den Landmann, der dem König sein Recht nicht streitig macht, findet sich, wohl um keine Missverständnisse hervorzurufen, in der Erstfassung und den meisten Theaterfassungen, nicht aber in der letzten Ausgabe von 1805 (NA, Bd. 7, Tl. 1, S. 517). Siehe: NA, Bd. 6 (Erstausgabe 1787), S. 193; NA, Bd. 7, Tl. 1 (Hamburger Bühnenfassung 1787; Rigaer Bühnenfassung 1787), S. 122, S. 301.

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uns nahmen, wieder. Werden Sie / Von Millionen Königen ein König“183 dürfen nicht in Richtung eines demokratischen Umsturzes verstanden werden. Wie den Ständen in der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande geht es Posa um die Wiederherstellung des alten Rechts, nicht eines vorpolitischen Naturzustands („Der Bürger [!] / Sei wiederum, was er zuvor gewesen“184). Die alte Ordnung widerspricht dem Despotismus der Monarchie, bei dem der Staat zur „Riesenhülle eines einz’gen Geistes“ verkommt: „Ehmals / gab’s einen Herrn, weil ihn Gesetze brauchten; / jetzt gibt’s Gesetze, weil der Herr sie braucht.“185 Posa ist dennoch kein Egmont. Die ständischen Rechte und Privilegien der Vergangenheit werden gleichsam unter der Hand zu einem Menschenrechte verbriefenden Gesellschaftsvertrag.186 Von einem demokratischen Republikbegriff kann aber durchaus, so dürfte deutlich geworden sein, nicht die Rede sein: „Schiller war kein Demokrat […].“187 Er stand mit einem solchen Republikbegriff nicht allein. Auch das Heilige Römische Reich wurde im Kontrast zur monarchischen Interpretation des Reichsverbands immer wieder als „Teutsche Republik“ oder „Fürstenrepublik“ bezeichnet.188 Dem liegt die Unterscheidung zwischen Staatsform (Klassifikation nach dem formalen Träger der Souveränität) und Regierungsform (Klassifikation nach der Art und Weise der Herrschaftsausübung) zugrunde,189 die nicht

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Schiller: Don Karlos, in: MA, Bd. 2, S. 125. Ebd., S. 127. Schiller: Don Karlos, in: NA, Bd. 6, S. 183 (Erstausgabe 1787). Als Historiker schreibt Schiller: „Einfach in seiner Staatsweisheit wie in seinen Sitten, erkühnt es [das Volk] sich, einen veralteten Vertrag aufzuweisen und den Herrn beider Indien an das Naturrecht zu mahnen.“ Schiller: Vom Abfall der vereinigten Niederlande, in: MA, Bd. 4, S. 35. 187 Schmidt, Georg: Analogien bilden. Schillers Konzept der Universalgeschichte und seine ,Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande‘, in: Wege der Neuzeit. Festschrift für Heinz Schilling zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Luise Schorn-Schütte u. a., Berlin 2007, S. 533 – 551, hier S. 549. 188 „République des Princes“, Wieland: Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten, in: GS, Bd. 4, S. 434. „[…] eine Republik von Fürsten und Ständen unter einem durch Gesetze und Kapitulazionen beschränkten Wahlkönige […].“ Wieland: Deutschland im höchsten Flor, in: GS, Bd. 14, S. 277; „[…] eine Republik […], worinn der Kaiser ohngefähr das Ansehen eines Konsuls oder Diktators hat […].“ [Riesbeck]: Briefe eines reisenden Franzosen, Bd. 1, S. 247. Vgl. allgemein: Dopheide, Renate: Republikanismus in Deutschland. Studie zur Theorie der Republik in der deutschen Publizistik des späten 18. Jahrhunderts, Bochum 1980. 189 Zwischen Staatsform und Regierungsweise zu unterscheiden, war üblich: Pufendorf, Samuel [Serverinus von Monzambano]: Über die Verfassung des deutschen

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nur der ,Reichspublicistik‘ am nächsten kommt, sondern außerdem mit Rousseau übereinstimmt. Unabhängig von der „Regierungsform“ nenne er jeden „von Gesetzen regierten Staat“ Republik, schreibt Rousseau. „Um gesetzmäßig zu sein, muß die Regierung nicht mit dem Souverän zusammenfallen, sondern sie muß dessen Sachwalter sein: dann ist selbst die Monarchie republikanisch.“190 Mit Udo Ebert kann festgehalten werden: „Schiller ist Republikaner, und zwar im Sinne Rousseaus.“191 Was ist also der ernstzunehmende Inhalt von Karl Moors Plädoyer für eine ,deutsche Republik‘? Politisch zunächst nichts, als dass Unrecht beseitigt und Recht wiederhergestellt werde. Der Grund für Moors Nennung der antiken Republiken – übrigens nicht Athen, die Mutterstadt der Demokratie, sondern Sparta mit seinem Doppelkönigtum und Rom – liegt vielleicht mehr in der zweiten Bedeutungsebene des Wortes: ,Republik‘ als Bildungs- und Tugendbegriff wurzelt in der amor patriae-Debatte der humanistischen Gelehrten. Mit ihm verbindet sich die Forderung nach emotionaler und aktiver Bindung des Bürgers an sein Gemeinwesen. Montesquieu verknüpfte ihn eng mit ,Römertugenden‘, dem Kampf der römischen Staatsmänner gegen cäsaristische Verbiegung. Tugend und Opferbereitschaft konnten Schiller und seine Zeitgenossen in der Plutarch-Lektüre bewundern.192 „Aufopferungsfähigkeit ist der Inbegriff aller republikanischen Tugend“193, schreibt er in den Briefen über Don Karlos. Republikanismus dient insofern mehr als Zeichen klassischer Bildung und tugendhaften Charakters, denn als Zeichen rebellischer Politik. Republikaner ist, könnte man stark verkürzt sagen, wer Plutarch gelesen und die Opferbereitschaft der antiken Helden

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Reiches, verdeutscht und eingeleitet von Harry Breßlau, Berlin 1922, Kap. 6 § 4, S. 86 – 88. Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, hrsg. u. übers. v. Hans Brockard unter Mitarbeit von Eva Pietzcker, Stuttgart 2003, S. 41. Siehe: Ebert: Schiller und das Recht, S. 160. High betont ganz ähnlich, dass die „Staatsform […] für die moralische Beurteilung der Kontrahenten gleichgültig“ sei. Das entscheidende Kriterium sei vielmehr die Frage der allgemeinen Glückseligkeit: High, Jeffrey L.: Schillers Rebellionskonzept und die Französische Revolution, Lewiston/New York 2004, S. 30 ff. Ebert: Schiller und das Recht, S. 162 f.; Schmidt: Friedrich Schiller und der Republikanismus, S. 106 ff.; Zenobi, Luca: Schiller e Plutarco: dai ,Räuber‘ al ,Themistokles‘-Entwurf, in: Schiller und die Antike, hrsg. v. Paulo Chiarini/Walter Hinderer, Würzburg 2008, S. 207 – 222. Schiller: Briefe über Don Karlos, in: MA, Bd. 2, S. 229.

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aus den Vitae parallelae verinnerlicht hat.194 Folgendes Zitat aus einem Brief Schillers an Reinwald hat man in der Forschung gerne zum Indiz der zwar vagen, aber doch demokratisch-revolutionären Einstellung des Autors gemacht und damit das Räuber-Zitat zu bestärken gesucht: „Republikanische Freiheit ist hier zu Lande ein Schall ohne Bedeutung, ein leerer Name – in den Adern der Pfälzer fließt kein römisches Blut.“195 Schiller beklagt damit jedoch keineswegs, dass in dem rückständigen ,Feudalabsolutismus‘ keine Freiheit zu finden sei, und sein Fiesco deshalb nicht verstanden werde. Liest man weiter und zitiert nicht, wie bei diesem Beispiel häufig geschehen, nur den ersten Satz des Briefs, offenbart sich der bildungsbegriffliche Hintergrund: „Aber zu Berlin wurde er 14 mal innerhalb 3 Wochen gefordert und gespielt. Auch in Frankfurt fand man Geschmack daran. Die Mannheimer sagen, das Stück wäre viel zu gelehrt für sie.“196 Hieraus ist nicht zu entnehmen, dass die Berliner im Preußen Friedrichs II. im politischen Sinne republikanischer waren als die Mannheimer, sondern, dass Letztere zu wenig antike Bildung genossen haben, um das Drama goutieren zu können. Schillers Karl Moor ist ein „seltsame[r] Don Quixote“197, einer der vielen ,erlesenen Helden‘ dieser Zeit, der ein gehöriges Lektürepensum voraussetzt, um verstanden zu werden.198 Mit politischer Rebellion, einer fiktionalen Vorwegnahme der Französischen Revolution in Deutschland, hat, so ist deutlich geworden, das Drama Die Räuber nichts zu tun. Das Deutschland des 18. Jahrhunderts bleibt aber politisch durchaus gegenwärtig. 3.1.3 Schauplatz ,deutsches Reich‘ In den Räubern spielt das Alte Reich keine Rolle, die Räuber spielen aber im Alten Reich. Die topographische Angabe ist eindeutig: „Der Ort der Geschichte ist Teutschland […].“199 Sachsen, Franken und Österreich 194 Abgelöst von Montesquieu konnte der so gefüllte Begriff ebenso unbedenklich auf monarchische Staaten übertragen werden, wie Thomas Abbts Schrift Vom Tode für das Vaterland belegt. Siehe: Schmidt: Friedrich Schiller und der Republikanismus, S. 109. 195 Schiller an Wilhelm Reinwald, 5. Mai 1784, Nr. 95, in: NA, Bd. 23, S. 137. 196 Ebd. Das Zitat ohne diesen zweiten Abschnitt etwa bei: Hinderer, Walter: Schiller und kein Ende. Metamorphosen und kreative Aneignungen, Würzburg 2009, S. 221; Müller-Seidel: Schiller und die Politik, S. 84 f. 197 Schiller: Vorrede zur ersten Auflage, in: MA, Bd. 1, S. 487. 198 Vgl. Marx, Friedhelm: Erlesene Helden. Don Sylvio, Werther, Wilhelm Meister und die Literatur, Heidelberg 1995. 199 Schiller: Die Räuber, in: MA, Bd. 1, S. 492.

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gehörten selbstverständlich politisch zu Deutschland, wie für Schiller Württemberg Teil Deutschlands war.200 Mit Franken wählte der Verfasser eine ,reichsnahe‘ Region, die sich durch zahlreiche reichsunmittelbare Grafen und Ritter auszeichnete und in einer von Celtis bis zur Romantik reichenden Tradition als Herz des Reichs galt. Die Familie Moor ist eine solche reichsunmittelbare Grafenfamilie, deren Adelstitel, wie man erfährt, auf Friedrich Barbarossa zurückgeht.201 Die politischen Begriffe stammen alle aus der Welt des Alten Reichs. Von Freiherrn, Fürsten, Reichsgrafen ist die Rede, der Siebenjährige Krieg und die Rivalität zwischen Österreich und Preußen werden angesprochen. Vielleicht versteckt sich hinter dem tapferen Pastor nicht nur der Lorscher Priester und Lateinlehrer Schillers, Philipp Ulrich Moser, sondern auch der mit diesem verwandte Johann Jacob Moser,202 dessen Reichs- und Landespatriotismus ohne starke pietistische Frömmigkeit nicht zu denken ist. Anklänge an den überschießenden deutschtümelnden Patriotismus Schubarts – die Räuber sprechen von Arminius und „Tropfen deutschen Heldenbluts“203 – sind ebenso zu finden. Vielleicht hat Schiller sogar den Plot des Stückes aus der zeitgenössischen Reichsgeschichte genommen. Beweise dafür, dass die reale Tragödie innerhalb der Linie Sickingen Pate stand, sind aber bislang ausgeblieben. Karl Anton Johann Joseph Damian von und zu SickingenSauerburg war von den eigenen Verwandten, seinem Bruder und dann seinen beiden Söhnen, aufgrund ungeheurer Ausgaben für Alchemie und Astrologie eingesperrt worden. Die Rolle des Reichshofrats in diesem Skandal war alles andere als rühmlich, ließ er sich doch, wie Helmut Budenbender meint, aus Bequemlichkeit gerne von den Söhnen täuschen und tolerierte so deren widerrechtliche Handlung. Der Fall war um 1780 durchaus bekannt, wurde aber erst nach Fertigstellung der Räuber dank des Einsatzes Karl Theodor von Dalbergs aufgelöst. Möglicherweise ließ sich allerdings bereits Schubart in seiner Erzählung Geschichte des menschlichen Herzens (1775) von der Affäre um die Familie Sickingen inspirieren.204 200 Vgl. z. B. Schiller an Christian Schwan, 2. Mai 1788, Nr. 36, in: NA, Bd. 25, S. 54: „Daß Sie in mein liebes Vaterland reisen und dort meinen Vater nicht vorbeygehen wollen, war mir eine sehr willkommene Nachricht. Die Schwaben sind ein liebes Volk, das erfahr ich jemehr und jemehr, seitdem ich andre Provinzen Deutschlands kennen lernte.“ 201 Schiller: Die Räuber, in: MA, Bd. 1, S. 570. 202 Das vermutet: Alt: Schiller, Bd. 1, 294. 203 Schiller: Die Räuber, in: MA, Bd. 1, S. 510. 204 Budenbender, Helmut: Das Familiendrama Sickingen. Sein Verlauf und sein möglicher Zusammenhang mit Schillers ,Räubern‘, in: Mitteilungen des histori-

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Während Schillers privat finanzierter Erstdruck im 18. Jahrhundert spielte, bestand der Mannheimer Intendant und Bruder des späteren Mainzer Kurfürsten, Wolfgang Heribert von Dalberg, darauf, das Drama ins 16. Jahrhundert zu verlegen. Zunächst entsprach der Eingriff ohne Frage dem Geschmack der Zuschauer, die zu dieser Zeit Ritterdramen besonders schätzten, und war nicht primär der politischen Brisanz geschuldet.205 Die Provokation des Stückes lag ohnehin weniger im Politischen als vielmehr im Sittlichen und Religiösen. Die Theaterfassungen schwächten daher grundsätzlich die Religions- und Kirchenkritik ab und versuchten, „die Moral des Stückes zu heben“206. Die Kontroverse zwischen Dalberg und Schiller war eine Kontroverse über Bühnenwirksamkeit und Theatereffekte, nicht über Politik. Der Mythos von der scharfen politischen Zensur fügt sich freilich ungemein besser in die Kontextsuggestion von politischer Flucht und Despotie.207 Der Dichter stimmte dem Theaterintendanten zumindest rhetorisch zu, dass wohl kaum „bey unserer abgeschliffenen Polizey, und Bestimtheit der Geseze eine solche meisterlose Rotte gleichsam im Schoos der Geseze entstehen noch viel weniger einwurzeln und einige Jahre aufrecht stehen könnte“208. Dennoch war er aufgrund der modernen Sprache seiner Figuren, der Episode um „Amaliens Liebe“ und der Ausgestaltung des Franz Moorschen Charakters mit der Zeitverschiebung unzufrieden.209 Dalberg versuchte zudem, das Stück zu

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schen Vereins der Pfalz 61 (1963), S. 161 – 200; vgl. auch den Kommentar: NA, Bd. 3, S. 269 f. Schmidt, Otto: Die Uraufführung der ,Räuber‘ – ein theatergeschichtliches Ereignis, in: Schillers Räuber. Urtext des Mannheimer Soufflierbuches, hrsg. v. Herbert Stubenrauch/Günter Schulz, Mannheim 1959, S. 151 – 180. Zit. n. Rullmann, Wilhelm: Die Bearbeitungen, Fortsetzungen und Nachahmungen von Schillers ,Räubern‘ (1782 – 1802), Berlin 1910, S. 4. Vgl. Höyng, Peter: Die Geburt der Theaterzensur aus dem Geiste bürgerlicher Moral. Unwillkommene Thesen zur Theaterzensur im 18. Jahrhundert?, in: Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis, hrsg. v. Wilhelm Haefs/York-Gothart Mix, Göttingen 2007, S. 99 – 119, hier S. 116. Sinnvoller wäre eine kategoriale Neubewertung der Zensur im 18. Jahrhundert, die nicht auf der einen Seite den Staat und auf der anderen die Öffentlichkeit supponiert, sondern Zensur aus einem komplexen Kommunikationsprozess heraus beschreibt: „Die Folgerung liegt nahe, daß die ,Repressionshypothese‘ und der Funktionsgesichtspunkt der ,Sozialdisziplinierung‘ […] lange Zeit überschätzt wurden […].“ Haefs, Wilhelm: Zensur im Alten Reich des 18. Jahrhunderts, in: ebd., S. 389 – 424, hier S. 393. Schiller an Wolfgang Herribert v. Dalberg, 12. Dez. 1781, Nr. 13, in: NA, Bd. 23, S. 24 f. Ebd., S. 25 f.

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vereindeutigen, um es dem Publikum leichter zugänglich zu machen. So musste die Räuberbande in der Mannheimer Trauerspielfassung ganz gezielt das „Faustrecht“ gegen den gerechten Frieden Kaiser Maximilians beschwören: „[…] wie wärs, wenn wir so einen Bund schlössen, und schwüren: das Faustrecht in Deutschland aufrecht zu erhalten und dann gegen den ewigen Landfrieden zu Felde zögen?“210 Die oben zitierte Markierung des Rubikons von Recht und Unrecht reichte Dalberg offenbar nicht aus. Mit der ausdrücklichen Verlegung in die „Epoche des gestifteten Landfriedens“211 wurde das explizit, was die Version Schillers nur implizit lieferte: Jenseits des Despotismus und der Anarchie gibt es eine weltliche Rechtsordnung, die unbestrittene Gültigkeit hat, auch wenn die herrschenden Potentaten sich nicht um sie bemühen. Ein Landfriedensbrecher sollte nach dem Ewigen Landfrieden von 1495 und der Exekutionsordnung von 1555 zunächst durch die lokale Obrigkeit zur Räson gebracht werden, bei größerer Gefahr durch den betroffenen Reichskreis und schließlich durch die Assoziation mehrerer Reichskreise. Der Ewige Landfrieden galt selbstverständlich bis 1806. „Sobald ein Landfriedensbruch vorhanden ist“, schreibt Christian Friedrich Daniel Schubart 1791, „ist dies erhabene [Reichskammer]Gericht befugt, zu sprechen, was nach dem Reichskodex recht ist.“212 Karl Moor war mit der Ermordung des „Reichsgrafen“ und der Brandschatzung einer Stadt213 zum Landfriedensbrecher geworden, auch reichsrechtlich ungeschulte Zuschauer wussten das spätestens seit Goethes Götz von Berlichingen. Der verhöhnte Pater, in anderen Fassungen „Kommissar“ genannt, den „die hohe Obrigkeit“214, der Senat der Stadt, sendet, kann cum grano salis als erste Stufe der Landfriedenswahrung gelten. Interesse an einer historisch korrekten Ausgestaltung hatte Schiller jedoch offenkundig nicht.215 Die Reichsverfassung wird nicht aufgerufen, die Handlung auf ganz anderem Gebiet als 210 Zuvor: „Weißt du was Neues? Unser Kayser hat so eben durch den Reichstag zu Worms, wo das Fürsten-Gesindel versammelt ist, einen ewigen Landfrieden für Deutschland verkünden lassen; das Faustrecht ist abgeschaft, alle Fehden sind bei Todesstrafe verbothen worden.“ Beide Zitate: Schiller: Räuber, in: NA, Bd. 3, S. 366. 211 Schiller an Wolfgang Herribert v. Dalberg, 12. Dez. 1781, Nr. 13, in: NA, Bd. 23, S. 24. 212 Schubart: Chronik 1791. Erstes Halbjahr, S. 110 f. 213 Schiller: Die Räuber, in: MA, Bd. 1, S. 551. 214 Ebd., S. 550. 215 Selbstverständlich könnte ein städtischer Senat niemals ein „Generalpardon“ für den Mord an einem Reichsgrafen ausstellen, so aber: ebd., S. 554 f.

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dem juristisch-politischen inszeniert. Gerade für die Wertung des Endes ist der implizite Reichskontext aber doch von Bedeutung. Der Räuberhauptmann rudert bekanntlich zurück und wirkt dabei geradezu geläutert: Moor wirft sich vor, „die Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrecht“ erhalten zu wollen. „Zwei Menschen wie ich“, erkennt er, würden „den ganzen Bau der sittlichen Welt zugrund richten […].“216 Aber noch blieb mir etwas übrig, womit ich die beleidigte Gesetze versöhnen, und die mißhandelte Ordnung wiederum heilen kann. Sie bedarf eines Opfers – eines Opfers, das ihre unverletzbare Majestät vor der ganzen Menschheit entfaltet – dieses Opfer bin ich selbst.217

In der Mannheimer Trauerspielfassung gibt der Hauptmann seinen Räubern die Anweisung: „Dienet einem Könige, der für die Rechte der Menschheit streitet“, bevor er sich schließlich anstelle eines Selbstmords „in die Hände der Justiz“ begibt.218 Scherpe zeigt sich irritiert und sieht wenig überzeugend diese „Apologie der feudal-absolutistischen Herrschaft“ durch die „Gesellschaftslosigkeit“ des Endes konterkariert.219 Mattenklott provoziert zu Recht, dass das Stück „staatsfromm“ ende,220 doch werde mit diesem Ende auch nicht, wendet Müller-Seidel ebenso zu Recht ein, der „Justiz eines tyrannischen Herrschaftssystems“ gehuldigt. Es sei nicht alles wie zuvor, denn mit dem Räuberhauptmann Karl Moor gehe auch der Despotismus seines Bruders Franz zugrunde.221 Handelt es sich bei der Justiz daher nur um ein höheres, göttliches Gericht? Karls Klage über den Bau der sittlichen Welt zeigt, wie sehr für ihn die göttliche Ordnung, der Makrokosmos, mit der weltlichen Ordnung, dem Mikrokosmos, kongruiert. Indem er aus dem Kampf gegen Despotismus und Unrecht einen Kampf gegen das Gesetz und die Ordnung per se werden ließ, hat er, so wird ihm am Ende deutlich, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Mit dem Tyrannen war so auch der „Allmächtige[] vor seine Klinge“222 geraten. In der Erkenntnis dieses Fehlers, dass die Auflösung der Ordnung allein Anarchie, aber keine Besserung der Gesellschaft bringt, bekennt er sich aber durchaus nicht zu dem bekämpften Despotismus, 216 Ebd., S. 617. 217 Ebd. 218 Schiller: Räuber, in: NA, Bd. 3, S. 235; Schiller: Die Räuber, in: MA, Bd. 1, S. 617. 219 Scherpe: Die Räuber, S. 30. 220 Mattenklott, Gert: Über Schillers ,Räuber‘, in: ders.: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, Königstein 1985, S. 169 – 183, hier S. 170. 221 Müller-Seidel: Schiller und die Politik, S. 81 f. 222 Schiller: Die Räuber, in: MA, Bd. 1, S. 248.

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sondern zur legitimen Ordnung, die von diesem unterschieden ist. Die alte Ordnung war im politischen Weltbild des Alten Reichs eben nicht der Absolutismus, sondern das durch Reichs- und Landesgesetze verbürgte System, mit welchem die Despoten à la Carl Eugen brachen. Der Wunsch nach Adlerflug anstelle des gewöhnlichen Schneckengangs ist durch die Handlung der Räuber desavouiert: Beide Formen des Adlerflugs, jene des Despoten (Franz), wie jene des Robin Hood und Outlaws (Karl), reißen die Ordnung ein, anstatt eine neue zu errichten oder die alte zu vervollkommnen. An dieser Stelle berührt sich die politische Handlung mit dem größeren Thema der Räuber: Der Liebesphilosophie des Julius aus den Philosophischen Briefen stellt Schiller mit dem räsonierenden Bösewicht Franz Moor die Inversion der Aufklärung entgegen. Ein fundamentaler Riss geht durch die Weltordnung und die aus den Fugen geratene Welt muss wieder eingerenkt werden.223 Daher das Selbstopfer Karls und sein Bekenntnis zum Gesetz – gleichsam das Bekenntnis zum Schneckengang anstelle des Adlerflugs. Von einer Kapitulation gegenüber dem Despotismus ist mitnichten die Rede. Schillers Räuber verwerfen die im Hintergrund stehende Rechtsordnung nicht. Sie ist trotz aller Zweifel letztlich genauso selbstverständlich wie die kosmologische Ordnung. Indem sich Karl Moor der Justiz stellt, gleichviel ob seine Entscheidung nun als Konsequenz eines inneren Ehrbegriffs (honestas interna) oder als Anerkennung eines göttlichen Gerichts verstanden wird, übergibt er sich juristisch nicht derselben despotischen Herrschaft, gegen die er ankämpfte.224 Für seinen Fall wären längst Kaiser und Reich zuständig. Schiller intendiert allerdings keine weltliche Lösung des Konflikts, die auf diesem Weg möglich gewesen wäre. Seine Fortsetzung der Räuber spielt in der Schweiz, und über Moors Vergangenheit liegt ein undurchdringlicher Schleier. Nur im atridischen Familienfluch bleibt sie spürbar.225

223 Riedel, Wolfgang: Die Aufklärung und das Unbewußte. Die Inversionen des Franz Moor, in: Jahrbuch der deutschen Schiller Gesellschaft 37 (1993), S. 198 – 220; Schings, Hans-Jürgen: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses. Die Räuber im Kontext von Schillers Jugendphilosophie, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 84/85 (1980/81), S. 71 – 95; Borchmeyer: Die Tragödie vom verlorenen Vater, S. 160 – 184. 224 Vgl. Alt, Peter-André: Der Held und seine Ehre. Zur Deutungsgeschichte eines Begriffs im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 81 – 108, hier S. 105; Müller-Seidel: Schiller und die Politik, S. 79. 225 Vgl. Schiller: Die Braut in Trauer, in: MA, Bd. 3, S. 267 – 271.

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Für manch andere Zeitgenossen war die Option, die Handlung gleichsam auf die Reichsebene zu heben, verlockender. Johanna Isabella Eleonore von Wallenrodts Räuber-Fortsetzung gehörte zur Kolportageund Unterhaltungsliteratur und war vielleicht gerade deshalb für das Selbstverständnis der Zeitgenossen paradigmatisch. Ihr Stück erschien erst 1801. Verschiedene Räuber-Adaptionen hatten schon zuvor die schmerzliche Frage nach dem Schicksal Karl Moors mit einem versöhnlichen Ende beantwortet. Bei Wallenrodt wurde der Schauplatz, auf den Magistrat in Schillers Drama anspielend, die Reichsstadt Augsburg. Der Senator der Stadt, Maasmer, ist habsüchtig und korrupt. Nachdem sich die Familie Moor weigert, ihn zu bestechen, versucht er, ein hartes Urteil (Scheiterhaufen) gegen Karl Moor durchzusetzen.226 Die historische Wahrscheinlichkeit spielt hier offenkundig keine Rolle. Ein Abt versichert dem alten Moor zwar, dass eine Appellation – wohl an den Reichshofrat – möglich sei,227 der Senator jedoch arbeitet erfolgreich daran, das „Verschicken“ des Prozesses, wie es im Text heißt, zu verhindern.228 Der Staatsrechtler Karl Friedrich Häberlin versuchte in den 1790er-Jahren die Praxis der Aktenverschickung an die Reichsgerichte für jede Auseinandersetzung eines Untertanen mit seinem Landesherrn zu bewerben. Diese in der Frühen Neuzeit übliche Praxis war mit dem Ausbau der Landeshoheiten immer mehr ins Hintertreffen geraten.229 Wallenrodt spielt wohl auf diesen Missstand an. Ein Augsburger Bürger empfiehlt dem Angeklagten schließlich, gegen ein unrechtmäßiges Urteil zu ,protestieren‘, weshalb Maasner sich gezwungen sieht, das Ganze schnellstmöglich abzuschließen.230 Der alte Moor weiß, dass der Sohn vom Kaiser aufgrund seines Landfriedensbruchs unmöglich Gnade erwarten kann.231 Doch dieser löst das Dilemma als deus ex machina. Kaiser und Reich verbürgen nicht nur 226 Wallenrodt, Johanna Isabella Eleonore: Karl Moor und seine Genossen nach der Abschiedscene beim alten Thurm. Ein Gemälde erhabener Menschennatur als Seitenstück zum Rinaldo Rinaldini, Mainz/Hamburg 1801, S. 270. 227 Ebd., S. 253 f. 228 „Maasner. Ich sehe nicht, daß wir nöthig haben, den Prozeß zu verschicken. Die Akten werden morgen in der Session vorgelegt; ich will die Stimmen sammeln, und laut meiner Anciennetät das Endurtheil sprechen. Was sollen wir die Kerls lange futtern? KEIM. Sollte das seyn können?“ Ebd., S. 245 f. 229 Vgl. Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 471 f. 230 Wallenrodt: Karl Moor und seine Genossen, S. 266. 231 „Der Graf. Ach ja! dahin ist nun wohl jeder Funken Hoffnung; jetzt eben, da der Kaiser auf den mühsam eingeführten Landfrieden halten, und jeden Exceß streng ahnden muß, kann er keine Fürbitte für meinen Sohn annehmen; ich seh das wohl ein.“ Ebd., S. 262.

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Recht und Ordnung, sondern auch die göttliche Gnade. Schon des Räubers Kosinskys Güter stellte der Kaiser persönlich auf dessen Ansuchen wieder her. Schließlich erscheint ein kaiserlicher Kommissar, Graf Tarot, in der laufenden, korrumpierten Gerichtsverhandlung und begnadigt den Räuberhauptmann mit Worten, die „seine Kaiserliche Majestät, als des Reichs Oberhaupt, aus Huld und Gnade sowohl, als aus Liebe zur Gerechtigkeit“ durch ihn verkünden lassen.232 Man muss geradezu an den reitenden Boten der Brechtschen Dreigroschenoper denken, nur ist es der Autorin ganz ernst damit. Aus Schillers ,Tragödie um den verlorenen Sohn‘ wird das Rührstück eines durch kaiserliche Gnade geschenkten Sohnes: „Der Kaiser schenkt euch euren Sohn“, heißt es wörtlich. Die Krise mit der Vaterordnung wird mit dem Übervater überwunden.233 Mehr noch, der Räuber Karl Moor tritt in den Dienst des Kaisers, um die Missstände in dessen Landen zu visitieren und an sein Ohr zu bringen.234 Alle Anwesenden rufen schließlich: „Es lebe der Kaiser! Es leben die Fürsten!“235 Ausgerechnet in der Revolutions-Adaption Jean Henri Ferdinand La Martelières Robert, chef de brigands wird „Karl Moor“ übrigens ebenso vom Kaiser begnadigt, Kosinsky (hier Rosinsky) überbringt das Pardon: O Robert! L’Empereur, touché de tes remords veut réforme par sa justice, tous les abus que tu punissais par la force. (aux brigands.) Il veut vous pardoner vos crimes, et s’éclairer par ses vertus.236

Die Räuberbande wird daraufhin gleichsam legalisiert und zu einem „corps franc de troupes légères“237 unter der Führung ihres Robert. Ein solch kaisertreues Finale hat mit Schillers Stück natürlich nicht mehr viel zu tun. Dennoch zeigen die Fortsetzungen, dass für die Zeitgenossen Moors Ende in den Armen der Justiz auf eine gleichsam reichsrechtliche Konfliktlösung verweisen konnte. Die Lebenswelt des Reichs manifestierte sich freilich auch subtiler als bei Wallenrodt in der Dichtung, etwa in der Bildsprache Jean Pauls.

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Ebd., S. 272. Ebd., S. 275. Vgl. Borchmeyer: Die Tragödie vom verlorenen Vater. Wallenrodt: Karl Moor und seine Genossen, S. 276 f. Ebd., S. 277. La Martelière, Jean Henri Ferdinand: Robert, Chef de Brigands. Drame en cinq actes, en prose. Imité de l’allmand, par le citoyen La Marteliere, Paris 1793, S. 131. 237 Ebd. Vgl. Rullmann: Die Bearbeitungen, S. 72.

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3.2 Die Macht der Bilder: Jean Pauls Reichsmetaphorik „Jean Pauls Romane sind literarische Bilderkabinette.“238 In der Vorschule der Ästhetik firmieren Tropen in guter Tradition der Poetiken des 18. Jahrhunderts unter dem Stichwort „bildliche[r] Witz“239. In einem höheren Sinn ist der Witz für Jean Paul geradezu ein metaphysisches, wenn auch sehr ambivalentes Organ:240 Wie er im Bereich des Verstandes als „GeistesLeugner“ den Eigenwert der Dinge zerstört, mit ihnen willkürlich spielt, vereint er im Bereich der Phantasie als Finder von Gemeinsamkeit auch das Unvereinbare, bewahrt die Ähnlichkeit im Unähnlichen.241 Was Jean Paul an der Bildsprache des Witzes interessiert, ist nicht in erster Linie, dass bei der Metapher durch die Verschiebung von einem Gegenstand zum anderen, durch die uneigentliche Verwendung eines Begriffs, neue Bedeutungseinheiten generiert werden. Für ihn steht das Verhältnis zwischen dem Gegenstand und dem Bildgeber im Zentrum. Der Scharfsinn spürt den Unterschied zweier ähnlicher Größen auf, der Witz hingegen fahndet nach „ähnlichen Verhältnissen inkommensurabler (unanmeßbarer) Größen“242. Während die bildliche Phantasie „malen“ will, bleibt der bildliche Witz „kalt gegen das Verglichene und gegen das Gleichende“, ihm geht es um den „geistigen Extrakt ihres Verhältnisses“243. Jean Pauls Romane rekurrieren auf eine Unmenge verschiedener Bildbereiche. Während etwa das Feld der Musik244 in der Forschung ausgiebig diskutiert wurde, erstaunt es, dass die unverkennbare Präsenz der Reichsmetaphorik keine Aufmerksamkeit erhielt: Ständig finden sich Vergleiche, Metaphern, Metonymien, Synekdochen aus dem weiten Kontext der Reichsverfassung, des Reichsrechts und der Reichsgeschichte. 238 Pfotenhauer, Helmut: Bilderfluch und Bilderflut. Zu Jean Pauls Hesperus, in: ders.: Sprachbilder. Untersuchungen zur Literatur seit dem 18. Jahrhundert, Würzburg 2000, S. 109 – 122, hier S. 109. 239 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: SW, Abt. 1, Bd. 5, S. 182 – 189; dazu und zur Tradition: Wölfel, Kurt: „Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt“. Eine Betrachtung von Jean Pauls Poetik und Poesie, in: ders.: Jean-Paul-Studien, Frankfurt a.M. 1989, S. 259 – 300, hier S. 273 ff. 240 Zur ideengeschichtlichen Einbettung von Jean Pauls Metaphorologie: Riedel, Wolfgang: Die Macht der Metapher. Zur Modernität von Jean Pauls Ästhetik, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 34 (1999), S. 56 – 94. 241 Vgl. Wölfel: Jean Pauls Poetik und Poesie, S. 273 ff. 242 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: SW, Abt. 1, Bd. 5, S. 172. 243 Ebd., S. 187. 244 Vgl. Cloot, Julia: Geheime Texte. Jean Paul und die Musik, Berlin/New York 2001, S. 227 – 236.

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Seine Bildsprache trägt meist wenig zur Vereindeutigung des Romangeschehens bei, vielmehr erschweren ,Bilderflut und Bilderfluch‘ dank höchster Komplexität das Verständnis mitunter nicht unerheblich. Zumal, so muss hinzugesetzt werden, für den Bildbereich ,Heiliges Römisches Reich‘ die nötige Vertrautheit heutiger Leser schlicht fehlt – hier mag auch die Hauptursache liegen, weshalb er in Jean Pauls Bildwelten unentdeckt blieb. Er selbst freilich hat sich ausführlich mit Reichsrecht und Reichsgeschichte befasst. Für einen Abbrecher des Theologiestudiums gewiss keine Selbstverständlichkeit, wenn auch die Beispiele Herder oder Heinse zeigen, dass er damit durchaus kein Einzelfall war. Jean Pauls Exzerpthefte belegen eine durchgehende und intensive Beschäftigung mit Reichsjuristen und Reichshistorikern, von Samuel von Pufendorf über Johann Jacob Mascov bis zu Johann Stephan Pütter.245 Der Grund für diese Beschäftigung ist nicht näher ersichtlich. Zu vermuten ist, dass er für die im zeitgenössischen Deutschland spielenden Romane einen möglichst authentischen Hintergrund generieren wollte. Die Lebenswelt von Siebenkäs, Schoppe & Co. ist das Heilige Römische Reich.246 Meist freilich im Modus der Satire: Man denke an die (fiktiven) Fürstentümer Haarhaar und Hohenfließ im Titan oder das (reale) Reichsdorf (nicht wie oft zu lesen: Reichsstadt!) Kuhschnappel im Siebenkäs. Mit Wehrfritz kommt im Titan sogar ein veritabler Reichspatriot zu Wort, erhält mit Schoppe aber einen starken Gegenredner.247 Jean Paul bezieht also durchaus explizit reichspolitische Themen in sein Werk ein. Besonders die politischen Schriften

245 Eine Auswertung der Textstellen wäre ein Kapitel für sich. Namhafte Reichshistoriker und Juristen wie Mascow bzw. Maskov, Schmauss, Pütter oder auch Schmidt sind mehrfach exzerpiert worden, ebenso finden sich zahlreiche Einträge zu Begriffen wie Reichstag, Reichskammergericht, ,Reichshofrath‘. Siehe die digitale Edition der Exzerpthefte: http://www.jp-exzerpte.uni-wuerzburg.de/. Zuletzt eingesehen am 20. 2. 2013. 246 Dazu gibt es jedoch so gut wie keine Literatur: Ayrault, Roger: Heiliges Römisches Reich und Französische Revolution im Werk Jean Pauls – Jean Paul, hrsg. v. Uwe Schweikert, Darmstadt 1974, S. 170 – 180. 247 „Ging es nicht dem alten Landschaftsdirektor noch schlimmer, welcher, bloß weil er den deutschen Reichskörper so hoch anschlug, als wär’ er die darin eingepfarrte Reichsseele, über Schoppes Ausfälle gegen die Konstitution in einen patriotischen Harnisch kam? ,Herr,‘ (sagt’ er aufgebracht) ,wenns auch wo haperte: so muß ein redlicher Deutscher still dazu schweigen, wenn er nicht helfen kann, zumal in so verfluchten Zeiten.‘“ Jean Paul: Titan, in: SW, Abt. 1, Bd. 3, S. 138, vgl. auch: ebd., S. 151, S. 704 f.

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der späteren Jahre sind voller Reichsbezüge.248 Im Folgenden geht es jedoch darum, die Präsenz des Reichs über indirekte Spuren im Werk des Dichters zu verfolgen: das Alte Reich als Bildspender. Oft wird das Reich nur durch eine Metapher oder einen Vergleich mit einem Wort heranzitiert, gelegentlich finden sich aber auch ganze Handlungsabschnitte durchsetzt mit Reichsbildlichkeit. Zwei Bereiche der Jean Paulschen Reichsmetaphorik sollen herausgegriffen werden: 1. die Reichsöffentlichkeit und 2. die komplizierte Rechtsund Friedensordnung. 1. Im vierten „Zettelkasten“ des Quintus Fixlein wendet sich der Erzähler an den Leser: „Da man auswärts über diese Vokation des Flachsenfinger innern Rats gar nicht so geurteilt hat, wie man hätte sollen: so halt’ ichs für meine Pflicht, für den gesamten Rat lieber hier eine Defension zu führen als im Reichsanzeiger.“249 Der Satz ist unscheinbar und könnte ignoriert werden, wenn der Reichsanzeiger nicht in zahlreichen Werken des Dichters Erwähnung fände, ohne in erkennbarem Zusammenhang mit der Handlung zu stehen. Der Reichsanzeiger ist die synekdochische Bezeichnung Jean Pauls für die deutsche Öffentlichkeit, die damit eindeutig mit der Reichsöffentlichkeit assoziiert ist. Eine Hauptaufgabe der Zeitschrift, die es wirklich gegeben hat, lag nach dem Ansinnen des Herausgebers Rudolph Zacharias Becker darin, Reichs- und Staatsangelegenheiten bekannt zu machen. Sie sollte das Organ für das Heilige Römische Reich werden.250 Nicht nur für Jean Paul, auch für Archenholz wurde die Zeit248 Hier ließe sich eine eigene Studie anschließen: Jean Paul verwehrte sich zwar jeder Reichsromantik und benannte mit aller Deutlichkeit die Schwächen, doch indifferent stand er dem Reich deshalb nicht gegenüber. Vgl. über „Das deutsche Reich“ in: Jean Paul: Friedens-Predigt an Deutschland, in: SW, Abt. 1, Bd. 5, S. 885 f. Man denke an sein Lob der deutschen „Allerweltsnation“, die aus der „zwiespältige[n] Reichsverfassung“ herrühre (Jean Paul: Dämmerungen für Deutschland, in: SW, Abt. 1, Bd. 5, S. 951), an den Topos von Deutschland als Herz Europas (Jean Paul: Friedens-Predigt an Deutschland, in: SW, Abt. 1, Bd. 5, S. 882), der „Rechtlichkeits-Liebe“ als politisch-nationale Eigentümlichkeit (ebd., S. 888.), an die Klage darüber, dass dem „deutschen Reichskörper“ die „Reichsseele“ gefehlt habe (ebd., S. 911), an das Lob der „politische[n] Langsamkeit“ mit dem daraus entspringenden Guten („Krieg will Schnelle, wie der Friede Langsamkeit“, Jean Paul: Dämmerungen für Deutschland, in: SW, Abt. 1, Bd. 5, S. 942), wie auch an sein Plädoyer für einen „Staatenbund“ in Europa, ein „Föderativsystem der Kugel“ (ebd., S. 962). 249 Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein, in: SW, Abt. 1, Bd. 4, S. 92 f. 250 Vgl. in dieser Arbeit 3. Kap., 2. Wielands ,Teutscher Merkur‘ und die ,Reichsöffentlichkeit‘.

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schrift zum negativen Inbegriff deutscher Publizität, die der Berliner satirisch würdigte.251 Goethe und Schiller widmeten der Zeitschrift ein süffisantes Xenion: Edles Organ, durch welches das Deutsche Reich mit sich selbst spricht, Geistreich, wie es hinein schallet, so schallt es heraus.252

Jean Pauls Rekurrenz auf die Zeitschrift hat also durchaus lebensweltliche Berechtigung. Immer wieder spielt er damit: Nicht nur gelangen – das kritisiert auch Archenholz – belanglose Quisquilien und Privatangelegenheiten an eine große Öffentlichkeit, der Reichsanzeiger erscheint geradezu das Charakteräquivalent zu den rechtsvernarrten Deutschen. Der Erzähler unterbricht sich auch im Siebenkäs selbst und berichtigt die eigene Aussage, da es sonst „hundert Kuhschnappler im Reichs-Anzeiger“ täten – es geht freilich nur um den Aufenthalt Leibgebers in deren Dorf.253 Im Titan verwandelt sich der Zeitschriftentitel gleich in „Staats- und Reichsanzeigen“ der beiden Kinder der Ministerin, die ihr Lektor Augusti übergibt.254 Bildspender und Bildempfänger werden darin gleichermaßen charakterisiert, das Exemplarische an dem kleinkarierten Charakter eines Siebenkäs ebenso herausgestellt, wie die Reichsöffentlichkeit ironisiert. Zugleich aber ist offenkundig: Ob vom Reichsanzeiger, von „sämtliche[n] 10 deutsche[n] Reichs- und Lese-Kreise[n]“255, den „kritischen Reichsgerichte[n] der Rezensenten“256 oder dem „Kaufpublikum, das aus Geschäftgelehrten und Geschäftmännern besteht, dieses wahre deutsche Reichs-corpus-callosum“257 die Rede ist, immer wird die Leserschaft und literarische Öffentlichkeit bildsprachlich im Reichsverband verortet. Das Reich bleibt implizit im Roman gegenwärtig. Weit dominanter ist allerdings ein anderes Bildreservoir: das Reich als komplexe Rechts- und Friedensordnung. 2. Besonders augenfällig ist das im Siebenkäs. Zum Kirchweihfest einigen sich die Hausbewohner, darunter auch der Armenadvokat Siebenkäs und seine Frau Lenette, mit reichsstaatsrechtlicher Begrifflichkeit darauf, wer wofür zuständig sei. Mit einem drei Punkte umfassenden „römisch251 Archenholz, Johann Wilhelm von: Ueber die Publicität und den Reichsanzeiger, in: Minerva 1 (1805), S. 545 – 551. 252 Schiller: Reichsanzeiger, in: MA, Bd. 1, S. 284. 253 Jean Paul: Siebenkäs, in: SW, Abt. 1, Bd. 2, S. 50. 254 Jean Paul: Titan, in: SW, Abt. 1, Bd. 3, S. 401. 255 Jean Paul: Flegeljahre, in: SW, Abt. 1, Bd. 2, S. 616. 256 Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein, in: SW, Abt. 1, Bd. 4, S. 156. 257 Jean Paul: Siebenkäs, in: SW, Abt. 1, Bd. 2, S. 16.

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juristischen Aktus“ erstellt die Hausgemeinschaft, „der Buchbinder, der Schuhflicker, der Armenadvokat und der Haarkräusler“, ein Dokument, das nicht nur verpflichtet, „alternierend [zu] melken“, sondern auch eine „gemeinschaftliche[] Kriegskasse“ zu führen und das Rind gemeinsam totzuschlagen.258 Ausführlich wird der „häusliche[] Frosch- und Mäusekrieg“259 zwischen Siebenkäs und Lenette in reichsstaatsrechtlicher Prätentiösität und Erhabenheit dargeboten. In Anspielung auf den Bayerischen Erbfolgekrieg (im Volksmund: Kartoffelkrieg genannt) ist da vom „Kartoffelkriege mit Weibern“ und „Erbfolgekrieg um den grillierten Kattun“ die Rede.260 Letzterer beginnt als „Kattun-Prozeß“, einer Meinungsverschiedenheit zwischen Mann und Frau, ob ihr Rock versetzt werden könne, um die Geldsorgen zu lindern. Lenette schaltet, indem sie sich bei ihm ausweint, ihren zukünftigen Mann Pelzstiefel ein, der sich „mit einem Kirchenvisitation-Gesicht voll Inspektionpredigten“ für seine Geliebte bei ihrem Ehemann verwendet.261 Ihre Angst, den Rock nie wieder zu Gesicht zu bekommen, ist freilich durchaus begründet. Schon zuvor versetzte Siebenkäs andere Gegenstände, die ihr viel wert waren, mit dem „geheimen Vorsatz“, sie „wie eine Reichspfandschaft ewig sitzen zu lassen“262. Immer wieder zerfällt der eheliche „Fürstenbund der Liebe“263 im weiteren Verlauf – und manchmal auch aus noch weit nichtigeren Gründen. Im Streit darüber, zu welcher Uhrzeit und von wem der Docht der Kerze abgeschnitten werden darf, ist lange keine Einigung in Sicht. Eine Art Religionsfrieden löst das Problem nicht auf Dauer. Somit mußte in diesem Kerzenstreit eine Konkordienformel die Parität festsetzen, daß er seine Lichter unten, sie ihre oben ansteckte. Jetzo aber bei der Simultankerze, die schon oben dick war, ließ er sich das Interim des falschen Leuchtens gefallen.264

Schließlich gelingt die Versöhnung in reichsrechtlicher Umständlichkeit mit einem feierlichen Friedensschluss, der nach dem Vorbild des Augsburger Religionsfriedens von 1555 und des Westfälischen Friedens von 1648 geschlossen ist:

258 259 260 261 262 263 264

Ebd., S. 91 f. Ebd., S. 257. Ebd., S. 283. Ebd., S. 314. Ebd., S. 178 f. Ebd., S. 155. Ebd., S. 170.

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Nun wurde Hausfriede geschlossen, ein Paar nasse und ein Paar heile Augen waren die Friedeninstrumente, und ein westfälischer Vertrag gab jeder Partei ein Licht und volle Scherfreiheit. 265

Von „Reichsfriedensprotokoll“, „Reichskammergerichts-Revision“ und „Westfälische[m] Friede[n]“ zwischen streitenden Parteien, insbesondere Ehepaaren, spricht der Erzähler auch in anderen Romanen häufig.266 Nicht nur auf die verschiedenen Friedensschlüsse des Heiligen Römischen Reichs und die sich daran anschließenden verfassungsrechtlichen Auslegungsstreitigkeiten wird die Interaktion der Protagonisten projiziert. Die Reichsverfassung wird auch metaphorisch heranzitiert, wenn es darum geht, schwierige, langwierige Entschlüsse durchzusetzen, von „Reichsabschied“267 ist dann etwa die Rede oder auch, wenn unabweisliche Prinzipien geltend gemacht bzw. gebrochen werden, von einem persönlichen „Reichsgrundgesetz“268. Leibgeber gelingt es besser, an sein Recht zu kommen als „Reichs-Kammergerichtsexekutions-Truppen“269, und Wirtsstuben werden zu „reichsunmittelbare[n] Diogenes-Fässer[n]“270. Besondere Vorliebe hat Jean Paul für die komplexen und höchst eigentümlichen Formen der Reichsverfassung wie z. B. die Zusammensetzung der Kurien am Reichstag.271 Den Höhepunkt der Reichsmetaphorik stellt zweifellos das Adlerschießen im Siebenkäs dar: Unverkennbar schießen die Reichsdörfler auf den Reichsadler höchst persönlich, der sich aber trotz aller Verstümmlung erstaunlich lange an der Stange hält – ein Schelm, der an das Ende der Reichsverfassung denkt –, bis Siebenkäs schließlich zum „Vogelkaiser“ erhoben wird.272 Es gäbe noch zahlreiche Beispiele, doch dürfte deutlich geworden sein, wie ubiquitär das Reich in Jean Pauls Bildwelten eingearbeitet ist. Dass die durch den Bildwitz aufgespürte ,Ähnlichkeit‘ der an sich ,inkommensurablen Größen‘ für das Heilige Römische Reich wenig schmeichelhaft ist, steht außer Frage. Die Ähnlichkeit zwischen Bildgeber und Bildspender führt zum Lachen über beide. Nicht nur das unangemessen staatstragende Verhalten der armen Eheleute wird damit lächerlich. Indem die klein265 Ebd., S. 174. 266 Jean Paul: Titan, in: SW, Abt. 1, Bd. 3, S. 304, S. 447; Jean Paul: Flegeljahre, in: SW, Abt. 1, Bd. 2, S. 964; Jean Paul: Hesperus, in: SW, Abt. 1, Bd. 1, S. 823. 267 Jean Paul: Hesperus, in: SW, Abt. 1, Bd. 1, S. 859, S. 926, S. 1173. 268 Jean Paul: Schulmeisterlein Maria Wutz, in: SW, Abt. 1, Bd. 1, S. 455. 269 Jean Paul: Siebenkäs, in: SW, Abt. 1, Bd. 2, S. 559. 270 Jean Paul: Flegeljahre, in: SW, Abt. 1, Bd. 2, S. 861. 271 Jean Paul: Hesperus, in: SW, Abt. 1, Bd. 1, S. 838, S. 979. 272 Jean Paul: Siebenkäs, in: SW, Abt. 1, Bd. 2, S. 221 – 253, S. 249.

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krämerischen Sorgen der Protagonisten reichsrechtlich geadelt werden, sinken zugleich die Funktionsmechanismen der Reichsverfassung auf die Ebene niederster Triebe herab und werden ihrerseits der Lächerlichkeit preisgegeben. Das Reich ist damit, so könnte man hinzufügen, nicht besser und nicht schlechter als seine kleinsten Glieder. Jean Paul schrieb kurz vor dem endgültigen Untergang des Alten Reichs, als die Mängel der Verfassung offen zutage traten. Die kritische Sicht ist daher wenig verwunderlich. Die Selbstverständlichkeit und Vielfalt der Reichsmetaphorik in seinem Werk zeigt aber, wie präsent das Reich auch noch in dieser Phase für die „Reichs-Deutschen“273 war, an die sich die Romane richteten.

273 Jean Paul: Hesperus, in: SW, Abt. 1. Bd. 1, S. 1174. An anderer Stelle spricht Jean Paul von „Reichsboden“, Jean Paul: Flegeljahre, in: SW, Abt. 1, Bd. 2, S. 1003.

Kapitel 2: Reich als Text 1. Verrechtlichung der Reichsidee Während die Kultur- und Geistesgeschichte des aufgeklärten Jahrhunderts einem nachhaltigen Wandel unterlag, scheint die Reichsverfassung formal unverändert fortbestanden zu haben. Achim von Arnim konnte zu Beginn des 19. Jahrhunderts berechtigt, den Topos der ,gotischen Ruine‘ abwandelnd, von der „alte[n] Reichsmumie“1 sprechen. Schon deshalb muss für die fortschrittlichen Geister der Aufklärung, der Empfindsamkeit, des Sturm und Drang sowie der Weimarer Klassik Desinteresse am maroden Alten Reich postuliert werden. In der Tat unterblieb eine grundlegende Reichsreform im 18. Jahrhundert, und die Konkurrenz zwischen Habsburgern und Hohenzollern war eine ungeheure Zerreißprobe für das Staatssystem, das diese schließlich nicht überstehen sollte. Eine simple Tatsache wird dabei jedoch ausgeblendet: Anders als die Verfassungswirklichkeit blieb die Reichsidee keineswegs statisch, sondern wandelte sich mit der Kulturgeschichte – ein Wandel, so die These, der sie auch im 18. Jahrhundert zu literarischen und literaturprogrammatischen Aktualisierungen und Adaptionen befähigte. Dem ,regressiven‘ Aspekt der Reichswahrnehmung, dem Topos der gotische Ruine, der reformunfähigen Verfassung, steht damit ein ,progressiver‘ Aspekt gegenüber, der freilich mehr auf mentale Konstruktionen denn auf die tatsächlichen Gegebenheiten rekurriert: auf ein Reich in der Möglichkeit, nicht in der Realität. Im Folgenden soll das ,Reich als Text‘ untersucht werden, das Reich also, insofern es mehr oder weniger explizit Gegenstand der Literatur bzw. der literarischen Essayistik wurde. Zweifellos nahm die Bindung zwischen Kultur- und Reichspatriotismus im Laufe des 18. Jahrhunderts weiter ab, sie blieb aber, wie zu zeigen sein wird, durchaus bestehen. Die Kluft zwischen Reich und Dichtern vermindert sich deutlich, wenn das zeitge1

Arnim, Achim von: Was soll geschehen im Glücke, in: ders.: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Roswitha Burwick/Jürgen Knaack/Paul Michael Lützeler/Renate Moering/Ulfert Ricklefs/Hermann F. Weiss, Frankfurt a.M. 1989 – 1992, Bd. 6: Schriften, S. 200 – 205, hier S. 203; vgl. allgemein: Schmidt, Peter: Die gotische Ruine der Reichsverfassung, in: Weimarer Beiträge 35 (1989), S. 745 – 758.

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nössische Reichsbild, die Basis jedes Reichspatriotismus, recht verstanden ist: Nicht mehr von einem universalistischen, über die translatio imperii legitimierten Heiligen Römischen Reich ist dann auszugehen, sondern von einer aus der nationalen Geschichte abgeleiteten Rechts- und Friedensordnung sui generis. An die Stelle des Imperiums, dessen ,Besitz‘ die Deutschen des 16. und 17. Jahrhunderts als höchsten Beweis ihrer Würde priesen, trat immer mehr das Reich als politisch-rechtlicher Begriff, der eine historisch gewachsene Staatenordnung benannte. Die Reichsidee wurde im Laufe der Frühen Neuzeit nicht nur säkularisiert und nationalisiert, sie wurde auch juridifiziert.2 Insofern kann die Rezeption reichsjuristisch informierter Schriften ein guter Indikator für das Interesse der Autoren am Reich sein, waren diese doch die wichtigsten Promulgatoren eines zeitgemäßen Reichsdenkens. Während die enge Verbindung zwischen Reichsstaatsrecht und Dichtern für das 17. Jahrhundert außer Frage steht, gibt es zu dieser Beziehung im Zeitalter der Aufklärung jedoch keine Untersuchung.3 Was aber war das Reichsstaatsrecht, das ius publicum romano-germanicum, als wissenschaftliche Disziplin? Nach Michael Stolleis gab es drei Wurzeln des öffentlichen Rechts, denen auch drei konkurrierende ,Normen‘ und Lehrtraditionen entsprachen:4 1. Die prudentia civilis der Artistenfakultät, 2. das römische Recht und das Kirchenrecht sowie, 3., die Reichsverfassung als historischer Forschungsgegenstand selbst. Während 2 3

4

Zur Entwicklung der Reichsidee: Aretin/Hammerstein: Reich, in: GB, Bd. 5, S 423 – 486; Schmidt: Reich/Reichsidee. Conrad Wiedemann zeigt sich überzeugt, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine solche auch nicht zu finden sei. „Es sei aber sicher, daß die großen Kulturtheoretiker der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich nicht mehr an die Reichspublizistik hielten, sondern – und dies war innovativ – an die aus Frankreich kommende Nationalgenie- und Nationalcharakteridee.“ So Wiedemann im Diskussionsbericht zum Vortrag von M. Stolleis: Stolleis, Michael: Tradition und Innovation in der Reichspublizistik nach 1648, in: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, hrsg. v. Wilfried Barner, München 1989, S. 1 – 18, hier S. 17. Wiedemann kommt allerdings das Verdienst zu, im Zusammenhang mit Gottsched die Beziehung zum Reichsstaatsrecht angedeutet zu haben: Wiedemann, Conrad: Römische Staatsnation und griechische Kulturnation. Zum Paradigmenwechsel zwischen Gottsched und Winckelmann, in: Deutsche Literatur in der Weltliteratur – Kulturnation statt politischer Nation?, hrsg. v. Franz Nobert Mennemeier/Conrad Wiedemann, Tübingen 1986, S. 173 – 178. Stolleis: Tradition und Innovation; Hoke, Rudolf: Reichspublizistik (Neuzeit), in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, hrsg. v. Adalbert Erler/ Ekkehard Kaufmann, Berlin 1990, S. 720 – 727.

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die auf Aristoteles’ Politik beruhende prudentia civilis der Scholastik im Laufe des 17. Jahrhunderts durch das Natur- und Völkerrecht substituiert wurde und innerhalb der reichsstaatsrechtlichen Disziplin schließlich unter der Überschrift ius publicum universale firmierte, nun innerhalb der Juristenfakultät,5 und schließlich in die Allgemeine Staatsrechtslehre mündete, verlor das römische Recht mehr und mehr an ordnungsgebender Stellung. Dem Bedürfnis der Zeit während und nach dem Dreißigjährigen Krieg geschuldet, dominierte zusehends die historisch-pragmatische, auf die positiven Gesetze und Institutionen des Reichs gerichtete ,Reichspublicistik‘ mit Vertretern wie Hermann Conring und Samuel von Pufendorf. In ihrem rechtshistorischen Zugriff fand sich eine adäquate Methode, um die ungeheure Rechtsvielfalt des sich neu organisierenden Alten Reichs zu beschreiben und zu systematisieren. Das Aufbauprinzip der ,reichspublicistischen‘ Lehrbücher seit Mitte des 17. Jahrhunderts orientierte sich nicht mehr an den Institutiones Justinians, sondern dem antiken Organismusgedanken folgend am „Reichskörper“, Stolleis spricht vom „Caput & Membra“-Schema.6 Ausgehend von Halle und Göttingen galten Reichshistorie und ,Reichspublicistik‘ auch und besonders im 18. Jahrhundert als ehrwürdige Fächer mit hoher Anziehungskraft für in- und ausländische Studierende.7 Die beiden Koryphäen der ,Reichspublicistik‘ dieser Zeit vertraten zwei unterschiedliche Ausrichtungen ihrer Disziplin: auf der einen Seite die rechtspositivistisch-sammelnde Arbeitsweise Johann Jacob Mosers, auf der anderen der zwar nicht minder positivistische, aber stärker an das ius publicum universale angelehnte, dogmatisch-systematisierende Zugriff Johann Stephan Pütters.8 Die ,Reichspublicistik‘ beschrieb die Funktionsweise des Alten Reichs. Sie war ganz auf die Praxis und den konkreten politischen Nutzen aus5 6 7 8

Zum Verhältnis des ius publicum romano-germanicum zum ius publicum universale: Stolleis: Öffentliches Recht, Bd. 1, S. 268 – 297. Stolleis: Tradition und Innovation, S. 6. Vgl. Hammerstein: Jus und Historie. Vgl. Laufs, Adolf: Johann Jacob Moser, in: Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Michael Stolleis, München 1995, S. 284 – 293; Schömbs, Erwin: Das Staatsrecht Johann Jacob Mosers (1701 – 1785). Zur Entstehung des historischen Positivismus in der deutschen Reichspublizistik des 18. Jahrhunderts, Berlin 1968; Link, Christoph: Johann Stephan Pütter, in: Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Michael Stolleis, München 1995, S. 310 – 331; Ebel, Wilhelm: Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, Göttingen 1975; Marx, Heinrich: Die juristische Methode der Rechtsfindung aus der Natur der Sache bei den Göttinger Germanisten Johann Stephan Pütter und Justus Friedrich Runde, Göttingen 1967.

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gerichtet, prägte aber zugleich den politischen Diskurs jenseits ihres engeren Anwendungsbereichs und so auch das Reichsdenken des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen. Die damit einhergehende Veränderung der Reichsidee hat eine europäische, nach außen gerichtete und eine nach innen gerichtete Dimension. Das Heilige Römische Reich musste (nach außen) auf seinen traditionellen Würdevorrang im Abendland verzichten, gewann diesen aber von anderer Seite zurück:9 Bereits die Gründungsväter des neuen Reichsstaatsrechts lehnten die translatio imperii, welche noch im 16. Jahrhundert von großer Legitimationskraft war, rundheraus ab. Allen voran propagierte Hermann Conring erfolgreich die grundsätzliche Unterschiedenheit des Römischen vom ,Deutschen‘ Reich.10 Für Johann Stephan Pütter war die Vorstellung von der Übertragung des antiken römischen Kaisertums auf Karl den Großen nichts weiter als ein „Wahn“ des Mittelalters, „der jetzt kaum mehr einer Widerlegung bedarf“11. Auf der anderen Seite waren spätestens durch den Westfälischen Frieden Reichsrecht und europäische Staatenordnung eng miteinander verknüpft: Frankreich fungierte 1648 zusammen mit Schweden, 1779 mit Russland als Garantiemacht für die Rechts- und Friedensordnung in Deutschland. „Indem diese andersartige Organisation [die Reichsverfassung] völkerrechtlich festgeschrieben und so zum Bestandteil des droit de l’Europe wurde, wurde das Reich jedenfalls bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zum Ruhepol der europäischen Ordnung, zur Halterung derselben, gewissermaßen zu ihrem Widerlager.“12 Das Bild vom Reich im ,Herzen Europas‘ als Basis des europäischen Friedens ist hier grundgelegt und findet sich nicht nur in völkerrechtlichen 9 Zum Nachwirken der alten Sonderstellung bei den Juristen: Hammerstein, Notker: „Imperium Romanum cum omnibus suis qualitatibus ad Germanos est translatum“. Das vierte Weltreich in der Lehre der Reichsjuristen, in: Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, hrsg. v. Johannes Kunisch, Berlin 1997, S. 187 – 202. 10 Conring, Hermann: De Germanorum imperio Romano liber unus […], Helmstadt 1644. Vgl. Willoweit, Dietmar: Hermann Conring, in: Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Michael Stolleis, München 1995, S. 129 – 147. 11 Pütter, Johann Stephan: Litteratur des Teutschen Staatsrechts, Bd. 1, Göttingen 1776, S. 35 (§ 15 „Der Wahn, daß das Teutsche Reich eine Fortsetzung des alten Römischen sey“). Vgl. Schlie, Ulrich: Johann Stephan Pütters Reichsbegriff, Göttingen 1961, S. 11 – 20. 12 Steiger, Heinard: Der Westfälische Frieden – Grundgesetz für Europa?, in: Der Westfälische Frieden. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, hrsg. v. Heinz Duchhardt, Oldenbourg 1998, S. 33 – 80, hier S. 77.

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und staatswissenschaftlichen Schriften, ebenso bei deutschen Autoren wie Leibniz, Schiller oder Hölderlin, sondern in einer ganzen Reihe europäischer Friedensschriften, prominent etwa in Rousseaus Auszügen zu dem Friedensprojekt des Abbé de Saint-Pierre.13 Anders als seine Vorlage benötigt Rousseau keinen fiktiven Gesellschaftsvertrag, um das Reich zu loben, vielmehr dient ihm die historische Empirie als Beleg: Das europäische Staatensystem fände im „Deutsche(n) Reich, das vom Herzen Europas aus alle anderen Mächte im Zaume“ halte, eine entscheidende Stütze. Es sei ein „achtunggebietendes Reich, dessen Verfassung“ „allen von Nutzen“ ist, da „sie ihm [dem Reich] die Mittel und den Willen zu Eroberungen“ nehme und es dennoch „zu einer Klippe der Eroberer“ mache. „Der westfälische Friedensvertrag“ sei daher „vielleicht für immer die Grundlage des politischen Systems“ und „das öffentliche Recht“, das Reichsstaatsrecht, „nicht allein das germanische öffentliche Recht, sondern in gewissem Sinn das von ganz Europa“14. Ein anonymer Autor der patriotischen Zeitschrift Journal von und für Deutsche feiert 1787 die positive Darstellung des Reichs durch den französischen Philosophen und zitiert die nämliche Passage mit nationalem Stolz: Endlich habe ein Ausländer den Wert seines Landes gebührend gewürdigt.15 Beispiele der französischen Enzyklopädisten zeigen freilich, dass ein solches Lob nicht notwendig reichspatriotisch sein muss: Die innere und äußere machtpolitische Ohnmacht wird dort mit gehörigem Spott zur Grundlage des europäischen Friedens erklärt, weil ein vereintes oder auch nur einträchtiges Reich die Mächtebalance stören würde.16 Für kosmopolitische Autoren wiederum konnte gerade die strukturelle Angriffsunfähigkeit zum Adel der Reichsverfassung beitragen. 13 Vgl. Hammerstein, Notker: Leibniz und das Heilige Römische Reich deutscher Nation, in: Nassauische Annalen 85 (1974), S. 87 – 102, hier S. 95; Asbach, Olaf: Die Reichsverfassung als föderativer Staatenbund. Das Alte Reich in der politischen Philosophie des Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseaus, in: Altes Reich, Frankreich und Europa. Politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. dems., Berlin 2001, S. 171 – 216. 14 Rousseau, Jean-Jacques: Extrait du projet de la paix perpétuelle […] (1756 – 1761), in: Ewiger Friede, hrsg. v. Kurt v. Raumer, Freiburg 1953, S. 343 – 368, hier S. 352. 15 Anonymus: Urtheil eines Ausländers über Deutschlands Stelle im politischen System von Europa, in: Journal von und für Deutschland 4, St. 11 (1787), S. 447 – 448. 16 Vgl. Dufraisse, Roger: Das Reich aus der Sicht der Encyklopédie méthodique 1784 – 1788, in: Bilder des Reiches, hrsg. v. Rainer A. Müller, Sigmaringen 1997, S. 123 – 153.

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Literaturgeschichtlich ist die nach innen wirkende Dimension ebenso von großer Bedeutung: An die Stelle der sogenannten ,lotharischen Legende‘, laut der Lothar III. 1135 das römische Recht zum geltenden Recht erklärt habe, setzte Conring den Beweis, dass das römische Recht eigentlich fremdes Recht sei, das über die wissenschaftliche und praktische Rezeption langsam im Reich Verbreitung und Geltung gefunden habe. Nicht das römische Recht, sondern die Reichsgeschichte und damit mindestens gleichrangig die deutschen Rechtsquellen sind für Conring daher die Wurzeln der deutschen Rechtsordnung und Verfassung.17 Diese lässt sich nur über ihre Geschichte, nicht durch fremde Systematik begreifen. Samuel von Pufendorfs berühmter Monstrum-Vergleich betont zunächst nichts anderes als die Unmöglichkeit einer aristotelischen Klassifikation der Reichsverfassung: Deutschland könne man nur „einen unregelmäßigen und einem Monstrum ähnlichen Staatskörper“ nennen.18 Pufendorf bedauerte noch die für irreversibel gehaltene Sonderstellung des Reichskörpers. Auf dem Weg der historisch-quellenmäßigen Beschreibung, welche den Streit um die forma imperii überwand,19 wurde das ,Monstrum‘ schließlich zur deutschen Staatseigentümlichkeit schlechthin. Johann Jacob Mascov spricht stattdessen von der „propria Germanis […] forma“20. Die Kenntnis der deutschen Rechtsquellen und der deutschen Verfassungsgeschichte wird dabei zu mehr als nur zu einem Hilfsmittel des juristischen Alltagsgeschäftes: „Wir sind Teutsche Juristen“, ruft Nicolaus Hieronymus Gundling 1742 voll Patriotismus, und fordert, die „eigene[n] Gesetze“ nicht länger zu „negligiren“21. Johann Jacob Moser meint denselben

17 Vgl. Conring, Hermann: De origine iuris Germanici commentarius historicus […], Helmstadt 1643. 18 Pufendorfs berühmtes Kapitel VI, § 9: Pufendorf: Über die Verfassung des deutschen Reiches, S. 94. 19 Zur forma imperii knapp: Burgdorf, Wolfgang: „Das Reich geht mich nichts an“. Goethes ,Götz von Berlichingen‘, das Reich und die Reichspublizistik, in: Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichsstaat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, hrsg. v. Matthias Schnettger, Mainz 2002, S. 27 – 52, hier S. 31 – 41. 20 Mascov, Johann Jacob: Principia juris publici imperii romano-germanici, ex ipsis legibus, actisque publicis eruta et ad usum rerum accommodata, Leipzig 1729, S. 111. Dazu: Stolleis: Öffentliches Recht, Bd. 1, S. 307. 21 Gundling, Nicolaus Hieronymus: Collegium Historico-Literarivm anderer und letzter Theil, die Geschichte der noch uebrigen Wissenschaften, fürnehmlich der Gottes=Gelahrheit, eine umständliche Historie aller und jeder Theile der Rechts=Gelahrheit bis 1742 […], Bremen 1742, S. 1049.

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Sachverhalt wie Pufendorf, artikuliert ihn aber in reichspatriotischer Begeisterung: „Teutschland wird auf teutsch regiert […].“22 Die Einschätzung der gegenwärtigen Reichsverfassung und des Reichsrechts unter den Juristen reicht von euphorischem Reichspatriotismus über sachlich-nüchternen Pragmatismus bis zur offenen Ablehnung. Im Ganzen aber sorgte die ,Reichspublicistik‘ mit ihrem hohen Rang an den Universitäten für den Erhalt des Reichsbewusstseins im 18. Jahrhundert: Freiheit, Gerechtigkeit, Friede waren mit der Geschichte des ,deutschen‘ Reichsrechts eng verbundene Wertfiguren, die auch und besonders gegen die andersgeartete Verfassungswirklichkeit geltend gemacht werden konnten.23

2. ,Reichspublicistik‘ und Nationalliteratur 2.1 Appelle zur Eintracht: Hermannsdichtung aus dem Geist der ,Reichspublicistik‘? 2.1.1 Hermannsmythos und Reichsbewusstsein Der Konnex zwischen ,Reichspublicistik‘ und Literatur zeigt sich besonders gut an der Hermannsdichtung des 18. Jahrhunderts. Sprach-, Kultur- und Reichspatriotismus sind hier eng verwoben. Das verwundert zunächst, denn Hermann/Arminius ist im kollektiven Gedächtnis nicht mit dem Alten Reich, sondern mit dem Nationalstaat von 1871 verbunden. Dabei weiß die Forschung von den Integrationsschwierigkeiten des Mythos in die kleindeutsch-preußische Ideologie:24 Der germanische Sieg gegen Varus 9 n. Chr. ist ja ein durch und durch antiimperialer Mythos, der von dem Kampf der ,germanischen‘ Fürstentümer gegen das Römische Reich handelt und gar mit dem Mord an dem siegreichen Feldherrn endet. Ein unbequemes Orakel für das deutsche Kaisertum von 1871. In einem 22 Moser, Johann Jacob: Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 1: Von Teutschland und dessen Staats-Verfassung überhaupt, Stuttgart 1766, S. 550 § 1. 23 Vgl. Hammerstein, Notker: Reichspublicistik und humanistische Tradition, in: Aufklärung und Humanismus, hrsg. v. Richard Toellner, Heidelberg 1980, S. 69 – 83. Vgl. auch die Verbindung der ,Reichspublicistik‘ zum Frühkonstitutionalismus: Peters, Wilfried: Späte Reichspublizistik und Frühkonstitutionalismus. Zur Kontinuität von Verfassungssystemen an nord- und mitteldeutschen Konstitutionalismusbeispielen, Frankfurt a.M. u. a. 1993. 24 Münckler, Herfried: „Als die Römer frech geworden…“Arminius und die Schlacht im Teutoburger Wald, in: ders.: Die Deutschen und ihre Mythen, Reinbek bei Hamburg 2010, S. 165 – 180, hier S. 174 f.

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langwierigen Umdeutungsprozess musste er inhaltlich entschärft und verflacht werden, um für die Legitimation des preußischen Machtstaats herhalten zu können: Das Detmolder Hermannsdenkmal von 1875, das Kaiser Wilhelm I. als Vollender jener nationalen Einigung ausweist, die Hermann begonnen habe, wurde deshalb zugleich ein „Ort der mentalen Demobilisierung“25. Besser eignet sich der Arminiusmythos als Aufruf an die Deutschen, gemeinsam gegen Napoleon zu streiten: „So ziehn wir aus zur Hermannsschlacht, / und wollen Rache haben“26, schreibt Ernst Moritz von Arndt 1812. Die zahlreichen Arminiusdichtungen seit dem 16. Jahrhundert erscheinen dagegen nur als literarische Vorarbeit.27 Nach Ansicht Conrad Wiedemanns waren die Deutschen des späten 18. Jahrhunderts aufgrund ihrer politischen Zersplitterung nicht in der Lage, einen gemeinsamen Nationalhelden zu finden.28 Erst nach 1806, darin herrscht weitgehend Einigkeit, konnte Hermann zum „nationalen Symbol“29 aufsteigen. Neuere Forschungen haben allerdings erwiesen, dass es falsch wäre, in den diversen Arminiusdramen, -epen, -singspielen, -opern und -gedichten – Gessa von Essen zählt allein für die ,Sattelzeit‘ 200 Stück30 – nur ein literarisches Spiel, unpolitische Adaptionen oder einen rein kulturell-religiösen Patriotismus zu erblicken. Ganz unverkennbar äußert sich mit der Hermannsdichtung im 18. Jahrhundert, so Hans Peter Herrmann und Hans-Martin Blitz, ein aggressiver, antifranzösischer Nationalismus.31 Doch worauf sollte sich dieser beziehen? Von dem „deutschen Sonderweg“ und Plessners Diktum der ,verspäteten Nation‘ ausgehend schied das Reich 25 Ebd., S. 178. 26 Arndt, Ernst Moritz: Vaterlandslied (1812), in: ders.: Ausgewählte Gedichte und Schriften, Berlin 1969, S. 61 f. 27 Vgl. allgemein: Gössmann, Wilhelm: Deutsche Nationalität und Freiheit. Die Rezeption der Arminius-Gestalt in der Literatur von Tacitus bis Heine, in: Heine Jahrbuch 16 (1977), S. 71 – 96. 28 Wiedemann, Conrad: Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus. Über die Schwierigkeiten der deutschen Klassiker einen Nationalhelden zu finden, in: Patriotismus, hrsg. v. Günter Birtsch, Hamburg 1991, S. 75 – 101. 29 Burgdorf, Wolfgang: Nationales Erwachen der Deutschen nach 1756, in: Territoriale Identität und politische Kultur in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Marco Bellabarba/Reinhardt Stauber, Berlin 1998, S. 109 – 132, hier S. 117. 30 Essen, Gessa von: Hermannsschlachten. Germanen- und Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, S. 8. 31 Herrmann: Ich bin fürs Vaterland zu sterben auch bereit; Blitz: Aus Liebe zum Vaterland.

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für Hans-Peter Herrmann natürlich aus.32 Ähnlich konnte Blitz die von ihm dekuvrierten Motive und Argumentationsmuster eines bürgerlichen Nationalismus (Gemeinnutz, Abstammungsgemeinschaft, Tod für das Vaterland u. a.) nicht mit dem Alten Reich in Verbindung bringen. Die Wandlung der Reichsidee im 18. Jahrhundert, die lange Tradition von Begriffen wie Gemeiner Nutzen, Gemein Bestes in der ständischen Gesellschaft des Alten Reichs öffnen den Reichspatriotismus jedoch durchaus für nationale ,bürgerliche‘ Vorstellungswelten.33 Zu schnell definierte die Forschung das ,deutsche‘ Vaterland Schönaichs, Schlegels, Mösers, Klopstocks etc. als imaginäres Vaterland der „fiktionale[n] Literatur“, das in der Realität noch keinen Referenten habe.34 Die Hermannsdichtung artikulierte nicht den Wunsch nach der Überwindung des deutschen Partikularismus, nach einer „neuen deutschen Einheitsmonarchie“35, die sie kulturell gleichsam vorwegnahm. Mit Friedrich II. und dem aufgeklärten Absolutismus, so liest man oft, hätten die Dichter ihre nationalen Wünsche verbunden. Er sei der Arminius, der zur deutschen Einigung führen solle. Doch handelt es sich damit um einen protestantisch-norddeutschen Patriotismus, „separatis32 Herrmann: Ich bin fürs Vaterland zu sterben auch bereit, S. 60. 33 Eine „Abstammungsgemeinschaft“ hält Blitz für unvereinbar mit den multiplen Identitäten des Reichs (Blitz: Aus Liebe zum Vaterland, S. 121, S. 141, S. 337 f.). Dass sich Begriffe wie ,Vaterland‘, ,Patriotismus‘ und ,Nation‘ auf „ganz unterschiedliche Referenten“ beziehen, ist sehr richtig, bedeutet aber keineswegs, dass man nach einer „,territoriale[n] Wirklichkeit‘ der deutschen Nation“ im 18. Jahrhundert „vergeblich sucht“ (ebd., S. 16). Ebenso übereilt erklärt Blitz Gemeinnützigkeit bzw. Gemeinsinn zur „bürgerlichen Ideologie“, die sich im Vaterlandsdiskurs ausprägt (ebd., S. 129 ff. Zitat S. 133). Zur Tradition der Begriffe ,Gemeiner Nutzen‘ und ,Gemein Bestes‘ in der ständischen Gesellschaft des Alten Reichs: Schulze, Winfried: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 591 – 626. In den reichspatriotischen Schriften Friedrich Carl Mosers zeigt sich, dass bürgerliches Denken und Reichsbewusstsein ineinander übersetzbar waren. Niemand schrieb so sehr gegen den „Geist des Eigennuzes“ (Moser: Von dem Deutschen national=Geist, S. 9, S. 66, S. 68, S. 71) und für „Ein[en] Geist des Friedens und der Eintracht“. „Zwischen dem Kayser und den Ständen“ möge „unzerstörliche Liebe und Vertrauen, gegen die Reichs-Gerichte Verehrung und Gehorsam“ entstehen. Moser, Friedrich Carl: (Ein aufgewärmter alter) Neujahrs=Wunsch an den Reichs=Tag zu Regensburg vom Jahr 1765, in: Neues Patriotisches Archiv 1 (1792), S. 291 – 308, hier S. 307. 34 Herrmann: Ich bin fürs Vaterland zu sterben auch bereit, S. 62. 35 Wiedemann: Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus, S. 91.

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tisch“ und „antikaiserlich“?36 Der Ausruf des erklärten Cäserianers Schubart, „sei unser Führer, Friedrich Herrmann!“, bezieht sich, genauso wie Wielands Friedrich-Lob in seinem Nekrolog, auf das Haupt des Fürstenbunds, der sich die Rettung der Reichsverfassung auf die Fahnen geschrieben hatte: „Er wollt’s. Da ward der deutsche Bund.“37 Sei „die Nation“ nicht berechtigt, fragt Wieland rhetorisch, Friedrich als den „schützenden Genius ihrer Verfassung, ihrer kostbarsten Rechte und wichtigsten Vorzüge vor so vielen andern Völkern zu betrachten?“38 Also doch Reichspatriotismus? Bei Schubart und Wieland besteht da kaum Zweifel. In der Regel bezogen sich die Arminiusdichtungen des 18. Jahrhunderts indes nicht auf Friedrich II. Sie waren etwa dem Landgrafen von Hessen-Kassel oder dem Kaiser gewidmet. Schönaich geriet nach kursächsischem Kriegsdienst 1745 in preußische Kriegsgefangenschaft, Ayrenhof war katholisch und kaisertreu, und der Osnabrücker Verfechter der Vielstaatlichkeit, Justus Möser, gehörte bei aller Bewunderung für das Feldherrengenie Friedrich zu den größten Kritikern des uniformen Absolutismus.39 Die meisten Zeitgenossen sahen im Arminiusmythos einen durchaus geeigneten Stoff für die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. 1792 zählt der Gießener Professor für Poesie und Beredsamkeit, Christian Heinrich Schmid, im Journal von und für Deutschland eine lange Reihe „deutsche[r] Gedichte“ auf, „die sich auf die Geschichte vom Hermann oder Arminius gründen“40. Nicht weniger als 27 Dichtungen in Lohenstein-Nachfolge bzw. in Lohenstein-Kontrast präsentiert der Autor als Beweis der deutschen Vaterlandsliebe und der neuen kulturellen Blüte – und die Reihe könnte ohne Weiteres ergänzt werden: „Nach so vielen Jahrhunderten ist Hermann’s Geschichte von neuem Stoff unserer Nationaldichter geworden, und unsere Dichter haben durch die Art, wie sie sie 36 Burgdorf: Nationales Erwachen der Deutschen nach 1756, S. 117. 37 Schubart, Christian Friedrich Daniel: Friedrich der Große. Ein Hymnus (1786), in: ders.: Gesammelte Schriften und Schicksale, Bd. 4, Stuttgart 1838, S. 223 – 229, hier S. 228. 38 Wieland: Friedrich der Große, in: PS, Bd. 1, S. 268, ursprünglich einleitender Kommentar in: Der Teutsche Merkur 3. Viertelj. (1786), S. 195 – 199. 39 Vgl. zu Schönaich: Jentsch, Hugo: Schönaich, Otto Freiherr von, in: ADB, Bd. 32, S. 253 f.; Welker geht sogar davon aus, dass die Arminiusfigur Mösers FriedrichKritik beinhalten könnte: Welker: Rechtsgeschichte als Rechtspolitik, Bd. 1, S. 108 – 111. 40 Schmid, Christian Heinrich: Ueber die verschiedenen deutschen Gedichte, die sich auf die Geschichte von Hermann oder Arminius gründen, in: Journal von und für Deutschland 9, St. 9 (1792), S. 765 – 775, S. 765.

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bearbeitet, bewiesen, welch’ eine Veränderung mit der Nation vorgegangen, die Tacitus Barbaren schelten durfte.“41 Für Schmid war der Nationalheld gefunden und zugleich der alte Barbarenvorwurf widerlegt. Auch das Alte Reich galt keineswegs allen Autoren als unüberwindbarer Widerspruch zum idealisierten Germanien. Im Politischen Journal kommentierte ein anonymer Autor 1806 „die Folgen der nunmehrigen Zertrümmerung des Deutschen Reiches“ und bedauert, dass „das schöne tausendjährige Band“ zerrissen sei: „Kein deutsches Herz kann bei dem Namen Hermanns mehr aufwallen.“42 Keine Hermannsfaszination ohne Reichsverfassung? Im Folgenden soll der Beweis geführt werden, dass sich die Struktur des Alten Reichs und das Reichsbewusstsein der Literaten problemlos mit dem Hermannsstoff verbinden lassen, wenn in der Auslegung der Bezug zur nationalisierten und juridifizierten Reichsidee des 18. Jahrhunderts an die Stelle einer nationalstaatlichen Teleologie tritt. Viel besser als in den Nationalstaat des 19. und 20. Jahrhunderts fügt sich die Mythenmotorik des antiimperialen und antieinheitsstaatlichen Stoffs in die vielstaatliche Welt des Alten Reichs. Natürlich lässt sich das Verhältnis nicht umdrehen, die dichterische Verarbeitung des Mythos funktioniert auch ohne das Reich. Vielfach nisteten sich aber die bürgerlich-nationalen Vorstellungen der Dichter im politischen Rahmen des Heiligen Römischen Reichs ein. Wiewohl der Reichsbezug durch „bürgerliche Referenzen (wie Moral, Natur) überblendet“43 wurde, blieb er daher durchaus aktivierbar. Das belegt eindrücklich ein kurzer, in der Forschung bisher beinahe unbekannter Text Abraham Gotthelf Kästners (1719 – 1800). Am 26. Februar 1774 trug der Göttinger Professor der Naturlehre und Geometrie44 in der „Deutschen Gesellschaft zu Göttingen“, deren ,Senior‘ er war, einen kurzen epischen Text mit dem Titel Hermann, Varus und Thuisto vor.45 „Eine sehr gute Erfindung, sehr gut ausgeführt!“46, heißt es 41 Ebd., S. 775. 42 Anonymus: Todtenopfer am Sarkophage des heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, in: Politisches Journal 2, St. 9 (1806), S. 881 – 890, hier S. 888 f. 43 Brandt, Bettina: Germania und ihre Söhne. Repräsentation von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne, Göttingen 2010, S. 76, 87 f., 112. 44 Vgl. Hofmann, Joseph Ehrenfried/Menges, Franz: Kästner, Abraham Gotthelf, in: NDB, Bd. 10, S. 734 – 736. 45 Kästner, Abraham Gotthelf: Hermann, Varus und Thuisto. In der Kön. Deutschen Gesellschaft zu Göttingen den 26. Februar 1774 vorgelesen, in: Deutsches Museum 1 (1776), S. 97 – 103. 46 Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 22, St. 1 (1778), S. 73.

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dazu in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Hermann findet sich nach gewonnener Schlacht in Begleitung eines Druiden im Teutoburger Wald. Plötzlich erscheint der Schatten des verstorbenen Varus und triumphiert, indem er die Vergeblichkeit von Hermanns Befreiungstat durch einen Blick in die Zukunft erweist: Hermanns Nachfahren, so prophezeit er, werden römische Rechtsgelehrte über die Alpen holen, und Rom werde mit Priestern über Deutschland ein „schweres Joch“ ausüben. Kurz: „Rom wird dein Germanien allgemeiner und strenger beherrschen, als August es durch meine Legionen beherrscht hätte.“47 Bevor Hermann aber über die schmerzliche Zukunft seines Volks recht verzweifeln kann, erscheint Thuisto, der mythische Ahnherr der Germanen, höchst persönlich und rückt die Prophezeiung des Varus aus überlegener, göttlicher Perspektive zurecht: Italien werde jahrhundertelang eine Provinz des „deutschen Reichs“ sein, und man werde in der Tat „ein römisches Gesetzbuch annehmen“, aber nicht anders als Rom von den Griechen Künste und Wissenschaft übernommen habe und vor allem nur „als ein Hülfsrecht, in Fällen, wo sein [Germaniens] einfaches altes Herkommen nicht zulänglich entscheidet“48. Wenn aber Deutschland „blühend und reich genug“ geworden sei, so „werden deutsche Geseze entstehen, die kein römischer Jurisprudent fassen würde, weil sie auf wahrer Kenntniß der Natur, nicht auf stoischen Hirngespinnsten, und gerichtlichen Formeln beruhen.“49 Was damit gemeint ist, war niemandem so bewusst wie den Göttinger Zuhörern: das ius publicum romano-germanicum, welches Kästner in Leipzig selbst studiert hatte, und das in Göttingen mit Johann Stephan Pütter zu europaweiter Bekanntheit aufgestiegen war. Thuisto rühmt weiter die einzigartige Verfassung der zukünftigen Deutschen, die ihre Wurzeln in der freiheitlichen Kultur von Hermanns Germanentum besitze: Wenn sonst in jeder Nation ein König unzähligen Knechten befiehlt, so wird ein deutscher König, Fürsten, ihm gleichen Königen, gebieten. Auch werden sie ihm nur gehorchen, weil sie ihn selbst zum Gebieter gewählet haben, und nach Gesetzen gehorchen, die sie selbst verfasset haben. Dieses erhabene, Deutschland auf immer eigne, Fürstenrecht, würden wohl Amphiktyonen bewundern, aber aus dem Senate, der vor dem Oktavius kriecht, würde keiner was davon fassen.50 47 48 49 50

Kästner: Hermann, Varus und Thuisto, S. 98. Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. Ebd.

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Dass zudem Deutschland die Wissenschaften anführen und das neue geistliche Rom vor einem deutschen „Druiden“ (Martin Luther) zittern werde,51 ergänzt den hier beschriebenen Patriotismus mit den üblichen nationalen Topoi. Hermann werde daher, so schließt der germanische Gott, während sich Varus, um der Verachtung desselben zu entgehen, in den Teutoburger Sumpf trollt, „noch nach Jahrtausenden“ als deutscher „Befreyer“ gepriesen werden.52 Hermannsmythos und Reichspatriotismus sind hier unmittelbar verschränkt, und zwar in einer vornehmlich rechtshistorischen Tradition: Die deutsche Einheit in der Vielheit, die mehr auf griechische Amphiktyonien als auf das römische Kaisertum verweist, wird gepriesen. Der König gleicht einem primus inter pares und nicht einem unbeschränkten Herrscher. Das Wahlreich steht in fingierter Kontinuität mit der germanischen Freiheit. Ziel ist die Eintracht hinter dem Feldherrn bei bewahrter Selbstständigkeit der Stämme, nicht die Einheit des Staats. Deutschland lebt von der kulturellen und wissenschaftlichen Blüte und nicht von Macht oder Eroberungskriegen. Das ,deutsche‘, einheimische Recht hat eine eigene, dem römischen Recht überlegene Vergangenheit. Kästners Motiv, der göttliche oder gottgesandte Ratgeber bzw. das Totengespräch mit den Stammvätern des eigenen Volks,53 weist weit in die literarische Tradition zurück und wird in der reichspatriotischen Literatur am Ausgang des 18. Jahrhunderts gerne verwandt. Christian Friedrich Daniel Schubart lässt sich in einem „Gesicht“ zwar nicht von Thuisko, aber von Germania in einen Tempel führen. Schon Philander von Sittewald blickt im Alamode-Kehraus, geführt von dem weisen Expertus Robertus, in ein ähnliches, jedoch überaus kritisches Walhall, den teutschen Heldenrat oder besser das Heldengericht auf Burg Geroltz Eck.54 Der Protagonist aus Wetzels Magischem Spiegel von 1806 wird Philander und Schubart folgen.55 Dessen literarisches alter ego trat in den Tempel, der von unzählichen Lampen beleuchtet war. Auf beeden Seiten glänzten die Bildsäulen der Patrioten: Herrmann, Siegmar, Carl der 51 Ebd., S. 102. 52 Ebd., S. 103. 53 Beispiele bei: Frenzel, Elisabeth: Weissagung, Vision, vorausdeutender Traum, in: Motive der Weltliteratur, hrsg. v. ders., 6. überarb. u. ergänzt. Aufl. Stuttgart 2008, S. 788 – 815; Jaumann, Herbert: Totengespräch, in: RLW, Bd. 3, S. 652 – 655. 54 Moscherosch, Hanss Michael: Gesichte Philanders von Sittewald, hrsg. v. Felix Bobertag, Darmstadt 1964, „A la Mode. Kehrauß“, S. 111 – 198, hier S. 168. 55 Vgl. in dieser Arbeit 5. Kap., 4.1.3 Wetzels ,Magischer Spiegel‘ und Eichendorffs Examensarbeit.

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Große, Heinrich der Vogler, Otto, Rudolph von Habsburg, Leopold, Carl der Sechste, Friedrich Wilhelm der Große, und einige andere gekrönte Vaterlandsfreunde standen auf der einen; und die vaterländischen Weisen auf der andern Seite.56

Wie Arminius bei Kästner wird Schubart als Sprössling aus „Thuiskons Stamm“ in seinem literarischen Traum über die große Zukunft des ,deutschen Reichs‘ belehrt. Eine literarisch-politische Reformschrift aus dem Jahr 1798 bietet eine ähnliche Erzählstruktur: Ein Mann findet in Rastatt kurz nach dem Eintreffen Napoleons am Friedenskongress eine Geldbörse mit Briefen. Um den Besitzer ausfindig zu machen, druckt der Finder als (fiktiver) Herausgeber die fremden Briefe kurzerhand ab. Der unbekannte Schreiber schildert dort einen Traum, in dem ihm und anderen Deutschen auf einem Berg „im Schoose des lieben teutschen Vaterlandes“57 der strahlende Cheruskerfürst Hermann erscheint und ihnen als nationalisierte Bergpredigt zwölf Ratschläge zur Stärkung und Modernisierung der Reichsverfassung erteilt. Längst in die „glücklichen Gefilde Hallalas“58 versetzt, überblickt Arminius Zukunft und Vergangenheit: „Ich kenne daher Teutschlands dermalige Verfassung – ich kenne Teutschlands Konstitution – Söhne des Vaterlands! glaubt mir als einem alten, sehr alten Manne, daß Teutschlands Konstitution sehr viel Gutes habe.“59 Ausführlich sucht er den Träumenden von der „Güte der teutschen Staatsverfassung“ „zu überzeugen“, da „in diesem System“ trotz aller „Mängel“ „noch immer die Geisteskraft und der Biedersinn der alten Teutschen weht“60. Verwundern kann die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Anonymus 1797 und Kästner bereits 1774 ihren reichsrechtlich begründeten Patriotismus mit dem Arminiusstoff verbinden, aus der Perspektive der Frühen Neuzeit wenig. Schon die Wiederentdeckung und Verbreitung der Germania des Tacitus durch den Gelehrten und späteren Papst Pius II., Enea Silvio Piccolomini, war ein politischer Akt:61 Rom wollte gegenüber den Gravamina der deutschen Stände die große zivilisatorische Bedeutung der Kirche für das einst so raue Volk jenseits der Alpen hervorheben und damit 56 Schubart: Deutsche Chronik auf das Jahr 1774. Drittes Vierteljahr, S. 417. 57 Anonymus: Winke über Teutschlands alte und neue Staatsverfassung von einem teutschen Staatsbürger, Germanien 1798, S. 6. 58 Ebd., S. 12. 59 Ebd., S. 13. 60 Ebd., S. 18. 61 Vgl. zu den unterschiedlichen Stufen der Wiederentdeckung: Krapf, Ludwig: Germanenmythos und Reichsideologie. Frühhumanistische Rezeptionsweisen der taciteischen ,Germania‘, Tübingen 1979.

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die Abgaben an die Kurie rechtfertigen. Die Wirkung war eine andere: Der vielschichtige und wohl als positiver Kontrast zur römischen Dekadenz entworfene Text ließ den Humanisten Spielraum, in dem wilden Volk ,urdeutsche‘ Tugendideale („simplicitas“, „integritas“, „fides“, „modestia“, „virtus“) zu entdecken. Die Humanisten gewinnen daraus eine Waffe gegen Rom, gegen die Arroganz der italienischen Humanisten ebenso wie gegen die Ausplünderung durch die Kurie; die Reichsjuristen erkennen in der Freiheit der deutschen Vorzeit die Grundlage der ,teutschen Libertät‘, als welche sie den Sinn der Reichsverfassung und damit den Vorzug der deutschen Nation begreifen.62

Reichspatriotismus, insbesondere protestantischer Färbung, und humanistischer Germanenmythos entstanden parallel zueinander und kreuzen sich mehrfach. Zum emphatischen Rechtsterminus der ,deutschen Freiheit‘ wäre es ohne die Korrelation zwischen der humanistischen Tacitus-Rezeption mit der Reichsreform des 16. Jahrhunderts nicht gekommen.63 Es ist gewiss kein Zufall, dass Hermann Conring 1635 die Prinzipien des Reichsstaatsrechtes in einer Vorrede zur Neuausgabe der Germania erläutert. Tacitus’ Germanien wird zum Urbild der wahren deutschen Reichsverfassung. Die Unabhängigkeit des einheimischen vom römischen Recht bestätigt sich für den ,Publicisten‘ nicht zuletzt in Arminius’ Freiheitskampf.64 Im 17. und 18. Jahrhundert kann das Reichsstaatsrecht als legitimer Sachwalter der humanistischen Tacitus-Rezeption gelten. Der von Herder geschätzte Göttinger Reichsjurist Georg Christian Gebauer beschäftigte sich mehrfach ausgiebig mit der Germania, und Johann Jacob Mascov, seines Zeichens Reichshistoriker, schrieb eine wirkmächtige Darstellung der deutschen Frühgeschichte65 – um nur zwei Beispiele zu nennen.

62 Muhlack: Die Germania im deutschen Nationalbewusstsein vor dem 19. Jahrhundert, S. 146. 63 Vgl. Schmidt: Die Idee ,deutschen Freiheit‘. 64 Übersetzung der Vorrede Conrings: Conring, Hermann: Über die Grundlagen einer deutschen staatspolitischen Unterweisung, in: Der Deutsche Staatsgedanke von seinen Anfängen bis auf Leibniz und Friedrich den Großen, hrsg. v. Paul Joachimsen, Darmstadt 1967, S. 234 – 242. Dazu: Muhlack: Die Germania im deutschen Nationalbewusstsein vor dem 19. Jahrhundert, S. 146 f. 65 Vgl. Gebauer, Georg Christian: Vestigia iuris Germanici antiquissima in C. Cornelii Taciti Germania obvia sive dissertationes XXII. […], Göttingen 1766; Mascov, Johann Jacob: Geschichte der Teutschen bis zu Anfang der fränkischen Monarchie, Leipzig 1726.

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Die Literatur nahm davon sofort Notiz: Bereits Daniel Casper von Lohensteins umfangreicher Roman Großmütiger Feldherr Arminius (1689 f.) kann, in reichspolitischer Hinsicht, geradezu als patriotische Literarisierung von Samuel Pufendorfs Verfassungsschrift gelten.66 Gegen den Machiavellismus Roms steht die Treue und Eintracht Germaniens hinter dem Freiheit und Recht verbürgenden Führer Arminius. Für die Freiheit der Reichsstände und zugleich für die Treue zu Leopold I. zu votieren, stellt bei Lohenstein keinen Widerspruch dar. Die Arminiusdichtung ist deshalb zwar in der Tat mehrheitlich ständisch-protestantisch – eine Ausnahme ist z. B. der Österreicher Cornelius Hermann von Ayrenhoff –, jedoch deshalb nicht notwendig antikaiserlich, solange dieser seine Rolle als primus inter pares nicht überschreitet und ,Eintracht‘ nicht mit ,Einheit‘ verwechselt. Samuel Pufendorf beschreibt das Pendeln zwischen Eintracht und Zwietracht als Grundprinzip des irregulären Reichskörpers. Seine Empfehlung lautet in Kenntnis der deutschen Geschichte, nicht den Schritt ,zurück‘ in eine reguläre Monarchie oder nach ,vorne‘ zu einer gänzlichen Auflösung des Staats zu wagen, sondern „solche Mittel an[zu]wenden, die von der Politik für solche Staatenverbindungen vorgeschrieben werden, welche ja alle mehr auf die Erhaltung ihres Besitzes als auf seine Vermehrung bedacht sein müssen. Am wichtigsten ist es also, die innere Eintracht herzustellen“67. Die Wahrung der Rechte und Besitzstände aller „Bundesgenossen“ gilt es dabei genauso zu sichern wie die Beschränkung der Macht des Oberhaupts durch Gesetze und einen „ständige[n] Rat“ der Fürsten.68 Das Spiel von Eintracht und Zwietracht, Eigennutz und Gemeinsinn bleibt für die politischen Debatten des Reichs im ganzen 18. Jahrhundert prägend. Die Forderung nach Eintracht darf aber deshalb nicht mit der Forderung nach einem Nationalstaat verwechselt werden:69 Sie ist nicht mehr und nicht weniger als die, wie Pufendorf erläutert, grundlegendste Forderung des föderativen Reichsverbands. Mit der Hermannsschlacht stand eine Appellationsfigur zur Verfügung, die mobilisierend wirken sollte und zugleich den Glauben an die potentielle Riesenkraft des ,deutschen Reichs‘ mythologisch fundierte. Über den Wandel des Reichsbewusstseins 66 Zur Rolle Pufendorfs und der ludovizianischen Kriege bei Lohenstein: Borgstedt: Reichsidee und Liebesethik, S. 17 – 29. 67 Pufendorf: Über die Verfassung des deutschen Reiches, S. 114, Kap. 8, § 4. 68 Ebd., S. 115. 69 Vgl. Langewiesche: Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation, S. 215.

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im 17. und 18. Jahrhundert konnte die Idee der nationalen Eintracht hinter einem freilich zum primus inter pares diminuierten Kaiser eine patriotische und der Intention nach überkonfessionelle, ja, sogar überständische Vorstellung werden. Von hier aus fällt ein neuer Blick auf die literarischen Bearbeitungen des Arminiusmythos im 18. Jahrhundert. Die Arminiusdichtungen gruppieren sich im 18. Jahrhundert in drei Kernphasen, die jeweils im Nachgang von schweren Reichskrisen entstanden sind: 1. dem Österreichischen Erbfolgekrieg, 2. dem Siebenjährigen Krieg und 3. den Koalitionskriegen. Die weite Sprachnation trat vor diesem Kontext oft zugunsten der engeren politischen Nation zurück oder wurde von reichspatriotischen Zügen zumindest ergänzt. 2.1.2 Hermannsdichtung im Kontext des Österreichischen Erbfolgekriegs Die Rezeption des Arminiusstoffs ist eng an die Debatte um den Barbarenund Nachahmungsvorwurf gekoppelt, oder, anders formuliert, an die Frage, wie eigenständig die deutsche Sprache und Kultur im 18. Jahrhundert gegenüber der lateinischen bzw. französischen war.70 Insofern stehen die Dramen und Epen in der Tradition des Sprachpatriotismus wie der Alamode-Kritik des 17. und sind Teil der „Jahrhundertdebatte“ des 18. Jahrhunderts.71 Bereits der Kontext von Kästners Arminius-Vortrag, die ,Deutsche Gesellschaft‘ in Göttingen, seine parallele Mitgliedschaft in der Leipziger ,Muttergesellschaft‘ und sein dortiges Jurastudium verweisen auf das Zentrum der frühen Hermannsdichtung des 18. Jahrhunderts: den Umkreis Gottscheds in Leipzig. Dessen Sprach- und Theaterreform manifestiert sich nicht nur in seiner Protektion des Hermannsdramas von Johann Elias Schlegel und Christoph Otto von Schönaichs Epos, an diesen Beispielen wird auch Gottscheds oft unterschätztes Nations- und Reichsbewusstsein offensichtlich. 70 Krebs, Roland: Von der Liebestragödie zum politisch-vaterländischen Drama. Der Hermannstoff im Kontext der deutsch-französischen Beziehungen; zu Johann Elias Schlegels und Justus Mösers Hermannsstücken, in: Arminius und die Varusschlacht, hrsg. v. Rainer Wiegels/Winfried Woesler, Paderborn u. a. 1995, S. 291 – 308. 71 Krämer, Olav: „Welcher Gestalt man denen Frantzosen […] nachahmen solle“. Stationen einer Jahrhundertdebatte (Thomasius, Prémontval, Herder, Friedrich II., Möser), in: Gallophobie im 18. Jahrhundert. Akten der Fachtagung vom 2./ 3. Mai 2002 am Forschungszentrum Europäische Aufklärung, hrsg. v. Albert Meier/Jens Häseler, Berlin 2005, S. 61 – 88; Heitz, Raymond u. a. (Hrsg.): Gallophilie und Gallophobie in der Literatur und den Medien in Deutschland und in Italien im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2011.

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Bereits die ,Görlitzer Poetengesellschaft‘ zeichnet sich nach Detlef Döring durch gewisse „reichspatriotische Bestrebungen“ aus. Die „Abwehr ausländischer Überfremdung“ geht mit der patriotischen Forderung nach „Einung und Stärkung des Reiches“ einher.72 In den ,Oden‘ der ,Deutschen Gesellschaft‘ ist das Thema zwar keineswegs dominant, auf eine grundsätzliche Reichsbindung deutet aber vieles.73 Formal wie inhaltlich lehnen sich die Dichter dabei an reichspatriotische Werke der Barockzeit an, etwa an die von Gottsched in der Critischen Dichtkunst als Exempel „von unsern alten Poeten“ angeführten Gedichte Paul Flemings, Martin Opitz’ oder Benjamin Neukirchs.74 Politischer Grundtenor ist die Eintracht der deutschen Fürsten im Kampf gegen Frankreich oder die Türken. Germanien, das ,deutsche Volk‘, Arminius sind wiederkehrende Sinnbilder für ein einträchtiges – nicht geeintes! – Reich in großer Bedrohung. 1736 feiert Gottsched Kaiser Karl VI. als Friedensstifter und „Schutzgestirn der deutschen Welt“, dessen „Vatersinn“ „Deutschlands Heil“ bedeute.75 Politischer Kontext war vermutlich der Polnische Thronfolgekrieg (1733 – 1738). Karl solle Eintracht im ,deutschen Reich‘ herbeiführen, dann würde sich die Vielfalt zu einer gewaltigen Macht entpuppen: Ach! daß die Zwietracht deiner Glieder, O Deutschland! dir so schädlich ist: Nur Neid und Eigensinn schlägt deine Kräfte nieder, Dadurch du sonst so furchtbar bist.76 72 Döring, Detlef: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds, Tübingen 2002, S. 106. Johann Burkhard Menckes Gedichtsammlung mit eigenen und fremden Werken schlägt mehrfach reichspatriotische Töne an. Vgl. Mencke, Johann Burkhard: Philanders von der Linde Vermischte Gedichte […], Leipzig 1710, S. 92 und 170. 73 Vgl. Gottsched, Johann Christoph (Hrsg.): Oden der Deutschen Gesellschaft in Leipzig: in vier Bücher abgetheilet […], Leipzig 1728, S. 49: „Was Deutschland Carlen schuldig blieb […]“; oder S. 251: „Ihr seht ja die gemeine Not, / Ihr seht schon Spieß und Degen glänzen! / Der Feind, der Deutschland Fessel droht, / Steht längst in unsers Reiches Grenzen. / Die Ehre nähr die Tapferkeit […].“ 74 Vgl. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Anderer Besonderer Theil, in: AW, Bd. 6,2, S. 125 – 133: Flemings Schreiben, der vertriebenen Frauen Germanien, an ihre Söhne, oder die Churfürsten, Fürsten und Stände in Deutschland; ebd., S. 148 f.: Opitz, an Seine Kaiserliche Majestät; ebd., S. 269 – 273: Bessers, Danksagung des befreyten Unterrheins, An Friedrichen den Dritten. Nach der Uebergabe von Bonn, 1689; ebd., S. 232 f.: Neukirch, auf die Krönung des römischen Königs Josephs. 75 Gottsched: Karl, der Friedensstifter. Im 1736 Jahre, in: AW, Bd. 1, S. 143. 76 Ebd., S. 146.

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„Stolz“, „Eigennutz“ und „Zwietracht“ sind die Ursachen des deutschen Übels, nicht die Vielstaatlichkeit als solche. Die Gegenwart erscheint als Zerrbild der germanischen Eintracht unter Führung Hermanns („Vorzeiten hast Du Rom im größten Flor beschämt“), da sich die Fürsten Deutschlands nicht ausreichend hinter ihrem Kaiser vereinigen.77 „Thuiskon, Mannus“, „Askan“ und „Hermann“ werden auch in der Jubelode auf die Buchkunst von 1740 angerufen. Sie sollen dem Dichter Kraft verleihen, die deutsche Nation zu stärken, während sich „Das Deutsche Reich“ der politischen Wirklichkeit „itzt“ „vergißt“.78 Das Reich erhält zwar keineswegs eine zentrale Rolle in Gottscheds Werk, es ist aber vielfach präsent.79 Ganz besonders, wenn eine konkrete politische Bedrohung im Hintergrund steht. 1743 erschien Johann Elias Schlegels Drama Hermann. Ein Trauerspiel. Nur zwei Jahre vor diesem Debüt und zeitgleich zu Schlegels Arbeit an dem nationalen Stoff veröffentlichte Gottsched Pierre Bayles Gedanken bey Gelegenheit des Cometen, die vor allem in der Theodizee-Debatte des Aufklärungsjahrhunderts Berühmtheit erlangten. Natürlich versah er sie 77 „Der Feind erweitert stets die Gränzen, / Das Reich wird klein: doch seine Söhne ruhn. / Wer denkt an seine Pflicht? Wer will das Seine thun? / Wer läßt sein Schwert für Karlen glänzen?“ Ebd., S. 147. „Mein Kaiser, deiner Weisheit Schluß; / Nunmehr ist Gallien dir alles eingegangen, / Was künftig Deutschland retten muß. / Dein Erbfolgsrecht wird feste stehen, / Dein Oesterreich bleibt ewig ungetrennt. / Nun Hymens Fackel auch der theuren Erbinn brennt, / So kann dein Haus nicht untergehen: / Ja den gepriesnen Held, dem du sie wirst vermählen, / Wird Deutschland einst zum Haupte wählen.“ Ebd., S. 148. Mehrfach noch ruft Gottsched Hermann und die Germanen als Vorbilder für das zeitgenössische „deutsche Reich“ auf, verbunden mit dem Appell zusammenzustehen und sich nicht zu vergessen. Z. B. „AUf, grosser Carl! Thuiscons ächter Sohn […].“ Gottsched: Das Lob Germaniens, in: AW, Bd. 1, S. 14. „GErmanien, Du Königin der Welt, / Vor deren Thron sich hundert Völker schmiegen / Auf deren Winck sich tausend Fürsten biegen, / Der Ost und West gebückt zu Fusse fällt [….].“ Ebd., S. 12. 78 Gottsched: Thuiskon, Mannus und Askan, in: AW, Bd. 1, S. 169. 79 Über die staatliche „Mannigfaltigkeit“ Italiens, Deutschlands und des Reichs vgl. Gottsched, Johann Christoph: Rede auf die vollzogene Vermählung Sr. Königlichen Hoheit des königlichen Churprinzen, in: AW, Bd. 9,1, S. 12 – 42, hier S. 26 f.; vgl. zum Religionskompromiss und dem daher rührenden deutschen Volksreichtum: Gottsched: Von dem verderblichen Religionseifer, und der heilsamen Duldung aller christl. Religionen (1725), in: AW, Bd. 9,2, S. 456 – 464, hier S. 461. Vgl. Fulda, Daniel: Zwischen Gelehrten- und Kulturnationalismus. Die ,deutsche Nation‘ in der literaturpolitischen Publizistik Johann Christoph Gottscheds, in: Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa, hrsg. v. Georg Schmidt, München 2010, S. 267 – 292.

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nicht nur mit einer ausführlichen und politisch aktualisierenden Vorrede, sondern auch mit kritischen Anmerkungen und Kommentaren. Einige davon sind essentiell politischen Inhalts. Die kulturnationale Identität ist dabei auf das Engste mit der politischen Reichsnation verbunden: Seit „wir alle lieber in der spanischen, welschen, französischen oder englischen Torheit, als in der alten deutschen Freiheit und Redlichkeit groß sein wollen“, schreibt er in der Tradition der barocken Alamode-Kritik, „sieht man den Verfall des Deutschen Reichs vor Augen, wird ihn vielleicht auch noch selbst erleben“.80 Gottsched, der Karl VI. als neuen Hermann und Hoffnungsträger des Reichs gepriesen hatte, ist vom Tod des Kaisers zutiefst entsetzt. Dass „in dem wienerischen Residenzschlosse“ neben „den Bildern aller vorigen Kaiser, von Carl dem Großen an“, „kein einziges mehr Raum“ habe, erfüllt ihn mit einer schrecklichen „Ahndung“81. Die Gefahr sei nicht nur, dass „kein österreichischer Kaiser mehr komme“, sondern „gar kein deutscher Kaiser“82. Besonders „die Macht Frankreichs“ und „die Staatslist des Cardinals Fleuri“ begründen seine Zweifel.83 Ihr stehen „die Saumseligkeit der Deutschen“, „die wenige Einigkeit“ der deutschen Fürsten, „die nur sich selbst zu schonen, oder zu bereichern suchen“, wie auch die „Schlafsucht der übrigen Staaten, die dergleichen herannahende Uebermacht von Frankreich nicht gewahr werden“, gegenüber.84 Ganz Europa sei in Gefahr, denn anstelle des deutschen sehe er sich gezwungen, „einen französischen Kaiser zu prophezeien“, „wiewohl ich es von Herzen wünsche, daß meine Ahndung trügen möge“85. „In dem vorigen Jahrhunderte und im Angange des itzigen schrie alles über die französische Universalmonarchie: itzo aber ist man ganz stille davon […].“86 Nicht vom kulturellen, sondern vom politischen Frankreich ist hier die Rede. In England warnte Richard Glover 1737 in dem Epos Leonidas mit ähnlichen Worten vor dem Hegemoniestreben Frankreichs: „Seht, Frankreich strecket schon, wie einst Persien, seine unterdrückende Hand über alle Länder 80 Gottsched, Johann Christoph (Hrsg): Herrn Peter Baylens, weyland Prof. der Philosophie zu Rotterdam, verschiedene Gedanken bey Gelegenheit des Cometen, der im Christmonate 1680 erschienen, an einen Doctor der Sorbonne gerichtet, aus dem französisichen übersezet, und mit Anmerkungen und einer Vorrede ans Licht gestellt von Johann Christoph Gottsched, Hamburg 1741, S. 233. 81 Ebd., S. 832. 82 Ebd. 83 Ebd., S. 833. 84 Ebd. 85 Ebd. 86 Ebd., S. 836.

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aus.“ England solle kein „ruhiger Zuschauer des allgemeinen Verhängnisses“ bleiben, sondern für „Europens Frieden“ streiten.87 Gottsched weiß um die militärischen „Vortheile der unumschränkten Monarchie“88 Frankreichs und die Schwäche der „vermischte[n] Regimentsform“89. Er weiß aber auch um den hohen Preis absoluter Herrscher, „daß sie [nämlich] ein wenig unbarmherzig sind, und ihres Volkes Gut und Blut nichts achten“. Ludwig XIV. habe „seine Unterthanen zu Bettlern gemacht, und seine Krone in unsäglichen Schulden hinterlassen“90. Nicht gegen die vermischte Regimentsform spricht sich Gottsched aus – diesbezüglich findet sich das Reich mit „Englland, Holland“, der „Schweiz und Genua“91 in guter Gesellschaft –, sondern gegen die Zwietracht seiner Glieder. „In der That ist es mehr der göttlichen Vorsehung als menschlichen Weisheit zuzuschreiben, daß dieser große Staatskörper noch nicht zertrümmert worden, oder vielmehr durch seine eigene Last und die Widerwärtigkeit seiner Theile von sich selbst zerfallen ist.“92 Preußens Aufstieg begrüßt er deshalb durchaus reichspatriotisch. Bayle auslegend, artikuliert er die Hoffnung, das Kurfürsten- und junge Königtum könne zur neuen „Vormauer des Reiches“ werden, die sich gegen die „Herrschsucht der Franzosen“ stemme.93 Die verstreuten Kommentare über den Österreichischen Erbfolgekrieg zeigen, wie sehr Gottsched den innerdeutschen Krieg zu einem Entscheidungskampf gegen die kommende Universalmonarchie Frankreichs uminterpretiert. Aus dem sich zerfleischenden Deutschland soll so ein einträchtiges Reich werden, das machtvoll „die Rechte Deutschlands wider Frankreich“ verteidigt. Er möchte noch erleben, „was alle redlichen Deutschen von einer nahen Demüthigung Frankreichs wünschen und hoffen“94. Solche Töne erwartet man nicht im aufgeklärten Deutschland, schon gar nicht in Sachen Politik. 87 Zitat in der späteren Übersetzung: Leonidas. Ein Gedicht. Aus dem Englischen Originale des Herrn Richard Glover’s nach der fünften Ausgabe übersetzt von Johann Arnold Ebert, Hamburg 1776, zit. n. Bauer, Barbara: Der Gegensatz zwischen Sparta und Athen in der deutschen Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800, hrsg. v. Wolfgang G. Müller/Barbara Bauer, Wolfenbüttel 1998, S. 41 – 94, hier S. 56. 88 Gottsched: Baylens Gedanken, S. 847. 89 Ebd., S. 860. 90 Ebd., S. 846 f. 91 Ebd., S. 860. 92 Ebd., S. 867. 93 Ebd., S. 864 f. 94 Ebd., S. 911.

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In der Arminiusdichtung verbindet sich die kulturelle Debatte um die Nachrangigkeit der deutschen Literatur mit dem politischen Kontext: Gottsched preist Schlegels Hermann. Ein Trauerspiel als deutsches ,Originalstück‘95. Es soll wie die anderen Exempel aus der Deutschen Schaubühne (1741 – 1745) die Erfolge seiner Theaterreform sichern, den praktischen Bedürfnissen der Theaterprinzipale entgegenkommen sowie Anregung für Nachwuchsautoren geben – ein weiterer Schritt also in Richtung ,gereinigtes‘ Nationaltheater und im Aufholprozess gegenüber der französischen Kulturhoheit. Inhaltlich, nicht formal (hier folgt er weitgehend, aber keineswegs uneingeschränkt den Vorbildern aus Frankreich), bestimmt sich für ihn die patriotische Qualität von Schlegels Trauerspiel. Der Vergleich mit den französischen Arminiusstücken des 17. Jahrhunderts beweise, so Gottsched, „daß ein Franzose die wahre Größe eines deutschen Helden, bey weitem nicht so natürlich vorzustellen gewusst, als ein deutscher Dichter; der selbst ein deutsches Blut in den Adern, und die Neigung zur deutschen Freyheit im Herzen, mit der Gabe des poetischen Witzes verbunden hat“96. Ausdrücklich bezieht er Schlegels Drama auf die Gegenwart: Wer indessen auf die Aehnlichkeiten der Stadt Rom zu Augustus Zeiten, mit dem heutigen Paris; und die Herrschsucht der Römer mit der französischen, in Gedanken zusammen hält: der wird bey Durchlesung dieses Hermanns, oder bey Aufführung desselben, ein doppeltes Vergnügen empfinden.97

Anders als in der Forschung gelegentlich behauptet, teilte der Dichter Gottscheds politisch-aktualisierende Auslegung seines Dramas wohl im Grundsatz.98 Für den nationalkulturellen Aspekt gilt das ohnehin: In seinem Vorbericht von 1761 unterstreicht er gleichermaßen die patrioti95 Vgl. Holmer, Heide: Anmut und Nutzen: die Originaltrauerspiele in Gottscheds ,Deutscher Schaubühne‘, Tübingen 1994, hier S. 12 – 17, S. 60 – 65; Fink, Gonthier-Louis: Vom universalen zum nationalen Literaturmodell im deutschfranzösischen Konkurrenzkampf (1680 – 1770), in: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, hrsg. v. Wilfried Barner, München 1989, S. 33 – 67, hier S. 52; Niefanger, Dirk: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495 – 1773, Tübingen 2005, S. 257 – 287. 96 Gottsched, Johann Christoph: Vorrede, in: ders. (Hrsg.): Deutsche Schaubühne, Bd. 4, Leipzig 1743, S. 9. 97 Ebd. 98 Hollmer: Anmut und Nutzen, S. 160 – 166. Hollmer weist auf den Zusammenhang mit Gottscheds Bayle-Kommentaren hin, nicht aber auf die darin offensichtlich werdende reichspolitische Dimension des nationalen Themas.

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sche Dimension des Stückes, sei es doch ein „in der Geschichte des Vaterlandes so wichtige[s] Sujet“99. Schlegel betont bekanntlich bald weit über seinen Lehrer hinausgehend die grundsätzliche Abhängigkeit der Dichtung von Nationalcharakter und Nationalgeschmack. Sie klingt freilich bereits, wenn auch verhalten, in der zitierten Lobeshymne Gottscheds an. In Schlegels Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters heißt es schließlich 1747: [J]ede Nation schreibt einem Theater, das ihr gefallen soll, durch ihre verschiedenen Sitten auch verschiedene Regeln vor, und ein Stück, das für die eine Nation gemacht ist, wird selten den andern ganz gefallen.100

Wie sehr das vaterländische Sujet mit den Reichshistorikern harmoniert, zeigt ein Blick auf den großen Leipziger Historiker Johann Jacob Mascov, dessen Geschichte der Teutschen die germanische Frühgeschichte ausführlich und patriotisch gefärbt wiedergibt. In der Vorrede zu Schönaichs Hermannsepos erwähnt Gottsched den „erlauchten Reichsgrafen von Bünau, unsern deutschen Livius, und unsern Salust, den Herrn Hofrath Mascov“101. Mascov repräsentiert wie Johann Burkhard Mencke die enge Verbindung Gottscheds und der Deutschen Gesellschaft zum ius publicum romano-germanicum. Mencke, selbst Dichter und Senior der Deutschen Gesellschaft, brachte die ,reichspublicistische‘ Schule in humanistischphilologischer Ausrichtung nach Leipzig.102 Gottsched wohnte nicht nur längere Zeit in dessen Haus, er nahm dort auch, nach eigenen Angaben, „juristische Privatlectionen“103. Das Reichsstaatsrecht stand im Umkreis Gottscheds bei aller philosophischen und methodischen Unterschiedenheit (hier mehr Wolff, da mehr Thomasius)104 vor allem sprachlich in großem 99 Schlegel, Johann Elias: Hermann. Ein Trauerspiel, in: ders.: Werke, Bd. 1, hrsg. v. Johann Heinrich Schlegel, Kopenhagen/Leipzig 1761, S. 285. Das Drama wurde ohne Vorrede wieder abgedruckt in: Schlegel, Johann Elias: Hermann, ein Trauerspiel, in: ders.: Ausgewählte Werke, hrsg. v. Werner Schubart, Weimar 1963, S. 124 – 171. 100 Schlegel, Johann Elias: Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters, in: ders.: Ausgewählte Werke, hrsg. v. Werner Schubert, Weimar 1963, S. 559 – 586, hier S. 560. 101 Gottsched, Johann Christoph: Vorrede, in: Schönaich, Christoph Otto von: Hermann oder das befreyte Deutschland. Ein Heldengedicht mit einer Vorrede ans Licht gestellt von Johann Christoph Gottsched, Leipzig 1751, S. III. 102 Vgl. Hammerstein: Jus und Historie, S. 279 – 284. 103 Rieck, Werner: Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes, Berlin 1972, S. 20 – 23. Zitat nach ebd., S. 21. 104 Das ius publicum imperii schätzte Gottsched, obwohl er mehr Philosophie in der reichsstaatsrechtlichen Wissenschaft einforderte. In dem von ihm und seiner Frau

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Ansehen. Den Grundriß einer Redekunst widmete der Sprachreformer, um eines von vielen Beispielen zu geben, dem Leipziger Staatsrechtler Bernhard von Zech und nannte zur Begründung unter anderem die „Schreibart“ in dessen „öffentlichen Schrifften das Deutsche Staats=Recht betreffend“105. Umgekehrt wurden seine Bemühungen um die deutsche Sprache vielfach zum Vorbild der Juristen, für welche die Sorge um die deutsche Rechtssprache in der Juristenausbildung dieser Zeit große Bedeutung erlangte.106 Rezensionen zur Historiographie und Rechtsgeschichte waren in Gottscheds Organen an der Tagesordnung.107 Mascovs patriotische Geschichte der Teutschen erhielt etwa in den Beyträgen ausführliche Würdigungen: „Wir wissen unter uns Deutschen noch keinen, […] den wir, was die Zierlichkeit, Richtigkeit und Reinigkeit der Sprache betrifft, dem Herrn übersetzten Werk Bielfelds, in dem dieser das Studium des öffentlichen Rechts in Deutschland und die Sonderstellung der nicht klassifizierbaren Reichsverfassung darstellt, fügt Gottsched in einer Fußnote hinzu: „Der Herr Verfasser hat Recht. Individuorum nullae dantur definitiones. Das deutsche Reich aber ist ein einzelnes Ding. Wer es also hat definiren wollen, ist gewiß kein Philosoph, kein Logicus gewesen. Ein Jurist kann er wohl gewesen seyn.“ Bielfeld, Jakob Friedrich: Des Freyherrn von Bielefeld Lehrbegriff der Staatskunst, hrsg., übersetzt und kommentiert von Johann Christoph Gottsched, Bd. 1., Breßlau/Leipzig 1761, S. 30; vgl. auch den Aufsatz: Gottsched, Johann Christoph: VI. Akademische Rede. Ein Jurist muß ein Philosoph seyn. 1726, in: AW, Bd. 9,2, S. 465 – 473. 105 Gottsched, Johann Christoph: Grundriss zu einer vernunfftmässigen Redekunst: Mehrentheils nach Anleitung der alten Griechen und Römer […], Hannover 1729, Vorrede o. S. 106 Um ein Beispiel zu geben: Johann Georg Estor vereinigte in der Nützlichen Sammlung 1746 einen Text des behutsamen Sprachreformers und Juristen Adam Friedrich Glafeys, sprachpuristische Aufsätze des Juristen und Reichshistorikers Johann Peter von Ludewig und Schreibproben des Reichshistorikers Graf von Bünau mit Auszügen von Gottscheds Redekunst. Vgl. Estor, Johann Georg: Nützliche Sammlung zur Erlernung der ächten und reinen juristischen Schreibart, Marburg 1746. Dazu: Heller, Johannes Martin: Reform der deutschen Rechtssprache im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992, S. 202 – 207. Johann Stephan Pütter kürte in seiner Schrift über die deutsche Rechtsschreibung Schriftsteller wie Gellert und Hagedorn zu Vorbildern. Gottscheds Sprachkunst sollten die Studenten nach seiner Empfehlung parallel zu den gewöhnlichen Titular- und Formularbüchern lesen. Vgl. Pütter, Johann Stephan: Über die Richtigkeit und Rechtschreibung der Teutschen Sprache, Göttingen 1780, S. 1. Noch 1793 bemühte sich der Jurist Friedrich August Schmelzer darum, die kaiserliche Wahlkapitulation Leopolds II. in eine ,moderne‘ Kanzleisprache zu ,übersetzen‘, und belegt damit, wie wichtig die Spracharbeit am Reichsrecht noch am Ausgang des Jahrhunderts war. Vgl. Heller: Reform der deutschen Rechtssprache, S. 218. 107 Beispiele hierfür: Rieck: Johann Christoph Gottsched, S. 107 – 110.

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Hofrathe gleich schätzen könnten.“108 Es greift aus der Sicht der Zeitgenossen zweifellos zu kurz, mit Blick auf die deutsche Tradition der Reichshistorie allein von rückständiger Faktenhuberei und Kompendienstil zu sprechen. Gerade die Arminiusgeschichte wird von Mascov lebendig und anschaulich, mit Perspektiv- und Schauplatzwechsel, Zeitraffung und Zeitdehnung, indirekten Reden und dramatischer Komposition erzählt.109 Neben der Sprache, der sich das Periodikum vorrangig widmete, interessierte den Rezensenten vor allem Mascovs Schilderung der „Beschaffenheit des alten Germaniens“110. Der Einfluss dieses epochemachenden Werks auf die Arminiusdichtung liegt auf der Hand. Wissenschaftsgeschichtlich ist neben der kunstvollen deutschen Schreibart die reichsjuristisch geschulte Methodik mit exakten Quellenangaben, enormen Fußnoten-Apparaten und Stichwort-Registern etc. von Bedeutung. Sie wirkte stilprägend bis zur Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert.111 Wenn der Leipziger Jurastudent Johann Elias Schlegel, der bei Mascov Vorlesungen gehört hatte, in seinem Hermannsdrama ebenso gründliche Quellenangaben mit seitenlangen Zitaten mehrerer antiker Historiker von Cassius Dio bis Tacitus voranstellt, so lässt sich diese Akribie direkt mit seinem akademischen Lehrer vergleichen.112 Selbst in Schlegels Dramentext finden sich Fußnoten mit Verweis auf Referenzstellen.113 Klopstock wird dieses Verfahren in seinen Hermanns-Bardieten übernehmen, allerdings nicht aus wissenschaftlicher Redlichkeit, sondern um Kultur, Sitten und Sozialstruktur der Germanen idealisierend zu porträtieren und den Dramentext kommen-

108 Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, hrsg. v. einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig, Bd. 5, Leipzig 1737/1738, S. 287 – 309, hier S. 300. 109 Mascov, Johann Jacob: Geschichte der Teutschen bis zu Anfang der fränkischen Monarchie, Leipzig 1726. Die Arminiusgeschichte verteilt sich auf mehrere Kapitel, siehe insbesondere S. 77 – 103, etwa der indirekt wiedergegebene Dialog zwischen Arminius und Flavius. 110 Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, hrsg. v. einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig, Bd. 5, Leipzig 1737/1738, S. 304 f.; ebenso in: ebd., Bd. 6, Leipzig 1739/1740, S. 22 – 35. 111 Vgl. allgemein: Hammerstein: Der Anteil des 18. Jahrhunderts. 112 Vgl. Schlegel: Hermann, S. 285 – 290 (Vorbericht), S. 290 – 312 (Quellenauszüge); Mascov: Geschichte der Teutschen bis zu Anfang der fränkischen Monarchie, S. 77 – 103. 113 Schlegel: Hermann, S. 337, 356, 366.

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tierend wie punktuell vertiefend zu begleiten. Die Anmerkungen sind hier Teil des literarischen Spiels.114 Den kulturellen Nachahmungsdiskurs literarisiert Schlegel in der Figur von Hermanns Bruder Flavius. Korrupt, eigennützig und wollüstig steht dieser, römisch überformt, in scharfem Kontrast zu Hermann, dem Exempel germanischer Einfalt und Tugend.115 Dass die römischen Charaktermerkmale mit den Nationalstereotypen für die Franzosen zusammenfallen, ist nicht zu übersehen. Der politische Gehalt des Dramas folgt dieser simplen Polarität, für die sich die Antithesen des Alexandriners auch besonders eignen. Als Garant der ,deutschen Freiheit‘ nach innen und außen fungiert die Abstammungs- und Ehrgemeinschaft der Germanen und damit die Natur selbst. Schon der erste Auftritt fasst die wesentliche Aussage zusammen: Der Vater führt den Sohn in einen „Hayn“, damit „Thuiskons Bild“ und „Mannus Ehrenmaal“ in das „Herz“ des Helden treten und er bereit ist, das „Blut“ der Römer zu vergießen.116 Die patriotische Entscheidung lässt nur zwei unversöhnliche Alternativen zu: für das Vaterland, die alten Sitten und die ,deutsche Freiheit‘ oder für römische Laster und Tyrannenherrschaft. In den Worten Siegmars: „Sey treu mit ganzen Trieben, / Sey römisch oder deutsch!“117 Ein positiv konnotierter Alleinherrschaftsanspruch in Germanien ist aufgrund der Natur der deutschen Nation undenkbar. Nicht Hermann strebt deshalb die Herrschaft über Deutschland an, sondern Segest – Hermanns Antipode im Politischen, zugleich aber Vater seiner Geliebten Thusnelde wie seines Freundes Siegmund. Segest versucht seinen Sohn für die schlechte Sache zu gewinnen: Sohn, diene Rom mit mir, bis uns die Deutschen dienen. Die Knechtschaft unsers Volks, ein neuerworbner Thron, und ein uns eignes Reich ist unsrer Dienste Lohn.118

Wie Hermann fühlt sich Siegmund jedoch der freiheitlichen Tradition Germaniens durch sein Herz, und das heißt von Natur aus, verpflichtet: „Mein Vater! groß zu seyn, brauchst du nicht erst der Krone. / Die Hoheit, 114 Vgl. Tomasek, Stefan: „Höret Thaten der vorigen Zeit“. Zur Rezeption und Funktionalisierung antiker Quellen in Klopstocks ,Hermann’s Schlacht‘, in: Das Diskursive Erbe Europas: Antike und Antikerezeption, hrsg. v. Dorothea Klein/ Lutz Käppel, Frankfurt a.M. 2008, S. 327 – 353. 115 Krebs: Von der Liebestragödie zum politisch-vaterländischen Drama, S. 298 ff. 116 Schlegel: Hermann, S. 313 f. 117 Ebd., S. 318. 118 Ebd., S. 331.

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die dich schmückt, beruht auf keinem Throne.“119 Auch Flavius lehnt im Prinzip die politischen Vorstellungen Segests ab, lässt sich aber durch die Aussicht, Thusneldes Ehemann zu werden, bestechen.120 Der tugendhafte Held Hermann hingegen stellt selbst die eigene Liebe zugunsten des Kampfes für die deutsche Freiheit zurück: „Man sage, wenn man einst von meinen Thaten spricht: / Thusnelden liebt er sehr, doch mehr noch seine Pflicht!“121 Patriotismus heißt Opfer bringen und in Gefahr seine eigenen Wünsche zugunsten des Gemeinwohls hintanzustellen, und sei es das Leben. Während Hermann und Sigmar den Gemeinsinn für das gesamte deutsche Vaterland vertreten, steht auf der anderen Seite Segests und – trotz Reue122 – Flavius’ Eigennutzdenken, das die deutschen Werte nicht nur konterkariert, sondern der ,deutschen Freiheit‘ sogar diametral entgegengesetzt ist: „O Eigennutz! Du Trieb und Vater der Tyrannen!“123, ruft Thusnelde aus. Hermann aber ist großmütig und ermöglicht die Eintracht Deutschlands, indem er Segest trotz seiner Verfehlungen verzeiht und ihn in seinem Machtbereich belässt: „Segest, drum bleib ein Fürst, wie du gewesen bist […].“124 Im inneren und äußeren Sinne des Begriffs ist die ,deutsche Freiheit‘ gerettet. Trotz ihres angeblichen Todes erscheint schließlich Thusnelde als Sinnbild des befriedeten und einträchtigen Germaniens.125 Was Schlegel vorführt, ist nichts anderes als Gottscheds politische Forderung aus dem Kommentar zu Pierre Bayle: die Eintracht von Kaiser, Ständen und Volk im Zeichen von Vaterlandsliebe und Nationalstolz. Schon Lohenstein hatte dem zweiten Teil seines Arminiusromans mit derselben Absicht ein Titelkupfer Johann Jacob von Sandrarts vorangestellt, das unter dem Namen „Eintracht lässt hoffen“ die siegreiche Germania vor einem fürstlichen Brüderbund abbildet.126 Schlegel lässt Hermann in den letzten Versen die erbeuteten römischen Adler zum 119 Ebd., S. 332. 120 „Thusnelde werde dein, doch folge meiner Bahn!“ Ebd., S. 347. Flavius schildert Thusnelde später sein Dilemma: „Ich aber muß in mir mit tausend Zweifeln streiten. / Das ungewisse Herz wankt zwischen beyden Seiten.“ Ebd., S. 348. 121 Ebd., S. 352. 122 „Ihr Helden, ach! Vergeßt bey eurer Siege Pracht, / Daß Hermanns Bruder sich Segesten gleich gemacht!“ Ebd., S. 381. 123 Ebd., S. 363. 124 Ebd., S. 383. 125 Zu dieser Verbindung von Germania und Thusnelda (hier: Thusnelde) im 18. Jahrhundert siehe Brandt: Germania, S. 74 – 76. 126 Abbildung nachgewiesen bei: Brandt: Germania, Anhang Abb. 9. Dazu: ebd., S. 84 f. Den Brüderbund feierte Christian Gryphius in einem einleitenden Gedicht.

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Sinnbild der deutschen Würde erklären, damit „die späten Tage“ von seinen Taten wissen. Der Dichter stellt so eine direkte Verbindung zwischen den siegreichen Germanen und dem Reichsadler des gegenwärtigen ,deutschen Reichs‘ her: „Es kröne Deutschland stets ein Ruhm, der uns nicht weicht, / Ein Glück, wie unsers ist, ein Muth, der eurem gleicht!“127 Christoph Otto von Schönaichs (1725 – 1807) Versepos Hermann oder das befreite Deutschland (1751) versah Gottsched mit einer Widmung an den Landgrafen von Hessen-Kassel, Wilhelm VIII., die in vielem seiner Lobeshymne auf Schlegels Drama gleicht.128 „[K]einem andern hohen Haupte in Deutschland“, so die Devotionsformel, hätte es „mit gleich starkem Grunde gewidmet werden“ können. Wieder findet sich die antifranzösische Diktion und wieder ist sie mindestens so sehr politisch wie kulturell motiviert: „Deutsches Heldenblut“ lebe noch in dem Fürsten, da er tapfer im Spanischen Erbfolgekrieg „gegen eine Macht gefochten [habe], die zwar der alten römischen nicht zu vergleichen ist; dem neuen Germanien aber schon mehrmals fast ebenso gefährlich [geworden sei], als jene dem alten gewesen.“129 Die Parallelen Germanien = ,deutsches Reich‘, Rom = Frankreich sowie deutsche Fürsten = germanische Stammesführer sind eindeutig. Nicht im Territorialpatriotismus gründet das Lob auf den hessischen Fürsten, sondern in der reichspatriotischen Begeisterung, dass diesem „nichts über die Wohlfahrt und Freyheit des deutschen Reiches“130 gehe. Er sei deshalb „eine wahrhaftige Zierde des deutschen Reiches“ und würde die „Glückseligkeit der sämmtlichen hessischen Fürstenthümer“ ebenso befördern wie er „zum Besten des werthen deutschen Vaterlandes“ beitrage.131 Die reichspatriotische Aufgabe von Schönaichs Epos benennt Gottsched in der anschließenden Vorrede deutlich: „[…] dem gesammten Deutschland vor die Augen malen, und durch ein so edles Beyspiel der Heldentugend, die beynahe erloschene Liebe des Vaterlandes, wo möglich 127 Schlegel: Hermann, S. 384. 128 Gottsched: Durchlauchtigster Landgraf, Gnädigster Fürst und Herr, in: Schönaich: Hermann, o. S. 129 Ebd. 130 Ebd. Vgl. Brandt: Germania, S. 87; Essen, Gessa von: „Aber rathen Sie nur nicht den Arminius. Dieser ist mir zu sauvage“. Hermannsschlachten des 18. Jahrhunderts und die Debatte um ein deutsches Nationalepos, in: Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos, hrsg. v. Martina Wagner-Egelhaaf, Bielefeld 2008, S. 17 – 37, hier S. 22 f. 131 Gottsched: Durchlauchtigster Landgraf, Gnädigster Fürst und Herr, in: Schönaich: Hermann, o. S.

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in etlichen edlen Seelen wieder erwecken […].“132 Ähnliche Formulierungen findet man auch in der Nationalgeistdebatte knapp zwanzig Jahre später. Conrad Wiedemann begründet seine von vielen Interpreten geteilte These, Schlegels und Schönaichs Dichtungen seien „politisch der Idee der Zentralmonarchie nach westlichem Vorbild verpflichtet“133, mit einer philologisch riskanten Kurzinterpretation: Der Germanenheld soll nach gutem typologischen Denkmuster den neuen deutschen Einheitsmonarchen präfigurieren. Gefährlich mit dem Metrum klappernd ruft Schönaich seinen patriotischen Lesern zu: ,O! wie glücklich sind die Völker, die ein einzig Haupt regiert, / Wo man kein geteiltes Herrschen, keine fremde Macht verspürt (…) Ach! Wo lebt nun wohl ein Hermann? Holder Himmel, schaff ihn doch. / Deutschland heget ja wohl Helden, aber keinen Hermann noch‘.134

Aus dem Kontext gerissen, kombiniert Wiedemann ein Zitat vom Anfang des Werks mit dem letzten Vers und destilliert daraus die politische Botschaft. Das Epos funktioniert jedoch ganz anders: Hermann – von seinem Vater auf die deutsche Tradition eingeschworen – ist unterwegs zu König Marbod, um ihn zu einem Bündnis mit den germanischen Fürsten zu überreden. Im Wald begegnet er einem Greis, aus dessen Figurenrede Wiedemann das erste Zitat entnommen hat. Der Alte prophezeit den Fall des römischen Imperiums und versichert, nur Helden wie Sigmar und Hermann könnten Deutschlands Freiheit begründen. Leider aber seien nicht alle germanischen Fürsten der alten Tradition treu geblieben, da sie von „Goldes Glanz“ „geblendet“ seien: „Alle führt der Eigennutz; wenige der Freyheit Liebe: / Und wo sich auch Tugend regt, sind es doch zu schwache Triebe.“135 Hermann solle seine Kenntnisse der römischen Kriegskunst nutzen und Deutschland zum Sieg führen, bloß nicht aber dem Wunsch nach Alleinherrschaft Raum geben: Aber nähmen dich die Siege, und der Lorbern Prangen ein Und begehrtest du der Brüder Herr, und nicht ihr Held zu seyn: Zittre, daß nicht eine Wuth auch des Helden selbst vergesse, Und der Freyheit Ende mehr, als dein edles Blut ermesse. O! wie glücklich sind die Völker, die ein einzig Haupt regiert; 132 Gottsched: Vorrede, in: Schönaich: Hermann, S. IX. 133 Wiedemann: Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus, S. 91. 134 Ebd., S. 91 f.; ihm folgt in derselben Kombination beider Zitate: Stauf, Renate: Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität. Mit einem Ausblick auf Goethe, Tübingen 1991, S. 63. 135 Schönaich: Hermann, S. 11.

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Wo man kein getheiltes Herrschen, keine fremde Macht verspürt, Und wo kein erzwungnes Band Fürsten Händ’ und Zepter bindet: Noch beglückter! wenn der Prinz dieses Band nicht unsanft findet!136

Nicht die unumschränkte Herrschaft eines einzigen Herrn („kein getheiltes Herrschen“), sondern die Alternative repräsentiert das Ideal-Reich in der Rede des Alten („Noch beglückter“): Der freiwillig geschlossene monarchische Staatenbund, der den Fürsten die Hände und Zepter, d. h. ihre Freiheiten, lässt, sie aber zugleich in Eintracht bindet. Das Band wird am Ende des Epos genannt: Es ist das „ewige Band der Natur“137! Hermann darf eben nicht „der Brüder Herr“ sein, sondern einzig ein primus inter pares! Ganz in der Tradition Pufendorfs geht es nicht um die Gründung eines „germanischen Einheitsstaates“138, sondern um das Überwinden der Zwietracht zugunsten einer Eintracht der Vielen: „Wie glücklich wäre Deutschland! schleudert’ es den trüben Brand / Der verhaßten Zwietracht selber nicht auf sich mit eigner Hand!“139 Zu Beginn des vierten Buchs tritt die Göttin der Zwietracht höchstpersönlich auf und feiert den Eigennutz und die Machtgier der deutschen Fürsten als ihr größtes Kapital.140 Hermann als ideales Gegenbild zu Segest und Marbod ist trotz aller Kampfesstärke und Kriegsrhetorik friedfertig und zielt dem Rat des weisen Alten getreu nur auf den Schutz seines angestammten Gebiets: „Nein! mich treibt die Freiheit nur; ich beschütze nur die Freunde: / Ich entweihe nicht mein Schwert um die Länder meiner Feinde.“141 Alle „Häupter aller Deutschen“ vereinen sich schließlich freiwillig unter dem Heerführer Hermann, der die Fürsten konsequent mit „Brüder“142 anspricht. Die Göttin Zwietracht muss enttäuscht das Scheitern ihres Treibens eingestehen: „Ja sie hätte diese Welt bis auf ihren Grund zerspalten; / Hätte nicht ein ewig Band der Natur sie noch erhalten.“143 Gottscheds Ästhetik und seine patriotischen Ambitionen litten an einem unüberwindlichen Widerspruch: Die Ausrichtung an der Formkunst des französischen Klassizismus ließ ihn und seine freiwilligen oder unfreiwilligen Schützlinge in Dissonanz zum Aufschwung der deutschen 136 137 138 139 140 141

Ebd., S. 12. Ebd., S. 132. Wiedemann: Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus, S. 92. Schönaich: Hermann, S. 35. Ebd., S. 67. Ebd., S. 103. Die martialische Rede von der Eroberung des Kapitols steht zu dieser Grundhaltung im Widerspruch! Vgl. ebd., S. 179. 142 Z. B. zu Beginn der Schlacht: ebd., S. 170. 143 Ebd., S. 132.

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Literatur geraten. Von seinen Verdiensten um die deutsche Sprache und die Qualität der Schaubühne wollten die nachfolgenden Generationen bald nichts mehr wissen. Der weit ausgreifende Literaturstreit zwischen Gottsched und seinen Schweizer Opponenten Bodmer und Breitinger kristallisierte sich im sprachlich-stilistischen Vergleich des Schönaichschen Epos’ mit dem unvollendeten Arminiusepos aus der Feder Christoph Martin Wielands: hier die (allerdings längst nicht immer) regelmäßigen Verse, der klare Satzbau und das gnadenlose Rattern des deutschen Hexameters Schönaichs, ohne viele Schnörkel, dafür mit ausreichend moralisch-patriotischem Pathos, dort Wielands empfindsamer Stil mit stark subjektivierter Wortwahl, abwechslungsreicher Sprachmelodie, mehr auf die Innerlichkeit setzend.144 Dass Wieland 1751 dasselbe Sujet wählte, um sich bei Bodmer anzudienen, zeigt, wie sehr der ästhetische Dissens von der Attraktivität des Stoffs zu unterscheiden ist. Zu Recht weist Hans-Martin Blitz gegenüber der unpolitischen Lesart Sahmlands auf den nationalen Gehalt des Fragments hin.145 Ähnlich den Mythos-Adaptionen Schlegels und Schönaichs dreht sich der politische Aspekt von Wielands Dichtung einzig um die Überwindung der „zerstörende[n] Zwietracht“ zugunsten „der geselligen Freundschaft“ und „der Liebe zum Vaterland“146. Wie bei diesen ist die Einigkeit der mehrfach beschworenen Treuebande der Fürsten („Bund der Fürsten“147) durch den Eigennutz der Fürsten (Segest) oder den Versuch der Alleinherrschaft (Marbod) bzw. der römischen Fremdherrschaft gefährdet, nicht aber durch die politische Struktur als solche. Das Nationalepos soll entsprechend das Bewusstsein der „entarteten Enkel“148 für die eigene Nation schärfen: „Ganz Teutschland wird muthig erwachen […].“149 Justus Mösers Drama thematisiert, anders als Wieland, Schlegel und Schönaich, den Tod des Helden. Er schreibt eine Tragödie, nicht aber zwangsläufig, wie Renate Stauf formuliert, die Tragödie des Reichs, das 144 Vgl. Essen: ,Aber rathen Sie nur nicht den Arminius‘; zum Literaturstreit allgemein: Wilke, Jürgen: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, in: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit, hrsg. v. Franz Josef Worstbrock/ Helmut Koopmann, Tübingen 1986, S. 140 – 150. 145 Sahmland: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation, S. 136 ff.; Blitz: Vaterlandsliebe, S. 135 ff.; Essen: ,Aber rathen Sie nur nicht den Arminius‘, S. 18 ff., 23 ff. 146 Wieland: Hermann, in: GS, Bd. 1, S. 157. 147 Ebd., S. 190 f. 148 Ebd., S. 200. 149 Ebd., 157.

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zwischen Zentralismus und Partikularismus zerrissen werde.150 Nein, er schreibt die Tragödie eines Helden, der von der Macht verführt wird und deshalb an dem eigenen Anspruch, Befreier Deutschlands zu sein, scheitert. Zwar ist Arminius auch in Mösers Tragödie der Befreier Deutschlands und damit ohne Frage Held des Stücks, doch wiegt seine hamartia schwer. An anderer Stelle spricht Möser in Anlehnung an Aristoteles vom „irrigen Wahn“, der den „Held des Trauerspieles“ „gleichsam wider seinen Willen“ zu „Übeltaten“ hinreiße, „welche so viel möglich den Schein des Guten haben“151. Arminius strebt unter dem Deckmantel des Gemeinwohls aller Deutschen die Alleinherrschaft an und gefährdet damit eben jene Freiheit, die er zuvor so ruhmreich verteidigt hatte.152 Politisch muss das Drama als Erinnerung an den, wie er in seinem Vorschlag zu einem neuen Plan der Reichsgeschichte schreibt, „Zweck der Konföderation“ verstanden werden, sich „mit vereinten Kräften jedem auswärtigen Angriffe und jeder innerlichen Zerrüttung zu widersetzen“153. Seit dem Zeitalter Maximilians habe alles auf „die Vervollkommnerung der damit zum Grundgesetze des neuen Reichs gemeinschaftlich angenommen Formel“154 gewirkt. Von Sympathie zum Staatsideal des aufgeklärten Absolutismus kann keine Rede sein.155 Formal gelang ihm allerdings mit seinem ,französischen Arminius‘ in Alexandrinern kein Schritt über Schlegel und Schönaich hinaus. Ein ad150 Stauf, Renate: Justus Mösers Arminius und die Frage der deutschen Identität um 1750, in: Möser-Forum 1 (1989), S. 28 – 45; Stauf, Renate: „[…] und die kleinen städtischen Republiken der Griechen waren gewiß nur Puppenwerke gegen die nordischen Staaten […].“ Germanenmythos und Griechenmythos als nationale Identitätsmythen bei Möser und Winckelmann, in: Arminius und die Varusschlacht, hrsg. v. Rainer Wiegels/Winfried Woesler, Paderborn u. a. 1995, S. 309 – 322. 151 Möser: Ein Wochenblatt. Zweiundvierzigstes Stück (1746), in: HKA, Bd. 1, S. 238 f. 152 „Armin ist nur ein Held, wenn Blut und Glück zu wagen; / Der erste, wenn die Last von einem Krieg zu tragen; / Im Frieden ohne Macht. Die Zeit kommt auch noch wohl, / Da euer Untergang mich nicht mehr dauren soll.“ Möser: Arminius, in: HKA, Bd. 2, S. 140. 153 Möser: Vorschlag zu einem neuen Plan der deutschen Reichsgeschichte, in: HKA, Bd. 7, S. 130 – 133, hier S. 132. 154 Ebd. 155 Dieser wird ihm in der Forschung häufig unterstellt: Krebs: Von der Liebestragödie zum politisch-vaterländischen Drama, S. 303 f.; Niefanger: Geschichtsdrama, S. 349: „Möser glaubt – wie Voltaire und unbeeinflusst vom späteren Rousseauismus – an einen gesellschaftlichen Fortschritt, der sich vor allem in einem vorbildlichen absolutistischen Regierungssystem zeigt. Arminius verkörpert eine einigende patriotische Führungsgestalt.“

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äquates Programm nationalkultureller Dichtung erblickte Möser erst im Sturm und Drang.156 Vielleicht bewertet er auch deshalb in seiner Vorrede den Kultureinfluss Roms (im Sinne der Gegenwartsanalogie Frankreichs) auf die Germanen ausgewogener: Es geht um die Bewahrung germanischdeutscher Eigentümlichkeit und Sittlichkeit bei kulturellem und wissenschaftlichem Fortschritt, nicht um das Lob vorkultureller Simplizität.157 Sympathieträger und Vorbild ist in Mösers Tragödie nicht Hermann/ Arminius, sondern der zwischen den Herrschaftsplänen seines Freundes und dem ständischen Eigennutz seines Vaters Segest hin- und hergerissene Sigismund.158 Sigismunds emotionales wie politisches Dilemma ist nicht aufzulösen: „Mein Herz entfernt von Haß, entfernt von Schmeichelei, / Bewundert dein Verdienst, verfluchet dein Beginnen.“159 Dieses ,Beginnen‘ klassifiziert er zuvor als „Herrschsucht“, da Arminius sich, getragen von der Gunst des Volkes, auf „Deutschlands Thron“ schwingen wolle:160 „Armin ist ein Tyrann; allein zugleich ein Held, / Der unsre Freyheit kränkt, jedoch auch hergestellt!“161 Sein Credo ist eindeutig: „Ich lieb ihn mehr als mich; doch mehr Gott und den Staat […].“162 „Sieh hier der Freundschaft Pflicht und dort der Freiheit Rechte / Hie einen Freund bekrönt, dort tausend Freunde Knechte.“163 Vielleicht nennt Möser den Titelheld deshalb nicht (deutsch) Hermann, sondern (lateinisch) Arminius, immerhin wirft ihm Sigismund „römisch[es] Bestreben“164 vor. Er ist jedoch durchaus kein einfacher Despot, sondern nach wie vor ein großmütiger Held, dessen Ziel in der Sicherung seiner Macht für einen Feldzug gegen Rom besteht.165 Ein 156 Bäte, Ludwig: Justus Möser. Advocatus Patriae, Frankfurt a.M./Bonn 1961, S. 58 – 62. Siehe hierzu: Stauf: Mösers Arminius, S. 34 f. 157 Möser: Arminius, in: HKA, Bd. 2, S. 117 – 197 (Vorrede S. 120 – 130). Vgl. Krebs: Von der Liebestragödie zum politisch-vaterländischen Drama, S. 301. 158 Segest und Sigismund vertreten daher nicht dasselbe Ideal der ,deutschen Freiheit‘. So aber: Krebs: Von der Liebestragödie zum politisch-vaterländischen Drama, S. 302 f. Auf die zentrale Rolle Sigismunds wies bereits Stauf hin: Stauf: Mösers Arminius und die Frage der deutschen Identität, S. 41 f. Welker sieht Sigismund nur als emotionale Figur, während das politische Geschehen „auf zwei Figuren“ aufgeteilt sei und es eine „fabula docet“ nicht gebe: Welker: Rechtsgeschichte als Rechtspolitik, Bd. 1, S. 112. 159 Möser: Arminius, in: HKA, Bd. 2, S. 141. 160 Ebd., S. 132. 161 Ebd., S. 151. 162 Ebd., S. 163. 163 Ebd., S. 164. 164 Ebd., S. 167. 165 Ebd., S. 145. Blitz spricht von „Weltherrschaftsphantasien“: Blitz: Aus Liebe zum Vaterland, S. 116.

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expansives Ziel aber, das dem defensiven Reichsverband grundsätzlich widerspräche! Adalberts Ratschläge, mit Gewalt an die Macht zu kommen, lehnt er aus Sympathie zum deutschen Freiheitswillen ab.166 Dessen harsche Worte offenbaren die Unmöglichkeit, ,deutsche Freiheit‘ und unumschränkte Monarchie zu verbinden: „Drum willst du ungestört der Deutschen König sein: / So muß der Großen Blut den neuen Purpur weihn.“167 Arminius hält die Zeit für einen solchen Schlag noch (!) nicht für gekommen. Wissend von Segests Mordabsichten möchte er über der „Großmut Macht“ erreichen, dass die freien Fürsten im übertragenen Sinne „erniedrigt vor mir knien“168. Adalbert drängt, doch der Feldherr wähnt sich in Sicherheit: „Es ist noch Zeit genug, Ich will zum Volke gehen / Und durch Beschämung erst den Haß zu beugen sehen.“169 Während Sigismund die positiven Werte deutsche Treue und ,deutsche Freiheit‘ verkörpert, stellt sein Vater Segest deren negative Verkehrung in Neid und Eigennutz dar. Segest treibt den Mord an Arminius voran und will den eigenen Sohn zur Ausführung desselben verpflichten. Dieser kann sich dem Dilemma nur durch Selbstmord entziehen.170 Die Figurenkonstellation erinnert, darüber wird noch zu handeln sein, stark an Schillers Wallenstein. Wohl kaum will Möser den Stab über der ,deutschen Freiheit‘ als solcher brechen, vielmehr mahnt das Stück in der oben geschilderten literarischen Tradition ex negativo zu Eintracht und Frieden. Sigismunds Zwangslage, den Machtanspruch des Freundes ebenso für verwerflich zu halten wie den Egoismus des Vaters, beinhaltet den positiven Gegenentwurf: Eintracht in der Vielheit, Wahrung und Achtung der alten Freiheiten, Treue zu einem nicht expansiven friedfertigen Gemeinwesen! Sein tragisches Ende spiegelt die politische Situation des Österreichischen Erbfolgekriegs wider, dessen Höhepunkt zeitlich mit Mösers Arbeit an der Tragödie zusammenfällt. Mit patriotischen Oden rief er parallel zur

166 „So lieb ich doch daran, was ihn mir ähnlich macht, / Daß er selbst herrschen will und andrer Herrscher lacht.“ Möser: Arminius, in: HKA, Bd. 2, S. 144. 167 Ebd., S. 143. Darauf wurde, allerdings mit anderer Interpretation, schon häufig hingewiesen, z. B. Wiedemann: Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus, S. 92. 168 Möser: Arminius, in: HKA, Bd. 2, S. 145. 169 Ebd., S. 146. Das „erst“ zeigt, dass die ultima ratio des gewaltsamen Vorgehens durchaus nicht ausgeschlossen ist. 170 „Ich sterbe oder er … dies ist der blutge Schluß.“ Möser: Arminius, in: HKA, Bd. 2, S. 153.

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Wiederherstellung des innerdeutschen Gleichgewichts und Friedens auf, wie ihn der Westfälische Frieden von 1648 begründet habe.171 Im reichspolitischen Gehalt stimmt Möser mit Schlegel und Schönaich daher weitgehend überein, er richtet sein Augenmerk allerdings trotz der martialischen Freund-/Feind-Rhetorik deutlich auf die Innenpolitik ,Germaniens‘. Während Gottsched in seinen Kommentaren die innere Krise des Reichs gleichsam nach außen ableitet und die deutschen Fürsten wie die Lesegemeinschaft auf den Abwehrkampf gegen Frankreich einschwört, stellt Möser in historischer Analogie zum Österreichischen Erbfolgekrieg die innere Feindschaft, den Bürgerkrieg, in den Vordergrund. Weit vor der Nationalgeistdebatte der 1760er-Jahre und gänzlich unabhängig von Montesquieu verhandelten die Dichter die Möglichkeit eines spezifisch deutschen Patriotismus und Gemeinsinns. Nationale Stereotypen – französische Weichlinge hier, deutsche Tapferkeit und Treue (Biederkeit) dort – verbinden sich mit der reichspatriotisch grundierten Ablehnung eines Zentralismus (Rom/Frankreich) zugunsten einer Einheit in der Mannigfaltigkeit hinter einem primus inter pares (Germanien/,deutsches Reich‘ hinter Hermann/Kaiser). Wie in manchen ,reichspublicistischen‘ Texten wird das Reich dabei gleichsam verbürgerlicht. Die Vorstellung von Sittlichkeit und Gemeinschaft kommt nicht mehr aus der aristokratischen Welt, sondern aus der bürgerlichen Gesellschaft. List und Intrige werden auf Seiten der (französisierten) Hofwelt verortet, während die deutschen Tugenden im ländlichen Germanien zuhause sind. Der Adel fällt aus diesem Ideal keineswegs heraus, eine homogenisierte Gesellschaft haben die Autoren noch nicht im Blick, vielmehr sind die Werke ganz besonders an die Adresse des Adels gerichtet. Er wird auf die bürgerlichen Werte verpflichtet und unter der Überschrift ,Germanen‘ an die nationale Ehr- und Wertegemeinschaft der Deutschen erinnert, um so die kulturelle wie politische Unterlegenheit gegenüber Frankreich zu überwinden.

171 Der politische Bezug zum Österreichischen Erbfolgekrieg ist bei Möser nur noch indirekt zu finden. Wie sehr das Thema der innerdeutschen Zwietracht jedoch durch den Krieg indiziert wurde, belegt sein an Paul Fleming erinnerndes Klagegedicht Betrübtes Teutschland, seufze nur. Bruderkrieg, französische List und dergleichen verbinden das Gedicht mit den aus der Hermannstradition bekannten Motiven. Vgl. Stauf: Justus Mösers Arminius, S. 38 f.; Welker: Rechtsgeschichte als Rechtspolitik, Bd. 1, S. 114 – 120.

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2.1.3 Hermannsdichtung nach 1763 Die zweite Phase der Hermannsdichtung steht im Kontext des Siebenjährigen Kriegs. Zwei ganz unterschiedliche Autoren widmen sich nach dem Kriegsende mehrmals dem nationalen Stoff: der heute längst vergessene Cornelius Hermann von Ayrenhoff (1768, 1774) und, gleich dreimal, der große Friedrich Gottlieb Klopstock (1769, 1784 und 1787). Ayrenhoff war österreichischer Offizier, überzeugter Anhänger Josephs II. und im literarischen Stil ein Anachronist. Orientiert an Racine und Corneille empfand er die deutsche Dichtung seiner Zeit als geschmacklos und blieb dem Regelwerk Gottscheds treu.172 Sein Drama Hermanns Tod ist in paarweise gereimten Alexandrinern abgefasst, die drei Einheiten werden genauestens berücksichtigt. In einem späteren Vorwort begründet Ayrenhoff die Abweichungen von der Historie mit seinem patriotischen Vorhaben. Zum einen stirbt Hermann bereits, als „die Deutschen noch mit den Römern in Krieg verwickelt“ waren, und nicht nach der Schlacht. Zum anderen streicht der Dichter, obwohl er „in der That nach der Oberherrschaft über sein freyes Vaterland strebet“173, dessen Königspläne. „In meinem Trauerspiel ist er Patriot, und scheinet nur seinem Feinde, dem Segest, und zwar auf Eingebung der Römer, herrschsüchtige Anschläge zu hegen.“174 So kann er „in die letzten Worte des sterbenden Hermanns“ seinen, Ayrenhoffs, persönlichen „patriotische[n] Wunsch“ legen.175 Besonders richtet sich der Dichter gegen die „bekannte Politik der Römer, die deutschen Fürsten durch immerwährende Uneinigkeit zu trennen“176. Über „die Tücke Roms“ kann die Schuld an der Zwietracht den Feinden – auf die Gegenwart bezogen, dem französischen Einfluss – angelastet werden.177 Frieden, Recht und Freiheit Germaniens gilt es zu verteidigen, den Boden also, auf welchem, wie Kautmer im Drama sagt, „Kunst und Wissenschaft“ gedeihen, nicht aber „Erob’rungen, die niemals Muße gönnen, / Den würdigern Gebrauch der Menschheit zu erkennen“178. Dennoch steht am Ende nicht nur der Aufruf zu Frieden, Freiheit und 172 Stolz, Dieter: Ayrenhoff, Cornelius Hermann von, in: NDB, Bd. 1, S. 472. 173 Ayrenhoff, Cornelius von: Hermanns Tod. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, in: ders.: Sämmtliche Werke, neu verbesserte und vermehrte Auflage in sechs Bänden, Bd. 1, Wien 1803, S. 97 – 104 (Erinnerungen des Verfassers), S. 105 – 182 (Drama), S. 183 – 190 (Anmerkungen), hier S. 101. 174 Ebd. 175 Ebd., S. 99. 176 Ebd., S. 102. 177 Ebd., S. 124. 178 Ebd., S. 148.

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Kapitel 2: Reich als Text

Eintracht. Der durch die Listen Roms ermordete deutsche Held soll martialisch gerächt werden. Sterbend verzeiht Hermann dem Täter Segest und ruft den Fürsten die politische Botschaft der Tragödie entgegen: Nur dieser letzten Bitt’, ihr Deutschen, gebt Gehöre! – Roms Wälle stürzen bald, bleibt eure Kraft vereint. Der Deutschen Zwietracht ist der Deutschen stärkster Feind. O Himmel! könnt’ ich Das ganz Deutschland hörbar sprechen!179

Die letzten Verse des Dramas obliegen dem germanischen Fürst Rastlof und fassen bündig das reichspatriotische Ziel Ayrenhoffs zusammen: „Laß uns dieß edle Blut an unsern Feinden rächen! / Und nie soll Zwietracht mehr das Reich der Deutschen schwächen!“180 In einem Nachwort unterstreicht der Dichter noch einmal die ohnehin offenkundige reichspatriotische Aktualisierbarkeit des Stoffs: [J]a! ob er [Hermann] nicht verdiene, daß ihm alle patriotische [sic!] Fürsten Deutschlands, noch in unsern Tagen, Irmensäulen errichten sollten – bey Leibe nicht mehr, um sie anzubethen! – wohl aber, um die Nation mit dem größten ihrer Helden der Vorzeit, bekannter zu machen, und durch die Thaten ihrer Vorältern das Feuer der Tapferkeit, und des erloschenen Patriotismus in ihr zu entflammen.181

Friedrich Gottlieb Klopstocks Trilogie (Hermanns Schlacht, Hermann und die Fürsten und Hermanns Tod) verwandelt den Stoff zu etwas ganz Neuem.182 Nicht nur, dass das Geschehen familiarisiert und republikanisiert wird,183 die ,deutsche Freiheit‘ verschiebt sich zum Ideal eines urtümlichen Republikanismus, der von dem Reich des 18. Jahrhunderts weit entfernt ist.184 Dennoch ist nicht der Umsturz des Bestehenden das Ziel. Wichtiger noch als die stoffliche Bearbeitung ist die Form der ,Bardiete‘, mit welcher der Dichter einen eigentümlichen ,germanisch-antiken‘ Dramenstil schuf – ein Schauspiel mit hymnischen Gesängen eines 179 180 181 182 183

Ebd., S. 177 f. Ebd., S. 182. Kursivierung M. H. Ebd., S. 190. Vgl. Klopstock: Hermanns Dramen, in: HKA Abt. I, Bd. 6,1. Vgl. zu dem empfindsamen und republikanischen Grundton: Essen: Hermannsschlachten, S. 130 ff.; Zimmermann, Harro: Freiheit und Geschichte. F. G. Klopstock als historischer Dichter und Denker, Heidelberg 1987, S. 242 ff., S. 256 ff. 184 Vgl. mit dem Hinweis auf das Gedicht „Unsre verlorne Freyheit“: Zimmermann, Harro: Geschichte und Despotie. Zum politischen Gehalt der Hermannsdramen F. G. Klopstocks, in: Friedrich Gottlieb Klopstock. Sonderband von Text + Kritik, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, München 1981, S. 97 – 121, hier S. 108 f.

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Bardenchors, der das Geschehen sowohl aktiv begleitet, z. B. den Kampfesmut stärkt, als auch aus unterschiedlichen Perspektiven kommentiert. Klopstocks auf Sprache und Dichtung bezogener, pietistisch-religiös durchsetzter Kulturnationalismus mag in der Tat „diffus“ sein.185 Aus dem Krieg gegen Rom wird ein durch die Götter legitimierter ,heiliger Krieg‘ – die Germanen sind ein auserwähltes Volk im biblischen Sinne.186 Dennoch: Er widmete die Hermanns Schlacht Kaiser Joseph II. Klopstock hoffte auf eine Realisierung seines ,Wiener Plans‘ und damit auf die Förderung der schönen Wissenschaft durch das Reichsoberhaupt.187 Das zweite Drama Hermann und die Fürsten dedizierte er nicht mehr dem Kaiser, sondern dem „fürstlichen Weise[n], Karl Friedrich, Markgrafen von Baden, der nach viel andern landesväterlichen Thaten vor Kurzem auch die Leibeigenschaft aufgehoben hat“188. Kaiser und Fürsten sollten vereint die Kultur fördern und politische Reformen durchführen. Die Zusammenarbeit, die Klopstock dem Kaiser anbot, legitimiert sich literarisch im Blick auf die vergangene Einheit von Fürsten und Barden des alten Germaniens.189 Sein Fragment aus einem Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts, das zugleich das Programm seines Wiener Kulturprojekts enthält, formuliert aus der Perspektive ex post die Utopie eines allgemeinen Reichspatriotismus, der in einer kulturellen Blüte von des Kaisers Gnaden wurzelt: „Ein Volk, das in viele Fürstenthümer abgesondert ist, konnte nicht eher mit einem gewissen Feuer und mit Festigkeit Vaterländisch seyn […].“190 Klopstocks kulturelle Utopie korreliert mit Reichsreformprojekten im Politischen. Sie erinnert an Friedrich Carl Mosers ,Möglichkeitsreich‘ im Kontext der Nationalgeistdebatte sechs Jahre zuvor. In dem Entwurf zu einer Dedikationsschrift seiner Hermanns Schlacht an den Kaiser heißt es:

185 So Niefanger: Geschichtsdrama, S. 367. 186 Essen: Hermannsschlachten, S. 114 ff. 187 Vgl. Hurlebusch, Rose-Maria/Schneider, Karl Ludwig: Die Gelehrten und die Großen. Klopstocks ,Wiener Plan‘, in: Der Akademiegedanke im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. Fritz Hartmann/Rudolf Vierhaus, Bremen 1977, S. 63 – 96. 188 Klopstock: Hermanns Dramen, in: HKA Abt. I, Bd. 6,1, S. 157. 189 Wagner-Egelhaaf, Martina: Klopstock! Oder: Medien des nationalen Imaginären. Zu den Hermann-Bardieten, in: Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos, hrsg. v. ders., Bielefeld 2008, S. 195 – 214, hier S. 202. 190 Klopstock: Fragment aus einem Geschichtsschreiber des neunzehnten Jahrhunderts, in: HKA Abt. I, Bd. 7,2, S. 134.

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Kapitel 2: Reich als Text

Karl der Grosse ließ die Gesänge der Barden zuerst aufschreiben, u[nd] stellte sie in seine Bibliothek, um sie für die Nachkommen zu erhalten. Das thaten Karl, u[nd] Joseph, aber nicht Friedrich. Und Deutschland war doch auch sein Vaterland.191

Germanentradition, Reichsgeschichte und Akademieprojekt sind in Klopstocks Vaterlandsbegriff („Der Kaiser liebt sein Vaterland“) eng verschlungen.192 Wie auch immer sein Kulturpatriotismus gefasst wird, unabhängig vom Reich ist auch er nicht. Seine Trilogie übernimmt die Grundkonstellation aus der Tradition. Auch er literarisiert nicht den Wunsch nach einem einheitlichen Nationalstaat unter der Führung eines starken Manns. Die Ideale Freiheit, Einheit, Gerechtigkeit und Friede spiegeln sich in der germanischen Einheit und Mannigfaltigkeit, die von den Geschichte und Gegenwart verbindenden Bardengesängen beschworen werden. Das verkümmerte ,deutsche Reich‘ steht für Klopstock, das zeigen die Widmungen, klar in dieser Kontinuität. Es soll sich im Idealbild der Hermann-Bardiete seiner französisch-aristokratischen Entartung bewusst werden. Der erste Schritt bestünde in der naturgemäßen Anerkennung der tragenden Rolle der ,Barden‘ auch im gegenwärtigen ,Germanien‘; nur so könne ein wahrer Nationalgeist in dem vielstaatlichen Reich entstehen. 2.1.4 Hermannsdichtung am Ende des Alten Reichs Die letzte Phase der Arminiusdichtung des 18. Jahrhunderts ist in der Forschung so gut wie unbekannt: Zahlreiche kürzere, höchst politische Texte rufen während der Koalitionskriegen zur Eintracht gegen Frankreich auf und rekurrieren dabei auf Hermann und/oder Germania. Sie schwanken zwischen reichspatriotischen Appellen und zynischem Spott über die Politik ihrer Fürsten. Der heute vergessene Trivialautor Friedrich August Gottlob Schumann widmete Hermann 1795 gleich zwei gewichtige Bände mit dem Titel Hermann Arminius oder Die Niederlage der Römer. Er verstand sein großes Schauspiel, das ursprünglich gar auf drei Bände angelegt war, als Aufruf

191 Beylage II zu Brief Klopstock an Kaunitz, 28. April 1768, in: HKA Abt. II, Bd. 5,1, S. 67. Die wirkliche Widmung von 1769 („An den Kaiser“) musste den kritischen Seitenhieb auf Friedrich löschen: Klopstock: Hermanns Dramen, in: HKA, Abt. I, Bd. 6,1, S. 5. 192 Ebd.

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zum patriotischen Kampf für die Freiheit Deutschlands und setzte sie unter das Horazsche Motto: „Dulce et decorum est pro patria mori!“193 Lorenz Leopold Haschka, Dichter der von Joseph Haydn vertonten Kaiserhymne Gott erhalte Franz, den Kaiser, entrüstete sich in einer langen alkäischen Ode mit dem Titel Das gerettete Teutschland 1795 über Preußens Friedensschluss mit Frankreich. Germania als Allegorie des Reichs sitzt trauernd am „leichenvollen Rhein“ und bittet Gott und die Fürsten um Hilfe vor Schwert und Kette „des Galliers“.194 „Beginnt ihr wieder jenes verruchte Spiel, / Das ihr mit Hermann hier bevor spieletet?“, fragt Germania anklagend die Fürsten. Eine Fußnote verweist auf falsche Verdächtigungen sowohl der Herrschaftspläne des Arminius wie Österreichs während der Fürstenbundzeit.195 Ihren „Kaiser-Aar“ (Adler), so Germania weiter, werde sie trotz aller Hindernisse mit dem Schwert verteidigen, wie er, Kaiser Franz II., es schon längst begonnen habe, während ihr, die anderen Fürsten, nur „zanktet, säumtet“. Nun erinnert eine Fußnote an die „Reichstags-Verhandlungen während dieses ganzen Reichskrieges“196. Den eigennützigen Widerpart im Mythos („Nenn ich Segest ihn? Marbod?“) identifizierte Hatschka kaum verdeckt mit Preußen. Die „Winkelverträge“197 mit dem Feind dürfen getrost mit dem Basler Frieden assoziiert werden. In dem reichspatriotischen Rastatter Congress Taschenbuch von 1799 versuchten anonym gebliebene Autoren ebenso, an das nationale und reichspolitische Gewissen der reichsständischen Gesandten zu appellieren, indem sie die Vergangenheit der Deutschen noch einmal vor Augen führten. Arminius nimmt dabei sowohl chronologisch als auch der Verehrung nach den ersten Platz ein.198 1800 blieb einem unbekannten Dichter hinter dem Pseudonym ,Pater Elias‘ nur noch, einen „ironischen Schwank auf den Untergang des Alten Reiches“199 zu schreiben. Das allegorische Trauerspiel Germania steht in der 193 [Schumann, Friedrich August Gottlob]: Hermann Arminius oder die Niederlage der Römer, 2 Bde., Leipzig 1795, hier Bd. 2, S. X. 194 Ha[t]schka, Lorenz Leopold: Das gerettete Teutschland, in: Anonymus: An Wien über Hatschka: Den 29. Januar 1796, Wien 1796, S. 3. Dazu bereits: Brandt: Germania, S. 135 – 140. 195 Haschka: Das gerettete Teutschland, S. 5 f. 196 Ebd., S. 7. 197 Ebd., S. 8. 198 Anonymus: Rastatter Congreß Taschenbuch für 1799. Mit 17 Silhouetten, Carlsruhe/Rastatt 1799, S. 6 – 32. 199 Brandt: Germania, S. 136.

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Tradition barocker Dichtung.200 Es antwortet geradezu auf Gebet und Flehen der Germania in Haschkas Ode. Ein Rezensent der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek berichtet, dass die Satire wahrscheinlich im Umfeld des Reichstages entstanden sei, „jedenfalls dort frisch herumgetragen wurde“201. „Des Verf[assers] specielles Vaterland [sei] Bayern“ – laut Titelblatt war er Stiftspfarrer zu Weißenburg. Aufgrund der harschen Angriffe gegen den Kaiser und die Fürsten habe das kaiserliche Kommissariat am Reichstag „den Collporteure dieses Pasquills, Scribent Feller, zur gefänglichen Haft gezogen“202. Die politische Aussage der burlesken Szenerie ist deutlich: Die einst mächtige Germania tritt im Himmel zerlumpt, schwer verwundet und mit gebrochenem Stolz vor Petrus und verlangt eine Audienz mit Gottvater, der sie barsch mit „Halts Maul“ empfängt.203 Erzengel Michael verliest das Sündenregister des „lasterhaften Weibes“: Vor allem sind es die Frevel der Fürsten in ihren Territorien und die Korrumpierung des Reichsrechts. Von Treue, Gerechtigkeit, Aufklärung und Kultur ist nichts mehr zu sehen.204 Ihre „eig’ne[n] Kinder“, so klagt sie, begehen „Muttermord“: Sie „zerfleischen mich aufs grausamste und rauben mir meinen ganzen Lebensunterhalt“205. So lange ich der edlen Einigkeit treu angehangen, gab’s im Erdenrund ein stärker Reich nicht als mein Kaiserthum. Sobald sich aber mein die grausame Zwietracht bemeistert hat, ist meine Kraft verzehret. Das Haupt hat jetzt sich von den Gliedern und die von dem Haupt und unter sich selbst losgetrennt, und ich bin daher den fremden Heeren ein erwünschter Raub.206

Während Germania vor der Tür wartet, stimmt der himmlische Rat (Maria, Josef, Ignatius von Loyola u. a.) über das Schicksal Germanias ab. Dieser enttarnt sich allerdings als Kopie des irdischen Reichstags: Lange verhandeln die würdigen Ratsmitglieder, über die Gottvater nur formal die 200 Oskar Panizza diente es als Vorlage zu seinem Liebeskonzil. Vgl. Bauer, Michael: Oskar Panizza. Ein literarisches Porträt, München 1984, S. 160 – 163. 201 Germania, ein Trauerspiel von Pater Elias, Stiftspf. zu Weissenburg, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek 26, St. 2 (1801), S. 342. 202 Ebd. 203 [Pater Elias]: Germania. Ein Trauerspiel, Eichstädt 1800, S. 10. 204 Ebd., S. 10 – 16 205 Ebd., S. 17. 206 Ebd., S. 18 f.

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Herrschaft ausübt. Während beinahe alle dafür plädieren, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, besinnt sich Gott, der altersschwach die Voten der himmlischen Stimmberechtigten wieder vergessen hat, darauf, dass die 1100 Jungfrauen gewiss für den Frieden wären. Doch die glückliche Wendung ist vergeblich: Während Ignatius noch fragt, ob die Jungfrauen nun eine Kuriats- oder Virilstimme haben, wird Germania vor der Tür von wilden Tieren zerrissen. Der Hermannsmythos, Sinnbild der Eintracht von Kaiser und Ständen, verlor aufgrund des offenen Ausverkaufs des Reichs durch die Fürsten seit 1795 seine einigende Funktion! Mit den Niederlagen gegen das revolutionäre Frankreich und schließlich Napoleon starb – zeitweise – der Mythos von der deutschen Unüberwindlichkeit. Carl Schotts Identifizierung Hermanns mit dem Erzherzog Carl in seinem Singspiel aus dem Jahr 1800 war nur noch ein hoffnungsloser Versuch, die Kräfte gegen die französische Übermacht zu mobilisieren.207 Während die Barden im 18. Jahrhundert ihre Pflicht getan hatten, so das unbedingte Gefühl der Hermannsdichter am Ende des Alten Reichs, zerstörte der fürstliche sacro egoismo den schwindenden Reichszusammenhalt vollends. – Darauf wird zurückzukommen sein. 2.2 Deutsche Art und Kunst: Reichsverfassung und Ästhetik Die Verbindung von ,Reichspublicistik‘ und Literatur reicht weit über den stofflichen Rahmen der Hermannsdichtung hinaus. Durch Johann Lorenz von Mosheim sowie Abraham Gotthelf Kästner war die ,Deutsche Gesellschaft‘ zu Göttingen eng mit der Wirkungsstätte Gottscheds, Leipzig, verbunden.208 Anders als dort stellten die Juristen in Göttingen einen ebenso großen Anteil wie die Theologen.209 Selbstverständlich fanden sich 207 Vgl. die politische Lesart bereits von den Zeitgenossen: Rezension zu ,Schott, C. J., Germania. Ein heroisches Singspiel‘, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek 64, St. 2 (1801), S. 383 – 384; vgl. auch: Brandt: Germania, S. 93 – 98. 208 Cherubim, Dieter/Walsdorf, Ariane: Sprachkritik als Aufklärung. Die Göttinger Deutsche Gesellschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 108 f.; Hassenstein, Friedrich: Das literarische Göttingen, in: Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluss an Preußen – Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648 – 1866), hrsg. v. Ernst Böhme/ Rudolf Vierhaus, Göttingen 2002, S. 945 – 967, hier S. 956 f. 209 Cherubim/Walsdorf: Sprachkritik als Aufklärung, S. 116 f. (Statistik allerdings nur für die Jahre 1738 – 1755).

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prominente Reichsjuristen und Reichshistoriker wie Johann Stephan Pütter und Johann David Köhler unter den Mitgliedern der Gesellschaft, genauso externe ,Publicisten‘ wie Johann Heumann von Teutschbrunn oder der bekannte Jurist und Historiker Justus Möser.210 Göttingen war im späten 18. Jahrhundert die unumstrittene Hochburg ihrer Disziplinen, Pütters Ruhm sogar so groß, dass nicht wenige adelige Reisende auf ihrer Grand Tour einen Zwischenstopp in Göttingen einlegten, um den Ausführungen des Professors beizuwohnen.211 Der Dichterbund ,Göttinger Hain‘ erwuchs unter anderem aus diesem Zusammenspiel von deutscher Sprach- und Literaturförderung einerseits und ,reichspublicistisch‘ geprägtem Umfeld andererseits. Gottfried August Bürger und Ludwig Christoph Heinrich Hölty waren Beisitzer in Kästners Deutscher Gesellschaft.212 Heinrich Christian Boie, Johann Anton Leisewitz und Gottlob Dietrich Miller studierten in Göttingen Jura, ebenso, zumindest anfangs, Johann Friedrich Hahn. Auch Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg und sein Bruder Christian widmeten sich in Halle und anschließend in Göttingen den Rechtswissenschaften.213 Nach seiner Göttinger Zeit formulierte Johann Christian Boie das Programm seiner neu gegründeten Zeitschrift Deutsches Museum mit Worten, die ganz ähnlich in ,reichspublicistischem‘ Zusammenhang hätten stehen können: Sie wolle „die Deutschen mit sich selbst bekannter und auf ihre eigenen Nationalangelegenheiten aufmerksamer“ machen. Patrioten sollten sich daher auch um „die Kenntnis der Verfassung deutscher Länder“ bemühen.214 Der Herausgeber druckte in der Tat Aufsätze zu Fragen der Reichspolitik und Reichsverfassung – etwa aus der Feder Justus Friedrich Rundes, neben Pütter der bedeutendste juristische Germanist dieser Zeit und wie dieser Professor in Göttingen.215 Auch Friedrich Maximilian Klinger, Johann Georg Schlosser, Leopold Friedrich Günther von Goeckingk und Heinrich 210 Ebd., S. 118 f. 211 Vgl. Ebel: Pütter, S. 47. 212 Vgl. Hassenstein: Das literarische Göttingen, S. 960. Bürger war allerdings nur ein dem Dichterbund nahestehender Dichter, kein Mitglied. 213 Vgl. Walther: Die politischen Erfahrungen und Erwartungen, S. 315 f. 214 Boie, Heinrich Christian/Dohm, Christian Wilhelm von: Vorerinnerung, in: Deutsches Museum 1 (1777), S. 1 – 6, hier S. 4 f. 215 Runde, Justus Friedrich: Auch ein Vorschlag, zur Verbesserung des Sustentationswesens des kaiserlichen und Reichskammergerichts, in: Deutsches Museum 2 (1776), S. 1117 – 1128; ders.: Wie komt der Deutsche zum Gebrauch des römischen Rechts? Eine in der Gesellschaft der Alterthümer zu Kassel den 16ten August 1779 gehaltene Vorlesung, in: Deutsches Museum 1 (1780), S. 38 – 55.

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Leopold Wagner gehörten zu den Dichterjuristen dieser literarischen Epoche. Kurz: Die enge Verbindung von Jura-Studium und Dichtern ist offenkundig. Ihr Hauptstudienfach war damit automatisch das Reichsstaatsrecht. Seinen Spuren im nationalpoetischen Denken dieser Zeit soll im Folgenden nachgegangen werden. 2.2.1 Originalkunst und Nationalcharakter Begriffe wie das ,Charakteristische‘, ,Originalität‘ und ,Eigentümlichkeit‘ erlangten seit Mitte des Jahrhunderts – gespeist von Ideen Johann Jakob Bodmers, Johann Jakob Breitingers, Gotthold Ephraim Lessings, Johann Georg Hamanns, Edward Youngs, Shaftesburys und anderer – als Wertkategorien für Kunstwerke große Bedeutung.216 Die Emphase des künstlerischen Genies gipfelte in Deutschland in der Poetik des Sturm und Drang. Gegen die Normen und Regeln der Aufklärungszeit richtete sich nun die Schaffenspoetik der jungen Generation, welche an die Stelle des poeta doctus und des Glaubens an die Erlernbarkeit der Dichtkunst, emphatisch das naturhafte Genie setzte – an die Stelle äußerer Regeln eines rationalen Systems individuelle Gesetzmäßigkeit und ,originale‘ Formen. Nicht mehr normativ bestimmte ,Schönheit‘ war das Ziel, sondern innere Stimmigkeit, charakteristischer Ausdruck, individuelle Vollkommenheit.217 Für die Geschichte des Nationalismus ist dabei entscheidend, dass sich die (alte) Forderung nach einem Nationalgenie, nach spezifisch deutschen Originalwerken nun neu stellte.218 Ideengeschichtlich lässt sich diese ,deutsche Bewegung‘ innerhalb der „reichsdeutschen Bildungsschichten“219 der 1770er-Jahre aus den euro216 Vgl. grundsätzlich: Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1. 217 Vgl. Gerth, Klaus: Die Poetik des Sturm und Drang, in: Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, hrsg. v. Walter Hinck, Kronberg/Taunus 1978, S. 55 – 80. 218 Zum Nationalcharakter und der deutschen Literatur seit Johann Elias Schlegel über Lessing und Gerstenberg bis zu Herder: Fink: Vom universalen zum nationalen Literaturmodell, S. 52 – 67; Woesler, Winfried: Idee der deutschen Nationalliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Klaus Garber, Tübingen 1989, S. 716 – 733. Der Zusammenhang vom Genie des einzelnen Menschen und dem Genie einer Epoche, eines Volkes und einer Sprache am Beispiel Herders: Schmidt: Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 135 – 141. 219 Otto Dann hat den Begriff ,deutsche Bewegung‘ aus der Zeit um 1900 für das aufkeimende Nationalgefühl unter anderen Vorzeichen reaktiviert: Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland, S. 52 – 56, hier S. 56; Dann: Herder und die Deutsche Bewegung, S. 331.

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päischen Zusammenhängen erklären. Schon in der Antike und daran anschließend in Humanismus und Barock machte man sich Gedanken über klima- und bodenbedingte Nationalcharaktere. Ausgerechnet die Aufklärung verhalf ihnen schließlich in pseudowissenschaftlichem Gewand zu großer Popularität.220 Im französischen Klassizismus verwiesen poetologische Schriften auf die unterschiedlichen Nationalgeschmäcker. Diese sollten im Sinne der ,Wahrscheinlichkeit‘ und bienséance beachten werden, damit ein Drama seine volle Wirkung beim Publikum entfalten konnte. Johann Elias Schlegel gehörte daran anschließend zu den Vordenkern einer nationalcharakteristischen Kunst im deutschsprachigen Raum.221 Nachhaltig stimuliert wurde die Debatte schließlich durch Montesquieus De l’Esprit des Lois (1748), das 1753 in deutscher Übersetzung von Abraham Gotthelf Kästner vorlag.222 Johann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) führte auf dessen und Jean-Baptiste Dubos Spuren vor, wie die „nationale[n] Verschiedenheiten“ in der Kunst vom „Einflusse des Himmels“ sowie dem Einfluss von „Erziehung, Verfassung und Regierung“ abzuleiten seien.223 Für Schriftsteller wie Johann Gottfried Herder und Justus Möser galt es daher mehr denn je, zeitgenössische Dichtung in Abhängigkeit von – bei Herder historisch-dynamisch gedachten – Faktoren wie Klima, Natur, Sitten, Religion und politischer Verfassung zu denken, wenn sie dem jetzigen Charakter und jetzigen Geist der Nation entsprechen sollte: „Die Gestalt der Erde, ihre Oberfläche, ihr Stand ist verändert: verändert das Geblüt, die Lebens- die Denkart, die Regierungsform, der Geschmack der Nationen 220 Kiesel, Helmuth: Das nationale Klima. Zur Entwicklung und Bedeutung eines ethnographischen Topos von der Renaissance bis zur Aufklärung, in: Rom-ParisLondon. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen, hrsg. v. Conrad Wiedemann, Stuttgart 1988, S. 123 – 134; Maurer, Michael: ,Nationalcharakter‘ in der Frühen Neuzeit. Ein mentalitätsgeschichtlicher Versuch, in: Transformationen des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, hrsg. v. Reinhard Blomer/Helmut Kuzmics/Annette Treibel, Frankfurt a.M. 1993, S. 309 – 345. 221 Vgl. Fink: Vom universalen zum nationalen Literaturmodell, S. 49 – 54; Florack, Ruth: Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotypen in der Literatur, Tübingen 2007, S. 111 – 142. 222 Kästner, Abraham Gotthelf (Hrsg.): Des Herrn von Montesquiou Werk von den Gesetzen oder von der Verhältniß, welche die Gesetze zu jeder Regierungsverfassung, den Sitten, dem Landstriche, der Religion, der Handlung usf. haben sollen, Frankfurt/Leipzig 1753. 223 Johann Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums, hrsg. v. dem Fürsten Wenzel von Kaunitz=Rietberg, Wien 1776, Bd. 1, S. 39 und 48.

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[…]!“224 Herders Vokabular verdankt sich dabei jedoch auch einem reichspolitischen Diskussionszusammenhang: In unmittelbarer Folge des Siebenjährigen Kriegs hatte der Montesquieu-Leser Friedrich Carl Moser eine hitzige Debatte um den deutschen ,Nationalgeist‘ ausgelöst und die Frage nach dem Verhältnis der deutschen Nation zur Reichsverfassung in aller Munde gebracht.225 Hier wird die zunächst überraschende Verbindung zwischen Reichshistorie und Literatur greifbar: Die These dieses Kapitels ist, dass sich die Vorstellung davon, wie eine nationalcharakteristische Kunst im Deutschland des 18. Jahrhundert auszusehen habe, wenn auch unabhängig, so doch mit Parallelen zu der von den Reichsjuristen und -historikern beschriebenen Eigentümlichkeit des ,deutschen Reichs‘ entwickelte, und dass sich die Schriftsteller dieser Parallelen vielfach bewusst waren. Wolfgang Frühwalds Interpretation, die Autoren des Sturm und Drang hätten „die Staatsnation“ gleichsam „aus den Elementen der Kulturnation, das heißt aus Gemeinsprache, Religion und Literatur zu bilden“226 versucht, müsste dann entscheidend modifiziert werden. Der literarische ,Nationalismus‘ des Sturm und Drang suchte, in starker Zuspitzung formuliert, nach Ausdrucksformen, die auch den politischen Eigentümlichkeiten Deutschlands gerecht werden. Sie sollte helfen, das fehlende Nationalbewusstsein im ,deutschen Reich‘ hervorzubringen. Vor dem Verlangen nach politischer Partizipation der ganzen Nation rangierte das Bedürfnis, die 224 Herder: Von der Veränderung des Geschmacks, in: FA, Bd. 1, S. 159. Zu Montesquieu im Kontext der Geniedebatte: Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 – 1945, Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, 2. Aufl. Darmstadt 1988, S. 137 – 140. Schmidt spricht von Herders Volksgeist als „Kollektiv-Genialität“. „Wie das Genie des großen einzelnen sieht er das geniale Kollektiv, das ,Volk‘, als eine dynamische Individualität und einen von einer eigenen genetischen Kraft erfüllten Großorganismus.“ Ebd., S. 139. Vgl. auch: Beller, Manfred: Johann Gottfried Herders Völkerbilder und die Tradition der Klimatheorie, in: Spiegelungen: Entwürfe zu Identität und Alterität. Festschrift für Elke Mehnert, hrsg. v. Sandra Kersten/Manfred Frank Schenke, Berlin 2005, S. 353 – 376; Fink, Gonthier-Louis: Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive, in: Johann Gottfried Herder. 1744 – 1803, hrsg. v. Gerhard Sauder, Hamburg 1987, S. 156 – 176. 225 Zur Nationalgeistdebatte: Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 191 – 226; Blitz: Aus Liebe zum Vaterland, S. 283 – 302; Welker: Rechtsgeschichte als Rechtspolitik, Bd. 1, S. 194 – 232; Vazsony: Montesquieu, Friedrich Carl von Moser, and the ,National Spirit Debate‘. Zur Rezeption Friedrich Carl Mosers durch Herder vgl. in dieser Arbeit 3. Kap., 3.2 Herders Kulturpolitik. 226 Frühwald: Die Idee kultureller Nationsbildung, S. 131.

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bestehende Ordnung auf kulturellem Weg mit ,nationalem‘ Inhalt zu füllen und so an der Nation teilzuhaben. Natürlich transzendierte ihr Sprach- und Kulturpatriotismus die Grenzen des Heiligen Römischen Reichs. Goethe sprach etwa von der „Liebe[n] heilige[n] Schweiz deutscher Nation“227. Wichtige Anstöße zu einer ,deutschen‘ Ästhetik wie zur Pflege der deutschen Literaturgeschichte des Mittelalters kamen bekanntlich von den Schweizern Bodmer und Breitinger, und Herders Volkslieder beschränkten sich nicht einmal auf den deutschen Sprachraum. Dennoch „bleibt das Reich das Objekt (modisch gesagt: das Bezugssystem), wenn die Stürmer und Dränger über politische Fragen nachdenken.“228 Die politischen Begrifflichkeiten speisten sich, so zeigt Gerrit Walther, aus der Welt des Reichsstaatsrechts: Nicht nur in der Ablehnung der Tyrannei und der emphatischen Begeisterung für die ,deutsche Freiheit‘ trafen sich ,Reichspublicisten‘ und Dichter. Die Thematik des Kindsmordes entsprang ebenso dem politisch-juristischen Diskurs der ,Fachleute‘.229 Pütter erklärte 1778 in einem Gutachten für das Reichskammergericht das Vermieten der Untertanen zum Kriegsdienst bei fremden Mächten für ,verfassungswidrig‘. 1784 prangerte Schiller in Kabale und Liebe diesen Missstand an.230 Die nüchtern-sachliche Form der ,Reichspublicisten‘ verwandelte sich unter den Federn der jungen Dichter freilich zu emphatischeren Tönen: Aus der Kritik an dem gesetzebrechenden Landesfürsten wurde die Anklage gegen den brutalen Despoten, aus der Würde des Reichs durch Anciennität, das Lob des kraftvollen Mittelalters. Bemühten sich ,Reichspublicisten‘ und Physiokraten um die Wohlfahrt der unteren Stände, bejubelten die Dichter das urwüchsige Bauerntum und stilisierten die ständische Freiheit zum Hort absoluter Freiheit.231 Die Reichsverfassung war deshalb keineswegs über jede Kritik erhaben, der Reformbedarf offenkundig. Zum Sturm-und-Drang-Patriotismus, der Abgrenzung von Frankreich, gehörte sie aber essentiell. „Zwar wussten wir von unserer Reichsverfassung nicht viel Löbliches zu sagen“, 227 Goethe an Karl Ludwig von Knebel, 1. August 1775, Nr. 342, in: WA, Abt. IV, Bd. 2, S. 272. 228 Walther: Die politischen Erfahrungen und Erwartungen, S. 309. 229 Neumeyer, Harald: Psychenproduktion. Zur Kindsmorddebatte in Gesetzgebung, Wissenschaft und Literatur, in: Diskrete Gebote. Geschichten der Macht um 1800, hrsg. v. Roland Borgards/Johannes F. Lehmann, Würzburg 2002, S. 47 – 76. 230 Pütter, Johann Stephan: Auserlesene Rechts-Fälle, Bd. 3,1, Göttingen 1777, S. 265 – 273; dazu: Walther: Die politischen Erfahrungen und Erwartungen, S. 317. 231 Walther: Die politischen Erfahrungen und Erwartungen, S. 319 f.

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schrieb Goethe über seine Straßburger Zeit deutlich aus der Sicht ex post, „wir gaben zu, daß sie aus lauter gesetzlichen Mißbräuchen bestehe, erhuben uns aber um desto höher über die französische gegenwärtige Verfassung, die sich in lauter gesetzlosen Mißbräuchen verwirre […].“232 Gegenstand der literarisch-politischen Auseinandersetzung mit den deutschen Verhältnissen war aber selten direkt das Reich, sondern meist die Missstände innerhalb der einzelnen Territorien. Nicht über die politische Thematik soll daher im Folgenden die Bedeutung des Reichs aufgezeigt werden, sondern indem nachvollzogen wird, wie sehr das Reich im poetologischen Denken des Sturm und Drang Teil des deutschen Nationalcharakters war und wie sehr es sich innerhalb der nationalpoetischen Programmatik exprimierte. Ausgangspunkt dafür ist erneut die ,Reichspublicistik‘. Der europaweiten Suche nach Nationaleigentümlichkeit entsprach im Reichsstaatsrecht die Individualisierung des Reichskörpers, die Ablehnung aristotelischer Klassifikationsversuche. Bereits Gundling konstatierte in diesem Sinne: „[…] eine iede republique hat eine besondere structur. Daher sehen wir da nicht mehr auf die principia generalia, sondern auf den ordinem specialem […].“233 Was der dänische Komödienautor und Historiker Ludwig Holberg in seiner Lebensbeschreibung 1745 noch abfällig aussprach, „Deutschland wird auf deutsch regiert“234, wandelte sich über die Arbeit der Reichsjuristen zu Johann Jacob Mosers patriotisch konnotiertem Bekenntnis aus dem Jahre 1766 in denselben Worten.235 Um zu bestimmen, was Recht innerhalb des Reichs war, mussten nicht nur Gesetze gesammelt und kommentiert werden. Bräuche, Sitten, Klima, ökonomische und geographische Voraussetzungen, selbst der ,Volkscharakter‘ wurden konsultiert, um die Vielzahl der Gesetze auszulegen und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Verfassung bei allen Veränderungen über die Zeiten zu beschreiben.236 Im deutschen Privatrecht versuchten die Juristen auf dem Weg des Rechtsvergleichs, mithilfe der Analogie, manchmal sogar auf Basis des gemeinsamen ,Nationalgeists‘ eine Konkordanz des mannigfachen deutschen Rechts, eine deutsche Rechtseinheit 232 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 515. 233 Gundling, Nicolaus Hieronymus: Gründlicher Discours über Henrici de Coccejii Juris Publici Prudentiam […], Frankfurt a.M./Leipzig 1735, Cap. I, § 5. Zit. n. Hammerstein: Jus und Historie, S. 220. 234 Holberg, Ludvig: Lebens=Beschreibung in einigen Briefen an einen vornehmen Herrn […], Kopenhagen/Leipzig 1745, S. 437. 235 Moser: Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 1, S. 550 § 1. 236 Vgl. Hammerstein: Reichshistorie, insbesondere S. 85 f.

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im Partikularen zu belegen.237 Johann Stephan Pütter lässt keinen Zweifel daran, dass die politische Verselbstständigung der Territorien ein ungekanntes Ausmaß angenommen hatte: Zu den „vielen Eigenheiten, wodurch sich das Teutsche Reich“ auszeichne, rechnet der Staatsrechtler deshalb in seinem viel gelesenen Werk, dass es „aus mehreren Staaten zusammengesetzt sei“, „die, wenn man auf die Verschiedenheit ihrer Lage, ihrer Größe, ihrer innerlichen Einrichtung ihres ganzen Verhältnisses sieht, einander nichts anzugehen“ scheinen.238 „Dennoch machen sie zusammen noch immer ein Ganzes aus, das einem gemeinsamen Oberhaupte, einer gemeinschaftlichen höhern Gewalt unterworfen ist.“239 Besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gedieh die ,Einheit in der Vielheit‘ zum geläufigen Topos innerhalb der ,Reichspublicistik‘.240 Sie wurde aus der germanischen Vergangenheit abgeleitet und als Eigentümlichkeit der Deutschen und damit des Reichs schlechthin begriffen.241 Die Defizite des Reichssystems – die immerwährenden Konflikte unter den Ständen und Konfessionen, die fehlende Integration der Bürger in die Reichsverfassung etc. – wurden von den Reichsstaatsrechtlern nicht bezweifelt. An Reformvorschlägen, um die Missbräuche zu bekämpfen, fehlte es dementsprechend nicht. Dem Glauben, mit der Reichstradition immer noch eine der bestmöglichen historischen Entwicklungen genommen zu haben, konnte das aber erstaunlich wenig anhaben. Johann Heumann von Teutschbrunn beschreibt auf den Spuren Montesquieus den Geist der 237 Schäfer, Frank L.: Juristische Germanistik. Eine Geschichte der Wissenschaft vom einheimischen Privatrecht, Frankfurt a.M. 2008, S. 148 ff. 238 Pütter, Johann Stephan: Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des teutschen Reichs, Bd. 1: Erster Theil bis 1558, Göttingen 1786, S. 1 f. 239 Ebd., S. 2. 240 „So haben die patriotischen Reichsjuristen des 18. Jahrhunderts die ,Einheit des Teutschen Reichs‘, in scharfer Ablehnung des territorialstaatlichen Souveränitätsgedankens und seines Einheitsmodells, als eine ,Einheit in der Vielheit‘, als eine ,Vereinigung‘ der verschiedenen politischen Kräfte verstanden, auf der Basis der zeitgemäß reformierten Grundgesetze und Institutionen der Reichsverfassung.“ Gall, Lothar/Blasius, Dirk: Einheit (Reichspublizistik), in: GG, Bd. 2, S. 124 – 129, hier S. 128. 241 In der „ältesten Geschichte“ lägen bereits die Keime für diese Eigentümlichkeit, so Pütter, da „Teutschland von mehreren Völkern bewohnt worden [sei], die zwar von einerley Herkunft“ waren, aber „jedes jedoch für sich in völliger Freyheit und Unabhängigkeit seine eigne Einrichtung hatte“. Pütter: Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des teutschen Reichs, Bd. 1, S. 2. Erst durch die festen Grenzen Roms, sei die Verbindung der deutschen Völker so fest geworden, dass die bis heute bekannten Namen der Franken, Schwaben, Thüringer und Sachsen entstehen konnten. Ebd., S. 4 f.

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Geseze der Teutschen (1761) und erläutert den Verfassungscharakter des freiheitlichen Germaniens wie des gegenwärtigen Heiligen Römischen Reichs: „Man lernt zwar in der Staatskunst, daß die Republiken ihre Freiheit durch die Einigkeit erhalten müssen; jedoch Teutschland erhält sie durch die Trennung.“242 Bei Friedrich Carl Moser wird die Vielfalt der politisch-ständischen Freiheiten geradezu zum göttlich-natürlichen Prinzip – eine ähnliche Sichtweise findet sich in der Reichsromantik nach 1806 wieder. „Mannigfaltigkeit und Abstufung ist das Grosse und Schöne der Harmonie der Schöpfung, vom Elephanten zur Maus, vom Adler bis zur Fliege“243, wendet er unter dem Eindruck der Französischen Revolution gegen die staatsbürgerliche Gleichheitsidee Rousseaus ein. Wenn um 1800 von der ,gotischen Ruine‘ der Reichsverfassung die Rede ist, darf nicht vergessen werden, das ,gotisch‘ noch einige Jahre zuvor der Ehrentitel deutscher Eigentümlichkeit schlechthin war. Von den Engländern konnte man lernen, wie sich eine „old Gothic constitution“, hier mit Blick auf Architektur und Gartenkunst, zum Ideal von „noble Strength and Simplicity“ stilisieren ließ, verdankten sich doch die ,englische‘ und ,deutsche Freiheit‘ spätestens seit Montesquieus Diktum ihren gemeinsamen germanischen Wurzeln.244 Das sogenannte ,gotische Haus‘ in Wörlitz, 1773 im Auftrag Leopolds III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau nach englischem Vorbild und als nationale Ergänzung zur kosmopolitisch-klassizistischen Architektur des Schlosses entworfen, kombinierte die englische Tudor-Gotik mit der norddeutschen Backsteinarchitektur aus der Zeit der Renaissance. Im Inneren wurde die „historische Rolle der Kleinstaaten im 242 Heumann von Teutschbrunn, Johann: Der Geist der Geseze der Teutschen, Nürnberg 1761, S. 86. Zu Heumann im Kontext der Montesquieu-Rezeption: Hammerstein: Jus und Historie, S. 360 Fußnote 214; Vierhaus, Rudolf: Montesquieu in Deutschland, in: Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Ernst-Wolfgang Böckenförde u. a., Basel/Stuttgart 1965, S. 403 – 437, hier S. 420 f. Vgl. auch: Soden, Julius Freiherr v.: Geist der teutschen Criminal Geseze, 2 Bde., Dessau 1782; Karl Salomo Zachariä von Lingenthal: Geist der Deutschen Territorialverfassung, Leipzig 1800. 243 Moser, Friedrich Carl: Politische Wahrheiten, Zürich 1796, S. 72. Siehe dazu und zum Folgenden: Hammerstein, Notker: Das politische Denken Friedrich Carl von Mosers, in: Historische Zeitschrift 212 (1971), S. 316 – 338, hier S. 328 ff. 244 Common Sense Nr. 150 (15. 12. 1739), o. S. (erste Seite); Montesquieu leitete die Grundideen zur englischen Staatsverfassung aus der Freiheit in den germanischen „Wäldern“ ab: Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, hrsg. v. Kurt Weigand, Stuttgart 2006, S. 229; Miles, Robert: The Gothic, in: The Oxford Encycolpedia of British Literature, Bd. 5, hrsg. v. David Scott Kastan, Oxford/New York 2005, S. 443 – 446.

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deutschen Reich“ und die Schweizer Föderalverfassung museal ausgestaltet.245 Friedrich Carl Moser meint mit ,gotisch‘ 1767, dass das Reich ein historisch gewachsenes Gebäude sei, dem man das Widerspiel von Tradition und Innovation anmerke. Ausdrücklich begrüßt er die darin wurzelnde deutsche Form der Freiheit.246 Die Vielfalt der Sitten und Gesetze im Reich will Moser mit seiner Forderung nach einem deutschen Nationalgeist nicht beseitigen. Vielmehr hofft er, diese Trennung durch „den Geist des Friedens und der Eintracht“, durch einen „mächtige[n] Enthusiasmus vor das Beste des Vaterlandes“ zu überwinden: Statt Eigennutz und Kampf untereinander solle über die Kenntnis der Reichsgesetze und den Glauben an das Vaterland „unter den Ständen selbst ein[] höchstrühmliche[r] Wetteifer“ erweckt werden, „wie jeder mit gesezmäßigem und patriotischem Betragen es dem andern gleich, ja zuvor thun möge“247. Ausführlich loben auch Julius von Soden (1788) und später Carl Friedrich Häberlin (1793) die kulturfördernde Vielfalt der konkurrierenden Staaten des Reichs und stemmen sich mit nationalen Parolen gegen anderslautende Kritik.248 Mit dem Sturm und Drang hat das viel zu tun. Goethe bezeichnet seinen Aufsatz über die deutsche Baukunst, der in Herders Von Deutscher Art und Kunst veröffentlicht wurde, im Rückblick als einen Beleg seiner 245 Umbach, Maieken: Reich, Region und Föderalismus als Denkfiguren in politischen Diskursen der Frühen und Späten Neuzeit, in: Föderative Nation, hrsg. v. Georg Schmidt/Dieter Langewiesche, München 2000, S. 191 – 214, hier S. 208. 246 „Da die alte Geseze immer in ihrer Verbindlichkeit geblieben und nur nach denen sich ergebenen häuffigen neuen Bedürfnißen und Veränderungen vermehrt und verbeßert worden, so hat unsere Verfassung, in so weit sie auf den Gesezen beruht, freilich das ganze Ansehen einer gothischen Kirche, auf welche ein moderner Thurn gesezt, oder einer alten Burg, woran neue Flügel angebaut worden, bekommen.“ Moser, Friedrich Carl: Patriotische Briefe, o. O. 1767, S. 385. Dazu: Hammerstein: Das politische Denken Friedrich Carl Mosers, S. 331. 247 Moser: (Ein aufgewärmter alter) Neujahrs=Wunsch an den Reichs=Tag zu Regensburg vom Jahr 1765, S. 307; vgl. auch: Moser: Von dem Deutschen national=Geist. 248 Soden reagierte dabei auf eine Schrift, die die Reichskritik bündelte und das Reich als unzeitgemäß und nicht erhaltenswert klassifizierte: „Welcher Staat wäre aber auch der Aufklärung günstiger als dieser, wo die Menge neben einander herrschender, von einander unabhängiger Regenten dem hier verfolgten Verdienst, der hier gedrückten Freimüthigkeit allenthalben in der Nähe eine sichere Freistatt gewährt; wo eben diese Menge der Regenten Nacheiferung und Duldung erweckt und begünstigt?“ Soden, Julius v.: Deutschland muß einen Kaiser haben, o. O. 1788, S. 24; Häberlin, Carl Friedrich: Ueber die Güte der deutschen Staatsverfassung, in: Deutsche Monatsschrift 1 (1793), S. 3 – 33.

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„patriotische[n] Gesinnung“ während der Straßburger Studienzeit.249 Eine „Bildnerei aus den willkürlichsten Formen“ könne „ohne Gestaltsverhältnis zusammenstimmen“, sofern sie „Eine Empfindung“ „zum charakteristischen Ganzen“ schaffe.250 Kaum anders definiert Friedrich Carl Moser den Nationalgeist als „große[n], allgemeine[n] Gedanke[n]“, der „das punctum saliens, die belebende Kraft der Nationalgesinnungen ins Ganze ausmacht“251. Nach einem solchen punctum saliens, das die heterogene Vielheit zur höheren Einheit verwandelt, suchten Literaten wie ,Publicisten‘. Wahrhafte deutsche Kunst, Kunst im Stile des von Erwin Steinbach errichteten Straßburger Münsters, erweist sich nach Goethe in der Übereinstimmung von „tausend harmonierenden Einzelnheiten“252. In gleicher Weise bewundert der junge Dichter an Justus Möser den Blick des Historikers, der die deutsche Vielstaatlichkeit zu einem höheren Ganzen verbinde. Später schreibt er rückblickend: Wenn man sonst dem deutschen Reiche Zersplitterung, Anarchie und Ohnmacht vorwarf, so erschien aus dem Möserschen Standpunkte gerade die Menge kleiner Staaten als höchsterwünscht zu Ausbreitung der Kultur im Einzelnen, nach den Bedürfnissen welche aus der Lage und Beschaffenheit der verschiedensten Provinzen hervorgehn.253

Indem nicht mehr die Philosophie des Rationalismus für das Ideal einer „Übereinstimmung des Mannigfaltigen, in der Ordnung und Harmonie“254 Pate steht wie bei Gottsched vierzig Jahre zuvor, sondern die Genieund Ausdrucksästhetik, kann das Ensemble widerstrebiger bzw. willkürlicher Formen und Inhalte als charakteristische Einheit empfunden und als spezifisch ,deutsch‘ ausgegeben werden. Dem Nationalcharakter entspricht die Einheit des Heterogenen und Mannigfaltigen der deutschen Reichsverfassung und parallel dazu die Einheit in der bunten Vielheit deutscher Kunstwerke. Justus Möser postulierte die Nähe von ,Kunstwerk‘ und ,Staatskunst‘ an zahlreichen Stellen.255 Freiheit und kulturelle Blüte korrelierten für den

249 250 251 252 253 254 255

Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 417. Goethe: Von deutscher Baukunst, in: MA, Bd. 1,2, S. 421. Moser: Patriotische Briefe, S. 24. Goethe: Von deutscher Baukunst, in: MA, Bd. 1,2, S. 418. Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 687. Gottsched: Critische Dichtkunst, in: AW, Bd. 6,1, S. 174. Stauf: Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität, S. 201 – 214.

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Osnabrücker Juristen mit der Vielfalt innerhalb der staatlichen Ordnung – Griechenland und die Germanen dienten dafür als Exempel.256 Es wäre falsch, in seiner Ablehnung des Moserschen Nationalgeists eine Ablehnung des Reichs zu erblicken.257 Das belegt auch jene Einleitung seiner Osnabrückischen Geschichte, die Herder in Auszügen unter dem Titel Deutsche Geschichte dem Band Von deutscher Art und Kunst beifügte. Herder ging es dabei wohl um zweierlei: Zum einen wollte er zu einer ästhetisch ansprechenden Form deutscher Geschichtsschreibung anregen. Noch 1795 galt ihm die „Partikular=Geschichte“ Justus Mösers hierfür als leuchtendes Vorbild.258 Zum anderen und eng damit verbunden gelang es dem Osnabrücker Historiker durch die narrative Technik, die deutsche Geschichte an dem Leitfaden der deutschen Landeigentümer zu schildern, eine Einheit der Nationalgeschichte von den frühen Germanen bis zur Gegenwart zu imaginieren, die – stärker als entsprechende Arbeiten der Reichshistoriker – identitätsstiftend wirken konnte und zudem die Nation ,von unten‘ konstruierte. Ausdrücklich ist im besagten Auszug der „Nationalcharakter“ vor der Folie sich wandelnder Zeitumstände Thema.259 Auch Möser hatte seinen Montesquieu gelesen. „Vaterland“, „deutsche[s] Reich“ und „Reichsboden“ sind feste und beständige Größen dieser narrativen Identitätskonstruktion.260 Von einer reinen Kulturnation ohne Beziehung zum territorialen und politischen Rahmen des Reichs kann keine Rede sein. Anders als bei den Reichsjuristen gleicht die deutsche Geschichte allerdings einem Abfall von dem Goldenen Zeitalter der germanischen Staatskunst, die Möser als perfekte und ,national-charakteristische‘ deutsche Einheit in der Mannigfaltigkeit inszeniert.261 Dennoch: Die gegenwärtige, vierte Phase der deutschen Geschichte, die Periode der „glückliche[n] Landeshoheit“, 256 Vgl. Möser: Sollte man nicht jedem Städtgen seine besondre politische Verfassung geben, in: HKA, Bd. 6, S. 64 – 68, hier S. 65. Zur Vielfalt und ,Reichspublicistik‘ bei Möser: Hammerstein: Möser, S. 80 f. 257 Vgl. Welker: Rechtsgeschichte als Rechtspolitik, S. 198 – 211. Zur Kritik an Moser: ebd., S. 222 – 233; zum Reich als verfassungsrechtlicher Realität: ebd., S. 233 – 251. 258 Herder: Warum wir noch keine Geschichte der Deutschen haben?, in: SWS, Bd. 18, S. 382. 259 Möser, Justus: Deutsche Geschichte, in: Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter, hrsg. v. Johann Gottfried Herder/Johann Wolfgang Goethe/ Paolo Frisi/Justus Möser, Hamburg 1773, S. 163 – 182, hier S. 165. 260 Möser: Deutsche Geschichte, S. 180. 261 Vgl. Stauf: Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität, S. 201 – 214.

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wertet er gegenüber den beiden vorhergehenden wieder deutlich auf.262 Ein ,Zurück‘ ist für ihn undenkbar und unerwünscht.263 Insoweit ist Mösers Geschichtsnarration zugleich kontrapräsentisch und gegenwartsfundierend:264 Der Westfälische Frieden von 1648 beendete den historischen Konflikt zwischen den „freien Landeigentümern“ und den nach Selbstständigkeit strebenden Zwischengewalten des Reichs. Zwar verschwanden die Landeigentümer, als sie endgültig Untertanen, dem „Landesherrn“ „anvertraute Reichsgemeine[]“, wurden. Der Friede schuf aber ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den gefestigten Territorien und dem Reichsoberhaupt – angesichts der Zeitumstände, dem ,veränderten Staatsinteresse‘, der Bedrohung durch Frankreich, daran lässt der Osnabrücker Historiker und Jurist keinen Zweifel, die bestmögliche Balance.265 Eine zentralistische Alternative nach französischem Vorbild lehnte Möser ausdrücklich ab. Das Reichssystem in seiner Vielfalt und Einheit zu festigen, war schließlich auch das Ziel seiner Vorschläge zur Reform des Reichskammergerichts, zu Reichstagsbeschlüssen und zu wirtschaftspolitischen Fragen der Reichs- und Kreistage.266 Vaterlandsliebe als Verfassungspatriotismus war für ihn aber im gegenwärtigen Staatssystem nicht denkbar, da die Verfassung in keiner ständigen Beziehung zu den Bürgern der einzelnen Territorien stehe, sondern nur zu den Reichsständen als ,Repräsentanten‘ der Nation.267 Er zweifelte daher daran, dass es in seinem 262 263 264 265

Möser: Deutsche Geschichte, S. 173. Vgl. Stauf: Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität, S. 167 – 170. Vgl. zu diesem Begriffspaar: Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 78 – 83. „Und so ist die letztere, worin jeder Landesfürst die ihm anvertrauten Reichsgemeinen als die seinigen betrachtet, sein Glück in dem ihrigen findet und wenigstens seinem Hause zu Gefallen nicht alles auf einmal verzehrt, allenfalls aber an dem allerhöchsten Reichsoberhaupte noch einigen Widerstand hat, gewiß die beste gewesen, nachdem einmal grosse Reiche entstehen, und die Landeigenthümer in jedem kleinen Striche, Städte und Festungen unter sich dulden, geldreiche Leute an der Gesetzgebung Theil nehmen lassen und nicht mehr befugt bleiben sollten, sich selbst einen Richter zu setzen und Recht zu geben.“ Möser: Deutsche Geschichte, S. 176 f.; die Notwendigkeit für diese Veränderung entstand insbesondere durch die Bedrohung Frankreichs und den Bedarf einer „allgemeinen Reichsvertheidigung“. Ebd., S. 135. 266 Vgl. Welker: Rechtsgeschichte als Rechtspolitik, S. 233 – 251; Schindling, Anton: Osnabrück, Nordwestdeutschland und das Heilige Römische Reich zur Zeit Mösers, in: Möser-Forum 1 (1989), S. 210 – 222; Hammerstein: Möser, S. 80 f. 267 „[…] wir haben höchstens nur Vaterstädte und ein gelehrtes Vaterland, was wir als Bürger oder als Gelehrte lieben. Für die Erhaltung des deutschen Reichssystems stürzt sich bei uns kein Curtius in den Abgrund.“ Möser: Über die deutsche

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Zeitalter einen sinnvollen politischen Nationsbegriff für die Deutschen geben könne. Die deutsche Nation bestand für Möser jedoch aus mehr als nur den Reichsständen und Reichsgesetzen, wie die Kultur aus mehr bestand als aus Höfen.268 Reich und Nation gehörten für ihn schon allein deshalb selbstverständlich zusammen, weil er ,Nation‘ vorwiegend als historische, nicht als politische Kategorie begriff. Die ,deutsche Nation‘ setze sich aus mehreren ,Nationen‘ zusammen, die im Laufe der Geschichte das Reich ,geschaffen‘ hätten, welches sie nun trotz aller Defizite verfassungsmäßig repräsentiere.269 Die Kunst (und die Geschichtsschreibung) erhält deshalb die Aufgabe, die allgemeine deutsche Identität in ihrer Vielfalt und Heterogenität zu verbürgen. Kunst, so der Wunsch, schafft Gemeingeist, macht die Deutschen mit sich selbst vertraut und ist so als notwendige Ergänzung zum politischen Verband des Reichs konzipiert. Sie soll keinen Reichspatriotismus erzeugen, wohl aber ein nationales Bewusstsein, das das Reich integriert. Mösers ,Rettung‘ des Grotesk-Komischen vor seinen gelehrten Verächtern (1761) beinhaltet noch keine ästhetische Lösung des nationalliterarischen Problems. Das „buntscheckige[] Kleid“ des Harlekins dient, von dieser Seite betrachtet, mehr als Ersatz für die fehlenden literarischen Gemeinsamkeiten im vielstaatlichen Deutschland ohne Hauptstadt.270 Erst der Sturm und Drang liefert ihm die Argumente, politische und ästhetische Vielfalt gleichermaßen positiv zu besetzen. Dem vereinheitlichenden Despotismus entspricht, so schreibt er 1772, die „unmannigfaltige Schönheit eines französischen Schauspiels“271. Seinen ,französischen Arminius‘ nimmt er damit formal geradewegs zurück. An späterer Stelle kontrastiert Möser mit gleicher Stoßrichtung die leblose Affektiertheit der mondän-aristokratischen Pariser Kunstwelt mit der urtümlichen Grobschlächtigkeit der wahrhaften Charaktere in Westfalen bzw. verallgemeinert der Deutschen überhaupt. Für die deutsche „Art“ kann die französische kein Vorbild sein und umgekehrt.272 In der Verteidigung der deutschen Literatur gegen die

268 269 270 271 272

Sprache und Literatur, in: HKA, Bd. 3, S. 74; Möser: Rezension zu ,Von dem deutschen Nationalgeiste‘, in: HKA, Bd. 3, S. 247 – 249, hier S. 248. Ebd., S. 247 – 249; vgl. Stauf: Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität, S. 111 – 123. Vgl. Welker: Rechtsgeschichte als Rechtspolitik, S. 233 – 251. Möser: Harlekin oder die Verteidigung des Grotesk-Komischen, in: HKA, Bd. 2, S. 306 – 342, hier S. 311 und 342. Möser: Der itzige Hang zu allgemeinen Gesetzen, in: HKA, Bd. 5, S. 23. Möser: Schreiben eines reisenden Franzosen an seinen Wirth in Westphalen, in: HKA, Bd. 5: Patriotische Phantasien II, S. 187 – 190.

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Angriffe des preußischen Königs erklärt Möser 1781 die Gärten der englischen „Brüder[]“ zum Vorbild deutscher Gartenkunst, da ihre Vielfalt besser zum deutschen Charakter passen würde als die einförmigen französischen.273 Er fordert, auf dem „Weg zur Mannigfaltigkeit“274 fortzuschreiten. Die tradierte Hypothese einer nördlichen Klimazone und die deshalb postulierte Verwandtschaft der deutschen mit der englischen Nation beinhaltet auch das Kriterium der politisch-kulturellen ,Einheit des Heterogenen‘. „[T]ausend Mannigfaltigkeiten zur Einheit gestimmt“275, lautet bei Möser wie bei Goethe die Parole für die nationale Kunst. An die Stelle der Klage über die politische Zerteilung, über den Mangel einer Hauptstadt als Hindernis nationaler Literatur ist die Lobeshymne auf die differentia specifica Deutschlands getreten. Ihr Widerpart ist wie schon in der Arminiusdebatte der Zentralismus und die Einförmigkeit Frankreichs, dem nun allerdings der ästhetische Gegenentwurf zur Seite tritt. Natur und Genie sind genauso eng verbunden wie Natur und Staat. Ästhetisches Ideal und Reichskonzept erwachsen daher aus denselben Wurzeln. Möser ist überzeugt, dass „unser Klima so gut als andere seine eigenen Früchte habe“276. Die Werke des Sturm und Drang scheinen ihm der beste Ausdruck dieser Einheit in der Vielheit, da sie das Heterogene der deutschen Provinzen, Dialekte und Stände in ein nationalcharakteristisches Bild bannen. Goethes Götz von Berlichingen sei „ein schönes Produkt unseres Bodens“277. Herder stimmte damit voll und ganz überein. Shakespeare und damit erneut die ,Originalkunst‘ Englands war schon allein deshalb leuchtendes Vorbild dieser Generation, weil er die Vielfalt der neueren Gesellschaften, die nichts mehr von der idealisierten antiken Harmonie besitzen, genial zu einer poetischen Einheit verbunden hatte: „[E]r dichtete also Stände und Menschen, Völker und Spracharten, König und Narren, Narren und König zu dem herrlichen Ganzen!“278 Der Wunsch nach einer Nationalkultur richtete sich nicht in erster Linie gegen die zeitgenössische Welt und auch nicht gegen das Reich, vielmehr fahndeten Herder und die Generation des Sturm und Drang nach einem passenden literarischen Ausdruck für die Gegenwart. Formen und Inhalte sollten vielfältig sein, um durch das in ihnen waltende Genie die Einheit spürbar zu machen. Insofern spricht die 273 274 275 276 277 278

Möser: Über die deutsche Sprache und Literatur, in: HKA, Bd. 3, S. 79 f. Ebd., S. 80. Ebd. Ebd., S. 75. Ebd. Herder: Shakespeare, in: FA, Bd. 2, S. 508.

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Volksliedpoetik in dem Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker, der ebenso in Von deutscher Art und Kunst zu finden ist, eine ähnliche Sprache: Volkslieder, dem Gesang und Tanz zugeordnet, sind für Herder mit ihren Sprüngen und Würfen Ausdruck urwüchsigen Lebens und Empfindens. Sie repräsentieren durch die in der Vielheit und Bewegtheit wirkende Kraft die naturgemäße nationale Einheit.279 Ganz anders und doch ähnlich beschreibt Herder die trockene Reichsverfassung, Mascov und Gundling zitierend, mit einem Vergleich zur gotischen Baukunst. „Wie in der Gothischen Baukunst jeder Pfeiler an Mannichfaltigkeit dem Ganzen ähnlich: so ists in der Fränkisch=Gothischen Regierung zwischen jeder Provinz und dem Reiche.“280 Das „heutige Römische Reich“ erbte diese Struktur im Negativen wie im Positiven. Nach Herder besteht es aus einer Einheit, die sich bei aller Rivalität und Veränderung der einzelnen Territorien, bei aller „Progression der Umbildung“ über die Jahrhunderte durch eine „allmähliche Schöpfung zum Staatskörper“ auszeichnet.281 In einem bündigen Bild vereint Herder das Chaos der mittelalterlichen Reichsgeschichte mit der Entwicklung zur Stabilität des gegenwärtigen Reichssystems: „Die große Wasserblase ist zersprungen, kleinere reißen sich los, und durch ein wechselndes Zerspringen und Werden ist die Menge kleiner Fürsten, gleichsam am Rande des Gefäßes, gesichert.“282 Herders Äußerungen zur Reichsverfassung sind wie dieses Bild ambivalent. Entsprechend dem „Knoten, der die politische Geschichte mit der Geschichte der Wissenschaft […] verwebt“283, interdependiert auch die deutsche Literatur mit der Verfassungsgeschichte. Im Schlechten wie im Guten gilt: „Wie Deutschlands Verfassung und Geschichte ist, ist auch seine Literatur.“284 In dem Aufsatz Haben wir eine Französische Bühne charakterisiert Herder die ,Einheit in der Vielfalt‘ als politisches und ästhetisches Merkmal Deutschlands und gelangt so zu einer genuinen Lösung auf der von Gottsched bis Lessing andauernden Suche nach einem deutschen Nationaltheater.285 Keine „Residenz“ dürfe „Zum Paris in Deutschland“ werden. „So ein Haupttheater streitet völlig mit dem Zustande, mit den Sitten und der 279 280 281 282 283 284 285

Vgl. in dieser Arbeit 3. Kap., 3.2 Herders Kulturpolitik. Herder: Bischöfe, in: SWS, Bd. 5, S. 692. Herder: Über die Reichsgeschichte, in: SL, Bd. 2, S. 435. Ebd. Herder: Vom Einfluss der Regierungen, in: FA, Bd. 9/2, S. 296. Ebd., S. 346. Vgl. in dieser Arbeit 3. Kap., 1. Nationaltheater und föderale Nation.

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Bedürfniß Deutschlandes.“286 Eine „Hauptstadt“, das zeige die Zeit Ludwigs XIV., verdamme den künstlerischen Geschmack dazu, „nur Gesellschaftoder Hofgeschmack“ zu sein.287 Das „eigenthümliche der Deutschen Bühne“ müsse sich gerade in der Vielfalt seiner „Provinzialdichter“ bewähren: „Unsere Nation besteht aus vielen Provinzen; der Nationalgeschmack unsers Theaters muß auch aus den Ingredienzien eines verschiedenen Provinzialcharakters entspringen.“288 „Statt des despotischen Musters“ einer tonangebenden nationalen Zentrale empfiehlt Herder „republikanische[n] Wetteifer“289. Ihm ist es „als Patriot“ um die Bewahrung „Deutscher Charaktere“, „Deutsche[r] Schönheiten“ gegenüber der französischen Überformung zu tun.290 Herder verweist dabei ausdrücklich auf die individuelle Form der Reichsverfassung: und wie die Staatsverfaßung Deutschlands die einzige von ihrer Art in der Welt ist; so würde, wenn ein großes Exempel unserer Zeit Nachahmung findet [gemeint ist wie bei Möser Goethes Götz]: sich auch die Bühne an verschiedenen Höfen und in unterschiedenen Provinzen, sich langsam, schwer, aber doch endlich zur Welt arbeiten.291

Auch Herder sieht in Goethes Götz von Berlichingen deshalb ein in Deutschland unübertroffenes Meisterwerk, das die nationale Einheit in der politischen und gesellschaftlichen Vielfalt des ,deutschen Reichs‘ belegt. „Sein Berlichingen“, schreibt er, „ist ein Deutsches Stück, groß und unregelmäßig, wie das Deutsche Reich ist; aber voll Charaktere, voll Kraft und Bewegung.“292 2.2.2 Die Puppe Karls des Großen Festhalten lässt sich: Die hier zitierten Texte des Sturm und Drang sind programmatische Versuche einer Nationalpoetologie mit dem Ziel, in der Literatur einen charakteristischen Ausdruck der deutschen kulturellen wie politischen Identität zu finden und dem Bestehenden mittels der wunderbaren Kraft der Poesie Leben einzuhauchen. Sie gerieten darüber allerdings in scharfen Kontrast zu der tatsächlichen Reichspraxis. Den vitalen 286 287 288 289 290 291 292

Herder: Haben wir eine Französische Bühne?, in: SWS, Bd. 2, S. 211. Herder: Ursachen des gesunkenen Geschmacks, in: FA, Bd. 4, S. 140. Herder: Haben wir eine Französische Bühne?, in: SWS, Bd. 2, S. 213. Ebd., S. 214. Ebd., S. 218. Ebd., S. 226. Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 561. Zweite Kursivierung M. H.

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Formen einer ,Einheit in der Mannigfaltigkeit‘, die Herder im Götz von Berlichingen als Analogon zum Reichscharakter lobte, widersprachen die zur ,Puppe Karls des Großen‘ gefrorenen Formen, Zeremonien und Rituale des Heiligen Römischen Reichs.293 Natürlich war das Herder bewusst: In Reaktion auf die reichspatriotischen Stellungnahmen um 1800 beschreibt er die heillose „deutsche Hoheit“ mit beißendem Spott („sinnlose Titular= und Bücklingsschmeicheleien“, „deutsche Hundsfötterei“).294 Mit dem Ideal der deutsch-germanischen Natur, ihrer ,nordischen‘ Freiheitsliebe, Ehrlichkeit und Treue hatte die Reichswirklichkeit wenig gemein. Nur noch der Wiederschein alter Größe finde sich in der „trägsten TitularVerfassung“295. Kritik an den barocken Formen übten auch die Reichsjuristen: Johann Jacob Moser fordert, endlich die sinnlosen Zeremonial- und Rangstreitigkeiten bei Reichstagsverhandlungen zu unterlassen, da sie die Funktionsfähigkeit dieser wichtigen Reichsinstitution in Frage stellten.296 Doch Herder geht viel weiter. Er lässt sogar Karl den Großen wiederauferstehen – nicht um die Vision eines Großreichs zu lancieren, wie manche Interpreten meinten, denen der ironische Ton Herders entgangen ist, sondern um ein Verdikt über die europäischen Staaten auszusprechen, die ihre despotischen Auswüchse historisch legitimieren: Vielleicht erscheinst du im Jahr 1800 wieder und änderst die Maschine, die im Jahre 800 begann; bis dahin wollen wir deine Reliquien ehren, deine Stiftungen gesetzmäßig mißbrauchen und dabei deine altfränkische Arbeitsamkeit verachten. Großer Karl, dein unmittelbar nach dir zerfallenes Reich ist dein Grabmal; Frankreich, Deutschland und die Lombardei sind seine Trümmern.297

Das Reich Karls des Großen mit seiner unnatürlichen Größe und der schädlichen Bindung an Rom gilt Herder keineswegs als politisches Ideal,298 sein Lob des genialen Fürsten aber, der Kunst und Wissenschaften 293 Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara: ,Die Puppe Karls des Großen‘. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als praktizierter Mythos, in: Mythos als Schicksal. Was konstituiert die Verfassung?, hrsg. v. Otto Depenheuer, Wiesbaden 2009, S. 25 – 96. 294 Herder: Deutsche Hoheit. Fragment, in: Adrastea, 12. Stück, in: SWS, Bd. 24, S. 376 – 382, hier S. 380. 295 Herder: Ideen, Bd. 1, S. 718: „Er liebte Tätigkeit und Treue in seinem Dienst, und würde unhold blicken, wenn er wiedererscheinend seine Puppe der trägsten Titular-Verfassung vortragen sähe.“ 296 Dazu: Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider, S. 266 – 268. 297 Herder: Ideen, Bd. 1, S. 721. 298 Vgl. auch: Herder: Karl der Große, in: SWS, Bd. 29, S. 335 – 337.

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förderte, ist durchaus ernst zu nehmen.299 Hier setzt, wie zu zeigen sein wird, seine reichspezifische Kulturpolitik an.300 Von einer vorbehaltlosen Identifikation mit dem über Riten und Zeremonien aufrechterhaltenen Reich kann jedenfalls keine Rede sein. Herders Reichsmythos, seine Narration der deutschen Nation, ist stärker noch als bei Justus Möser kontrapräsentisch und utopisch verfasst, dennoch aber ist das Reich auch für ihn der politische Anker für die Bildung einer kulturellen Nationalidentität. 2.3 Philosophie des Faktischen: Die ,Reichspublicistik‘ im Frühwerk Herders Die Frage nach Herders Verhältnis zur ,Reichspublicistik‘ scheint wie sein Verhältnis zum Alten Reich auf schiere Opposition hinauslaufen zu müssen: verstaubte Aktenstapel, barocke Formalitäten und Pedanterie hier und das Plädoyer für eine sich über den Staat erhebende Volkskultur in ansprechend schwungvollem Stil dort. Dergleichen Stereotype charakterisieren aber weder das Reichsstaatsrecht noch das Denken Johann Gottfried Herders ausreichend. Seine Rezeption ,reichspublicistischer‘ Arbeiten lässt sich auf zwei miteinander verschränkten Ebenen betrachten. Zum einen in ihrer historiographischen und zum anderen in ihrer politischen Bedeutung. 2.3.1 Historiographie und Wissenschaft Ein stark verengter Begriff von ,Aufklärungshistorie‘ verhinderte, dass trotz zahlreicher ideengeschichtlicher Untersuchungen zum Geschichtsbegriff Herders die Tradition der Reichshistorie in den Blick kam. Zu Recht wird die Geschichtsphilosophie eines Voltaire, David Hume oder Isaak Iselin genannt und auf die Bedeutung der französischen Enzyklopädisten, zahlreicher Naturwissenschaftler sowie der Universalhistoriker aus Göttingen, Johann Christoph Gatterer und August Ludwig Schlözer, hingewiesen.301 An vielen Stellen in Herders Werk finden sich daneben aber 299 Herder: Ideen, Bd. 1, S. 717 – 721. 300 Vgl. in dieser Arbeit 3. Kap., 3.2 Herders Kulturpolitik. 301 Weder Häfners gründliche Studie zum frühen Herder noch Wolfgang Proß ausführlicher und kenntnisreicher Kommentar zu den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit gehen auf die ,Reichspublicistik‘/Reichshistorik ein. Vgl. die Hinweise von Proß auf Herders Aufsatz Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden: Herder: Ideen, Bd. 2, S. 836 f., S. 847; zu Mascou/Mascov: ebd., S. 837,

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Verweise auf Autoren und Werke ,reichspublicistischen‘ Kontexts, die zwar an Bedeutung den großen europäischen Bezügen nicht gleichzustellen sind, jedoch zu Unrecht ignoriert werden.302 Der Eindruck, dass die Geschichtsauffassung im Deutschland des 18. Jahrhunderts vornehmlich einem enzyklopädisch-universalgeschichtlichen Ansatz folgte, ist trügerisch. Das Gros der geschichtswissenschaftlichen Publikationen entstammte den ,publicistischen‘ Editionen und Spezialstudien sowie dem allgemeinen antiquarischen Interesse der Öffentlichkeit.303 Die europäische Frontstellung zwischen philosophischer Abstraktion bzw. der literarischen Geschichtsschreibung auf der einen Seite und der im Kontext der ,Pyrrhonismusdebatte‘ profilierten quellen- und faktenlastigen Geschichtsforschung auf der anderen Seite gewann durch ,Reichspublicistik‘ und Reichshistorie in der deutschen Wissenschaftskultur eine ganz eigene Qualität.304 Die Reichshistorie war die Hilfsdisziplin der historisch arbeitenden Rechtswissenschaft: „Quod in caeteris Juris disciplinis ratio praestat, id in jure publico Germaniae historia“, schreibt der Jurist Heinrich von Cocceji bereits 1695.305 Von den Thomasius-Schülern Nicolaus Hieronymus Gundling und Johann Peter von Ludewig in Halle zur Blüte gebracht, verbreitete sie sich an allen großen Universitäten des Reichs.306 Für ,Reichspublicisten‘ war die Geschichte keine Beispielsammlung zum Zweck moralischer Unterweisung, auch bestand ihre Tätigkeit nicht im rein antiquarischen Sammeln von Fakten, sondern in problemorientierter

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S. 843, S. 850 f.; zu Pütter: ebd., S. 761 f., S. 875. Vgl. Häfner, Ralph: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens, Hamburg 1995. Einzig Notker Hammerstein hat auf mögliche Berührungspunkte hingewiesen, ist dem aber nicht weiter nachgegangen: Hammerstein: Der Anteil des 18. Jahrhunderts, S. 446. Ebd., S. 439, Fußnote 15. Zum Verhältnis von ,Geschichtsforschung‘ und ,Geschichtsschreibung‘: Süßmann, Johannes: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstruktionslogik von Geschichtserzählung zwischen Schiller und Ranke (1780 – 1824), Stuttgart 2000, S. 53 – 56; Völkel, Markus: ,Pyrrhonismus historicus‘ und ,fides historica‘: die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis, Frankfurt a.M./Bern/New York 1987. Zum europäischen Hintergrund des mos gallicus und der ,niederländischen Bewegung‘: Hammerstein: Jus und Historie, S. 27 – 42. Cocceji, Heinrich von: Juris publici prudentia compendio ehibita, Frankfurt a.O. 1695, zit. n. Stolleis: Die Historische Schule und das öffentliche Recht, S. 35. Hammerstein: Jus und Historie.

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Forschung mit quellenkritischer Methodik: „Die Teutsche Reichs-Historie“, erläutert Pütter, „hat zu ihrem eigentlichen Gegenstande, daß man diejenigen Begebenheiten in ihrem Zusammenhange kennlerne, welche dazu dienen, den heutigen Zustand des Teutschen Reichs aus seinen Gründen einzusehen.“307 Als fachwissenschaftliche Hilfsdisziplin traktierte die Reichsgeschichte in trockener und oft als pedantisch verschriener Form nur Gegenstände, die für die Verfassungs- und Rechtsgeschichte von unmittelbarem Interesse waren. Weitergehende Fragestellungen wie die Früh- und Kulturgeschichte der Deutschen spaltete sie mehr und mehr von sich ab.308 Der Göttinger Reichshistoriker Johann David Köhler unterscheidet ausdrücklich zwischen der „Historie von Teutschland“ und der „Teutschen Reichs-Historie“309. Den Diskurs eines Jahrhunderts resümierend differenziert Joseph Milbiller 1799 ebenso zwischen der „deutschen Reichsgeschichte“ und der „Geschichte der deutschen Nation“310. Während Erstere Verfassungsfragen und politische Ereignisse behandele, müsse Zweitere als „Menschen-“ bzw. „Kulturgeschichte“, den Fortschritt der „Denkungsart“ und „Sitten“ untersuchen. Zwar wisse jeder, „wie enge Kultur und Staatsverfassung zusammenhängen“311, doch sei für eine philosophische Kulturgeschichte ein größeres Spektrum an Tatsachen von Bedeutung, ist doch für diese der „Kurverein in Rhense“ unter Umständen genauso wichtig „wie die Ankunft der Kinderpocken in Deutschland“ oder die „Errichtung des ersten Kaffeehauses daselbst“312. Im Hintergrund steht der europäische Fundus anthropologisch fundierter philosophisch-historischer Kulturvergleiche, wie sie sich im 18. Jahrhundert durch den Blick auf die Völker anderer Kontinente weit verbreiteten und auf die Beschreibung der eigenen Ge-

307 Pütter, Johann Stephan: Handbuch der Teutschen Reichs-Historie, Bd. 1, 2, vermehrte Ausgabe Göttingen 1772, S. 1 § 1; siehe: Hammerstein: Reichshistorie, S. 102. 308 Ebd. 309 Köhler, Johann David: Kurtzgefaste und gründliche Teutsche Reichs-Historie vom Anfang des Teutschen Reichs mit König Ludwigen dem Teutschen biß auf den Badenschen Frieden […], Frankfurt/Leipzig 1737, S. 21. Dazu: Hammerstein: Reichshistorie, S. 98 f.; Hammerstein: Jus und Historie, S. 356. 310 Milbiller, Joseph: Ideal einer Geschichte der deutschen Nation in philosophischer Hinsicht. Eine feierliche akademische Antrittsrede abgelesen am 11. Dec. 1799, Ingolstadt 1800, S. 9. 311 Ebd., S. 34 f. 312 Ebd., S. 40 f.

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schichte zurückwirkten.313 Diesem erweiterten Begriff einer deutschen Geschichte in einem populären großen Werk zu entsprechen, das über den Kreis der akademischen Fachgelehrten hinaus wirkt, galt als eines der nationalen Desiderate schlechthin. Die „ungeheure[n] Citationen“ und die „pedantisch affektirte Gelehrsamkeit“ der Deutschen, so lautet der ubiquitäre Vorwurf, schreckten das weite Publikum ab, und brächten die Deutschen um den Genuss einer Gemeinsinn fördernden und daher ,gemeinnützigen‘ „vaterländischen Geschichte“314. Die Reichshistorie etablierte mit ihren Quellenzitaten, Literaturbelegen, Fußnotenapparaten und Anmerkungen aber auch Standards für die wissenschaftliche Arbeit. Gegenüber Körner äußert Friedrich Schiller die Befürchtung, „daß, wenn sich meine Lust nach der Proportion [dem Gleichgewicht zwischen historischer Wissenschaft und Poesie] wie sie angefangen hat, vermehrt, ich am Ende dem Publicisten näher bin als dem Dichter, wenigstens näher dem Montesquieu als dem Sophocles“315. Möglicherweise ist der Forschung die Bedeutung des Wortes „Publicist“ bislang entgangen.316 Wohl kaum geht es hier um einen Publizisten nach modernem Verständnis, einem Schriftsteller also, der im journalistischen Sinne zu aktuellen Themen Texte veröffentlicht. Im Zedler-Lexikon wird das Wort genauso wie später im Wörterbuch der Grimms wie folgt definiert: Publicist, Publicisten, Juris Publici Peritus, werden insgemein diejenigen genennet, welche sich auf das Staats-Recht (Jus Publicum) legen, dasselbige lehren, oder davon schreiben.317

313 Vgl. Proß, Wolfgang: Die Ordnung der Zeiten und Räume. Herder zwischen Aufklärung und Historismus, in: Vernunft – Freiheit – Humanität, über Johann Gottfried Herder und einige Zeitgenossen, hrsg. v. Claudia Taszus, Eutin 2008, S. 9 – 78. 314 Die Geschichte von Siebenbürgen in Abend Unterhaltungen vors Volk, Erster Theil, Hermannstadt 1784, Vorrede, zit. n. Böning, Holger: Das ,Volk‘ im Patriotismus der deutschen Aufklärung, in: Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches, hrsg. v. Otto Dann/Miroslav Hroch/Johannes Koll, Köln 2003, S. 63 – 98, S. 82. 315 Schiller an Christian Gottfried Körner, 12. Februar 1788, Nr. 9, in: NA, Bd. 25, S. 16. 316 Vgl. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 58 – 77. 317 O. A.: Publicist, Publicisten, in: Zedler, Bd. 29, S. 1138. Vgl. auch: O. A.: PUBLICST, in: Grimms Wörterbuch, Bd. 13, Sp. 2201: „PUBLICIST, publizist, m., aus neulat. publicista, kenner des staatsrechtes (des jus publicum) […].“

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Quellenfundierung, wissenschaftliche Genauigkeit und Zuverlässigkeit verband man im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts mit den aus der Reichsjuristik kommenden historischen Schriften. Ihre empirisch-pragmatische Methode war maßgeblich für die wissenschaftliche Ranghöhe eines Werks, während ihre mangelnde Reflexion und Fähigkeit in Sachen Darstellung zum Gegenstand häufiger Kritik und Polemik wurden (Pedanterie, verstaubte Bibliothekswächter etc.). Die Reichjuristen zeichneten sich sowohl durch positivistisches Sammeln, Edieren und Kommentieren unzähliger Quellen aus – man denke an die zahlreichen Bände Johann Jacob Mosers – als auch durch eine ausgefeilte „juristische Auslegungs=Kunst“, die in den methodologischen Einführungen zum Jurastudium reflektiert wurde.318 Herder kannte einige davon. Die Diskussion um seinen Wissenschaftsbegriff muss dementsprechend ergänzt werden.319 Zwar wird die empirische Seite seines Denkens durch das Vordringen der Naturwissenschaften und die Rezeption englischer Philosophie bedingt sein. Sie findet aber auch eine wichtige Parallele im Vorgehen der Reichshistoriker, ungeachtet dessen, dass deren Geschichtsdenken von einer historisch-genetischen Perspektive in der Regel weit entfernt war. Herders naturwissenschaftlicher Mentor, Georges-Louis Leclerc de Buffon, sah im Übrigen seinerseits in der quellenkritischen Geschichtswissenschaft seiner Zeit – ihm schwebte wahrscheinlich Jean Mabillon oder Pierre Bayle vor Augen – ein Vorbild für das eigene Schaffen.320 318 Vgl. Gundling: Collegium Historico-Literarivm, S. 1048 ff.; Pütter, Johann Stephan: Neuer Versuch einer juristischen Encyclopädie und Methodologie, Göttingen 1967, S. 43; zur Hermeneutik und Methodik Pütters, der sich an Naturwissenschaften und Mathematik anlehnt: Stühler, Hans-Ulrich: Die Diskussion um die Erneuerung der Rechtswissenschaft von 1780 – 1815, Berlin 1978, S. 116 – 119; Marx: Die juristische Methode der Rechtsfindung aus der Natur der Sache. 319 Vgl. Nisbet, Hugh Barr: Herder and the Philosophy and History of Science, Cambridge 1970; Reill, Peter Hanns: Herder’s Historical Practice and the Discourse of Late Enlightenment Science, in: Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuit of Knowledge, hrsg. v. Wulf Koepke, Columbia, SC 1996, S. 13 – 21; Leventhal, Robert: Diskursanalytische Überlegungen zum Wissenschaftsbegriff beim frühen Herder, in: Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, hrsg. v. Martin Bollacher, Würzburg 1994, S. 117 – 129. 320 „Comme, dans l’histoire civile, on consulte les titres, on recherche les médailles, on déchiffre les inscriptions antiques, pour déterminer les révolutions humaines et constater les dates des événements moraux; de meme, dans l’Histoire Naturelle, il faut fouiller les archives du monde, tirer des entrailles de la terre les vieux monuments, receullir leurs debris, & rassembler en un corps de preuves tous les indices des changemens physiques qui peuvent nous faire remonter aux différens ages de la

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Der Diskurs über eine noch zu schreibende ,deutsche Geschichte‘ verdichtete sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in dem Grundproblem, wie man zugleich „Voltairisch=schön und Mascouisch=richtig“ schreiben, zugleich Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung betreiben könne.321 Die Frage war, wie beide Seiten, die wissenschaftlich-empirische Tradition und die poetisch-ästhetische Darstellungsform zu vereinen waren bzw. aus epistemologischen Gründen gar vereint werden mussten. Während die ,Darstellungskrise‘ und die damit verbundene Frage nach Perspektivität und Konstruktivität der Geschichtserzählung in der Forschung ausführlich traktiert wurden,322 blieb die Bedeutung der empirisch-wissenschaftlichen Fundierung in ihrem spezifisch ,nationalen‘ Kontext weitgehend unberücksichtigt. Winckelmann, Herder und Schiller, aber auch Johann Jacob Mascov, Michael Ignaz Schmidt und Johannes Müller propagierten jeder auf seine Weise die Loslösung der deutschen Geschichtsschreibung aus dem engen Kreis der Fachgelehrten – nicht selten antike oder französische Vorbilder vor Augen. Dennoch blieb ihre Arbeitsweise wie ihr ,Ideal‘ eines wahrhaft ,originalen‘ Geschichtswerks von der genuin deutschen Gemengelage geprägt.323 Der große Stellenwert der ,publicistischen‘ Tradition war für viele Zeitgenossen selbstverständlich: Gatterer unterscheidet „vier Classen“ von Geschichtsschreibern: 1. die „ästhetische“, 2. die „gründliche oder kritische“, 3. die „pragmatische“ und 4. diejenige, die alle drei Elemente vereint. Während er die erste Klasse, die sich „nicht viel von Dichtern unterscheide[t]“, eindeutig den Franzosen zuordnet, pachtet er die zweite, die Nature.“ Buffon, Georges-Louis Leclerc de: Des époques de la nature, in: Oeuvres complètes de Buffon avec les supplémens, Bd. 2, Paris 1836, S. 73 – 85, hier S. 73. 321 Schlözer, August Ludwig: Vorstellung seiner Universal-Historie, 2 Bde., Göttingen/Gotha 1772/1773, Bd. 2, S. 383. 322 Vgl. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 103 – 109; Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? 323 Winckelmann etwa versuchte, die auf das Fachpublikum eingeschränkte Methodik der pragmatischen Reichshistorie zugunsten einer populären, im weitesten Sinne ,idealistischen‘ Kunstgeschichte zu überwinden, ohne dabei aber seine Herkunft aus der Gelehrtentradition völlig zu verleugnen, wie nicht zuletzt der Anmerkungsapparat seiner Geschichte der Kunst des Alterthums belegt. An die Stelle der Daten und Fakten seiner Lehrmeister Ludewig und Bünau setzte er Lebendigkeit und Anschaulichkeit. Vgl. Seeba, Heinrich C.: Winckelmann: Zwischen Reichshistorik und Kunstgeschichte. Zur Geschichte eines Paradigmawechsels in der Geschichtsschreibung, in: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans Erich Bödeker/Georg G. Iggers/Jonathan B. Knudsen/Peter H. Reill, 2. Aufl. Göttingen 1992, S. 299 – 323.

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„auf das wesentliche der Geschichte“ achtet, vollständig für die Deutschen. Die dritte Klasse sei noch weit verdienstvoller, sie verbinde historische Gründlichkeit mit der ,philosophischen‘ Darstellung einer Entwicklung nach Ursachen und Zwecken.324 Auch unter dieser Rubrik seien „mehr Teutsche, als Ausländer“325 zu finden. Der Göttinger Historiker zählt zahlreiche Quellensammlungen auf und lobt die vorzüglichen „Specialgeschichten und kleinen Abhandlungen in allen Theilen der Historie des Vaterlandes“326. Zwar sei, kritisiert er, die „grose Geschichte von Teutschland“ durch „Mascau“, ebenso durch Pütter und Häberlin hervorragend behandelt worden, vor lauter Detailforschungen sei aber ein großes Defizit an gefälligen Darstellungen der allgemeinen Geschichte festzustellen.327 Die „Geburt eines bessern Teutschen Originals“ stehe noch aus.328 Die vierte Klasse, die Wissenschaftlichkeit und ästhetisch anspruchsvolle Darstellung vereint, sieht Gatterer bisher noch nicht voll entwickelt. Dass er dem Ideal einer ,evidenten Geschichte‘ und damit anschaulichem, lebendigem Erzählen auf Basis der Einbildungskraft des historischen Genies das Wort redet, zugleich aber die dadurch erreichte „Faßlichkeit“ wieder mit den akademischen Werten „Wahrheit“ und „Gewißheit“ diszipliniert, indem er Belege auf Schritt und Tritt einfordert, ist ausdrücklich dem nationalen akademischen Kontext geschuldet.329 Johann Gottfried Herder teilt die historische Zunft in ähnliche Klassen ein: 1. die Klasse von „bloßen, und oft pedantischen Erzählern“. 2. jene der „historischen Künstler[], die nichts so gern, als malen, historische Perioden, wie Alleen führen, und hinten drein uns so prächtige Charaktere, Porträte, und Schilderungen machen, die vielleicht bloß in ihrem Gehirn leben“ und 3. „Staatskluge endlich, die über die Geschichte ein ganzes Lehrgebäude für 324 Gatterer, Johann Christoph: Zufällige Gedanken über die Verdienste der Teutschen, in: Allgemeine historische Bibliographie 9 (1769), S. 33 – 64, hier S. 44. 325 Ebd., S. 45. 326 Ebd., S. 55. 327 Ebd., S. 56. 328 „Wir Teutsche, die wir in historischen Dingen so gerne im Allgemeinen arbeiten, wie haben wir die allgemeine Teutsche Staatsgeschichte, die allgemeine Teutsche Kirchenhistorie, die allgemeine Teutsche Gelehrtenhisotrie im Großen zu bearbeiten vergessen können?“ Ebd., S. 57. 329 Gatterer, Johann Christoph: Vorrede von der Evidenz in der Geschichtskunde, in: Die Allgemeine Welthistorie die in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten ausgefertiget worden […], hrsg. v. Friedrich Eberhard Boysen, Bd. 1, Halle 1767, S. 1 – 38, hier S. 22 – 38. Vgl. Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 38 f.

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eine ganze Nation in allen ihren Politischen Verfassungen haben schreiben können.“ In der ersten Klasse werden vielleicht die meisten Deutschen; in der zweiten Franzosen, und in der dritten Engländer und Schotten sein: und unter den letzten insonderheit ein Hume […], nicht als Geschichtsschreiber, sondern als einen Philosophen der Brittischen Geschichte […].330

Wie Gatterer rechnet Herder die wissenschaftliche Zuverlässigkeit den Deutschen und die schöne Schreibart den Franzosen zu, die allerdings Geschichte zum Roman verzerren würden. Anders als der Göttinger Professor gibt es bei ihm aber noch die Rubrik philosophisch-abstrakter Geschichtsschreibung, die, verglichen mit der deutschen Genauigkeit, gleichsam am anderen Ende der Skala zu finden ist. Gegen sie polemisiert Herder an vielen Stellen. Nicht die Verbindung von Philosophie und Geschichte ist für ihn problematisch, wohl aber die Verzerrung der historischen Fakten durch abstrakte Systeme und romanhafte Ungenauigkeit. Leget mir der Geschichtsschreiber nicht erst die Daten der Geschichte ausführlich, richtig, ordentlich vor, daß ich nachher selbst mit ihm den Charakter ausziehen darf […] so ist der Geschichtsschreiber ein Romanschreiber.331

Die Grundlage der Geschichte ist die wissenschaftliche Aufbereitung der Fakten, erst in einem zweiten Schritt folgen Interpretation und philosophische Abstraktion. Herder zeigt sich überzeugt: […] daß je planer eine Geschichte ist, je mehr sie auf augenscheinlichen factis oder datis beruhe, um so wahrscheinlicher; je mehr historische Kunst, je pragmatischer; um so lehrreicher vielleicht, aber auch um so mehr zu prüfen.332

Die viel besprochene Kontroverse mit August Ludwig Schlözer, dem Göttinger-Kollegen Gatteres, stellt sich von hieraus betrachtet in ganz anderem Licht dar. Keineswegs fordert Herder mit der berühmten Frage, „wo steht der Eine, große Endpfahl?“333, ein teleologisches Ziel für dessen Universalhistorie ein.334 Schlözer anzitierend meint er offenbar, den Leitfaden im „,Fortgang des menschlichen Geschlechts‘“ gefunden zu haben, 330 331 332 333 334

Herder: Älteres kritisches Wäldchen, in: FA, Bd. 2, S. 21. Herder: Hausens ,Geschichte des menschlichen Geschlechts‘, in: SL, Bd. 2, S. 425. Herder: Älteres kritisches Wäldchen, in: FA, Bd. 2, S. 22. Herder: Schlözers Vorstellung, in: SWS, Bd. 5, S. 438. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 194 – 200; Peters, Martin: Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735 – 1809), 2. korr. Aufl. Münster 2005, S. 191.

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und übersieht dabei dessen differenzierteren Ansatz von ,Veredlung und Verschlimmerung‘.335 Herders Hauptvorwurf ist, dass dem Professor Fakten und Daten fehlen, seinen Leitfaden zu belegen bzw. ihn zu präzisieren: „Wo ist Maaß? wo sind Data zum Maaße in so verschiedenen Zeiten und Völkern […]. Der Schwimmer schwimmt mit seinem Ideal über das Alles weg, aber der Täucher?“336 An Schlözers Titel, Vorstellung, hängt Herder deshalb, rhetorisch geschickt, in der Sache aber nicht treffend, die ganze Kritik auf. Während er das Ziel einer umfassenden Universalhistorie im Grunde begrüßt – von „Originalwerk!“ und großem „Verdienst!“337 ist die Rede – kritisiert er, dass Schlözers Vorstellung „bloße Deklamation“ sei. „Und nun, wie anders, wenn aus diesen Kapiteln Deklamation, Kapitel voll Fakta und Geschichte […] geworden wären = = wie anders! aber auch wie schwerer!“338 Wie sollen, fragt der Prediger, den Professor selbst zitierend, derartige „Schaumblasen“ „,der Grundriß zu einem akademischen Kollegio, und Grundriß zur strengsten Wissenschaft, der Historie‘ seyn“339. Er lobt die Göttinger Historikerzunft, dass sie die besten Lehrbücher „ihrer Art“340 besäße. Mit dem jüngsten Vorstoß nähme sie aber den Weg zum Schlechteren: „Ist Französische Deklamation nach diesem Schnitte eine nützliche Neuigkeit? gewinnen oder verlieren unsre Lehrstühle, wann sie statt Vorlesungen, Reden, und statt Lehrbücher zierliche Feuerwerke von Luftschwärmern bekommen?“341 Kurz: Herder nimmt die Perspektive der 335 Ebd., S. 438; Schlözer: Vorstellung seiner Universal=Historie, Bd. 1, S. 7. „Welche Zirkel von Veränderungen haben die Bewohner des Erdbodens durchlaufen müssen, ehe sie die ihnen eigene Stufe der Cultur erreichten! Warum schwangen sich einige früher und höher, warum andre später oder gar niemals empor, warum sanken noch andre durch raffinierte Laster sogar unter das Thier herunter? Woher der Fortgang des einen, der Stillstand des anderen, der Rückfall des dritten Volkes?“; zu Herders Missverständnis: Prüfer, Thomas: Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der Geschichtswissenschaft, Köln 2002, S. 192 f. Da Schlözer in der Tat eine Art idealtypische Modernisierungstheorie zu Grunde legen muss, um den Fortschritt zu messen, ist das Missverständnis Herders allerdings nicht allzu groß. 336 Herder: Schlözers Vorstellung, in: SWS, Bd. 5, S. 438. 337 Ebd. 338 Ebd., S. 437. 339 Ebd., S. 436. 340 Ebd., S. 437. 341 Ebd. Vgl. auch ebd., S. 436: „Wir Deutsche haben bisher den Vorzug gehabt, daß unsre Lehrbücher, bei aller Magerheit und Dürre, wenigstens Richtigkeit, Bestimmtheit gehabt haben, an der dem Lehrlinge auch gewiß am meisten gelegen ist.“ Ebd., S. 437: „Der Verf. hat Voltaires Namen so gern als Spottname auf der Zunge, und wer folgt in süßen Fehlern der Geschichte ihm mehr nach, als er?“

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strengen historischen Wissenschaft im Stile der ,Publicisten‘ ein und charakterisiert von dieser Warte aus den Universitätsprofessor als Maulhelden, der seine eigene Ankündigung niemals einlösen könne. Erst die spätere Forschung richtete den Fokus auf die unterschiedliche Auffassung von Geschichte, die in der Rezension zweifellos mitschwingt, aber keineswegs im Vordergrund steht.342 Ob sich in Herders Kritik der tabellarischen Auflistungen und dem Plädoyer für eine anschauliche Erzählung wirklich ein Paradigmenwechsel vollzieht, der über Gatterers Konzept des ,evidenten Geschichtsschreibers‘ hinausgeht, ist eine andere Frage.343 Fulda weist zu Recht auf Herders Erkenntnis der Sprachgebundenheit von Geschichte und ihres Konstruktcharakters hin – beides war den objektivistischen Göttingern in der Tat fremd –, er verlässt dabei aber den engeren Kontext der Rezension.344 Hier nämlich votiert Herder nicht aus epistemologischen Gründen für ein erzählerisches „Bild“ und ein „ganzes Continuum“, sondern weil er es als „Mnemonischer“, dem Zweck eines Lehrbuchs an der Universität angemessener, empfindet.345 In diesen pädagogisch-didaktischen Überlegungen der Rezension schlummert zweifellos ein ganzes Programm von Geschichtsschreibung, es sollte aber nicht den Blick für die von Herder gewählte rhetorische Strategie verstellen, Schlözer mit den Wertmaßstäben der eigenen Zunft und seinen Aufgaben als Professor zu schlagen. Die Forderung nach ,gereinigten‘ Daten und Fakten, die dem nationalen Maßstab in Deutschland entsprächen, verbunden mit dem Ziel einer lebendigen, anschaulichen Erzählung, konnte er so auch bei Gatterer nachlesen, den er hier geradezu gegen den Göttinger Kollegen ausspielt.346 342 Vgl. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 191 – 227; Leventhal, Robert S.: Progression and Particularity. Herder’s Critique of Schlözer’s Universal History in the Context of his Early Writings, in: Johann Gottfried Herder. Language, History and the Enlightenment, hrsg. v. Wulf Koepke, Columbia S. C. 1990, S. 25 – 46. 343 Vgl. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 163 – 174 (zu Gatterer und Schlözer), S. 208 ff. (zu Herder); Fulda sieht die beiden Professoren, schon um den Kontrast zu Herder stärker hervorzuheben, ganz in rhetorischer Tradition. Er spricht von einer ,Narrativitätsblockade‘ der Aufklärungshistorie und reduziert ihre Darstellungskonzepte auf Schlözers Tabellen. Vgl. dagegen mit Hinweis auf Gatterers Innovationsschub: Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 262 – 277. 344 Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 208 ff. 345 Herder: Schlözers Vorstellung, in: SWS, Bd. 5, S. 439. Die Rede vom „Bild“ ist für Fulda das Einfallstor des sprachkritischen Ansatzes Herders: Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 210 f. 346 Vgl. Gatterer: Vorrede von der Evidenz in der Geschichtskunde.

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Alle Kritik verdichtet sich im Kampf Herders gegen den Versuch Schlözers, die Geschichtswissenschaft auf ein höheres Abstraktionsniveau zu heben und durch ein System ihren Charakter als Wissenschaft zu profilieren.347 Herder spricht in seiner Rezension von „Linneische[r] Nachäffung“348 und brandmarkt Schlözers Vorgehen als unwissenschaftlich und französisch. Den geschätzten Montesquieu kritisiert er von demselben Standpunkt aus: Zwar rezipiert Herder begeistert dessen historisch-induktive Beschreibung der Gesetze, lehnt aber die politisch-soziologische Typenlehre ausdrücklich ab. Sie sei für die unendliche Menge an „Regierungsarten“, „Sachen“ und „Data“ in der Welt „unapplikabel“349 – in ,Reichspublicistik‘ und Reichshistorik, deren Gegenstand die nichtklassifizierbare Mischverfassung des Reichs ist, lässt sich eine ähnliche Rezeption des Philosophen beobachten.350 Verärgert stellt Schlözer in seiner Replik fest: „Er will einmal nicht, daß ein Historiker anders als im Annalen= und Compendienstyl schreibe. […]. Der Historiker schleppe Facta zusammen, ganze Capitel voll Facta, und Hr. Herder verarbeite sie zu schönen Geschichten.“351 Stark verschnupft geht er Absatz für Absatz der Rezension durch und verweist seinen Kritiker mit der Autorität des Berufshistorikers des Platzes.352 Herder jedenfalls, so ist festzuhalten, sah die ,publicistischen‘ Werke als deutsche Tradition an und schätzte ihren wissenschaftlichen Wert: „In der Juristerei und Historie – da sind wir als Sammler, einzig“353, heißt es bereits 347 Zu dem abstrakten System Schlözers: Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 63. Allgemein zu Schlözer und Gatterer: Hammerstein: Jus und Historie, S. 357 – 374. 348 Herder: Schlözers Vorstellung, in: SWS, Bd. 5, S. 440. 349 Herder: Gedanken über Montesquieu, in: FA, Bd. 9/2, S. 205. Vgl. auch Herder: Ideen. Ältere Niederschriften und ausgesonderte Kapitel, in: SWS, Bd. 13, S. 451: „Regierungsarten nach den Climaten und nach einem abstrakten Principium zu etabliren, aus dem alles folge; dies glaube ich, ist der Natur der Sache so wie der Geschichte widersprechend und kann nur durch [Declamation] Witz behauptet so wie durch [schiefe] unrechte Allegate [bewiesen] beschönigt werden. […]. Überhaupt sind die Namen der Regierungsformen, zumal in den künstlichern Staaten, die [wandelbarsten Dinge] betrüglichsten Schatten der Welt.“ 350 Die Arbeitsweise von Pütter, Schmauß, Köhler, Spittler und vielen anderen charakterisiert nach Hammerstein dieselbe Opposition gegen „das abstrakte, historisch unvermittelte, regelhafte, dürrkonstruktive Denken. Ihnen hingegen liegt bereits viel daran, auf ihrem je eigenen wissenschaftlichen Gebiet sich individualisierender und empirischen Betrachtungen anzunähern.“ Hammerstein: Der Anteil des 18. Jahrhunderts, S. 445; Vierhaus: Montesquieu in Deutschland. 351 Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 2, S. 384. 352 Ebd., S. 225 ff. 353 Herder: Journal, in: FA, Bd. 9/2, S. 108.

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im Journal meiner Reise. Und später an anderer Stelle: „Ich weiß wohl, was wir, zumal im juristisch-diplomatisch-historischen Fache, hier für mühsame Vorarbeiten haben; diese Vorarbeiten aber sind alle noch erst zu nutzen und zu beleben.“354 Mit ,juristisch-diplomatisch-historischem Fache‘ ist zweifellos das ius publicum romano-germanicum germeint, dessen Gallionsfigur Pütter er in den Fragmenten die neueste Literatur betreffend zustimmend zur Rolle der Göttinger Akademie in der deutschen Wissenschaftslandschaft zitiert.355 Dass ausgerechnet Herder wissenschaftliche Genauigkeit, Fakten und Daten einfordert, verwundert zunächst.356 Im Journal liest man: Und geschrieben muß es werden! ohne System, als bloß im Gange der Wahrheit! ohne übertriebenen Schmuck, als bloß Data, nach Datis! Viel Beweise, Proben, Wahrscheinlichkeiten!357

Doch was heißt es, wenn Herder „Philosophie über facta“358 schreiben will? Mit Panajotis Kondylis gesprochen, erhält Herder gerade durch sein me354 Herder: Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, in: FA, Bd. 2, S. 551. 355 „,[W]enn es dem Reiche der Wissenschaften zuträglich gewesen, einem mit willkürlichen Begriffen, Hypothesen und Schlüssen offenbar zu weit getriebenen und zuletzt nur in bloße Schalen einer kernlosen Methode verwickelten philosophischen Geschmacke sich entgegen zu setzten: so hat Göttingen Anteil an der Ehre eines gebesserten oder geretteten Geschmacks.‘“ Herder: Über die neuere deutsche Literatur, in: FA, Bd. 1, S. 431. 356 Im Hintergrund, darauf kann hier nur verwiesen werden, steht jener philosophische Dissens, der in den 1780er-Jahren geradezu in einen Methodenstreit zwischen Kant, Herder und Forster um die Frage mündete, wie unabhängig von Vernunftbegriffen die (Natur)Geschichte betrachtet werden kann. Vgl. Riedel, Manfred: Historizismus und Kritizismus: Kants Streit mit G. Forster und J. G. Herder, in: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen hrsg. v. Bernhard Fabian/Wilhelm Schmidt-Biggemann/Rudolf Vierhaus, München 1980, S. 31 – 48; Stiening, Gideon/Godel, Rainer (Hrsg.): Klopffechtereien – Missverständnisse – Widersprüche? Methodische und methodologische Perspektiven auf die Kant-Forster-Kontroverse, München 2012. 357 Herder: Journal, in: FA, Bd. 9/2, S. 108. 358 Vgl. Adler, Hans: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990, insbesondere S. 150 – 172, hier S. 164. Dort auch das gegen eine Geschichtsmetaphysik à la „Kant u. Consorten“ gerichtete Herder-Zitat: „Wer glaubt, daß es keine Philosophie über facta gebe: der scheide sich von mir, für ihn ist das Buch nicht geschrieben. In Geschichte muß von Geschichte die Rede seyn – hier mußte ich also die Metaphysik von mir ablehnen […].“ Herder an Christoph Martin Wieland, Ende Januar 1785, Nr. 93, in: HB, Bd. 5, S. 103.

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taphysisches Denken – die Welt als ,Schauplatz Gottes‘ – die nötige Rückendeckung, Ereignisse in ihrer historischen ,Individualität‘ zu erkennen:359 Dank seiner ,ästhetischen Gnoseologie‘ werden Urkunden zur UrKunde im Sinne einer Offenbarung.360 „Es muß also wirklich Geschichte an die Stelle des Raisonnements treten und diese Geschichte beurkundet und commentirt die Offenbarung.“361 Die Vielfalt und Einzigartigkeit des Historischen ist bei Herder – durchaus in neuplatonischer Tradition – der Beleg einer göttlichen Einheit in der Vielheit, die sich historisch manifestiert. Der Abstand zur trockenen Reichsgeschichte und ,Reichspublicistik‘ ist daher trotz gegensätzlicher Signale denkbar groß. Umso mehr erstaunt es, wie umfassend sich Herder mit ihr auseinandergesetzt hat. In Herders Privatbibliothek finden sich bedeutende Titel und Autoren des deutschen Reichsstaatsrechtes – wenn auch, wie Horst Dreitzel bemerkt, in deutlich geringerem Umfang als französische und englische Staatsphilosophen.362 Zu nennen sind vor allem: Pufendorf, Lapide, Thomasius, Mascov, Vater und Sohn Strube, Vater und Sohn Moser sowie Pütter.363 Von besonderer Bedeutung ist, dass die ,juristischen Germanisten‘ mit Johann Gottlieb Heineccius und Reichsfreiherr von Senckenberg prominent vertreten sind. Daneben besaß Herder übrigens mehrere Gesetzes-

359 Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Hamburg 2002, S. 634 f. 360 Adler: Die Prägnanz des Dunklen; Otto, Regine: Sind Urkunden Urkunden? Ambivalenzen und Konstanten in Herders Sicht auf historische Überlieferungen, in: Literatur und Geschichte. Festschrift für Wulf Koepke zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Karl Menges, Amsterdam/Atlanta 1998, S. 65 – 82, hier S. 70; Lau, Viktor: Erzählen und Verstehen. Historische Perspektiven der Hermeneutik, Konstanz 1997, S. 140 ff.; Irmscher, Hans Dietrich: Grundzüge der Hermeneutik Herders, in: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder, hrsg. v. Johann Gottfried Maltusch, Bückeburg 1973, S. 17 – 57. 361 Herder: Briefe, das Studium der Theologie betreffend, in: SWS, Bd. 10, S. 346 f. (32. Brief ). 362 Dreitzel, Horst: Herders politische Konzepte, in: Johann Gottfried Herder 1744 – 1803, hrsg. v. Gerhard Sauder, Hamburg 1987, S. 267 – 298, hier S. 298. Er sei der „für uns heute unergiebigste“ Teil, meint Stolpe: Stolpe, Heinz: Die Handbibliothek Johann Gottfried Herders – Instrumentarium eines Aufklärers, in: Weimarer Beiträge 12 (1966), S. 1011 – 1039, hier S. 1022. 363 Vgl. die Angaben der Bibliotheca Herderiana aus dem Jahr 1804 (ND. Köln 1980): S. Pufendorf (Nr. 3883, 4703); H. Lapide (Nr. 3884, 4705); J. J. Moser (Nr. 3903, 3904, 3905, 4983, 4983); F. C. Moser (Nr. 3449, 3450, 3451, 3751, 3756, 4948); J. S. Pütter (Nr. 3885, 3886, 4288, 4836).

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sammlungen,364 die zum Teil zwar seinen berufspraktischen Bedürfnissen geschuldet waren, im Falle des Sachsenspiegels, mittelalterlicher Stadtrechte und anderer Beispiele aber vor allem seinem historisch-kulturellen Interesse entsprachen. Über die dokumentierten Ausleihen an der Weimarer Bibliothek365 und die in seinem Nachlass verzeichneten Exzerpte366 ist neben dem passiven Besitz auch der aktive Gebrauch reichsrechtlicher Bücher persistent nachzuweisen. 2.3.2 ,Idiotistische‘ Geschichtsschreibung Das ,reichspublicistische‘ Schriftgut war oft von einer reichspatriotischen und einer stark nationalen Diktion geprägt. „Teutscher Biedersinn, teutsche Freiheit, historischer Wahrheitsfanatismus, gelehrte Zuverlässigkeit standen als unvereinbare, lang tradierte Werte gegen französischen Witz, despotischen Absolutismus, uniforme Vernunft, elegante Kunstfertigkeit, höfische Brillanz.“367 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts finden sich neben Klagen über die Rückständigkeit der deutschen Geschichtsschreibung Lobeshymnen auf die deutsche Wahrheitsliebe und Redlichkeit, wie sie die quellengesättigten Reichshistoriker bis zur Übertreibung repräsentierten.368 Parteilosigkeit, Objektivität und vor allem Wahrheit 364 Ebd., Nr. 4781: „Das Gantze Sechsische=Landrecht mit Text und Gloß“; Nr. 4782: „Sachsenspiegel“; Nr. 4783: „Preußisches Land=Recht“; Nr. 4847: „Reichs=Städtisches Handbuch“; Nr. 4844: „Das heil. R. R. Staats= und Lehn=Rechts alphabetisch mit Buders Vorrede“; Nr. 5009 und 5011: „Strykii Examen Juris Feudalis“. 365 Schneider, Bärbel: Herders Entleihungen aus der Weimarer Bibliothek. Eine Bibliographie, Wien 1999. Die Einträge umfassen eine große Anzahl juristischer und reichshistorischer Werke von Olenschlager bis Pütter, Abhandlungen über Lehensrecht, Rechtsaltertümer, aber auch die Publizistik Friedrich Carl Mosers. 366 Im Nachlass finden sich Exzerpte aus Werken von Nicolaus Hieronymus Gundling, Johann Jacob Moser, Johann Georg Estor u. a. Vgl. Katalog. Im Auftr. u. mit Unterstützung d. Akad. d. Wiss. in Göttingen bearb. von Hans Dietrich Irmscher, Wiesbaden/Harrassowitz 1979, z. B. S. 104 und 241. 367 Hammerstein, Notker: Voltaire und die Reichspublicistik, in: Voltaire und Deutschland, Quellen und Untersuchungen zur Rezeption der französischen Aufklärung, hrsg. v. Peter Brockmeier/Roland Desné/Jürgen Voss, Stuttgart 1979, S. 327 – 342, hier S. 338. 368 Vorbild sind für Gatterer Strube, Hahn, Mascov und Bünau. Nicht nur eine „Geschichte der Kayser“ und „der teutschen Stände“ ist das Ziel, sondern eine Geschichte des ganzen „teutschen Staatskörper[s]“, die die Sitten und den Charakter der Nation behandelt. Vgl. Gatterer, Johann Christoph: J. C. Gatterers zufällige Gedanken über die teutsche Geschichte, in: Allgemeine historische Bi-

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verwandelten sich von wissenschaftlichen Prinzipien in germanische Tugendideale, abhängig vom deutschen Klima und ausgewiesen als Ausdruck des deutschen Nationalcharakters.369 Dass es sich dabei natürlich um seit Lukian und Cicero weit verbreitete Topoi der abendländischen Historiographie handelt,370 störte bei dieser ,Germanisierung‘ historischer Verlässlichkeit wenig. Die Nachahmung der ausländischen Geschichtsschreiber galt es unbedingt zu vermeiden, um nicht den deutschen Vorzug zu verlieren. Mit den Worten Gatterers: „Affektierte Humechen oder Robertsonchen, teutsche Voltärchen. Diese Insekten wollen wir ohne Schonung aller Orten, wo wir sie antreffen, verfolgen […].“371 Im Kontext der Kontroverse mit Christian Adolph Klotz instrumentalisierte Herder die Tradition der Reichshistorie für sein Konzept einer idiotistischen Geschichtsschreibung. Klotz war Herausgeber mehrerer Zeitschriften und Professor für Philosophie und Beredsamkeit in Göttingen und Halle, ist aber schon seit dem 19. Jahrhundert nurmehr „durch die von überlegenen Gegnern, wie Lessing und Herder, gegen ihn geführte vernichtende Polemik bekannt“372. Auslöser und Verlauf der Affäre wurden oft nachgezeichnet und müssen hier nicht referiert werden.373 Nur zu erwähnen ist, dass sich der streitbare Ordinarius ebenso mit dem von Herder geschätzten Altphilologen Christian Gottlob Heyne überworfen hatte. Während Heyne eine streng historisch-kritische Philologie vertrat, repräsentierte Klotz die ,zierliche Gelehrsamkeit‘ in französisch-lateinischem Stil. Außer wissenschaftlicher Ungenauigkeit und mangelnder eigener Forschung warfen ihm die Zeitgenossen vor, sein eigenes Zeitalter un-

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bliothek 2 (1767), S. 23 – 34, hier S. 30 ff. Dazu: Hammerstein: Jus und Historie, S. 372 – 374. Vgl. z. B. Fuchs, Johann Christoph: Zeugenverhör über Voltairs moralischen Charakter und gelehrte Verdienste. Fortsetzung, in: Allerneuste Mannigfaltigkeiten. Eine gemeinnützige Wochenschrift 3 (1784), S. 599 – 614, hier S. 603; Gatterer: Vorrede, in: Allgemeine historische Bibliothek 1 (1767), o. S. Siehe: Koselleck, Reinhart: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 176 – 207, hier S. 178 – 183. Gatterer, Johann Christoph: Vorrede, in: Historisches Journal von Mitgliedern des Königlichen Historischen Instituts zu Göttingen, Bd. 1, Göttingen 1772, o. S. Bursian, Conrad: Klotz, Christian Adolph, in: ADB, Bd. 16, S. 228 – 231, hier S. 228. Vgl. Zaremba: Herder, S. 66 – 68 und 72 – 75; Stolpe, Heinz: Die Auffassung des jungen Herder vom Mittelalter: ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung, Weimar 1955, S. 185 – 210.

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historisch zum normativen Maßstab zu erheben.374 In seinen Epistolae Homericae (1764) hatte er in der Tat die alte Mythologie vom Standpunkt des aufgeklärten Wissenschaftlers als Aberglaube, Irrtum und Willkür abgewertet. Herder verwahrte sich dagegen bereits in seinem Aufsatz Vom Neuern Gebrauch der Mythologie (1767), indem er die Zeitgebundenheit mythologischer Namen und Geschichten herausstellte, ohne daraus ein Qualitätsurteil abzuleiten. Wissenschaftliche Methodenkritik und ästhetischer Standpunkt laufen dabei eng zusammen: An die Stelle der Nachahmung antiker Formen setzt Herder die Nachbildung. Ziel ist nicht die Wiederholung des Alten (oder Französischen), sondern die Nachahmung ihrer Fähigkeit, Dichter der eigenen Zeit zu sein. Um eine charakteristische Literatursprache für das eigene Jahrhundert und die eigene Nation zu finden, empfiehlt Herder gegen Klotz eine „poetische Heuristik“ zur Bildung „poetische[r] Genies“: Da man nicht leicht „gleichsam eine ganz neue Mythologie“ schaffen könne, müsse man „aus der Bilderwelt der Alten gleichsam eine neue uns zu finden wissen, das ist leichter; das erhebt über Nachahmer, und zeichnet den Dichter“375. „Man zeige uns das wahre Ideal der Griechen in jeder ihrer Dichtarten zur Nachbildung, und ihre individuellen, National- und Lokalschönheiten, um uns“, schreibt Herder in den Fragmenten, „von solchen Nachahmungen zu entwöhnen, und uns zur Nachahmung unsrer selbst aufzumuntern.“376 Shakespeare musste daher die Mittel verändern, um denselben Zweck wie die antiken Tragödien hervorrufen zu können. Wie Gesetze sich evolutiv an neue Zeitumstände anpassen müssen, um ihre Intention erfüllen zu können – diese Sicht verbindet Herder mit Montesquieu und der ,Reichspublicistik‘ –, müssen sich auch die Kunstformen verändern: „Eben da ist also Shakespear Sophokles Bruder, wo er ihm dem Anschein nach so unähnlich ist, um im Innern, ganz wie Er, zu sein.“377 374 Vgl. Bursian: Klotz, S. 228 – 231. 375 Herder: Vom Neuern Gebrauch der Mythologie, in: FA, Bd. 1, S. 450; vgl. Gockel, Heinz: Mythos und Poesie. Zum Mythenbegriff in Aufklärung und Frühromantik, Frankfurt a.M. 1981, S. 84 – 87. 376 Herder: Über die neuere deutsche Literatur, in: FA, Bd. 1, S. 311; ähnlich ebd., S. 323. Vgl. Grimm, Gunter E.: „Der Kranz des Patrioten“. Nachahmungspraxis und Originalitätsideal bei Herder, in: Lenz-Jahrbuch 4 (1994), S. 101 – 112; Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 120 – 149. 377 Herder: Shakespeare, in: FA, Bd. 2, S. 515. „Sophokles blieb der Natur treu, da er Eine Handlung Eines Orts und Einer Zeit bearbeitete: Shakespear konnt ihr allein treu bleiben, wenn er seine Weltbegebenheit und Menschenschicksal durch alle die Örter und Zeiten wälzt, wo sie – nun, wo sie geschehen […].“

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Dieser wissenschaftliche und ästhetische Kontext prägt Herders Blick auf die Reichshistorik im Verlauf der Kontroverse. Im Dritten kritischen Wäldchen schreibt Herder eine umfangreiche Abhandlung Über Herrn Klotzens Buch vom Münzengeschmacke. Klotz habe in seinem Buch zu einseitig das Idealbild der griechischen gegenüber den altdeutschen Münzen gelobt und dabei zugleich ungerecht den Geschmack der deutschen Nation abqualifiziert. Er richte sein Auge nur auf das „Schöne“ und würdige so das „bloß Seltene“ nicht.378 Klotz’ Versuch, den Geschmack der Nation aus seiner Münzgeschichte zu deduzieren, zeuge davon, dass er „ohne Einsicht in die deutsche Verfassung“ sei. 379 Herder selbst bezeichnet sich hingegen als „Schüler der Reichsgeschichte“380 und führt die entsprechenden Göttinger Autoritäten der Numismatik auf: Johann David Köhler und Johann Christoph Gatterer. „Der Rechtsgelehrte, der Diplomatikus, der Geschichtsschreiber, der Altertumskenner Deutschlands und so viele fleißige Beispiele reden“381 – nicht aber, so lässt sich ergänzen, das auf einer normativ-deduzierenden Basis geschriebene Werk Klotzens. Zum Verständnis der deutschen Münzen und ihrer Bedeutung für die Gegenwart ist eben die historische Kenntnis die entscheidende Voraussetzung, denn: „das Herkommen hat sie geschlagen“382. Herder nimmt die politischen Zustände des Mittelalters nicht in Schutz – er spricht explizit von dem „bleierne[n] Druck des Zeitgeistes“ und dem „Joch des Jahrhunderts“. Die „neuere Münzgeschichte“ repräsentiere nicht das „Publikum, Land, Volk und Zeit“ wie die alte, sondern eines „durchlauchtige[n] Herr[n]“ Geschmack.383 Er stellt Klotz aber die reichshistorisch geschulten Arbeiten gegenüber, um ihn als Dilettanten zu enttarnen.

378 Herder: Über Herrn Klotzens Buch vom Münzengeschmacke, in: SL, Bd. 2, S. 358. Das Ideal einer gerechten, unparteiischen Beurteilung S. 391: Man solle „die Griechen nicht auf unrechte Art loben“ und „die Neuern nicht ohne Ursache tadeln“. Herders Rezension bezieht sich auf folgendes Werk: Klotz, Christian Adolph: Beytrag zur Geschichte des Geschmacks und der Kunst aus Münzen, Altenburg 1767. 379 Herder: Über Herrn Klotzens Buch vom Münzengeschmacke, in: SL, Bd. 2, S. 410. 380 Ebd., S. 380. 381 Ebd., S. 358. 382 Ebd., S. 373 f. 383 Ebd., S. 396 f.

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Noch deutlicher wird das in seinen Rezensionen zweier Bücher von Carl Renatus Hausen, einem Freund des befehdeten Klotz’. Ironisch schreibt er: Was alle gelehrte Männer bisher gewünscht, was die Mascovs und Bünaus und Struve und Köhlers und Häberline und Pütters nicht haben leisten können: sehet! das hat endlich erfüllet Clarus Hausenius.384

Hausen wird mit seiner Geschichte des menschlichen Geschlechts gegenüber diesen wichtigen Reichshistorikern und Reichsjuristen als „Romanschreiber“ verunglimpft. Er sei nur ein „williger Nachahmer der Franzosen“, mit ,voltairischem‘ Auge verzerre er die Reichsgeschichte, wie es einem Häberlin nie einfallen würde.385 Ihm gelinge vielleicht ein „philosophischhistorische[r] Roman“386, aber kein Geschichtswerk. Gleichsam programmatisch ausgeweitet wird diese Kritik in Herders anschließendem Aufsatz Über die Reichsgeschichte: Ein Historischer Spaziergang. Anlass des Aufsatzes sind Klotz’ Angriffe auf die deutsche Geschichtswissenschaft. Offensichtlich scheint ihm, daß Herr Klotz ohne innere Kenntnis der Sache urteile, wenn er die Mascove und Bünaus und Pütters so tadelt, wie er tadelt, und ohne Kenntnis der Sache urteilt, wenn er die Hausens auf Kosten dieser Männer lobet. Eine deutsche Geschichte soll freilich noch geschrieben werden: aber wahrhaftig nicht nach Klotzschem Ideal, da dieser Vielwisser aus eigenen Proben nichts weniger zu wissen scheint als deutsche Geschichte – –387

Herder übernimmt hier genauso wenig wie in der Rezension des Münzbuchs die bedingungslose Verteidigung der reichshistorischen Zunft. Sein Konzept einer deutschen Geschichte weist weit über die universitäre Forschung hinaus, stellt sich aber an dieser Stelle bewusst in ihre Tradition. Der Zusammenhang mit der literarischen Debatte ist offenkundig: Wie er dort jede simple imitatio veterum ablehnt und eine Nachahmung im höheren Sinne empfiehlt, so auch hier. Um „die Thukydides, Xenophons, Livius, Tacitus und Humes unseres Deutschlandes“ hervorbringen zu können, reicht es nicht, ihre Schreibart nachzuahmen.388 Man darf nicht, „wie unsre gräzisierenden und französierenden Schönsprecher wollen“ – gemeint sind natürlich Klotz und Hausen –, „die deutsche Geschichte […] 384 Herder: Hausens ,Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts‘, in: SL, Bd. 2, S. 420 f. 385 Herder: Hausens ,Geschichte des menschlichen Geschlechts‘, in: SL, Bd. 2, S. 425. 386 Ebd., S. 428. 387 Herder: Über die Reichsgeschichte, in: SL, Bd. 2, S. 440. 388 Ebd., S. 432.

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schlechtweg à la grecque oder à la francoise“ behandeln.389 Eine schlichte Popularisierung der Reichshistorie auf unwissenschaftlichem Grund durch eine rein literarische Praxis ist für Herder nicht der geeignete Weg. Die Geschichte Großbritanniens von David Hume sei Geschichte, „wie Hume meint, daß sie sich hätte zutragen können“, aber keine Geschichtswissenschaft.390 Nein, wer eine wirklich deutsche Geschichte schreiben will, muss an die deutsche Tradition anknüpfen und diese über sich hinausführen. Die Charaktermerkmale der Wahrheitsliebe und Nüchternheit dürfen dabei nicht zugunsten ausländischer Belletristik verlassen werden.391 Herder hält es „für Fehler und Verderbnis aller Geschichte“, wenn nur auf die „historische Kunst, epische Anordnung, pragmatische Bemerkungen, philosophische Einlenkungen“ gedrungen werde, und der „nackte[] wahre[] Körper der Geschichte“ nicht mehr kenntlich sei.392 Aufgabe eines Historikers sei es, man denke an die Schlözer-Kontroverse, […] genau dem Leser die Grenze zu bezeichnen, wo Geschichte aufhört und Vermutung anfängt, ja genau den Grad der Gewissheit bei jedem Tritte. Gehört dies nun der ganzen Geschichtskunde als Eigentum zu: viel mehr unsrer strengen trocknen deutschen.393

Eine Geschichte Deutschlands, auch hier stimmt Herder mit Autoren wie Köhler überein, geht keineswegs in einer Geschichte des Heiligen Römischen Reichs auf. Herders eigenes Interesse richtet sich auf die Kultur- und Menschheitsgeschichte, die „Physiologie des ganzen Nationalkörpers“394. Die Geschichte des Reichs gehört aber selbstverständlich zur Geschichte der deutschen Nation, die bei Herder entgegen geltender Forschungsmeinung mit dem Reich einen klaren geographischen und politischen Referenten erhält: Hauptgesichtspunkt ist also nicht bloß der Reichs-, sondern der deutschen Geschichte überhaupt, daß man diese ällmähliche Schöpfung zum heutigen Staatskörper bei jeder Progression der Umbildung merke, genau aus Urkunden anmerke, auszeichne. […]. Deutschland im Verfolg seiner Jahrhunderte ist weder Athen noch Rom, weder eine Monarchie noch eine Republik, die der ganzen Welt […] Ton gäbe, weder ein Schauplatz griechischer Kultur und Freiheit noch des römischen Erobe389 390 391 392 393 394

Ebd. Ebd., S. 438. Ebd., S. 435 f. Ebd., S. 438. Ebd. Herder: Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, in: FA, Bd. 2, S. 551.

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rungsgeistes. Es ist in sich eingezogen ein werdendes Heiliges Römisches Reich, das noch heute in seiner Einrichtung das sonderbarste von Europa ist.395

Der Weg zu einer „idiotistische[n] Nationalgeschichte“396 kann nur über die „trockne Pünktlichkeit“397 und „reichsurkundliche Trockenheit“398 beschritten werden. Die Geschichte von Deutschland muß so ein Original sein als Deutschlands Verfassung. Und ist diese werdende Verfassung Hauptgesichtspunkt, wo kommen wir hin, wenn wir Urkunden und Diplome usw. verachten und schön französisch dichten? 399

Herder würzt die knappe Beschreibung der mittelalterlichen Reichsgeschichte mit zynischen Kommentaren über die Rechtsstreitigkeiten und Zeremonien des Reichs. Von „ekelhaft[en] Rang-, Kirchen- und Rechtsstreitigkeiten“ ist die Rede.400 Dennoch müsse der „Historiograph […] hier schon Schild- und Wappenträger des Heiligen Römischen Reichs werden“, wenn er eine deutsche Geschichte dieser Epochen zu schreiben beabsichtige, „er wolle oder nicht“401. Im Spätmittelalter und im Zeitalter von Reformation und Reichsreform werde endlich „das Gerechtsame, das Reichskräftige […] immer augenscheinlicher Deutschlands Geist, und so auch Geist deutscher Geschichte“402. Die „neue Geburt des menschlichen Geistes“403 zu Beginn der Neuzeit erhält eine staatliche Parallele im Wandel der Reichsgeschichte. Deutsche Nation, deutsche Geschichte und Reichsgeschichte sind, darin besteht kein Zweifel, in Herders Auffassung genauso wie bei den Reichshistorikern, die er zitiert, eine unauflösliche Einheit – eine Einheit aber, die fundamental anders gedacht wird. Er spricht vom ,werdenden heiligen römischen Reich‘ und kann sich dabei durchaus auf die Reichshistoriker stützen, untersuchten diese doch „die Veränderung unseres Teutschen Staats“404, um einzusehen, was heute noch Recht sei und auf welche Art und Weise. Sie bewiesen aber zugleich, dass 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404

Herder: Über die Reichsgeschichte, in: SL, Bd. 2, S. 435 f. Ebd., S. 437. Ebd., S. 438. Ebd., S. 440. Ebd., S. 437. Ebd., S. 439. Ebd. Ebd., S. 440. Ebd. Gundling, Nicolaus Hieronymus: Abriß zu einer rechten Reichs=Historie/Welche er in einem Collegio Priuato seinen Zuhörern deutlicher erklären wird, Magdeburg 1707, Vorrede, o. S.

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sich das Reich bei allen Wandlungen und Anpassungen dem Wesen nach nicht verändert habe, dass das gemeine Wesen unseres Vaterlandes fast in allen und jeden Stücken und Kleinigkeiten noch eben den Stand hält, den es fast vor eintausend Jahren von 912 an gehabt hat. Dergestalt, daß wenn wir von demselben dann und wann abgewichen, solches mehr aus einem Irrthum und Unwissenheit voriger Zeiten, als einem Vorsatz, etwas zu ändern, geschehen ist.405

Aus der Anciennität erwuchs für sie die Würde des Reichs, nicht aus seiner Veränderung. Insofern war das System der Reichsgeschichte ein ahistorisches System, das die Präsenz des Ewigen, seinem Kern nach Unveränderlichen belegt. Herders ,werdendes heiliges Römische Reich‘ betont hingegen die Entwicklung, die Entelechie der nationalen Geschichte. Das ,Werden‘ zielt über das Bestehende hinaus. Dieses Zusammenspiel aus Differenz und Analogie erschwert das Verständnis des kurzen Texts erheblich und führte schon bei Zeitgenossen zu Verwirrung. Der spätere Erfurter Geschichtsprofessor und Schüler von Klotz, Johann Georg Meusel, veröffentlichte in seinen Betrachtungen über die neusten historischen Schriften 406 eine schneidende Replik auf Herders Attacke gegen den Klotz-Clan. Der Rezensent spricht von einer „räthselhafte[n], mystische[n], gekräuselte[n] und gezwungene[n] Schreibart“407, einem „nonsensicalischen Tone“408 und nennt Herder eine „mit fremden Federn geschmückte Krähe“409. Seitenlange Zitate prominenter Reichshistoriker dienen dem Beleg, dass alle wichtigen Thesen in der Fachliteratur bereits von berufenerem Munde ausgesprochen worden seien.410 Die 405 Ludewig, Johann Peter von: Vollständige Erläuterung der Güldenen Bulle: In welcher viele Dinge aus dem alten Teutschen Staat entdecket […] werden, Bd. 2, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1752, S. 1468. 406 Vgl. Steinmeyer, Elias von: Meusel, Johann Georg, in: ADB, Bd. 21, S. 541 – 544. 407 Anonymus: Kritische Wälder: Oder einige Betrachtungen die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maasgabe neuerer Schriften. 3tes Wäldchen, Riga 1769, in: Betrachtungen über die neuesten historischen Schriften, Zweiter Teil, dritter Abschnitt, hrsg. v. Johann Georg Meusel, Altenburg 1771, S. 385 – 401, hier S. 387. Wer die Rezension geschrieben hat, ist nicht bekannt, womöglich Meusel selbst. 408 Anonymus: Kritische Wälder, S. 390. 409 Ebd., S. 400. 410 Für das Problem der spärlichen Urkunden und fehlenden Dichtungen der deutschen Frühzeit verweist er auf Bünau, der zum selben Ergebnis käme wie Herder (ebd., S. 392 f.). Die Schwierigkeiten, ein historisches Portrait korrekt zu fassen, habe Mascov bereits thematisiert, und der urkundliche Charakter der mittelalterlichen Geschichte wäre bei Häberlin zu finden (ebd., S. 395). Mit Verweis auf

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Parallele zu Schlözers Antwort ist nicht von der Hand zu weisen: Wieder wird ihm vorgeworfen, was er selbst einklagte, und wieder ist das Einfallstor der Kritik sein ,dunkler‘ Stil. Er selbst wird nun mit den eigenen Worten zu einem jener „süssen Herren“ erklärt, der die Reichshistoriker verachte, die deutsche Qualität der historischen Wahrhaftigkeit nicht begreife und ausländischen Vorbildern nacheifere.411 Vielmehr solle man, empfiehlt der Rezensent, auf die „Schultern unserer Bünaus, Mascous, und Häberlins“412 steigen. Dass Herder genau dasselbe einforderte, fällt dem Rezensenten durchaus auf. Einem tieferen Verständnis des Texts verwehrt er sich aber in polemischer Absicht und kürzt rhetorisch ab: „Welcher Widerspruch! Der Verfasser ist mit sich selbst uneins. […] Hab ich allenfalls die Orakel des Verfassers nicht recht verstanden, so ist er selbst Schuld daran.“413 Das Missverständnis ist leicht zu erklären: Weder ideengeschichtlich noch aus der historiographischen Praxis lassen sich enge Beziehungen zwischen Herder und den Reichshistorikern herstellen. Herder fahndet lediglich nach originären Anschlussmöglichkeiten in der deutschen Historiographie seiner Gegenwart, um die kulturelle Nationalidentität zu stärken. Das Reich und seine Geschichte blendet er dabei keineswegs aus. Die Reichshistorie als Disziplin erhält dabei jedoch mehr eine strategisch begründete Rolle im Kampf gegen die kulturpolitischen Gegner als eine fachliche Wertschätzung. 2.3.3 Die Göttinger Preisschrift von 1774 Dass Herders Rezeption ,reichspublicistischer‘ Arbeiten auch eine politische Dimension besitzt, lässt sich mit Blick auf die in der Herder-Forschung meist übergangene Göttinger Preisschrift Wie die deutschen Bischöfe Gatterer beweist der Rezensent, dass Herders Vorstoß, die deutsche Geschichte müsse endlich mehr als Fürsten- und Kaiserhistorie sein, in der wissenschaftlichen Reichshistorie längst ein Allgemeinplatz sei (ebd., S. 396). Noch viel mehr als über Herders Epigonalität erregt sich der Rezensent aber über die Verleumdung des ,deutschen Geists‘ innerhalb der Reichsgeschichte. Die Rechtsstreitigkeiten seien ein gemeineuropäisches Phänomen und die deutsche Geschichte mehr als Kämpfe um Rang und Würde! (ebd., S. 397). 411 „Die süssen Herren (S. 162), die unsre Mascou’s, Bünau’s und Hahne veraltete Bibliothekenwächter nennen, kenne ich nicht; unser Verfasser müßte denn selbst ein solcher süsser Herr seyn; denn würklich er gebährdet sich so, als wenn diese Männer gar keine Verdienste um die teutsche Geschichte hätten, als hätten sie seine altklugen Vorschläge nicht gewußt.“ Ebd., S. 395. 412 Ebd., S. 388. 413 Ebd., S. 397 f.

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Landstände wurden (1774) zeigen.414 Während die berühmte Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit aus demselben Jahr Herders Geschichtsphilosophie grundlegt, verdichtet sich in der Preisschrift mit ihrem gelehrten Apparat sein Reichs- und Deutschlandbild. Sie ist das ,publicistische‘, wissenschaftliche Gegengewicht zur geschichtsphilosophischen Programmatik. Biographisch, das sei nur angerissen, spielt die Preisschrift eine gewisse Rolle, um sich vor der Göttinger Fakultät, entgegen seinem Ruf, als harter Wissenschaftler auszuweisen und damit die durch den Streit mit Schlözer und Michaelis aufgeschäumten Wogen zu glätten. Unzufrieden mit seiner Tätigkeit als Hofprediger und Konsistorialrat im Dienste des Grafen von Schaumburg-Lippe betrieb Herder seit 1773 das Projekt, in Göttingen eine theologische Professur zu erhalten. Eine wichtige Frage in diesem letztlich gescheiterten Verfahren war, ob Herder über die notwendige wissenschaftliche Professionalität verfüge.415 Reichspolitisch ist die Schrift von Interesse, da sie Teil der drei von Wolfgang Burgdorf beschriebenen ,reichspublicistischen‘ Preisausschreiben am Ende des Alten Reichs war. Im Göttinger Fall fragten die Juroren nach dem Ursprung der Reichsstandschaft geistlicher Fürsten. Den ersten Platz errang Justus Friedrich Runde, der – darin zeigt sich die politische Relevanz – für den Erhalt der Reichsverfassung und der geistlichen Territorien plädierte.416 Rudolf Haym, dem der politische Kontext verborgen blieb, vermutet, dass Herder mit einem ,Akzessit‘ den zweiten Platz errungen habe.417 Zur gleichen Zeit verfasste der Konsistorialrat in lateinischer Sprache eine weitere Abhandlung, die er bei der französischen Akademie in Paris einreichte. Sie sollte die Frage beantworten, warum sich die Karolinger kürzer als die schwächeren Merowinger auf dem Thron halten konnten.418 An wissenschaftlicher Tiefe 414 Der Titel stammt wahrscheinlich von Johannes Müller. Herder titelte offenbar „Christliche Bischöfe“. Suphan: Kommentar, in: SWS, Bd. 5, S. XXVIII ff. In der Forschung ausführlich nur: Haym, Rudolf: Herder, Berlin 1954, Bd. 1, S. 696 – 698; Stolpe: Die Auffassung des jungen Herder vom Mittelalter, S. 442 – 454 und 469 – 477. 415 Bodemann, Eduard: Herders Berufung nach Göttingen. Mit bisher ungedruckten Actenstücken und Briefen von Herder, in: Archiv für Literaturgeschichte 7 (1879), S. 59 – 100. 416 Vgl. Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 452 f. 417 Haym: Herder, Bd. 1, S. 698. 418 Herder: Caroli M. progenies, principes ceterum belli gloriaeque cupidi, quare solio Regio citius deiecti, quam, quae Clodovaeum sequebatur, ignaua imbellisque familia?, in: SWS, Bd. 5, S. 699 – 714; vgl. Haym: Herder, Bd. 1, S. 696 f.

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und politischem Gehalt kommt der deutschen Preisschrift größeres Gewicht zu. Herders Schilderung der mittelalterlichen Reichsgeschichte beruht auf gedruckten Quellen, vor allem aber auf den historischen Werken Nicolaus Hieronymus Gundlings, David Georg Strubes, Justus Mösers und Johann Jacob Mascovs. Montesquieu und de Mably lehnt er in einer Fußnote als Referenzen ab, sie hätten „von der Fränkisch=Deutschen Verfassung nicht in Allem richtige Begriffe“419. Zugleich geht die Preisschrift über eine historisch-wissenschaftliche Beschreibung weit hinaus: Eine Vorbemerkung verweist auf die Naturgeschichte und markiert damit die Differenz zu gewöhnlichen ,publicistischen‘ Arbeiten: Die Geschichte ist Naturlehre der Succession: in der Naturlehre moralisirt man aber nicht, wie das Thier nach unserm Kopfe seyn sollte, sondern wie? woher? Und wozu es da ist? Und denn siehet man hinten nach, daß kein absolutes Gift in der Natur exsistire, das nicht im Ganzen auch Arznei und Balsam seyn müste.420

Natur und Geschichte weisen dieselbe Bonum-durch-Malum-Struktur auf. Ihr rechnet Herder eine geradezu spirituelle Bedeutung zu. An anderer Stelle heißt es: In der Natur ist aber nichts müßig; Kräfte gehen nie verloren; alle Zerstörung ist nur scheinbar. […] Das Uhrwerk der Natur wirkt gleich weiter fort zum Guten; denn nur das Unvollkommene, das Eingeschränkte (wie diese ganze Geschichtsabhandlung zeigt) zerstört sich; das gewürkte Vollkommene bleibt, wird immer unsinnlicher und würkt auf einer weiterer Fläche weiter. Selbst die neuerzeugten Fehler wirken ein höheres Gute weiter; sie sind Dissonanzen zu einem höheren Wohlklange.421

Der deutschen Geschichte unterlegt Herder eine Dialektik von ,germanischer Freiheit‘ und ,römischer Hierarchie‘. Ihr ist eine triadische Struktur eingezeichnet, deren Telos jedoch im Ungewissen liegt. Am Ursprung der nationalen Geschichte steht die harmonische Einheit in der Vielheit der germanischen Stämme, die Ähnlichkeiten mit der Blüte von Freiheit und Kultur der griechischen Poleiswelt besitzt. Die „uralten Gewohnheiten“,

419 Herder: Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden, in: SWS, Bd. 5, S. 686. Fußnote 2. 420 Ebd., S. 679. 421 Herder: Ursachen des gesunkenen Geschmacks, in: FA, Bd. 4, S. 142.

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nach denen die „Schöppen“ das Recht ermittelten,422 „aus lebendiger Ansicht der Sache“ beurteilten,423 sind für Herder das wahre deutsche Recht, das von der römisch-lateinischen Schriftkultur überformt und schließlich verdrängt worden sei. Vermittelt wird diese durch die Bischöfe Galliens, die als Fremdkörper im fränkisch-germanischen Reich unter den Karolingern immer mächtiger wurden. Die Anwendung germanischer Grundprinzipien auf die besitzenden gallischen Bischöfe hatte umfassende Konsequenzen: „Von den Franken hatten sie Ehre, von den Galliern Güter […].“424 Mit den Bischöfen, die anders als die germanischen Druiden nicht mit ins Feld zogen, wurde das „erste schädliche Beispiel einer Immunität von Gesetzen“425 eingeführt und damit die germanische Gleichheit unterwandert. Kraft und Geist der fränkisch-germanischen Verfassung verlor gegenüber geschriebenen Gesetzen und höfischer Rangfolge an Bedeutung. Beide Pole, die germanische Freiheit und Gleichheit auf der einen und die durch die Bischöfe tradierte römische Hierarchie und damit der aristokratische Schmuck auf der anderen Seite, prägen den Lauf der deutschen Geschichte. Während die „Fränkische Denkart“ die „Bischöfe zu Landständen“ machte, weil sie naturgemäß mit „Deutschem Auge“ angesehen wurden, half die fremde christliche Religion der fränkischen Monarchie empor.426 Landstände, so erläutert Herder, habe das Römische Reich nicht gekannt, sie sind eine Einrichtung aller deutschen Völker, die „nichts als Freiheit und freiwillige Vereinigung“ kannten.427 Dass der geistliche Stand zum ersten und schließlich krönenden Reichsstand wurde, bezeugt den geistlich-weltlichen Charakter des karolingischen Lehensreichs. Herder spricht seit der Königssalbung Pippins von einem „geistweltlichen Reiche in Deutschland“, einer „Doppelverfaßung“428. Dem viel zu großen Reich Karls des Großen mit der schädlichen Krone des Papstes fehlte es aber an Gemeinsinn, an gemeinschaftlichem Interesse, die Gesetze und Institute blieben seelenlos und unvollendet. Das karolingische Großreich musste in 422 „Justitz und Regierung war damals, wie so viele Jahrhunderte hernach, noch nicht getheilt: nicht die Könige, sondern die Schöppen gaben Gesetze, d. i. richteten nach uralten Gewohnheiten, und der König frug sie nur, was er denn nicht ändern könnte, um Recht.“ Herder: Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden, in: SWS, Bd. 5, S. 682. 423 Herder: Ideen, Bd. 1, S. 742. 424 Herder: Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden, in: SWS, Bd. 5, S. 683. 425 Ebd., S. 685. 426 Ebd., S. 687 und 685. 427 Ebd., S. 679. 428 Ebd., S. 688.

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Chaos zerfallen. Selbst darin keimte aber, so Herder, noch „Gutes für die Nachwelt“429. Die eigentliche deutsche Reichsgeschichte beginnt für ihn frühestens mit dem Vertrag von Verdun (843). Dank der polypenhaften Struktur erbte jedes Teilreich die Gestalt der „Fränkisch=Gothischen Regierung“430, so auch das Heilige Römische Reich. Nirgendwo trieb die Mischung aus germanischen Freiheitsprinzipien und aristokratischem Tand freilich derartige Blüten: Auch der große Haufe, theils von Volk, theils von Ständen, waren noch Glieder des Reichs, wählten, richteten und regierten mit. Es blieb noch immer Grundsatz: jeder kann nur von seinesgleichen gerichtet werden! und an dem, was alle angeht, muß auch jeder Antheil haben; völlig nach alter Fränkischer und Deutscher Verfaßung. Zugleich aber behielt man den ganzen Schmuck Aristokratischer Verfaßung, dessen Ansehen sich in trübseligen Zeiten so gemehrt hatte, aus dem Karolingischen Reiche bei, sonderte ihn, und trieb ihn höher. Siehe da die Grundlage zur Verfaßung Deutschlands.431

Mit Otto I. und der Reaktivierung der karolingischen Kaiserkrone (962) geriet das Reich in Unordnung und neuerliches Chaos, während sich die Nachbarstaaten festigten.432 Wie die Menschheit asymptotisch von ,Szene‘ zur ,Szene‘ zur allgemeinen Humanität fortschreitet,433 so arbeitet bei Herder auch die Defiziterfahrung in der deutschen Reichsgeschichte, das mittelalterliche Chaos (Malum), dem späteren Frieden und Gleichgewicht (Bonum) zu. Es bewahrte Deutschland davor, zu einem uniformen Zentralismus à la Frankreich zu werden: Indeß war selbst die Anarchie Veranlaßung zu einem Guten, das beinah ohne sie nicht werden konnte. Wäre Otto in Deutschland geblieben, hätten seine Nachfolger sich das Deutsche Reich erhalten, ohne ans Römische zu denken; unmöglich wäre jenes, was es war, blieben. Der Kaiser hätte die Stände unterdrückt: es wäre Monarchie worden, wie in Frankreich. Jetzt wollte es das Schicksal, daß, indem sie immer auswärtig Händel hatten, das Reich in seinen 429 430 431 432 433

Ebd., S. 692. Ebd. Ebd., S. 693. Ebd., S. 694. Herder: Ideen, Bd. 1, S. 606; „Die ganze Geschichte der Völker wird uns in diesem Betracht eine Schule des Wettlaufs zu Erreichung des schönsten Kranzes der Humanität und Menschenwürde“, ebd., S. 585. Herder spricht vom asymptotischen Fortschreiten des menschlichen Geschlechts zu „einem Punkt der Vollkommenheit […], den es nicht kennt und den es mit aller Tantalischen Mühe nie erreichet […].“ Ebd., S. 423.

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Gliedern wild emporschoß, und in dem Betracht waren selbst Papst und Faustrecht Beschützer und Erhalter der Deutschen Freiheit.434

Je mehr sich die Glieder verselbständigten, die Bischöfe „brachen, als Landesherren, den weltlichen Ständen den Weg“435, desto mehr entstand eine neue Reichsidee, die besonders von den geistlichen Reichsständen getragen wurde. Sie waren trotz allem zentrifugalen Bestreben mehr als die weltlichen Landesherren gezwungen, „an einem Oberhaupt“ festzuhalten: Die geistlichen Stände, die nicht erben können, „waren […] Nichts, wenn nicht das Reich blieb“436. Auf diese Art gedieh über die Bischöfe und vor allem über die Kurfürsten die Verfassung des gegenwärtigen „Deutschlands“, so Herder ausdrücklich.437 Der Aufsatz endet mit einem gerafften Durchgang der leges fundamentales, die Goldene Bulle nennt Herder genauso wie den Ewigen Landfrieden, die Reichskreise, die Wahlkapitulation Karls V. und den Westfälischen Frieden.438 Er schließt, Strube zitierend, mit einem überraschenden politischen Statement: ,Unsre Reichsverfaßung‘, sagt ein Gelehrter, reifsinniger Philosoph der Deutschen Geschichte, ,unsre Reichsverfaßung wäre im Hauptwerk unverbeßerlich, wenn die Reichssatzungen gebürend befolget würden. Denn anstatt die zwischen souverainen Staaten entstehende Streitigkeiten selten ohne grosses Blutvergießen entschieden werden, so sollte man den zwischen Deutschen Reichsständen sich hervorthuenden Irrungen nur durch gerechte Erkenntniße, ohne der Länder Verderben abhelfen, und indem die richterliche Hülfe auch den Unterthanen wider ihre Obrigkeiten angedeihet, behindert man sowohl jene despotische Unterdrückung, als die Landverderbliche Empörungen, welche der Mißbrauch der höchsten Gewalt vielfältig veranlaßet.‘439

Und „sofern“, ergänzt Herder, „hat jeder ein Verdienst, der zu Bildung und Erhaltung dieser Reichsverfaßung mitgeholfen!“440 Sogar die in der öffentlichen Diskussion so stark kritisierten Reichsbistümer erhalten deshalb eine Existenzberechtigung, man kann sogar sagen, dass Herder nach der rekapitulierten Bedeutung der Bischöfe für die deutsche Reichsgeschichte 434 435 436 437 438 439

Herder: Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden, in: SWS, Bd. 5, S. 694. Ebd., S. 695. Ebd. Dritter Abschnitt: „Übergang nach Deutschland“, ebd., S. 693 – 697. Ebd., S. 696. Ebd.; Herder zitiert hier: Strube, David Georg: Zwey und zwanzigste Abhandlung. Vom Ursprung der Landes=Hoheit in Teutschland, in: Neben=Stunden, Bd. 4, Hannover 1755, S. 1 – 83, hier S. 83. 440 Herder: Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden, in: SWS, Bd. 5, S. 697.

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deren Überleben sicher stellen will, um das Reich zu retten: „Ihre Rechte beruhen also mit den Rechten aller Reichsstände auf Einem heiligen Grunde, den Verträgen einer ganzen Nation und müßen, so lange diese dauret, dauren.“441 Man darf ihn deshalb nicht zu einem vorbehaltlosen Reichspatrioten machen – das hier ausgesprochene Bekenntnis zum gegenwärtigen Reich ist in dieser Deutlichkeit singulär. Dass das Reich durchaus von Bedeutung für das Verständnis von Herders Werk ist und der politisch-geographische Referent seines Deutschlandbegriffs, steht jedoch außer Frage. 2.3.4 Herders Deutschlandbegriff oder: ,Das Reich spricht deutsch‘ Herder verzichtet, so die mehr oder minder einhellige Meinung der Forschung, „auf jegliche Versuche, ,Deutschland‘ verfassungsmäßig oder territorial zu konkretisieren“442. „Er sieht in der Gegenwart nichts, was ein ,deutsches Volk‘ oder eine ,deutsche Nation‘ genannt werden könnte.“443 Diese beinahe kanonischen Sätze verabsolutieren den sprachzentrierten Volksbegriff Herders und verfehlen dessen Deutschlandbild, indem sie den kulturnationalen Schwerpunkt seiner Schriften gegen den politisch-geographischen Bezugspunkt ausspielen. Die Rezeption der ,Reichspublicistik‘ bezeugt, dass es zumindest ausreichend viele Textstellen in Herders Werk gibt, die eine andere Sprache sprechen. Die deutsche Geschichte beinhaltet für Herder mehr als nur Reichsgeschichte, sie ist vor allem Kulturgeschichte im weitesten Sinne des Wortes. Dennoch spielt die politische Geschichte des Reichs in zahlreichen Werken, insbesondere den Ideen, immer wieder eine entscheidende Rolle. Inhaltlich stützt er sich dabei prima vista ganz auf Reichshistoriker resp. Reichsjuristen wie Gundling, Mascov, Möser, Strube, Pütter und Schmidt, deren Rezeption oben bereits nachgewiesen wurde.444 Zunächst stimmt schon die Gliederung der deutschen Geschichte mit ihnen überein. Nicht mehr die translatio imperii ist ihr Ausgangspunkt – Herder nennt es das 441 Ebd., S. 698. 442 Blitz: Aus Liebe zum Vaterland, S. 359. 443 Koepke, Wulf: Das Wort ,Volk‘ im Sprachgebrauch Johann Gottfried Herders, in: Lessing Yearbook XIX (1987), S. 209 – 221, hier S. 216. 444 In den Ideen und den Briefen zitiert Herder die gleichen Autoritäten: Herder: Ideen, Bd. 1, S. 697: Eine Fußnote verweist auf Gatterer, Krause und „Mascou’s Geschichte der Deutschen“; ebd., S. 761 f.: eine Fußnote zu „Pütters Geschichte der Entwicklung der Deutschen Staatsverfassung“; Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 275 – 278 (über Pufendorf, Lapide, F. C. Moser, Möser etc.).

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„missverstandene Traumbild eines Propheten“, Pütter einen „Wahn“ des Mittelalters445 –, sondern Verfassung, Sitten und Kultur seit den germanischen Stämmen bis zur Gegenwart: die „allmähliche Schöpfung zum heutigen Staatskörper bei jeder Progression der Umbildung […].“446 Es steht für Herder außer Frage, dass die Reichsgeschichte im Sinne eines nationalisierten Geschichtsverlaufs Teil der deutschen Geschichte ist. Von den frühen „deutsche[n] Völker[n]“447 bis zum Fränkischen Reich unter Karl dem Großen reicht die erste Periode. Wie für die Reichshistoriker beginnt die eigentliche Reichsgeschichte jedoch erst mit dem „sogenannten Vaterlande der Deutschen Völker“448 seit der Reichsteilung 843 und ausdrücklich mit der Krönung Ottos I. in Aachen 936. Endlich kann sich Deutschland, sobald es ein eigenes Reich war, großer, wenigstens arbeitsamer und wohlwollender Kaiser rühmen, unter welchen Heinrich, Otto, und die beiden Friedrichs wie Säulen dastehen.449

,Deutschland‘ und ,Reich‘ verwendet Herder von nun an oft synonym. Das mittelalterliche ,Chaos‘ führt er auf den Einfluss des Papsttums, die Entfremdung durch das römische Recht, vor allem aber auf die Kaiserkrone zurück, welche „die Nation auf eine steile Höhe“ stellte.450 Deutschland sei deshalb „aus seinem Kreise gerückt“ und durch „Kriege über Kriege“ „mit sich selber uneins“ geworden451 – „ewig verstümmelt, entzweiget und verhackt“, „Absenker, Pflänzlinge und Pfropfreiser“ gingen verloren.452 Ähnliches las Herder bei Pütter. Der große Reichsjurist schreibt wie er von der „schwindelnde[n] Höhe“ der Kaiserwürde, von der „Verwirrung“ im Reich durch die Abwesenheit des Oberhauptes und dem Opfer „Teutsch[n] Blut[es]“ in Italien.453 „Am Po und am Jordan“, liest man wiederum bei 445 Herder: Ideen, Bd. 1, S. 447; vgl. Pütter: Litteratur des Teutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 35 (§ 15 „Der Wahn, daß das Teutsche Reich eine Fortsetzung des alten Römischen sey“). Vgl. Schlie: Johann Stephan Pütters Reichsbegriff, S. 11 – 20. 446 Herder: Über die Reichsgeschichte, in: SL, Bd. 2, S. 435. 447 Herder: Ideen, Bd. 1, S. 634. 448 Ebd., S. 732. 449 Ebd., S. 736. 450 Herder: Deutsche Hoheit. Fragment, in: SWS, Bd. 24, S. 378. 451 Herder: Ideen, Bd. 1, S. 734. 452 Der ,Baum‘ als Metapher für die historisch gewachsene, aber zunehmend entfremdete Reichsverfassung findet sich häufig, vgl. auch: Herder: Auch eine Philosophie zur Geschichte der Menschheit, in: FA, Bd. 4, S. 56; Herder: Alte Volkslieder. Vorrede, in: FA, Bd. 3, S. 22. 453 Pütter: Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Bd. 1, S. 118 f.

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Herder, „am Oby und Ohio, in allen Welttheilen floß ihr Blut, nicht für sich, sondern für andre Nationen […].“454 Johann Stephan Pütter lässt mit Maximilian I., mit der Einrichtung des Reichskammergerichtes und der Verkündigung des Ewigen Landfriedens die Neuzeit beginnen: „Unter Max dem I. erfolgte endlich die wichtigste und längst gewünschte Veränderung für die innere Wohlfahrt des ganzen Teutschen Reichs […].“455 Herder schreibt über das Zeitalter „von Maximilian und Karl de[m] fünften“ im gleichen Sinne, ausgeweitet auf Kultur und Europa im Ganzen: „Von hieraus fängt sich alles an, Staats-, Literatur-, Religionsveränderung – eine Geburt des menschlichen Geistes durch ganz Europa.“456 Pütter unterteilt das Reich der Frühen Neuzeit in eine Zeit vor und eine Zeit nach dem Westfälischen Frieden.457 In dem Aufsatz Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden bespricht Herder kursorisch die leges fundamentales bis zu dem Vertragswerk von Münster und Osnabrück, um sich dann, wie bereits zitiert, ausführlich zur Verfassung des gegenwärtigen Reichs zu äußern.458 Der Plan zu dem XXII. Buch der Ideen beinhaltet einen letzten Abschnitt der deutschen Geschichte, der sich entsprechend „von Karl V. bis auf den Westfälischen Frieden“ erstreckt hätte, aber leider 454 Herder: Aurora, in: SWS, Bd. 23, S. 15. Vgl. auch das Gedicht: Herder: An den Genius von Deutschland, in: SWS, Bd. 29, S. 331: „Zu Thatensiegesbahn! Denn freilich ist es Land / kaum mehr, der Sund, der Inselnsand / mein Deutschland! Ist von langer Zeit / entstammt, entmannet! weit und breit / verfloßen. Jordan, Po und Tiber / sie schäumten voll vom Heldenblut / der Deutschen! wogen über / von Papst- und Türkenwuth // und Deutsche Seelen! Endlich würgeten sie sich, / o Mutter Deutschland! sich und dich, / am Busen dir die Kinder! Brüllt / Ein Chaos so, wie’s Deutschland füllt, / das Zwistgewitter! Unzubeugen, / die Wolkenschlacht!, o wirst du wenn? / im Segen niedersteigen, / und Fruchtbarkeit zergehn?“ 455 Pütter: Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Bd. 1, S. 307. 456 Herder: Über die Reichsgeschichte, in: SL, Bd. 2, S. 440. 457 Pütter, Johann Stephan: Grundriß der Staatsveränderungen des Teutschen Reichs, Göttingen 1795, S. 171: Drittes Buch: Neuere Geschichte von Maximilian dem I. bis auf Franz den II. 1493 – 1794. Erste Abtheilung bis auf den Westphälischen Frieden 1493 – 1648. 458 „Endlich kam die goldne Bulle, und was lange Gewohnheit gewesen war, machte sie mit Sonderungen und Bestimmungen zum geschriebenen Reichsgesetz. Kammergericht, Kreiseintheilung, Landfriede folgten: die Wahlkapitulation Karls V. mit den folgenden, die sie einleitete, druckte das Siegel auf die Verfaßung. Der Westphälische Friede kam, änderte Besitzthümer und Religion, aber Reichsverfaßung und Rechte konnte er nicht ändern, sondern vestdrücken, bestätigen.“ Herder: Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden, in: SWS, Bd. 5, S. 696.

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genauso ungeschrieben blieb wie die Epoche des aufgeklärten Europas unter der Überschrift „Völkerrecht und Gleichgewicht“459. Kein Zweifel, Herder kannte nicht nur ein geographisches und historisches Deutschland, er gliederte die deutsche Geschichte ähnlich der reichshistorischen Lehrwerke und stimmte auch in der Darstellung der einzelnen Epochen, vor allem in der Beschreibung eines nationalen Kontinuums von den Germanen, über das mittelalterliche Lehensreich bis zum gegenwärtigen Reich auf der Sachebene mit ihnen überein. Die Bewertung der einzelnen Abschnitte erfolgt allerdings von einer ganz anderen Warte. Auf die Reichsgrundgesetze und das Reichsherkommen blickt Herder nur selten wohlwollend.460 Tradition und Gewohnheit gehören für ihn zwar zu den anthropologischen Grundtatsachen und sind daher für den Zusammenhalt einer Gesellschaft unabdingbar, sie können aber auch entwicklungshemmend wirken.461 Reichsherkommen und Reichsgesetze wie die Goldene Bulle erscheinen bei Herder zumeist als ursächlich für eine längst veraltete ,Titular-Verfassung‘, die die Reichspraxis der Gegenwart zum schieren Anachronismus, zur ,Puppe Karls des Großen‘ verdammt.462 Von Würde durch Anciennität ist bei Herder nichts zu lesen. Aus all dem wird deutlich: Für Herder ist das politische Deutschland im 18. Jahrhundert ganz zweifelsfrei mit dem Reich und seinen Territorien identifiziert – ohne dass die weite Dimension ,des Deutschen‘ damit vollständig erfasst wäre oder „ein Reichstag der Fürsten“463 seinen politischen Vorstellungen genügt hätte. Die deutsche Nation, das sei noch einmal ausdrücklich betont, definiert Herder keineswegs über den politischen Rahmen des Reichs, sondern über Sprache und Volk. Herders Kritik am Bestehenden ist scharf: sei es die Ablehnung des zeitgenössischen ,Maschinen-Staats‘ oder die Klage über die deutsche Zerteilung, diesen „Sund von kleinen monarchischen Inseln“, in dem eine Provinz kaum die Sprache der anderen versteht und „Sitten, Religion, Interesse, Stufe der 459 Herder: Ideen, Bd. 1, S. 1157. 460 „Wir berufen uns auf die Verjährung, ein über die Ruhe der Nationen wachendes, der Unsrigen aber desto heiligeres Gesetz, da wir Jahrhunderte lang ohne Regeln, ohne Grundsätze nur ungewiße Gebräuche gehabt haben. Wir werden unsre Rechte muthig vertheidigen, es sind die Rechte unsrer Mitbürger.“ Herder: Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden, in: SWS, Bd. 5, S. 698. 461 Herder: Ideen, Bd. 1, S. 470. Zu ,Gewohnheit‘ und ,Übung‘: ebd., S. 298 ff. 462 Vgl. in dieser Arbeit 2. Kap., 2.2.2 Die Puppe Karls des Großen. 463 Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 276.

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Bildung, Regierung“ verschieden sind.464 Dennoch lässt sich sein Deutschlandbild nur mit Blick auf das Reich voll verstehen. Das ,deutsche Volk‘ bzw. die ,deutsche Nation‘465 zeichnet sich bei Herder entsprechend des Klimas, der Dialekte und der politischen Organisation seit Anbeginn durch seine Vielfalt aus, deren charakteristischer Ausdruck trotz aller römischen und französischen Verbiegung und Entfremdung auch die föderale Reichsverfassung ist:466 „Großes Volk und Reich! Oder vielmehr Volk und Reich von zehn großen Völkern […].“467 Deshalb ist von ihm meist, aber längst nicht immer im Plural die Rede: Es gibt bei Herder sehr wohl die Formulierung ,das deutsche Volk‘.468 Ihm

464 Herder: Über die Wirkung der Kunst, in: FA, Bd. 4, S. 209. Vgl. auch die ungedruckte Fassung: ebd., S. 939. 465 Die Begriffe ,Nation‘ und ,Volk‘ werden bei Herder meist deckungsgleich verwandt, Volk eignet jedoch eine weitere Bedeutungsspanne. Koepke nennt vier unterschiedliche Dimensionen seines Volksbegriffs: 1. Volk als Menge, 2. gemeines Volk, 3. Volk als Nation, 4. Volk als Staatsvolk. Koepke, Wulf: Das Wort ,Volk‘ im Sprachgebrauch Johann Gottfried Herders, in: Lessing Yearbook 19 (1987), S. 209 – 221, hier S. 210; vgl. zudem: Sauerland, Karol: Herders Auffassung von Volk und Nation, in: Interkulturalität und Nationalkultur in der deutschsprachigen Literatur, hrsg. v. Maja Razbojnikova-Frateva, Dresden 2006, S. 21 – 34. Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: GG, Bd. 7, S. 141 – 431. Zu Herder: ebd., S. 316 – 319; Gaier, Ulrich: Herders Volksbegriff und seine Rezeption, in: Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, hrsg. v. Tilman Borsche, Paderborn 2006, S. 32 – 57. 466 Für Herder bleibt die Vielfalt Merkmal einer funktionierenden Interaktion von Staat und Kultur. Dazu schon: Barnard, Frederick: Zwischen Aufklärung und politischer Romantik, Berlin 1964, S. 87 f. Dass Vielfalt und Einheit kulturell wie politisch zusammengehen, zeigt nicht nur das Beispiel Griechenland und England, sondern auch der Blick auf die Hebräer, welche sich ebenso trotz Stämmen mit unterschiedlichen Führern etc. zu einer höheren Einheit durch gemeinsame Bräuche, Verehrung ihrer Vorfahren und einem gemeinsamen Gesetz fügten. Vgl. Herder: Vom Geiste der Ebräischen Poesie (1783), in: FA, Bd. 5, S. 661 – 1309, hier S. 1050: „Zuerst: Stammesehre, gleiche Nationalrechte, Freiheit. Kein König lag eigentlich in der Gesetzgebung Moses; Gott und das Gesetz war König. Alle Stämme waren Ein Volk. […] […]. Alle Stämme stunden unter ihren Fürsten, jede Familie unter ihrem Haupt: so hingen sie alle in brüderlichen Gliedern bis zu dem Gericht zusammen, das im Namen Jehovahs über alle richtete. Dreimal im Jahr an den hohen Nationalfesten war allgemeine Zusammenkunft des Volkes […] alle drei waren Freiheit- und Nationalfeste.“ 467 Herder: Alte Volkslieder. Vorrede, in: FA, Bd. 3, S. 20. 468 Anders: Koepke: Das Wort Volk, S. 216 und S. 221 Fußnote 24. Z. B.: „Volk, wie das deutsche Volk!“ Herder: Alte Volkslieder. Vorrede, in: FA, Bd. 3, S. 18; „Das arme deutsche Volk“, „für das deutsche Volk“, Herder: Ist dem Volke so viel

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geht es nicht eigens um das Alte Reich, wohl aber bleibt sein Denken an vielen Stellen selbstverständlich auf dasselbe bezogen. In seinem Rahmen soll Nationalkultur entstehen, seine Fürsten dieselbe fördern und seine Einwohner Gemeinsinn bzw. Nationalgeist, will sagen: Selbstachtung erlernen, um Kultur zu ermöglichen und dem Humanitätsideal entgegenzuarbeiten. Häufig werden das gegenwärtige und das vergangene Heilige Römische Reich von Herder zeittypisch „deutsches Reich“ oder „Deutschland“ genannt,469 seine multinationalen Elemente stören dabei nicht. Ja, Herder scheut, wie gesehen, in seiner Preisschrift nicht davor zurück, die Gesetze der Reichsverfassung zum „heiligen Grunde“ und den „Verträgen einer ganzen Nation“ zu erklären und das Schicksal der Nation mit dem Schicksal der Verfassung in eins zu setzen.470 Herders an die Landesherren der Reichsterritorien gerichtete Forderung, sich zur deutschen Sprache zu bekennen, liegt die Überzeugung zugrunde, „daß allenthalben, wo man in Deutschland lebet, man auch zu Deutschland gehöre[n], die Sprache unsres Vaterlandes rein spreche[n] und schreibe[n]“ müsse.471 Er fordert das in einer Schrift, die sich zweifelsfrei auf das Alte Reich, die Kreisverfassung und die Reichsstände bezieht: „Billig also ists, daß die Deutsche Sprache, wenigstens innerhalb der Grenzen ihrer Nation, herrschend werde, daß Deutsche Fürsten sie verstehen, rein sprechen und lieben […].“472 Verfassungsgeschichtlich konnte das Reich dazu in der Tat den Rahmen geben, denn „das Reich sprach deutsch und schrieb es

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Kunstsinn als Sinn für Wahrheit und Ehrbarkeit nöthig? [Adrastea. Fünfter Band. Zweytes Stück], in: SWS, Bd. 24, S. 272, S. 274. Ein paar Beispiele: „Deutsches Reich“, Herder: Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden, in: SWS, Bd. 5, S. 694 und an vielen anderen Stellen; Herder: Ideen, Bd. 1, S. 633, S. 719, S. 748, S. 761; Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 561, S. 589. „Deutschland sei ehemals in 10. Kreise eingeteilt […].“ Herder: Von der Annehmlichkeit, Nützlichkeit und Notwendigkeit der Geographie. Schulrede Juli 1784, in: FA, Bd. 9/2, S. 481; „Großes Reich, Reich von zehn Völkern, Deutschland!“ Herder: Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, in: FA, Bd. 2, S. 558. Genauso spricht er in der Regel nicht vom römischen, sondern vom „deutschen Kaiser“, Herder: Ideen, Bd. 1, S. 633, S. 730, S. 747, S. 761, S. 811. „Ihre Rechte beruhen also mit den Rechten aller Reichsstände auf Einem heiligen Grunde, den Verträgen einer ganzen Nation und müßen, so lange diese dauret, dauren.“ Herder: Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden, in: SWS, Bd. 5, S. 698. Herder: Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands (1787), in: SWS, Bd. 16, S. 603. Ebd., S. 604 f.

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auch“473. Johannes Burkhardts Aussage stimmt durchaus mit der zeitgenössischen Wahrnehmung überein. „Die deutsche Sprache braucht man im Heiligen Römischen Reich“, vermerkt Antespergs Lehrbuch für den Erzherzog Joseph 1741 lapidar.474 Herder war sich dessen bewusst, wiewohl damit bei Weitem nicht zufrieden: Wir Deutschen hingegen sind hierin sehr nachgeblieben; unser Schul-Canzelstyl und unser Canzleistyl, der Regensburger zumal, sind aus wahren deutschen Eichen- und Buchen, oft nicht einmal geformte hölzerne Style, mit denen wir wohl keine Nation an uns locken, aber auch keinen Feind totschlagen werden. Unsre edle Deutsche Sprache ist noch bei weitem nicht geworden, was sie seyn könnte […].475

Insofern steht Herders Sprach- und Kulturreform in der Tradition des barocken Sprachpatriotismus, wenn sich auch das Verhältnis geradezu umgekehrt hatte: Justus Georg Schottelius setzte sich seiner Zeit zum Ziel, „die hochteutsche Sprache / oder die rechte Hochteutsche Mundart“ zu stärken, „welche die Teutschen / sonderlich aber das Teutsche Reich selbst / in den Abschieden / in den Canzeleyen / Gerichten und Trükkereyen bishero von Jahren zu Jahren angenommen und gebraucht hat“476. Das Reich war spätestens seit der Wahlkapitulation Karls V. von 1519 bilingual, erstens (!) deutsch und zweitens lateinisch,477 die Rechts- und Verwaltungssprache daher ein geeigneter Ausgangspunkt für die Spracharbeit des Barock. Im frühen 18. Jahrhundert riss die Beziehung zwischen Reichsverfassung und deutscher Sprachförderung nicht ab, sie veränderte sich aber fundamental. Die Kanzlei- und Rechtssprache galt nun als heillos rückständig.478 Parodien Wielands, Jean Pauls und Goethes beweisen das mit literarischen Mitteln. Dass das Reich ,deutsch sprach‘, war Herder aber nicht nur bewusst, gerade die Rückständigkeit der ,Reichssprache‘ bot die Möglichkeit, über kulturelle Förderung Einfluss auf den Zusammenhalt dieses größten deutschen Gemeinwesens zu nehmen. Staat und Nation sind bei Herder nicht deckungsgleiche Begriffe, aber eben auch nicht unab473 Burkhardt: Wer hat Angst vor der Kleinstaaterei?, S. 42. 474 Antesperg, Johann Balthasar von: Das Josephinische erzherzogliche A. B. C. oder Namenbüchlein. Nachdruck des Widmungsexemplars von 1741 im Landesmuseum Joanneum in Graz, Dortmund 1980, S. 37. 475 Herder: Von der Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen (1796), in: FA, Bd. 9/2, S. 727. 476 Schottelius: Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache, S. 174. 477 Heller: Reform der deutschen Rechtssprache, S. 212. 478 Vgl. zu Gottscheds Kanzleikritik: ebd., S. 164 – 168.

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hängig voneinander.479 Herders Kulturpolitik tritt an, das brachliegende Potential zu nutzen, zu verbessern, eine deutsche Kulturidentität zu fördern. Sie baut dabei aber auf das Vorhandene auf und steht in einer langen Tradition, die den Reichskontext nicht ausblendet.480 Herder spricht den Deutschen weder die politische Existenz noch ihre Sprache ab, wohl aber den nötigen Gemeingeist, um die politische und kulturelle Vielheit in Eintracht münden zu lassen. Auf den Spuren Friedrich Carl Mosers fordert er in den ungedruckten Briefen zu Beförderung der Humanität das „große Gefühl“ hervorzubringen, „daß wir Ein Volk seyn, Eines Vaterlandes, Einer Sprache“481. Wenn Herder mehrfach schreibt, die Deutschen hätten im Vergleich zur griechischen Antike, zu Frankreich und England kein „Publikum“ und kein „Vaterland“, so meint er nichts anderes.482 Denn: „Die geographischen Grenzen allein machen das Ganze einer Nation nicht aus; ein Reichstag der Fürsten, eine gemeinschaftliche Sprache der Völker bewirken es auch nicht allein […].“483 Über einen festen geographischen Rahmen, Reichstag und Sprache verfügen die Deutschen nach seiner Sicht trotz aller Schwächen, trotz mangelndem „Vaterlandsgeist[]“ sehr wohl.484 479 Der gerne verkürzt zitierte und aus dem Kontext gerissene Satz aus den Ideen – „Staaten (…) können überwältigt werden, aber die Nation dauret“ (Koselleck, Reinhart: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: GG, Bd. 7, S. 141 – 431, hier S. 317) – zielt nicht auf die kategoriale Trennung von Staat und Nation. Vollständig lautet er: „Staaten, die, aus ihrer Wurzel erwachsen, auf sich selbst ruhen; sie können überwältigt werden, aber die Nation dauret.“ Herder: Ideen, Bd. 1, S. 468. Nation und Staat sind hier sogar besonders eng verbunden, da es darum geht, die Verdichtung des Volkscharakters durch eine eigentümliche Ausprägung des Staats zu verdeutlichen und nicht die Unabhängigkeit der Nation vom Staat. Diesem ganz auf dem Volkscharakter ruhenden Staat steht das Reich eines Despoten gegenüber, das mit dessen Tod/Sturz zerfällt. Vergleichbar ist die Aussage einer in den Ideen an anderer Stelle zitierten Quelle Herders: „Ein Staat, der die Verfassung einer gantzen Nation zum Grunde hat, hebet sich allmählich empor, wie eine Pyramide, und stehet desto fester. Wenn auch der Fürst überwunden wird, erhohlet sich das Land von selbst.“ Mascov, Johann Jacob: Geschichte der Teutschen bis zu Abgang der Merovingischen Könige: in sechs Büchern fortgesetzt von D. Joh. Jak. Mascou, Bd. 2, Leipzig 1737, S. 159. 480 Vgl. in dieser Arbeit 3. Kap., 3.2 Herders Kulturpolitik. 481 Herder: Ältere Niederschrift (zehnte Sammlung), in: SWS, Bd. 18, S. 347. Bei Moser heißt es: „Wir sind Ein Volk, von Einem Namen und Sprache, unter Einem gemeinsamen Oberhaupt, unter Einerlei unsere Verfassung, Rechte und Pflichten bestimmenden Gesetzen […].“ Moser: Von dem Deutschen national=Geist, S. 5. 482 Herder: Über die neuere deutsche Literatur, in: FA, Bd. 1, S. 240, 307; Herder: Haben wir noch ein Publikum, in: FA, Bd. 1, S. 40 – 55. 483 Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 276. 484 Ebd., S. 278.

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Wie sonst könnte Herder bezüglich der elsässischen Herkunft Jacob Baldes (1604 – 1668) schreiben: „Dieses schöne Land gehörte damals noch zum deutschen Reiche; er war also ein Deutscher […]. Erleben mußte es der Dichter, daß dies Land vom deutschen Vaterlande abgerissen, eine Französische Provinz ward.“485 Deutschland, ,Deutsches Reich‘, deutsches Vaterland sind hier wie an vielen anderen Stellen evidentermaßen deckungsgleiche Begriffe. 2.4 Dramatisches irregulare aliquod corpus: Reichsvariationen in Goethes Götz von Berlichingen Das populäre Goethe-Bild – der jüngste Goethe-Film von 2010 (Goethe!) mag als Beispiel genügen – hat sich den großen ,Dichterfürsten‘ auf ein handliches Format zusammengestutzt. Dazu gehört das Klischee des jungen, frechen Ausreißers: ein sympathischer Rebell und Studienversager, der viel lieber dichtet als lernt und so mit Pauken und Trompeten, dafür in lässiger „er kann mich im … lecken“-Haltung durch die Doktorprüfung rasselt. Natürlich ist es so nicht gewesen, wie leicht nachzulesen wäre.486 Goethes Biographie verlief, die ,Reichskarriere‘ bestätigt es, in anderen Bahnen. Sein Erstlingswerk Götz von Berlichingen lässt sich ohne den reichjuristischen und reichspolitischen Hintergrund nicht vollständig verstehen. Das gilt sowohl für die Form als auch für den Inhalt. Im Folgenden soll Goethes reichsjuristisches Studium als wichtige Entstehungsbedingung des Dramas geschildert werden. In einem zweiten Schritt werden unterschiedliche Reichskonzepte im Drama und die daraus folgende politische Intention vorgestellt. 2.4.1 Goethes Studium des Reichsrechts Außer Frage steht, dass Goethe keineswegs im Studium scheiterte, vielmehr dank der Unterweisungen seines Vaters im römischen und ,deutschen‘ Recht geradezu überqualifiziert war. Zeugt schon die Lektüre des Compendium Digestorum Friedrich Gottlieb Struves487 vom beachtlichen Niveau des ,Colloquium – Pater et Filius‘, überrascht es auch nicht weiter, dass der väterliche Jurist mit dem Sohn anlässlich der Krönung Josephs II. die 485 Herder: Kenotaphium des Dichters Jacob Balde, in: SWS, Bd. 27, S. 201 f. 486 Boyle: Goethe, Bd. 1, S. 130 f. 487 Wohlhaupter, Eugen: Dichterjuristen, Bd. 1, Tübingen 1953, S. 187.

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„Wahl- und Krönungsdiarien“ sowie „die letzten Wahlkapitulationen“ studierte.488 Die Goldene Bulle selbst brachte Goethe niemand Geringerer näher als der große Frankfurter Jurist und Freund des Hauses Johann Daniel von Olenschlager (1711 – 1778).489 Dank dieses geistigen Rüstzeugs fiel ihm das Studium in Leipzig nach eigenen Angaben nicht schwer.490 Mit Hofrat Johann Gottlieb Böhme wachte „ein Zögling von Maskow“ und „nunmehr sein Nachfolger“ über den jungen Studenten, der bei diesem „Geschichte und Staatsrecht“ hörte.491 Durch die enge Verbindung von ,Jus‘ und ,Historie‘ erklärt sich, dass Böhme den literarischhistorischen „Gegencursus“ seines Schützlings für überflüssig erachtete: Man würde über das Studium der Rechtsgeschichte für dergleichen Interessen „nicht einmal einen Umweg mache[n]“492. Goethe betont rückblickend die Langeweile während Böhmes Vorlesungen „im deutschen Staatsrecht“493, trägt aber nach, dass er in Leipzig durchaus „Einsicht in die Rechtserfordernisse“ erlangt und immerhin einen „allgemeine[n] enzyklopädische[n] Überblick“ erhalten habe.494 In Straßburg musste der Student mit Enttäuschung zur Kenntnis nehmen, dass hier alles „dem Verhältnis gegen Frankreich gemäß“495 war, und das bedeutete, wie ihn sein Repetent belehrte: Es wird nicht nachgefragt, wie und wo ein Gesetz entsprungen, was die innere oder äußere Veranlassung dazu gegeben; man untersucht nicht, wie es sich durch Zeit und Gewohnheit abgeändert, so wenig als in wiefern es sich durch falsche Auslegung oder verkehrten Gerichtsbrauch vielleicht gar umgewendet.496

Was er laut Dichtung und Wahrheit vermisste, war die in Leipzig aufgrund der ,reichspublicistischen‘ Methode selbstverständliche historisch-gelehrte 488 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 197. Zu Struve: ebd., S. 157. 489 Ebd., S. 177. 490 „[…] denn ich wusste gerade schon so viel, als uns der Lehrer zu überliefern für gut fand. Mein erst hartnäckiger Fleiß im Nachschreiben wurde nach und nach gelähmt, indem ich es höchst langweilig fand, dasjenige nochmals aufzuzeichnen, was ich bei meinem Vater, teils fragend, teils antwortend, oft genug wiederholt hatte, um es für immer im Gedächtnis zu behalten.“ Ebd., S. 271. 491 Ebd., S. 269. 492 Ebd., S. 270. 493 Die Langeweile will er zum allgemeinen Vergnügen überbrückt haben, indem er „den Kammerrichter, die Präsidenten und Beisitzer, mit seltsamen Perücken an den Rand“ seines Heftes zeichnete. Ebd., S. 311. 494 Ebd., S. 388. 495 Ebd. 496 Ebd., S. 389.

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Tiefe. Den Wunsch, „alles, wo nicht verständig, doch historisch erklärt“497 zu erhalten, konnte er in Straßburg nur – sieht man von dem Historiker und Staatsrechtslehrer Johann Daniel Schöpflin ab – außerhalb des Jurastudiums befriedigen. Zudem: Goethe fiel natürlich nicht durch das Doktorexamen. Seine Arbeit zum Verhältnis von Kirche und Staat, in welcher er, soweit das rekonstruierbar ist, gut protestantisch der staatlichen Obrigkeit Vorrang vor der kirchlichen gewährte, wurde aus kirchenpolitischen Gründen von der Fakultät für zu gefährlich erachtet.498 Straßburg mit seiner protestantischen Universität lag eben nicht mehr im Reich, sondern war Teil des katholischen Frankreichs, weshalb hier Vorsicht geboten war.499 Die folgende Promotion zum Lizentiaten beider Rechte galt als Alternative, nicht als Ehrverlust.500 Sicher ist jedenfalls, dass Goethe ein guter Kenner des Reichsstaatsrechts und der deutschen Rechtsgeschichte war. Das bestätigt sich im Blick auf die von ihm ,sympoetisch‘ (mit-)verfassten Rezensionen in den Frankfurter gelehrten Anzeigen aus dem Jahr 1772501. Während der empirisch-pragmatische Ton dieser Zeitschrift bereits als frühes Anzeichen der neuen literarisch-geistigen Bewegung erkannt wurde, blieb die literarische Relevanz der juristischen Stellungnahmen weitgehend unbemerkt. Dem Ausruf in Sachen Ästhetik, „Gott erhalt unsre Sinnen, und bewahr uns vor der Theorie der Sinnlichkeit“502, entspricht die rechtsgeschichtliche Argumentation in juristisch-politischen Fragen. Neben der durchaus bemerkenswert selbstbewussten Polemik der Verfasser strotzen die Rezensionen vor juristischer Gelehrtheit. An Ernst Christian Westphals Buch über die römischen Gesetze zum Pfandrecht bemängelt Ludwig Höpfner wohl unter Beteiligung Goethes zu geringe „literarische Kenntnisse des Verf.“ und fehlende juristische Systematik: „Und lucidus ordo? Nun, man lese das Buch und fühle sich an die Stir497 Ebd. 498 Vgl. zusammenfassend: Pausch: Goethes Juristenlaufbahn, S. 87 ff. 499 Vgl. Liermann, Hans: Goethe und die Jurisprudenz, in: Juristische Rundschau (1949), S. 202 – 206 und 233 – 238, hier S. 233. 500 Vgl. Goethe: Positiones Juris, in: MA, Bd. 1,2, S. 551 – 556; Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 506. Dazu: Wohlhaupter: Dichterjuristen, Bd. 1, S. 210 – 215. 501 Die exakte Zuordnung der Rezensionen zu einem oder mehreren Verfassern ist oft nicht möglich. Sie erfolgt hier auf Basis der Münchner Ausgabe (MA, Bd. 1,2, S. 802–805) und Bräuning-Oktavio, Hermann: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter gelehrten Anzeigen 1772, Tübingen 1966. 502 Goethe und Merck [?]: Rezension zu Sulzers ,Die schönen Künste […]‘, in: MA, Bd. 1,2, S. 402.

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ne!“503 In einer anderen Rezension, welche die zur Schau gestellte Gelehrsamkeit des Autors aufs Korn nimmt, übertrumpft Goethe diesen subtil: Der kurze Text ist voller gelehrter Anspielungen und beweist gleichsam auf Basis des römischen Rechts, dass die Publikation der merkwürdigen Rechtsfälle Beckers besser hätte unterlassen werden sollen.504 Die Rezensenten der Zeitschrift zitieren die Autoritäten der deutschen Jurisprudenz und bezeugen dabei beste Kenntnisse in allen Bereichen des Fachs – nicht zuletzt mit Namen, die auch im Reichsstaatsrecht von Bedeutung sind. Gegen den Jenaer Professor Karl Friedrich Walch werden z. B. Samuel Cocceji,505 Samuel von Pufendorf und Justus Henning Böhmer506 als Autoritäten angeführt.507 Vieles, was für das Rechts- und Politikverständnis im Götz bedeutsam ist, lässt sich bereits an der Lobeshymne auf Carl Philipp Kopp (1728 – 1777) ablesen. Kopp wurde von niemand Geringerem als Johann Stephan Pütter promoviert und absolvierte die übliche ,peregrinatio academica‘ in Wetzlar, Regensburg und Wien.508 Sein hier besprochenes Werk handelt von der Verfassung Hessen-Kassels. Ludwig Höpfner und mit ihm aller Wahrscheinlichkeit nach Goethe rühmen ihn als „wahren Kenner der vaterländischen Rechte“509. Er sei ein Mann, der eigenständig neben den „herrlichen Germanisten“510 stehe. Die Rezensenten zählen eine Reihe namhafter Juristen ihrer Zeit auf: angefangen bei Heinrich Christian von Senckenberg – immerhin zeitweilig ein Göttinger Rechtsprofessor und

503 Höpfner mit Goethe [?]: Rezension zu Westphals ,Versuch einer systematischen Erläuterung […]‘, in: MA, Bd. 1,2, S. 316. 504 Vgl. ebd., S. 359. 505 Vgl. ebd., S. 320. 506 Vgl. Höpfner mit Goethe [?]: Rezension zu Walchs ,Introductio in controversias juris civilis […]‘, in: MA, Bd. 1,2, S. 320 f. 507 An anderer Stelle heißt es spottend: „Hopp, der Sachwalter, und Walch, der Antiquarius! Eine so groteske Gruppe konnte niemand zu sehen wünschen, als Ludewig“ (Schlosser mit Goethe [?]: Rezension zu Hopps ,Commentatio succincta […]‘, in: MA, Bd. 1,2, S. 332). Die Rezensenten spielen damit auf Johann Peter von Ludewig an, dessen Werk zwar für die Entstehung der Reichshistorie von ungemeiner Bedeutung war, dessen Stil jedoch Mitte des 18. Jahrhunderts zum „Urbild barocken, eitlen und selbstüberzogenen Gelehrtentums“ degeneriert war (Hammerstein: Jus und Historie, S. 169). 508 Vgl. Ilgen, Theodor: Kopp, Karl Philipp, in: ADB, Bd. 16, S. 690. 509 Höpfner mit Goethe [?]: Rezension zu Kopps ,Ausführlichen Nachrichten […]‘, in: MA, Bd. 1,2, S. 317. 510 Ebd.

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später Reichshofrat511 – über den Gießener Reichstaatslehrer Johann Nikolaus Hert und den schon erwähnten Johann Daniel von Olenschlager bis zu Christian Ulrich Grupen (1692 – 1767) und Carl Heinrich Dreyer (1723 – 1802), die alle mit rechtshistorischen Arbeiten hervorgetreten waren und die Eigenständigkeit des ,deutschen‘ gegenüber dem römischen Recht herausgestellt hatten. Der Frankfurter Jurist Senckenberg publizierte etwa ein zweibändiges Corpus iuris germanici (1760/1766) wie eine Neue und vollständige Sammlung der Reichsabschiede (1747).512 Gerade, dass die Behandlung historisch und quellennah sei, loben die jungen Juristen an Kopp: Dieser habe „[…] aus den Quellen, den ehrwürdigen deutschen Rechtsbüchern, aus der Geschichte, aus Urkunden geschöpft“513. Im gleichen Sinne begrüßen sie die dem Material entsprechende Systematisierung, die weder zu antiquarisch kompiliere, noch zu sehr abstrahiere. An anderer Stelle heißt es genau in diesem Sinne: „[D]ie fürtrefflichsten Grundsätze abstrakter Wahrheit, lassen sich zu Entscheidung der verwickelten Fälle, unseres gegenwärtigen zusammengesetzten Lebens nicht anwenden.“514 Die Eigenheiten und Vielfalt, man könnte im Sinne Herders sagen, der ,Charakter‘ der „Hessischen Gerichte“515, ist für die Rezensenten in dem Werk Kopps großartig erkennbar. Ja, sie erheben die juristische Arbeit geradezu zu einer patriotischen Tat: „Möchten doch mehrere Patrioten durch dieses Beispiel gereizt, die Gerichtsverfassung ihres Vaterlandes so vortrefflich als Herr Kopp des seinigen beschreiben!“516 Im regionalen hessischen Recht spricht sich der deutsche Nationalgeist aus. Lokale Studien können daher, Justus Mösers Osnabrückische Geschichte ist das beste Beispiel, den gesamtdeutschen Patriotismus befördern. Noch in anderen Rezensionen scheint die Ablehnung der „römischen Theorie“ und ihre korrumpierende Übertragung auf die „platte, gutherzige, deutsche Praxis“517 hindurch. In pragmatischer Form beantwortet 511 Vgl. Jung, Rudolf: Senckenberg, Heinrich Christian von, in: ADB, Bd. 34, S. 1 f.; Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 1, S. 311. 512 Vgl. zur Kenntnis dieser Autoren aus der Frankfurter Zeit: Wohlhaupter: Dichterjuristen, Bd. 1, S. 180 f. 513 Höpfner mit Goethe [?]: Rezension zu Kopps ,Ausführlichen Nachrichten […]‘, in: MA, Bd. 1,2, S. 317. 514 Protokollrezension (mit Goethe) für die Allgemeine deutsche Bibliothek: zu Gatzerts ,Tractatus juris […]‘, in: MA, Bd. 1,2, S. 344. 515 Höpfner mit Goethe [?]: Rezension zu Kopps ,Ausführlichen Nachrichten […]‘, in: MA, Bd. 1,2, S. 318. 516 Ebd. 517 Schlosser mit Goethe [?]: Rezension zu Hopps ,Commentatio succincta […]‘, in: MA, Bd. 1,2, S. 332.

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Goethe Joseph Freiherr von Sonnenfels’ Frage nach dem deutschen Vaterland: Die ewig mißverstandenen Klagen nachgesungen: ,Wir haben kein Vaterland, keinen Patriotismus‘. Wenn wir einen Platz in der Welt finden, da, mit unsern Besitztümern zu ruhen; ein Feld, uns zu nähren; ein Haus, uns zu decken; haben wir da nicht Vaterland? Und haben das nicht tausend und tausende in jedem Staat? und leben sie nicht in dieser Beschränkung glücklich? Wozu nun das vergebene Aufstreben nach einer Empfindung, die wir weder haben können noch mögen, die bei gewissen Völkern, nur zu gewissen Zeitpunkten, das Resultat vieler glücklich zusammentreffender Umstände war und ist.518

Nicht erst in dem viel zitierten Aufsatz Über literarischen Sansculottismus – und d. h.: nicht erst als Reaktion auf die Französische Revolution – akzeptierte Goethe die föderale, eigentümliche Struktur des Reichs. Wie 1795 wünscht er schon hier keinen Umsturz des Bestehenden, um den glühenden Patriotismus eines Cato („Römerpatriotismus! Davor bewahre uns Gott“) auch in den deutschen Ländern möglich zu machen.519 Begründet wird sein Standpunkt durch die historisch-genetische Entwicklung des Reichs: Durchaus werden die Gesetze [bei Sonnenfels] en gros behandelt; alle Nationen und Zeiten durcheinander geworfen; unsrer Zeit solche Gesetze gewünscht und gehofft, die nur einem erst zusammengetretenen Volk gegeben werden konnten. Und man sieht nicht, daß man in die Luft redt, und ausgezischt zu werden verdient, wie einer, der Damen im Reifenrocke Evas Schürzchen vorpanegirisieren wollte.520

Mit anderen Worten: Die deutsche Geschichte, und das heißt insbesondere die Reichsgeschichte, bedingt die gegenwärtigen Verhältnisse, und es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, noch mal bei ,Evas Schürzchen‘ zu beginnen. Politischer Patriotismus ist für Goethe im Deutschland des 18. Jahrhunderts möglich, doch, das hat die Rezension Kopps gezeigt, kann damit nicht enthusiastische Vaterlandsliebe im Großen gemeint sein, sondern nur die Kenntnis der konkreten eigenen Geschichte und des eigenen Charakters.521 518 Goethe [?]: Rezension zu Sonnenfels ,Über die Liebe des Vaterlandes […]‘, in: MA, Bd. 1,2, S. 327 f. 519 Ebd., S. 328. 520 Ebd., S. 329. 521 Goethes politisch-juristische Argumentation gegen Sonnenfels läuft parallel zur literarischen Argumentation in Lessings Philotas. Gegen Gottscheds Sterbenden Cato erweist Lessing die Unzulänglichkeit antiker Vaterlandsliebe für die modernen Verhältnisse. Republikanisches Pathos gelingt nur noch als Satire, die klassische Belesenheit des Prinzen führt ihn zur sinnlosen Todesbereitschaft und damit

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Über sein reichsjuristisches Studium entwickelte Goethe um 1770 Positionen, die für Götz von Berlichingen von ähnlicher Relevanz sind, wie der Einfluss Justus Mösers und Johann Gottfried Herders. Die Literaturwissenschaft verfolgte bislang vor allem deren Spuren in seinem dramatischen Erstling.522 Während die ältere Forschung die Aufwertung des einheimischen gegenüber dem ,absolutistisch-uniformen‘ römischen Recht und die Analogien des Dramas zum Faustrecht-Aufsatz des Osnabrücker Gelehrten unterstrich, stellte die jüngere Forschung die Bedeutung der Epochenwende um 1500 heraus: mit dem Landfrieden von 1495, dieser „großen und glücklichen Conföderation“523, beginne, so Möser, „ein ganz neues Reich“524, die Epoche der „glückliche[n] Landeshoheit“525. Herder schließlich habe die Neugier für Maximilian I. entfacht.526 Für all diese Punkte waren die beiden von Goethe hochgeschätzten Autoren allerdings nicht unbedingt maßgeblich, sie selbst übernahmen die Grundlagen vielmehr aus der akademischen Rechts- und Reichshistorie. Die Forschung wies längst auf die wichtigsten Quellen des Dramas hin. Der gemeinsame methodische und politische Kontext der Schriften und Herausgeberschaften von Johann Stephan Pütter, Georg Tobias Pistorius und Johann Philipp Datt ist bisher allerdings nur von Wolfgang Burgdorf gesehen worden: das ius publicum romano-germanicum. 527 Drei Grundfragen des Dramas stehen jedoch in engstem Zusammenhang mit Goethes

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523 524 525 526 527

in die Irre. Wiedemann, Conrad: Ein schönes Ungeheuer. Zur Deutung von Lessings Einakter ,Philotas‘, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 17 (1976), S. 381 – 397. Reiss: Goethe, Möser und die Aufklärung; Schröder, Jürgen: Goethes ,Götz von Berlichingen‘. Individualität und Geschichte im Drama des jungen Goethe, in: Zum jungen Goethe, hrsg. v. Wilhelm Große, Stuttgart 1982, S. 108 – 124, hier S. 115 – 117; Stauf: Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität, S. 378 – 392; Efler, Stefan: Der Einfluß Justus Mösers auf das poetische Werk Goethes, Hannover 1999, S. 57 – 79. Möser: Vorschlag zu einem neuen Plan der deutschen Reichsgeschichte, in: HKA, Bd. 7, S. 130 – 133, hier S. 131. Ebd. Möser: Deutsche Geschichte, S. 173. Z. B. Neuhaus, Volker: Götz von Berlichingen, in: Goethe-Handbuch, Bd. 2: Dramen, hrsg. v. Theo Buck, Stuttgart/Weimar 1996, S. 78 – 99, hier S. 78. Johann Stephan Pütters Grundriß der Staatsveränderungen des teutschen Reichs (1764); Georg Tobias Pistorius gab die Lebensbeschreibung des Götz von Berlichingen heraus; Johann Philipp Datts Volumen rerum Germanicarum novum sive de pace publica libri V (1698). Vgl. Burgdorf: Goethes ,Götz von Berlichingen‘, S. 27 – 52. Der ,reichspublicistisch‘ Kontext ist auch für Justus Möser von grundlegender Bedeutung, vgl. Hammerstein: Justus Möser.

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reichsrechtlichem Studium. Vielleicht schätzte es der große Jurist Johann Stephan Pütter gerade deshalb und gab ihm gleichsam aus reichshistorischer Sicht seinen Segen: In der Litteratur des teutschen Staatsrechts führt er unter den Quellen und Darstellungen zu „mittleren Zeiten“ Götz von Berlichingen als Literaturempfehlung auf, da dort die Lebensbeschreibung des Reichsritters „durch Meisterhand“ „in die Gestalt eines Schauspiels eingekleidet“ worden sei.528 1. Die Opposition zwischen dem einheimischen und dem fremden Recht: Das römische Recht galt im Alten Reich als ,gemeines Recht‘. Vorrang in der Rechtsprechung des Reichskammergerichts hatte jedoch das historisch-gewachsene partikulare Recht, das römische Recht wurde (in der Theorie) nur subsidiär herangezogen. Es habe „Teutschland überschwemmt[]“ und „dadurch unsere Landes=Gesetze, Sitten, und Gewohnheiten fast gänzlich unterdrücket“, beklagte 1742 Nicolaus Hieronymus Gundling – und er war damit keineswegs der Erste. Die germanistische Rechtswissenschaft sorge nun endlich für die Wiederentdeckung und Wiederbelebung der wahren „Teutsche[n] Rechts=Gelahrheit“529. Johann Stephan Pütter untersuchte in zahlreichen Studien die Verbreitung des römischen Rechts im ,deutschen Reich‘. Nach seiner Darstellung führte der „irrige Wahn[]“, das römische Recht sei mittels der Translationslehre als Kaiserrecht gleichsam einheimischen Ursprungs, dazu, dass man es für verbindlich gehalten habe. Pütter zeigt, wie sehr es seit dem 15. und 16. Jahrhundert mit einheimischen Rechten in Konflikt geraten konnte, lässt aber keinen Zweifel daran, dass die Lossagung von dem fremden Recht „die größte Zerrüttung“ nach sich ziehen würde.530 Beide Rechtsquellen, das römische Recht auf der einen Seite und das Herkommen, die Gewohnheiten sowie die althergebrachten Rechtsvorstellungen auf der anderen Seite, sollten gleichberechtigt nebeneinander stehen. „[I]m Zweifel“ müsste aber immer „für [die] Beybehaltung“ des älteren deutschen Rechts votiert werden,531 das dank der ständischen Struktur des Reichs in seiner Vielfalt bewahrt bleibe, nicht für abstrakte „Begriffe und Lehrsätze“532. Dass Goethe den Konflikt zwischen dem Bamberger Bischof und einem fränkischen Reichsritter mit diesem 528 Pütter: Litteratur des teutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 33. 529 Gundling: Collegium Historico-Literarivm, S. 1051. 530 Pütter: Neuer Versuch einer juristischen Encyclopädie und Methodologie, § 58, S. 32; ausführlich Schlie: Johann Stephan Pütters Reichsbegriff, S. 21 – 31. 531 Pütter: Litteratur des teutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 40. 532 Pütter: Neuer Versuch einer juristischen Encyclopädie und Methodologie, § 120, S. 69.

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Rechtsdiskurs auflädt, ruht ebenso auf der universitären Erforschung des öffentlichen und privaten Rechts, galt doch die Constitutio Criminalis Bambergensis (1507) als wesentliche Vorstufe zur Constitutio Criminalis Carolina Kaiser Karls V. – seit 1532 Reichsgesetz – und damit als wichtiger Schritt für die Rezeption des römischen Prozessrechts im Reich.533 2. Kaiser Maximilian und der „Wendepunkt der Staatengeschichte“534 : Schon der Reichshistoriker Gundling sympathisiert mit Kaiser Maximilian, da hier jene Friedens- und Rechtsordnung eingekehrt sei, die dem Reich im Mittelalter gefehlt habe.535 Auch Pütter setzt mit Maximilian I., dem Ewigen Landfrieden und der Gründung des Reichskammergerichts die entscheidende Zäsur in der Reichshistorie: „Unter Max dem I. erfolgte endlich die wichtigste und längst gewünschte Veränderung für die innere Wohlfahrt des ganzen Teutschen Reichs […].“536An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert sieht Pütter den ,aus Staaten zusammengesetzten Staat‘ des Reichs, „die doppelte Verfassung“537 in ihrer gegenwärtigen Form entstehen, da die Reichsstände nun die vollständige Landeshoheit (ius terrotoriale) erlangt hätten, die der Westfälische Frieden nurmehr bestätigte. Mösers Epoche der ,glücklichen Landeshoheit‘ entspricht dem weitestgehend. Goethe freilich scheint in dessen Sinne dem Mittelalter mehr Eigenwert beizumessen, als es bei den Reichshistorikern gewöhnlich der Fall war.538 3. Gegenwärtige Reichspolitik: Die Idealisierung des Fehdewesens der ersten Fassung tritt in der zweiten Fassung des Dramas etwas zurück, während sich die ,reichspublicistische‘ Grundierung verstärkt. Zwischen beiden Fassungen liegen die Erfahrungen mit Reichspolitik und Reichsrecht, die Goethe als Praktikant am Reichskammergericht in Wetzlar 533 Vgl. stellvertretend: Gerstlacher, Carl Friedrich: Corpus iuris Germanici publici et privati […], Bd. 1., 2. Aufl. Frankfurt/Leipzig 1786, Kap. 7 („Peinliche Gerichtsordnung“), S. 324 – 367. 534 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 815. 535 Vgl. Hammerstein: Jus und Historie, S. 261. 536 Pütter: Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Bd. 1, S. 307; Pütter, Johann Stephan: Vollständigeres Handbuch der Teutschen Reichshistorie, Tl. 3, Bd. 2: Neuere Geschichte von Maximiliano I. bis 1761, Göttingen 1762; Pütter, Johann Stephan: Grundriß der Staatsveränderungen des Teutschen Reichs, Göttingen 1795, S. 171: Drittes Buch: Neuere Geschichte von Maximilian dem I. bis auf Franz den II. 1493 – 1794. Erste Abtheilung bis auf den Westphälischen Frieden 1493 – 1648. 537 Pütter, Johann Stephan: Beyträge zum Teutschen Staats= und Fürsten=Rechte, Bd. 1, Göttingen 1777, S. 189. 538 Vgl. Welker: Rechtsgeschichte als Rechtspolitik, S. 238 – 251.

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sammelte. Rückblickend lobt er in Dichtung und Wahrheit das Visitationsprojekt Josephs II., das die Korruption beenden und eine Grundlage für eine umfassende Reform der Reichsgerichtsbarkeit bieten sollte.539 Als er „nach Wetzlar“ ging, „war die Visitation schon einige Jahre im Gange, die Beschuldigten suspendiert, die Untersuchung weit vorgerückt […].“540 Die medial inszenierte Visitation wurde weithin wahrgenommen – Wielands Teutscher Merkur ist dafür ein Beispiel unter vielen.541 An sie band sich die Aussicht auf einen Wandel nicht nur der Reichsinstitutionen, sondern des ganzen Reichsverbands. Der wachsende „historische[] und nationale[] Gehalt“542 in Goethes Drama rührt vielleicht aus diesem Kontext, zumal 1772 – 1774 die spätere Enttäuschung über den Zusammenbruch der Visitation (1776) noch nicht abzusehen war.543 Die idealtypische Reduktion der politisch-historischen Welt, in der Götz von Berlichingen spielt, auf zwei Staatssysteme (,Faustrecht‘, ,Lehensfeudalismus‘ = mittelalterliches Reich versus ,Absolutismus‘, ,Hof‘ = neuzeitliches Reich) bzw. auf zwei gegensätzliche Rechtsauffassungen (,Gewohnheitsrecht‘ versus ,älteres Naturrecht‘ oder ,germanisches‘ versus römisches Recht) hat dazu geführt, dass die spezifisch reichspolitische Qualität des Dramas meist übersehen wurde. Sie erschöpft sich nicht in der Kritik am Absolutismus.544 Mit Blick auf den Reichskontext, die Reichs539 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 564. 540 Ebd., S. 565; vgl. auch die Briefe: Goethe an Johann Christian Kestner, 6. Okt. 1772, Nr. 99, in: WA, Abt. IV, Bd. 2, S. 29: „Ists denn wahr daß ihr noch hundert Jahr in Wetzlar bleibt man sagt im Publiko, die Visitation ginge wieder bald zusammen endigte mit denen Suspensis, drauf rückte die zweyte Klasse ein, und Hanover bleibt da! – Es ist nicht des Reichs (wegen) dass michs kümmert.“ Goethe geht es natürlich schmeichelnd darum, wie lange Kestner und seine Familie in Wetzlar bleiben. Goethe an Johann Christian Kestner, Dez. 1772, Nr. 112, in: WA, Abt. IV, Bd. 2, S. 43 f. 541 Anonymus: Politische Nachrichten, in: TM 1 (1773), S. 282 f. Zum Scheitern der Visitationskommission: Anonymus: Politische Nachrichten, in: TM 2. Viertelj. (1776), S. 310; dazu allgemein: Baumann, Anette/Eichler, Anja (Hrsg.): Die Affäre Papius. Korruption am Reichskammergericht, Petersberg 2012; AmendTraut, Anja/Baumann, Anette/Wendehorst, Stephan/Wunderlich, Steffen (Hrsg.): Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis, München 2012. 542 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 605. 543 Ebd., S. 573. 544 Die staatstheoretisch bipolaren Interpretationen des Dramas wurden genauso oft kritisiert wie fortgeschrieben. Es ist erstaunlich, wie stark gerade hier an Begriffen festgehalten wird (Feudalismus; Absolutismus), die in der historischen Forschung längst bezweifelt werden und eben auch die nuanciertere Beurteilung Goethes verfehlen. Einen Begriff wie ,Reichsreform‘ sucht man hingegen in aller Regel

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kammergerichtsvisitation, vor allem aber auf Goethes Studium des Reichsstaatsrechts wird im Folgenden das im Einzelnen meist Bekannte zugespitzt und der politischen Dimension im Ganzen eine neue Facette abgewonnen. Drei Reichsvarianten (und damit auch drei Rechtsauffassungen) sind im Drama, so die These, vertreten: 1. Ein mittelalterliches, monarchisches Reich, bestehend aus der personellen Treuebeziehung zwischen Kaiser und Vasallen: das Reich als vergangenes Ideal. 2. Ein modernes, korrumpiertes Reich, das aus nur lose verbundenen eigennützigen und despotischen Gliedern besteht: das gegenwärtige Reich im Modus der Kritik. 3. Eine ,moderne‘ Friedensordnung, die in der Eintracht von Kaiser und Reichsständen und einer funktionsfähigen Rechtsordnung begründet ist: das gegenwärtige Reich im Modus der Utopie.545

vergebens. Das Reich besitzt in den Interpretationen nach dem Zeitalter Götzens nur noch „formalrechtlich[en]“ Status: Willems, Marianne: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang. Studien zu Goethes ,Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***‘, ,Götz von Berlichingen‘ und ,Clavigo‘, Tübingen 1995, S. 120 – 258, hier S. 139; die starre, undialektische Opposition zweier Reichs- und Rechstvarianten findet sich sogar in einer auf das Reichsbewusstsein dieser Generation hinweisenden Studie: Reiss: Goethe, Möser und die Aufklärung, S. 156 – 161. Weitere Beispiele für diese Opposition: Van Ingen, Ferdinand: Aporien der Freiheit – Goethes Götz von Berlichingen, in: Verlorene Klassik? – Ein Symposium, hrsg. v. Wolfgang Wittkowski, Tübingen 1986, S. 1 – 23; Woesler, Winfried: Rechts- und Staatsauffassungen in Goethes ,Götz von Berlichingen‘, in: Sturm und Drang. Geistiger Aufbruch 1770 – 1790 im Spiegel der Literatur, hrsg. v. Bodo Plachta/Winfried Woesler, Tübingen 1997, S. 105 – 120; Wilson, W. Daniel: Der junge Goethe – ein politischer Rebell? Opposition versus Fürstendienst in ,Götz von Berlichingen‘ und kleineren Frühwerken, in: Goethe: neue Ansichten, neue Einsichten, hrsg. v. Hans-Jörg Knobloch/Helmut Koopmann, Würzburg 2007, S. 11 – 36. 545 Auch auf diese Reichsvariante wurde gelegentlich hingewiesen. So ohne Textanalyse knapp: Burgdorf: Goethes ,Götz von Berlichingen‘. Ohne Kenntnis des ,reichspublicistischen‘ Hintergrunds allein mit den bekannten Möser-Bezügen, allerdings ohne Mösers Reichsbild zu treffen: Lange, Horst: Goethe and Möser Reconsidered, in: Searching for Common Ground: Diskurse zur deutschen Identität 1750 – 1871, hrsg. v. Nicholas Vazsonyi, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 141 – 159, hier S. 158 f.

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2.4.2 Götz und Weislingen Die Grundkonstellation des Dramas ist gut bekannt. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass Weislingen und Götz den ungleichen Brüderpaaren des Sturm und Drang ähneln.546 Weislingen ist mehr als nur ein ,Höfling‘, er gehört nicht von vornherein derselben Intrigantenfamilie an wie Wurm aus Kabale und Liebe, ist er doch selbst ursprünglich ein Ritter vom Schlage Götz’.547 Anders als sein Standesgenosse votiert er jedoch für die ,Zukunft‘, und das heißt für die Fürstenherrschaft. Sein Gewissenskonflikt drückt sich in seiner emotionalen Zerrissenheit aus: der Liebesbindung zu Maria, Götz’ Schwester, auf der einen Seite und dem Begehren nach Agnes, der verführerischen Despotin am Hof des Bischofs, auf der anderen Seite. Im ersten Gespräch zwischen Götz und Weislingen wird die politische Konstellation beschrieben: Weislingen imaginiert ein Reich, das aus Fürsten besteht, die sich für das Gemeinwohl des ganzen Deutschlands einsetzen. Wenn nun auf der andern Seite unsers teuren Kaisers Länder der Gewalt des Erbfeindes ausgesetzt sind, er von den Ständen Hülfe begehrt, und sie sich kaum ihres Lebens erwehren; ist’s nicht ein guter Geist der ihnen einrät auf Mittel zu denken Teutschland zu beruhigen, die Staatsverhältnisse näher zu bestimmen, um einem jeden, Großen und Kleinen die Vorteile des Friedens genießen zu machen.548

Er sagt hier nichts anderes als zahlreiche Geschichtsschreiber des 18. Jahrhunderts: Durch das starke Engagement des Kaisers außerhalb des Reichs (hier: Türkenkrieg) sei er nach innen geschwächt worden, Desorganisation war die Folge. Aber – Bonum-durch-Malum – dies bewirkte die Stärkung der Stände, welche nun über die Ergebnisse der Reichsreform für Ruhe und Ordnung im Reich sorgen. Im Kern stehen die positiven und negativen Folgen der Landeshoheit vor dem Hintergrund eines neu organisierten Reichs zur Debatte. Weislingen glaubt an ein solches Idealreich von starken Ständen unter dem friedlichen Dachverband der Reichsverfassung – „das Reich in der blühendsten Ruhe und Glückseligkeit“549 – und 546 Vgl. zur Weislingen-Figur als ,Umworbenen‘: Marquardt, Marion: Vom ,letzten Ritter‘. Zur Kritik des Rechtsstaats in Goethes ,Götz von Berlichingen‘, in: Kritische Fragen an die Tradition. Festschrift für Claus Träger zum 70. Geburtstag, hrsg. v. ders./Uta Störmer-Caysa/Sabine Heimann-Seelbach, Stuttgart 1997, S. 397 – 428, hier S. 416 f.; Willems: Das Problem der Individualität, S. 238 – 258. 547 Goethe: Götz, in: MA, Bd. 1,1, S. 565. 548 Ebd., S. 566. 549 Goethe: Götz (1. Fassung), in: MA, Bd. 1,1, S. 441.

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ignoriert dabei die andersgeartete Realität. Götz vertritt zwar eine gegensätzliche Auffassung, attestiert aber: „Ja! Ja! Ich versteh! Weislingen, wären die Fürsten wie ihr sie schildert, wir hätten alles, was wir begehren. Ruh und Frieden!“550 Der Ritter hält dem friedlichen ständischen Reichsbild die Realität entgegen: Den Fürsten sei es nicht um Ruhe und Frieden zu tun, sondern um ihren eigenen Vorteil – jeder versuche nur seinen Teil aus dem Ganzen zu reißen. Auch Götz spielt unverkennbar auf die Reichsreform an, die er als Produkt fürstlicher Einflüsterung brandmarkt: Und mit unserm Kaiser spielen sie auf eine unanständige Art. Er meints gut, und möchte gern bessern. Da kommt denn alle Tage ein neuer Pfannenfliker, und meint so und so. Und weil der Herr geschwind was begreift, und nur reden darf um tausend Hände in Bewegung zu setzen, so meint er, es wäre auch alles so geschwind und leicht ausgeführt. Nun ergehn Verordnungen über Verordnungen, und wird eine über die andere vergessen, und was den Fürsten in ihren Kram dient, da sind sie hinter her, und gloriieren von Ruh und Sicherheit des Staats, bis sie die Kleinen unterm Fuß haben.551

Im Gegensatz zu Weislingen arbeitet er die negative Seite der Landeshoheit und der Reichsreform heraus: Nicht Frieden und Gemeinwohl seien die Folgen, sondern landesherrlicher Despotismus und ständischer Eigennutz. Mit den Worten des Kaisers aus der ersten Fassung des Dramas: „Teutschland, Teutschland, du siehst einem Moraste ähnlicher als einem schiffbaren See.“552 Götz beschwört dagegen ein unaufhaltsam vergangenes Reich, jenes vor der Reform liegende „Teutschland“, das klar von dem rechtlich fixierten ,Reichssystem‘ späterer Jahrhunderte unterschieden ist. Allein die personelle Bindung an das Oberhaupt zählt, „Treu und Dienst“ gegenüber dem Kaiser und Liebe zu Gott.553 Die Handlung von Goethes Götz ist am „Wendepunkt der Staatengeschichte“554 lokalisiert, die Reichsreform greift noch nicht und die persönliche Treuebindung zum Kaiser nicht mehr: „Es ist eurer Maj. nicht unbekannt“, sagt der Erzkanzler und Kurfürst von Mainz, „inwiefern der Landfriede, die Achtserklärungen, das Kammergericht bisher diesem Übel abgeholfen hat. wir sind noch wo wir waren, und vielleicht übler dran.“555 550 551 552 553 554 555

Goethe: Götz, in: MA, Bd. 1,1, S. 566. Ebd. Goethe: Götz (1. Fassung), in: MA, Bd. 1,1, S. 439. Goethe: Götz, in: MA, Bd. 1,1, S. 567. Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 815. Goethe: Götz (1. Fassung), in: MA, Bd. 1,1, S. 438.

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2.4.3 Kaiser ohne Reich Dem Titelhelden gehört die ungeteilte Sympathie des Dramas, doch beruht sie nicht auf politisch-historischer Vorbildlichkeit, sondern auf seinem kraftvollen Charakter, der an den profunden Wandlungen in der Staatsund Gesellschaftsordnung zerbricht.556 Seine kämpferische Natur, seine unumstößliche Treue zum Kaiser und die allen Gefahren trotzende Tapferkeit eines Individuums, das sich in keine Schranken, außer die selbst gesetzten, weisen lässt, lösten Begeisterungsstürme der Zeitgenossen aus. Er ist nicht nur „wohlmeinende[r] Selbsthelfer[]“557 in eigener, standesgemäßer Sache, sondern zugleich ein exemplarischer Tyrannenfeind und Schützer der Schwachen.558 Politisch gehört der Reichsritter jedoch einer Zeit an, die für das 18. Jahrhundert bereits weit in die Ferne gerückt war. Niemand wusste das besser als ein Student des ius publicum romano-germanicum. Für Goethes Identifikation mit den politischen Zielen seines Helden spricht recht besehen nichts.559 Auch Justus Mösers FaustrechtAufsatz lässt sich besser als Elegie auf ein Heldentum verstehen, das im Zeitalter uniformer stehender Heere unwiederbringlich verloren ist. Selbst Homer wäre nicht imstande, „drei Personen daraus in ihrem eigenen Charakter handeln oder streiten zu lassen“560, schreibt er und antizipiert damit das berühmte Marx/Jünger-Diktum, eine Ilias sei mit Schießpulver unmöglich.561 Der tapfere Held Götz von Berlichingen ist deshalb konsequenterweise der vielfältigen Rechtsordnung des Mittelalters zugeordnet. Seine Würde leitet er aus seiner Reichsunmittelbarkeit ab. Er sei „nur dem Kaiser Untertan“562, heißt es immer wieder. Götz bezieht sich damit auf die ,deutsche 556 Vgl. Martini, Fritz: Goethes ,Götz von Berlichingen‘. Charakterdrama und Gesellschaftsdrama, in: ders.: Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte, Stuttgart 1979, S. 104 – 128; Ingen: Aporien der Freiheit; Willems: Das Problem der Individualität, S. 204 – 216. 557 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 445. 558 Mit den Worten Bruder Martins: ein „Mann, den die Fürsten hassen, und zu dem die Bedrängten sich wenden“, Goethe: Götz, in: MA, Bd. 1,1, S. 556. 559 So bereits: Ingen: Aporien der Freiheit, S. 14 f.; Willems: Das Problem der Individualität, S. 165 – 176. 560 Möser, Justus: Von dem Faustrechte, in: Nützliche Beilagen zum Osnabrückischen Intelligenzblatt, 14. und 28. April 1770. Wieder gedruckt in den Patriotischen Phantasien: Möser: Der hohe Styl der Kunst unter den Deutschen, in: HKA, Bd. 4, S. 263 – 268, hier S. 264. 561 Vgl. Jünger, Ernst: Autor und Autorenschaft, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 19, Stuttgart 1999, S. 9 – 420, hier S. 248. 562 Goethe: Götz, in: MA, Bd. 1,1, S. 565.

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Freiheit‘ genannte ständische Libertät, die auch für einen Fürsten wie den Bamberger Bischof die Grundlage der Territorialherrschaft bildete. Von den Reichsrittern, die noch im 18. Jahrhundert in durchaus nennenswertem Umfang die Gestalt der Reichsverfassung prägten, wiewohl sie weder Sitz noch Stimme am Reichstag besaßen, ist der Ritter mit der eisernen Hand jedoch deutlich geschieden. Im Gegensatz zu ihnen und den Fürsten des Reichs verweigert sich Götz den historischen Entwicklungen, dem „notwendigen Gang des Ganzen“563. Angermeier betont, dass sich die rechtliche Beschränkung der zentralen Gewalt im Reichsverband komplementär zur Verdichtung auf der Ebene der einzelnen Territorien im Reich verhält. Reichsreform und Territorialisierung sind zwei Seiten einer Medaille.564 Götz und seinesgleichen halten an einer anachronistischen Lebensform fest: Sie wollen mithilfe kleinräumiger Einungen den Frieden sichern und pochen auf völlige Unabhängigkeit. Der Integration in den Reichsverband verweigern sie sich, da sie fürchten, ihre Selbstständigkeit zugunsten größerer Territorialherrschaften aufgeben, auf jeden Fall aber ihre persönliche Treuebeziehung zum Kaiser mit einer gesetzmäßigen, trockenen Reichsverfassung austauschen zu müssen. In der Verhandlung zu Heilbronn spricht der Schreiber Götz vor: Ich Götz von Berlichingen bekenne öffentlich durch diesen Brief. Daß da ich mich neulich gegen Kaiser und Reich rebellischer Weise aufgelehnt – Götz: Das ist nicht wahr. Ich bin kein Rebell, habe gegen Ihro Kaiserliche Majestät nichts verbrochen, und das Reich geht mich nichts an […] […]. Hab ich wider den Kaiser, wider das Haus Österreich nur einen Schritt getan! Hab ich nicht von jeher durch alle Handlungen gewiesen, daß ich besser als einer fühle was Deutschland seinem Regenten schuldig ist, und besonders was die Kleinen, die Ritter und Freien ihrem Kaiser schuldig sind!565

Götz gerät in ein unauflösliches politisches Dilemma: Trotz oder besser aufgrund seiner Kaisertreue opponiert er gegen das neue verrechtlichte Reichssystem – nichts anderes steht hinter dem Auftreten der Reichsexekution und der kaiserlichen Kommission. Die Reichsreform beginnt zu greifen, hat aber noch nicht die moralische Integrität der alten Ordnung erlangt. „Im Namen des Kaisers ihr Wort nicht zu halten!“, ruft Götz nach seiner Festnahme entsetzt, hatte man ihm und seinen Männern doch ritterliche Haft versprochen und nicht den entehrenden Kerkerturm.566 Die 563 564 565 566

Goethe: Zum Shäkespears Tag, in: MA, Bd. 1,2, S. 413. Vgl. Angermeier: Begriff und Inhalt der Reichsreform. Goethe: Götz, in: MA, Bd. 1,1, S. 624. Kursivierung M. H. Ebd., S. 621.

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Ratsherren von Heilbronn richten ebenso nicht nach Recht und Gesetz, sondern auf Anweisung der kaiserlichen Räte. Am Reichstag zu Augsburg hatte Weislingen Kaiser Maximilian überredet, einen Reichstagsbeschluss zu erwirken, der vorsieht, Berlichingen und Selbitz gefangen zu nehmen und sie ,Urfehde‘ schwören zu lassen.567 Reichsexekution und Reichskommission sind daher zwar reichsrechtlich legitimiert, sie sind aber letztlich Puppen im höfischen Intrigenspiel. Götz weigert sich allerdings vor allem deswegen, den Urfehdebrief zu unterzeichnen, weil er das Fehdeverbot nicht als Gesetz seines Kaisers akzeptiert: „Ich bin in einer ehrlichen Fehd begriffen.“568 Der Grundkonflikt liegt damit in Götz’ anachronistischem Staatsverständnis, nicht in der Ungerechtigkeit des Systems: Hinter dem Disput mit den kaiserlichen Kommissaren und den Ratsherrn von Heilbronn versteckt sich das Dilemma des Reichsritters, in dem vorsitzenden kaiserlichen Rat das „Ebenbild des Kaisers“ anerkennen zu müssen, dessen Handeln jedoch allein als Missbrauch der kaiserlichen Gewalt zu verstehen.569 Er ist nur bereit, direkten Befehlen des Kaisers und des Hauses Österreich Folge zu leisten, nicht aber Gesetzen eines Systems, das lediglich im Namen von ,Kaiser und Reich‘ handelt (,Das Reich geht mich nichts an‘). Während Götz der kaiserlichen Majestät ungetrübt die Treue halten will, soll ihn der Hauptmann der Reichsexekution, nach den berühmten Worten, „im Arsch lecken“570. So gesehen beschreibt der Bischof von Bamberg die Landfriedensbrecher durchaus korrekt: „Das Reich zu beruhigen, die Fehden abzuschaffen und das Ansehn der [Reichs-]Gerichte zu befestigen“, sei auch des Kaisers höchstes Ziel. „Franken, Schwaben, der Oberrhein und die angrenzende Länder, werden [jedoch] von übermütigen und kühnen Rittern verheeret: Sickingen, Selbiz mit dem einen Fuß, Berlichingen mit der eisernen Hand, spotten in diesen Gegenden des Kaiserlichen Ansehens – […].“571 Der Komet als kosmologische Metapher für eine kommende ,Revolution‘ im alten, kopernikalischen Sinne zeigt die Unausweichlichkeit von Götzens Untergang.572 Der Tod des Kaisers bedeutet nicht den Untergang des Reichs, sondern den Abschied vom längst Vergangenen. Götz ist 567 Ebd., S. 599. 568 Ebd., S. 625. 569 Ebd., S. 624. Vgl. Willems: Das Problem der Individualität, S. 158 – 180; Willems stellt die Position des Kaisers in der zweiten Fassung passend als Schnittpunkt beider Welten dar: ebd., S. 176 – 179. 570 Goethe: Götz, in: MA, Bd. 1,1, S. 615. 571 Ebd., S. 571 f. 572 Ebd., S. 633.

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aufgrund seiner fehlenden Anpassung an die neue Zeit zum „ehrlichen Verbrecher“573 geworden. Maria benennt den Konflikt schon zu Beginn des Dramas in aller Deutlichkeit: „Die rechtschaffensten Ritter begehen mehr Ungerechtigkeit als Gerechtigkeit auf ihren Zügen.“574 Kaufleute aus Nürnberg bitten den Kaiser um Hilfe gegen die Raubzüge der Reichsritter.575 Der Held muss am Ende selbst erkennen, dass er sich „überlebt“576 hat. Der Schritt an die Spitze der Bauernhaufen ist schließlich der endgültige Rechtsbruch: Der edle Ritter ist wider Willen zum Mordbrenner herabgesunken. Götz‘ negative Prophezeiung einer düsteren Zukunft ist kein Verdikt des Dichters über drei Jahrhunderte Reichsgeschichte.577 Vielmehr ist sie als Warnung zu lesen. Der ,Gang des Ganzen‘ ist damit keineswegs rundheraus verworfen: In der zweiten Fassung stirbt Götz sogar an einem Frühlingstag.578 2.4.4 Reich ohne Kaiser Mit der topischen Fürsten- und Hofkritik korrespondiert das Negativbild eines Reichsverbands, der nurmehr ,absolutistische‘ Fürsten vereint, denen das ,Gemein Beste‘ der Reichsordnung nur als Deckmantel ihrer eigennützigen Interessen dient.579 Das Reich besteht nicht aus der Eintracht von Kaiser und Reichsständen, sondern aus der fürstlichen Opposition gegen das Oberhaupt und dem Kampf der Glieder untereinander.580 Nicht 573 574 575 576 577 578

Frankfurter gelehrten Anzeigen, 29. August 1773, in: ebd., S. 960. Goethe: Götz, in: MA, Bd. 1,1, S. 560. Ebd., S. 597 f. Ebd., S. 652. Ebd., S. 652 f. Ebd., S. 651: „Ein schöner Frühlingstag“. Vgl. Marquardt: Vom ,letzten Ritter‘, S. 426; Ingen: Aporien der Freiheit, S. 18 – 23; Martini sieht darin allerdings eine Rettung des Menschlichen vor der Geschichte in die Innerlichkeit, vgl. Martini: Goethes ,Götz von Berlichingen‘, S. 124 – 128. 579 Zur Fürsten- und Hofkritik: Neuhaus, Volker: Johann Wolfgang von Goethes ,Götz von Berlichingen‘, in: Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen, hrsg. v. Walter Hinck, Frankfurt a.M. 1981, S. 82 – 100; Bürger, Christa: Goethes ,Götz von Berlichingen‘ und die Jugendrevolte von 1770, in: Allerhand Goethe, hrsg. v. Dieter Kimpel/Jörg Pompetzki, Frankfurt a.M. 1985, S. 207 – 220. Im Hintergrund steht das Deutungsschema aus dem Bürgerlichen Trauerspiel. Vgl. die Kritik an der Forschung und ihrer Gegenüberstellung von höfischer und ritterlicher Welt: Willems: Das Problem der Individualität, S. 122 – 133 und S. 152 – 158. 580 In beiden Fassungen des Dramas erwähnt der Fürstbischof von Bamberg den Kampf der Fürsten untereinander: „Würtenberg hat einen Alten Zahn auf mich.“

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Ehrlichkeit, sondern Betrug, nicht Gemeinsinn, sondern Eigennutz sind die Kennzeichen dieser Gesellschaft. Das Interesse der Fürsten wird nicht einseitig negativ gefärbt. Auch der Bischof tritt zumindest nominell für „ein Reich in Ruhe und Frieden“581 ein. In diametralem Kontrast zu Götz brechen die Fürsten aber fundamental mit dem Vergangenen. Sie sorgen allein für den Ausbau der Landeshoheit und das Wohl ihres Fürstentums. Versinnbildlicht wird das in der Begeisterung des Bischofs für das römische Recht. Bereits in dem Namen des Rechtsgelehrten – Olearius, die latinisierte Form des deutschen Oehlmann – erhält die neu geschaffene territoriale Macht den Charakter der Selbstverleugnung. Goethes Darstellung wandelt hier bei aller Vereinfachung auf den Spuren der ,herrlichen Germanisten‘. Wenn dem römischen Recht in Olearius’ Rede die Schöffen Frankfurts gegenübergestellt werden, so fühlt man sich ex negativo an die patriotischen Töne aus der Kopp-Rezension erinnert: „So sind die Schöffen lebendige Archive, Chroniken, Gesetzbücher, alles in Einem, und richten nach altem Herkommen und wenigen Statuten ihre Bürger, und die Nachbarschaft.“582 Die eigensüchtige und intrigante Hofkultur, repräsentiert durch die Verführungskünste der Amazonenfigur Adelheid, ist Ausdruck eines Geistes, der sich mehr am römischen Recht und dem französischen Vorbild orientiert als an der eigenen Geschichte und Identität. Adelheids Verlogenheit ist vor allem deshalb so dämonisch, weil sie Weislingen mit dem positiven Reichskonzept von Frieden und Eintracht ködert, ohne es freilich damit ernst zu meinen. Sie gibt sich entsetzt: Bei meinem Eid, ihr verstellt euch! Was habt ihr versprochen? Und wem? Einem Mann, der seine Pflicht gegen den Kaiser und das Reich verkennt, in eben dem Augenblick Pflicht zu leisten, da er durch eure Gefangennehmung in die Strafe der Acht verfällt. Pflicht zu leisten! Die nicht gültiger sein kann, als ein ungerechter gezwungener Eid. […]. Ein Feind des Reichs zu werden, ein Feind der bürgerlichen Ruh und Glückseligkeit! Ein Feind des Kaisers! Geselle eines Räuber, du Weislingen mit deiner sanften Seele.583

Kaiser und Reich dienen hier lediglich zur Tarnung der amoralischen Hofintrigen. Dieser Welt wird durch den Tod Weislingens und Adelheids ebenso eine Absage erteilt, wie dem Anachronismus Götzens durch das Scheitern des Helden. Der Kaiser stellt resigniert fest, dass Frieden und Goethe: Götz (1. Fassung), in: MA, Bd. 1,1, S. 426. In der zweiten Fassung verallgemeinert: „Die weltlichen Stände, meine Nachbarn, haben alle einen Zahn auf mich.“ Goethe: Götz, in: MA, Bd. 1,1, S. 586. 581 Ebd., S. 569. 582 Ebd., S. 570. 583 Ebd., S. 588.

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Eintracht im Reich unmöglich seien, „weil kein Fürst im Reich so klein ist, dem nicht mehr an seinen Grillen gelegen wäre als an meinen Gedanken“584. Götz findet dafür ein einprägsames Bild: Der Kaiser müsse „den Reichsständen die Mäuse fangen, inzwischen die Ratten seine Besitztümer annagen. Ich weiß er wünscht sich manchmal lieber tot, als länger die Seele eines so krüpplichen Körpers zu sein.“585 Ohne Gemeingeist zerfällt die Summe der Teile. In Dichtung und Wahrheit beschreibt Goethe die Enttäuschung über das Verhalten der Fürsten während der Reichskammergerichtsvisitation: Der „Unzusammenhalt des Ganzen, das Widerspiel der Teile kamen fortwährend zum Vorschein“, da die „Fürsten unter einander sich die Absicht vertraulich mitgeteilt hatten: man müsse sehn, ob man nicht, bei dieser Gelegenheit, dem Oberhaupt etwas abgewinnen könne?“586 2.4.5 Kaiser und Reich Goethe hat die Wetzlarer Erfahrung bekanntlich in die zweite Fassung des Dramas eingebaut. Götz und Selbitz treffen unvermittelt auf einen Bauern und dessen frischgebackenen Schwiegersohn. Die beiden hatten um ein Stückchen Land gestritten, „acht Jahre“ vor dem Reichskammergericht prozessiert und dafür ungeheure Bestechungsgelder an den „Assesor Sapupi“ gezahlt. Das Urteil schließlich war die aufgewendeten Kosten nicht wert.587 Nach dem Verlust von Geld und Zeit gelangten beide zu einer außergerichtlichen Einigung: der Hochzeit des juristischen Gegners mit der Tochter des Bauern. Der Prozess ist unverkennbar aus dem Umfeld der Besitzstreitigkeiten genommen, die im 17. und 18. Jahrhundert einen gewichtigen Teil der Reichskammergerichtsprozesse ausmachten. Sapupi ist bekanntlich ein Anagramm von Johann Hermann Franz von Pape (Papius), nimmt also direkt den wegen Bestechlichkeit von der Reichskammergerichtsvisitation suspendierten Assessor in Wetzlar aufs Korn.588 Ganz ohne Zweifel werden hier die Langsamkeit des Gerichts, vor allem aber die hohen Kosten für den ,gemeinen Mann‘ angeprangert. Damit endet die Szene jedoch nicht: Ausgerechnet die Repräsentanten des ,mittelalterlichen‘ Reichs setzen durchaus ihre Hoffnung auf die kaiserliche 584 585 586 587 588

Ebd., S. 597. Ebd., S. 617 f. Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 573. Vgl. Goethe: Götz, in: MA, Bd. 1,1, S. 596. Vgl. den Kommentar der Münchner Ausgabe: ebd., S. 977.

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Visitation. Das Beispiel ,Papius‘, das darf nicht übersehen werden,589 ist nicht etwa ein Beweis für die Handlungs- und Reformunfähigkeit des Reichs, sondern bezeugt ganz im Gegenteil einen weithin sichtbaren Stilwandel am obersten Reichsgericht, der die Reichsöffentlichkeit mit Hoffnung beseelte. Papius wurde wie die Assessoren Christian von Nettelbladt und Philipp Heinrich Reuss seines Amts enthoben und schließlich verurteilt. Die Reichskammergerichtsvisitation, die sich 1769 dem Fall zuwandte und ihn nach Unterbrechungen 1774 beendete, also genau während Goethe am Götz arbeitete (1771 – 1773), inszenierte das Urteil gegen Papius als öffentliche „Genugthuung“590. Die „Integrität der Reichskammergerichtsangehörigen schien nun über jeglichen Verdacht erhaben. Das eigentliche Projekt der Reichsreform konnte in Angriff genommen werden.“591 Just diese Hoffnung spiegelt die Szene in dem einmütigen Ratschlag der reichsritterlichen Helden wider: Selbitz weist den Bauern darauf hin, dass in Wetzlar „jährlich Kaiserliche Visitationen“ seien. Götz fordert unumwunden: „Macht euch auf nach Speyer, es ist eben Visitationszeit, zeigts an, sie müssens untersuchen und euch zu dem eurigen helfen.“592 Selbitz betont, dass die Summe „wohl einen Versuch wert“ sei, woraufhin Götz eine direkte Verbindung zwischen seiner ritterlichen Selbsthilfe und dem modernen Weg der Rechtsklage herstellt: „Bin ich wohl eher um des vierten Teils willen ausgeritten.“593 Er selbst, so lässt sich der Satz paraphrasieren, habe als Raubritter früher für einen weit geringeren Streitwert mit seinem Leben gefochten. Die Visitation anzurufen sei daher ein vergleichsweise geringer Aufwand, sich Recht zu verschaffen – ein Weg also, den man getrost beschreiten sollte. „Wir wollen, gehs, wie’s geh“594, schließen Bräutigam und Brautvater das Gespräch verhalten optimistisch. 589 In der Forschung wird dieser Aspekt immer unterschlagen, z. B. „[…] the play makes unmistakably clear that the weake and corrupt Reichskammergericht is unable to give them legal recourse.“ Lange: Goethe and Möser Reconsidered, S. 158. 590 Zit. n. Denzler, Alexander: Die Reichskammgerichtsvisitation, in: Die Affäre Papius. Korruption am Reichskammergericht, hrsg. v. Anette Baumann/Anja Eichler, Petersberg 2012, S. 17 – 27, hier S. 17. 591 Baumann, Anette: Korruption am Reichskammergericht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Die Affäre Papius. Korruption am Reichskammergericht, hrsg. v. Anette Baumann/Anja Eichler, Petersberg 2012, S. 7 – 15, hier S. 14. 592 Goethe: Götz, in: MA, Bd. 1,1, S. 596. 593 Ebd. 594 Ebd.

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Götz’ Wort, „wenn ich ihm [Sapupi] über die Ohren dürfte“595, bietet die Brücke zu dem im Hintergrund des Dramas stehenden Idealreich. Ein Reich in dem die strukturellen Erfordernisse der Moderne mit der Ehrlichkeit, Tugend und dem Gemeinsinn der idealen Reichsritter zusammenfallen. Goethe verwendet mehrfach die Formel ,Kaiser und Reich‘, die sich so nicht in dem autobiographischen Werk seines Helden, wohl aber in den ,reichspublicistischen‘ Schriften findet.596 Die Bedeutung der aus dem Spätmittelalter kommenden Formel ist in der Forschung umstritten.597 Durch die rechtshistorische Brille des 18. Jahrhunderts wird man darin die dualistische und auf Konsens angewiesene Herrschaft des Kaisers und der Gesamtheit aller Reichsstände gesehen haben.598 Im Ideal, das hinter der Formel ,Kaiser und Reich‘ steckt, vereinen sich die zwei Reichskonzepte des Dramas: die reichsritterliche Tugend und Kaisertreue mit der Macht der Fürsten. Auch die unversöhnliche Opposition zweier Rechtsbezirke, des sogenannten germanischen Rechts gegenüber dem römischen Recht, lässt sich deshalb nicht sinnvoll aufrechterhalten. Die in der literaturwissenschaftlichen Forschung beständig wiederholte Meinung, Ersteres unterliege seit dem 16. Jahrhundert vollständig dem Zweiteren,599 widerspricht der Rechtspraxis und dem Aufschwung in der wissenschaftlichen Erforschung einheimischer Rechtsquellen wie des ,Reichsherkommens‘ seit dem 17. Jahrhundert. Für einen Studenten des ius publicum romano[!]-germanicum[!] wie Goethe war das Zusammenwirken des ,germanischen‘, einheimischen Rechts mit dem subsidiären römischen Recht eine Selbstverständlichkeit. Mit einem Wort: Das imaginierte Idealreich konnte im 18. Jahrhundert nur als Synthese der Welten des Olearius bzw. des Bischofs von Bamberg und des Götz’ vorgestellt werden. Im Drama ist von diesem Ideal nur an wenigen Stellen etwas zu spüren. Neben Weislingens oben zitierter Illusion ist vor allem Götz’ utopischer Traum zu nennen.600 Belagert und kurz vor dem Sieg der Reichstruppen, 595 Ebd. 596 Vgl. Mommsen: Die politischen Anschauungen, S. 59; Burgdorf: Goethes ,Götz von Berlichingen‘, S. 29. 597 Vgl. die Zusammenfassung der Forschungsliteratur: Krieger, Karl-Friedrich: König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter, München 2005, S. 103 f. 598 Vgl. Gotthard, Axel: Kaiser und Reich, in: Lesebuch Altes Reich, hrsg. v. Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal, München 2006, S. 80 – 86. 599 Borchmeyer: Goethe, S. 34; Marquard: Vom ,letzten Ritter‘, S. 408 ff. Eine „Vermittlung“ beider „Rechtsparadigmen“ sei „unmöglich“, ebd., S. 412. 600 Auf diese ,Utopie-Szene‘ wurde in der Forschung natürlich immer wieder hingewiesen, ohne allerdings den näheren Reichsreformhintergrund anzusprechen.

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hält der Ritter und Patriarch mit seiner Familie ein letztes Abendmahl. „Es lebe der Kaiser!“ und „Es lebe die Freiheit!“ sind seine Toasts. „Denn wir sehen im Geist unsere Enkel glücklich und die Kaiser unsrer Enkel glücklich. Wenn die Diener der Fürsten so edel und frei dienen wie ihr mir, wenn die Fürsten dem Kaiser dienen wie ich ihm dienen mögte.“601 Götz ergeht sich hier nicht in restaurativen Träumen. Von Fürsten ist die Rede, nicht von Rittern. Die Szene ist als Appell an die reichsunmittelbaren Stände aus Goethes Gegenwart zu verstehen. Sie ist nicht gegen das Reich des Landfriedens aus dem Eingangsgespräch gerichtet, sondern entspricht ihm geradezu. In der harmonischen Tischordnung der Familie des Helden spiegelt sich nicht sein mittelalterliches Rittertum, sondern vielmehr das Ideal der kurfürstlichen Tafel bei Krönungsfeierlichkeiten als Sinnbild der Einheit von Kaiser und Reich: Hab ich nicht unter den Fürsten treffliche Menschen gekannt, und sollte das Geschlecht ausgestorben sein! Gute Menschen, die in sich und ihren Untertanen glücklich waren. Die einen edlen freien Nachbar neben sich leiden konnten, und ihn weder fürchteten noch beneideten. […] Sollten wir nicht hoffen, daß mehr solcher Fürsten auf einmal herrschen können, und Verehrung des Kaisers, Fried und Freundschaft der Nachbarn, und der Untertanen Lieb, der kostbarste Familien Schatz sein wird der auf Enkel und Urenkel erbt.602

Götz’ Reichsrittertum verschmilzt hier für einen Moment mit dem Ideal eines guten, aufgeklärten, ,humanisierten‘ Fürstentums. Zugleich flackert die Vorstellung einer durch die Reichsverfassung gesicherten Eintracht in der Vielheit im historischen Kostüm der Burg ,Jaxthausen‘ auf. Zumindest vor dem geistigen Auge wird die „allgemeine Glückseligkeit“ sichtbar, an der Götz selbst nie teilhaben wird.603 Es ist, als würde der Ritter seinem ,Zwillingsbruder‘ Weislingen plötzlich doch recht geben. Meist gilt sie in der Forschung als restaurative Utopie: Martini: Goethes ,Götz von Berlichingen‘, S. 123; Bürger: Goethes ,Götz von Berlichingen‘, S. 212; Willems: Das Problem der Individualität, S. 217 – 225. Anderen gilt sie als Ideal der aufgeklärten ,Menschengesellschaft‘: Ingen: Aporien der Freiheit, S. 15 f.; Stauf: Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität, S. 388 f.; abwegig ist die These, es handle sich um einen „Angriff auf die klein- und ständestaatliche Fürstenherrschaft“ und die „Vision eines demokratischen, brüderlichen und monarchischen Volks- und Einheitsstaates“ als „künftiges deutsches Reich“, Schröder: Goethes ,Götz von Berlichingen‘, S. 119. 601 Goethe: Götz, in: MA, Bd. 1,1, S. 618. 602 Ebd., S. 618 f. 603 Ebd., S. 619.

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Keine Frage, die politischen Ziele des Dichters liegen nicht im mittelalterlichen Reich, nicht im Zeitalter des Faustrechts: Mit Justus Möser teilte Goethe die Ablehnung staatlicher Zentralisierung, und sie schlägt sich im Drama in der Idealisierung des mittelalterlichen Reichs nieder. Er teilte mit ihm aber auch die Akzeptanz der Reichsordnung von 1648, die sowohl die „glückliche Landeshoheit“604 der Fürstentümer festigte als auch die Landstände innerhalb der Territorien unter Garantie stellte. Daneben spielt vielleicht noch ein sehr viel reichsenthusiastischerer Gewährsmann als Vorbild des Götzschen Glückseligkeitstraumes eine Rolle: Friedrich Carl Moser.605 Dessen Utopie von der Eintracht innerhalb des Reichs liest sich wie die Kombination der Fürstenherrschaft mit den patriotischen Idealen des kaisertreuen Götz – ein nationalisierter und emotionalisierter Reichsverband. „Ein[en] Geist des Frieden und der Eintracht“, „unzerstörliche Liebe und Vertrauen“ möge „zwischen dem Kayser und den Ständen“ entstehen und „gegen die Reichs-Gerichte Verehrung und Gehorsam“ walten, schreibt Moser 1765.606 Goethe hatte die hier zitierte Schrift höchstwahrscheinlich, gewiss aber andere des Autors gelesen.607 Politisch konnte die Götz-Figur für das reglementierte und juridifizierte Alte Reich des 18. Jahrhunderts kein Vorbild mehr sein. Was die Sturm-und-Drang-Generation an dem Protagonisten des Dramas bewunderte, war dessen Enthusiasmus für die ,deutschen‘ Werte und sein ,warmer‘ Patriotismus. Ein anderer Reichsritter, Ulrich von Hutten, dessen Schriften Goethe parallel zur Arbeit am Götz las,608 wurde mit seinem patriotischen Kampf für die ,deutsche Freiheit‘ zu einer der Gallionsfiguren im Umfeld der Nationalgeistdebatte und des deutschen Nationalismus.609 Die mangelnde Vaterlandsliebe der Fürsten während der Koalitionskriege kontrastiert Christoph Martin Wieland später mit dem Gemeingeist der alten Reichsritter. Der historische Widerspruch zur entstehenden Landeshoheit wird getilgt. Für die reichspatriotische Figur Wilibald im Dialog „Was ist zu thun?“ können die Ritter so zum Vorbild aller unmittelbaren 604 Möser: Deutsche Geschichte, S. 173. 605 Schumann, Detlev W.: Goethe and Friedrich Carl von Moser: A Contribution to the study of ,Götz von Berlichingen‘, in: Journal of English and Germanic Philology 53 (1954), S. 1 – 22, hier S. 20 ff. Mit Hinweis auf die Schrift: Moser, Friedrich Carl: Was ist gut Kayserlich?, Gedruckt im Vaterland 1766. 606 Moser: (Ein aufgewärmter alter) Neujahrs=Wunsch an den Reichs=Tag zu Regensburg vom Jahr 1765, S. 307. 607 Goethe zu Moser: Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 84 f. 608 Vgl. ebd., S. 753. 609 Vgl. Herder: Hutten, in: FA, Bd. 2, S. 609 – 629.

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Stände aufsteigen – Wieland selbst nennt sie anderenorts die wahren „cives“610 der Reichsverfassung: Aber wem ist an der Integrität des Reichs, in so fern sie dermahlen in Gefahr ist, mehr gelegen, als eben dieser so zahlreichen Klasse von Rittern, die, genau zu reden, die eigentlichen Staatsbürger des teutschen Reichs sind, und, wenn sie für Einen Mann stünden, und der Heldengeist ihrer Vorfahren noch in ihrem Busen loderte, so viel zu Vertheidigung ihres Vaterlandes und ihrer Vorzüge vor dem Adel aller andern Völker des Erdboden thun könnten?611

Kaum einer aus Goethes Generation wollte ernsthaft in die Rechtsverhältnisse des Mittelalters zurück. In Dichtung und Wahrheit werden Fehde und Femegericht kritisch, Landfrieden und Reichskammergericht hingegen als große Errungenschaften dargestellt.612 Was von Fehderecht, Schöffengerichten und persönlicher Treue zu lernen ist, war genau jener ,deutsche‘ Charakter und Gemeingeist, der dem Reich des 18. Jahrhunderts zunehmend fehlte und den Wieland wie Friedrich Carl Moser von den Fürsten einforderten. Im Drama unterminiert Georg dergleichen Reichsblütenträume mit dem lakonischen Hinweis: „Da müßts viel anders werden.“613 Das Reichsideal blieb eine produktive Utopie – die Skepsis Goethes ist nicht zu übersehen. 2.4.6 Schönes Monstrum Goethes Zeitgenossen entging der Reichsbezug nicht. Inhaltlich wie formal galt ihnen das Drama als Vereinigung von Geschichte und Charakter des ,deutschen Reichs‘.614 Christian Heinrich Schmid und daran anschließend Wieland rühmten das Werk als „das schönste und interessanteste Monstrum“615. Beide spielten damit nicht nur auf Shakespeare an, für dessen Werke gelegentlich dasselbe Bild angeführt wurde, sondern unverkennbar 610 611 612 613 614

Wieland: Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten, in: GS, Bd. 4, S. 439. Wieland: Was ist zu thun?, in: PS, Bd. 3, S. 364. Vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 559. Goethe: Götz, in: MA, Bd. 1,1, S. 618. Schmids und Herders Zitat in diesem Kontext bereits bei: Burgdorf: Goethes ,Götz von Berlichingen‘, S. 51 f.; das Herder-Zitat in ähnlicher Form bei: Reiss: Goethe, Möser und die Aufklärung, S. 149. 615 Schmid, Christian Heinrich: Goethe, J. W. v.: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. Hamburg 1773, in: TM 3 (1773), S. 267 – 287, hier S. 267; Wieland, Christoph Martin: Goethe, J. W. v.: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. Hamburg 1773, in: TM 6 (1774), S. 321 – 333.

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auf Pufendorfs Monstrum-Verdikt: Wie das Reich nicht nach herkömmlichen Regeln der Staatslehre zu klassifizieren ist, so entzieht sich auch Goethes ,offene‘ Dramenform, die Vielfalt der Szenen und die schnellen Ortswechsel, den üblichen Kunstlehren. ,Monstrum‘, schreibt Johann Jacob Moser über die Reichsverfassung, „ist aber kein Schimpfnahme. Es kann ein Monstrum so schön oder schöner seyn, als eine andere Creatur in ihrer Art, z. E. ein Riese ist in seiner Art ein Monstrum.“616 Im Triumph über die tyrannischen Kunstregeln verbarg sich der Triumph über den fürstlichen Verwaltungsstaat.617 Diese ,Revolution‘ suchte aber nicht nach dem ganz neuen Deutschland, sondern vermeinte, gedeckt durch die Reichshistorie, aus der nationalen Vergangenheit das rechtmäßig Alte wiederzuerwecken. Kritik an der ,absolutistischen‘ Herrschaftsform ging nicht notwendig mit der Ablehnung des Reichs einher, vielmehr wurden juristisch geschulte Denker animiert, auf die Einhaltung und Verbesserung der Gesetze zu pochen bzw. die nationale Identität in den Grenzen des Bestehenden zu stärken. Ausgangspunkt dazu war jene Eigentümlichkeit von Staat und Kultur, jene nationale ,Einheit des Heterogenen‘, die sich nach dem Urteil von Zeitgenossen wie Johann Gottfried Herder und Justus Möser in Goethes Götz vorbildlich verwirklichte: „Sein Berlichingen ist ein deutsches Stück, groß und unregelmäßig, wie das deutsche Reich ist; aber voll Charaktere, voll Kraft und Bewegung.“618 Von einer nationalen „Sehnsucht“ im Kontext der „sich Formierenden deutschen Nation“, der die „Fürsten im Wege“ stünden,619 kann deshalb so einfach nicht gesprochen werden, da weder ästhetisch noch politisch der monistische Nationalstaat des 19. Jahrhunderts die politische Bezugsgröße des Dramas ist, sondern der mannigfache Reichsverband des 18. Jahrhunderts. Gerade weil das Stück alle Stände umfasst, „vom Kayser Max bis zum Reitersjungen, und vom Reitersjungen bis zum Zigeunerbuben herab“620, wurde es als nationales Meisterwerk gefeiert – nicht, weil ein bürgerliches Nationsideal die ständische Welt des ,Feudalabsolutismus‘ ausschloss. „Teutsche Geschichte, teutsche Helden, eine teutsche Scene, teutsche Charaktere, Sitten und Gebräuche waren etwas ganz Neues auf teutschen Schaubühnen“, schreibt Wieland. Das Publikum konnte das eigene „Va616 Moser: Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 1, S. 551. 617 Vgl. Borchmeyer, Dieter: Goethe. Der Zeitbürger, München/Wien 1999, S. 21 – 39. 618 Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 561. 619 Neuhaus: Götz von Berlichingen, S. 98. 620 Wieland, Christoph Martin: Briefe an einen jungen Dichter, in: TM 1. Viertelj. (1784), S. 228 – 253, hier S. 240.

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terland“, „wohlbekannte Städte und Gegenden“, „ihre eignen Landsleute und Voreltern“, „ihre eigene Geschichte und Verfassung“ auf der Bühne erblicken.621 Doch auch hier offenbart sich die für den Sturm und Drang maßgebliche Dissonanz: Während die jungen Literaten, ,reichspublicistisch‘ geschult, zu einer Kultur und Reich vereinenden Literatur vorstießen, gerieten sie in harschen Kontrast zur späthöfischen Kultur der regierenden Häuser. Die meisten aristokratischen Zuschauer sahen in Goethes Tragödie einen Skandal, nicht nur wegen der Missachtung klassizistischer Vorbilder, sondern vor allem aufgrund der an den Jahrmarkt erinnernden, unsittlichen Drastik in Sprache und Handlung.622 Adel und höfische Welt in die nationale Identitätsfindung des Sturm und Drang zu integrieren, gelang nur mangelhaft. 2.5 Götz-Nachfolge: Populäre Dramen zwischen Territorial- und Reichspatriotismus Goethe beklagte sich später über die zu „stoffartige“ Rezeption seines Dramas: Junge Männer pilgerten nach Jagsthausen oder zum Rathaus von Heilbronn und nahmen den Ritter zum Vorbild für wilde Umtriebe. „Gesetzte Männer“ hingegen debattierten über den historischen Wahrheitsgehalt, äußerten sophistische Kritik an evidenten Abweichungen oder lobten die Darstellung des mittelalterlichen Rechts.623 Gemeinsam war den Reaktionen, die „patriotische“, „patronymische“ Lesart des Stücks.624 Dank gebühre dem Autor, schreibt ein Rezensent, denn er habe endlich nicht „nur in Hermannswäldern“ nach den „alten deutschen Sitten“ gesucht, sondern auf „ächtem Grund und Boden“ in der „Reichshistorie“625. Götz, deutsch- und reichspatriotisch gelesen, regte viele Dichter an, ihm nachzueifern. Ihre Werke rubrizierte man unter der nicht ganz glücklichen Genrebezeichnung ,Ritterdramen‘. Allgemein handelt es sich um historische oder unhistorische Geschichtsdramen, die keineswegs so unpolitisch und „eskapistisch[]“ waren, wie sie in der Forschungsliteratur meist er621 622 623 624 625

Ebd., S. 247. Kursivierung M. H. Vgl. Borchmeyer: Goethe, S. 30 f. Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 608. Z. B. Schubart in: Deutsche Chronik, 2. Mai 1774, in: MA, Bd. 1,1, S. 966. Frankfurter gelehrten Anzeigen, 20. August 1773, in: MA, Bd. 1,1, S. 961.

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scheinen.626 Ihre formale wie inhaltliche Gestalt lässt sich freilich nicht allein auf die Götz-Nachfolge zurückführen, vielmehr bedienten sich die Dichter auch direkt an Shakespeares Historiendramen, integrierten Elemente des Bürgerlichen Trauerspiels sowie der patriotischen Dramen, nicht zuletzt der Arminiusdichtung.627 Während bei Goethes Götz das Zusammenspiel von Ritter, Fürsten sowie Kaiser und Reich aus der Sicht des deutschen Vaterlandes geschildert wird, stellt sich die Symmetrie bei den meisten dieser patriotischen Geschichtsdramen anders dar: Zwar geht es wieder um Ritter, Fürsten, Kaiser und Reich, mit Vaterland meinen die Autoren aber in der Regel das einzelne Territorium, vor allem Bayern oder Österreich, während Deutschland und das Reich nur zweitrangig oder überhaupt nicht zur Rede stehen. Für das Reichsbewusstsein ist jedoch charakteristisch, dass aus dem Lokalpatriotismus kein Widerspruch zum Reich entstehen musste. Es ist gewiss richtig, dass die ,deutsche Nation‘ in den patriotischen Geschichtsdramen dieser Zeit nicht primär über die Reichsverfassung definiert wird, diese ist aber doch weit mehr als nur „historisches Versatzstück und historisches Motiv“628. Territorialpatriotismus und Reichsbewusstsein fanden dank des habsburgischen Kaisertums besonders leicht in den historisch-patriotischen Dramen Österreichs zusammen. Die Dichter in Österreich „waren sich ihres Deutschtums und ihrer Stellung im Gesamtkörper des Deutschen Reichs wohl bewußt“, schreibt Norbert Wolf in der Sprache seiner Zeit (1933) – es handelt sich immer noch um die einzige umfassende Arbeit 626 Fischer-Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen 1993, S. 114. 627 Vgl. Wimmer, Silvia: Die bayerisch-patriotischen Geschichtsdramen. Ein Beitrag zur Geschichte der Literatur, der Zensur und des politischen Bewußtseins unter Kurfürst Karl Theodor, München 1999, S. 4 – 6 und 71 ff.; Krause, Markus: Das Trivialdrama der Goethezeit 1780 – 1805. Produktion und Rezeption, Bonn 1982; Brahm, Otto: Das deutsche Ritterdrama des achtzehnten Jahrhunderts. Studien über Joseph August von Törring, seine Vorgänger und Nachfolger, Straßburg 1880; Frenzel, Elisabeth: Von der Motivkombination zum neuen Genre: Goethes ,Götz von Berlichingen‘, das Ritterdrama und der historische Roman, in: Gattungsinnovationen und Motivstruktur, hrsg. v. Theodor Wolpers, Göttingen 1989, S. 97 – 121. 628 Höyng, Peter: „Was ist Nationalschaubühne im eigentlichsten Verstande?“ – Thesen über die Nationaltheater im späten 18. Jahrhundert als Ort eines NationalDiskurses, in: Searching for Common Ground. Diskurse zur deutschen Identität 1750 – 1871, hrsg. v. Nicholas Vazsonyi, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 209 – 225, hier S. 225.

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zum Thema.629 Besonders Ereignisse und Figuren des Spätmittelalters oder der Türkenkriege regten dort zur dramatischen Produktion an, doch finden sich Stoffe aus nahezu jeder Epoche. Genannt seien etwa Johann von Sternschutz’ Karl der Fünfte in Afrika (1772), Paul Weidemanns Soliman vor Wien (1775), Johann Jakob Grunds Karl der Dritte, der Dicke (1784), Friedrich August Clemens Werthes’ Rudolf von Habspurg (1785) oder Johann Nepomuk Kalchbergs Szenen aus dem Leben Kaiser Heinrichs des Vierten (1793 in Schillers Neuer Thalia).630 Der patriotische Topos des 16. Jahrhunderts von der Vielfalt Deutschlands in der Mitte Europas konnte ohne Umwege in den reichspatriotisch angereicherten Nationalismus Österreichs übersetzt werden: „Ein Land, wie Oestreich“, heißt es bei Werthes aus dem Munde Kunigundes, „Bereichert mit so vielen alten Städten, / Geadelt von den glänzendsten Geschlechtern, / Die Perle der Provinzen, Deutschlands Krone, / Dies fruchtbarste der Länder […].“631 Komplexer ist das Zusammenspiel im Falle Bayerns. Zu den Entstehungsbedingungen des bayerisch-patriotischen Dramas gehören das Aussterben der altbayerischen Linie und der Umzug des kurpfälzischen Wittelsbachers Karl Theodor aus der Linie Pfalz-Sulzbach von Mannheim nach München.632 Politisch schlugen die Wogen aufgrund der Ländertauschpläne des Kurfürsten mit Joseph II. hoch (Bayern gegen die habsburgischen Niederlande). Nicht zuletzt die militärische Besetzung des Straubinger Landes durch kaiserliche Truppen führte zu antiösterreichischen, antikurfürstlichen, aber probayerischen Bekundungen der Schriftsteller. Mit ,Vaterland‘ apostrophierten die Dichter allein Bayern. Lengenfelder ging soweit, in seinem Personenverzeichnis des Dramas Ludwig der Vierte, der Bayer zwischen In- und Ausländern zu differenzieren und selbst die 629 Wolf, Norbert: Das historisch-patriotische Drama in Oesterreich vor Grillpazer, Wien 1933 (Typoskript), S. 21. Komplexer wird das Verhältnis allerdings, wenn die verschiedenen innerösterreichischen ,Nationalismen‘ berücksichtigt werden. Vgl. ebd., S. 155 ff. 630 Ebd., S. 52 f., 75 ff., 152 ff., 163, 191 ff. 631 Werthes, Friedrich August Clemens: Rudolph von Habspurg. Ein Schauspiel in fünf Aufzügen, Wien 1785, S. 56. „Kennst Du Österreich“ fragt Manfred in Caroline Pichlers ,Heinrich von Hohenstaufen‘ beinahe vierzig Jahre später, „Des Deutschen Reiches Kleinod und Juwel […].“ Pichler, Caroline: Heinrich von Hohenstaufen, in: dies.: Dramatische Dichtungen, Bd. 2, Wien 1822, S. 5 – 134, hier S. 33. Dazu: Wolf: Das historisch-patriotische Drama, S. 191 ff. 632 Vgl. Spindler, Max: Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 2: Das Alte Bayern. Der Territorialstaat, 2. überarb. Aufl. München 1988, S. 1023 f.; ausführlich: Wimmer: Die bayerisch-patriotischen Geschichtsdramen.

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Österreicher unter Letztere zu rubrizieren.633 Die Dramen sind deshalb jedoch nicht antireichisch, vielmehr findet sich häufig die Vorstellung eines starken bayerischen Territoriums, das durch einen ,liebenden‘ Landesvater regiert634 und durch die Rechts- und Friedensordnung des Reichs geschützt wird. Vom Frühmittelalter bis in die Gegenwart scheint die Bayernnation im literarischen Porträt der lokalpatriotischen Schriftsteller der 1770er- und 1780er-Jahre als eine Einheit. Die Geschichte des Territoriums präsentieren sie zwar in enger Verbindung zur Dynastie, meist wird von dieser aber eingefordert, sich in den Dienst des Staats zu stellen. Das Alte Reich erweckt bei den Bayernpatrioten in der Regel keine patriotischen Gefühle, ist jedoch auch keine quantité négligeable. Leitendes Motiv ist die schon von Götz vollzogene Trennung zwischen Kaiserfigur und transpersonellem Reichsgedanken als Rechtsordnung, der noch im Wallenstein und im Wilhelm Tell entscheidende Bedeutung zukommt. Hintergrund dürfte die zwiespältige Rolle des Reichsverbands während des Bayerischen Erbfolgekriegs (1778/1779) sein. Während der Kaiser auf der einen Seite in seiner Eigenschaft als oberster Lehensherr den Anspruch erheben konnte, Bayern nach dem Tod des Kurfürsten als erledigtes Reichslehen einzuziehen,635 war es zugleich der Reichstag und das Reichsrecht, die es Friedrich II. ermöglichten, im „Gewand reichsrechtlicher Legalität“636 gegen Österreich vorzugehen. Unterm Strich ging das Reich gestärkt aus der Krise hervor, da es immerhin ,Achtungserfolge‘ erzielen konnte.637 Für die Genregeschichte des historisch-patriotischen (Ritter-)Dramas ist der heute vergessene Autor Josef August von Törring (1753 – 1826) von besonderer Bedeutung.638 Sein Schauspiel Kaspar der Thoringer entstand in München am Ende des Bayerischen Erbfolgekriegs.639 Das Reich tritt hier 633 Lengenfelder, Johann Nepomuk: Ludwig IV., genannt der Bayer, ein Nationalschauspiel in 5 Aufzügen, verbess. Ausgabe, München 1782. 634 Vgl. Wimmer: Die bayerisch-patriotischen Geschichtsdramen, S. 122 f. 635 Ebd., S. 7 ff. 636 Press: Friedrich der Große als Reichspolitiker, S. 282. 637 Vgl. Aretin: Das Alte Reich, Bd. 3, S. 183 – 212. 638 Törring war nicht einfach nur patriotischer bayerischer Staatsmann, er war zugleich Abkömmling eines alten Adelsgeschlechts und führte bis 1803 nach dem reichsständischen Familienbesitz den Beinamen „Gronsfeld“. Vgl. Haufen, Adolf: Törring, Josef August Graf von, in: ADB, Bd. 38, S. 458 – 461. 639 Das Stück stammt aus dem Jahr 1779, es existieren mehrere Drucke, aber keine autorisierte Fassung. Vgl. Brahm: Das deutsche Ritterdrama, S. 23 f. Hier zitierter Druck: Törring, Josef August von: Kaspar der Thoringer. Ein historisch=romantisches Schauspiel in fünf Aufzügen, Frankfurt/Leipzig 1785. Vgl. zur Ent-

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gegenüber dem Bayernpatriotismus stark zurück. Nur an drei Stellen spielt es eine zentrale Rolle: 1. Als Thoringer „in der Stände Namen“ dem tyrannischen Herzog Heinrich (historisch: Herzog Heinrich XVI. von Bayern-Landshut) die Gravamina der Stände vorträgt, ist er selbstbewusst und loyal, lehnt jede Rebellion ab, besteht aber in landständischer Tradition auf seinen Rechten.640 Allen voran beklagt er die schlechten Ratgeber des Herzogs, die hohen, landesunüblichen Steuern und das despotische Auftreten gegenüber den Ständen. So weit so topisch. Seine Warnung vor den Konsequenzen bezieht das Reichssystem in den territorialen Konflikt allerdings direkt mit ein: „Ihr werdet aufhören, das zu sein, was Ihr seid“, droht er, „und Kaiser und Reich werden einen besseren hinsetzen.“641 2. Nachdem der Herzog sich keines Besseren belehren lässt, erläutert Kaspar seinen Mitständen einen an Götz von Berlichingen erinnernden Plan, angefeuert von den Verschworenen und irritiert durch die Rufe eines Geistes. Heinrich fangen wir, und führen ihn zum Kaiser. Er ist so gesinnt, den Theil Johannes von Holland einzuziehen, weil die Herzoge das Lehen zertheilen, ohne des Reichs Vorwissen. Diesen Theil mag er Heinrich geben; wir geben uns dem Kaiser und Reich zu Vasallen, und verlangen frei zu sein, wie die Ritter in Schwaben, Franken und am Rhein; ober wir fechten gegen Heinrich, bis wir sterben. So wären wir einmal frei, und könnten aller Fürsten lachen und unsrer Unterthanen pflegen: das war – das ist der Wunsch meines Lebens! das laßt uns thun, Ritter! das – o könnte ich das – einen Augenblick nur wollte ichs mit ansehen, dann niederfallen und sterben auf freiem Boden.642

Kaspars Plan ist zwar reichstreu, aber nur eines anachronistischen Götz würdig, denn er unterminiert die Existenz des bayerischen Territoriums und der bayerischen Identität. Der Geist seiner Ahnen muss ihn daher zur Räson bringen. Indem er das in seinem Herzen verborgene, tatsächliche Vorhaben aufdeckt, beweist er seine Authentizität: Nichts anderes als sich selbst auf den „Thron der Agillolfinger“643 zu erheben, sei Kaspars frevelhaftes Ziel. „Du willst dem Kaiser dich unterwerfen, Thaßilos Stamm verläugnen? Wie ein Vogel aus dem Neste ausfliegen, damit der Adler dich

640 641 642 643

stehungsgeschichte: Wimmer: Die bayerisch-patriotischen Geschichtsdramen, S. 83 f. Mit historischer Wahrheitsliebe hat die von Familienstolz eingefärbte Handlung wenig zu tun. Dazu: ebd., S. 84. Törring: Kaspar der Thoringer, S. 59. Ebd., S. 75 f. Ebd., S. 80.

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eher fresse?“644 Aus bayerischer Sicht ist ein Schritt hinter die erreichte Selbstständigkeit von 1648 undenkbar. Der Stammvater verteidigt die bayerische Landeshoheit allerdings innerhalb des Reichs, nicht gegen das Reich. Zwar wächst für Kaspar die Versuchung, als ihn die Stände ausdrücklich gegen „Reichspflicht und Herkommen“ zum neuen Herzog erheben wollen,645 er bleibt aber, 3., bayern- und reichstreu. Seine Kraft ruht auf dem in eine rhetorische Frage gepackten Vertrauen: „Giebts keinen Kaiser, kein Reich, keine Gesetze, keinen Gott mehr?“646 Wieder ist es der Geist, der am Ende den Weg zur Versöhnung ebnet, indem er die Aufgabe jedes Eigennutzes verlangt: „Friede, nicht Rache; Ruhe, nicht Schande; Vaterland, nicht du!“647 Der einsichtige Herzog, „Heinrich – der Gebesserte“648, wird in einer Art Vertrag, der zugleich den Charakter eines Fürstenspiegels hat – offenbar im Auftrag des Kaisers, vermittelt durch den Salzburger Erzbischof 649 –, zur Wahrung der ständischen Rechte verpflichtet („Freiheit und Vorrechte“), während diese mit den Worten des Erzbischofs den Dienst für den Herzog als „Pflichtschulden, nicht Bürden des Landes“650 anzusehen haben. In einer späteren Fassung (1807) steht am Ende des Dramas ein reichsfreundlicher Toast: „Freuen wird der Kaiser sich der Eintracht der Bayern […]“, ruft der sächsische Ritter Bertram von Hoheneck, und Caspar erwidert: „Möge der Kaiser so lange regieren, als des Landes Wohl seiner bedarf.“651 Das Reichskonzept, das hier nur zwischen den Zeilen durchklingt, spricht Kaspar der Thorringer, selbst als Geist erscheinend, in Törrings erfolgreichem Stück Agnes Bernauerinn (1781) deutlich aus: Ihr seyd gebohren, Unterthan der Gesetze, sie zu befolgen, und handzuhaben, nicht sie zu beurtheilen; – ihr seyd gebohren ein teutscher Fürst, eine Stütze des Reiches zu seyn, nicht seine Grundfesten zu erschüttern; – ihr seyd gebohren ein Bayerischer Herzog, Richter einer Nation zu seyn, nicht nach 644 645 646 647 648 649

Ebd., S. 81. Ebd., S. 101. Ebd., S. 108. Ebd., S. 123. Ebd., S. 122. „Heinrich muß wohl schlecht beim Kaiser stehen, weil der Erzbischof ihm sein Unrecht vorhält.“ Ebd., S. 113. 650 Ebd., S. 136. 651 Törring, Josef August von: Kaspar der Thoringer. Ein historisch=romantisches Schauspiel in fünf Aufzügen, 2. Aufl. Wien 1811, S. 95.

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umgestossenen Gesetzen ihr Despote zu werden, oder des Aufruhrs Beyspiel zu geben: so solltet ihr denken.652

Joseph Marius von Babo bringt mit Otto von Wittelsbach, Pfalzgraf in Bayern, ein Stück auf die Bühne, das wohl nicht zuletzt aufgrund des unverkennbaren Reichsgehalts überall in Deutschland Verbreitung fand.653 Anders als Törring artikuliert Babo keine Kritik an dem Herrscher. Da mit dem Wittelsbacher Titelhelden aber ein bayerischer Meuchelmörder auf die Bühne gestellt wurde, durfte es nach der Münchner Premiere und einer weiteren Aufführung ausgerechnet in Bayern nicht gespielt werden. Unter der Hand fand es aber auch dort weite Verbreitung.654 Pfalzgraf Otto ist väterlich-patriotischer Herrscher, durch ritterliche Tugend vorbildlich ausgezeichnet und reichstreu. „Ohne den Wittelsbacher wäre der Kaiser Philipp ein Arm ohne Schwerd, oder ein Schwerd ohne Arm.“655 Zwar besitzt Otto wohlbegründete Ansprüche, selbst Kaiser zu sein, doch ist er um des Gemeinwohls willen bereit, auf diese zu verzichten: „Fried und Eintracht, sagt Otto, ist besser, denn Kron und Macht. Das Reich soll sehn, daß ich nicht unwürdig wäre, sein Oberhaupt zu seyn, weil ich seines Heils wegen diese Würde vergebe.“656 Just der so in seiner Schuld stehende Kaiser verrät den treuen Diener aber in Sachen Heiratspolitik mehrfach und schließlich eklatant durch einen ,Uriasbrief‘ an den polnischen König, den zu schreiben ihm, natürlich, ein Höfling angeraten hat. In genau umgekehrter Form zu Götz (,das Reich geht mich nichts an‘) trennt der Wittelsbacher das transpersonale Reich von der personalen Figur des Kaisers. Die „schlagende Zwietracht“ will er nicht wiedererwecken: „Das Reich hat mich nicht beleidigt, sondern Philipp.“657 Otto vertraut auf das Reichssystem: 652 Törring, Josef August Graf: Agnes Bernauerinn. Ein vaterländisches Trauerspiel, o. O. 1781, S. 45. 653 Zur Ambivalenz der Begriffe ,Nation‘, ,Vaterland‘, ,Deutschland‘ und ,Reich‘ und dem ,männlichen‘ Nationskonzept dieses „Paradigma[s] eines vaterländischen Dramas“: Höying, Peter: Die Sterne, die Zensur und das Vaterland. Geschichte und Theater im späten 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 177 – 186. 654 Vgl. Wimmer: Die bayerisch-patriotischen Geschichtsdramen, S. 90 f. und S. 165; Höying: Die Sterne, die Zensur und das Vaterland, S. 117 – 143. 655 Babo, Joseph Marius von: Otto von Wittelsbach. Ein vaterländisches Trauerspiel in 5 Aufzügen, Frankfurt/Leipzig 1807, S. 13. Über sich selbst sagt Otto: „Ist nicht ganz Deutschland Zeuge von meiner unverbrüchlichen Treue, von meinem heißen Eifer, die Kaiserwürde zu schützen?“ Ebd., S. 137. 656 Ebd., S. 61. 657 Ebd., S. 115.

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Kapitel 2: Reich als Text

So will ich vor den versammelten Fürsten des Reichs meine Klage vorbringen. Meine Stimme hat einen guten Klang im Reich. Deutschland wird nicht zugeben, daß so ein arglistiger, heimtückischer, giftherziger Mann seine Krone entweihe.658

Und sollte die Bestechlichkeit der Fürsten so weit fortgeschritten sein, dass ihm sein Recht verweigert werde, so bliebe ihm doch, antwortet er auf den Einwand seines Bruders, noch das Beste von allem: „die Redlichkeit der Baiern!“659 Trotz seiner Warnung weigert sich „Kaiser“660 Philipp, das Unrecht zu sühnen. Otto und die Bayern werden zum Hort fürstlicher und deutscher Tugend gegenüber dem von schlechten Ratgebern umgebenen Kaiser. Die Botschaft der forschen Anklage des Herzogs ist deutlich: kein Reich ohne Fürsten, deren Rechte und Ehre die Grundlage des Gemeinwohls sind: Fluch dem deutschen Manne, der seinen Kaiser nicht verehrt! aber meynt Ihr, Ihr trügt des großen Karls Schwerd, um der Fürsten heilige Ehre zu kränken? meynt Ihr, die Krone bedecke Schandthaten? haltet Ihr den Reichsapfel für einen Talisman, der alle Menschen für Eure Thaten blind, stumm und lahm zaubert?661

Otto wird daher, hier muss an Schillers Wilhelm Tell erinnert werden, zum „Held und – Verbrecher“662 : Er ermordet den Kaiser. Schon während der hitzigen Unterredung, die mit dem Mord des Reichsoberhauptes endet, beginnt die Entlastungsstrategie: Otto wechselt die Anrede von Kaiser zu Herzog, wohl mit der Botschaft, dass ein Kaiser, der seines Amtes nicht würdig ist, das Vorrecht der Majestät verliert.663 Sein Mord geschieht reinen Gewissens, und doch tritt er zusätzlich als reuiger Sünder auf.664 Die Fürsten des Reichs sprechen Acht und Bann über ihn und seine Brüder aus. Nur um ihretwillen entschließt sich Otto, der bereit ist, alle Strafen von Reichs wegen auf sich zu nehmen, schweren Herzens zum Kampf. Eine 658 Ebd., S. 137. 659 Ebd., S. 138. 660 Wie König Albrecht I. in Schillers Wilhelm Tell führt Philipp von Schwaben bei Babo den Kaisertitel. 661 Babo: Otto von Wittelsbach, S. 145 f. 662 Ebd., S. 175. 663 Vgl. die Diskussion zuvor: „Bedenkt, es ist der Kaiser, des heiligen Reichs heiliges Haupt“, ebd., S. 136 f. Otto spricht hier auch noch vom Kaiser. Wechselt aber den Titel nach der Weigerung Philipps, die Lüge zu widerrufen: „Philipp! Du hast die Grundsteine Deines Throns losgewühlt […].“ Ebd., S. 138. „Wörtbrüchiger Herzog“, ebd., S. 145. 664 Vgl. Höyng: Die Sterne, die Zensur und das Vaterland, S. 130 f.

2. ,Reichspublicistik‘ und Nationalliteratur

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unerwartete Wendung nimmt das Stück über die reichlich konstruierte Versöhnung des Ermordeten mit seinem Mörder: Nicht nur alle Fürsten des Reichs, erfährt Otto, bedauerten im Fürstenrat sein Schicksal, der sterbende Philipp selbst habe seinen Dienern sogar mit den letzten Atemzügen reuig die innige Freundschaft zu Otto beteuert.665 Friedrich von Reuß, der diese Botschaft überbringt und sein Wort für die Sicherheit der Brüder gibt, lässt keinen Zweifel, dass der Mord und der geplante Kampf gegen das Reich unrechtens sind.666 Für den edlen Ritter ist jedoch ohnehin die Würde der Majestät wiederhergestellt. Voller Selbstanklage macht Otto seinen Helfern ihre Sünde gegen das Reich bewusst: Was heißt das, einen Verbannten schützen? sich wider des Reichs Urtheil lehnen, des Verbrechens sich theilhaftig machen. Wißt Ihr, was ich that? wenn Ihr’s auch wisset; so wird’s euch doch schaudern, und die Haare müssen Euch zu Berge stehen, wenn ich’s euch noch einmal sage. Hört’s: Ich hab’ den Kaiser ermordet!667

Erst nach seinem Ausruf: „Fürstenmord ist Vatermord! denn Fürsten sollen Väter seyn, und Vatermord ist unverzeihlich selbst vor dem ewigen Erbarmen“668, schweigen die treuen Bayern. Der Mord an dem geschlagenen Titelhelden durch Heinrich von Kallheim, der dem schuldbewussten Pilger auflauert und ihn hinterrücks meuchelt (Ottos letztes Wort ist natürlich „Baiern“669), erhält deshalb die Würde einer höheren Gerechtigkeit: „Nicht Mörder, Heinrich! sondern Rächer der Majestät und des Reichs, Vollzieher des Gesetzes, Bestrafer des höchsten Verbrechens.“670 Erst postum kann die vollständige Rehabilitierung des Herzogs stattfinden. Das Stück endet versöhnlich sowohl bayerisch- als auch reichspatriotisch: „Nun ist seine Schuld getilgt im Blut. Das Reich wird ihn wieder aufnehmen in die Zahl seiner Fürsten, das deutsche Volk in die Zahl seiner Edlen! Eckbert: Und Baiern wird sagen: Er war mein!“671

665 666 667 668 669 670 671

Vgl. Babo: Otto von Wittelsbach, S. 186 f. Ebd., S. 186. Ebd., S. 191. Ebd., S. 192. Ebd., S. 222. Ebd., S. 223. Ebd., S. 224.

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Kapitel 2: Reich als Text

3. Staatengleichgewicht und europäische Kultur Ernst Moritz Arndt kritisierte die kosmopolitischen Denker des 18. Jahrhunderts dafür, dass sie die „Verfassung der Vielherrschaft“ in dem Glauben gepriesen hätten, „Freiheit und Wahrheit“ sei in ihr gesichert. Das „Volk“ sei so zugunsten der „Menschheit“ vernachlässigt worden.672 Jean Paul sprach mit anderer Stoßrichtung und durchaus anerkennend von der kosmopolitischen „Allerweltsnation“, die aus der „zwiespältige[n] Reichsverfassung“ herrühre.673 In der Tat weist die deutsche Geistesgeschichte von Leibniz bis Wieland einige Denker auf, die gerade in der Vielstaatlichkeit des Reichs das große Qualitätsmerkmal Deutschlands sahen. Für sie barg die Reichsverfassung das Potential, gleichzeitig ein Bollwerk gegen Despotismus in Deutschland und die Basis des europäischen Staatensystems zu sein. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die Rolle des Reichs im Denken Wielands und Schillers verstehen. Beide Autoren stützten sich in ihrer Beschreibung Deutschlands und Europas auf die Idee des politischen Gleichgewichts. Sie standen damit durchaus nicht allein: Das 18. Jahrhundert kann als das Jahrhundert dieses Theorems gelten.674 Begriffe wie Äquilibrium und Mächtebalance waren weitverbreitet. Wie Isaac Newton den Bau der Welt als iustum potentiae aequilibrium beschrieb, so definierte die politische Theorie Europa als ein System der Mächte, das in Balance stünde oder doch stehen müsste. David Hume veröffentlichte 1752 einen Essay mit dem bezeichnenden Titel On the balance of power, und Rousseau erhob in der eingangs zitierten Friedensschrift wie viele andere das Gleichgewicht der Mächte zur Grundlage eines allgemeinen europäischen Friedens.675 Deutsche ,Publicisten‘ und Historiker wie Nicolaus Hieronymus Gundling, Johann Jacob Schmaus

672 Arndt, Ernst Moritz: Geist der Zeit I (1806), in: ders.: Arndts Werke. Auswahl in zwölf Teilen, hrsg. v. August Leffson/Wilhelm Steffens, Berlin/Leipzig/Wien/ Stuttgart o. J. [1912], Tl. 6, S. 107. 673 Jean Paul: Dämmerungen für Deutschland, in: SW Abt. I, Bd. 5, S. 951. 674 Vgl. hierzu und im Folgenden: Fenske, Hans: Gleichgewicht, Balance, in: GG, Bd. 2, S. 959 – 996; Kaeber, Ernst: Die Idee des europäischen Gleichgewichts in der publizistischen Literatur vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1907. 675 Vgl. Müller, Klaus: Die Idee des europäischen Gleichgewichts in der Frühen Neuzeit, in: Europa – Begriff und Idee. Historische Streiflichter, hrsg. v. Hans Hecker, Bonn 1991, S. 61 – 74, hier S. 66 f.

3. Staatengleichgewicht und europäische Kultur

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oder Arnold Hermann Ludwig Heeren warben gleichermaßen für die Vorteile eines Gleichgewichtssystems im europäischen Völkerrecht.676 Im Reichssystem spielte (spätestens) seit 1648 der Gedanke des Gleichgewichts zwischen Kaiser und Ständen, den Ständen untereinander sowie den drei rechtmäßigen Konfessionen eine hervorragende Rolle. Von Pufendorf über Johann Jacob Moser bis zu Christoph Ludwig Pfeiffer und Johann Stephan Pütter zeigt sich seine ungebrochene Präsenz und Bedeutsamkeit in der reichsstaatsrechtlichen Literatur. Im Zedler-Lexikon wurde das Gleichgewicht durch die Einhaltung der Reichsgesetze, insbesondere des Westfälischen Friedens, zur „teutschen Staats-Raison“ schlechthin erklärt, Pfeiffer sprach von der „teutschen Freyheitswaage“677. „O Tag, o größter unserer Tage!“, dichtete Justus Möser zum Jubiläum des Westfälischen Friedens 1748, „Du schufst die Gleichheit jener Waage, die Reiche gegen Reiche wiegt.“678 Im gleichen Zeitraum, in dem Schiller und 676 Gundling, Nicolaus Hieronymus: Erörterung der Frage, ob wegen der anwachsenden Macht der Nachbarn man den Degen entblößen könne, Halle 1716; Schmaus, Johann Jacob: Die Historie der Balance von Europa, der Barriere der Niederlande, der Oesterreichischen Sanctionis pragmaticae, und anderer dahin gehörigen Sachen und Tractaten in sich haltend, Leipzig 1741; Heeren, Arnold Hermann Ludwig: Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Colonien, Göttingen 1809. Dazu ausführlich: Fenske: Gleichgewicht, insbesondere S. 978 ff. Zu Göttingen als Zentrum des deutschen Europadenkens in historisch-juristischer Tradition: Gollwitzer, Heinz: Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, 2. Aufl. München 1964, S. 54 – 57. 677 Teutsche Staats-Raison oder Staats-Raison des Heiligen Römischen Reichs Teutscher Nation, in: Zedler, Bd. 43, S. 197 – 202; Pütter, Johann Stephan: Geist des Westfälischen Friedens nach dem innern Gehalte und wahren Zusammenhange der darin verhandelten Gegenstände historisch und systematisch dargestellt, Göttingen 1795; Pfeiffer, Christoph Ludwig: Das teutsche Gleichgewicht oder die staatsrechtliche und politische Abwägung der Reichs zwiespaltigen grossen und kleinen teutschen Welt, nach der grossen und kleinen weltlichen und geistlichen teutschen Freyheitswaage. Staatsrechlich und politisch erwogen, Frankfurt/Leipzig 1788; Moser, Johann Jacob: Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 14: Von der Landeshoheit derer Teutschen Reichsstände überhaupt, […], Stuttgart 1773, S. 258: „Das Gleich=Gewicht unter denen Reichsständen unter sich hat bereits so starck Noth gelitten, daß die Schwache sich derer Mittleren und die Mittlere derer Grossen, offt nicht länger erwehren können, als es dem Mächtigeren beliebet, stille zu sitzen: Dörffte nun vollends jeder Reichsstand in seinem Lande hausen, wie er wollte, Soldaten und Steuern aufbringen, so vil als möglich wäre, u. s. w. wie gienge es denn mittleren und schwachen Reichsständen! Und was würden vor neue Reichsschlüsse zum Vorschein kommen!“ 678 Möser: 1748, in: HKA, Bd. 2, S. 97 – 101, S. 98.

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Kapitel 2: Reich als Text

Herder ihre geschichtsphilosophischen opera magna verfassten, erlebte der Gleichgewichtsgedanke für das Heilige Römische Reich einen letzten Höhepunkt. Johannes Müller widmete sich in seiner Darstellung des Fürstenbundes ausgiebig der „Idee des Gleichgewichts“ in Deutschland,679 und auch Christian Wilhelm von Dohm verteidigte in seiner Schrift Über den deutschen Fürstenbund den preußischen Widerstand gegen die josephinischen Tauschpläne mit dem Argument der innerreichischen Mächtebalance.680 Das politische Gleichgewicht im Reich galt beiden als Voraussetzung für den Frieden des europäischen Staatensystems: Nur indem anstelle einer cäsarischen Universalmacht die historisch-gewachsene „germanische Freyheit und Reichsverfassung“ bewahrt werde, so Johannes Müller, könne Deutschland „mitten in Europa, selber frey, glücklich und stark, die Mutter des Friedens, die Grundsäule des allgemeinen Systems, die Schutzwehre der Freyheit und Freundin der Völker seyn“681. Die einleitend beschriebene enge Verbindung des ius publicum Europaeum bzw. des Droit public de l’Europe mit der föderalen Reichsverfassung, insbesondere seit dem Westfälischen Frieden, war ein weitverbreiteter Topos, dem Johann Jacob Moser zur gleichen Zeit wie Müller und Dohm und aus demselben Anlass schon durch den Titel seiner Abhandlung Ausdruck verlieh: „Betrachtungen über das Gleichgewicht von Europa und Teutschland in Rücksicht auf den Umtausch von Baiern.“682 Anders als noch ein Jahrhundert zuvor galt nun der status quo des gegenwärtigen Europas als völkerrechtliches Ordnungsmodell, in welchem das Reich einen prominenten Platz einnahm.683 Mehr noch: Der konservative Historiker und Staatsmann in kurmainzischen Diensten, Nicolaus Vogt, sah aus kosmopolitisch-völkerrechtlicher Perspektive in der Reichsverfassung einen hohen kulturellen Wert. Unsere Verfassung (eine ächte Tochter altteutscher Freiheit) hat so viele Anlagen zu einem freien politischen Gebäude, daß nicht einmal ein hoher Grad von Weisheit und Patriotismus von unsern mächtigen Fürsten dazu erfordert wird, um ihm von innen Sicherheit, Eintracht und freien Gebrauch des natürlichen Reichthums, und von aussen Ansehen und Gewicht zu verschaffen. 679 680 681 682

Müller: Darstellung des Fürstenbundes, S. 21 – 89. Dohm: Ueber den deutschen Fürstenbund. Müller: Darstellung des Fürstenbundes, S. 113; vgl. auch: ebd., S. 2 f., S. 28 f. Moser, Johann Jacob: Betrachtungen über das Gleichgewicht von Europa und Teutschland in Rücksicht auf den Umtausch von Baiern, Frankfurt/Leipzig 1785. 683 Vgl. Tischer, Anuschka: Offizielle Kriegsbegründungen in der Frühen Neuzeit. Herrscherkommunikation in Europa zwischen Souveränität und korporativem Selbstverständnis, Berlin 2012, S. 213.

3. Staatengleichgewicht und europäische Kultur

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Betrachtet man nun noch gar diese Frage kosmopolitisch; so faellt gar aller Zweifel weg.684

Die Vielfalt der Staaten feiert Vogt als politische Ursache für die „neuere Freiheits- und Aufklaerungsgeschichte“ Europas: Die freiesten Schritte und Unternehmungen sind entweder in Teutschland, oder in ihm ähnlichen Freistaaten (in Holland, England, der Schweiz) selbst, oder unter deren Schutz hervorgegangen. Alle in grosen Monarchien verfolgte Freiheitskuendiger flüchteten in diese Länder.685

Die gegenseitige Kontrolle der Fürsten durch Konkurrenz und Wettbewerb sowie der „Zusammendrang aller politischen Handel Europens in diesem kleinen Mikrokosmus“ führten unweigerlich dazu, dass „dem weitsehenden Kosmopoliten, die obwohl krüppelhaft scheinende Konstitution Teutschlands ehrwürdig“ sein müsse.686 Im Laufe des Jahrhunderts wurde allerdings zunehmend Kritik am Theorem des politischen Gleichgewichts laut. Johann Heinrich Gottlob von Justi und Immanuel Kant sind gewiss die berühmtesten Beispiele hierfür.687 Die zahlreichen Kriege des Jahrhunderts belegten hinlänglich, so die Kritiker, dass die Balance der Mächte eine ,Chimäre‘ sei, ja, oftmals als Argument für Kriege diene, anstatt Frieden zu befördern. Jean Paul fasste einen ähnlich kritischen Diskurs über das Alte Reich zusammen, wenn Schoppe im Titan den „Reichskörper“ als ein „perpetuum immobile“, einen 684 Vogt, Nicolaus: Über die europäische Republik, 5 Bde., Frankfurt 1787 – 1792, hier Bd. 1, S. 98. Der Titel seines fünfbändigen Werks wurde später in Historische Darstellung des europäischen Völkerbundes umbenannt. Vgl. Bockenheimer, Karl Georg: Nicolaus Vogt, in: ADB, Bd. 40, S. 189 – 191. 685 Vogt: Über die europäische Repubulik, Bd. 1, S. 99 f. 686 Ebd., S. 100. 687 Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch, in: ders.: Schriften zur Geschichtsphilosophie, hrsg. v. Manfred Riedel, Stuttgart 2004, S. 118 – 166; Justi, Johann Heinrich Gottlob: Die Chimäre des Gleichgewichts von Europa: Eine Abhandlung, worinnen die Richtigkeit und Ungerechtigkeit dieses zeitherigen Lehrgebäudes der Staatskunst deutlich vor Augen geleget und dabey allenthalben neue und rührende Betrachtungen über die Ursachen der Kriege und dem wesentlichen Grunde, worauf die Macht eines Staats ankommt, beygebracht werden, Altona 1758. Vgl. Burgdorf, Wolfgang: Johann Heinrich Gottlob von Justi (1720 – 1771), in: Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch, hrsg. v. Heinz Duchhardt, Bd. 1, Göttingen 2006, S. 51 – 78. Zu beiden siehe Fenske: Gleichgewicht, S. 980 ff. Herder schreibt in den Entwürfen zu den Humanitätsbriefen von der „furchtbaren Dichtung eines Gleichgewichts, das nie exsistiert [sic] hat noch ohne Sklaverei und Lähmung exsistieren [sic] kann und wird […].“ Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 786.

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Kapitel 2: Reich als Text

sich selbst verdauenden und neu produzierenden „Polypen“ charakterisiert. Zwar lebt das Ganze, doch fressen sich die Teile.688 Nicht zuletzt seit dem Scheitern des Fürstenbundes nahm diese Sicht auf das Reich immer größeren Raum ein. Dennoch dominierte im 18. Jahrhundert und bis zum Wiener Kongress von 1815 zweifelsfrei das Ideal des Gleichgewichts für Reich und Europa. 3.1 Patriotismus und Kosmopolitismus: Wielands Bild vom Alten Reich vor 1789 Will man nicht einzelne Aussagen aus Wielands dialogischem und polyphonem Werk689 verallgemeinern, sondern seiner Haltung zum Alten Reich, seiner Reichskritik wie seinem Reichspatriotismus, gleichermaßen gerecht werden, muss das sie vereinende Element erkannt werden. Seinem Werk ist eine wiederkehrende Gedankenfigur eigen, die geradezu exemplarisch für das politische Denken der literarischen Aufklärung in Deutschland steht. Mit einem wiederholten Ausspruch des Autors selbst soll diese als ,solonisches Prinzip‘ gefasst werden. Sie umfasst zwei eng verbundene Aspekte: 1. Die Qualität einer Verfassung bestimmt sich nach Wieland nicht aus abstrakten theoretischen Prinzipien, sondern aus der Praxis, aus der Übereinstimmung der multikausalen Bedingungsfaktoren, wie sie allen voran Montesquieu beschrieben hatte, zu einer guten Ordnung. 2. Für den Literaten gelten Sitten und Tugenden einer Gesellschaft dabei als Messlatte, nicht die Frage, um welche Staatsform es sich handelt. Daraus ergibt sich die beachtliche Rolle, die der Aufklärer den schönen Wissenschaften sowie Philosophie und Publizität für das ,Gemein Beste‘ zuspricht. Solons Weisheit bestand nach Wieland darin, die Bürger Athens nicht zu überfordern. Er gab ihnen, so zitiert er immer wieder indirekt einen Ausspruch Solons, der in den ,Parallelbiographien‘ Plutarchs überliefert

688 Jean Paul: Titan, in: SW, Abt. 1, Bd. 3, S. 31 f. 689 Zuletzt: Kleihues, Alexandra: Rückkehr aus dem Elysium. Wielands Umgang mit der Tradition des Dialogs, in: Wissen, Erzählen, Tradition: Wielands Spätwerk, hrsg. v. Walter Erhart/Lothar van Laak, Berlin 2010, S. 169 – 188. Zum politischen Dialog: Reemtsma, Jan Philipp: Der politische Schriftsteller Christoph Martin Wieland, in: ders.: Der Liebe Maskentanz. Aufsätze zum Werk Christoph Martin Wielands, Zürich 1999, S. 95 – 160.

3. Staatengleichgewicht und europäische Kultur

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ist,690 im Rahmen des Bestehenden die bestmögliche Verfassung für ihr Gemeinwesen: Das zuträglichste für jedes Volk (wie ich schon mehrmals mit dem weisen Solon behauptet habe) ist, nicht das Ideal der vollkommensten Gesetzgebung, sondern gerade die zu haben oder zu bekommen, die es dermahlen am besten ertragen kann.691

Der Fall Deutschlands belegte für die Zeitgenossen die Unsinnigkeit einer dogmatischen Staatstheorie bereits durch die forma-imperii-Debatte. „Es giebt auf einem gewissen Planeten unsers Sonnensystems eine Nation“, schreibt Wieland spöttelnd, „welche, unter andern wunderbaren Besonderheiten, auch diese hat: daß noch kein Sterblicher einen Nahmen für ihre Verfassung hat ausfindig machen können.“692 Lösung war hier, wie gesehen, die historische Beschreibung der Reichsverfassung und damit die Umschiffung ihrer Kategorisierung. „Platonische Republiken und utopische Monarchien“693 an Stelle des ,deutschen Reichs‘ einzufordern, schien dem pragmatischen Realisten unsinnig, wenn nicht gefährlich. Noch bei seinem weitgehenden Reformentwurf von 1798 bleibt er dem ,solonischen Prinzip‘ treu: „[…] mit Solon zu sagen“, schließt Sinibald, „ich habe den Germanen nicht die beste aller Verfassung, (die ich selbst nicht kenne) sondern die beste, die ich unter den gegebenen Umständen für möglich halte, zugedacht.“694 Im Vordergrund der gesellschaftlichen Entwicklung steht bei Wieland nicht die Form der Staatsverfassung, sondern Tugend und Sittlichkeit, welche allein die nötige Gewähr für das Funktionieren einer gerechten Ordnung bieten. An ihnen muss ein ,Staatskünstler‘ wie Solon Maß nehmen. 690 „Daher gab er in der Folge, als ihn jemand fragte, ob er den Athenern die besten Gesetze gegeben hätte, zur Antwort: ,Ja, die besten, für die sie empfänglich waren.“ Plutarch: Lebensbeschreibungen. Gesamtausgabe, Bd. 1, mit einer Einleitung von Otto Seel, München 1964, S. 191 (Solon 15). 691 Wieland: Gegenwärtige Lage des Vaterlands, in: GS, Bd. 15, S. 579. 692 Wieland: Die Regierungskunst, oder Unterricht eines alten persischen Monarchen an seinen Sohn (1773), in: GS, Bd. 21, S. 60. 693 Wieland: Vorrede zu: Historischer Calender für Damen. 1792, in: GS, Bd. 23, S. 389. 694 Wieland: Träume mit offenen Augen, in: PS, Bd. 3, S. 552. Auch die zukünftige Idealverfassung Kyrenes beschreibt Aristipp mit beinahe identischen Worten. Sie solle, „[…] wo nicht die beste Verfassung, die sich denken läßt, wenigstens die beste, die unter den gegenwärtigen Umständen möglich ist“ werden. Wieland: Aristipp, S. 211.

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Kapitel 2: Reich als Text

Kein Volk hat jemahls eine Verfassung ohne sehr wesentliche Fehler gehabt: aber nicht die Verfassung, sondern die Gesinnungen und der Karakter eines Volks entscheiden seinen Werth und sein Schicksal.695

Aus dem ,solonischen Prinzip‘ und dem ihm inhärenten politischen Relativismus folgt die maßgebliche Erkenntnis, daß man unter einem König frey, und in einer Republik ein Sclave seyn kann, und daß nicht die Art der Regierungsform, sondern unsere eigene Tugend, und die Tugend der andern, die mit uns in eine Gesellschaft verknüpft sind, die wahre und einzige Quelle der Glückseligkeit auf Erden ist.696

Nach den Worten seines Romanhelden Aristipp sind „bürgerliche Gesetze“ lediglich „ein sehr unvollkommenes und unzulängliches Surrogat für den Mangel guter Sitten“697. Diese Selbstverantwortlichkeit jedes Menschen für die Glückseligkeit ist bei Wieland in ihrer Angewiesenheit auf ,Künste‘ und ,Wissenschaften‘ zwar noch keine ästhetische Erziehung im Sinne Schillers, er postuliert damit aber gleichsam einen ,vorpolitischen‘ Freiraum, für den der Staat lediglich die Bedingungen schaffen kann, der ihm aber selbst ganz anders als nach dem frühneuzeitlichen Begriff der ,guten Policey‘ nicht direkt zugänglich ist.698 Wielands Bild von der Reichsverfassung und der deutschen Kultur beruht schon vor der Revolutionszeit auf diesen beiden mit Solon beglaubigten Grundgedanken. Nur eingedenk dieser Prämissen und der europäisch-deutschen Gemengelage lassen sich seine Zuschreibung von 695 Wieland: Sendschreiben an Ehlers, in: GS, Bd. 15, S. 433. 696 Wieland: Gedanken über den patriotischen Traum, in: GS, Bd. 4, S. 207 f. Dieser Satz des „weisesten Scribenten“ geht auf Iselin zurück. Vgl. Iselin, Isaak: Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes, 2. Aufl. Zürich 1758, S. 129. 697 Wieland: Aristipp, S. 216. (Brief an Learchus). „Soll es jemahls besser um die Menschheit stehen, so muß die Reform nicht bey Regierungsformen und Konstituzionen, sondern bey den einzelnen Menschen anfangen.“ Wieland: Worte zur rechten Zeit, in: GS, Bd. 15, S. 616 f. 698 Vgl. Vollhardt, Friedrich: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2001, S. 314 – 326; Klippel, Diethelm: Der liberale Interventionsstaat. Staatszweck und Staatstätigkeit in der politischen Theorie des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Recht und Rechtswissenschaft im mitteldeutschen Raum, Köln/Weimar/Wein 1998, S. 77 – 103, hier S. 82 – 103; Pott, Sandra: Gemeinwohl oder ,schöner Schein‘. Staatszwecke und Staatsideen bei Christoph Martin Wieland und in der Weimarer Klassik, in: Aufklärung 13 (2001), S. 211 – 242.

3. Staatengleichgewicht und europäische Kultur

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Wert und Unwert, Potentialen und Risiken der politisch-kulturellen Lage Deutschlands begreifen. 3.1.1 Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten (1758) und Der goldne Spiegel (1772) In der Forschung herrscht weithin Einigkeit, dass sich Wieland erst angesichts der Französischen Revolution mit dem Reich beschäftigt und aus Angst vor Chaos für den Erhalt des politischen Status quo plädiert habe.699 Doch schon sehr früh, bereits 1758, schilderte er die Reichsverfassung nüchtern und sachlich in einer Vorlesung für seine Züricher Schüler. Reemtsma interpretiert das Prinzip des politischen Gleichgewichts aus Wielands Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten in Europa allein als Stilprinzip.700 Der Text bietet aber mehr als eine Demonstration „politische[n] Denken[s]“ in pädagogischer Absicht.701 Ungleich interessanter als die Formaspekte des im Privatissimum gelesenen Texts ist Wielands Sicht auf die politische Großwetterlage seiner Zeit. Bereits die Schilderung der ,germanischen‘ Frühzeit verrät deutlich die Handschrift des Autors, der 699 Vogt, Oscar: ,Der goldene Spiegel‘ und Wielands politische Ansichten, Berlin 1904. Vogt charakterisiert Wielands Sicht auf das Reich zuvor mit einem Briefzitat an J. H. Merck vom 26. Januar 1776, in dem von der „fatalen Verfassung“ die Rede ist, weist aber nicht darauf hin, dass es sich auf die Schwierigkeiten der Distribution des Teutschen Merkurs bezieht. In dem klaren Bekenntnis zur Reichsverfassung der 1790er-Jahren sei „weniger seine objektive Meinung zu sehen […] als das besonnene Urteil eines konservativen Mannes, der in der Zeit der Leidenschaft ein offenbares Übel nicht noch verschlimmern will, weil er Rückschläge der französischen Verhältnisse auf sein Vaterland fürchtet […].“ Ebd., S. 51. Als schließlich die unmittelbare Gefahr beseitigt war, habe er seinen ,alten Standpunkt‘ wieder eingenommen. Fink folgt diesem Modell ausdrücklich: Fink, Gonthier-Louis: Wieland und die Französische Revolution, in: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien, hrsg. v. Richard Brinkmann u. a., Göttingen 1974, S. 5 – 38, hier S. 30. Ebenso die einzige umfangreiche Arbeit neueren Datums zum Thema, die allerdings die Wende (vom ,Vetorecht der Quellen‘ gezwungen) bereits auf 1786 datiert: Sahmland: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation, S. 170 und S. 176. Charakteristisch für die aktuelle Wielandforschung geht Jan Philipp Reemtsma im Wieland-Handbuch unter dem Titel „Wieland und die Politik“ ausführlich auf Napoleon ein, erwähnt jedoch das Alte Reich mit keiner Silbe. Vgl. Reemtsma, Jan Philipp: Wieland und die Politik, in: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v. Jutta Heinz, Stuttgart/ Weimar 2008, S. 95 – 104. 700 Vgl. Reemtsma, Jan Philipp: Das Buch vom Ich: Christoph Martin Wielands ,Aristipp und einige seiner Zeitgenossen‘, München 2000, S. 96. 701 Ebd., S. 99.

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Kapitel 2: Reich als Text

aus der Fachliteratur kompiliert, die Fakten aber nach eigenem Gusto arrangiert.702 Während andere den germanischen Freiheitswillen gegenüber dem römisch-hierarchischen System herausgestellt hätten, beschreibt Wieland die taciteischen Ureinwohner als rohe, unwissende „Barbaren“703. Wie bei den meisten Autoren dieser Zeit erscheint das Mittelalter als chaotische, feudalistische Zeit, die aber die spätere Wende zum Guten vorbereitet habe. Indessen ist gewiß, daß dieses Gouvernement, so barbarisch als es an sich selbst ist und so sehr es der innerlichen Ruhe und dem Flor eines Staats entgegensteht, dennoch zu sehr vortrefflichen und nützlichen Einrichtungen Anlaß gegeben hat.704

Der Druck zwischen den Mächten sowie, innerhalb der Staaten, zwischen Ständen und Herrschern führte zu einer komplexen Form des äußeren und inneren Gleichgewichts: Der Staat mußte entweder eine Monarchie [Frankreich], oder eine aus der Monarchie und Democratie zusammengesetzte Republik werden [England], oder auch eine solche Form bekommen, wie das deutsche Reich hat, für welche noch kein Namen ausgesonnen worden, es wäre denn, daß man sie eine République des Princes nennen wollte [Deutschland]. Eine jede von diesen Staatsformen ist besser als die despotische […].705

Wieland vertritt zeittypisch die Meinung, dass die Staaten des modernen Europas – mit Ausnahme Schwedens unter Carl XI. – durch Verträge und Privilegien eingeschränkt seien.706 Frankreich habe sich jedoch unter Ludwig XIV. mehr und mehr von diesen gelöst. Die französischen Könige fanden Mittel, „sich der despotischen und absoluten Gewalt zu bemeistern, und haben sich derselben zum Unglück ihrer eigenen Völker und der 702 Ludwig Fertig bemängelt, dass man diese und andere Vorlesungen in die kritische Ausgabe von Wielands Werken übernommen hätte, wiewohl er dazu doch „offenkundig auch gedruckte Lehrbücher als Vorlage“ nutzte und oft wörtlich kompilierte. Fertig, Ludwig: Christoph Martin Wieland, der Weisheitslehrer, Darmstadt 1991, S. 40. Mag das auch für die Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten in Europa voll und ganz zutreffen, mindert es doch nicht den Quellenwert für dieses Thema. Erstens beweist die Schrift Wielands wohl aus dem juristischen Studium stammende Kenntnisse des ,Reichsstaatsrechts‘ und der ,Staatengeschichte‘, und zum anderen hatte ihn niemand gezwungen, eine proreichische Stellung zu beziehen – zumal er die Vorlesungen vor einem kleinen Kreis adoleszenter Schüler in der Schweiz hielt. 703 Wieland: Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten, in: GS, Bd. 4, S. 431 f. 704 Ebd., S. 433 f. 705 Ebd., S. 434. 706 Vgl. ebd., S. 434 – 438.

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auswärtigen Staaten nur allzu sehr bedient“707. Wieland zeigt, dass in der ständischen Libertät der Deutschen jenes alte Prinzip überlebt habe, „daß […] alle Sachen, die den ganzen Staat betrafen, nicht anders, als in einer Versammlung aller freyen Leute, die zu der Nation gehörten, könnten ausgemacht werden“708. Dieses Prinzip sei durch die mittelalterliche Entwicklung auf die Stände zusammengeschrumpft, lebe aber dort fort. Im Zeitraffer zeichnet er die Einschränkung der Königswahl auf die Kurfürsten und die Entstehung der Reichstädte mit ihrer engen Bindung an den Kaiser nach.709 Zwischen den Machtbestrebungen des „Haus[es] Östreich“ und der zunehmenden Selbstständigkeit der „Fürsten“ zerrissen, sei „Deutschland“ in der Neuzeit ein „Schauplatz innerlicher Kriege“ gewesen.710 Erst seit dem Frieden von Osnabrück und Münster aus dem Jahr 1648 sei Ruhe und Ordnung im ,deutschen Reich‘ gesichert: Nach vielen Abwechslungen des Glücks erhielt die gute Sache die Oberhand, der Cardinal Mazarin brachte zustand, was sein Vorgänger und Lehrmeister incamminiert hatte, und es wurde Ao 1648 der berühmte Westphälische Friedens=Tractat publiciert, von welchem Louis XIV. und die Krone Schweden die Garants wurden. Durch diesen Frieden wurden alle unmittelbaren Vasallen des Reichs für Reichsstände erklärt, die alten fürstlichen Häuser von der kayserlichen Iurisdiction gänzlich eximiert und kurz den Ständen soviele Freyheiten und Immunitäten gegeben und den Kaysern so enge Schranken gesetzt, daß das deutsche Reich dadurch eine ganz neue Form erhielt. Durch dieses Friedens=Instrument, welches die Kraft eines ewigen und unwiderruflichen Reichsgesetzes bekommen hat und sowohl bey andern neuern Friedensbeschlüssen, als bey den Wahl=Capitulationen der Kayser zum Grund gelegt wird, ist Deutschland zu einer Art von freyen Republik geworden, von welcher die Reichsstände die cives vorstellen; dem Kayser aber ist nicht nur alle Macht, Böses zuthun, genommen, sondern er ist in allen Stücken so eingeschränkt worden, daß er kaum so viel zu bedeuten hat, als ehemals die Merovingischen Könige in Frankreich. Und dieses ist also die Gestalt, welche das alte FeodalGouvernement in Deutschland, einer langen Reyhe stufenweiser Veränderungen bekommen hat.711

707 Ebd., S. 466. 708 Ebd., S. 435. 709 Der Biberacher fügt kritisch hinzu: „[…] und dieser Rapport zwischen dem Kayser und den Reichsstädten daurt noch heutiges Tages, nur mit dem Unterschied, daß die letzten ihre Dienste zwar getreulich leisten, der erste aber ihnen keine Belohnung dafür gibt.“ Ebd., S. 437. 710 Ebd., S. 438. 711 Ebd., S. 439.

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Wieland referiert die verfassungsrechtliche Grundlage des Reichs mit nur unscheinbaren Wertungen („die gute Sache [erhielt] die Oberhand“). Allein die Stellung des Kaisers im Reichsverband scheint ihm offenkundig zu schwach, doch war die Reichsverfassung im Sinne des ,solonischen Prinzips‘ das Beste, was unter den gegebenen Umständen, dem europäischen Kontext, dem innerreichischen Konflikt und der Höhe aufgeklärter Kultur, in Deutschland möglich war. All jene Elemente, auf denen sein Verfassungspatriotismus aus späterer Zeit beruht, sind bereits hier angelegt. Insbesondere das Lob für die vor Despotismus schützende Vielheit deutscher Staaten im Rahmen einer gemeinsamen Verfassung. Europa hat nach Wielands Analyse überall und eben auch in Deutschland die wesentlichen Schritte in Richtung kultureller und ökonomischer Blüte genommen. Garant dafür ist das europäische Gleichgewicht der Mächte. Sein Wertungsprinzip der Staatengeschichte war staatstheoretischer Konsens. Dieses Gleichgewicht, die „Republik von Souverains“, setze voraus, so fährt Wieland fort, dass der status quo jedes Staats gewahrt bleibe, „daß kein einzelner Staat auf Unkosten der andern mächtiger werde“712. Stärkere und schwächere Staaten können dank der „Balance“ ihre „Freyheit und Ruhe“ genießen.713 Die Parallele zwischen der inneren Entwicklung des Reichs und der europäischen Staatenfamilie ist offensichtlich. Ähnlich der Darstellung in Schillers Dreißigjährigem Krieg perhorresziert Wieland die „Universal=Monarchie“ der Habsburger unter Karl V. und „den despotischen Kaysern“ Ferdinand II. und Ferdinand III. als Gefahr für die Reichsverfassung im Speziellen und Europa im Allgemeinen.714 Reichsverfassung und europäisches System korrelieren. Karls Versuch, sich gegen die Reichsstände zum ,unumschränkten Monarchen‘ aufzuschwingen, konnte zum Glück für Deutschland und ganz Europa verhindert werden. Wieland rühmt daher den Passauer Vertrag von 1552, da durch ihn die „protestierenden Reichsstände ihre Religions= und Staatsfreyheit“ erlangt hätten. Und solchergestalt echappierte [= entkam] das deutsche Reich, die protestantische Kirche und gewissermaßen das ganze Europa der augenscheinlichen Gefahr, unter dem Übergewicht der österreichischen Macht erdruckt zu werden.715

712 713 714 715

Ebd., S. 456. Vgl. ebd., S. 456 f. Ebd., S. 458. Ebd.

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Wieland lehnt nicht nur den absoluten Anspruch Österreichs ab, sondern begrüßt sogar den Aufstieg Preußens – aus europäischer Sicht als Konkurrenz zu Russland und den Habsburgern, aus innerdeutscher Sicht als „Obermacht“ der „Protestantische[n] Parthey“716. Die negativen Folgen des Dualismus für das Reichssystem waren 1758 noch nicht absehbar. Noch zum Tod Friedrichs II. erinnert er an dessen Verdienst um das Gleichgewicht innerhalb der Reichsverfassung.717 Andere Texte aus seiner Feder unternehmen freilich die in diesem Reichsbild veranlagte Gegenprobe: Die „Merovingischen Könige“, denen laut der Einleitung die Macht oder besser Nicht-Macht der deutschen Könige gleiche, finden Eingang in seinen wichtigen Staatsroman Der goldne Spiegel (1772).718 Scheschian, das fiktive Reich, von dem der weise Danischmend dem schlaftrunkenen Schach=Gebal in didaktischer Absicht erzählt, war in seiner Frühzeit „in eine Menge kleiner Staaten zerstückelt“, die „von eben so vielen kleinen Fürsten regiert wurden“719. Alle „Potentaten“ befanden sich in verheerendem Kampf miteinander. Die Frühgeschichte Scheschians ist unverkennbar eine Satire auf das ,deutsche Reich‘, die auch offensichtlich wäre, wenn der Erzähler nicht König Dagobert zitieren würde.720 Da von 300 Fürsten die Rede ist, wusste jeder Leser, dass auf die Reichsstände des Alten Reichs angespielt wird.721 In einer Anmerkung zu einem ebenso mit der Gattung des Fürstenspiegels kokettierenden Text aus derselben Zeit, Die Regierungskunst, oder Unterricht eines alten persischen Monarchen an seinen Sohn (1773), karikiert Wieland die „unglaubliche Menge grösserer und kleinerer Staaten“ einer namenlosen Nation, deren Reichsverfassung den einzelnen Herrschern „ihrer allgemeinen Verbindung unbeschadet“ den Spielraum lasse, zu entscheiden, ob sich ein Untertan satt esse oder nicht.722 „Unstreitig die Glücklichsten“ sind nach Sicht des Kommentators weder die Untertanen 716 Ebd., S. 463. 717 Vgl. Wieland: Friedrich der Große, in: PS, Bd. 1, S. 268. 718 Zur Gattungsfrage zwischen Staatsroman, Bildungsroman und Utopie: Jordheim, Helge: Der Staatsroman im Werk Wielands und Jean Pauls. Gattungsverhandlungen zwischen Poetologie und Politik, Tübingen 2007, S. 172 – 198. 719 Wieland: Goldner Spiegel, in: GS, Bd. 9, S. 27. 720 Vgl. „Denn keine Krähe hackt der andern die Augen aus, sagt der König Dagobert. Wer war dieser König Dagobert? Fragte der Sultan den Filosofen Danischmend.“ Ebd., S. 28 mit einer Fußnote, die auf Gregor von Tours verweist. 721 Ebd., S. 31 f. 722 Wieland: Die Regierungskunst, oder Unterricht eines alten persischen Monarchen an seinen Sohn (1773), in: GS, Bd. 21, S. 60.

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der Duodezherrscher, die „von der Spitze eines Maulwurfhügels“ den „ganzen Umfang ihrer Monarchie“ begutachten könnten, noch jene der mächtigen „Selbstherrscher“, die über große Armeen verfügten, sondern gerade die Bürger, die in mittleren Staaten unter Herrschern leben, die noch „mächtig genug“ seien, „um viel Gutes thun zu können“723. In diesem Text geht es nicht um die Bildung des Fürsten, sondern um Kriterien für die Herrscherwahl, die für ein Reich wie das deutsche, „wo das ganze Jahr durch so viel zu wählen ist“, von großem Belang sei.724 Gemeint sind natürlich die Wahlen in den Domkapiteln der Reichsbistümer und in den Gremien der Reichsstädte. Wie die Frühgeschichte Scheschians lässt sich das unrühmliche Bild des vielstaatlichen Verbands als Kritik an der zu schwachen Reichsverfassung lesen, für deren Stärkung und Verdichtung Wieland auch später noch warb, deren Aufhebung er aber keinesfalls wünschte: Lob erhalten nicht die mächtigen Flächenstaaten, sondern jene mittlerer Größe, in denen sich Macht und Machtbeschränkung die Waage halten. „Ich hoffe aber doch“ schreibt Wieland 1778 in einem Brief an Tobias Philipp von Gebler anlässlich des drohenden Bayerischen Erbfolgekriegs, „die Stunde // des Heiligen Römischen Reichs sey noch nicht gekommen […].“725 Auch sein Goldner Spiegel darf trotz der Satire zu Beginn nicht als Verdikt über die Reichsverfassung verstanden werden. Wenn Dschengis in der Erzählung des Danischmend seinem Zögling Tifan von einer Mischverfassung, „ein unförmliches Mittelding von Monarchie und Demokratie“726, abrät und eine starke Monarchie gegenüber „eine[r] Menge kleine[r] Freystaaten“ bevorzugt, die nur „durch einen so schwachen Faden, als ein gemeinschaftliches Bündniß“ zu einem Ganzen vereinigt würden,727 ist das keineswegs Wielands eigene Meinung. Die griechischen Staaten, die helvetischen Eidgenossen oder die „Freystaaten in Nordamerika“, die durch ein gemeinsames „Trutz= und Schutzbündniß“ verbunden sind,728 sieht der Aufklärer an anderer Stelle als gelungenen Ausgleich der verschiedenen politischen Prinzipien in der Praxis. Der Tifanische Staat ist keine direkte Umsetzung von Wielands Staatslehre.729 723 Ebd., S. 61. 724 Ebd. 725 Wieland an Tobias Philipp von Gebler, 5. Januar 1778, Nr. 4, in: WBr, Bd. 7,1, S. 21. 726 Wieland: Goldner Spiegel, in: GS, Bd. 9, S. 238. 727 Ebd., S. 226. 728 Wieland: Die Französische Republik, in: GS, Bd. 15, S. 549. 729 Wipperfürth, Susanne: Christoph Martin Wielands geschichtsphilosophische Reflexionen, Frankfurt a.M. 1995, S. 77.

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Ersterer soll eine (patriarchalische) Idealmonarchie sein, kein historisch gewachsener Staat. Er soll abstrakte staatstheoretische Prinzipien der Monarchie ,konkret‘ vorstellen und zur Verwirklichung nach dem ,solonischen Prinzip‘ aufrufen, keinesfalls aber zur dogmatischen Übertragung. Gerichtet ist der inhärente Reformappell des ,Fürstenspiegels‘ primär an den Territorialstaat, nicht an das Reich. Die Perspektive wechselt gleichsam von der kurzen Reichstotale des Romananfangs zum einzelnen Fürstentum, ist aber deshalb nicht unabhängig vom Reichsgedanken. Im Rückblick auf das untergegangene Reich stellt Wieland 1810 ernüchtert gegenüber Elisabeth Charlotte Ferdinande zu Solms-Laubach fest: O! des guten goldnen Spiegels und seines ehrlichen treuherzigen, acht Schwäbischen Verfassers, der sich in seiner sancta Simplicitas träumen ließ, daß er von den Königen, Churfürsten, Herzogen, Land- u Markgraven etc. und von allen Kron und Erbprinzen des damals noch (wiewohl etwas wackelnd) bestehenden heiligen Römischen Ex-Reichs begierig und mit großem Nutzen würde gelesen werden!! Wie wenig konnte die gute ehrliche Haut damals diese lieben Herren die sich bei den Maßnehmungen, wodurch sie uns zu Grunde richten, so wohlgeschehen lassen, und sich um das, worum ihnen selbst alles gelegen ist, so wenig bekümmern als ob es sie gar nichts angienge!!!730

Der goldne Spiegel sollte, so kokettiert Wieland, durchaus politische Zwecke befördern: Die Reichsfürsten, allen voran Joseph II. – „C’est mon Tifan“731, heißt es in einem Brief an Riedel 1772 – wollte er zur politischen Reflexion und Handlung ermuntern.732 Möglicherweise ließ ihn die allgemeine Hoffnung auf die Reichskammergerichtsvisitation, die zeitgleich im Teutschen Merkur kommentiert wurde, auch an eine Reichsreform denken.733 Zweifellos zielte der Reformimperativ aber vornehmlich auf die ,Teilstaaten‘. Die Gesprächssituation der Rahmenhandlung zwischen dem lernunwilligen Fürsten und dem intellektuellen Danischmend spiegelt so auch primär die Problemstellung in den einzelnen Territorien, nicht die des 730 Wieland an Elisabeth Charlotte Ferdinande zu Solms-Laubach, 16.–24. August 1810, Nr. 153, in: WBr, Bd. 18,1, S. 169. 731 Wieland an F. J. Riedel, 11. August 1772, Nr. 595, in: WBr, Bd. 4, S. 601; Kommentar dazu: ebd., Bd. 6,2, S. 1073. 732 Nicht aber, um sich in Wien anzudienen. Vgl. zu dieser älteren These kritisch: Wilson, Daniel W.: Intellekt und Herrschaft: Wielands ,Goldner Spiegel‘, Joseph II. und das Ideal eines kritischen Mäzenats im aufgeklärten Absolutismus, in: MLN 99 (1984), S. 479 – 502. 733 Vgl. Anonymus: Politische Nachrichten, in: TM 1 (1773), S. 282 f.; Anonymus: Politische Nachrichten, in: TM 2. Viertelj. (1776), S. 310.

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Reichs.734 Seine Selbstanzeige des Romans in der Erfurtischen gelehrten Zeitung richtet sich deshalb an den „Prinzenmentor“, den Fürsten und den einfachen Leser, der das Gehörte auf „sein eigen Vaterland“ – „sein eigen“ heißt das ,besondere‘, nicht das allgemeine – beziehen solle.735 Dem partikularen Anwendungsbereich widerspricht nicht, dass der Adressatenkreis zugleich gesamt- und reichsnational ist. Die Verbesserung der Teile sollte auf die Verbesserung des Ganzen wirken. Ein Rezensent verglich den Goldnen Spiegel entsprechend mit dem „Sachsen-Spiegel“ und dem „Schwaben-Spiegel“: „beides sind die urältesten Gesetzbücher der teutschen Nation“736. Im Teutschen Merkur von 1773 findet sich zur gleichen Zeit unter der Rubrik „Politische Nachrichten“737 die Hoffnung ausgesprochen, dass „Die deutschen Reichs=Fürsten“ „durch eine kluge Staats= und häußliche Wirthschaft, und durch eine patriotische Zusammenstimmung für das Wohl des gesamten Reichs, sich Ruhm und Ehre erwerben.“738 Das Reichsund Europabild der Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten steht also nicht quer zur Reichssatire des Goldnen Spiegels. Im Gegenteil, es handelt sich um zwei Seiten derselben Medaille. Zwar musste der Herausgeber schon wenige Jahre später den Glauben an eine erfolgreiche Visitation des Reichskammergerichts wieder beerdigen,739 der affirmative Blick auf die politisch-ökonomische Lage, insbesondere das „Erziehungswesen“740 mancher Reichsfürsten, blieb davon aber unangefochten: „Ueberhaupt scheint es, daß für Deutschland das achtzehnde Jahrhundert mit Recht das aufgeklärte zu nennen sey.“741

734 Dazu: Jordheim: Der Staatsroman, S. 154 – 158. 735 Wieland, Christoph Martin: Selbstanzeige des ,Goldnen Spiegel‘ durch den Autor, in: Erfurtische gelehrte Zeitung, 45. Stück, 4. Juni 1772, in: GS, Bd. 9, S. 324 f. 736 Magazin der deutschen Critic, S. 738, zit. n. Jordheim: Der Staatsroman, S. 169. 737 Sie könnte gut von Wieland selbst stammen, und auch wenn dies nicht der Fall ist, darf doch mit dem Hinweis auf einen Brief an Jacobi (12. März 1773, Nr. 113, in: WBr, Bd. 5, S. 95) Wielands Akzeptanz für die folgenden Zeilen als sicher gelten: „[…] kann ich keine Zeile einrücken, die ich nicht entweder gutheiße oder gegen die ich mich ausdrücklich verwahre.“ Vgl. Wahl, Hans: Geschichte des Teutschen Merkur. Ein Beitrag zur Geschichte des Journalismus im achtzehnten Jahrhundert, Berlin 1914, S. 61 ff. 738 Anonymus: Politische Nachrichten, in: TM 1 (1773), S. 282. 739 Anonymus: Politische Nachrichten, in: TM 2. Viertelj. (1776), S. 310. 740 Anonymus: Politische Nachrichten, in: TM 1 (1773), S. 282. 741 Anonymus: Politische Nachrichten, in: TM 1 (1773), S. 283.

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3.1.2 Kühler und heißer Patriotismus: Reichskultur zwischen Abderitentum und Kosmopolitismus Ein emphatischer Patriotismus, wie er im Umfeld des Göttinger Hains zu beobachten ist,742 folgt daraus aber nicht. Von „Indifferenz bzw. Ignoranz“743 gegenüber ,Deutschland‘ bis in die späten 1780er-Jahre zu sprechen, schießt allerdings über das Ziel hinaus. Neuere Forschungen betonen zu Recht, dass Wielands Hermannsfragment gezielt als „Nationalepos“ und der Teutsche Merkur auch im politischen Sinne als „Nationaljournal“ geplant war.744 Ein entscheidendes Wertungskriterium war selbst für den Kosmopoliten Wieland das ,Nationale‘, wie die Rede vom „National=Charakter“ oder dem „Erdgeschmack“ der Dichtung nahelegt.745 Man muss allerdings zwischen zwei Arten des Patriotismus unterscheiden, die im Kontext einer literarischen Generationenstreitigkeit stehen:746 Während Wieland einen engstirnigen ,warmen‘ Patriotismus ablehnte, da er der menschlichen Bestimmung und dem Fortschritt Europas widerspräche, erschien ihm ein ,kühler‘ Patriotismus, der gegenüber dem Kosmopolitismus offen ist, durchaus wünschenswert. Die Anmerkungen und Zusätze des Herausgebers zu dem Text des Gießener Poetikprofessors Christian Heinrich Schmid Über den gegenwärtigen Zustand des deutschen Parnasses (1773) berühren diese Unterscheidung. ,Warmer Patriotismus‘ und Reichsverfassung gelten ihm wie später in Über deutschen Patriotismus (1793) als unvereinbare Größen. Wie dort verneint der Text jedoch weder die Möglichkeit einer ,kühlen‘ Verfassungsliebe noch die Existenz einer deutschen Nation. Vielmehr geht es darum, jenen „unzeitigen Patriotismus“ zu vermeiden, der den Austausch zwischen den europäischen Ländern 742 Blitz, Hans-Martin: „Gieb Vater, mir ein Schwert!“ Identitätskonzepte und Feindbilder in der patriotischen Lyrik Klopstocks und des Göttinger ,Hain‘, in: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, hrsg. v. Hans Peter Herrmann/Hans-Martin Blitz/Susanna Moßmann, Frankfurt a.M. 1996, S. 80 – 122. 743 Sahmland: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation, S. 154. 744 Vgl. Blitz: Aus Liebe zum Vaterland, S. 135 ff.; Nowitzki, Hans-Peter: Der ,menschenfreundliche Cosmopolit‘ und sein ,National-Journal‘. Wielands ,Merkur‘-Konzeption, in: ,Der Teutsche Merkur‘ – die erste deutsche Kulturzeitschrift?, hrsg. v. Andrea Heinz, Heidelberg 2003, S. 68 – 107. 745 Wieland: Zusätze des Herausgebers zu dem voranstehenden Artikel, 4) „Der Eifer, unsrer Dichtkunst einen National=Charakter zu geben“, in: GS, Bd. 21, S. 31. Vgl. Sahmland: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation, S. 156. 746 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung: ebd., S. 140 ff. Zu der Auseinandersetzung mit Schmid: ebd., S. 156 ff.

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beeinträchtige.747 Die Reichsverfassung scheint insofern gerade aufgrund ihrer Mala als wahres Bonum zu wirken: Sie macht den Weg frei, bürgerliche Ordnung und Sicherheit in einem Gemeinwesen mit der kosmopolitischen Aufgabe der ganzen Menschheit zu verbinden. Dass die Deutschen trotz ähnlicher Vielfalt ihrer Staatlichkeit noch nicht zu gleichem Ruhm gekommen sind wie die Griechen, liegt nach Wieland an der fehlenden kulturellen Zentrierung durch einen Sammelpunkt wie Athen oder große ,Nationalfeste‘. Alle Griechen strömten anlässlich der „Olympischen Spiele[]“ zu einem „poetische[n] Wett=Streite“748 zusammen. Außerdem erhalte der Poet nicht die gleiche Stellung und Förderung wie in Griechenland. „Sophokles commandirte mit dem Perikles die Griechischen Völker.“749 In Deutschland wäre dergleichen undenkbar. Von „Gleichgültigkeit der Großen“ und „Undank des Publicums“ ist die Rede.750 Im Kommentar zu Schmids Schrift führt Wieland als weiteren Unterschied die allgemeine zivilisatorische Höhe Europas an, während die Griechen zu ihrer Zeit ein singuläres Phänomen gewesen seien: Die Ursachen, warum die deutsche Nation keinen so ausgezeichneten National=Charakter haben kann wie die Französische und Englische, sind bekannt genug. Sie liegen in unserer Verfassung; und können also auch nur mit unserer Verfassung aufhören. Die deutsche Nation ist eigentlich nicht Eine Nation, sondern ein Aggregat von vielen Nationen, so wie die alten Griechen, unter welchen Corinthier, Spartaner, Thebaner, Athenienser, Megarenser, Thessalier, u. s. w. viel zu verschieden von einander waren, um sich anders als durch sehr allgemeine folglich wenig auszeichnende Züge zu gleichen. Wenn die Griechen überhaupt zur Zeit ihres größten Flors unter allen übrigen bekannten Völkern hervorragten: so kam es blos daher, weil die übrigen Völker alle, mehr oder weniger, Sclaven oder Barbaren waren.751 747 Wieland, Christoph Martin: Über ein seltsames Compliment, das der deutschen Litteratur im London Magazin gemacht worden, in: TM 5 (1774), S. 113 – 119, hier S. 113. 748 Wieland: Allgemeiner Vorbericht des Verfassers (1762), in: GS, Bd. 3, S. 295. 749 Ebd. „Was Wunder also, da unsere Verfassung, unsere Erziehung, unsere Sitten, den Musen so wenig günstig sind; daß eine Menge sonderbarer Umstände zusammen kommen müssen, bis unter den poetischen Genien, deren unsre Nation ohne Zweifel so viele hervorbringt als irgend eine andre, einer oder der andre würklich entwickelt und zu demjenigen gebildet wird, was er, nach Absicht, der Natur seyn sollte?“ Ebd., S. 295 f. 750 Wieland: Briefe an einen jungen Dichter, in: TM 3. Viertelj. (1782), S. 129 – 157, hier S. 152. 751 Wieland: Zusätze des Herausgebers zu dem vorstehenden Artikel, 4) „Der Eifer, unsrer Dichtkunst einen National=Charakter zu geben“, in: GS, Bd. 21, S. 30 f.

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Meistens wird diese Stelle als Beleg zitiert, dass Wieland die Deutschen nicht als Nation sähe. Liest man jedoch weiter, so erweist sich das als Fehllektüre: „Bey allem dem hatten die Griechen doch überhaupt einen National=Charakter und wir Deutschen haben den unsrigen.“752 Betont wird die Unfähigkeit zum ,warmen‘ Patriotismus aufgrund der Vielstaatlichkeit, um Distanz gegenüber den „von vermeyntlicher Vaterlandsliebe brausenden Köpfen“753 zu gewinnen, die den Fehler machen, den Nationalcharakter als das einzige Ziel der kulturellen Entwicklung auszugeben. Für Wieland eine flagrante Missachtung „der heutigen Verfassung der Welt“ und der Bestimmung der Kunst, die in der „Verschönerung und Veredelung der menschlichen Natur“ bestünde.754 Nicht aber als Kompensation der fehlenden Staatlichkeit ist seine Orientierung an Aufklärung und Kosmopolitismus zu verstehen, sondern im Sinne des ,solonischen Prinzips‘ als logische Fortsetzung der europäischen Entwicklung im Allgemeinen und der deutschen im Speziellen. Dass Deutschland mit dem Reich eine bestehende politische Ordnung besitzt, wird nicht nur mit keinem Wort bestritten, vielmehr wird sie betont, um die ,Bardenmode‘ der Lächerlichkeit preiszugeben: Von der Zeit „Tuiskons“, über Heinrich I. und Otto I. bis zum Jahrhundert „Carls des siebenden“ haben sich in dem „Germanischen Staatskörper“, schreibt Wieland, „so manichfaltige, so wesentliche Veränderungen“ vollzogen, dass „der unermessliche Unterschied der gegenwärtigen Verfassung von Europa und Deutschland“ die germanophilen Dichter, so lässt sich folgern, zu jämmerlichen Anachronisten macht.755 Diese „Art von Freyheit“ haben „wir zu unserm Glücke längst verlohren“756. Von hier führt der Weg zu Wielands späterem Aufsatz Das Geheimniß des Kosmopoliten=Ordens (1788), in dem er bei allen Mankos der politischen Verfassung die grundsätzliche Sicherheit und Freiheit der Deutschen betont und darin die Möglichkeit kosmopolitischer Tätigkeit grundgelegt sieht: Die Zeit ist endlich gekommen, wo nichts Gutes das Licht zu scheuen Ursache hat: wenigstens ist sie für unser Vaterland gekommen. Es giebt, Dank sey dem Himmel! keine Neronen und Domiziane unter uns, vor denen gute Menschen sich verbergen müßten. Wenn auch in vielen Gegenden die Rechte der Ver752 753 754 755

Vgl. ebd., S. 31. Vgl. ebd. Ebd., S. 34. Wieland: Zusätze des Herausgebers zu dem vorstehenden Artikel, 5) „Wenn sie fortfahren die Teutschen des achtzehnten Jahrhunderts für Enkel Tuiskons anzusehen“, in: GS, Bd. 21, S. 35. 756 Ebd.

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nunft durch alte Vorurtheile noch geschmälert und angefochten werden: so ist doch keine Wahrheit, die sich nicht irgendwo in Germanien mit aufgedecktem Angesichte zeigen dürfte.757

Beide Positionen – die Nichteignung der Reichsverfassung zu einem exkludierenden, warmen Patriotismus und das kosmopolitische Potential der Deutschen – stehen bereits in diesen Texten nebeneinander, sind aber noch nicht in gleicher Weise zur Symbiose gebracht, wie es in den 1790er-Jahren der Fall ist. Die wesentlichen Elemente sind aber bereits angelegt: die Kritik an der Reichsverfassung mit ihrer fehlenden kulturellen Zentralität und der mangelnden Exekutivkraft genauso wie Akzeptanz derselben als Frieden und Freiheit sicherndes Gefüge, das die Grundlage für die Blüte eines aufgeklärten Kosmopolitismus bietet. Wielands Schildbürgerroman Die Abderiten entstammt zu weiten Teilen dieser Gemengelage, geht es doch um das Gegenüber von Kosmopolitismus und engstirnigem Eigendünkel innerhalb einer Stadtrepublik. Um den Gegenwartsbezug des Fortsetzungsromans haben schon die Zeitgenossen gerungen. Sie empfanden ihn offenbar als Angriff auf die kleineren deutschen Reichsstädte.758 Wieland hat diese Spur selbst gelegt:759 „Wer wird sich also wundern“, schreibt er im Teutschen Merkur 1776, „wenn es in dieser Hälfte des 18ten Jahrhunderts soviel Abderiten und Abderitenheit in unserm werthen teutschen Vaterland giebt?“760 Auch 757 Das Zitat lautet weiter: „Der freye Geist der Untersuchung hat in dem glücklichsten Zeitalter der Griechen, (von welchem alle Aufklärung ausgegangen ist) mitten in Athen, nie unbeschränkter wirken dürfen als in unsern Tagen, und selbst jeder Mißbrauch der Vernunft in spekulativen Dingen hat (wie billig) keine andere Ahndung als die Zuchtruhte der Kritik zu scheuen.“ Wieland: Das Geheimniß des Kosmopoliten=Ordens, in: GS, Bd. 15, S. 209. „Vor allen andern Völkern hat die Deutsche Nazion vorzügliche Ursache, eine Beschützerin der Preßefreiheit zu seyn; sie, in deren Schooße zuerst die Erfinder der Typografie, und bald darauf die muhtvollen Männer entstanden sind, die bloß durch den freyen Gebrauch, den sie von jener machten, fähig wurden, die Hälfte Europens von der Tyranney des Römischen Hofes zu befreyen […].“ Ebd., S. 229. 758 Schlosser, J. G.: Schreiben an Herrn Hofrath Wieland in Weimar über die Abderiten im deutschen Merkur, in: Deutsches Museum 1 (1776), S. 147 – 161. 759 Die Parodie des deutschen Theaterwesens wird sogar direkt im Text mit der deutschen Entwicklung synchronisiert: „So war es wenigstens von keiner andern Art als das Schauspielfieber, womit wir bis auf diesen Tag manche Städte unsers werthen Deutschen Vaterlandes behaftet sehen. Das Übel lag nicht sowohl im Blute, als in der Abderitheit der guten Leute überhaupt.“ Wieland: Abderiten, in: GS, Bd. 10, S. 173. 760 Wieland: Auszug aus einem Schreiben an einen Freund in D***, in: GS, Bd. 10, S. 9. Vgl. TM 3.Viertelj. (1778), S. 241 – 259.

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in anderen Texten erhalten die kleineren deutschen Reichsstädte ihren sicheren Platz neben der ,verkehrten Polis‘ Abdera.761 Die politische Struktur des Städtchens, das sich zu Athen verhält ,wie ein Affe zum Menschen‘,762 hat in der Tat wenig mit antiken Poleis zu tun, aber viel mit den oberdeutschen Städten innerhalb des Reichs, man denke z. B. an die Institutionen des Großen und des Kleinen Rats, den Kanzleistil, die Bikonfessionalität oder auch die oligarchischen Kabalen und Intrigen.763 Dass der desaströse Prozess um des Esels Schatten als Satire auf das reichsstädtische Gerichtswesen zu verstehen ist, mit den typischen Besitzstreitigkeiten, der barocken Formalität und Langsamkeit, Recherchen nach einer „Präjudicialfrage“764 im Archiv und notorischen konfessionellen Streitigkeiten, deren Prozesskosten schließlich den Streitwert um ein Vielfaches übersteigen, steht außer Frage. Gespickt mit Latinismen erscheint die Schilderung des Verfahrens als sachkundige Parodie der deutschen Juristensprache.765 Wielands dienstliche Tätigkeit als Kanzleischreiber in Biberach stand hier genauso Pate wie die Erfahrungen seines eigenen Prozesses – mit dem entscheidenden Unterschied, dass der innerstädtische Streit in Biberach dank der Reichsverfassung von außen durch den Reichshofrat zu Wielands Gunsten beigelegt werden konnte.766 Und dennoch gilt: Interpretationen, welche die Anspielungen auf das Deutschland des 18. Jahrhunderts ignorieren, gehen genauso fehl, wie jene, die in positivistischer Kleinarbeit allzu konkrete Bezüge zu den Verhältnissen in der Reichsstadt Biberach, am Mannheimer Theater oder in Erfurt nachzuzeichnen versuchen.767 Kurz: Biberach ist nicht Abdera, aber es gibt dort auch Abderiten. Muss der Roman also wirklich als vernichtendes Urteil Wielands über das politische Deutschland oder zumindest dessen reichsstädtischen Teil verstanden werden? Ist er Ausdruck der deutschen Misere? Im Sinne des ,solonischen Prinzips‘ lässt sich zweierlei erwidern. 761 Vgl. Wieland: Stilpon, in: GS, Bd. 10, S. 303 f.; Klotz, Volker: Verkehrte Polis, in: ders.: Die erzählte Stadt, München 1969, S. 66 – 90. 762 Wieland: Abderiten, in: GS, Bd. 10, S. 49. 763 Vgl. Blickle, Peter: Das Eigentum am Schatten des Esels. Wielands oberdeutsche Erfahrung als politische Theorie: Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit, hrsg. v. Henriette Herwig/Irmgard Wirtz/Stefan Bodo Würffel, Tübingen/Basel 1999, S. 143 – 160. 764 Wieland: Abderiten, in: GS, Bd. 10, S. 195. 765 Z. B. ebd., S. 186 f. 766 Vgl. Springer: Christoph Martin Wieland als Kanzleiverwalter in Biberach. 767 Vgl. z. B. Seuffert, Bernhard: Wielands Abderiten, Berlin 1878; Hermann, Ernst: Wielands ,Abderiten‘ und die Mannheimer Theaterverhältnisse, Mannheim 1885.

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Erstens: Die Verfassung ist auch in Abdera nur so gut wie die Abderiten. Als Verdikt über das politische System der Kleinstadt kann der Roman daher nicht gelesen werden.768 Und zweitens: Die entscheidende politische Aussage ergibt sich erst über die komplexe literarische Form und die Kommentierung des Autors im Rahmen der publizistischen Öffentlichkeit des Teutschen Merkurs und lässt sich nicht durch einfache Identifikation fassen. Wieland besaß keine klammheimliche Sympathie für das Narrenvölkchen.769 Die unselige Mischung aus heilloser „Dummheit und schiefem Witz“770 führt zur „fundamental gestörten Kommunikation“771 zwischen den Abderiten und ihren kosmopolitischen Opponenten. „Ihr habt euch einen falschen Begriff von Freyheit in den Kopf gesetzt“, ruft ihnen Demokrit zu, „Wir sind ein freyes Volk, sagt ihr; und nun glaubt ihr, die Vernunft habe euch nichts einzureden.“772 Während die auswärtigen Gäste Euripides und Hippokrates die Stadt schon bald kopfschüttelnd sich selbst überlassen, hält es der wohlmeinende kosmopolitische Mitbürger länger in seinem ,Vaterland‘ aus,773 muss ihm aber dann doch den Rücken kehren. Das geliebte Gemeinwesen wird über den lächerlichen Prozess um des Esels Schatten und die daraus resultierende Fraktionierung der Bürgerschaft völlig zerrieben. Was Wieland in den Abderiten kritisiert, ist nicht die Verfassung der deutschen Reichsstädte, sondern die Engstirnigkeit und das eigennützige Verhalten ihrer Bürger, das freilich kein Spezifikum der Deutschen ist: 768 Mit Peter Blickle, einem der besten Kenner kommunaler Strukturen in der Frühen Neuzeit, gesprochen: „Nicht die Institutionen und damit auch nicht die Verfassung von Abdera werden kritisiert, sondern der Verlust der Werte, auf denen diese Verfassung fußen muss, soll sie funktionieren. Was Abdera für seine Gesundung bräuchte, wäre Gemeinnutz statt Eigennutz. […] Der Republik ist das abhanden gekommen, was sie zur Republik macht, die Tugend.“ Blickle: Das Eigentum am Schatten des Esels, S. 149. 769 So: Martini, Fritz: Wieland: ,Geschichte der Abderiten‘, in: Christoph Martin Wieland, hrsg. v. Hansjörg Schelle, Darmstadt 1981, S. 152 – 188, hier S. 157. Zum versöhnlichen Lachen: ebd., S. 176 ff. 770 Wieland: Auszug aus einem Schreiben an einen Freund in D***, in: GS, Bd. 10, S. 9. 771 Budde: Aufklärung als Dialog, S. 318. 772 Wieland: Abderiten, in: GS, Bd. 10, S. 57. 773 „Und wiewohl er glaubte, daß der Karakter eines Weltbürger Verhältnisse in sich schließe, denen im Kollisionsfall alle andere weichen müssten: so hielt er sich doch darum nicht weniger verbunden, als ein Bürger von Abdera, an dem Zustande seines Vaterlandes Antheil zu nehmen, und, so viel er könnte, zu dessen Verbesserung beyzutragen.“ Ebd., S. 75.

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,Abdera ist überall‘. Gegenüber dem Bürgermeister seiner Heimatstadt Justus Heinrich von Hillern drückt der Aufklärer anlässlich eines neuen Reichshofratsprozesses seiner „liebe[n] Vaterstadt“ den „Unmuth“ über die „Abderitische Albernheit der Händel“ [!] aus und schließt in ganz ähnlicher Weise wie die hier beschriebene Lehre des Romans: Wenn alle Glieder des Magistrats gesinnt wären wie Sie, handelten wie Sie, das Gemeine Beste so redlich suchten und beförderten wie Sie, den Frieden und die Billigkeit liebten wie Sie, und jeder seines Amtes mit solchem Fleiß und solcher Treue wartete wie Sie: so würde Biberach ein Muster einer zwar kleinen aber glücklichen und blühenden Reichsstadt seyn. Aber von jeher ist der Geist der Zwietracht und der Mangel an ächter Vaterlands Liebe Biberachs Unglück gewesen, und wird, wenn die Zahl der Wohldenkenden und Rechtschafnen nicht größer wird, endlich sein Verderben nach sich ziehen.774

Die Abderiten werden nicht versöhnlich geschildert, und der Humor löst die Probleme nicht. Ihre Geschichte endet aber auch nicht in der totalen Katastrophe der Selbstzerstörung, dem Exodus aus der eigenen Stadt aufgrund der selbstverschuldeten Froschplage,775 sondern, das wird oft übersehen, mit ihrer Rückkehr nach Abdera und einem stillschweigenden Glück „unter dem Schutze der Macedonischen Könige und der Römer“776. Das Schlussbild einer Stadtgemeinde innerhalb einer Monarchie ähnelt mit ihrem ruhigen Wohlgefühl, das freilich mit Bedeutungslosigkeit einhergeht, erstaunlich stark Wielands späterem Lob der Reichsverfassung und seiner Forderung, mit dem „leidliche[n] Zustand“ und der „goldne[n] Mittelmäßigkeit“ innerhalb des Reichs zufrieden zu sein.777 Die wesentliche politische Dimension des Romans liegt aber nicht in der Handlung. Bevor die Abderiten 1781 als Buchfassung mit einem Missverständnisse vorbeugenden „Schlüssel“ versehen erschienen, publizierte Wieland sie als Fortsetzungsroman im Teutschen Merkur. 778 Ein 774 Wieland an Justin Heinrich von Hillern, 17. Feb. 1783, Nr. 67, in: WBr, Bd. 8,1, S. 82. Von den Reichsstädten hatte Wieland ein durchaus positives Bild wie zahlreiche Briefe belegen: Wieland an Johann Georg Zimmermann, Nov. 1758, Nr. 329, in: WBr, Bd. 1, S. 378. Vgl. Fertig, Ludwig: „Abderitismus“ und „Kuhschnappelei“ oder: Das Genie in der Reichsstadt. Anmerkungen zu Schubart, Wieland und Jean Paul, Darmstadt 2004, S. 22 – 37. 775 So aber: Budde: Aufklärung als Dialog, S. 356 und 365 f. 776 Wieland: Abderiten, in: GS, Bd. 10, S. 290. 777 Wieland: Vorrede zu: Historischer Calender für Damen. 1792, in: GS, Bd. 23, S. 389 f. 778 Vgl. Manger, Klaus: Wielands ,Geschichte der Abderiten‘. Vom Fortsetzungsroman im ,Teutschen Merkur‘ zur Buchfassung, in: ,Der Teutsche Merkur‘ – die erste deutsche Kulturzeitschrift?, hrsg. v. Andrea Heinz, Heidelberg 2003, S. 131 – 152.

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Rezensent der Einzelausgabe urteilte 1783, dass die Geschichte „bei dieser theilweisen Bekanntmachung“ vielleicht an Reiz für den Leser gewonnen habe779, und er könnte damit Recht behalten. Erst die Interaktion zwischen Leser und Autor über die vielschichtigen Vorreden, Zuschriften und Kommentare transportiert die gegenwartsbezogene politische Botschaft der Abderiten-Geschichte, welche sonst nur durch die Erzählerkommentare im Text zu erschließen ist.780 Der Roman erschien in zwei Schüben, zunächst 1774 und nach vierjähriger Pause 1778 bzw. das Romanende erst 1780. Bereits Wielands Vorbericht zum Start der Fortsetzungsreihe antizipiert die Kritik der Leser in doppelbödiger Form: Er habe keine „Satyre auf kleine Republiken“ schreiben wollen, doch er könne nicht ändern, dass die Abderiten nun einmal Abderiten seien.781 Die erste Reihe der Veröffentlichung beschließt er mit einer Antwort an jene deutsche Leser, die in ihren Städten „Originale zu meinen Bildern“ gefunden hätten.782 Er besitze keinen „kleinen Cabinets=Teufel“, der ihm die lokalen Details übermittle. Die beleidigte Reaktion mancher Leser beweise lediglich, dass die Realität in der Tat so närrisch sei, wie er sie fiktiv geschildert habe. Derjenige, der sich darüber echauffiere, sei vielmehr selbst „ein ausgemachter Abderit“783. Dass Wieland zu diesem Zeitpunkt tatsächlich derart viele Leserbriefe erhalten hat, ist unwahrscheinlich. Vielmehr dürfte es sich um eine gezielte Provokation handeln, die der inszenierten politischen Öffentlichkeit seiner publizistischen Schriften sehr nahekommt. Der Zweck des Buchs ist gewiss nicht, wie er ironisch schreibt, „nur [zu] belustigen, ohne zu bessern“784. Im Schlüssel zu den Abderiten bekennt er, nicht weniger ironisch, dass der Roman „zum Vergnügen aller Klugen und zur Lehre und Züchtigung aller Narren“ geschrieben sei.785 Der Clou besteht eben gerade darin, durch die Inszenierung einer Öffentlichkeit in die Diskussion um die deutsche Abderitenheit mit den einheimischen Abderiten selbst zu treten. Mit der 779 Rezension zu ,Abderiten‘, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 54, St. 1 (1783), S. 165. 780 Vgl. Müller: Wielands späte Romane, S. 24 ff.; Martini: Wielands ,Geschichte der Abderiten‘, S. 161. 781 Wieland: Vorbericht (1776), in: GS, Bd. 10, S. 1. Die hier zitierte Akademieausgabe gibt mit 1776 eine falsche Jahreszahl an. Vgl. den Vorbericht des Verfassers: Der Teutsche Merkur 5 (1774), S. 33 – 36, hier S. 35. 782 Wieland: Einleitung zum zweiten Teil (1776), in: GS, Bd. 10, S. 4. Wieder stimmt hier die Datierung der Akademieausgabe nicht, vgl.: Wieland, C. M.: Die Abderiten, in: Der Teutsche Merkur 7 (1774), S. 35 – 46. 783 Wieland: Einleitung zum zweiten Teil (1776), in: GS, Bd. 10, S. 4. 784 Ebd., S. 5. 785 Wieland: Schlüssel zur Abderitengeschichte (1781), in: GS, Bd. 10, S. 294.

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anonymen Reaktion eines schwäbischen Bürgermeisters, der den Anspruch der Schöngeister an die kleinstädtische Realität als sittenwidrige Gefährdung seiner Idylle wahrnimmt und Wieland zuruft „Wir bitten sie […], lassen sie uns in Ruhe“786, hatte der Aufklärer im Grunde eines seiner Ziele erreicht. Selbstverständlich muss die Fortsetzung von 1778 daher zunächst auf diesen „Abderitischen ofnen [sic] Brief“ eingehen, um an die öffentliche Diskussion über Engstirnigkeit und unvollendete (Schein-)Aufklärung in Deutschland anzuknüpfen.787 Der Auszug aus einem Schreiben an einen Freund in D***, der sich zu dem vorausgehenden Romanteil wie ein Kommentar verhält, ist explizit auf die Leserschaft innerhalb des Reichs gemünzt. Es sei nicht seine Schuld, beteuert er erneut, dass „in allen [Reichs-]Kreisen, Provinzen, Fürstenthümern, Graf= und Herrschaften, und besonders in allen größern und kleinern Städten“788 Figuren des Romans wiederentdeckt worden seien. Er habe, schreibt Wieland augenzwinkernd, doch nur eine „Art von Utopia, oder Moropolis“789 erdichten wollen. Dass diese allerdings trotz räumlicher und zeitlicher Verschiebung nicht fernab der deutschen Gegenwart liegt und eigentlich eine Dystopie geworden ist, bestreitet er keineswegs, wenn er anlässlich der Satire auf das Theaterwesen hinzufügt, dass er […] mit Niemand einen Krieg anfangen werde, der bey dieser Gelegenheit auch über diejenigen lachen – oder weinen will, die unter einer Nation, die keine gemeinsame Hauptstadt hat, und so lange sie ihre itzige gesetzmäßige Verfassung behält, keine haben kann, von Nationaltheatern reden, oder das teutsche Theater ihres Hofes, ihrer Stadt, eigenmächtig zum Nationaltheater erheben wollen. – Doch dies nur im Vorbeygehen, in Kraft der lieben teutschen Freyheit, vermögen deren, (wie man uns versichert) jedem ehrlichen

786 Schlosser, J. G.: Schreiben an Herrn Hofrath Wieland in Weimar über die Abderiten im deutschen Merkur, in: Deutsches Museum 1 (1776), S. 147 – 161, Zitat S. 160. „Wir waren“, schreibt der Lokalpatriot, „unabhängig, und nur Glieder eines Reichs, das uns keine Geseze vorschreiben konnte, die es nicht selbst hielt […].“ Ebd., S. 149. Erst die Schöngeisterei, wie sie Wieland betreibe, habe die Ruhe und Friedlichkeit der Reichsstadt gestört: „Sollten diese unsre armen Mädchen die Kühe melken, so saßen sie über einem Buch, das sie nicht verstanden; sollten sie graben im Garten, so hielten sie schöne Konversationen […].“ Ebd., S. 152. 787 Wieland: An den Leser, in: GS, Bd. 10, S. 6. Original in: TM 3. Viertelj. (1778), S. 26 – 30. 788 Wieland: Auszug aus einem Schreiben an einen Freund in D***, in: GS, Bd. 10, S. 9. 789 Ebd., S. 11.

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Teutschen und Deutschen erlaubt seyn soll, über National=Angelegenheiten seine unmaßgebliche Meynung zu sagen.790

Indem sich Wieland hier auf die ,teutsche Freyheit‘ beruft, kommt der inszenierten Öffentlichkeit die Aufgabe zu, jenen Vorteil in praxi einzufordern, den die deutsche Verfassung zum Ausgleich ihrer Nachteile verspricht: nämlich unbescholten ein Gespräch über die fehlende Aufklärung führen zu können, um so die Stellung des ,Kosmopolitenordens‘ im vielstaatlichen Reich gegenüber den einheimischen Abderiten auszubauen. In der Diskussion über den Roman erhält Deutschland gleichsam ein Zentrum, das es von sich aus strukturell nicht hat. Wielands Roman bezieht sich eindeutig auf das Alte Reich und die ,Reichsöffentlichkeit‘ – zu diesem Begriff später mehr –, doch steht hier nicht die deutsche Verfassung als Ursache der ,deutschen Misere‘ im Zentrum, sondern getreu dem ,solonischen Prinzip‘ die nur mangelhaft verwirklichte Aufklärung, welche im Medium der satirischen Kunst als inszenierter Dialog bestärkt werden soll.791 3.1.3 Deutschland im höchsten Flor wenn es nur will (1780/1786) Bona und Mala der Reichsverfassung überführt Wieland schließlich in seinen Zusätzen zu der 1780 verfassten Schrift Deutschland im höchsten Flor wenn es nur will in eine Gesamtschau. „Kannst du mir nicht sagen, lieber Bruder“, fragt Wieland etwas unsicher Johann Heinrich Merck, „wer denn wohl um aller Welt der Hans Narr seyn mag, der den Bogen Teutschland in seinem höchsten Flor wenn es will geschrieben hat. Ich habe ein bischen lustig mit ihm gemacht, wie du sehen wirst […].“ Offenbar trug er sich mit der Sorge, einen namhaften ,Publicisten‘, „irgend ein Großes Kalb“, satirisch aufs Korn genommen zu haben, wiewohl ihm der Reformentwurf des Anonymus’, der als eigenständige Schrift 1780 erschienen war, sehr unprofessionell anmuten musste.792 Die meisten Kommentatoren von Wielands Schrift aus dem Jahr 1780 begehen den Fehler, ihn nicht nur als Satire auf den Entwurf des Verfassers zu lesen, sondern zugleich als Satire auf das nicht reformierbare Reich. 790 Ebd. 791 Vgl. zur Frage nach der Funktion der Satire: Budde: Aufklärung als Dialog, S. 288 – 308. 792 Wieland an Johann Heinrich Merck, Ende April 1780, Nr. 321, in: WBr, Bd. 7,1, S. 281. Merck selbst trieb seinerseits Spott mit dem Text, indem er auf dessen absurde finanzielle Rechnungen anspielte. Vgl. Merck, Johann Heinrich: An den Herausgeber des T. M., in: TM 2. Viertelj. (1781), S. 139 – 146, hier S. 144 ff.

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Umso mehr müssen dann natürlich die reichspatriotischen Zusätze von 1786 irritieren.793 Erst durch einen Blick in den parodierten Text kann der Widerspruch aufgelöst werden: Wieland wendet sich hier im Sinne des ,solonischen Prinzips‘ gegen die Konstruktion vielversprechender Utopien oder platonischer Republiken, die mit der Realität nicht zu versöhnen sind. Und in der Tat entbehrt der Reformentwurf jeder Solidität und Praktikabilität. Die Zeitgenossen sahen im Übrigen auch keinen Bruch zwischen der Persiflage eines völlig unrealistischen Reformentwurfs und den reichspatriotischen Zusätzen. Die Neuen Leipziger Gelehrten Zeitungen wiesen Wielands Text 1786 mit knappen Worten zustimmend aus: Patriotischer Beytrag zu Deutschlands höchstem Flor, veranlasst durch einen im Jahre 1780 gedruckten Vorschlag dieses Nahmens. Richtige Schätzung der windigten Projecte und gegründete Darstellung des wahren Vortheils der deutschen Verfassung.794

Was den Text von 1780 veranlasste, ist genauso unbekannt wie die Verfasserschaft desselben. Möglicherweise motivierte die Hoffnung auf durchgreifende Reformen durch Joseph II., der nach dem Tod Maria Theresias in diesem Jahr freie Hand bekommen hatte.795 Der Originaltitel lautet Teutschland in seinem höchsten Flor wenn es will – ein Vorschlag, dem Kaiser und Reich gewidmet. Er besteht aus einer längeren Rechnung, die völlig fiktive Zahlen addiert und dabei das Wunderwerk eines grundsätzlich erneuerten Reichs bewerkstelligt.796 Wielands „Dulce est pro patria 793 Vgl. Sahmland: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation, S. 166 ff. Sie versucht, innerhalb der Satire Wielands „eigene Position zu eruieren, die indirekt hier enthalten ist“. In dem Zusatz von 1786 muss sie folgerichtig einen massiven „Bruch“ erkennen: ebd., S. 170. 794 Rezension zu ,Deutschland im höchsten Flor wenn es nur will‘, in: Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen 64 (1786), S. 1020. 795 Vgl. Schmidt: Wandel durch Vernunft, S. 200 ff. und S. 207 ff. 796 Zunächst wird ein „Fond von hundert Millionen Gulden“ erstellt, der allein Deutschlands Glück und Ansehen begründen soll. Vgl. Anonymus: Teutschland in seinem höchsten Flor wenn es will – ein Vorschlag, dem Kayser und dem Reich gewidmet, Leipzig 1780, S. 3. Im Folgenden werden mehrere Rubriken aufgemacht, denen ohne Rücksicht auf historische Realitäten Beträge zugeteilt werden. Die Überschuldung der Reichsstände wird mit einem Taschenspielertrick bewältigt: Jeder Fürst erhält aus dem Fond ein billiges Darlehen und kann die Differenz aus den eingesparten Zinsen zur Neuinvestition nutzen (ebd., S. 7). Entschuldung wie Aufbau können so mit demselben Geld bestritten werden (ebd., S. 8). Die billigen Zinsen werfen aber immer noch genug Ertrag ab, dass das Reich als Gläubiger neue Geldsummen erhält, die es wiederum verteilen kann, was mit einer neuen Ausgabenliste auch sogleich geschieht (ebd., S. 11).

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– desipere“797 erscheint durchaus als passendes Motto für einen Vorschlag dieser Güte. Wieland referiert den Plan, eine Akademie und ein „Reichs=Kammergerichts=Archiv“798 zu gründen wie auch die Schulden zu tilgen. Zu einem Reichskammergerichtsarchiv wurde, das sei nur nebenbei erwähnt, nach langen Diskussionen 1782 in der Tat der Grundstein gelegt.799 Ironisch lobt Wieland die Kreativität des Verfassers und fragt sich, warum die Vorfahren im Reich nicht gleich auf diesen Geniestreich verfallen seien.800 Der „unbedeutende[] Pfahlbürger des heiligen Reichs“801 karikiert schließlich die aberwitzige Rechnung und gründet eine „Reichs=Flor=Kasse“, deren Ertrag immer noch ausreiche, dem ehrwürdigen Verfasser für seine Mühe eine „jährliche Pension von 25 000“ Gulden zu schenken und ihm zum Andenken eine „metallene kolossalische Bildsäule [zu] errichten“. Vor allem allerdings finanziert sie die Erbauung eines allen zehn Reichskreisen gemeinschaftlichen Hospitals, worin alle die wackern Leute, die vor lauter übermäßiger Weisheit, Deutschheit, Empfindsamkeit, Menschen= und Vaterlandsliebe in Abfall ihres Verstandes gekommen sind, lebenslänglich und standesgemäß versorgt würden.802

Wielands Satire, so lässt sich zusammenfassen, entspricht ganz den reichspolitischen Kommentaren der vorangehenden Zeit: Indirekt wird ein pragmatisches Reformprinzip gegenüber utopischen Plänen in Stellung gebracht, und ein ,warmer‘ Patriotismus, der sich mit so windigen Ideen über England und Frankreich meint erheben zu können, schon durch das ironische Pseudonym „Teutbold AltEich“ des Platzes verwiesen. Einmal mehr amüsiert er sich über die „echte[n] blauäugige[n] und goldhaarige[n] Deutsche[n]“803. Das an den Kameralisten Philipp Wilhelm von Hörnigk804 und Leibniz erinnernde Schlagwort des Anonymus ,wenn es nur will‘, liegt für den Pragmatiker Wieland zu weit ab von jeder Realität. Und so steht am Ende die klare Absage an dergleichen Vorschläge: „Deutschland 797 Wieland: Deutschland im höchsten Flor, in: GS, Bd. 14, S. 268. Es geht natürlich auf Horaz’ „Dulce et decorum est pro patria mori“ zurück. 798 Ebd. 799 Vgl. Latzke, Walther: Das Archiv des Reichskammergerichts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germ. Abt. 78 (1961), S. 321 – 326. 800 Wieland: Deutschland im höchsten Flor, in: GS, Bd. 14, S. 269. 801 Ebd., S. 272. 802 Ebd., S. 275. 803 Ebd. 804 Vgl. Hörnigk, Philipp Wilhelm von: Österreich über alles wann es nur will […], o. O. 1684.

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möchte etwa am Ende wohl gar nicht – wollen wollen.“805 Wie die Zusätze von 1786 erweisen, ist damit nichts gegen die Verbesserung der Reichsverfassung an sich eingewendet. Sahmland vermutet die Ursache für den ,ernsthaften Nachtrag‘ im Abklingen der nationalen Schwärmerei, das „den Weg frei gemacht“ habe, sich mit dem Patriotismusthema intensiver zu befassen. Auch wird möglicherweise der Fürstenbund, welcher zum Anschwellen des Reichspatriotismus führte, eine große Rolle gespielt haben.806 Der Nachtrag lässt sich jedenfalls als Intensivierung und Synthese zuvor gewonnener Ansichten verstehen. Innerhalb des Texts ist allerdings ein frappanter Moduswechsel von Satire („diesem Lucianischen Tone“) zum politischen Statement markiert: „Die Wörter Vaterland, Vaterlandsliebe, Allgemeines Bestes, bezeichnen heilige Dinge […].“807 Kritisch charakterisiert Wieland Deutschland mit seiner verfassungsursprünglichen Eigentümlichkeit und setzt es zunächst negativ in Kontrast zu Frankreich und England als […] ein vielköpfiges Aggregat von einer großen Anzahl ganz verschiedener Völker und Staaten; eine Republik von Fürsten und Ständen unter einem durch Gesetze und Kapitulazionen beschränkten Wahlkönige; durch eine Staatsverfassung verbunden, die niemahls ihres gleichen gehabt hat; – durch nichts als diese Staatsverfassung und eine gemeinschaftliche, wiewohl nicht durchgängig angenommene Schriftsprache verbunden; sonst durch alles andere, Religion, Regierung, Staatswirtschaft, Polizey, Sitten und Gebräuche, Lage, Verhältnisse, Interesse, Mundarten, Grade der Kultur u. s. w. zum Theil himmelweit verschieden, getrennt und in Kollision gesetzt. Diese unsre Staatsverfassung, vermöge welcher Deutschland in gewissem Sinne, noch eben so wie das alte Germanien, in mehr als zweyhundert besondere, größere, mittelmäßige und kleine, zum Theil sehr mächtige, zum Theil sehr unmächtige Staaten zerstückelt ist, wovon der geringste, als ein unmittelbarer Stand des Reiches, die Landeshoheit in seinem Bezirke eben so vollkommen auszuüben berechtigt ist als der größte; diese Staatsverfassung ist es, welche jedem Vorschlage, jeder Bestrebung, die auf allgemeines Nazionalbestes, allgemeinen Nazionalruhm, allgemeine Nazionalreformen abzweckt, im Wege steht.808

Die Folge sei jener oft beschriebene Mangel an „Nazional-Uniform[ität]“, die fehlende „Hauptstadt Germaniens“ und die daraus resultierende kulturelle Entwicklungshemmung.809 Schon die hier zitierte Stelle verbietet es, 805 806 807 808 809

Wieland: Deutschland im höchsten Flor, in: GS, Bd. 14, S. 275. Vgl. Sahmland: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation, S. 170 f. Wieland: Deutschland im höchsten Flor, in: GS, Bd. 14, S. 275 f. Ebd., S. 277. Vgl. ebd., S. 277 f.

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von einer jenseits der Staatsnation konstruierten kosmopolitischen Kulturnation zu sprechen: Die Verfassung ist neben der Sprache bei allen Mängeln das einzige Band der Deutschen. Niemals zuvor hat Wieland die gesicherte bürgerliche Freiheit innerhalb der Reichsverfassung allerdings so explizit den negativen Aspekten entgegengestellt wie im Folgenden: Aber alle diese Nachtheile unsrer Staatsverfassung werden (anderer minder wichtiger Vortheile jetzt nicht zu erwähnen) durch den einzigen unschätzbaren Gewinn weit überwogen: daß, so lange wir sie erhalten, kein großes policiertes Volk in der Welt einen höhern Grad menschlicher und bürgerlicher Freyheit genießen, und vor allgemeiner auswärtiger und einheimischer politischer und kirchlicher Unterjochung und Sklaverey sicherer seyn wird als die Deutschen.810

Selbst der preußisch-österreichische Dualismus scheint wie schon in seiner Vorlesung von 1758 heilsbringend und friedenssichernd. Der Fürstenbund, von seinen Herolden als Schutzgeist des innerdeutschen Gleichgewichts und Retter der Reichsverfassung gepriesen, mag hier Wirkung zeigen.811 Die ,deutsche Freiheit‘ interpretiert Wieland als ,negative‘ bürgerliche Freiheit. In der Rivalität und Konkurrenz unter den Reichsständen wirke ein System der checks and balances, innerhalb dessen die jenseits höfischer Bindung sich entwickelnde Kultur gedeihen könne. Wir werden, so lange wir sie erhalten, nie eine einzige Religion, aber dafür Gewissensfreyheit und das Recht behalten, aus dem alten oder neuen Kirchengesangbuche zu singen. Wir werden mit männlicher Freyheit filosofieren, untersuchen, reden, lesen und schreiben dürfen. Der einzelne Tyrann, der sich eine ungebührliche Gewalt über seine Untergebenen heraus nehmen wollte, außerdem daß die Gesetze Hülfe gegen ihn verschaffen, wird dem Abscheu aller übrigen Theile der Nazion ausgesetzt seyn. Unsre Schriftsteller und Künstler werden weniger belohnt, weniger träg’ oder übermühtig gemacht, aber dafür weniger gefesselt, gedrückt und eingezwängt werden; wir werden ihrer eine desto größere Anzahl besitzen, und der Wetteifer unter ihnen wird Gewinn für die Nazion seyn. Alle Talente werden sich mit größerer Freyheit, Mannigfaltigkeit und Originalität entfalten […].812

Auf dieser Erkenntnis beruht Wielands Verfassungspatriotismus, für den er ausdrücklich eintritt und der sich zugleich gegen jenen „schriftstellerischen“ „Patriotismus“ wendet, der „seit geraumer Zeit wie die Taube Noahs 810 Ebd., S. 278. 811 „Zwey einander immer entgegen drückende Kräfte werden das aus so ungleichartigen Theilen bestehende Ganze immer im Gleichgewicht erhalten, und selbst jede Gefahr, diese Verfassung reißen zu sehen, wird sie fester zusammen ziehen.“ Ebd. 812 Ebd., S. 278 f.

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herum flattert, und, weil er nirgends Grund finden kann, im Lande der Träume hin und her fährt, Schimähren ausbrütet“, die zur Verengung auf eigene und zur „Verachtung fremder Vorzüge“ führten.813 Kurz: Gegen den warmen, exkludierenden Patriotismus wird ein kühler, sachlicher Verfassungspatriotismus ins Feld geführt, der aber nicht – wie gern behauptet wird – zur Konservierung des status quo rät. Vielmehr wird die „Liebe der gegenwärtigen Verfassung des gemeinen Wesens“ und das „aufrichtige Bestreben, zur Erhaltung und Vervollkommnung“ beizutragen, zur Aufgabe aller Patrioten gleich welchen Standes erklärt.814 Wiewohl man hier unmöglich von einem Bruch mit den früheren Positionen sprechen kann, ist doch nicht zu übersehen, dass ein politisches Plädoyer dieser Tonart eine neue Verdichtung des Reichsgedankens bei Wieland belegt – eine Verdichtung, die aber nicht als Refugium vor den Unruhen der Französischen Revolution, sondern aufgrund innerreichischer Diskussionen entstand. 3.2 ,Deutsche‘ und ,Europäische Freiheit‘ bei Schiller815 Über Schillers Geschichtsphilosophie und Schiller als Historiker ist viel geschrieben worden, doch blieb die Rolle des Alten Reichs innerhalb seiner historischen Schriften meistens unterbelichtet.816 Auf den ersten Blick mag 813 Ebd., S. 279. 814 Ebd., S. 279 f. Zuvor (S. 279) heißt es: „Dieß sind einige der wesentlichsten Vortheile, die wir unsrer gesetzmäßigen Konstituzion zu danken haben; und wahrlich! sie allein sind schon wichtig genug, und von unsern Vorfahren theuer genug erkauft worden, um sie über alles hoch zu achten, stolz auf sie zu seyn, und sie als das Palladium der Nazion anzusehen, an dessen Besitz oder Verlust ihre Freyheit, ihre Stärke, ihr Ruhm, ihr des Steigens noch immer fähiger Wohlstand geheftet ist.“ 815 Eine Kurzfassung dieses Unterkapitels wurde bereits publiziert: Hien, Markus: „Denn es hält ein nützliches Staatssystem durch Eintracht zusammen“. Die Reichsidee in Schillers ,Dreißigjährigem Krieg‘ und im ,Wallenstein‘, in: Schiller im philosophischen Kontext, hrsg. v. Cordula Burtscher/Markus Hien, Würzburg 2011, S. 103 – 120, hier S. 105 – 113. 816 Wichtige Anregungen für dieses Kapitel verdanken sich dem Aufsatz des Historikers Georg Schmidt: Schmidt, Georg: Friedrich Schiller und seine ,Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‘, in: Schiller im Gespräch der Wissenschaften, hrsg. v. Klaus Manger/Gottfried Willem, Heidelberg 2005, S. 79 – 105. Gegensätzlich: Dann, Otto: Schillers ,Geschichte des Dreißigjährigen Krieges‘, geschrieben zur Zeit der Französischen Revolution, in: Friedrich Schiller, 200e anniversaire de sa mort/histoire et historiographie, hrsg. v. Gérard Laudin/René-Marc Pille/Jean-

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das wenig verwundern, interessierte sich dieser doch nie explizit für das Reich. Bekannt ist, dass er es als ein „kleinliches Ideal“ bezeichnete, nur für eine Nation zu schreiben. Dennoch zweifelte Schiller nicht daran, dass die „Nation oder Nationalbegebenheit“ „Bedingung für den Fortschritt der Gattung“ sein konnte.817 Seine Äußerungen über Deutschland und Europa stehen in diesem Sinne in einem diskursiven Zusammenhang über das Alte Reich. 3.2.1 Universalgeschichte als Philosophie der Evolution Odo Marquard beschrieb 1992 die Universalgeschichte à la Schiller als „Philosophie der Revolution“ und sprach von einer „emanzipatorischen Naherwartung“, die zur Revolution dränge!818 Das stimmt, so die hier vertretene These, weder mit Herder noch mit Kant und eben auch nicht mit Schiller überein. Vielmehr ist die Universalgeschichte eine Philosophie der Evolution, die nach Anknüpfungspunkten in der Weltgeschichte fahndet, um zum einen das meist positive Erscheinungsbild der Gegenwart zu begründen und zum anderen gleichsam als regulative Idee auf die weitere Entwicklung hin zum fernen Ideal einzuwirken.819 Dass Schiller bei Marie Valentin, Paris 2006, S. 761 – 771. Allgemein zum Thema: Dann, Otto/ Oellers, Norbert/Osterkamp, Ernst: Schiller als Historiker, Stuttgart/Weimar 1995. 817 Schiller an Christian Gottfried Körner, 13. 10. 1789, Nr. 212, in: NA, Bd. 25, S. 304. 818 Marquard, Odo: Ende der Universalgeschichte? Philosophische Überlegungen im Anschluss an Schiller, in: ders.: Philosophie des Stattdessen, Stuttgart 2000, S. 79 – 93, hier S. 83 f. 819 Schillers Geschichtsphilosophie setzt in der Gegenwart an, in der „heutige[n] Gestalt der Welt“, und blickt von dort zurück (Schiller: Antrittsvorlesung, in: MA, Bd. 4, S. 762). Von einer geschichtsphilosophischen Naherwartung kann nicht die Rede sein. Selbst in der politisch radikalsten Vorlesung Schillers, Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon, sieht er den Ausgleich zwischen den politischen Extremen mit Blick auf die Gegenwart und den Entwicklungsstand des Volks noch in ungeheure Ferne verlagert: die „glückliche Mitte zu treffen, ist das schwerste Problem, das die kommenden Jahrhunderte [!] erst auflösen sollen.“ Schiller: Gesetzgebung des Lykurgus und Solon, in: MA, Bd. 4, S. 832. Schings spricht hingegen mit Blick auf ebendiese Vorlesung und das politische „Posa-Projekt“ von Schillers „Philosophie der Revolution“, Schings, Hans-Jürgen: Revolutionsetüden. Schiller – Goethe – Kleist, Würzburg 2012, S. 68, 103. Zum evolutionären Denken bei Schiller: Koopmann, Helmut: Freiheitssonne und Revolutionsgewitter Reflexe der Französischen Revolution im literarischen Deutschland zwischen 1789 und 1840, Tübingen 1989, S. 13 – 33. Kant versucht noch die Revolution selbst in ein evolutives Konzept der Geschichtsphilosophie einzubinden, in die „Evolution

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aller Sympathie für ihre Ideen die Französische Revolution wohl nie vorbehaltlos begrüßte, wird nur noch selten bezweifelt.820 Besonders seine historischen Schriften lassen sich schlechterdings nicht mit dem Wunsch nach einer Revolution im modernen Sinne vereinen. Man denke nur an die Darstellung der Geusen im Abfall der vereinigten Niederlande und sein Bedauern, dass Luthers geistige Reformation von den Massen zum Auswischen ständischer Unterschiede missbraucht worden sei.821 „Die gute Sache“, so heißt es in Bezug auf die Niederlande, „hatte den schlimmen Weg der Rebellion wählen müssen […].“822 Schon die „historische Anthropologie in nuce“823 der zweiten Dissertation bestätigt den auch in der Antrittsvorlesung postulierten zivilisatorischen Fortschritt von der „gesetzlosen“ zur „gesetzmäßigen Freiheit“, vom „ungeselligen Höhlenbewohner“ zum „gebildeten Weltmann“824. Anstelle eines rousseauistischen Ideals steht bei Schiller der sensualistisch-primitive Naturzustand an der Wiege der Menschheit. Von dem blinden Zwange des Zufalls und der Not hat er sich unter die sanftere Herrschaft der Verträge geflüchtet und die Freiheit des Raubtiers hingegeben, um die edlere Freiheit des Menschen zu retten.825

Natürlich beschritt der Jenaer Extraordinarius damit, das ist vielfach geschildert worden, ausgetretene Pfade der aufklärerischen Geschichtsphi-

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einer naturrechtlichen Verfassung“. Selbst indem sie scheitert, führe die Erinnerung an ihr Exempel doch bei späteren Völkern zu neuen Versuchen. Kant empfiehlt im Politischen ebenso ein evolutives Konzept, dass nämlich „der Staat sich von Zeit zu Zeit auch selbst reformiere und, statt Revolution, Evolution versuchend, zum Besseren beständig fortschreite“. Kant: Der Streit der Fakultäten, in: AA, Bd. 7, S. 87, 93. Vgl. Karthaus, Ulrich: Schiller und die Französische Revolution, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 33 (1989), S. 68 – 88; High, Jeffrey L.: Schillers Revolutionskonzept und die Französische Revolution, Lewiston/New York 2004. Vgl. Schiller: Vom Abfall der vereinigten Niederlande, in: MA, Bd. 4, S. 68. Ebd. Zum ,alten‘ Revolutionsgedanken Schillers: Borchmeyer, Dieter: Goethes und Schillers Sicht der niederländischen ,Revolution‘, in: Schiller als Historiker, hrsg. v. Otto Dann/Norbert Oellers/Ernst Osterkamp, Stuttgart/Weimar 1995, S. 149 – 156; ders.: Altes Recht und Revolution: Schillers ,Wilhelm Tell‘, in: Friedrich Schiller: Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium, hrsg. v. Wolfgang Wittkowski, Tübingen 1982, S. 69 – 113. Riedel, Wolfgang: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ,Philosophischen Briefe‘, Würzburg 1985, S. 119. Schiller: Antrittsvorlesung, in: MA, Bd. 4, S. 755 f. und 758. Ebd., S. 755 f.

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losophie.826 Nicht anders sprach Iselin vom „Fortgang der Menschheit von der äussersten Einfalt zu einem immer höhern Grade von Licht und von Wohlstande“827. Schiller versteht zwar in seiner Antrittsvorlesung Kant folgend das teleologische Prinzip der Weltgeschichte als eine Übertragung der inneren Harmonie des Universalhistorikers in den Bereich der Natur,828 dennoch ist der optimistische Glaube an ,Zweck‘ und ,Fortschritt‘ der Menschheit, das Vertrauen auf „die stille Hand der Natur“ und den „weisen Weltenplane“ offenkundig.829 Man kann in dem enthusiastischen Glauben des 18. Jahrhunderts an die Perfektibilität der Menschheitsgeschichte trotz berechtigter Einwände mit Karl Löwith ein Erbe des christlich-jüdischen Heilsgeschehens sehen.830 In der Tat führt ein direkter Weg von Joachim von Fiore zu Lessings Erziehung des Menschengeschlechts und dem Heilsversprechen des Aufklärungszeitalters.831 Johann Christoph Adelung gliedert, wie viele seiner Zeitgenossen, die Menschheitsentwicklung in Tradition der christlichen Universalgeschichte nach den aetates mundi und bezieht biblische Eckdaten („Sündflut“, „Moses“) mit ein. Endpunkt ist der achte ,Zeitraum‘, die Frühe Neuzeit, „Der Mann im aufgeklärten Genusse“832. Schillers großes Gedicht Die Künstler besingt den modernen Menschen ebenso als „reifste[n] Sohn der Zeit“: „Frei durch Vernunft, stark durch Gesetze […]!“833 826 Vgl. z. B. Muhlack, Ulrich: Schillers Konzept der Universalgeschichte zwischen Aufklärung und Historismus, in: Schiller als Historiker, hrsg. v. Otto Dann/ Norbert Oellers/Ernst Osterkamp, Stuttgart/Weimar 1995, S. 5 – 28. 827 Iselin, Isaak: Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Basel 1779, S. XXIII. 828 Schiller: Antrittsvorlesung, in: MA, Bd. 4, S. 764. 829 Ebd., S. 766; Schiller: Künstler, in: MA, Bd. 1, S. 186. 830 Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart/Weimar 2004; zur Debatte mit Blumenberg: Wallace, Robert M.: Progress, Secularization and Modernity: The Löwith-Blumenberg Debate, in: New German Critique 22 (1981), S. 63 – 79; zu Kants von der Heilsgeschichte scharf unterschiedener Erkenntnisperspektive: Riedel, Manfred: Einleitung, in: Kant, Immanuel: Schriften zur Geschichtsphilosophie, hrsg. v. Manfred Riedel, Stuttgart 2004, S. 3 – 20, hier S. 8. Kant spricht allerdings von den Naturanlagen des Menschen, die „die Anordnung eines weisen Schöpfers“ verraten, sowie vom „Chiliasmus“ der Philosophie. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: AA, Bd. 8, S. 22, 27. 831 Mähl, Hans Joachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, Heidelberg 1965, S. 232 – 252. 832 Vgl. Adelung, Johann Christoph: Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, Leipzig 1782, o. S. (Inhaltsverzeichnis). 833 Schiller: Die Künstler, in: MA, Bd. 1, S. 173.

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Telos ist die „edle[], stolze[] Männlichkeit“834 der Gegenwart, geprägt von Frieden, geistiger Vollendung und gesetzlicher Ordnung. ,Menschenfreyheit‘, ,Vernunft‘, ,Licht‘ und ,Kultur‘ lauten die entsprechenden Schlagworte aus seinen historischen Schriften. Das Europa der Gegenwart stellt er als weit vollkommener dar, als es bei seinem geschichtsphilosophischen Ideengeber Immanuel Kant der Fall ist.835 Die Zwänge der Geschichte führten bereits jetzt zur Balance der Staaten untereinander. Endlich unsre Staaten – mit welcher Innigkeit, mit welcher Kunst sind sie ineinander verschlungen! wieviel dauerhafter durch den wohltätigen Zwang der Not als vormals durch die feierlichsten Verträge verbrüdert! Den Frieden hütet jetzt ein ewig geharnischter Krieg, und die Selbstliebe eines Staats setzt ihn zum Wächter über den Wohlstand des andern. Die europäische Staatengesellschaft scheint in eine große Familie verwandelt.836

Oft wird vor lauter Hinweisen auf Absolutismus und Feudalismus vergessen, dass sich Schiller mit dieser gegenwartsfundierenden Geschichtsphilosophie auch ganz direkt auf das Alte Reich bezieht. Ein für das Verständnis der späten Dramen bedeutsames Faktum. So heißt es in der Antrittsvorlesung: Ein heiterer Himmel lacht jetzt über Germaniens Wäldern, welche die starke Menschenhand zerriß und dem Sonnenstrahl auftat, und in den Wellen des Rheins spiegeln sich Asiens Reben. An seinen Ufern erheben sich volksreiche Städte.837

Unverkennbar leben hier bekannte patriotische Topoi auf: ,Germaniens Wälder‘ rekurriert auf den von Montesquieu gerühmten Freiheitswillen der alten Germanen, aus dem später auch die ,deutsche Freiheit‘ der Reichsstände abgeleitet wurde,838 und die volkreichen Städte galten seit dem 834 Ebd. 835 Kant spricht von einem lediglich „kleinen Teil“, den die Menschheit bisher im Blick auf ihren weltbürgerlichen Zweck zurückgelegt habe. Auch spricht er von dem Fehler St. Pierres und Rousseaus, ihr edles Ideal eines Völkerbunds so nahe an der Verwirklichung gesehen zu haben. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: AA, Bd. 8, S. 27 und 24. Zu Schillers Europaidee: Staskova, Alice (Hrsg.): Friedrich Schiller und Europa. Ästhetik, Politik, Geschichte, Heidelberg 2007; Henke, Silke/Immer, Nikolas (Hrsg.): Schiller und Europa, Weimar 2010; Riedel, Manfred: Geschichte und Gegenwart. Europa in Schillers Konzept der Universalgeschichte, in: Schiller als Historiker, hrsg. v. Otto Dann/Norbert Oellers/Ernst Osterkamp, Stuttgart/Weimar 1995, S. 29 – 58. 836 Schiller: Antrittsvorlesung, in: MA, Bd. 4, S. 757. 837 Ebd., S. 756. 838 Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, hrsg. v. Kurt Weigand, Stuttgart 2006, S. 229.

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Humanismus als Ausweis deutscher Prosperität dank politischer Vielfalt. Innerhalb der Kleinstaaten und im Rahmen des Alten Reichs scheinen Schiller „Nationalkultur“, „bürgerliche[] Vorteile[]“ und „Gewissensfreiheit“ gesichert.839 Werdende ,bürgerliche Gesellschaft‘ und ,Reich‘ hielt er keineswegs für Gegensätze. Die wechselvolle Geschichte des Alten Reichs wird vielmehr in der Perspektive des Geschichtsphilosophen zum Fundament des europäischen Wohlstands und gliedert sich ein in die allgemeine Entwicklung zur Freiheit. Sie ist notwendiger Bestandteil der Universalgeschichte: „Was erhielt in Italien und Teutschland so viele Thronen und ließ in Frankreich alle, bis auf einen, verschwinden? – Die Universalgeschichte löst diese Frage.“840 3.2.2 Bonum-durch-Malum: Altes Reich und Schillers ,Historiodizee‘ Karl Löwiths These vom heilsgeschichtlichen Erbe der Geschichtsphilosophie bestätigt sich mit Blick auf die wiederholte Bonum-durch-MalumArgumentation des Aufklärungszeitalters.841 Folgt man Odo Marquard, so lebt darin die christliche felix-culpa-Figur säkularisiert und partikularisiert fort. Das Negativum des Sündenfalls wurde schon bei dem Kirchenvater Augustinus zu einer glücklichen Schuld, da es die Erlösung durch die Erscheinung des Gottesssohns möglich machte. „O felix culpa, quae talem ac tantum meruit habere redemptorem“842, heißt es im Exsultet der Osternacht. Leibniz, vor allem aber Kant und ihm folgend Schiller positivieren den Sündenfall unter säkularen Vorzeichen als Bedingung der Möglichkeit für die Entwicklung menschlicher Freiheit.843 Die gleiche Grundstruktur findet sich im Kontext der Theodizee-Debatte wieder, wenn das malum physicum, metaphysicum oder morale als notwendige Bedingung für die beste aller möglichen Welten gewertet wird. Das Übel 839 Schiller: Antrittsvorlesung, in: MA, Bd. 4, S. 759. 840 Ebd., S. 758. 841 Marquard: Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, S. 39 – 66; Marquard, Odo: Felix culpa? – Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3, in: Text und Applikation, hrsg. v. Manfred Fuhrmann/Hans Rober Jauß/Wolfhart Pannenberg, München 1981, S. 53 – 71. 842 Leibniz zitiert den Vers selbst: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Versuch in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, übersetzt v. Arthur Buchenau, Hamburg 1996, S. 98. Kurz zuvor: „Wir wissen außerdem, daß oft ein Übel ein Gut bewirkt, welches ohne dieses Übel nicht eingetroffen wäre. Oft haben sogar zwei Übel ein großes Gut zur Folge gehabt.“ 843 Vgl. Marquard: Felix culpa?

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wird zum „ent-übelte[n] Übel“, „das Optimum als Zweck heiligt das malum als Mittel“844. Schiller transformiert Leibniz’ „einfache Teleologie“ schon in der zweiten Dissertation in „eine höhere, dynamisch-dialektische“845 : So mußte das Schlimmste das Größte erreichen helfen, so mußte uns Krankheit und Tod drängen zum cm_hi seaut|m : Die Pest bildete unsere Hippokrate und Sydenhame, wie der Krieg Generale gebar, und der einreißenden Lustseuche haben wir eine totale Reformation des medizinischen Geschmacks zu verdanken.846

Not und Leid, der Kampf der Menschen untereinander, Herrschaft und Knechtschaft sind notwendige Umwege, die paradoxerweise in ihrer Wirkung Vernunft und Sittlichkeit befördern.847 Einmal mehr wird die Paradiesgeschichte zum Sinnbild menschlicher Geschichte überhaupt: Das „moralische Übel“, welches auf den „Abfall des Menschen vom Instinkte“, den Schritt über die Grenzen der Tierheit hinaus, als Schatten der Freiheit folgt, macht „das moralische Gute“, das auf Vernunft und Freiheit gründet, erst möglich.848 Oft wurde darauf hingewiesen, dass Schiller besonders in seinen historischen Schriften immer wieder dialektisch ganz ähnlich Hegels ,List der Vernunft‘ argumentiere:849 Das Übel des Mittelalters etwa, welches die Verfassungsentwicklung in Europa verzögerte, habe mittelbar zur Versöhnung von Freiheit und Kultur geführt, „die frühe Freiheit“ hat dank der „Vorsehung“ die „späte Vernunft“ gefunden und so „in Europa“ „das moralische [Leben] zur Entwicklung“850 gebracht. Vergleichbares lässt sich über Herder sagen, und für beide Autoren gilt, dass gerade ihr Reichsbild von dieser Argumentation geprägt ist. In seiner universalhistorischen Übersichts-Vorlesung zu den merkwürdigsten Staatsbegebenheiten zu den Zeiten Kaiser Friedrich I. beschreibt 844 Ebd., S. 55. 845 Robert, Jörg: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption, Berlin/Boston 2011, S. 79. 846 Schiller: Versuch über den Zusammenhang, in: MA, Bd. 5, S. 305. 847 Schiller fand diesen Gedanken auch in Kants „ungeselliger Geselligkeit“ vorgeprägt: Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: AA, Bd. 8, S. 20 – 22 (vierter Satz). 848 Schiller: Etwas über die erste Menschengesellschaft, in: MA, Bd. 4, S. 769. 849 Vgl. Pestalozzi, Karl: Ferdinand II. in Schillers ,Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‘. Die Rechtfertigung eines Üblen, in: Schiller als Historiker, hrsg. v. Otto Dann/Norbert Oellers/Ernst Osterkamp, Stuttgart/Weimar 1995, S. 179 – 190. 850 Schiller: Kreuzzüge, in: MA, Bd. 4, S. 850.

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Schiller den Kampf gegen die „arglistige Politik der Päpste“. Deren Bestreben, dem Kaiser zu schaden, habe die Stände gestärkt und das Reich durch zahlreiche „bürgerliche[] Kriege“ in große Verwirrung gestürzt, ihm aber auch zur „deutsche[n] Wahlfreiheit“ verholfen.851 Von der Wahl Lothars III. über Konrad III. bis Friedrich I. schildert er die deutsche Geschichte an einem verfassungsrechtlichen Leitfaden: „kaiserliche Macht“ vs. „ständische Freiheit“ bzw. „Erbrecht“ vs. „Wahlfreiheit“852. Den leidvollen Sieg trägt hier wie in der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs „die Freiheit des Deutschen Reiches“853 davon. Teutschlands Kaiser mußten sich in jahrhundertlangen Kämpfen mit den Päpsten, mit ihren Vasallen, mit eifersüchtigen Nachbarn entkräften – Europa sich seines gefährlichen Überflusses in Asiens Gräbern entladen und der trotzige Lehenadel in einem mörderischen Faustrecht, Römerzügen und heiligen Fahrten seinen Empörungsgeist ausbluten – wenn das verworrene Chaos sich sondern und die streitenden Mächte des Staats in dem gesegneten Gleichgewicht ruhen sollten, wovon unsre jetzige Muße der Preis ist.854

Die deutsche Geschichte zeigt sich in Schillers Perspektive als Geschichte wachsender Freiheit und wachsender Kultur zum ,gesegneten Gleichgewicht‘ der Gegenwart! Die ,barbarischen Überreste‘ vergangener Zeitalter erhalten damit einen dem zeitgenössischen Reichsgedanken entsprechenden Sinn: Auf dem rohen Grunde der Lehenanarchie führte Teutschland das System seiner politischen und kirchlichen Freiheit auf. Das Schattenbild des römischen Imperators, das sich diesseits der Apenninen erhalten, leistet der Welt jetzt unendlich mehr Gutes als sein schreckhaftes Urbild im alten Rom – denn es hält ein nützliches Staatssystem durch Eintracht zusammen: jenes drückte die tätigsten Kräfte der Menschheit in einer sklavischen Einförmigkeit darnieder […].855

Das Reich als „Staatssystem“ schützt durch seine Vielgestaltigkeit im Inneren vor Unterdrückung und gefährdet nicht, wie ein mächtiges Römisches Reich in der Mitte Europas es täte, den allgemeinen Frieden. Die Mängel des aus zahlreichen Staaten zusammengesetzten Reichs verschweigt Schiller nicht, dass es aber auf eine gelungene Verteidigungsbilanz zurückblickt und für Europa ein Ruhepol ist, wird in seinen historischen Schriften immer wieder deutlich und entspricht einem weitverbreiteten 851 852 853 854 855

Schiller: Friedrich I., in: MA, Bd. 4, S. 869 und 890 f. Ebd., S. 867–870 und 889. Ebd., S. 889. Schiller: Antrittsvorlesung, in: MA, Bd. 4, S. 759 f. Ebd., S. 757.

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Topos: Das Reich habe, schreibt er in der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs, […] seit Jahrhunderten keinen auswärtigen Eroberer in seinem Schoße gesehen […]. Der kriegerische Mut seiner Bewohner, die Wachsamkeit seiner zahlreichen Fürsten, der künstliche Zusammenhang seiner Staaten, die Menge seiner festen Schlösser, der Lauf seiner vielen Ströme hatten schon seit undenklichen Zeiten die Ländersucht der Nachbarn in Schranken gehalten; und sooft es auch an den Grenzen dieses weitläufigen Staatskörpers gestürmt hatte, so war doch sein Inneres von jedem fremden Einbruch verschont geblieben. Von jeher genoss dieses Reich das zweideutige Vorrecht, nur sein eigener Feind zu sein und von außen unüberwunden zu bleiben.856

3.2.3 Die ,deutsche Freiheit‘ in der Geschichte Explizit die „deutsche“, ständische Freiheit spielt schließlich in der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs eine tragende Rolle.857 Während Schiller als Professor in Jena auf Universalgeschichte verpflichtet war, verfasste er als Geschichtsschreiber Spezial- bzw. Individualgeschichte.858 Gewiss ist der allgemeinen Auffassung zuzustimmen, dass er sich auch hier nicht als nationaler, sondern als europäisch-kosmopolitischer Historiker verstand. Neben der reichsrechtlichen Fragestellung dominiert zweifellos der europäische (Völker-)Rechtsgedanke. Beides kann aber nicht wie in Yvonne Nilges’ Habilitationsschrift gegeneinander ausgespielt werden. Während das ,kontemporäre Reichsstaatsrecht‘ im Westfälischen Frieden lediglich die Landeshoheit, also den Absolutismus, „sanktioniert, ja sanktifiziert“ sähe, beschreite Schiller neuartig und visionär den Weg zum „europäischen

856 Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: MA, Bd. 4, S. 541 f. 857 Die ständische Libertät wird von Schiller der ,Reichspublicistik‘ folgend direkt so oder ähnlich bezeichnet: „deutsche Freiheit“ oder „Freiheit der deutschen Fürsten“ und abweichend oft mit demselben Inhalt „Deutschlands Freiheit“, „Freiheit des deutschen Reiches“: Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: MA, Bd. 4, S. 367, 399, 407, 448, 451, 452, 457, 474, 484, 485, 513, 525, 637 f., 694. Insgesamt sorgt der Krieg (Malum) über Umwege für den Sieg dieser ,deutschen Freiheit‘ (Bonum): „So wie Gustav Adolfs Erscheinung die evangelische Religion und deutsche Freiheit gegen die Übermacht Kaiser Ferdinands beschützte, ebenso konnte nunmehr Frankreichs Dazwischenkunft die katholische Religion und deutsche Freiheit gegen eben diesen Gustav Adolf in Schutz nehmen […].“ Ebd., S. 513; „Die deutsche Freiheit erhob sich aus Magdeburgs Asche.“ Ebd., S. 525. Aus moderner historischer Sicht: Schmidt: Friedrich Schiller und seine ,Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‘. 858 Süssmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 81.

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Gemeingeist[]“, zum „,Europarecht‘ avant la lettre“ – so Nilges.859 Wie aber oben gezeigt, ist das Ius europaeum im zeitgenössischen Diskurs eng an die Reichsverfassung gekoppelt860 und damit die Reichsgeschichte als Nationalgeschichte auch für Schiller zugleich „Bedingung für den Fortschritt der Gattung“861 im Ganzen. Das war bezüglich des Westfälischen Friedens im 18. Jahrhundert keine neue Erfindung, sondern weithin Konsens und Topos.862 Von einem generellen Widerspruch zwischen Völkerrecht und Reichsstaatsrecht kann ohnehin nicht ausgegangen werden, wie sich an den berühmtesten Vertretern dieser Disziplin leicht ablesen lässt.863 Nilges’ Verweis, dass Kant erst 1795 seine Friedensschrift publizierte, übersieht, dass dieser, anders als Schiller, das Gleichgewichtstheorem bewusst zugunsten institutioneller Verdichtung verabschiedete.864 Und zudem: Natürlich lässt sich Schillers sprachliche Leistung zu Recht bewundern, doch wird er deshalb noch lange nicht zum Erfinder von Worten wie „Wahlfreiheit“, was Nilges und vor ihr viele andere ungeprüft aus der älteren Literatur übernehmen. Bei Pütter beispielsweise wird dasselbe Wort be859 Nilges, Yvonne: Schiller und das Recht, Göttingen 2012, S. 139 und 159; Nilges, Yvonne: Unterwegs zum Europarecht: Schillers ,Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‘, in: Schiller und Europa, hrsg. v. Silke Henke/Nikolaus Immer, Weimar 2010, S. 29 – 44. 860 Vgl. Rousseau: Extrait du projet de la paix perpétuelle, S. 352: „Das öffentliche Recht, das die Deutschen so gründlich studieren, ist somit noch weit wichtiger, als sie glauben, denn es ist nicht allein das germanische öffentliche Recht, sondern in gewissem Sinn das von ganz Europa.“ 861 Schiller an Christian Gottfried Körner, 13. 10. 1789, Nr. 212, in: NA, Bd. 25, S. 304. 862 Vgl. Steiger: Ius publicum europaeum; Asbach: Die Reichsverfassung als föderativer Staatenbund. 863 Vgl. z. B. Moser, Johann Jacob: Grund=Sätze des jetzt=üblichen Europäischen Völker=Rechts in Friedens=Zeiten, Hanau 1750; Pütter, Johann Stephan/ Achenwall, Gottfried: Elementa iuris naturae additis iuris gentium Europaearum practici primis lineis, Göttingen 1753; vgl. auch die weit differenziertere Darstellung zum Westfälischen Frieden: Pütter: Geist des Westfälischen Friedens. Pütters Lehre von der Landeshoheit ist allein deshalb schon keine Sanktifizierung des Absolutismus, weil in seinem Begriff des Reichs als ,aus Staaten zusammengesetztem Staat‘ die Einschränkung der Territorien durch die Reichsgerichte etc. mitbedacht ist, ja seine Betonung des Vorrangs des Reichsrechts gegenüber den Landesrechten arbeitete dem Konzept eines Bundesstaats juristisch wesentlich vor. Vgl. Schlie: Johann Stephan Pütters Reichsbegriff, S. 33 – 56; Link, Christoph: Johann Stephan Pütter, in: Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Michael Stolleis, München 1995, S. 310 – 331, hier S. 319 – 322. 864 Vgl. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, hrsg. v. Heiner F. Klemme, Hamburg 1992, S. 49 – 104.

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züglich der Kaiserwahl im Reich mehrfach und weit zuvor verwandt.865 Ebenso wenig lässt sich aus der bloßen Ansprache an die ,Mitbürgerinnen‘ im zweiten Buch des Historischen Calenders für Damen (!) die Forderung nach „uneingeschränkte[r] Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts“866 ableiten. Tatsächlich steht Schiller damit in der Tradition der moralischen Wochenschriften und patriotischen Blätter des frühen 18. Jahrhunderts, die im Sinne des aufgeklärt-moralischen Patriotismusbegriffs Frauen gelegentlich als „Mitbürgerinnen“ adressierten, mal bezüglich einer Stadt wie Halle oder Hamburg, mal bezüglich ganz Deutschland.867 Wieland erklärt in einer Rezension, was nach seinem Dafürhalten gemeint ist: die Rolle der Frau als Ehegattin und Mutter bei der patriotischen Erziehung der Söhne!868 Schiller mag anderer Ansicht gewesen sein, in der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs lässt sich die von Nilges hinsichtlich der Frauenrechte konstatierte ,verblüffende Modernität‘ aber nicht nachweisen. Sein Geschichtswerk jedoch, wie in der älteren Forschung häufig geschehen, allein für den erzählenden Stil zu loben, greift wiederum zu kurz. Man mag Schillers Leistung primär in seinen Charakterbildern historischer Persönlichkeiten wie Wallenstein und Gustav Adolf finden, sollte dabei aber nicht übersehen, dass sowohl der Abfall der vereinigten Niederlande als auch die Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs ausführlich durch verfassungsgeschichtliche Fragen eingeleitet werden, welche den Spannungsbogen der historischen Darstellung überhaupt erst ermöglichen. An Georg Joachim Göschen schreibt er am 26. Juli 1790: Denn was würden sich unsre Damen bey dem Wort: Deutsche Freiheit: Religionsfriede: Restitutionsedikt etc denken, wenn man sie nicht vorher in die Verfassung des Deutschen Reiches hineingeführt hätte.869

865 Nilges: Schiller und das Recht, S. 142: ein „bis dato nirgendwo belegtes Wort!“ Vgl. aber: Pütter, Johann Stephan: Vollständigeres Handbuch der Teutschen Reichshistorie, Tl. 3, Bd. 3: Neueste Geschichte von Ferdinands des III. Tode bis 1761, Göttingen 1762, z. B. S. 1182 § 500. Dort spricht Pütter von den Gefahren für die „Wahlfreyheit“ der Kaiserkrone. 866 Nilges: Schiller und das Recht, S. 142 f. 867 Vgl. die Zeitschriften: Die Vernünftigen Tadlerinnen. Andrer Teil (3. Aufl. 1748), S. 32; Der Patriot 1 (zweite Aufl. 1737), S. 48; Die redliche Wochenschrift 1 (1751), S. 165. 868 Vgl. Wieland, Christoph Martin: Rezension zu ,Historischer Calender für Damen […]‘, in: NTM 1 (1791), S. 197 – 211, insbesondere S. 200. 869 Schiller an Georg Joachim Göschen, 26. 07. 1790, Nr. 24, in: NA, Bd. 26, S. 30.

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Kapitel 2: Reich als Text

Schillers großes Geschichtswerk zielt auf die Popularisierung der mühsam gewonnenen Erkenntnisse der Fachwelt, er setzt sogar besonders viel Fleiß an diesen trockenen und schweren Teil der Arbeit. Er möchte das dürre „Skelett“, die von den juristischen Gelehrten aufbereiteten Fakten, philosophisch wie poetisch mit Leben füllen, es zu einer anschaulichen Einheit führen, ohne deshalb aber einen französisierenden Roman zu schreiben.870 Die „trockene[] Wissenschaft“ soll „in eine reitzende“ verwandelt werden.871 Das erste Buch leitet getreu der Pütter-Lektüre den Religionskrieg des 17. aus dem reichsrechtlichen Konflikt des 16. Jahrhunderts ab, schildert ausführlich die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 und die berühmten reichsrechtlichen Streitfälle im Vorfeld des Kriegs. Dieser war schrecklich, doch – Bonum-durch-Malum – verdankt ihm Europa im Allgemeinen mit dem Westfälischen Frieden von 1648 die „zusammenhängende Staatengesellschaft“ bzw. „Staatensympathie“ und die darauf aufbauende „Fackel der Kultur“872. Im Besonderen verdankt ihm Deutschland das vor Despotismus schützende Reichssystem: Die Trennung in der Kirche hatte in Deutschland eine fortdauernde politische Trennung zur Folge, welche dieses Land zwar länger als ein Jahrhundert der Verwirrung dahingab [von 1517 – 1648], aber auch zugleich gegen politische Unterdrückung einen bleibenden Damm auftürmte [den Westfälischen Frieden].873

Der Dreißigjährige Krieg ist bei Schiller ein Kampf der habsburgischen „Universalmonarchie“874 gegen die ständische Libertät: Mit dem Ziel, die „deutschen Stände“ in ihren Freiheiten zu beschneiden, habe Österreich zugleich die „politische Freiheit der europäischen Staaten“ zur Disposition gestellt.875 Wie Wolfgang Häusler aufzeigt, folgt der Geschichtsschreiber in seiner antiösterreichischen Spitze Quellen des 17. Jahrhunderts, in denen das Haus Österreich beschuldigt wird, die Freiheit und den Frieden des Reichs zu verderben.876 Doch noch im 18. Jahrhundert unmittelbar vor 870 Ebd.; zum epistemologischen Aspekt dieses Gedankens: Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 144 f. 871 Schiller an Christian Gottfried Körner, 7. 1. 1788, Nr. 1, in: NA, Bd. 25, S. 3. Vgl. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 111 – 155. 872 Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: MA, Bd. 4 , S. 366. 873 Ebd., S. 365 f. 874 Ebd., S. 373. 875 Ebd., S. 370 f. 876 Vgl. Häusler, Wolfgang: „Der Österreicher hat ein Vaterland …“. Schillers Wallenstein-Tragödie als Parabel der Krise des Alten Reiches und der Habsburger-

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Schillers historischen Arbeiten revitalisierte die Diskussion um die josephinischen Tauschpläne antihabsburgische Stereotypen und damit auch die beiden seinem Werk zugrunde liegenden politischen Leitbegriffe der Frühen Neuzeit: ,Universalmonarchie‘ und ,Gleichgewicht‘.877 Die „Freiheit Europens“878 anzurufen, hat leitmotivischen Charakter seit Ende des 17. Jahrhunderts und ist Ausdruck des sich stabilisierenden frühneuzeitlichen Staatensystems.879 Der Kaiser erscheint bei Schiller ausdrücklich als Rechtsbrecher, von „Verspottung der Reichsgrundgesetze“ und „Willkür des Kaisers“ ist die Rede.880 Im Abfall der vereinigten Niederlande und in der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs geht es um denselben Konflikt: Ständische Freiheit und staatliche Vielfalt werden emphatisch gegen die monarchistisch-despotische Vereinheitlichung bzw. den habsburgischen Universalismus gesetzt, denn beide stritten „gegen den nämlichen Feind […] und Deutschlands Freiheit [diente] der Freiheit Hollands zur Brustwehr“881. Im Reich sei eine absolute Monarchie aus historischer Tradition undenkbar, schreibt er mit unverkennbarem Gegenwartsbezug: „In einem so künstlich organisierten Staatskörper, wie der deutsche ist und immer war, mußte die Hand des Despotismus die unübersehlichsten Zerrüttungen anrichten.“882 Das gilt selbst für den Freiheitshelden Gustav Adolf, der schließlich „der Freiheit des Deutschen Reiches“ nur noch mit seinem Tod einen Dienst erweisen konnte.883 Aufgrund seiner monarchischen Erziehung entsprach der große Held des Kriegs und Retter der Protestanten nicht der freiheitlichen Tradition der deutschen Geschichte: Geboren im Ausland, in den Maximen der Alleinherrschaft auferzogen und aus frommer Schwärmerei ein abgesagter Feind der Papisten, war er nicht wohl geschickt, das Heiligtum deutscher Verfassung zu bewahren und vor der Freiheit der Stände Achtung zu tragen.884

877 878 879 880 881 882 883 884

Monarchie, in: Zum Schillerjahr 2009 – Schillers politische Dimension, hrsg. v. Bernd Rill, München 2009, S. 67 – 80, hier S. 74. Vgl. Bosbach, Franz: Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der Frühen Neuzeit, Göttingen 1988; Tischer: Kriegsbegründungen, S. 209 – 218. Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: MA, Bd. 4, S. 368. Vgl. Tischer: Kriegsbegründungen, S. 179 – 188. Diverse reichsrechtliche Vergehen des Kaisers werden aufgezählt: Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: MA, Bd. 4, S. 458, 465, 483. Ebd., S. 452. Ebd., S. 510. Kursivierung M. H. Vgl. ebd., S. 637 f.; ebd., S. 639: „Sein schneller Abschied von der Welt sicherte dem Deutschen Reich die Freiheit und ihm selbst seinen schönsten Ruhm […].“ Ebd., S. 638.

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Kapitel 2: Reich als Text

Ganz in diesem Sinne schildert Schiller die Entwicklung der Reichsverfassung im 16. Jahrhundert. Als großen Erfolg für die „deutsche Freiheit“ wertet er die Beteiligung der Reichsstände am Reichskammergericht.885 Der für die Verfassung so wichtige Augsburger Religionsfrieden erscheint allerdings als unvollkommen: Das erste Buch der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs verhält sich damit zu dem allerdings nicht mehr ausgeführten letzten wie Frage und Antwort; die Fehler von 1555 seien im Westfälischen Frieden behoben worden.886 Zugleich führt die Teleologie auch über 1648 hinaus und stellt für das Ende des 18. Jahrhunderts aktuelle Verfassungsfragen: „Zur Kaiserkrone hat noch kein protestantisches Haupt sich erhoben.“887 Die Veränderungen im Kurkollegium ließen dergleichen um 1800 und noch vielmehr nach 1803 durchaus möglich erscheinen.888 Wohl hat sich Schiller in der Tat wenig für das katholisch-religiös aufgeladene Kaisertum der Habsburger erwärmen können, vielleicht aber doch für das Prinzip des rechtlich beschränkten Wahlkaisertums. Schillers Parteinahme für das protestantisch-ständische Reich zeigt sich auch in den verdeckten Anspielungen auf den deutschen Fürstenbund von 1785. So preist er die „patriotische Tugend“ der Enkel Johann Friedrichs I. und bedauert, dass ihnen die Kurwürde nicht geblieben sei. Noch jetzt stelle das edle Geschlecht von Fürsten „aus Thüringens Wäldern“, die Ernestiner – Schiller spricht unverhohlen im Präsens –, trotz fehlender Macht „die tapfersten Soldaten der Freiheit“889. Die Vergangenheit spiegelt die Tradition des ,Dritten Deutschlands‘ der Gegenwart: Carl Augusts Engagement für einen deutschen Fürstenbund. Damals waren es „die Anhalt, die Mansfeld, die Prinzen von Weimar u. a.“: „Deutschlands Freiheit, aufgegeben von den mächtigen Ständen, auf welche doch allein ihre Wohltat zurückfloß, wurde von einer kleinen Anzahl Prinzen vertei885 „In dem höchsten Reichsgerichte richten die deutschen Stände sich selbst, weil sie selbst Richter dazu stellen […].“ „Endlich und mit Mühe erfochten die Protestanten ihrer Religion einen Sitz im Kammergerichte […].“ Ebd., S. 376. 886 Z. B. den mangelnden Schutz der Untertanen durch das ius reformandi der Landesherrn: ebd., S. 374. 887 Ebd., S. 376. Kursivierung M. H. Für Borchmeyers Behauptung, Schiller spräche sich in der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs gegen das Kaisertum aus, fehlt der Beleg. Die betreffende Passage richtet sich gegen die universalistische Verzerrung durch die Habsburger, nicht aber gegen die Institution per se! Borchmeyer, Dieter: Macht und Melancholie. Schillers ,Wallenstein‘, Frankfurt a.M. 1988, S. 162. 888 Vgl. Schindling, Anton: War das Scheitern des Alten Reiches unausweichlich?, in: Schilling/Heun/Götzmann: Heiliges Römisches Reich, Bd. 2, S. 302 – 317. 889 Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: MA, Bd. 4, S. 448.

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digt, für welche sie kaum einen Wert besaß.“890 Erst spät entschloss sich Johann Georg von Sachsen, dem „stolzen Plan“ eine tatkräftige Hand zu verleihen, „eine dritte Macht in Deutschland aufzustellen und in der Mitte zwischen Schweden und Österreich die Entscheidung in den Händen zu tragen“891. Man könnte noch weitere Belege für Schillers an der Verfassung interessierte und unterm Strich deutlich proreichisch-ständische Darstellung des Kriegs anführen, die sich auch im Bildprogramm der Kupferstiche niederschlägt.892 Zusammenfassend ist festzuhalten: Der Historiker begeisterte sich für die als ,deutsche Freiheit‘ bezeichnete ständische Libertät und schilderte den Dreißigjährigen Krieg als Geschichte ihres Triumphes, der schließlich dank der Bedeutung des Reichs für ganz Europa zur Grundlage des europäischen Wohlstands und der europäischen Kultur wurde. Mit dieser Darstellung der ,deutschen Freiheit‘ stellte sich Schiller ideengeschichtlich in die humanistisch-juristische Tradition des deutschen Reichsstaatsrechts. Die ,deutsche Freiheit‘ verbürgte die Beschränkung der monarchischen Macht im Reich durch ständische Mitregierung und bindende Gesetze. Gern analog zu diesen gedacht wurden auf territorialer Ebene die Landstände, wie sie z. B. in Württemberg den Ausbau eines absoluten Regiments erfolgreich durch ein Urteil des Reichshofrats (1770) verhindert hatten.893 Schiller war mit dem Reichsbild des ius publicum romano-germanicum gut vertraut. Schon in der Karlsschule dienten die 890 Ebd., S. 448. 891 Ebd., S. 511. Weitere Beispiele für die „dritte Partei“ um Sachsen: ebd., S. 592, S. 647. 892 Unter dem abschließenden Kupferstich Daniel Chodowieckis mit dem Titel „Friedensfeyer in Nürnberg“ erläutert der Verleger Göschen, dass mit dem Westfälischen Frieden die Grundlage derjenigen „[…] Verfassung des Deutschen Reichs [geschaffen wurde], der wir uns noch jetzt nach beinahe anderthalb hundert Jahren zu erfreuen haben […]“, dass er aber erst hier in Nürnberg (1650) Realität geworden sei. Schiller, Friedrich: Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Vollständiger Nachdruck der Erstfassung aus dem ,Historischen Calender für Damen für die Jahre 1791 – 1793‘, Zürich 1985, S. 689. 893 Gotthold Ephraim Lessing fasst in seinem als Lexikonartikel entworfenen Text mit dem Titel „deutsche Freiheit“ die reichs- und landständische Freiheitstradition zusammen und leitet für alle Reichsbürger eine politische Aufgabe aus ihr ab: „[…] Sollten wir wenigstens nicht in unseren Schriften unaufhörlich gegen die ungerechten Veränderungen protestieren …?“ Lessing, Gotthold Ephraim: Deutsche Freiheit, in: ders.: Werke, 8 Bde., hrsg. v. Herbert G. Göpfert, München 1970 – 1979, Bd. 5, S. 724 – 726; zur ,deutschen Freiheit‘: Schmidt: Die Idee ,deutsche Freiheit‘.

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Kapitel 2: Reich als Text

Werke des damals größten Reichsjuristen Johann Stephan Pütter dazu, Staatsrecht am Beispiel der Reichshistorie zu lehren. Nach dem Gutachten des Juristen Gerhardi Anfang des Jahres 1774 wurde das Studium der Reichsgeschichte deutlich ausgeweitet. Johann Friedrich Heyd führte den Eleven, gestützt auf Pütter, in diese Disziplin ein. Im Jahre 1775 attendierte er noch zusätzlich einen Kurs zur Geschichte der Rechtsgelehrtheit bei dem Juristen David Christoph Seybold.894 Zur Vorbereitung auf seine Professur empfahl ihm Körner später neben Michael Ignaz Schmidts Deutscher Geschichte Pütters „Grundriß der deutschen Staatsverfassung“ (wohl der Grundriß der Staatsveränderungen des deutschen Reichs 1769 bzw. 1776), mit dem sich Schiller ausführlich beschäftigte und dessen Autor seinen „ganzen Beyfall“ habe.895 Hinsichtlich der staatstheoretischen Klassifizierung des Reichs in der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs stand er deutlich in der Tradition Pufendorfs. Schiller spricht von „Staatssystem“, „Reichssystem“ und einmal von „Staatenbund“896. In Anlehnung an Pütter beinhaltet sein Begriff vom ,deutschen Reich‘ wohl eine pragmatische Lösung der forma-imperii-Frage: Die einzelnen Territorien erhalten bei jenem zwar völligen Staatscharakter, sind aber dennoch Teil eines höheren Staats. Auch Schiller betont diese verfassungsmäßige Einheit mit Begriffen wie „Reichskonstitution“, „Reichsgerichte“ und „Reichsgesetze“897. Neben der ideengeschichtlichen Tradition partizipierte sein Werk indirekt an einer in den frühen 1790er-Jahren virulenten Diskussion um den Charakter und Inhalt der ,deutschen Freiheit‘ und die Bedeutung der Reichsverfassung.898 Zeitgleich mit der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs und gleichsam als konservative Antwort auf die Französische Revolution 894 Vgl. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 45 – 58. 895 Schiller an Christian Gottfried Körner, Neujahr 1789, Nr. 132, in: NA, Bd. 25, S. 179. Schiller besaß die ersten beiden Teile von Pütters Historischer Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reiches (Theil 1 – 3, Göttingen, 1786 f.), vgl. Schillers Bibliothek, Nr. 523, in: NA, Bd. 41,1, S. 743 f. 896 Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: MA, Bd. 4, S. 370, 376 und 757; Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: NA, Bd. 18, S. 17; Schiller: Friedrich I, in: MA, Bd. 4, S. 889. 897 Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: NA, Bd. 18, S. 17; Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: MA, Bd. 4, S. 376, S. 458 und an weiteren Stellen. Zu Pütters Reichsbegriff: Schlie: Johann Stephan Pütters Reichsbegriff. 898 Vgl. Klinger, Andreas: Die ,deutsche Freiheit‘ im Revolutionsjahrzehnt 1789 – 1799, in: Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400 – 1850), hrsg. v. Georg Schmidt/Martin van Gelderen/Christopher Snigula, Frankfurt a.M. u. a. 2006, S. 447 – 471, hier S. 457. Zum Reichspatriotismus allgemein: Waldmann: Reichspatriotismus.

3. Staatengleichgewicht und europäische Kultur

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stellte die Erfurter Akademie 1792 eine Preisfrage, die das Thema unmittelbar berührte und auf die Popularisierung der Vorteile der Reichsverfassung gegenüber Frankreich zielte.899 Die Nähe von Schillers historiographischem Reichsbild zu den ,reichspublicistischen‘ Diskussionen seiner Zeit zeigt sich in Wielands sogenannter Vorrede, die zu Beginn des Jahres 1792 erschien, um den krankheitsbedingten Ausfall der Fortsetzung des Geschichtswerks auszugleichen. Wieland bespricht ausführlich Pro und Contra der Reichsverfassung vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und lobt Schiller dafür, die Kenntnis und Liebe zur deutschen Reichsverfassung intensiviert zu haben.900 Ob dieser einer solchen Reichspanegyrik zugestimmt hätte, lässt sich mit Fug und Recht bezweifeln. Dass sich aber ein überwiegend affirmatives Bild der gegenwärtigen Reichsverfassung in seinen historischen Schriften findet, ist unbestreitbar. Die nationalistische Vereinnahmung des Dichters im 19. Jahrhundert geht gerade deshalb fehl: Für Schiller war nicht der Nationalstaat im Sinne eines homogenisierten Macht- und Einheitsstaats der Bezugspunkt, sondern die Vielgestaltigkeit des ständischen Reichs.

899 Vgl. Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 454 ff. 900 Vgl. in dieser Arbeit 4. Kap., 2. Wielands Verfassungspatriotismus in der Vorrede zum ,Historischen Calender für Damen‘ (1792).

Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen? 1. Nationaltheater und föderale Nation Neben dem Zorn der Dichter über die Nachdruckpraxis im Reich, die ihnen oft den ökonomischen Ertrag ihrer Arbeit raubte,1 ist die Debatte um ein deutsches Nationaltheater gewiss der locus classicus für Klagen über die Reichsverfassung. Zugleich verdichten sich hier die großen nationalkulturellen Fragen: das Nachahmungsproblem, die Existenz oder Inexistenz eines deutschen Nationalcharakters sowie die Überlegungen zur Einheit der deutschen Sprache und zur Fundierung einer allgemeinen Nationalliteratur. Schon bei den Zeitgenossen richtete sich die Diskussion ganz an dem Vergleich mit den ,überlegeneren‘ Vorbildern Frankreich und England aus.2 Das häufig konstatierte Scheitern des Bestrebens, ein deutsches Nationaltheater zu bilden, scheint einmal mehr zu belegen, dass Deutschland aufgrund seiner Vielstaatlichkeit keine Nation gewesen sei und daher einen nationalen Sonderweg beschritt. Die Bewegung musste ihr Ziel verfehlen, so Steinmetz, weil ein stehendes Nationaltheater, das diesen Namen wirklich verdient, aufgrund der ,deutschen Misere‘ nie zustande kommen konnte. Die Theater in Mannheim, Wien, Stuttgart, Berlin, Weimar seien „allesamt ursprünglich als Hoftheater entstanden“3. Statt die 1

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Vgl. z. B.: Wieland: Nachschrift des Herausgebers an die sämmtlichen S. T. Herrn Nachdrucker im H. R. Reich, in specie die zu Carlsruh und Tübingen [1780], in: GS, Bd. 10, S. 19 f. Zur Reichsgesetzgebung gegen Nachdrucker: Wieland an Philipp Erasmus Reich, 8. Nov. 1784, Nr. 340, in: WBr, Bd. 8,1, S. 313; Wieland an Philipp Erasmus Reich, 22. Nov. 1784, Nr. 360, in: WBr, Bd. 8,1, S. 326; Wieland an Georg Joachim Göschen, 3. Sept. 1787, Nr. 401, in: WBr, Bd. 9,1, S. 313; Herder: Über die Wirkung der Kunst, in: FA, Bd. 4, S. 209. Vgl. auch die ungedruckte Fassung: ebd., S. 938. Der Blick in andere Länder verhindert vorschnelle Sonderwegsthesen. Vgl. z. B.: Senelick, Laurence (Hrsg.): National Theatre in Northern and Eastern Europe, 1746 – 1900, Cambridge 1991; Gelten, Hans: Theater und Publikum. Das italienische Beispiel, in: Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Wolf Jäger, Göttingen 1997, S. 91 – 102. Steinmetz, Horst: Idee und Wirklichkeit des Nationaltheaters. Enttäuschte Hoffnungen und falsche Erwartungen, in: Volk – Nation – Vaterland, hrsg. v. Ulrich Herrmann, Hamburg 1996, S. 141 – 150, hier S. 143.

1. Nationaltheater und föderale Nation

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„Veränderung oder Verbesserung von Staat und Gesellschaft“ zu bewirken, wie ursprünglich intendiert, stünde das Nationaltheater nun „in deren Dienst“4. Scheitert hier eine bürgerliche Emanzipationsbewegung an den Grenzen der höfischen, vielstaatlichen Welt des Alten Reichs und korrumpiert im Ergebnis ihre eigenen Ziele? Sowohl die Comédie-Française von 1680 als auch das Théâtre National de l’Odéon von 1779 waren Gründungen der französischen Könige.5 Der deutsche Funktionswandel des Hoftheaters zum Nationaltheater entspricht dem mehr, als dass es sich um einen Sonderweg handeln würde. Zudem waren die Nationaltheater anfangs keineswegs gegen den Adel gerichtet. Die Opposition von Bürgertum und Adel in dieser Frage ist bei aller zeitgenössischen Hof- und Adelskritik eine retrospektive Konstruktion, die mit der historischen Realität oftmals wenig zu tun hatte.6 Seit Beginn des Jahrhunderts argumentierten bürgerliche Autoren in ihren Appellen zur Errichtung stehender, deutschsprachiger Theaterbühnen mit dem Gemeinwohl (bonum comune) der Staaten und wünschten, dass sich die deutschen Fürsten an Kaiser Augustus oder Ludwig XIV. ein Vorbild nähmen.7 In diesem Sinne gingen Gottscheds Forderungen sogar in die kameralistischen Handbücher der Jahrhundertmitte ein.8 4 5 6

7 8

Ebd., S. 144. Schumacher, Horst: Comédie Française, in: Theaterlexikon, hrsg. v. Manfred Brauneck/Gérard Schneilin, 5. vollst. überarb. Neuausgabe Hamburg 2007, Bd. 1, S. 269 f.; ders.: Théatre National de l’Odéon, in: ebd., S. 1124 f. Meyer, Reinhart: Das Nationaltheater in Deutschland als höfisches Institut: Versuch einer Begriffs- und Funktionsbestimmung, in: Das Ende des Stegreifspiels – Die Geburt des Nationaltheaters. Ein Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Dramas, hrsg. v. Roger Bauer/Jürgen Wertheimer, München 1983, S. 124 – 152. Der bürgerliche Gottsched verteidigt die Ständeklausel, richtet sich aber selbstverständlich an alle Stände: „Sind denn nicht die meisten Begebenheiten und Zufälle des Lebens allen Menschen gemein? Sind wir nicht zu einerley Tugend und Laster fähig und geneigt? Kann nicht ein Edler und Bürger eben das im Kleinen ausüben, was Fürsten und Helden im Großen gethan?“ Gottsched: Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen (1729), in: AW, Bd. 9/2, S. 493 – 500, hier S. 498. Krebs, Roland: L’Idée de ,Théâtre National‘ dans L’Allemagne des Lumières. Théorie et Réalisations, Wiesbaden 1995, S. 586; Meyer: Das Nationaltheater in Deutschland als höfisches Institut. Martens, Wolfgang: Das Bild des Theaters in den deutschen polizey- und cameralwissenschaftlichen Lehrbüchern des 18. Jahrhunderts, in: Das Ende des Stegreifspiels – Die Geburt des Nationaltheaters. Ein Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Dramas, hrsg. v. Roger Bauer/Jürgen Wertheimer, München 1983, S. 104 – 106.

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

Schon bei ihm und Johann Elias Schlegel spielte das Nationale, die Forderung nach ,Originalschauspielen‘, eine wesentliche Rolle, um freilich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ins Zentrum der Diskussion zu rücken.9 Das Interpretationsschema der Forschungsliteratur hierfür ist eindeutig: Die bürgerlichen Autoren wollten mit der „kulturellen Einheit und Identität“ „die vermißte nationale Einheit einer ,Staatsnation‘“ kompensieren. Das Nationaltheater diene als „Gegenentwurf zum politisch dissoziierten Staatsgebilde des Deutschen Reiches“10. Mit seiner Hilfe sollte der Weg von der noch „zu schaffenden ,Kulturnation zur ,Staatsnation‘“ beschritten werden, weshalb die Diskussion bis „in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts“ anhielt.11 In der Tat scheinen Äußerungen Gotthold Ephraim Lessings, Johann Friedrich Löwens, Christoph Martin Wielands und Friedrich Nicolais so wie vieler anderer diese Lesart vorderhand zu bestätigen. Letzterer schreibt, die Diskussion resümierend: So lange Deutschland verschiedene Reiche in sich schliesset, deren jedes seine Hauptstadt hat, und sich gar nicht verbunden hält, sich nach den andern in Absicht auf Sitten, Geschmack und Sprache zu richten; so lange nicht wenigstens in einer von denen Hauptstädten, denen Deutschland in Absicht auf Geschmack und Sprache einigen Vorzug zugesteht, der Fürst, eine deutsche Schaubühne nicht etwa blos an seinem Hofe, sondern öffentlich errichten läst, und ganz besonders beschützet; so lange nicht Belohnungen ausfündig gemacht werden, wodurch fähige Köpfe können angefeuret werden, die neuerrichtete Schaubühne stets mit neuen Stücken zu versehen; so lange das Parterre nicht Muth oder Einsicht genug hat, gute Stücke mit lautem Beyfall, und schlechte Stücke mit verdientem Misfallen zu begleiten; so lange es noch nicht möglich ist, die schlechten Originale und noch elendere Uebersetzungen, welche bereits auf unsern Schaubühnen sind, abzuschaffen; so lange wir uns in unsern Orginalen noch sclavisch an die Regeln halten, und nicht daran denken, der deutschen Bühne einen eigentühmlichen Charakter zu geben; so lange diese und verschiedene andere Bedingungen noch nicht können erfüllt 9 Zu diesem Wandel, allerdings mit zu scharfem Kontrast zum frühen 18. Jahrhundert: Steinmetz: Idee und Wirklichkeit. 10 Hesselmann, Peter: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750 – 1800), Frankfurt a.M. 2002, S. 184. 11 Ebd., S. 184 f. Mit direktem Verweis auf Meinecke. Hesselmann bietet einen quellengesättigten Überblick über die Diskussion um das Nationaltheater; vgl. für diese Interpretation exemplarisch: Jens, Walter: Der Ort der Handlung ist Deutschland. Nationaltheater ohne Nation, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinckmann, hrsg. v. Jürgen Brummack u. a., Tübingen 1981, S. 119 – 135; ebenso: Steinmetz: Idee und Wirklichkeit, S. 147.

1. Nationaltheater und föderale Nation

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werden; so lange werden wir uns nicht rühmen können, daß wir eine deutsche Schaubühne hätten, die diesen Nahmen mit Recht verdiente.12

Das ,so lange …‘ mündet jedoch bei keinem der Klagenden des 18. Jahrhunderts in den Umkehrschluss, dass die reichsständische ,Vielstaatlichkeit‘ zugunsten eines Einheitsstaats mit einer Hauptstadt wie Paris oder London bekämpft werden müsse. Zwar bestreiten nicht wenige Autoren die Möglichkeit spezifisch deutscher Schauspiele, da erst die Dominanz einer Hauptstadt den Nationalcharakter ausreichend normieren würde, um ihn für die Dichter nachahmungsfähig zu machen.13 Das politische tertium comperationis ist aber dennoch nicht der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts und die Idee des Staatsbürgertums, sondern immer noch die föderale Nation des ständischen Alten Reichs. Die Klagen über politische Zersplitterung und mangelnde kulturelle Zentriertheit dürfen daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Nationaltheater selbstverständlich im Rahmen der Reichsverfassung projektiert wurden. Dass nie von Reichstheater, sondern eben von Nationaltheater die Rede ist,14 unterstreicht, dass Reich und Nation für die Mehrheit der Autoren keine deckungsgleichen Begriffe waren. Die Reformvorschläge blieben aber auf das Reich beschränkt. Es ging ihnen um die Errichtung einer nationalen Schaubühne in Wien, Berlin, Mannheim, Dresden oder Weimar bzw. in Reichsstädten wie Frankfurt und Hamburg, nicht aber im deutschen Sprachraum außerhalb des Reichs. Wenn Lessing desillusioniert von den eigenen Erfahrungen mit der Hamburger Bürgerschaft „über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen“, den Kopf schüttelt, „da wir Deutsche noch keine Nation sind!“, fügt er bezeichnenderweise hinzu: „Ich 12 Nicolai, Friedrich: Beschluß des Zweyhunderten Briefes, in: Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 9. Theil, hrsg. v. Gotthold Ephraim Lessing/Moses Mendelssohn, Berlin 1761, S. 299 – 306, hier S. 304 f. 13 „Die Bairische Gesellschaft hat die Preisfrage aufgeworfen: Warum hat Teutschland noch kein Nationaltheater?“, schreibt Schmid 1783, „Ich antworte, weil es überhaupt keinen Nationalgeist hat, noch je bekommen wird, weil mehr Sprache als Verfassung dies große Land unter sich verbindet. So lange nicht alle unsre Höfe alles Ausländische verbannen, so lange nicht die Bühne eine Goldgrube für unsre Dichter wird, so lange nicht öffentliche Pflanzschulen deutscher Schauspieler angelegt werden, werden alle unsere Versuche nur einzelne Versuche bleiben.“ Schmid, Christian Heinrich: Ueber die Fortschritte der dramatischen Dichtkunst in Teutschland seit Gottsched, in: Theater-Kalender, auf das Jahr 1783, S. 82 – 102, hier S. 101 f.; Löwen, Johann Friedrich: Geschichte des deutschen Theaters, in: ders.: Schriften, Bd. 4, Hamburg 1766, S. 3 – 66, hier S. 62. 14 Vgl. Höyng, Peter: ,Was ist Nationalschaubühne im eigentlichsten Verstande?‘, S. 224.

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

rede nicht von der politischen Verfassung, sondern bloß von dem sittlichen Charakter.“15 Gerne wird das Zitat um den letzten Teil gekürzt wiedergegeben,16 er ist aber, wie Lessings Artikel ,Deutsche Freiheit‘ belegt, durchaus ernst zu nehmen und mehr als ein Zusatz der Political correctness. 17 Der historisch adäquate Bezugspunkt für die Nationaltheaterbewegung ist nicht die national-politische Einheitsbewegung des 19., sondern die Reichsreformbemühungen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wie in der Reformdiskussion ist die Palette divergierender Meinungen groß. „Wir müssen uns durch die aberwitzigen Einwendungen kleiner Köpfe nicht irre machen lassen, die da in der Verfassung Deutschlands etwas finden wollen, das der Möglichkeit eines Nationaltheaters widerspricht“, schreibt der bayerische Professor Johann Baptist Strobel im Dramatischen Censor 1783. Ist nicht Deutschland ein für sich bestehender, unabhängiger Staat? herrscht nicht ein Geist durch den ganzen Körper? Kann die kleine Verschiedenheit der Gesetze und der Sitten in dieser oder jener Provinz den Nationalkarakter vernichten? Nein, so wenig als der Unterschied der deutschen Dialekte im Wesen der Sprache etwas ändert.18

Dass die Reichsverfassung die Vielheit deutscher Schaubühnen begründet, hielt manch einer gar für eine günstige Fügung. So heißt es 1799 in der Wiener Theater-Kritik: Denn eben dadurch, daß mehrere Bühnen als Nationalbühnen der dramatischen Kunst in einem größern oder kleinern Kreise um sich herum eine gewiße manichfaltige Richtung geben, wird Einseitigkeit darin vermieden, und der Grund zu ihrer möglichst größten Vervollkommnung gelegt […].19

Andere sahen in der „deutsche[n] Staatsverfassung“ und dem „Mangel einer Hauptstadt“ zwar die Unmöglichkeit begründet, einen profunden Nationalcharakter auszubilden, lobten dies aber – Bonum-durch-Malum – als Fundament für das „weltbürgerliche“ Potential der deutschen Bühnen.20 15 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 101.–104. Stück, 19. April. 1768, in: ders.: Werke, Bd. 4, S. 693 – 707, hier S. 698. 16 Jens: Nationaltheater ohne Nation, S. 130. 17 Lessing: Deutsche Freiheit, in: ders.: Werke, Bd. 5, S. 724 – 726. 18 Strobel, Johann Baptist: Dem Herrn M**, hiesigen Schauspieler, zur Beherzigung, in: Der Dramatische Censor, Fünftes Heft (Febr. 1783), S. 193 – 208, hier S. 194. 19 Anonymus: Uebersicht der vorzüglichsten Schaubühnen Deutschlands, in: Wiener Theater-Kritik 1, H. 6 (1799), S. 1 – 141, hier S. 2. 20 Mackensen, Wilhelm Friedrich August: Untersuchung über den Deutschen Nationalcharakter in Beziehung auf die Frage: warum gibt es kein Deutsches Na-

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Die große Mehrheit freilich beklagte die Provinzialität der Schauspieler, die von Dialekten zersplitterte deutsche Sprache und die deutsche Nachahmungssucht, verband damit jedoch beinahe immer das Ziel, die Obrigkeiten der Reichsstädte und die Fürsten der Residenzstädte zu animieren, die deutschen Bühnen zu fördern. Auch sie blieben dem föderalen Nationsgedanken verpflichtet. Entsprechend der Reichsreformprogramme wurden in aller Regel gut gemeinte Vorschläge zur besseren Einrichtung des Theaters unterbreitet, die an die politischen Rahmenbedingungen angepasst waren. Die Interpretation der Nationaltheaterbewegung als Kulturnation, die auf eine erst noch zu bildende Staatsnation ziele, ist daher teleologisch und historisch schief: Die Diskutanten gingen von dem bestehenden Reich mit all seinen Defiziten aus, in ihm sollte sich über das Theater die Nation bilden. Um zwei Beispiele zu geben: Ein anonymer Autor empfiehlt im Theater-Kalender, auf das Jahr 1779, „in den Hauptstädten Teutschlands“ zwölf „stehende Theater“ zu errichten, die „unter Aufsicht der Obrigkeit ex fundo publico zu unterhalten“ seien. Die Schauspieler sollen zumindest anfangs höchstens „zwey Jahre“ an einem Ort bleiben und so im ganzen Reichsgebiet rotieren.21 Mehrere Paragraphen umfasst ein Reformvorschlag, der im Kontext einer Preisfrage der Bayerischen Akademie der Wissenschaften entstanden ist. Nach diesem sollen die wandernden Gesellschaften durch obrigkeitliche Edikte verboten und stattdessen fünf zentrale stehende Schaubühnen als Theaterpflanzschulen in Wien, Berlin, Dresden, Hamburg und Mannheim eingerichtet werden. Über unterstellte Schauspielgesellschaften sollen sie alle Theater im Reichsgebiet ,versorgen‘. Eine Oberdirektion mit namhaften Schauspielern und Dichtern wird festgelegt, Theaterzeitschriften geplant, die über Standards und Neuerungen zu informieren haben, und disziplinarische Verfahren zur Aufrechterhaltung der Zucht und Ordnung und zur Integration der Schauspieler in die Gesellschaft vorgesehen.22 tionaltheater?, Wolfenbüttel 1793, S. 2 f.; Rezension in: Allgemeine Literaturzeitung 327 (1795), Sp. 497 – 504, hier S. 503 f. 21 Anonymus: Anhang 1. Meine Gedanken über das Schauspielmonopolium, in: Theater-Kalender, auf das Jahr 1779, S. LIII–LXIII. 22 Der Reformplan ist gedruckt in: Diez, Johann Christian Friedrich (Hrsg.): Beiträge zum Theater, zur Musik und der unterhaltenden Lektüre überhaupt, Stendal 1785, S. 16 – 110. Hier nach der Zusammenfassung bei: Meinel, Katharina: Für Fürst und Vaterland. Begriff und Geschichte des Münchner Nationaltheaters im späten 18. Jahrhundert, München 2003, S. 233 – 236; Hesselmann: Gereinigtes Theater, S. 175 f.

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

Wenn Maler Müller die pfälzische Schaubühne mit „patriotische[m] Gefühl“ zum „deutschen Nationaltheater“ erklärt, ist das nicht gegen das Reich gerichtet, sondern harmoniert durchaus mit dem föderalen Reichsbewusstsein.23 Ebenso will oben zitierter Strobel nicht „blos baierische Helden und Sitten“ auf der „Nationalschaubühne“ des Kurfürstentums sehen, sonst wäre „sie nur eine deutsche Provinzialbühne“, sondern den „wahre[n]“, wiewohl nicht notwendig faktualen „historische[n] Karakter der Nation“24. Mag das dialektale und provinziale Gepräge der Schauspiele und Bühnen den Gedanken eines deutschen Nationaltheaters in das Reich der Utopie verbannt haben, spiegelt sich in dergleichen Konzeptionen doch unverkennbar das föderale Nationsempfinden innerhalb des Reichs wider. Herders Beantwortung der Frage, Haben wir eine französische Bühne?, mündet, wie gesehen, konsequent in ein an die Reichsverfassung angepasstes Konzept, das den Wettstreit des Provinziellen untereinander zum Bildungsprinzip des Nationalen erhebt.25 Die Klage einer fehlenden Hauptstadt tut dem keinen Abbruch: Wieland bedauert vielfach, dass es im Reich kein Zentrum gibt wie in Frankreich oder England. Während das vielstaatliche Griechenland kulturelle Metropolen besaß, entbehre Deutschland solcher ,Urbanität‘.26 Er spottet über den Versuch einer Nation, die keine gemeinsame Hauptstadt hat, und so lange sie ihre itzige gesetzmäßige Verfassung behält, keine haben kann, von Nationaltheatern [zu] reden, oder das teutsche Theater ihres Hofes, ihrer Stadt, eigenmächtig zum Nationaltheater erheben [zu] wollen.27

23 Maler Müller: Gedanken über Errichtung eines deutschen Nationaltheaters, in: ders.: Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts, hrsg. v. Klaus Hammer, Berlin 1968, S. 330 – 334. 24 Strobel: Dem Herrn M**, S. 199. 25 Vgl. in dieser Arbeit 2. Kap., 2.2 ,Deutsche Art und Kunst‘: Reichsverfassung und Ästhetik. 26 „Die Griechen hatten zwar so wenig eine gemeinsame Hauptstadt als wir; aber Athen war der eigentliche Sitz der Künste, der Wissenschaften, des Geschmacks, der Mittelpunkt aller Personen die sich durch Talente hervorthaten, und in so fern doch würklich die Metropole von Griechenland und der Ort, wohin alle Fremden zusammenstoßen, um ihren Geschmack zu bilden, den Studien obzuliegen, und artige Leute werden – hierinn liegt der Unterschied.“ Siehe: Fußnote 1 in: Lucian – Wieland, C. M. [Übersetzer]: Panthea. Von neuem übersezt in: TM 4. Viertelj. (1780), S. 97 – 121. 27 Wieland: Auszug aus einem Schreiben an einen Freund in D***, in: GS, Bd. 10, S. 11.

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Doch gerade bei Wieland sind kulturelle Identität und Reichsbewusstsein eng verbunden. Die fehlende Hauptstadt Deutschlands verhindere keineswegs, so lehre das griechische Exempel, dass es „den Fürsten und den Obrigkeiten der vornehmsten Reichsstädte“ „leicht“ fallen würde, „wenn sie nur wollten, durch Abstellung alter Mißbräuche, durch neue, bessere Einrichtungen“ die Kultur, hier das deutsche Singspiel, zu befördern.28 In der Frage nach der Möglichkeit eines Nationaltheaters kommt der Sprache eine besondere Rolle zu, da die Dialekte als ein Haupthindernis des gesamtdeutschen Schauspiels galten. Unmöglich sei es aber, schreibt Wieland, die deutsche Hochsprache aus einer Provinz abzuleiten, wie es der Anomalist Adelung getan habe, „wodurch er mit allen deutschen Provinzen außer Kur-Sachsen, und also wenigstens mit Neun Zehntheilen der Nazion (nach seinem eignen Ausdruck) es völlig zu verderben besorgen mußte“29. Argumentationsgrundlage ist nicht die gesamte Sprachgemeinschaft der Deutschen, sondern ganz konkret die Reichsverfassung, 9/10 bezieht sich auf die 10 Reichskreise. Welche „Stadt oder Provinz“ in der Blüte stünde, sei von Zufällen abhängig und nicht von beständiger Dauer. In einem Umfang von etlichen Jahrhunderten kann [daher] die Reihe nach und nach an jeden Kreis des deutschen Reiches kommen, und so müßte sich, diesem Grundsatz zu Folge, unsre Schriftsprache noch oft verändern.30

Ironisch weist er auf die „Processe ohne Ende“ an den Reichsgerichten hin, die in dem klagefreudigen Deutschland durch eine so einseitige Privilegierung entstehen würden. Im Moment sei an Freiheit und Kultur Hamburg zweifellos allen anderen deutschen Städten voraus, und doch könne der Berliner Hof ebenso auf den kulturellen Vorrang pochen, wie überhaupt ein bemerkenswertes Aufblühen Wiens unter Joseph II. zu erwarten sei.31 Die deutsche „Nazion“ sei also erst am Beginn ihres kulturellen Wachstums, und es wäre verfrüht, bereits jetzt das ,Hochdeutsche‘ 28 Wieland: Versuch über das deutsche Singspiel, in: GS, Bd. 14, S. 74 f. 29 Wieland, Christoph Martin: Über die Frage: Was ist Hochdeutsch? Und einige verwandte Gegenstände (1782), in: ders.: Christoph Martin Wielands Sämmtliche Werke, Bd. 6, Leipzig 1798, S. 295 – 366, hier S. 327. 30 Ebd., S. 332. Kursivierung M. H. 31 „Und wie lange wird es noch währen, bis keine deutsche Provinz der Österreichischen an allen Ursachen und Wirkungen des blühendsten Wohlstandes den Vorrang wird streitig machen können? Was die Welt nur bloß seit zwey Jahren mit Erstaunen gesehen hat, lässt unter einem Beherrscher wie Josef II. das Unglaublichste erwarten.“ Ebd., S. 333. Zu Wien als mögliche kulturelle Hauptstadt vgl. z. B. auch Wieland an Christian Friedrich Schwam, 2. Januar 1784, Nr. 170, in: WBr, Bd. 8,1, S. 174 f.

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

festzulegen.32 Wieland plädierte deshalb nicht für eine Umstrukturierung der Verfassung. Er hoffte darauf, dass die Vielheit zu einer genuinen Blüte Deutschlands führe und sah wie Herder und Möser in Goethes Götz von Berlichingen, ja, selbst in den oft wenig gelungenen und lokalistischen Nachahmungen durchaus einen Schritt in diese Richtung. Wenn Götz von Berlichingen und seine wohl oder übel gerathenen Nachahmungen kein anders Verdienst hätten, als daß sie uns durch die Erfahrung die man von ihrer Wirkung gemacht hat, den Weg gezeigt hätten, auf welchem wir eine wahre National=Schaubühne erhalten können: so wäre es schon Verdienst genug.33

Das resignative Bild auf die deutsche Theaterentwicklung, wie es sich in der Forschung festgesetzt hat, teilten durchaus nicht alle Autoren.34 Schiller spricht in den 1780er-Jahren von dem „lebhaften Schwung“, der das deutsche Drama „beinah in allen Provinzen des Vaterlandes“ auszeichne.35 Wie die Griechen von ihren Nationalbühnen zusammengekettet wurden, so könne sich auch in Deutschland über die Nationalbühne jener „Nationalgeist“ des „Volks“ bilden, den so viele vermissten. „Nur der Schaubühne ist es möglich, diese Übereinstimmung in einem hohen Grad zu bewirken […], weil sie alle Stände und Klassen in sich vereinigt und den gebahntesten Weg zum Verstand und zum Herzen hat.“36 Mit einem Nationaltheater, schreibt er, „würden wir auch eine Nation“37. Er hofft damit nicht auf „die politische Einigung“ Deutschlands,38 von einer gewissen politischen Einheit geht er ja offenkundig bereits aus, sondern dass sich das vielstaatliche Reich in allen Ständen seiner selbst bewusst und von der Schaubühne sittlich erzogen werde. Natürlich erhoben bürgerliche Autoren ihre moralischen Wertkonzepte damit auf den allgemeinen 32 „Aber bis eine Nazion eine beträchtliche Anzahl sehr vortrefflicher Werke in allen Arten des Stils und der Komposizion aufzuweisen hat, mag das was man Geschmack nennt unter ihren obern Klassen so fein und gut seyn als man will: ihre Schriftsprache ist doch immer erst im Wachsen begriffen, sie ist noch unvollendet, sie kann noch neue Wörter und Redensarten aufnehmen, veraltete wieder ins Leben zurückrufen.“ Wieland: Was ist Hochdeutsch, S. 346. 33 Wieland: Briefe an einen jungen Dichter, in: TM 1. Viertelj. (1784), S. 228 – 253, hier S. 249. 34 Krebs: L’Idée de ,Théâtre National‘, Kapitel ,le temps des desillusions‘, S. 557 – 577. 35 Schiller: Über das gegenwärtige teutsche Theater, in: MA, Bd. 5, S. 812. 36 Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, in: MA, Bd. 5, S. 830. 37 Ebd. 38 Hesselmann: Gereinigtes Theater, S. 181.

2. Wielands Teutscher Merkur und die ,Reichsöffentlichkeit‘

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Richterstuhl über die ganze Gesellschaft. Sie brachen deshalb aber nicht, so ist gegen Kosellecks berühmtes Interpretationsschema aus Kritik und Krise einzuwenden,39 notwendig mit der bestehenden Ordnung, an der sie ja vielfach Anteil hatten. Die literarischen Nationskonzepte sollten alle Stände und alle Provinzen des Reichs gleichermaßen erreichen, Gemeingeist in allen Gliedern erwecken, nicht jedoch auf einen homogenisierten Staat moderner Prägung hinwirken. Genau das lobten die Zeitgenossen, wie gesehen, an der nationalen Einheit in der Mannigfaltigkeit, die sich in Goethes Götz von Berlichingen zu zeigen schien. Im Folgenden tritt an die Stelle der kulturnationalen Kompensationsthese das Konzept der literarischen Reichsinstitutionen: Die Dichter des 18. Jahrhunderts, so wird zu zeigen sein, wollten den Weg zur nationalkulturellen Blüte und allgemeinen Aufklärung nicht gegen den bestehenden Reichsverband antreten, sondern mit ihm. Sie versuchten, sich nach dem Vorbild der Reichsinstitutionen wie dem Reichstag oder dem Reichskammergericht kulturelle Organisationspunkte zu schaffen. Die als ,literarische Reichsinstitutionen‘ verstandenen Projekte – Deutsche Gesellschaften, Akademien, Zeitschriften – zeugen in vielen Fällen von einem grundsätzlichen Zugehörigkeitsgefühl zum politischen Rahmen des Reichs, der trotz aller Mängel in der Regel eben nicht rundheraus abgelehnt wurde. Im Konzept der Kulturnation lebte das Reichsbewusstsein fort.

2. Wielands Teutscher Merkur und die ,Reichsöffentlichkeit‘ Wieland eröffnet 1773 seine neu gegründete Zeitschrift mit einer topischen Klage über die mangelnde Zentrierung der deutschen Kulturlandschaft: Wir haben keine Hauptstadt, welche die allgemeine Akademie der Virtuosen der Nation, und gleichsam die Gesetzgeberin des Geschmacks wäre. Wir haben kein feststehendes National=Theater; unsre besten Schauspieler, so wie unsre besten Schriftsteller, Dichter und Künstler, sind durch alle Kreise des deutschen Reiches zerstreut, und größtentheils der Vortheile eines nähern Umgangs und einer vertraulichen Mittheilung ihrer Einsichten, Urtheile, Entwürfe, u. s. w. beraubt, welche zur Vollkommenheit ihrer Werke so viel beytragen würde.40 39 Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M. 1973, S. 83 – 86. 40 Wieland: Vorrede des Herausgebers, in: TM 1 (1773), S. III–XXII, hier S. VI. Kursivierung M.H.

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

Das Öffentlichkeitskonzept in Wielands Teutschem Merkur gilt in der Literaturwissenschaft aufgrund solcher Aussagen als kulturnationale Kompensation der staatlichen Misere.41 In der Tat tritt er wie nicht wenige Zeitschriften des Aufklärungszeitalters an, das Fehlen eines kulturellen und öffentlichen Zentrums auszugleichen. Sie stehen deshalb aber noch nicht notwendigerweise in Opposition zum bestehenden Reich und den territorialen Obrigkeiten. In der Beschreibung der publizistischen und literarischen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts folgt die germanistische Forschung nach wie vor häufig zwei grundlegenden Werken, die bei aller Divergenz in mancherlei Hinsicht ein ähnliches Bild des Aufklärungszeitalters prägten: Reinhart Kosellecks Kritik und Krise und Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit. 42 Die Wielandforschung ist für diese Rezeption ein leuchtendes Beispiel.43 Beide Bücher sind freilich primär philosophischer Natur, geprägt von der intellektuellen Konstellation um 1960, und liefern eine jeweils eigene Theorie bzw. Kritik der Moderne, nicht aber eine historische Beschreibung der politischen Kultur des 18. Jahrhunderts, die dem aktuellen Stand geschichtswissenschaftlicher Forschungen noch entspräche. Kosellecks dialektische Argumentation, die Trennung von Politik und Moral, die Opposition der bürgerlichen Gesellschaft zum bestehenden Regime als Gegenöffentlichkeit sind aus Sicht der historischen Empirie genauso fragwürdig wie Habermas’ Konzept einer zunächst unpolitischen und literarischen Öffentlichkeit aus bürgerlichen Privatleuten. Beide Konzepte blenden die vielfache Verwobenheit des Bürgertums mit dem ,absolutistischen‘ Regime zugunsten einer emanzipatorischen Teleologie bzw. Pathologie aus und statuieren eine Rückständigkeit der deutschen Aufklärungsöffentlichkeit, die es so nicht gegeben hat,44 wie sie überhaupt 41 Nowitzki: Der Teutsche Merkur als Nationaljournal, S. 103. 42 Koselleck: Kritik und Krise; Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990. 43 Habermas zu Wieland: Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 177 f.; Stoll, Karin: Christoph Martin Wieland. Journalismus und Kritik. Bedingungen und Maßstab politischen und ästhetischen Räsonnements im „Teutschen Merkur“ vor der Französischen Revolution, Bonn 1978; Jordheim: Der Staatsroman, S. 46 – 55. 44 Vgl. allgemein zu Habermas’ und Kosellecks Öffentlichkeitskonzept: SchulzForberg, Hagen: Europa entzaubert? Öffentlichkeit und Integration Europas, in: Die kulturelle Integration Europas, hrsg. v. Johannes Wienand/Christiane Wienand, 1. Aufl. Wiesbaden 2010, S. 51 – 100, hier S. 58 – 61; zur Öffentlichkeit des Aufklärungszeitalters: Goldenbaum, Ursula: Die öffentliche Debatte in der

2. Wielands Teutscher Merkur und die ,Reichsöffentlichkeit‘

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die ältere politische Öffentlichkeit in Liedern, Predigten, Traktaten, Flugund Staatsschriften ignorieren.45 Heinrich Bosse spricht mit Blick auf Habermas von einer „Fehlkonstruktion aus Tilgung und Projektion“: „Weggelassen sind darin drei Jahrhunderte frühmoderner Mediengeschichte mit ihren politisch-juristischen Auseinandersetzungen, hergespiegelt ist die Privatsphäre.“46 Reichs- und Territorialpolitik waren während der gesamten Frühen Neuzeit beständig Teil öffentlicher Debatten. Habermas’ Abfolge von repräsentativer und bürgerlicher Öffentlichkeit hält feineren historischen Analysen längst nicht mehr stand. Zu den vielen ,Öffentlichkeiten‘ der Frühen Neuzeit gehörte auch eine ,publicistisch-gelehrte Reichsöffentlichkeit‘, die keineswegs ständisch-repräsentativ strukturiert war.47 Bis zur Auflösung des Alten Reichs wuchs diese Öffentlichkeit kontinuierlich an. Wolfgang Burgdorf behandelt die von scharfer Kritik, über Reformvorschläge bis zum Reichsenthusiasmus reichende Textfülle von 1648 bis 1806 in seiner umfassenden Dissertation. Besonders zum Ende des Alten Reichs sank die Publikationsdichte nicht, sondern vervielfachte sich in Preisschriften, knappen Abhandlungen, Aufsätzen oder mehrbändigen Werken.48

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deutschen Aufklärung 1697 – 1796. Einleitung, in: dies.: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687 – 1796, Bd. 1, Berlin 2004, S. 1 – 118, hier S. 3 – 13. Vgl. Schmidt, Georg: Das Reich und Europa in deutschsprachigen Flugschriften. Überlegungen zur räsonierenden Öffentlichkeit und politischen Kultur im 17. Jahrhundert, in: Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder, hrsg. v. Klaus Bußmann/Elke Anna Werner, Stuttgart 2004, S. 119 – 148. Bosse: Die gelehrte Republik, S. 65. Vgl. zum Thema Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit: Arndt, Johannes/Körber, Esther-Beate (Hrsg.): Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600 – 1750), Göttingen 2010; Freist, Dagmar: Öffentlichkeit und Herrschaftslegitimation in der Frühen Neuzeit. Deutschland und England im Vergleich, in: Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Ronald G. Asch/Dagmar Freist, Köln u. a. 2005, S. 321 – 351, hier S. 322 – 335. Zur Reichsöffentlichkeit, allerdings in deutlich weiter gefasstem Sinn: ebd., S. 331 ff. Vgl. auch die ältere Studie: Gestrich, Andreas: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, S. 91 – 100. Im Folgenden geht es um den publizistisch-gelehrten Diskurs über das Reich, nicht um den gesamten Bereich, den der Begriff Öffentlichkeit umfassen kann. Burgdorf: Reichskonstitution und Nation; Gagliardo: Reich and Nation. Burgdorf spricht von einem „intergouvernementalen Diskurs“. In der Tat stand etwa Friedrich Carl Moser im Dienste des österreichischen Hofs und die große Mehrheit

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

Historisch-juristische Fachzeitschriften, die explizit politische Themen verhandelten, gab es seit dem Ende des 17. Jahrhunderts.49 Im 18. Jahrhunderts erhielten die politisch-juristischen Fachdiskussionen zudem vermehrt Eingang in die allgemeine bürgerliche Zeitschriftenkultur. Nicht nur veröffentlichten Juristen wie Johann Stephan Pütter oder Justus Friedrich Runde Aufsätze in diversen ,Gelehrten Zeitschriften‘ und Magazinen oder gaben selbst solche heraus, die ein Publikum jenseits der Fachwelt adressierten – man denke z. B. an Friedrich Carl Mosers Patriotisches Archiv –, vor allem waren ,publicistische‘ Arbeiten beständig Gegenstand des florierenden Rezensionswesens. Wielands reichspolitische Schriften aus dem Teutschen Merkur lassen sich, wie noch zu zeigen sein wird, ebenso als Popularisierung eines Fachdiskurses über die Vor- und Nachteile der Reichsverfassung verstehen.50 Für das Öffentlichkeitskonzept des Teutschen Merkur ist neben diesem reichsdiskursiven ein zweiter Kontext von ungleich größerer Bedeutung: In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gedieh die Zeitschriftenkultur über den engeren Fachkreis hinaus zunehmend zum „Medium praktischer Aufklärung“51. Politisch-theologisches wie juristisches und ökonomisches ,reichspublicistischer‘ Veröffentlichungen zeugt von der unmittelbaren Nähe der Verfasser zu ihren Landesherrn (ebd., S. 26 ff.). Bereits Mosers Vater stellte fest, dass „fast jeder Scribent, der etwas von des Teutschen Reiches Staatsverfassung herausgibt, sich nach den Maximen und Principiis seiner Oberen zu richten pflegt“, folgt mit dieser Äußerung aber dem Ideal eines auf wissenschaftliche Redlichkeit zielenden staatsrechtlichen Diskurses im Sinne Nicolaus Hieronymus Gundlings (Moser, Johann Jacob: Compendium juris publici Germanici, oder Grundriß der heutigen Staats-Verfassung des Teutschen Reichs, Tübingen 1731, S. 10 f. Lib. I. Cap. I., § 8). Vgl. zum Göttinger Wissenschaftsideal, das von Gundling beeinflusst war: Hammerstein: Jus und Historie, S. 309 – 374. Anke Waldmann betont die bürgerliche Komponente dieses Schriftguts daher zu Recht: Waldmann: Reichspatriotismus, S. 19, Fußnote 2. 49 Vgl. Weber, Johannes: Deutsche Presse im Zeitalter des Barock. Zur Vorgeschichte des öffentlichen politischen Räsonnements, in: ,Öffentlichkeit‘ im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Wolf Jäger, Göttingen 1997, S. 137 – 149; Goldenbaum: Die öffentliche Debatte, S. 12. 50 Vgl. in dieser Arbeit 4. Kap., 2. Wielands Verfassungspatriotismus in der Vorrede zum ,Historischen Calender für Damen‘. 51 Böning, Holger: Das Intelligenzblatt als Medium praktischer Aufklärung. Ein Beitrag zur Geschichte der gemeinnützig-ökonomischen Presse in Deutschland 1768 – 1780, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 12 (1987), S. 107 – 133; Böning, Holger: Zeitung und Aufklärung, in: 400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext, hrsg. v. Martin Welke/Jürgen Wilke, Bremen 2008, S. 287 – 310.

2. Wielands Teutscher Merkur und die ,Reichsöffentlichkeit‘

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Wissen sollten auf diesem Weg zwischen den gebildeten Lesern aller Stände ausgetauscht und verbreitet, Vorurteile abgebaut und Reformen angeregt werden. Das patriotisch-gemeinnützige Engagement der Aufklärer manifestiert sich spätestens seit der Mitte des Jahrhunderts in zahlreichen Staats-, Intelligenzblättern und Wochenschriften, die mit wachsendem Nachdruck eine spezifisch ,nationale Öffentlichkeit‘ adressierten.52 Die Staatenvielfalt des Reichs erschien hier in der Regel nicht als Negativum, sondern als Qualität, die jedoch erst durch die Existenz eines Regionen und Provinzen mit der Nation verbindenden Kommunikationsnetzwerks zum Vorschein kommen konnte.53 Die nationale Öffentlichkeit der aufgeklärten Zeitschriften konnte sich auf eine spezifische Reichsöffentlichkeit beziehen, war aber mit dieser keineswegs identisch. Das von Leopold Friedrich Günther von Goeckingk gegründete, bald gemeinsam mit und schließlich nur noch von Sigmund von Bibra herausgegebene Journal von und für Deutschland trug wie viele andere Zeitschriften der 1770er- und 1780er-Jahre die Nation bereits im Titel. Hier finden sich nicht nur kulturelle und sprachliche Themen, sondern auch zahlreiche Nachrichten aus dem ganzen „Vaterland“, der deutschen ,Staatenwelt‘ – Nachrichten über die Fürstenhäuser, Geburten, Todesfälle, Heiraten etc., über lokalgeschichtliche und politische Ereignisse von Reichsstädten bis zu Kurfürstentümern –, zudem wurden dort Reichskammergerichtsurteile, Reichshofratsbeschlüsse und Reichstagsverhandlungen wiedergegeben und damit publik gemacht.54 Ganz gezielt adressiert diese Zeitschrift in ihrer nationalen Leserschaft eine Leserschaft in den Grenzen des Alten Reichs. 52 Böning: Das ,Volk‘ im Patriotismus der deutschen Aufklärung, S. 83 – 88. 53 Ebd., S. 86. Vgl. Doering-Manteuffel, Sabine/Mancˇal, Josef/Wüst, Wolfgang (Hrsg.): Pressewesen der Aufklärung: periodische Schriften im Alten Reich, Berlin 2001, S. 11 – 42 (Einleitung). 54 Dieses Journal bestand von 1784 – 1792 und spielte für die ,Reichsöffentlichkeit‘ des Jahrzehnts eine zentrale Rolle. Ein Beispiel aus dem Jahre 1784: [Anonymus]: Reichstags-Verhandlungen, in: Journal von und für Deutschland 1, St. 2 (1784), S. 137 – 138; Cammergerichts-Urtheile, in: ebd., S. 138 – 142; Anonymus: Gümbel N./Reichskammergerichtsprozeß, Rehabilitierung, in: ebd., S. 211 – 219; Ehrhardt, S. J.: Kommt das Prädicat: Unüberwindlichst in der Kaiserl. Titulatur schon vor 1548 vor?, in: ebd., S. 284 – 286; Anonymus: Karl V. römisch-deutscher Kaiser/Titulaturen, in: ebd., 3. St., S. 288 – 289, S. 292 – 294; Anonymus: Ditfurth, v. (Familie)/Lehnsanwartschaft, Reichskammergerichtsprozeß gegen Friedrich II. Landgraf v. Hessen-Kassel, in: ebd., S. 294; Kammergericht (mit Tabelle der Assessoren etc.), in: ebd., S. 298 – 300; Reichshofraths-Urtheile, in: ebd., S. 301 – 305; W., G. P. v. [Bearbeiter]: Proceß des Erzbischofs zu Salzburg mit dem dasigen Dom-Capitel, in: ebd., 4. St., S. 329 – 333; Reichshofraths-Con-

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

Spezifische Literatur- und Kulturorgane, das Deutsche Museum ist ein prominentes Beispiel, konnten sich schon seit den Zeitschriften Gottscheds und seines Kreises kaum mehr einer nationalen Programmatik entziehen: Sie wollten in literarischen und allgemein kulturellen Belangen die Nation mit sich selbst vertraut machen.55 Natürlich waren sie mehr noch als die gemeinnützig-patriotischen Zeitschriften nicht an eine geographisch beschränkte Öffentlichkeit gebunden und blickten oft ebenso stark auf ganz Europa wie auf Deutschland. Am Beispiel von Wielands Teutschem Merkur lässt sich jedoch zeigen, dass auch diese kulturelle Öffentlichkeit zugleich als Reichsöffentlichkeit gestaltet werden konnte. Wieland rechnet der Publizität im Heiligen Römischen Reich eine ganz besonders wichtige Funktion zu, ja, er bestätigt dabei das allgemeine Bewusstsein für die Tradition der politisch-juristischen Reichsöffentlichkeit: Insonderheit ist jedem großen Volke – und ganz vorzüglich dem unsrigen, (dessen Staatskörper eine so sonderbare Gestalt hat, und aus so mannigfaltigen und ungleichartigen Theilen mehr zufälliger Weise zusammen gewachsen als planmäßig zusammen gesetzt ist) daran gelegen, seinen gegenwärtigen Zustand so genau als möglich zu kennen. Jeder noch so geringe Beytrag, der über die Beschaffenheit der Staatswirthschaft, Polizey, bürgerlichen und militärischen Verfassung, Religion, Sitten, öffentlichen Erziehung, Wissenschaften und Künste, Gewerbe, Landwirthschaft, u. s. w. in jedem Theile unsers gemeinsamen Vaterlandes, und über die Stufe der Kultur, Aufklärung, Humanisierung, Freyheit, Thätigkeit und Emporstrebung zum Bessern, die jeder derselben erreicht hat, einiges Licht verbreitet, jeder solche Beytrag ist schätzbar und verdient unsern Dank.56 Eine eben so simple, eben so getreue und ungeschmeichelte Darstellung dessen, was in unserm gegenwärtigen Zeitmomente jeder besondre Staat, jede clusum, in: ebd., S. 448 – 454; Cammergerichts-Urtheile, in: ebd., S. 455; Reichstags-Verhandlungen, in: ebd., 5. St., S. 570 – 572; Finaldecrete des Cammergerichts in Extrajudicial-Sachen, in: ebd., S. 572 – 573; ReichshofrathsConclusa, in: ebd., S. 573 – 577; Cammergerichts-Urtheile vom Jahr 1784, in: ebd., 8. St., S. 121 – 130; Reichstags-Verhandlungen, in: ebd., S. 130 – 134; Dusch, J.J. u. a.: Donop, v./Reichskammergerichtsprozeß, in: ebd., S. 134 – 139; Edicte, Verordnungen etc., in: ebd., 10. St., S. 270 – 282. 55 Vgl. Heinz, Jutta: „Eine Art – wie der Merkur hätte werden sollen“. Programmatik, Themen und kulturpolitische Positionen des ,Teutschen Merkur‘ und des ,Deutschen Museums‘ im Vergleich, in: ,Der Teutsche Merkur‘ – die erste deutsche Kulturzeitschrift?, hrsg. v. Andrea Heinz, Heidelberg 2003, S. 108 – 130; zu Gottsched: Fulda: Die Erschaffung der Nation als Literaturgesellschaft; allgemein: Wilke, Jürgen: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1788–1789), Bd. 1: Grundlagen, Stuttgart 1978, S. 9, S. 133 f. 56 Wieland: Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, in: GS, Bd. 15, S. 67 f.

2. Wielands Teutscher Merkur und die ,Reichsöffentlichkeit‘

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große oder kleine Haupt=, Residenz= und freye Reichsstadt in Deutschland, wirklich ist, wie jene Xenofontische von Sparta und Athen, würde ihrem Verfasser zwar wahrscheinlich viel Verdruß und keine öffentliche Danksagung im Nahmen Kaisers und Reichs zuziehen […], aber er würde eine solche Danksagung wenigsten verdienen; denn es wäre eine große Wohlthat, die er der Nazion erwiese.57

Kein Zweifel, die Öffentlichkeit, von der Wieland hier spricht, ist innerhalb der Reichsgrenzen projektiert und soll einen kritischen Diskurs über die Territorien und für die föderale Nation des Reichs gewährleisten: Ihm geht es um das Verhältnis des „gemeinsamen Vaterlandes“ zu jedem „besondre[n] Staat“, von „Deutschland“ ist in einem Atemzug mit „Kaiser[] und Reich[]“ die Rede. In der Struktur des Reichs liegt der Grund, warum „die Deutsche Nazion vorzüglich Ursache“ hat, „eine Beschützerin der Preßefreyheit zu seyn“, weniger in der von glühenden Patrioten gern hervorgehobenen ,Tatsache‘, dass die Deutschen die „Erfinder der Typografie“ seien.58 Was für die Sachliteratur gilt, gilt noch mehr für die Dichter: Sie sind, heißt es in Wielands Vorrede zu Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs, die eigentlichen „Männer der Nation“. Ihnen obliege es, „die heilige Flamme der Vaterlandsliebe in jedem deutschen Herzen anzufachen und diesen Gemeinsinn zu erwecken“ und so die „Einwohner Germaniens in der That in Einen lebendigen Staatskörper zu vereinigen, und diesen gewaltigen Leib mit Gesinnung zu beseelen“59. Das ungewöhnlich nationale Pathos verdankt sich dem Kontext der Französischen Revolution, nicht aber die Programmatik. Wieland rühmte sich schon zuvor, mit dem Teutschen Merkur „ein ungemein gemeinnütziges Institut“ aufzubauen, dessen Erfolg davon abhinge, dass „das Publikum etwas weniger Kaltsinn, und etwas mehr Nationalgeist“ aufbringe.60 Er sollte deshalb ein „für die Nation wichtiges Institut“61, jedoch keine reichspolitische Zeitschrift sein, wiewohl in der Spalte „politische Begebenheiten“ durchaus auch Reichsangelegenheiten berichtetet wurden, und Wieland im Gefolge der Französischen Revolution zwei seiner wichtigen Aufsätze zum Reichspatriotismus dort veröf57 Ebd., S. 70 f. 58 Wieland: Das Geheimniß des Kosmopoliten=Ordens, in: GS, Bd. 15, S. 229. 59 Wieland: Vorrede zu: Historischer Calender für Damen. 1792, in: GS, Bd. 23, S. 393. 60 Wieland an Staatsrat von Gebler, 7. April 1775, Nr. 379, in: WBr, Bd. 5, S. 348. Vgl. bereits Nowitzki: Der Teutsche Merkur als Nationaljournal, S. 89. 61 Wieland an Johannes Müller, 6. August. 1773, Nr. 186, in: WBr, Bd. 5, S. 152.

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

fentlichte.62 Ziel war es, so Hans-Peter Nowitzki, ein kulturelles „NationalJournal“ zu errichten.63 Wielands Vorrede zur ersten Ausgabe bestätigt die Genese der von ihm favorisierten Öffentlichkeit aus dem Strukturwandel der nationalen Gelehrtenrepublik, wie sie Heinrich Bosse postuliert, ihre Expansion und Transformation im Laufe des 18. Jahrhunderts:64 Er berichtet, dass die „gelehrte Republik in Deutschland“ durch das starke Wachstum der „lesenden Theile der Nation“ „die Gestalt einer im Tumult entstandenen Demokratie gewonnen“ habe.65 Sie müsse aber ihrer „Natur nach Aristokratisch seyn“66. An die Stelle der Wasserscheide des Lateinischen, der Trennung zwischen literatus und illiteratus, tritt bei Wieland die Differenz zwischen aufgeklärt und unaufgeklärt. Der größte Teil des Publikums, davon scheint der Herausgeber überzeugt, brauche noch Anleitung in der Bewertung der deutschen und internationalen Literatur. Während 1759 in Wielands ersten Überlegungen, eine Wochenschrift zu gründen, von einer nationalen Ausrichtung nichts zu finden ist, das Kosmopolitische und Allgemeinmenschliche offenbar allein Gegenstand des Projekts werden sollte, veränderte sich die Gewichtung 1772 – höchstwahrscheinlich durch die Idee, ein Ab- und Gegenbild des bzw. zum Mercure de France zu liefern.67 In dem Ansuchen Wielands um ein kaiserliches Privileg bei Tobias Philipp von Gebler spielt die nationale Konkurrenz schließlich eine entscheidende Rolle: Der Teutsche Merkur solle dem Kaiser gewidmet werden wie der französische dem König von Frankreich.68 Im selben Jahr, 1773, spricht Wieland das erste Mal explizit von einem „National-Journal“69. Die Klage über die fehlende deutsche Hauptstadt in der Vorrede hat so eine doppelte Funktion: Erstens kann damit die Differenz zum französischen Original begründet werden und 62 Wieland: Vorrede des Herausgebers, in: TM 1 (1773), S. VIII; ders.: Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: NTM 1 (1793), S. 3 – 55; ders.: Ueber teutschen Patriotismus. Betrachtungen, Fragen und Zweifel, in: NTM 2 (1793), S. 3 – 21. 63 Nowitzki: Der Teutsche Merkur als Nationaljournal. 64 Vgl. Bosse: Die gelehrte Republik. 65 Wieland: Vorrede des Herausgebers, in: TM 1 (1773), S. XIII f. und IV. 66 Ebd., S. XIV. 67 Hierzu bereits: Nowitzki: Der Teutsche Merkur als Nationaljournal, S. 72 ff. 68 Wieland an Staatsrat von Gebler, 10. Jan. 1773, Nr. 58, in: WBr, Bd. 5, S. 51. Zu dem sehr ambivalenten Verhältnis Wielands zum Kaiser bzw. zu Wien: Starnes, Thomas C.: Der Teutsche Merkur in den österreichischen Ländern, Wien 1994, insbesondere S. 23 – 31. 69 Wieland an Friedrich Dominicus Ring, 22. Jan. 1773, Nr. 69, in: WBr, Bd. 5, S. 61.

2. Wielands Teutscher Merkur und die ,Reichsöffentlichkeit‘

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zweitens erläutert sie die gleichsam reichsspezifische Aufgabe der Zeitschrift. Der Teutsche Merkur soll die mangelnde kulturelle Zentrierung kompensieren, es wäre jedoch falsch, ihn als kulturnationales Surrogat einer fehlenden Staatlichkeit aufzufassen.70 Vielmehr soll er an die spezifischen Erfordernisse der deutschen „Nationalverfassung“71 angepasst werden, und das heißt sowohl an die Zeitschriftenlandschaft als auch an die politisch-kulturellen Verhältnisse. Wieland legt seine national-kulturelle Zeitschrift deshalb strukturanalog zu den Reichsinstitutionen an: Wie „das deutsche Reich aus einer Conföderation von Fürsten und Herrn besteht“72, so stellt er sich die Mitarbeiter des Teutschen Merkur aus allen Reichskreisen als einen „Bund“ der „Conföderierten“ vor.73 Die Autoren wurden gleichsam auf kulturellem Feld zu Ständen des geistigen Reichs erklärt. Eine der Hauptaufgaben der Zeitschrift war es, die Anarchie des Geschmacks innerhalb der reichsdeutschen Kulturlandschaft zu beseitigen. Wieland imaginiert deshalb74 eine Art von Litterarischem Revision=Gericht, worinn über die Beurtheilungen geurtheilt, und was von andern gelehrten Richtern entweder versehen oder gesündigt worden, vergütet oder gerüget würde, möchte vielleicht eines von den würksamsten Mitteln seyn, jenen Mißbräuchen und Unordnungen nach und nach abzuhelfen; und dies ist es, was wir in dem Artikel, Revision, mit Freymüthigkeit, Bescheidenheit und Unpartheylichkeit zu leisten versuchen werden.75

Und in der Tat erlangte die Zeitschrift, schreibt Wieland später an Merck, ein „oberstreichsrichterliche[s] Ansehen“76. Die Reichsverfassung wird hier genauso kompensiert wie kopiert. Dabei entsteht eine geistige Instanz, die metaphorisch dem politischen Reichskammergericht nachempfunden ist, freilich das Publikum aber nicht durch Exekutionstruppen, sondern nur 70 Vgl. Nowitzki: Der Teutsche Merkur als Nationaljournal, S. 103. 71 Wieland: Vorrede des Herausgebers, in: TM 1 (1773), S. VI. 72 Archenholz, Johann Wilhelm von: Litteratur und Völkerkunde: ein periodisches Werk, Bd. 5, Dessau 1784, S. 284. Vgl. in diesem Sinne: „République des Princes“, Wieland: Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten, in: GS, Bd. 4, S. 434. 73 Wieland: Vorrede des Herausgebers, in: TM 1 (1773), S. XI. 74 Natürlich widmete sich die Zeitschrift schon im Programm mehr als nur den Revisionen bereits getätigter Rezensionen. Dennoch scheint der Aspekt der Revision programmatisch zentral zu sein, nicht zuletzt, weil diese Aufgabe im französischen Merkur keine Entsprechung besitzt. Vgl. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkurs, S. 41. 75 Wieland: Vorrede des Herausgebers, in: TM 1 (1773), S. XIV. 76 Wieland an Johann Heinrich Merck, 24. August 1776, Nr. 586, in: WBr, Bd. 5, S. 542. Kursivierung M. H.

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

durch Sachverstand beeinflussen kann.77 Um den Eindruck, sich als „Oberrichter“78 zu gebärden, nach Möglichkeit zu vermeiden, tritt der Herausgeber des Teutschen Merkurs zwar als „Sachwalter“ des Publikums auf.79 Wie das Reichskammergericht aufgrund seines Ansehens und in Anlehnung an den obersten Rat der Athener oftmals ,Areopag‘ genannt wurde,80 sollte allerdings auch die Zeitschrift im übertragenen Sinne „das Ansehn des Areopagus zu Athen“81 erwerben. Aufgabe des „gemeinnützliche[n] National-Instituts“ sei es, einen „nützlichen Einfluß auf Geist und Herz, Geschmack und Sitten der Nation“ auszuüben.82 In Wielands Briefen tritt die reichsgerichtliche Metapher immer wieder in Erscheinung. Merck fordert er auf, die „hohe[] Gerichtsbarkeit“ unter Beweis zu stellen, indem „dann und wann eine Executio“, eine scharfe Rezension, durchgeführt werde.83 Kurz: Wielands Teutscher Merkur bezieht sich explizit auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation und ist keineswegs als ein Gegenentwurf zu verstehen. Von 1776 bis 1789 war die Zeitschrift dem Kaiser gewidmet („Ihro Römisch-Kayserlichen Majestät zugeeignet“). In einem Brief an Friedrich Justus Riedel aus dem Jahr 1772 äußert Wieland den Wunsch, der „Merkur“ möge „in den katholischen Staaten ebenso gangbar werden, als in den Protestantischen“84. In der Vorrede ist noch deutlicher von den Schriftstellern, Dichtern und Künstlern in „alle[n] Kreise[n] des deutschen Reiches“85 die Rede, an anderer Stelle von der Literatur in den „Grenzen Germaniens“86. Mich erfreut daß dieses Institut Ihren Beyfall hat. Ich hoffe, daß es unvermerkt etwas dazu beytragen soll, Aufklärung und richtiges Gefühl unter unsrer durch eine Verwicklung moralischer und politischer Ursachen noch so weit von dem 77 78 79 80 81 82

83 84 85 86

Wieland: Vorrede des Herausgebers, in: TM 1 (1773), S. XV. Ebd., S. XIV. Ebd., S. XV. Z. B. Schubart: Chronik 1791. Erstes Halbjahr, S. 110 f. Wieland: Vorrede des Herausgebers, in: TM 1 (1773), S. XIII. Erstes Zitat: Wieland an Franz Anton Klein, 2. Mai 1773, Nr. V 131 f., in: WBr, Bd. 6,1, S. 92; zweites Zitat: Wieland: An das Publicum, und besonders an alle bisherigen Freunde und Leser des Teutschen Merkurs, in: TM 4. Viertelj. (1773), S. 91. Wieland an Johann Heinrich Merck, 31. Mai 1776, Nr. 553, in: WBr, Bd. 5, S. 510. Wieland an Friedrich Justus Riedel, 17. Sept. 1772, Nr. 625, in: WBr, Bd. 4, S. 634. Wieland: Vorrede des Herausgebers, in: TM 1 (1773), S. VI. Wieland: An die Leser des Merkurs, in: TM 1 (1773), S. 285.

2. Wielands Teutscher Merkur und die ,Reichsöffentlichkeit‘

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was sie seyn könnte zurückgehaltnen Teutschen Nation zu befördern. Wenigstens ist dies meine und meiner Mitarbeiter einzige Absicht. Sie desto völliger zu erreichen, können wir freylich nicht anders als wünschen, daß der Deutsche Merkur unter allen Ständen, Classen und Parteyen in allen Provinzen Germaniens recht viele Leser finden möge.87

Möglicherweise unterstrich die Titeländerung von ,Deutschem‘ zu ,Teutschem‘ Merkur sogar den Reichsbezug noch, differenziert Wieland doch öfters zwischen „teutschen und deutschen Landen“88 oder „Teutschen und Deutschen“89 und entspricht damit wahrscheinlich weniger der orthographisch-sprachgeschichtlichen Diskussion von Gottsched über Adelung bis Johann Nast als vielmehr dem Unterschied zwischen Reich und Nicht-Reich.90 Johann Stephan Pütter begründet die Schreibung ,teutsch‘ nicht nur sprachgeschichtlich, sondern auch mit der ,reichspublicistischen‘ Tradition und nennt Wieland mit dieser in einem Atemzug.91 Bereits die Arbeitspraxis verband den Herausgeber im Übrigen intensiv mit den Strukturen der Reichsverfassung: sei es die Werbung um „Proscription“ im Reichsgebiet und die Distribution über die Reichspostämter,92 das Bestreben, ein kaiserliches Druckprivileg zu erhalten,93 oder die Gefahr, mit dem „Reichsfiskal“ in Konflikt zu geraten.94 Wohl das prominenteste, allerdings recht späte Beispiel für die aufklärerisch-patriotische Reichsöffentlichkeit ist freilich nicht der Teutsche

87 Wieland an Franz Anton Klein, 2. Mai 1773, Nr. V 131 f., in: WBr, Bd. 6,1, S. 91. 88 Wieland: Der Herausgeber an das Publikum, in: TM 4. Viertelj. (1777), S. 279 – 297, hier S. 279. 89 Wieland: Auszug aus einem Schreiben an einen Freund in D***, in: GS, Bd. 10, S. 11. Vgl. in: TM 3. Viertelj. (1778), S. 241 – 259. 90 Vgl. Nowitzki: Der Teutsche Merkur als Nationaljournal, S. 68 ff.; Schulze, Volker: Der Teutsche Merkur (1773 – 1810), in: Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Heinz-Dietrich Fischer, Pullach (München) 1973, S. 87 – 103, hier S. 88, Anm. 8. 91 Pütter: Über die Richtigkeit und Rechtschreibung, S. 85. 92 Vgl. Wieland an J. L. Benzler, 24. Nov. 1775, Nr. 478, in: WBr, Bd. 5, S. 456. Vgl. z. B. Anzeige, in: TM 1. Viertelj. (1781), o. S. Anzeige zu Beginn über die Möglichkeit der Subskription und den Vertrieb über die Reichspostämter. Die Subskriptionslisten des Teutschen Merkurs sind allerdings leider verloren: Stoll: Teutscher Merkur, S. 58 f. 93 Wieland an Philipp Erasmus Reich, 6. Mai. 1775, Nr. 395, in: WBr, Bd. 5, S. 367 f. 94 Wieland an Johann Heinrich Merck, 20. April 1778, Nr. 46, in: WBr, Bd. 7,1, S. 52.

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

Merkur, sondern der sogenannte Reichs=Anzeiger. 95 Auf seinem Titelblatt strahlt der zweiköpfige Reichsadler. Für Jean Paul wurde die Zeitschrift zum Sinnbild der spöttisch skizzierten Reichsöffentlichkeit.96 Während hier Titel und Inhalt (z. B. durch eine Rubrik wie „Deutsche Reichs=Staatssachen“) eindeutig auf die Deutschen als Einwohner des Alten Reichs zielten, richtete sich eine andere Zeitschrift desselben Herausgebers Rudolph Zacharias Becker, die National=Zeitung der Deutschen, an „alle Menschen, welche Teutsch als ihre Muttersprache reden“97. In der Ankündigung seiner (Teutschen) National=Zeitung beklagt Becker den „Lokalismus“ der Deutschen, den fehlenden Gemeinsinn aufgrund der staatlichen Diversifikation, konterkariert damit aber keineswegs sein Bekenntnis zum Reich und der im Reichs=Anzeiger propagierten Reichsöffentlichkeit. Im Gegenteil: Hier zeigt sich erneut die enge Verbindung von Kosmopolitismus und Patriotismus, von Kulturnationsgedanke und Reichsbewusstsein. Aufgrund der Zerteilung und des fehlenden Patriotismus solle es der Zeitschrift, so Becker in der Ankündigung, nach dem Prinzip „homo sum, humani nihil a me allienum puto“ um das einfache Interesse an den Menschen anderer Regionen zu tun sein. Wenn sich die Deutschen mangels Institutionen nicht primär als Reichsbürger begegnen könnten, sollten sie sich als Menschen begegnen. Es geht Becker um das Allgemeinmenschliche, jedoch vor allem um das Allgemeinmenschliche in den Grenzen des Reichs, denn der erwünschte Effekt zielt 95 Reichs-Anzeiger oder Allgemeines Intelligenz-Blatt zum Behuf der Justiz, der Polizey und der bürgerlichen Gewerbe im Teutschen Reiche, wie auch zur öffentlichen Unterhaltung der Leser über gemeinnützige Gegenstände aller Art. Mit Römisch Kaiserl. Allergnädigster Genehmigung und Freyheit. 96 Vgl. in dieser Arbeit 1. Kap., 3.2 Die Macht der Bilder: Jean Pauls Reichsmetaphorik. 97 Becker, Rudolph Zacharias: Einleitung, in: National-Zeitung der Teutschen (1796), Sp. 5 – 24, hier Sp. 7. „Zur teutschen Nation, deren Begebenheiten dieses Blatt melden soll, rechnen wir nun billig nicht allein die Bewohner der dem teutschen Reich einverleibten Ländern: sondern alle übrigen Teutschen in und außer Europa, die sich unsrer Sprache als ihrer Muttersprache bedienen und sich dadurch für Angehörige unsrer Nation bekennen.“ Ihr Vorläufer hieß DeutschenZeitung für die Jugend und ihre Freunde (1784 – 1795). Sie sollte sich allgemein, wie es ab 1789 im Titel hieß, mit „Moralische[n] Schilderungen der Menschen, Sitten und Staaten unserer Zeit“ befassen. Becker definierte ihren Aufgabenbereich freilich „[m]it besonderer Rücksicht auf Deutschland“. Vgl. Martens, Wolfgang: „Laßt uns besser werden. Gleich wird’s besser seyn“. Oder Moral statt Revolution. Rudolph Zacharias Beckers ,Deutsche Zeitung‘ und die Französische Revolution, in: Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, hrsg. v. Holger Böning, München/London/New York/Paris 1992, S. 275 – 295.

2. Wielands Teutscher Merkur und die ,Reichsöffentlichkeit‘

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auf das Reich: „[…] so würde der Localgeist doch allmählich zum Nationalgeist erhoben werden; der brave Schwabe, Franke, Sachse etc. würde seine Schuldigkeit in seiner Provinz und Stadt öfter mit der Hinsicht auf das Wohl des gemeinen Vaterlandes und der Nation erfüllen.“98 Die Zeitschrift ist also keineswegs gegen das Reich gerichtet. Auch in ihr sollen als dritter von sechs Punkten die „Staatsbegebenheiten“ und hier zunächst „1) Die Staatsverfassung und Constitution. a) des deutschen Reichs überhaupt, b) der einzelnen deutschen Staaten und Länder“99 abgehandelt werden. Nach dem Wunsch Beckers sollen sich beide Zeitschriften ergänzen und bei Schnittmengen die Begebenheiten aus unterschiedlichen Blickwinkeln darbieten, die National=Zeitung vom kosmopolitischen, der Reichs=Anzeiger vom reichspolitischen Standpunkt: Jene soll gleichsam der Referent der Nation im Tribunal der Menschheit seyn; dieser das Archiv, worin, außer andern in seinem Plane begriffenen Aufsätzen, auch manche zur Geschichte der Menschheit in Deutschland gehörige Actenstücke und Documente niedergleget werden. Beyde Blätter machen auf diese Weise Ein ganzes Institut der deutschen Publicität aus […].100

Ausführlich wendet sich ein Leser gegen Beckers Projekt einer Nationalzeitung und weist auf den „traurigen Zustand unsers deutschen Vaterlandes“ hin, den Mangel des Gemeinsinns, der aus der Verfassung des Reichs, den „Territorial=Rechte[n]“, selbst herrühre. Seit dem Kampf gegen die französischen Revolutionsarmeen sei selbst das Wort „Nation“ schon geeignet, den Herausgeber in den Verdacht der Rebellion zu bringen.101 Becker allerdings widerspricht mit dem Hinweis auf den „Ausdruck: das h. röm. Reich Deutscher Nation“, der „sogar im Reichs=Canzley Stil üblich“ sei: „Das Wort Nation besitzt ja das Bürgerrecht in unserer Sprache seit Jahrhunderten ganz unbestritten […].“102 Zudem nimmt er die Territorialherren vor den Angriffen des Anonymus in Schutz und hält an seiner Absicht fest. Zur Begründung seiner Erfolgs98 Becker, Rudolph Zacharias: Ankündigung, in: Reich=Anzeiger 223 (1795), Sp. 2241 – 2248, hier Sp. 2241 f. 99 Ebd., Sp. 2244. 100 Ebd., Sp. 2248. Zuvor heißt es ebd.: „Die National=Zeitung der Deutschen soll nämlich in den wenigen Rubriken, wo sie zusammen treffen können, geschehene Begebenheiten historisch erzählen, und der Reichs=Anzeiger Verhandlungen actenmäßig liefern.“ 101 Anonymus: Bemerkungen über das Unternehmen einer ,Nationalzeitung der Deutschen‘, in: Reichs=Anzeiger 248 (1795), Sp. 2497 – 2502, hier Sp. 2502. 102 Becker, Rudolph Zacharias: Antwort auf das Schreiben in Num. 248, in: Reichs=Anzeiger 251 (1795), Sp. 2529 – 2538, hier Sp. 2531.

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

erwartung zitiert er ausführlich den sechsten Brief aus Herders Briefen zu Beförderung der Humanität 103 – er wird noch ausführlich zu behandeln sein. Rudolph Zacharias Becker setzt mit Herder auf die befördernde Vielfalt der Gelehrten in den deutschen Provinzen, die seine Zeitschrift zur vereinenden Plattform wählen sollten. Er transzendiert damit allerdings die Reichsöffentlichkeit in Richtung einer Kulturnation jenseits politischgeographischer Grenzen, auch von den Helvetiern ist nun, anders als zuvor, die Rede. Während der Französischen Revolution nutzt Becker die National=Zeitung allerdings mehrfach auch zu reichspatriotisch-kosmopolitischen Bekenntnissen.104 Sein Reichs=Anzeiger hingegen fußte bereits im Namen fest auf der Verbindung von Kultur und Staat im Reichsverband. Die Zeitschrift bestand von 1793 bis 1806 und musste nach dem Ende des Reichs aufgrund des damit einhergehenden Verlusts seines politischen Referenzrahmens in Allgemeiner Anzeiger der Deutschen umbenannt werden. Ähnlich wandelte der gebürtige Reichsstädter Johann Gottfried Pahl 1807 den Titel seiner 1801 begründeten Zeitschrift von Nationalchronik der Teutschen in Chronik der Teutschen um. Pahl rechtfertigte die Notwendigkeit einer Umbenennung damit, dass seit der Niederlegung der Kaiserkrone in „der politischen Rücksicht […] die Nationalität der Teutschen erloschen“ sei, sie also nur noch „aus dem Standpunkte des Kosmopoliten“ existiere105. „In der Staatengeschichte wird der Name der Teutschen von nun an nicht mehr genannt werden; aber in der Geschichte der Menschheit steht er noch in seiner Ehre, und sie wird ihn auch auf die Nachwelt bringen.“106

3. Das Heilige Griechische Reich deutscher Nation: Herders Institut für den Allgemeingeist Mit der Zeit des Fürstenbundes erlebte die politische Diskussion über die Reichsverfassung einen der letzten Höhepunkte.107 Spätestens seit dem Hubertusburger Frieden von 1763 war der Dualismus zwischen Preußen 103 Ebd., S. 2534 f. 104 Vgl. Martens: Moral statt Religion, S. 281 – 285. 105 Pahl, Johann Gottfried: Sind die Teutschen nun noch eine Nation, in: National=Chronik der Teutschen: eine politische Zeitung 43 (9. Nov. 1806), S. 340 – 342, hier S. 342. 106 Ebd. 107 Vgl. Waldmann: Reichspatriotismus, S. 32 ff.; Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 256 – 351.

3. Das Heilige Griechische Reich deutscher Nation

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und Österreich eine feste Größe des innerreichischen Machtgefüges. Während die beiden ,Großmächte‘ europäische Politik auf Basis ihrer Territorialmacht betrieben und das Reich lediglich für die eigenen Zwecke instrumentalisierten, hing die Existenz der kleinen und mittleren Länder essentiell vom Reich ab. Nicht mehr die rechtlich begründete Balance der Reichsverfassung zwischen Haupt und Gliedern schirmte sie aber, sondern das Mächtegleichgewicht zwischen den Habsburgern und den Hohenzollern und die aus ihrer Rivalität entstehenden ,Achtungsgewinne‘ des Reichs – eine Reichspolitik, die den Namen verdiente, gab es am Ausgang des 18. Jahrhunderts eigentlich nicht mehr.108 Der Fürstenbund war in seinem Ursprung der Versuch, den kleinen und mittleren Reichsständen eine gemeinsame Stimme zu geben, um sich des Länderhungers der Mächtigen erwehren zu können. Einer seiner glühendsten und reichspatriotischsten Verfechter war der Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach Carl August.109 Was als Bewahrung der Reichskonstitution begann und nicht selten mit der Hoffnung auf eine grundsätzliche Reform begleitet wurde, stellte sich am Ende als Beweis der Machtlosigkeit des Reichsverbands heraus. Nur wenige kleinere Fürsten engagierten sich aktiv für seinen Erhalt. Die politisch bald führenden Kurfürsten hatten hingegen keinerlei Reforminteresse (mit Ausnahme des späteren Mainzer Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg), da nur eine Konservierung des status quo ihre Präeminenz sicherte. Friedrich II. wiederum, dem es gelang, sich an die Spitze der Fürstenbundbewegung zu stellen und damit das ursprüngliche Konzept ad absurdum zu führen, folgte dem instrumentellen Kalkül, seinen fehlenden äußeren Bündnispartner mit einem innerdeutschen zu substituieren und damit den Länderschacher des Habsburgerischen Rivalen zu torpedieren. In dem Nahziel, den Tausch Bayerns gegen die österreichischen Niederlande zu verhindern, fanden sich alle Beteiligten kurzzeitig zusammen. Neben der publizistischen Offensive, in der Autoren wie Johannes Müller lautstark für ein politisches Gleich-

108 Vgl. Schmidt, Georg: Reichspatriotische Visionen. Ernst II. von Sachsen-Gotha, Carl August von Weimar und der Fürstenbund (1785 – 1788), in: Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg. Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung, hrsg. v. Werner Greiling/Andreas Klinger/Christoph Köhler, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 57 – 84. Vgl. Stievermann, Dieter: Der Fürstenbund von 1785 und das Reich, in: Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. dems., München 1995, S. 209 – 226. 109 Schmidt: Reichspatriotische Visionen, insbesondere S. 78.

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

gewicht im Reichsverband warben,110 suchte der Markgraf Karl Friedrich von Baden die Öffentlichkeit auch über ein kulturpolitisches Projekt zu gewinnen und beauftragte Johann Gottfried Herder, ein Akademie-Konzept auszuarbeiten. Herder übersandte seine Schrift Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands am 10. Dezember 1787 an den von ihm hochgeschätzten Markgrafen. Sie als reine Auftragsarbeit abzutun und seine Distanz zum Projekt des Fürstenbundes hervorzuheben, findet zwar in einigen Aussagen Herders eine gewisse Berechtigung,111 geht aber doch an der Sache vorbei. Vielmehr nutzte Herder die Möglichkeit, um seine kulturpolitischen Ziele zu kondensieren. In gewisser Weise kann der von seinem Sohn 1804 in der Adrastea abgedruckte Text als Summe von Herders Kulturprogramm gelten. Zahlreiche Grundgedanken zur Pflege der deutschen „Nationalvollkommenheit“ finden sich schon in dem Fragment Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann. 112 Noch die Idee einer „Akademie“ oder eines geistigen Vereinigungspunktes in den Briefen lässt sich als Fortsetzung seines Plans von 1787 deuten.113 Ein Projekt der Kulturnation jenseits der Staatsnation im Sinne Meineckes war der Institutsplan allerdings bezeichnenderweise 110 Vgl. Müller: Darstellung des Fürstenbundes; Dohm: Ueber den deutschen Fürstenbund. 111 Dass Herder gegenüber Baden seine Stellung als Dienstleister betont, ist freilich nur eine Devotionsformel: Herder an Markgraf Karl Friedrich von Baden, 10. Dezember 1787, Nr. 242 in: HB, Bd. 5, S. 254. Anders hingegen Herders Brief an Johann Georg Müller, 3. Februar 1788, Nr. 260, in: HB, Bd. 5, S. 267: „Der Plan zu einer Akademie, von dem Ihnen Ihr Bruder schrieb, ist ein Manuscript, das ich nicht aus eigenem Triebe, sondern auf Verlangen aufgesetzt habe. Schweigen Sie vor der Hand noch davon stille; sobald ichs Ihnen mittheilen kann, sollen Sies haben. Aus der Sache wird nichts werden; fast wünsche ich auch selbst, daß lieber nichts daraus werde, als daß man sie verderbe.“ Gewiss drückt dieses Zitat deutliche Distanz gegenüber dem Projekt aus, zugleich zeigt sich aber die beigemessene Bedeutung und Identifizierung mit genau diesem Plan, sodass eine Veränderung bzw. Anpassung unerwünscht ist. Horst Dreitzel wies bereits auf Herders Engagement in der Sache hin: Dreitzel: Herders politische Konzepte, S. 268 und 269. Allgemein zu Herders Institutsplan und den Hintergründen: Weech, Friedrich von: Der Versuch der Gründung eines Instituts für den Allgemeingeist Deutschlands, in: Preussische Jahrbücher 21 (1968), S. 690 – 697; Tümmler, Hans: Zu Herders Plan einer deutschen Akademie (1787), in: Euphorion 45, Heft 2 (1950), S. 198 – 211; Kommentar in: FA, Bd. 9, 2, S. 1283 ff. 112 Herder: Philosophie zum Besten des Volks, in: FA, Bd. 1, S. 103, 108, 130. Vgl. Kommentar in: FA, Bd. 1, S. 969. 113 Vgl. Haym: Herder, Bd. 2, S. 534 f.

3. Das Heilige Griechische Reich deutscher Nation

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nicht.114 Bezugssystem ist hier, dank des Zusammenhangs mit dem Fürstenbund deutlicher als irgendwo sonst, die politische Ordnung des Reichs, seine „Grenzen“ und „Provinzen“:115 Kein getheiltes politisches Intereße einzelner Reichs=Stände soll wißentlich je die Ruhe ihres Kreises, die Klarheit ihres Urtheils oder den reinen Eifer ihrer Bemühungen stören: denn Deutschland hat nur Ein Intereße, das Leben und die Glückseligkeit des Ganzen.116

Mit Otto Dann muss das Akademieprojekt daher als Höhepunkt der Interaktion zwischen aufgeklärter Fürstenpolitik und Herders deutschem Patriotismus im Rahmen des Alten Reichs gewertet werden.117 Um deutsches National- und Reichsbewusstsein hervorzubringen, den Gemeingeist zu fördern, musste die kulturelle Kommunikationsfähigkeit des Reichs verbessert und die politische Vielfalt zu jener förderlichen Konkurrenz umgewandelt werden, die Herder im Beispiel Griechenlands so glamourös verwirklicht sah. Aus dem größeren ideengeschichtlichen Kontext der deutsch-griechischen Wahlverwandtschaft (1.) und Herders Kulturpolitik im Lichte des Nationalgeists (2.) erklärt sich daher erst der Inhalt des Institutsplans, der ebenso als ,literarische Reichsinstitution‘ konzipiert war (3.). 3.1 Die Traditionswahl ,Griechenland‘ Die deutsch-griechische affectio originalis ist weder rein kultureller Natur noch beginnt sie erst mit ihrem größten Verfechter Johann Joachim Winckelmann. Walther Rehm betont in seinem Buch Griechentum und Goethezeit (1936), dass sich hinter den „Griechen“ das Bild eines „IdealDeutschen“ verberge: „Man spricht vom Griechischen und meint das Deutsche.“118 Das Ziel Winckelmanns, den Griechen nachahmend un-

114 So aber: Sahmland: Wieland und die deutsche Nation, S. 44 ff. In Fußnote 54 beruft sie sich direkt auf Meinecke. 115 Herder: Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands, in: SWS, Bd. 16, S. 604 f. 116 Ebd., S. 607. 117 Dann, Otto: Herders Weg nach Deutschland, in: Herder-Jahrbuch 1 (1994), S. 1 – 16, hier S. 13. 118 Rehm, Walther: Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens, Leipzig 1936, S. 18.

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

nachahmlich zu werden,119 begründe die fiktive Verwandtschaft des deutschen Geistes mit dem Griechentum, wie sie sich noch bei Hölderlin, Schlegel und später bei Nietzsche findet. Die Einbeziehung der historischpolitischen Struktur (poleis, Staatenbünde etc.), der Schritt aus dem Reich der Idealisierung zur Historisierung habe, so Rehm, an der Jahrhundertwende zur Destruktion des griechischen Vorbilds geführt.120 Staatlicher Bezugspunkt in der Antike war um 1800 angeblich einzig das Römische Reich, welches in Deutschland aber, anders als in Frankreich, nur auf Einzelstaaten, allen voran das friderizianische Preußen bezogen werden konnte.121 Rehm identifiziert das deutsche Griechenbild deshalb mit dem kosmopolitischen Ideal eines höheren Menschentums und betont dessen Entpolitisierung vor dem Hintergrund der ,deutschen Misere‘. Das ist der kompensatorische Sinn des bekannten Zitats, die Deutschen hätten dem Heiligen Römischen Reich das Heilige Griechische Reich deutscher Nation entgegengesetzt.122 Die rein kulturnationale Herleitung der deutsch-griechischen Wahlverwandtschaft ignoriert freilich die weit hinter Winckelmann zurückweisende und nicht selten politisch-staatlich grundierte Identifikation deutscher Intellektueller mit Griechenland, die seit dem Humanismus mit der römisch-deutschen Traditionslinie konkurrierte. Winckelmanns Beschreibung der griechischen Einheit in der Mannigfaltigkeit und ihres kosmopolitischen Nationalcharakters konnte so über den kulturellen Kontext hinaus als gesellschaftliches Ideal- und Gegenbild des Reichs verstanden werden.

119 Vgl. „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten […].“ Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke, in: Winckelmanns Werke. In einem Band, Berlin/Weimar 1969, S. 1 – 37, hier S. 2. 120 Vgl. Rehm: Griechentum und Goethezeit, S. 22 f. 121 Vgl. Schnabel, Franz: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1, Freiburg im Breisgau 1959, S. 132 – 181. 122 Rehm: Griechentum und Goethezeit, S. 16. Vgl. daran angelehnt: Wiedemann: Römische Staatsnation und griechische Kulturnation. Aus dem gleichen Grund wertet Irmtraut Sahmland die von Wieland immer wieder vorgenommene staatliche Parallelisierung ab und widerspricht der These Hans Böhms, die Welt der Kleinstaaterei sei ein Grund gewesen, warum die Deutschen anders als das staatlich geeinte Frankreich die griechische und nicht die römische Antike zum Ideal auserkoren hätten. Vgl. Böhm, Hans: Die Traditionswahl der Antike und ihre gesellschaftliche Funktion im Werk des jungen Wieland, Halle 1961, S. 239; Sahmland: Wieland, S. 329, Fußnote 256.

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Kaum zufällig war es bereits Konrad Celtis, der sowohl die römische als auch die griechische Variante einer translatio imperii resp. artium verfocht.123 Der Reihe Troja – Rom – Maximilian als neuer Augustus bzw. Celtis selbst als neuer Vergil korrespondiert seine Ableitung der Karolinger von Tuisco, die Beziehung der germanischen Druiden zu Griechenland (Druidenmythos) sowie die postulierte Gründung seiner angeblichen Heimatstadt Würzburg durch griechische Kolonisten. Mit Caesar und Tacitus ließ sich die ursprüngliche Verbindung zwischen Griechen und Deutschen scheinbar belegen.124 Germanische Grabsteine, so überliefert Tacitus die Berichte anderer kommentarlos wiedergebend, trügen bis heute („adhuc“) griechische Inschriften („Graecis litteris inscriptos“). Man habe sogar einen Odysseus geweihten Altar gefunden, da dieser „auf seiner langen und sagenhaften Irrfahrt in das nördliche Weltmeer verschlagen“ worden sei und „die Länder Germaniens besucht“ („adisse Germaniae terras“) habe. Auch Herkules sei bei den Germanen gewesen und werde dort verehrt.125 Nach Caesar bewahrten die Druiden ihre Geheimlehre vor der Neugierde des Volks durch die griechische Sprache.126 Celtis leitet zum Beweis seiner Gründungslegende den lateinischen Namen Würzburgs (Herbipolis) nicht von herba, sondern von Erebus (griech. Erebos, Gott der Finsternis) ab.127 Doch keineswegs nur Celtis: Den im geistigen Wett123 Vgl. Robert, Jörg: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung: Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich, Tübingen 2003, S. 83 – 104, S. 345 – 439. 124 Vgl. Krapf: Germanenmythos und Reichsideologie, S. 86 f.; Garber, Jörn: Trojaner – Römer – Franken – Deutsche. ,Nationale‘ Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatsbildung, in: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Klaus Garber, Tübingen 1989, S. 108 – 163. 125 Tacitus: Germania. Lateinisch/deutsch, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1972, Kap. 3, S. 7 f. 126 Caesar, Gaius Iulius: De bello Gallico/Der Gallische Krieg, hrsg. v. Marieluise Deißmann, Stuttgart 2010, 6, 13 f. 127 „Es geht die Sage, daß die Griechen, als sie Galliens Land aufsuchten, ihre Schiffe an den Ufern des Rheines entladen hätten; dann hätten sie in den offenen Tälern des hercynischen Waldes in dieser ruhigen Gegend eine griechische Stadt gegründet. […]. Deshalb mag niemand sich wundern, daß ich, selbst aus griechischem Blute entstammt, die griechische Sprache in mein Vaterland zurückgebracht habe.“ Celtis, Konrad: Quattuor libri amorum secundum quattuor latera Germaniae, in: Kühlmann u. a. (Hrsg.): Humanistische Lyrik, S. 83 f. Vgl. Burger, Heinz Otto: Renaissance, Humanismus, Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext, Bad Homburg/Berlin/Zürich 1969, S. 317. Celtis fordert Orpheus in Ad Apollinem auf, wie einst unter den rohen Pelasgern jetzt im barbarischen Germanien zu singen und so die deutsche direkt mit der griechischen

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kampf der Nationen stehenden Humanisten lag es am Herzen, die Ähnlichkeiten der griechischen mit der deutschen Sprache aufzuzeigen – nicht selten gepaart mit abenteuerlichen geschichtsphilosophischen und genealogischen Folgerungen.128 Zwischen Deutschland und Griechenland bestand im 16. Jahrhundert bereits mindestens eine kulturelle Wahlverwandtschaft, die als Alternative zur translatio imperii romani verstanden werden darf.129 Was sich im 16. Jahrhundert anbahnte, konnte im 17. Jahrhundert argumentativ unterfüttert werden: Das ius publicum romano-germanicum sorgte durch seine historisch-pragmatische Betrachtungsweise für eine Nationalisierung der Reichsgeschichte und setzte an die Stelle des Translatio-Gedankens eine endogene Erklärung der Würde des als ,deutsch‘ begriffenen Reichs. Dank der neuen Unabhängigkeit von der römischen Krone konnte Griechenland zum Urbild der deutschen staatlichen Einheit in der Vielheit erhoben werden. „Als Beispiel einer solchen Föderation“ führt Samuel von Pufendorf nicht nur den latinischen Bund Roms an, ebenso „bietet das Verhältnis Agamemnons zu den anderen griechischen Heerführern im Trojanischen Kriege“ eine historische Parallele zur Reichsverfassung.130 Der Vergleich mit unterschiedlichen Staatenbzw. Städtebünden Griechenlands sollte im 18. Jahrhundert topisch werden. In der französischen Encyclopédie Méthodique heißt es etwa: „Die Deutschen unter ihrem Kaiser ähneln den Griechen, die sich unter Agamemnon verbündeten, um gegen Troja das Menelaos angetane Unrecht zu rächen.“131 Bei Rousseau liest man entsprechend: Die Griechen hatten ihre Amphiktyonien, die Etrusker ihre Lukumonien, die Latiner das latinische Bundesfest, die Gallier ihre Stadtbünde, und die letzten Seufzer Griechenlands wurden noch verherrlicht im Achaischen Bund. Aber keiner dieser Bünde kam an Weisheit dem Deutschen Reich, der helvetischen Liga und den Generalstaaten gleich.132

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132

Kultur zu vermitteln: Celtis, Konrad: Ad Phoebvm, vt Germaniam petat, in: Kühlmann u. a. (Hrsg.): Humanistische Lyrik, S. 68 ff. Vgl. Burger: Renaissance, Humanismus, Reformation, S. 225. Vgl. z. B. Gessner, Konrad: Mithridates. De differentiis linguarum tum veterum tum quae hodie apud diversas nationes in toto orbe terrarum in usu sundt, 1555, ND, hrsg. v. Manfred Peters, Aalen 1974, S. 34. Vgl. Garber: Trojaner – Römer – Franken – Deutsche, S. 108 – 163. Pufendorf: Über die Verfassung des deutschen Reiches, Kap. 6, § 9, S. 94 f. Démeunier, Jean Nicolas: Art. Allemagne, in: Encyclopédie méthodique, Dictionnaire d’economie, politique et diplomatique, Bd. I/1, Paris 1784, S. 116, zit. n. Dufraisse: Das Reich aus der Sicht der Encyclopédie méthodique 1784 – 1788, S. 139. Rousseau: Extrait du projet de la paix perpétuelle, S. 344.

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Deutschland als Föderation begriffen, rückte in enge Verwandtschaft zur Schweizer Eidgenossenschaft und den niederländischen Generalstaaten. Ihr antikes Vor- und Urbild waren die griechischen Poleis, vereint durch kultische Bande bzw. durch Bündnisse, nicht durch eine zentralistische Organisation. Es verwundert deshalb nicht, dass ein Jurist wie Heinrich Christian von Senckenberg die abenteuerlichen Verwandtschaftsfiktionen humanistischer Provenienz fortspann. In seinen „Anfangs-Gründe[n]“ von 1737 sind es nach Germanien ausgewanderte Griechen, „die aus Griechenland nach Teutschland gekommene[n] Leuthe“, die das Fundament des germanischen Rechts legen. Griechisches Recht, germanisches Recht und Naturrecht rücken genealogisch eng aneinander: „§ 21. Daß daher derer alten teutschen Rechts=Gebräuche, mit dem Griechischen und Natur-Recht sehr übereinkommen.“ Wie bei Celtis handelt es sich um einen dezidiert antirömischen Impuls, er folgert: „Daß die Teutschen derer Römer Gesetze damals gar nicht vertragen können […].“133 Die germanische und die griechische Staatenvielfalt lassen sich nunmehr als gleichsam geschwisterliche Verfassungen begreifen. Arminius und die ,deutsche Freiheit‘ erhalten nicht nur bei Kästner einen griechischen Anstrich. Dort heißt es: „Dieses erhabene, Deutschland auf immer eigne, Fürstenrecht, würden wohl Amphiktyonen bewundern, aber aus dem Senate, der vor dem Oktavius kriecht, würde keiner was davon fassen.“134 Wenn in der Mitte des 18. Jahrhunderts Griechenland durch Winckelmann ästhetisch und kulturphilosophisch neu entdeckt wurde, muss dem Justus Mösers Revitalisierung der germanischen Staatskunst, ihre griechische Einheit in der Mannigfaltigkeit, zur gleichen Zeit gegenübergestellt werden. Freiheit und kulturelle Blüte korrelieren mit der Vielfalt innerhalb der staatlichen Ordnung – Griechenland wie Germanien dienen dafür als nachahmenswerte Exempel.135 Für Möser ist es sogar ausgemacht,

133 Senckenberg, Heinrich Christian von: Anfangs-Gründe der alten, mitlern und neuen Teutschen gemeinen Rechtsgelahrsamkeit […], Göttingen 1737, S. III f. 134 Kästner: Hermann, Varus und Thuisto, S. 101. 135 Vgl. Möser, Justus: Sollte man nicht jedem Städtgen seine besondre politische Verfassung geben, in: ders. Sämtliche Werke, Bd. 6 (Patriotische Phantasien III), S. 64 – 68, hier S. 65. Anders als Schiller, Herder und Wieland sah Möser in Sparta das Vorbild, nicht in Athen. Vgl. hierzu: Stauf: Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität, S. 207 – 214. Das gleiche Bild ins Negative gewendet liest man etwa bei: Wekhrlin, Wilhelm Ludwig: Ueber Bayerns Tausch. Mein Kontingent zur Tagesmaterie, in: Das graue Ungeheuer 5 (1785), S. 220 – 227, hier S. 224 f.

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dass die Germanen und später der deutsche Rittergeist die römische und griechische Antike gar noch übertrafen.136 Niemand hat die Analogie zwischen Reich und Griechen so häufig angesprochen wie Christoph Martin Wieland. In Goethes kritischem Nachruf Zu brüderlichem Andenken steht der passende Satz: „Die deutsche Reichsverfassung, welche so viele kleine Staaten in sich begriff, ähnlichte darin der griechischen.“137 Für Wieland ist die Analogie allerdings, wie gesehen, vorwiegend defizitär. Wie in den politischen Schriften, so dient auch in den Romanen die griechische Antike als historisches Ab- und Gegenbild der deutschen Verhältnisse. Allen voran ist das in den Abderiten und im Aristipp der Fall. Zugleich lieferte das vielstaatliche Griechenland aber, dem Arminiusmythos vergleichbar, nur mit weniger nationalem Furor, die Möglichkeit des nationalen Appells. Mit Blick auf den französischen Einfall ins Reichsgebiet, erinnert Wieland an die Eintracht der Griechen bei aller inneren Zwistigkeit, um gegen die Perser siegen zu können.138 Die Deutschland-Griechenland-Parallele hat im Politischen wie im Kulturellen also weit in die Geschichte zurückreichende Wurzeln und setzt sich im Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts, etwa bei Johann Gottlieb Fichte, fort.139 Und Herder? Herder ruft im Institutsplan, und bei Weitem nicht nur dort, die nämliche Griechenland-Parallele auf und zeigt gerade damit, wie sehr seine Vorstellungen eines kulturell blühenden Deutschlands mit dem föderalen Reichsbewusstsein korrespondiert. Winckelmanns Griechenland kann zum politisch-kulturellen Ideal erhoben werden, weil es die Konkurrenz der Staaten mit einer kulturellen Einheit versöhnt. Wie Herder im Reich der Natur das produktive Wetteifern der Pflanzen und Tiere bewundert, so begrüßt er im Reich der Menschen Handel und Konkurrenz. 136 „Das Kunstwerk der nordischen Nationen, welches sie in der ritterlichen Erziehung, in dem verstärkten Gefühl der Ehre und Redlichkeit, in dem erhobenen Heldenmute und in dem vermehrten Gefühl der Freiheit aufgeführet haben, ist edler und wichtiger als alles, was wir von den Römern und Griechen empfangen haben. Unsre Regierungseinrichtungen sind glücklicher und der Freiheit günstiger als jener ihre verschwundenen Staatsverfassungen, welche sich frühzeitig in die traurigste Knechtschaft geendiget haben.“ Möser: Und doch reisen unsre Maler nach Italien oder unsre angehenden Gelehrten lernen Griechisch und Latein, in: HKA, Bd. 9 (Den Patriotische Phantasien verwandte Aufsätze), S. 71 f. 137 Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813), in: MA, Bd. 9, S. 956. 138 Wieland: Über deutschen Patriotismus, in: GS, Bd. 15, S. 588. 139 Fichte, Johann Gottlieb: Achte Rede. Was ein Volk sei, in der höhern Bedeutung des Worts, und was Vaterlandsliebe, in: ders.: Reden an die deutsche Nation, Hamburg 1955, S. 124 – 143, hier S. 139.

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So viel Städte und Republiken, die einander nah, durch Sprache, Ehre des Griechischen Namens, zum Teil durch Stammesart und Verfassung mit einander verbunden waren, mußten notwendig mehr oder minder wetteifern […].140

Es ist gerade die politische Vielheit, welche die Aufgipfelung zur größten kulturellen Blüte ermöglicht. Nur aus so vielartigen Wurzeln und Keimen konnte jener schöne Garten aufblühn, der selbst in der Gesetzgebung mit der Zeit die mannigfaltigsten Früchte brachte. Im vielgeteilten Lande schützte diesen Stamm sein Tal, jenen seine Küste und Insel, und so erwuchs aus der langen jugendlichen Regsamkeit zerstreuter Stämme und Königreiche die große freie Denkart der griechischen Muse. Von keinem Allgemeinherrscher war ihnen Kultur aufgezwungen worden; durch den Klang der Leier bei heiligen Gebräuchen, Spielen und Tänzen, durch selbsterfundene Wissenschaften und Künste, am meisten endlich durch den vielfachen Umgang untereinander und mit andern Völkern nahmen sie freiwillig, jetzt dieser, jetzt jener Strich, Sittlichkeit und Gesetze an: auch im Gange zur Kultur also ein griechisches Freivolk.141

Deutschland ist dem Potential nach eine Nova Graecia, vielmehr als etwa Frankreich, muss aber erst zu Gemeinsinn und Eintracht finden, um es nutzen zu können. Von jenen Zeiten an, da Deutschland ein Tummelplatz von Stämmen und ziehenden Völkern war […] bis vielleicht selbst auf unsre Zeit, war unser Vaterland ein Staatskörper, der seine eignen Kräfte nicht immer kannte.142

„Einheit und Mannigfaltigkeit“143 lautet deshalb auch die Parole seines Instituts für den Allgemeingeist. „O daß es Einmal ein Olympia versammelter Griechen in Deutschland, eine Akademie gäbe“144, träumte er schon zehn Jahre zuvor im Denkmahl Johann Winkelmann’s. Mit den Humanisten nimmt Herder eine enge Verbindung von Deutschen und Griechen an: „Einst war sie [die deutsche] eine nahe Schwester der griechischen Sprache!“145 Sprache und politische Verfassung korrelieren aus Herders Sicht. In der deutschen Verfassung habe sich, so hebt er in Wie die deutschen 140 Herder: Vom Einfluss der Regierung, in: FA, Bd. 9/2, S. 310 f. 141 Herder: Ideen, Bd. 1, S. 478. Siehe auch: ebd., S. 496. 142 Herder: Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands, in: SWS, Bd. 16, S. 600. Kursivierung M. H. 143 Ebd. 144 Herder: Denkmahl Johann Winkelmann’s, in: SWS, Bd. 8, S. 464. 145 Herder: Ideen, Bd. 1, S. 479. Herder spricht auch von der deutschen als „dorische[n] Sprache“: Herder: Über die neuere deutsche Literatur, in: FA, Bd. 1, S. 310.

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Bischöfe Landstände wurden hervor, „viel alte rohe Simplicität, Glückseligkeit auf seinen Rechten, politische Stärke und nicht blendender Nationalgeist erhalten“, darin würde Deutschland „seiner Sprache gleich[en]“146. Dem ,körnichten‘ Deutsch entspricht die grobe Eigentümlichkeit der vielfältigen Reichsverfassung, wie der griechischen Sprache die Bündnisse der Poleisstaaten entsprachen. Was im Verfassungspolitischen die römische Hierarchie, der aristokratische Schmuck und die französische Hofkultur sind, gleicht im Kulturellen der lateinischen und französischen Überformung der urwüchsigen deutschen Sprache. Zur Auflösung dieses Übels propagiert Herder deshalb eben gerade nicht einen Einheitsstaat. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall und wird in der Griechenlandparallele explizit: Sein Ziel ist es, die Vielstaatlichkeit des Reichs kulturell produktiv zu machen und somit zum Selbstbewusstsein der Nation beizutragen: „Je getheilter eine Nation ist, desto mehr Kräfte kann sie vielleicht haben“147, lautet der Kernsatz des Institutsplans. Nicht anders empfahl er in Sachen eines Nationaltheaters „statt des despotischen Musters“ einer tonangebenden nationalen Zentrale „republikanische[n] Wetteifer“148. Mit Möser, so konnte bereits gezeigt werden, erklärte Herder die Vielfalt zum Charakter der Deutschen und verlegte sie ins Innere des nationalen Stils selbst.149 Vielheit und Heterogenität sollten auf diesem Wege Ausdruck der nationalen Einheit werden. Hier nun soll in ähnlicher Weise die Einheit des Zwecks zum gemeinsamen Band der deutschen Nation im Reich werden. je mehrere helle Köpfe und thätige Hände sich zu dem Einen großen Endzweck, der National=Wohlfahrt, verstehen und verbinden lernen: desto mehrere Vestigkeit, Ordnung und Gesetzmäßige Freiheit muß der Staat von innen, desto mehr bestimmte Macht, Würde und Weisheit muß er in seinen Wirkungen von außen gewinnen.150

Griechenland wird allerdings im Sinne von Herders Geschichtsdenken zwar Vorbild, aber nicht mit dem Ziel einer vollständigen Imitation. Die Eigentümlichkeit der deutschen Geschichte und des ,deutschen Reichs‘ kann und darf nicht verleugnet werden: „Lasset uns werden, was wir sein 146 Herder: Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden, in: SWS, Bd. 5, S. 697. 147 Herder: Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands, in: SWS, Bd. 16, S. 600. 148 Herder: Haben wir eine Französische Bühne?, in: SWS, Bd. 2, S. 214. 149 Vgl. in dieser Arbeit 2. Kap., 2.2 ,Deutsche Art und Kunst‘: Reichsverfassung und Ästhetik. 150 Herder: Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands, in: SWS, Bd. 16, S. 601.

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können, ihnen nachstreben sofern es unsre Verfassung erlaubt und in dieser werden was jene nicht sein konnten“151, lautet daher sein Plädoyer. In einem Wachtraum aus den Briefen zu Beförderung der Humanität heißt es entsprechend: „Es war Griechenland und war es auch nicht: denn drittehalb Jahrtausende waren nicht umsonst verflossen in dem immer aufeinander bauenden Tempel der Zeiten.“152 Im 6. Brief lebt der Gedanke sich befördernder Konkurrenz im ,deutschen Reich‘ noch einmal auf.153 Wieder wird die Klage erhoben, dass „alles in ihm [Deutschland] zerteilet sei“, es „keine allgemeine Stimme“ und „keinen Ort der Versammlung“ gebe.154 Doch wirke, wendet Herder gegen sich selbst ein, in allen Ständen der „biedere“ deutsche Geist, und besonders jene, „die die biedersten Deutschen sein sollen, die Fürsten“155, vereinten sich nun vermehrt auf dem gemeinsamen Weg zur einheitlichen Kultur. Schuld an der deutschen Rückständigkeit sei nicht die Zerteilung an sich, sondern die egoistische Staatsräson der einzelnen Territorien: […] der Unterschied der Religionen macht es nicht: denn in allen Religionen Deutschlands gibt es aufgeklärte, gute Menschen. Der Unterschied von Dialekten, von Bier- und Weinländern macht es auch nicht, was uns voneinander hält und sondert; ein leidiges Staatsinteresse, eine Anmaßung mehreren Geistes, mehrerer Kultur auf der Einen, auf der andern Seite mehreren Gewichts, mehreren Reichtums u. f. war es, was uns entzweiet; und dem, dünkt mich, muß und wird die allmächtige Zeit obsiegen.156

In Abwandlung von Friedrich Carl Mosers berühmten ersten Worten aus Von dem Deutschen national=Geist betont er die Einheit der Deutschen in Sprache, Gemeinwesen und im humanistischen Auftrag. „Haben wir nicht alle Eine Sprache, ein gemeinschaftliches Interesse, Eine Vernunft, ein und dasselbe menschliche Herz?“157 Erneut begrüßt Herder die Produktivität der Vielstaatlichkeit in Analogie zu den griechischen Poleis: „Auch der Wetteifer verschiedner Provinzen gegeneinander kann nicht anders, als diesen Zweck befördern.“158 Durch einen kulturell geförderten Gemeingeist würde die Einheit in der Mannigfaltigkeit, das Reich mit seinen Territorien, in Herders Worten „die Gemeinschaft der Länder Deutsch151 152 153 154 155 156 157 158

Herder: Vom Einfluss der Regierungen, in: FA, Bd. 9/2, S. 360. Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 119. Vgl. Schmidt: Deutschland um 1800, S. 162 – 164. Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 33. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 34.

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lands“, alle „Provinzen Deutschlands durch geistige und also die stärksten Bande“ verbinden. „Daß uns eine Hauptstadt fehle, tut zu unsrer Sache gewiß nichts.“159 Was Herder mit dem Institut für den Allgemeingeist strukturäquivalent zur Reichsverfassung konzipieren wollte, schlägt er nun, deutlich resigniert, lediglich in gleichsam verinnerlichter Form vor: „Denen vollends wünsche ich keinen Hof, keine Hauptstadt; einen Altar der Biedertreue wünsche ich ihnen, an dem sie sich mit Geist und Herzen versammeln.“160 3.2 Herders Kulturpolitik Herders Kulturnation, so wird aus all dem deutlich, ist rückgebunden an die staatliche Einheit in der Vielheit des Heiligen Römischen Reichs. Er konzipiert sein Institut für den Allgemeingeist explizit als deutsche Kommunikationsgemeinschaft im Reich. Sein Ziel ist es, die Deutschen mit sich selbst bekannt zu machen. Darin stimmt er mit zahlreichen kulturellen und politischen Programmen des 18. Jahrhunderts überein – man denke nicht zuletzt an die Reiseberichte oder die diversen Zeitschriften. Anknüpfungspunkt Herders ist unter anderem Friedrich Carl Moser – das Vorhaben, für das Institut ein „Jahrbuch des Deutschen Nationalgeistes“161 zu gründen, bestätigt das genauso wie die Rede vom deutschen ,Allgemeingeist‘. Mosers Bedeutung für Herders kulturpolitisches Denken ist bisher nicht ausreichend gewürdigt worden, wiewohl es ausgerechnet Herder war, der die Schriften des berühmten Publizisten gegen Nicolais und Abbts Kritik in Schutz nahm. In seinem frühen Werk Über die neuere deutsche Literatur bejubelt er ihn frenetisch als „deutschen Browne“. Sein Stil sei „Schrot und Korn der deutschen Sprache“, er sei „Ein Patriot für drei Zeitalter“. Herder bedauert, „daß Moses keinen Aron hat“, dass er „ein Prediger in der Wüste“ sei.162 In seiner Privatbibliothek befanden sich alle wichtigen Arbeiten des Autors, und seine Entleihungen aus der Weimarer Bibliothek zeugen von anhaltender Beschäftigung mit demselben.163 Im159 Ebd. 160 Ebd., S. 35. 161 Herder: Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist in Deutschland, in: SWS, Bd. 16, S. 612. 162 Herder: Über die neuere deutsche Literatur, in: FA, Bd. 1, S. 242 f. 163 F. C. Mosers Werke in der Bibliotheca Herderiana aus dem Jahr 1804 (ND. Köln 1980): Nr. 3449, 3450, 3451, 3751, 3756, 4948. Vgl. Schneider: Herders Entleihungen aus der Weimarer Bibliothek.

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mer wieder erkundigt sich Herder in Briefen nach dem Befinden Friedrich Carl Mosers.164 Schon im Reisejournal stellt er den Publizisten auf eine Ebene mit Montesquieu,165 in den Briefen zu Beförderung der Humanität behandelt er ihn als Vorbild aller Deutschen,166 1798 nennt er ihn den „edlen Zeugen und Märtyrer politisch=historischer Wahrheit“167. Zur Nationalgeistdebatte nimmt Herder 1795 in der Neuen deutschen Monatsschrift erneut ausführlich Stellung, schmettert die Kritik an Mosers Patriotismus ab und fordert: Eine Geschichte des Deutschen Nationalgeistes. Moser hat einige Bogen darüber geschrieben; es war ihm widersprochen und behauptet, daß Deutschland gar keinen Nationalgeist habe. Er setzte dieser Behauptung gutmüthige Patriotische Briefe entgegen, die aber wie gewöhnlich an den großen Deutschen Nemo geschrieben waren. […] Es werde also der Deutsche Nationalgeist gegen solche Verläumdungen in Schutz genommen und in Beispielen gezeigt, daß Deutschland von jeher, unverrückt, in allen Ständen einen Nationalgeist gehabt habe, solchen noch habe und seiner Verfassung nach nothwendig auf ewige Zeiten haben werde – – 168

Verantwortlich für den fehlenden Zusammenhalt des Reichs – der zum Zeitpunkt des zitierten Aufsatzes geschlossene Basler Frieden ließ daran keinen Zweifel – ist bei Herder nicht die Reichsstruktur an sich, sondern, wie für Moser, das fehlende National- und Reichsbewusstsein der Deutschen. Damit ist nicht gesagt, dass Herder an der ständischen Ordnung und den politischen Einrichtungen des Reichs keine Kritik übte. Im Gegenteil, das fehlende Publikumsinteresse (,der deutsche Nemo‘) hängt mit den Mängeln der Reichsverfassung direkt zusammen: Das Volk steht anders als in England in keiner direkten Verbindung mit ihr. Deutlich aber ist, dass Herder in einem Reichspatriotismus à la Moser einen richtigen Weg für die deutsche Nation erblickte. Kein Zweifel, dessen Forderung nach Ge164 Vgl. Herder an Karoline Flachsland, 11. Juli 1772, Nr. 91, in: HB, Bd. 2, S. 191 f. und Herder an Karoline Flachsland, Mitte Juli 1772, Nr. 92, in: HB, Bd. 2, S. 192 f. Großes Interesse hatte er an Mosers Tätigkeit in Hessen-Darmstadt und an dessen Versuch die dortigen Staatsfinanzen zu sanieren, vgl. seine Berichte an Johann Georg Hamann, 9. September 1780, Nr. 116, in: HB, Bd. 4, S. 127 – 133; März/Mai 1781, Nr. 171, in: HB, Bd. 4, S. 177 – 181. 165 Herder: Journal, in: FA, Bd. 9,2, S. 33. 166 Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 275 und 277. 167 Herder: B. Orell, Füßli und Compagnie. Briefe über das Studium der Wissenschaften besonders der Geschichte, in: SWS, Bd. 20, S. 308. 168 Herder: Warum wir noch keine Geschichte der Deutschen haben?, in: Neue Deutsche Monatsschrift 1795, S. 329 ff. Gedruckt in: SWS, Bd. 18, S. 380 – 384, hier S. 383.

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meinsinn, seine christlich-pietistische Aufladung des Nationalgeists, die hohe Bedeutung, die er den Patrioten als Predigern des Nationalgeists zurechnet, sein Wunsch nach einer reichspatriotischen Erziehung mit hervorgehobener Rolle der Gelehrten und die (freilich vagen) Reformvorstellungen nach englischem Verfassungsideal sind ganz evidente Parallelen zu Herders politischen Vorstellungen und seinem kulturellen Programm. Mehr noch: Dessen Begeisterung für Iselins Helvetische Gesellschaft, die zugleich großen Einfluss auf die Konzeption des Herderschen Instituts hatte, verdichtet die Analogie weiter.169 Vielleicht entging Herder daher selbst, wie sehr sich der Nationalgeist Moserscher Prägung, der von den Reichsgesetzen und Reichsständen ausging, von seinem Volksgeist unterschied. Bei Herder beginnt die Nationswerdung nicht mit Reichsgesetzen, sondern mit dem Sprachbewusstsein: Ohne eine gemeinschaftliche Landes- und Muttersprache, in der alle Stände als Sprossen Eines Baumes erzogen werden, gibt es kein wahres Verständnis der Gemüter, keine gemeinsame patriotische Bildung, keine innige Mit- und Zusammenempfindung, kein vaterländisches Publikum mehr. 170

In Deutschland, schreibt Herder im Institutsplan, müsse man „die Sprache unsres Vaterlandes rein spreche[n]“171. Was für Moser Reichsverfassung und Reichsgesetze sind, deren Kenntnis er von den Staatsmännern Deutschlands einfordert, sind bei Herder Kultur und Sprache. Die ältere Sammlung der Volkslieder (1774) ist ein gutes Exempel für die Nähe und Distanz von Herders Kulturpatriotismus zum Reichspatriotismus à la Moser: Was zu einer deutschen Nation fehlt, ist nach Herder primär das Nationalbewusstsein, nicht aber die politische Ordnung, welche sich im Reich und seinen Territorien findet bzw. finden könnte.172 Die 169 Vgl. Renner, Bruno: Die nationalen Einigungsbestrebungen Friedrich Carl von Mosers (1765 – 1767), Königsberg 1920, S. 23 f. 170 Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 306. Vgl. auch grundsätzlich zur patriotischen Bedeutung der Sprachförderung seine Schulrede: Herder: Von der Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen, Juli 1796, in: FA, Bd. 9/2, S. 723 – 732. 171 Herder: Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands, in: SWS, Bd. 16, S. 603. 172 Wenn von ihrer nationalen Dimension die Rede ist, darf freilich auch für den frühen Zeitpunkt der Zusammenhang von „Volkspoesie“, „Nationalliteratur“ und „Weltliteratur“ nicht übersehen werden, der sich schon aus der europäischen Einbettung von Herders Volkslieder-Projekt ergibt. Vgl. Gaier, Ulrich: Volkspoesie, Nationalliteratur, Weltliteratur bei Herder, in: Die europäische République des lettres in der Zeit der Weimarer Klassik, hrsg. v. Michael Knoche u. a., Göttingen 2007, S. 101 – 115.

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Programmatik der Aufsätze unterscheidet sich von den tatsächlichen Sammlungen, und natürlich überschreitet die Herkunft der Lieder nicht nur die Reichsgrenzen deutlich, sie bindet sogar jene der englischen ,Brüder‘ mit ein, die freilich „ursprünglich Deutsche waren, mithin der Stamm der Nation an Sprache und Denkart deutsch ward“173. Adressat von Herders älterer Volksliedersammlung ist jedoch in erster Linie das ,deutsche Volk‘ innerhalb des Heiligen Römische Reichs: „Großes Volk und Reich! oder vielmehr Volk und Reich von zehn großen Völkern […].“174 Nicht die Reichsverfassung ist hier zweifelhaft, sondern dass sich die Völker ihrer genuinen Gemeinschaft (,Volk von zehn großen Völkern‘), die sich in der gemeinsamen Sprache wie in der Reichsgeschichte ausdrückt, bewusst werden. Dass dieses ,Volk‘ nicht mit dem politischen Körper identisch ist, tut dabei nichts zu Sache. Der weitere Begriff der deutschen Kulturgemeinschaft, der die Schweiz inkludiert, kann dem engeren politischen Deutschlandbegriff dienstbar gemacht werden. Gleich Moser will Herder Geist in den politischen Körper hauchen, der ein vielstämmiges Volk verbindet, das sich selbst nicht kennt. Moser schreibt: „Wir werden uns untereinander fremd, und die Gleichgültigkeit und Kaltsinn einer Deutschen Provinz gegen die andere steigt immer höher.“175 Die Reichsgesetze würden verkannt und verachtet, ihre Kenntnis zu verbessern sei daher die erste Pflicht eines Reichspatrioten.176 Herder geht es gleichermaßen um „Nation! Volk! Einen Körper, der Vaterland heißt!“ – ein Vaterland, das erst herbeigeschrieben bzw. -gesammelt werden muss, da ,wir‘ es, so Herder, „noch nichts weniger als haben, vielleicht nimmer haben werden“177. Die Regionen kennen sich untereinander nicht, und die Volkslieder laufen Gefahr, aufgrund „ausländischer Nachäfferei“ bald für immer verloren zu gehen.178 Kein Wunder, dass Herder in diesem Kontext die „mühsamen Vorarbeiten“ „im juristisch-diplomatisch-historischen Fache“ 173 Herder: Von Ähnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst, in: FA, Bd. 2, S. 550. 174 Herder: Vorrede zu den alten Volksliedern, in: FA, Bd. 3, S. 20. Vgl. auch „Großes Reich, Reich von zehn Völkern, Deutschland!“ Herder: Von Ähnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst, in: FA, Bd. 2, S. 558. An diesen „Völkern“ zeigt sich der Bezug zum Heiligen Römischen Reich erneut, da auch Nichtdeutsche wie die Wenden und Böhmen genannt werden und ebenso – es geht ja um die mittelalterliche Vergangenheit des Reichs – die Schweizer. 175 Moser: Von dem Deutschen national=Geist, S. 50. 176 Vgl. ebd., S. 8, 14, 34, 41, 68, 84. 177 Herder: Vorrede zu den alten Volksliedern, in: FA, Bd. 3, S. 20. 178 Herder: Alte Volkslieder. Vorrede, in: FA, Bd. 3, S. 19.

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lobt, die aber „alle noch erst zu nutzen und zu beleben“ seien:179 Was die Reichsreformer bei den Fürsten über die Kenntnis der Reichsverfassung, ihrer Gesetze und ihrer Geschichte bewirken wollten, versucht der Kulturreformer Herder beim ganzen deutschen Publikum über die Kenntnis der Literaturgeschichte und jenes Volksgeistes zu erreichen, der sich in den „Monumente[n]“ der Volkslieder, dem „Mark der Nation“, den „Nationalstücke[n]“ manifestiere.180 Den reichshistorischen Urkundensammlungen und -aufbereitungen korrespondiert Herders Ambition, Lieder zu sammeln und zu verbreiten, „denn in den alten Chroniken, Reden und Schriften ist er [der „Gang des deutschen Geistes“] schon da“181. Nicht zufällig findet sich in der Sammlung neben dem einleitenden ShakespeareZitat ein Zitat aus dem Sachsenspiegel. 182 Und doch könnte seine Sammlungsidee von den trockenen reichspolitischen Arbeiten, die sich keineswegs an das Volk, sondern an das Fachpublikum und die Stände richteten, nicht unterschiedlicher sein. Aus allen „einzelnen Provinzen Deutschlands“183 wünscht Herder die Materialien und Zeugnisse zusammenzutragen, er wisse von ihrer Existenz, nur lägen sie „unter Schlamm“ und werden „verkannt und verachtet“184. Die wenigen ,Funde‘ konnten den ,trügerischen‘ Vorbildern Thomas Percy und James Macpherson allerdings kaum Paroli bieten.185 Die ethnisch-nationale Absicht der alten Volkslieder (1774) trat deshalb gegenüber der anthropologisch-„menschheitspatriotischen“ Zielsetzung in der zweiten Volkslieder-Sammlung (1778/1779) deutlich zurück.186 Wie im Falle der germanischen ,Barden‘ ging es Herder allerdings auch hier darum, dass der „innre[] Geist des Liedes“, seine Originalität, nachgeahmt, nicht aber der Unterschied von „Verfassung, Lebensart, Sitten, Wissenschaft, Kunst und Denkart“ eines anderen Jahrhunderts oder einer anderen Nation ausgewischt werde.187 Der 179 Herder. Von Ähnlichkeit der mittleren, in: FA, Bd. 2, S. 551. 180 Herder: Briefwechsel über Ossian, in: FA, Bd. 2, S. 455; Herder: Vorrede, in: FA, Bd. 3, S. 19, 23. 181 Herder: Von Ähnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst, in: FA, Bd. 2, S. 559. 182 Zitat aus der Vorrede des Sachsenspiegels: Herder: Volklieder, in: FA, Bd. 3, S. 69 f. 183 Herder: Von Ähnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst, in: FA, Bd. 2, S. 553. 184 Ebd., S. 558. 185 Vgl. Haym: Herder, Bd. 2, S. 115 – 122. 186 Vgl. Nachwort von Ulrich Gaier, in: FA, Bd. 3, S. 877. 187 Herder: Rezension zur „Bardenfeyer am Tage Theresiens, Wien 1770“, in: SWS, Bd. 5, S. 332 f. Vgl. ähnlich Herder: Briefwechsel über Ossian, in: FA, Bd. 2,

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Übergang beider Volksliedersammlungen ist durchaus fließend. Mosers und Herders Ambitionen waren, so sollte dieser Exkurs zeigen, bei aller Verschiedenheit des Ausgangspunkts (Reichsverfassung hier, Sprache dort) durchaus verwandt. „Nach unsrer Deutschen Verfaßung“, schreibt Herder im Institutsplan, sind „alle Bemühungen Ruhmwürdig, die nicht nur Licht zu verbreiten, sondern auch Licht zu vereinigen suchen, daß Eine gemeinschaftliche Flamme werde.“188 Zwei Zukunftsvarianten für Deutschland finden sich in Herders Texten. Das eigene Zeitalter fasst er als deutschen Kairos auf. Er verhehlt nicht die apokalyptische Angst, die Überformung und Uneinigkeit der von ihrem Wesenskern entfremdeten Nation könne zu ihrer Auslöschung durch Vergessen führen, wie es die Missachtung der eigenen Volkslieder nahelegt: „Wir sind eben am äußersten Rande des Abhanges: ein halb Jahrhundert noch und es ist zu spät!“189 Zum anderen zeigt sich jedoch auch die Hoffnung auf eine künftige Blüte Deutschlands. Schon Karl Eusebius von Liechtenstein beschrieb im 17. Jahrhundert den spezifischen Charakter der Architektur deutscher Residenzen und Schlösser im Reich – später ,Reichs-‘ oder ,Kaiserstil‘ genannt – als Summe aus dem Besten aller anderen Nationen: „Destwegen der Deutsche in vilem zu loben ob dises Imitierends willen.“190 Der Nachahmungsvorwurf wird hier zum Bonum verwandelt. Mehr noch geschieht das bei Herder: Wenn die Deutschen sich ihres eigenen Charakters bewusst werden, zu allererst gelernt haben, ,Nachahmer ihrer selbst‘ zu werden,191 kann aus der Nachahmung anderer produktive Anverwandlung werden.192 Die Kultur des ,deutschen Reichs‘ in der Mitte Europas, dieses Lands, das bisher von äußeren Einflüssen überschwemmt wurde und nie zur eigenen Identität gefunden habe, könnte so an die Spitze Europas treten: „Die Ananas, die tausend feine Gewürze in ihrem Ge-

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S. 493: „Ossian, die Lieder der Wilden, der Skalden, Romanzen, Provinzialgedichte könnten uns auf bessern Weg bringen, wenn wir aber auch hier nur mehr als Form, als Einkleidung, als Sprache lernen wollten.“ Herder: Idee zum ersten patriotischen Institut, in: SWS, Bd. 16, S. 601. Herder: Alte Volkslieder. Vorrede, in: FA, Bd. 3, S. 21. Karl Eusebius von Liechtenstein: Werk von der Architektur, in: Fürst Karl Eusebius von Liechtenstein als Bauherr und Kunstsammler (1611 – 1684), Wien/ Leipzig 1910, S. 87 – 209, hier S. 194 f. Dazu: Engelberg, Meinrad von: Reichstil, Kaiserstil, ,Teutscher Gusto‘? Zur ,politischen Bedeutung des deutschen Barock‘, in: Schilling/Heun/Götzmann: Heiliges Römisches Reich, Bd. 2, S. 289 – 300, hier S. 294. Vgl. Schmidt: Wandel durch Vernunft, S. 118 f. Herder: Über die neuere deutsche Literatur, in: FA, Bd. 1, S. 311 und 323. Vgl. Schmidt: Deutschland um 1800, S. 162 – 164.

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schmack vereint, trägt nicht umsonst eine Krone.“193 Die Kaiserkrone wird zur kulturellen Krone, nicht nur als innerdeutsche Einheit in der Vielheit, sondern als Summe der abendländischen Geschichte und Kultur: Wenn wir von allen Völkern ihr Bestes uns eigen machten: so wären wir unter ihnen das, was der Mensch gegen alle die Neben- und Mitgeschöpfe ist, von denen er Künste gelernt hat. Er kam zuletzt, sah Jedem seine Art ab, und übertrifft oder regiert sie alle.194

Die Figur Aurora fasst in dem gleichnamigen Zeitschriftsprojekt Herders die Geschichte und Zukunftsaussichten Deutschlands zusammen: von der harmonischen Einheit Germaniens über die Zerteilung und Entfremdung im Mittelalter und der Neuzeit bis zur kommenden Blüte. Hinter der Metaphorik der Hausgeräte, Bänke und Lusthäuser verbirgt sich unscheinbar, aber doch merklich die im Gegensatz zu den germanischen Anfängen den Volkscharakter verformende Reichsverfassung. Seit dem Mittelalter ist sie das politische Fundament der deutschen Geschichte. Für das Bewusstwerden der Nation in allen Ständen sorgt neben Aurora auch Herders Kulturpolitik. ,Es gab Zeiten, da viele Verfaßungen Deutschlands anerkannt die ersten in Europa waren. Mit freudigem Antlitz begrüßte ich täglich die Municipalitäten, die durch Einrichtung und Ordnung, durch Fleiß und Treue hoch über jenen des alten Roms oder des neuen Italiens standen; ich übergüldete sie, wie prächtige Linden, in deren Walde von Gerüchen und Blüthen Zahllose Schwärme Honig suchten und fanden. Manche derselben hat ein fremder üppiger Epheu abgezehrt; vertrocknet stehen sie da; andre sind zu Hausgeräth, zu Bänken und Lusthäusern zerhackt und zersägt. Einige stehen noch da, und an mir soll es nicht fehlen, daß die Fleiß= und Treuvollen Völker Deutschlands, wo sie vom Gewinn ihres Fleißes verdrängt sind, auf ihre Bahn wieder eintreten mögen. Am Po und am Jordan, am Oby und Ohio, in allen Welttheilen floß ihr Blut, nicht für sich, sondern für andre Nationen; ich will die Zeit befördern, daß Deutschland an sich denke, für sich arbeite in allen Ständen und sich seiner Kraft, seines Charakters und Landes erfreue in allen Ständen‘.195

193 Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 553. „[S]oll man verzweifeln? Nichts minder! Wir gehen langsam aber nur desto sichrer: wir kommen spät, aber vielleicht desto gerader und näher ans Ziel.“ Herder: Über die Wirkung der Dichtkunst (Ältere Niederschrift), in: FA, Bd. 4, S. 941; Herder: Ursachen des gesunkenen Geschmacks, in: FA, Bd. 4, S. 142 f. 194 Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 551. 195 Herder: Aurora, in: SWS, Bd. 23, S. 14 f.

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3.3 Der Institutsplan Häufig und zu Recht wird in der Forschung Herders grundsätzliche Skepsis und Distanz zum Fürstenbundprojekt erwähnt. Gegenüber Johann Georg Müller drückt er zwar seine Hochachtung für die reichspatriotische Darstellung des Fürstenbundes aus der Feder von dessen Bruder aus, fügt aber hinzu: „[…] ich kann nichts dran tadeln, als daß das hohe, schöne Werk für den Gegenstand zu hoch, schön u. groß ist.“196 Er nennt sich in der grundsätzlichen Zielsetzung, im Reich durch Reformen und publizistische Aufklärung (durch „philosophisch-historische Köpfe“) die Probleme der deutschen Zwistigkeiten (die „Erbfeindschaften zwischen gekrönten Schädeln“) zu beseitigen, einen „Alliirten“ des Autors, wiewohl er „in Ansehung des Fürstenbundes hin u. wieder anders denke“197. Noch 1789 zitiert er in einem Bericht an Carl August zustimmend Leopold II.: „,[W]enn der Fürstenbund nichts als die Erhaltung der Deutschen Constitution zum Zweck hat, so ist er nicht zu tadeln, u. ich sehe nicht, warum nicht der Kaiser selbst ein Mitglied davon seyn könnte; die Constitution Deutschlands zu erhalten, ist er ja eben Kaiser.‘“198 Zweifellos hoffte Herder auf die Umsetzung seines Programms, wünschte aber zugleich keine Verwässerung desselben in den Mühlen der Fürstendiplomatie. Das Zentrum des Instituts sollte „unter den Einflüßen keines Hofes“ und dennoch „mitten in Deutschland“ stehen.199 Grundlage des gesamten Projekts ist nicht die Trennung von Kultur- und Staatsnation, sondern ihre naturgemäße Verknüpfung: „[…] es ist also billig, daß diese Sprache nicht nur daure, solange die Nation dauret, sondern sich auch aufkläre, läutre und bevestige, wie sich die Nation in ihrer Verfassung bevestiget und aufklärt.“200 Drei Glieder vereinen Herders Kulturpolitik im Rahmen der Akademie: 1. Sprachförderung, 2. Geschichtsschreibung und 3. „thätige[] Philosophie“. Die Geschichtsschreibung soll den „Patriotismus fürs Ganze“ steigern, den Patriotismus „für die Heiligkeit der Gesetze“ wie für die „Rechte der Menschheit“201. Provinzialgeschichte, Altertumskunde, auch die Historie der „Gesetzgebung und Staatsverfaßung in verschiedenen Zeiten“, die 196 197 198 199 200 201

Herder an Johann Georg Müller, 30. Dez. 1787, Nr. 252, in: HB, Bd. 5, S. 262. Herder an Johann Georg Müller, 24. Juni 1787, Nr. 221, in: ebd., S. 235. Herder an Herzog Karl August, Oktober 1789, Nr. 108, in: HB, Bd. 6, S. 185. Herder: Idee zum ersten patriotischen Institut, in: SWS, Bd. 16, S. 613. Ebd., S. 604. Ebd., S. 608.

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Kapitel 3: Literarische Reichsinstitutionen?

Reichshistorie also, seien „Hülfsarbeiten“ für „eine patriotische[] Geschichte des gesamten Vaterlandes“202. „Wir erscheinen später“, schreibt Herder, „aber wir kommen desto bereiteter und geprüfter.“203 Präzise werden der verfassungsmäßige Ablauf, die Rolle der einzelnen Landesherren und die in „Provinzial=Deputationen“ mit Direktoren und Sekretären gegliederten Teile des Instituts beschrieben. Ein Präsident mit einem Sekretär erhält die Aufgabe, für die Interaktion der Akademiemitglieder innerhalb der einzelnen Provinzen zu sorgen, welche ohnehin durch öffentliche Versammlungen, Preise und das „Jahrbuch des Deutschen Nationalgeistes“204 gewährleistet sein soll. Kurz: Was Herder hoffte, war „durch Communication und Verbindung“205 die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts unabweisbar werdende ,gestörte Kommunikation‘ des Reichsverbands auf kulturellem Wege zu beseitigen, ohne in die Abhängigkeit eines Hofes zu geraten. Der „Gesamtgeist[]“ der Nation soll befördert werden, der „Sektengeist einzelner Länder“ hingegen „ersterben“. Alle „Mitglieder“ der Akademie sollen im Namen des „National=Intereße[s]“ unter einerlei „Zweck“, der „reine[n] unpartheiische[n] Wahrheit“, vereint sein.206 Herder freilich wurde bitter enttäuscht und sagte sich in einem Schreiben an den Markgrafen von den „rühmlichen Bemühungen für unser Deutsches Vaterland“ am 21. Juli 1788 höflich mit dem Verweis auf seine Italienreise los.207

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Ebd., S. 609. Ebd., S. 608 f. Ebd., S. 612. Ebd., S. 616. Ebd., S. 609 und 611. Herder an Markgraf Karl Friedrich von Baden, 21. Juli 1788, Nr. 303, in: HB, Bd. 5, S. 303. Über die Aufnahme von Herders Entwurf: Tümmler: Zu Herders Plan einer Deutschen Akademie, S. 206 f. und Haym: Herder, Bd. 2, S. 531 ff.

Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast Insofern die Geschichtsphilosophie der Aufklärung auf die Realisation ihrer Glaubenssätze drängte, konnte der Beginn der Französischen Revolution auf den ersten Blick als Meilenstein im Fortschritt zur Freiheit angesehen werden. Angesichts des mangelnden „politischen Verstand[es]“ im „gemeinen Volke“ hatte nicht nur Schiller die Entwicklung eines vollkommenen freiheitlichen Staats, der zwischen aristokratischem Despotismus und demokratischer Anarchie die Waage hält, noch im Jahr des Revolutionsbeginns als eine Aufgabe „kommende[r] Jahrhunderte“ begriffen.1 Diese enorme Temporalisierung des politischen Ideals entsprach ganz dem Geist der reformorientierten deutschen Aufklärung. Die oft beschriebene Begeisterung innerhalb der deutschen Intellektualität angesichts des Revolutionsausbruchs liegt eben gerade darin begründet, dass die Fernerwartung plötzlich zur Naherwartung geworden war.2 Schillers Schweigen, das manche Wissenschaftler zu Spekulationen in die eine oder in die andere Richtung veranlasste, ist daher auch ein Abwarten, getragen von Zweifeln. Campe, einer der Revolutionsenthusiasten, war im August 1789 von dem Triumph der Aufklärung überzeugt: „Hier ist ein Volk, so aufgeklärt, so edel und mild, als es je eins gegeben hat; ein König, so sanft, so lenksam und ehrgeitzlos, als je einer gewesen ist. […] Volk, König und Nationalversammlung […] umschlingen sich in schönster Harmonie und gehen Hand in Hand gelegt, dem erhabenen Ziele zu.“3 Revolution als Harmonie zwischen König, „Edeln“, „Priestern“ und dem aufgeklärten „Volk“?4 Die politisch-kulturelle Evolution verkürzt um Hunderte von 1

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Schiller: Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon, in: MA, Bd. 4, S. 832. Auch Kant sieht die Verwirklichung seines Ideals einer weltbürgerlichen Gesellschaft noch „in weiter Ferne“: Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: AA, Bd. 8, S. 30. Hingegen: Marquard: Ende der Universalgeschichte? Campe, Joachim Heinrich: Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben, hrsg. v. Hans-Wolf Jäger, Hildesheim 1977, S. 326 f. (26. August 1789). Ebd.

310 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast Jahren? Die Mythisierung der Französischen Revolution begann bereits unmittelbar nach ihrem Ausbruch – und mit ihr die Kontrastierung des politisch heillos verspäteten Heiligen Römischen Reichs. Der Topos kultureller Nachrangigkeit transgredierte in den Bereich der Politik – vorerst, denn schon bald kippte die Stimmung der deutschen Beobachter in das Gegenteil. Der Druck des Pöbels auf der Straße zwang in Frankreich zur Radikalisierung. Nicht die Vernunft setzte sich auf den Richterstuhl, sondern der Totalitarismus einer neuen Ideologie. Das Volk, das so plötzlich vom Despotismus der französischen Monarchie zur umfassenden Freiheit hinübergesprungen schien, desavouierte durch seinen ,Rückfall in die Barbarei‘ das ,Projekt Aufklärung‘ mehr, als dass es ihm nutzte.5 Erich Pelzer spricht für diese Zeit der Entrüstung innerhalb der deutschen Beobachter von der Wiederkehr des girondistischen Helden und fasst damit zugleich die deutsche Mehrheitswahrnehmung bezüglich der Revolution in einem Bild zusammen. Nicht der politische Aufstieg der liberal-republikanischen und kosmopolitischen Girondisten, ihr Eintreten für den Krieg und den Prozess gegen den König, sondern ihr späterer Widerstand im Namen von Recht und Ordnung gegen die Radikalisierung der Revolution stieß in der deutschen Öffentlichkeit auf Sympathie, konnte man darin doch eine Parallele zur aufgeklärten Reformtradition im Reich erblicken.6 Nur durch die Stilisierung der historischen Verlierer zu ethisch-moralischen Gewinnern bei gleichzeitiger Perhorreszierung des Jakobinerterrors gelang es vielen liberal gesonnenen Aufklärern, eine radikale Desillusionierung, wie sie sich in Schillers Augustenburger Briefen ausdrückt,7 zu vermeiden und die politische Deutungshoheit über die Ereignisse weiterhin zu beanspruchen. 5 6

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Formuliert in Anlehnung an den berühmten Augustenburger Brief Schillers vom 13. Juli: Schiller an Friedrich Christian von Augustenburg, 13. Juli 1793, Nr. 184, in: NA, Bd. 26, S. 257 – 268, hier S. 262. Pelzer, Erich: Die Wiederkehr des girondistischen Helden. Deutsche Intellektuelle als kulturelle Mittler zwischen Deutschland und Frankreich während der Französischen Revolution, Bonn 1998, S. 170 – 203 und 319 – 326. Pelzer betont vor allem den gemeinsamen philosophischen Hintergrund und das besonnene ,Temperament‘. Zudem waren die Girondisten föderal ausgerichtet. Zu Schillers Desillusionierung: Schings: Revolutionsetüden, S. 111 – 118. Schiller machte die Enttäuschung freilich theoretisch produktiv: Riedel, Wolfgang: Philosophie des Schönen als politische Anthropologie. Schillers Augustenburger Briefe und die ,Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen‘, in: L’éducation esthétique selon Schiller. Entre anthropologie, politique et théorie du beau, hrsg. v. Olivier Agard/Françoise Lartillot, Paris 2013, S. 67 – 126.

Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast

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Den Vorwurf der Rückständigkeit eigneten sich die meisten Deutschen aber ohnehin nicht in toto an. Wenn Friedrich Schlegel 1798 zwei von drei ,großen Tendenzen‘ des Zeitalters, Philosophie und Dichtung, den Deutschen zurechnete,8 sprach der Revolutionsenthusiast das mit patriotisch geschwellter Brust aus. Karl Marx und nach ihm viele Wissenschaftler unterlegten dem Stolz eine Anklage, die das Lob mancher Reichspatrioten geradewegs umkehrte: Die Frieden und Sicherheit gewährende deutsche Mischverfassung wurde bei ihm zur Verbindung der „Sünden aller Staatsformen“. Die Deutschen seien daher nicht politisch, sondern allein geistig Teil der „Gegenwart“9. Nicht anders warf Heinrich Heine der Literatur im Stile Goethes Quietismus vor, der aus ihrer Verankerung in der „heiligen römischen Reichsvergangenheit“ entspringe.10 Eine „Art von Eskapismus war in der verdummenden und bornierten Welt des heiligen Römischen Reichs nichts Unnatürliches“, schreibt Klaus Epstein in seinem Buch zur Genese des deutschen Konservativismus und spricht von dem „spezifisch unpolitische[n] Charakter“ der Deutschen.11 In Robert Palmers vergleichender Studie The Age of the Democratic Revolution firmiert Deutschland hingegen unter der Überschrift „The Revolution of the mind“12. Doch auch das weniger anklagende Bild von der literarischgeistigen Ersatzhandlung, das das Politisch-Revolutionäre (oder Antirevolutionäre) innerhalb von Philosophie und Kunst wiederentdecken lässt,

8 Schlegel, Friedrich: Schriften und Fragmente. Ein Gesamtbild seines Geists, aus den Werken und dem handschriftlichen Nachlaß zusammengestellt und eingeleitet von Ernst Behler, Stuttgart 1956, S. 95. 9 Marx, Karl: Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie (1844). Einleitung, in: ders.: Philosophische und ökonomische Schriften, hrsg. v. Johannes Rohlbeck/ Peggy H. Breitenstein, Stuttgart 2008, S. 9 – 28, hier S. 22. 10 Heine, Heinrich: Französische Maler, in: ders.: Werke, Bd. 3, hrsg. v. Eberhard Galley, Frankfurt a.M. 1968, S. 5 – 59, hier S. 45. 11 Epstein, Klaus: Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770 – 1806. Aus dem Englischen von Johann Zischler, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1973, S. 518. 12 Palmer, Robert: The Age of the Democratic Revolution, Bd. 2, Princeton 1964, S. 425 – 458. Dazu: Fehrenbach, Elisabeth: Deutschland und die Französische Revolution, in: Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Werner Hahn/Jürgen Müller/ Elisabeth Fehrenbach, München 1997, S. 29 – 48, zur „geistigen Revolution“ in der Forschung: ebd., S. 30 – 32.

312 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast kolportiert letztlich weiterhin das historische Setting aus ,politischer Misere‘ und kulturellem Kompensationsbedarf.13 Mit Aretin muss freilich festgehalten werden, dass „das Fehlen einer jakobinischen Revolution […] kein deutsches, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen“ war.14 In Deutschland existierten zudem nicht nur schon vor der Revolution politische Strömungen, es gab auch eine eigene Diskussionskultur und eine lebendige Tradition politischer Öffentlichkeit.15 Die Revolution wirkte daher primär als Katalysator. So hofften manche liberalen Patrioten – etwa in der ,reichspublicistischen‘ Diskussion um die Wahlkapitulation von 1791 – auf eine profunde Reform der Reichsverfassung nach an Frankreich geschulten, konstitutionellen Maßstäben.16 Die wenigsten Zeitgenossen bedauerten aber das Ausbleiben einer Revolution im Reich,17 glaubte man doch mehrheitlich an den allmähli13 Klassische Beispiele für die Philosophie sind: Ritter, Joachim: Hegel und die Französische Revolution, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1979; Burg, Peter: Kant und die Französische Revolution, Berlin 1974; stellvertretend für zahlreiche Studien in der Literaturwissenschaft: Koopmann: Freiheitssonne und Revolutionsgewitter; Brinkmann, Richard u. a. (Hrsg.): Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien, Göttingen 1974; Metscher, Thomas: Die Revolution in der Form der Kunst. Deutsche Klassik im europäischen Kontext 1760 – 1832, in: „Sie, und nicht Wir“. Die Französische Revolution und ihre Wirkung auf das Reich, Bd. 2, hrsg. v. Arno Herzig/Inge Stephan/Hans G. Winter, Hamburg 1989, S. 567 – 589. 14 Aretin, Karl Otmar Freiherr von: Deutschland und die Französische Revolution, in: Revolution und konservatives Beharren. Das Alte Reich und die Französische Revolution, hrsg. v. Karl Otmar Freiherr von Aretin/Karl Härter, Mainz 1990, S. 9 – 20, hier S. 10. Zur Rolle des Bürgertums in Frankreich und dem letztlich nur graduellen Unterschied zu Deutschland: Reichhardt, Rolf: Die Französische Revolution als Maßstab des deutschen ,Sonderwegs‘? Kleines Nachwort zu einer großen Debatte, in: Deutschland und die Französische Revolution, hrsg. v. Jürgen Voss, München 1983, S. 323 – 328, hier S. 326 f. Zur deutschen Protestkultur, die durch die Revolution nur gesteigert wurde, aber auf eine eigene Tradition zurückgriff: Böning, Holger: Die Ausstrahlung der Französischen Revolution auf Deutschland, in: Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, hrsg. v. dems., München/London/New York/Paris 1992, S. 3 – 16, hier S. 5 ff. 15 Dazu bereits klassisch: Valjavec, Fritz: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770 – 1815, Düsseldorf 1978. 16 Mit zahlreichen weiteren Beispielen: Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 352 – 501. 17 Grab, Walter: Norddeutsche Jakobiner. Demokratische Bestrebungen zur Zeit der Französischen Revolution, Frankfurt a.M. 1967; Scheel, Heinrich: Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, 3., durchgesehene Auflage, Berlin 1980.

1. Schiffbruch mit Zuschauer: Die Perspektive aus dem Reich

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chen Fortschritt der aufgeklärten Kultur und zeigte sich von Beginn an überzeugt, dass dergleichen Ereignisse in Deutschland nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig seien. An der Revolution nahmen die deutschen Intellektuellen deshalb explizit aus der „Zuschauerperspektive“18 teil. Bezieht man das Alte Reich und die darin fußende politische Kultur in die Revolutionswahrnehmung mit ein, ergibt sich ein anderes Bild der deutschen Selbstwahrnehmung als jenes der heillosen Verspätung. Aretin brachte den Unterschied zu Frankreich mit Blick auf die Reformtradition der einzelnen Territorien sowie der Konflikte regulierenden und Absolutismus beschränkenden Reichsverfassung auf die Formel: „Eine Einrichtung wie die Bastille war im Reich undenkbar.“19 Die Bedeutung des Reichsbewusstseins für die Revolutionswahrnehmung soll im Folgenden an Wielands Schriften im Teutschen Merkur, Herders Dialog aus den Entwürfen zu den Briefen zu Beförderung der Humanität und Goethes literarischem Kampf gegen den politischen Dilettantismus skizziert werden. In einem zweiten Schritt wird Wielands vielberufener Verfassungspatriotismus vorgestellt und kontextualisiert. Anschließend gilt es, die nationalistischen und reichspatriotischen Töne, die seit der Bedrohung der Reichsgrenzen durch die Revolutionstruppen unüberhörbar waren und sich in Texten Wielands und Herders mehrfach niederschlugen, in Beziehung zum Denken und künstlerischen Schaffen Schillers und Goethes um die Jahrhundertwende zu setzen.

1. Schiffbruch mit Zuschauer: Die Perspektive aus dem Reich 1.1 Wielands Theatrum revolutionis und der sichere Platz im Reich Seit Ausbruch der Revolution in Frankreich nutzte Wieland den Teutschen Merkur als politisches Organ, um die französische Entwicklung mit Kommentaren und Fragen dialogisch zu begleiten. Seine Gedanken wurden oft nachvollzogen20 und brauchen hier nur insofern referiert werden, als sie für das Reichsbild dieser Zeit ausschlaggebend sind. Unter 18 Pelzer: Die Wiederkehr des girondistischen Helden, S. 199. 19 Aretin: Deutschland und die Französische Revolution, S. 11. 20 Vgl. Weyergraf, Bernd: Der skeptische Bürger. Wielands Schriften zur Französischen Revolution, Stuttgart 1972; Fink, Gonthier-Louis: Wieland und die Französische Revolution, in: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien, hrsg. v. Richard Brinkmann u. a., Göttingen 1974, S. 5 – 38; Wipperfürth: Geschichtsphilosophische Reflexionen, S. 83 – 156.

314 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast zwei Überschriften lassen sich daran einige Topoi der Revolutionswahrnehmung zeigen: 1. Theatralität und Distanz, 2. politische Religion und Reichstradition. 1.1.1 Theatralität und Distanz Bei allem Revolutionsenthusiasmus verharrte Wieland von Beginn an in einer beobachtenden Haltung. Er begriff die Revolution als ,Schauspiel‘ und die Deutschen als ,Zuschauer‘, die von einer ähnlichen Entwicklung weit entfernt seien, durchaus aber von den Ereignissen lernen könnten. Die Theater- und Bühnenmetapher war im Nachdenken der Deutschen über die Revolution weit verbreitet.21 Mögen auch einige bedauert haben, nicht selbst im Auge des Sturms zu sein oder sogar als Revolutionstouristen die Reise nach Paris angetreten haben, um dem „herz- und sinn-erhebende[n] Schauspiel“22 ganz nah zu sein, die große Mehrheit der deutschen Intellektuellen sah das Reich und seine Territorien gerne in sicherer Distanz. Auch Campe lobt bezeichnenderweise die auf „Ruhe, Sicherheit und auf Vernunft gegründete[] Freiheit“ seines Landes, des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel, „wo man nichts von Despotismus weiß“ – und das durchaus nicht als ,Camouflage‘.23 Vielfach wurden die französischen Ereignisse von den deutschen Zeitgenossen gleichsam als ,nachträglicher Gehorsam‘ interpretiert: eine naturgemäße und gerechtfertigte Reaktion auf den französischen Despotismus,24 den es in Deutschland und dem restlichen Europa so nicht gegeben habe, weil die Stände dort despotische Bestrebungen früher in die Schranken gewiesen 21 Z. B. Kant: Der Streit der Fakultäten, in: AA, Bd. 7, S. 85. Vgl. Eberle, Friedrich/ Stammen, Theo: Einleitung. Deutschland und die Französische Revolution, in: dies. (Hrsg.): Die Französische Revolution in Deutschland. Zeitgenössische Texte deutscher Autoren, Stuttgart 1989, S. 13 – 46, hier S. 20. Zur weiten Wirkungsgeschichte dieser Metapher: Leiteritz, Christiane: Revolution als Schauspiel. Beiträge zur Geschichte einer Metapher innerhalb der europäisch-amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 1993. 22 Campe: Briefe aus Paris, S. 16 (4. Aug. 1789). Zu dieser Metapher Jägers Kommentar: ebd., S. 86 f. 23 Ebd., S. 80 und III. Vgl. Jägers Kommentar: ebd., S. 79. 24 So überliefert Friedrich Wilhelm von Hoven z. B. Schillers Meinung: „Er hielt die französische Revolution lediglich für die natürliche Folge der schlechten französischen Regierung, der Üppigkeit des Hofes und der Großen, der Demoralisation des französischen Volks, und für das Werk unzufriedener, ehrgeiziger und leidenschaftlicher Menschen […].“ Hoven, Friedrich Wilhelm: Biographie des Doctor Friedrich Wilhelm von Hoven […], herausgegeben von einem seiner Freunde und Verehrer, Nürnberg 1840, S. 134.

1. Schiffbruch mit Zuschauer: Die Perspektive aus dem Reich

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hätten. Was nun in Frankreich über die Beseitigung des Despotismus hinausging, galt hingegen als politisch-soziales ,Experiment‘ – neben dem Theater die zweite Leitmetapher25 –, von dem man lernen konnte, an dem direkt teilzuhaben aber kaum jemand wünschte. Wieland spricht bereits 1789 von „den tragikomischen oder komiktragischen Haupt= und Staatsaktionen“ Frankreichs und bezeichnet den 16. Juli, an dem Ludwig XVI. die Trikolore anerkennen musste und sich symbolisch an die Spitze der Revolutionäre stellte, als den Beginn „sentimentalische[r] Fastnachtspiele“26. Zweifellos hegt er große Sympathie für die konstitutionellen Bestrebungen innerhalb dieses „erstaunliche[n] Schauspiel[s]“27 und kritisiert mit ebendieser Metapher auch die unreflektierte Mehrheitsmeinung der Deutschen, welche die Revolution betrachten würden wie die Zuschauer einer „ungewöhnliche[n] Execution eines merkwürdigen Verbrechers“ oder einer „Tragödie von englisch teutscher Art und Kunst“28. Wieland selbst will nicht wie diese „mit jeder neuen Scene des Dramas“29 seine Meinung ändern, sondern die Zuschauerposition nutzen, um Frankreich, vor allem „Paris, de[n] Hauptschauplatz dieses großen Dramas“30, „unbefangen und unparteyisch anzusehen, als Leute die bey der Sache weder zu gewinnen noch zu verlieren haben“31. Aus dieser „objektiven“ Perspektive, in der Schauspiel- und Experimentmetapher verschmelzen, spricht sich Wieland emphatisch für die Revolution in Frankreich aus und hofft, dass dergleichen zu denken, „im heiligen Römischen Reich [keine] Ketzerey“ sei. […] es würde mir dem ungeachtet, mit allem patriotischen und Sokratischen Respect vor den Gesetzen meines Vaterlandes, schlechterdings unmöglich seyn, meine innere Überzeugung über diesen Punct zu vernichten.32

Wieland unterschätzt zu diesem Zeitpunkt noch die verändernde Kraft der Revolution und sieht sie auf dem Weg zu einem englischen Verfassungsmodell. Wie Schlözer wertet er die Bestrebungen der Generalstände und 25 Z. B. Kant: Streit der Fakultäten, in: AA, Bd. 7, S. 85. 26 Wieland: Kosmopolitische Adresse an die französische Nationalversammlung (1789), in: GS, Bd. 15, S. 316 und S. 327. 27 Wieland: Unparteyische Betrachtungen über die dermalige Staats=Revolution in Frankreich (Mai 1790), in: GS, Bd. 15, S. 337. 28 Ebd., S. 338. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 343. 31 Ebd., S. 338. 32 Ebd., S. 357.

316 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast anschließend der Nationalversammlung zunächst aus der Perspektive ständischer Traditionen. Im Gegensatz zum ,deutschen Reich‘, schreibt dieser, sei die Balance der unterschiedlichen Stände in Frankreich durch den starken Despotismus der Könige nachhaltig gestört worden.33 Wieland statuiert noch im Juni 1791, dass die französische Nationalversammlung nichts anderes getan habe, „als daß sie sich einen Theil der Rechte zueignete, welche die protestantischen Fürsten und Stände in Teutschland zu Zeit der Lutherischen Reformazion an sich gezogen haben, und bis diesen Tag auszuüben sich vollkommen berechtigt halten“34. Zudem müsste man wohl einige Querelen in Kauf nehmen, um eine fundamentale Verfassungsänderung möglich zu machen. So schlimm wie der Weg zum Westfälischen Frieden sei es ohnehin noch nicht gekommen: Aber selbst in den Momenten des lebhaftesten Eindrucks konnte ich mir doch nicht verbergen, daß z. B. der berühmte dreißigjährige Krieg, dem wir unsre Constituzion verdanken, der Teutschen Nazion, (welche die Narben der damahls empfangenen Wunden noch jetzt fühlt) unendlich mehr gekostet habe.35

Deutschland ist in Wielands Darstellung keineswegs eine verspätete Nation. Vielmehr holen die Stände in Frankreich zunächst das nach, was sie in den meisten Ländern Europas längst rechtlich verbrieft besitzen – dieses französische Defizit betonte er in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung schon in der Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten in Europa. 36 Kaum jemand forcierte diesen Gedanken so sehr wie der enthusiastische Reichspatriot und Staatsrechtler Carl Friedrich Häberlin 1793: Haben wir doch schon lange den immer blutigen und gefährlichen Kampf gekämpft, den unsre Nachbaren erst kämpfen müssen […]. Haben wir doch bereits eine Verfassung, die einer jeden an die Seite gestellt werden kann, ohne von ihr verdunkelt zu werden!37

Frankreichs Schritte Richtung Vernunft und Aufklärung, die über die deutschen Verhältnisse hinausgehen, sind für Wieland anregend, brandmarken Deutschland aber nicht mit dem Zeichen hoffnungsloser Rück33 Vgl. Peters: Altes Reich und Europa, S. 380 – 394, hier S. 384 f. 34 Wieland: Zusatz des Herausgebers zum Schreiben der Revolutions=Gesellschaft in London, in: GS, Bd. 15, S. 392. 35 Ebd., S. 396. 36 Vgl. in dieser Arbeit 2. Kap., 3.1.1 Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten (1758) und Der goldne Spiegel (1772). 37 Häberlin: Ueber die Güte, S. 4.

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ständigkeit. Im Reich wäre dergleichen dank des gesellschaftspolitisch höheren Niveaus durch Reformen besser zu erreichen als durch eine Revolution, lautet das immer wieder ausgesprochene Credo mit Rekurs auf den ,weisen Solon‘: Warum sollten wir so theuer und mit einem so ungeheurn Risiko erkaufen wollen, was wir wahrscheinlich ohne Empörung, ohne Desorganisation, ohne Verbrechen, ohne Aufopferung der gegenwärtigen Generazion von dem bloßen Fortschritt der Aufklärung und der Moralität unter uns weit sicherer hoffen dürfen?38

Seit Ende des Jahres 1791 lässt Wieland allerdings keinen Zweifel mehr daran, dass Frankreich von einem Extrem in das andere falle.39 Ausgerechnet die Nation mit den größten despotischen Auswüchsen überholt in kürzester Zeit seine Nachbarn auf der rechten bzw. radikal linken Spur. Waren die ersten Schritte in Wielands Interpretation gleichsam ein Erreichen dessen, was in den meisten Ländern Europas längst der Fall gewesen sei, bedeuten all jene, die selbst das englische Modell überschreiten, eine ungeheure Gefahr.40 Die Revolution wandelt sich nach der Wahrnehmung der meisten deutschen Intellektuellen von einem Krieg gegen den ungerechten Despotismus unter der Flagge der Aufklärung zur „Kriegserklärung an die Humanität des 18. Jahrhunderts“41 unter der Flagge der Barbarei. Ein Ausgleich mit den althergebrachten Formen des Staats, den aufgeklärten Fürsten und Regierenden, auf die die deutsche Aufklärung setzte, war nun unmöglich geworden. Wieland kommentiert dieses Umkippen aufmerksam und bescheinigt ihm eine pathologische Struktur. Höhepunkt der kollektiven Traumabewältigung ist für ihn die martialische Hinrichtung Ludwigs XVI. Vergleichbares sei, beruhigt der Aufklärer, im vielstaatlichen Reich schon allein deshalb undenkbar, weil die Könige und Fürsten dort nie so sakral verehrt wurden. In Frankreich aber sei die königliche Autorität lange „der Abgott der Nazion“ gewesen.42 Wieland 38 Wieland: Gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: GS, Bd. 15, S. 579 f. 39 Vgl. Goethe: Venezianische Epigramme, Nr. 53, in: MA, Bd. 3,2, S. 137: „Große gingen zu Grunde: wer aber schützte die Menge / Gegen die Menge? Da war Menge der Menge Tyrann.“ 40 „Zu den zwey Kammern nach dem Modell des Englischen Parlaments, die wir uns noch vor kurzem aus wahrem Wohlmeinen mit dem Französischen Volke träumen ließen, ist die Hoffnung also nun auf immer verschwunden!“ Wieland: Zufällige Gedanken über die Abschaffung des Erbadels in Frankreich (1790), in: GS, Bd. 15, S. 364. 41 Schings: Revolutionsetüden, S. 86. 42 Wieland: Gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: GS, Bd. 15, S. 567.

318 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast vergleicht (historisch schief ) den 21. Januar 1793 mit der öffentlich inszenierten Enthauptung der Serapis-Statue in Alexandrien: […] und eben dieser Serapis, vor wenig Minuten noch ein Gott vom ersten Rang in den Augen vieler Tausende, aber nun handgreiflich überwiesen, daß er nur ein elender Götze, der sich selbst nicht helfen könnte, war, wurde nun unter Schmähung und Verwünschungen durch die Straßen von Alexandrien geschleppt, und im Amfitheater, unter dem Jubel und Händeklatschen eben des Pöbels der noch kürzlich vor seiner Allmacht gezittert hatte, zu Asche verbrannt.43

In der Tat galten die Königsgräber in Saint-Denis aufgrund der religiösen Scheu vor den „wundertätigen Königen“ (Marc Bloch) bis in den Sommer 1792 als sicherster Ort für Schätze. Erst während des Sturms der Tuilerien vom 10. August wandelte sich die Scheu zum Ikonoklasmus: Die Statuen der großen Könige Heinrich IV., Ludwig XIV. und Ludwig XV. wurden von ihren Sockeln gerissen und vernichtet. Auf Beschluss des Konvents schändete das Volk schließlich im Sommer und Herbst 1793 die Königsgräber.44 Eine Anekdote, die noch im 19. Jahrhundert in deutschen Zeitschriften kolportiert wurde, berichtet freilich, dass auch während der Exhumierung die sakrale Verehrung des französischen Königtums fortwirkte: So habe ein Soldat dem einbalsamierten Körper König Heinrichs IV. den Knebelbart abgeschnitten, in der Hoffnung, dieser würde ihm im Kampf gegen die Feinde Frankreichs helfen.45 Noch die Verfassung vom 3. September 1791 hatte die ,inviolabilité‘ und Sakralität des Königs festgeschrieben und war damit im Rahmen jener verfassungsmäßigen Beschränkung geblieben, die auch den fortschrittlichsten Geistern in Deutschland als unumstößlich galt. Mit der Hinrichtung des Königs hatte sich ein unheilbarer Bruch, eine wahrhafte Revolution ereignet. Schiller selbst plante 1792/1793, den König in der 43 Ebd. Er unterschlägt, dass es sich 391 n. Chr. um eine christliche Verwüstung des hellenisch-ägyptischen Götterbilds handelte, also nicht um einen Umschlag von tiefem Glauben in respektlose Zerstörung. 44 Gresmann, Gudrun: Saint-Denis und der Totenkult der Restauration: Von der Rückeroberung eines königlichen Erinnerungsortes, in: Kulturelles Gedächtnis und interkulturelle Rezeption im europäischen Kontext, hrsg. v. Eva Dewes/Sandra Duhem, Berlin 2008, S. 139 – 158, hier S. 145 – 147; Leniaud, Jean-Michel: Der zweite Tod der französischen Könige oder: die damnatio memoriae, in: Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos. Ausstellungskatalog, Aachen 11. Juni – 3. Oktober 2000, Mainz 2000, Bd. 1, S. 690 – 698. 45 Vgl. diese Anekdote: Heinrichs IV. Bart, in: Der Freimüthige für Deutschland 234 (23. Nov. 1819), o. S.

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Versammlung gegenüber den „elenden Schindersknechte[n]“ zu verteidigen, konnte diesen Plan jedoch nicht mehr rechtzeitig realisieren.46 Auf die profunde Wirkung dieser Ereignisse wird noch einzugehen sein, vorerst gilt festzuhalten: Indem Wieland die Französische Revolution „als bloßes Schauspiel“47 betrachtet, wird zum einen die Erregung innerhalb der deutschen „Zuschauer“ erklär- und zugleich die entscheidende Botschaft formulierbar: Deutschland ist so wenig Frankreich, wie ein Zuschauer zugleich Schauspieler auf der Bühne! Der Beobachter kann von den Ereignissen, die er aus ästhetischer Distanz betrachtet, zum Wohle der Menschheit lernen, indem er die guten Elemente von den schlechten separiert und den „demokratischen Despotismus“ bzw. das „Elend der Anarchie“48 durch aufgeklärte Kultur und gemäßigte politische Reformen vermeidet. 1.1.2 Politische Religion und Reichstradition Wielands Perspektive auf Deutschland ist durchaus nicht unkritisch. Vorteilhaft nimmt sich für ihn der französische Wille zur Verbesserung der Verfassung gegenüber der deutschen Schläfrigkeit aus, die nicht zuletzt aus der Vielstaatlichkeit des Reichs herrühre.49 Die in Frankreich ventilierte neue Form der Politik ist aber mit dem Alten Reich zum ,Glück‘ aller Deutschen nicht zu vereinen. Klar erkennt Wieland den Wandel zu weltanschaulichen Parteiungen, deren Absolutheitsanspruch „eine Art von neuer politischer Religion“ sei. „Die Stifter und Verfechter dieser neuen Religion erkennen keine andere Gottheiten als Freyheit und Gleichheit“ und hätten die Maxime, „keinen andern Glauben neben sich zu dulden, mit Muhamed und den Theodosiern gemein.“50 Goethe versuchte später in seinem dramatischen Fragment Mahomet die Verwandtschaft von Religion 46 Schiller an Christian Gottfried Körner, 8. Febr. 1793, Nr. 151, in: NA, Bd. 26, S. 183. Dazu: Schings: Revolutionsetüden, S. 69 – 118; High, Jeffrey L.: Schillers Plan, Ludwig XVI. in Paris zu verteidigen, in: Jahrbuch der deutschen SchillerGesellschaft 39 (1995), S. 178 – 194. 47 Wieland: Gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: GS, Bd. 15, S. 568. 48 Wieland: Unparteyische Betrachtungen über die dermalige Staats=Revolution in Frankreich, in: GS, Bd. 15, S. 339. 49 „Wahrlich uns Teutschen steht es wohl an, der Nazional-Versammlung vorzuwerfen, daß sie – noch Nichts gethan habe! Möchten wir doch in unsern eigenen Busen greifen und – Doch davon wird erst in hundert Jahren Zeit zu reden seyn, und ich überlasse es einem künftigen Ur-Urenkel, diesen Perioden auszufüllen.“ Wieland: Zusatz des Herausgebers zum Auszug aus einem Schreiben eines Reisenden, in: GS, Bd. 15, S. 385. 50 Wieland: Gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: GS, Bd. 15, S. 576.

320 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast und politischer Macht auszugestalten und parallelisiert in der ebenso unvollendeten Tragödie Das Mädchen von Oberkirch den französischen Kultus der Vernunft mit dem Aberglauben einer Dorfgemeinschaft.51 Im Reich kann nach Goethes und Wielands Meinung eine solche Ideologie aufgrund der spezifischen Verfassung nicht verfangen. „Die Apostel der neuen Religion haben (wie es scheint) von unserm wirklichen Zustande nur sehr dürftige und verworrene Kenntnisse […].“52 Während die fehlende Hauptstadt bisher meist bedauert wurde, wird sie nun „gern“ ermangelt. Die „Deutsche Reichs= und Kreisverfassung“ sichere wie die „weltkundigen Reichsgrundgesetze“ den Weg zur friedlichen kulturellen und politischen Verbesserung:53 Aus diesem Unterschied der Nationalverfassungen erhofft sich Wieland, dass Deutschland von Frankreich lernen könne und dennoch bzw. gerade deswegen den ruhigen Weg der Evolution weiter beschreiten werde. Sein Plädoyer für das ,Allgemein Beste‘ und den ,Gemeinen Nutzen‘ verwehrt sich der den Gemeingeist zersetzenden Revolutionsideologie. Das Reich kann und muss einen anderen Weg einschlagen, denn, so die immer wieder geäußerte Befürchtung, Was sollte unsern großen Völker= und Staaten=Verein noch zusammenhalten, wenn das gewohnte alte Band, das nur enger und fester zusammengezogen zu werden braucht, einmahl zerrissen wäre?

„Wir würden“, daran lässt Wieland keinen Zweifel, durch eine Revoluzion wie die ihrige unwiederbringlich zersplittert, nur die Beute einiger großen Mächte werden, und mit dem Verlust unsrer Verfassung sogar unsern Nahmen aus dem Register der europäischen Nazionen verschwinden sehen.54

Im gleichen Jahr, 1794, veränderte Wieland das Ende seines Romans Der goldne Spiegel. Nicht mehr die tifanische Staatsutopie beschließt nun das Werk, sondern der Untergang des Ideals. Damit ist trotz der Volksrebellion und des Königsmords nicht Frankreich gemeint, das 1794 expandierte und keineswegs kurz vor der Auflösung stand, sondern das ,deutsche Reich‘. Wieland integriert die französischen Ereignisse in das reichspolitische Setting. Die Verfassung Tifans diminuiert analog der deutschen Reichsverfassung zur leeren Form und zum Instrument der Machtgier einzelner 51 Goethe: Das Mädchen von Oberkirch, in: MA, Bd. 4,1, S. 182 – 190; Goethe: Mahomet, in: MA, Bd. 4,2, S. 127 – 180. 52 Wieland: Gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: GS, Bd. 15, S. 580. 53 Ebd. 54 Wieland: Etwas zur Beruhigung der Patriotischen Bürger in *** (1794), in: GS, Bd. 15, S. 632.

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Großer, weshalb sie letztlich, man denke an die Frage nach der forma imperii, „bloßer Gegenstand akademischer Streitfragen“55 wurde. Wie es der Reichsverfassung nach Wielands Ansicht im Falle einer Revolution drohen würde, „fielen“, so berichtet der ,sinesische Übersetzer‘, in Scheschian, nachdem „das Reich von einer Menge Fakzionen zerrissen wurde“, die benachbarten Könige, nach einem geheim abgeredeten Plane, zu gleicher Zeit über das zerrüttete und an seinen selbstmörderischen Wunden sich verblutende Scheschian her, und bemächtigten sich, beynahe ohne Widerstand, der Provinzen, die sich ein jeder zu seinem Antheil ausbedungen hatte. Die unglücklichen Scheschianer, theils unter hundert fremde Völker zerstreut, theils stückweise den angrenzenden Staaten einverleibt, verloren mit ihrer politischen Existenz zugleich ihren uralten Nahmen.56

In dem Sendschreiben an Herrn Professor Ehlers in Kiel formulierte Wieland bereits 1792 sein Glaubensbekenntnis in Sachen Reich und Revolution: Lassen Sie uns also, Menschenfreund! die Sachen betrachten, wie sie sind, nicht wie sie scheinen. Lassen Sie uns glauben, daß das was in Frankreich nötig und gut war, allerdings in den meisten Staaten Teutschlandes unnötig und abscheulich seyn würde. Lassen Sie uns in solchen Staaten einer Seits das Volk überzeugen, daß es keinesweges in der Lage der Frankreicher sey, also zu ähnlichen Handlungen keine Veranlassung habe; daß es vielmehr unter milden gerechten Regierungen lebe, und seinen Zustand durch eine Revolution nicht verbessern, sondern verschlimmern würde. Lassen Sie uns aber auch auf der andern Seite die Fürsten nicht einschläfern, sie nicht vergessen machen, daß sie Pflichten für das Volk haben, daß sie um dessentwillen, nicht dieses um jener willen da ist. Lassen sie uns an der Verminderung der – obwaltenden Missbräuchen, an der Erweckung der Menschenliebe und an der Verbreitung der Aufklärung, der einzigen Quelle alles festen Menschenglücks und aller wohltätigen Revoluzionen, arbeiten.57

Während in Frankreich Despotismus waltete, der nur durch eine Revolution zu brechen war, gilt es in Deutschland die Missbräuche abzustellen, um den existierenden und guten Gesetzen Wirkung zu verschaffen. 55 Wieland: Goldner Spiegel, in: GS, Bd. 9, S. 312. Außerdem heißt es: „[…] wiewohl der Geist der Zeiten Tifans von Scheschian gewichen war, so hatte man doch die Sprache derselben beybehalten; und der Kanzleystyl jener Zeit blieb immer eben derselbe, auch nachdem es so weit gekommen war, dass man durch die wechselseitigen Komplimente, die der König dem Volke, und die Repräsentanten des Volkes dem Könige machten, des öffentlichen Elendes nur zu spotten schien.“ Ebd., S. 306. 56 Ebd., S. 323. 57 Wieland: Sendschreiben an Herrn Professor Ehlers in Kiel, in: GS, Bd. 15, S. 492 f.

322 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast 1.2 Herders Experimentum revolutionis und die höhere Haushaltung der Dinge Johann Gottfried Herder gilt in der Forschung als uneingeschränkter Sympathisant der Revolution. Wenn auch direkte Äußerungen zur Revolution spärlich gesät sind, dichtete er doch immerhin ein feierliches Epigramm auf den 14. Juli und geriet über seine adelsfeindlichen Äußerungen in Konflikt mit der Weimarer Herrschaft.58 Herders Wahrnehmung der Revolution muss allerdings, das ist zu wenig bedacht worden,59 vom Standpunkt seiner Geschichtsphilosophie aus betrachtet werden. „Leben wir nicht in besondern Zeiten u. müßen fast an die Apokalypse glauben? Wohin wird die höhere Haushaltung der Dinge dies alles entwickeln? quo tendimus? quo ruimus, fratres“60, schreibt er am 12. November 1792 an Gleim. In einer seiner frühesten Äußerungen zur Revolution, einem Brief an die Gräfin Stolberg-Stolberg am 8. November 1790, betont Herder sein großes Interesse an den französischen Vorgängen und beteuert das Ziel, „daraus und daran im Guten und Bösen zu lernen“61. „Doch was bekümmert uns Frankreich! uns Deutsche, die wir jetzt ein neues Oberhaupt, u. also den Kranz und Gipfel der besten Constitution haben“62, schließt er seinen Brief. Aus diesen Äußerungen lassen sich Wertungsprinzipien deduzieren, die Herders Einstellung zur Revolution ganz grundsätzlich prägen: 1. Die französischen Ereignisse werden (übrigens ebenso bei seiner Frau Caroline) unmittelbar in das geschichtsphilosophisch-metaphysische Weltbild der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit integriert. Daraus folgt konsequent, dass für die Menschheit nur Gewinn zu erwarten ist. Jedes Malum wird sich zu einem Bonum 58 Herder: Auf den 14. Juli 1790, in: SWS, Bd. 29, S. 659 f.; zu den Äußerungen Herders in Briefen: Arnold, Günter: Die Widerspiegelung der Französischen Revolution in Herders Korrespondenz, in: Impulse 3 (1981), S. 41 – 89; zum Konflikt mit dem Herzog in übertriebener Zuspitzung: Wilson: Das GoetheTabu, S. 252 – 281. 59 Vgl. Arnold: Französische Revolution, S. 51 f. Arnold weist darauf allerdings erst für die Zeit nach dem Umschwung der Revolution (1793) hin, Herders Äußerungen beinhalten den gleichen geschichtsphilosophischen Optimismus aber bereits zuvor. 60 Herder an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 12. Nov. 1792, Nr. 208, in: HB, Bd. 6, S. 292. Zum Begriff der ,göttlichen Haushaltung‘: Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre, S. 155 f. und 166 f. 61 Herder an Friederike Luise zu Stolberg-Stolberg, 8. November 1790, Nr. 14, in: HB, Bd. 6, S. 216. 62 Ebd.

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verkehren: „Auch hieraus aber, aus dieser Verwirrung der Töne muß sich was Großes u. Gutes ergeben; u. auch wir werden es noch erleben!“63 2. erklärt sich damit die Haltung Herders zum Reich: Aus den Ereignissen ist wie aus der Geschichte insgesamt zu lernen, das Erhaltenswerte zu übernehmen und das Fehlerhafte zu vermeiden. 3. wird mit dem vorderhand überraschenden Verweis auf die „beste Constitution“, die Reichsverfassung, der nationalcharakteristische Unterschied betont: Jede Nation entwickelt sich nach ihrem Wesenskern, deshalb ist eine Übertragung der Ereignisse auf Deutschland weder wünschenswert noch statthaft, wie umgekehrt der Eingriff in die französischen Verhältnisse durch alliierte Truppen ein Unding wäre. Herders zurückgehaltene Entwürfe zur ersten Sammlung der Briefe zu Beförderung der Humanität spiegeln genau diese Prämissen wider. Anders als in der Forschung meist behauptet, findet sich in den unterschiedlichen Figurenreden des 16., 17. und 18. Briefs kein grundsätzlicher Widerspruch, den man zugunsten des einen oder anderen Briefpartners entscheiden müsste,64 geht es Herder doch wie Schiller und Goethe gerade um die Überwindung des „erbitternden Parteigeist[es]“65. Seine Überzeugungen verteilen sich auf alle drei. Die Klimax vom 16. zum 18. Brief verläuft von der Zukunftsangst zur religiös begründeten Zuversicht. Nicht eine vorbehaltlose Begeisterung für die Französische Revolution kommt damit zum Ausdruck – vielmehr wird das optimistische Bewusstsein einer göttlichen Ordnung bestärkt, welche über die Menschheit wacht. M. und P. teilen die Meinung des ,konservativen‘ L., dass die französischen Ereignisse auf Deutschland nicht zu applizieren seien und Gutes in der Welt „nur durch eine bessere Erziehung bewirkt werden kann“66. M. verweist aber 63 Herder an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, vor dem 3. Mai 1793, Nr. 16, in: HB, Bd. 7, S. 38. 64 Z. B. Jäger, Hans-Wolf: Herder und die Französische Revolution, in: Johann Gottfried Herder. 1744 – 1803, hrsg. v. Gerhard Sauder, Hamburg 1987, S. 299 – 307, hier S. 304: „Will man daran zweifeln, dass P. ohne nennenswerte Abstriche die Stimme Herders selbst ist?“; Wild, Reiner: Naivität und Terror. Die Französische Revolution im Urteil des klassischen Weimar, in: Schreckensmythen – Hoffnungsbilder. Die Französische Revolution in der deutschen Literatur. Essays, hrsg. v. Harro Zimmermann, Frankfurt a.M. 1989, S. 47 – 80, hier S. 56: „So läßt er im 16. Brief einen Revolutionsgegner zu Wort kommen, um dann in der Maske des Briefpartners M., der bereits im 14. Brief die Berechtigung sozialer und politischer Umwälzungen verteidigt hatte –, für die Revolution zu sprechen.“ 65 Herder: Entwürfe zu den Briefen, in: FA, Bd. 7, S. 780. 66 Ebd., S. 779. Vgl. Brief 16: „Wäre dies; wie paßt die Hoffnung für uns in Deutschland? Wie paßt sie auf alle Nicht-Franzosen, die für jene Organisation

324 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast trotz der von L. betonten Gefahren auf den tröstenden Gedanken, „daß wir unter einer höheren Haushaltung leben, die auch aus dem Bösen das Gute, oft aus dem Schlimmsten das Beste zu ihrer Zeit zu bereiten weiß“67. Seine Einstellung entspricht der breiten deutschen Mehrheit: Die Fehler der französischen Regierung seit Ludwig XIV. fänden sich bei den „tausend Regierungen“ des Alten Reichs nicht, das Volk habe aufgrund der Vielstaatlichkeit nicht unter denselben „Übeln gelitten“68. Zudem sei schon an der Sprache erkennbar, wie unterschiedlich „der Deutsche und Französische Nationalcharakter“ seien. Ersterer tauge nicht für „das drückendere Joch der Volksherrschaft“69. Zugleich sei ein deutscher Eingriff in die französischen Vorgänge aber unverantwortlich, da diese in der Konsequenz der französischen Geschichte lägen.70 Wir können der französischen Revolution wie einem Schiffbruch auf offenem, fremdem Meer vom sicheren Ufer herab zusehen, falls unser böser Genius uns nicht selbst wider Willen ins Meer stürzte.71

„Wir wollen“, ist daher sein Credo, „an und von Frankreich lernen; nie aber und bis zur letzten großen Nationalversammlung der Welt am jüngsten Tage wird Deutschland ein Frankreich werden wollen und werden.“72 Mit derselben Intention nennt P. die Revolution ein „freie[s] Experiment einer eignen Nation“73, in welches man sich nicht einzumischen habe. Auch wenn es „der gewöhnlichen Theorie zuwider“74 sei, müsse der nationale Versuch einer einheitsstaatlichen Demokratie in dieser großen Dimension gestattet sein, so er dem Geist und dem Schicksal der jeweiligen Nation entspreche. Der Prinz von Augustenburg war nicht der Einzige, der

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nicht eben geschaffen zu sein scheinen? die eine Umwandlung der Dinge auf solchen Wegen weder wünschen noch je erlangen werden?“ Ebd. Ebd., S. 780. Ebd., S. 781. Ebd., S. 781 f. Vgl. ebd., S. 784. Besonders drastisch ist der Vergleich mit dem zu säubernden Königsstuhl im Sinne eines Abortstuhls. Ebd., S. 782. Von dieser Stelle ausgehend ist der Titel des Kapitels entstanden. Dazu: Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M. 1988, S. 45. Vgl. auch Wieland: „[…] zumahl da wir glücklich genug sind, von der Höhe eines sichern und ruhigen Ufers zuzusehen“, Wieland: Ausführliche Darstellung der in der Französischen Nazional=Versammlung am 26 u. 27 Novbr. 1790 vorgefallenen Debatten, in: GS, Bd. 15, S. 656. Herder: Entwürfe zu den Briefen, in: FA, Bd. 7, S. 784. Ebd., S. 786. Ebd., S. 785.

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fest davon ausging, dass eine demokratische Entwicklung Frankreichs zugleich die Verwandlung „in ein System federativer Staaten“75 bedeuten würde. Selbst Rousseau hatte sich ja 1772 getreu der Prinzipien seines Contrat Social bei einem Staat in der Größe Polens lediglich für eine Konföderation unter einem gewählten Monarchen ausgesprochen, die nach dem Vorbild der Eidgenossenschaft aus kleineren republikanischen Einheiten bestehen sollte: „Man entwickle das System der FöderativVerfassung, der einzigen, welche die Vorzüge der großen und kleinen Staaten vereinigt und darum allein für Polen geeignet ist.“76 Frankreich war daher in der Tat ein Experiment, das selbst mit avanciertesten Staatstheorien zu brechen schien. Auch die Figur P. aus Herders Entwürfen, deren Staatsvorstellung weit über die seiner Gesprächspartner hinausweist,77 plädiert deshalb nicht für eine deutsche Imitation des Projekts, sondern zieht wie M., dem er sich ausdrücklich anschließt,78 aus der göttlichen Seinsordnung das Vertrauen, die Menschheitsgeschichte werde, gleich welchen Ausgang das Experiment nimmt, sinnvoll bereichert werden. „In Deutschland können wir die Auflösung dieser Fragen mit großer Ruhe erwarten ….“, sagt er und unterstreicht den lehrhaften Charakter der Ereignisse: „Prüfend wollen wir diese Reformation, mit der die vor 200. Jahren geschah, vergleichen; und uns auch hieraus das beste merken.“79 P. schließt in geschichtsphilosophischer Perspektive gleichsam sub specie aeternitatis: „Die Menschheit ist älter und größer als Frankreich; sie wird genannt werden, wenn von der Ephemere dieser Revolution nicht mehr die Rede sein wird.“80 Alle drei Figuren folgern trotz ihrer divergierenden Einstellung zur Revolution für das Heilige Römische Reich dieselben Konsequenzen, die wiederum im Wesentlichen mit Wielands Positionen aus dem Teutschen Merkur übereinstimmen. Es ist daher nur ein gradueller, kein kategorialer 75 Zit. n. Schings: Revolutionsetüden, S. 72. 76 Rousseau, Jean-Jacques: Betrachtungen über die Verfassung Polens, in: ders.: Die Krisis der Kultur, hrsg. v. Paul Sakmann, 2. Aufl. Stuttgart 1956, S. 292 – 299, hier S. 297. Laut seinem Contrat Social setzt ein demokratischer Staat eine gesunde Proportion zwischen Souverän, Regierung und Untertan voraus, die nur in „sehr kleinen Staaten“ gegeben sei. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, S. 73. 77 Er spricht sich eindeutig für eine Republik aus, die keine gesetzmäßige Monarchie sein könne, da diese nur ein „unregelmäßiges Wanken von Einem zum Andern Pole“ sei. Herder: Entwürfe zu den Briefen, in: FA, Bd. 7, S. 785. 78 Ebd., S. 789. 79 Ebd., S. 787. 80 Ebd., S. 789.

326 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast Unterschied, wenn Goethe den politischen Unruhen im Reich literarisch zu Leibe rückt. 1.3 Politik als Beruf: Goethes literarischer Kampf gegen den politischen Dilettantismus Eckermann überliefert folgende Äußerung Goethes: ,Das Vernünftigste ist immer, daß jeder sein Metier treibe, wozu er geboren ist und was er gelernt hat, und daß er den Andern nicht hindere, das Seinige zu tun. Der Schuster bleibe bei seinem Leisten, der Bauer hinter dem Pfluge, und der Fürst wisse zu regieren. Denn dies ist auch ein Metier, das gelernt sein will, und das sich niemand anmaßen soll, der es nicht versteht.‘81

In gleicher Weise bezeichnet Goethe es 1814 als „billig“, dass die Deutschen die Fragen nach der (Wieder-)Vereinigung des „deutschen Reichs“ den „Großen, Mächtigen und Staatsweisen“ überlassen.82 Was er dort artikuliert, ist eine politische Grundeinstellung, die maßgeblich durch das System des Alten Reichs bedingt war. Politik betrieben Fürsten, Männer im Staatsdienst oder gelehrte Juristen, die durch ihr Studium qua Sachkenntnis und Amt dazu die Berechtigung erworben hatten. Politik war eine Sache von Professionalität und Legitimität. Nur konsequent ist es also, wenn er die Schwärmer der Revolutionszeit auf die Fachmänner im Reichsstaatsrecht und der Geschichtswissenschaft, hier den Göttinger Professor Ludwig Timotheus Spittler (1752 – 1810), verweist: Der Unterschied Unberufene Schwärmer! wir werden euch ewig verfolgen, Gehet zu Spittlern und lernt wie man Verfassung beschaut.83

Goethes Kampf gegen die künstlerischen Dilettanten à la Werther und Wilhelm Meister84 tritt der Kampf gegen den politischen Dilettantismus der Pfuscher und Schwärmer an die Seite.85 „Ich hasse alle Pfuscherei wie 81 Goethe: Gespräche mit Eckermann. 25. Feb. 1824, in: MA, Bd. 19, S. 83. 82 Goethe an Franz Bernhard von Buchholtz, 14. Februar 1814, Nr. 6748, in: WA, Abt. IV., Bd. 24, S. 151. 83 Goethe: Der Unterschied, in: MA, Bd. 4, 1, S. 682. 84 Vgl. Borchmeyer, Dieter: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Studienausgabe, Weinheim 1998, S. 340 ff. und 354 ff.; Borchmeyer: Goethe [Kap. „Die Tragödie des Dilettanten“], S. 66 – 94. 85 Vgl. Demetz, Peter: Goethes ,Die Aufgeregten‘. Zur Frage der politischen Dichtung in Deutschland, Hannoversch-Monden 1952; Borchmeyer: Goethe

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die Sünde“, soll er zu Eckermann gesagt haben, „besonders aber die Pfuscherei in Staatsangelegenheiten […].“86 Von hier aus lässt sich ein neuer Blick auf die Szene „Auerbachs Keller“ im Faust I bzw. im Urfaust werfen. Frosch singt dort die viel zitierten Worte: „Das liebe, heil’ge Röm’sche Reich, / Wie hält’s nur noch zusammen?“ und wird von Brander unterbrochen: „Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied! / Ein leidig Lied!“87 Wie Albrecht Schöne kommentiert, bezieht sich das „leidig“ nicht auf jedes politische Lied per se, sondern auf das „garstig Lied“ im Speziellen, das zu der feucht-fröhlichen Stimmung nicht recht passen will.88 Im Übrigen bedeutet das Lied keineswegs, dass das Reich bereits aufgelöst ist, wie es manche Kommentatoren nahelegen: „Dankt Gott mit jedem Morgen / Daß ihr nicht braucht fürs Röm’sche Reich zu sorgen!“, fährt Brander fort. In Faust I wird der Satz noch erweitert: „Ich halt’ es wenigstens für reichlichen Gewinn, / Daß ich nicht Kaiser oder Kanzler bin.“89 Um die Krise des Reichs kann und soll sich ein Trunkenbold90 nicht kümmern, dafür ist die Sache zum einen zu ernst und zum anderen obliegt diese Mühsal legitimerweise der Reichsobrigkeit. Goethe schreibt an dieser Stelle keine Satire über das Reich, sondern eine Satire über die politischen Sprücheklopfer in Wirtsstuben. Er schreibt auch nicht gegen das politische Gespräch an, das er von Berufs wegen genauso führte wie im Privaten.91 Dennoch machten die Verse als politischer Topos bei Zeitgenossen und Historikern eine eigene Karriere. Als Wieland 1797 „eine große, doch hoffentlich unblutige Umwälzung der deutschen Reichsverfassung“ herannahen sah, erinnerte er sich an Froschs Lied: „Diese Verwunderung war

86 87 88 89 90

91

[Kap. „Revolutionärer Dilettantismus“], S. 186 – 190; Jaeger: Fausts Kolonie, S. 92 ff. Goethe: Gespräche mit Eckermann. März 1832, in: MA, Bd. 19, S. 461. Goethe: Faust I, in: MA, Bd. 6,1, S. 592. Schöne, Albrecht: Faust. Kommentare, in: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, hrsg. v. Friedmar Apel u. a., I. Abt., Bd. 7/2, Frankfurt a.M. 1994, S. 278. Goethe: Faust I, in: MA, Bd. 6,1, S. 592. Schmid spricht in einer Rezension von 1792 von einer großartigen „Karikaturzeichnung der Trunkebolde“: Schmid, Christian Heinrich: Ueber die verschiedenen poetischen Behandlungen der Nationallegende vom Doctor Faust in deutscher Sprache, in: Journal von und für Deutschland 9, St. 8 (1792), S. 657 – 671, hier S. 669. Von politischen Gesprächen ist häufig die Rede, z. B. das Gespräch über die „Politik des heiligen Reichs“ mit Johannes Müller, 12. Oktober 1788, in: Goethe. Begegnungen und Gespräche, hrsg. v. Renate Grumbach, Bd. 3, Berlin/New York 1977, S. 244.

328 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast schon damahls sehr natürlich; und desto weniger hat man sich also zu verwundern daß es nun nicht länger zusammenhangen will, sondern wie ein aufgelöster Besen auseinanderfällt.“92 Wieland selbst hoffte in dieser Zeit auf die längst unvermeidliche Reichsreform: Jetzt sei die letzte Chance für die Obrigkeiten, eine solche selbständig durchzuführen.93 Goethes Mutter kam zwar mit den Figuren etwas durcheinander, betonte aber, dass die Frage Froschs erst 1805 wirklich gerechtfertigt sei: „Vor ohngefähr 20 Jahren sang Mefistovles im Doctor Faust – : Das liebe heilige Römische Reich – wie hälts nur noch zusammen?: Jetzt kan man es mit recht fragen.“94 Im Zeitalter der Französischen Revolution wuchs die Zahl dilettierender Politiker im Stile von Auerbachs Keller. Der ,Parteigeist‘ begann, so die Befürchtung, die Einheit des Reichs essentiell zu gefährden. In der Rahmengeschichte der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten zeigt Goethe die Folgen anhand des Streits zwischen dem Geheimrat als Vertreter des alten Systems und dem jugendlichen politischen Schwärmer Karl, der mit der Revolution sympathisiert.95 Die ideologischen Parteiungen zersetzen den Frieden bis hinein in die privatesten Zirkel. Charaktere wie Schnaps und Breme in den Revolutionsstücken Der Bürgergeneral und Die Aufgeregten gefährden nicht nur eine Gesprächsrunde, sondern die Ruhe und Ordnung einer ganzen Gemeinde bzw. einer mittelbaren Grafschaft im Reich. Im Anschluss an die Tradition der satirischen Komödie gibt Goethe die deutsche Variante der französischen Aufrührer der Lächerlichkeit preis.96 Die Gattungswahl ist damit zugleich Programm. Es sind lediglich Schwätzer und Sprücheklopfer – der Name „Schnaps“ im Bürgergeneral erinnert nicht von ungefähr an den Wein trinkenden Frosch in Auerbachs Keller. Seine revolutionäre Maskerade wirkt genauso unangemessen und aufgesetzt – nicht minder Bremes Überzeugung, dass in seinem Dorf „die Sonne der Freiheit“ aufgehe.97 Das Engagement beider Pseudorevolutionsführer wird durch ihre fehlende Weltkenntnis und ihre 92 Wieland an Heinrich Geßner, 25. Dez. 1797, Nr. 134, in: WBr, Bd. 14,1, S. 144. 93 Vgl. ebd.; in dieser Arbeit 5. Kap., 2.1 Wielands Traum von einem modernen Reichsstaat in den ,Gesprächen unter vier Augen‘. 94 Katharina Elisabeth Goethe an Goethe, 10. Oktober 1805, Nr. 368, in: Die Briefe der Frau Rath Goethe, hrsg. v. Albert Köster, Bd. 2, Leipzig 1905, S. 139. 95 Goethe: Unterhaltungen, in: MA, Bd. 4,1, S. 444 ff. 96 Vgl. zur Form: Wilson, W. Daniel: Dramen zum Thema der Französischen Revolution, in: Goethe-Handbuch, Bd. 2: Dramen, hrsg. v. Theo Buck, Stuttgart 1996, S. 258 – 287, hier S. 270 f. 97 Goethe: Die Aufgeregten, in: MA, Bd. 4,1, S. 169.

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niederen Beweggründe konterkariert: Schnaps’ „patriotische Contribution“ besteht denn auch in den Milchtöpfen Röses,98 und Breme stellt an seine Mitverschworenen gleich eine ganze Reihe eigennütziger Forderungen.99 In beiden Komödien sind es der Edelmann bzw. der Fürst, die Gräfin und der bürgerliche Hofrat, die sich zur Politik eignen, nicht aber der gemeine Mann, dessen primäres Interesse im Lokalen und Privaten liegt. Gezeigt wird das in satirischer Verzerrung durch Schnaps und Breme und in vorbildlicher Treuherzigkeit durch Görge und Röse. Goethe versuchte mit den literarischen Produktionen dieser Zeit, so der vielzitierte Satz, das „schrecklichste aller Ereignisse“, die Revolution, „in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen“100. Er bezog sich dabei aber mindestens so sehr auf Deutschland wie auf Frankreich. Während der Bürgergeneral, Die Aufgeregten, die Unterhaltungen und Hermann und Dorothea unverkennbar innerhalb des Reichs spielen, sind die in Frankreich situierten Handlungen des Groß-Cophta und der Natürlichen Tochter ohne jedes Lokalkolorit gezeichnet. Im Groß-Cophta wird sogar der französische König durch einen anonymen und gut ins Reich transferierbaren ,Fürsten‘ ersetzt, während die dramatis personae in der Natürlichen Tochter ohnehin typisierte Namen wie ,König‘, ,Graf‘, ,Gerichtsrat‘, ,Äbtissin‘ erhalten. Zwar war jedem Leser bewusst, dass die Halsbandaffäre genauso wie die Geschichte des Hochstaplers Cagliostro in Frankreich spielten, doch erhalten die Werke erst durch ihre Verallgemeinerung einen appellativen Charakter für Deutschland. In keinem dieser Stücke wird der Reichsbezug so deutlich wie in der Fragment gebliebenen Komödie Die Aufgeregten. Wilson weist darauf hin, dass der Aufstand der Ilmenauer Bauern wie die Jenaer Studentenunruhen als politischer Hintergrund für Goethes „Propaganda-Drama“ in Frage kommen.101 1792 rief die Erhöhung der Straßensteuer in Ilmenau Widerstand hervor, da sie nach Ansicht der Bauern einem alten Abkommen mit den Untertanen widersprach.102 In der Tat erfährt die Gräfin im Drama ebenso, dass die Straßenarbeiten aus Protest niedergelegt wurden.103 Daran anschließend scheint jedoch auch der von der Forschung nicht registrierte Umstand von großer Bedeutung, dass offensichtlich auch der Reichs98 99 100 101

Goethe: Der Bürgergeneral, in: MA, Bd. 4,1, S. 130. Goethe: Die Aufgeregten, in: MA, Bd. 4,1, S. 150. Goethe: Zur Morphologie, in: MA, Bd. 12, S. 308. Wilson: Goethe-Tabu, S. 169; Wilson: Dramen zum Thema der Französischen Revolution. 102 Wilson: Goethe-Tabu, S. 169. 103 Vgl. Goethe: Die Aufgeregten, in: MA, Bd. 4,1, S. 153 f.

330 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast kammergerichtsprozess gegen die Bürgerschaft von Ilmenau in das Drama eingegangen ist. Gerade das verleiht der Komödie ihre reichspolitische Brisanz. 1768 hatte die Bürgerschaft sowohl gegen Herzogin Anna Amalia in ihrer Vormundfunktion für Carl August als auch gegen die Regierung Sachsen-Weimars sowie den Rat der Stadt Ilmenau Klage am Reichskammergericht erhoben.104 Im Hintergrund standen die Missstände in der Steuerverwaltung und die Unzufriedenheit mit der oligarchischen Ratsverfassung. Auslöser war der Dissens über den von der Weimarer Herrschaft unterstützten Bürgermeister Heinrich Ernst Hartung, dem die Bürgerschaft die Veruntreuung von Geldern vorwarf. Die Herzogin reagierte mit militärischem Eingreifen und Inhaftierungen. Offenbar versuchte die Landesherrschaft, gegen die ungewünschte Appellation hart vorzugehen, denn die Kläger am Reichskammergericht forderten schließlich Schutz vor Repressionen. Das vorläufige Urteil der Wetzlarer Reichsinstitution von 1772 fiel zugunsten der Bürgerschaft aus. 1779, nun also bereits während Goethes Amtszeit, griffen Kanzler Schmidt und Regierungsrat Hetzer den ungelösten Prozess wieder auf und forderten von der Bürgerschaft die Rücknahme ihrer Klage. Der Streit endete schließlich in einem gütlichen Vergleich. 1783 bedankten sich die Ilmenauer für die Absetzung des korrupten Steuereinnehmers, des Ratsherrn Georg Friedrich Gruner, womit die Auseinandersetzung endgültig als beigelegt galt.105 Goethe war nicht direkt an den Vorgängen beteiligt, bezeugte aber großes Interesse. Von seinem ,Schützling‘ Johann Friedrich Krafft wünschte er sich ausführliche Berichte über den ,Bürgerstreit‘: „Fahren sie fort, mir alles zu melden; ist gleich nicht sobald und durchaus zu helfen, so giebts einem doch mancherlei Ideen.“106 Krafft schilderte nicht nur den Prozess und seine Lösung im Detail, er skizzierte zugleich das Ideal einer guten Regierung im Sinne seines Vorbilds Friedrichs II. und stellte diesem die Gefahren einer „verkehrten Regierung“ gegenüber.107 Welche ,Ideen‘ waren Goethe bei diesen Schilderungen gekommen? Die Vorgänge gleichen dem Stück Die Aufgeregten zumindest in groben Zügen: Die Bürgerschaft bzw. 104 Vgl. hierzu und zum Weiteren: Nr. 126, in: Inventar der Prozeßakten des Reichskammergerichts in den Thüringischen Staatsarchiven, bearb. v. Torsten Fried, Weimar 1997; Diezel, Rudolf: Goethes geheimnisvoller Schützling Johann Friedrich Krafft, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 94 (1990), S. 23 – 44. 105 Diezel: Goethes geheimnisvoller Schützling, S. 36. 106 Goethe an Johann Friedrich Krafft, 23. Juni 1779, Nr. 827, in: WA, Abt. IV, Bd. 4, S. 42 f. Dazu: Diezel: Goethes geheimnisvoller Schützling, S. 37. 107 Die Berichte Kraffts sind im Goethe-und-Schiller-Archiv überliefert, hierzu die Darstellung: ebd., S. 35 – 37.

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die Bauern protestieren wegen verweigerter Rechte, sie prozessieren schließlich am Reichskammergericht, müssen sich aber bis zu einem endgültigen Urteil schrecklich lange gedulden und legen den Streit schließlich in einem Vergleich mit der Herrschaft bei, der die Bestrafung eines korrupten Amtsträgers beinhaltet – ein, so wird man sagen dürfen, durchaus reichstypischer Ablauf. Das von Krafft angeführte Fürstenideal findet sich cum grano salis in den von Goethe später als politisches Glaubensbekenntnis108 bezeichneten Aussagen der Gräfin wieder. Welche Rolle erhält nun der Reichskammergerichtsprozess in der Komödie? Bremes Bericht fasst die vorausgehenden rechtlichen und politischen Ereignisse zusammen: Ihr wißt, daß die Gemeinden schon vierzig Jahre lang mit der Herrschaft einen Prozeß führen, der auf langen Umwegen endlich nach Wetzlar gelangt ist, und von dort den Weg nicht zurück finden kann. Der Gutsherr verlangt Fronen und andere Dienste, die ihr verweigert, und mit Recht verweigert: denn es ist ein Rezeß geschlossen worden mit dem Großvater unsers jungen Grafen – Gott erhalt’ ihn! – der sich diese Nacht eine erschreckliche Brausche gefallen hat.109

Die Bezüge zum Ilmenauer-Streit 1792 (die Verweigerung der Fronarbeit) und 1768/1772 (Prozess am Reichskammergericht) sind nicht von der Hand zu weisen – auch die Gräfin der Aufgeregten agiert im Übrigen als Vormund für ihren Sohn.110 Natürlich muss auch an den bereits geschilderten Reichshofratsprozess um den Zillbacher Forst erinnert werden: einen Rechtsstreit mit Untertanen um verweigerte Privilegien, der mit einem gütlichen Vergleich beigelegt wurde.111 Peter Demetz’ Interpretation, es handle sich bei der Anspielung auf das Reichskammergericht schlicht um eine Parodie der kafkaesken Zustände des „korrupten Gerichtshof[s]“ in Wetzlar, greift zu kurz.112 Wie schon im Götz von Berlichingen ist das Reichsgericht durchaus nicht so negativ gezeichnet, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Wohl müssen sich die Kläger in der Tat auf eine lange Wartezeit gefasst machen, doch ist der Prozess noch anhängig 108 109 110 111

Goethe: Gespräche mit Eckermann. 4. Januar 1824, in: MA, Bd. 19, S. 493. Goethe: Die Aufgeregten, in: MA, Bd. 4,1, S. 145. Vgl. ebd., S. 146. Vgl. in dieser Arbeit 1. Kap., 2. Politische Lebenswelt: Goethes Karriere im Alten Reich. 112 Demetz: ,Die Aufgeregten‘, S. 18 ff., Zitat S. 20. In der Forschungsliteratur wird der Reichskammergerichtsprozess sonst nicht in die Interpretation einbezogen, vgl. etwa: Roth, Wolfgang: Goethes Revolutionsdramen, in: ders.: Deutsche Revolutionsdramatik seit Goethe, Darmstadt 1989, S. 21 – 44, hier S. 29 – 35.

332 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast und die Beteiligten – mit Ausnahme der Aufwiegler Breme und Albert – vertrauen durchaus auf denselben: „Macht nur daß unser Prozess bald aus wird“113, fordert Peter den Revolutionär auf. Ärgerlich lamentiert der korrupte Amtmann, dass die Bürger ihre Arbeit niedergelegt hätten, um den Streit „auf das Eifrigste“ „vor dem Kaiserlichen Reichskammergericht“ zu „betreiben“114. Die Gräfin selbst setzt von vornherein auf einen „leidliche[n] Vergleich“, den sie aber aufgrund ihrer Rolle als Vormund nicht durchsetzen kann. Den Hofrat bittet sie, „[…] diesem unangenehmen Prozesse ein Ende [zu] machen“115. Der Rechtsweg über das Reichskammergericht bzw. der gütliche Vergleich beider Parteien – Letzterer kam nicht selten erst dann zustande, wenn Untertanen gegen ihre Herrschaft klagten oder drohten, es zu tun – wird in den Aufgeregten nicht negativ geschildert, sondern vielmehr als friedliche Konfliktlösung der Rebellion Bremes positiv gegenüberstellt. Darin spiegelt sich zweierlei: zum einen die konkrete Erfahrung mit dem Reichskammergerichtsprozess der Bürgerschaft von Ilmenau, wie er Goethe von Krafft übermittelt wurde, und zum anderen sein pragmatisches Verhältnis zum Reich, dessen Rechtsordnung und Institutionen er durchaus nicht unkritisch sah, denen er aber zugleich ein heilsames Einwirken auf den Frieden im Reich zuerkannte. Im Übrigen vertraut selbst der Feuerkopf Breme auf die territoriale Obrigkeit und den Kaiser. Seine Bereitschaft, der Gemeinde Gerechtigkeit zu verschaffen, stellt er unter Beweis, indem er beteuert, genauso mutig „vor den Kaiser“ zu treten, „wenn’s Ernst gilt“116. Vorbilder sind nicht Robespierre oder Danton, sondern Joseph II. und Friedrich II., die „beiden Monarchen welche alle wahre Demokraten als ihre Heiligen anbeten sollten“117. Dieser gloriose Satz wirkt freilich aus heutiger Sicht widersprüchlicher als im 18. Jahrhundert, galten doch beide Monarchen als große Modernisierer und ihr ,aufgeklärter Absolutismus‘ als deutsches Äquivalent zur Französischen Revolution. Vor allem aber vertraut Breme auf seinen Landesherrn, der sich selbst gegen die „Unbilligkeit des Adels, über die Langweiligkeit der Prozesse, über die Schikane der Gerichtshalter und Advokaten oft genug deutlich und stark erklärt“ habe, ja der „selbst eine Revolution wünscht“118. Breme überführt hier seine eigene Revolution des Irrtums: 113 114 115 116 117 118

Goethe: Die Aufgeregten, in: MA, Bd. 4,1, S. 146. Ebd., S. 154. Kursivierung M. H. Ebd., S. 155 und 160. Ebd., S. 164. Ebd., S. 168. Ebd., S. 149 und 168.

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Alles, was sich die Gemeinde wünschen könnte, wäre mit friedlichen Mitteln leichter zu erreichen als mit einer Rebellion. Zugleich enthalten diese Passagen andeutungsweise jene Argumente, die Wieland und andere anführten, um eine Revolution in Deutschland für unmöglich und unnötig zu erklären: Die Kleinräumigkeit der Herrschaften (Grafschaft, Fürstentum) ist hier genauso zu nennen wie die gerechte, landesväterliche Regierung sowie der Schutz vor Despotismus durch die ,komplementäre Staatlichkeit‘ der Reichsverfassung. Kritik am bestehenden Reich wird dadurch nicht unter den Tisch gekehrt: die Schwierigkeiten des mit Prozessen überhäuften Reichskammergerichts etwa, die Korruption der Amtsmänner innerhalb der Territorien, vor allem aber das eigennützige Verhalten vieler Adliger, das die Gräfin anprangert und das der Baron bei seinen Verführungsversuchen schändlich vor Augen führt.119 Das politische Schlussbild der Aufgeregten ist somit deckungsgleich mit dem des Bürgergenerals: Ein friedliches Fürstentum mit einer landesväterlichen Regierung – man könnte hinzufügen: wie es der Reichsverband idealiter sichert – ist reformfähig und benötigt keine Revolution.120 Bündig unterstreicht Hermann im Hochzeitsschwur des idyllischen Epos als Antwort auf die Gefährdung der „Grundgesetze“ „der festesten Staaten“ in diesen „schwankenden Zeiten“ den Reichskontrast: Nicht dem Deutschen geziemt es, die fürchterliche Bewegung Fortzuleiten, und auch zu wanken hierin und dorthin. Dies ist unser! So laß uns sagen und so es behaupten!121

119 „Seitdem ich aber bemerkt habe, wie sich Unbilligkeit von Geschlecht zu Geschlecht so leicht aufhäuft, wie großmütige Handlungen meistenteils nur persönlich sind und der Eigennutz allein gleichsam erblich wird […].“ Ebd., S. 160. Zum Baron siehe den Dritten Auftritt: ebd., S. 136 ff. 120 „In einem Lande, wo der Fürst sich vor niemand verschließt; wo alle Stände billig gegeneinander denken; wo niemand gehindert ist, in seiner Art tätig zu sein; wo nützliche Einsichten und Kenntnisse allgemein verbreitet sind; da werden keine Parteien entstehen. Was in der Welt geschieht, wird Aufmerksamkeit erregen; aber aufrührerische Gesinnungen ganzer Nationen werden keinen Einfluß haben.“ Goethe: Der Bürgergeneral, in: MA, Bd. 4,1, S. 129. 121 Goethe: Hermann und Dorothea, in: MA, Bd. 4,1, S. 629.

334 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast

2. Wielands Verfassungspatriotismus in der Vorrede zum Historischen Calender für Damen (1792) Kein deutscher Dichter von Rang setzte sich während der Französischen Revolution so ausgiebig mit den Vor- und Nachteilen der Reichsverfassung auseinander wie Christoph Martin Wieland. Seine reichspatriotischen Schriften von 1792 und Anfang 1793 waren Teil einer ,reichspublicistischen‘ Offensive, die paradoxerweise ausgerechnet in der größten und letzten Krise des Reichs zu einem bis dato ungekannten Anschwellen reichspatriotischer Bekenntnisse führte.122 In die Hochliteratur fanden sie keinen direkten Eingang. Für literarische Manifestationen dieser Art müsste man populäre und vergessene Werke heranziehen, wie z. B. August Wilhelm Ifflands Friedrich von Österreich (1791) oder Johann Christoph Röhlings Reise eines Marsbewohners auf die Erde (1791) – beide aus Anlass des Führungswechsels an der Spitze des Reichs verfasst. Julius von Soden, preußischer Gesandter am fränkischen Kreistag, bekannter ,Reichspublicist‘ und Literat, hoffte in einer Flugschrift, dass mit Leopold II. die „Konstitution“ bewahrt und Reichsgesetze wie Landesgesetze endlich eingehalten werden. Das Vertrauen der Reichsstände in den Kaiser sowie Frieden und Ruhe für ,Germanien‘ könnten nun endlich zurückkehren, der Despotismus vertrieben und die „Reichs=Versammlung“ gestärkt werden. Von einem „Wieder=Erwachen des Nationalgeists“ und der „Bereitwilligkeit der Einzelnen zu Opfern für die Nation“ ist sogar die Rede.123 Diese hier ungewöhnlich starke Begeisterung für den neuen Kaiser Leopold II., der für die Toskana eine allerdings nie in Kraft getretene hochmoderne Verfassung ausgearbeitet hatte, ist von großer Bedeutung, will man die Reaktion der deutschen Intellektuellen auf die Französische Revolution verstehen: Der großen Veränderung in Frankreich schien bald eine deutsche renovatio imperii an die Seite treten zu können, die dem andersgearteten Nationalcharakter mehr entspräche und eine Verbesserung ohne Turbulenzen verhieß. Leopold II. und schon bald Karl Theodor von Dalberg als Coadjutor von Mainz und künftiger Erzkanzler waren seit Beginn der 1790er-Jahre die reichspolitischen Hoffnungsträger der deut-

122 Stolleis: Reichspublizistik und Reichspatriotismus; Waldmann: Reichspatriotismus. 123 Soden, Julius v.: Germaniens Schuzgeist an Leopold den Zweyten. Pendant zu der Schrift: Deutschland muss einen Kaiser haben, o. O. 1790.

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schen Intellektuellen.124 Der Kaiser galt Herder als „Kranz und Gipfel der besten Constitution“125, und Wieland verweigerte sich zwar der Einladung La Roches, zur Krönungsfeier nach Frankfurt zu reisen, schloss seinen Brief aber mit hoffnungsvollen Worten: Indessen augurire ich doch dem teutschen Reich von unserm neuen Augustus viel Gutes, und besonders den Segen eines langen Friedens, das Beste, was wir dermalen von diesen großen Entscheidern des Glücks oder Unglücks der übrigen Menschen […] verlangen und erwarten können.126

Röhling lässt seinen Marsbewohner die bedeutsame Wahl treffen, nach Paris oder Frankfurt zu wandern: „Dort setzt man Könige ab, hier setzt man sie ein.“127 Natürlich wählt er Frankfurt. Anlässlich der Kaiserwahlen 1790 und 1792 entbrannte eine intensive Diskussion um die Reichsverfassung. Besonders die Umgestaltung der Wahlkapitulation machte es möglich, einen an den jüngsten Erfahrungen geschulten Konstitutionsbegriff in die Reichsverfassung einzuschreiben: In dieser Reformdiskussion verbanden sich nationalistisch-patriotische und konstitutionelle Bestrebungen auf das Engste mit der Reichstradition.128 Ob Wieland Reformschriften dieser Art gelesen hat, ist nicht bekannt. Der Dichterjurist Renatus Karl von Senckenberg war ihm zumindest nicht unbekannt.129 Allgemeine Lobredner der Verfassung, die sich an die breite Öffentlichkeit richteten, flankierten die fachlich höchst differenzierte Reformdiskussion. Carl Friedrich Häberlin war mit seiner programmatischen Schrift Ueber die Güte der deutschen Staatsverfassung vom Januar 1793 wohl ihr avanciertester staatsrechtlicher Vertreter. Er wollte eine öffentlichkeitswirksame Debatte führen. Das Augenmerk sollte auf die Qualität der 124 Aretin: Das Alte Reich, Bd. 3, S. 371 ff.; Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 422. 125 Herder an Friederike Luise Gräfin zu Stolberg-Stolberg, 8. November 1790, Nr. 140, in: HB, Bd. 6, S. 216. 126 Wieland an La Roche, 8. Okt. 1790, Nr. 500, in: WBr, Bd. 10,1, S. 406. Vgl. auch Wieland an Heinrich Philipp Karl Bossler (?), 10. Mai 1790, Nr. 419, in: WBr, Bd. 10,1, S. 346. 127 [Röhling]: Reise eines Marsbewohners, S. 10. 128 Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 384 – 443. 129 Vgl. Senkenberg, Renatus Karl: Gedanken über verschiedene Paragraphen der Kaiserlichen Wahlkapitulation […], Eleutheropolis 1790; Klüber, Johann Ludwig: Systematischer Entwurf der kaiserlichen Wahlcapitulation mit Zusätzen und Veränderungen, Frankfurt/Leipzig 1790. Vgl. Renatus Leopold Christian Karl von Senckenberg an Wieland, 10. Dezember 1779, Nr. 280, in: WBr, Bd. 7,1, S. 248; Juni ? 1780, Nr. 328, in: ebd., S. 285; 2. Januar 1781, Nr. 379, in: ebd., S. 323.

336 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast Verfassung gerichtet sein, um „Liebe und Achtung“ für sie bei den Bürgern zu erwecken. Erst der französische Aufklärer und gemäßigte Revolutionär Honoré-Gabriel Riqueti Comte de Mirabeau habe in seiner Geschichte Preußens den Anstoß dazu gegeben, Wieland sei ihm in seiner Vorrede zu Schillers Historischem Kalender für das Jahr 1792 gefolgt, ebenso Johann Adolph Friedrich Randel in den Annalen der Staatskräfte von Europa. 130 „[S]chärfer wie noch ein Deutscher gethan“, schreibt Gerhard Anton von Halem den Ursprung von Häberlins Reihe bestätigend, habe Mirabeau „die Vortheile und Nachtheile unserer deutschen Verfassung abgewogen.“131 Wielands reichspolitische Schriften stehen unverkennbar in diesem doppelten Kontext aus reichspatriotischer Erwartung an den Machtantritt Leopolds II. und Mirabeaus Lob der Reichsverfassung bzw. Randels statistisch begründetem Patriotismus, dessen Aussage, kein Reich in Europa übertreffe Deutschland an Größe, Kraft und Lage, er sogar wörtlich zitiert.132 In der Vorrede heißt es 1792: […] seit mehreren Jahrhunderten haben die Fürsten und Stände des Deutschen Reichs kein Oberhaupt an ihrer Spitze gesehen, welches die großen Eigenschaften und Tugenden, die des ersten Thrones der Welt würdig und das Glück der Nation zu fördern und zu befestigen am geschicktesten sind, in einem so hohen Grade besessen hätte als Kaiser Leopold der Zweyte, und nie hat Germanien von dem Einflusse des Geistes seines Königs, und von dessen, in einträchtiger Verbindung mit seinen übrigen Fürsten, zum gemeinen Besten wirksamen Thätigkeit sich soviel Gutes zu versprechen gehabt.133

Die „ziemlich erschlafften Bande“ würden nun endlich wieder „fester zusammen gezogen“134. Von einem ,quietistischen Patriotismus‘ zu sprechen, der aus Angst vor einer Revolution den status quo sanktifiziere,135

130 Häberlin: Ueber die Güte, S. 7 f. 131 Halem, Gerhard Anton von: Blicke auf einen Theil Deutschlands, der Schweiz und Frankreichs bey einer Reise vom Jahre 1790, Hamburg 1791, neu hrsg. v. Wolfgang Griep/Cord Sieberns, Bremen 1990, S. 205. Vgl. zu Halem: Randig, Christina: Aufklärung und Religion. Gerhard Anton von Halem (1752 – 1819). Publikationen – Korrespondenzen – Sozietäten, Göttingen 2007, hier S. 187. 132 Wieland: Gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: GS, Bd. 15, S. 581. 133 Wieland: Vorrede zu: Historischer Calender für Damen. 1792, in: GS, Bd. 23, S. 388. 134 Ebd., S. 391. 135 Vgl. Schmidt, Alexander: Ein Vaterland ohne Patrioten? Die Krise des Reichspatriotismus im 18. Jahrhundert, in: Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität?, hrsg. v. Georg Schmidt,

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verkennt evident die Absicht von Wielands Schriften, auch wenn der plötzliche Tod Kaiser Leopolds II. die hier dokumentierte Euphorie schon bald erstickte. Sein Ziel ist es, zur „Erhaltung, und noch mehr zu möglichster Vervollkommnung unsrer ebenso glücklichen als in ihrer Art einzigen Verfassung“136 beizutragen. Wielands Schriften im Teutschen Merkur von 1793 (Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes und Über deutschen Patriotismus) richten sich aber wie die Vorrede nicht primär an Reichsjuristen und Staatsmänner, sondern an das deutsche ,Volk‘. Aus diesem Grund spielen Reformgedanken auch kaum eine Rolle. Er ignoriert keineswegs den kategorialen Unterschied des Reichs zum vielstaatlichen Griechenland oder der römischen Republik: Von den „mittelbaren Bürgen“ könne kaum erwartet werden, dass sie den „Zusammenhang des Wohlstandes ihres besondern Vaterlandes mit der Erhaltung der allgemeinen Verfassung Germaniens“ einsähen oder gar einen „in keinen besondern Beziehungen mit ihnen stehenden Theil[] des Deutschen Reiches“137 verteidigen wollen. Anders hingegen die eigentlichen „cives“ der „freyen Republik“ Deutschland,138 die „unmittelbaren Stände des Deutschen Reiches“139 also. An sie sind patriotische Appelle sowohl zur Reichsverteidigung als auch zur Reichsreform am Platz.140 Schon das Motto seines Aufsatzes Betrachtungen über die gegenwärtigen Lage des Vaterlandes, „Videant consules ne quid res publica detrimenti capiat“141, impliziert die Aufforderung an die Fürsten, Reformen durchzuführen. Der römische Senat erteilte angeblich mit dieser Formel als sogenanntes senatus consultum ultimum den Konsuln im Staatsnotstand diktatorische Voll-

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München 2010, S. 35 – 64; Sahmland: Wieland und die deutsche Nation, S. 172, 185, 216 f.; Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 211. Wieland: Vorrede zu: Historischer Calender für Damen. 1792, in: GS, Bd. 23, S. 387. Wieland: Über deutschen Patriotismus, in: GS, Bd. 15, S. 594. Wieland: Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten, in: GS, Bd. 4, S. 439. Wieland: Über deutschen Patriotismus, in: GS, Bd. 15, S. 594. „Dieß war der Fall der Griechen, als sie von Darius und Xerxes angegriffen wurden: dieß ist der Fall, worin sich gegenwärtig wo nicht alle, doch unstreitig 99/100 der Deutschen Reichsstände befinden. Beider Lage ist in dieser Rücksicht gleich: sollte man sich nicht billig wundern, wenn gleiche Ursachen nicht auch hier gleiche Wirkungen hervorbingen sollten?“ Wieland: Über deutschen Patriotismus, in: GS, Bd. 15, S. 594 f. Wieland: Gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: GS, Bd. 15, S. 558.

338 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast machten.142 Von einem solchen ging Wieland offenkundig aus. Seine Reformgedanken verbannte er aber im wörtlichen Sinne in die Fußnoten: Der Weg zum ,Gemein Besten‘ sei „eine (höchst nöthige) Reformazion unsrer Verfassung, nicht eine sinnlose Umkehrung und Zerstörung derselben“143, heißt es dort. Im Text der Vorrede liest man dementsprechend: Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, was für Mittel die unmittelbaren Stände des Reichs als die constitutionsmäßigen Repräsentanten der Nation, vielleicht in den Händen hätten, diesem Übel mit vereinigten Kräften zu steuern und abzuhelfen.144

Der Adressat seiner Schriften musste nicht zu Reichsreform oder Reichskrieg ermuntert werden – das war Sache der Reichsunmittelbaren wie der ,Berufspolitiker‘.145 Leserin und Leser sollten vielmehr von dem Wert der Reichsverfassung überzeugt werden, wiewohl sie nur mittelbar in Beziehung zu ihr standen. Die „Zertheilung des Deutschen Reichs“, so konstatiert Wieland in der Vorrede, sei zwar ein machtpolitisches Manko, das den Wohlstand durchaus hemmen könne146 und die Reichsverteidigung deutlich erschwere.147 Zugleich sei aber offenkundig,

142 Der neue Büchmann. Geflügelte Worte, gesammelt und erläutert von Georg Büchmann, bearbeitet und weitergeführt v. Eberhard Urban u. a., München 2007, S. 383. 143 Wieland: Gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: GS, Bd. 15, S. 581. Ebenso bereits zuvor die Fußnote über den Despotismus in manchen Territorien: „Aber das alles, und was hierüber noch in einem dicken Buche zu sagen wäre, wenn man ins Besondere gehen wollte, beweist nur, dass wir noch nicht da sind, wohin wir durch rechtmäßige Mittel zu streben schuldig sind, und zu gelangen gute Hoffnung haben […].“ Ebd., S. 568. 144 Wieland: Vorrede zu: Historischer Calender für Damen. 1792, in: GS, Bd. 23, S. 392. 145 Wie sehr Wieland auf eine ,Reform von oben‘ setzt, zeigt sich an vielen Stellen. Der einzig gangbare Weg zur Vervollkommnung des Reichs liege in fürstlichen Reformen. Es käme also alles auf „den Charakter, die Tugenden oder Untugenden der Regenten und Obrigkeiten an“. Ebd., S. 387. Und weiter: Zu den „besondern Vorteilen unsrer gegenwärtigen Lage“ zähle, dass die Aufklärung „von oben herab zu wirken anfängt“. Ebd., S. 388. 146 Er gibt die „Zertheilung des Deutschen Reichs in etliche hundert größere und kleinere, ja großen Theils sehr winzige, unmittelbare, mit Landeshoheit begabte und voneinander unabhängige Stände, als die Ursache an[] […], warum Deutschland, so lange diese Verfassung dauern werde, niemals zu dem hohen Gipfel von innerlicher Stärke, nie zu dem blühenden Wohlstand und dem Ansehen und Gewicht unter den europäischen Mächten, woran es unter einer andern Verfassung Anspruch zu machen hätte, gelangen werde.“ Ebd., S. 389.

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daß demungeachtet die Vortheile, welche aus dieser Zertheilung im Ganzen für uns entspringen, das Nachtheilige bei weitem überwiegen; oder vielmehr, daß sie es gerade ist, der wir diese Vortheile zu verdanken haben.148

Kurz: Die aus der Geschichtsphilosophie entlehnte Bonum-durch-Malum-Figur verwandelt die Zerteilung und Rivalität zur Quelle deutscher Vielheit und Größe und aktualisiert damit einen Topos der humanistischen Patrioten.149 Der reichsrechtlich begründete150 Tenor aller drei Schriften lautet: Die dermahlige Deutsche Reichsverfassung ist, ungeachtet ihrer unläugbaren Mängel und Gebrechen, für die innere Ruhe und den Wohlstand der Nazion im Ganzen unendlich zuträglicher, und ihrem Karakter und der Stufe von

147 Die „Organisation des Germanischen Körpers gibt ihm eine gewisse politische Schwere und Unbehülflichkeit in seinen Bewegungen, die in verschiedenen Rücksichten nachteilig ist; er kann sich, vermöge derselben, weniger in die Angelegenheiten anderer Mächte mischen, keine Eroberung machen und sogar sich selbst gegen auswärtige Angriffe nicht so bequem vertheidigen, als bei einer andern Constitution […].“ Ebd., S. 391. 148 Ebd., S. 389. 149 „Und gleichwohl, wo ist das Europäische Reich, welches – alle physischen Verschiedenheiten gehörig gegeneinander ausgeglichen, und alle Vortheile der frühern Kultur und günstiger Zufälle abgerechnet – bei gleicher Größe, der unsrigen (ich sage nicht in einzelnen Theilen, sondern im Ganzen) an Volksmenge, an Anbauung des Bodens und Benutzung aller Geschenke der Natur, an Anzahl nicht sowohl großer und reicher als an Menge mittelmäßiger, aber wohl polizirter, betriebsamer und nach Verhältniß ihrer Lage und Mittel wohlhabender Städte, dem Deutschen Reich den Vorzug streitig machen könnte?“ Ebd., S. 390. 150 „Indessen braucht es doch nur die gemeinste Kenntniß der Deutschen Reichs= und Kreisverfassung und der weltkundigen Reichsgrundgesetze, besonders des Osnabrückischen Friedensinstruments und der jedesmahligen kaiserlichen Wahlkapitulazion, um zu wissen: daß das Deutsche Reich aus einer großen Anzahl [eine Fußnote gibt 348 an] unmittelbarer Stände besteht, deren jeder, in seinem Innern von jedem andern unabhängig, die Reichsgesetze, oder Kaiser und Reich, nur in so fern diesen die Handhabung und Vollziehung jener Geseze obliegt, über sich hat; und daß von seinem selbst=erwählten Oberhaupt an, bis zu Schultheiß, Meister, Rath und Gemeine der Reichsstadt Zell am Hammersbach, kein Regent in Deutschland ist, dessen größere oder kleinere Machtgewalt nicht durch Gesetze, Herkommen, und auf viele andere Weise von allen Seiten eingeschränkt wäre, und gegen welche, wofern er sich irgend eine widergesetzliche Handlung gegen das Eigenthum, die Ehre, oder die persönliche Freyheit des geringsten seiner Unterthanen erlaubt, die Reichsverfassung dem Beleidigten nicht Schutz und Remedur seiner Beschwerden verschaffte.“ Wieland: Gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: GS, Bd. 15, S. 580 f.

340 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast Kultur, worauf sie steht, angemessener als die Französische Demokratie […].151

Die „Bürger[] des Deutschen Reiches“, so könnte man Wielands Projekt mit seinen eigenen Worten zusammenfassen, sollten die Gunst der „goldne[n] Mittelmäßigkeit“ und des „leidliche[n] Zustand[es]“ erkennen.152 Wieland bestritt die Möglichkeit einer reichspatriotischen Gesinnung ,mittelbarer Bürgern‘ nicht grundsätzlich, er versuchte sie vielmehr von den falschen Patrioten zu separieren, die die „Feinde aller Ordnung“ seien.153 So bedankt sich der Herausgeber des Teutschen Merkur bei den Patriotischen Bürgern in ***, da sie ihm „mit Rücksicht auf das Gemeine Beste des teutschen Vaterlandes“ geantwortet hätten.154 Er selbst bezeichnet sich dabei als „patriotische[n] Schriftsteller“155 und erklärt es zum Ziel aller Deutschen, dass „das gewohnte alte Band“ „enger und fester zusammengezogen“ werde.156 In der Vorrede beklagt er in ungewöhnlich starken Worten die „Abwesenheit“ des deutschen „Gemeinsinns und Nationalgeistes“157. Die Aufgabe der Schriftsteller, der „eigentlichen Männer der Nation“, sei es deshalb 151 Ebd., S. 579. 152 Wieland: Vorrede zu: Historischer Calender für Damen. 1792, in: GS, Bd. 23, S. 389 f. 153 „[S]o ist es eben darum um so nöthiger, ächte Patrioten, d. i. solche, die unsre Konstituzion reparieret zu sehen wünschen, weil sie Freunde derselben sind, von den unächten wohl zu unterscheiden, die entweder vom sanskülottischen Dämon der Marat, Kloots und ähnlicher fanatischer Gleichheitsprediger, entweder wirklich besessen sind, oder sich nur in die Maske derselben stecken, um, womöglich, die bestehende Ordnung umzustürzen, weil sie Feinde aller Ordnung sind.“ Wieland: Etwas zur Beruhigung der Patriotischen Bürger in *** (1794), in: GS, Bd. 15, S. 639. 154 Ebd., S. 634. Tatsächlich schrieben Nürnberger Bürger einen Brief an Wieland, ,Von patriotischen Bürgern aus Nürnberg‘, 6. Febr. 1794, Nr. 148, in: WBr, Bd. 12,1, S. 145. 155 Wieland: Etwas zur Beruhigung der Patriotischen Bürger in *** (1794), in: GS, Bd. 15, S. 634. 156 Ebd., S. 632. 157 „[W]er das Deutsche Reich aufmerksam durchwandert, lernt zwar nach und nach Österreicher, Brandenburger, Sachsen, Pfälzer, Bayern, Hessen, Württemberger usw. mit etlichen hundert kleinern, durch mancherlei Unterabteilungen und unter mancherlei Gestalten immer schmächtiger werdende, nach dem Namen des Reichsstandes, dem sie untergeben sind, benannte Völkerschaften, aber keine Deutschen kennen, und sucht im ganzen Deutschen Reiche vergebens dieses Germanien, dessen König der erwählte Kaiser ist.“ Wieland: Vorrede zu: Historischer Calender für Damen. 1792, in: GS, Bd. 23, S. 392.

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von ächtem Patriotismus begeistert, von aufgeklärter Schätzung der Vortheile unsrer Constitution geleitet und von reinem Eifer für das allgemeine Beste erwärmt, […] die heilige Flamme der Vaterlandsliebe in jedem Deutschen Herzen anzufachen, und diesen Gemeinsinn zu erwecken, der allein vermögend ist, die durch so vielerley verschiedenen Namen, Dialekte, Lebensweisen, religiöse und politische Verfassungen getrennten Einwohner Germaniens in der That in Einen lebendigen Staatskörper zu vereinigen, und diesen gewaltigen Leib mit Gesinnungen zu beseelen, die eines großen, edlen, tapfern und aufgeklärten Volkes würdig sind.158

Wielands Vorrede rief ein gespaltenes Echo in der Reichsöffentlichkeit hervor. In der Jenaer Allgemeinen-Literatur-Zeitung lobte Johannes Müller den reichspatriotischen Eifer und stimmte dem „meisten[,] was Hr. Hofr. Wieland weiter zum Lobe der deutschen Verfassung sagt“, ausdrücklich zu – allerdings mit der bedeutsamen Einschränkung, dass „alles Lob nur in sofern auf die vaterländische Verfassung“ zutreffe, „als sie in der That gehalten wird (in praxi ist, nicht bloß in den Büchern steht)“159. Weit polemischer und ohne Sympathie für die Reichsverfassung wandte bereits Friedrich Nicolai gegen Friedrich Carl Mosers Plädoyer für einen ReichsNationalgeist ein, dass ihm seine Kenntnis des deutschen Staatsrechts den Blick für den wirklichen Zustand des Reichs versperre.160 Just Moser fühlte sich durch Wieland so sehr an die von ihm verfochtenen Argumente aus den 1760er-Jahren erinnert, dass er seinen Neujahrswunsch von 1765 mit einer kurzen Einleitung in der eigenen Zeitschrift, dem Neuen Patriotischen Archiv, 1792 erneut abdruckte. Es war mir eine Art von Auferweckung, aus dem Geist und der Feder dieses so viel umfassenden und viel wirckenden Schriftstellers, nach einer Pause von etlichen und zwanzig Jahren, die Worte: National=Geist, National=Interesse, und die glühende Aufforderung an deutsche Schriftsteller sich doch der Sache des verwaisten, erschlafften, verdorrten, entmannten, deutschen Gemein=Sinns zu erbarmen.161

Moser greift den Adressaten und den Publikationsort Wielands an, nicht dessen staatsrechtlich-patriotischen Inhalt.162 Ironisch erklärt er es zu seinem eigenen Fehler, 1765 an die „Reichs=Tags=Männer“ appelliert und 158 Ebd., S. 393. 159 [Müller, Johannes]: Historischer Calender für Damen für das Jahr 1792, in: Allgemeine Literatur-Zeitung 66 (8. März 1792), S. 521. 160 Nicolai, Friedrich: Ehrengedächtnis für Herrn Thomas Abbt, Berlin 1767, S. 12 f. zit. n. Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 213. 161 Moser: (Ein aufgewärmter alter) Neujahrs=Wunsch an den Reichs=Tag zu Regensburg vom Jahr 1765, S. 293. 162 Dazu bereits: Sahmland: Wieland und die deutsche Nation, S. 201 – 203.

342 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast nicht gleichfalls „in einem so herzigen Almanach den Damen“ den „National=Geist“ beschworen zu haben.163 Seine Ironie begründet sich in der prinzipiell von Wieland geteilten Auffassung eines professionalisierten Politikbegriffs.164 Neben dem denkwürdigen Ort für einen patriotischen Aufruf, dem Calender für Damen, karikiert er aber auch Wielands späte Wendung zum Nationalgeist, liegen doch zwischen beiden Veröffentlichungen mehr als zwei Jahrzehnte. Während sich Moser aber durch Wielands Ausführungen auch bestätigt sehen konnte, wiederholte ein nur mit „K.“ unterzeichnender Autor die Kritik, die sich seinerzeit Moser von Creuzer, Bünau, Nicolai und anderen gefallen lassen musste. Nicht zufällig offenbart sich hinter der Maske der Anonymität ein preußischer Territorialpatriot. Man darf in seiner Kritik deshalb nicht einfach die historische Wahrheit ausgesprochen sehen,165 vielmehr handelt es sich um ein Aufbrechen der alten Fronten, die auch geographisch der Nationalgeistdebatte ähneln. „K.“ ist wohl mit Ernst Ferdinand Klein aufzulösen,166 ein Berliner Aufklärer und fortschrittlicher Jurist, der an der Konzeption des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten beteiligt war und von großer Bedeutung für die praktische Naturrechtsrezeption um 1800 ist.167 Am Reich hatte Klein kein Interesse, er „rekurriert nur auf Preußen, er ist ganz preußischer Patriot“168. Nur kurz zuvor trat Klein mit Wieland direkt in Kontakt, indem er ihm brieflich (höchstwahrscheinlich) seinen Dialog Freyheit und Eigenthum übersandte.169 Offenbar bewunderte der Preuße die 163 Moser: (Ein aufgewärmter alter) Neujahrs=Wunsch, S. 294. 164 Ebd., S. 294 f. 165 „Nun hat die Untersuchung der anonymen Kritik gezeigt, dass den jeweiligen von Wieland benannten Vorzügen konsequent die Realität und die Erfahrung entgegen- und damit eigentlich seine Aussagen selbst in Frage gestellt werden.“ Sahmland: Wieland und die deutsche Nation, S. 198. 166 Seine Verfasserschaft des Artikels Betrachtungen über den Einfluß der deutschen Verfassung auf das Nazionalglück der Deutschen; in Beziehung auf zwei Aufsätze von Mirabeau und von Wieland ist über seine Mitgliedschaft in der Berliner Mittwochsgesellschaft dokumentiert: Fromm, Eberhard: Herren der Mittwochsgesellschaft: zur Geschichte der Berliner Aufklärung, Berlin 2005, S. 85. Bisher galt der Autor als anonym: Sahmland: Wieland und die deutsche Nation, S. 189 ff. 167 Vgl. Kleensang, Michael: Das Konzept der bürgerlichen Gesellschaft bei Ernst Ferdinand Klein, Frankfurt a.M. 1998, S. 1 ff. 168 Berndl, Klaus: Ernst Ferdinand Klein (1743 – 1810): Ein Zeitbild aus der zweiten Hälfte des Achtzehnten Jahrhunderts, München 2004, S. 401. 169 Vgl. Ernst Ferdinand von Klein an Wieland, 1. März 1790, Nr. 395, in: WBr, Bd. 10,1, S. 327 f.

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Dialogkunst Wielands und wählte ihn zu seinem formalen Vorbild. Die Pointe des Dialogs liegt freilich in einer politischen Auseinandersetzung um den Freiheitsbegriff zwischen Ebul und Kleon, in welchem Wielands Name in durchaus kritischem Zusammenhang fällt.170 Ausgangsfrage von Kleins Aufsatz ist, „ob unser Deutschland sich seiner Staatsverfassung wegen mehr zu beklagen oder glücklich zu preisen habe“171. Ihre Existenz wird auch von Klein nicht bestritten. Während er Mirabeau vorwirft, Deutschland mit seinem Lob der Verfassung nach „Frankreichs Interessen“ unschädlich machen zu wollen, bezichtigt er Wieland, die „Vaterländische Konstituzion“ unbegründet „ins Schöne gemalt“ zu haben.172 Dass sich Mirabeau in der ehrwürdigen Tradition Montesquieus und Rousseaus befindet, spielt für den Verfasser keine Rolle. Gegen Wieland führt er zahlreiche Missbräuche der Verfassung an und wertet den Verweis auf den ,leidlichen Zustand‘, den er allerdings nicht abstreitet, als pure „Resignation“173. Während das Fehlen jeglicher Reformvorschläge bei Wieland, wie gezeigt, dem Adressaten geschuldet ist, kann er von Kleins Vorwurf, selbst kein Konzept einer Reichsreform unterbreitet zu haben, sondern allein auf die „Weisheit unserer Fürsten“174 zu vertrauen, kaum freigesprochen werden. Bezeichnenderweise stammt ein solches in literarisch-spielerischer Form erst aus einer Zeit, als an eine profunde Reform kaum noch ernsthaft zu denken war. Der Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, Johann Erich Biester, sah sich veranlasst, Kleins harsche Ablehnung der deutschen Vielstaatlichkeit zu relativieren: „Die Bestimmung des Genug oder Zuviel“ sei, ergänzt er, „hierbei äußerst schwer, wo nicht unmöglich […].“ Mit den abschließenden Worten rückt Biester wohl bewusst sehr nah an Wieland heran: „Wohl dem Lande, wo eine weise Regierung, wo gute Gesetze, und wo patriotische Gesinnungen unter den Einwohnern der verschiedensten Provinzen, herrschen!“175 170 Vgl. Klein, Ernst Ferdinand: Freyheit und Eigenthum, abgehandelt in acht Gesprächen über die Beschlüsse der Französischen Nationalversammlung, Berlin/ Stettin 1790, hrsg. v. Jörn Graber, Kronberg/Ts. 1977, S. 168 ff. 171 [Klein, Ernst Ferdinand]: Betrachtungen über den Einfluß der deutschen Verfassung auf das Nazionalglück der Deutschen; in Beziehung auf zwei Aufsätze von Mirabeau und von Wieland, in: Berlinische Monatsschrift 19 (1792), S. 268 – 300, hier S. 268. 172 Ebd., S. 270 f. 173 Ebd., S. 297. 174 Ebd. 175 Ebd., S. 299.

344 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast

3. Reichszerfall und Formgewinn Wieland beklagt Anfang 1793, dass die Franzosen „den schönsten Theil unserer Rheingegenden“ „überschwemmt“176 hätten. „Der Krieg selbst war schon lange, was sie [die Revolutionäre] wünschten“, die denkbar späte Erklärung eines Reichskriegs durch den Reichstag im März 1793 erfülle ihnen nun lediglich den Wunsch, „das ganze Deutsche Reich als einen erklärten Feind behandeln zu können.“177 Noch hofft Wieland freilich, dass der Krieg „für das ganze teutsche Reich die Gelegenheit zu etwas Guten“178 berge. Im Laufe des Jahres 1793 wurde einem solchen Optimismus der Boden entzogen. Im Moniteur konnte man schließlich am 21. Oktober 1797 die längst zuvor ausgesprochene Fundamentalopposition in erschreckender Klarheit lesen: „Da die deutsche Reichsverfassung der Zentralpunkt aller Adels- und Feudalvorurteile von Europa ist, so muß es das einzige Ziel der französischen Republik sein, sie zu vernichten.“179 Nicht erst mit der Rheinromantik und der nationalistischen Dichtung eines Ernst Moritz Arndt zu Beginn des 19. Jahrhunderts, sondern bereits durch die französische Erklärung, nur natürliche Grenzen zu akzeptieren,180 erlebte der Rhein eine ungeheure Politisierung und Nationalisierung, die ihrerseits auf eine lange Tradition zurückblicken konnte.181 Durch Literatur und Publizistik bis in die Briefkultur hinein zieht sich ein neuer patriotisch-nationalistischer Ton, der auch Appelle, die Reichsintegrität zu wahren, stimulierte. Johann Gottfried Herder stand als Feind des „abscheulichen Erwerbund Eroberungsgeist[es]“182 den Koalitionskriegen zunächst kritisch gegenüber. Es lag aber, so ist gegen Wilson und viele andere einzuwenden, 176 Wieland: Über deutschen Patriotismus, in: GS, Bd. 15, S. 592. 177 Wieland: Gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: GS, Bd. 15, S. 582. 178 Wieland: Etwas zur Beruhigung der Patriotischen Bürger in ***, in: GS, Bd. 15, S. 639. 179 Zit. n. Berney: Reichstradition und Nationalstaatsgedanke, S. 71. 180 Vgl. Aretin: Das Alte Reich, Bd. 3, S. 477 ff. 181 Die Rheingebiete galten schon seit dem Mittelalter als „maxima vis regni“, nicht zuletzt aufgrund der dicht nebeneinander liegenden mächtigen rheinischen Kurfürsten: Tümmer, Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, 2., überarb. u. akt. Aufl. München 1999, S. 119. 182 Herder an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 12. April 1793, Nr. 12, in: HB, Bd. 7, S. 35; vgl. ferner Herder an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 12. Nov. 1792, Nr. 208, in: HB, Bd. 6, S. 292; Herder an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 6. Dez. 1793, Nr. 57, in: HB, Bd. 7, S. 74 – 76.

3. Reichszerfall und Formgewinn

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durchaus auf der Linie der zurückgehaltenen Entwürfe der Briefe zu Beförderung der Humanität, wenn sich der Weimarer Generalsuperintendent spätestens 1793 für den Kampf gegen die Revolutionstruppen einsetzte. So wenig er den Deutschen das Recht zugestand, in das französische ,Experiment‘ einzugreifen, selbst wenn diese ihren Königsstuhl ,säuberten‘,183 so wenig konnte er die Verletzung der Reichsintegrität durch die Franzosen gutheißen. Beides sind nach Herders Verständnis ungebührliche Eingriffe in die eigentümliche Entwicklung der anderen Nation. Von einer ,frappierenden Wende‘ oder einem ,krassen Widerspruch‘ lässt sich nur sprechen, wenn zuvor die Entwürfe undifferenziert und die literarische Form ignorierend als Plädoyer für eine Revolution im Reich ausgelegt werden.184 Zumindest seit der Erklärung des Reichskriegs dürfte Herders Unterstützung der Koalitionstruppen im Sinne der Reichsverteidigung gewiss sein – für einen defensiven Krieg versteht sich, der zugleich das Projekt einer Reichsreform nicht aus dem Blick verliert. „Es ist indessen gut“, schreibt Herder an Goethe, „daß die Fremden aus den Grenzen des Heiligen Reichs getrieben werden; nur Ihr tastet auch das unheilige Reich nicht an, u. laßt sie einander würgen.“185 Insofern und eingedenk seiner reichspatriotischen Äußerungen in Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden bedeutet die von Herder vielleicht auf Wunsch des Geheimen Consiliums im März 1793 verfasste Kirchenpredigt186 nur eine graduelle Wandlung. Sie entspricht ganz dem reichspatriotischen Geist der Zeit: Das „Deutsche Reich“, heißt es dort, habe Frankreich „den gerechtesten Krieg erklären müssen“, „der für das Eigenthum und die Sicherheit jedes friedfertigen Bürgers, und nicht nur für die Rechte der Regenten, sondern für 183 Herder: Entwürfe zu den Briefen, in: FA, Bd. 7, S. 784. 184 Wilson: Goethe-Tabu, S. 258 f. Wilson sieht in Voigts Bericht an den Herzog einen Beleg für die „Einschüchterung der Intelligenz“, „eine regelrechte ,Campagne in Deutschland‘“, ebd., S. 263. „Herders Meinung, daß man ,bei Gelegenheit die Menschen‘ von der Inkongruenz der französischen Ideale für Deutschland ,zu überzeugen‘ hätte, wie es im Gespräch mit Voigt heißt, steht in direktem Gegensatz zur publizistischen Unterstützung der Revolution in der Schrift, die er gerade verfaßte oder verfaßt hatte […].“ Ebd., S. 259. 185 Herder an Goethe, 12. Juli 1793, Nr. 27, in: HB, Bd. 7, S. 50. 186 Vgl. Nr. 400, Reskript des Geheimen Consiliums an das sachsen-weimarische Oberkonsistorium, 8. März 1793, in: Wilson: Goethes Weimar, S. 553. Dem widerspricht allerdings die Datierung des Gebets durch Caroline Herder und Suphan auf 1792. Müller, Johann Georg (Hrsg.): Erinnerungen aus dem Leben Johann Gottfrieds von Herder, gesammelt und beschrieben von Maria Carolina Herder, Bd. 2, Tübingen 1820, S. 198; Herder: Allgemeine Kirchengebete, in: SWS, Bd. 31, S. 665.

346 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast die Rechte der Menschheit selbst geführt wird […].“ Wie in seinen Briefen und den Entwürfen ruft Herder Gott als „ewige[n] Haushalter der Welt“ an und bittet ihn, in „allen Heeren unsers Vaterlandes Deutschen Muth und Deutsche Treue“ zu erwecken.187 Schon im November 1792 druckte Wieland, man staunt nicht schlecht über den Kosmopoliten, ein Gedicht mit dem Titel An die Deutschen aus der Feder des wenig bekannten Autors Joseph von Hinsberg – später Verfasser eines Nibelungenlieds (1812) sowie eines Arminiusepos (1814). In antreibenden Marschrhythmen ruft er martialisch zum blutigen Kampf für die „Vatererde“ auf.188 Anfang 1794 konnten Wielands Abonnenten unter dem Titel An das deutsche Volk am Rhein erneut Verse Hinsbergs lesen, die gleichsam die Wacht am Rhein vorbereiten: Auf, deutsche Männer um den Rhein! Seyd eurer Väter werth! Nicht sorglos dürft ihr länger seyn! Auf! Eure Rettung ruht allein Auf Gott und eurem Schwert!189

Gründe für die Verschärfung des reichspatriotisch-nationalistischen Tons trug ein anonymer Publizist 1795 in diversen Zeugenaussagen über die französischen Plünderungen zusammen – natürlich gepaart mit dem Aufruf zu Notwehr und Verteidigung der Menschenrechte gegen die marodierenden Revolutionsarmeen: „Und Menschen, Deutsche! Erwachet, Hermanns Nachkommen, erwacht und rächt euch!“190 187 Herder: Allgemeine Kirchengebete, in: SWS, Bd. 31, S. 665. 188 Hinsberg, Joseph von: An die Deutschen. (Im November 1792), in: NTM 2 (1794), S. 229 – 231: „Auf zum Schutz der Vatererde! / Auf! sie trank schon deutsches Blut! / Auf, und zürnt! Am deutschen Heerde / Schweigt der Fremden Uebermuth! / Auf an eurn hundert Strömen, Brüder! / Ewig grünt sonst euer Ruhm nicht wieder“. „Wird fürs Vaterland zu sterben / Jede deutsche Seele glühn, / Werden, wie vor dem Verderben / Eure Feinde vor Euch flieh’n. / Dann wird auch – nur dann in euern Gauen / Sich die Göttin ihren Tempel bauen.“ Die Übersetzung der Kriegslieder des Tyrtaeos, ebenso im Teutschen Merkur erschienen, stoßen in dasselbe Horn: Hinsberg, Joseph v. [Übersetzer]: Kriegslieder des Tyrtaeos, in: NTM 2 (1794), S. 217 – 227. 189 Hinsberg, Joseph v.: An das deutsche Volk am Rhein (im April 1794), in: NTM 2 (1794), S. 103 – 104. Hinsberg publizierte mehrere Gedichte, etwa über Arminius 1795 und später über Europa in Wielands Teutschem Merkur: ders.: Herman der Cherusker an seine von den Römern gefangene Thusnelde, in: NTM 2 (1795), S. 225 – 236; ders.: Europa, in: NTM 1 (1804), S. 5 – 7. 190 „Kann man denn nach diesem allem sich noch verwundern, wenn endlich die Deutschen diesseits des Rheins, und besonders die in jenen Gegenden auf den

3. Reichszerfall und Formgewinn

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Als mentalitätsgeschichtliches Zeugnis sind solche Verse von großem Interesse: Reichspatriotismus und Nationalismus sind hier nicht voneinander zu scheiden. Unberührt blieben davon auch die Weimarer Autoren nicht. Während ein Schriftsteller und Publizist wie Gerhard Anton von Halem anlässlich des Basler Friedens von 1795 eine mahnende reichspatriotische Abhandlung verfasste,191 entsetzte Johann Gottfried Herder der Kuhhandel zwischen Preußen und Frankreich so sehr, dass er in einer Schulrede das Reich kurzerhand für aufgelöst erklärte. Zu Beginn der Sommerferien des Jahres 1796 befänden sich die Schüler, so Herder, In einem Zeitraum desgleichen seit dem 30.jährigen Krieg sich Deutschland nicht zu erinnern weiß. Die Konstitution von Deutschland, die längst schon nur ein trauriges Wort, ein Schatten von Konstitution war, ist aufgelöset: der Rhein, der Main, die Donau rufen laut: wir können nicht schützen, denn wir sind vernunftlose Gewässer; noch trauriger rufen die Bewohner dieser Länder, eine verlassene Herde […]. […]. Jünglinge in spätern Jahren werdet ihr euch mit Scham erinnern, daß eure Jugend in diese Zeiten fiel, in Zeiten eines aufgelösten, siechen, modernden Reichskörpers. – Gebe die Vorsehung euch dann andre Zeiten. […]. Gott erhalte uns (so weit ist es mit Deutschland gekommen, daß jeder einzelne Teil um seine eigne Erhaltung flehen muß) Gott erhalte uns auch während dieser Ferien, die hoffentlich endlich eine Zeit der Entscheidung sein werden, unsre Grenzen sicher, und gebe uns bald den Frieden […].192

Trotz aller Zweifel hielt Herder, wie zahlreiche Briefe bestätigen,193 an Friedenswünschen für ein in seinem territorialen Bestand gewahrtes Reich fest. Den Rastatter Friedenskongress betrachtete er zwar mit ironischer Skepsis, aber mit unverkennbarer Hoffnung: „Ein solcher Congreß wird glücklicher Weise nur alle 1000 Jahre gehalten, u. ich hoffe, daß er für ein höchstmöglichsten Grad der Nothwehr und Verzweiflung gebracht, auch einmal von Menschenrechten reden, und in dem unseeligen Fall eines abermaligen Vordringens der Franzosen, sich bewaffnen, und so an die Kaiserlichen angelehnt, Gewalt mit Gewalt vertreiben? Viele von Ihnen sind schon als Landsmiliz, oder als vortrefliche Schützen geübt. Hat doch die schwache Henne Muth genug, ihre Jungen gegen den größten Hund zu vertheidigen.“ [Anonymus]: Schreiben aus Sg-n, das Betragen der Franzosen bey ihrem Uebergange über den Rhein, und bey ihrem Rückzuge betreffend, in: Historisch-politisches Magazin 18 (1795), S. 486 – 501, hier S. 501. 191 Halem, Gerhard Anton: Ein dringendes Wort an das Heilige Römische Reich zur Sicherung eines künftigen Friedens von Visurgin, Altona 1795. Vgl. Randig: Aufklärung und Region, S. 148 ff. 192 Herder: Schluss des Examens 1796, in: FA, Bd. 9,2, S. 732 – 734. 193 Vgl. Arnold: Die Widerspiegelung der Französischen Revolution in Herders Korrespondenz, S. 62 ff.

348 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast Jahrtausend dienen werde. O große Geburt der Zeiten!“194 Seine Enttäuschung kurz darauf war dementsprechend groß.195 Auch andere Autoren wie genannter Gerhard Anton von Halem glaubten in den Verhandlungen eine große Chance erblicken zu dürfen. In seinem literarisch wenig ansprechenden Lied bey der Nachricht von der gehofften Integrität des Deutschen Reichs vom Mai 1797 heißt es: So kommt, ihr edlen Reste Vom Rhein, der Deutschen blieb! Auch ihr, ihr seyd mir lieb; O fließt zum Friedensfeste! Zur Feier geh mein Pütter Entstäubt auf ’s neu hervor!196

Die Anspielung auf eine Verjüngung der Werke Johann Stephan Pütters verheißt die restitutio in integrum des Reichsstaatsrechts. Für Friedrich Hölderlin und Isaac von Sinclair war Rastatt ebenso ein Hoffnungsschimmer – allerdings nicht in reichspatriotischer Hinsicht, sondern getragen von einem geradezu eschatologischen Glauben an den Friedensfürsten Napoleon.197 Mehr im Sinne Halems ist Aloys Schreibers Ode an den Kongreß zu Rastatt. 198 Sie erschien auf den letzten Seiten eines Taschenbuchs, das die 194 Herder an Johann Isaak Gerning, vor dem 5. Juni 1797, Nr. 331, in: HB, Bd. 7, S. 319. 195 In einem anderen Brief karikiert Herder die Ohnmacht der Reichsstände, ging doch zum einen der Versammlung in Rastatt der österreichisch-französische Friedensschluss von Campo Formio (1797) voraus, zum anderen war die Dominanz des siegreichen Napoleons nicht zu übersehen: „Unser Geflügel des Heiligen Römischen Reichs ist jetzt in Rastadt versammelt, zu hören was ihm der Hahn kräht. Krähe er uns nur nicht auch Taxen, für das was er uns nicht genommen hat, weils ihm – zu entfernt lag!“ Herder an Gräfin von Baudissin, 15. Jan. 1798, Nr. 373, in: HB, Bd. 7, S. 361. 196 Halem, Gerhard Anton von: Lied bey der Nachricht von der gehofften Integrität des Deutschen Reichs. May, 1797, in: ders.: Gedichte, Bd. 1, Münster 1807, S. 172 f., hier S. 173. Vgl. Randig: Aufklärung und Region, S. 153. 197 Jüngst: Müller-Seidel: Schiller und die Politik, S. 258 ff. Lange nach dem Reichsuntergang stimmte Sinclair allerdings in den Chor des nostalgischen Reichspatriotismus ein: Rameil, Udo: Restitutio Imperii? Betrachtungen zu Sinclairs Entwurf einer Verfassung Deutschlands mit Rücksicht auf Hegels Verfassungsschrift, in: „Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde“. Das Schicksal einer Generation der Goethezeit, hrsg. v. Christoph Jamme/Otto Pöggeler, Stuttgart 1983, S. 135 – 167. 198 Anonymus: Rastatter Congreß Taschenbuch für 1799. Mit 17 Silhouetten, Carlsruhe/Rastatt 1799, S. 305 – 308.

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teilweise als Silhouetten abgebildeten Gesandten und Diplomaten durch kulturelle (Volkslieder etc.) und historische Zeugnisse bestärken sollte, die Reichsintegrität zu wahren. „Was war ehemahls Teutschland! Was wird es nach Endigung des Congresses in Rastatt werden?“, fragen die Verfasser angstvoll und rekapitulieren am Beispiel der Nationalhelden Hermann und Rudolf I. ausführlich den „Ursprung der gegenwärtigen teutschen Staatsverfassung und die vielen mit den Teutschen vorgefallenen Veränderungen darinn.“199 Auch in Johann Gottfried Herders nicht publizierter Sammlung der Humanitätsbriefe finden sich Bruchstücke eines kulturell-politischen Reformprogramms, die dem ängstlich-hoffenden Klima im Umfeld der Verhandlungen entstammen könnten. Die Ursache des deutschen Leids wird wie vordem im mangelnden Selbstbewusstsein verortet: Ein Volk, das sich selbst nicht schätzet; wie sollten andere es schätzen können, um auch von ihm geschätzt zu werden? Eine Nation, die sich selbst nicht vertheidigen mag, wird [bald], wie das wehrlose Italien, ein Spott und Spiel aller Nationen.200

Was einst zur deutschen Ehre gereichte, der Vergleich mit anderen vielstaatlichen Gebilden – den griechischen „Amphiktyonen“, dem „Achäerbunde“, den „Staaten Italiens“, der „Genossenschaft der Schweizer“ –, wird nun vor dem Hintergrund der machtstaatlichen Herausforderungen wie das „unglückliche[] Pohlen“ zum bösen Orakel.201 Herders fiktive Gesprächsrunde begegnet der drohenden Auflösung des Reichsverbands mit einem Fünf-Punkte-Programm, das die Ursachen der deutschen Gefährdung benennt und ihre Beseitigung fordert: 1. die fehlende Selbstachtung und Selbstverteidigung aufgrund des von der Verfassung nicht verhinderten egoistischen Verhaltens „einzelne[r] Glieder“, 2. die Geringschätzung der eigenen Sprache, 3. die Spaltung der Religion, 4. die Missachtung der Literatur und 5. die sinnlosen Rang- und Würdestreitigkeiten.202 Alle waren [wir] der Meinung, daß in Deutschland, wenn wir nicht ein zweites Pohlen seyn wollten, keine Mühe edler angewandt werde, als diese Dissension zu zerstören. Alle Waffen der Ueberzeugung und Ironie, des guten Herzens und des gesunden Verstandes sollte man gebrauchen, um jene Provinzialgötzen zu Dan und Bethel, den Wahn und [Selbst=]Dünkel abzuthun, und in Allem das große Gefühl emporzubringen, daß wir Ein Volk seyn, Eines Va199 200 201 202

Ebd., S. I f. Herder: Ältere Niederschrift (zehnte Sammlung), in: SWS, Bd. 18, S. 345. Ebd., S. 346. Ebd.

350 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast terlandes, Einer Sprache. Daß wir uns in dieser ehren und bestreben müßen, von allen Nationen unpartheiisch zu lernen, in uns selbst aber Nation zu seyn.203

Die letzten Zeilen nehmen sich geradezu wie eine Neuauflage des Moserschen Nationalgeists aus: Herders nationales Kulturprogramm und die Reichspolitik berühren sich dabei ein letztes Mal. Bekanntlich wurden die Zeitgenossen in dergleichen Erwartungen bitter enttäuscht, und die Gefahr, ein polnisches Schicksal zu erleiden, wuchs, ja, die Art und Weise des Verlusts der linksrheinischen Territorien wies unübersehbar Parallelen zur Großmachtpolitik Österreichs, Preußens und Russlands auf, die 1772, 1793 und 1795 Polen gänzlich unter sich aufgeteilt hatten.204 Joseph Görres’ berühmte Grabrede sollte sich letztlich bestätigen.205 „So ist denn also das linke Rheinufer abgetreten!“, heißt es enttäuscht im Teutschen Merkur: „Die Amputation ist gemacht, und die blutende Kriegerin Germania kommt als Krüppel aus dem Lazarett des Friedenskongresses unter den Händen der versammelten Wundärzte hervorgehinkt!“ Anders als monarchische Staaten besitze der deutsche „Föderativstaat“ „seit dem Westfälischen Frieden“ „nur durch das Medium des sogenannten Reichsverbandes zusammenhängende moralische Glieder“, weshalb ihr Verlust schmerzhafter sei, als er für diese wäre.206 „Und dies einer Nation, die seit 2000 Jahren gegen zahllose Völker siegreich gefochten“, klagt Johann Wilhelm von Archenholz mit Anspielung auf den Topos der deutschen Unbesiegbarkeit seit Arminius, der sich als Chimäre enttarnt hatte. „Gesunken“ seien die Deutschen nun „in den Augen der ganzen Welt“207. „Mit dem Wort Rastadt ist jetzt die Idee von National-Demüthigungen aller Art, von Hohn und Schmach verbunden […].“208 203 Ebd., S. 347. 204 Vgl. Müller, Michael G.: Die Teilungen Polens 1772, 1793, 1795, München 1984; Aretin, Karl Otmar Freiherr von: Tausch, Teilung und Länderschacher als Folgen des Gleichgewichtssystems der europäischen Großmächte. Die Polnischen Teilungen als europäisches Schicksal, in: Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701 – 1871, hrsg. v. Klaus Zernack, Berlin 1982, S. 53 – 68. 205 Görres, Joseph: Rede auf den Untergang des Heiligen Römischen Reiches (7. 1. 1798), in: ders.: Ein Leben für Freiheit und Recht. Auswahl aus seinem Werk, hrsg. v. Heribert Raab, Paderborn 1978, S. 89 – 99. 206 Anonymus: Inländische Korrespondenz. Von der Lahn, 23. März 1798, in: NTM 1 (1798), S. 455 – 460. 207 Archenholz, Johann Wilhelm: Ueber Buonaparte und den deutschen Patriotismus, in: Minerva 4 (1798), S. 127 – 142, hier S. 137. 208 Ebd.

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Herders asklepiadeische Ode Germanien (1798)209 zieht daraus die Konsequenz: Der Topos der zerrissenen Germania, man denke an das Titelblatt von Johann Rists gleichnamigem Schauspiel aus dem Jahre 1647, wird genauso anzitiert wie die Gefahr, Deutschlands Name könnte, Polen gleich, durch die Auflösung der Reichsverfassung aus dem Register der Nationen verschwinden.210 Die Antwort ist, auch das spätestens seit der Arminiusdichtung der frühneuzeitlichen Literatur ein Topos, die Eintracht der Stände, die hier allerdings allein in der Versöhnung der beiden deutschen Großmächte besteht. Träum’ ich, oder ich seh’ welch einen Genius Niederschweben? Er knüpft, einig verknüpfet er Zwei germanische Freundes= Hände, Preußen und Oesterreich. 211

In der Adrastea führt Herder 1802 denselben Gedanken unter dem Titel Preußische Krone weiter, er scheint damit aber bei aller Topik die Tradition des Reichs zusehends zu verlassen. Seine Hoffnung richtete sich weniger auf ein wiedererstarktes Reich als vielmehr auf die Stärke der versöhnten Mächte Österreich und Preußen, die das „veste Land aller Deutschen“ schützen würden.212 Im Kontext der Fürstenbunddiskussion waren verwandte Überlegungen über ein mehr zum Staatenbund verändertes Reich angestellt worden, das aus drei Einzelstaaten bestünde, nämlich ,Austria‘, ,Borussia‘ und einem Bündnis der kleinen und mittleren deutschen Territorien als ,corpus principum Germanorum‘.213 Herders späte Vorstellungen 209 Die Datierung ist unsicher: Suphan, Bernhard: Zwei Kaiserreden. Festschrift zu Eduard Simsons 50jährigen Doctor=Jubiläum. 1. Mai 1879, Berlin 1879, S. 43, dort datiert auf 1798; Götzinger, Maximilian Wilhelm: Deutsche Dichter, Bd. 2, 5. Aufl. Leipzig 1870, S. 564 – 566, dort datiert auf 1791. Inhaltlich scheint eine Datierung vor 1795 höchst unwahrscheinlich. Die Nähe zu Herders zehnter Sammlung und dem Adrastea-Aufsatz plausibilisiert vielmehr Suphans späte Datierung. 210 „Deine Nachbarin sieh, Polen, wie mächtig einst / Und wie stolz! o sie kniet, Ehrenund Schmuckberaubt, / Mit zerrissenem Busen / Vor drei Mächtigen, und verstummt.“ „Soll dein Name verwehn? Willst Du zertheilet auch / Knien vor Fremden? […].“ Herder: Germanien, in: SWS, Bd. 29, S. 210 f. 211 Ebd., S. 212. Vgl. Montasser, Miriam/Montasser, Thomas: Dichterischer Hausschatz: Epochen, Biographien, Dichter, Hamburg 1992, S. 168 – 183. 212 Herder: Preußische Krone, in: Adrastea 4, in: SWS, Bd. 23, S. 462 f. 213 Schmidt: Wandel durch Vernunft, S. 220; Schmidt: Reichspatriotische Visionen, S. 90. Schmidt zitiert dort: D. Johann August Reuß: Teutsche Staatskanzley, 14. Teil, Ulm 1787, S. 131. Vgl. zur Idealvorstellung eines Reichs als Bundesstaat bei Herder in Analogie zum Freiherrn vom Stein: Zaremba, Michael: Johann

352 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast weisen damit, so unpräzise sie sind, bereits in die Richtung der Reichskonzeptionen des frühen 19. Jahrhunderts. Der Dichterbund Friedrich Schillers und Johann Wolfgang von Goethes scheint weit entfernt von diesem nationalistischen und reichspatriotischen Diskurs und ist doch nur vor seinem Hintergrund richtig zu verstehen. Nationalistische Verklärungen einer Weimarer Klassik214 gehen dabei genauso fehl wie der Vorwurf des apolitischen Eskapismus oder der restaurativen Komplizenschaft mit dem absolutistischen Despotismus.215 Georg Schmidt wies im Rahmen des SFBs Ereignis Weimar-Jena mehrfach darauf hin, wie eng die Stilisierung zum ,Ilm-Athen‘ mit der föderalen Tradition des Alten Reichs zusammenhängt. Weimar und Jena wurden um 1800 zur Speerspitze der deutschen Identitätssuche während des Reichszerfalls, dem sich die Bedeutung des kleinen Herzogtums durch den Friedensschluss Preußens mit Frankreich 1795 in gewisser Weise sogar verdankte: Verfassungspatriotismus, kosmopolitisches Sendungsbewusstsein und Ideen eines zukünftigen Machtstaats wurden hier nebeneinander projektiert.216 Anders als die oben zitierten Gedichte Halems, Schreibers oder Hölderlins sah sich Schiller, der die Koalitionskriege genauestens verfolgte,217

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Gottfried Herders humanitäres Nations- und Volksverständnis. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1985, S. 135. Korff, August H.: Geist der Goethezeit, 4 Bde. und ein Registerband, Leipzig 1923 – 1957. Baeumer, Max L.: Der Begriff ,klassisch‘ bei Goethe und Schiller, in: Die KlassikLegende, hrsg. v. Reinhold Grimm/Jost Hermand, Frankfurt a.M. 1971, S. 17 – 49, insbesondere S. 40 – 43; Wilson: Goethe-Tabu. Schmidt, Georg: Staat, Nation und Universalismus: Weimar-Jena als Zentrum deutscher Identitätssuche im späten Reich, in: Identität und Fiktionen um 1800, hrsg. v. Gonthier-Louis Fink/Andreas Klinger, Frankfurt a.M. 2004, S. 33 – 70, hier S. 34; Ehrlich, Lothar/Schmidt, Georg (Hrsg.): Ereignis Weimar-Jena: Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext, Köln/Weimar/Wien 2008. Dafür zwei Briefbeispiele: Schiller an Christian Gottfried Körner, 26. Nov. 1792, Nr. 145, in: NA, Bd. 26, S. 169 f.: „Er [Miller] hält es nicht für unmöglich, dass die Rheinischen Staaten für Deutschland verloren gehen, wenigstens dürfte der Curfürst von Mainz mit samt allen seinen Nachfolgern viele Einschränkungen erfahren. Der Krieg gegen Frankreich ist auf das nächste Jahr festgesetzt. Man wird also auf deutschem Boden cantonieren, und wer weiß ob es nicht auch die Franzosen dahin bringen. […]. In Deutschland fängt man große Anstalten an, und es geht, wie immer, über die Freiheit der particuliers her. In Goettingen werden alle Briefe und paquete, worinn man etwas zu finden glaubt, erbrochen, worüber viel Klage geführt werden. Bey uns ist es noch auf dem alten Fuß und Brutalität haben

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nicht in der Lage, ein Gedicht auf den Frieden von Lunéville zu verfassen: Er könne es nicht, antwortet er auf Göschens Bitte, da er befürchte, „wir Deutschen [werden] eine so schändliche Rolle in diesem Frieden spielen, daß sich die Ode unter den Händen des Poeten in eine Satyre auf das deutsche Reich verwandeln müßte“218. Reflexe der Ereignisse, die den Zerfall der europäischen Staatenordnung und des Reichs betreffen, finden sich freilich im literarischen Werk der Weimarer Dichter zuhauf: „Zerfallen sehen wir in diesen Tagen / Die alte feste Form“219, lauten die berühmten Verse aus dem Wallenstein-Prolog. Und ganz ähnlich in Goethes Hermann und Dorothea: „Denn gelös’t sind die Bande der Welt; wer knüpft sie wieder / Als allein nur die Not, die höchste, die uns bevorsteht!“220 Wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird, bewirkte die Enttäuschung des aufklärerischen Geschichtsoptimismus vielfach den Rekurs auf ein desillusioniertes, pessimistisches Geschichtsdenken, das für das Verständnis der Reflexe auf den Reichsuntergang im Werk Schillers, Goethes und Wielands von zentraler Bedeutung ist. Der Westfälische Frieden, noch einige Jahre zuvor für Schiller Garant des europäischen und deutschen Gleichgewichts, Fundament der allgemeinen kulturellen Blüte und Aufklärung, hatte sich als nicht tragfähig erwiesen. Die „Hausgenossen“ der „Staatengesellschaft“ begannen, sich doch zu „zerfleischen“221 – die polnischen Teilungen und der französische Revolutionskrieg konnten nur als evidenter Beweis der Mangelhaftigkeit des europäischen Völkerrechts gelten. Schließlich stritt das revolutionäre Frankreich ganz offen gegen die „vieille balance de l’Europe“, die ihm nur als Argument der „tyrans de l’Europe“ galt.222 Auch das „nützliche[] Staatssystem“223 des ,deutschen Reichs‘, Anker der abendländischen Staatenordnung, zerfiel mit den Friedensschlüssen von

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wir von unsrer Regierung nicht zu erwarten.“ Schiller an Christian Gottfried Körner, 5. April 1795, Nr. 134, in: NA, Bd. 27, S. 171: „Hier spricht man sehr decidiert daß zwischen Preussen, Hannover, Cassel und den Franzosen der Friede geschlossen sey. Mit Hannover nehmlich bloß als deutschem Reichsstand. Die Nachricht ist von einer sonst guten Quelle. Möchte sie wahr seyn, so wäre bald eine Nachfolge vom ganzen Deutschland zu hoffen.“ Schiller an Georg Joachim Göschen, 26. Februar 1801, Nr. 12, in: NA, Bd. 31, S. 10. Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 272. Goethe: Hermann und Dorothea, in: MA, Bd. 4,1, S. 607. Schiller: Antrittsvorlesung, in: MA, Bd. 4, S. 757. Zit. n. Tischer: Offizielle Kriegsbegründungen, S. 214 f. Schiller: Antrittsvorlesung, in: MA, Bd. 4, S. 757.

354 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast 1795, 1797 und 1801 endgültig, wie es im Fragment Deutsche Größe heißt, in „gotische Ruinen“224. Um den Antritt des neuen Jahrhunderts zu zitieren: Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden, Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort? Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden, Und das neue öffnet sich mit Mord. Und das Band der Länder ist gehoben, Und die alten Formen stürzen ein Nicht das Weltmeer hemmt des Krieges Toben, Nicht der Nilgott und der alte Rhein Zwo gewaltige Nationen ringen Um der Welt alleinigen Besitz, Aller Länder Freiheit zu verschlingen, Schwingen sie den Dreizack und den Blitz.225

Die Freiheit des ,Alten Reichs‘ wird mitsamt der alten Form und der Friedensordnung Europas durch den französischen Despotismus auf dem Kontinent und den englischen Despotismus auf dem Meer, durch ,Dreizack‘ und ,Blitz‘ vernichtet. Von zerbrechender Form („Der Meister kann die Form zerbrechen / Mit weiser Hand zur rechten Zeit“226) oder vernichteter Ordnung ist an vielen Stellen die Rede: […] Diesem Reiche droht Ein jäher Umsturz. Die zum großen Leben Gefugten Elemente wollen sich Nicht wechselseitig mehr mit Liebeskraft Zu stets erneuter Einigkeit umfangen.227

Selbst der ,Rheinstrom‘, der Bewacher von ,Germaniens Grenze‘, findet mit der zu dieser Zeit notwendig nationalen Konnotation mehrfach Eingang in die Werke der Weimarer Klassiker. Zweifellos ist daher das Einstürzen der alten Formen neben dem Ancien Régime Frankreichs und der europäischen Ordnung (auch) auf die Zerstörung der Reichsverfassung zu beziehen.228 Es wäre aber ein ,zu stoffartiges‘ Interesse, deshalb den Wal224 225 226 227 228

Schiller: Deutsche Größe, in: MA, Bd. 1, S. 476. Schiller: Der Antritt des neuen Jahrhunderts, in: MA, Bd. 1, S. 458 f. Schiller: Das Lied von der Glocke, in: MA, Bd. 1, S. 439. Goethe: Die natürliche Tochter, in: MA, Bd. 6,1, S. 323. „Treu wie dem Schweizer gebührt, bewach ich Germaniens Grenze, / Aber der Gallier hüpft über den duldenden Strom.“ Goethe: Rhein, in: MA, Bd. 4,1, S. 787. „In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine Familie ihre Be-

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lenstein, den Wilhelm Tell, die Ballade Der Graf von Habsburg, Goethes Märchen, Hermann und Dorothea oder Faust II nationalistisch oder reichspatriotisch zu lesen – wiewohl sich in den genannten Werken manche Motive aus der patriotischen Literatur des 18. Jahrhunderts finden und die politischen Ereignisse unverkennbar ihre Spuren hinterließen.229 Die Dichter stellten jedoch dem Formzerfall der alten Ordnung ein literarisches Form- und Stilbewusstsein entgegen, das der Gegenwart nicht einfach den Rücken kehrte, sondern aus dem Brand Europas das Rettenswerte literarisch zu sichern suchte. Schillers und Goethes Werke um 1800 verkörpern deshalb nicht das ,wahre Wesen der deutschen Nation‘, das sich über die politische Misere der deutschen Zersplitterung erhebt und auf den Nationalstaat vorausweist.230 Ein Bruch mit der föderalen Reichsverfassung ist, wie oft beschrieben,231 nirgends zu finden. Im Gegenteil. Beide Autoren gestalteten vielmehr die Essenz des gemeineuropäischen (!) Humanismus und der Aufklärung, wie sie auch im Rahmen der föderalen Reichsverfassung herangewachsen war und jetzt unter den Trümmern der alteuropäischen Welt und dem neuen nationalen Taumel diesseits und jenseits des Rheins verschüttet zu werden drohte, als europäisches Erbe und deutsche Würde.232 Deshalb genießt Schiller in den Horen die Ausrichtung am

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sitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, um den Bedrängnissen zu entgehen […].“ Goethe: Unterhaltungen, in: MA, Bd. 4,1, S. 436; „Wie begrüßt’ ich so oft mit Staunen die Fluten des Rheinstroms, / Wenn ich, reisend nach meinem Geschäft, ihm wieder mich nahte! / Immer schien er mir groß und erhob mir Sinn und Gemüte; / Aber ich konnte nicht denken, daß bald sein liebliches Ufer / Sollte werden ein Wall, um abzuwehren den Franken, / Und sein verbreitetes Bett ein allverhindernder Graben. / Seht, so schützt die Natur, so schützen die wackeren Deutschen, / Und so schützt uns der Herr; wer wollte töricht verzagen? / Müde schon sind die Streiter, und alles deutet auf Frieden.“ Goethe: Hermann und Dorothea, in: MA, Bd. 4,1, S. 558. Vgl. in dieser Arbeit, 5. Kap., 2. Krisis und brüchige Utopie und 3. Das Rad der Fortuna. Zu dieser Lesart der nationalistischen Literaturgeschichtsschreibung : Voßkamp: Klassik als Epoche, S. 259 – 266. „Man wird die charakteristische Zwischenstellung des Jahrzehntes der Hochklassik schwer verstehen können, wenn man nicht diese spezifische Interpretation des deutschen Partikularismus berücksichtigt, der angesichts der revolutionären Realität als die einzige Ordnung angesehen wurde, die in der Lage war, die humanistischen Ideale zu bewahren.“ Baioni, Giuliano: ,Märchen‘ – ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ – ,Hermann und Dorothea‘, in: Goethe-Jahrbuch 92 (1975), S. 73 – 127, hier S. 76. Auf den Zusammenhang von nationaler Rollendefinition der „deutschen Klassiker“ als „Botschafter“ und ihrer kosmopolitischen „Botschaft“ wurde in der For-

356 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast Wahren und Schönen sowie die Abstinenz von politischen Parteikämpfen mit „patriotischem Vergnügen“233. Natürlich handelt es sich hier keineswegs um eine Neuausrichtung. Schon der junge Schiller schrieb selbstredend „als Weltbürger, der keinem Fürsten dient“234. Bei allem Sturm und Drang entsprach der offenen dramatischen Form, der geniehaften Freiheit eines Götz von Berlichingen und eines Karl Moor jedoch paradoxerweise die Sicherheit einer weit stabileren politischen Welt. „Keine äußeren Feinde waren zu bekämpfen“, schreibt Goethe im Rückblick auf die Friedenszeit der 1770er-Jahre verklärend, deshalb „bildete man sich Tyrannen […].“235 Der Weg zu dem, was spätere Generationen ,Weimarer Klassik‘ nannten, war auch der Weg zur formalen Schließung,236 um mit Goethes freilich differenzierterer Typologie zu sprechen, ein Weg von der Manier zum Stil.237 Damit ist eine Entwicklung hin zu künstlerischen Idealen wie Autonomie, Objektivität und Harmonie angesprochen,238 die nicht direkt mit der politischen Großwetterlage korrelierte, sondern von der Rezeption des antiken Lebensund Kunstideals Winckelmanns sowie dem Kontext des europäischen Klassizismus bestimmt war.239 Der literarische Formgewinn240 in Zeiten des staatlichen Formzerfalls und „politischen Tumult[s]“ sorgte aber ge-

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schung natürlich mehrfach hingewiesen: Wiedemann: Deutsche Klassik und nationale Identität, S. 546 f. Schiller: Ankündigung der Horen, in: MA, Bd. 5, S. 872. Schiller: Ankündigung der ,Rheinischen Thalia‘, in: MA, Bd. 5, S. 855. In der Schaubühnenrede geht es um die Einwirkung des „denkenden bessern Teil des Volks“ auf den „Nationalgeist eines Volks“. Schillers patriotisch-nationale Dimension geht ganz im Denken der Aufklärung auf. Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, in: MA, Bd. 5, S. 828 und 830. Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 570. Vgl. zu Schiller die Anregung des bislang unpublizierten Vortrags von Wolfgang Riedel: „Demetrius. Fragment einer geschlossenen Form“. Schillertagung „,Ein Aggregat von Bruchstücken‘. Fragment und Fragmentarismus im Werk Friedrich Schillers“ in Bronnbach, 12.–14. November 2009. Goethe: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl, in: MA, Bd. 3,2, S. 186 – 191. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 27 – 47. Zum Problem des Begriffs und dem weiteren europäischen Kontext: Pfotenhauer, Helmut: Evidenzverheißungen. Klassizismus und ,Weimarer Klassik‘ im europäischen Vergleich, in: ders.: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik, Tübingen 1991, S. 137 – 155. Man denke an die Venezianischen Epigrammen, die Römischen Elegien, Hermann und Dorothea, Reineke Fuchs, Die Natürliche Tochter, die Xenien, aber auch Maria Stuart, Wallenstein, Wilhelm Tell und Demetrius.

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nauso wie die mehr als nur literarischen Prinzipien „Wohlanständigkeit und Ordnung, Gerechtigkeit und Friede“241 dafür, dass die Dichtung Schillers und Goethes der „wahre[n] Humanität“242 gewidmet blieb, auch wenn der Stoff vielfach (notwendig) aus der eigenen Zeit gegriffen war oder auf diese verwies. Kunst, das konstatierten beide Autoren, kann dem Einfluss der „Nation“ und des „Jahrhunderts“ nie ganz entzogen werden.243 Jene berühmten letzten Zeilen des Wallenstein-Prologs, „Ernst ist das Leben / Heiter ist die Kunst“244, lassen sich jedoch durchaus als Rettung der genannten Werte in die überzeitliche Kunstform verstehen. Metrisierung diente Schiller dementsprechend als Qualitätsprüfstein: „Man sollte wirklich alles, was sich über das gemeine erheben muß“, schreibt er mit Blick auf die mühselige Umarbeitung des Wallenstein, „in Versen wenigstens anfänglich concipiren, denn das Platte kommt nirgends so ins Licht, als wenn es in gebundener Schreibart ausgesprochen wird.“245 Den Chor empfiehlt er in der berühmten Vorrede zur Braut von Messina als „lebendige Mauer“ der Tragödie, um „dem Naturalism“ „den Krieg zu erklären“246. Der Kunst gehe es um die Wahrheit selbst, deshalb benötige sie ein „ideales Gebäude“247. Nur durch die gebundene Sprache des Chors könne der Ton auch innerhalb des Dramas gehoben werden. Er „reinigt“ „das tragische Gedicht“, da Reflexion und Handlung voneinander abgesondert würden und zur Passion der Handlung die „beruhigende[] Betrachtung“ trete.248 Auch wenn dergleichen Maximen weder für Schiller verallgemeinert noch einfach auf Goethe übertragen werden dürfen, lässt sich daran doch Grundsätzliches erkennen. Vor allem wird deutlich, dass die politische Dimension der Weimarer Dichtung „nicht auf den Staatsbürger in dem 241 Schiller: Ankündigung der Horen, in: MA, Bd. 5, S. 871. 242 Ebd. 243 Goethe: Rameaus Neffe. Anmerkungen, in: MA, Bd. 7, S. 665; „[…] das lebendige Produkt einer individuellen bestimmten Gegenwart einer ganz heterogenen Zeit zum Maaßstab und Muster aufdringen, hiesse die Kunst, die immer dynamisch und lebendig entstehen und wirken muß, eher tödten als beleben.“ Schiller an Johann Wilhelm Süvern, 26. Juli 1800, Nr. 215, in: NA, Bd. 30, S. 177. Vgl. Borchmeyer: Weimarer Klassik, S. 13 – 43. 244 Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 274. 245 Schiller an Johann Wolfgang von Goethe, 24. Nov. 1797, Nr. 163, in: NA, Bd. 29, S. 159 f. 246 Schiller: Über den Gebrauch des Chors, in: MA, Bd. 2, S. 819. 247 Ebd., S. 817. 248 Ebd., S. 821 f.

358 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast Menschen, sondern auf den Menschen in dem Staatsbürger“249 zielte. Es lag ihnen fern, die Wende „ins politisch Konkrete“250 zu vollziehen. Dafür wäre die schöne Literatur nicht das geeignete Medium, wie die Kurzlebigkeit der Gedichte Joseph von Hinsbergs bezeugt. „So wie ein Dichter politisch wirken will, muß er sich einer Partei hingeben; und so wie er dieses tut, ist er als Poet verloren“251, soll Goethe nach Überlieferung Eckermanns 1832 gesagt haben. Der Dichter würde zwar „als Mensch und Bürger sein Vaterland lieben, aber das Vaterland seiner poetischen Kräfte und seines poetischen Wirkens ist das Gute, Edle und Schöne“252. ,Ästhetische Erziehung‘ bzw. ,Bildung‘ setzen, der aufklärerischen Tradition folgend, auf die evolutionäre Veränderung der Gesellschaft über die Vervollkommnung des Einzelnen, getreu der Einsicht, die auch Wielands solonisches Prinzip prägt: „Nur der Karakter der Bürger erschafft und erhält den Staat, und macht politische und bürgerliche Freiheit möglich.“253 Erst darin wird der politische oder vielleicht besser: „vorpolitische“254 Wirkungskreis der Kunstkonzeption Schillers und Goethes greifbar. Die Bewahrung der Grundwerte des Humanismus und der Aufklärung mittels der Kunst und des Kunstdialogs wird, das ist der patriotische Kern des Horen-Programms, zur Weltaufgabe der Deutschen erklärt. Nicht kulturelle Kompensation der deutschen Misere vor dem „Hintergrund von Kleinstaaterei und politischer Zerstückelung“255, sondern Kompensation des aktuell untergehenden Reichs mit seiner politischen Einheit in der Vielfalt und Schutz der darauf fußenden weltbürgerlichen Kultur ist deshalb das Thema der berühmten Xenien zu Reich und Nation. Deutscher Nationalcharakter Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens, Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.256 249 250 251 252 253

Schiller: Über das Pathetische, in: MA, Bd. 5, S. 534. Valjavec: Politische Strömungen, S. 28. Goethe: Gespräche mit Eckermann. März 1832, in: MA, Bd. 19, S. 460. Ebd. Schiller an Friedrich Christian v. Augustenburg, 13. Juli 1793, Nr. 184, in: NA, Bd. 26, S. 264. Vgl. allgemein: Feger, Hans: Poetische Vernunft. Moral und Ästhetik im Deutschen Idealismus, Stuttgart 2007, S. 79 – 150. 254 Vgl. zur ästhetischen Erziehung Schillers: Riedel: Philosophie des Schönen als politische Anthropologie, S. 104 – 112 („Die vorpolitischen Grundlagen des modernen Staates“). 255 NA, Bd. 2, Teil II, 1, S. 491. 256 Schiller/Goethe: Deutscher Nationalcharakter, in: MA, Bd. 1, S. 267.

3. Reichszerfall und Formgewinn

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Das Deutsche Reich Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.257

Hier eine „offene[] Verteidigung der altständischen Ordnung“258 zu erblicken, ist schlicht eine Themaverfehlung, zielt doch das Verschwinden des politischen Reichs von der Landkarte auf die Ereignisse seit dem Basler Frieden, und der Beginn des gelehrten Reichs unter anderem auf die für „jeden deutschen [!] Schriftsteller“ offene „Sozietät“ der Horen. 259 Mit Restauration hat das nichts zu tun, sondern mit einer freilich traditionsvollen Rollenbestimmung der Literatur. Schillers nationalkulturelles Programm verdichtet sich in dem von Bernhard Suphan unglücklicherweise Deutsche Größe genannten Gedichtfragment – ein Trostgedicht, das mit Hans-Jürgen Schings besser ,deutsche Würde‘ zu nennen wäre.260 Wenn der Dichter dort erklärt, „Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge“261, ist das durchaus nicht so bemerkenswert, wie es die Kommentare aus Geschichtsund Literaturwissenschaft nahelegen. „Die Geschichte der deutschen Nation ist nicht Geschichte des deutschen Reiches“262, schreibt Joseph Milbiller, wenig aufgeregt einen Gemeinplatz der akademischen Reichsgeschichte aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wiedergebend: die eine richtet ihr Augenmerk auf den politisch-rechtlichen Zustand, die andere auf das gesamte Spektrum der Sitten und Kultur. Von größerer Bedeutung ist, dass Schiller die ,Majestät des Deutschen‘ allein in der Kultur und nicht im untergehenden ,Imperium‘ verortet: „Sie ist eine sittliche Größe“ und eignet sich daher zum Erhabenen, während die politische Verfassung der physischen Macht unterliegt.263 In seiner Antrittsvorlesung hieß es noch, Deutschland habe „auf dem rohen Grunde der 257 Schiller/Goethe: Das Deutsche Reich, in: ebd. 258 Hermand, Jost: Pro und Contra Goethe. Dichterische und germanistische Stellungnahme zu seinen Werken, Bern 2005, S. 46. 259 Schiller: Ankündigung der Horen, in: MA, Bd. 5, S. 873; Schiller: Einladung zur Mitarbeit an den Horen, in: MA, Bd. 5, S. 868 f. 260 Hans-Jürgen Schings unpubliziert gebliebener Vortrag zu Schillers Fragment „Deutsche Größe“, Schillertagung „,Ein Aggregat von Bruchstücken‘. Fragment und Fragmentarismus im Werk Friedrich Schillers“ in Bronnbach, 12.–14. November 2009. 261 Schiller: Deutsche Größe, in: MA, Bd. 1, S. 474. 262 Milbiller: Ideal einer Geschichte der deutschen Nation in philosophischer Hinsicht, S. 13. 263 Schiller: Deutsche Größe, in: MA, Bd. 1, S. 474.

360 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast Lehenanarchie“ das „System seiner politischen und kirchlichen Freiheit“, die Reichsverfassung des Westfälischen Friedens, errichtet.264 Nun betont er den kulturellen Gewinn, der sich „,abgesondert‘, nicht losgelöst, vom politischen Reich“265 entwickelt habe. Finster zwar und grau von Jahren Aus den Zeiten der Barbaren Stammt der Deutschen altes Reich. Doch lebendge Blumen grünen Unter gotischen Ruinen […] Das ist nicht des Deutschen Größe Obzusiegen mit dem Schwert, In das Geisterreich zu dringen Vorurteile zu besiegen […] Das ist seines Eifers wert. […]. Stürzte auch in Kriegesflammen Deutschlands Kaiserreich zusammen, Deutsche Größe bleibt bestehn.266

Die Kultur der Aufklärung habe sich dank der deutschen Vielstaatlichkeit anders als in Frankreich und England in großer Mannigfaltigkeit unabhängig von der „Tyrannei“ einer „Hauptstadt“ oder eines „Hof[es]“ wie in London und Paris gebildet, heißt es unmittelbar zuvor: „Soviele Länder und Ströme und Sitten, so viele eigene Triebe und Arten.“267 Fortführen und bewahren möchte Schiller die in dieser Vielfalt „in der Mitte von Europens Völkern“268 blühende Kultur, da das europäische Erbe im Strudel der Zeiten keinen anderen Schirmherrn mehr besitzt. Frankreich und England, einst Rivalen im Kampf um den ,Menschenadel‘, verschwenden ihre Kraft – der eine zu Land, der andere zur See – für den kurzfristigen Ruhm physisch-materieller Herrschaft, sie beten die falschen „Götzen“ an.269 Insofern gilt der später chauvinistisch ausgelegte Satz: „Jedes Volk hat 264 Schiller: Antrittsvorlesung, in: MA, Bd. 4, S. 757. 265 Schmidt: Staat, Nation und Universalismus, S. 59; Schmidt, Georg: Friedrich Schillers ,Deutsche Größe‘ und der nationale Universalismus, in: Tradition und Umbruch. Geschichte zwischen Wissenschaft, Kultur und Politik, hrsg. v. Werner Greiling/Hans-Werner Hahn, Rudolfstadt/Jena 2002, S. 11 – 32. 266 Schiller: Deutsche Größe, in: MA, Bd. 1, S. 475 f. 267 Ebd., S. 475. 268 Ebd., S. 477. 269 Ebd.; Schiller: Der Antritt des neuen Jahrhunderts, in: MA, Bd. 1, S. 459.

3. Reichszerfall und Formgewinn

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seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit […].“270 Goethe bezieht sich in seiner programmatischen Schrift Literarischer Sansculottismus weniger auf den Reichsuntergang, aber ebenso auf die kulturelle Tradition der föderalen Reichsverfassung. Auslöser ist der Verriss der deutschen Gegenwartsliteratur durch Daniel Jenisch im Berlinischen Archiv. Aus Goethes Antwort werden gerne Zitate isoliert, ohne der polemischen Absicht entsprechend den Kontext gebührend zu berücksichtigen. Klassische Nationalautoren entstünden, wenn der Autor im Einklang mit sich und der Geschichte seiner Nation lebe, er an einer umfassenden literarischen Nationalkultur teilhabe, und es um die Bildung seiner Landsleute gut bestellt sei.271 Was Goethe hier als Voraussetzung klassischer Kunst nennt, ist ein implizites Porträt griechischer Totalität, die für die dissoziierte Moderne unerreichbar ist.272 Ganz besonders natürlich für das vielfach zerteilte Deutschland: Nirgends in Deutschland ist ein Mittelpunkt gesellschaftlicher Lebensbildung, wo sich Schriftsteller zusammen fänden und nach Einer Art, in Einem Sinne, jeder in seinem Fache sich ausbilden könnten.273

Zum anderen – und das ist für die Argumentationslogik des Texts noch wichtiger – handelt es sich dabei um eine hintergründige Referenz auf Jenischs eigenen Klassikbegriff: „[D]as Wahre Ideal der Prose“, expliziert dieser im April-Heft, finde sich nur bei einem Volk, dessen „Seelenkräfte im harmonischen Gleichgewicht“ stünden. Den feinen Geschmack und die allgemeine Bildung des klassizistischen Frankreichs, die „Dichterwerke“ eines Pierre Corneille, Prosper Jolyot Crébillon oder Voltaire rühmt der preußische Kritiker anschließend. Jene Nation, die bedauerlicherweise „Europens Schrecken geworden“ sei, erreiche allein in der Gegenwart den 270 Schiller: Deutsche Größe, in: MA, Bd. 1, S. 478. In Versen: „Jedem Volk der Erde glänzt / Einst sein Tag in der Geschichte, / Wo es strahlt im höchsten Lichte / Und mit hohem Ruhm sich kränzt, / Doch des Deutschen Tag wird scheinen / Wenn der Zeiten Kreis sich füllt.“ Ebd. 271 Goethe: Literarischer Sanscülottismus, in: MA, Bd. 4,2, S. 16. 272 Vgl. den Topos der Totalität der Griechen gegenüber der Partikularisierung des Individuums in der Moderne: Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, in: Winckelmanns Werke in einem Band, hrsg. v. Helmut Holtzhauer, Berlin/Weimar 1969, S. 1 – 37, hier S. 12; Schiller: Ästhetische Erziehung, in: MA, Bd. 5, S. 581 – 588 (sechster Brief); Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, in: MA, Bd. 5, S. 694 – 780. 273 Goethe: Literarischer Sanscülottismus, in: MA, Bd. 4,2, S. 17.

362 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast Rang der klassischen Antike.274 Die Zeitgenossen wussten um den Preis dieser französischen Klassik: Uniformismus und Zentralismus, so die Kritik Justus Mösers und Johann Gottfried Herders, seien der deutschen Freiheit und Kultur unangemessen. Die deutsche Muse verdanke sich keinem „Augustisch[en] Altar“, heißt es in einem Gedicht Schillers, dafür habe sie sich „in eigner Fülle“ ausgebildet.275 Und in dem Gedicht An Goethe: Denn dort, wo Sklaven knien, Despoten walten, Wo sich die eitle Aftergröße bläht, Da kann die Kunst das Edle nicht gestalten, Von keinem Ludwig wird sie ausgesät […].276

Goethe plädierte niemals für eine Hauptstadt oder einen anders gearteten politischen oder kulturellen Zentralismus in Deutschland. Das amerikanische Projekt Leonardos und anderer Mitglieder der Turmgesellschaft aus Wilhelm Meisters Wanderjahre soll nicht etwa in die Gründung eines mächtigen bürgerlichen Staats münden, sondern – vielleicht inspiriert vom Ideal der deutschen Landeigentümer aus Justus Mösers Osnabrückischer Geschichte – in einen sittlich-religiösen „Bund“ von besitzenden „Staatsbürgern“, deren „Obrigkeit“ gerade keine Hauptstadt besäße: „die Deutschen Kaiser zogen umher, und diese Einrichtung ist dem Sinne freier Staaten am allergemäßesten. Wir fürchten uns vor einer Hauptstadt […].“277 Noch gegenüber Eckermann lobt er bekanntlich im Rückblick auf das Alte Reich, dass sich die „Einheit Deutschlands“ nicht durch eine 274 Jenisch, Daniel: Über Prose und Beredsamkeit der Deutschen, in: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks (März u. April, 1795), in: ebd., S. 932 f. Anders als im Kommentar zur Münchner Ausgabe (ebd., S. 929) wird hier davon ausgegangen, dass Goethe in seinem Text anfangs nur das März-Heft zitiert, weil dort die Kritik an der deutschen Literatur zu finden ist. Das April-Heft scheint er jedoch sehr wohl gekannt zu haben, man darf auch nicht vergessen, dass die Fortsetzung am Ende des Aufsatzes angekündigt wurde: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks (1795), S. 254. Der in der Münchner Ausgabe als Beleg zitierte Brief Schillers an Körner, er habe das „Manuscript zum Anfang des Stücks“ (10. April 1795, Nr. 138 in: NA, Bd. 27, S. 175) schon in den Händen, bezieht sich möglicherweise nicht auf Goethes Beitrag, der erst auf S. 50 einsetzt, sondern auf seine eigene Fortsetzung Merkwürdige Belagerung von Antwerpen in den Jahren 1584 und 1585 und/oder auf Karl Ludwig Woltmanns Beitrag zu einer Geschichte des französischen National-Charakters. Zudem wäre eine spätere Überarbeitung Goethes auch nicht ausgeschlossen. 275 Schiller: Die deutsche Muse, in: MA, Bd. 1, S. 214. 276 Schiller: An Goethe, in: MA, Bd. 1, S. 211. 277 Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: MA, Bd. 17, S. 635.

3. Reichszerfall und Formgewinn

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„große Residenz“ ausgebildet habe, die das „sehr große Reich“ allein dominiert hätte, sondern über die Vielfalt der zahlreichen „einzelnen Fürstensitze“278. Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände? ja auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht!279

Von all dem ist in Goethes Replik nicht explizit die Rede. Es schwingt aber mit, wenn es heißt: „Wir wollen die Umwälzung nicht wünschen, die in Deutschland klassische Werke vorbereiten könnten.“280 Welche Umwälzung sollte das sein? Zur politischen Welt der griechischen Antike gab es kein Zurück und von der Französischen Revolution erwarteten sich weder er noch Jenisch klassische Prosaisten. Und doch ist die Anspielung auf die Französische Revolution unüberhörbar. Genau besehen handelt es sich um eine doppelte Revolution: Die einzige Umwälzung, die in Deutschland denkbar wäre, um klassische Autoren in seinem Sinne hervorzubringen, ist der Umbau zu einem ,zentralistischen‘ Land im Stile Frankreichs nach dem Vorbild des gefeierten Siècle de Louis XIV. Vom französischen Klassizismus, der Tyrannei einer Hauptstadt und eines Hofs, führt jedoch, so der Subtext, ein direkter Weg zur Französischen Revolution. Jenisch ist deshalb ein literarischer Sansculott geworden, der voreilig die gesamte deutsche Literaturlandschaft guillotiniert. Was „vortreffliche Nationalschriftsteller“ in Deutschland unmöglich macht, sei die politische Zersplitterung des Reichs und die Nachahmung „fremder Sitten und ausländischer Literatur“ durch die „höheren Klassen“, repliziert Goethe die Topoi der Nachahmungsdebatte.281 Wie zwanzig Jahre zuvor bei Herder oder Möser wird aus dem Negativum der Teilung jedoch ein nationales Bonum: Der deutsche Weg führt zu einem genuinen Ziel, ohne Zentralismus und ohne Revolution. Jenisch, inzwischen informiert über den Verfasser der Replik, nennt seinen Kritiker vielleicht deshalb „einen edeldenkenden deutschen Patrioten“282. Dieser sieht den Weg zur Vervollkommnung der Kunst allerdings nicht mehr, wie einst Herder, in der Ausbildung einer nationalcharakteristischen 278 279 280 281 282

Goethe: Gespräche mit Eckermann, 23. Oktober 1828, in: MA, Bd. 19, S. 634. Ebd. Goethe: Literarischer Sanscülottismus, in: MA, Bd. 4,2, S. 17. Ebd., S. 17 und 18. Jenisch, Daniel: Berichtigung eines auffallenden Mißverständnises in den Horen, in: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks (September, 1795), in: MA, Bd. 4,2, S. 934.

364 Kapitel 4: Wir und nicht Sie. Revolutionswahrnehmung und Reichskontrast Literatur, welche die politische Einheit in der Vielheit integriert. Hatte Goethe noch in den 1770er-Jahren zeitgleich mit seinem Götz von Berlichingen eine Satire auf Wieland gedichtet, so kürt er ihn nun zum Ahnherr einer „unsichtbare[n] Schule“, der wohl auch die Horen-Sozietät zuzurechnen ist. Wielands formale Meisterschaft habe einen „reinen, dem Gegenstande angemessenen Styl“ hervorgebracht, der das nationale Vorbild sei.283 Das heute vergessene Ottaverime-Epos Oberon kann formal und stilistisch in der Tat als „das poetische Meisterwerk des Weimarer Wieland, ja wohl der ersten Phase der Weimarer Klassik überhaupt“284 gelten. Vielleicht benennt Goethe mit Wieland nicht zufällig einen Autor, der die kosmopolitische Aufgabe der Deutschen unter anderem in der gefährdeten Reichsverfassung begründet sah.

283 Goethe: Literarischer Sanscülottismus, in: MA, Bd. 4,2, S. 19. Zuvor: Goethe: Götter, Helden und Wieland, in: MA, Bd. 1,1, S. 681 – 693. 284 Borchmeyer: Weimarer Klassik, S. 91 f.; vgl. zum Klassikbegriff insgesamt wie zur Schwierigkeit, Wieland in das Konzept der ,Weimarer Klassik‘ zu integrieren: Jaumann, Herbert: Die verweigerte Alterität oder über den Horizont der Frage, wie Wieland zur ,Weimarer Klassik‘ steht, in: Aufklärung als Problem und Aufgabe. Festschrift Seven-Aage Jørgensen zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Klaus Bohnen/Per Øhrgaard, München/Kopenhagen 1994, S. 99 – 121.

Kapitel 5: Abgesänge und Arbeit am Mythos 1. Schein und Sein Im Laufe der 1790er-Jahre erwies sich das Alte Reich mehr denn je als reform- und handlungsunfähig. Reichsidee und Wirklichkeit, Schein und Sein klafften evident auseinander. Keiner artikulierte diesen Missstand eindringlicher als Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Fragment gebliebenen Schrift Über die deutsche Reichsverfassung (um 1802). Der Zerfall des Reichs dürfe nicht allein dem Rad der Fortuna angelastet werden, ebenso wenig genüge es, „das Geschehene bitter zu tadeln“1. Zahlreiche Schriftsteller der Jahrhundertwende behandelten in diesem oder ähnlichem Sinne das „Schicksal“ des ,deutschen Reichs‘ und der deutschen Nation.2 Mal warnend, mal beruhigend verglich man es mit dem Niedergang anderer vielstaatlicher Gebilde Europas: den polnischen Teilungen etwa oder dem Umsturz durch die französischen Revolutionstruppen in Italien und der Schweiz. Häufig wurde die historische Analogie zum Untergang der griechischen Poleiswelt, der römischen Republik oder auch des römischen Imperiums hergestellt. Grund für das Kontingenzempfinden der Reichskrise sei, so Hegel, dass man in Deutschland offenkundig an dem Begriff des ,deutschen Staats‘ festhalte, wiewohl dieser längst zu existieren aufgehört habe.3 Die hegelianische Reichskritik setzt einen unumkehrbaren und aufsteigenden Geschichtsverlauf voraus, dessen Anforderungen die Verfassung angepasst werden muss, soll die Zeit nicht über sie hinweggehen. Hegels Schrift ist geprägt von den Erfahrungen der jüngsten Geschichte, den Rastatter Verhandlungen sowie dem Lunéviller Frieden, und daher sowohl Ausdruck beißender Kritik als auch nationaler Leidenschaft. Ausgiebige 1 2 3

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Über die Reichsverfassung, hrsg. v. Hans Maier, Hamburg 2004, S. 5. Dafür ein Beispiel mit der Analogie zum Untergang des Römischen Reichs und der Völkerwanderung zu Moses Zeiten: Vogt, Nicolaus: Die deutsche Nation und ihre Schicksale, Frankfurt a.M. 1810, insbesondere S. 70 – 77. Hegel: Über die Reichsverfassung, S. 6.

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Kapitel 5: Abgesänge und Arbeit am Mythos

Pütter-Exzerpte bestätigen,4 wie sehr sich der nationale Furor des Philosophen an der ,reichspublicistischen‘ Tradition abarbeitete. Überhaupt erstaunt es, wie viele Intellektuelle und Dichter sich um 1800 noch einmal intensiv mit dem Reichsstaatsrecht auseinandersetzten. An Jean Pauls Exzerpthefte und die Reichsmetaphorik seiner Romane sei hier ebenso erinnert, wie an die umfassenden Häberlin- und Pütter-Studien, die sich im Nachlass Wilhelm Heinses fanden.5 Für Hegel diente die Pütter-Lektüre zunächst jedoch allein dazu, die berühmt gewordene These zu verifizieren: „Deutschland ist kein Staat mehr […], was nicht mehr begriffen werden kann ist nicht mehr.“6 Das Reich sei nur noch ein „Gedankenstaat“, der vom „Nicht-seyn des Staates“7 in der Realität konterkariert werde. Hegel war nicht der Einzige, der sich konsterniert über die Blüte der Reichsverfassungsschriften am Ende des Reichs zeigte. Eine gewisse Pointe bietet dabei die ,Sammelrezension‘ aus der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 21. August 1806 – 15 Tage nach Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II.: „Noch jetzt neue Darstellungen des öffentlichen Rechtszustandes in Deutschland! Warum drängen sich Künstler so gewaltig herbey, einen Sterbenden zu malen?“8 Und weiter, eine Passage, die auch von Hegel stammen könnte: Ganz unrecht hat man nicht […] zu behaupten, das deutsche Reich sterbe mit an den Publicisten, wie die Kranken oft an den Ärzten. Den Publicisten ist es gelungen, das deutsche Reich in dem Zustande eines bröcklichen Wesens zu erhalten, welches kein anderes Schicksal haben konnte, als in der Friction der politischen Sphären Europa’ zerrieben, und in pulverisierter Form auf die Nachwelt gebracht zu werden. […] Ja, die Kraft der Deutschen hat sich in

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Meist, Rainer Kurt: Zur Textedition der Verfassungsschrift, in: Hegel: Über die Reichsverfassung, S. VII–LXXXI, hier S. LXXVI–LXXXI. Interessanterweise finden sich auf demselben Manuskriptstück die Zusammenfassung seiner PütterExzerpte und die Machiavelli-Exzerpte aus dem Principe: ebd., S. LXXVII. Zu Jean Paul in dieser Arbeit 1. Kap., 3.2 Die Macht der Bilder: Jean Pauls Reichsmetaphorik; Heinses Notizen zum „Ius publicum Imperii Germanici“: Heinse, Wilhelm: Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlass, hrsg. v. Markus Bernauer u. a., Bd. II: Aufzeichnungen 1784 – 1803. Texte, München/Wien 2003, S. 721 – 728. Dazu: ebd., Bd. IV: Aufzeichnungen 1784 – 1804. Kommentar zu Bd. II, München/Wien 2003, S. 726 – 749. Hegel: Über die Reichsverfassung, S. 3. Ebd., S. 37, 40. Sammelrezension zur ,Jurisprudenz‘, in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 197 (21. August 1806), S. 345 – 349, hier S. 345.

1. Schein und Sein

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Wissen und Ideen aufgelöst. Das deutsche Reich ist ein Buch worden. Als Buch, und unter Büchern, geht es unter.9

Die Unwirklichkeit der ,reichspublicistischen‘ Verfassungsdiskussion fand ihre Entsprechung im leeren Schein der Rituale und Symbole des Heiligen Römischen Reichs. Die ,Puppe Karls des Großen‘, dessen „Bildniß“, so Herder, „bei Kaiserwahlen umhergetragen werde“, galt vielen Denkern und Dichtern als Zeichen und Metapher der Reformunfähigkeit und Sinnentleertheit der deutschen Reichsverfassung um 1800.10 Hegel charakterisiert das Reichsrecht als negatives Recht. Es sei ein „Rechtssystem gegen den Staat“11: „das deutsche Staatsgebäude heißt nichts anders als die Summe der Rechte, die dem Staate entzogen sind […].“12 Man darf sich jedoch nicht täuschen: Er weiß durchaus Positives von der ,deutschen Freiheit‘, dem Reich wie der alteuropäischen Ordnung des 18. Jahrhunderts insgesamt zu berichten. Hegel spricht gar von dem „grosse[n] Vorzug der alten Staaten Europa’s“, dem „freyen Spielraum“, den die Bürger besessen hätten, betont aber zugleich, dass ein Staatskörper wie das Heilige Römische Reich im Zeitalter moderner Machtstaaten „unmöglich“ geworden sei.13 Der Staatsbegriff hat sich verschoben. Herder nennt im gleichen Sinne und mit Blick auf die deutschen Zustände ausbleibende Reformen eine Inkonsequenz „gegen die konsequente Reihe der Dinge“, die zum fatalen ,eigenen Schicksal‘ eines Reichs werden könnte.14 Das Versagen der Kriegsverfassung in den Koalitionskriegen, besonders der Verlust des linken Rheinufers, stellt für Hegel die Inexistenz eines deut9 Ebd., S. 346. Dieselbe Kritik bei Voß: „So entstand die seltsame Erscheinung: daß eine geraume Zeit in Büchern eine Reichsstaatsverfassung ausgeführt und gelehrt wurde, welche in der Wirklichkeit nicht existierte […].“ Voß, Christian Daniel: Ueber die Schicksale der deutschen Reichs=Verfassung. Ein historisch=publicistischer Versuch, Leipzig 1802, S. 9. 10 Herder: Warum wir keine deutsche Geschichte haben, in: SWS, Bd. 18, S. 381 f. Ebenso Hegel: „Die Verfassung scheint gar seit den tausend Jahren, die seit Karl dem Grossen verflossen sind keine Veränderung erlitten zu haben, wenn der neugewählte Kaiser noch izt bei der Krönung die Krone, den Skepter, Apfel, sogar die Schuhe, den Rok und die Kleinodien Karls des Großen trägt; ein Kaiser neuerer Zeiten ist ja hiermit so sehr als derselbe Kaiser, der Karl der Grosse war, dargestellt, daß er ja sogar noch dessen eigne Kleider trägt.“ Hegel: Über die Reichsverfassung, S. 100. Dazu: Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider, S. 7. 11 Hegel: Über die Reichsverfassung, S. 66. 12 Ebd., S. 55. 13 Ebd., S. 14. 14 Herder, Johann Gottfried: Das eigene Schicksal, in: Die Horen 1, St. 3 (1795), S. 1 – 21, hier S. 7 f.

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Kapitel 5: Abgesänge und Arbeit am Mythos

schen Staats unter Beweis: „[…] im Kriege aber zeigt sich die Krafft des Zusammenhangs Aller mit dem Ganzen […].“15 Im reichsrechtlichen Detail analysiert er die fehlende Entwicklung zum Machtstaat seit 1648.16 Mit Blick auf die griechische Antike und Italien mündet das in die Feststellung: „Eine Möglichkeit daß kleine Staaten grossen widerstreben, ist aber nunmehr völlig verschwunden, und die Souveränität der Staaten Deutschlands hat sich mehr zu einer Zeit gebildet, als diese Möglichkeit nicht mehr vorhanden war.“17 Mit Hilfe der Einsicht in den Geschichtsverlauf versucht sich Hegel vor der Resignation in das Schicksal zu schützen. Seine Kritik am Reichsstaatsrecht und der deutschen Vergangenheit hindert ihn daher auch nicht, am Reich festzuhalten und selbst ein Reformprogramm zu skizzieren: „Ein Bestehen des deutschen Reichs wäre nur auf die Art möglich, daß seine Staatsmacht organisirt [würde], und das deutsche Volk wieder in Beziehung mit Kayser und Reich käme.“18 Sein Vorschlag läuft auf die machtstaatliche Anpassung der Reichsverfassung an die Erfordernisse der Zeit hinaus. Kernelement ist die Reform der Heeresverfassung zu einer Reichsarmee, die unter kaiserlicher Direktion stünde. Finanziert solle sie über eine Versammlung der Landstände aller Teilstaaten des Reichs werden. Die dazu nötigen neuen Militärkreise propagiert Hegel zugleich als Wahlbezirke für Abgeordnete, die der Kurie der Reichsstädte am Reichstag beigefügt werden sollen.19 Das föderalistische Reich bleibt also auch in der Vision des Philosophen bestehen – freilich ungemein verdichtet und nach englischem Modell republikanisiert. Ein Theseus soll die Unwilligen zu dieser Reform zwingen.20 Hegel lässt sich ähnlich wie Kleist und die meisten Romantiker kaum mehr zu der Generation zählen, deren Adoleszenz essentiell von der Lebenswelt des Alten Reichs geprägt war.21 Jene Dichter und Philosophen, die 15 Hegel: Über die Reichsverfassung, S. 4. Zum Krieg auch: ebd., S. 133 ff. 16 Analyse einzelner Rechtsprobleme wie Sollicitatur, Itio in partes, die Reformen Josephs II., Gründe für das Scheitern der Visitation o. ä.: ebd., S. 42 – 46. 17 Ebd., S. 132. 18 Ebd., S. 149. 19 Ebd., S. 150. 20 Ebd., S. 152. 21 Wolfgang Burgdorf verwendet in seiner Studie einen generationsspezifischen Ansatz. Jene Reichstagsgesandten, die zwischen den 1730er- und den 1780erJahren geboren wurden, nennt er „Generation von 1806“, da die Auflösung der Reichsverfassung einen großen Einschnitt in ihrem Lebensweg bedeutete. Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 12 – 18.

1. Schein und Sein

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in den 1770er- und 1780er-Jahren geboren wurden, erlebten es meist nurmehr als überkommene Ordnung, deren Untergang nahe bevorstand. Zumindest graduell anders hingegen die älteren Autoren Goethe, Wieland, Herder und auch Schiller. Vielleicht erklären sich daraus die erkennbar unterschiedlichen Reaktionsformen auf das Ende des Alten Reichs. Die ältere Generation erlebte das Anbrechen der neuen Zeit häufig als Gegenbeweis oder doch zumindest als Infragestellung des aufgeklärten Fortschrittsdenkens. Drei Erfahrungen torpedierten den Glauben an einen evolutionären Fortschritt des Menschengeschlechts genauso wie an nahe politische Reformen in Deutschland: 1. die Pervertierung der Französischen Revolution zur Grande Terreur, 2. der Zusammenbruch des europäischen Staatensystems und eben auch, 3., der Untergang des Alten Reichs. Wielands Goldner Spiegel reflektiert in der Version von 1794 diesen wachsenden Zweifel: Danischmend postuliert dort zwei Varianten für die Zukunft eines jeden Staats, dessen Bürger freie Menschen seien. In beiden Fällen tritt die Sittlichkeit der Einwohner in Kontrast zur Verfassung. Der erste Weg ist jener der Aufklärung: Die Verbesserung der Sitten des Volks gelingt auf dem Weg der Kultur, die ständisch-monarchische Verfassung wird vom Fortschritt der Menschheit überboten. Das Mündigwerden aller Bürger lässt im Sinne einer ,verzeitlichten Utopie‘22 am Ende der Geschichte die politischen Vormünder und damit Regierungen überhaupt überflüssig werden. Diese Entwicklung scheint dem geschichtsphilosophisch zunehmend desillusionierten Wieland Mitte der 1790er-Jahre allerdings höchst unwahrscheinlich und Scheschian bestätigt (wie der Reichszerfall) die pessimistische Variante: Die Verfassung wird durch die sittliche Depravation unterboten, ihre gelungene Einrichtung kann den „Zeitpunkt des politischen Todes“ nur verlangsamen, aber nicht unterbinden. „Ohne Zweifel liegt diese Tendenz zum schlechter werden so tief in der menschlichen Natur, daß ihre Wirkung durch keine menschliche Veranstaltung gänzlich aufgehoben werden kann.“23 Dass Wieland, Goethe und Schiller an einer Reichsreform zumindest im Prinzip erstaunlich lange festhielten, zeigt im Folgenden das Kapitel „Krisis und brüchige Utopie“ anhand Wielands Gesprächen unter vier Augen, Goethes Märchen sowie Schillers Wilhelm Tell. Die Desillusion über 22 Vgl. Koselleck, Reinhart: Die Verzeitlichung der Utopie, in: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, hrsg. v. Wilhelm Voßkamp, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 1 – 14. 23 Wieland: Goldner Spiegel, in: GS, Bd. 9, S. 299.

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den Erfolg des ,Projekts Aufklärung‘ hing aus deutscher Sicht jedenfalls partiell mit dem Ausbleiben einer Reichsreform zusammen. Die Reaktion der Weimarer bestand jedoch nicht im Plädoyer für politischen Aktionismus, sondern in der Aktualisierung des antiken philosophischen Erbes epikureischer und stoischer Provenienz, dem sich alle drei Autoren auf unterschiedliche Weise schon weit zuvor genähert hatten. Der oben genannte ,Formgewinn‘ der Weimarer Klassik in Zeiten des Reichszerfalls24 gewinnt damit eine ethisch-philosophische Dimension. Bereits Pierre Hadot wies auf die Bedeutsamkeit der Kunstformen des Dialogs, des Gesprächs, des Tagebuchs für die antike Philosophie hin: Die Kunst bietet die Möglichkeit zur Einübung einer philosophischen Lebensform.25 Wenn Goethe angesichts einer französischen Revolutionsfeier, die ausgerechnet in Wetzlar, der Stadt des Reichskammergerichts, stattfand, die ,handwerkliche‘ Arbeit an „ein paar Verse[n]“ für sich selbst zu etwas Bedeutsamerem erklärt als die politischen Großereignisse seiner Zeit, auf die er aber keinerlei Einfluss habe,26 so ist das nicht als unpolitisch, sondern als vorpolitisch zu verstehen. Im Zentrum steht die individuelle Bildung bzw. Selbstsorge. Es ist ein Verdienst Michael Jaegers, die antike Eudämonie- und Kairoslehre „als das Fundament des klassischen Humanismus Goethes“27 wiedererkannt und damit die Frage nach seiner „klassischen Lebenskunst“28 in philosophiegeschichtlicher Perspektive erweitert zu haben. Dem Veloziferischen der Jahrhundertwende, dem Zeitalter der politischen, demographischen und ökonomischen Revolutionen stellte der Dichter, so Jaeger, das gelingende Leben im Sinne der antiken Philosophie entgegen und damit die Affirmation des unmittelbar Gegenwärtigen anstelle des unbefriedigenden plus ultra. Ziel dieser Tradition ist die Befreiung von Furcht sowie von künstlichen Bedürfnissen, um zur inneren Harmonie, der tranquilitas animi oder ataraxia, zu gelangen.29 Faust ist in24 Vgl. in dieser Arbeit 4. Kap., 3. Reichszerfall und Formgewinn. 25 Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, 2. Aufl. Berlin 2005, z. B. das Kapitel über Marc Aurel, S. 69 – 98. 26 Goethe: Reise in die Schweiz […] im Jahre 1797, in: MA, Bd. 4,2, S. 620. Am 10. 09. 1792 feierte die Maas- und Sambre-Armee den Tag des Tuileriensturms in Wetzlar, siehe: Kommentar, in: ebd., S. 1171. 27 Jaeger, Michael: Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne, 3. Aufl. Würzburg 2010, S. 33. 28 Vgl. Schings, Hans-Jürgen: „Gedenke zu leben“ – Goethes Lebenskunst, in: Wilhelm Meister und seine Nachfahren, hrsg. v. Helmut Fuhrmann, Kassel 2000, S. 33 – 52. 29 Vgl. Hadot: Philosophie als Lebensform, zu Goethe: S. 101 – 122.

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sofern ein Drama der Daseinsverfehlung. Die Faust-Figur steht den Einsichten aus den Kunst- und Naturstudien geradezu kontradiktorisch gegenüber.30 Hans-Jürgen Schings liest Goethes Winckelmann-Schrift, in welcher das Porträt des großen Altertumsforschers zum Exempel klassischer Lebenskunst gesteigert wird, als einen regelrechten Anti-Faust.31 Aufgrund ebendieser Opposition fand schon kein Geringerer als Karl Löwith in Goethe den Antipoden zur aktionistischen Geschichtsphilosophie der Hegel-Nachfolger – ein Antipode, der dem Gang der Weltgeschichte die Erfahrung der konkreten Wirklichkeit im Gegenwärtigen und Alltäglichen vorgezogen habe.32 Auch für Christoph Martin Wieland beanspruchte jüngst Walther Erhart die von Pierre Hadot und Michel Foucault wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit zurückgeholte Tradition der exercises spirituels, die Formen der philosophischen Selbstsorge und Seelenerforschung des Epikureismus und Stoizismus.33 Was sich von dessen Musarion über die unterschiedlichen Fassungen des Agathon, den Horaz-Kommentar bis zum großen Alters-Roman Aristipp durchhält und zunehmend verstärkt, ist eben jene eudaimonistische Ethik, jene seelentherapeutische Praktik des philosophischen Gesprächs.34 Sein in vielerlei Hinsicht von der ,Winckelmannschen Normallinie‘ abweichendes Antikebild,35 ermöglichte ihm gepaart mit einem skeptisch-zyklischen Geschichtsverständnis sowohl im Aristipp als auch in den Cicero-Briefen, Epochen in den Blick zu rücken, die 30 Jaeger, Michael: Kontemplation und Kolonisation der Natur. Klassische Überlieferung und moderne Negation von Goethes Metamorphosendenken, in: Goethe-Jahrbuch 124 (2007), S. 60 – 73; allgemein: Jaeger: Fausts Kolonie. 31 Schings, Hans-Jürgen: „Gesundheit des Moments“ oder Winckelmann und Faust, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 23 (1997), S. 387 – 397. 32 Löwith, Karl: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Stuttgart u. a. 1950/1964, insbesondere S. 17 – 43 und 221 – 256; vgl. Jaegers ideengeschichtlichen Epilog: Jaeger: Fausts Kolonie, S. 516 – 545. 33 Hadot: Philosophie als Lebensform; Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France, Frankfurt a.M. 2004; Erhart, Walter: Wieland ist nie modern gewesen, in: Wissen – Erzählen – Tradition. Wielands Spätwerk, hrsg. v. Walter Erhart/Lothar van Laak, Berlin/New York 2010, S. 15 – 35, hier S. 28 f. 34 Kimmich, Dorothee: Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge, Darmstadt 1993, S. 180 – 210 (Wieland-Kapitel). 35 Fuhrmann, Manfred: Wielands Horaz-Übersetzungen, in: Wieland, Christoph Martin: Übersetzung des Horaz, hrsg. v. Manfred Fuhrmann, Frankfurt a.M. 1986, S. 1061 – 1095, hier S. 1073 – 1082.

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sich zur Darstellung der similitudo temporum des Reichsuntergangs – so Wieland ausdrücklich – besonders eignen. Und Schiller? Mehr als Goethe und mehr wohl auch als Wieland war Schiller von dem Glauben an eine glückliche Entwicklung der menschlichen Gattung geprägt und stärker als diese reagierte er, der Jüngere, auf die Enttäuschung – wiederum mit Rekurs auf das philosophische Erbe der Antike: den Stoizismus. Die Ursprünge für Schillers Rezeption stoischen Gedankenguts liegen in Jacob Friedrich Abels Lehre der Seelenstärke (firmitas animi).36 Doch erst die späte Schrift Über das Erhabene entwickelt daraus ein lebensphilosophisches Konzept, das mit Blick auf die Jenaer Antrittsvorlesung nichts Geringeres darstellt als, so Wolfgang Riedel, „eine Selbstkritik“ der eigenen Universalhistorik.37 Mehr denn je erscheint das Erhabene nun als „Philosophie für den Ernstfall“38, aus dem ethischen und ästhetischen Thema wird eine geradezu „existentielle“ Haltung.39 Natürlich sind die Unterschiede zur antiken Stoa evident, sei es bezüglich des Apathie-Konzeptes, des gewandelten Natur- und Kulturbegriffs oder der veränderten Subjektivitätstheorie: Das stoische Ideal der Eudämonie wandelt sich zu „einem aufklärerischen Konzept der autonomen Selbst-

36 Riedel, Wolfgang: Kommentar zu Abels Rede „Seelenstärke ist Herrschaft über sich selbst“, in: Jacob Friedrich Abel: eine Quellenedition. Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773 – 1782), hrsg. mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie von Wolfgang Riedel, Würzburg 1995, S. 570 – 575; Piñeiro Costas, Trinidad: Schillers Begriff des Erhabenen in der Tradition der Stoa und Rhetorik, Frankfurt a.M. u. a. 2006, insbesondere S. 52 – 59 und 69 – 78. 37 Riedel, Wolfgang: „Weltgeschichte ein erhabenes Object“. Zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken, in: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings, hrsg. v. Peter-André Alt u. a., Würzburg 2002, S. 193 – 214, hier S. 197. Man denke auch an die Verse des Gedichts Worte des Wahns: „Solange er glaubt an die goldene Zeit, / Wo das Rechte, das Gute wird siegen, – / Das Rechte, das Gute führt ewig Streit, / Nie wird der Feind ihm erliegen, / Und erstickst du ihn nicht in den Lüften frei, / Stets wächst ihm die Kraft auf der Erde neu.“ Schiller: Gedichte, in: MA, Bd. 1, S. 215 f. 38 Riedel, Wolfgang: ,Der Spaziergang‘. Ästhetik der Landschaft und Geschichtsphilosophie der Natur bei Schiller, Würzburg 1989, S. 97. 39 Riedel, Wolfgang: Die Freiheit und der Tod. Grenzphänomene idealistischer Theoriebildung beim späten Schiller, in: Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker, hrsg. v. Georg Bollenbeck/Lothar Ehrlich, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 59 – 71, hier S. 67.

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befreiung von Gewalt“40. Wesentliche Aspekte von Schillers Gedankenfiguren aus Über das Erhabene wie die „Resignation in die Notwendigkeit“ können ihre Herkunft aus der stoischen Tradition jedoch nicht verbergen.41 Natur und menschliche Geschichte entziehen sich in scharfem Kontrast zum Fortschrittsglauben der Antrittsvorlesung und desillusioniert über das antike Erbe hinausgehend einer sinnvollen Ordnung. Die „große Haushaltung der Natur mit der dürftigen Fackel des Verstandes“ zu beleuchten und so „Harmonie“ in die „Unordnung“ zu legen, gelingt in einer Welt, „wo mehr der tolle Zufall als ein weiser Plan zu regieren scheint und bei weitem in den mehrsten Fällen Verdienst und Glück miteinander im Widerspruch stehn“42, nicht. Es herrscht allein das Rad der Fortuna. Literatur wird zur geistigen Übung im Sinne Hadots: Das künstliche Unglück bereitet auf das wahre Unglück vor, die Erkenntnis der planlosen Geschichte wird zur „Inokulation des unvermeidlichen Schicksals“, zur exercise spirituel, die Senecas fortunae resistere erst möglich macht.43 „Un40 Barone, Paul: Schiller und die Tradition des Erhabenen, Berlin 2004, S. 127. Dort auch zum divergierenden Natur- und Kulturbegriff. Zur Apathie: Piñeiro Costas: Schillers Begriff des Erhabenen, S. 25, 42, 60 – 68. 41 Auf diese Tradition verweist Schiller indirekt selbst: „Diese Sinnesart aber, welche die Moral unter dem Begriff der Resignation in die Notwendigkeit und die Religion unter dem Begriff der Ergebung in den göttlichen Ratschluß lehret, erfordert, wenn sie ein Werk der freien Wahl und Überlegung sein soll, schon eine größere Klarheit des Denkens und eine höhere Energie des Willens, als dem Menschen im handelnden Leben eigen zu sein pflegt.“ Ebenso: „Der moralisch gebildete Mensch, und nur dieser, ist ganz frei. Entweder er ist der Natur als Macht überlegen, oder er ist einstimmig mit derselben“; „Wohl ihm also, wenn er gelernt hat, zu ertragen, was er nicht ändern kann, und preiszugeben mit Würde, was er nicht retten kann!“ Schiller: Über das Erhabene, in: MA, Bd. 5, S. 794 und 805. Man denke an die berühmte Kleanthes’ Sentenz aus Senecas Epistulae morales: „Ducunt uolentem fata, nolentem trahunt“, das stoische Grundprinzip „secundum naturam vivere“ sowie Senecas Grundhaltung des „fortunae resistere“. Nachweise der Seneca-Stellen: Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 126 und 132. Vgl. Riedel: Die Freiheit und der Tod; mit Blick auf Maria Stuart weniger überzeugend: Neymeyr, Barbara: Pathos und Ataraxie. Zum stoischen Ethos in Schillers ästhetischen Schriften und in seinem Drama ,Maria Stuart‘, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 262 – 288. 42 Schiller: Über das Erhabene, in: MA, Bd. 5, S. 802 f. 43 Ebd., S. 805 f. Der Übungsaspekt in anderer Form bereits in den Ästhetischen Briefen, z. B. Schiller: Ästhetische Erziehung, in: MA, Bd. 5, S. 588 (sechster Brief) und 644 (dreiundzwanzigster Brief ); vgl. zu Senecas Formulierung ausführlich: Busch, Gerda: Fortunae resistere in der Moral des Philosophen Seneca, in: Seneca als Philosoph. Wege der Forschung, hrsg. v. Gregor Maurach, 2. Aufl. Darmstadt 1987, S. 3 – 94.

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term Rad liegt Hekuba, / ehdem Königinne“44, heißt es in der Carmina Burana. Und Max, das Ende Wallensteins, „der Fortuna Kind“, voraussagend: Denn dieser Königliche, wenn er fällt, Wird eine Welt im Sturze mit sich reißen, Und wie ein Schiff, das mitten auf dem Weltmeer In Brand gerät mit einem Mal, und berstend Auffliegt, und alle Mannschaft, die es trug, Ausschüttet plötzlich zwischen Meer und Himmel; Wird er uns alle, die wir an sein Glück Befestigt sind, in seinen Fall hinabziehen.45

Schillers Ausführungen in Über das Erhabene nehmen sich dazu wie ein Kommentar aus: Zu dieser Bekanntschaft nun verhilft uns das furchtbar herrliche Schauspiel der alles zerstörenden und wieder erschaffenden und wieder zerstörenden Veränderung – des bald langsam untergrabenden bald schnell überfallenden Verderbens, verhelfen uns die pathetischen Gemälde der mit dem Schicksal (ringenden) Menschheit, der unaufhaltsamen Flucht des Glücks, der betrogenen Sicherheit, der triumphierenden Ungerechtigkeit und der unterliegenden Unschuld, welche die Geschichte in reichem Maß aufstellt und die tragische Kunst nachahmend vor unsre Augen bringt.46

Kein Stück hätte diesem zyklischen, stark resignativen Geschichtsbild intensiver Ausdruck verleihen können als die unvollendete Tragödie Demetrius, die nach Glück und Unglück des ersten Demetrius mit einem Monolog des zweiten Demetrius schließen sollte, „indem er in eine neue Reihe von Stürmen hineinblicken läßt und gleichsam das Alte von neuem beginnt“47. Erst vor dem Hintergrund dieser modernen Adaption antiken Denkens sind die Reflexe auf den Untergang des Heiligen Römischen Reichs in Schillers Wallenstein, in Wielands Aristipp, vor allem aber in seinem CiceroKommentar und nicht zuletzt in Goethes Faust II vollständig zu begreifen. Sie werden Gegenstand des Kapitels „Das Rad der Fortuna“ sein. 44 Bernt, Günter/Fischer, Carl (Hrsg.): Carmina burana. Die Gedichte des Codex Buranus. Lateinisch und deutsch, übersetzt von Carl Fischer/Hugo Kuhn, Zürich/ München 1974, S. 43. 45 Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 404 f. Zum Verhältnis von Fortuna und Nemesis bei Wallenstein: Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 273 – 285. 46 Schiller: Über das Erhabene, in: MA, Bd. 5, S. 806. 47 Schiller: Demetrius, in: MA, Bd. 3, S. 76.

2. Krisis und brüchige Utopie

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Die jüngere Generation verarbeitete den Reichsuntergang, wie in einem Ausblick mit dem Titel „Historisierung, Spiritualisierung, Verjüngung“ gezeigt wird, auf ganz andere und sehr heterogene Art und Weise. Die als nationale Katastrophe empfundene Reichsauflösung zwang genauso zur kulturellen Kompensation, wie sie Freiräume schuf für politischpoetische Fiktionen. Während die einen ihren Blick in nostalgischer Verklärung des mittelalterlichen Reichs nach hinten richteten, blickten andere in nationalistischer Verschiebung nach vorne. Sowohl die genauso nationale wie spirituelle ,Reichsromantik‘ eines Novalis’, Schlegels, Wetzels oder Eichendorffs als auch die politische Agitationsdichtung Kleists im nationalen Kampf gegen Frankreich weisen jedoch unverkennbare Spuren jenes reichsgeschichtlichen Kontexts aus der Zeit um 1800 auf, dem sie sich letztlich verdanken. Das Reich blieb jedenfalls in höchst unterschiedlichen politischen Farben auch und besonders im 19. Jahrhundert geradezu allgegenwärtig.48

2. Krisis und brüchige Utopie 2.1 Wielands Traum von einem modernen Reichsstaat in den Gesprächen unter vier Augen Von Christoph Martin Wielands Reflexionen über die Reichsverfassung sind nur die apologetischen Schriften der Revolutionszeit einem weiteren Kreis bekannt, doch noch in den Gesprächen unter vier Augen (1798/1799) widmet er sich längst nicht nur der Revolution und Napoleon,49 sondern diskutiert gleichermaßen in dialogisch abwägender Form die Verletzung der Reichsintegrität mit ihren Folgen, ja, er lanciert dort sogar einen bemerkenswerten Reformentwurf für eine zukünftige Reichsverfassung. Die Gespräche sind nicht mehr im lukianesken Ton der vorangehenden Elysiumsfiktionen verfasst, sondern – mehr an Xenophon und Platon orientiert

48 Vgl. Puschner, Uwe: Reichsromantik. Erinnerungen an das Alte Reich zwischen den Freiheitskriegen von 1813/1814 und den Revolutionen von 1848, in: Schilling/Heun/Götzmann: Heiliges Römisches Reich, Bd. 2, S. 319 – 330. 49 Höhle spricht von einer „der größten und letzten Auseinandersetzungen Wielands mit Problemen der Französischen Revolution“. Höhle, Thomas: Eine der lustigsten Begebenheiten unseres Zeitalters. Wielands ,Gespräche unter vier Augen‘ im Urteil Goethes, in: Aufklärung und Weimarer Klassik im Dialog, hrsg. v. Andre Rudolph/Ernst Stöckmann, Tübingen 2008, S. 187 – 193, hier S. 187.

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– zurück im Reich der Lebenden, weniger satirisch, dafür umso ernsthafter.50 2.1.1 Was ist zu thun? Apokalypse und pragmatische Reichspolitik Im Dialog Was ist zu thun? lässt Wieland die Figuren Wilibald51 und Heribert ausführlich über den deutschen Nationalgeist und die Abtretung der linksrheinischen Gebiete debattieren. Während dieses Gespräch kaum Aufmerksamkeit auf sich zog, brachte es der vorangehende Dialog mit denselben Figuren schon bei den Zeitgenossen zu internationalem Ruhm, da Wilibald dort den Franzosen als Ausweg aus der Krise empfiehlt, Bonaparte zum „Diktator“ zu wählen. Im Nachhinein schien das wie die Prophezeiung des 18. Brumaire, wiewohl Wieland alle seherischen Fähigkeiten von sich wies.52 Der Titel Was ist zu thun? artikuliert die Ratlosigkeit des Reichspatrioten Wilibald im Gespräch mit dem französischen Revolutionär. Wie für die Gespräche unter vier Augen typisch schildern die Gesprächspartner ein und dasselbe Thema aus unterschiedlichen Perspektiven, so dass sich in ihrer Koalition jener Pragmatismus zu entfalten vermag, in dem wohl am ehesten das politische Statement des Autors zu suchen ist, wiewohl er sich an anderer Stelle ausdrücklich mit Wilibald identifiziert.53 Wieland geht es dabei keineswegs um Frankreich, sondern um die Zukunftstauglichkeit der Reichsverfassung. Geradezu mäeutisch gelingt es dem Revolutionär Heribert, der gleichsam in eine Beraterrolle schlüpft, dem verbitterten deutschen Patrioten bei der eigentlich schon längst zweifelsfreien Erkenntnis auf die Sprünge zu helfen: Das Reich ist in seiner alten Form nicht 50 Kleihues: Rückkehr aus dem Elysium, S. 182 – 188. 51 Im Teutschen Merkur heißt der Reichspatriot Wilibald: Wieland, Christoph Martin: Was ist zu thun?, in: NTM 1 (1798), S. 355 – 383. In der Buch-Version heißt er Geron: Wieland, Christoph Martin: Was ist zu thun?, in: ders.: Gespräche unter vier Augen, Leipzig 1799, S. 85 – 108. 52 Wieland: Haß dem Königthum!, in: PS, Bd, 3, S. 359. Original: Wieland, Christoph Martin: Zweytes Gespräch, über den neufränkischen Staatseid „Haß dem Königthum!“, in: NTM 1 (1798), S. 259 – 288; Wieland: Meine Erklärung, in: PS, Bd. 3, S. 583 – 604. Original: Wieland, Christoph Martin: Meine Erklärung über einen im St. James Chronicle, January 25, 1800, abgedruckten Artikel, der zur Überschrift hat: Prediction concerning Buonaparte, in: NTM 1 (1800), S. 243 – 276. 53 Nebenbei erläutert Wieland: „Das Gespräch zwischen Wilibald und Heribert, oder, wenn man lieber will, zwischen mir selbst und einem neufränkischen (französischen) Citoyen.“ Wieland: Meine Erklärung, in: PS, Bd. 3, S. 594.

2. Krisis und brüchige Utopie

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mehr zu retten, die Fürsten haben es im Stich gelassen und nötige Reformen sind ausgeblieben. Daraus wird allerdings nicht gefolgert, dass das Alte Reich nun gänzlich untergehen müsse, vielmehr wird ein pragmatischer Rettungsversuch angedeutet, wie der „Umsturz“ der Verfassung verhindert werden kann ohne die Realitäten zu missachten.54 In dem Dialog Träume mit offenen Augen wird die Frage fortgesetzt und zugleich in einen quasi-utopischen Diskurs überführt. Die Dialoge müssen als ein bemerkenswertes Dokument gelten, in dem wie in einem Brennspiegel die nationalen und politischen Themen dieser Zeit in der Frage um das Fortbestehen der Reichsverfassung zusammenlaufen. Resigniert eröffnet Wilibald das Gespräch, indem er den Hermannsmythos aufruft, um sowohl die ideale Größe der Nation anzuzeigen als auch die Tragik ihres faktischen Untergangs zu verdeutlichen: So werd’ ich denn doch den fatalen Augenblick sehen müssen, da mein armes Vaterland, – dieses einst so mächtige, so ehrwürdige Germanien, das im Stande seiner rohen Freyheit von dem allgewaltigen Rom selbst nicht bezwungen werden konnte, sich von Euern noch allgewaltigen Demagogen wie eine Masse Thon behandeln, und, nach ihrer Willkühr, weiß der Himmel in welche abenteuerliche Form oder Unform umgestalten lassen muß!55

Erneut zeigt sich die Destruktion der mythischen Unbesiegbarkeit als mentalitätsgeschichtlich kaum zu unterschätzendes Faktum. Die Appellationsfigur zur wehrhaften Eintracht wurde während der Koalitionskriege als pure Fiktion enttarnt. Grund für die Ausweglosigkeit ist das Fehlen von „Vaterlandsliebe und Nazionalgeist“56. Unverkennbar nimmt Wieland hier die Nationalgeistdebatte der 1760er-Jahre wieder auf. Wilibald selbst stellt mit Nachhilfe des Revolutionärs fest, daß wir keine Nazion sind; daß wir das ungeheure Bild sind, das König Nebkuadnezar einst im Traume sah, – ,dessen Haupt war von feinem Gold, seine Brust und Arme von feinem Silber, sein Bauch von Erz, sein Schenkel von Eisen, seine Füße halb von Eisen und halb von Thon‘.57

54 Der Titel Was ist zu thun? stellt diese Frage mit Blick auf die politisch-militärische Krise und einen möglichen Umsturz im Reich: „[…] Das letzte wollen Sie doch nicht? Und das erste ist nicht mehr zu ändern. Was ist also zu thun?“ Wieland: Was ist zu thun?, in: PS, Bd. 3, S. 361. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 362. Wie Wieland selbst nennt auch seine Figur Heribert die Deutschen „ein Aggregat von mehr als zweyhundert größern, kleinern, noch kleinern, und unendlich kleinen Völkern und Völkchen“. Ebd., S. 363; vgl. Wieland: Zusätze

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Kapitel 5: Abgesänge und Arbeit am Mythos

Wieland wusste natürlich, dass die auf diesem Bild ruhende translatioimperii-Lehre längst nicht mehr zur Legitimation des Alten Reichs herangezogen wurde. Das ,ungeheure Bild‘ dient als Metapher, um das ,Monstrum‘ Reichsverfassung aufzurufen. Mit dem „gewaltigen Stein“, der nach dem Traum des alttestamentarischen Königs die Statue zerschlug, assoziiert Heribert die Französische Revolution. Während Wilibald wie Wieland in den oben zitierten Stellen apokalyptisch das Verschwinden des deutschen Namens aus der Weltgeschichte fürchtet – „,Da wurden mit einander zermalmet Eisen, Thon, Erz, Silber und Gold, und wurden wie Spreu auf der Sommertenne, und der Wind verwehte sie, daß man sie nirgends mehr finden konnte‘“58 – erinnert Heribert an den typologischeschatologischen Kern der Traumdeutung: Den Beginn des Reichs Christi auf dem Rücken eines großen Berges, der die ganze Welt einnehmen werde! Übersetzt: Auf den Trümmern des Alten Reichs würde von Frankreich aus eine neue Weltordnung errichtet werden – ein Schock für den Reichspatrioten. Die Französischen Revolution tritt an die Stelle des Jüngsten Gerichts, sie ist das Ende der Geschichte. Ich bitte Sie, lassen wir den Seher Daniel und den Träumer Nebukadnezar an ihrem Ort. Mir schaudert vor allen diesen Ähnlichkeiten! O der Berg, der Berg! Der dreymahl verwünschte Berg! Es ist schwer, lieber Heribert, den Gedanken zu ertragen, daß ein Staat, dessen majestätischer Bau, selbst in seinem Verfall, der Welt noch Ehrfurcht gebot, ein Reich, das sowohl durch seine geografische Lage, Größe, Fruchtbarkeit und Bevölkerung, als durch das, was seine Bewohner schon sind, und unter günstigen Umständen noch werden könnten, zur Grundfeste des policierten und aufgeklärten Europa bestimmt ist, daß ein solches Reich dem neufränkischen Koloß, der sich auf einmahl über die ganze Welt erhebt, zu einem bloßen Fußgestell dienen soll!59

An die Wand getrieben schleudert der Reichspatriot dem Franzosen hier die Topoi der nationalen Würde des Reichs entgegen, die Größe und Kultur genauso wie die pazifizierende Wirkung der Verfassung auf Europa. Der Zorn Wilibalds richtet sich gegen die unmittelbaren Fürsten, da sie die Zeit, in der sie noch hätten handeln können, tatenlos verstreichen ließen.60 des Herausgebers zu dem vorstehenden Artikel, 4) „Der Eifer, unsrer Dichtkunst einen National=Charakter zu geben“, in: GS, Bd. 21, S. 31. 58 Wieland: Was ist zu thun?, in: PS, Bd. 3, S. 362. 59 Ebd., S. 362 f. 60 Vgl. ebd., S. 363. Heribert hebt zuvor die Indifferenz der deutschen Untertanen gegenüber dem Verfassungsgebäude hervor: „Was geht alle diese Menschen die Integrität des Reichs an, und um was wird der Tiroler, der Halberstädter, der Mecklenburger, der Wirtemberger u.s.w. unglücklicher seyn, wenn den Ab-

2. Krisis und brüchige Utopie

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Aber wem ist an der Integrität des Reiches, in so fern sie dermahlen in Gefahr ist, mehr gelegen, als eben dieser so zahlreichen Klasse von Rittern, die, genau zu reden, die eigentlichen Staatsbürger des teutschen Reichs sind, und, wenn sie für Einen Mann stünden, und der Heldengeist ihrer Vorfahren noch in ihrem Busen lodert, so viel zu Vertheidigung ihres Vaterlandes und ihrer Vorzüge vor dem Adel aller andern Völker des Erdboden thun könnte? Heribert. (leise vor sich) Da müssten sie auch das Mark ihrer Vorfahren in den Knochen haben.61

Als positiver Kontrast zu den treulosen Fürsten der Gegenwart werden die Nationalhelden des protestantischen Deutschlands Ulrich von Hutten und Franz von Sickingen herbeizitiert. An Heribert ist es schließlich, dies alles in dem seit Friedrich Carl Moser weit verbreiteten Bild der baufälligen „Gothischen Burg mit allen Zubehören, Thürmen, und Thürmchen, Zinnen und Schießscharten, steilen Windeltreppen, kleinen Zimmern, großen Sälen voll Hirschgeweihen und geharnischten Ahnen“ zu kondensieren.62 Trotz der „frommen Anhänglichkeit an die uralte Familienburg“63 müsse man akzeptieren, dass das „schreckliche[] Erdbeben“64 im Nachbarland diesem „in verschiedenen Epoken nach verschiedenen Planen, stückweise zusammengeflickten“65 Ungetüm das Ende bereite oder es wenigstens zur Renovierung zwinge. Wilibald kann das Gleichnis natürlich „nicht viel tröstlicher als Nebukadnezars Traum“66 erscheinen. Diese „Allegorie“, so wendet er ein, führe „nur zu Trugschlüssen“67. Zur Disposition stünde nicht die gesamte Burg, sondern lediglich ein Teil von ihr – das linke Rheinufer, dessen mögliche Vereinigung mit Frankreich allerdings durch die Entschädigungsansprüche der enteigneten Fürsten das gesamte Reichssystem berühre. Von der Grundlagenreflexion zu Patriotismus und Verfassung wenden sich die Gesprächspartner deshalb dieser höchst aktuellen reichspolitischen Frage zu. Die Franzosen müssten den Anspruch auf das linke Rheinland mäßigen, während „unsrer seits“ der „Mangel an Energie, Nazionalstolz, Patriotismus und Gemeingeist“ zu bekämpfen sei.68 Eine Rückeroberung

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kömmlingen der altteutschen Ritter die Gelegenheit benommen wird, Fürsten zu werden?“ Ebd. Ebd., S. 364. Ebd., S. 365 f. Ebd., S. 366. Ebd. Ebd., S. 365. Ebd., S. 366. Ebd., S. 368. Ebd.

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scheitere freilich, so muss Wilibald dem Franzosen zugestehen, aufgrund des mangelnden Interesses von Österreich und Preußen an diesem „so wichtigen integranten Theil“ des deutschen „Staatskörpers“69. Heribert zwingt Wilibald dazu, nicht von der „Rechtsfrage“ auszugehen, sondern allein die „Thatsache“ seiner Reflexion zugrunde zu legen.70 Er rät ihm, lieber einen Teil des Reichs aufzuopfern als den Bestand des Ganzen zu gefährden. Denn eben darin stimmen die Gesprächspartner voll überein: „An der Erhaltung des Ganzen ist allen gelegen […].“71 Das „teutsche Staatsrecht“ müsse an diesem Punkt aus Vernunftgründen ignoriert werden, um das Reich zu retten. Was zählt ist einzig die Macht des Faktischen:72 Um sein Leben zu retten, opfert man ein Glied auf: warum sollte das T. Reich nicht einen zwar beträchtlichen, aber verhältnismäßig doch nicht unentbehrlichen Teil seines Körpers – seiner Existenz aufopfern?73

Als Kompensationsmasse für die enteigneten linksrheinischen Fürsten kommen nur die „geistlichen Fürstenthümer und Reichs-Gotteshäuser“ sowie die „Reichsstädte“74 in Betracht. Herbert, und das ist bemerkenswert für die politische Diskussion um 1800, rechtfertigt die „Säkularisazion“75 mit dem schlagenden Verweis auf die Reichsgeschichte: Seit den Karolingern sei die Kirche Teil der „Nazionalgüter“ und der Westfälische Frieden, habe auch „zwey ansehnliche Erzbisthümer und mehrere Bisthümer in weltliche Erbfürstenthümer“ verwandeln können.76 Zwar verzweifelt Wilibald über den „gefühllosen Egoism“77 der Welt, es besteht aber auch für ihn kein Zweifel, dass die „Krisis, worin Europa“78 sich befinde, 69 70 71 72

73 74 75 76 77 78

Ebd., S. 369. Ebd. Ebd., S. 370. Im Dialog zwischen Walther und Diethelm zeigt sich das noch deutlicher: „Wollte Gott, Bürgerin Republik, du hättest unsre Lündig und Ludewig und Moser und Pütter so gut studiert wie wir! – ,Wohl mögen sie euch bekommen! Ich mache mirs bequemer. Ich studiere nichts – als, für meinen Hausgebrauch, ein wenig, die Natur und die Landkarte. Seht ihr, was für eine prächtige, in großen Schlangenkreisen sich fortwälzende Grenze Mutter Natur hier zwischen mir und euch fließen läßt! Was diesseits ist, bleibt mein […].“ Wieland: Was wird endlich aus dem allen werden?, in: PS, Bd. 3, S. 426. Wieland: Was ist zu thun?, in: PS, Bd. 3, S. 370. Ebd., S. 375. Ebd. Ebd., S. 375 f. Ebd., S. 378. Ebd., S. 379.

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nur durch diesen harten Schritt gelöst werden kann. Dem „fatalen Bruch in die Reichsverfassung“79, den der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und die dort als Reichsgesetz beschlossene Säkularisation und Mediatisierung keine fünf Jahre später in der Tat vollziehen sollten, wird hier unverhohlen das Wort geredet. Keine Frage, Wieland wagte sich hier mit dem Standpunkt seines vernünftig-pragmatischen Realismus weit vor, denn die Dialoggestalt verschleiert das Plädoyer nur geringfügig. Das Reich hoffte er wie seine Figuren allerdings mit einem solchen Schritt reformiert und lebensfähig ins neue Jahrhundert zu retten. Deutlicher wird das in dem Verfassungsideal, das die Träume mit offenen Augen imaginieren.80 2.1.2 Träume mit offenen Augen: Von offener Verfassung zur gestalteten Verdichtung81 Egbert berichtet Sinibald von einem „schöne[n] Traum“, den er, wäre er „König Nebukadnezar oder Nabukodonsor“82, von allen Gelehrten deuten ließe. Der Bezug zum Dialog Was ist zu thun? ist damit unmittelbar hergestellt, mit der maßgeblichen Differenz, dass der Traum hier nicht rückwärtsgewandt ist, sondern in die Zukunft weist: „über das ganze neunzehnte Jahrhundert“ springt Egbert hinweg und imaginiert, von sich selbst irritiert, das Goldene Zeitalter eines neuen „Germaniens“, ein „Reich der Vernunft und Humanität“83. Den Weg zu diesem goldenen Zeitalter allerdings, kann der Träumer nicht rekonstruieren. Sein Gesprächspartner, der von der Fortentwicklung der Menschheit zur Vernunft überzeugt ist, warnt vor Utopien und Veränderungsvorschlägen, die nur VernunftOrakel seien, ohne auf die praktischen Bedürfnisse des wirklichen Staats 79 Ebd., S. 376. 80 Von der Forschung wurde dieser Reichsentwurf bisher kaum zur Kenntnis genommen. Vgl. allein die knappen Hinweise bei Torsten Walter und Susanne Wipperfürth, die aber beide nicht die Brücke zur Reichsverfassungsdiskussion schlagen: Walter: Staat und Recht, S. 117 ff.; Wipperfürth: Wielands geschichtsphilosophische Reflexionen, S. 129 – 131. 81 Der Titel ist in Anlehnung an das wegweisende Buch Peter Moraws zur Wandlung der Reichsverfassung im Spätmittelalter formuliert: Moraw, Peter: Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 – 1490, Berlin 1985. Der Dialog erschien nicht im Teutschen Merkur, sondern nur 1799 in der Einzelpublikation: Wieland, Christoph Martin: Träume mit offenen Augen, in: ders.: Gespräche unter vier Augen, Leipzig 1799, S. 239 – 270. 82 Wieland: Träume mit offenen Augen, in: PS, Bd. 3, S. 528. 83 Ebd., S. 529 und 531.

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abzuheben. „Jene sind zu idealisch, um irgend einen praktischen Gebrauch zuzulassen; und mit diesen läuft man immer Gefahr mehr Unheil als Gutes zu stiften.“84 Nur diejenigen, die „Stand und Beruf“85 dazu verpflichten, sollten sich öffentlich mit den nötigen Reformen des Staatswesens befassen. Allein die außergewöhnliche Notlage des Staats mache es, so stimmt er mit Egbert überein, zur „Standespflicht eines jeden guten Bürgers“ und damit zum allgemeinen „Beruf“, „für die Ehre des Deutschen Nahmens und das allgemein Beste“ „das große Werk“ mitzubefördern.86 „Drey mögliche Fälle“ für eine Veränderung der Staatsverhältnisse sieht er: 1. eine „Umwälzung“ nach Art der Revolutionsrepubliken, 2. eine Zerteilung des Reichs nach dem Vorbild Polens, 3. das allein wünschenswürdige, wenn unsre Amfiktyonen friedlich und schiedlich überein kommen könnten, die Verfassung Germaniens den vorliegen Umständen, dem Geist der Zeit, und dem Drang der neuen auswärtigen Verhältnisse gemäß, umzubilden.87

Wie ernst es Wieland mit Sinibalds Ausführungen war, belegt ein Brief an Sophie von La Roche am 1. September 1806, kurz nach dem Reichsuntergang. „Fragen sie doch gelegentlich die Fürstin“, schreibt Wieland, ob Sie meine Gespräche unter vier Augen kennt? und unter diesen einen Traum, welche Verfassung Deutschland sich geben müßte, wenn es seinen alten Glanz u Wohlstand wieder erhalten und noch Jahrhunderte darin fortdauern sollte? – Es war ein Traum, und man ließ es einen Traum bleiben. Izt sehe ich diesen Traum Stückweise und gewisser maßen, durch eine fremde eiserne Hand realisieren – aber wie?88

Wiewohl Wieland den Entwurf durch den voranstehenden Utopie-Diskurs mit einem deutlichen Fragezeichnen versieht, drückt er darin doch offenbar seine Zukunftswünsche für die Reichsverfassung aus. Keine Revolution wird darin propagiert, sondern eine gründliche reformatio imperii im alten Sinne des Worts – ein Wiederholen des ,alten Glanzes‘ bei gleichzeitiger Aktualisierung. Vor allem versucht Wieland, die Elemente der ,Vielstaatlichkeit‘ mit den machtpolitischen Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts zu versöhnen. Seine Reichsverfassungsutopie gehört in den Kontext zahlreicher reichspolitischer Schriften um 1800, die um die Frage 84 85 86 87 88

Ebd., S. 536. Ebd., S. 538. Ebd., S. 538 f. Ebd. Wieland an Marie Sophie von La Roche, 1. Sept. 1806, Nr. 92, in: WBr, Bd. 17,1, S. 112.

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kreisten, wie der Reichsverband in einen säkularen Staat zu transformieren sei. Kein geringer Teil der Reformideen um 1800 votierte für eine Föderation und folgte so der Prophezeiung Pufendorfs, dass sich das Reich naturgemäß in Richtung eines Staatenbunds entwickeln werde. Staatenverein, Fürstenbund, Föderation, Fürstenunion sind Bezeichnungen für ähnlich dezentrale Lösungen.89 Schon den Zeitgenossen war jedoch die Heterogenität der unterschiedlichen Entwürfe nicht entgangen.90 Neben der föderalen Perspektive warben manche Verfasser auch für eine monarchisch-zentralistische Verdichtung des Reichsverbands zugunsten des Kaisers, der so deutliche Züge eines monistischen Machtstaats, zumindest aber eines Bundesstaats bekam. Umfangreichstes Exempel hierfür ist die dreibändige Kritik der deutschen Reichsverfassung Johann Nikolaus Beckers. Der Verfasser sparte nicht mit Tadel am Bestehenden und verband das mit bis in kleinste Details ausgearbeiteten Reformvorschlägen: Die Fürsten sollten nahezu völlig entmachtet, die Territorien zu reinen Wahlkörperschaften für den Reichstag degradiert werden und der Kaiser als einzige Exekutivmacht geradezu einem demokratisch legitimierten Präsidenten gleichen.91 In der alten Kreisverfassung erblickten einige Reformer, so auch Becker, ein Instrument, die Verfassung evolutionär in einen starken Staat zu überführen.92 Zwischen einem Staatenbund aus quasi souveränen Territorien und der zentralistischen Monarchie mit demokratischen Elementen stand der Mittelweg einer Verdichtung der föderativen Ordnung bei gleichzeitiger 89 Angermeier: Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalismus, S. 471. 90 Vgl. den Hinweis auf die unterschiedlichen Entwürfe in der folgenden Rezension zu ,Kritik der deutschen Reichsverfassung. 1. Bändchen‘, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek 38, St. 1 (1798), S. 68 – 72. 91 Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 474 ff. Vgl. [Becker, Johann Nikolaus]: Kritik der deutschen Reichsverfassung, hrsg. v. Wolfgang Burgdorf, Bd. 1: Kritik der Regierungsform des Deutschen, Germanien 1796, Bd. 2: Kritik der Kriegsverfassung des Deutschen Reichs, Germanien 1798, Bd. 3: Kritik der staatswirtschaftlichen Verfassung des Deutschen Reichs, Germanien 1798, Hildesheim 2009. 92 Hartleben, Theodor Konrad: Die deutsche Staatsverfassung nach vollbrachtem Entschädigungssysteme. Mit Gesichtspunkten für ihre Vollkommenheit. Erste Abtheilung, Salzburg 1803; Harl, Johann Paul: Deutschlands neueste Staats- und Kirchenveränderungen, historisch, politisch, staats= und kirchenrechtlich entwickelt, Berlin 1804. Hierzu: Angermeier: Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalismus, S. 488; zu Becker: Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 482 ff.

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defensiven Modernisierung. Karl von Soden93 entwarf 1802 ausgehend von den Verlusten und Entschädigungen durch die Friedensschlüsse einen ausführlichen Kreisplan, in dem die Reichskreise auf fünf reduziert werden sollten und die mächtigsten Fürsten automatisch die Kreisdirektion zu übernehmen hätten. Den „fünf unirten Kreise[n]“ stünden der österreichische und brandenburgische Kreis gegenüber, zu deren expansiven Kriegen der eng verbundene Kern des Reichs keine Waffenhilfe leisten, sondern eine „bewaffnete Neutralität“ einnehmen sollte.94 Soden schlägt zwar eine umfassende Reform der Reichexekution wie der Militärverfassung vor, versucht aber doch, so viel wie möglich aus der Reichstradition unberührt zu lassen: „Ich setze bey meinem Plan voraus, daß die teutsche Reichsverfassung in ihrer Wesenheit bleibe, wie sie ist […].“95 Er wendet sich damit gegen die 1801 anonym publizierte Schrift Vorschlag zu einer Veränderung der teutschen Staats=Constitution, die den Weg zur Verdichtung des Staatenbundes weit stärker forciert und von großer Ähnlichkeit mit Wielands utopischen Gedanken ist. Deren Ausgangspunkt ist ebenso der Verlust der linksrheinischen Gebiete wie die drohenden Entschädigungsforderungen der Reichsstände. Das Grundübel der deutschen „Hülflosigkeit“ gegen Frankreich sieht der Verfasser in der zu großen Vielstaatlichkeit des Reichs.96 Er möchte es auf Österreich und Preußen sowie 12 weitere Stände herunterschrumpfen, während alle anderen ehemaligen Reichsstände als „Reichsgenossen“ den Fürsten untertänig werden sollten.97 Auf dem Reichstag ergebe sich die Zahl der Stimmen aus der Zahl 93 Angermeier: Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalismus, S. 487 f. Angermeier geht fälschlich von dem Bruder Julius von Soden, nicht von Karl von Soden als Verfasser aus. Dagegen: Gagliardo: The Holy Roman Empire, S. 337; Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 343. 94 Soden, Karl: Zugabe zu dem in dem Staats=Archiv, Heft 21, Nr. V concentrirten Vorschlag zu einer Veränderung der deutschen Staats=Constitution, von v. S., in: Staats=Archiv VII, H. 25 (1802), S. 81 – 103. 95 Ebd., S. 96. 96 „[…] so wird man doch demselben darin beystimmen müssen, daß es einer Hauptveränderung in unsrer Constitution bedarf. Denn unsre Trennungen, die Vielfältigkeit der Bestandtheile unseres Staatskörpers, und die Vielköpfigkeit in den öffentlichen Verhandlungen hat Teutschland in den Verfall und in die schimpfliche und drohende Hülflosigkeit hingestürzt, die wir jetzt alle beseufzen.“ Anonymus: Vorschlag zu einer Veränderung der teutschen Staats=Constitution, in: Staats=Archiv VI, H. 21 (1801), S. 94 – 107, hier S. 95. 97 „Vereinigung und Concentrierung des Nationalwillens und der Nationalkräfte, indem man die Anzahl der Stände des Reichs vermindert, und diejenigen, welche aufhören, unter die Kategorie derselben zu gehören, den bleibenden eben so unterwirft, wie sie bisher dem Kaiser unterworfen waren.“ Ebd., S. 95.

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der Bewohner des Territoriums. Neben den „allgemeinen Reichsverband“ sollte ein dem Fürstenbund abgelauschter „Verein“ der Reichsstände treten, um sich gegen die Übermacht Preußens und Österreichs zu schirmen. „Chef der Reichsarmee“ bei einem „allgemeinen Reichskrieg“ sollte allein der Kaiser sein.98 Möge der teutsche Patriotismus diese wohlgemeinten Vorschläge ergreifen; möge eine höhere Weisheit ihnen die Modificationen geben, deren sie noch bedürfen […]. Es gilt unserer Freyheit, unsrer Unabhängigkeit und Ehre der Nation.99

Wielands Reformidee, die er in den „patriotischen Traum“100 der Figur Sinibalds verlegt, braucht sich demgegenüber nicht zu verstecken. Der Tagträumer konzipiert auf Basis der Kreisverfassung einen Reichsverband, in den er Elemente der amerikanischen und der englischen Verfassung integriert, und nähert sich damit zugleich der zentralistischen Transformation des Reichsstaats, wie sie Becker oder Hegel präferierten. Da er noch von der ,Landeshoheit‘ der Fürsten spricht, bleibt die Souveränität aber im Sinne der Reichstradition geteilt. Von einem Bundesstaat kann man nur bedingt sprechen. An der Spitze des erträumten Reichs steht ein König, der aber nicht mehr den Titel des Römischen Kaisers führt: Auch die „von den Kurfürsten erwählte[n] Römisch[n] Kaiser“ waren „in Germanien König; und dabey bleibt es auch in der neuen Verfassung“101. Auf die „nähere Bestimmung seiner Rechte“ möchte sich Sinibald allerdings „vor der Hand noch nicht einlassen“102. Er stellt aber klar, dass sie keinesfalls schwächer ausfallen dürften, als es 1648 der Fall gewesen sei. Zunächst werden die Prämissen des Reformtraums benannt: Erstens müsse Deutschland seiner Geschichte treu bleiben, denn es […] war von jeher eine Republik, aber auf seine eigene Weise. Seit uralten Zeiten bestanden wir aus einer Menge größerer und kleiner von einander unabhängiger Volksstämme; von jeher hatten wir Herzoge und Ädelinge […] von jeher war jeder Deutsche Mann ein frey geborner Mann. Dabey soll, muß und wird es bleiben! 103

Die deutsche Vielstaatlichkeit soll genauso gewahrt werden wie das ständische Prinzip, das allerdings nicht die Unfreiheit der unteren Stände 98 99 100 101 102 103

Ebd., S. 107. Ebd., S. 105. Wieland: Träume mit offenen Augen, in: PS, Bd. 3, S. 541. Ebd. Ebd., S. 551. Ebd., S. 542.

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impliziere. Zweitens bedürfe es einer generellen Opferbereitschaft nach Maßgabe der Wohlfahrt des Ganzen. Alle Institutionen, „die ihre gegenwärtige Gestalt erwiesenen Mißbräuchen zu danken haben“104, müssten ungeachtet des Privatvorteils Einzelner verbessert oder aufgelöst werden. Die Reform setzt bei der Ohnmachtserfahrungen der Revolutionskriege an. Die „ungeheure Menge kleiner Staaten“ hätte sich als „die wahre Ursache unsrer Schwäche“105 erwiesen. „Selbsterhaltung“ und „Vollkommnung“ seien daher nur möglich, wenn […] einer Seits die Zahl der unmittelbaren Landesregenten beträchtlich vermindert, anderer Seits den Regierten (als dem unendlich größern Theil der ganzen Nazion) eine gesetzmäßige immer währende Repräsentazion zugestanden werden.106

Vermittelndes Organ zwischen der ersten Prämisse und dieser Erfordernis der Realität ist die Kreisverfassung. Kernelement der Reform ist die Mediatisierung aller Reichsstände außer den altfürstlichen Häusern: Sinibald wünscht, die Landeshoheit zu einem ausschließlichen Vorrecht der noch bestehenden altfürstlichen Häuser zu machen, alle übrigen Fürsten, Grafen und Herrn aber, zwar bey ihren Titeln, Ehren und Würden sowohl als im Besitz ihrer Domänen und Familiengüter, allenfalls auch der niedern Gerichte, zu lassen, sie aber der Landesregierung und der damit verbundenen Ausgaben auf immer zu überheben; folglich auch die Bischöfe und Reichsprälaten, jene auf die geistliche Regierung ihres Sprengels, diese auf die Aufsicht über ihre Konventualen zu beschränken […].107

Die „neu zu bestimmenden Kreise[] des Deutschen Reichs“108, die „nach der Zahl der altfürstlichen Häuser“109 abgetheilt werden sollten, bleiben in ihrer Gestalt diffus. Der jeweilige „Kreisfürst“ sollte, so der entscheidende Unterschied zu Sodens Kreisreform, „der einzige Landesherr im ganzen Kreise“110 werden. Offenbar imaginiert Wielands Protagonist ein Reich aus 14 Kreisen mit jeweils einem Landesherrn an der Spitze, die beinahe den Charakter von Bundesländern erhalten. Die Zahl 14 entspricht nicht zufällig den reduzierten Reichsständen des anonymen Reformplans von 1801, es handelt sich sogar exakt um dieselben Fürsten: Altfürstliche 104 105 106 107 108 109 110

Ebd. Ebd., S. 543. Ebd., S. 544. Ebd. Ebd., S. 545. Ebd., S. 549. Ebd., S. 550.

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Häuser waren in der Rechtssprache des 18. Jahrhunderts die Fürsten, die 1582 bereits Sitz und Virilstimme am Reichstag innehatten. Um 1800 betraf das genau jene 14 Reichsstände, die im obigen Vorschlag zur Veränderung der teutschen Staats=Constitution als verbleibende unmittelbare Fürsten genannt werden.111 Ihnen allein sollte eine Summe für einen „angemessenen Hofstaat[]“ zur Verfügung stehen.112 Unumschränkt dürften sie freilich nicht regieren, vielmehr ordnet Sinibald ihnen Landstände bei, vertreten in zwei Kammern: In der ersten Kammer sitzen die nun landsässig gewordenen Fürsten (im Entwurf des Anonymus heißen sie „Reichsgenossen“), die bereits zuvor mittelbar gewesenen Grafen und Herren sowie „Repräsentanten des niedern Adels“, in der zweiten Kammer hingegen Abgeordnete der Städte, Marktflecken und Dörfer.113 Der Fürst jedes Kreises ist an diese Landstände im Haushaltsrecht gebunden. Alle zehn Jahre bewilligen sie die „ordentlichen Staatsausgaben des Kreises“, während die „außerordentlichen“ in einem „engeren Ausschuss jährlich“ beraten werden sollen.114 Aus dem Kreis finanziert sich zudem der „Vertheidigungsstand“, der zu einem Drittel aus „reguläre[n] Truppen“ und zu zwei Drittel aus „Landmiliz“ bestehen müsse. „Oberbefehlshaber“ ist auch hier der jeweilige Landesfürst.115 Die Kreisfürsten würden „sehr mächtige Herren vorstellen“, attestiert Egbert. Sinibald pflichtet ihm bei, fügt aber den reichspatriotischen Topos hinzu, dass ihnen durch Verfassung und gemeinsames Interesse, „die unglückliche Macht, Böses thun zu können“, fehle.116 111 Am Ende des Reichs rechnete man dazu: Österreich, Pfalz-Bayern, Sachsen, Brandenburg, Braunschweig-Lüneburg, Vorpommern, Württemberg, Hessen, Baden, Mecklenburg, Holstein, Savoyen, Anhalt, Aremberg. Vgl. Heinrich, Christoph Gottlob: Teutsche Reichsgeschichte, Bd. 9, Leipzig 1805, S. 299, Anmerkung e. Der Anonymus nennt Preußen und Österreich sowie „Baiern, Meklenburg, Nassau=Oranien, Wirtemberg, Baaden, Hessen=Darmstadt, Hessen=Cassel, Hannover, Braunschweig, Holstein, Kur=Sachsen, Anhalt“, allein Aremberg fehlt. Anonymus: Vorschlag zu einer Veränderung der teutschen Staats=Constitution, S. 96. 112 Wieland: Träume mit offenen Augen, in: PS, Bd. 3, S. 550. 113 Ebd., S. 549 f. 114 Ebd., S. 550. 115 Ebd. 116 Ebd., S. 552; vgl. Julius von Soden: „Ich berufe mich auf das allgemeine Urtheil aller Staatskundigen, ob es nicht vielmehr ein Hauptzug der Weisheit der teutschen Konstituzion sei, daß die Beschränkung der Hoheitsrechte der einzelnen Reichsstände und Reichsglieder nur die Willkühr Böses, nicht aber die unbegränzte Freiheit Gutes zu thun, betreffe!“ Soden, Julius v.: Deutschland muß einen Kaiser haben, o. O. 1788, S. 31 f.

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Was die Verfassung zum wesentlich verdichteten Staatenbund, ja beinahe zum Bundesstaat macht, ist die von Wieland zuvor ausführlich geschilderte enge Verzahnung der Kreise mit der gesamtstaatlichen Struktur, die allerdings im Vergleich zum bislang existierenden Reichsverband, „mit einer billigen Modifikazion zu Gunsten des dritten Standes“117 einhergeht. Angedacht ist ähnlich wie bei Hegel ein Zweikammersystem: Die alte Symmetrie des Reichsstaatsrechts durch die sich wiederholende Struktur auf Landes-, Kreis- und Reichsebene bleibt ausdrücklich, jedoch in modernisierter Form gewahrt.118 In der ersten Kammer, der Fürstenkurie, sollen sich die „neuen Kreisfürsten, d. i. die sämmtlichen regierenden Herren der altfürstlichen Häuser“ mit einer in paritätischer Größenordnung auftretenden Zahl Deputierter aller „neufürstlichen, altgräflichen und altfreyherrlichen (dynastischen) Familien“ vereinigen.119 In der zweiten, der „Kammer der Gemeinen“120, sollen sich hingegen Vertreter des „mittelbaren Landadels, der beybehaltenen Reichsstädte, und der übrigen sämmtlichen Gemeinen des in allen Reichskreisen ansässigen Deutschen Volkes“ versammeln.121 Dem Landadel müssen dort allerdings zwei wesentliche Vorrechte gewährt werden: Ihnen möge ehrenhalber die „rechte Seite des Versammlungssahls eingeräumt werden“ und ihre Abgeordneten-Zahl soll genauso groß sein, wie die der Reichstädte und Gemeinen zusammen.122 In beiden Kammern soll die Abstimmung „nach den Köpfen“ verlaufen und im dreijährigen Turnus auf Einladung des Königs eine Versammlung in einer „mitten in Deutschland gelegenen Reichsstadt“ für „längstens“ „vier Monate[]“ festgeschrieben werden.123 Ein offizielles Wochenblatt soll die Verhandlungen reichsweit bekannt machen.124 Während Sinibald dem mittelbaren Adel der zweiten Kammer die „Art und Weise“, wie er seine „Repräsentanten erwählen will“, vornehm überlässt, bestimmt er, dass für die Selektion der gemeinen Abgeordneten jeder Reichskreis „in eine verhältnißmäßige Anzahl kleiner Distrikte oder 117 Wieland: Träume mit offenen Augen, in: PS, Bd. 3, S. 545. 118 „Zur Harmonie des Ganzen wird natürlicherweise erfordert, daß diese gemeinschaftliche Reichsverfassung das Muster der innern Organisazion eines jeden der neuen Kreise sey […].“ Ebd., S. 549. 119 Ebd., S. 545. 120 Ebd., S. 548. 121 Ebd., S. 545. 122 Ebd., S. 545 f. 123 Ebd., S. 546 f. 124 Ebd., S. 147.

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Gauen eingetheilt“ werden soll. An einem „bestimmten Sonntage in der Kirche ihres Orts“ müssen die „Hausväter“ der „Munizipalstädte[]“, „Marktflecken“ und „wahlberechtigen Dorfschaften“ schließlich „nach gehaltenem Gottesdienst“ „einen Wahlmann“ ernennen. Die Wahlmänner jedes Kreises erwählen schließlich „Volksrepräsentanten“, deren Anzahl von der „Konstituzion für jeden Kreis“ nach entsprechendem Proporz festgesetzt ist. Jeder Repräsentant ist für neun Jahre im Amt und übt seine Tätigkeit „unentgeltlich“ aus.125 Ausführlich differenziert der Träumer nun die Aufgabenverteilung der beiden Kammern des Reichsparlaments. Der Fürstenkammer obliegen die Außenpolitik, die „Iniziative zu allgemeinen Reichsgesetzen“ sowie das Entwurfsrecht für den alle drei Jahre zu bestimmenden Reichsetat, welcher von der „Kammer der Gemeinen“ wiederum akzeptiert werden muss, um Gültigkeit zu erlangen.126 Diese besitzt ohnehin die Aufsicht über das „Reichsschatzamt“ und kontrolliert die Finanzen insgesamt. Zudem erhält sie einen Thesaurierungsauftrag für „außerordentliche Ausgaben“127. Von allgemeiner „Reichspolitzey“ über das „Justizwesen“ bis zur Wirtschaft (Ackerbau, Industrie, Handel etc.), der „öffentlichen Erziehung“, der „Beförderung der Künste und Wissenschaften“ sowie der Errichtung von Repräsentativgebäuden für die höchste „Reichsversammlung“, den König und die Kreisfürsten erstreckt sich der gemeinsame Geschäftsbereich der beiden Kammern.128 Wenn sie in ihrer „gemeinschaftlichen Berathschlagung“, die der Re- und Correlatio der Kurien des alten Reichstags gleicht, keine Einigung erzielen können, obliegt es dem König, „den Beschluss der Gemeinen durch seinen Beitritt vollgültig zu machen“129. Egbert schließt den Dialog mit höchster Anerkennung für die fiktive Reichsverfassung seines Gesprächspartners: […] sie vereiniget die demokratische Form mit der aristokratischen und monarchischen auf eine Art, die der Nazion die wesentlichsten Vortheile einer jeden dieser Formen ohne ihre Nachtheile und Gefahren verspricht.

Er zeigt sich überzeugt, dass „Deutschland durch eine solche Verfassung, so zu sagen, der Schwerpunkt des ganzen Europa würde“130. 125 126 127 128 129 130

Vgl. ebd., S. 546. Ebd., S. 548. Ebd. Ebd., S. 548 f. Ebd., S. 549. Ebd., S. 551 f.

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In seinem Entwurf, der als umfassende Synthese seiner staatstheoretischen Studien von Montesquieu bis Pütter gelten kann, kombiniert Wieland unterschiedliche Elemente verschiedener zeitgenössischer Verfassungsmodelle. Die konstitutionelle Monarchie Tifans aus dem Goldnen Spiegel scheint hier gleichsam mit der Reichsverfassung versöhnt worden zu sein. Während die Wahlmänner entfernt an die amerikanischen electors für die Präsidentenwahl erinnern, verweist die Kombination bürgerlicher und ständischer Elemente innerhalb eines Zweikammersystems deutlich auf die vom Autor selbst so geschätzte britische Verfassung. Kurz: Dem ,solonischen Prinzip‘ entsprechend wandelt er auf Basis der Reichstradition das Alte Reich zu einem modernen Staat um, der in der Tat im Europa um 1800 seinesgleichen nicht leicht gefunden hätte. Natürlich blieb vieles im Unklaren: Entscheidende Fragen des Wahlrechts, besonders aber der geographische Zuschnitt der Reichskreise und die Rechte des Königtums werden nicht erörtert. Ganz zu schweigen von den zu erwartenden Schwierigkeiten und Widerständen bei der Umsetzung eines solchen Reformprogramms! Ein weiteres Hindernis spricht Egbert schließlich an und weckt Sinibald damit unsanft: die fehlende Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der unterschiedlichen Konfessionen im Reich.131 Nur als Traum innerhalb einer Figurenrede, die Teil eines literarischen Dialogs ist, lässt Wieland die patriotische Utopie eines verdichteten Reichs zu. Dennoch gibt es keinen besseren Beleg, wie aufmerksam Literaten um 1800 die reichspolitische Diskussion verfolgten und wie sehr manchen daran gelegen war, die Reichstradition angepasst an die neue Zeit fortzuführen. 2.2 Translatio pacis in Goethes Märchen Weder Schiller noch Goethe imaginierten en détail eine neue Reichsverfassung oder äußerten sich während der Koalitionskriege näher zu ihren Vorstellungen, welche Gestalt Deutschland annehmen sollte. Politisch votierten sie ganz offensichtlich zunächst für den Primat der Ordnung. Drei wiederkehrende Momente ihrer Dichtung lassen sich in diesem Sinne mit Zitaten aus dem viel geschmähten Lied von der Glocke benennen: 1) „Friede sei ihr erst Geläute“, 2) „Concordia soll ihr Name sein“ und 3)

131 Ebd., S. 553.

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„Jeder freut sich seiner Stelle“132. „O! möge doch den heiligen, letzten Willen / Das Vaterland vornehmen und erfüllen“133, schreibt Goethe in seiner Stanze Epilog zum Lied von der Glocke (7. Mai 1805). Frieden und Eintracht, die ersten beiden Punkte, reichen als Schlagwörter nicht aus, um eine politische Einstellung zu kennzeichnen. Im Reichskontext könnte man allerdings etwa an Friedrich Carl Moser denken, der in seinem berühmten Neujahrswunsch von 1764 bzw. 1792 „zwischen dem Kayser und den Ständen unzerstörliche Liebe und Vertrauen“ forderte, sowie den „Geist des Friedens und der Eintracht“134. Schillers Brüderbund der Eidgenossen im Wilhelm Tell verwirklicht das genauso wie der Liebensbund Görges und Rösens oder Hermanns und Dorotheas bei Goethe. Der dritte Punkt resultiert weniger aus einer restaurativen Einstellung als aus der Überzeugung, dass Politik Sache differenzierter Fachdiskussion ist, nicht polemischer Parteikämpfe, und dass die Verbesserung der Gesellschaft nur durch die Vervollkommnung des Einzelnen zu erreichen ist, durch Bildung und ästhetische Erziehung. „[…] jeder verrichte sein Amt, jeder tue seine Pflicht und ein allgemeines Glück wird die einzelnen Schmerzen in sich auflösen, wie ein allgemeines Unglück einzelne Freuden verzehrt“135, heißt es im Märchen. An Friedrich Carl Moser schreibt Goethe 1795 in diesem Sinne von der „frühere[n] ruhiger[en] Zeit“, „da man zwar nicht im Überfluß, doch bequem lebte und im Stande war zur Zufriedenheit würdiger deutscher Männer manchmal dasjenige im Kleinen zu thun, was sie von der Nation im Großen hätten erwarten können.“136 Liebe und Eintracht im Kleinen erzeugen Liebe und Eintracht im Großen. Dass auch das Märchen eine politische Dimension für die Gegenwart besitzt, deutet Goethe selbst an, wenn er gegenüber Schiller den ,Tempel am Fluss‘ als

132 Schiller: Das Lied von der Glocke, in: MA, Bd. 1, S. 442, 440, 438; zur Rezeption: Segebrecht, Wulf: Was Schillers Glocke geschlagen hat. Vom Nachklang und Widerhall des meistparodierten deutschen Gedichts, München/Wien 2005. 133 Goethe: Epilog zum Lied von der Glocke, in: MA, Bd. 11,1,1, S. 647. 134 Moser: Neujahrs=Wunsch an den Reichs=Tag zu Regensburg vom Jahr 1765, S. 307. 135 Goethe: Märchen, in: MA, Bd. 4,1, S. 540. 136 Goethe an Friedrich Carl v. Moser, 22. Mai 1795, Nr. 3160, in: WA, Abt. IV, Bd. 10, S. 262 f.; noch in den Gesprächen mit Eckermann, spricht Goethe von der „Einheit Deutschlands“, für die die Grundvoraussetzung keine Einheitsstaatlichkeit sei, sondern Liebe: „Vor Allem aber sei es eins in Liebe untereinander! und immer sei es eins gegen den auswärtigen Feind.“ Goethe: Gespräche mit Eckermann, 23. Oktober 1828, in: MA, Bd. 19, S. 632 f.

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Chiffre für seine Friedenshoffnung verwendet – man geht wohl kaum fehl, ihn als ,Tempel der Concordia‘ zu deuten.137 Die Rahmenhandlung der Unterhaltungen spielt während der erfolgreichen Vertreibung der Franzosen aus den linksrheinischen Gebieten 1792/1793, steht aber aufgrund der neuerlichen französischen Eroberungen in ironischer Diskrepanz zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (1795).138 Die Französische Revolution gilt deshalb meist als ihr einziger politischer Bezugspunkt,139 wenn nicht, durchaus zu Recht, die ganze abendländische Zeitwende zu demselben erklärt wird.140 Goethe propagiert, so lässt sich den politischen Deutungen entnehmen, mit den Unterhaltungen und dem Märchen parallel zu Schillers Horen-Projekt ein Geselligkeitsideal, das sich poetisch über den Parteienstreit der Zeit erhebt und in eine Friedensutopie mündet.141 137 Goethe an Friedrich Schiller, 26. September 1795, Nr. 3205, in: WA, Abt. IV, Bd. 10, S. 303: „[…] Mährchen sind a l’ordre du jour […], Ach! warum steht der Tempel nicht am Flusse!“ ,Tempel der Concordia‘ gab es im antiken Rom viele. Goethe war vom 23. bis zum 28. April 1787 in Girgenti bzw. Akragas, heute Agrigento, und sah dort den nach einer lateinischen Inschrift, die mit dem Tempel selbst nichts zu tun hat, Tempel der Concordia genannten Tempel. Er war wohl der besterhaltene Tempel von Akragas. In Jakob Philipp Hackerts autobiographischen Aufzeichnungen, von Goethe herausgegeben, heißt es dazu: „Zunächst liegt der Tempel der Concordia, von demselben Auf- und Grundriß und nur in einigen unbedeutenden Zierarten verschieden. Ein Teil der Zelle ist in eine Kirche verwandelt, und alle Säulen mit dem größten Teil des Gesimses stehen noch aufrecht, obgleich durch Zeit und Witterung sehr angefressen.“ Goethe: Jakob Philipp Hackert, in: MA, Bd. 9, S. 721. Auch im Märchen zeichnet sich der Tempel durch Alter, Säulen und schließlich einen Altar aus. Eine direkte Identifizierung wäre freilich zu platt. Genauso verhält es sich freilich mit den Bezügen zu St. Peter und dem römischen Pantheon. Vgl. Ohly, Friedrich: Römisches und Biblisches in Goethes ,Märchen‘, in: ZfDA 91 (1961/1962), S. 147 – 166, hier S. 148 ff. 138 Vgl. Kommentar der Münchner Ausgabe: Goethe: Märchen, in: MA, Bd. 4,1, S. 1043 f. 139 Vgl. Mayer, Hans: Goethes ,Märchen‘ als Parabel der Revolution, in: ders.: Goethe, Frankfurt a.M. 1999, S. 244 – 270. 140 Vgl. Ohly: Römisches und Biblisches in Goethes ,Märchen‘, S. 147 – 166. 141 Vgl. Kiefer, Sascha: ,Gesellige Bildung‘. Ein Ideal des Rokoko und seine Fortschreibung in Goethes ,Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘ (1795), in: Literatur und Kultur des Rokoko, hrsg. v. Matthias Luserke/Reiner Marx/Reiner Wild, Göttingen 2001, S. 235 – 249; Niggl, Günter: Verantwortliches Handeln als Utopie? Überlegungen zu Goethes ,Märchen‘, in: Verantwortung und Utopie. Zur Literatur der Goethezeit. Ein Symposium, hrsg. v. Wolfgang Wittkowski, Tübingen 1988, S. 91 – 104, hier S. 101; Fink, Gonthier-Louis: ,Das Märchen‘. Goethes Auseinandersetzung mit seiner Zeit, in: Goethe-Jahrbuch. N.F. 33 (1971), S. 96 – 122.

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Dass das Alte Reich in den Auslegungen der Unterhaltungen und des Märchens kaum mehr eine Rolle spielt, ist wahrscheinlich nicht zuletzt einer wohlbegründeten Ächtung nationaler Vereinseitigungen des 19. Jahrhunderts geschuldet. Hermann Baumgart – nicht zu verwechseln mit dem fast gleichnamigen Treitschke-Kritiker Hermann Baumgarten aus derselben Zeit – äußerte 1875 die Auffassung, „daß das Märchen mit der Revolution lediglich gar nichts zu schaffen hat, daß es aber dennoch durch und durch politisch ist: Es handelt von dem deutschen Vaterlande.“142 Für ihn enthält das Märchen die Prophetie jenes Traums, der durch die nationale Einheit von 1871 Wirklichkeit geworden sei: Preußen habe Deutschland aus dem „jammervollen Trümmerwek, welches das deutsche Reich hieß“, herausgeführt und damit die Spaltung zwischen Literatur und Staat überwunden.143 Goethe ahnte zwar den „Beruf Preußens“ noch nicht, so gesteht Baumgart Droysen zitierend zu, habe aber den „Traum einer Einigung seiner Nation sich in dem Gewande einer poetischen Vision“144 dargestellt. Zielpunkt der Interpretation Baumgarts ist der „ideale[] Nationalstaat“145 und damit eine politische Vorstellung, die nicht nur weitgehend anachronistisch für das späte 18. Jahrhundert ist, sondern vor allem für Goethes politisches Denken völlig unbrauchbar. Dennoch ist es falsch, den Bezug auf Deutschland gänzlich zu eliminieren. An zwei Motiven bzw. Bildern soll in bewusster Engführung der unterbelichtete Reichsbezug herausgestellt werden:146 Roentgens Schreibtische in den Unterhaltungen und die Könige im Märchen. 147 Letzteres soll 142 Baumgart, Hermann: Goethes Märchen. Ein politisch-nationales Glaubensbekenntnis des Dichters, Königsberg 1875, S. 40. 143 Ebd., S. 53. 144 Ebd., S. 60. 145 Ebd., S. 127. 146 Zur Notwendigkeit der gemeinsamen Lektüre der Unterhaltungen und des Märchens: Fink: ,Das Märchen‘, S. 116. 147 Die Bildsprache des Märchens eindimensional zu entschlüsseln, wie es z. B. Eva A. Meyer getan hat, ist genauso müßig wie der Verzicht auf jede Deutung zu simpel. Es gilt daher, einen Mittelweg zu wählen, der eine Deutung der Bilder zulässt, aber nicht auf nur diese allein festlegt. Besonders bei den offensichtlich allegorischen vier Königen scheint das legitim. Meyers allegorische Deutung vereindeutigt hingegen sämtliche Bilder nach dem Prinzip: Der Schatten des Riesen = der Krieg, die Alte = das deutsche Reich, ihre schwindende Hand = das Rheinland etc. Vgl. Meyer, Eva: Politische Symbolik bei Goethe, Heidelberg 1949, S. 22 ff. Niggl – und mit ihm der Großteil der jüngeren Forschung – geht von Goethes Ablehnung einer allegorischen Deutung des Märchens aus und plädiert für eine Lesart, die das anschauliche, aber ungreifbare Symbol zugrunde legt. Niggl: Verantwortliches Handeln als Utopie?, S. 91 – 104. Oesterle erklärt die „sozial-gesellige Praxis des

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dabei weder nationalistisch verzerrt noch rein kosmopolitisch gelesen werden. Vielmehr handelt es sich bei dem Märchen um den Versuch einer translatio pacis aus dem Bereich der Poesie in den Bereich der Politik – für Europa im Allgemeinen und für das Reich im Speziellen. 2.2.1 Die politische Bedeutung der Roentgen-Schreibtische Schon die Einleitungssätze der Unterhaltungen – man denke an die Politisierung des Rheins seit Anfang der 1790er-Jahre – rekurrieren deutlich auf das nationale Bezugssystem Reich („unser Vaterland“): In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine edle Familie ihre Besitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, um den Bedrängnissen zu entgehen […].148

Die Unterhaltungen spielen in Deutschland und das Märchen verweist an mehreren Stellen ebenso auf Deutschland, allerdings keineswegs auf einen kommenden Nationalstaat, sondern auf das vom Untergang bedrohte Alte Reich.149 Der Streit zwischen dem ehrwürdigen Geheimrat und dem schwärmerischen Karl sowie der anschließende Versuch einer literarisch vermittelten Geselligkeit präsentieren die großen politischen Ereignisse im Spiegel einer Familiengeschichte. Der Disput führt zur unverzüglichen Abreise des Geheimrats. Um den Frieden zu sichern, bedarf es des Gebots der Gastgeberin. Die Baronesse untersagt nicht das politische Gespräch per se, sondern die offene Parteilichkeit und die daraus resultierende Zersetzung der Gemeinschaft. Kaum zufällig zitiert sie als Vorbild den Religionskonsens im Heiligen Römischen Reich, der seit 1648 elementarer Bestandteil des Reichspatriotismus’ geworden war.150

Rätselratens“ zum Hauptziel des Märchens: Oesterle, Günter: Die „schwere Aufgabe, zugleich bedeutend und deutungslos“ sowie „an nichts und alles erinnert“ zu sein. Bild- und Rätselstrukturen in Goethes ,Das Märchen‘, in: Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne, hrsg. v. Helmut J. Schneider/Ralf Simon/Thomas Wirtz, Bielefeld 2001, S. 185 – 209. 148 Goethe: Unterhaltungen, in: MA, Bd. 4,1, S. 436. Auch im „Strom“ des Märchens meinten schon die Zeitgenossen nicht ganz abwegig den Rhein zu erblicken. 149 Niggl hält es für ausgeschlossen, dass das Reich mit dem vierten König gemeint sein könnte, da es 1795 längst „schon obsolet“ gewesen sei: Niggl: Verantwortliches Handeln, S. 103. 150 Vgl. Schmidt: ,Wo Freiheit ist und Recht‘.

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Der Protestante vermied in Gegenwart des Katholiken irgend eine Zeremonie lächerlich zu finden; der eifrigste Katholik ließ den Protestanten nicht merken, daß die alte Religion eine größere Sicherheit ewiger Seligkeit gewähre.151

Was die kleine Gesellschaft zurückgewinnen will, ist nichts anderes als „Friede und Einigkeit“152, die man im Reich spätestens seit dem Beginn der Revolutionskriege schmerzlich vermisste. Die Umwälzung im Nachbarland wirkt jedoch unweigerlich bis in die innersten Kreise hinein und lässt sich trotz guter Vorsätze nicht gänzlich aus ihnen verbannen. Symbol hierfür sind die in der Forschung zu wenig berücksichtigten Schreibtische Roentgens. Rahmenhandlung und Binnengeschichten sind in Goethes Unterhaltungen eng verflochten, am deutlichsten über die rätselhafte Spaltung des Schreibtischs mit einem lauten Knall. Das Gespenstische und Wunderbare der beiden vorangehenden Geschichten tritt direkt in die Realität ein, kann das Geschehen doch trotz Barometer und Thermometer nicht zufriedenstellend entschlüsselt werden. Offenbar spielt der Autor hier mit den ,sympathetischen Zusammenhängen‘, wie sie der Mesmerismus lehrte,153 denn die rational wenig befriedigende Erklärung ist schließlich, dass der rechtsrheinische Zwillingsschreibtisch zur selben Zeit – um halb Zwölf! – verbrannt sein müsse. Unmittelbar nach dem Knall berichten Bediente von einem Brand auf der anderen Seite des Flusses. Fritz verortet das Feuer am Himmel mit Hilfe einer Karte auf dem Gut seiner Tante und erläutert: Beide waren zu Einer Zeit aus Einem Holze mit der größten Sorgfalt von Einem Meister verfertigt, beide haben sich bisher trefflich gehalten und ich wollte wetten, daß in dem Augenblicke mit dem Lusthause unsrer Tante der zweite Schreibtisch verbrennt, und daß sein Zwillingsbruder auch davon leidet.154

Die sympathetische Beziehung beider Schreibtisch verweist offenkundig auf den politisch-ereignisgeschichtlichen Hintergrund. Bei den Möbeln handle es sich um „Schreibtisch[e] von Röntchens bester Arbeit“155. David Roentgens Werkstatt kannte Goethe aus eigener Anschauung, seine welt151 Goethe: Unterhaltungen, in: MA, Bd. 4,1, S. 448. 152 Ebd., S. 450. 153 Vgl. Schrader, Hans-Jürgen: „Unleugbare Sympathien“. Roentgen-Schreibtische. Magnetismus und Politik in Goethes ,Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘, in: Dazwischen. Zum transitorischen Denken in Literatur- und Kulturwissenschaft, hrsg. v. Andreas Härter/Edith Anna Kunz/Heiner Weidmann, Göttingen 2003, S. 41 – 68. 154 Goethe: Unterhaltungen, in: MA, Bd. 4,1, S. 470 f. 155 Ebd., S. 469.

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berühmten Möbel bemüht er auch in Wilhelm Meisters Wanderjahre. 156 Roentgen belieferte vor der Französischen Revolution sämtliche großen Herrschaftshäuser Europas mit seinen eleganten und wertvollen Möbeln. Sie werden hier als Symbol der Rokoko-Gesellschaft zitiert, ihr sympathetischer Zusammenhang ist nichts anderes als die Verbindung der linksrheinischen von Frankreich besetzten Gebiete mit dem rechtsrheinischen Reichsgebiet. Was dort und in Frankreich die Gesellschaft ,verbrannte‘, bildet sich, ob der engen politischen Verflechtung, als Riss in der rechtsrheinischen Gesellschaft ab: Die Ordnung ist zwar nicht wie in Frankreich und in den von Frankreich besetzten Gebieten zerstört, wohl aber ist sie essentiell gefährdet. Aus einem Stück im übertragenen Sinne sind beide Gesellschaften – die deutsche und die französische sowie ohnehin die links- und die rechtsrheinische – aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit, ihrer verwobenen Geschichte. Mit dem gespaltenen Schreibtisch stellt Goethe die gefährdete politische Ordnung innerhalb des Reichs dar, die sich besonders im gemeingeistzersetzenden Parteizank zwischen Karl und dem Geheimrat niederschlägt. Der klaffende ,Riss‘ kann allerdings am Ende der Rahmenerzählung nicht repariert werden. Lediglich die Hypothese Fritzens über den sympathetischen Zusammenhang beider Schreibtische wird durch die stehengebliebene Uhr verifiziert. Die Gefährdung der politischen Ordnung ist damit ins Bewusstsein getreten, nicht aber getilgt. Kaum zufällig geht dem Beleg jene ,moralische Geschichte‘ voraus, die mit der sittenstrengen Erziehung Ferdinands schließt, der seinen Kindern willkürlich etwas versagt, um ihnen durch diese Tugendübung die Affektkontrolle im Ernstfall zu erleichtern. Von dem Training der Entsagung im Individuellen zur politisch-gesellschaftlichen Grundordnung ist es nicht weit. Wieder ist es die Baronesse, die den Bezug zum Alten Reich herstellt: Die Baroneß machte eben einige Anmerkungen und gestand, daß dieser Freund im Ganzen wohl recht gehabt habe; denn so komme auch in einem Reiche alles auf die exekutive Gewalt an; die Gesetzgebende möge so vernünftig sein als sie wolle, es helfe dem Staate nichts, wenn die ausführende nicht mächtig sei.157

In Dichtung und Wahrheit wird genau das die Hauptkritik Goethes an der Reichsverfassung sein, die über an sich gute Gesetze und Institutionen wie 156 Vgl. Schrader: Roentgen-Schreibtische; Ulferts, Gert-Dieter: Möbel für Europa. Roentgen und Weimar, in: Europa in Weimar: Visionen eines Kontinents, hrsg. v. Hellmut Seemann, Göttingen 2008, S. 298 – 317. 157 Goethe: Unterhaltungen, in: MA, Bd. 4,1, S. 516.

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das Reichskammergericht verfüge, diesen aber nicht die Mittel zur effektiven Wirksamkeit bereitstellen könne.158 Die Rahmengeschichte der Unterhaltungen endet umgekehrt zu ihrem Beginn im Übergang von der Literatur zur Politik. Alle hoffen auf „Neuigkeiten und Nachrichten, von dem was indessen geschehen war“159. Diese Neuigkeiten werden dem Leser aber nicht mehr mitgeteilt, dafür erfährt er im Märchen des Alten von der Entstehung eines utopischen, auf Liebe gegründeten Friedensreichs. Die Gebrechen des Reichs wie Europas werden auf wundersame Weise gelöst, der Riss in Roentgens Schreibtisch geheilt. 2.2.2 Friedensreich mit Fragezeichen Es ist kaum bestreitbar, dass Goethe mit den vier Königen auf die translatioimperii-Lehre Bezug nahm.160 Wieland rekurrierte in seinen Gesprächen unter vier Augen mehrfach auf den Traum Nebukadnezars, um über die Zukunft der Reichsverfassung zu spekulieren.161 Seit der Auslegung des Kirchenvaters Hieronymus galt dieser als Prophetie der vier Weltreiche, die dem jüngsten Gericht vorausgehen. Nach Babylon (goldenes Haupt), Persien (silberne Brust), Griechenland (bronzener Bauch und Lenden) und Rom (eiserne Beine) folgt das zweigeteilte Römische Reich, symbolisiert durch die aus Ton und Eisen zusammengesetzten Füße des Riesen.162 Als legitimer Nachfolger bzw. als Fortsetzung dieses letzten Reichs verstand sich das Heilige Römische Reich. Die Reichsjuristen, bei denen Goethe studierte, sahen die Translationstheorie zwar längst als widerlegt an, doch blieb sie in ihrem wie dem allgemeinen Bewusstsein, vor allem in der formalen Titulatur des Reichs bis 1806 erhalten.163 Wie hätte ein Zeitgenosse Goethes sich nicht an das Alte Reich erinnert fühlen können, wenn der Erzähler im Märchen von dem vierten als ,zusammengesetztem König‘ spricht? Noch mehr, wenn es heißt, dass seine Teile „nicht recht zusammen 158 Vgl. 5. Kap., 3.3.2 Sich selbst historisch: Goethes autobiographische Retrospektive. 159 Goethe: Unterhaltungen, in: MA, Bd. 4,1, S. 518. 160 Vgl. allerdings nur in Bezug auf Rom und theologische Momente: Ohly: Römisches und Biblisches in Goethes ,Märchen‘. 161 Vgl. 5. Kap, 2.1 Wielands Traum von einem modernen Reichsstaat in den ,Gesprächen unter vier Augen‘. 162 Vgl. Goez, Werner: Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958, S. 17 – 36. 163 Vgl. Hammerstein: Das vierte Weltreich in der Lehre der Reichsjuristen.

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geschmolzen“ seien, der König daher ein „unangenehmes Ansehen“164 habe, und schließlich gar von seiner Unförmigkeit die Rede ist.165 Für jeden Leser lag der Bezug zu Pufendorfs Monstrum-Verdikt auf der Hand.166 Der vierte König ist (unter anderem!) eine Allegorie des Alten Reichs mit all seinen Gebrechen, die sich auch im Desinteresse des Königs für das „Geheimnis“ des Alten ausdrücken: „Was kümmerts mich! murmelte der zusammengesetzte König vor sich hin.“167 Anders als die Schlange, die bereit ist, sich aufzuopfern, weil sie das vierte Geheimnis weiß, sorgt sich der vierte König nicht um das Gemeinwohl. Seine Glieder sind nicht durch Liebe miteinander verbunden, der ererbte Machtanspruch daher ein Anachronismus. Wer wird die Welt beherrschen? rief dieser mit stotternder Stimme. – Wer auf seinen Füßen steht, antwortete der Alte – Das bin ich! sagte der gemischte König – Es wird sich offenbaren, sagte der Alte, denn es ist an der Zeit.168

Das in dem vierten König versinnbildlichte Reich steht nicht auf seinen Füßen, weil es sein Herrschaftsprinzip nicht entdeckt hat. Während den ersten drei Königen jeweils ein Prinzip zugeordnet ist und sie sich bei ihrer Nennung durch den Alten erheben (Weisheit, Schein und Gewalt), setzt sich der vierte König „plötzlich ungeschickt“ nieder.169 Der Jüngling wird schließlich von den drei würdigen Königen mit den traditionellen Reichsinsignien ausgestattet, mit Schwert, Zepter und Krone (hier allerdings ein Eichenkranz). Er tritt gleichsam als Vereinigung der drei Könige an die Stelle des vierten, da er im Gegensatz zu diesem um das vierte, noch fehlende Prinzip weiß: „die Kraft der Liebe.“170 Sie wäre es gewesen, so lässt sich folgern, welche die heterogenen Elemente des vierten Reichs verbunden hätte: „Die Liebe herrscht nicht“, erläutert der Alte, „aber sie bildet und das ist mehr.“171 Das neue Königspaar im Märchen erscheint nach der Krönungszeremonie von „wechselseitige[r] Liebe“ beglückt und regiert in Eintracht mit seinem Volk.172 Im Bild ihrer Hochzeit wird jener Gemeingeist dargestellt, der dem Reich in der Wirklichkeit fehlte. Die 164 Goethe: Unterhaltungen, in: MA, Bd. 4,1, S. 525. 165 Ebd., S. 545. 166 Darauf machte schon Baumgart aufmerksam: Baumgart: Goethes Märchen, S. 89, 91, 120, 123. 167 Goethe: Unterhaltungen, in: MA, Bd. 4,1, S. 525. 168 Ebd., S. 543. 169 Ebd., S. 545. 170 Ebd., S. 546. 171 Ebd. 172 Ebd., S. 547.

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Hochzeit der Lilie mit dem Prinzen ist das Symbol der liebevollen Eintracht, die auch am Ende der Idylle Hermann und Dorothea steht. Frieden im Reich und Frieden im Privaten entsprechen hier einander: Möge mein Herrmann doch auch an diesem Tage, Herr Pfarrer, Mit der Braut, entschlossen, vor Euch, am Altare, sich stellen, Und das glückliche Fest, in allen Landen begangen, Auch mir künftig erscheinen, der häuslichen Freuden ein Jahrstag!173

Nicht zufällig ist der letzte der neun Abschnitte des Epos mit „Urania. Aussicht“174 überschrieben, steht also im Zeichen der Venus Urania. Die Hochzeit Herrmanns und Dorotheas erscheint als Prophetie des lang ersehnten und schon im ersten Abschnitt („Kalliope. Schicksal und Anteil“) angedeuteten globalen Friedens, der kosmologischen pax urania: „Müde schon sind die Streiter, und alles deutet auf Frieden.“175 Zugleich ist die Lilie unverkennbar eine Anspielung auf das Wappen der Bourbonen bzw. auf die französische Monarchie: Dem Frieden im Innern des neuen Reichs entspricht der Frieden nach außen, der Frieden mit Frankreich also, auf den so viele Briefstellen der Weimarer Autoren verweisen. Als Aufruf zum Kampf gegen Frankreich ist das wohl kaum zu verstehen,176 eher hoffte Goethe, dass ein durch Eintracht gestärktes Reich Frankreich zu einem wirklichen Frieden führen könnte: Weiß ich durch dich nur versorgt das Haus und die liebenden Eltern, O, so stellt sich die Brust dem Feinde sicher entgegen. Und gedächte jeder wie ich, so stände die Macht auf Gegen die Macht, und wir erfreuten uns Alle des Friedens.177

In der Forschung besteht kein Zweifel, dass das Märchen in einer Utopie endet, fraglich ist nur in welcher. Mögen manche Elemente der Hochzeitszeremonie auch in Anspielung auf die Chymische Hochzeit geschrieben worden sein,178 zeigen sich doch in der Krönungszeremonie zugleich unverkennbar Reminiszenzen der deutschen Rituale. Die Königswahl Josephs II. schildert Goethe in Dichtung und Wahrheit ausführlich als „politisch religiose Feierlichkeit“, die „das Pfand eines dauerhaften Friedens werden [sollte], der auch wirklich lange Jahre hindurch 173 174 175 176 177 178

Goethe: Herrmann und Dorothea, in: MA, Bd. 4,1, S. 559. Ebd., S. 617. Ebd., S. 558. Roth: Der politische Goethe, S. 125. Goethe: Herrmann und Dorothea, in: MA, Bd. 4,1, S. 629. Fink: ,Das Märchen‘, S. 115 f.

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Deutschland beglückte“179. Neben den dabei genannten „Reichs-Kleinodien“180 verbindet die Beschreibung dieser feierlichen Zeremonie auch das Element der Ironie mit der Krönung im Märchen,181 vor allem in der Beschreibung des Volks. Wie in Frankfurt kommt es auch hier nicht mehr aus dem Staunen heraus. Durch ,Geschenke‘ werden die Schaulustigen auf dem Römer bei der Stange gehalten. Der Erbschatzmeister wirft auf dem Pferd sitzend freigebig „Gold- und Silbermünzen“ in die Menge, welche jedesmal in der Luft als ein metallner Regen gar lustig glänzten. Tausend Hände zappelten augenblicklich in der Höhe, um die Gaben aufzufangen; kaum aber waren die Münzen niedergefallen, so wühlte die Masse in sich selbst gegen den Boden und rang gewaltig um die Stücke, welche zur Erde mochten gekommen sein.182

Es handelt sich dabei wohl weniger um eine authentische Erinnerung des Dichters als vielmehr um die poetische Inszenierung dessen, was er bei Pütter als trockenen Fakt nachlesen konnte: das Ritual, „Krönungsmünzen“ unter das Volk werfen zu lassen.183 „Wie sonst“ bei solchen Anlässen, so Goethe in Dichtung und Wahrheit, tobte schließlich um den gebratenen Ochsen ein regelrechter Kampf, der allerdings diesmal beinahe außer Kontrolle geriet: Die Bretter der Hütte wurden abgerissen, alle stürzten sich darauf, um ihren Teil zu sichern, wiewohl „das Gerippe hin- und wiederschwankte und jähen Einsturz drohte“184. Das Ganze ging „obgleich heftig und gewaltsam, doch glücklich“ vorüber.185 Dennoch wirkt die Szene wie ein ironisches Satyrspiel, ein Gegenstück zur pompösen, unwirklich kostümierten Feierlichkeit des zeremoniellen Mahls im Frankfurter Rathaus. Nicht weniger im Märchen: Das von der Hochzeit seiner Herrscher beglückte Volk tummelt sich nun neugierig im neu geschaffenen Tempel und interessiert sich vor allem für die vierte Nische, in der nur noch eine „prächtige Decke über den zusammen gesunkenen König hingebreitet“ liegt. 179 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 222. 180 Ebd., S. 215. 181 Hinweise auf Ironie und Humor im Märchen: Fink: ,Das Märchen‘, S. 120; Oesterle: Bild- und Rätselstrukturen, S. 194 f. 182 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 225. 183 Vgl. Pütter, Johann Stephan: Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des teutschen Reichs, Bd. 2: Zweyter Theil von 1558 bis 1740, Göttingen 1786, S. 153. 184 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 226. 185 Ebd.

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Das Volk hätte kein Ende seines Schauens und seiner Bewunderung gefunden, und die zudringende Menge hätte sich in dem Tempel selbst erdrückt, wäre ihre Aufmerksamkeit nicht wieder auf den großen Platz gelenkt worden. Unvermutet fielen Goldstücke, wie aus der Luft, klingend auf die marmornen Platten, die nächsten Wanderer stürzten darüber her, um sich ihrer zu bemächtigen, einzeln wiederholte sich dies Wunder, und zwar bald hier und bald da. Man begreift wohl, daß die abziehenden Irrlichter sich hier nochmals eine Lust machten und das Gold aus den Gliedern des zusammengesunkenen Königs auf lustige Weise vergeudeten. Begierig lief das Volk noch eine Zeitlang hin und wieder, drängte und zerriß sich, auch noch da keine Goldstücke mehr herabfielen.186

Ähnlich wie in der Frankfurter Zeremonie steht der Würde des Anlasses die Gier des Volkes gegenüber. Das von Liebe getragene Friedensreich ist daher keine schlichte Utopie, es ist eine Utopie mit Fragezeichen, da die conditio humana offenbar nicht für ein solches geeignet ist. Vielleicht darf man in diesem Abschlussbild über die Kritik am unreifen Volk hinaus auch eine Anspielung auf den Länderschacher der Großmächte erblicken, verteilen die Irrlichter doch jenes Gold, das sie zuvor aus den Gliedern des vierten Königs „herausgeleckt“187 hatten, was unmittelbar zu seinem Zusammenbruch führte. Während der Frieden aus dem Märchen in die Gesellschaft wirken soll, wirkt die politische Realität ihrerseits bis hinein in die märchenhafte Utopie und stellt sie in Frage. 2.3 Die ,Einungsutopie‘ im Wilhelm Tell oder die verpasste Reichsreform 2.3.1 Ideal und Gegenwart: Wilhelm Tell und der Graf von Habsburg Das Drama Wilhelm Tell und die Ballade Der Graf von Habsburg behandeln reichspolitisch aufgeladene Themen: Während Rudolf I. in reichspatriotischen Schriften dieser Zeit zum Idealherrscher des vergangenen Reichs erhoben wurde,188 galt die Eidgenossenschaft bei progressiv gesonnen 186 Goethe: Unterhaltungen, in: MA, Bd. 4,1, S. 549 f. 187 Ebd., S. 545. 188 „Dieser König hatte verzügliche Verdienste um sein Vaterland; durch ihn wurden die zu großen Missbräuche der von dem teutschen hohen und niedern Adel erlangten Macht gehindert, die alte Verfassung, die richterliche Gewalt, das königliche Ansehen und die öffentliche Sicherheit wieder hergestellt. Er setzte der Raubsucht vieler kleiner Tyrannen Gränzen, brachte das Reich wieder in den Besitz vieler vorher demselben entzogenen Güther, und befreyte den teutschen Staat von der Gefahr einer gänzlichen Trennung.“ Anonymus: Rastatter Congreß Taschenbuch für 1799. Mit 17 Silhouetten, Carlsruhe/Rastatt 1799, S. 81.

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Publizisten und Schriftstellern geradezu topisch als schwesterliche Idealverfassung. Das ganze Jahrhundert über lieferte sie als ,eigenes Anderes‘ gepaart mit der laus ruris einer sittlich-vollkommenen Bevölkerung die Projektionsfläche einer deutschen Nationalidylle.189 Die Verwandtschaft beider Verfassungen stand außer Frage. Friedrich Carl Moser verkündet im Deutschen national=Geist (1765): Sind wir doch, so gut als die Helvetier, ebenfalls Eyds= und Bundes=Genossen. Uns allen hat der Kayser seinen Eyd vor die Hut und Erhaltung der Gesetze und Freyheiten des Vaterlandes geschworen; wir alle leben unter dem Schutz des grossen politisch=religiösen Friedens=Bundes […].190

„Die Reichsverfassung“, schreibt Johannes Müller, Autor der wichtigsten Quelle für Schillers Drama, „ist eine große Eidgenossenschaft ungleicher Mitglieder, die, bewogen durch den Wechsel der Zeiten, sich zusammen einverstanden auf gemeines Recht und gemeine Hülfe.“191 Um 1800 war der Vergleich brandaktuell: In der Korrespondenz mit Johann Georg Müller nimmt Herder regen Anteil an den politischen Ereignissen in der Schweiz und setzt sie in Parallele zur deutschen Entwicklung:192 „O Ihr habt Euren Theil empfangen; unsere Rechnung steht uns bevor. quo lentior eo gravior […].“193 Er beneidet die Chance der Schweizer, sich selbst zu reformieren und gegen Frankreich zu erwehren, anstatt, wie es dem Reich zu drohen schien, von der fremden Macht schlicht aufgelöst zu werden. „Was neuerlich in Italien und in der Schweiz geschehen ist, sollte den Teutschen billig zur Warnung dienen“194, heißt es in vergleichbarem Sinn in Wielands Dialog Was ist zu thun? Schiller rechnete also aus guten Gründen damit, dass der Untergang der Republik Helvetien (1798 – 1803) durch die französische Eroberung das politische Interesse an seinem Werk steigern müsste.195 Er hoffe damit „den Leuten den Kopf wieder warm zu machen“, schreibt er: „Sie sind auf solche 189 Vgl. zur ,Nationalidylle‘ und dem Hermannsmythos: Hien: Natur und Nation, S. 234 – 238. 190 Moser: Von dem Deutschen national=Geist, S. 106. 191 Müller: Darstellung des Fürstenbundes, S. 111. 192 Zum politischen Gedankenaustausch mit Johann Georg Müller: Haym: Herder, Bd. 2, S. 770 – 780. 193 Herder an Johann Georg Müller, 8. August 1800, Nr. 141, in: HB, Bd. 8, S. 155. 194 Wieland: Was ist zu thun?, in: PS, Bd. 3, S. 371. 195 Höhle, Thomas: Die Helvetische Republik (1798 – 1803) als zeitgeschichtlicher Hintergrund der Entstehung und Problematik von Schillers ,Wilhelm Tell‘, in: Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs. Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft, hrsg. v. Helmut Brandt, Weimar 1987, S. 320 – 328.

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Volksgegenstände ganz verteufelt erpicht, und jetzt besonders ist von der schweizerischen Freiheit desto mehr die Rede, weil sie aus der Welt verschwunden ist.“196 Die nach solchen ,Volksgegenständen‘ lechzenden ,Leute‘ sind aber natürlich nicht Franzosen oder Schweizer, sondern Deutsche. Schiller wusste, dass das Thema genauso wie seine Ballade patriotische Konnotationen wecken musste, ja, sein „Volksstück“197 spielt ganz offensichtlich mit Motiven aus dem Arsenal ,vaterländischer‘ Dramen, namentlich der Hermannsdichtung und der Ritterstücke. Bereits vor mehr als hundert Jahren stellte Otto Brahm die motivliche Nähe des Dramas zur Tradition der Ritterdramen heraus (Kerker, Schwur, Unwetter, Weiberraub, Erstürmung einer Feste, Pilger, Ritterpflicht und Ritterwort etc.).198 Selbst Tells Charakter als Anti-Hamlet („Ich kann nicht lange prüfen oder wählen / bedürft ihr meiner zur bestimmten Tat, / Dann ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen“199) und seine Treue für das Gemeinwesen bei gleichzeitiger Selbständigkeit („der Starke ist am mächtigsten allein“200) sind bekannte Topoi der vaterländisch-patriotischen Schauspiele. Schon der berühmte Selbsthelfer Götz von Berlichingen ist „ein Feind von Explikationen“201. Weder Hermann noch Götz eignen sich für die diplomatischen Winkelzüge der Politik. Herz und Handlung sind im patriotischen Charakter eins. „Ich rede frey und laut; denn ich denke nichts, was ein Mann nicht reden soll“202, ruft Otto von Wittelsbach in dem gleichnamigen Drama Josephs von Babo. Und an anderer Stelle beinahe ein TellSatz: „Ich brauche keine fremde Hülfe zu meiner Rache, bin mir selbst genug.“203 Vor allem das Erscheinen Johann von Schwabens in der Parricida-Szene des Wilhelm Tell musste unweigerlich Erinnerung an eben dieses Stück Babos hervorrufen. ,Schweizerische Freiheit‘ und ,deutsche Freiheit‘, das ist indes wohl der entscheidendste Punkt, sind seit den nationalen Konstruktionen des Humanismus auf das engste verbunden, und beide kollektiven Freiheitsbegriffe hängen essentiell mit der Vorstellung politischer Vielheit zusammen. 196 Schiller an Wilhelm von Wolzogen, 27. Okt. 1803, Nr. 93, in: NA, Bd. 32, S. 81. 197 Vgl. Cersowsky, Peter: Schillers Volksstück: ,Wilhelm Tell‘, in: Würzburger Schiller-Vorträge 2005, hrsg. v. Jörg Robert, Würzburg 2007, S. 93 – 110. 198 Brahm: Das deutsche Ritterdrama, S. 143 f. und 151. 199 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 932. 200 Ebd. 201 Goethe: Götz von Berlichingen, in: MA, Bd. 1,1, S. 567. 202 Babo: Otto von Wittelsbach, S. 23. 203 Ebd., S. 115.

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Die Eintracht des Brüderbundes hinter Arminius im Kampf gegen auswärtige römisch/französische Bedrohung ist hier genauso zu nennen wie die deutsche Gradlinigkeit, Treue, Freiheitsliebe und patriotische Naivität der tapferen Germanen oder ihrer mittelalterlichen Enkel, der Ritter. „Das Volk lebte in vielen Dorfschaften deren Häuser meistens, wie bey den alten Teutschen, auf Wiesen, schönen Hügeln und an Quellen einzeln liegen“204, heißt es in Johannes Müllers Schweizer Geschichte. Herder erläutert: „[A]llenthalben standen Deutsche mit und bei einander, und nannten es Bund. Alle für Einen, Einer für Alle; der Name German, Hermann, Heermund und viele andere deuten auf nichts anders.“205 Der Schwur der Eidgenossen auf dem Rütli gegen die tyrannischen Landvögte kann seine Verwandtschaft zum Bruderschwur der Germanen gegen den römischen Feldherrn Varus nicht verbergen. Fernwirkung der föderalen Nationenbrüderschaft zwischen Schweizern und Deutschen war die Imitation der Rütliszene Schillers beim Hambacher Fest 1832.206 Doch Schillers Drama ist besser: Er spielt mit den Formen und Traditionen vaterländisch-volkstümlicher Dichtung, schreibt aber selbst kein patriotisches Drama.207 Inhaltlich erstaunt es zunächst, dass der reichspolitische Bezug in der Forschung bisher keinerlei Rolle spielte. Gewiss: Die französische Tell-Dichtung208 lässt bei dieser Themenwahl unvermeidlich an die Revolution in Frankreich denken, und aus guten Gründen vermutet die Mehrheit der Forschung in Schillers Dichtung eine Antwort auf diese – eine Antwort aber, die bewusst auf Reichsboden spielt. Die Erfahrungen der Französischen Revolution werden einbezogen, aber analog zu den politischen Reformdiskussionen im Reich auf die reichsbzw. deutschlandspezifischen Fragen angewandt. Die Ballade über Rudolf von Habsburg und das Drama über den Schweizer Helden Wilhelm Tell sind nur scheinbar politisch konträr – hier der Monarch, dort der Tyrannenmörder.209 Erst das 19. Jahrhundert 204 Müller, Johannes: Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, Bd. 1: Von dem Anbau des Landes, Leipzig 1786, S. 604. 205 Herder: Ist dem Volke so viel Kunstsinn als Sinn für Wahrheit und Ehrbarkeit nöthig?, in: SWS, Bd. 24, S. 273. 206 Vgl. Gerhard, Ute: Schiller als ,Religion‘. Literarische Signaturen des XIX. Jahrhunderts, München 1994, S. 154 – 156. 207 Vgl. Müller-Seidel: Schiller und die Politik, S. 257 f. 208 Vgl. Borchmeyer: Altes Recht und Revolution, S. 69 f. 209 Zu dieser Opposition: Häusler, Wolfgang: „Und um der Menschheit große Gegenstände, um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen…“. Friedrich Schillers Geschichtsdramen ,Wallenstein‘ und ,Wilhelm Tell‘ in der Epoche der Französi-

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machte aus dem Gedicht die Huldigung des Gottesgnadentums, wiewohl Schiller explizit von der Königswahl berichtet.210 Beide Werke entstanden gestützt auf den Schweizer Chronisten Aegidius Tschudi und auch inhaltlich berühren sie sich: Rudolf I. ist jener ,Kaiser‘211, der im Drama zwar als politische Idealfigur angerufen, jedoch von der Gegenwart des machtherrlichen Vogts verdrängt wird. Die Ballade wiederum rühmt Rudolf sowohl für die Beendigung des Interregnums als auch für sein „ritterlich Walten im Schweizerland“212. Seine Reichsherrlichkeit in Aachen freilich, das „festliche Krönungsmahl[]“ mit den sieben Kurfürsten, ist geradezu idyllisch-kitschige Reichsromantik: die Kaiserliche „Sonne“ umgeben von dem reichständischen „Sterne Chor“213 – so etwas liest man später auch bei Eichendorff. Er wisse recht gut, fügt Schiller in einer Fußnote hinzu, „daß Böhmen sein Erzamt bei Rudolfs Kaiserkrönung nicht ausübte“214. Das harmonische Gemälde, so lässt sich folgern, verlangte jedoch nach der Siebenzahl. Es lässt sich auch als Antithese zur Reichskrise um 1800 verstehen, an die die Zeitgenossen unweigerlich erinnert wurden, wenn sie lasen: Denn geendigt nach langem verderblichen Streit War die kaiserlose, die schreckliche Zeit, Und ein Richter war wieder auf Erden. Nicht blind mehr waltet der eiserne Speer, Nicht fürchtet der Schwache, der Friedliche mehr, Des Mächtigen Beute zu werden.215

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schen Revolution und Napoleons, in: Hölderlin und Politik, hrsg. v. Valérie Lawitschka, Tübingen 2012, S. 143 – 214, hier S. 199 – 206. Gegen Häusler ist zu betonen, dass Schiller Rudolf von Habsburg nicht als österreichischen Stoff, sondern als deutschen König resp. Kaiser auffasste: „In unserer deutschen Geschichte ist bloß Rudolph von Hapsburg einer gewißen Herrlichkeit fähig, und etwa noch Heinrich der Löwe von Braunschweig zu Friderich Barbarossas Zeit.“ Schiller an August Wilhelm Iffland, 5. Aug. 1803, Nr. 69, in: NA, Bd. 32, S. 58. Vgl. zum Gegenwartsbezug und zur Rezeption der Ballade: Kühlmann, Wilhelm: Poetische Legitimität und legitimierte Poesie: Betrachtungen zu Schillers Ballade ,Der Graf von Habsburg‘ und ihrem literarischen Umkreis, in: Schiller und die höfische Welt, hrsg. v. Achim Aurnhammer/Klaus Manger/Friedrich Strack, Tübingen 1990, S. 282 – 300. Über Schillers Verwendung des Kaisertitels, die weder mit seinen Quellen (Tschudi und Müller) noch mit der Geschichte übereinstimmt, wird noch zu handeln sein. Schiller: Der Graf von Habsburg, in: MA, Bd. 1, S. 381. Ebd., S. 378. Ebd., S. 381. Ebd., S. 378.

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Während Schiller mit dem Grafen von Habsburg einen Idealfürsten an die Spitze des befriedeten ,deutschen Reichs‘ stellt, schildert er im Wilhelm Tell am Beispiel der Eidgenossenschaft die Entwicklung zu einem idealen freiheitlichen Gemeinwesen innerhalb (!) des Reichsverbands. Er nimmt dabei, so gilt es zu zeigen, behutsam die reichspolitische Reformdiskussion auf, ohne aber, im Gegensatz zu so manchem ,Publicisten‘, noch an die Anpassungsfähigkeit der Reichsverfassung zu glauben. Der Graf von Habsburg offenbart die Unmöglichkeit des Ideals nur implizit durch den Märchen- bzw. Legendenton. Der Idealstaat des Dramas hingegen zeigt sich ganz im elegischen „Modus des Vorbei“216 : Wilhelm Tell spiegelt nicht die mögliche, sondern die verpasste Reichsreform. Das ,Setting‘ ist ganz offenkundig in der ,naiven‘ Vormoderne lokalisiert – „ein ganzes und entferntes Zeitalter“217. Der Dreigesang aus der ersten Szene ist durch die Themen Tod, Abschied und Einsamkeit mehr elegisch denn idyllisch zu nennen.218 Natürlich eine Vorausdeutung auf den Bruch der Harmonie durch den despotischen Eingriff des Landvogts,219 zugleich aber mehr, denn von der Wiederherstellung der Ordnung vermitteln die Lieder nichts. Die erste Szene öffnet gleichsam ein Tor in die Vergangenheit. Schillers Quelle ist hier Johann Gottfried Ebel. In der Fremde, erläutert der Arzt in seiner Reisebeschreibung die sprichwörtliche ,maladie suisse‘, lösten das „harmonische Geläut der Herdenglocken“ und die „Kuhreihen“ tiefe Trauer aus: Wenn bei den schweitzerischen Regimentern in Frankreich der Kuhreihen gespielt oder gesungen wurde, so zerfloßen die Alpensöhne in Thränen, und fielen, wie von einer Epidemie ergriffen, haufenweise plötzlich in solche Heimsehnsucht, daß sie desertirten, oder starben, wenn sie nicht ins Vaterland gehen konnten.220

Nach Ebel bestehen die „Kuhreihen“ „nicht aus artikulierten Lauten“, sie werden „von den Sennen und Hirten nie mit Worten gesungen“221. Fi216 Riedel, Wolfgang: Unwiederbringlich. Elegische Konstruktion und unentwickelte Tragödie im ,Wilhelm Tell‘, in: Würzburger Schiller-Vorträge 2009, hrsg. v. dems., Würzburg 2011, S. 45 – 62, hier S. 55. 217 Schiller an Christian Gottfried Körner, 9. Sept. 1802, Nr. 183, in: NA, Bd. 31, S. 160. 218 Riedel: Unwiederbringlich, S. 61 f. 219 Cersowksy: Schillers Volksstück: ,Wilhelm Tell‘, S. 105. 220 Ebel, Johann Gottfried: Schilderung der Gebirgsvölker der Schweitz, 2 Bde., Leipzig 1798/1800, Bd. 1, S. 418. Der Hinweis auf diese Stelle: NA, Bd. 10, S. 503 f. 221 Ebel: Schilderung der Gebirgsvölker der Schweitz, Bd. 1, S. 152.

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scherknabe, Hirte und Alpenjäger nutzen bei Schiller jedoch sehr wohl das reflexive Wort. Der einleitende Dreigesang bringt daher das von Ebel beschriebene Heimweh in die Idylle selbst hinein, es sind nur scheinbar authentische Lieder, gemacht für Fremde aus der Moderne: Wir sind die Kranken, die das Gesunde beschauen.222 „Es ist wunderbar“, schreibt Goethe am 25. Oktober 1797 begeistert aus Zürich an Schiller, „wie alte Verfassungen, die bloß auf seyn und erhalten gegründet sind, sich in Zeiten ausnehmen wo alles zum werden und verändern strebt.“223 Die politische Qualität des Dramas besteht gerade in dieser Mischung aus Aktualität (Französische Revolution, Helvetische Republik, Reichsreformdiskussion) und unwiederholbarer Vergangenheit (Setting, historisches Kostüm, politisches Ideal). Das Ideal ist gleichsam ästhetisch von der historisch-politischen Realität abgeschirmt, wie Tells ,naiver‘ Sohn von dieser nichts wissen will: Walther. Vater, es wird mir eng im weiten Land, Da wohn ich lieber unter den Lawinen. Tell. Ja, wohl ists besser, Kind, die Gletscherberge Im Rücken haben, als die bösen Menschen.224

Der Blick von dem Gipfeln der Schweizer Berge in das Land der deutschen Verwandten, die in feudaler Unfreiheit und unter ökonomischen Zwängen leben, ist auch zeitlich zu verstehen: der Blick in die Zukunft, die dem vergangenen Idyll widerstrebt. 2.3.2 Demokratische Reichsromantik? „Tell an Erzkanzler“225, lautet ein Eintrag vom 25. April 1804 in Schillers Kalender. Bereits 1793 widmete er Karl Theodor von Dalberg die Abhandlung Über Anmuth und Würde. Anlass war die Verbundenheit mit dessen ästhetischen Schriften und der darin angenommenen Gleichung, Schönheit sei die Vereinigung der beiden Grundprinzipien „Kraft“ und „Anmut“226. Schon damals war Dalberg in reichspolitischer Hinsicht 222 Vgl. Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, in: MA, Bd. 5, S. 711. 223 Goethe an Friedrich Schiller, 25. Okt. 1797, Nr. 3671, in: WA, Abt. IV., Bd. 12, S. 347. 224 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 976 f. 225 NA, Bd. 10, S. 484. 226 Vgl. Manger, Klaus: Schillers Widmungen, in: Der ganze Schiller – Programm ästhetischer Erziehung, hrsg. v. Klaus Manger, Heidelberg 2006, S. 421 – 444, hier S. 433 – 444, besonders 442 f. Schiller erwähnt Dalbergs Grundsätze der Aesthetik in einer Anmerkung zu den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen

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„Hoffnungsträger der Intellektuellen“227. Erst 1802 trat er aber die Nachfolge Erthals auf dem Mainzer Metropolitansitz an. Mehr als je zuvor richteten sich daher nach dem Reichsdeputationshauptschluss die Augen auf ihn, der zum letzten geistlichen Fürsten Deutschlands werden sollte.228 Handschriftlich notierte Schiller am 22. April 1804 im ,Aschaffenburger Manuskript‘ des Wilhelm Tell ein Widmungsgedicht an seinen Gönner,229 das die politische Aussage des Dramas in zwei Strophen bannt, in Bild- und Gegenbild: die Französische Revolution als „freche Willkür“, die „den Anker löst, an dem die Staaten hängen“, auf der einen Seite und ihr gegenüber „ein Volk, das fromm die Herden weidet“, „den Zwang abwirft“, aber „selbst im Zorn die Menschlichkeit noch ehrt“230. Nach Schillers Wunsch sollte das gedruckte Drama Dalberg mit den folgenden Zeilen und einer Vorrede zugeeignet werden: „Seiner Churfürstlichen Gnaden / Dem hochwürdigen Fürsten und Herrn / Karl / Des heil. röm. Reichs Churfürsten / und Erzkanzler / unterthänigst gewidmet / von dem Verfaßer.“231 Dalberg lehnte die Widmung allerdings mit den salomonischen Worten ab, ein Dichter dieses Rangs würde der Tugend huldigen, nicht aber einem Sterblichen.232 Während in Schillers Dedizierung von Anmut und Würde gewiss die ästhetische Verbindung der beiden Denker den Ausschlag gab, dringt in den Widmungsversen des Wilhelm Tell der politische Kontext in

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(Apparat), in: NA, Bd. 21, S. 245: „Der vortrefliche Verfasser der Schrift: Grundsätze der Aesthetik u. s. f. Erfurt 1791. unterscheidet in der Schönheit die zwey Grundprincipien Anmuth und Kraft und setzt die Schönheit in die vollkommenste Vereinigung beyder; welches mit der hier gegebenen Erklärung aufs genaueste zusammentrift.“ Dalberg selbst schrieb 1795 einen Aufsatz in Schillers Horen über Kunstschulen, anhand welcher sich die Nähe eines Reichspolitikers zu dem kulturellen Programm der Weimarer Klassik zeigen lässt. Hier laufen der „Endzweck der Staatsverbindung“ und die anthropologische Maxime, „Kopf und Herz“ in der „schönen Kunst“ zu vereinen, in der „Glückseligkeit“ seiner Bürger zusammen und münden in die Aufforderung an die deutschen Fürsten, die „Väter des Vaterlandes“, Kunstschulen zu errichten. Reichsreform und ästhetische Erziehung erscheinen in der Person Dalbergs und der Verbindung zu Schiller beinahe wie zwei Seiten einer Medaille. Siehe: Dalberg: Kunstschulen, in: Horen 2, St. 5 (1795), S. 122 – 134. Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 422. Färber, Konrad M.: Kaiser und Erzkanzler. Carl von Dalberg und Napoleon am Ende des Alten Reichs, Regensburg 1994. Vgl. Manger: Schillers Widmungen, S. 440. Schiller: [An Karl Theodor von Dalberg], in: MA, Bd. 1, S. 462 f. NA, Bd. 10, S. 469. Karl Theodor von Dalberg an Schiller, 6. Juli 1804, Nr. 256, in: NA, Bd. 40,1, S. 222.

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den Vordergrund. Mag auch der Diskurs über die notwendigen Grenzen des Staats, der sich zwischen Humboldt und Dalberg anlässlich der Französischen Revolution entspannte, für das frühliberale Staatsdenken Schillers von großer Bedeutung gewesen sein,233 es ist schwer vorstellbar, dass er nicht gleichermaßen und damit verbunden an den Reichspolitiker Dalberg denken musste. Das „Du kennsts, denn alles Große ist dein eigen“234 des letzten Verses lässt sich wohl auch als Hommage an den glücklosen Reichsreformer verstehen. Schon 1787 hatte der Mainzer Statthalter flankiert von der Publizistik Johannes Müllers gehofft, das bestehende Reich nach ständisch-liberalen Grundsätzen zu reformieren. Seine Vorschläge zum Besten des Deutschen Reiches, die noch vor der Revolution eine geschriebene Verfassung für das Reich forderten, blieben jedoch wirkungslos.235 Nun, zum Zeitpunkt als Schiller dem frischgebackenen Erzkanzler des Reichs seinen Wilhelm Tell widmete, hoffte dieser auf eine Reichsreform mit Hilfe des napoleonischen Frankreichs – wie sich zeigen sollte ebenso vergebens. Sein politisches Wirken versah Caroline von Wolzogen in Schillers Leben (1830) daher mit dem Nimbus eines tragischen Edlen, der einer vergangenen Zeit angehörte – man denke an den Geistlichen aus Schillers reichsromantischer Ballade, von dem der Dichter hervorhebt, dass er „Kaplan bei dem Kurfürsten von Mainz geworden“236 sei. „Aber alle kleinen und mittleren Staaten fielen, wie er, in das Netz des Unterdrückers. Der letzte geistliche Kurfürst mußte das Schicksal der anderen erfahren, und aller Hände griffen nach dem lockenden Raube. Er fühlte, daß er nicht gegen die eiserne Zeit zu stehen vermochte.“237 Nicht Resignation, sondern Optimismus und Tatendrang strahlten zwanzig Jahre zuvor die Schriften Johannes Müllers aus. Müller war nicht nur einer der prominentesten Geschichtsschreiber des Aufklärungszeitalters, er war zugleich auch Politiker, mehr noch: seine Geschichtsschreibung war Mittel der Politik. Während seiner Tätigkeit in Mainz (1786 – 1792) trat der gebürtige Schweizer als patriotischer Verfechter einer Reichsreform nach dem Vorbild Maximilians I. auf, die er mit Hilfe des Fürstenbunds 233 Vgl. Ulrich, Thomas: Anthropologie und Ästhetik in Schillers Staat, Frankfurt a.M. 2011, S. 235 – 374. 234 Schiller: [An Karl Theodor von Dalberg], in: MA, Bd. 1, S. 463. 235 Vgl. Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, S. 323 – 338. 236 Schiller: Der Graf von Habsburg, in: MA, Bd. 1, S. 381. 237 Wolzogen, Caroline von: Schillers Leben, verfasst aus Erinnerungen der Familie, seinen eigenen Briefen und den Nachrichten seines Freundes Körner, Bd. 2, Stuttgart/Tübingen 1830, S. 196. Vgl. auch: ebd., S. 264.

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realisiert zu sehen wünschte.238 Im Sommer 1787 bereiste Müller im Auftrag Preußens die Schweiz, um zu prüfen, ob in manchen Kantonen der Wille zum Beitritt in den Fürstenbund vorhanden sei.239 Die ersten beiden Bände seiner berühmten Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft erschienen 1786, unmittelbar vor seiner Anstellung in Mainz. Gewiss ist der reichspolitische Duktus der Vorrede zum Dritten Buch (1788)240 daher dem Engagement für den Fürstenbund geschuldet, als dessen Herold er sich betätigte, doch auch die Geschichtsschreibung der vorangehenden Bände entspringt dem politischen Geist seiner Darstellung des Fürstenbundes, dem Lob einer Recht, Freiheit und Eintracht verbürgenden ,Vielstaatlichkeit‘. Für Schillers Hauptquelle ist die enge Verwandtschaft zwischen der gegenwärtigen Reichsverfassung und dem Schweizer Bundesstaat leitend: Der Staat, worinn ich lebe [das Reich], und mein Geburtsland [die Schweiz] sind beyde durch Verbindung mit andern sicher, und gleich interessirt für die große Sache, daß in der menschlichen Gesellschaft barbarischer Despotismus und trotzige Gewalt nicht so viel vermögen als Licht und Recht. Beyde Bundessysteme, das teutsche und das Schweizerische (denn auch das Reich ist eine nur anders geformte Eidgenossenschaft), haben Grundsätze der Gerechtigkeit, Begierde des Friedens und ein interessantes Verhältniß zu dem allgemeinen System mit einander gemein. Sie haben mit einander gemein, daß im Reich und in der Schweiz für das Nationalbeste die heilsamsten, für die Erhaltung die nothwendigsten, die preiswürdigsten und unverdächtigsten Maßregeln leicht ins Werk gesetzt werden können, sobald unzeitige Aengstlichkeit, politische Pedanterey, Schlummer und Eifersucht einer wahren Vaterlandsliebe und edlen Offenheit weichen müssen. Es wäre zu wünschen, daß, begeistert von hoher Nacheiferung, diese zwey Bundesrepubliken für das Wohl der Bürger und Bauern, und gegen künftige Gefahren, eine thätiger und stärker als die andere zu seyn trachten. Sie werden ohnedem keine die andere lange überleben; so wenig das Reich untergehen kann ohne äußerste Erschütterung benachbarter Staaten, so wenig darf die Erhaltung der Schweiz gleichgültiger scheinen als die von Bayern. Daher (obwohl beyde nicht mehr wie ehemals aneinander geflochten sind, sondern besser neben einander bestehen) ich dafür gehalten habe, daß die Befestigung der einen und andern ein gemeinschaftlicher Vortheil sey. Der ist auch ein guter Eidgenosse, der mit reinem Patriotismus, angeborner Offenheit und Volksliebe die Gesetze und Interessen des 238 Dafür wurde er von Schubart als „Vaterlandsfreund vom alten deutschen Eichenschlage“ geehrt. Zit. n. Waldmann: Reichspatriotismus, S. 48. Grundsätzlich: Haller-Dirr, Marita: Johannes von Müller und das Reich. Studien zur Kurmainzer Fürstenbundpolitik, in: Mainzer Zeitschrift 77/78 (1982/83), S. 1 – 87 und 78/80 (1984/85), S. 87 – 155. 239 Vgl. Wegele, Franz Xaver: Johannes Müller, in: ADB, Bd. 22, S. 587 – 610, hier S. 598. 240 Schiller hat auch diesen Band nachweislich benutzt: NA, Bd. 10, S. 389.

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Reichs bearbeitet, so wie der nicht weniger ein guter Diener des ersten Churfürsten und Erzcanzlars, welcher seine übrigen Stunden jener Schwester Eidgenossenschaft, seinem unvergeßlichen Vaterland, weihet.241

Schiller konnte der politische Aspekt in Müllers Arbeiten zur Schweizer Geschichte nicht entgangen sein. Spuren dieses föderalen, freiheitlichen Reichskonzepts finden sich jedenfalls im Drama zuhauf. Die Rebellion seiner Eidgenossen spielt in den Grenzen des mittelalterlichen Heiligen Römischen Reichs. Dass die Bekanntmachung der Ermordung König Albrechts die Herauslösung der Schweiz aus dem Reichsverband vorwegnimmt,242 ist wenig wahrscheinlich. Explizit steht am Ende des Dramas die Wahl Heinrichs VII. zum neuen Kaiser, der als zukünftiger guter Herrscher ein Gegenbild zur Tyrannei des alten ist. Nach Johannes Müllers Darstellung hatte er den Schweizern „die Reichsunmittelbarkeit“ und „ihre Unabhängigkeit von den ausländischen Gerichten“ bestätigt.243 Dem ,länderdurstigen‘ Österreich wird damit ein Riegel vorgeschoben: „Ihr Reich ist aus“244, heißt es gegenüber den Herrschaftsansprüchen der königlichen Witwe nach dem Tod Albrechts. Das aber ist nicht anti-kaiserlich zu verstehen, sondern anti-erbrechtlich. Wahlfreiheit und Herrschaft eines guten Kaisers sind die zugehörigen Verfassungsideale: STAUFFACHER. […] Gefallen ist der Freiheit größter Feind, Und wie verlautet, wird das Szepter gehn Aus Habsburgs Haus zu einem andern Stamm, Das Reich will seine Wahlfreiheit behaupten. WALTER FÜRST UND MEHRERE. Vernahmt Ihr was? STAUFFACHER. Der Graf von Luxemburg Ist von den mehrsten Stimmen schon bezeichnet. WALTER FÜRST. Wohl uns, daß wir beim Reiche treu gehalten, Jetzt ist zu hoffen auf Gerechtigkeit! STAUFFACHER. Dem neuen Herrn tun tapfre Freunde not, Er wird uns schirmen gegen Östreichs Rache.245 241 Müller, Johannes: Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, Bd. 3: Die beyden ersten Capitel, Leipzig 1788, S. XXII–XXIV. 242 Borchmeyer: Altes Recht und Revolution, S. 110 f. 243 Müller, Johannes: Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, Bd. 2: Von dem Aufblühen der ewigen Bünde, Leipzig 1786, S. 18 f. 244 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 1020. 245 Ebd., S. 1019 f.

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Anders als in den historischen Vorlagen Schillers, in Johannes Müllers Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft und in Aegidius Tschudis Chronik aus dem 16. Jahrhundert, wechseln die Bezeichnungen König und Kaiser für Albrecht im Drama häufig ab. Albrecht ist niemals Kaiser geworden und gilt in der Geschichtswissenschaft als einer der ,kleinen Könige‘ des Spätmittelalters.246 Schiller transferiert wie schon im Graf von Habsburg mit der weitgehenden Gleichsetzung des Königs- und Kaisertitels eine Entwicklung späterer Jahrhunderte mit den Stationen Goldene Bulle (1356) und Maximilian I., der sich ,erwählter Kaiser‘ nannte – Entwicklungen also, die zur Grundlage der Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit werden sollten – ins beginnende Spätmittelalter. Zugleich unterscheidet er stark zwischen dem Amt des Kaisers als gewähltem und damit an Gesetze und Stände gebundenen Monarchen gegenüber dem erblichen Landesherren, der, so will es die idealtypische Vereinfachung, nur der Staatsräson seiner eigenen Hausmachtinteressen verpflichtet ist und keinen gesetzmäßigen Grenzen. Drei reichspolitisch relevante Aspekte sollen im Folgenden herausgestellt werden: 1. der reichsrechtliche Grundkonflikt, der im Hintergrund steht und durchaus im Zusammenhang mit der Krise der Gegenwart um 1800 zu sehen ist, 2. die berühmte Rütli-Szene, die den Widerstand gegen Albrecht ausdrücklich mit Blick auf das Reich und die politisch-rechtliche Praxis im Reich legitimiert. Es handelt sich nicht, wie oft behauptet, um die Grundlegung eines Gesellschaftsvertrags im Sinne des Naturrechts, sondern um die moderne Adaption der altertümlichen ,deutschen‘ Praxis einer ,Einung‘. Gleichzeitig wird mit Blick auf den innerschweizerischen Streit (Landsgemeinde versus repräsentative Demokratie) ein politischer Reformdiskurs aufgegriffen, der von großer Bedeutung für die Vorstellung des vergangenen ,Ideal‘-Reichs ist. 3. zeigt ein kurzer Blick auf die Rolle des Adels, insbesondere auf Rudenz, wie deutlich Schiller zwischen dem rechtmäßigen Widerstand gegen Unterdrückung und der politischen Systemreform, die in seinem Drama de facto vom Adel ausgeht, unterscheidet. 1. Der reichsrechtliche Grundkonflikt: Auf der einen Seite steht die Recht und Freiheit verbürgende ,Reichsunmittelbarkeit‘ der Eidgenossen, auf der anderen die Despotismus ermöglichende Zugehörigkeit zu einem

246 Vgl. Moraw: Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung, S. 211 – 218.

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machtvollen Landesherrn.247 Beide Modelle konkurrierten im Deutschland des 18. Jahrhunderts: Das Reich und seine Struktur wurden zunehmend von einzelnen Fürsten zerstört, die ihre Landeshoheit unabhängig von Reichsgesetzen wahrnehmen wollten oder gar auf Kosten der Kleineren im Reich ihre Macht ausdehnten. Schon die zweite Szene des Schauspiels präsentiert den politischen Grundkonflikt der weiteren Handlung. Pfeifer warnt: Ja, ja, Herr Stauffacher, wie ich Euch sagte. Schwört nicht zu Östreich, wenn Ihrs könnt vermeiden. Haltet fest am Reich und wacker wie bisher, Gott schirme Euch bei Eurer alten Freiheit!248

Im Vertrauen auf die Beständigkeit der Reichsverfassung scheiden die Eigenossen beide Rechtskreise voneinander: die Gunst, Teil eines Wahlreichs zu sein („Es kann sich ändern, schnell, / Ein anderer Kaiser kann ans Reich gelangen“249), von dem Fluch landesherrlicher Untertänigkeit („Seid ihr erst Österreichs, seid ihrs auf immer“250). Aus dem Festhalten der Eidgenossen an dem rechtssichernden Reichsverband entsteht der Konflikt mit den Landvögten, deren Ziel es ist, die Landesherrschaft Österreichs widerrechtlich auszuweiten. Die heroische Gertrud, die ihrem Mann Werner Stauffacher zur heimlichen Versammlung „alle[r] Redlichen“ von Schwyz, Unterwalden und Uri rät,251 leitet das Recht zum Widerstand gerade aus der Reichszugehörigkeit ab. Idealisierend gedenkt sie der Zeiten als „bei dem Vater sich des Volkes Häupter / Versammelten, die Pergamente lasen / Der alten Kaiser, und des Landes Wohl / Bedachten in vernünftigem Gespräch“252. Eben weil sich die Schwyzer nicht „dem neuen Fürstenhaus“ unterwerfen wollen, sondern „treu und fest / Beim Reich beharren, wie die 247 Zu diesem Grundkonflikt mit Vergleich zu Goethes Egmont und den Positionen Edmund Burkes und Thomas Paines: Borchmeyer: Altes Recht und Revolution, S. 76 – 84. 248 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 923. 249 Ebd., S. 924. 250 Ebd. 251 Ebd., S. 926. Ihre starke Rolle spricht nicht für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts (Nilges: Schiller und das Recht, S. 343 f.), sondern ist aus der Quelle übernommen. Die Stauffacherin rät ihrem Mann schon bei Müller zum Widerstand. „Die alten Sitten gaben den Hausfrauen männlichen Sinn“, schreibt dieser in Klammern: Müller: Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, Bd. 1, S. 608. 252 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 925.

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würdigen / Altvordern es gehalten und getan“253, seien sie dem Landvogt ein Dorn im Auge. Widerstand gegen die Landvögte und Albrecht ist gleichbedeutend mit dem Festhalten am Reich: […] Vom Kaiser selbst und Reich Trägst du dies Haus zu Lehn, du darfst es zeigen, So gut der Reichsfürst seine Länder zeigt, Denn über dir erkennst du keinen Herrn Als nur den Höchsten in der Christenheit – […].254

Historisch, das sei nur erwähnt, hat die Reichsfreiheit natürlich mit der individuellen Freiheit von Personen und Eigentum wenig zu tun.255 Der Dichter will es anders. Etwas verkürzt lässt sich sagen: Schillers Eidgenossen sind Reichspatrioten, sie vertrauen auf die durch Wahlkönigtum und Reichsgesetze verbürgte Freiheit. Ex negativo definiert Rudenz die aus der Reichsunmittelbarkeit entspringende Freiheit: „Wohl tut es ihnen, auf der Herrenbank / Zu sitzen mit dem Edelmann – den Kaiser / Will man zum Herrn, um keinen Herrn zu haben.“256 Positiv gewendet: Anders als im Falle einer Erbmonarchie sichert das Kaisertum des Heiligen Römischen Reichs die Freiheit seiner Untertanen. Der schweizerische Reichspatriotismus richtet sich gegen die Einheitsund Machtstaatlichkeit des landesherrlichen Despotismus. Das Machtsymbol Geßlers, sein Hut, bricht mit dem Recht, weil er Symbol der Landeshoheit, nicht des Kaisers ist: „Wärs noch die kaiserliche Kron! So ists / Der Hut von Österreich […].“257 Ein Konflikt, der schon Schillers Abfall der vereinigten Niederlande und die Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs prägte. Wieder ist es die monarchische Vereinheitlichung, welche die Vielheit und Freiheit, hier der Schweizer Eidgenossen, zu zerstören droht und deren widerrechtliche Tyrannei in martialischen Farben dargeboten wird. Die dramatische Zuspitzung und Aktualität des Konflikts entsteht dadurch, dass in König Albrecht beide Herrschaftsprinzipien in eins fallen: Er versucht als Landesherr, die Schweizer Landsgemeinden in Abhängigkeit zu bringen, und korrumpiert damit seine Aufgabe als König bzw. Kaiser, den Reichsunmittelbaren Schutz und Schirm zu gewähren. Er ist 253 Ebd. 254 Ebd., S. 926. 255 Dazu: Sablonier, Roger: Gründungszeit ohne Eidgenossen. Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300, Baden 2008, S. 183 f. 256 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 944. 257 Ebd., S. 931.

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nicht „Obmann“258 zwischen den streitenden Parteien, sondern selbst Partei: „Doch der uns unterdrückt, ist unser Kaiser / Und höchster Richter […].“259 Das Versagen der Reichsverfassung begründet das Widerstandsrecht der Schweizer: „Recht und Gerechtigkeit / Erwartet nicht vom Kaiser! Helft euch selbst!“260 Die Rechtsordnung des Reichs droht unter der Übermacht Österreichs zu ersticken. Hier ist sie wieder, die topisch beschworene Gefahr einer österreichischen Universalmonarchie, die das Gleichgewicht der Mächte zu zerstören droht, indem die Habsburger ihre Landesherrschaft trotz und gegen das Reich auf Kosten mittlerer und kleiner Reichsstände ausdehnen. Letzteres war eine begründete Sorge von Reichsständen in der Größenordnung Weimars, die dem Länderschacher der Großen im Umfeld der josephinischen Tauschprojekte genauso sorgenvoll zugesehen hatten wie nun, um 1800, den Kompensationsverhandlungen aufgrund der Friedenschlüsse von 1795/1797 und 1801. Ausdrücklich von „Ländergier“261 ist sogar die Rede – Schiller folgt in seinem schwarzen Bild der mittelalterlichen Habsburger ganz der Darstellung Johannes Müllers.262 Allein Rudenz bejaht wie einst Weislingen im Götz von Berlichingen realistisch-pragmatisch, aber wenig patriotisch die moderne Landeshoheit als Macht der Zukunft. Seine Reichskritik offenbart im mittelalterlichen Kostüm auch die Schwäche der gegenwärtigen Reichsverfassung: – Wird uns das Reich beschützen? Kann es selbst Sich schützen gegen Östreichs wachsende Gewalt? Hilft Gott uns nicht, kein Kaiser kann uns helfen. Was ist zu geben auf der Kaiser Wort, Wenn sie in Geld- und Kriegesnot die Städte, Die untern Schirm des Adlers sich geflüchtet, Verpfänden dürfen und dem Reich veräußern? – Nein, Oheim! Wohltat ists und weise Vorsicht, In diesen schweren Zeiten der Parteiung Sich anzuschließen an ein mächtig Haupt. Die Kaiserkrone geht von Stamm zu Stamm, 258 259 260 261 262

Ebd., S. 940. Ebd. Ebd., S. 961. Ebd., S. 972. Das Wort „Ländergier“: Müller: Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, Bd. 1, S. 566; ebd., S. 570: „[…] auch Teutschland ließ bis in das vierte Geschlecht keinen König von seinem Hause aufkommen. Denn sein (Albrecht) auf Landvergrößerung, auf Geld und Soldaten starr hingerichteter ernster Sinn […], machte ihn so verhaßt bey allen, daß auch Tugend an ihm Selbstsucht schien.“

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Die hat für treue Dienste kein Gedächtnis, Doch um den mächtgen Erbherrn wohl verdienen, Heißt Saaten in die Zukunft streun.263

Keine Frage, Schillers mittelalterliches Österreich trägt ganz die Züge eines merkantilen, ,absolutistischen‘ Staats des 18. Jahrhunderts,264 während die Ohnmacht des Reichs die Krise der Verfassung um 1800 spiegelt. Geßlers Worte verleihen der Opposition von monarchisch-zentralistischer Großmacht gegenüber dem individuellen-historisch gewachsenen Bund vieler Gemeinden klaren Ausdruck: „Das Kaiserhaus will wachsen […] / […] / Dies kleine Volk ist uns ein Stein im Weg […].“265 Im Moment, da ihn der Pfeil Tells durchbohrt, ergeht sich der Tyrann in der einheitsstaatlichen Vision der absoluten Landesherrschaft: „Ein [!] neu Gesetz will ich in diesen Landen / Verkünden – ich will – […].“266 Auf der Seite des historisch-gewachsenen, kleinräumigen Herrschaftsverbands der Schweizer stehen aber nicht nur die Landmänner, sondern ebenso die positiv besetzten Adelsfiguren Berta von Bruneck und allen voran der Freiherr von Attinghausen. Natürlich besitzt dessen „Edelhof“ einen „gotische[n] Saal mit Wappenschildern und Helmen“267: Er gehört der gleichen ,Familie‘ an wie die reichspatriotischen Ritter Götz von Berlichingen und Franz von Sickingen. Ihr Adelskonzept nivelliert den Standesunterschied beinahe vollständig zugunsten des vaterländischen Ideals, „Erste[r] von den Freien und den Gleichen“268 zu sein. „Ans Vaterland, ans treue, schließ dich an, / Das halte fest mit deinem ganzen Herzen“269, ermahnt der alte, gebrechliche Aristokrat den entfremdeten Sprössling, seinen Neffen Rudenz. Und Berta: „Seid / Wozu die herrliche Natur Euch machte! / Erfüllt den Platz, wohin sie Euch gestellt, / Zu Eurem Volke steht und Eurem Lande, / Und kämpft für Euer heilig Recht.“270 Doch erst die Zuspitzung des Konflikts bringt Rudenz zum Wandel seines Sinns.

263 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 946. 264 „Sie werden kommen, unsre Schaf und Rinder / Zu zählen, unsre Alpen abzumessen […].“ Ebd., S. 946. 265 Ebd., S. 1009. 266 Ebd., S. 1011. 267 Ebd., S. 942. 268 Ebd., S. 973. 269 Ebd., S. 947. 270 Ebd., S. 972.

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2. Die Rütli-Szene: Schillers Gestaltung der Rütli-Szene erfreut sich zahlreicher politischer Aktualisierungen, segelt dabei jedoch bis in die wissenschaftliche Literatur hinein meist unter falscher, weil zu moderner Flagge. Analogien zur Selbstermächtigung des dritten Standes am Beginn der Französischen Revolution („Wir stehen hier statt einer Landsgemeinde / Und können gelten für ein ganzes Volk“), einem neuen contrat social als Grundlegung eines modernen Einheitsstaats („Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern“) oder der Erklärung der Menschenrechte („seine ewgen Rechte“) sind naheliegend, ja, vom Autor wahrscheinlich gewollt, und dennoch verzerrt ihre Überbetonung das Bild.271 Das Ineinander des ,alten‘ und des ,neuen‘ Rechts wurde vielfach und von niemandem besser als von Dieter Borchmeyer hervorgehoben.272 Trotz aller Anleihen am politischen und rechtlichen Diskurs der Gegenwart steht ein idealisiertes, zeitlich weit entferntes Geschehen im Vordergrund: Das alte Recht wird zum neuen Recht, doch auch dieses bleibt ein vergangenes. Während der Bundeseid wie die Begründung des Widerstands sehr eng an Johannes Müllers Geschichtswerk angelehnt sind, das vor der Revolution geschrieben wurde, kann die Darstellung der Rütli-Szene als Landsgemeinde – wohl in Anlehnung an die ,urschweizerischen‘ Landsgemeinden auf dem Rütli seit dem späten 17. Jahrhundert273 – innovativen Charakter beanspruchen. Gerade diesen Aspekt hat die Forschung weitgehend ausgeblendet.274 „Der 271 Ebd., S. 954, 964, 959. Vgl. Kaiser, Gerhard: Idylle und Revolution. Schillers ,Wilhelm Tell‘, in: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien, hrsg. v. Richard Brinkmann u. a., Göttingen 1974, S. 87 – 128, hier S. 103 ff. Borchmeyer: Altes Recht, S. 95 – 97; Fink, Gonthier-Louis: Schillers ,Wilhelm Tell‘, ein antijakobinisches republikanisches Schauspiel, in: Französische Revolution und deutsche Literatur, hrsg. v. Karl Eibl, Hamburg 1986, S. 57 – 81, hier S. 69; Koschorke, Albrecht: Brüderbund und Bann. Das Drama der politischen Inklusion in ,Schillers Tell‘, in: Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik, hrsg. v. Uwe Hebekus/Ethel Matala de Mazza/Albrecht Koschorke, München 2003, S. 106 – 122, hier S. 113; Nilges: Schiller und das Recht, S. 319 und 324. 272 Borchmeyer: Altes Recht und Revolution. 273 Zu den Versammlungen von 1674, 1713 und 1798 sowie dem Kampf zwischen konservativen und revolutionären Kräften um die Deutungshoheit der Rütliwiese, bei dem die Landsgemeinden den konservativen Bedeutungsgehalt von Einigkeit, Brüderlichkeit und Freiheit unterstrichen: Kries, Georg: Mythos Rütli, Geschichte eines Erinnerungsortes. Mit zwei Beiträgen von Josef Wiget, Zürich 2004, S. 83 – 98 und S. 144 f. 274 In der Regel findet die Landsgemeinde nicht einmal Erwähnung, z. B. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 572 ff.; Müller-Seidel: Schiller und die Politik, S. 192 ff.; Borchmeyer: Altes Recht und Revolution; Höhle: Die Helvetische Republik. Zur Demokratie

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Gedanke gleich eine Landsgemeinde zu constituiren ist fürtrefflich, sowohl der Würde wegen, als der Breite die es gewährt“275, frohlockt Goethe nach der ersten Lektüre. Zum einen wollte Schiller gewiss schlicht das volkstümlich-historische Kolorit schärfen. Zum anderen nahm er damit eine höchst aktuelle Debatte auf: den Streit der neuen Helvetischen Republik (1798 – 1803) um die Frage, wie sehr die Tradition der alten direkt-demokratischen und partikular-autonomen Landsgemeinden in die einheitsstaatliche neue Republik mit ihren repräsentativen Volksvertretern nach französischem Vorbild zu integrieren seien.276 In der Vorrede von Johann Gottfried Ebels Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz (1802) heißt es: Es ist vielleicht nothwendig, den Leser zu erinnern, daß der Verfasser dieses Werks die Schweiz bis 1797 bereiste und beobachtete, und daß seine Schilderungen also nur von dem Zustand der Dinge gelten, welcher seit den ältesten Zeiten bis 1798, der Umwälzungs=Epoche der ganzen Föderativ=Verfassung, bestand.277

Ein bedeutsamer Hinweis. Schiller nutzte Ebels historisch-idealisierende Darstellung (Wahl eines Landammanns, Richtschwert, Halbkreis, freier Himmel etc.) für seine Rütli-Szene.278 Der Arzt sah in der angeblich 500jährigen Tradition der Landsgemeinden die Urform der Volkssouveränität, Freiheit und Gleichheit verwirklicht. Mit der historischen Realität hat das oft wenig zu tun.279 Nicht auf Frankreich, sondern auf die dergestalt

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der Landsgemeinden: Böning, Holger: Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Helvetische Revolution und Republik (1798 – 1803) – Die Schweiz auf dem Weg zur bürgerlichen Demokratie, Zürich 1998, S. 20 – 24. Goethe an Friedrich Schiller, 18. Januar 1804, Nr. 4815, in: WA, Abt. IV, Bd. 17, S. 19. Böning, Holger: Patriotismus und nationale Identität in der Schweiz, in: Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reichs, hrsg. v. Otto Dann/Miroslav Horch/Johannes Koll, Köln 2004, S. 317 – 344, hier S. 327 f. Ebel: Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz, Bd. 2, Vorrede o. S. Vgl. NA, Bd. 10, S. 392. Ebels Beschreibung der Landsgemeinde von 1777 in Glarus: „Der Landmann, auf ein großes Schlachtschwerdt gestützt, stand fast in der Mitte des Volks=Rundes. […]. Kann man sich ein feierlicheres und erhebenderes Schauspiel denken, als eine Versammlung freier Männer, welche zusammen ihr Gemeinbestes unter freiem Himmel berathen, im Angesichte des Vaterlandes, welches sie gegen Zwangsherrschaft und Dienstbarkeit, die auf der Welt lasten, beschützen – im Angesicht ihrer Kinder, die schon bei dem Namen Freiheit aufglühen, und von ihren Vätern lernen, dieses unschätzbare Gut unangetastet den Enkeln zu übergeben?“ Ebel: Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz, Bd. 2, S. 345 f. Böning: Der Traum von Freiheit und Gleichheit, S. 21 ff.

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idealisierte Vergangenheit – Ebel vergleicht die Landsgemeinden mit den alten Griechen und Germanen280 – zielt die Rütli-Szene. Gewiss, Schillers Schweizer repräsentieren eine vorbildliche Welt des Friedens und der Freiheit, mit nur geringen, wiewohl durchaus vorhandenen und in ihrer Rechtmäßigkeit unbestrittenen Standesunterschieden („Denn Redlichkeit gedeiht in jedem Stande“281), doch leben sie gleich den antiken Griechen oder den alten Germanen in einer fernen, absoluten Vergangenheit. Und zudem: Der Frankfurter Arzt hoffte zwar anfangs auf Reformen, die die Tradition der Landsgemeinden mit der neuen Helvetischen Republik versöhnen sollten, stufte die Verteidigung vor dem direktorialen Frankreich aber schon früh als höchste Priorität ein und rief deshalb zur staatlichen Konzentration und Zentralisierung auf.282 In Schillers Drama wird hingegen aus der verklärten Schweizer Vergangenheit und ihrer reichspolitischen Einbettung ein Argument gegen den Einheitsstaat und für die alte ,Föderativ-Verfassung‘ mit ihrer ursprünglichen Freiheit. Mit anderen Worten: Da der Rütli-Schwur explizit die Form einer Landsgemeinde erhält, bezieht sich Schiller nicht allein auf die französische Nationalversammlung und eben gerade nicht auf eine „parlamentarische[] Volksvertretung“283, sondern auf die idealisierte föderal-direktdemokratische Tradition der sogenannten ,Urschweiz‘. Niemand widersetze sich dem neuen helvetischen Einheitsstaat mehr als die auf ihre Autonomie pochenden Landkantone.284 Das gilt es bei dem immer wieder auf die Constitutante 280 Ebel: Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz, Bd. 2, S. 346. Ebd., Bd. 1, S. 300: Volksversammlungen, „welche so zahlreich kein Reisender in den blühenden Demokratien Griechenlands sahe“. Schon im Vorbericht zu Bd. 1 schrieb Paul Usteri: „Noch nie sind sonst diese kleinern Kantone einer ausgezeichneten Aufmerksamkeit gewürdigt worden, die sie doch um so viel eher verdienen, da dieselben nun an die 500 Jahre in der gleichen innern und äußern Lage geblieben sind, und von ihnen die Freiheit der ganzen übrigen bisherigen Schweitzerischen Eidgenossenschaft ausgieng, für welche, so wie für alle andere Völker unsers Welttheils, in diesem Augenblick eine neue Epoche beginnt, die ihr künftiges Schicksal auf Jahrhunderte entscheiden wird.“ Ebd., o. S. 281 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 953; ständische Unterschiede werden natürlich sehr wohl erwähnt: ebd., S. 955, S. 957, S. 962. 282 Vgl. Böning: Der Traum von Freiheit und Gleichheit, S. 96 ff. 283 Knobloch, Hans-Jörg: ,Wilhelm Tell‘. Historisches Festspiel oder politisches Zeitstück?, in: Schiller heute, hrsg. v. dems./Helmut Koopmann, Tübingen 1996, S. 151 – 165, hier S. 153; mit Blick auf die repräsentativ-parlamentarische Demokratie des neuen helevetischen Zentralstaats: Höhle: Die Helvetische Republik, S. 324 f. 284 Böning: Der Traum von Freiheit und Gleichheit, S. 173 – 178. Ein Landammann im Rheintal mit Namen Karl Heinrich Gschwend schreibt 1798: „Glauben Sie,

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bezogenen Satz zu bedenken: „Wir stehen hier statt einer Landsgemeinde / Und können gelten für ein ganzes Volk.“285 Die Landsgemeinde ist nur in kleineren Gebieten möglich, wird hier aber der Form nach für die außergewöhnliche Vereinigung der drei Landsgemeinden (Schwyz, Uri und Unterwalden) genutzt und beansprucht als solche repräsentative Funktion für das ganze Schweizer Volk. Dass nicht alle Stimmberechtigten gegenwärtig sind, wie für eine Landsgemeinde eigentlich nötig, sondern nur 33 Männer, die Versammlung also nur „statt“ einer Landsgemeinde tagt, entschuldigt Rösselmann mit der Notsituation: „Was ungesetzlich ist in der Versammlung / Entschuldige die Not der Zeit“. Melchthal pflichtet bei: „Ist gleich die Zahl nicht voll, das Herz ist hier / des ganzen Volks, die Besten sind zugegen.“286 Von einer repräsentativ-demokratisch konstituierten Nationalversammlung, die dem Staat eine neue Verfassung gibt, kann also durchaus nicht die Rede sein:287 Es handelt sich um eine Notversammlung der alteingesessenen Familienoberhäupter und der Tapferen, die gleichsam ,Notstandsgesetze‘ verabschiedet, aber keinerlei verfassungsgebende Intention besitzt. Im Gegenteil.288 Politische Ordnungsvorstellung bleibt die altehrwürdige, direkt-demokratische Tradition der Landsgemeinde. Stauffachers Ursprungserzählung ist in erster Linie keine naturrechtliche, sondern – das widerspricht sich freilich nicht – eine antikisierte Gründungsgeschichte. Auch diese übernimmt Schiller zu großen Teilen fast wörtlich aus Johannes Müllers Geschichtswerk, der seinerseits eine typisch frühhumanistische Herkunftssage fortschreibt. Wie man darin eine Anspielung auf die amerikanische Unabhängigkeit sehen kann, ohne dem frühhumanistischen Chronisten visionäre Fähigkeit zuzuschreiben, ist fraglich.289 Wichtiger jedenfalls ist wohl auch für Schiller die schweizerisch-

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freie Leute, Alpensöhne werden sich unter sein Joch beugen? Ewig nicht; entweder müßten in die Länder tödtende Garnisonen gelegt werden, oder Ihre Constitution kann nicht angenommen werden, nicht gedeihen, und wenn Garnisonen eingelegt werden sollten, so würden sie nach und nach massacrirt werden, weil das Volks sie nicht erhalten könnte und seinen Freiheitssinn nie vergessen würde.“ Zit. ebd., S. 174. Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 954. Ebd. Anders z. B.: Koschorke: Brüderbund und Bann, S. 109. Er spricht von einer „Staatsgründungszeremonie“, ebd., S. 110. Das verkündete „Landsgesetz“ (eben nicht wie oft geschrieben ein ,Landesgesetz‘) gilt so nur der Verteidigung: „Der sei gestoßen aus dem Recht der Schweizer, / Wer von Ergebung spricht an Österreich!“ Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 960. Vgl. Koschorke: Brüderbund und Bann, S. 113.

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deutsche Verwandtschaft, die damit erneut exponiert wird: die Herkunft aus dem Norden und damit die gefeierte „uralte Freyheit“ der Germanen verbindet beide ,Völker‘.290 Ähnlich einer griechischen Metropolis sei aufgrund einer Hungerkrise jeder zehnte Bürger der ursprünglichen Landsgemeinde ausgelost worden, um das Land zu verlassen. Von „Landsgemeinde“291 spricht allein Schiller! Die Exilanten gründeten den Ort Schwyz und von hier aus, nach demographischem Wachstum, kleinere Ableger. „Doch blieben sie des Ursprungs stets gedenk […]. / Es gibt das Herz, das Blut sich zu erkennen.“292 Auf diese Erzählung hin fassen sich alle bei der Hand und rufen: „Wir sind ein Volk, und einig wollen wir handeln.“293 Keine staatliche Vereinigung im eigentlichen Sinne ist hier die Basis der politischen Einigkeit, vielmehr kulturelle und traditionale Bande, die der Beziehung zwischen griechischen Metropoleis und ihren Apoikien nachempfundenen sind. Herodot schildert etwa in ähnlicher Weise die Gründung Kyrenes durch das griechische Thera (Hungersnot, Losverfahren, enge kultische Bindung zur Mutterstadt etc.).294 Der Unterschied zum griechischen Vorbild besteht allein in der „freiwillig“ gewählten Abhängigkeit vom Kaiser295 und damit in der Zugehörigkeit zum Reichsverband. Die Schweizer ,Identität‘ verbindet gleichsam Griechentum und föderales Reichskonzept, indem sie die kultisch wie genetisch begründete und durch den Eid gefestigte Einheit („der Schweizer echter Stamm“) mit der politischen Vielheit der Landsgemeinden („Daheim regierten sie sich fröhlich selbst“) unter dem Dach des Kaisers („Denn herrenlos ist auch der

290 Müller: Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, Bd. 1, S. 392 – 398, hier S. 392. Zur Herkunftssage der Innerschweizer aus Schweden und Ostfriesland mit Hungersnot und Losverfahren, wie sie die mutmaßlich von Heinrich von Gundelfingen verfasste Schrift „Herkommen der Schwyzer und Oberhasler“ aus dem 15. Jahrhundert kolportierte, und den humanistischen Diskussionen um den Quellenwert: Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Abt. III, Bd. 2, Teil 2: Das Herkommen der Schwyzer und Oberhasler, bearb. v. Albert Bruckner, Aarau 1961, S. 9 – 87. 291 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 956. 292 Ebd., S. 957. 293 Ebd. 294 Vgl. Herodot: Das Geschichtswerk des Herodot von Halikarnassos, übersetzt von Theodor Braun, Frankfurt a.M./Leipzig 2001, S. 381 – 386 (viertes Buch, 150 – 159). 295 Auch das entnahm Schiller Müller. Dieser zitiert eine Urkunde Friedrichs II. von 1240: „Sponte nostrum et Imperii dominium elegistis.“ Müller: Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, Bd. 1, S. 398 (Fußnote 23).

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Freiste nicht. / Ein Oberhaupt muß sein, ein höchster Richter […]“) vereint.296 Der Dichter konnte sich für die reichsgeschichtliche Integration der nationalisierten Schweizer Geschichte nicht nur auf Müller, sondern bereits auf Aegidius Tschudis Chronicon Helveticum berufen. Im ,Wettkampf der Nationen‘ erfanden humanistische Gelehrte wie Tschudi im 16. Jahrhundert die quasi-territorialstaatliche Tradition der natio helvetica gleichsam als Schweizer Parallele zu dem Konzepte der reichsdeutschen ,Stammesherzogtümer‘, wie es etwa in der bayerisch-reichspatriotischen Geschichtsklitterung des Aventinus zu finden ist.297 Tschudis Werk beeinflusste Johannes Stumpf, dessen Gemeiner loblicher Eydtgenoschaft Stett, Landen, Voelckeren Chronick von 1548 klare geographische Grenzen des ,Alpenvolks‘ kennt und maßgeblich zu einem gesamteidgenössischen Selbstverständnis beitrug.298 „Neben Bayern und Schwaben gibt es nun auch Helvetier, die aber alle zur einen ,Germania‘ gehören.“299 Schillers Wilhelm Tell übernimmt diese erfundene Tradition („ein Volk, das fromm die Herden weidet“300) und zwar gerade mit ihren reichsgeschichtlichen Konnotationen: Es geht um die Entwicklung zu einem republikanischdemokratischen Gemeinwesen im Rahmen des Reichsverbands. Fast könnte man von Schillers „Wir sind ein Volk“301 auf Friedrich Carl Moser zurückblicken, der 1765 ebenso schrieb: „Wir sind Ein Volk, von Einem Namen und Sprache, unter Einem gemeinsamen Oberhaupt, unter Einerlei unsere Verfassung, Rechte und Pflichten bestimmenden Gesetzen, zu Einem großen Interesse der Freiheit verbunden […].“302 Im Unterschied zu dessen Reichspatriotismus stellen Schillers Schweizer allerdings ein gleichsam demokratisiertes Idealreich vor. Neben die Reformutopien eines modernisierten ,deutschen Reichs‘ mit Volksvertretung in den avancierten Teilen der ,Reichspublicistik‘ tritt damit die idyllische Vision eines Reichs, das aller gegenwärtigen Nachteile (fehlender Gemeinsinn, mangelnde bürgerliche Partizipation, despotische Landesherrn) enthoben ist und nur noch von den Vorteilen einer friedlichen Eintracht in der Vielheit profi296 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 957. 297 Vgl. Maissen: Die Eidgenossen und die deutsche Nation, S. 100 – 108. 298 Vgl. Stumpf, Johannes: Gemeiner Loblicher Eydgnoschafft Stetten, Landen und Völckeren Chronick wirdiger Thaaten Beschreybung […], 2 Bde., Zürich 1548. 299 Maissen: Die Eidgenossen und die deutsche Nation, S. 106. 300 Schiller: [An Karl Theodor von Dalberg], in: MA, Bd. 1, S. 463. 301 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 957. 302 Moser: Von dem Deutschen national=Geist, S. 5.

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tiert, dem Schutz und Schirm eines Reichsverbands aus kleinen direktdemokratisch-autonomen Einheiten. Auch Rousseau, der für den polnischen Staat eine demokratische „Föderativ-Verfassung“ mit einem Monarchen empfahl und auf die Bedeutung kultisch-nationaler Bräuche verwies,303 hätte diese Reichsvision gewiss gefallen. Dass nicht nur die Auflösung der deutschen Reichsverfassung kurz bevorstand, sondern selbst die Eidgenossenschaft zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Dramas nicht mehr existierte, rief jenen elegischen Grundton des Kunstwerks hervor, von dem eingangs die Rede war. Für eine Reichsreform, noch dazu in derart idealem und anachronistischem Sinne, war es 1804 nach dem Reichsdeputationshauptschluss längst zu spät. Zum Leben des politischen Traums fehlten, diese Lehre hatte Schiller aus der Grande Terreur gezogen, in der Gegenwart nicht zuletzt die anthropologischen Voraussetzungen, die Totalität des griechischen Charakters. Man müsste erst „für die Verfassung Bürger […] erschaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann.“304 Schon Johannes Müller wählte einen biblischen Erzählton für seine Rütli- und Tellgeschichte („[…] damals gieng jeder in seine Hütte, schwieg still und winterte das Vieh“; „Indessen trug sich zu […]“305 etc.). Was bei diesem wie die ,frohe Botschaft‘ des Politischen dargeboten wird, erhält bei Schiller den traurigen Beiklang des Unendlich-Entfernten, Unerreichbar-Vergangenen. Zurück zur Handlung: Stauffacher erklärt das Widerstandsrecht konsequent aus der politischen Geschichte der Schweizer. Die Lehensfolge zum Reich und der höchste Blutbann des Kaisers bleiben nur so lange unbestritten, wie der Kaiser selbst das Reichsrecht ehrt. Bei den Reichsstaatsrechtlern des 18. Jahrhunderts fand Schiller dergleichen für die Gegenwart nicht, sie kannten bis auf wenige Ausnahmen nur den geordneten Rechtsweg über die Reichsgerichte.306 Für die Eidgenossen des Dramas resultiert aus Albrechts despotischem Bruch mit den Reichsgesetzen hingegen die Legitimation des Widerstands. Ihre Begründung geht über das positiv-rechtliche Argument allerdings weit hinaus: „Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht“, ruft Stauffacher und verweist auf die „ewgen Rechte“ des 303 Rousseau: Betrachtungen über die Verfassung Polens, S. 297. 304 Schiller an Herzog Friedrich Christian von Augustenburg, 13. Juli 1793, Nr. 184, in: NA, Bd. 26, S. 265. 305 Müller: Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, Bd. 1, S. 610. 306 Vgl. Link, Christoph: Jus resistendi. Zum Widerstandsrecht im deutschen Staatsdenken, in: Convivium utriusque iuris. Alexander Dordett zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Audomar Scheuermann/Rudolf Weiler/Günther Winkler, Wien 1976, S. 55 – 68, hier S. 60 f.

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Menschen, „die droben hangen unveräußerlich […].“307 Man muss sich von der Schiller-Rezeption lösen, um nicht zu übersehen, dass Schiller hier selbst rezipiert: Da „hoben Walther Fürst, Werner Stauffacher und Arnold an der Halden aus Melchthal, ihre Hände auf gen Himmel“, schreibt Johannes Müller, „und schwuren in dem Namen Gottes, der Kaiser und Bauern von gleichem Stamme in allen unveräußerbaren Rechten der Menschheit hervorgebracht hat, also mannhaftig die Freyheit mit einander zu behaupten.“308 Mit der Französischen Revolution haben diese Formulierungen schon chronologisch nichts zu tun, dafür umso mehr mit der Berufung auf das ,göttliche‘ und ,natürliche Recht‘ der Menschen, der defensiven Widerstandstradition frühneuzeitlicher Bauern – freilich in schon bei Müller nicht wenig aktualisierter Form. Von dem „Wir wöllen frei sein“ der Zwölf Memminger-Artikel des Bauernbundes aus dem Jahre 1525 zu dem „Wir wollen frei sein, wie die Väter waren“ im Drama ist der Weg nicht unendlich weit.309 So wichtig die Hinweise auf die theoretische Diskussion um ein Widerstandsrecht (Friedrich von Gentz und August Wilhelm Rehberg in Opposition zu Kant) bzw. Revolutionsrecht (Johann Benjamin Erhard) um 1800 auch sind,310 zeigt Schiller hier doch einen an der geschichtlichen Tradition gewonnen Freiheitsbegriff als vergangenes Ideal. Allein die Wiederkehr des „Urstand[s] der Natur“, „Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht“, lässt mehr an John Locke denken als an die praktischen Beispiele aus insbesondere oberdeutsch-schweizerischem Raum.311 Vertragstheoretische Argumentation und historisierendes Frei307 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 959. 308 Müller: Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, Bd. 1, S. 610. 309 Blickle, Peter: Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, 2. durchg. Aufl. München 2006, S. 244 – 259. Blickle beginnt sein Kapitel mit dem Zitat der Zwölf Artikel von 1525 und endet mit dem Schillerzitat. 310 Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik, S. 23 – 33. 311 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 959. Wenn Freiheit, Leben oder Eigentum durch die Regierung gefährdet sind, kann das Volk sein ursprüngliches Recht auf Selbstverteidigung vor dem Gesellschaftsvertrag wieder geltend machen: Locke, John; Zwei Abhandlungen über die Regierung, hrsg. v. Walter Euchner, Frankfurt a.M., 1. Aufl. 1977, S. 203 ff. und 211. Das (ständische) Widerstandsrecht im Falle der tyrannischen Überschreitung des Staatszwecks und der Verfassungsbindung ist in der Frühen Neuzeit mehr oder minder Konsens. Zum ius naturale und ius divinum in der vornehmlich ständischen Widerstandstheorie: Link: Widerstandsrecht. Das Widerstandsrecht wird in absolutistischer Zeit immer mehr zurückgedrängt. „Ein aktives, meist ständisch gebundenes Widerstandsrecht aber gibt es im absolutistischen Staat nur dort – und hier lebt die ältere,

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heitspathos vermischen sich. Der Widerstand von Schillers Landsgemeinde jedenfalls, ist vollkommen defensiv: Wie er es im Widmungsgedicht fordert, ehrt sie im Zorn noch die Menschlichkeit, kontrolliert also Radikale wie Melchthal und überlässt Männern der Tradition wie Stauffacher und Walter Fürst das Wort. „Was sein muß, daß geschehe, doch nicht darüber. […] Doch, wenn es sein mag, ohne Blut.“312 Sie ehrt aber auch die Rechte des Reichs: „Dem Kaiser bleibe, was des Kaisers ist, / Wer einen Herrn hat, dien ihm pflichtgemäß.“313 […] Es sehe Der Kaiser, daß wir notgedrungen nur Der Ehrfurcht fromme Pflichten abgeworfen. Und sieht er uns in unsern Schranken bleiben, Vielleicht besiegt er staatsklug seinen Zorn, Denn billge Furcht erwecket sich ein Volk, Das mit dem Schwerte in der Faust sich mäßigt.314

Der Bundeseid, den der Vorsitzende Rösselmann, nicht zufällig ein Pfarrer, am Ende der Szene vorspricht, beinhaltet dementsprechend nur drei ebenso defensive Punkte:315 1. in der Not zusammenzustehen, 2. die Freiheit der Väter zu bewahren, 3. auf Gott zu vertrauen! In Richtung eines Einheitsstaats zielt die Formulierung „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern“ deshalb mitnichten. Die Formulierung ,Volk von Brüdern‘ verdankt sich mindestens so sehr dem Volksgeist atmenden Geschichtswerk Johannes Müllers, wie den Erfahrungen der Französischen Revolution. Auch in der Arminiusdichtung ist schon weit zuvor von einem Brüderbund die Rede gewesen. Vielleicht wird sogar auf die Erfüllung von Iselins patriotischem Traum einer idealen Republik angespielt, den dieser fast vierzig Jahre vor der Revolution in ähnlichen Worten formulierte: „Frieden, Einigkeit, Ueberfluß, und allgemeine Liebe würden die Bürger beglückseligen, und aus ihnen ein Volk von Brüdern machen.“316 Der eidgenössische

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von Grotius tradierte Tyrannenlehre fort, wo der Regent zum Staatsverderber, zum hostis populi wird.“ Ebd., S. 60. Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 962. Ebd. Ebd. Vgl. „Wer einen Herrn hat, gehorche ihm pflichtgemäß.“ Müller: Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, Bd. 1, S. 571. Sie wollen den Habsburgern von den „rechten und eigenen Leuten auch das geringste nicht entfremden“. Sie sollen „keinen Tropfen Blut verlieren“. Ebd., S. 609 f. Vgl. Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 964. Iselin, Isaak: Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes, zweyte und vermehrte Aufl. Zürich 1758, S. 151.

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Bundeseid des Dramas nutzt auf den Spuren Müllers in aufklärerischmodernisierender Gestalt die Tradition des Einungswesens, um ein politisches Ideal als Vergangenes vorzuführen!317 Diese aus dem Mittelalter kommende Rechtspraxis der vertraglichen Übereinkunft auf Basis eines Eides (coniuratio) spielt etwa bei den Schwurgemeinschaften der Städte, aber auch bei der Landfriedenspolitik und anderen ständischen Zweckbündnissen zur gemeinsamen Interessenswahrung eine große Rolle,318 ganz besonders im Alten Reich, wie Schiller aus Michael Ignaz Schmidts Deutscher Geschichte entnehmen konnte.319 Einungen konnten vom Kaiser oder einem Fürsten initiierte Landfrieden sein, aber auch Bünde gegen ihn oder einen Territorialherrn darstellen. Johannes Müller rechtfertigte den Fürstenbund mit den Worten: Unschuldigere, der menschlichen Gesellschaft angemessenere, löblichere Maßregeln als Associationen für Freiheit und Frieden gibt es nicht. Sie sind gemeiniglich ungeschickt sich zu vergrößern; das verschiedene Interesse lös’t sich alsdann auf. Man sieht es an den Schweizern. […]. Jede Verfassung welche eine Erneuerung ihrer Kräfte nöthig hat, findet sie am besten in der Natur ihres Grundsatzes. Die Teutschen haben sich in allen Crisen durch Associationen geholfen. […] Der Landfrieden, die Religionsverträge, die westphälischen Tractate, sind associationsweise errungen worden. Durch dieses Mittel wurden die Waffen Ludwigs des Vierzehnden abgewandt. Keine Maaßregel ist constitutioneller.320

Ziel Müllers war es, über den Assoziationsgedanken des Fürstenbunds den in Deutschland fehlenden Gemeingeist neu zu entfachen und zu einer Reichsreform anzutreiben. Die Tradition der Einungspolitik war ein idealer historischer Anker für dergleichen Forderungen, ließ sie sich doch mit den Prinzipien der Freiwilligkeit und Zweckmäßigkeit bei Ausblendung der korporativen und ständischen Zwänge „nahezu mühelos in die 317 Schiller richtet sich dabei an seinen Quellen Johannes Müller und Michael Ignaz Schmidt aus. Der legendäre Bundesbrief von 1291 ist davon durchaus nicht weit entfernt: „Wie seit langem erkannt, bietet der Inhalt eigentlich eine Gerichtsbeziehungsweise Landfriedenordnung.“ Sablonier: Gründungszeit ohne Eidgenossen, S. 164. 318 Kroeschell, Karl: Einung, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, hrsg. v. Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann, Berlin 1971, Sp. 910 – 912. Ob Kreisassoziationen in dieser Tradition zu sehen sind, ist allerdings in der Forschung umstritten. Vgl. Koselleck, Reinhart: Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: GG, Bd. 1 (1972), S. 582 – 671, hier S. 585, 593 f. 319 Schmidt, Michael Ignaz: Geschichte der Deutschen, Bd. 4: Von dem Wenzeslaus bis auf Karln den Fünften, Ulm 1781, zahlreiche Beispiele, etwa S. 13, 483, 539 f. 320 Müller: Darstellung des Fürstenbundes, S. 121 f.

2. Krisis und brüchige Utopie

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Sprache des modernen Naturrechts übersetzen“321. Der am Vierwaldstättersee in Akt II des Schillerschen Dramas erneuerte Bund ist eine solche in die Vergangenheit verlegte Einungsutopie, die reichsgeschichtliche, nationale, naturrechtliche und biblische Motive mischt, mit den Anforderungen aus der Gegenwart jedoch nicht mehr viel gemein hat. Tell ist nicht Teil dieser reichstreuen Einungsutopie, doch sogar der autochthone Selbsthelfer reflektiert über seine Kaisertreue, bevor er sich zum Schuss entschließt. „Du bist mein Herr und meines Kaisers Vogt“, erkennt Tell in seinem Monolog an, während er mit Armbrust bewaffnet seines Opfers harrt: „Doch nicht der Kaiser hätte sich erlaubt / Was du – […].“322 Gedrückt von der Schuld des Mordes, verhüllt er schamvoll das Gesicht gegenüber seinem alter ego, Johannes Parricida.323 Nicht nur die ungeheure Tat des Vatermords (eigentlich ein Onkelmord) schreckt Tell zurück, ihn drückt zugleich das staatsrechtliche Verbrechen des Kaisermords. Im gleichen Moment, da Tell in dem Herzog den Mörder des Kaisers erkennt, wechselt er, anders als Parricida, vom respektvollen pluralis majestatis zum persönlichen ,Du‘. Der kategoriale Unterschied beider Taten ist schon damit herausgestellt. Erst als Tell den ,Vatermörder‘ trotz seiner Sünde als Mensch annimmt, drückt auch die Anrede wieder die Würde des Gegenüber aus. Das Verhältnis von ,Fürstenmord‘, ,Kaisermord‘ und ,Vatermord‘ diskutierte schon Joseph von Babos Drama Otto von Wittelsbach, dessen Mord an Philipp von Schwaben einige Parallelen zum Mord Johanns besitzt. Der Schrecken über das Verbrechen ist jedenfalls derselbe: Wißt Ihr, was ich that? Wenn Ihr’s auch wisset; so wird’s euch doch schaudern, und die Haare müssen Euch zu Berge stehen, wenn ich’s euch noch einmal sage. Hört’s: Ich hab’ den Kaiser ermordet!324

So der brave Otto am Boden zerstört, schuldbewusst ob seines großen Frevels. Kaiser und Vater rücken im patriarchalischen Herrschaftsmodell zusammen. „Von dem Blute triefend / Des Vatermordes und des Kaisermords“325 verweigert Tell Johann von Schwaben das Gastrecht. Ihn auf321 Carl, Horst: Naturrecht und Reichspublizistik in Reformdiskussionen der Spätphase des Heiligen Römischen Reichs, in: Das Naturrecht der Geselligkeit. Anthropologie, Recht und Politik im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Vanda Fiorillo/Frank Grunert, Berlin 2009, S. 159 – 182, hier S. 177. 322 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 1004. 323 Ebd., S. 1026. 324 Babo: Otto von Wittelsbach, S. 191. 325 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 1025.

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zunehmen wagt er schon aufgrund der Reichsacht nicht („Weißt du, daß dich die Acht verfolgt“326). Der Mörder erweckt schließlich trotz der eigennützigen Motive und schweren Sünde (ausgerechnet) aufgrund seiner hohen Abkunft das Mitleid des Helden: „Der Enkel Rudolfs, meines Herrn und Kaisers […].“327 Tell, Befreier der Schweiz, rückt also selbst nach vollendeter Tat nicht von der Loyalität zum Kaiser ab. 3. Die Rolle des Adels: Es ist der Adel, der die allein zum Zweck der Verteidigung konzipierte Einung in ein dauerhaftes neues Gemeinwesen überführt. An die Stelle einer Rebellion tritt die Bereitwilligkeit der Schweizer Aristokraten, ein reifes Volk von seiner Vormundschaft zu befreien. Der Rütlischwur zeigt in Schillers Drama allerdings zunächst erstaunlich wenig Wirkung.328 Die Stürmung der eidgenössischen Bastille („Zwing-Uri“) wie der Schlösser glückt und bleibt ungestraft nur durch zwei geradezu wunderbare Ereignisse, die dem Geschehen in elegischer Distanz noch ein utopisches Vorzeichen beigeben: Wilhelm Tells Mord an Geßler und Johann von Schwabens Mord an König Albrecht. Beide aus privaten Motiven geschehen, nicht aus heroischer Absicht. „Den Mördern bringt die Untat nicht Gewinn“, heißt es lapidar, „Wir aber brechen mit der reinen Hand / Des blutgen Frevels segenvolle Frucht.“329 Nur weil diese die Schuld auf sich laden, kann die Gemeinschaft ihr Glück unbeschwert genießen. Wilhelm Tell ist ausdrücklich ein „Retter“330, eine Messiasfigur.331 Ein demokratischer Held ist er jedoch nicht. Er verweigert sich der Abstimmung, vertraut auf Natur und Gott und handelt in der Not isoliert und gegen den Plan, der am Viewaldstättersee gemeinschaftlich beschlossen wurde. Und ein drittes Ereignis ist entscheidend: Rudenz erwacht aus seiner schändlichen Vaterlandsvergessenheit und folgt dem Adelsideal Attinghausens und Bertas. Angespornt durch die Liebe zu Berta, die sich ihm bis zu seiner Bekehrung („Die Binde fällt von meinen Augen“332) entzieht, stellt er sich in der Apfelschussszene, der Achse des 326 Ebd., S. 1026. Er rät ihm, nun von Mensch zu Mensch, den Weg nach Rom anzutreten und sich dem Papst vor die Füße zu werfen. Auch Babo lässt seinen Mörder reuevoll eine Pilgerreise antreten, auf der dieser dann freilich selbst Opfer eines Mordanschlags wird. 327 Ebd. 328 Fink: Schillers ,Wilhelm Tell‘, S. 75 f. 329 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 1019. 330 Ebd., S. 923. 331 Vgl. Kaiser: Idylle und Revolution. Schillers ,Wilhelm Tell‘, S. 99. 332 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 984.

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Dramas, auf die richtige Seite, auf die Seite der Schweiz und des Reichs. „Doch länger schweigen wär Verrat zugleich / An meinem Vaterland und an dem Kaiser.“333 Rudenz verweigert Geßler mit derselben Argumentation den Gehorsam, wie vor ihm die Eidgenossen auf dem Rütli und später Tell in seinem Monolog: „Der Kaiser ist mein Herr, nicht Ihr – Frei bin ich / Wie Ihr geboren […].“334 Auch Rudenz agiert nun kaiser- und reichstreu. Die folgende Vereinigung des Adels und der Bauern ist längst vorbereitet. Melchthal, dessen Vater durch den Despoten geblendet wurde, will den Adel grundsätzlich aus dem Bündnis ausschließen („Wären wir doch allein im Land!“), doch zügeln die anderen seinen Furor.335 Am Sterbebett des edlen Aristokraten erläutert Stauffacher: „Wir harren ihres Beistands, wenn es gilt, / Jetzt aber hat der Landmann nur geschworen.“336 Nicht die Szene II, 2, sondern die Szene IV, 2 birgt den revolutionären Aspekt in Schillers Drama, ist es doch Attinghausen, die Verkörperung des guten Adels selbst, der seinen Stand angesichts der Selbständigkeit auf dem Rütli für überflüssig erklärt: „Ja, dann bedarf es unserer nicht mehr / Getröstet können wir zu Grabe steigen […]. Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, / Und neues Leben blüht aus den Ruinen.“337 Attinghausen sieht mit brechendem Auge in die Zukunft, er sieht den Adel den Städten „seinen Bürgereid“ schwören, sieht aber auch den wilden Krieg gegen Fürsten und edle Herrn: „Der Landmann stürzt sich mit der nackten Brust, / Ein freies Opfer, in die Schar der Lanzen / Er bricht sie, und des Adels Blüte fällt, / Es hebt die Freiheit siegend ihre Fahne.“338 Das sind die revolutionären Verse des Dramas, nicht der Bundeseid. Im Moment seines Todes tritt die frei erfundene Figur Rudenz ein. Die Eidgenossen stehen ihm nicht feindlich gegenüber. „Ihr seid jetzt unser Lehensherr und Schirmer, / Und dieses Schloß hat einen anderen Namen“339, verkündet Walter Fürst. Der Handschlag zwischen Melchthal und Rudenz mit dem Ziel, gemeinsam den Aufstand zu wagen, ist zukunftsweisend. Nur so kann der beschworene 333 334 335 336

Ebd. Ebd. Ebd., S. 940. Ebd., S. 998. Die Not habe den Edelmann „noch nicht erreicht“, so Stauffacher zuvor, „Doch ihre Hülfe wird uns nicht entstehn, / Wenn sie das Land in Waffen erst erblicken.“ Ebd., S. 940. 337 Ebd. 338 Ebd., S. 999. Attinghausens Prophezeiung spielt auf die Kriege gegen die Habsburger an, auf die Schlachten bei Morgarten (1315), Sempach (1386) und Näfels (1388). Winckelried ist jener heroische Landsmann: NA, Bd. 10, S. 514 f. 339 Schiller: Wilhelm Tell, in: MA, Bd. 2, S. 1000.

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Termin umgangen werden: „Kommt, führt uns an. Wir folgen Euch“340, sagt ausgerechnet der größte Adelsfeind. Insofern trifft Attinghausens Vision bereits im Drama ein oder wird im Kleinen vorweggenommen. Der junge Adelige ist nun – wie Melchthal aufgrund von dessen Heldentat bei der Erstürmung des Sarner Schlosses anerkennend sagt – „unser Edelmann“ und „unser Eidgenoß“341. In dieser Versöhnung steckt das politische Reformideal der Aufklärung. Nur: um 1800 sah Schiller, enttäuscht von der jüngeren Zeitgeschichte, weder ein Volk, das reif, noch einen Adel, der einsichtig genug wäre, um einen vergleichbar wundersamen Weg zur politischen Freiheit und Eintracht zu beschreiten. Die Inszenierung der dramatischen Entwicklung zu einer freien Bürgergesellschaft im Rahmen des mittelalterlichen Reichs ist ein Geschehen in unwiederbringlicher Vergangenheit. Mit der Wahl des neuen guten Kaisers, der Bitte Bertas, sie ebenso als „Bürgerin“ des Bundes aufzunehmen, sowie dem berühmten Satz, „Und frei erklär ich alle meine Knechte“342, schließt das Drama im Einvernehmen von Kaiser, Adel und Eidgenossen. – Das realistische Gegenbild zu dieser gleichsam demokratischen Reichsromantik findet sich im Wallenstein.

3. Das Rad der Fortuna 3.1 Spiegel der Reichskrise: Schillers Wallenstein-Trilogie343 3.1.1 Die Wiederkehr des Dreißigjährigen Kriegs Kaum ein Stück ist weiter von jeder Reichsromantik entfernt als Schillers Wallenstein. Nicht auf ein mittelalterlich vergangenes Reich, sondern auf den Dreißigjährigen Krieg als Spiegel der Gegenwart rekurriert das Drama. Zog man noch zu Beginn der Revolution die Parallele zu dieser ,deutschen Katastrophe‘ in beschwichtigender Absicht mit dem Hinweis auf den Nachholbedarf der mehr als alle anderen Völker unter Despotismus leidenden Franzosen, wandelte sich das Bild seit 1792/1793 erheblich: Indem das Reichsgebiet Schauplatz des Kriegs wurde, galt die Analogie nicht mehr den Franzosen, sondern dem Reich selbst. Der Ausgang des Jahrhunderts wurde zu einem Zeitraum, „desgleichen seit dem 30.jährigen Krieg sich 340 341 342 343

Ebd., S. 1002. Ebd., S. 1015. Ebd., S. 1029. Eine frühe Fassung dieses Kapitels ist bereits publiziert: Hien: Die Reichsidee in Schillers ,Dreißigjährigem Krieg‘ und im ,Wallenstein‘, S. 113 – 120.

3. Das Rad der Fortuna

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Deutschland nicht zu erinnern weiß“344, so Herder 1795 schockiert. Und Goethe anlässlich des in Weimar propagierten Reichskriegs: „Europa braucht einen 30jährigen Krieg um einzusehen was 1792 vernünftig gewesen wäre.“345 Auf die similitudo temporum zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und der Gegenwart hinzuweisen, war um 1800 zum Topos geronnen. Als Schiller just in dieser Zeit Wallenstein zum Protagonisten seines größten Geschichtsdramas wählte, gab es daher über die Aktualität keinen Zweifel. Die Poetisierung der innerdeutschen Geschichte gleicht weit mehr einem Spiegel der gegenwärtigen Reichskrise als die Figur Wallenstein einer „Verkörperung“346 der Revolution. Mit den Worten Buttlers aus der Marbacher Fassung: „Ehrwürdig altes wanket, flüssig ist / Die tausendjährig harte Form der Welt.“347 Von eben jener Form, die vor tausend Jahren begründet wurde, hatte sich Joseph Görres in seiner satirischen Grabrede etwa zur gleichen Zeit anlässlich der Rastatter Ereignisse eindrücklich verabschiedet: Am 30. Dezember 1797, am Tag des Übergangs von Mainz nachmittags um 3 Uhr starb zu Regensburg in dem blühenden Alter von 955 Jahren 5 Monaten und 28 Tagen sanft und selig an einer gänzlichen Entkräftung und hinzugekommenem Schlagfuß bei völligem Bewusstsein und mit allen heiligen Sakramenten versehen das heilige römische Reich schwerfälligen Angedenkens.348

Was bei Görres ironisch-satirisch gemeint ist, erhält in der Figurenrede Buttlers durch die Johannes-Anspielung (Tausendjähriges Reich) einen apokalyptischen Beiklang. Im Prolog vom Oktober 1798 zitiert Schiller nicht die Kaiserkrönung von 800, sondern den Westfälischen Frieden, der die Reichsverfassung laut seiner Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs zum Ruhepol und Friedensgaranten des europäischen Systems hatte werden lassen: 344 Herder: Schluss des Examens 1796, in: FA, Bd. 9,2, S. 733. 345 Goethe an Christian Gottlob Voigt, 10./15. 10. 1792, Nr. 2953, in: WA, Abt. IV, Bd. 10, S. 34 f. 346 Koopmann: Freiheitssonne und Revolutionsgewitter, S. 49. Hier wird gar davon gesprochen, dass es sich im Wallenstein um eine Stellungnahme Schillers handle, „mit einem eindeutigen Bekenntnis sowohl des Autors wie auch der integren Figuren des Dramas zur Revolution, zu Wallenstein“. Mit dem Fokus allein auf Österreich und der direkten Ereignisgeschichte: Häusler: Schillers WallensteinTragödie als Parabel der Krise des Alten Reichs und der Habsburger-Monarchie, S. 67 – 80. 347 Überlieferung und Lesarten, in: NA, Bd. 8, S. 436. 348 Görres: Rede auf den Untergang des Heiligen Römischen Reichs, S. 89.

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Kapitel 5: Abgesänge und Arbeit am Mythos

Zerfallen sehen wir in diesen Tagen Die alte feste Form, die einst vor hundert Und funfzig Jahren ein willkommener Friede Europens Reichen gab, die teure Frucht Von dreißig jammervollen Kriegesjahren. Noch einmal laßt des Dichters Phantasie Die düstre Zeit an euch vorüberführen, Und blicket froher in die Gegenwart Und in der Zukunft hoffnungsreiche Ferne.349

Das Drama selbst zerstört die Parallelisierung der beiden Kriege. Während Schiller die Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs auf den Westfälischen Frieden zulaufen ließ, auf jenes europäische Staatensystem, dessen eifriger Apologet er in der Antrittsvorlesung gewesen war, endet die Tragödie ohne jedes Hoffnungszeichen. Zurück bleibt eine korrumpierte Ordnung. Das Gleichgewichtstheorem hatte sich gemeinsam mit dem geschichtsphilosophischen Fortschrittsglauben des Aufklärungsjahrhunderts als Chimäre erwiesen: „Ein Tummelplatz von Waffen ist das Reich […].“350 Wallenstein spiegelt am Beispiel der Reichskrise des Dreißigjährigen Kriegs die „Legitimitätskrise“351 der Gegenwart. Wie aber sollte durch das poetische Bild dieser düsteren Zeit ein froher Blick ,in der Zukunft hoffnungsreiche Ferne‘ möglich werden? Johann Rists Schauspiel Das Friedewünschende Teutschland von 1647 erlebte 1806 in stark gekürzter Fassung eine Neuauflage, versehen mit der reichspatriotisch-religiösen Vorrede eines braven Pfarrers aus dem „Hollsteinischen“. Gedacht war die Ausgabe, so der Untertitel, „Zum Besten des aufrichtigen deutschgesinnten Lesers“. Wie Schiller verglich auch der Geistliche den Dreißigjährigen Krieg mit den „Kriegsdrangsalen und Friedens=Pressuren, woran die gesammte Welt, besonders aber das liebe Vaterland deutscher Nation, seit geraumen Jahren gelitten hat“352. In

349 Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 272. 350 Ebd. 351 Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der Deutschen Literatur, Bd. 1, S. 452 – 460, hier S. 455. Vgl. Schulz, Gerhard: Schillers ,Wallenstein‘ zwischen den Zeiten, in: Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen, hrsg. v. Walter Hinck, Frankfurt a.M. 1981, S. 116 – 132; Dwars, Jens-F.: Dichtung im Epochenumbruch. Schillers ,Wallenstein‘ im Wandel von Alltag und Öffentlichkeit, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 35 (1991), S. 150 – 179. 352 Rist, Johann: Das Friede wünschende Deutschland. Eine Comödia oder Gespräch=Spiel von Herrn Johannes Rist […]. Nunmehro aber neu aufgelegt und

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der Erzählung des damaligen deutschen Leidens sucht er „Zuspruch“ und „Trostgründe“ zu finden. Jenes Bonum-durch-Malum, dessen säkularisierte Form in der aufklärerischen Geschichtsphilosophie Herders und Schillers so prägend war, kommt wieder ungetrübt in religiöser Gestalt zur Geltung: „Achtet daher den Krieg sammt allen seinen Folgen weniger für ein Übel, als vielmehr für eine Arzenei, nach deren Gebrauch ihr um so herrlicher herfürgehen werdet.“353 Auch seien die „gegenwärtigen Kriege“ mit „dem Ungemach des 30jährigen Krieges“ verglichen „nur ein Erquickungsspiel“354. Rists Schauspiel zeigt anschließend allegorische Bilder des Sturzes Germanias von der prächtigen à la mode gekleideten Dame zur zerrissenen Bettlerin, die vom Kriegsgott Mars und dem Hunger gequält wird. Erst nach einer Standpauke des ,Frieden‘ an das deutsche Volk, sich seiner selbst zu besinnen, versöhnt sich Germania mit den deutschen Helden Ariovist, Arminius und Wedekind, die sie zuvor französisch sprechend vertrieben hatte. Im Frieden erblüht das ,deutsche Reich‘. Von solch einer restitutio in integrum ist bei Schiller keine Rede. Ebenso wenig von jenem Bonum-durch-Malum, das dem Krieg der Gegenwart mit Blick in die Zukunft einen Sinn verliehen hätte. Während in der Geschichte das Rad der Fortuna waltet, der Spiegel des Vergangenen also nur eine Bestätigung der Vergeblichkeit ist, aber keinen Trost spenden kann – „nicht dem Guten gehöret die Erde“355 –, erhält die Kunst, ,des Dichters Phantasie‘, die Aufgabe, als Palliativum zu wirken. Nicht aber durch Illusionsstiftung, sie soll „ihren Schein / Der Wahrheit nicht betrüglich“356 ,unterschieben‘, sondern durch ästhetisch vermittelte Einsicht in den Gang der Dinge. Das „düstre Bild“ der Zeit wird in das „heitre Reich der Kunst“ hinübergespielt, dem Schrecklichen wird ästhetische Form gegeben und nur aus dieser überzeitlichen Zutat des Dichters entsteht der mögliche Trostgewinn: „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.“357

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mit einer Vorrede versehen von einem Pfarrherrn im Hollsteinischen. Zum Besten des aufrichtigen deutschgesinnten Lesers, o. O. 1806, S. 3. Ebd., S. 5 f. Ebd., S. 8. Schiller: Die Worte des Wahns, in: MA, Bd. 1, S. 216. Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 274. Ebd.

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3.1.2 Form versus Inhalt Schillers Suche nach einem nationalepischen oder nationaldramatischen Sujet endete nicht bei Friedrich II. und auch nicht bei Gustav Adolf, sondern bei dem Gegner des Letzteren, bei Wallenstein.358 Beide konnten jedoch als Vorkämpfer für die ,deutsche Freiheit‘ stilisiert werden, wie es zuvor Halem unter Beweis stellte, der im Übrigen ebenso über ein GustavAdolf-Epos nachgedacht hatte. Ob Schiller dessen Wallenstein-Drama von 1786 kannte, ist ungewiss.359 Stilistisch ausgerichtet an den Vorbildern des Sturm und Drang wagte Halem eine reichspatriotische Aufwertung des strittigen Feldherrn. Wallensteins Motive sind bei ihm klar und rein: Er möchte „Mittler seyn zwischen dem Kaiser und den Fürsten“, er kämpft als „Retter des Reichs“ für „die Freiheit der Nation“360. Seine nationale Reichstreue – „Aufrechthalten will ich die Grundverfassung des Reiches, und Böhmen sey der Preis meiner Arbeit“361 – wird aber aufgrund der ungeheuren Macht, die ihm das „Dictator“-Amt des Feldherrn eingebracht hat und auf der er beharrt, sowie durch den Einfluss schlechter Berater im Umfeld des Kaisers verkannt.362 Sein Ehrgeiz, die ,Schwungsucht‘, konterkarieren im Sinne der aristotelischen Hamartia Tugend und Ehre des Feldherrn und rauben den guten Absichten die Wirksamkeit. Analogien zur patriotisch-vaterländischen Dichtung finden sich auch in der dreiteiligen Gestalt des Dramas. Nur ein prominentes Beispiel hat es im 18. Jahrhundert dafür gegeben: Klopstocks Hermann-Bardiete. Die Wallenstein-Trilogie ist ihnen hinsichtlich der Stoffverteilung nicht unähnlich. In Hermanns Schlacht tritt der Held selbst erst am Ende auf. Der Großteil der Handlung besteht im Gespräch über ihn, wie das auch in 358 Vgl. zu Schillers epischen Plänen: NA, Bd. 16, S. 494 – 498. 359 Vgl. allgemein: Heinze, Roland: Halem, Schiller und Wallenstein. Probleme der Dramengestaltung und der Darstellung des Krieges im ,Wallenstein‘, in: Friedrich Schiller und das lebendige Erbe der Aufklärung. Kolloquium zum 200. Todestag des Dichters, hrsg. v. Wolfgang Beutin, Berlin 2006, S. 32 – 43. 360 Halem, Gerhard Anton von: Wallenstein, in: ders.: Dramatische Werke, Rostock/ Leipzig 1794, S. 75 – 200, hier S. 147, 151, 150. 361 Ebd. 362 „Die Römer wählten sich bei dringenden Gefahren einen Dictator, und der Staat befand sich wohl dabei. Will der Kaiser mich zum Generalissimus seiner Truppen, zum unumschränkten Schiedsrichter über Krieg und Frieden, über Strafen und Belohnungen machen, will er mir dabei, zu Vergütung meines unermeßlichen Aufwandes, außer dem schon geschenkten Mecklenburg, ein Stück seiner Erblande versichern: so ist, wie gesagt, meine Ruhe, meine Kraft, mein Leben sein.“ Halem: Wallenstein, S. 104. Vgl. auch die Beratung des Kaisers mit Caraffa: ebd., S. 136 ff.

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Wallensteins Lager der Fall ist. Wie in Schillers Piccolomini wird die Handlung in Hermann und die Fürsten von den Kabalen der Fürsten gegen den Feldherrn und von dessen fragwürdigen Herrschaftsplänen vorangetrieben. Isoliert verliert er schließlich in Hermanns Tod sein Leben, freilich anders als Wallenstein in offener Feldschlacht und nicht als wehrloses Mordopfer. Die Parallelität geht allerdings nur mit großer Abstraktion auf, genau war Schiller mit Klopstocks Schauspielen wohl auch nicht vertraut. Das dritte Bardiet lernte er jedenfalls erst 1803 näher kennen, während er davor wohl nur über Hörensagen von ihm wusste.363 Seine Kenntnis der Arminius-Tragödie von Justus Möser ist ebenso ungewiss, die Analogien in der Figurenkonstellation fallen aber stark ins Auge: Sigismund steht gegen seinen eigenen intriganten Vater Segest und ist zwischen Vaterlandspflicht und Freundschaft zu dem verehrten Feldherrn hin- und hergerissen. Das entspricht bis ins Detail Max Piccolominis Dilemma zwischen dem Vater Octavio, der Treuepflicht gegen Kaiser und Reich und der Freundschaft zu Wallenstein entscheiden zu müssen. Arminius’ Macht basiert ähnlich der von Schillers Wallenstein auf seiner charismatischen Führerschaft gegenüber dem Volk. Wie dieser ist er einem machiavellistischen Ratgeber (Adalbert / Gräfin Terzky) ausgesetzt und wie dieser zögert er den entscheidenden, aber verwerflichen Schritt zur Macht so lange hinaus, bis es zu spät ist. Beide fallen schließlich der Intrige eines Feindes aus den eigenen Reihen (Segest / Ocatvio) zum Opfer. Wallenstein birgt sowohl im Stoff als auch in der Makrostruktur und der Figurenkonstellation Elemente genug, um ein fulminantes patriotisches Schauspiel abzugeben, und doch lenkte Schiller in eine ganz andere Richtung. Deutlich wird das im Gegensatz von Form und Inhalt, der schon im Prolog als Strukturmerkmal des Folgenden angekündigt wurde. Ihm zur Folge kommt in Wallensteins Lager das „alte[] deutsche[] Recht“, „des Reimes Spiel“364 zur Geltung. Die Wahrheit soll jedoch vom ästhetischen Schein nicht verdunkelt werden. Der erste Teil der Trilogie nimmt in diesem Sinne mit dem Knittelvers und den zahlreichen rührenden und identischen Reimen Traditionen des 16. Jahrhunderts auf, vielleicht nicht zufällig das Jahrhundert der Reichsreform, in dem die Grundlage der Verfassung geschaffen wurde. Inhaltlich hingegen wird in dieser verkehrten Welt des Lagers auf das Ende des alten ,deutschen Reichs‘ in den Koali363 Vgl. Schiller an Johann Wolfgang von Goethe, 20. Mai 1803, Nr. 47, in: NA, Bd. 32, S. 38 f.; Schiller: Ueber die tragische Kunst, in: MA, Bd. 5, S. 391. Es könnte hier allerdings auch Justus Mösers Drama gemeint sein. 364 Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 274.

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tionskriegen angespielt. In den drolligen, altertümlichen Worten des Kapuziners zeigt sich die ganz aktuelle Agonie des Reichs: Die ganze Welt ist ein Klagehaus, Die Arche der Kirche schwimmt in Blute, Und das römisch Reich – daß Gott erbarm! Sollte jetzt heißen römisch Arm, Der Reinstrom ist worden zu einem Peinstrom, Die Klöster sind ausgenommene Nester, Die Bistümer sind verwandelt in Wüsttümer, Die Abteien und die Stifter Sind nun Raubteien und Diebesklüfter, Und alle die gesegneten deutschen Länder Sind verkehrt worden in Elender. 365

Keine Zweifel, der Verlust des linken Rheinufers an die französischen Revolutionstruppen ist trotz des altertümlichen Kostüms gegenwärtig. In diesen Gebieten begann unmittelbar nach ihrer Okkupation, und d. h. bereits vor 1803, die Säkularisation und damit das Ende der Klöster, Kirchen und Bistümer. Während der Kapuziner mit seinem Auftritt dem ebenso zu Ordnung und Recht mahnenden ersten Pastor der Räuber gleicht und wie dieser verspottet wird, warnt der loyale Erste Arkebusier vergeblich zu Reichs- und Kaisertreue: „Liebe Herren, bedenkts mit Fleiß / ‘s ist des Kaisers Will und Geheiß.“366 Reich und Kaiser haben in der Welt des Lagers keine Autorität, lediglich die Hoffnung auf Sold und Beute legitimiert die Führung der Soldaten. Jeder kämpft nur in Erwartung seines eigenen Gewinns, der Bauer genauso wie die Soldaten, die Marketenderin oder das Mägdlein. Sie hängen ihr Glück an Wallensteins Erfolg. Der Erste Jäger diente erst den Schweden, dann Tilly, dann den Sachsen und schließlich in Vollendung der absoluten Ungebundenheit des soldatischen Lebens nun dem Friedländer.367 Die Welt des Lagers spiegelt die Desintegration des Reichs, den Kampf zwischen Kaiser und Sachsen, Wallenstein und den Bayern. Das Lager ist eine Anti-Reichswelt, hier triumphieren nicht Herkommen, Treue 365 Ebd., S. 293. Vgl. den Hinweis auf diesen Gegenwartsbezug schon bei Zeydel: The Holy Roman Empire in German Literature, S. 102 und Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 185. Auch Questenberg schildert die Lage des Reichs ganz ähnlich: „Der Reichsfeind an den Grenzen, Meister schon / Vom Donaustrom, stets weiter um sich greifend – / Im innern Land des Aufruhrs Feuerglücke – / Der Bauer in Waffen – alle Stände schwürig – […].“ Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 325. 366 Ebd., S. 303. 367 Ebd., S. 285 f.

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und Pflicht. Rang und Gefolgschaft ergeben sich aus dem kurzfristigen Glück oder Unglück der Waffen. Symbol dafür ist Wallensteins zweites Generalat: Der führt’s Kommando nicht wie ein Amt, Wie eine Gewalt, die vom Kaiser stammt! Es ist ihm nicht um des Kaisers Dienst, Was bracht er dem Kaiser für Gewinnst? Was hat er mit seiner großen Macht Zu des Landes Schirm und Schutz vollbracht? Ein Reich von Soldaten wollt er gründen, Die Welt anstecken und entzünden, Sich alles vermessen und unterwinden – […].“368

Während formal, im Reim, das alte deutsche Recht regiert, zählt realiter einzig das Recht des Stärkeren. Ganz ähnlich beklagte man in den 1790er-Jahre das Auseinanderfallen von Form und Realität, Ideal und Wirklichkeit der Reichsverfassung. Sie bestünde nur mehr „in Büchern“, habe „in der Wirklichkeit“ aber zu existieren aufgehört.369 Kleinere Reichsstände wurden von den innerreichischen Großmächten gefährdet, nicht das Reichsrecht regierte, sondern die Staatsraison der Teilstaaten. Im Wallenstein formuliert Schiller keine plausible Friedensreichvision oder gar eine Sozialutopie,370 nein, er zeigt die 368 Ebd., S. 287. 369 Voß: Ueber die Schicksale der deutschen Reichs=Verfassung, S. 9. Vgl. 5. Kap., 1. Schein und Sein. 370 Den Inhalt von Wallensteins Zielen im Sinne Walter Müller-Seidels mit ,neuem Leben‘, ,europäischem Frieden‘ oder wie in seinem neuen Schillerbuch von 2009 mit einem konkreten ,Reichsfrieden‘ zu fassen, ignoriert offensichtliche Textsignale. Vgl. Müller-Seidel: Schiller und die Politik, S. 122 – 146; ebenso Steinhagen, Harald: Schillers ,Wallenstein‘ und die Französische Revolution, in: Deutsche Philologie 109 (1990), S. 77 – 98 und Ueding: Klassik und Romantik, S. 221 – 230. Sätze wie, „die hohen werden unten sein“, wurden von Harald Steinhagen (Steinhagen: Schillers ,Wallenstein‘ und die Französische Revolution, S. 88) und anderen völlig gegen den Dramenkontext als Plädoyer für einen „sozialen Umschichtungsprozess“ oder zumindest als Prophetie der kommenden bürgerlichen Welt gedeutet. Gemeint ist aber das Ende der ,universalen‘ Herrschaft des Hauses Habsburg, nicht eine soziale Revolution. Wenn Gert Ueding Wallensteins „eigentliches Ziel“ in „eine[r] neue[n] europäische[n] Friedensordnung, die zu schaffen die Kräfte des alten Reichs nicht mehr ausreichen“ (Ueding: Klassik und Romantik, S. 225), findet, lässt sich das mit dem Text nicht belegen. Wallenstein ist nicht „Träger der größten politischen Hoffnungen des 18. Jahrhunderts, des europäischen Friedens und eines unzerstückelten Deutschlands“ (ebd., S. 230). Florian Krobbs Dissertation aus dem Jahre 2005 lässt Schillers Werke gleicher-

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Überlebensunfähigkeit eines ,Reichskörpers‘, der seines wichtigsten Elements verlustig gegangen ist: der ,Treue‘ zwischen Haupt und Gliedern und der Glieder untereinander. 3.1.3 Treue-Dilemma Dass sich Schiller in den Piccolomini und auch in Wallensteins Tod besonders auf die Krise des Reichssystems bezieht, belegt nicht zuletzt die exponierte Rolle der Themen Treue, Pflicht und Eid. Wolfgang Burgdorf betont in seiner wichtigen Arbeit zum Untergang des Alten Reichs und dessen Wahrnehmung bei den Zeitgenossen die Schwierigkeiten, welche sich für diese aus dem Zusammenbruch des größten Eid- und Schwursystems Europas, mit Johannes Müller gesprochen der „große[n] Eidgenossenschaft ungleicher Mitglieder“371, ergaben. Anhand des Treue-Dilemmas der Protagonisten zeigt Schiller – so die an Burgdorf anschließende These – die Agonie und Aporie der Reichsverfassung um 1800, deren tiefere Ursache im Drama wie in der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs klar dem Verhalten des Kaisers angelastet wird: der „Ländersucht“ der „spanischen Doppelherrschaft“372. Max und Wallenstein machen Kaiser Ferdinand II. mehrfach für den Krieg verantwortlich. Wenn die Vertreter der alten Ordnung, Questenberg und Octavio, über den ,tränenvollen Krieg‘ klagen, bedeutet das nicht, dem maßen in eine „Nationalstaatsgründung“ münden (Krobb, Florian: Die Wallenstein-Trilogie von Friedrich Schiller. Walter Buttler in Geschichte und Drama, Oldenburg 2005, S. 79 f.). Füllt man die zum Beleg immer mit Auslassungen zitierten Sätze „Mich soll das Reich als seinen Schirmer ehren / (…) / (…) keine fremde Macht mir Wurzeln fassen“ (z. B. Ueding: Klassik und Romantik, S. 227), offenbart sich der Irrtum: „Reichsfürstlich mich erweisend, will ich würdig / Mich bei des Reichs Fürsten niedersetzen“ (Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 342). Wallenstein avisiert hier legitime Macht innerhalb der alten, ständischen Ordnung des Reichs (Kurfürst und König von Böhmen), sein Dilemma ist, dies auf falschem Wege zu versuchen. 371 Müller: Darstellung des Fürstenbundes, S. 111. Ein anonymer Publizist spricht 1806 von der „alten deutschen Eidgenossenschaft“: o. A.: Auflößung des deutschen Reichstags und der Verfassung des deutschen Reichs, in: Der Rheinische Bund 1 (1806), S. 44 – 48, hier S. 48; Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 147 – 154 (Kap. „Gebrochene Eide“). 372 Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: MA, Bd. 4, S. 407; Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 500. Borchmeyer sieht die Anklage gegen Österreich hingegen als unbedeutend an, vgl. Borchmeyer: Macht und Melancholie, S. 169, 176. Vgl. passender: Häusler: Wallenstein.

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Hof ginge es selbst um Frieden.373 Im Gegenteil: Der Kaiser sprengt mit seiner ,Ländersucht‘ jene Ordnung, die die beiden repräsentieren, dient er doch allein der Staatsräson Österreichs und nicht dem Gemeinwohl des Reichs. Max, seit der Reise von Liebe erfüllt, nimmt Octavios Kriegsklage umgehend auf und träumt von einem kaiserlichen Frieden, ähnlich schwärmerisch wie später von dem ,Friedensfürsten‘ Wallenstein: „O! Laß den Kaiser Friede machen, Vater! / Den blutgen Lorbeer geb ich hin, mit Freuden […].“374 Die Realität, das Verhalten Ferdinands, hindert den Traum: „Wer sonst ist schuld daran, als ihr in Wien? – / […] / Ihr seid es, die den Frieden hindern, ihr!“ Österreich ginge es anders als dem Feldherrn nur darum, ob es „ein paar Hufend Landes“ mehr oder weniger habe.375 Doch auch Wallenstein diente nach Auskunft der Gräfin Terzky dem Kaiser als Werkzeug, um die Reichsordnung dem habsburgischen sacro egoismo folgend zu korrumpieren. Du hattest jeden Stand im Reich beleidigt; Ihn groß zu machen, hattest du den Haß, Den Fluch der ganzen Welt auf dich geladen, Im ganzen Deutschland lebte dir kein Freund, Weil du allein gelebt für deinen Kaiser.376

Schon zuvor bestätigt Wallenstein, seine Aufgabe sei es gewesen, „Dem Thron zu dienen, auf des Reiches Kosten“377. Gegenüber dem reichs- und kaisertreuen Questenberg beteuert er, dass er nun geläutert „als des Reiches Feldherr, / Zur Wohlfahrt aller, zu des Ganzen Heil, / Und nicht mehr zur Vergrößerung des Einen“378 entschlossen sei. Mit dieser Reichstreue ist es aber nicht weit her, quotiert Wallenstein doch wenige Verse zuvor seine Absetzung am Regensburger „Reichstag“ (es müsste eigentlich Kurfürstentag heißen), die der Kaiser, so Questenberg, nicht verhindern konnte, da ihm „die Freiheit“ gemangelt habe, mit: „Tod und Teufel! / Ich hatte, was ihm Freiheit schaffen konnte.“379 Sein alleiniger Maßstab, das haben wichtige Studien hervorgehoben, ist hier wie anderswo die eigene Macht und Größe.380 Selbst Wallenstein 373 374 375 376 377 378 379 380

Anders: Borchmeyer: Wallenstein, S. 101. Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 330. Ebd., S. 333. Ebd., S. 427. Ebd., S. 353. Ebd. Ebd. Hans-Jürgen Schings verweist zum Verständnis des Wallenstein auf den ideengeschichtlichen Hintergrund der prudentia politica sowie des Machiavellismus und

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muss allerdings seine inneren Hemmnisse mit machiavellistischer Nachhilfe der Gräfin überwinden, um das Reich zu verraten, d. h. mit den Schweden zu paktieren und die Treue gegenüber dem Kaiser endgültig zu brechen.381 Der vielzitierte Schimpf auf „das ewig Gestrige“, den „unsichtbare[n] Feind“ desjenigen, der mit Herkommen und Tradition bricht, wird gerne und voreilig als Schillers Verdikt über die alte Ordnung gelesen.382 Näherer Betrachtung hält das nicht stand, denn Wallensteins Monolog folgt kurz darauf eine gleichsam anthropologische Einsicht von politischer Tragweite: „Die Treue, sag ich euch, / Ist jedem Menschen wie der nächste Blutsfreund […].“383 Sie ist die lebensnotwendige Rückendeckung für den urwüchsigen Jäger wie für den zeitgenössischen Herrscher. Die Klugheit allein reiche nicht aus, so Wallenstein, um sich vor Angriffen zu schützen. Neid und Eifersucht müssen vor dem gemeinsamen Feind zurücktreten, um das „wilde Tier zu jagen, / Das mordend einbricht in die sichre Hürde“384. Der Treuebruch mit dem Kaiser trennt die „legale Größe“ des Feldherrn von der Größe des bloßen militärischen Genies, die alleine „wohl Bewunderung und Schrecken“, aber nicht „Ehrfurcht und Unterwerfung erzwingen“ kann.385 Wallensteins Sturz bestätigt die Bedeutung des ewig Gestrigen für den Zusammenhalt eines Staats. Octavio bleibt kaisertreu, wiewohl der Kaiser sich seines Amtes nicht würdig erwiesen hat. Sein Dilemma ist daher zum einen, dass er die falschen Mittel, die „krummen Wege“, wählen muss, um seine Pflicht zu erfüllen, zum anderen, dass er für eine Ordnung kämpft, deren Haupt wider die Glieder streitet. Schiller zeichnet ihn nach eigener Auskunft als „ziemlich rechtliche[n] Mann“. „Er wählte zwar ein schlechtes Mittel, aber

381 382 383 384 385

benennt die ,eigene Macht‘ und ,unbezähmte Ehrsucht‘ als wahre Zwecke des Protagonisten: Schings, Hans-Jürgen: Das Haupt der Gorgone. Tragische Analysis und Politik in Schillers ,Wallenstein‘, in: Das Subjekt der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser, hrsg. v. Gerhard Buhr u. a., Würzburg 1990, S. 283 – 307. Dieser Studie folgt das vorliegende Kapitel ebenso wie dem großen Wallensteinbuch Dieter Borchmeyers und seiner Darstellung des Protagonisten als „Verbrecher aus verratener Treue“. Borchmeyer: Macht und Melancholie, S. 172. Vgl. auch: Hinderer, Walter: Der Mensch in der Geschichte. Ein Versuch über Schillers ,Wallenstein‘. Mit einer Bibliographie von Helmut G. Hermann, Königstein (Taunus) 1980. Vgl. das Gespräch mit der Gräfin: Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 424 ff. Ebd., S. 415 f. Z. B. Steinhagen: Schillers Wallenstein und die Französische Revolution, S. 77 – 98; Ueding: Klassik und Romantik, S. 221 – 230. Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 423. Ebd. Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: MA, Bd. 4, S. 674.

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er verfolgt einen guten Zweck.“386 „Krumme“ versus „gerade“ Wege lassen sich weniger als Opposition traditionaler und naturrechtlicher Politik verstehen,387 sondern vielmehr als Gegensatz von politischer dissimulatio und politischer Ehrlichkeit. Das Dilemma schlägt sich besonders in Max und Thekla nieder. Nicht zufällig tragen die hinzuerfundenen Figuren die tragische Botschaft des ganzen Dramas. Max vertraut dem Freund und Ziehvater aufs innigste und wähnt sich bis zuletzt mit seiner Reichs- und Kaisertreue im Einklang. Gradlinigkeit ist weniger ein Zeichen seiner Modernität als vielmehr seiner schwärmerischen Naivität, die stärker in seinem Herzen als in seinem Verstand begründet liegt.388 Mehrmals äußert er schließlich gegenüber Wallenstein seine Zweifel: „Ist das ein guter Krieg, den du dem Kaiser / Bereitest mit des Kaisers eignem Heer? […] / Der alten Ehrfurcht eingewachsnen Trieb / und des Gehorsams heilige Gewohnheit / Soll ich versagen lernen deinem Namen? / Nein!“389 Er mahnt ihn: „O! kehre / Zurück zu deiner Pflicht. Gewiß! du kannsts! / Schick mich nach Wien. Ja, tue das. Laß mich, / mich deinen Frieden machen mit dem Kaiser.“390 Es sind bei aller in der Forschung betonten aufgeklärten Modernität seines Denkens die altständischen Tugenden, die Max verloren sieht: „Vertrauen, Glaube, Hoffnung“391, „Mein Eid – die Pflicht“392. Schiller nennt Treue und Glaube in der Geschichte der französischen Unruhen das „kostbare Palladium des Staats“393. Selbst Thekla rät Max schließlich, lieber die Pflicht zu ehren und darin unterzugehen. Sie weiß, dass Max niemals seine Freundschaft brechen würde und im „Privatstand“ treu an Wallensteins Seite stünde. Sie weiß aber auch, dass er bei aller Schuldzuweisung die Pflicht gegenüber dem Kaiser nicht verletzen wird394 – ein Kaiserdienst aus Pflichtgefühl, das sich nur aus der traditionalen Verbundenheit mit dem Alten speist, verhält sich Ferdinand II. doch wider Herkommen und alte 386 Schiller an Karl August Böttiger, 1. März 1799, Nr. 36, in: NA, Bd. 30, S. 33. „In meinem Stück ist er das nie [ein gar schlimmer Mann], er ist sogar ein ziemlich rechtlicher Mann […]. Er wählt zwar ein schlechtes Mittel, aber er verfolgt einen guten Zweck. Er will den Staat retten, er will seinem Kaiser dienen […].“ Ebd. 387 Vgl. Borchmeyer: Macht und Melancholie, S. 167, 169. 388 Gegensätzlich: ebd., S. 122 f., S. 205. 389 Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 434. 390 Ebd., S. 435. 391 Ebd., S. 449. 392 Ebd., S. 485. 393 Schiller: Geschichte der französischen Unruhen, in: MA, Bd. 4, S. 919. 394 Vgl. Schiller: Wallenstein, in: MA, Bd. 2, S. 453.

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Ordnung. Maxens Pappenheimer zweifeln anders als alle anderen Regimenter an Wallensteins Bruch mit dem Kaiser und wollen sich über dessen Treue vergewissern: „Wir aber glaubens nicht, daß du ein Feind / Und Landsverräter bist, wir haltens bloß / Für Lug und Trug und spanische Erfindung.“395 Als aber berichtet wird, dass die kaiserlichen Banner entfernt werden, brechen sie postwendend mit Wallenstein.396 Max reitet schließlich an ihrer Spitze gegen die Schweden in den Tod – inzwischen die Verbündeten seines Freundes Wallenstein, aber immer noch die Feinde seines Lehnsherrn, des Kaisers. Gewiss der Tod eines Schwärmers, zugleich aber Ausdruck des Treuedilemmas in einer korrumpierten Ordnung. Die Herzogin hofft bis zuletzt, ihr Mann möge „dem Kaiser seinen Willen tun“397. Auch sie bestärkt Max’ Pflichtbewusstsein, dessen alter Adel („Sein Stand und seine Ahnen“) für sie bereits Ausweis seiner Tugend ist:398 „Gehen Sie, Graf wohin / Die Pflicht Sie ruft – So können Sie uns einst / Ein treuer Freund, ein guter Engel werden / Am Thron des Kaisers.“399 Sie weiß, dass Wallensteins Wunsch, sich einen rechtmäßigen Platz unter den Reichsfürsten zu sichern, aufgrund des jedem Herkommen hohnsprechenden „schnelle[n] Glück[s]“400 nicht möglich ist. Zu einem „Friedensfürsten“401 hätte sich die unrechtmäßige Herrschaft Wallensteins nie emporheben können. Johannes Müller warf den Fürsten anlässlich des Basler Friedens von 1795 fehlendes Nationalinteresse, „Meineide“, „Wortbrüchigkeit“ und eben „Treulosigkeit“402 vor. Das Entsetzen Schillers und vieler Zeitgenossen über den Friedenskongress in Rastatt 1797 – 1799,403 bei dem die harsche 395 Ebd., S. 474. Sofort wollen sie Wallenstein glauben (ebd., S. 477): „So treibst dus mit dem Schweden nur zum Schein, / Du willst den Kaiser nicht verraten, willst uns / Nicht schwedisch machen? – sieh, das ists allein, / Was wir von dir verlangen zu erfahren.“ 396 Ebd., S. 478: „BUTTLER. Graf Terzkys Regimenter reißen / Den kaiserlichen Adler von den Fahnen, / Und pflanzen deine Zeichen auf. GEFREITER zu den Kürassieren. Rechts um!“ 397 Ebd., S. 455. 398 Ebd., S. 460: „Sein adeliger Sinn und seine Sitten“; „Sein Stand und seine Ahnen“. 399 Ebd., S. 493. 400 Ebd., S. 338. 401 Ebd., S. 522. 402 Müller, Johannes: Noch einmal Bemerkungen über den weitern preußischen Vertrag mit der Frankenrepublik, vom 17ten May 1795, o. O. 1795, S. 3. Ebenso: ebd., S. 28 f. 403 Vgl. Schmidt: Wandel durch Vernunft, S. 240 f.; 4. Kap., 3. Reichszerfall und Formgewinn.

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Verletzung der Reichsintegrität durch den Kaiser in Campo Formio immer größere Bekanntheit erlangte, hilft, den politischen Gegenwartsbezug des Dramas, das genau in jener Zeit entstand, zu entschlüsseln. Wie als Abgesang auf das Alte Reich wurde die Wallenstein-Trilogie im Jahre seines Untergangs 1806 in Regensburg, der Stadt des Reichstags, gleich dreimal in voller Länge gespielt und von den verbliebenen Reichstagsgesandten gewiss begeistert frequentiert.404 3.2 Similitudo temporum: Wielands Aristipp und die Cicero-Briefe 3.2.1 Der Untergang der Poleis-Welt im Aristipp Wilhelm von Humboldt trug wesentlich dazu bei, dass im frühen 19. Jahrhundert die Wahlverwandtschaft zwischen Griechen und Deutschen enger denn je im Bewusstsein der Intellektuellen verankert war. Nach dem Reichsuntergang 1806 plante er ein größeres Werk zur griechischen Geschichte, dessen Fragmente deutliche Spuren auch der politischen Parallelisierung zeigen. Seine Geschichte des Verfalls und Untergangs der griechischen Freistaaten sollte, so schreibt Humboldt an Johann Gottfried Schweighäuser, „dem armen, zerrütteten Deutschland ein Monument setzten“405. Das Motto lautet mit Ovid: „Quid Pandioniae restant, nisi nomen, Athenae“. „Deutschland“ besitze „in Sprache, Vielseitigkeit der Bestrebungen, Einfachheit des Sinnes, in der föderalistischen Verfassung [!], und seinem neuesten Schicksalen [!] eine unläugbare Aehnlichkeit mit Griechenland […].“406 Ein Blick auf Wielands großen Altersroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (1800 – 1802) zeigt, dass Humboldt mit diesem Gefühl einer similtudo temporum, der Analogie zwischen dem Untergang der griechischen Poleis-Welt und dem Niedergang des Alten Reichs, nicht alleine 404 Vgl. Pigge, Helmut: Geschichte und Entwicklung des Regensburger Theaters (1786 – 1859), München 1954, S. 155. Zu den Reichstagsgesandten vgl. die von Burgdorf zitierten Briefe: Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 185, Fußnote 44. 405 Wilhelm von Humboldt an Johann Gottfried Schweighäuser, 4. Nov. 1807, Nr. 23, in: Wilhelm von Humboldts Briefe an Johann Gottfried Schweighäuser, hrsg. v. Albert Leitzmann, Jena 1934, S. 42. 406 Humboldt, Wilhelm von: Geschichte des Verfalls und Untergangs der Griechischen Freistaaten, in: ders.: Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Andreas Flitner/Klaus Giel, Bd. 2: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken, Darmstadt 2002, S. 73 – 124, hier S. 89. Das Ovid-Zitat S. 73.

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stand. Während Humboldt die nationalisierte Griechenlandsympathie des 19. Jahrhunderts befeuerte,407 warf Wieland allerdings den Blick kritisch zurück, gleichsam ein Abschied von der Welt, in der er gelebt hatte, gepaart mit vorsichtigen Ausblicken in das kommende Zeitalter. Entstehungsgeschichtlich schließt Wieland an die Gespräche unter vier Augen an.408 Während sich diese „noch näher auf den jetzigen Moment beziehen“409, spielt der Roman in der griechischen Vergangenheit. Inwieweit es zulässig ist, in Wielands literarischen Darstellungen der griechischen Antike eine Spiegelung der eigenen Zeit zu erblicken, ist umstritten.410 Eine platte Identifikation spricht dem Anspruch des Autors gewiss Hohn, wiewohl ein indirekter Verweisungszusammenhang kaum abzustreiten ist. Zweifellos unterscheidet sich jedoch Wielands schattiertes und besonders in dem großen Briefroman Aristipp mehr historisch-realistisch als idealisierend gezeichnetes Bild der griechischen Antike von der humanistisch-idealen Überhöhung à la Winckelmann und öffnet gerade dadurch den Raum für kritische Reflexionen auch der eigenen, d. h. deutsch-europäischen Geschichte.411 In einer Zeit der großen Verfassungsdiskussionen in Frankreich wie in Deutschland offeriert Wieland in dem während des Romans stetig ansteigenden Stimmengeflecht der Briefe eine ideale „Laboratoriumswirklichkeit“ (Jan-Dirk Müller), deren scheinbar utopischer und wirklichkeitsferner Raum über die historischpolitische, aber auch persönlich erlebte Krisensituation einen gleichsam realistischen Widerpart erhält.412 Der Protagonist erlebt gleich mehrere Verfassungen in praxi und reflektiert über deren Qualität. Auf den Ge407 Vgl. Rüegg, Walter: Die Antike als Begründung des deutschen Nationalbewußtseins, in: Antike in der Moderne, hrsg. v. Wolfgang Schuller, Konstanz 1985, S. 267 – 287; Landfester, Manfred: Griechen und Deutsche: Der Mythos einer ,Wahlverwandtschaft‘, in: Mythos und Nation, hrsg. v. Helmut Berding, Frankfurt 1996, S. 198 – 219. 408 Nachwort, in: Wieland: Aristipp, S. 1081 f. 409 Wieland an Georg Joachim Göschen, 7. März 1798, Nr. 210, in: WBr, Bd. 14,1, S. 219. 410 Vgl. Sahmland: Wieland und die deutsche Nation, S. 307 ff.; Fuhrmann: Wielands Antikebild, S. 1080 ff. 411 Vgl. Wipperfürth: Wielands geschichtsphilosophische Reflexion, S. 165 ff. 412 Insofern lässt sich Jan-Dirk Müllers ,Laboratoriumswirklichkeit‘ und die skeptischrealistische auf die Gegenwart um 1800 zielende Interpretation des Romans von Jan Cölln verbinden: Müller, Jan-Dirk: Wielands späte Romane. Untersuchungen zur Erzählweise und zur erzählten Wirklichkeit, München 1971; Cölln, Jan: Philologie und Roman. Zu Wielands erzählerischer Rekonstruktion griechischer Antike im ,Aristipp‘, Göttingen 1996.

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genwartsbezug hat die Forschung bereits häufig hingewiesen,413 dabei aber meist nur den Vergleich z. B. zwischen der kyrenischen Verfassung und der Republica Helvetica, der athenischen Volksherrschaft und der ,französischen Republik‘ oder Dionysios von Syrakus bzw. Jason und Napoleon gezogen.414 Noch auf einer viel grundsätzlicheren Ebene lässt sich ein Zusammenhang des Romans mit der Reichskrise um 1800 konstatieren. Die Verbindung zum Reich beginnt bereits zaghaft mit der Entstehungsgeschichte und der Konzeption des Werks. Man wird allerdings nicht allzu tiefe Schlüsse daraus ziehen dürfen, dass Wielands erste Überlegungen zu einer „Geschichte der socratischen Schule“, aus denen schließlich der Aristipp erwuchs, im Zusammenhang stehen mit einem leider nirgends näher spezifizierten Plan, eine „deutsche Reichshistorie“ zu verfassen. Jacobi riet ihm offenbar davon ab und legte ihm stattdessen „das Jahrhundert des Pericles“ ans Herz.415 Gewichtiger sind zweifellos die zwei folgenden Aspekte: 1. die Hintergrundhandlung, eine lehrhafte Reise durch die Staatenwelt, 2. die Problematisierung der politischen Einheit in der Mannigfaltigkeit. Zu 1: Schon hinter Aristipps Reisen durch die vielen Stadtstaaten Griechenlands im 4. Jahrhundert v. Chr., in der Zeit nach Perikles und dem Peloponnesischen Krieg, lässt sich eine Parallele zum Alten Reich erkennen. Wieland war, wie gesehen, keineswegs der Erste, der die Vielstaatlichkeit des Reichs mit der Poleis-Welt der Griechen verglich.416 Gottsched etwa applaudiert dem sächsischen Kurprinzen in einer Lobrede, dass er eine Reise durch Deutschland und Italien gemacht habe, denn während „alle übrigen Reiche in Europa“ „auf monarchische Weise regiert“ werden und daher das Land politisch „keine große Mannigfaltigkeit“ zeigen könne, da ein Hof dort „allein, alles in allem“ sei, wären „Deutschland und Wälschland“ gerade von der Vielfalt geprägt: 413 Vgl. Reemtsma: Buch vom Ich, S. 73 ff. 414 Vgl. z. B. Cölln: Philologie und Roman, S. 58 – 72; Höhle, Thomas: Revolution, Bürgerkrieg und neue Verfassung in Cyrene: Betrachtungen zu Wielands ,Aristipp‘ und den Nachspielen der Französischen Revolution, in: „Sie, und nicht Wir“: Die Französische Revolution und ihre Wirkung auf das Reich, hrsg. v. Arno Herzig/ Inge Stephan/Hans G. Winter, Bd. 2, Hamburg 1989, S. 591 – 605. 415 „Ihre Gründe gegen eine deutsche Reichshistorie von mir sind unwiderleglich, und das Jahrhundert des Pericles, welches Sie statt jener in Vorschlag bringen, wäre ein glänzender, reicher und herrlicher Stoff. […]. Gleichwohl gehe ich schon Jahre lang mit einem Werk um […]. Es ist eine Geschichte der socratischen Schule.“ Wieland an Friedrich Heinrich Jacobi, 11. April 1771, Nr. 277, in: WBr, Bd. 4, S. 288 f. 416 Vgl. in dieser Arbeit 3. Kap., 3. Das Heilige Griechische Reich deutscher Nation: Herders Institut für den Allgemeingeist.

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Hier findet man Königreiche, Herzogthümer, Fürstenthümer, Grafschaften und freye Republiken, die durch Bündnisse, Verbrüderungen, Nachbarschaften, gemeine Vortheile, oder durch eine gegenseitige Besorgniß oder Furcht aneinander hangen, und dadurch gleichsam einen großen Staatskörper ausmachen. Italien ist also, wie Deutschland, ein Auszug von ganz Europa: was sage ich? Es ist gleichsam eine kleine Welt.417

Für einen jungen Fürsten des Reichs gäbe es daher nichts Sinnvolleres, als wie der soeben heimkehrende Prinz eine solche Italienreise anzutreten und die dem „alte[n] Griechenland“ gleichende Mannigfaltigkeit als „wahrhafte Staatsschule“ zu nutzen.418 Was hier der Redesituation gemäß zum Preis der fürstlichen Weisheit angeführt wird, war im 18. Jahrhundert durchaus kein Einzelfall. Nur zwei Jahre vor der entscheidenden Arbeitsphase an dem Roman (1798 – 1802) erschien in der National-Zeitung der Teutschen 1796 zur Einleitung eine Lobeshymne des Herausgebers Rudolph Zacharias Becker auf die Vielfältigkeit des ,deutschen Reichs‘: Besuchte nun ein Philosoph aus einem andern Planeten unsre Erde in der Absicht, die verschiedenen Staatsverfassungen derselben zu vergleichen: würde er nicht beym Anblicke dieses ehrwürdigen, aus so vielen ungleichen Theilen zu einem Ganzen vereinigten Gebäudes ausrufen: hier ist die Schule der Staatswissenschaft! Hier kann man die Vorzüge und Mängel jeder RegierungsArt in der Nähe beobachten […].419

Aristipps Lebensweg ist zwar nicht der Kavalierstour eines jungen Adligen nachempfunden, der Roman setzt aber durchaus mit einer von den Eltern finanzierten Bildungsreise ein. Im Sinne der für Wieland typischen Wertschätzung der Praxis gegenüber abstrakter Theorie, die nicht zuletzt in einer Kritik an der platonischen Staatsphilosophie ihre Pointe besitzt, erfährt und lernt der wahre Schüler des Sokrates, der Weltmann Aristipp, während seines Bildungswegs nicht zuletzt die Relativität der Verfassungen und ihre Abhängigkeit von Tugend und Sittlichkeit der Herrscher und Beherrschten im Sinne des ,solonischen Prinzips‘ kennen.420 Am Beispiel 417 Gottsched, Johann Christoph: Rede auf die vollzogene Vermählung Sr. Königlichen Hoheit des königlichen Churprinzen, in: AW, Bd. 9,1, S. 12 – 42, hier S. 26. 418 Ebd., S. 27 f. 419 Becker, Rudolph Zacharias: Einleitung, in: National-Zeitung der Teutschen (1796), Sp. 5 – 24, hier Sp. 16. 420 „Alle bürgerliche Gesellschaften haben den unheilbaren Radikalfehler, daß sie, weil sie sich nicht selbst regieren können, von Menschen regiert werden müssen, die es größtentheils eben so wenig können. Man kann unsre Regierer nicht oft genug daran erinnern, daß bürgerliche Gesetze nur ein sehr unvollkommenes und unzulängliches Surrogat für den Mangel guter Sitten, und jede Regierung, ihre Form sey noch so künstlich ausgesonnen, nur eine schwache Stellvertreterin der Vernunft

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der fiktiven Verfassung Kyrenes und Aristipps Einschätzung derselben, lässt sich Wielands vielschichtiger und pragmatisch-realistischer Blick auf Ideal und Wirklichkeit politischer Modelle und Prinzipien noch einmal in nuce studieren.421 Wie in der Gegenwart bleibt es sehr fraglich, ob die Sittlichkeit der Poleisbürger bereits für ihr großes Maß an Freiheit ausreichend ist. Die Gründungsväter der fiktiven kyrenischen Verfassung ziehen daraus vorbeugend Konsequenzen.422 Aristipps Beobachtungen von Griechenland im Ganzen verbergen vor dem Hintergrund dieser Positionen nicht ihre Aktualität für den Reichsverband um 1800. Das zeigt auch der zweite Aspekt. Zu 2: Wie schon in den Anmerkungen zur Schrift Über den gegenwärtigen Zustand des deutschen Parnasses und dem Aufsatz Über deutschen Patriotismus wird die griechische Staatenwelt als Einheit in der Mannigfaltigkeit geschildert.423 Bereits im dritten Brief des Romans, an Demokles von Cyrene gerichtet, referiert Aristipp ein Gespräch eines ,Unbekannten‘ – später als der Kyniker Antisthenes enttarnt – mit einem Eleer, das eine wesentliche Grundlage jener griechischen Eintracht thematisiert, die Wieland in Deutschland um 1800 vermisste: die Feierlichkeiten der olympischen Wettkämpfe. Für den Eleer handelt es sich um ein würdiges „Nazionalinstitut“, das gerade weil es kein „Wettstreit um den Vorzug an Weisheit und Tugend“ sei, ihren maßgeblichen Beitrag zur Eintracht aller Griechen liefere. Tugend und Weisheit hingegen bedürften nicht des Beifalls der Menge. Noch vor den anderen Instituten verdienten die olympischen Wettkämpfe großes Lob: Kein anderes vereiniget eine so große Menge Griechen aus allen Städten und Landschaften der ganzen Hellas an Einem Orte zu gemeinschaftlichen Feierlichkeiten, Opfern, Gastmählern und Ergetzungen.424

Während des Olympischen Friedens erinnert sich die „in so viele Stämme und Zweige verbreitete Nachkommenschaft Deukalions“ an ihren „gemeinsamen Ursprung“, die „gemeinschaftlichen Götter und Tempel“, die „gemeinschaftliche Sprache und das große Interesse[,] unsre Unabhän-

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ist, die in jedem Menschen regieren sollte.“ Wieland: Aristipp, S. 215 f. (Brief an Learchus). Vgl. Reemtsma: Das Buch vom Ich, S. 73 ff. Vgl. ebd., S. 82 f. Wieland: Zusätze des Herausgebers zu dem vorstehenden Artikel, 4) „Der Eifer, unsrer Dichtkunst einen National=Charakter zu geben“, in: GS, Bd. 21, S. 30 f.; Wieland: Über deutschen Patriotismus, in: GS, Bd. 15, S. 589 f. Wieland: Aristipp, S. 30. (Brief an Demokles von Cyrene).

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gigkeit gegen auswärtige Mächte zu behaupten“, wie nirgend sonst.425 In seinen politischen Schriften stellt Wieland die Einheit der Griechen durch Feste, religiöse Riten und Spiele – Bindungen, die in Gefahr auch zur politischen Eintracht führten – als vorbildlichen, allerdings auch dort nicht vorbehaltlos idealisierten Kontrast der deutschen Zerteilung gegenüber.426 Die Idealisierung der griechischen Einheit im Roman ist jedoch ganz aus der Perspektive eines gut argumentierenden, aber pro domo, für seine eigene Polis denkenden Profiteurs der Spiele formuliert. Anders als dem Eleer gelten sie dem Philosophen als barbarische Einrichtungen, die im Widerspruch zum Geist der Humanität und des Kosmopolitismus stünden. So polyphon der Wert und Unwert der vorgeblichen nationalen Eintracht Griechenlands in diesem Gespräch verhandelt wird, so differenziert erscheint auch der Blick auf den politischen Kontext. Natürlich wird die Rolle Athens als heimliche Hauptstadt der griechischen Welt und „stolze Königin der Städte“427 diskutiert – auch das ein vielbeklagtes Defizit der hauptstadtlosen Welt des Alten Reichs. Im Hintergrund der Briefe stehen aber nicht Friede und Einheit, die durch Feierlichkeiten wie die Olympischen Spiele und die Leuchtkraft Athens gesichert wären, sondern der Kampf zwischen den konkurrierenden ,Hauptstädten‘ Sparta und Athen und der ungeheure Egoismus der einzelnen Poleis. Ihr Verhalten stellt letztlich die Freiheit des Ganzen in Frage. So grundieren Aristipps und Hippias Briefe auch ein durch und durch kritisches Bild Athens, dieser „Proceßreichen Republik“428, deren „grenzenlose Eitelkeit […] ihre Vergrößerungs-Projekte immer über alle Möglichkeit ins Unendliche hinaustreibt, nichts berechnet, nichts vorhersieht“429. Das ,Wettkriechen‘ der Poleis am persischen Hof und dessen geschickte Einflussnahme kontrastieren das Idealbild der Eintracht mit der Realität des Eigennutz’. Den Persern gelingt es so, die Griechen in immerwährender innerlicher Gärung zu erhalten, und, ohne sehr großen Aufwand, durch seinen politischen Einfluss gerade so viel Gleichgewicht unter diese rastlos hin und her schwankenden Freistaaten zu bringen, als für das Interesse des Persischen Reichs und die allgemeine Ruhe der Welt nötig ist.430 425 Ebd., S. 31 426 Wieland: Über deutschen Patriotismus, in: GS, Bd. 15, S. 589 f. 427 Wieland: Aristipp, S. 617 f. (Brief an Antipater); ebd., S. 43 – 45 (Brief an Kleonidas). 428 Ebd., S. 43 (Brief an Kleonidas). 429 Ebd., S. 499 (Hippias an Aristipp). 430 Ebd., S. 500 (Hippias an Aristipp).

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Man kann die Parallele der „alte[n] Zwietracht der Söhne Deukalions“431 und der diagnostizierten Scheinheiligkeit vom Geist des spartanischen Antalkidas-Friedens zu den Ereignissen der deutsch-französischen Koalitionskriege kaum übersehen. Auch der Dualismus zwischen Sparta und Athen muss unweigerlich an die Rivalitäten zwischen den Habsburgern und den Hohenzollern gemahnen. Über den deutschen Fürsten des späten 18. Jahrhunderts und den „die wahre Freiheit und ihr wahres Interesse ewig verkennenden Freistaaten“432 liegt, mit gewisser Vereinfachung gesprochen, derselbe Fluch: Sie missbrauchen ihre freiheitliche Ordnung, da ihnen das nötige Bewusstsein für das gemeinsame Interesse im Geiste des Kosmopolitismus abhandenkam. Ein Staat, der von seiner Unabhängigkeit keinen weisern Gebrauch macht als wir, und es immer nur darauf anlegt, Alles rings um sich her zu unterdrücken und seiner Willkür zu unterwerfen, ist eben so unfähig als unwürdig seine eigene Freiheit zu behaupten, und bereitet törichter Weise die Fesseln sich selbst, die er unaufhörlich für alle andre schmiedet. Aber wie weit sind wir Athener noch entfernt, uns eine solche Katastrofe der ewigen Tragödie, die wir in Griechenland spielen, träumen zu lassen?433

Athen und Griechenland sind kein Ideal, sondern bergen für Aristipps Schüler Antipater lediglich die Möglichkeit in sich, (wieder) ein Ideal zu werden – wie die Reichsverfassung in den Träumen mit offenen Augen: wenn ich bedenke, was sie erst sein könnte, wenn sie den Gesetzen und Verfassungen ihres eben so klugen als weisen Solons treu geblieben wäre! – Was sie jetzt noch werden könnte, wenn sie anstatt ihrer stürmischen Volksherrschaft sich eine wohlgeordnete Aristokratie gefallen lassen, und statt der gefährlichen Eitelkeit, auf ihre eigenen und der ganzen Hellas Kosten nach einer Obergewalt, die ihr nie gutwillig zugestanden wird, zu streben, sich an dem hohen Vorzug begnügen wollte, das zu sein wozu ihr Name selbst sie bestimmt […].434

Der welterfahrene Aristipp warnt allerdings – Sinibald im Dialog über die Reichsverfassung vergleichbar – vor dem Glauben der Utopisten, in den Lauf der Geschichte eingreifen zu können.435 Was Wieland in den Gesprächen unter vier Augen für das Alte Reich beschreibt, entdeckt er im Untergang der griechischen Poleiswelt wieder: Beide Projekte der Vielstaatlichkeit sind aus dem nämlichen Grund gescheitert. Während Wie431 432 433 434 435

Ebd., S. 614 (Antipater an Aristipp). Ebd., S. 659 (Brief an Eurybates). Ebd., S. 767 f. (Eurybates an Aristipp). Ebd., S. 610 (Antipater an Aristipp). Cölln: Philologie und Roman, S. 72 – 77.

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land einen Reformentwurf lanciert, der zur größeren staatlichen Verdichtung des Reichs führen sollte und damit dem Reich jene Macht verschafft hätte, die nötig gewesen wäre, um die Reichsintegrität gegen Frankreich zu verteidigen,436 lobt Aristipp pragmatisch-nüchtern die vereinigende Wirkung der Monarchie und setzt seine Hoffnung auf eine staatliche Umgestaltung Griechenlands, die wiederum zur Verteidigung gegen Persien dienlich sei: Inzwischen erheben sich im nördlichen Griechenlande, wie uns neuerlich ein reisender Byzantiner berichtet, zwei neue Mächte; eine seit ungefähr vierzig Jahren unvermerkt heran gewachsene Republik, und ein vor kurzem noch unbedeutender Fürst; welche, wenn man ihren raschen Fortschritten noch einige Zeit so gleichgültig wie bisher zusehen würde, beide der bisherigen Verfassung der Hellenen eine große Veränderung drohen. Du siehest das ich von Olynthus in der Chalcidice und von dem Theassalischen Fürsten Jason rede, der […] kein Geheimnis mehr daraus macht, dass er nichts geringeres vorhabe als […] die Macht des gesamten Griechenlands […] zusammen zu drängen, um sodann, an der Spitze aller Abkömmlinge Deukalions, das Griechische Asien auf immer vom Joche der Perser zu befreien. Meiner Meinung nach könnte euern übelberatenen, die wahre Freiheit und ihr wahres Interesse ewig verkennenden Freistaaten nichts glücklicheres begegnen, als wenn es diesem edlen Theasslier gelänge seinen großen Gedanken auszuführen.437

Vergleichbare Argumente finden sich vorher mit Blick auf die Magna Graecia. Gegner der vielen Poleis ist hier Karthago. Hoffnungsträger für die Verdichtung der nur durch kulturelle Bande zusammenhägenden Griechen ist die mächtige Stadt Syrakus mit ihrem Tyrannen Dionysios. Aristipp zeigt sich überzeugt, „daß ohne ein gemeinschaftliches Oberhaupt, welches alle Städte Siciliens dazu vermögen kann, ihre Stärke gegen den gemeinschaftlichen Feind, die Karthager, zu vereinigen“438, der Untergang des sizilianischen Griechentums drohe. Eine Diskussion um die Vor- und Nachteile eines Monarchen gegenüber einer Republik und die Möglichkeit seiner gesetzmäßigen Be436 Reemtsma sieht diesen Bezug nicht, vermeint vielmehr im Aristipp eine Bestätigung zu finden, dass Wieland „gegen die patriotischen Projekte von einem vereinten Deutschland Stellung“ nähme. Reemtsma: Das Buch vom Ich, S. 113. 437 Wieland: Aristipp, S. 658 f. (Brief an Eurybates). Aristipp fährt relativierend fort: „Ärgere dich nicht, lieber Eurybates, mich so filotyrannisch reden zu hören; meine Vorliebe zur Monarchie dauert gewöhnlich nur so lange, als ich in einem demokratischen oder oligarchischen Staat lebe, und ich bin der Freiheit nie wärmer zugetan, als da wo ein Einziger alle Gewalt in den Händen hat. Ein weiser und edel gesinnter Monarch weiß jedoch beides sehr gut mit einander zu vereinigen […].“ 438 Ebd., S. 190 (Brief an Learchus zu Korinth).

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schränkung entscheidet Aristipp für sich, da sich schließlich „die Mehrheit der Stimmen“ mit der Devise einverstanden erklärt, „daß ein Volk, das sich bei der politischen Freiheit nie recht wohl befunden“, mehr gewonnen habe, sich einem „klugen und tapfern Alleinherrscher“ bereitwillig anzuvertrauen, anstatt ihn durch „heimliche Anschläge gegen seine Personen zu tyrannischen Maßregeln zu zwingen“439. Unverblümt äußert Aristipp in einem Brief an Hippias daher den Wunsch einer vereinheitlichenden syrakusanischen Monarchie in Sizilien: Mache mir die Freude, lieber Hippias, recht bald Nachricht von dir und dem schönen Syrakus zu erhalten, und von euerm Tyrannen, den ich ohne Bedenken zum Selbstherrscher aller eurer Demokratien und Oligarchien krönen würde, wenn König Jupiter, dessen Statthalter (nach Homer) die bezepterten Herren auf Erden sind, mir sein Machtvollkommenheit nur auf eine halbe Stunde überlassen wollte.440

Hippias pflichtet seinem Freund bei, solang sich die Herrschaft nur auf Sizilien erstrecke. Wenn Dionysios aber „zum Autokrator aller Demokratien und Oligarchien in Griechenland“ erhoben werden solle, müsse wenigstens ein „einzige[r] Freistaat von hinlänglicher Größe“ „in der Unabhängigkeit erhalten“ werden, damit man Zuflucht suchen könne, sobald sich der „Jupiter“ in einen „Tyrannen“ verwandle.441 Wieland bleibt also seinem ,solonischen Prinzip‘ treu und perspektiviert die unterschiedlichen Herrschaftsformen. Eine klare Präferenz für ein Angebot aus dem Kreislauf der sich abwechselnden Verfassungsformen lässt sich nicht erkennen.442 Ganz offenbar zieht der einstige Wahlschweizer und Republikaner aber aus der Geschichte Griechenlands ein für den griechischen Freiheitsgedanken (Autonomia und Autarkia) wenig schmeichelhaftes Fazit. Athen könne der Welt mehr dienen, wenn es zu „einer Munizipalstadt irgend eines großen Reiches“ geworden sei und so „ihre[r] Ruhmbegierde“ und „ihren dermaligen Ansprüchen auf ewig entsagen“ würde.443 „[G]oldene[] Mittelmäßigkeit und Genügsamkeit eines unbeneideten Glücks“444 erscheinen Aristipp wie dem alten Wieland als attraktives Ziel, das am besten in einem monarchischen Bundesstaat zu verwirklichen wäre, der machtvoll genug ist, nach innen Frieden und 439 440 441 442

Ebd., S. 197 (Brief an Learchus zu Korinth). Ebd., S. 252 (Brief an Hippias). Ebd., S. 262 (Hippias an Aristipp). Vgl. zu beidem: Manger, Klaus: Klassizismus und Aufklärung. Das Beispiel des späten Wieland, Frankfurt a.M. 1991, S. 169 – 202. 443 Wieland: Aristipp, S. 618 (Brief an Antipater). 444 Ebd.

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Ordnung zu sichern und sich nach außen zu verteidigen. Auf Basis einer solchen negativen Freiheit eröffnet sich der Spielraum für die kosmopolitischen Ambitionen des Dichters. Die Parallele zu Sinibalds Vision eines neuen Germaniens aus den Träumen mit offenen Augen, die ja wie hier ihren Ausgang in der äußeren Bedrohung und der daraus resultierenden Notwendigkeit zur Verdichtung nahm, ist nicht zu übersehen. Den Reflexionen zu den Verfassungen der einzelnen Städte, insbesondere Kyrenes, sind daher die Überlegungen zu einer neuen gesamtgriechischen ,Verfassungsreform‘ an die Seite zu stellen, die aus dem Bedürfnis der eigenen Gegenwart, der Analogie zwischen dem Reich und dem vielstaatlichen Griechenland herrühren. Wie in den Träumen mit offenen Augen bleibt der Ausgang allerdings ganz im Ungewissen. Einstweilen vermitteln allein die Briefe eine verlässliche Einheit unter den Kosmopoliten der alten Welt, während die Philosophie des Protagonisten Trost spendet. Aristipp vertritt eine epikureisch-eudämonistische Lebensphilosophie, die individualistisch und pragmatisch-diesseitig ausgerichtet ist und sich dem abstrakten Idealismus und Dogmatismus Platons verwehrt. In der Frage des Todes rückt die Horazische Leitformel der aristippeischen Philosophie – Sibi res, non se rebus submittere – in die Nähe der stoischen Resignation in die Notwendigkeit.445 In einem Brief an Laiska heißt es über den Tod des Sokrates: Um uns die gezwungene Unterwerfung unter das eiserne Gesetz der Nothwendigkeit erträglicher zu machen, gibt es wohl kein besseres Mittel, liebe Laiska, als uns des großen Vorrechts zu bedienen, womit die Natur den Menschen vor allen anderen lebenden Wesen begabt hat, ,daß es in seiner Macht steht, bloß durch eine willkürliche Anwendung seiner Denkkraft, wo nicht allen, doch gewiß dem größten Theil der Übel, die ihm zustoßen, den Stachel zu benehmen, indem er sie aus dem düstern Licht, worin sie ihm erscheinen, in ein freundlicheres versetzt […].‘446

Aristipps ars vivendi, die antikphilosophische Selbstsorge zum Erhalt der Eudämonie und Sophrosyne in allen Lebenslagen, wirkt für die Negativ445 „Kurz, er kann alles genießen, alles entbehren, sich in alles schicken; und die Dinge außer ihm werden nie Herr über ihn, sondern er ist und bleibt Herr über sie. – – Das ist’s, denke ich, worin Horaz dem Aristipp ähnlich zu werden suchte, worin er ihm wirklich sehr ähnlich war, und was er durch sein mihi res, non me rebus, sagen wollte.“ Wieland, Christoph Martin: Erläuterungen, in: ders.: Übersetzung des Horaz, hrsg. v. Manfred Fuhrmann, Frankfurt a.M. 1986, S. 65. Vgl. zur Philosophie im Aristipp: Manger: Klassizismus und Aufklärung, S. 126 – 151; Kimmich: Epikureische Aufklärungen, S. 200 – 208. 446 Wieland: Aristipp (Brief an Lais), S. 244.

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erlebnisse im Privaten wie im Politischen immunisierend und stabilisierend: Sei es der Tod des Sokrates, der Tod Kleombrots und das Ende seiner Lais oder der unaufhaltsame Kreislauf der Verfassungen in Athen, Syrakus und Kyrene. Aristipps Philosophie ist umfassende Lebensweisheit und damit zugleich die geeignete Antwort auf die politische Krise in Wielands eigener Welt. Sie ist nicht, wie die stoische, die Philosophie des Staats-, sondern des sich beschränkenden, glücklichen Privatmanns.447 Kurz nach Fertigstellung des Aristipp 1802 war das Reich weit entfernt von einer Verdichtung, die der politischen Erfahrung des Romangeschehens entsprochen hätte. Im Gegenteil: Der Reichsdeputationshauptschluss präfigurierte vielmehr die Niederlegung der Kaiserkrone vom 6. August 1806. Politisch wie philosophisch führte der Weg Wieland zu Cicero, dessen Briefe zu übersetzen ihm geradezu wie ein Therapeutikum erschien. 3.2.2 Die Cicero-Übersetzung als Palliativum Warum bürdet sich ein alter Mann von 75 Jahren die Mühe einer solchen Übersetzungsleistung auf, fragt Wieland in der Vorrede seines ersten Bands.448 „Mit dem 1sten November 1806 wurde der Anfang mit so gutem Erfolge für mich selbst gemacht, daß ich von allem, was rings um mich vorgieng, wenig gewahr wurde.“449 Ein Grund war jedenfalls das Entsetzen über den Reichsuntergang, den der Dichter hellwach verfolgte. Am 1. September 1806 drückt er gegenüber La Roche nicht nur seine Betroffenheit über den Verlust der Reichsverfassung aus, er stellt ihn den Deutschen auch als eigenes Versagen in Rechnung: Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen in welchem Grad ich an allem, was seit Jahren u Tagen in unserm unglücklichen, durch die natürlichen Folgen seiner (unverantwortlicher Weise in wesentlichen Stücken immer mangelhaft gebliebenen) Verfassung noch mehr als durch äussere Gewalt endlich zusammengestürzten Vaterlande vorgegangen ist und täglich vorgeht, Antheil nehme. Aber ich scheine ruhig, weil ich schweige, und ich schweige, weil die Zeit vorbey ist, wo reden etwas helfen konnte – aber nichts geholfen hat, weil diejenigen nicht hören, nicht lesen, nicht denken wollten, deren Pflicht es war, für das Ganze zu sorgen und thätig zu seyn.450 447 Vgl. Wieland: Erläuterungen, S. 58. 448 Wieland, Christoph Martin: Vorrede, in: ders.: M. Tullius Ciceros Sämmtliche Briefe, übersetzt und erläutert von C. M. Wieland, Bd. 1, Zürich 1808, S. I–XXIV, hier S. XV. 449 Ebd., S. XVII. 450 Wieland an Marie Sophie von La Roche, 1. Sept. 1806, Nr. 92, in: WBr, Bd. 17,1, S. 112.

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Wie in den Gesprächen unter vier Augen lastet der Dichter den Untergang des Alten Reichs den Fürsten an, da sie ihrer Pflicht für das Allgemein Beste zu sorgen, nicht nachgekommen seien. Doch noch in dieser „apokalyptische[n] Zeit“ hofft Wieland auf eine Resurrektion des Reichsverbands: Gebe der Himmel unserm nun völlig aufgelösten Deutschen Reich nur baldmöglichst wieder eine ruhige und friedliche Verfassung; daß sie nur leidlich werde, dafür müssen u wollen wir dann selbst sorgen. […] Wer kann diese, auf einer einst so glorreichen Nation, so schwer lastende Schmach ertragen?451

Wolfgang Burgdorf stellt die beiden zitierten Briefe in den Kontext seiner allgemeinen wahrnehmungsgeschichtlichen Untersuchung zum Reichsuntergang. Sowohl die Tendenz, über die Ereignisse nicht reden zu können bzw. zu wollen, gleichsam zu verstummen, als auch die damit verbundene innere Emigration, die nicht selten mit kulturellen Kompensationsleistungen einherging, scheinen ihm charakteristisch für die deutschen Intellektuellen der Zeit.452 Wohlgemerkt: Nicht während des 18. Jahrhunderts ventilierte Wieland die deutsche Kulturnation als Surrogat für die fehlende Staatlichkeit, sondern ausdrücklich umgekehrt durch den Untergang des Reichs und damit den Verlust der verbindenden politischen Struktur! Die angestammte Verfassung, in welcher und durch welche die ungleich größere Mehrzahl (wiewohl von vielen unerkannter und undankbarer Weise) so glücklich war, zertrümmert! Die Deutschen nicht länger ein Volk, nur noch Sprachgenossen! Und ach! Wie lange wird uns auch nur dieses Band zusammenhalten? 453

Während sich mancher an den trojanischen Untergang gemahnt fühlte – „nam fuimus Troes!“, schreibt Karl Leonhard Reinhold an seinen Schwiegervater454 – erinnert der Dichter wahlweise an den Untergang der griechischen Freistaaten, des Römischen Imperiums455 oder, häufiger, an jenen der Römischen Republik. Der Übersetzung der Cicero-Briefe misst 451 Wieland an Karl August Böttiger, Mitte September 1806, Nr. 103, in: WBr, Bd. 17,1, S. 129. 452 Vgl. Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 167 ff., 200 ff., 208 ff. Zu den oben genannten Briefen an Böttiger und La Roche: ebd., S. 193 f. 453 Wieland an Elisabeth Charlotte Ferdinande zu Solms-Laubach, 8. Mai 1809, Nr. 524, in: WBr, Bd. 17,1, S. 596. 454 Karl Leonhard Reinhold an Wieland, Anfang November 1806, Nr. 118, in: WBr, Bd. 17,1, S. 141 f. Dazu: Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 208 ff. 455 Wieland an Elisabeth Charlotte Ferdinande zu Solms-Laubach, 16. bis 24. August 1810, Nr. 153, in: WBr, Bd. 18,1, S. 170.

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er als Tätigkeit eine kompensative Funktion bei, während ihm die Analogie zwischen dem ,toten Latein‘ und der deutschen Sprache, die nun nach dem Reichsende in Gefahr schwebe, auf ewig vergessen zu werden, besorgt stimmt.456 Wie wahrscheinlicht ist es, daß die Sprache, in welche ich mit so vieler Mühe die Briefe Cicero’s übertrage, in weniger als 100 Jahren selbst eine todte Sprache, oder doch ein so jämmerliches Kauderwälsch sein wird, daß kein honnetter Mensch sie mehr reden noch schreiben mag? Das sind keine herzfreuenden Aussichten!457

Dennoch versucht sich Wieland mit dieser Tätigkeit „aus der schrecklichen, trostlosen, Gegenwart“ „in das Classische Land“ zu retten, „in eine[] Zeit, die mit der unsrigen gerade so viel Aehnlichkeit hat, daß sie mir desto interessanter wird“458. Die Übersetzung – direkt nach dem August 1806 begonnen – ermöglicht Wieland aufgrund der Analogie der Zeiten in ästhetische Distanz zum Reichsuntergang zu treten und sich darüber hinwegzutrösten, dass er sein Werk vielleicht ins Nichts hinaus schreibt, da die deutsche Sprache vielleicht bald „zehnmal todter sein wird als die Römische“459. Eine Sprachnation ohne stützende und schützende Staatlichkeit kann aus Wielands Sicht nicht lange Bestand haben. Im März 1811 weist er Elisabeth Charlotte Ferdinande zu SolmsLaubach auf die Übersetzung hin und expliziert den Gegenwartsbezug: […] und ich bin versichert, schon in 500 Jahren wird das allgemeine Urtheil uber das Siecle de Napoleon demjenigen sehr ähnlich sein, welches wir izt über das Jahrhundert Julius Cäsars und Augusts fällen. In der That ist die Ähn456 Auf diesen Gegenwartsbezug wurde schon knapp hingewiesen: Kerkhecker, Arnd: Cicero, in: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v. Jutta Heinz, Weimar/Stuttgart 2008, S. 433 – 445, hier S. 441 f. 457 Wieland an Elisabeth Charlotte Ferdinande zu Solms-Laubach, 8. Mai 1809, Nr. 524, in: WBr, Bd. 17,1, S. 596 f. 458 Wieland an Gräter, 20. Dez. 1807, Nr. 278, in: Bd. 17,1, S. 292 ff. So auch in der Vorrede: „Ich fühlte damahls ein zweyfaches dringendes Bedürfniß in mir, ohne dessen unmittelbare Stillung ich nicht länger ausdauern zu können glaubte: das Eine war, mich je bälder je lieber aus einer fürchterlich einengenden Gegenwart in eine andere Welt, in eine Zeit und unter Menschen, die längst nicht mehr waren, wo möglich unter lauter colossalische Menschen vom Titanen und Gigantenstamme, zu versetzen, […] [das Andere], daß ich die Welt mit dem Troste verlassen könnte, die letzten Jahre oder Tage meines Lebens nicht ohne alles Verdienst um meine geliebten – Sprachgenossen zugebracht zu haben.“ Wieland: Vorrede, in: ders.: Ciceros Sämmtliche Briefe, Bd. 1, S. XVf. 459 Wieland an Böttiger, 25. April 1809, Nr. 510, in: WBr, Bd. 17,1, S. 588 ff. hier S. 589.

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lichkeit zwischen der Geschichte des auf einen einzigen derben Stoß zusammengefallnen Deutsch-Römischen Reichs (aus dessen Ruinen wir, mehr oder weniger beschädigt, wieder hervor kriechen) mit dem zu Cicero’s Zeit erfolgten Umsturz der Weltbeherrschenden Römischen Republik, sehr auffallend – ist es so sehr, daß ich gewiß bin, wenn Meine Fürstin in dem Exemplar des IVten Bandes der Briefe Ciceros welches in 6 Wochen in Ihren Händen sein wird, alle auf unsre Zeit die größte Beziehung habenden Stellen mit rother Dinte unterschreichen wollten, die Druckerfarbe von der rothen beinahe verschlungen werden würde.460

Die Vorrede zum ersten Band der Übersetzung betont zwar den „weltbürgerlichen Gesichtspunct“461 der Kommentare und Einleitungen, verschweigt aber nicht den nationalgeschichtlichen Kontext. Die Wiederkehr eines zyklischen Geschichtsdenkens, das von dem aufgeklärten Fortschrittsoptimismus denkbar weit entfernt ist, kommt nirgends deutlicher zum Ausdruck als hier: Alles Vergangene kommt, wie es scheint, in einer Art von Kreislauf der Zeiten, in mehr oder minder veränderter Gestalt wieder. Die alte Geschichte ist eine Art von Orakel zur Belehrung und Warnung derjenigen, deren Geschichte in tausend Jahren die alte seyn wird: nur Schade, daß diese prophetische Stimme das Schicksal der Weissagungen der Trojanischen Cassandra hat: man versteht sie nicht, weil man sie nicht verstehn will; man glaubt ihr nicht, weil man keine Lust hat ihr zu gehorchen. 462

Ciceros Kampf für das Allgemein Beste der Republik wirkt vorbildlich und weist Parallelen zum Selbstverständnis seines Übersetzers auf, sah Wieland doch in der Ignoranz seines Goldnen Spiegels oder seines Verfassungsentwurfes durch die deutschen Fürsten, wie bereits zitiert, ein Exempel für die Ursachen des Reichsuntergangs.463 Wielands Hinweis aus dem Brief an zu Solms-Laubach folgend können die im dritten und vierten Band der Cicero-Übersetzung abgedruckten 460 Wieland an Elisabeth Charlotte Ferdinande zu Solms-Laubach, 4. März 1811, Nr. 221, in: WBr, Bd. 18,1, S. 248 f. 461 Wieland: Vorrede, in: ders.: Ciceros Sämmtliche Briefe, Bd. 1, S. VII. 462 Ebd., S. VIIf. 463 „Diesen wirklich oder scheinbar Wohlgesinnten war Cicero während dem ganzen Lauf seines öffentlichen Lebens aufrichtig beigethan, und, wenn er seine Art zu denken im Senate hätte allgemein machen können, möchte die Republik, ihrer ungeheuren Größe ungeachtet, noch mehr als Eine Generation überlebt haben.“ Wieland: Chronologischer Auszug aus Cicero’s Lebensgeschichte, in: ders.: Ciceros Sämmtliche Briefe, Bd. 1, S. 1 – 118, hier S. 30. Vgl. Wieland an Marie Sophie von La Roche, 1. Sept. 1806, Nr. 92, in: WBr, Bd. 17,1, S. 111 ff.; Wieland an Elisabeth Charlotte Ferdinande zu Solms-Laubach, 16.–24. August 1810, Nr. 153, in: WBr, Bd. 18,1, S. 166 ff.

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historischen Einleitungen in der Tat auf das Reichsende übertragen werden. Ciceros Briefe aus der zweiten Hälfte seines Lebens, so kündigte Wieland schon im ersten Buch an, seien eine reichhaltige historische Quelle, nicht nur für dessen Biographie, sondern auch, um den Niedergang der Römischen Republik zu studieren und das Ende der „colossalischen Menschen […] unter den Trümmern dieses ungeheuren Riesenstaates“464 zu beobachten. Der Mangel an bürgerlichen Tugenden und der fehlende Einsatz für das Gemeinwohl mussten zum Zusammenbruch der Republik führen. Wieland spricht von der „schon lange todkranke[n] Republik“, die einem „Gespenst“ geglichen habe, nachdem sie von ihrem „Lebensprincip, dem Gemeingeist, der Religion des Gesetzes und der kindlichen Vaterlandsliebe“ „auf ewig“ verlassen worden sei.465 Die einst geliebte Verfassung diente zu Ciceros Zeiten nur noch der Verhüllung eigennütziger Ziele, so die alles bestimmende Erkenntnis. Während die „beyden Rivalen“, Pompeius und Cäsar, den eigentlichen Verfall der Verfassung verheimlichten, da sich noch keiner von ihnen des ,Nachlasses‘ voll bemächtigen konnte, spielten Senat und Volk das leere politische Schauspiel mit, „um doch, wenigstens so lang es noch angehen wollte, im momentanen Besitze der Vortheile zu bleiben, welche Jedes nach seiner Weise aus dem Scheinleben der Republik zu ziehen sich beeiferte“466. Die Einleitung des vierten Bandes porträtiert den „Titular=Imperator Cicero mit seinen sechs Lictoren und ihren belorbeerten Stäben“467 mit genauso großer Sympathie wie Mitleid. Der „Contrast seiner Denkart mit den Gesinnungen und Zwecken der damaligen Machthaber“468, das Wissen darum, dass die sogenannten „Gutgesinnten“ nur „um ihrer Privatvortheile willen den Schild des Patriotismus“469 trügen, ließ Cicero und mit ihm unverkennbar den alten Wieland orientierungslos in das anbrechende politische Zeitalter blicken.

464 Wieland: Chronologischer Auszug aus Cicero’s Lebensgeschichte, in: ders.: Ciceros Sämmtliche Briefe, Bd. 1, S. 118. 465 Wieland, Christoph Martin: Historische Einleitung, in: ders.: M. Tullius Ciceros Sämmtliche Briefe, übersetzt und erläutert von C. M. Wieland, Bd. 3, Zürich 1809, S. 3 – 34, hier S. 3. 466 Ebd., S. 4. 467 Wieland, Christoph Martin: Historische Einleitung, in: ders.: M. Tullius Ciceros Sämmtliche Briefe, übersetzt und erläutert von C. M. Wieland, Bd. 4, Zürich 1811, S. III–XXX, hier S. XXI. 468 Ebd., S. XXI. 469 Ebd., S. XXII.

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Aus der Krise der Republik entstand das Römische Imperium, was aber drohte dem ,deutschen Reich‘? Wieland sah noch keine Antwort und stärkte sich mit den Exerzitien der Übersetzung. 3.3 Fausts unheiliges Reich „Der ,deutsche‘ Faust ist tot“470, schreibt Peter Michelsen in bundesrepublikanischer Gewissheit und verleiht damit der Erleichterung Ausdruck, dass die Zeiten nationalistischer Verengung auf einen ,nordischen Tatmenschen‘ innerhalb der Faustinterpretationen genauso Vergangenheit sind wie die ,Dämonisierung‘ alles Deutschen im Stile Thomas Manns. Gleichviel ob die jungdeutschen Literaten Faust als tatenarmen, vergeistigten Klassiker und damit als Ausdruck der ,deutschen Misere‘ sahen oder die Nationalstaatsapologeten nach 1871 die faustische Stärke der Deutschen priesen: Die enge Verbindung von ,Faust und die Deutschen‘ wie im Übrigen auch von ,Goethe und die Deutschen‘ sagt meist mehr über den Standpunkt und die Misere des Interpreten aus als über den dichterischen Gehalt des Werks.471 Goethes Faust und der Fauststoff dürfen deshalb aber nicht übervorsichtig um jede Beziehung zur deutschen Politikgeschichte gekappt werden. Gewiss: Fausts Streben hat mit dem Deutschen rein gar nichts zu tun. Thema ist nicht das Nationale, sondern das Menschliche und Kosmische. Zu den traditionellen Motiven innerhalb der Faustliteratur gehört jedoch, wenn auch zweitrangig, von Beginn an das Heilige Römische Reich. Seine Funktion soll mit wenigen Strichen vom Faustbuch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nachgezeichnet werden, um dann an zwei Beispielen zu zeigen, wie sich das Reichsmotiv durch den wachsenden Bezug auf die deutschen Verhältnisse politisieren konnte – satirisch bei Klinger und kritisch-patriotisch bei Soden. Goethe schließt im Faust II an diese Tradition an. Das dort gezeichnete Reichsbild ist aber anders als bei Klinger und Soden Teil seines in den autobiographischen Schriften vollzogenen literarischen Rückblicks auf das Alte Reich und geht so über die konkreten politischen Fragen weit hinaus. 470 Michelsen, Peter: Faust und die Deutschen, in: ders.: Im Banne Fausts. Zwölf Faust-Studien, Würzburg 2000, S. 223 – 237, hier S. 237. 471 Vgl. ebd.; Jasper, Willi: Faust und die Deutschen: zur Entwicklungsgeschichte eines literarischen und politischen Mythos, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 48 (1996), H. 3, S. 215 – 230; Münkler, Herfried: Der Pakt mit dem Teufel: Doktor Johann Georg Faust, in: ders.: Die Deutschen und ihre Mythen, Hamburg 2010, S. 109 – 139.

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3.3.1 Das Reichsmotiv im Fauststoff Schon im Faustbuch des 16. Jahrhunderts tritt Faust als „weitbeschreyte[r]“ Zauberer und Schwarzkünstler am Hofe Karls V. auf und amüsiert, unterstützt durch seinen Gehilfen Mephistopheles, den Kaiser und dessen Gefolge, beschwört etwa den Geist Alexanders des Großen oder zaubert einem Freiherrn ein „Hirschgeweih“ auf den Kopf.472 Zuvor reist er durch die „fürnembste[n] Länder und Städte“, zu welchen z. B. Aachen, die Krönungsstadt der Könige, gehört.473 Mephistopheles führt Faust auch an Nürnberg vorbei und erläutert (fälschlicherweise) zur St.-Lorenz-Kirche, „darinnen hangt des Keysers Zeichen / als der Mantel / Schwert / Scepter / Apfel vnd Kron / deß grossen Keysers Caroli“474. Zwar geht die Reise des Schwarzkünstlers durch die ganze Welt, doch spielen die Szenen großteils erkennbar im Reichsgebiet (in Anhalten, München, Leipzig, Salzburg, Heidelberg etc.). Christoph Marlowe, wiewohl Engländer, baut das Reichsmotiv noch aus: Es wird zum Symbol für Fausts Machtstreben, denn er selbst will über dem Kaiser stehen: „Durch ihn [Mephisto] werd ich der Erde großer Kaiser / Und baue Brücken durch die leichte Luft, / Um übers Meer mit meiner Schar zu ziehen. […] / Der Kaiser soll durch meine Gunst nur leben, / Wie alle Fürsten in dem deutschen Reich […].“475 In Anspielung auf den Kanzleistil und das komplizierte Rechtssystem im Reich fordert Mephisto Faust auf, „den Kontrakt in forma juris“476 zu schreiben. Wie schon im Faustbuch angelegt, trifft den Papst beißender Spott. Faust steht dabei ganz auf der Seite des Kaisers, dem der Papst „stolz“ „trotzen will“, weshalb ihn Faust und Mephistopheles in Gestalt zweier Kardinäle an der Nase herumführen, nicht zuletzt um den päpstlichen Gefangenen Bruno von Sachsen für den Kaiser zu befreien.477 Schließlich verprügeln die beiden Zauberer nicht nur die „Fratres“ und Priester, selbst der Papst erhält eine 472 Vgl. Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Stephan Füssel/Hans Joachim Kreutzer, Stuttgart 1988, S. 77 – 80 (Kap. 33 und 34). 473 „Nit weit davon ligt die Statt Ach / ein stuel deß Keysers / in dieser Statt ist ein ganz Marmelsteinerner Tempel / so der groß Keyser Carolus sol gebawt haben / vnd geordnet / daß alle seine Nachkommen die Kron darinnen empfangen sollen.“ Ebd., S. 64 (Kap. 26). 474 Ebd., S. 65 (Kap. 26). 475 Marlowe, Christoph: Doktor Faustus, übers. v. Wilhelm Müller, München 1911, S. 62. 476 Ebd., S. 70. 477 Ebd., S. 99.

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Ohrfeige.478 Nachdem der Magier später an Karls Hof zur Zufriedenheit des Kaisers für allgemeine Belustigung gesorgt hat, bietet dieser ihm dankbar eine höchst ehrenvolle Stellung an: „Komm, Faustus, komm: so lang dein Kaiser lebt, / Sollst du zum Lohne deines Hochverdienstes / Im deutschen Reiche [the state of Germany] sein Verwalter seyn / Vom großen Karl geliebt bis an dein Ende.“479 Das Reichsmotiv im Spießschen Faustbuch wie bei Marlowe trägt keine reichskritischen oder reichspatriotischen Züge. Zum einen dient es als authentischer Hintergrund, um die pseudohistorische Faustsaga zu plausibilisieren, und zum anderen tritt der Kaiser als höchstes weltliches Würdenamt auf – eine geradezu allegorische Station in der Lebensgeschichte des Protagonisten. Reichspolitisch relevant wurde der Fauststoff im Folgenden nur insofern als sich die unterschiedlichen ,Faustvariationen‘ in den sogenannten Faustsplittern des 17. und 18. Jahrhundert oft aus der konfessionellen Konstellation der Reichsterritorien erklären. Die genannten Orte und Anspielungen wurden je nach territorialpolitischen Voraussetzungen verändert und angepasst.480 Die Funktion des Reichs innerhalb der Dichtung blieb aber cum grano salis dieselbe wie schon im Faustbuch und bei Marlow.481 Auch ist davon auszugehen, dass die Zunahme derber und komischer Elemente482 nicht unerheblich zu einem weitgehend unpolitischen Reichsmotiv bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts beitrugen. Mit Lessings 17. Literaturbrief beginnt, wiewohl es ihm um ein Drama der Menschheit und Wissenschaft zu tun war, die Nationalisierung des Fauststoffs: Er nennt die Figur einen Liebling Deutschlands, dem ein „deutsches Stück“ aus lauter Szenen in Shakespeare-Manier gewidmet werden müsse.483 Im Journal von und für Deutsche schreibt Schmid vierzig Jahre später Ueber die verschiedenen poetischen Behandlungen der Natio478 Vgl. ebd., S. 110. 479 Ebd., S. 125. 480 Vgl. Henning, Hans: Die Faust-Tradition im 17. und 18. Jahrhundert, in: ders.: Faust-Variationen, S. 153 – 191, hier S. 168 f.; Niggl, Günter: Die Fausttradition vor Goethe, in: Faust, modernisation d’un modèle, hrsg. v. Béatrice Dumiche/ Denise Blondeau, Paris 2005, S. 19 – 35, hier S. 22 ff. 481 Vgl. Tille, Alexander/Kippenberg, Anton/Stumme, Gerhard (Hrsg.): Die Faustsplitter in der Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts, Weimar 1898/1900. 482 Henning: Faust-Tradition, S. 169 ff. 483 Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend, 17. Brief, in: ders.: Werke, Bd. 5, S. 70 – 73. Vgl. Henning, Hans: Faust-Dichtung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: ders.: Faust-Variationen. Beiträge zur Editionsgeschichte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, München u. a. 1993, S. 193 – 206, hier S. 194 ff.

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nallegende [!] vom Doctor Faust, der eine große Bedeutung bei der vorherrschenden Tendenz, „Dichtkunst so sehr, als möglich, zu nationalisiren“, beigemessen werden müsse.484 Explizit das politische Reich der Gegenwart wird schließlich erst bei Klinger und Soden verhandelt – kaum zufällig während der Reichskrise in den Koalitionskriegen. Der Stürmer und Dränger Friedrich Maximilian Klinger brach sein rechtswissenschaftliches Studium in Gießen zugunsten der Literatur ab, erwarb jedoch genügend Kenntnisse über das ius publicum romano-germanicum, um es in mehreren Werken satirisch ausschlachten zu können. Noch in den Betrachtungen und Gedanken kommentiert er nach 1800 fachmännisch die „traurige Lage des deutschen Reichs“ mit harscher Kritik an den Fürsten.485 In Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt (1791) traf daher ein ganz anderes Reichsmotiv mit dem Fauststoff zusammen als es bislang der Fall war. Klingers Kritik an der Reichsverfassung ist von beißender Ironie geprägt und zeigt stark überzeichnet die politischen Defizite Deutschlands auf. Was im Alten Reich während der Revolutionskriege fehlte, ist in der Hölle im Überfluss vorhanden: Im Bild der Teufel, die gemeinsam mit den verdammten Fürsten die Tränen der Leidenden verkosten, zeigt sich ein starker Gemeingeist auf militärisch-feudaler Grundlage: „Nur hier herrscht ein Gefühl, nur in der Hölle herrscht Einigkeit, nur hier arbeitet jeder auf einen Zweck.“486 Grund für die Feierlichkeit ist Fausts Erfindung des Buchdrucks, die dem Teufel dienlich für seine Zwecke scheint, da nun auch die in „Unschuld und Unwissenheit“ Lebenden verführt werden könnten.487 Leviathan erhält den Auftrag, Faust durch die Welt zu führen, bis dieser verzweifle. Die falsch verstandene ,deutsche Freiheit‘, die nur ein Fürstenprivileg sei, der Handel mit deutschen Soldaten u. a. lassen es aber in Leviathans Augen unmöglich erscheinen, einen untertänigen deutschen Bürger für die Hölle zu gewinnen: […] ein Teutscher? Träge Klötze, die sich vor Ansehen und Reichtum, vor allen unnatürlichen Unterscheidungen der Menschen sklavisch beugen, von ihren Fürsten und Großen glauben, sie seien von edlerem Stoffe gemacht als 484 Schmid, C. H.: Ueber die verschiedenen poetischen Behandlungen der Nationallegende vom Doctor Faust in deutscher Sprache, in: Journal von und für Deutschland 9, St. 8 (1792), S. 657 – 671, hier S. 659. 485 Klinger, Friedrich Maximilian: Betrachtungen und Gedanken, Berlin 1958, S. 270. 486 Klinger, Friedrich Maximilian: Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt, in: ders.: Werke in zwei Bänden, ausgewählt und eingeleitet von Hans Jürgen Geerts, Berlin 1970, Bd. 2, S. 25. 487 Ebd., S. 29.

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sie, und ganze Kerle zu sein glauben, wenn sie sich für sie totschlagen oder zum Totschlagen an andre Fürsten verkaufen lassen. Vernimmst du seit Jahrhunderten ein Wort von Empören gegen Tyrannei? Von Kampf und Blutvergießen um Freiheit und die Rechte der Menschheit? Sie glauben sich frei, weil es ihre Fürsten und Bischöfe sind, die sie schinden können, wie es ihnen gefällt. Noch ist keiner von ihnen auf eine stattliche Art zur Hölle gefahren, ein Beweis, daß dies Volk keine sich auszeichnende Köpfe hat.488

Satan freilich kann Leviathan beruhigen, indem er auf die kommende Revolution, „ein Feuer in Teutschland“489, hinweist. Vor allem aber erhebt sich „ein teutscher Doktor Juris“, um „Teutschlands Verteidigung“ gegen den Vorwurf zu übernehmen, die Deutschen seien für die Hölle untauglich. Er verspricht, dass Leviathan das Reich „bald vor allen Ländern Europas zu seinem Aufenthalt“ erwählen werde.490 Ausgerechnet ein Reichsjurist erzwingt mit dem Verweis auf die Reichsverfassung die Aufmerksamkeit der Hölle für Deutschland. Es sei eine „… wahre fürstliche Republik“ unter dem Glanz „eines einzigen Oberhaupts“491: „Kühn fordere ich die ganze Hölle auf“, ruft der Jurist, „mir eine erhabnere Staatsverfassung zu zeigen“: Sagt mir, wo auf Erden glänzt das Feudalsystem, das Meisterstück der Gewalt und des menschlichen Verstandes, in seiner ganzen Pracht als in Teutschland? Wo hat es sich so rein und vollkommen erhalten als in Teutschland? Darum auch ist kein Reich auf Erden glücklicher als mein geliebtes Vaterland. Fürsten- und Herrenrecht auf der einen Seite, auf der andern Gehorsam, wie es sein muß.492

Gerade weil sich die „Staatsbücher“ über die Rechte des gemeinen Manns und die „Rechte der Menschheit“ ausschweigen, seien sie so hervorragend.493 Während die Juristen im Alten Reich vergeblich den Wert der Verfassung preisen, löst der Dr. Juris in der Hölle mit seinem Plädoyer Begeisterungsstürme aus. „Es lebe Teutschland und treibe viele deinesgleichen hervor! Es lebe das Feudalsystem!“494, rufen die Teufel ihm zu. Der eifrige Doktor wird nun gar zum Sekretär der teuflischen Gesandtschaft am „nahen Reichstag“ berufen.495 Zur Bestätigung des Gesagten verweist eine 488 489 490 491 492 493 494 495

Ebd., S. 35 f. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd., S. 37 f. Ebd., S. 38 und 41. Ebd., S. 39. Ebd., S. 42.

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Fußnote auf Johann Jacob Moser: Bei diesem könne alles über die „teutsche Staatsverfassung“ nachgelesen werden, insbesondere inwieweit sich die Verfassung seit dem 15. Jahrhundert verbessert habe, so schreibt Klinger mit unübersehbarer Ironie.496 Auch im weiteren Verlauf finden sich noch zahlreiche satirische Anspielungen auf die Verfassung des Reichs und den eigennützigen Stumpfsinn seiner Bürger. Faust gebietet bei Klinger zwar noch über Mephistos Zauberkraft, er selbst ist aber weder Schwarzkünstler noch Wissenschaftler, vielmehr ein Humanist, der von dem korrupten Bürgermeister, welcher, um „Ritter des Heiligen Römischen Reichs“497 zu werden, sogar seine Frau verschachert, bis zum Eremiten überall Lügen und Egoismus aufdeckt. Den Deutschen stellt der Autor damit ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis aus. Der Epilog fordert im selben sarkastischen Ton dazu auf, bloß das Bestehende zu wahren, die Freiheit zu hassen und die Sklaverei zu lieben, damit es „unseren erhabenen Fürsten, gnädigen Erzbischöfen, gefürsteten Äbten, hochgebornen Reichsgrafen, Baronen, Rittern und frommen Klöstern unsres Vaterlands“ nie an Möglichkeiten gebricht, ihre Macht zu missbrauchen und ihre Untertanen zu unterdrücken.498 Klingers harsche Kritik ist in ihrer Intensität eine Ausnahme. Seine Attacken richten sich freilich nicht gegen die föderale Reichsordnung, sondern gegen den Mangel bürgerlicher Grundrechte und vor allem gegen die politische Trägheit der Deutschen, gleichviel ob gemeiner Mann oder Fürst – und zudem: Auch bei ihm ist das Reich gleichgesetzt mit ,Deutschland‘ und ,Vaterland‘, wenn auch mit denkbar negativen Vorzeichen. Julius Freiherr von Sodens Drama nimmt das Alte Reich aus ganz anderer Perspektive in den Blick. Im Gegensatz zu Klinger hatte der Autor nicht nur sein Rechtsstudium beendet, er wurde auch für BrandenburgAnsbach Gesandter am fränkischen Reichskreis und nach 1792 preußischer Kreis-Directorial-Gesandter.499 Soden, Reichsritter und Volksaufklärer, war daher mit der Reichspolitik sowohl theoretisch als auch praktisch bestens vertraut. Seine Schrift Deutschland muß einen Kaiser haben von 1788 ist eines der reichspatriotischsten Pamphlete der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Koalitionskriege rüttelten daran nicht, wie Re496 497 498 499

Ebd., S. 38, Fußnote 3. Ebd., S. 63. Ebd., S. 211. Hanke, Peter: Ein Bürger von Adel. Leben und Werk des Julius von Soden 1754 – 1831, Würzburg 1988, S. 58 – 70, 118 – 132.

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formvorschläge für die Ritterschaft im Rahmen der Reichsverfassung belegen,500 doch ist die Enttäuschung über den Umgang der Deutschen mit ihrer politischen Ordnung nicht zu übersehen. In seiner Autobiographie hielt Soden (wohl erst nach 1825) fest: Dieses Jahr 1806 war eines der unglücklichsten seines Lebens. Der deutsche Kaiser legte die Krone nieder; der Genius deutscher Freiheit entfloh; der Reichsverband ward sowie die Reichsgesetze aufgelöst; auch die unmittelbare freie Reichsritterschaft und mit ihr S[odens] politische Existenz wurde vernichtet. Tief mußte dies S[oden] nichts weniger als aristokratischen, sondern vielmehr republikanischen Geist, in ächtem reinen Sinne des Wortes beugen.501

1808 versah er sein durch und durch reichspatriotisches Stück Franz von Sickingen mit einer angesichts der Reichsauflösung wütenden Vorrede: „Die teutsche Nation, vielleicht die erste der Welt, ist vernichtet. Selbst ihrem letzten Bande, der Sprache, droht vielleicht der Untergang.“502 Das Stück selbst lobt derart enthusiastisch die alte deutsche Verfassung, dass die großherzogliche Regierung Würzburgs ein Verbot aussprach.503 Sodens literarisch wenig beeindruckendes Faustdrama (1797) diskutiert angesichts des nahenden Endes und ganz im Zeichen seines politischkosmopolitischen Denkens zwischen „Reichspatriotismus und Volksglückseligkeit“504 ebenso die Frage nach dem deutschen Vaterland. Gegen die deutschtümelnden Studenten erwidert Faust: „(Glühend) Vaterland! Vaterland! Hallunken entweiht doch diesen Namen nicht. O daß wir Eins besäßen!“505 Der „Herzensdoktor“506 ist ganz Reichspatriot, verlangt aber eine wahre, will sagen, aufgeklärte, altruistische Vaterlandsliebe, die sich in den Dienst des Gemeinwohls und der allgemeinen Glückseligkeit stellt. Er hofft, dass die waltenden Missstände beseitigt werden, und auf „Frieden! Frieden! Ewigen Frieden“507. Faust schwelgt in seiner Vorstellung: „(schwärmend) Vaterland! Vaterland! O daß ich dem holden Wahne deines 500 Vgl. ebd., S. 98 f. 501 Autobiographie des Julius Grafen von Soden (Gräflich Sodensches Privatarchiv Neustädtles), zit. n. ebd., S. 156. 502 Soden, Julius Frh. v.: Franz von Sickingen. Historisch=romantisches Drama in fünf Akten, neue unveränderte Ausgabe, Leipzig 1819, S. III. 503 Vgl. Hanke: Ein Bürger von Adel, S. 283 Fußnote 22. 504 Vgl. das gleichnamige Kapitel: ebd., S. 96 – 109. 505 Soden, Julius von: Doktor Faust: Volks-Schauspiel in 5 Akten, Augsburg 1797, S. 11. 506 Ebd., S. 29. 507 Ebd., S. 73.

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Daseyns entsagen muß! Dulden wollt’ ich für dich all’ die Qualen der Hölle, ausbluten jede meiner Adern!“508 Hier kann Mephisto eingreifen, indem er über die Vaterlandsliebe zu „Teutschland“ spottet. Es sei doch das Land, „wo Nachbar dem Nachbar fremd ist, in jeder Hofstatt ein eigener Hahn kräht, als sey er Beherrscher des Erdkreises? Die Mauer des Kirchhofs den Ruhm des großen Mannes verschließt, wie seine Asche? Faust! Faust! Hör’ auf zu träumen, weil es noch Zeit ist“509. Mit Hexenmacht will er den Patrioten von der Liebe zu seinem Land trennen, um ihn mit sinnlichem Genuss verführen zu können. Faust aber bleibt standhaft: „Du kannst meine Sinne berauschen, nicht mein Herz.“510 Dass das Vaterland nur ein Wahn des Protagonisten zu sein scheint, liegt nicht an der mangelhaften Verfassung des Landes, sondern an den Menschen selbst. Wie bei Klinger deckt Faust während seiner Reise durch das Reich an jedem Ort Missstände auf, vor allem, toposgetreu, korrupte Amtsleute und schmeichelnde Höflinge. Anders als der Roman zeigt Sodens Drama einen einfachen Weg zur Lösung: Die Missbräuche müssen abgestellt und die Vaterlandsliebe gestärkt werden, dann wäre ein glückliches ,deutsches Reich‘ nicht mehr fern. Faust verdammt die Deutschen nicht, vielmehr sorgt er für Ordnung, vertreibt z. B. die Höflinge und gibt dem Fürsten, der von den Missbräuchen nichts wusste, den Rat: „Der Wohlstand des Bürgers ist die Sicherheit des Lands, und seine Liebe die Wache des Fürsten! – Schüze Eigenthum, dafür bist du da, gieb den Gesezen ihre Kraft, den Landständen die Oberhut der Geseze, ihre Rechte, ihre freie Stimme wieder.“511 Ein liebender Landesvater, eingeschränkt durch die Landstände und Gesetze, ist ganz offensichtlich das typisch reichische Herrschaftsideal Sodens. Nicht nur im Einzelnen, auch insgesamt wirft das Drama die Frage nach dem richtigen Weg zu einem reformierten Reich auf. Bereits Soden stellt dem unrastigen Faust die antike ,Philosophie als Lebensform‘ gegenüber, verbindet sie aber mit dem staatspolitischen Diskurs über die deutsche Vaterlandsliebe. Der Geist des Sokrates rät Faust: „Folge der Natur“, „forsche nach Wahrheit“, finde den „Frieden der Seele“512. Ihm folgt Catos Aufforderung: „Liebe Dein Vaterland.“513 Faust erwidert der Klage über den mangelnden Nationalgeist gemäß „Ha! Ich bin 508 509 510 511 512 513

Ebd. Ebd., S. 74. Ebd., S. 76. Ebd., S. 72. Ebd., S. 62. Ebd., S. 63.

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ein Teutscher“ und erhält darauf die hintergründige Antwort Catos: „Werd’ es! […]. Lerne dir selbst gebiethen, dir selbst gehorchen! Lerne entbehren!“514 Solon rundet die antike Trinität ab, indem er „weise Gesetze“ für das Vaterland einfordert.515 Sodens Faust zeigt nicht nur die Geschichte eines redlichen Menschen, der Gutes will, aber unter dem Einfluss des Teufels immer wieder auf Abwege gerät, er zeigt daneben den Weg Deutschlands zu einem neuen Reich über die Veränderung der Mentalität und über politische Reform. Gegen Ende des Dramas schwört Faust ab, durch die Zaubermittel Mephistos Gutes zu bewirken, da sich Ithuriels Lehre bewahrheitet: „Du strebst die Menschheit zu beglücken und ermordest sie.“516 Man wird im guten Einfluss Ithuriels denselben Engel erkennen dürfen, der als „Schuzgeist Germaniens“ in einem patriotischen Aufruf Sodens an Leopold II. auftritt.517 Faust widersteht dank seiner allen Verführungen, die ihn bis zur Kaisermacht emporgehoben hätten. Seiner Gesellschaftsrolle entsprechend möchte er Haus und Hof gut vertreten, doch gerade jetzt fordern ihn die Bürger heraus, sich an ihre Spitze zu stellen und für Gerechtigkeit zu sorgen: „Wir sind freie Teutsche und man hat uns als Sklaven verkauft. Wir sind freie Teutsche, und die Amtleute und Büttel pressen uns das lezte Mark ab; die Justiz wird verhandelt, der Arme gedrükt. Wir sind freie Teutsche und wollen Gerechtigkeit.“518 Zwischen Familie und Vaterlandseifer hinund hergerissen obsiegt die Letztere: „Teutschland soll wahrhaft frei werden; du der Stifter des jungen Freystaats. Und du wankst noch?“519, rufen ihm die Bürger zu, und er bekennt: „Ich bin ein Bürger Teutschlands und muß!“520 Was wie ein Happy End anfängt, verkehrt sich doch zum tragisch resignierenden Finale, denn Faust muss realisieren, dass die Bürger zwar allerhand fordern, für das Gemeinwohl aber nichts zu geben bereit sind: „Recht so, edle Mitbürger! Ja, ihr seyd freie Teutsche! – Und Freiheit ist des Teutschen edles Kleinod! aber wißt ihr auch, was das heißt?“521 Fausts Frage an das Volk bestätigt erneut die Verbindung des deutschen Freiheitsbegriffs mit der Reichstradition: 514 515 516 517 518 519 520 521

Ebd. Ebd. Ebd., S. 57. Vgl. Soden: Germaniens Schuzgeist an Leopold den Zweyten. Soden: Doktor Faust, S. 92. Ebd., S. 94. Ebd. Ebd., S. 95.

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Wollt ihr den Kaiser ehren und das heilige Reich? V. Ja! Ja! D. F. Und alle rechtmäßige Obrigkeit? V. Wir wollen! D. F. Schwört mirs! V. Wir Schwören! D. F. Nun wohlan! Dann zieh ich mit euch, euren gerechten Beschwerden abzuhelfen, meinem Vaterlande die Freiheit zu erkämpfen, und gälts den lezten Tropfen dieses Bluts! V. Hallo! Hoch lebe Vater Faust, der Retter des Vaterlandes! D. F. […] Ihr wollt beisammen bleiben und wohnen! Ihr wollt Ein Volks ausmachen! […] Teutschland muß wieder Ein Volk werden! Und längst sonnt sich meine Seele an dieser glorreichen Hoffnung! – Aber dazu, Brüder, gehört Kraft, Muth und Opfer! Eures Guts und Bluts, eures Lebens und Haabe!522

Die Forderung, selbst Opfer zu erbringen und mit den „Geistliche[n] und Edelleute[n]“523 nach Recht und Ordnung zu verfahren, löst Protest aus. Vor dem rasenden Volk rettet sich Faust nur, indem er das Siegel Salomons beschwört und damit seine Seele Mephisto übergibt. Nur ein Fehler des tugendhaften Helden ermächtigt ihn dazu: Faust wollte beglücken anstatt nur glücklich zu wissen.524 Sodens Faustdrama ist in typischer Art und Weise reichskritisch und reichspatriotisch zugleich. Anders als bei Klingers Roman handelt es sich um keine Satire, die sich in Spott über die Verfassung und den Charakter der Deutschen ergeht, sondern um eine tragische Geschichte, die zum Wandel der Mentalitäten beitragen soll, zu mehr Vaterlandsliebe und Gemeinsinn über die ständischen Grenzen hinweg, ohne aber die überkommenen Strukturen auflösen zu wollen. Reformkonservativismus, Reichspatriotismus und Nationalismus verschwimmen hier zu einer undifferenzierbaren Einheit. 1814 sorgte Soden, diese Linie bestätigend, für eine Neuauflage der berühmten Flugschrift Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung des 1806 hingerichteten Nürnberger Buchhändlers Johann Philipp Palm – von ihr wird noch im Zusammenhang mit Kleist zu sprechen sein.

522 Ebd., S. 95 f. Kursivierung M. H. 523 Ebd., S. 96. 524 Ebd., S. 100.

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3.3.2 Sich selbst historisch: Goethes autobiographische Retrospektive Zwischen Goethes Reichsdarstellung im Faust II und den Werken Klingers und Sodens liegen der Reichsuntergang und die Entstehung einer neuen politischen Welt. Wenn Faust, begleitet von Mephistopheles, gleich im ersten Akt am Kaiserhof erscheint, nimmt der Autor nicht nur ein Motiv der Tradition auf, sondern verarbeitet zugleich die Reichsgeschichte der letzten Jahre und Jahrzehnte. Diese Einsicht ist alles andere als selbstverständlich: Kaum ein Autor dient so häufig als Beleg für den ,sang- und klanglosen‘ Untergang des Alten Reichs wie Goethe. Der Streit mit seinem Kutscher habe ihn mehr interessiert als die Spaltung des Römischen Reichs, schreibt der Dichterfürst 1806 in sein Tagebuch und drückt so scheinbar das weitverbreitete Desinteresse der Deutschen über das politische Ende des Reichs aus. Dabei ist aus diesem Zitat nichts oder nur wenig über Goethes Wahrnehmung des Reichsuntergangs und seine Einstellung zum Reich zu erfahren.525 1. bezog er sich auf die Gründung des Rheinbundes („Spaltung“) und nicht auf die Auflösung des Reichs – das ist schon aufgrund der Kommunikationswege kaum anders möglich, da Goethe von der Resignation Franz II. zu diesem Zeitpunkt (7. August 1806) noch nichts wissen konnte. 2. sollte der Zusammenhang zwischen dem „Zwiespalt des Bedienten und Kutschers auf dem Bocke“ mit der „Spaltung des römischen Reichs“526 keineswegs die Nichtigkeit des letzten, sondern die große Gefahr des ersten Ereignisses charakterisieren. Kutschenfahrten, das ist häufig beschrieben worden, waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht ungefährlich, und eine gleichsam führerlose Kutsche für die Insassen eine ernsthafte Bedrohung von Leib und Leben.527 Damit ist nicht gesagt, dass der Weimarer Dichter von der Auflösung des Reichs tief getroffen oder auch nur überrascht wurde. Die wenigen diesbezüglichen Briefe drücken eher das Gegenteil aus – nicht jedoch Desinteresse, eher resignative Akzeptanz des unvermeidlichen Gangs der Dinge. In den Tag- und Jahresheften wird zum Schicksalsjahr 1806 in ihrem charakteristisch lakonischen Stil von „Angst und Gefahr“ sowie anschließend von „beunruhigenden Gesprächen“ berichtet, als man in den Zeitungen die Nachricht las, „das Deutsche Reich sei aufgelös’t“528. In einem Brief an Zelter, ein knappes Jahr darauf, zeigt sich 525 Vgl. Srbik: Goethe und das Reich, S. 7; Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 189 f.; Schmidt: Wandel durch Vernunft, S. 249. 526 Goethe: Tagebücher, 7. August 1806, in: WA, Abt. III, Bd. 3, S. 155. 527 Vgl. Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 189 f. 528 Goethe: Tag- und Jahreshefte 1806, in: MA, Bd. 14, S. 179.

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Goethe allerdings verständnislos über die „Jeremiaden“, die allen Orts gesungen werden. Wenn Jemand sich über das beklagt, was er und seine Umgebung gelitten, was er verloren hat und zu verlieren fürchtet, das hör’ ich mit Theilnahme und spreche gern darüber und tröste gern. Wenn aber die Menschen über ein Ganzes jammern, das verloren seyn soll, das denn doch in Deutschland kein Mensch sein Lebtag gesehen, noch viel weniger sich darum bekümmert hat; so muß ich meine Ungeduld verbergen, um nicht unhöflich zu werden, oder als Egoist zu erscheinen. Wie gesagt, wenn jemand seine verlorenen Pfründen, seine gestörte Carriere schmerzlich empfindet, so wäre es unmenschlich nicht mitzufühlen; wenn er aber glaubt, daß der Welt auch nur im mindesten etwas dadurch verloren geht, so kann ich unmöglich mit einstimmen.529

Nur als persönlichen Verlust akzeptierte er die Trauer um den Reichsuntergang, nicht als Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung. Auch nach 1806 betrieb Goethe allerdings in gewissem Sinne Reichspolitik:530 Sein Ziel war es, die bedrohte Existenz des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach in den Schutz des föderalen Rheinbundes unter dem Protektorat des Ersatzkaisers Napoleon zu retten und damit aufgrund der Führungsrolle Weimars und Jenas zugleich auch die nationale Identität zu schützen. Die Brandmarkung des Rheinbunds und der Napoleonverehrung als frankophilen Kosmopolitismus und nationale Schande stammt aus späteren Jahrzehnten. Gerade im Umkreis des Fürstprimas Dalberg lebte ein starkes Nationalbewusstsein – freilich in der Tradition des föderalen Reichsdenkens und der europäischen Mächtebalance.531 Goethes Wirken auf die Presseorgane Cottas sowie die Pflege eines Netzwerks deutscher Intellektueller gehören in diesen Kontext rheinbündischer Politik.532 Das be529 Goethe an Carl Friedrich Zelter, 27. Juli 1807, Nr. 103, in: MA, Bd. 20,1, S. 155. 530 Vgl. Müller, Gerhard: „… eine wunderbare Aussicht zur Vereinigung deutscher und französischer Vorstellungsarten“. Goethe und Weimar im Rheinbund, in: Europa in Weimar. Visionen eines Kontinents, hrsg. v. Hellmut Th. Seemann, Göttingen 2008, S. 256 – 297. 531 Schmidt, Georg: Der napoleonische Rheinbund – ein erneuertes Altes Reich?, in: Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit?, hrsg. v. Volker Press/ Dieter Stievermann, München 1995, S. 227 – 246. 532 Vgl. Müller: Goethe und Weimar im Rheinbund, S. 256 – 297. Zum Netzwerk zählt Müller etwa Johannes Müller, Jacobi, Schelling und Niethammer, ebenso den französischen Diplomaten und schließlich Gesandten Frankreichs am Kassler Hof, Carl Friedrich Reinhard. Besondere Bedeutung für das ,Überleben‘ Weimars erlangte Wielands und Goethes Kontakt zu Dominique Vivant Denon, dem Generaldirektor der kaiserlichen Museen in Paris. Aus dem direkten Umfeld in Weimar sind insbesondere Christian Gottlob Voigt und Carl Ludwig Fernow zu nennen; siehe auch: Müller, Gerhard: Kultur als Politik in Sachsen-Weimar-Ei-

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rühmte Treffen mit Napoleon war weit mehr als nur eine Anekdote der deutschen Geistesgeschichte, fügt es sich doch, wie Gerhard Müller zeigen konnte, blendend in das Bild der politisch-geistesgeschichtlichen Propaganda der Goethe-Entourage. So schreibt Karl August Böttiger trotz einiger Differenzen in der Allgemeinen Zeitung vom 18. 10. 1808: Welcher Deutsche wollte sich nicht freuen, daß der große Kaiser sich mit einem solchen Repräsentanten unseres edelsten und nun auch einzigen Gemeingutes, unserer Kunst und Kultur, so tief eingehend über das besprach, dessen Erhaltung uns allein von der völligen Vernichtung unserer Nationalität erretten kann.533

Der weit verbreiteten Angst, dass die Deutschen durch das Ende des Alten Reichs über kurz oder lang aus dem Register der Nationen gestrichen würden, stellten Goethe und Gleichgesinnte die Zuversicht entgegen, dass die deutsche Würde in der von Weimar repräsentierten Kultur und im Rahmen des föderalen Rheinbunds als Reichssurrogat gesichert sei. Ja, Goethe zeigt sich, weniger apokalyptisch als Wieland, überzeugt, dass die deutsche Sprache wie jene der Juden selbst ohne den politischen Schutz eines „Vaterland[s]“ „unvertilgbar“ wäre.534„Ihre Werke stehn, ein unvergängliches Denkmal, über unsern literarischen und politischen Trümmern“535, schreibt der Diplomat in französischen Diensten Carl Friedrich Reinhard ganz in diesem Sinne an den Dichter. Goethe lag es fern, die Vergangenheit zu verklären, doch blieb er dem Denken der alten Welt in vielen Punkten bis an sein Lebensende treu. Aus der Perspektive dieser Verbindung von Kritik am Alten und Distanz zum Neuen muss die politische Dimension seines Spätwerks beleuchtet werden. senach, in: Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext, hrsg. v. Lothar Ehrlich/Georg Schmidt, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 67 – 83, hier S. 81 – 83; Müller, Gerhard: Das Alte Reich aus der Sicht Johann Wolfgang von Goethes, in: Das Heilige Römische Reich und sein Ende 1806. Zäsur in der deutschen und europäischen Geschichte, hrsg. v. Peter Claus Hartmann/Florian Schuller, Regensburg 2006, S. 51 – 65, hier S. 58 – 63. 533 Zit. n. Müller: Goethe und Weimar im Rheinbund, S. 271 f. 534 „Nein, das glaube ich nicht, sagte jemand, die Deutschen würden wie die Juden sich überall unterdrücken lassen, aber unvertilgbar sein, wie diese, und wenn sie kein Vaterland haben, erst recht zusammenhalten. – Dieser Jemand war Goethe.“ Christine Friederike Reinhard an Sophie Reimarus, 1. 6. 1807, in: Goethe, Johann Wolfgang: Begegnungen und Gespräche, Bd. 6, hrsg. v. Renate Grumach, Berlin/ New York 1999, S. 287. 535 Carl Friedrich Reinhard an Goethe, 3. Sept. 1808, in: Goethe und Reinhard. Briefwechsel in den Jahren 1807 – 1832, Wiesbaden 1957, S. 72 – 74, hier S. 73.

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Der These von Goethes Desinteresse am Alten Reich widerspricht schon, dass er ihm nach 1806 in seinen autobiographischen Schriften einen durchaus prominenten Platz einräumt. Sowohl Dichtung und Wahrheit als auch die Campagne in Frankreich lassen sich als Nachgesang auf das politische System des Alten Reichs lesen. Er selbst stellt in einer Rezension zu Johannes von Müllers Bildnisse jetzt lebender Berliner Gelehrten mit ihren Selbstbiographien fest, dass die Jugend keinerlei Begriffe mehr haben könne, von dem „was vor dreißig oder vierzig Jahren“ politische Selbstverständlichkeit war.536 Anders als die Romantiker erlebte Goethe das Heilige Römische Reich noch in vollen Zügen. Vielleicht nahm er sich auch deshalb selbst zunehmend aus ,historischer‘ Perspektive wahr, lag doch das Reichsende nicht nur inmitten der Sattelzeit, sondern ebenso in der Mitte seines eigenen Lebens.537 Das Reich erhielt dabei einen symbolischen Wert für ganz Europa, es wurde zum Sinnbild einer im Chaos versinkenden alten Ordnung. Dichtung und Wahrheit ist weder eine Liebeserklärung an das Alte Reich538 noch eine einseitige Verfemung der damaligen Verfassung als leeres politisches Schauspiel.539 Der Autobiograph ist sichtlich um eine faire Beurteilung derselben bemüht. Man darf allerdings nicht – wie es vor allem im Falle der Krönung Josephs II. geschehen ist – unbesehen aus der retrospektiven Betrachtung ein zeitgenössisches Dokument machen. Weder Karl Heinrich Ritter von Langs noch Goethes Memoiren entsprechen, so Rolf Haaser, den zeitgenössischen Urteilen und Berichten, in welchen jede Krönung als großes Ereignis von nationaler Bedeutung beschrieben wurde.540 Die retrospektive Sicht, die Erfahrung des Reichsuntergangs 536 Goethe: Rezension zu ,Bildnisse jetzt lebender Berliner Gelehrten mit ihren Selbstbiographien‘, in: MA, Bd. 6,2, S. 623. 537 Vgl. Goethe: Maximen und Reflexionen, in: MA, Bd. 17, S. 837: „Sogar ist es selten, daß jemand im höchsten Alter sich selbst historisch wird, und daß ihm die Mitlebenden historisch werden, so daß er mit niemanden mehr controvertieren mag noch kann.“ 538 So etwa: Burgdorf: ,Reichsnationalismus‘ gegen ,Territorialnationalismus‘, S. 188; Srbik: Goethe und das Reich, S. 10 f. 539 Vgl. Beetz, Manfred: Überlebtes Welttheater. Goethes autobiographische Darstellung der Wahl und Krönung Josephs II. in Frankfurt a.M. 1764, in: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. v. Jörg Jochen Berns/Thomas Rahm, Tübingen 1995, S. 572 – 599. 540 Das berühmteste Beispiel wird wohl Schubart sein, der in seiner Chronik die Kaiserkrönung von 1790 mit der französischen Königskrönung verglich und sie beide als charakteristische „Nazionalfeste“ feierte. Vgl. Haaser, Rolf: Das Zeremoniell der beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen in Frankfurt am

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beeinflusste die Gestaltung ihrer Schriften auf profunde Art und Weise:541 Nicht nur betrieb Goethe für seine Kindheits- und Jugenderinnerungen ein neuerliches Quellenstudium, sie wurden auch vom Ende her geschrieben, weshalb er von den historischen und wirklich erlebten Erinnerungen der ,höheren‘ poetischen Wahrheit zuliebe vielfach abwich. „Ein Faktum unseres Lebens gilt nicht, insofern es wahr ist, sondern in so fern es etwas zu bedeuten hatte.“542 Vor allem handelt es sich bei Dichtung und Wahrheit um Literatur im besten Sinne des Worts. Aus dem Kontext gerissene Zitate über das Reich, seine Rituale und seine Verfassung ignorieren die künstlerische Konzeption des Werks. Das Reich spielt in der Autobiographie eine beachtliche Rolle. Goethe zeigt es zwar als defizitäre, aber doch als leidliche Friedensordnung,543 die sogar einen weitgehenden Ausgleich zwischen bürgerlichen und adligen Interessen ermöglicht habe.544 Was jedoch der Reichskammergerichtspraktikant in Wetzlar und besonders der Geheime Rat in Weimar ahnte, wurde im Laufe der Koalitionskriege zur unabweisbaren Gewissheit. Die „flüchtige Geschichte des Kammergerichts“ aus Dichtung und Wahrheit steht deshalb geradezu stellvertretend für eine allgemeine Geschichte der Reichsverfassung und ihrer Reformdefizite in der Frühen Neuzeit. Die Mängel des Reichssystems, das fehlende Interesse seiner stärksten Glieder am Reichszusammenhalt, die knappe personelle Ausstattung der Reichsinstitutionen mit den daraus entspringenden schädlichen Folgen und die fehlende Exekutivkraft weisen auf das Ende voraus.545 Zu den persönlichen

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Main und seine Rezeption zwischen Spätaufklärung und Frühromantik, in: ebd., S. 600 – 631. Das Beispiel Schubart: ebd., S. 603 Fußnote 9. Anders sieht das Schieder: „[…] die Umwälzungen, die ihm [dem Untergang des Reichs] folgten, [haben] keine sichtbaren Spuren für Goethes Darstellung hinterlassen […]. Das Reich ist ihm eine historische Naturerscheinung, wenn man diesen Ausdruck wagen darf, und als diese einem richtenden Urteil entrückt […].“ Schieder, Theodor: Der Junge Goethe im Alten Reich. Historische Fragmente aus ,Dichtung und Wahrheit‘, in: Staat und Gesellschaft im Zeitalter Goethes. Festschrift für Hans Tümmler zu seinem 70. Geburtstag, hrsg. v. Peter Berglar, Köln/ Wien 1977, S. 131 – 145, hier S. 135. Goethe: Gespräche mit Eckermann, 30. März 1831, in: MA, Bd. 19, S. 447. Zum Verhältnis von Wahrheit und Dichtung: Müller, Klaus-Detlef: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit, Tübingen 1976, S. 278 – 285. Vgl. zum Quellenvergleich der Krönungsgeschichte: Sieber, Siegfried: Goethes Quellen und seine Darstellung der Krönung Josephs II., in: Chronik des Wiener Goethe-Vereins 28 (10. Juni 1914), Nr. 1 – 2, S. 11 – 14. Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 167 ff., 569 f., 749 ff. Ebd., S. 751 f. Ebd., S. 559 – 565.

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Verlusten (Schillers Tod 1805, Tod von Goethes Mutter 1809), einer resignativen Sicht auf das eigene Werk und das Verhältnis zum deutschen Publikum sowie den Erfahrungen der Französischen Revolution und ihrer Folgen trat der Untergang jener alten, vielleicht längst veralteten Welt, die sein Leben lange Zeit bestimmt hatte. Auch in dieser Beziehung ist Dichtung und Wahrheit ein „Werk der Krise“546. Die novellistische Darbietung der josephinischen Krönung von 1765 ist für die Reichsthematik in der Literatur um 1800 gewiss das berühmteste Beispiel: Goethe integriert in seine Kindheitserinnerung die Kenntnis der Reichsgeschichte und verschränkt unaufdringlich das (scheinbar) konkret Erlebte mit den großen Ereignissen – nichts anderes verlangt ja die Formel, dass es Aufgabe der Biographie sei, „den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen“547. Der auktoriale Erzähler blickt aus mehreren Perspektiven auf das Geschehen und integriert in symbolischen Szenen das Wissen um das Ende des Alten Reichs, das dem jungen Protagonisten der Liebesgeschichte mit Gretchen noch verborgen bleibt. Mindestens drei Reichswahrnehmungen überschneiden sich daher: 1. die des Frankfurter Bürgersohns, der begeisterter Augenzeuge des glänzenden Zeremoniells ist, 2. der Blick auf die reichstypischen Rechtsquerelen und den ständeübergreifenden Eigennutz und 3. der Widerspruch zwischen den Formen der majestätischen Krönungsfeierlichkeit und den realen Machtverhältnissen.548 Zu 1: Grundgerüst der Handlung sind zwei ineinander verflochtene Erzählstränge: die Krönungsfeier auf der einen Seite und die (fiktive) Liebesgeschichte mit Gretchen auf der anderen. Was der Knabe bisher nur theoretisch durch das juristisch-historische Studium der „Wahl- und Krönungsdiarien“ sowie der „letzten Wahlkapitulationen“ mit seinem Vater lernen musste, wird nun vivifiziert. Gleichsam als Krönungsjournalist im Auftrag des Vaters soll der junge Goethe nicht nur staunen und „gaffen“, sondern alles genau notieren und so „ein lebendiges Wahl- und Krönungsdiarium“ erstellen.549 Zu dem Anlass der Krönung tritt „das durch so viele Pergamente, Papiere und Bücher beinah verschüttete deutsche Reich wieder für einen Augenblick lebendig“ in Erscheinung.550 546 Kommentar der Münchner Ausgabe: ebd., S. 881; Müller: Autobiographie und Roman, S. 242 – 278. 547 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 11. 548 Vgl. Müller: Autobiographie und Roman, S. 318 – 330; Beetz: Überlebtes Welttheater. 549 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 200. 550 Ebd., S. 201.

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Schon beim Studium der „Diarien“ schwebt dem Jüngling allerdings immer wieder das „hübsche Mädchen“ „zwischen den höchsten Gegenständen des heiligen römischen Reichs hin und wieder“551. Die Begeisterung des Protagonisten für die Krönung schöpft ihre Energie mindestens ebenso sehr aus dem Bedürfnis, das große Schauspiel fachkundig der Geliebten auszulegen, wie aus der Würde des Reichs: „Denn einem jungen Paare, das von der Natur einigermaßen harmonisch gebildet ist, kann nichts zu einer schönern Vereinigung gereichen, als wenn das Mädchen lehrbegierig und der Jüngling lehrhaft ist.“552 Wie ein Schauspiel sei das Geschehen, bei dem der Vorhang „nach Belieben“ heruntergelassen werde, erklärt er Gretchen.553 Die Krönung wird durch die Schauspielmetapher des Jungen nicht zum leeren Schein herabgestuft, sondern zum unerhört spannungsvollen Treiben erhoben, dessen für die Öffentlichkeit verdeckte Momente ihm die Möglichkeit zu Erläuterungen und Ausschmückungen geben. Mit der Frankfurter Bürgerschaft erlebt er ein großes Ereignis, teils durch eigene Anschauung, teils nur durch Berichte anderer oder durch Kenntnis dessen, was hinter dem ,gefallenen Vorhang‘ vorzugehen habe – voller Hoffnung für die Zukunft und voller Stolz, dieser „politisch religiose[n] Feierlichkeit“, die einen „dauerhaften Frieden[]“ begründen sollte, teilhaftig sein zu dürfen.554 Nachdem der ,schlechte‘ Umgang des jungen Bürgersohns aufgeflogen ist und er für immer von Gretchen und dem Freundeskreis getrennt sein soll, verblasst jedes weitere Interesse am Krönungsgeschehen abrupt.555 Zu 2: Mit dem partizipierenden und affirmativen „Sehen“ kontrastiert während der gesamten Erzählung das „Wissen“ um die juristischen und politischen Debatten, die im Hintergrund der Feierlichkeiten das ,eigentliche‘ Reich ausmachen und die über die Schreib- und Kopiertätigkeit des Knaben im väterlichen Haus als gegenläufige Perspektive in die Novelle eingebaut sind. Der symbolisierten Eintracht läuft der von den Ritualen nur dürftig verdeckte Eigennutz der Beteiligten zuwider. So seien die 551 Ebd., S. 198. 552 Ebd., S. 206. „Der große Tag nahte heran; ich hatte mehr im Sinne, wie ich es ihr sagen wollte, als was eigentlich zu sagen sei; ich verarbeitete alles was mir unter die Augen und die Kanzleifeder kam, nur geschwind zu diesem nächsten und einzigen Gebrauch.“ Ebd., S. 214. „Ich hatte keine Neigung als zu Gretchen, und keine andre Absicht als nur recht gut zu sehen und zu fassen, um es mit ihr wiederholen und ihr erklären zu können.“ Ebd., S. 216. 553 Ebd., S. 205. 554 Ebd., S. 222. 555 Ebd., S. 234.

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Stände „nur in sofern einig […], als sie den neuen Regenten noch mehr als den alten zu beschränken gedachten; daß Jedermann sich nur in sofern seines Einflusses freute, als er seine Privilegien zu erhalten und zu erweitern, und seine Unabhängigkeit mehr zu sichern hoffte“556. Bei seiner „Kanzellisten-Arbeit zu Hause“ muss er von den „kleinliche[n] Monita“ bei den Verhandlungen um die neue Wahlkapitulation lesen, vom eifrigen Bemühen der Beteiligten um das eigene „Ansehen“ und der Sorge, dass etwas „zum Präjudiz“ gereichen könnte.557 Der Frankfurter Magistrat hat zugleich unentwegt mit Ansprüchen und Beschwerden der fremden Massen zu kämpfen, die die Stadt logistisch überfordern.558 Zu 3: Für die weitere historische Entwicklung ist der Kontrast zur Verfassungswirklichkeit entscheidender. In zahlreichen Szenen des feierlichen Treibens, das der junge Protagonist wie im Rausch erlebt, finden sich Beobachtungen und Details, die erst aus der Perspektive ex post ihre Bedeutungsschwere erhalten. Die so entstehenden Kippbilder wirken als symbolischer Verweis auf die Dissonanz zwischen den alten, ehrwürdigen Formen der Reichsverfassung und den tatsächlichen Machtverhältnissen. Erich Christoph von Plotho, der brandenburgische Gesandte, von dem das junge Paar begeistert ist, bezeugt dem Zeremoniell im Wohlgefühl der von ihm repräsentierten preußischen Macht kaum Respekt, verlacht etwa „sein[en] Vordermann, ein[en] ältliche[n] Herr[n]“, der sich nicht schnell genug auf das Pferd schwingen kann.559 Ja, der feierliche Zauber verkehrt sich an vielen Stellen geradezu zur Karnevaleske. Dem jungen König Joseph schließlich mochten die „ungeheuren Gewandstücke[] mit den Kleinodien Carls des großen“ nicht recht passen, er sah aus „wie in einer Verkleidung“ und konnte sich eines gelegentlichen „Lächelns“ nicht enthalten.560 Hier nun wird der Schauspielmetapher ein neuer Sinn unterlegt: Anhand der Reichsinsignien, der Distanz zwischen historisch-ritueller Kostümierung der Kaiserrolle nach Maßgabe Karls des Großen und seiner wirklichen Funktion im Reichsverband zeigt sich das Auseinanderfallen von Schein und Sein, von Form und Realität der Reichsverfassung am Ende des Jahrhunderts.561 Während dem feierlichen Mahl im Römersaal vergisst der 556 557 558 559 560 561

Ebd., S. 201 f. Ebd., S. 203. Ebd. Ebd., S. 207. Ebd., S. 223. Schon von Franz I. und Maria Theresia berichten die „[ä]lteren Persone[n]“, dass sich der frisch Gewählte wie „ein Gespenst Carls des großen“ gebärdet und seiner Frau damit ein „unendliches Lachen“ abgenötigt habe. Ebd., S. 221.

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Erzähler nicht auf Diskrepanzen hinzuweisen: Die zeremonielle Reichsherrlichkeit wird von der faktischen Abwesenheit des tatsächlichen Reichs unterlaufen. Nur die geistlichen Kurfürsten aus Mainz, Trier und Köln sitzen an der Seite des Herrschers während die Plätze sämtlicher weltlicher Kurfürsten leer bleiben, da ihre Gesandten im Nebenzimmer speisen. Der Erzähler, nicht der begeisterte Junge im Jahr 1765, sieht darin jenes „Mißverhältnis“ ausgedrückt, „welches zwischen ihnen [den weltlichen Kurfürsten] und dem Reichsoberhaupt durch Jahrhunderte allmählich entstanden war“562. Sie erschienen schon deshalb nicht, „um an dem größten Ehrentage ihrer Ehre nichts zu vergeben“563, um sich nicht zu sichtbar der Lehnshoheit des Kaisers unterordnen zu müssen. Auch in Goethes Campagne ist das Reich nurmehr ein Vergangenes. Klimaktisch schildert er dort den Weg von der anfänglichen Siegesgewissheit der Koalitionstruppen hinter dem preußischen König und dem Herzog von Brauschweig zum chaotisch-übereilten Rückzug „auf Deutsche[n] Grund und Boden“564 nach verlorener Schlacht. Hier nun schaltet Goethe die Anfrage der Frankfurter Ratsherrn ein, ob er bei erfolgreichem Los das Amt seines verstorbenen Oheims „Schöff Textor“ annehmen würde. In „keinem seltsamern Augenblicke“ hätte ihn die Erinnerung an Kindheit und Jugend treffen können. „[T]ausend Bilder stiegen vor mir auf“ und besonders die Erinnerung an den Großvater.565 Das Leben Johann Wolfgang von Textors ist in Dichtung und Wahrheit geradezu ein Symbol für Ruhe, Frieden und rechtmäßige Ordnung im Reich.566 An diesen erinnert er sich nun, wie er auf dem „Thronsessel unter des Kaisers Bildnis“ 562 563 564 565 566

Ebd., S. 227. Ebd. Goethe: Campagne, in: MA, Bd. 14, S. 441. Ebd., S. 442. „Eben so fuhr er Morgens aufs Rathaus, speiste nach seiner Rückkehr, nickte hierauf in seinem Großstuhl, und so ging alles einen Tag wie den andern. Er sprach wenig, zeigte keine Spur von Heftigkeit; ich erinnere mich nicht, ihn zornig gesehen zu haben. Alles was ihn umgab, war altertümlich. In seiner getäfelten Stube habe ich niemals irgend eine Neuerung wahrgenommen. Seine Bibliothek enthielt außer juristischen Werken nur die ersten Reisebeschreibungen, Seefahrten und Länder-Entdeckungen. Überhaupt erinnere ich mich keines Zustandes, der so wie dieser das Gefühl eines unverbrüchlichen Friedens und einer ewigen Dauer gegeben hätte.“ Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 42. Einleitend an anderer Stelle: „Und als ich mir einmal nach gehaltenem Pfeifergerichte etwas darauf einzubilden schien, meinen Großvater in der Mitte des Schöffenrats, eine Stufe höher als die andern, unter dem Bilde des Kaisers gleichsam thronend gesehen zu haben […].“ Ebd., S. 75.

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im „Ornat“ des Schultheißen saß – Bild eines vergangenen Zeitalters, das wohl dem Autobiographen nach dem Reichsuntergang mehr noch als dem Geheimrat der 1790er-Jahre wie Zerstreuung „an einem erzählten Märchen“567 erschien. Von der ehemaligen Majestät des Reichs blieb in der Realität der Koalitionskriege wenig übrig. Ein Vergleich mit Hegels Gedankenstaat, der in der Wirklichkeit keine Entsprechung mehr besitzt, drängt sich im autobiographischen Werk Goethes an vielen Stellen auf. Die Ursache für das Auseinandertreten von Schein und Sein ist jedoch eine andere als die von Hegel diagnostizierte Negativität des Reichsstaatsrechts. Goethes Analyse des politischen Verfalls schlägt sich deutlich im Reichsbild des Faust II nieder. 3.3.3 Der Reichszerfall im Faust II Angebote zur polit-ökonomischen Interpretation des großen Schauspiels Faust. Der Tragödie zweiter Teil gibt es genug. Dabei wird auf die großen Ereignisse und Themen der Zeitgeschichte verwiesen: Napoleon, das Grand Empire, der Wiener Kongress, die französische Julirevolution und der Saint-Simonismus, um nur die wichtigsten Schlagworte zu nennen.568 Vieles davon hat unzweifelhaft Spuren im Werk Goethes hinterlassen. Es erstaunt allerdings, dass die Forschung selten und wenn dann nur en passant das Alte Reich in den Blick genommen hat. Während etwa die Analogie zwischen den fünf Erzämtern und der europäischen Pentarchie nur schwer herzustellen ist569 – ganz davon abgesehen, dass Goethe die Heilige Allianz 567 Goethe: Campagne, in: MA, Bd. 14, S. 443. 568 Grappin, Pierre: Zur Gestalt des Kaisers in ,Faust‘ II, in: Goethe-Jahrbuch 91 (1974), S. 107 – 116; Boyle, Nicholas: The Politics of ,Faust II‘: Another Look at the Stratum of 1831, in: Publications of the English Goethe Society 52 (1983), S. 4 – 43; Vaget, Hans Rudolf: ,Faust‘. Der Feudalismus und die Restauration, in: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980, hrsg. v. Heinz Rupp/Hans-Gert Roloff, Bern/Frankfurt a.M./Las Vegas 1980, S. 345 – 351; Williams, John R.: Die Deutung geschichtlicher Epochen im zweiten Teil des ,Faust‘, in: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 89 – 103; Birk, Manfred: Goethes Typologie der Epochenschwelle im vierten Akt des ,Faust II‘, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 33 (1989), S. 261 – 280. Mit Blick auf das Fürstentum Weimar und Carl August: Mommsen, Katharina: ,Faust II‘ als politisches Vermächtnis des Staatsmannes Goethe, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1989), S. 1 – 36. 569 Die Bestimmungen der Goldenen Bulle werden ausführlich referiert. Gerade die Metaphorik der Erzämter als Hausgenossen des Kaisers passt wenig zum Wiener Kongress. Hier wird eindeutig ein Reich unter einem Kaiser, nicht ein Vertrag zwischen Staaten beschrieben.

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und das System Metternich sonst an keiner Stelle kritisiert570 –, sind die Reminiszenzen an Reichsgeschichte und Reichsgesetze schließlich explizit. Vor allem präsentieren zahlreiche Arbeiten von Binswanger über Jaeger bis zu Vorträgen und Publikationen, die durch die jüngste Finanzkrise angeregt wurden, Faust II mit überzeugenden Ergebnissen als Gegenentwurf zu einer modernen Industrie- und Kapitalgesellschaft.571 Ausgehend von Mephistos Stiftung des Papiergeldes sowie dem Ziel Fausts, gleichsam einen ,Arbeitsstaat‘ zu gründen, erhält Goethes Drama dabei allerdings gelegentlich beinahe den Anstrich eines poetischen Äquivalents zur Gesellschaftsanalyse aus Marx’ Kapital oder dem Kommunistischen Manifest. 572 So umfassend die Literaturwissenschaft auch die gesellschaftliche Kritik des Werks herausgestellt hat, so falsch wäre es doch, in der Ökonomie selbst die Ursache für die Staatskrise des dramatischen Kaiserreichs zu sehen: In erster Linie geht es, so die hier gesetzte Prämisse, um die falsche sittlich-ethische Grundlage eines Staats bzw. einer Gesellschaft, nicht um konkurrierende Wirtschaftsmodelle oder Staatskonzeptionen. Goethe kritisiert vor dem Hintergrund eines resignativen Geschichtsbilds und einer gleichsam enttäuschten Anthropologie an der neuen bürgerlichen Welt nichts wesentlich anderes als zuvor an der alten Welt, die sich nach seiner Sicht ihrer eigenen Grundlage beraubte. Im Mummenschanz des ersten Aktes lassen sich sowohl Anspielungen auf die Maskenzüge des höfischen Weimars erkennen als auch auf die ,Charaktermasken‘ der modernen Gesellschaft, welche im Widerspruch zum eigenen Kunstideal des Symbols nur noch allegorisch zu bewältigen sind573 – das Alte wird kontrastfrei mit dem Neuen überblendet. Das Reichsbild im Faust II – um das es im Folgenden alleine gehen soll – lässt sich daher im Kontext von Goethes autobiographischem Rückblick auf das Alte Reich lesen, ohne in 570 Vgl. Mommsen: Die politischen Anschauungen Goethes, S. 166 – 179. 571 Vgl. Binswanger, Hans Christoph: Geld und Magie – Deutung und Kritik der modernen Wirtschaft anhand von Goethes ,Faust‘, Stuttgart 1985; Vogl, Joseph: Fausts Schulden. Vortrag LMU 6. Februar 2012; Hierholzer, Vera/Richter, Sandra (Hrsg): Goethe und das Geld. Der Dichter und die moderne Wirtschaft, Frankfurt a.M. 2012; zu dieser aktualisierenden Lesart die berechtigte Kritik: Jannidis, Fotis: „Und fehlt es da, so gräbt man eine Zeit“. Mephistos Papiergeldschwindel – ein Projekt der Moderne?, in: ebd., S. 56 – 61. 572 Vgl. Schlaffer, Heinz: ,Faust. Zweiter Teil‘. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1981, S. 49 – 62; Jaeger: Fausts Ökonomie – oder: Produktion der Angst, in: Hierholzer/Richter: Goethe und das Geld, S. 22 – 55. 573 Schlaffer: Faust. Zweiter Teil, S. 65 – 78; Borchmeyer: Weimarer Klassik, S. 495.

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Widerspruch mit der auf die Gegenwart zielenden Gesellschaftskritik zu geraten.574 Mit der ökonomischen Krisenphänomenologie (Michael Jaeger) korrespondiert eine politische Krisenphänomenologie der Geschichte des Alten Reichs, die stellvertretend für die alte Ordnung insgesamt zu lesen ist. Ihr gemeinsamer Gegenpol ist jene klassische ,Lebenskunstlehre‘, von der eingangs die Rede war, die das Drama allerdings meist nur ex negativo begleitet. 3.3.3.1 Archetypen der Reichskrise: Eigennutz und Zwietracht „[…] und es trat der Credit an die Stelle des Lehnrechts“575, lautet der letzte Satz aus Arnims Majorats-Herren (1820). Die vergangene Welt erscheint bei Arnim genauso morbid und anachronistisch wie bunt und interessant, mitunter liebenswert. Von der ökonomischen Moderne und ihrer technischen Uniformität grenzt er sie scharf ab.576 Das Majoratshaus wird schließlich durch eine Salmiakfabrik ersetzt. Goethe hingegen datiert im Faust II die neuzeitliche ,Gärung‘, wie ein vergleichender Seitenblick auf den Groß-Cophta und die Natürliche Tochter verdeutlicht, in ebendiese Welt zurück. Sein Reichsbild ist denkbar weit entfernt von jeder Reichsromantik. Der Untergang des Alten Reichs wird nicht durch neue und äußere Einflüsse wie die Napoleonischen Kriege erklärt, sondern stellvertretend für die europäische Ordnung im Ganzen auf die Zersetzung im Inneren zurückgeführt. Der Wechsel von der alten zur neuen Welt ist Teil des ewigen geschichtlichen Umlaufs, der mehr in der Natur des Menschen begründet liegt als in einem technischen, gesellschaftlichen oder ökonomischen Fortschritt. Die Worte des Flusses Erichto auf den Pharsalischen Feldern bestätigen dieses Geschichtsbild im Faust II, das den Wandel der Zeiten sub specie aeternitatis relativiert. Der Kampf zwischen Gegenkaiser und Kaiser des Heiligen Römischen Reichs aus dem vierten Akt des Faust II spiegelt sich in der Schlacht zwischen Cäsar und Pompeius 48 v. Chr. Der geschichtliche Kreislauf aufgrund menschlicher Niedertracht, so wird an dieser Stelle deutlich, ist ohne jeden erkennbaren Zweck: 574 Allgemein: Kaiser, Gerhard: Ist der Mensch zu retten? Vision und Kritik der Moderne in Goethes ,Faust‘, Freiburg im Breisgau 1994. 575 Arnim, Achim von: Die Majorats-Herren, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. 4: Sämtliche Erzählungen 1818 – 1830, S. 107 – 147, hier S. 147. 576 „Wie reich erfüllt war damals die Welt, ehe die allgemeine Revolution, welche von Frankreich den Namen erhielt, alle Formen zusammenstürzte; wie gleichförmig arm ist sie geworden! Jahrhunderte scheinen seit jener Zeit vergangen, und nur mit Mühe erinnern wir uns, daß unsre früheren Jahre ihr zugehörten.“ Ebd., S. 107.

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Kapitel 5: Abgesänge und Arbeit am Mythos

Wie oft schon wiederholt sich’s! Wird sich immerfort In’s Ewige wiederholen… Keiner gönnt das Reich Dem Andern, dem gönnt’s keiner der’s mit Kraft erwarb Und kräftig herrscht. Denn jeder, der sein innres Selbst Nicht zu regieren weiß, regierte gar zu gern Des Nachbars Willen, eignem stolzem Sinn gemäß…577

Anders als in den ursprünglichen Entwürfen entkonkretisierte Goethe die Reichsszenerie und gab dem Allegorisch-Allgemeinen den Vorzug: So wurde im ersten Akt aus dem Reichstag zu Augsburg mit Kaiser Maximilian I. und den Reichsständen eine undefinierte kaiserliche Pfalz mit einem namenlosen Kaiser an der Spitze und einem nur noch in Form der Hofämter gegenwärtigen Reich.578 Von ebenso grundsätzlicher Natur sind die Triebkräfte, welche die Reichsherrlichkeit, die allein Mephisto zu rühmen weiß („[…] Den Glanz umher zu schauen, / Dich und die Deinen! […]“579), untergraben: Eigennutz, Gier und Genusssucht sind die Laster, die sich vom höchsten weltlichen Würdenträger, dem Kaiser, bis zu dem niedrigsten Untertan finden. Der Kanzler beklagt, dass es „fieberhaft durchaus im Staate wüthet, / Und Uebel sich in Uebeln überbrütet“. In einem Reich, in welchem das „Ungesetz gesetzlich überwaltet“, Missbrauch und Raub an der Tagesordnung seien, könne keine Gerechtigkeit entstehen.580 In Dichtung und Wahrheit schreibt Goethe von den „gesetzlichen Mißbräuchen“ der Reichsverfassung, welche aber immer besser gewesen sei als die französische, die aus „lauter gesetzlosen Mißbräuchen“ bestünde.581 Vor allem die fehlende Exekutionsgewalt ist es, die das Reich verkommen lässt: „Ein Richter der nicht strafen kann / Gesellt sich endlich zum Verbrecher.“582 Das Heer unterstützt nicht länger den Staat, sondern 577 Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 184. 578 Vgl. Kommentar: ebd., S. 676. Zu konkrete Festlegungen der Motive gehen daher an der Tragödie vorbei. Der Kaiser ist eben nicht „eindeutig Maximilian I.“ So aber: Wiesflecker, Hermann: Der Kaiser in Goethes Faust. Beobachtungen über Goethes Verhältnis zur Geschichte, in: Tradition und Entwicklung. Festschrift Eugen Thurnherr zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Werner M. Bauer/Achim Masser/ Guntram A. Plangg, Innsbruck 1982, S. 271 – 282, hier S. 271; genauso wenig lässt sich die Schlacht des vierten Akts exakt mit Jena-Auerstedt oder anderen Schlachten in Verbindung setzten. So aber: Mommsen: ,Faust II‘ als politisches Vermächtnis, S. 21 ff. Dagegen bereits: Williams: Die Deutung geschichtlicher Epochen, S. 94 f. 579 Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 113. 580 Ebd., S. 110. 581 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 515. 582 Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 111.

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raubt und plündert („Das Reich das sie beschützen sollten / Es liegt geplündert und verheert“583). Der Besitz des Kaisers, das Reichsland, ist an neue Besitzer gekommen, die „unabhängig“ vom Reich leben wollen. „Wir haben soviele Rechte hingegeben, / Daß uns auf nichts ein Recht mehr übrig bleibt.“584 Statt auf einen gemeinsamen Zweck sind alle Glieder des Reichs nur auf ihr eigenes Wohl bedacht („Ein jeder hat für sich zu thun“585). Das Geldproblem ist daher nur Symptom einer profunden Krise, deren Kern Mephisto mit der Schöpfung des Papiergeldes keineswegs bekämpft. Nicht nur die französische Monarchie im Vorfeld der Revolution litt an immenser Überschuldung,586 auch auf zahlreiche Reichsstände um 1800 trifft der Satz des abgemagerten Geizes aus dem Maskenspiel zu: „Wo er nur hinsieht da sind Schulden.“587 Am Ende des Akts beschenkt der Kaiser Pagen und Höflinge mit den neuen Devisen, muss aber feststellen, dass sich deren Verhalten nicht zum Besseren gewandelt hat: „Ich hoffte Lust und Muth zu neuen Thaten / Doch wer euch kennt, der wird euch leicht errathen. / Ich merk’ es wohl, bey aller Schätze Flor / Wie ihr gewesen bleibt ihr nach wie vor.“588 Diese (negative) anthropologische Konstanz bedingt das semper idem der Geschichte: Es wird „ewig herüber und hinüber schwanken, der eine Teil wird leiden, während der andere sich wohl befindet, Egoismus und Neid werden als böse Dämonen immer ihr Spiel treiben und der Kampf der Parteien wird kein Ende haben.“589 Mit einer Kritik an der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts allein hat das nichts zu tun. Im Groß-Cophta wüten dieselben destruktiven Kräfte. Während dem „Ritter“ als Repräsentant des Guten und Alten – gleichsam ein Nachfahre des Götz von Berlichingen – Werte wie „Freundschaft“, „Liebe“ und „Treue“ zugeordnet sind,590 dekuvriert sich die Geheimlehre des Groß-Cophtas schließlich als Initiationsritus in den absoluten Eigennutz: Nur „Unser eigener Vorteil“ zählt! „Alle Menschen sind Egoisten; nur ein Schüler, nur ein Tor kann sie ändern wollen.“591 Der große Zauberer im Stile des Grafen von Saint Germain, der bekanntlich dem historischen 583 584 585 586 587 588 589 590 591

Ebd., S. 112. Ebd. Ebd. Vgl. Grappin: Zur Gestalt des Kaisers, S. 111 f. Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 137. Ebd., S. 152. Goethe: Gespräche mit Eckermann, 25. Februar 1824, in: MA, Bd. 19, S. 83. Goethe: Der Groß-Cophta, in: MA, Bd. 4,1, S. 51 und 53. Ebd., S. 49.

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Hochstapler Cagliostro nachempfunden ist,592 erhält mit der Halsbandaffäre die passende Parallelhandlung: Gier, Betrug und Verführbarkeit durch billige Zaubertricks wachsen auf dem Humus des blinden Eigennutzes der aristokratischen wie der bürgerlichen Gesellschaft. Nur deshalb konnte die Halsbandaffäre für Goethe zum großen Symbol der Staatskrise in Frankreich werden. Die „Würde der Majestät“ sah er seither essentiell gefährdet.593 Als die Natürliche Tochter Eugenie sich vor den höfischen Kabalen in die bürgerliche Sphäre rettet, erlebt sie die „Wildnis frechen Städtelebens“ allerdings ebenso als „Pfuhl der Selbstigkeit“594. Die Positivierung des Eigennutzes bzw. des Egoismus in der ökonomischen Theorie (Bernard Mandeville, Adam Smith), die Substitution des ,Gemeinnutzens‘ durch den ,persönlichen Nutzen‘,595 das sei indes nur angedeutet, ist schließlich die wirtschaftstheoretische Grundlage für jenes plus ultra einer ökonomisch gedeuteten Faust-Figur, ihrer unersättlichen Gier und ihres unaufhörlichen Strebens. Ein ,glückliches Leben‘ gemäß der antiken Philosophie wird so unmöglich: „Im Gegensatz zum überlieferten diätetischen Prinzip der Selbstbeherrschung empfiehlt Mephistos – ungleich modernere – Lebenskunstlehre den konsumierenden Weltgenuß“, der die eigentliche Krankheit der ,veloziferischen‘ Moderne ist.596 Der Fluch der Sorge gleicht dem rastlosen Unglück des Liebenden im Faust I: „So tauml’ ich von Begierde zu Genuß, / Und im Genuß verschmacht’ ich nach 592 Vgl. zu den Hintergründen: Manger, Klaus: „[…] nach Wundern schnappen“. Goethes Mahnmal ,Der Groß-Cophta‘, in: Die Wirklichkeit der Kunst und das Abenteuer der Interpretation. Festschrift für Horst-Jürgen Gerigk, hrsg. v. Klaus Manger, Heidelberg 1999, S. 207 – 230. 593 „Schon im Jahre 1785 erschreckte mich die Halsbandsgeschichte wie das Haupt der Gorgone. Durch dieses unerhört frevelhafte Beginnen sah ich die Würde der Majestät untergraben, schon im Voraus vernichtet, und alle Folgeschritte von dieser Zeit an bestätigten leider allzusehr die furchtbaren Ahnungen.“ Goethe: Campagne, in: MA, Bd. 14, S. 510. 594 Goethe: Natürliche Tochter, in: MA, Bd. 6,1, S. 321. Vgl. Uerlings, Herbert: ,Die natürliche Tochter‘. Zur Rolle des Bürgertums in Goethes Trauerspiel, in: GoetheJahrbuch 104 (1987), S. 96 – 112, hier S. 104 ff.; Schultheis, Werner: Goethe: ,Die natürliche Tochter‘. Gothisch und modern, in: Euphorion 80 (1986), S. 326 – 339, hier S. 338. 595 Schulze, Winfried: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 591 – 626. 596 Jaeger: Fausts Kolonie, S. 497; vgl. auch: Osten, Manfred: „,Alles Veloziferisch“ – Faust und die beschleunigte Zeit, in: Zweihundert Jahre Goethes ,Faust‘. InselAlmanach auf das Jahr 2008, Frankfurt a.M./Leipzig 2007, S. 77 – 99.

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Begierde“597, heißt es dort. Und die Sorge im zweiten Teil in aller Schärfe: „Glück und Unglück wird zur Grille, / Er verhungert in der Fülle, / Sey es Wonne sey es Plage / Schiebt ers zu dem andern Tage, / Ist der Zukunft nur gewärtig / Und so wird er niemals fertig.“598 Der Maskenzug, um wieder auf den ersten Akt zurückzukommen, verhält sich kontrapunktisch zur Szenerie des Kaisersaals. Das „heitre[] Reich“ ist dem Reich „in deutschen Gränzen“599 gegenübergestellt und spiegelt es doch zugleich, denn das vorbeiziehende Volk ist keinen Deut besser als seine Herrscher. Alles ist bestimmt von Genuss und Gewinn, selbst die Mutter empfiehlt ihrer Tochter, den Schoß für Freier zu öffnen.600 Das Volk stürzt sich schließlich tumultartig auf Plutos Schätze und verkennt, dass es sich nur um einen „Maskenspas“601 handelt. Man muss geradezu an die Ereignisse auf dem Frankfurter Römer denken, die Goethe in Dichtung und Wahrheit ähnlich kontrastiv zur Würde des Anlasses, der Krönung, schildert.602 In der ,verkehrten Welt‘ des Maskenzugs offenbart sich die Dissonanz zwischen Schein und Sein. Der Kaiser wähnt, in der Rolle des Pluto aufgetreten zu sein, während er doch eigentlich in Gestalt des genusssüchtigen Pan, von Flammen bedrängt („Doch hör’ ich aller Orten schreyn: ,Der Kaiser‘ leidet solche Pein“603) und geistesabwesend, die Geldscheine mit der fiktiven Deckung durch die ungehobenen königlichen Schätze unterzeichnete. Schein und Sein brechen auseinander, die Zeichen des Geldes repräsentieren einen Wert, den es nicht gibt, wie die kaiserliche Majestät eine Macht, die längst ihre Grundlage verloren hat. Für das Alte Reich gilt das mindestens so sehr wie für Frankreich. Wie sehr der Zerfall der Alten Ordnung in die Reichsgeschichte verlegt wird, zeigen allerdings erst die allegorisch-abstrakten Ereignisse des vierten Akts. „Von jeher“, schreibt Schiller in der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs, „genoss dieses Reich das zweideutige Vorrecht, nur sein eigener Feind zu sein und von außen unüberwunden zu bleiben.“604 Diese Zwietracht ist nicht nur ein Leitmotiv der Arminiusdichtung, sie führt auch insgesamt die Negativliste nationaler Topoi für das Alte Reich an. Die 597 598 599 600 601 602 603 604

Goethe: Faust I, in: MA, Bd. 6,1, S. 630. Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 330. Ebd., S. 119. „Heute sind die Narren los, / Liebchen öffne deinen Schoos, / Bleibt wohl einer hangen.“ Ebd., S. 123. Ebd., S. 139. Vgl. 5. Kap., 3.3.2 Sich selbst historisch: Goethes autobiographische Retrospektive. Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 145. Schiller: Dreißigjähriger Krieg, in: MA, Bd. 4, S. 541 f.

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Thronfolgekämpfe des Spätmittelalters, die konfessionellen Kriege des 17. Jahrhunderts sowie der habsburgisch-hohenzollerische Dualismus werden in der Literatur des 18. Jahrhunderts immer wieder klagend und warnend als ,deutsche Bürgerkriege‘ und größte nationale Gefahr begriffen. Goethe gestaltet im vierten Akt des Faust II gleichsam die Arenga der Goldenen Bulle zum Archetyp dieser wiederkehrenden inneren Reichskrisen. Unter der Obhut des Frankfurter Reichsjuristen Olenschlager lernte er die berühmten Eingangszeilen auswendig zu deklamieren: „Omne regnum in se divisum desolabitur: nam principes ejus facti sunt socii furum.“605 Das in sich uneinige Reich – übrigens ein wörtliches Zitat aus den Evangelien606 – ist jedoch nicht die einzige Anleihe aus dem Text des ersten und würdigsten Reichsgrundgesetzes: Vom Wirken Satans in Gestalt der Zwietracht ist dort die Rede, beginnend mit der Schlange im Paradies über den Zerfall Trojas und Roms bis zum gegenwärtigen Missstand des Reichs unter Karl IV. Seine Grundfesten seien zerstört, da die Schlange das Gift von Neid und Hass unter den Gliedern verteilt habe.607 Goethes Mephisto ist gleichermaßen Profiteur und Förderer der reichsinternen Zwietracht: „Zuletzt, bey allen Teufelsfesten, / Wirkt der Partheyhaß doch zum Besten, / Bis in den allerletzten Grauß.“608 Er bedient sich der Worte aus Jesaja 19,2609 um die Rückkehr der Anarchie in das jüngst erst durch den Schein des Papiergeldes befriedete Reich zu referieren: Indeß zerfiel das Reich in Anarchie Wo groß und klein sich kreuz und quer befehdeten, Und Brüder sich vertrieben, tödteten, Burg gegen Burg, Stadt gegen Stadt, Zunft gegen Adel – Fehde hat, Der Bischoff mit Capitel und Gemeinde; Was sich nur ansah waren Feinde.610

605 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 177. 606 Mätthäus 12,25. In Luthers Übersetzung: „Jhesus vernam aber jre gedancken / vnd sprach zu jnen / Ein jglich Reich so es mit jm selbs vneins wird / das wird wüste.“ Vgl. auch Markus 3,25 und Lukas 11,17. 607 Olenschlager, Johann Daniel: Neue Erläuterung der Guldenen Bulle Kaysers Carls des IV. […], Frankfurt/Leipzig 1766, Arenga, o. S. 608 Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 307. 609 „Vnd ich wil die Egypter an einander hetzen / daß ein Bruder wider den andern / ein Freund wider den andern / eine Stad wider die ander / ein Reich wider das ander streiten wird.“ Luther Übersetzung. Jes. 19,2. 610 Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 290 f.

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Auch Historiker wie Michael Ignaz Schmidt,611 um nur ein Beispiel zu nennen, zitierten ebendiese Bibelstelle, um die Krise des Spätmittelalters zu charakterisieren. Das Auftreten des „Gegenkaisers“ – ein Wort, das bei den Zeitgenossen für die unterschiedlichsten Gegenkönige und Gegenkandidaten innerhalb der Reichsgeschichte verwandt wurde – ist geradezu ein ,Archetyp‘ der reichsinternen Zwietracht. Konkrete Bezüge zu Napoleon oder Friedrich II. zu postulieren, ist dahingegen irreführend. Der Dichter selbst hegte offenbar Sympathie für den „edlen Gegenkaiser, Günther von Schwarzberg“612, der 1349 als Gegenkönig zu Karl IV., dem Vater der Goldenen Bulle, in Frankfurt am Main gewählt wurde. Karl IV., selbst nicht minder zunächst ein Gegenkönig, musste wiederum erdulden, dass ihn manche Chronisten aufgrund seiner Wahl 1347 am ,falschen Ort‘ durch Geistliche unter Federführung seines Großonkels Balduin von Trier und mit Unterstützung des Papstes als ,Pfaffenkönig‘ verunglimpften, wie es in Faust II dem Gegenkaiser widerfährt.613 Goethe geht es, die Umkehrungen zeigen es, keineswegs um ein historisch identifizierbares Bild, sondern um den archetypischen Konflikt des Reichs. Figuren wie Raufebold, Habebald und Haltefest eignen sich nicht für etwas anderes: Sie personifizieren Gewalt, Gier und Geiz, die zum fragwürdigen Fundament des kaiserlichen Sieges und Fausts Eigentumsgewinn werden. So archetypisch wie die Spaltung gestaltet sich auch die Beilegung des Konflikts in der berühmten Alexandrinerszene. Unschwer ist die Goldene Bulle von 1356 in den Bestimmungen des Kaisers wiederzuerkennen. Die Gemeinschaft der Hofämter symbolisiert Einheit und Frieden des Reichs. Freilich ist die Einheit ähnlich brüchig wie das Festmahl bei der Krönung Josephs II. aus Dichtung und Wahrheit. Mit Kritik an der Goldenen Bulle, die den Partikularismus in Deutschland befördert habe, darf das nicht verwechselt werden und erst Recht nicht mit einer Anspielung auf die Kaiserkrönung Napoleons.614 Goethe, Freund einer föderalen Ordnung 611 Schmidt, Michael Ignaz: Geschichte der Deutschen, Bd. 5: Vom Rudolph von Habspurg bis auf Wenzeslaus. Vom Jahr 1272 bis 1378, Wien 1785, S. 5: „Stadt gegen Stadt, Bürger gegen Bürger, Verwandte gegen Verwandte setzten ihre Feindschaften und Kriege fort.“ 612 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 23. 613 Beate, Frey: Pfaffenkönig oder Friedenskaiser – Der Nachruhm, in: Kaiser Karl IV. Staatsmann und Mäzen, hrsg. v. Ferdinand Seibt, München 1978, S. 399 – 404; Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 291. 614 Schöne: Faust-Kommentar, S. 690: die Goldene Bulle habe „die kraftlose Zersplitterung des Reichs“ besiegelt; ebenso: Birk: Goethes Typologie der Epochenschwelle, S. 276.

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wie der Reichsverfassung oder des Rheinbundes, folgt wohl der Sicht Olenschlagers,615 der in der Goldenen Bulle keineswegs ein Dokument kaiserlicher Schwäche, sondern der Stärke gesehen hatte: „[W]as müssen das für Zeiten gewesen sein, in welchen der Kaiser auf einer großen Reichsversammlung seinen Fürsten dergleichen Worte ins Gesicht publizieren ließ“616, zitiert ihn sein Schüler. Das Reichsgesetz sollte für alle Zeiten den „divisionum & dissensionum periculis““ entgegenwirken und „ad unitatem inter Electores fovendam“ dienen.617 Eintracht und Frieden des Reichs nach gewonnener Schlacht verkündet auch der Kaiser im Faust II: „Beruhigt sey das Reich, uns freudig zugethan.“618 Das Bild des „Gewölbe[s]“ mit Schlussstein, das Goethes Kaiser in Abwandlung der Gebäude / Säulen-Metaphorik des Originaltexts verwendet, spielt unverkennbar auf die ,gotische Reichsverfassung‘ an, die durch diese würdigste lex fundamentalis auf eine neue Grundlage gestellt wurde.619 Den weltlichen Kurfürsten werden vier unterschiedliche Erzämter verliehen, dem einzigen geistlichen Kurfürsten der Titel des Erzkanzlers. Um den Frieden forthin zu wahren, sollen sie von nun an den Thronfolger wählen. Zum Dank ihrer Treue spricht ihnen der Kaiser „so manches schöne Land“ sowie ein Appellationsprivileg für ihre Landesherrschaft („Berufung gelte nicht von Euern höchsten Stellen“) und weitere Regalien und Privilegien zu.620 Ihr Territorium soll dafür „untheilbar“ sein und nur an den „älteste[n] Sohn“ vererbt werden.621 So „hab ich“, schließt der Kaiser, „[…] Euch ganz zunächst der Majestät erhoben“622. Die Bestimmungen entsprechen mit Ausnahme der „Fünfzahl“623 meist bis ins Detail dem Text der Goldenen Bulle. Weshalb anstelle der sieben nur fünf Kurfürsten auftreten, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Es handelt sich dabei um das einzige, jedoch schwache Argument, in der Szene eine Hommage an die Kaiserkrönung Napoleons von 1804 zu sehen.624 Auf die Veränderungen im Kurkollegium 615 Frandsen, Ingeborg: Die Alexandrinerszene in ,Faust II‘, Kiel 1967, S. 47 – 51; gegen die reichskritische Interpretation: ebd., S. 88 f. 616 Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: MA, Bd. 16, S. 177. 617 Olenschlager: Neue Erläuterung der Guldenen Bulle Kaysers Carls des IV., Arenga, o. S. 618 Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 310. 619 Vgl. Frandsen: Die Alexandrinerszene in ,Faust II‘, S. 66 ff. 620 Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 313 f. 621 Ebd., S. 314. 622 Ebd., S. 313. 623 Ebd. 624 Sonst spricht alles dagegen. Erstens kritisierte Goethe nicht das Auseinanderfallen von Schein und Sein im Kaisertum Napoleons, sondern im Alten Reich, und

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nach 1803, die Säkularisation von Trier und Köln, spielt die ,Fünfzahl‘ wohl kaum an, schließlich stiegen zugleich vier weltliche Fürsten neu in die oberste Kurie auf. Der Grund liegt wohl eher in der exemplarischen Funktion der Erzämter, von denen die Goldene Bulle nur fünf verschiedene kennt. Die Erzkanzler für Italien (Erzbischof von Köln) und Burgund (Erzbischof von Trier) sind für die allegorisch-abstrakte Geschichte des Reichs im Drama, das sich im Frieden von „Haus und Hof“625 abbilden soll, bedeutungslos. Doch das Glück des Reichs wird von der Realität unterlaufen: Zu Recht wurde auf das auffällige Versmaß der Szene hingewiesen, die durchgängig in stelzigen Alexandrinern gehalten ist und so eine antiquierte, förmliche Wirkung entfaltet, in auffallender Dissonanz zu den lockeren, vierhebigen Versen im Paarreim der vorrangehenden Szene.626 Schein (Ordnung/Form) und Sein (Eigennutz/Zwietracht) treten erneut auseinander – erinnert sei an Josephs Lächeln angesichts des überdimensionalen Kostüms Karls des Großen und an die fehlende Präsenz der weltlichen Kurfürsten beim Krönungsmahl in Dichtung und Wahrheit. 627 Wiewohl der Hoftag mit „Schrift und Zug“ Eintracht und Frieden für „alle Folgezeit“ versichert,628 kann das Gesetz nur kurze Zeit bestehen. Nicht aber

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zweitens weist gerade die Genauigkeit der Bezüge zur Goldenen Bulle in eine ganz andere Richtung. Napoleon ließ sich vom Papst krönen, während die Goldene Bulle die Loslösung der Kaiserwürde von der päpstlichen Krönung vorantrieb. Außerdem erklärte Napoleon die Krone zum Erbe seines Hauses, während die Erzämter der Faust-Szene bis ins Detail den Kurfürsten des Reichs als Königs-/ Kaiserwähler entsprechen. Die Erzämter unterscheiden sich im Übrigen noch dazu von jenen des Faust (bei Napoleon sind es Großwahlherr, Reichserzkanzler, Staatserzkanzler, Erzschatzmeister, Connetable, Großadmiral), ganz zu schweigen von der Rolle des Senats. Im Übrigen gehört es ins Reich der Legenden, dass Napoleon das Heilige Römische Reich erneuern wollte. Seine Selbststilisierung zum neuen Karl dem Großen verdankt sich vielmehr jener nationalen Tradition, die den Kaiser als französischen König begriff, nicht der Anhänglichkeit an eine mittelalterliche Reichsidee: Pape, Matthias: Der Karlskult an Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte, in: Historisches Jahrbuch 120 (2000), S. 138 – 181, hier S. 142 – 161; siehe die Interpretationen mit Napoleonbezug: Grappin: Zur Gestalt des Kaisers, S. 115; Binswanger: Geld und Magie, S. 54 f. Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 313. Vgl. Schöne: Faust-Kommentar, S. 691 ff. Vgl. mit anderer interpretatorischer Stoßrichtung die ausführliche formale Analyse: Frandsen: Die Alexandrinerszene in ,Faust II‘, S. 92 – 123. Vgl. in dieser Arbeit 5. Kap., 3.3.2 Sich selbst historisch: Goethes autobiographische Retrospektive. Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 314.

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weil mit ihm der Ausverkauf kaiserlicher Rechte beginnt, sondern weil das neue Reichsgesetz auf falscher Grundlage gebaut ist: Es spiegelt genauso wenig die wahren Machtverhältnisse wie das Zeremoniell im Falle des Krönungsmahls von 1764. Nicht die Goldene Bulle von 1356 trägt Schuld an der Auflösung des Reichs, sondern das Auseinanderfallen von Form und Realität, von Schein und Sein in späterer Zeit, das in die Alexandrinerszene allerdings bereits eingebettet ist. In einem Entwurf plante Goethe, dass noch vor dem Auftreten des Gegenkaisers eine ständische Deputation die „Confusion im Reiche“ zu beenden versucht, indem sie einem „weisen Fürst“ die Herrschaft anträgt, dieser aber die „Kayserwürde“ ablehnt und stattdessen empfiehlt, „den Mächtig(sten?) zu wählen“629. Der legitime Kaiser gewinnt die Schlacht gegen seinen Widersacher, jedoch nicht aus eigener Kraft. Vielmehr scheint der reiche Opponent weit überlegen, das Volk singt bereits Spottlieder auf den alten, genusssüchtigen Kaiser.630 Nicht der Mächtigste gewinnt den Thron, sondern jener, der „mit Satanas im Bunde“631 steht. Mephisto und Faust haben jedoch alles andere im Sinn, als Eintracht und Frieden im Reich zu säen. Eigennutz bleibt ihr Gewerbe: „Krieg oder Frieden. Klug ist das Bemühen / Zu seinem Vortheil etwas auszuziehen.“632 „Erhalten wir dem Kaiser Thron und Lande, / So kniest du nieder und empfängst / Die Lehn von gränzenlosem Strande“633, lautet der machiavellistisch anmutende Plan. Im Kontrast zur vorangehenden Belehnung lässt der Erzbischof, der nun ausdrücklich nicht mehr als Erzkanzler spricht, sondern in eigener Sache, nach Beendigung der Zeremonie die Maske des Gemeinsinns fallen. Des Kaisers Bündnis mit Teufel und Magie ermöglicht es ihm, seinen Herrscher im Namen der Kirche unter Druck zu setzen, ihn völlig zu entmachten und seine partikularen Bedürfnisse zu befriedigen: „Durch meinen schweren Fehl bin ich so tief erschreckt“, gesteht der Kaiser resigniert, „die Gränze sey von Dir nach eignem Maas gesteckt.“634 Was als Manifestation eines befriedeten Reichs mit einem machtvollen Herrscher

629 Kommentar der Münchner Ausgabe: ebd., S. 1035. 630 Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 298: „,Euer Kaiser ist verschollen, / Echo dort im engen Thal; / Wenn wir sein gedenken sollen, / Mährchen sagt: – Es war einmal.‘“ 631 Ebd., S. 314. 632 Ebd., S. 290. 633 Ebd., S. 292. 634 Ebd., S. 315.

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an der Spitze begann, mündet in die Erkenntnis der eigenen Schwäche: „So könnt’ ich wohl zunächst das ganze Reich verschreiben.“635 Die Reichsgeschichte des Faust II ist eine Wiederkehr des Immergleichen: Von Anarchie zum trügerischen Frieden durch Papiergeld und wieder zurück zur Anarchie gefolgt von einem neuen Frieden, der gleich in der folgenden Szene wieder unterlaufen wird. Ausgerechnet ein Jurist fasst diese Lehre in Des Epimenides Erwachen zusammen: „Es sei ein ewiges Zerstören, / Es sei ein ew’ges Wiederbaun.“636 Die Schwäche des Kaisers und sein Bündnis mit der Magie sind diesmal die vordergründige Ursache dafür. Nicht Liebe und Gemeinsinn wie im neuen Reich des Märchens halten das Reich zusammen, sondern Eigennutz, Neid und Zwietracht der Glieder. 3.3.3.2 Ein Staat jenseits des Reichs: Fausts Lehen Faust möchte das semper idem der Natur wie der Geschichte durchbrechen. Anstatt die antike ars vivendi zu erlernen, strebt er unaufhörlich nach Erkenntnis, nach Liebe und schließlich unverhohlen nach Macht. Dass Goethe die Belehnung Fausts nicht in Szene setzte, ist durchaus konsequent, denn mit dem Reich der Goldenen Bulle hat der Staat, den Faust wünscht und der erst aus dem Meer zu schaffen ist, nicht mehr viel gemein. Die Belehnung wird zwar nicht in Szene gesetzt, verbindet aber die folgenden Geschehnisse mit dem Reichsmotiv. Von Macht in der bekannten Welt, dem „Ameis-Wimmelhaufen“ einer „Hauptstadt“ oder einem Schloss mit angelegtem Lustgarten, will Faust nichts wissen.637 Er begehrt „Herrschaft“ und „Eigenthum“, die nur im Kampf mit den Elementen, dem Meer, zu gewinnen sind.638 Da herrschet Welle auf Welle kraftbegeistet, Zieht sich zurück und es ist nichts geleistet. Was zur Verzweiflung mich beängstigen könnte, Zwecklose Kraft, unbändiger Elemente! Da wagt mein Geist sich selbst zu überfliegen, Hier möcht’ ich kämpfen, dieß möcht ich besiegen.639

635 636 637 638 639

Ebd., S. 316. Goethe: Des Epimenides Erwachen, in: MA, Bd. 9, S. 206. Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 287. Ebd., S. 288. Ebd., S. 289.

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Fausts Staat soll ein Arbeitsstaat sein, aber keiner des bürgerlichen Zeitalters.640 Vielmehr trägt er das Gepräge eines despotisch-merkantilistischen Fürstentums („Genügt Ein Geist für tausend Hände“). Mephisto befiehlt er die Werbung von Arbeitskräften: „bezahle, locke, presse bey!“641 Goethes Egmont, der ständisch-konservative Widersacher Herzog Albas, hätte nicht minder gegen Faust zu kämpfen, der in direkter Filiation zu ,aufgeklärten Despoten‘ wie Joseph oder Friedrich II. steht.642 Fausts Staat wächst aus dem Reich der Erzämterszene heraus, indem es den Eigennutz der Reichsglieder noch intensiviert. Georg Sartorius ist seit langem als einer der wichtigsten Vermittler geld- und wirtschaftstheoretischen Wissens für Goethes Faust bekannt.643 Die wissenschaftlich-publizistische Tätigkeit des befreundeten Göttinger Gelehrten und Adam-Smith-Übersetzers berührt sich aber auch über die ökonomischen Aspekte hinaus mit dem Drama. In ihren Gesprächen spielten das Alte Reich und die Möglichkeit einer neuen Reichsverfassung im Kontext des Wiener Kongresses eine große Rolle. 1814 berichtet Goethe Carl August, Sartorius werde nach Weimar kommen und seine „Gedanken über eine neu zu bestellende Reichsverfassung aufsetzen und wo nicht gedruckt, doch im Manuscript mitbringen“644. „Auf Ihre neue Reichsverfassung bin ich sehr verlangend“645, schreibt er diesem und wünscht der formulierten Verfassungsidee Glück: „[…] möge sie auch so durchgehandelt werden!“646 Offensichtlich handelte es sich um das Projekt eines ,kleinen Reichs‘ ohne die Großmächte Österreich und Preußen, deren machtpolitische Überlegenheit es in der Vergangenheit gefährdet hatte: „Bey’m Erzguß ist es ein Unglück wenn einige Glieder ausbleiben, dießmal 640 Kaum eine Stelle des Faust II hat zu so vielen ideologisch-politischen Fehlinterpretationen geführt wie Fausts Vision seines eigenen Reichs: „Solch ein Gewimmel möchte ich sehn, / Auf freyem Grund mit freyem Volke stehn.“ Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 335. Goethe hat hier gewiss nicht das politische Ideal eines freien, demokratischen Arbeiter- oder Bürgerstaats artikuliert. Vgl. Schöne: FaustKommentar, S. 745 – 748. 641 Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 332 und 334. 642 So: Borchmeyer: Goethe, S. 106 f. 643 Vgl. Kommentar der Münchner Ausgabe: MA, Bd. 18,1, S. 733; Mahl, Bernd: Goethes ökonomisches Wissen, Frankfurt a.M./Bern 1982, S. 401 ff. 644 Goethe an Herzog Carl August, Februar 1814, Nr. 6756, in: WA, Abt. IV, Bd. 24, S. 165. 645 Goethe an Georg Sartorius, 28. Februar 1814, Nr. 6764, in: WA, Abt. IV, Bd. 24, S. 181. 646 Goethe an Heinrich Carl Abraham Eichstädt, 2. April 1814, Nr. 6790, in: WA, Abt. IV, Bd. 24, S. 213.

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hat man das Entgegengesetzte zu befürchten“647, repliziert Goethe dementsprechend. Sartorius’ Entwurf über die Reichsverfassung ist zumindest teilweise in die Ausführungen der 1820 publizierten Schrift Ueber die Gefahren, welche Deutschland bedrohen, und die Mittel, ihnen mit Glück zu begegnen eingegangen. Goethe hat sich, wie Bernd Mahl dokumentiert, mit diesem Werk ausgiebig beschäftigt und las es offenbar wie eine Elegie auf die vergangene und wie eine Warnung vor der kommenden Epoche.648 Die umfangreiche Schrift setzt sich, von der europäischen Gemengelage ausgehend, mit dem deutschen Bund und dessen wirtschaftspolitischer Zukunft auseinander, verbindet dies aber mit einem Rückblick auf die Reichsgeschichte, um die territorialen Umwälzungen nach 1800 und ihre Folgen aus reformkonservativer Perspektive zu beleuchten.649 Anders als viele Autoren sah Sartorius nicht in der materialistischen Philosophie die Ursache für die französischen Umwälzungen und die daraus resultierende „Gährung“ innerhalb Deutschlands und Europas. Vielmehr seien die Philosophen selbst „nur Kinder dieser Zeit“ der Neuerungssucht und des Glaubenszerfalls gewesen, in welcher die Jüngeren achtlos gegen alles wurden, „was in früherer Zeit sich gebildet hatte“. Ueber Helvetius, de la Methrie, Rousseau, Voltaire, Quesnay u. a. darf man Friedrich II. und Joseph II. nicht vergessen. Die Begeisterung für Friedrich, da die Aeußerung einer großen Kraft des Geistes und des Willens den Menschen mächtig gebietet, führte dahin, ihn auch in dem nachzuahmen, auch das zu verehren, was weder nachahmungs= noch verehrungswürdig war.650

Entscheidend habe das Verhalten der beiden Könige der Revolution vorgearbeitet. Wie Herder in seinen Briefen lobt Sartorius das Reformbestreben der aufgeklärten Monarchen im Einzelnen, kritisiert aber ihren despotischen „Habgeist“, ihr Streben nach „Länder-Erwerb“651. Was mit 647 Goethe an Georg Sartorius, 28. Februar 1814, Nr. 6764, in: WA, Abt. IV, Bd. 24, S. 181. 648 Vgl. Mahl: Goethes ökonomisches Wissen, S. 412 – 414 und 429 – 437, hier S. 437. 649 „Es ist wünschenswerth, daß die Zahl Derer, die sowohl der Willkür, als der Auflösung jeder Ordnung abhold sind, sich mehre, und daß ihr Einfluß zunehme.“ Sartorius, Georg: Ueber die Gefahren, welche Deutschland bedrohen, und die Mittel, ihnen mit Glück zu begegnen, Göttingen 1820, S. IV. Sartorius lobt Edmund Burke als einen der wenigen Autoren, die sich der allgemeinen Neuerungssucht widersetzt und das Gebot der Vernunft mit der Würde der Tradition verbunden haben. Ebd., S. 14 ff. 650 Sartorius: Ueber die Gefahren, S. 7 f. 651 Herder: Briefe, in: FA, Bd. 7, S. 62. Hier bezüglich der Tauschpläne Josephs II. mit Bayern.

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der „Hinwegnahme Schlesiens“ begann, setzte sich mit der „Theilung Polens“ fort und habe das europäische Staatensystem und mit ihm das Heilige Römische Reich in eine „Löwengesellschaft“ verwandelt.652 Das jedem Herkommen Hohn sprechende Verhalten der beiden großen Mächte Deutschlands, etwa die „Arrondierungs=Lust“ Josephs, habe „schon vieles zertrümmert“, ehe die Revolution über Europa hereinbrach.653 Ja, Frankreich habe seit 1803 „dasselbe Verfahren“ in Deutschland angewandt wie Preußen, Österreich und Russland bei den „unheilbringenden Theilungen Polens“, „bis endlich die alte Verbindung des Reichs selbst gänzlich aufgelöst ward, und alle Grenzen und Landeshoheit im Vaterlande völlig ungewiß wurden“654. Die seit 1803 bis 1815 „erfolgten Aus= und Umtauschungen Deutschlands“ müssten „als die Glieder einer und derselben Kette“ betrachtet werden, die bis in den Dreißigjährigen Krieg zurückreiche.655 Kurz: Der Zerfall des Reichs und die Kritik der Ökonomie sind bei Sartorius zwei Seiten derselben Krisenphänomenologie, welche die Erosion der europäischen Gesellschaft im Allgemeinen und Deutschlands im Speziellen beschreibt. „Schon früher hatte das Papiergeld die tiefsten Wunden geschlagen“656, notiert er. Das Vordringen des beweglichen Eigentums und des Geldes sorgte maßgeblich für den ökonomischen und sozialen Umbau der Gesellschaft, dem das Hauptaugenmerk der gesamten Schrift gilt. Sartorius’ Fazit nach dem Studium der föderalen deutschen Wirtschafts- und Staatengeschichte lautet durchaus in Opposition zu Adam Smith, hier aber vornehmlich mit politischer Stoßrichtung: „Sucht Jeder nur den eigenen Vortheil, so kann das Ganze nicht gedeihen.“657 652 653 654 655

Sartorius: Ueber die Gefahren, S. 8. Ebd., S. 11. Ebd., S. 173. Ebd., S. 174. „So ward das vormahlige Reich schon längst als eine Art von Entschädigungs=Land von Europa betrachtet, und nur in einem etwas größern Umfange geschah von Napoleon, was früher dem Schweden=Könige Gustaf Adolf und Ludwig dem XIII. und XIV. von Frankreich gelungen war. Wir tragen die Schuld der Väter und unsere eigene; allein das Angstgeschrey am jähen Abgrunde kann nicht immer helfen: wenn auch die Hoffnung für die Zukunft nicht aufzugeben ist.“ Ebd., S. 177. 656 Ebd., S. 66. Vgl. auch: ebd, S. 72, 74, 96, 430. 657 Ebd., S. 487. Zur Adam-Smith-Kritik durch Sartorius: Mahl: Goethes ökonomisches Wissen, S. 421 – 429. Goethes berühmte Äußerung zu Eckermann über die föderale Einheit Deutschlands von 1828 ist beinahe eine wörtliche Übernahme aus Sartorius: „Geht uns Manches ab, dessen andre Völker, die eine größere Einheit kennen, sich erfreuen; so hat die Mannigfaltigkeit auf die vielfache geistige Ent-

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Fausts Projekt besteht in Ansiedlung und Fruchtbarmachung eines neuen Landes. An die Kolonisation und Melioration der merkantilen ,Peuplierungspolitik‘ zu denken, ist trotz mannigfacher anderer, modernerer Parallelen geradezu unvermeidlich.658 Die Landesherren des späten 17. und des 18. Jahrhunderts suchten durch gezielte Umsiedlungs- und Ansiedlungspolitik die Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Kriegs auszugleichen und gleichzeitig die agrarische und gewerbliche Struktur ihrer Territorien zu verbessern. Trockenlegungen von Sumpfgebieten zur Gewinnung von Siedlungsland gehörten hier genauso dazu wie Kanalbauten und Anwerbung von Siedlern durch weitreichende Privilegierung. Fausts Kolonisation fungiert im Drama gleichsam als Sinnbild jener wickelung und Bildung andere große und wohlthätige Folgen gehabt. Wenn uns die Einheit der Form versagt ist, so bleibt uns eine andere, die der Gesinnung übrig, der Liebe des gemeinsamen Deutschen Vaterlandes, die wir erhalten müssen, weil sonst unser Aller Untergang früher oder später gewiß ist. Auch schützt die Mannigfaltigkeit bey uns vor derjenigen Einheit, die in anderen Ländern so verderblich geworden, die der rohen Willkür verwandt ist, oder die oft dazu geführt hat.“ Sartorius: Ueber die Gefahren, S. 487. Vgl. Goethe: Gespräche mit Eckermann, 23. Oktober 1828, in: MA, Bd. 19, S. 632 f. 658 Zu dieser Analogie: Borchmeyer, Dieter: Der aufgeklärte Herrscher im Spiegel von Goethes Schauspiel, in: Aufklärung 2 (1987), S. 49 – 74, hier S. 59 f. Zum ökonomisch-politischen Peuplierungs-Diskurs im 18. Jahrhundert: Fuhrmann, Martin: Volksvermehrung als Staatsaufgabe? Bevölkerungs- und Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn 2002. Eine direkte Anspielung auf Friedrich II. ist nach Mommsen unwahrscheinlich, da Fausts Kolonie ja im Meer entstehen soll, was allerdings wohl eher aufgrund des Kampfs gegen die Elemente nötig war, nicht um die Analogie zur Melioration und Kolonisation im Deutschland des 18. Jahrhunderts zu kappen. Vgl. Mommsen: Die politischen Anschauungen Goethes, S. 76 f. Fußnote 6. Neben dem friderizianischen Kolonisationswerk bieten sich natürlich auch andere Beispiele aus den Territorien innerhalb und außerhalb des Reichs an. Die oft bemühten Großprojekte des Panama-, Donau-, Rhein- oder Suezkanals sind für den großen, geraden Kanal zum Palast stimmig, nicht aber für das neu geschaffene Land. Wieder vermischen sich Altes (Meliorationen etc.) und Neues (PanamaKanal etc.). Vgl. Schöne: Faust-Kommentar, S. 707 – 710; zu den Kanälen: Binswanger: Geld und Magie, S. 157 – 159. Der Vergleich zum Saint-Simonismus leidet an dem Defizit, dass von Industrie und Wissenschaft bezüglich Fausts Reich im Drama nie die Rede ist (auch wenn manche Interpretatoren eine Dampfmaschine zu sehen meinen), dafür aber von Spaten und Piraterie. Zudem spielte Goethe schon zuvor mit Odoardos Kolonisationswerk aus den Wanderjahren (1821/1829) deutlich auf die Politik der ,aufgeklärten‘ Fürstentümer an, nicht erst nach der intensiven Auseinandersetzung mit dem Saint-Simonismus 1830. Die Faustfigur selbst fügt sich freilich durchaus in dieses Bild. Dazu: Jaeger: Fausts Kolonie, S. 595 – 606.

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Kapitel 5: Abgesänge und Arbeit am Mythos

machtbewussten Staaten, die, wie insbesondere Preußen im 18. Jahrhundert, politisch und ökonomisch aus dem Reich herauszuwachsen begannen. Deutlich wird der Bruch mit der alten Gesellschaft im Faust II nicht nur durch den ,Länderschacher‘ aus dem vierten Akt, dem Faust seinen Besitz verdankt, sondern ganz besonders durch die Zwangsumsiedlung und faktische Ermordung des friedlichen Ehepaars Philemon und Baucis sowie ihres Gastes, dem Wanderer. Vielleicht spiegelt die Szene weniger den Schritt von der Subsistenzwirtschaft zum Kapitalismus als vielmehr das Machtstreben eines großen Flächenstaats unter einem Despoten (König Ahab dient immerhin zum Vergleich) gegenüber kleinräumigen Herrschaftsstrukturen, in dem Goethe mit Sartorius den weltverzehrenden Geist der Moderne vorbereitet sah. Philemon vertraut auf den Kaiser, der nicht zulassen werde, dass einer seiner Vasallen im Bündnis mit dem Teufel das Land dergestalt verwandelt: „Kann der Kaiser sich versündgen / Der das Ufer ihm verliehen?“ Baucis dagegen weiß von den „Menschenopfer[n]“, die der „gottlose“ Despot für sein Projekt in Kauf nahm, und dass ihm nun danach gelüstet, ihre kleinen Hütte „unterthänig“ zu machen.659 Offenbar findet sich mitten in dem mächtigen „Hochbesitz“660 Fausts ein gleichsam reichsunmittelbarer Fleck, bestehend aus Haus und Kapelle der beiden Alten. Seine Herrsch- und Besitzsucht leidet an dem „verdammte[n] Läuten!“661 „Die Alten droben sollten weichen,/ Die Linden wünscht ich mir zum Sitz, / Die wenig Bäume, nicht mein eigen, / Verderben mir den Welt-Besitz.“662 Faust strebt allerdings nicht nur nach flächendeckender Herrschaft, er will auch „das verfluchte Bim-Baum-Bimmel“663 zum Schweigen bringen – wohl eine Anspielung auf die Säkularisation: Die josephinische Klosterreform im 18. Jahrhundert war nicht nur Teil des frühmodernen „Verfleißigungsprozesses“ (Paul Münch)664, sie bereitete auch die massive Besitzumschichtung seit 1803 zugunsten der neuen mächtigen Staaten von Napoleons Gnaden vor. Zwar wollte Faust die Brandrodung und Ermordung des locus amoenus nicht („Tausch wollt ich, keinen Raub“), sein Streben führt aber den im Klagelied des Türmers Lynceus betrauerten Bruch mit der alten Welt und den alten Werten erst herbei: „Was sich sonst dem Blick empfohlen, / Mit Jahrhunderten ist 659 660 661 662 663 664

Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 319. Ebd., S. 320. Ebd. Ebd., S. 322 f. Ebd., S. 323. Münch, Paul (Hrsg.): Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der ,bürgerlichen Tugenden‘, München 1984.

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hin.“665 Fausts Fürstentum ist ein maßloses Fürstentum jenseits des Reichs und spiegelt so indirekt dessen Verfall. Weder die Elemente noch das Rad der Fortuna besiegt der neue Herrscher jedoch: Die Spaten der Lemuren klingen nur dem blinden Faust nach baldigem Triumph, während sie in Wirklichkeit das Grab für den modernen ,Everyman‘ ausheben. Sub specie aeternitatis ist auch der Reichsuntergang von 1806 nur ein Ereignis unter vielen. „Nord und West und Süd zersplittern, / Throne bersten, Reiche zittern“, lauten die ersten Verse im West-Östlichen-Divan,666 dessen mal heiter-alltägliche, mal tiefsinnig-feierliche Gedichte die ungezwungene Alternative zu Wielands strengen Cicero-Exerzitien sind: „Diese mohamedanische Religion, Mythologie, Sitte geben Raum einer Poesie wie sie meinen Jahren ziemt“, schreibt Goethe in einem Brief 1820 an Zelter, Unbedingtes Ergeben in den unergründlichen Willen Gottes, heiterer Überblick des beweglichen, immer kreis= und spiralartig wiederkehrenden Erdetreibens, Liebe, Neigung zwischen zwey Welten schwebend, alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend. Was will der Großpapa weiter?667

Seine Naturauffassung, die als poetologisches Grundprinzip auch den Faust II prägt,668 führt, das belegen die Gedichte des Divan eindrucksvoll, zu keinem Pessimismus. Zyklisches Denken, ,wiederholte Spiegelungen‘, Metamorphose, die Gesetze von Polarität und Steigerung prägen das poetisch vermittelte Naturbild des alten Goethe, nicht aber in kühler Statik, sondern in lebendiger Dynamik: Das Naturgeschehen gilt ihm als spiralförmiges Aus-Sich-Selbst-Entwickeln und In-Sich-Selbst-Zurückkehren, das heiter bejaht werden kann. Die Geschichte menschlicher Reiche hingegen erscheint im Faust als chaotisch-zufällige Wiederholung immer gleicher menschlicher Fehler und als Aneinanderreihung kontin665 Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 326 f. 666 Goethe: West-Östlicher Divan, in: MA, Bd. 11,1,2, S. 9 (Gedicht Hegire). 667 Goethe an Carl Friedrich Zelter, 11. Mai 1820, in: WA, Abt. IV, Bd. 33, S. 27. In den Materialien zur Geschichte der Farbenlehre findet sich der gleiche Gedanke: „Der Kreis, den die Menschheit auszulaufen hat, ist bestimmt genug, und ungeachtet des großen Stillstandes, den die Barbarei machte, hat sie ihre Laufbahn schon mehr als einmal zurückgelegt. Will man ihr auch eine Spiralbewegung zuschreiben, so kehrt sie doch immer wieder in jene Gegend, wo sie schon einmal durchgegangen. Auf diesem Wege wiederholen sich alle wahren Ansichten und alle Irrtümer.“ Goethe: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, in: MA, Bd. 10, S. 475. 668 Vgl. den Kommentar der Münchner Ausgabe zu den naturwissenschaftlichen Denkformen im Faust II: MA, Bd. 18,1, S. 545 – 553.

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Kapitel 5: Abgesänge und Arbeit am Mythos

genter Ereignisse. Sie ist in globalem Maßstab unsinnig und absurd, eine Suche nach Fortschritt vergebens.669 Sein Faust II, so war zu zeigen, integriert in das kosmologisch-menschliche Welttheater allegorisch-abstrakt die Geschichte des Heiligen Römischen Reichs in eben diesem Sinne als sich wiederholende Krisen- und schließlich Verfallsgeschichte. Ein Reich, das untergeht wie alle Reiche, seien es jene der Antike, sei es das Grand Empire Napoleons. Goethe offeriert aber zugleich auf den Spuren des Winckelmannschen Antikeideals und der eigenen Naturstudien ein Gegenangebot im Sinne eines poetisch-philosophischen Therapeutikums für diese Enttäuschung. Im Faust II zeigt das allein die Begegnung von Antike und Mittelalter, von Klassik und Romantik im arkadischen Glück Fausts und Helenas:670 Faust: Nun schaut der Geist nicht vorwärts nicht zurück, Die Gegenwart allein – Helena: ist unser Glück.671

Bezeichnenderweise handelt es sich um eine Begegnung in der künstlerischen Mannigfaltigkeit. Im Politischen entspricht dem die Parallelisierung der griechischen und der germanisch-europäischen Vielfalt, nicht aber die römische Zentralität und Uniformität, wie sie die Zeitgenossen im bür-

669 So die über Friedrich von Müller kolportierten Aussagen Goethes: „[…] ja, die Geschichte läßt ganz wundersame Phänomene hervortreten, je nachdem man sie aus einem bestimmten Kreispunkte betrachtet. Und doch kann eigentlich niemand aus der Geschichte etwas lernen, denn sie enthält ja nur eine Masse von Torheiten und Schlechtigkeiten.“ Friedrich von Müller, 12. Dezember 1824, Nr. 171, in: Die letzen Jahre. Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod, Teil 1, hrsg. v. Horst Fleig, Frankfurt a.M. 1993, S. 229; „Ich bin nicht so alt geworden, um mich um die Weltgeschichte zu kümmern, die das Absurdeste ist, was es gibt; ob dieser oder jener stirbt, dieses oder jenes Volk untergeht, ist mir einerlei, ich wäre ein Tor, mich darum zu bekümmern.“ Friedrich von Müller, 6. März 1828, Nr. 499, in: ebd., S. 596; „Die Weltgeschichte sei eigentlich nur ein Gewebe von Unsinn für den höhern Denker, wenig aus ihr zu lernen.“ Friedrich von Müller (Tagebuch), 11. Oktober 1824, Nr. 152, in: ebd., S. 206. Vgl. Lange, Victor: Goethes Geschichtsauffassung, in: Bilder, Ideen Begriffe: Goethe-Studien, hrsg. v. dems., Würzburg 1991, S. 113 – 125, hier S. 117. 670 Vgl. Zabka, Thomas: Faust II – Das Klassische und das Romantische. Goethes ,Eingriff in die neueste Literatur‘, Tübingen 1993. Zum Grundgedanken der ,Selbstkritik‘ Goethes an der Klassik und der Dialektik von Klassik und Romantik: Jaeger: Fausts Kolonie, S. 623 – 630. 671 Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 261; Jaeger: Fausts Kolonie, S. 477 – 481; Hadot: Philosophie als Lebensform, S. 101 – 122.

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gerlich-aristokratischen Grand Empire Napoleons verwirklicht sahen.672 Faust errichtet ein ,Lehensreich‘ auf dem Peloponnes. Seinen Heeresteilen, den Germanen, Goten, Franken, Sachsen und Normannen, werden griechische Poleis zugewiesen, der Palast des Spartiaten Menelaos durch die mittelalterliche Ritterburg Fausts ersetzt.673 In dieser Verbindung aus antikgriechischer wie mittelalterlich-europäischer Vielfalt herrscht – dank der Kunst – für einen zeitlos-ewigen Augenblick Harmonie und Einfalt. Eine Hommage an die Weimarer Klassik im ,griechischen Reich deutscher Nation‘? Vielleicht. Hier jedenfalls ist die poetisch-politische Utopie des Faust II zu suchen, gegenüber welcher der ökonomisch-politische Machtstaat des letzten Akts allein als Dystopie erscheinen kann.

4. Ausblick: Historisierung, Spiritualisierung, Verjüngung Von Heinrich von Treitschke bis Thomas Nipperdey ist der ,sang- und klanglose‘ Untergang des Reichs ein Topos in der deutschen Geschichtsschreibung.674 Zu einem Eckdatum für die Literaturgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts ist das Jahr 1806 daher nie geworden. Kaiser Franz II. besiegelte mit seiner Abdankung am 6. August lediglich, so liest man oft, formaljuristisch, was ohnehin längst akzeptierte Tatsache war.675 Erst die jüngere historische Forschung sorgte für eine Revision dieses Stereotyps, dessen Unrichtigkeit schon die im vorangehenden Kapitel geschilderten Reaktionsformen nahelegen: Das Jahr 1806 wird seither mehrheitlich als bedeutende politische Zäsur gewertet.676 Wolfgang Burgdorf fasst seine wahrnehmungsgeschichtliche Studie mit den Worten zusammen: „In ihren 672 Vgl. zur Opposition der beiden ,Antiken‘ um 1800: Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1, S. 132 – 181. 673 Goethe: Faust II, in: MA, Bd. 18,1, S. 263 f. Siehe auch die Entwürfe: ebd., S. 963 f. 674 Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1, S. 235; Nipperdey: Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 14. Dazu: Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 154 f. 675 Der Hinweis auf Goethes Kutscher-Zitat ist dabei topisch. „Das Ende dieses Reiches barg keine Überraschungen mehr in sich.“ Schulz: Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 2, S. 3. 676 Vgl. North, Michael/Riemer, Robert (Hrsg.): Das Ende des Alten Reichs im Ostseeraum: Wahrnehmung und Transformationen, Köln/Weimar/Wien 2008; Klinger, Andreas/Hahn, Hans-Werner/Schmidt, Georg (Hrsg.): Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen, Köln/Weimar/Wien 2008.

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unmittelbaren Reaktionen auf das Reichsende zeigten sich die Deutschen 1806 zutiefst schockiert, fassungs- und verfassungslos.“677 Zu Recht richtet er den Fokus auf die „Sagbarkeitsbedingungen“ um 1800 und verweist auf die gestörten Kommunikationswege aufgrund der Landsperren von 1806 und 1807. Der Mehrheit der Intellektuellen attestiert er eine Art Schockstarre, die sich wie im Falle Johann Gottfried Seumes in bewusster Verweigerung dichterischen Schaffens äußern konnte. Nach den Niederlagen von Ulm und Austerlitz könne er mit Blick auf die Schande seines Vaterlands nicht mehr produktiv sein: „Mein Dichten ist vorbei, und auch mein Trachten.“678 Die mangelnde Diskursivierung des Reichsendes durch die nun zum Anachronismus verdammte ,Reichspublicistik‘ charakterisiert der Münchner Historiker mit Hilfe eines Paradoxons: „Das Schweigen der deutschen Staatsrechtler war unüberhörbar.“679 Eine andere intellektuelle Reaktionsform sei die innere Emigration, gepaart mit der Kompensation durch kulturelle Leistung gewesen, Philipp Otto Runge dient hierfür als Gewährsmann.680 Wielands oben geschilderte Übersetzung der CiceroBriefe lässt sich als weiteres Beispiel ergänzen. Kein Zweifel, sang- und klanglos war der Reichsuntergang also nicht, wenn ihn auch anderes Getöse wie die Niederlagen Österreichs und Preußens vielerorts überdeckten. Mit gewissem Recht wird man sagen dürfen, dass die Verarbeitung des Reichsendes zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein bisher weitgehend unberücksichtigtes, aber wesentliches Signum der Dichtung über die literarischen Epochengrenzen hinweg ist. Das Reich blieb im 19. Jahrhundert ein wichtiger ideologischer Baustein der politischen Ideengeschichte – allerdings in sehr unterschiedlichem Gewand. Man denke an das nationalliberale Reich, wie es die ,altdeutschen‘ Burschenschaften in schwärmerischer Sehnsucht 1817 auf der Wartburg beschworen, oder an die romantisch-konservative Verklärung vonseiten der Entourage Friedrich Wilhelms IV.681 „Neben einer Erneuerung des habs677 Burgdorf, Wolfgang: Das Vahlkampfsche Schweigen. Oder wie die Deutschen 1806 das Entgleisen ihrer Geschichte kommentierten, in: Das Ende des Alten Reichs im Ostseeraum. Wahrnehmungen und Transformation, hrsg. v. Michael North/Robert Riemer, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 172 – 205, hier S. 198. 678 Seume an Georg Friedrich Treitschke, Ende Januar 1807, in: Johann Gottfried Seume. Briefe hrsg. v. Jörg Drews/Dirk Sangmeister, Frankfurt a.M. 2002, S. 537 f. Dazu: Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 206. 679 Ebd., S. 168. 680 Ebd., S. 200 ff. 681 Puschner: Reichsromantik; Kroll, Frank-Lothar: Kaisermythos und Reichsromantik – Bemerkungen zur Rezeption des Alten Reichs im 19. Jahrhundert, in:

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burgisch-deutschen Kaisertums bestanden ,konservativ-defensive‘, ,unitaristisch-demokratische‘, süddeutsch-österreichische und norddeutschpreußische, föderale oder abendländisch-christlich-universale Reichsvorstellungen.“682 Mit dem Alten Reich haben die rückwärts oder vorwärts gewandten Projektionen freilich oft nicht mehr als den Namen gemein, und dennoch spielt das geschichtliche Erbe eine große Rolle. Heinrich August Winkler belebte aufgrund dieser Dominanz des Reichsdenkens die Sonderwegsthese neu, indem er Nipperdeys pointierten Napoleon-Satz zu der Feststellung verschob: „Im Anfang war das Reich […].“683 Die universalistischen Ansprüche der deutschen Politik des 19. und 20. Jahrhunderts entspringen, so die Suggestion, dem subliminalen Fortwirken der Tradition des Heiligen Römischen Reichs. Wie das folgende Kapitel zeigen wird, ist diese Argumentation jedoch stark verkürzt,684 ignoriert sie doch, dass die Respiritualisierung des Reichsdenkens im frühen 19. Jahrhundert nur gelang, weil sie den juridifizierten Reichsgedanken des 18. Jahrhunderts unter- bzw. überbot. Erst das Scheitern des auf Recht und Stabilität zielenden, meist ,nüchternen‘ Reichsideals der späten Frühen Neuzeit ermöglichte den erneuten Rekurs auf universalistische Ansprüche. Ist gegen Winkler also das frühneuzeitliche Reich gleichsam aus der Verantwortung für den weiteren Verlauf der Geschichte zu nehmen, so muss seine These doch indirekt bestärkt werden: Innerhalb der literarischen Intelligenz des Aufklärungszeitalters hatte sich die Vorstellung etabliert, dass den Deutschen gerade aufgrund ihrer föderalen, nicht machtstaatlichen Struktur ein kultureller Sendungsauftrag Was vom Alten Reiche blieb. Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Matthias Asche/Thomas Nicklas/Matthias Stickler, München 2011, S. 19 – 33; Kroll, Frank-Lothar: Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik, Berlin 1990, S. 22 – 24 und 132 ff. 682 Puschner: Reichsromantik, S. 326; vgl. die Typologie zur Reichsidee in der Spätneuzeit bei: Langewiesche, Dieter: Das Alte Reich nach seinem Ende. Die Reichsidee in der deutschen Politik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Versuch einer nationalgeschichtlichen Neubewertung in welthistorischer Perspektive, in: ders.: Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München 2008, S. 211 – 234, hier S. 225 – 229. 683 Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Vom Ende des Alten Reichs bis zum Untergang der Weimarer Republik, 5. Auf. München 2002, S. 5. 684 Zur Kritik an Winkler: Langewiesche: Das Alte Reich nach seinem Ende, S. 211 – 234.

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zukäme.685 Die Mischung aus Kulturnationalismus und universalistischer Reichsidee, wie sie sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts häufig findet, kann bei aller Transformation ihre partielle Abhängigkeit von dieser Tradition kaum leugnen. Die literarischen Reichskonzepte des frühen 19. Jahrhunderts sind häufig gleichsam ins Mittelalter verschobene Reichsreformprogramme, die aber aufgrund der Erfahrungen der Gegenwart den Gedanken einer staatlichen Einheit ins Mittelalter tragen, den es dort so nicht gegeben hat. Der defensive Reichsverband der Frühen Neuzeit verwandelte sich zu jenem machtvollen, spirituell aufgeladenen Reich, das mit nationalem Furor aus dem weiteren Lehensverband abgeleitet ist und mit den Reichskonzepten der vorangehenden Jahrhunderte nur noch in loser Verbindung steht. Im Folgenden sollen ausblickhaft die Anteile des frühneuzeitlichen Reichsgedankens an der Reichsromantik untersucht werden, um seine spirituelle und universalistische Überblendung an wenigen Exempeln aufzuzeigen. Es geht nicht darum, die bekannte Verherrlichung des mittelalterlichen Reichs erneut zu rekapitulieren, vielmehr sollen die Zusammenhänge mit und der Ablösungsprozess von dem frühneuzeitlichen Reichsdenken aufgezeigt werden. Das Beispiel Heinrich von Kleists illustriert anschließend die nationalistische Indienstnahme des Reichs und das Spannungsverhältnis zum romantischen Ideal. 4.1 Das heilige Reich: Arnim, Novalis, Schlegel, Wetzel und Eichendorff Die Romantik hat das Mittelalter nicht erfunden, vielmehr verdankt sich die Mittelalterbegeisterung des frühen 19. Jahrhunderts den literarischen wie historischen Vorarbeiten des Aufklärungszeitalters.686 Zum „Paradigma geschichtsphilosophischer Konstruktion“687 wurde es aber erst um 1800 erhoben. Die ,schwäbische‘ wie die ,altdeutsche‘ Zeit repräsentierte im triadischen Schema der Romantik jene paradiesische Ureinheit, der die Gegenwart verlustig gegangen sei und die erst die Zukunft wiederbringen werde. Über die literarischen, philologischen, aber auch die politischen Dimensionen dieser romantischen Mittelalterbegeisterung ist viel ge685 Vgl. Kemiläinen: Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes. 686 Vgl. Schmid, Christoph: Mittelalterrezeption des 18. Jahrhunderts zwischen Aufklärung und Romantik, Regensburg 1979. 687 Ueding: Klassik und Romantik, S. 121.

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schrieben worden.688 Im Gegensatz zu Fragen nach Katholizismus, Ständeordnung und Lehenswesen, Volksgeist und organologischer Staatsidee sowie der christlich-abendländischen Europa-Ideologie, um nur die wichtigsten Schlagwörter der ,politischen Romantik‘ zu nennen,689 ist der Zusammenhang mit dem Untergang des Alten Reichs um 1800, mit den späten Reichsreformgedanken und der spezifisch reichsdeutschen reservatio mentalis weitgehend unberücksichtigt geblieben.690 „Die Unerträglichkeit der Gegenwart trieb in die Vergangenheit“691, schreibt der liberale Jenaer Historiker und Publizist Heinrich Luden. Keinesfalls lässt sich aber pauschal behaupten, dass das Mittelalterbild der Romantik „frei von konkreten politischen Implikationen“ geblieben und erst im Zuge der „deutschen Nationalbewegung“ gegen Napoleon seit 1812/13 politisiert worden sei.692 Vielmehr steht die Aufwertung des Mittelalters um 1800 bereits in einem explizit politischen Zusammenhang: Sie ist eine Reaktion auf den Sterbeprozess des Alten Reichs, aber keineswegs allein eine nostalgische Flucht.693 4.1.1 Kompensation des Reichsverlusts Grundimpuls ist vielfach, die nationale Identität in ihrer Vielfalt trotz aufgelöster Reichsverfassung kulturell zu bewahren. In diesem Punkt berühren sich Romantik und Nationalismus auf das Engste. Johann Gottlieb Fichte appelliert an die deutsche Nation und hofft, die Krise werde das Zeugungselement sein, für ihr Erwachen und ihre Stärkung. Zunächst gelte 688 Vgl. z. B. die umfangreiche Darstellung: Höltenschmidt, Edith: Die MittelalterRezeption der Brüder Schlegel, Paderborn 2000. 689 Schwering, Markus: Politische Romantik, in: Romantik-Handbuch, hrsg. v. Helmut Schanze, 2. Aufl. Stuttgart 2003, S. 479 – 509; ders.: Romantische Geschichtsauffassung – Mittelalterbild und Europagedanke, in: ebd., S. 543 – 557. 690 „Amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Französische Revolution, Koalitionskriege, Aufstieg und Untergang Napoleons, Restauration und Heilige Allianz, der griechische Freiheitskampf und die französische Juli-Revolution von 1830 bilden die politischen Koordinaten der Epoche, in der Romantik ihren geschichtlichen Ort findet.“ Schulz, Gerhard: Romantik. Geschichte und Begriff, 3. Aufl. München 2008, S. 51; anders: Riedl, Peter Philipp: Das Alte Reich und die Dichter. Die literarische Auseinandersetzung mit einer politischen Krise, in: Aurora 59 (1999), S. 189 – 224; ders.: Verfassung in der deutschen Literatur um 1800, in: Der Staat, Beiheft 15: Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur, hrsg. v. Hans-Jürgen Becker, Berlin 2003, S. 135 – 159. 691 Luden, Heinrich: Geschichte des teutschen Volks, Bd. 1, Gotha 1825, S. VI. 692 Schwering: Romantische Geschichtsauffassung, S. 549 f. 693 Gegensätzlich: Kroll: Kaisermythos und Reichsromantik, S. 22.

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es jedoch, der Gefahr entgegenzuwirken, dass eine Zeit komme, in der „keiner mehr lebe, der Deutsche gesehen, oder von ihnen gehört habe“694. Aufgerufen zur Tätigkeit sind die Einwohner des soeben untergegangenen Alten Reichs: „Ihr habt noch die Deutschen als Eins nennen hören, ihr habt ein sichtbares Zeichen ihrer Einheit, ein Reich, und einen Reichsverband, gesehen, oder davon vernommen, unter euch haben noch von Zeit zu Zeit Stimmen sich hören lassen, die von dieser höhern Vaterlandsliebe begeistert waren.“695 August Wilhelm Schlegel ruft bereits am 12. März 1806 in einem bekannten Brief an Friedrich de la Motte Fouqué aufgrund der Ereignisse nicht zum Schweigen, sondern zur dichterischen Tätigkeit auf: Wir bedürfen also einer durchaus nicht träumerischen, sondern wachen, unmittelbaren, energischen und besonders einer patriotischen Poesie. […] Vielleicht sollte, so lange unsre nationale Selbständigkeit, ja die Fortdauer des deutschen Namens so dringend bedroht wird, die Poesie bei uns ganz der Beredsamkeit weichen […]. Wer wird uns Epochen der deutschen Geschichte wo gleiche Gefahren uns drohten, und durch Biedersinn und Heldenmuth überwunden wurden, in einer Reihe Schauspiele wie die historischen von Shakespeare allgemein verständlich und für die Bühne aufführbar, darstellen?696

Schlegel empfiehlt als passende Sujets den Dreißigjährigen Krieg, die Regierungszeit Heinrichs IV. oder die Hohenstaufer. Die Kunst sollte der Kontingenzbewältigung dienen, da der Romantiker wie Wieland die Gefahr sah, dass Deutschland mit dem Verlust der Reichsverfassung aus dem Namensregister der europäischen Völker gestrichen werden könnte.697 Die Suche nach einer deutschen Ilias im Umkreis der Romantiker entsprang weniger der Identifikation mit den Griechen als der schmerzlichen Parallele zur Zerstörung der antiken Stadt. Der Triumphzug des Nibelungenlieds nach der Jahrhundertwende erklärt sich nicht zuletzt aus der Passung von Stoff und politischer Konstellation im Reich: ein Nationalepos, das keine Siegergeschichte ist, sondern den Untergang der Helden schildert und zugleich das Überleben des Ruhms in der Poesie beglaubigt. Wer wollte, konnte zudem in König Etzel/Attila ein Abbild des französi694 Fichte, Johann Gottlieb: Vierzehnte Rede. Beschluß des Ganzen, in: ders.: Reden an die deutsche Nation, Hamburg 1955, S. 228 – 246, hier S. 233. 695 Ebd. 696 August Wilhelm Schlegel an Friedrich de la Motte Fouqué, 12. März 1806, in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Eduard Böcking, Bd. 8, Leipzig 1846, S. 142 – 153, hier S. 145 f. 697 Vgl. 5. Kap., 3.2.2 Die Cicero-Übersetzung als Palliativum.

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schen Kaisers Napoleon erblicken.698 Schlegel formuliert 1803/1804: „Diese colossale Tragödie endigt mit dem Untergange einer Welt, es sind die letzten Dinge des Heldenzeitalters, und zwar so, daß man sich nach den Nibelungen weiter kein mythisches Epos aus diesem Cyklus denken kann.“699 Friedrich Heinrich von der Hagen folgt Schlegels Ruf: „[…] mitten unter den zerreißendsten Stürmen“ rege sich „in Deutschland die Liebe zu der Sprache und den Werken unserer ehrenfesten Altvordern […] und es scheint, als suche man in der Vergangenheit und Dichtung, was in der Gegenwart schmerzlich untergeht.“700 Das Nibelungenlied gilt ihm als „lebendige Urkunde des unvertilgbaren Deutschen Karakters“. „Traurend und klagend“ würde es den patriotischen Deutschen zurücklassen, aber „auch getröstet und gestärkt“, „mit Ergebung in das Unwendliche“ und „mit Hoffnung auf dereinstige Wiederkehr Deutscher Glorie und Weltherrlichkeit“701. In vergleichbarem Sinne fordert Achim von Arnim Ende 1805 in Beckers Kaiserlich privilegirtem Reichs-Anzeiger (!) die Nation eindringlich auf, an der Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn mitzuwirken und Funde mitzuteilen: Wären die deutschen Völker in einem einigen Geiste verbunden, sie bedürften dieser gedruckten Sammlungen nicht, die mündliche Überlieferung machte sie überflüssig; aber eben jetzt, wo der Rhein einen schönen Teil unsres alten Landes los löst vom alten Stamme, andere Gegenden in kurzsichtiger Klugheit sich vereinzeln, da wird es nothwendig, das zu bewahren und aufmunternd auf das zu wirken, was noch übrig ist, es in Lebenslust zu erhalten und zu verbinden.702

Mit anderen Worten: Nun, da das politische Band des Alten Reichs durch die Abtrennung der linksrheinischen Gebiete zerrissen ist, muss die deutsche Identität via Kultur konserviert und gerettet werden. Im Gegensatz zum ,Formgewinn‘ der Weimarer Klassik richtet sich das Interesse 698 Vgl. z. B. Kalchberg, Johann Nepomuk: Attila. Ein dramatisches Gedicht, Wien/ Gratz 1806. 699 Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über die romantische Literatur [1803 – 1804], in: Kritische Ausgabe der Vorlesungen, hrsg. v. Georg Braungart, Bd. II/1: Vorlesungen über Ästhetik, Paderborn/München/Wien/Zürich 2007, S. 1 – 194, hier S. 96. Kursivierung M. H. 700 Von der Hagen, Friedrich Heinrich: Zueignung an Johannes Müller, 28. August 1807, in: ders.: Der Nibelungen Lied, Berlin 1807, o. S. 701 Ebd. 702 Kaiserlich privilegirter Reichs-Anzeiger 339 (17. Dez. 1805), zit. n. Brentano, Clemens: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 8, hrsg. v. Heinz Rölleke, Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1977, S. 347.

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nicht primär auf das Erbe der europäischen Aufklärung im Allgemeinen, sondern ganz konkret in der Nachfolge Herders auf die (oft fingierten) Monumente der Nation. Die Sammlung Des Knaben Wunderhorn ist zumindest aus der Perspektive von Arnims eine Reaktion auf den Reichszerfall.703 Die Lieder „werden dem deutschen Gemüthe wie eine schöne Geschichte erscheinen, die zugleich wahr ist“, so Armin in der Jenaischen allgemeinen Literatur-Zeitung, „dem Fremden sind sie eine wunderbare hohe, vielleicht schon untergegangene Bildungsstufe.“704 In der Tat lässt sich die Sammlung als stilisierte Volks- und Kulturgeschichte lesen, die sich vom Hochmittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erstreckt. Neben Wander-, Liebes- und Kinderliedern, protestantischer wie katholischer Dichtung finden sich zahlreiche Kriegslieder, politische Spott- und Widergesänge sowie Dichtungen zu Anekdoten, Sagen und Ereignissen der Geschichte des ,deutschen Reichs‘. Sie erstrecken sich von den Staufern über die Reformation und Karl V. zum Dreißigjährigen Krieg, dem Spanischen Erbfolgekrieg bis hin zu Friedensliedern des Siebenjährigen Kriegs. Auch die Geschichte des 1806 untergegangenen Reichs wird so in den mal heiter-komischen, oft aber wie aus weiter Vergangenheit tönenden Liedern aufbewahrt. Arnims ,nationale‘ Volkslieder sind freilich weniger nostalgisch als vielmehr Kampfansagen gegen die Zerfallsklage der Deutschen: „In der Liebe ist keine Furcht, sagt Johannes, es war diese Klage über die Selbstentleibung von Deutschland, wie jene der Chrimhilde, welche immer neue Verzweiflung herbeyführte.“705 An den Dokumenten des deutschen Volksgeists sollte sich nach Arnims Wunsch die Nation stärken, um hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen: „In diesem Gefühle einer lebenden Kunst in uns wird gesund, was sonst krank wäre, diese Unbefriedigung an dem, was wir haben, jenes Klagen der Zeit.“706

703 Vgl. das Nachwort von Rölleke: Arnim, Achim von/Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, 3 Bde., hrsg. v. Heinz Rölleke, Stuttgart 1987, Bd. 3, S. 557 – 581, hier S. 563. 704 Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung 106 (21. Sept. 1805), zit. n. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 8, S. 343. 705 Arnim, Achim von: Von Volksliedern, in: Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn, Bd. 1, S. 379 – 414, hier S. 388. 706 Ebd., S. 409.

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4.1.2 Spiritualisierung der Reichsnation Durchaus agitativen Charakter gewann die Reichsidealisierung als Gegenbild und Zielform, wenn die unmittelbare Zeitgeschichte nicht ausgeklammert, sondern im Bild der Vergangenheit korrigiert wurde. Novalis’ „Vergangenheitsutopie“707 Die Christenheit oder Europa von 1799 ist wohl das einschlägigste Beispiel hierfür. Für Hardenberg drohte 1798/1799 angesichts des Rastatter Kongresses und der Gefangennahme des Papstes durch Napoleon nicht etwa der totale Kollaps, sondern „die Zeit der Auferstehung“ und vollständigen „Regeneration“708. Statt Nostalgie herrscht bei Novalis „Zukunftspathos“709. Das Malum der totalen Vernichtung der alten Ordnung birgt ein ungeheures Bonum: „Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor.“710 Die joachitische Lehre der drei Reiche wiederbelebend711 glaubt Novalis an den Aufstieg einer neuen Welt aus dem Chaos, an eine religiös-ethische Restitution, die sich in Deutschland ereignen und von da über ganz Europa verbreiten werde. In Deutschland […] kann man schon mit voller Gewißheit die Spuren einer neuen Welt aufzeigen. Deutschland geht einen langsamen aber sichern Gang vor den übrigen europäischen Ländern voraus. Während diese durch Krieg, Spekulation und Parteigeist beschäftigt sind, bildet sich der Deutsche mit allem Fleiß zum Genossen einer höhern Epoche der Kultur, und dieser Vorschritt muß ihm ein großes Übergewicht über die andern im Lauf der Zeit geben.712

Von ,Mittelalter‘ spricht Hardenberg, und das ist bezeichnend, in dieser auf die Gegenwart zielenden Rede kein einziges Mal.713 Was dort als Vergangenes präsentiert wird, ist ein idealisierter Staatenverein, der unver707 Mähl, Hans-Joachim: Utopie und Geschichte in Novalis’ Rede ,Die Christenheit oder Europa‘, in: Aurora 52 (1992), S. 1 – 16, hier S. 7; Kurzke, Hermann: Romantik und Konservativismus. Das politische Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München 1983, S. 224 – 255. 708 Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: ders.: Briefe und Werke, 3 Bde., hrsg. v. Ewald Wasmuth, Berlin 1943, Bd. 3, S. 43. 709 Kurzke: Romantik und Konservativismus, S. 230. 710 Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: ders.: Briefe und Werke, Bd. 3, S. 43. 711 Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters, S. 202 – 212. 712 Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: ders.: Briefe und Werke, Bd. 3, S. 45. 713 Schanze, Helmut: „Es waren schöne, glänzende Zeiten…“. Zur Genese des romantischen Mittelalterbildes, in: Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters, hrsg. v. Rudolf Schützeichel, Bonn 1979, S. 760 – 771, hier S. 761.

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kennbar als Gegenbild zum Europa am Ausgang des 18. Jahrhunderts entworfen ist: „[E]in großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. – Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte ein Oberhaupt die großen politischen Kräfte.“714 Die Harmonie zwischen Haupt und Gliedern beruhte in dieser „echtkatholischen oder echtchristlichen“ Zeit auf einem Kaiser, Papst und alle Fürsten durchdringenden „heiligen Sinn[]“715. Erst mit dem Verfall der idealen Eintracht beginnen historische Ereignisse in seiner Rede konkret bestimmbar zu werden. Novalis ist es allerdings mehr um ein „neues höheres religiöses Leben“716 als um eine konkrete politische Reichsvorstellung zu tun. Was bisher als positive deutsche Alternative zur Französischen Revolution galt, die lutherische Reformation – Schiller trug sich in den 1790er-Jahren mit dem Gedanken, ihre Geschichte im Sinne einer Gegengeschichte zu schreiben717 –, erscheint hier als notwendige, aber keineswegs glückliche Reaktion auf die ,Asthenie‘ des Spätmittelalters, den Zerfall der religiösen Einheit. Sie bewirkte die Trennung des „Untrennbaren“, wurde zum Ausbau der fürstlichen Landeshoheit missbraucht und erstickte in der Folge mit dem Gelehrtentum sowie dem Rationalismus und Materialismus des Aufklärungszeitalters den „heilige[n] Sinn“718. Zugleich präfigurierte die Reformation die Französische Revolution – eine neuerliche Reaktion auf gesellschaftliche ,Asthenie‘, die zur Anarchie der Ge-

714 Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: ders.: Briefe und Werke, Bd. 3, S. 31. 715 Ebd., S. 33. Münkler meint hingegen, es ginge um „die Wiederherstellung der römisch-päpstlichen Oberhoheit in Europa“: Münkler, Herfried: Die Geburt Europas aus dem Chaos. Novalis’ antipolitisch-apokalyptische Utopie, in: Neue Rundschau 107 (1996), S. 64 – 72, hier S. 65. Gerade die Vernichtung des Papsttums (es „liegt im Grabe“) gibt Anlass zur Hoffnung auf eine Neuordnung. Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: ders.: Briefe und Werke, Bd. 3, S. 51. 716 Ebd., S. 45. 717 Schiller an Georg Joachim Göschen, 14. Oktober 1792, Nr. 137, in: NA, Bd. 26, S. 158 f.: „Ich muß gestehen, daß es mir sehr leid thun würde, wenn diese herrliche Gegebenheit, auf die VorstellungsArt der ganzen Deutschen Nation von ihrem Religionsbegriff zu wirken, und durch dieß einzige Buch vielleicht eine wichtige Revolution in Glaubenssache vorzubereiten, nicht benutzt werden sollte. Jetzt über die Reformation zu schreiben, und zwar in einem so allgemeingelesenen Buch, halte ich für einen großen politisch wichtigen Auftrag und ein fähiger Schriftsteller könnte hier ordentlich eine welthistorische Rolle spielen.“ 718 Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: ders.: Briefe und Werke, Bd. 3, S. 36, 40.

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genwart führte.719 Der Krieg werde nie aufhören, so Novalis, „wenn man nicht den Palmenzweig ergreift, den allein eine geistliche Macht darreichen kann“720. Ein „großes Liebesmahl als Friedensfest“721, lautet die mystische Formel des Poeten dafür. „Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken […].“722 „Soll der Protestantismus nicht endlich aufhören und einer neuen, dauerhaftern Kirche Platz machen?“723 Ausgangspunkt von Novalis’ Denken ist zweifelsohne die Gegenwart, weniger aber die Reichskrise als vielmehr die geistige Gärung Europas im Ganzen. Seine Rede ist, daran hat Hermann Kurzke erinnert, eine höchst komplexe, philosophische Schrift, die sich mit Hilfe des Mittelalterideals und, ideengeschichtlich, der „Plotinisierung Fichtes“ die „Positivierung des Kritizismus“ zur Aufgabe macht:724 Novalis spricht von der „intellektuale[n] Anschauung des politischen Ichs“, von einem kommenden „Staat der Staaten“, einer „politische[n] Wissenschaftslehre“725. Der Weg zur „heilige[n] Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt sein wird“726, zielt daher nicht auf Restauration des Vergangenen, auch nicht auf eine Neuauflage des Katholizismus im Sinne einer Wiedervereinigung der Konfessionen, sondern auf eine ganz neue Religion, die auf dem Boden der Transzendentalphilosophie bzw. des magischen Idealismus steht. Was die Hymnen an die Nacht im Individuellen (esoterisch) bedeuten, leistet die Rede über Europa oder die Christenheit im Kollektiven (exoterisch). Die Rezeption vereinfachte das Mittelalterbild freilich gegen die Intention des Verfassers, und insofern trug die Rede zu einer konservativen Verschiebung des Reichsdenkens bei: Aus dem aufgeklärten Kosmopolitismus Schillers und Wielands wurde ein katholisch-christlicher Universalismus. Das spröde Reich der Reichsjuristen, das im 18. Jahrhundert gelegentlich als charakteristischer Ausdruck der deutschen Vielfalt, aber auch des rauen Klimas, der deutschen Trockenheit und Sachlichkeit galt, dessen staatliche Defizite in der Regel zudem vor Überhöhungen schützten, wurde ersetzt durch das Heilige Römische Reich des Mittelal719 Das Verhältnis von Reformation und Revolution im Vergleich zu konservativen Katholiken wie Joseph de Maistre bei: Kurzke: Romantik und Konservativismus, S. 233 – 242. 720 Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: ders.: Briefe und Werke, Bd. 3, S. 50. 721 Ebd. 722 Ebd. 723 Ebd., S. 51. 724 Kurzke: Romantik und Konservativismus, S. 225, 251. 725 Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: ders.: Briefe und Werke, Bd. 3, S. 49. 726 Ebd., S. 52.

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ters, das sich dank seiner historischen Ferne als Idealgestalt des universalen deutsch-christlichen Geists uminterpretieren ließ. Indem die Romantiker das mittelalterliche Deutschland zum vornehmsten Repräsentanten des Abendländischen erklärten, implantierten sie dem Nationalen auch in Fragen der Politik eine universalistische Komponente, die sich im 18. Jahrhundert nur selten nachweisen lässt.727 Friedrich Schlegels Wiener Vorlesungen Über die neuere Geschichte (1810/1811) folgen trotz und gerade wegen des romantischen EuropaGedankens728 einer dezidiert nationalen sowie politisch-restaurativen Konzeption, die ihren Ausgang erkennbar vom Reichsuntergang nahm. Seit dem Reichsdeputationshauptschluss (1803), der napoleonischen Kaiserkrönung durch den Papst (1804), der Niederlage Österreichs bei Austerlitz und dem Erlöschen des alten ,deutschen‘ Kaisertitels im Sommer 1806 politisierte sich Friedrich Schlegels Mittelalterbild zusehends. Eine rege Produktion politisch-patriotischer Gedichte gibt davon Zeugnis.729 Bereits 1803 rühmt er in nationaler Begeisterung die Burgenlandschaft des vielfältigen Deutschlands als Reminiszenzen einstiger Größe: „Wenn man solche Gegenstände sieht, so kann man nicht umhin, sich zu erinnern, was die Deutschen ehedem waren, da der Mann noch ein Vaterland hatte.“730 Die einsamen Burgen und der Rhein werden ihm wie der ganzen romantischen Generation zum Sinnbild des von wahrem Nationalgeist verlassenen und schließlich untergegangenen Reichs. Der „gegenwärtige[n] Armseligkeit“ steht die vergangene Blüte der mittelalterlichen Deutschen als der ersten unter den „welterobernden Nationen“, noch vor den Römern und den Arabern, gegenüber.731 Sie teilt mit ihnen aber auch die Tragik des Untergangs und Verfalls, den Schlegel auf seiner Reise in der Erinnerung an das ,alte deutsche Leben‘, „das nun untergegangen ist“, ganz gegenwärtig erlebt.732 Und doch hofft er darauf, dass der „Löwe“ noch einmal erwache und ein neues Reich wiedergeboren werde.733 Österreich an der Spitze eines Reichsverbands und eines europäischen Staatenvereins zu sehen, wurde 727 Vgl. Kemiläinen: Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes, S. 106 – 207. 728 Vgl. Gollwitzer: Europabild und Europagedanke, S. 145 – 165 und S. 200 – 211. 729 Eichner, Hans: Patriotische Gedichte, in: KFSA, Bd. 5, S. LXXXIII–XCII, hier S. LXXXVII; Wienecke, Ernst: Patriotismus und Religion in Friedrich Schlegels Gedichten, München 1913, S. 71 – 77. 730 Schlegel, Friedrich: Reise nach Frankreich, in: KFSA, Bd 7, S. 58. 731 Ebd., S. 61. 732 Ebd., S. 64. Kursivierung M. H. 733 Ebd., S. 61.

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zum politischen Ziel des einstigen Republikaners und Revolutionsenthusiasten, das es gegenüber dem ,falschen‘ Kaisertum des Korsen durchzusetzen galt. Schlegels Konversion zum Katholizismus 1808, die publizistische Agitation der Jahre 1809/1810 sowie die Tätigkeit am Wiener Friedenskongress folgen dieser Linie.734 Die Vorlesungen aus dem Jahr 1810/11, wirkungsgeschichtlich ein Schlüsseldokument der Reichsromantik, marginalisieren das frühneuzeitliche Reich und verklären das mittelalterliche zum machtvollen monarchisch-theokratischen Staat inmitten des christlichen Europas. Den Einfluss geistlicher Stände und des Papsttums auf Deutschland kritisiert der Romantiker anders als seinerzeit Herder oder Schiller keineswegs. Das Engagement deutscher Kaiser in Italien betrachtet er gar als glückliches Schicksal, und die Kreuzzüge mit ihrem tapferen Rittergeist befördern nach seiner Darstellung die christlich-abendländische Staatenharmonie (concordantia catholica).735 Dass es sich bei seinem Bild eines „freien Vereins“, der alle „Nationen und Staaten der gebildeten und gesitteten Welt umschlänge“, ohne deren „eigentümliche Nationalentwicklung“ zu verhindern,736 um eine retrospektive Stilisierung eines politischen Ideals handelt, verschweigt der Autor nicht: „Gern wollen wir gestehen, daß jenes Ideal in der damaligen Zeit ebensowenig ganz zur Vollendung gediehen, als dies in neuerer Zeit gelungen ist […].“737 Die leges fundamentales des Alten Reichs hingegen erscheinen aus nationaler Perspektive in negativem Licht: Die Goldene Bulle nennt Schlegel eine „Reichsgrundauflösung“738 und den Westfälischen Frieden ein „Unglück“739, das die religiöse und politische Spaltung des Reichs vorangetrieben und das „Nationalgefühl“740 weiter zersetzt habe. Nur unter Leopold I. im Kampf mit Ludwig XIV. und den Türken hielt die Zwietracht der ehrgeizigen Fürsten noch einmal kurz 734 Dazu: Zimmermann, Harro: Friedrich Schlegel oder Die Sehnsucht nach Deutschland, Paderborn 2009, S. 243 – 320. 735 Schlegel: Über die neuere Geschichte, in: KFSA, Bd. 7, S. 223 – 234. 736 Ebd., S. 208. 737 Ebd. Mit Blick auf das Reich: ebd., S. 217. 738 Ebd., S. 266. 739 Ebd., S. 384. „Für Deutschland waren seine Folgen so wie die des vorangegangenen Krieges durchaus nachteilig.“ Ebd., S. 362. Aus diplomatiegeschichtlicher und europäischer Perspektive lobt Schlegel den eben noch gescholtenen Westfälischen Frieden andernorts allerdings als „Grundlage des europäischen Völkerrechts, und zugleich das vornehmste Quellenstudium für die diplomatische Friedenswissenschaft der neuern Zeit bis auf die unsrige herab“. Schlegel: Philosophie der Geschichte, in: KFSA, Bd. 9, S. 371 (16. Vorlesung). 740 Schlegel: Über die neuere Geschichte, in: KFSA, Bd. 7, S. 373.

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inne.741 Mit dem „Bürgerkrieg“742 zwischen Österreich und Preußen setzte sich im 18. Jahrhundert die Zerstörung des Reichs jedoch fort. Der Siebenjährige Krieg habe das Reich „eigentlich“ bereits aufgelöst.743 Allein die Glanzzeit Maximilians I. und seines Nachfolgers nimmt der in österreichischen Diensten stehende Gelehrte von dieser Verfallsgeschichte seit dem Mittelalter aus, da in den Habsburgern noch die „europäischen Bande, welche alle abendländischen Nationen im Mittelalter zu einer christlichen Republik vereinten, oder vereinen sollten“, fortgewirkt haben, „die Kirche, die Kaiserliche Würde, und das Rittertum“744. Mit Karl V. habe das ,wahre‘ Kaisertum seinen letzten und höchsten Gipfel erklommen.745 – Der Vorlesung sieht man in der Tat von einem Schock über den Zerfall des Heiligen Römischen Reichs um 1800 nichts mehr an. Kein Zweifel, die romantische Metanarration der deutschen Geschichte sorgte mit für die Tilgung der Reichskonzepte des 17. und 18. Jahrhunderts aus dem kulturellen Gedächtnis, wiewohl deren Scheitern Katalysator, wenn nicht gar Urheber ihrer Reichsträume war. Insofern wirkt Schlegels habsburgische Reichsromantik in die gleiche Richtung wie der Staufer-Mythos des 19. Jahrhunderts.746 Während Max von Schenkendorf das Bild des schlafenden Kaiser Karls nutzte, um anlässlich von dessen Todestag 1814 emphatisch zur Wiedererrichtung des „tausendjährige[n] Reichs“ aufzurufen,747 kanonisierte Friedrich Rückerts berühmte Barbarossa-Ballade den ersten Stauferkaiser zum Sinnbild der romantischen Kaisernostalgie.748 Seither ist es ausschließlich Friedrich I. und nicht mehr sein Enkel, Friedrich II., der im Kyffhäuser schläft, und einst wiederkehren wird, um die alte Herrlichkeit aufs Neue herzustellen. Noch ist freilich die Zeit dafür nicht gekommen. „Das alte heilige römische Reich, / Stells wieder her, das ganze, / Gib uns den modrigsten Plunder 741 742 743 744 745 746

Ebd., S. 370 f. und 373 f. Ebd., S. 385. Ebd., S. 384. Ebd., S. 258 – 270 (11. Vorlesung), hier S. 268. Ebd., S. 284 – 313 (13. und 14. Vorlesung). Wingertszahn, Christof: Der Staufermythos in der Romantik, in: Dichtung und Geschichte in Achim von Arnims Roman ,Die Kronenwächter‘, hrsg. v. Wolfgang Bünzel/Hans Schultheiss, Waiblingen 2007, S. 27 – 52. 747 Schenkendorf, Max: Am 28ten Jenner 1814, in: ders.: Gedichte, Stuttgart/Tübingen 1815, S. 85 f. 748 Rückert, Friedrich: Barbarossa, in: Deutsche Balladen, hrsg. v. Hartmut Laufhütte, Stuttgart 2003, S. 191.

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zurück / Mit allem Firlifanze“749, heißt es in Heinrich Heines satirischer Travestie des Mythos. Die Verbindung von Barbarossa und „Barbablanca“ in Felix Dahns Apotheose des wilhelminischen Kaiserreichs, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Rückert, spart das Alte Reich der Frühen Neuzeit aus, es erscheint nur noch als der Abschnitt chaotischer Kleinstaaterei zwischen mittelalterlicher und preußischer Reichsherrlichkeit.750 Dass Friedrich Schlegels konkrete politische Vorschläge am Wiener Kongress dennoch deutliche Züge des föderalen Reichsverbands der Frühen Neuzeit tragen,751 zeigt freilich, wie sehr selbst die monarchisch gesinnten Reichsromantiker partiell und mit katholischen Vorzeichen das Erbe der „Ideen von 1648“752 antraten: das Ideal einer ständisch beschränkten Monarchie in einem föderalen Staat, der zugleich Basis des europäischen Staatenvereins ist. Friedrich Schlegel war bei Weitem nicht der einzige Autor aus dem Umfeld der Romantiker, der den frühneuzeitlichen Reichskonzepten trotz aller romantisch-christlichen Verschiebung in ambivalenter Form verpflichtet blieb. Joseph Görres etwa ventiliert im Rheinischen Merkur 1814 eine „künftige teutsche Verfassung“, die als romantische Fortsetzung der ,reichspublicistischen‘ Reformbemühungen am Ende des 18. Jahrhunderts verstanden werden kann: „Das Beste ist die starke Einheit in der freyen Vielheit“753, lautet sein Credo. Grundgedanke ist die romantisierende Anpassung der „Reichsstandschaft der alten Verfassung“754 an die Bedürfnisse der Zeit, mit dem Ziel, dass das deutsche Volk „eine der vorigen ähnliche, neue, bessere“ Verfassung erhalte.755 Mittelalternostalgie, frühneuzeitliches Reichsdenken und aktuelle politisch-ökonomische Bedürf749 Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen, in: ders.: Werke, Bd.1, hrsg. v. Christoph Siegrist, Frankfurt a.M. 1968, S. 421 – 490, hier S. 462. 750 Dahn, Felix: Macte Imperator, in: ders.: Gesammelte Werke, Serie 2, Bd. 7, Leipzig u. a. 1912, S. 581 – 585. 751 Schlegel, Friedrich: Verfassungsentwürfe und Satiren für den Wiener Kongreß, in: KFSA, Bd. 21, Teil 2, S. 84 – 119. Vgl. Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 195 – 215. 752 Kleinehagenbrock, Frank: Ideen von 1648? Reichsverfassungsrecht als Quelle politischer Ideengeschichte, in: Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, hrsg. v. Hans-Christof Kraus/Thomas Nicklas, München 2007, S. 399 – 418. 753 Vgl. Görres, Joseph: Rheinischer Merkur, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6/ 8, hrsg. v. Karl d’Ester/Hans A. Münster/Wilhelm Schellberg/Paul Wentzcke, Köln 1928, 1. Halbbd., Nr. 104 (18. August 1814); ebd., Nr. 105 (20. August 1814); ebd., Nr. 106 (22. August 1814); ebd., Nr. 107 (24. August 1814). 754 Ebd., Nr. 105 (20. August 1814). 755 Ebd., Nr. 101 (12. August 1814).

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nisse verschwimmen zu einer zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Vergangenheit und Gegenwart oszillierenden Reichsideologie.756 Friedrich Gottlob Wetzels Magischer Spiegel und Joseph von Eichendorffs Examensarbeit helfen den hier spürbaren Zusammenhang von mittelalterlicher Reichsromantik, frühneuzeitlichem Reichsdenken und Reichsuntergang in den Jahren nach 1800 weiter zu verdeutlichen. 4.1.3 Wetzels Magischer Spiegel und Eichendorffs Examensarbeit Eine Zeit lang wurde Friedrich Gottlob Wetzel als Verfasser der Nachtwachen des Bonaventura gehandelt, seither findet er in der Literaturgeschichte für gewöhnlich keine Erwähnung mehr. Dabei stammt aus seiner Feder ein Schlüsseldokument der Reichsromantik: Der Magische Spiegel. 757 Aufgrund des Untertitels und des Erscheinungsjahrs hätte freilich auch die historische Forschung angelockt werden können: Pünktlich zum Jahr 1806 schreibt hier ein Autor unter dem Pseudonym „Theophrast, genannt Teutonicus“ zu Ehren der „Herrlichkeit unsers Reiches, edler deutscher Nation“758. In diesem in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Text vermischen sich Traditionen des frühneuzeitlichen Reichsbildes mit der Romantik, dem Nationalismus und der Erfahrung der jüngsten Zeitgeschichte. Der Verfasser wählt einen an der Bibel orientierten Stil, um gestützt auf prophetische Gewissheit (Magischer Spiegel!) am „jüngsten Tage des Vaterlandes“759 Trost spenden zu können: Weiter soll dieser Spiegel ein Tröster seyn denen, die da meynen, mit eines Dinges Gestalt gehe auch sein Gehalt, Geist und Wesen zu Grunde, und sich von Herzen betrüben, als würde das Vaterland zu Grabe getragen zu dieser unserer Zeit. Mit nichten!760 756 Ebd., 2. Halbbd., Nr. 175 (8. Januar 1815), zum mittelalterlichen Kaisertum; ebd. Nr. 176 (10. Januar 1815), Frühe Neuzeit, Reichsende; ebd., Nr. 177 (12. Januar 1815), zur Großmachtpolitik der Gegenwart insbesondere der Rolle Russlands; ebd., Nr. 178 (14. Januar 1815), Nr. 179 (16. Januar 1815), zur sächsischen Frage und Preußen; ebd., Nr. 180 (18. Januar 1815), Nr. 181 (20. Januar 1815), zur Gestalt des zukünftigen Reichs. 757 Vgl. Trube, Hans: Friedrich Gottlob Wetzels Leben und Werk. Mit besonderer Berücksichtigung seiner Lyrik, Berlin 1928. Zu Wetzels literarischer Produktion 1803 – 1806: ebd., S. 32 ff. Zum Magischen Spiegel: ebd., S. 38 f. 758 [Wetzel, Friedrich Gottlob]/Theophrast, genannt Teutonicus: Magischer Spiegel darin zu schauen die Zukunft Deutschlands und aller umliegenden Lande. Hiervor ein Wort von der Herrlichkeit unsers Reichs, edler deutscher Nation an Herz und Seele gelegt, o. O. 1806. 759 Ebd., S. V. 760 Ebd., S. IV.

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Wetzel narrativiert seine Mischung aus Prophetie und Erinnerung durch eine Rahmengeschichte, die an die Geschichte Kästners erinnert, in der Arminius von dem Ahnherrn der Germanen, Thuisko, über den Spott des Varus hinweggetröstet wird. Das Erzähler-Ich wird aus seinem Kummer über das Vaterland befreit, da ihn ein Geist nächtens in ein großes Haus führt, in welchem die zwölf göttlichen Häupter der Königreiche auf Erden um eine Tafel thronen. Nach dem biblischen Satz ist alles, auch die weltlichen Reiche, nach Zahl und Gewicht eingerichtet. Deutschland besitze unter den himmlischen Königen einen „Hüter“, der „mit nichten der kleinste im Rath der heiligen Wächter“ sei.761 Wie Kästner stärkt Wetzel die deutsche Identität mit dem Verweis auf die eigentümliche Rechtstradition des Reichs – sie wird aber zugleich spirituell aufgeladen. Das Gesetz als „Grundstein“ des deutschen Volkes sei von dem königlichen „Hüter“ auf eine „ehrne Tafel“ für alle Ewigkeit fixiert. Anders als die römischen Schriftgelehrten, die über das germanische Recht spotteten, und nicht begriffen hätten, dass der Buchstabe Tod und nur der Geist Leben bedeute, müsste man beseelt sein, um das lebendige deutsche Recht verstehen zu können: ,Niemand aber, wer nicht aus dem Geiste ist und das Gesetz der großen Welt verstehet, mag Geist und Recht einsehen des heiligen deutschen Reiches. Sintemahl darin ruhet eures Reiches Herrlichkeit und der hohe Adel seines Grundgesetzes, daß es einhellig ist mit allem heiligen Brauch und ewigem Recht im Himmel und auf Erden.‘762

Vermischt sich darin bereits die ,reichspublicistische‘ Wertschätzung des Alten Reichs mit einer spirituellen Deutung der deutschen Nation, so verstärkt sich das noch in dem Lob der föderalen Struktur. ,Damit du aber einsehest, welch großer und hehrer Sinn und Gedanke eures Reiches Gebäu gezeichnet und aufgeführt, sage ich dir abermals, daß dir Gesetz und Recht Himmels und der Erden nicht fremd seyn dürfe. Aldann magstu prüfen, ob eures Reiches Ordnung und Weise in Wahrheit sey ein Abbild und Wiederschein des himmlischen und unvergänglichen Reiches, und ein Nachhall der unsterblichen Musik […].‘763

Von der kleinsten Kreatur bis zum großen Kosmos erweist sich die „Einheit in der Vielheit“764 als wesentliches Ordnungsprinzip der göttlichen Schöpfung. Zentrales Beispiel dafür, das auch Eichendorff im gleichen 761 762 763 764

Ebd., S. 4. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd., S. 11.

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Sinn verwendet, ist die Sonne und ihr „echt=kaiserlich[es] Gemüth“765. An ihrer Seite stehen die Sterne als „Fürstenrath“766. Die Unsterblichkeit der Deutschen lässt sich aus dieser kosmologischen Analogie deduzieren: Es ruhet aber die Herrlichkeit eines weltlichen Reiches darin, daß es menschlicherweise gleich sey dem göttlichen und ewigen Reich. Und mag Menschenwerk nicht herrlich heißen und währen seine Zeit, es sey denn, daß es ähnlich werde dem Werk Gottes, dem Ewigen und Vollkommenen.767

Athen und Rom wertet Wetzel gegenüber dem edlen Prinzip des Heiligen Römischen Reichs ab. Obwohl es nun „seiner Auflösung entgegen“ sähe und dem „jüngsten Tage[] harre“, sei das Reich von unschätzbarem Wert: „Wie die Sonne leuchtet über alle ihr Gestirn, also leuchtet des Kaisers gebenedeyte Majestät über dem Reich von einem Meer zum andern […].“768 Seine Aufgabe sei es, „das Reich zu schirmen“ und „die Glieder desselbigen zusammen zu halten, in Liebe oder mit dem Schwerdt“769. Die Reichsgerichte seien als „heilige[r] und unverletzliche[r] Areopagos“ zu achten und die Exemtion der Reichsstände von ihnen „eine schwere Sünde gegen des Reichs Grundgesetz“770. Unübersehbar implantiert Wetzel in das Ideal des mittelalterlichen Reichs in den Grenzen des weiten Lehensverbands die politischen Vorstellungen der Frühen Neuzeit. Schaden nahm es nicht durch seine strukturellen Defizite, sondern durch „Zank“ und „Zwietracht“. Würden alle Glieder des Reichs nach dem „Vorbild“ des „Firmament[s]“ in Liebe zueinander stehen, „wäre Deutschland eine feste unüberwindliche Burg, und die Macht der ganzen Welt könnte es nicht zwingen, noch stürzen“771. Dass das ,deutsche Reich‘ 1806 ein denkbar großer Gegensatz zu diesem Ideal war, zeigt Wetzel ebenso. Durch die Uneinigkeit der Fürsten im Kampf gegen Frankreich bestätigt der Reichsuntergang die schon in der Frühen Neuzeit häufig anzutreffende Auffassung (etwa in der Arminiusdichtung): „Deutschland kann nicht fallen, außer durch eigene Hand.“772 765 766 767 768 769 770 771 772

Ebd., S. 13. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17 f. Ebd., S. 20. Ebd., S. 26. „Dazu habe ich gesehen die Last, so über mein Volk hereinbricht, Krieg und Blutvergießen von außen, von innen aber Zwietracht und Meuterey, und sinnet ein jeglicher nur, wie seine Macht wachse. Des Reiches aber nimmt sich keiner an in seiner Noth und am Tage seiner Trübsal, und hat Niemand ein Herz zu

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Wie bei Herder und Novalis erscheint der ,deutsche Geist‘ aber allen anderen Nationen der Welt überlegen zu sein, weil er die Qualitäten aller in sich vereint. Kennzeichen des Deutschen sei es, „nichts besonderes zu seyn, vielmehr Alles, nicht ein Ding, sondern die Welt“773. Auf Herder anspielend ist von der „Herrlichkeit deutscher Art und Weise“774 die Rede. Der deutsche Geist ist nicht nur unsterblich, auch die mit Deutschland geborene Staatsidee des Reichs trägt über das drohende Ende des Alten Reichs hinaus den Keim für Frieden und Gerechtigkeit der Welt in sich: „[…] seines Reiches Gesetz [besteht] immer und ewiglich und gehet nimmer mehr zu Grunde“, ja, das „Gesetz deutscher Reichsordnung [wird] sich ausbreiten auf Erden, und sein Korn aufgehen zu einen Baum des Lebens und Gewächs des Friedens aller Welt.“775 Obwohl also jetzt der Reichsuntergang bevorsteht – „Und ob der Reichstag währet, scheinet darum noch des Reiches Tag? Ich sage: Nein!“776 –, sei die einstige Wiederkehr gewiss. Während Napoleon als Reinkarnation Karls des Großen und als Geißel Gottes in Europa triumphiert,777 Preußen im Gebiet des ehemaligen ,deutschen Reichs‘ herrscht,778 werde sich der deutsche Geist in der Mitte der Welt regenerieren. In schwer zu entschlüsselnder allegorischer Bildlichkeit mündet der Text in die Vision zukünftiger Siege Österreichs durch Kreuzzüge im Orient.779 Gleichsam eine Verschiebung von Novalis’ und Schlegels Verklärung der Kreuzzüge des Mittelalters in die Gegenwart. In Wetzels unheimlicher Kurzformel: Die Zukunft bringe „das Ende des deutschen Reiches im Abendland, und seine Auferstehung im Morgen“780.

773 774 775 776 777 778 779 780

dem Ganzen, noch achten sie des heiligen Bundes, gestiftet von unsern Vätern in Recht und Gerechtigkeit. Und wüthen allesamt wider ihre Mutter und kennen ihren Schöpfer nicht. Und die Liebe ist hinweg, sonder welcher kein Bund noch Reich bestehen mag, und die alte Treue muß ihr lassen ins Antlitz höhnen.“ Ebd., S. 24. Ebd., S. 29. Ebd., S. 33. Ebd., S. 39. Ebd., S. 47. „Denn es stehet auf Carl der Große von den Todten […].“ Ebd., S. 42. Siehe auch: ebd., S. 46 f. „[…] und des deutschen Reiches ein Theil huldigt dem Carl, der andere aber dienet dem Adler aus Mitternacht.“ Ebd., S. 43. „Und der Mond wird erlöschen in Osten vor der Sonne des Creuzes, und die hohe Pforte wird erniedriget werden.“ Ebd., S. 43. „Und die große Zeit der Creuzzüge kommt wieder auf Erden […].“ Ebd., S. 45. Ebd.

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Napoleons Reich werde nach Erfüllung seiner Aufgabe im Weltenplan wieder zerfallen, da es nicht „aus dem Grunde der Ewigkeit“ geschaffen ist, wie das deutsche.781 Die Reichsromantik politisierte sich nicht erst in den Befreiungskriegen, schon 1806 vermischten sich christlich-nationale Verklärung der Vergangenheit und politisch-geistige Großmachtphantasien zumindest metaphorisch. Wetzel war es zunächst allein um eine Transformation des Reichs in eine unsterbliche geistige Macht zu tun, die das Reich aber, anders als im 18. Jahrhundert, Chauvinismus-tauglich machte. Offenbar wurde dieser politisch-poetische Text unmittelbar vor der Niederlegung der Kaiserkrone am 6. August 1806 geschrieben. Er handelt sowohl von der Rivalität zwischen Österreich und Preußen als auch von der Säkularisation, welche die Grundfeste des Reichs, die Symbiose weltlicher und geistlicher Herrschaft, zerstört habe und damit das „Mittleramt der fürstlichen Priester“, die Verbindung zwischen dem „himmlischen Reich und dem auf Erden“782. Wetzel kritisiert zudem die erbliche Krone Österreichs von 1804, da sie die römische Kaiserkrone des Reichs vernichte. Indirekt tadelt er die deutschen Bündnispartner Frankreichs, wahrscheinlich sind die süddeutschen Profiteure des Preßburger Friedens (1805) und der Rheinbund gemeint, warnt aber ausdrücklich vor einem napoleonisch-deutschen Kaisertum – eine Sorge, die ja auch zu Friedrich Schlegels reichspatriotischer Politisierung beitrug.783 Mit Novalis und Eichendorff verbindet Wetzel die feste Überzeugung, dass die Wiederkehr der jüngst verlorenen Ordnung nur durch die vereinigte Macht des Geistlichen bzw. Geistigen und des Weltlichen erreicht werden kann und

781 Ebd., S. 54. 782 Ebd., S. 40 f. 783 Die Gegenwartskritik: „[E]in Haupt des Reichsadlers empöret gegen das andre.“ Ebd., S. 39. „Welch geistliche Ordnung und Abbild der unsichtbaren Kirche aber verlöschet und zerbrochen ist in diesen Tagen. Denn auch das Geistliche ist weltlich worden, und das Unsichtbare und Heilige hat einen Leib angezogen und ist gemein worden. Und dadurch ist der schönsten Steine einer aus Deutschlandes Krone verlohren gegangen und ein herrlich Auge des Reichs geblendet und ausgestochen. Und ist solchergestalt das Reich vom Himmel abgerissen und ganz weltlich worden, und kein Mittler hinfort zwischen dem himmlischen Reich und dem auf Erden.“ Ebd., S. 41; Österreich habe „die allerhöchste Krone auf Erden vom Haupt des deutschen Riesen (dem sie doch einig gebühret) weggenommen und sie gesetzet […] auf den Kindskopf eines seiner Herzogtühmer“. Ebd., S. 42.

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diese, daran lässt der Tröster keinen Zweifel, auch glamourös wiederkehren wird.784 Eichendorffs Reichsvorstellung steht in der Tradition Novalis’, Wetzels und Schlegels, ist aber weniger auf die Figur des Kaisers und auch nicht auf einen Machtstaat ausgerichtet. In seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands und seinen autobiographischen Erinnerungen erscheint das Reichsende von 1806 – wie in den meisten Geschichtsbüchern des 19. Jahrhunderts785 – als die logische Konsequenz einer tief in der deutschen Vergangenheit wurzelnden Fehlentwicklung: Und so war denn in der Tat der ganze alte Bau schon im Anfange unseres Jahrhunderts in sich zusammengebrochen; der Sturm der französischen Revolution und der nachfolgenden Fremdherrschaft hat nur den unnützen Schutt auseinandergefegt.786

Eichendorff sah die Ursache des kontinuierlichen Zerfalls jedoch nicht primär in der staatsrechtlichen Entwicklung der deutschen Territorien, sondern in der Zerstörung des spirituellen und geheimnisvollen Urvertrauens, dem wesentlichen vinculum societatis, auf dessen „unsichtbaren Fundamenten“ „das deutsche Leben und das deutsche Reich“ „vorzugsweise geruht“ hätten.787 Die Geschichte dieses Verfalls erzählt Eichendorff in seiner Schrift Der Adel und die Revolution. Sie ist konsequent von der Überzeugung getragen, dass „die Veränderungen der religiösen Weltansicht“ „überall die Geschichte“ „machen“ und nicht das strukturelle oder ereignisgeschichtliche Umfeld.788 Noch in der Geschichte der poetischen Literatur definiert er daher die politische und kulturelle Mannigfaltigkeit 784 „Und trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, welches, so ihr das nicht versäumet hättet zur guten Zeit, wäre auch euer weltlich Reich bestanden in Frieden und Eintracht.“ Ebd., S. 48. 785 Kraus, Hans-Christof: Die Spätzeit des Alten Reichs im Blick der deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts, in: Was vom Alten Reiche blieb. Deutungen, Institution und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Matthias Asche/Thomas Nicklas/Matthias Stickler, München 2011, S. 33 – 62. 786 Eichendorff: Erlebtes, in: DKV, Bd. 5, S. 417. 787 Ebd. Eichendorff bezeichnet die Reichskrise um 1800 als „entwürdigte Zeit“, „welche hündisch die Hand leckte, die sie schlug, und mit dieser Niedertracht noch prahlte. Das deutsche Reich war zusammengestürzt, und die Pflugschar des Krieges ging darüber, und die Deutschen spannten sich selber vor, um alles der Erde gleich zu machen“. Eichendorff: Bedeutung der romantischen Poesie, in: DKV, Bd. 6, S. 127 f. 788 Eichendorff: Adel und Revolution, in: DKV, Bd. 5, S. 407.

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toposgetreu als wesentliches Charaktermerkmal der Deutschen und differentia specifica gegenüber dem französischen Unitarismus: In Deutschland dagegen geht jene Sonderbündlerei durch die ganze Geschichte. Vom Uranfang an sitzen die alten Sassen ein, jeder für sich auf seinem Hofe ohne Städte, im Mittelalter gruppieren sich zahllose Kleinstaaten, wie Planeten mit eigenem Licht und Kreislauf, um die Zentralsonne des Kaisers. Welcher Reichtum der verschiedensten Bildungen vom kaiserlichen Hoflager durch die vielen kleinen Residenzen bis zur einfachen Ritterburg hinab; dann das bunte Leben der Reichsstädte und endlich die noch fortdauernde Mischung von Katholisch und Protestantisch! Es ist natürlich, diese Mannigfaltigkeit mußte auch in unserer Literatur, namentlich in der Poesie, sich abspiegeln […].789

Eichendorffs Reichsbild verherrlicht nicht wie etwa der Staufermythos einen mittelalterlichen Einheits- und Machtstaat, sondern ein stark am frühneuzeitlichen Reichsgedanken orientiertes Staatensystem der Einheit in der Mannigfaltigkeit, mit Reichsgerichten und Reichsgrundgesetzen. In seiner Examensarbeit war er gezwungen, just dieser Verbindung größeren Raum zu geben als üblich. Das Thema lautete: „Was für Nachteile und Vorteile hat der katholische Religionsteil in Deutschland von der Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und Äbte desgleichen von der Entziehung des Stifts- und Klostergutes mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten?“790 Für einen Katholiken im protestantischen Preußen keine leichte Aufgabe. Eichendorff ließ sich von der provokativen Fragestellung offenbar nicht verunsichern und beantwortete sie „mit aller hier nötigen Freimütigkeit und Rücksichtslosigkeit“791. Seine Schrift wuchs sich sogar zu einer Art politischem Glaubensbekenntnis aus. Noch Jahre später wünschte er ihren Abdruck und unterzog sie wohl 1845/46 einer erneuten Redaktion. Die Abhandlung lässt sich aus zwei Perspektiven betrachten: zum einen als Stellungnahme zur Debatte um die Säkularisation und Mediatisierung und damit zum Reichsende. Hier partizipiert Eichendorff an einer politischen Diskussion, die noch zu ,Lebzeiten‘ des Reichs in breiter Öffent789 Eichendorff: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, in: DKV, Bd. 6, S. 807. 790 Vgl. zum Hintergrund: Hammer, Peter Ulrich: Einige Bemerkungen zu Joseph von Eichendorffs allgemeiner Probearbeit für das Höhere Examen und deren Beurteilung durch Johann Heinrich Schmedding, in: Joseph von Eichendorff und Westfalen. Begleitband zur Ausstellung Joseph von Eichendorff 1788 – 1857, Ratingen 1990, S. 24 – 33. 791 So in einem Brief aus dem Jahr 1828 an Joseph Görres, zit. n. DKV, Bd. 5, S. 1105; Schiwy, Günther: Eichendorff. Eine Biographie, 2. Aufl. München 2007, S. 395 ff.

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lichkeit ausgetragen wurde.792 Zum anderen aber legt er seine Grundauffassung zur deutschen Geschichte und zur deutschen Staatlichkeit dar. Seit den Germanen sei die politische Ordnung der Deutschen geprägt von der unauflöslichen Verschränkung geistlicher und weltlicher Macht: „Die Kirche wurde die Seele des Staats.“793 Zugleich lebte in den „Wäldern Germaniens“, so Eichendorff mit Montesquieu, jener „frische Freiheitssinn“,794 der in späteren Jahrhunderten zur ,deutschen Freiheit‘ erklärt wurde. Der Dichter führt damit eine Art pseudo-augustinischen Grundgedanken in seine Geschichtsdarstellung ein: Zwei Prinzipien kämpfen gegeneinander und erzeugen die spirituelle Dignität des Heiligen Römischen Reichs. Während die civitas dei das Moment der Einheit stiftet, drückt sich im germanischen Freiheitssinn die civitas terrena als partikulares Bestreben aus.795 Wie im Magischen Spiegel bildet das politische System des Heiligen Römischen Reichs ein kosmologisches Urprinzip ab. Mit Eichendorffs Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands zu sprechen: Es geht, wie durch die physische Welt, so auch durch das Reich der Geister, eine geheimnisvolle Zentripetal- und Zentrifugalkraft, ein beständiger Kampf zwischen himmlischer Ahnung und irdischer Schwere, welcher in dem großen Ringe, der die Geister wie die Planeten umfaßt, je nach den engeren oder weiteren Kreisen, die sie um den ewigen Mittelpunkt beschreiben, Licht oder Schatten, belebende Wärme oder erstarrende Kälte, sehr verschieden verteilt.796

In der Probearbeit heißt es dementsprechend: „Man könnte […] die geistliche Gewalt die Zentripetalkraft, die weltliche die Zentrifugalkraft der Weltgeschichte nennen, beide in scheinbarer Zwietracht die höhere Eintracht, Gerechtigkeit und Freiheit erhaltend.“797 Mal gibt er den Papst, 792 Vgl. Gagliardo: The Holy Roman Empire, S. 206 – 226. 793 „Erst die abendländischen Völker germanischen Stammes waren es, welche das unschätzbare Gut mit aller tiefen Gewalt ihres jugendlichen Gemüts ergriffen und heimatlich machten. Bei den Deutschen insbesondere war es von Anbeginn an nicht eine vom Staat getrennte Richtung nach dem Überirdischen, das ganze häusliche und öffentliche Leben vielmehr wollte in der Idee des Christentums sich verklären.“ Eichendorff: Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und Klöster, in: DKV, Bd. 5, S. 456. 794 Ebd., S. 458. 795 Naumann, Meino: Fabula Docet. Studien zur didaktischen Dimension der Prosa Eichendorffs, Würzburg 1979, S. 26 f. 796 Eichendorff: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, in: DKV, Bd. 6, S. 822. 797 Eichendorff: Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und Klöster, in: DKV, Bd. 5, S. 466.

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mal den Kaiser als ,Zentralsonne‘ des politischen Planetensystems aus. In beiden christlich-abendländischen Würdenträgern wirkt der Grundgedanke einer Einheit in der Mannigfaltigkeit. Die partikularen Elemente lassen sich durch die unterschiedliche Nähe und Ferne zum göttlich legitimierten Mittelpunkt bestimmen. Immer werden sie von einem gemeinsamen geistlichen Band zusammengehalten.798 Das Verhältnis von Sonne und Planeten setzt sich auf territorialer Ebene mit den „Monden und Trabanten“, den „Fürsten und Grafen“, fort.799 Der Dreißigjährige Krieg ist nach Eichendorff die Wasserscheide zwischen der Harmonie des ,mittelalterlichen Reichs‘ und dem Verfall der Neuzeit. Seine Kritik am Westfälischen Frieden richtet sich jedoch nicht gegen die Beschränkung der kaiserlichen Macht – sie hatte Eichendorff im Bild der Planeten und Monde ja gelobt –, auch nicht wie bei Görres gegen das politische Gleichgewichtsdenken, sondern gegen den mechanistischrationalen Geist des Zeitalters, der das „Prinzip des Lebens, das gesunde Verhältnis zwischen Seele und Körper des Staates“ zerstört habe. An die Stelle der „lebige[n] mannigfaltige[n] Eigentümlichkeit“ Deutschlands sei „mechanische[] Gleichförmigkeit“ getreten.800 Das ,deutsche Reich‘ des 18. Jahrhunderts hebt Eichendorff gegenüber dem „monarchische[n] Prinzip“ 798 Vgl. Eichendorff: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, in: DKV, Bd. 6, S. 807; „Es ist daher ein ewig unwandelbarer Mittelpunkt notwendig, der, wie die Sonne in unserem Planetensystem in Gottes Hand fest ruhend, mit seinen Strahlen, so mannigfaltig sie sich auch am Irdischen zum bunten Farbenspiele brechen mögen, alles gleichmäßig durchdringt, alles Feindselige und Auseinanderstrebende, wie mit unsichtbaren Armen, in gleicher Liebe und Sehnsucht ewig zu dem Born des Lichts hinzieht. Eine solche Sonne, eine solche immerwährende Offenbarung und feste Burg des christlichen Glaubens war die ursprüngliche Idee eines Statthalters Christi auf Erden – des Papstes, dessen Primat daher die Katholiken, durchdrungen von der Notwendigkeit einer solchen Einheit, schon als vom göttlichen Stifter der Kirche selbst eingesetzt annehmen.“ Eichendorff: Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und Klöster, in: DKV, Bd. 5, S. 464. Ebenso: Eichendorff: Der Adel und die Revolution, in: DKV, Bd. 5, S. 391. Vgl. Riemen, Alfred: Freiheit und gewachsene Ordnung statt liberté und égalité. Deutschland und romantische Staatstheorie in Eichendorffs Denken, in: Aurora 54 (1994), S. 18 – 35, hier S. 24 ff.; Eberhardt, Otto: Eichendorffs ,Taugenichts‘. Quellen und Bedeutungshintergrund. Untersuchungen zum poetischen Verfahren Eichendorffs, Würzburg 2000, S. 66. 799 Eichendorff: Der Adel und die Revolution, in: DKV, Bd. 5, S. 391. Vgl. Riedl: Das Alte Reich und die Dichter, S. 196 ff. 800 Eichendorff: Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und Klöster, in: DKV, Bd. 5, S. 469.

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Frankreichs, das er mit purem Materialismus gleichsetzt, lobend hervor.801 Auch nach 1806 vertraut der Dichter auf die kulturell-geistige Einheit in der Mannigfaltigkeit der föderativen deutschen Nation – ein Deutschlandbild, das in dieser Form auch Ahnung und Gegenwart und den Taugenichts prägt: Dieses Naturgefühl, die tiefe Lust und Freude an der Freiheit eigentümlicher Entwickelung, dieser altgermanische Berg- und Waldgeist, der erfrischend durch unsere ganze Geschichte weht, hat uns bis heut unsere Tiroler, Österreicher, Schwaben und Rheinländer in unvermischter Gesundheit erhalten, oft im prüfenden Kampf gegeneinander, wo die Zeit, wie während der Reformation, aus ihren Fugen gerissen, ein loses Ineinanderschwimmen befürchten ließ, immer aber, wie im Jahre 1813, Ein Volk von Brüdern, wo es die nationale Selbständigkeit gilt.802

Von diesen Grundannahmen ausgehend blickt Eichendorff auf sein eigentliches Examensthema: die Säkularisation und damit das Reichsende. Der zentrale Satz lautet: [I]ch halte daher die Säkularisation der Staaten und Güter der Geistlichkeit in dieser Beziehung für ein Unglück für Deutschland und kann mich von der Wahrheit des oft gutmütig mißverstandenen, noch öfter absichtlich verdrehten Spruches: ,Ihr Reich sei nicht von dieser Welt‘ in dem gewöhnlich damit verknüpften Sinne, keineswegs überzeugen. Ihr Reich ist gerade von dieser Welt, aber freilich für eine andere; denn wie soll denn die Kirche, die sich vom Staate lossagt, ihr Wesen offenbaren?803

In den letzten Jahren des Reichs hatte es über Pro und Contra dieses ungeheuren Eingriffs rege Diskussionen gegeben, auf die Eichendorff möglicherweise mit dem Zitat exemplarisch anspielt. Dem anonym verfassten Säkularisationsplädoyer von 1798 Unser Reich ist nicht von dieser Welt widersprach ein Jahr später Johann M. Seuffert. Er bezweifelte in Opposition zu dem „jämmerliche[n] Prediger mit dem Vorspruche ,Unser Reich ist nicht von dieser Welt‘“ die Rechtmäßigkeit und Sinnhaftigkeit der Säkularisation.804 20 Jahre post factum reaktiviert Eichendorff Argumen801 Ebd., S. 477. „Die deutsche Richtung, tiefsinniger nach innen gekehrt, und sich selbst ehrend, achtet, auch wenn es äußerlich stört oder verzögert, alles Heilige, berücksichtiget alles Herkömmliche, mag nichts aufgeben, was Leben in sich hat und daher als ein ergänzender Teil zum möglich schönsten Ebenmaß des ganzen Körpers unentbehrlich scheint, sie will kein zur Notdurft schnellfertiges, mechanisches, sondern ein in allen Teilen lebendiges organisches Ganze.“ Ebd., S. 477 f. 802 Ebd., S. 478 f. 803 Ebd., S. 477. 804 Anonymus: Unser Reich ist nicht von dieser Welt. Ein erbaulicher Sermon für Geistliche und Weltliche, o. O. 1798. Anonymus [Seuffert, Johann Michael]: Der

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tationsmuster, die damals von Reichspatrioten zur Verteidigung der Germania Sacra vorgebracht worden waren:805 Schon zu Zeiten der Staufer hätten die geistlichen Stände den Ausbau der kaiserlichen „Macht zur Alleinherrschaft“ verhindert, so der Dichter in scharfem Kontrast zum zeittypischen Reichsideal. „Die Leichendecke der Einerleiheit“ sei dank ihnen nicht „über den blütenvollen Reichtum der deutschen Mannigfaltigkeit“ gelegt worden.806 Der alte Eichendorff bedichtete später eben nicht Friedrich Barbarossa, sondern Ezelin von Romano, die Zeiten des Verfalls stauffischer Alleinherrschaftsträume und den Sieg der staatlichen Vielheit in der Koalition von Papst und Kaiser.807 Deutschland, so das Credo des Dichters, sei von „jeher zu einer organischen Einheit der Mannigfaltigkeit“808 bestimmt. Privilegien wie die Confoederatio cum principibus ecclesiasticis von 1220, die den Historikern des 19. Jahrhunderts als Beginn des machtlosen Partikularismus galten, wertet Eichendorff ebenso wie den Ausbau der deutschen Wahlverfassung auf. Die geistlichen Fürsten, aus protestantisch-preußischer Sicht verfemt, erklärt der katholische Examenskandidat kurzerhand zu Garanten der deutschen Reichsverfassung, ja sogar zum „Palladium der Eigentümlichkeit und Freiheit der Nation“809. Ihr Charakter als „Wahlstaaten“ mit durch „Wahlkapitulationen“ beschränkter Macht lässt sie gegenüber der Machtansammlung starker säkularer Staaten als ausgleichendes, „sehr wohltätiges Mittelglied“ erschei-

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jämmerliche Prediger mit dem Vorspruche ,Unser Reich ist nicht von dieser Welt‘; oder Noch Etwas über die Säcularisirungen besonders nach Grundsätzen der Kantischen Philosophie, Regensburg 1798. Seuffert argumentiert kurz darauf erneut scharf gegen die Säkularisation: Seuffert, Johann Michael: Ueber die Aufstellung grösserer StaatenMassen in Teutschland statt der vielen kleineren, und Organisirung deselben aus dem Geiste des ZeitAlters, Leipzig 1799. Gagliardo: The Holy Roman Empire, S. 206 – 226. Eichendorff: Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und Klöster, in: DKV, Bd. 5, S. 474. Gegen die tyrannischen Herrschaftspläne Ezelins baut sich eine Opposition des einheimischen Adels auf. Die Handlung ist voller Schiller-Anleihen aus Wilhelm Tell und Wallenstein. Zwei gegensätzliche Herrschaftsprinzipien lässt Eichendorff in seinem Drama aufeinander stoßen. Auf der einen Seite das französische Prinzip des monarchischen Unitarismus repräsentiert durch den Tyrannis-Versuch Ezelins. Auf der anderen Seite die reichische Herrschaftsvorstellung einer Einheit in der Mannigfaltigkeit vertreten durch Magold, der fest an „das heil’ge Recht“ (Eichendorff: Ezelin von Romano, in: DKV, Bd. 4, S. 272) glaubt. Eichendorff: Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und Klöster, in: DKV, Bd. 5, S. 488. Ebd., S. 475.

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nen.810 Aufgrund der föderalen Struktur Deutschlands sei die Auflösung der geistlichen Fürstentümer „ein sehr wichtiger Nachteil für deutsche Bildung und Einheit“811. Im Verlust zahlreicher kleiner Hauptstädte, der zahlreichen Landesuniversitäten, der Vielfalt in der Staatsverwaltung und der wichtigen sakralen Kunst und Kultur kann Eichendorff nur die Gefahr von Uniformität sehen und diagnostiziert in der Moderne ein wesentliches Missverständnis: „Einerleiheit ist […] keine Einheit […].“812 Mit dem Topos „Unter’m Krummstab ist gut wohnen“ sucht er zu beweisen, dass die Lebensqualität in den geistlichen Territorien den weltlichen Staaten kaum nachgestanden habe.813 Ihre Reformbedürftigkeit um 1800 streitet Eichendorff nicht ab, weigert sich aber, daraus ein Argument für die Säkularisation abzuleiten: „[…] gleichwie man einen lebendigen Baum nicht umhauen mag, weil er im Winter keine Blätter trägt […].“814 Seine Arbeit allerdings ist weit nach der Herrschafts- und Vermögenssäkularisation von 1803 und den Folgejahren geschrieben. Die Unausweichlichkeit der Ablösung des Alten durch das Neue steht daher auch am Ende seiner Apologie der geistlichen Staaten, die sich wie ein verspäteter Beitrag zur Reichsverfassungsdiskussion um 1800 ausnimmt. Der geistigen, insbesondere der wissenschaftlichen Tätigkeit spricht Eichendorff „eine hohe religiöse Bedeutung“815 für den Weg in die neue Ordnung zu: Sie müsse helfen, das Schlechte abzuwehren und das Gute zu erkennen und anzunehmen. 4.1.4 Das verborgene Reich in Ahnung und Gegenwart und im Taugenichts Die Reichskonzeption aus Eichendorffs historischen und politischen Arbeiten prägt auch sein dichterisches Werk – allerdings, der Zeit geschuldet, mehr als verborgenes denn als sichtbares Reich. Seine tristen Worte von der „verlorne[n] Wirklichkeit“ am 8. August 1806 beziehen sich vielleicht auf den Reichsuntergang zwei Tage zuvor.816 Ein Jahr später notiert er bei einem Besuch in der ehemaligen Reichsstadt Regensburg unscheinbar aber bedeutungsschwer: 810 811 812 813 814

Ebd., S. 484. Ebd., S. 485. Ebd., S. 488. Ebd., S. 489. Vgl. Gagliardo: The Holy Roman Empire, S. 210. Eichendorff: Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und Klöster, in: DKV, Bd. 5, S. 481. 815 Ebd., S. 509. 816 Eichendorff: Tagebücher, 8. August 1806, in: DKV, Bd. 5, S. 166. Vgl. Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 196.

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Es ist herzergreifend, wie diese alte berühmte Stadt jezt durch die Auflösung des Reichstages öde u. leer ist; nur die Kirchen schauen, erhaben über die kleinlichen Jahre, einsam aus den alten kräftigen Zeiten der Herrlichkeit herüber.817

Der Auflösung des Reichstags und der alten Herrlichkeit stellt Eichendorff die Kirche gegenüber – eine Konstellation, die in seinem Roman Ahnung und Gegenwart (1812/1815) wiederkehrt. Im Vorwort des Romans spricht La Motte Fouqué von der „fortlaufende[n] Berührung des Buches mit den öffentlichen Begebenheiten“. Es sei „ein getreues Bild jener gewitterschwülen Zeit“818. Diese Ankündigung musste bei Lesern wie Literaturwissenschaftlern Irritationen hervorrufen, denn von politischen Ereignissen ist kaum die Rede, und Friedrichs kurzer Kampf in den Bergen mag zwar an den Tiroler Aufstand von 1809 erinnern und zugleich auf die Befreiungskriege vorausdeuten, er bleibt aber doch unkonkret und kaum historisch bestimmbar. Wie später im Taugenichts grundiert den Weg Friedrichs allerdings eine ins Kulturell-Geographische verlegte Reichsszenerie, die am Ende des Romans unter spirituellen Vorzeichen politisiert wird. Das Heilige Reich ist Teil der Panorama-Landschaft des Romans, Teil des Heilsraums, in dem sich das märchenhaftsymbolische Geschehen abspielt.819 Mit dem Wald, den zahlreichen Schlösschen und „altfränkischen“ Burgen, den deutschen Flüssen und vaterländischen Liedern werden unverkennbar Markierungen des mannigfaltigen Reichs aus Eichendorffs historischen Schriften aufgerufen – ein Deutschlandbild, dessen Einheit mehr fühl- als sichtbar ist. Erst in der rückblickenden Erzählung Leontins, versehen mit der kosmologischen Andeutung eines baldigen Kriegs, erhält diese kulturell-geographische Vielheit ihren politischen Namen: Da wurde es nach und nach schwül und immer schwüler unten über dem deutschen Reiche, die Donau sah ich wie eine silberne Schlange durch das unendliche, blauschwüle Land geh’n, zwei Gewitter, dunkel, schwer und langsam standen am äußersten Horizonte gegeneinander auf.820

817 Eichendorff: Tagebücher, 13. Mai 1807, in: DKV, Bd. 5, S. 218. 818 Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, in: DKV, Bd. 2, S. 55. 819 Vgl. zur Landschaftskonzeption des Romans unter kritischer Bezugnahme auf Joachim Ritter: Zons, Raimar Stefan: „Schweifen“. Eichendorffs ,Ahnung und Gegenwart‘, in: Eichendorff und die Spätromantik, hrsg. v. Hans-Georg Pott, Paderborn 1985, S. 39 – 68. 820 Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, in: DKV, Bd. 2, S. 301. Kursivierung M. H.

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Eine ähnlich unpolitisch-politische Landschaft tritt dem Leser während der Rheinfahrt des Helden entgegen. Die vielen einzelnen aus dem unkenntlichen ,Meer‘ hervorragenden Burgen sind das politische Sinnbild des in den Jahren 1803, 1805 und 1806 zerfallenen Reichs: Du könntest mich [Leontin] wahnwitzig machen unten erschreckliches Bild meiner Zeit, wo das zertrümmerte Alte in einsamer Höhe steht, wo nur das Einzelne gilt und sich, schroff und scharf im Sonnenlicht abgezeichnet, hervorhebt, während das Ganze in farblosen Massen Gestaltlos liegt, wie ein ungeheuerer, grauer Vorhang, an dem unsere Gedanken, gleich Riesenschatten aus einer anderen Welt, sich abarbeiten.821

Der Blick von den einsamen Burgruinen und Bergen ins Tal ist ein Topos der romantischen Literatur für das verwaiste mittelalterliche Reich in der tristen deutschen Gegenwart. Landschaft avanciert zum geschichtlichpolitisch semiotisierten Raum. Für Joseph Görres wurde der Kölner Dom „in seiner trümmerhaften Unvollendung, in seiner Verlassenheit“ ein Bild der gegenwärtigen Tragik Deutschlands, „ein Symbol des neuen Reiches, das wir bauen wollen“822. Friedrich fährt in der berühmten Eingangsszene des Romans von Regensburg kommend die Donau herunter. Die Zeitgenossen nannten den Weg zwischen Regensburg, der Stadt des Reichstags, und Wien, der Kaiserstadt, „Reichslinie“ und bewahrten diesen Begriff über 1806 hinaus im kulturellen Gedächtnis.823 Eichendorff selbst fuhr 1808 mit dem Postschiff auf der Donau von Regensburg nach Wien.824 Es ist bezeichnend, dass die sonst imaginative Topographie des Romans durch Regensburg als „geopolitische Chiffre“ mit realen Koordinaten versehen wird, der Reisende aber nicht bis nach Wien gelangt, sondern an einem Wirbel – vielleicht der Donauwirbel bei Grein – „ein hohes Kreuz“ gewahr wird, das „Trost- und Friedenreich [sic]“ über den Wogen des Flusses steht.825 Das Kreuz deutet 821 Ebd., S. 249. „Als sie aus dem Walde auf einen hervorragenden Felsen heraustraten, sahen sie auf einmal aus wunderreicher Ferne von alten Burgen und ewigen Wäldern kommend den Strom vergangener Zeiten und unvergänglicher Begeisterung, den königlichen Rhein.“ Ebd., S. 245. 822 Görres, Joseph: Der Dom in Köln, in: Rheinischer Merkur, 1. Halbbd., Nr. 151 (20. November 1814), o. S. 823 Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 223. 824 Schiwy: Eichendorff, S. 210 f. und 672. 825 Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, in: DKV, Bd. 2, S. 58. Zu Regensburg als „geopolitische[r] Chiffre“ und dem Donauwirbel: Bachmann, Vera: „Von Regensburg her…“ Zur Funktion außertextueller Referenzen in Eichendorffs Roman ,Ahnung und Gegenwart‘, in: Aurora (2010/2011), S. 55 – 64, hier S. 62 und 56.

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auf Friedrichs Berufung hin, sein Blick wird aber, symbolisch genug, durch das nahende Boot Rosas abgelenkt. Im letzten Kapitel des ,Bildungsromans‘ besinnt sich Friedrich auf die Einheit von Kreuz und Reich – in eben dieser Reihenfolge, denn das Reich bleibt, wie das Wien der zur Reichslinie verlängerten Reiseroute, noch in die Ferne der Zukunft verschoben. Anders formuliert: Friedrichs Weg zum Reich führt über das Kreuz. Im Laufe des Romans holen den Helden die Zeitereignisse ein, er wird gleichsam ins Politische gedrängt. Seit ihn der Erbprinz aufforderte, „alle eigenen Wünsche und Bestrebungen wegzuwerfen für das Recht“, ist sein „ganzes Sinnen und Trachten […] endlich auf sein Vaterland gerichtet“826. Die Rhetorik des patriotischen Kreises der Residenzstadt genügt jedoch nicht, zumal die fragwürdigen Charaktere sich bald von ihrer wahren Seite zeigen. Deutsche Vaterlandsliebe, katholischer Kosmopolitismus827 und wahres Dichtertum müssen erst auf dem weiteren Bildungsgang im christlichen Reichspatriotismus Friedrichs zusammenfinden. Wesentliche Etappe darin ist der Ausbruch des Kriegs, durch den der landsässige Graf alle Besitzungen verliert, da sein Landesherr auf ,wälscher‘ Seite kämpft, während er selbst „den Ruhm seines alten Namens durch alte Tugend“ auffrischt. Unschwer lässt sich in dem „Staate“, dem er nun „mit Lehn und Habe“ „verfallen“ ist, eine Anspielung auf die neuen Staaten von Napoleons Gnaden erkennen, deren Machterweiterung auf Kosten reichsunmittelbarer und mittelbarer Herrschaften die Welt des Alten Reichs endgültig verschwinden ließ.828 Friedrichs gefährdete Existenz während und nach seinem Engagement im Gebirge, der letzten „Ringmauer von Deutschland“, verkörpert geradezu das heilige Reich, das durch korrumpierte Adelige wie Romana der endgültigen Zerstörung entgegentaumelt.829 Ihr Untergang weist Züge der erniedrigenden politischen Lage

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Bachmann weist in ihrer bedenkenswerten These hingegen auf ein Volkslied hin, das Eichendorff mit dem Eingangswort seines Romans zitieren könnte. Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, in: DKV, Bd. 2, S. 228, 240. Zur Substitution des Kosmopolitismus der Aufklärung durch den Katholizismus: Albrecht, Andrea: Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800, Berlin/New York 2005, S. 353 – 390. Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, in: DKV, Bd. 2, S. 290. Ein Bürger sagt über Friedrich: „Der ist aber im Kriege geblieben, und es ist gut für ihn, denn er ist mit Lehn und Habe dem Staate verfallen.“ Ebd., S. 319. Ebd., S. 278. „Das war es, was Friedrich’n empörte, die überhandnehmende Desorganisation gerade unter den Besseren, daß niemand mehr wußte, wo er ist, die landesübliche Abgötterei unmoralischer Exaltation, die eine allgemeine Auflösung nach sich führen mußte.“ Ebd., S. 257 f.

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Deutschlands auf: „[W]ie eine Marketenderin“ prostituiert sich die Gräfin bei den feindlichen Soldaten. Ihr Schloss geht schließlich in Flammen auf: Die hochgewölbten Zimmer selbst waren ein seltsames Gemisch von alter und neuer Zeit, einige standen leer und wüste, wie ausgeplündert, in anderen sah er alte Gemälde an der Wand herumhängen, die wie aus schändlichem Mutwillen mit Säbelhieben zerhauen schienen.830

Romana, die Letzte ihres „alten, berühmten Geschlechts“, begeht „über den Trümmern ihrer Ahnenbilder“ Selbstmord: „Das Schloß sank wie ein dunkler Riese in dem feurigen Ofen zusammen, über der alten, guten Zeit hielt das Flammenspiel im Winde seinen wilden Tanz […].“831 Mit den Trümmern von Romanas Schloss korrespondiert die traumhaft-allegorisch gestaltete Heimkehr Friedrichs: Was in der entfremdeten Aristokratin an Altem verloren geht, bewahrt sich in dem wahren Patrioten Friedrich für die Zukunft auf. Gemeinsam mit Leontin verlässt er die kollabierende Ordnung und zieht sich zurück ins Gebirge, in die „grünen Freiheitsburgen“832. Schließlich gelangen die Freunde an ein altes, verfallenes Schloss. Mit dem Blick ins Tal über „das fröhlichbunte Reich“ realisiert Friedrich: „das ist ja meine Heimat!“ In der Ruine seiner Ahnen stößt er auf ein steinernes Grabmal einer jungen Frau mit einem „altgeformte[n]“, aber zersprungenen Schwert, einem ebenso „zerbrochene[n] Wappen“ und einem „hohe[n], einfache[n] Kreuz“833. Im nahen Schloss seines Bruders wiederum bemerkt er ein Wandgemälde, das das alte Schloss seiner Heimat abbildet, während es niederbrennt.834 Über die Lebensgeschichte des verbitterten Rudolf erschließen sich ihm die geheimnisvollen Erscheinungen auch seiner eigenen Biographie, und er gelangt zur Einsicht in jene Bestimmung, auf die das Kreuz vom Beginn des Romans ebenso deutlich verwies wie nun das schlichte, aber im Gegensatz zu Schwert und Wappen unversehrte Kreuz auf dem Grab Angelinas. Der Roman endet nicht mit der Wiederkehr des heiligen Reichs, sondern einstweilen nur mit Friedrichs Konzept wahrer Dichtung und seinem Gang ins Kloster. Seine Wahl der vita contemplativa als Weltflucht abzutun, wäre jedoch zu einfach,835 denn in ihr verbinden sich wahrhaftes Gottvertrauen und 830 831 832 833 834 835

Ebd., S. 220 f. Ebd., S. 293, 295. Ebd., S. 320 Ebd., S. 324. Ebd., S. 332 f. Vgl. Schwarz, Egon: Joseph von Eichendorff: ,Ahnung und Gegenwart‘ (1815), in: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik, hrsg. v. Paul Michael

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Reichspatriotismus. Der Dichtung spricht Friedrich die Aufgabe zu, das Alte vor dem Untergang zu bewahren: Das Reich des Glaubens ist geendet Zerstört die alte Herrlichkeit, Die Schönheit weinend abgewendet, So Gnadenlos ist unsre Zeit. […] […] Der Dichter kann nicht mit verarmen Wenn alles um ihn her zerfällt, Hebt ihn ein göttliches Erbarmen, Der Dichter ist das Herz der Welt.836

Wie die „heiligen Märtyrer“, bekennt Friedrich schon im ersten Buch des Romans, müsse sich der Poet ganz in den Dienst der Religion stellen.837 Statt Kunstautonomie nimmt Eichendorffs Protagonist die Dichtung in die gesellschaftliche und das heißt hier religiöse Pflicht. Mit Eskapismus darf das nicht verwechselt werden, denn für die Romanfigur wie für den Autor sind der Verfall des Glaubens und der Untergang des Reichs zwei Seiten derselben Medaille. Mit den Worten des merkwürdigen Ritters aus Rudolfs Schloss, die Friedrich und Leontin mehr beeindrucken als den Sprecher selbst: Denn die Welt wimmelt wieder von Heiden. Die Burgen sind geschleift, die Wälder ausgehauen, alle Wunder haben Abschied genommen, und die Erde schämt sich recht in ihrer fahlen, leeren Nacktheit vor dem Kruzifix, wo noch eines einsam auf dem Felde steht […].838

Der sich ins Kloster zurückziehende Dichter ist gleichermaßen miles christianus wie Reichspatriot, da beide Epitheta im Ideal des heiligen Reichs konvergieren. „Er hatte endlich den phantastischen, tausendfarbigen Pilgermantel abgeworfen und stand nun in blanker Rüstung als Kämpfer Gottes gleichsam an der Grenze zweier Welten.“839 Politisches und Religiöses sind in seinem Handeln eins. Der resignativen Flucht Leontins setzt Friedrich Glauben und Geduld entgegen, bewahrt damit aber auch die Hoffnung auf die Wiedererrichtung des heiligen ,deutschen Reichs‘, das

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Lützeler, Stuttgart 1981, S. 302 – 324, hier S. 309; Kafitz: Wirklichkeit und Dichtertum, S. 365. Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, in: DKV, Bd. 2, S. 376 f. Ebd., S. 83. „[…] denn so wie sie den ewigen Geist Gottes auf Erden durch Taten ausdrückten, so soll er ihn aufrichtig in einer verwitterten, feindseligen Zeit durch rechte Worte und göttliche Erfindungen verkünden und verherrlichen.“ Ebd., S. 327. Ebd., S. 362.

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Leontin nur als „Erinnerung an die vergangene große Zeit“ mit in die neue Welt nehmen kann. Es ist noch nicht an der Zeit zu bauen, so lange die Backsteine, noch weich und unreif, unter den Händen zerfließen. Mir scheint in diesem Elend, wie immer, keine andere Hülfe, als die Religion. Denn wo ist in dem Schwalle von Poesie, Andacht, Deutschheit, Tugend und Vaterländerei, die jetzt, wie bei der babylonischen Sprachverwirrung, schwankend hin und hersummen, ein sicherer Mittelpunkt, aus welchem alles dieses zu einem klaren Verständnis, zu einem lebendigen Ganzen gelangen könnte?840

Friedrichs Politikbegriff geht so wenig wie der seines Schöpfers in der nationalen Bewegung des 19. Jahrhunderts auf: Zwar stimmen die altdeutschen, patriotischen Lieder, Begriffe wie Vaterland, deutsche Ehre, altes Recht und alte Freiheit, die sich über den ganzen Roman verstreuen, scheinbar mit ihr überein.841 Während die neuen Nationalisten jedoch die Einheit in einem verfassungsmäßigen Nationalstaat begehren, blickt Friedrich zurück auf die Einheit in der Mannigfaltigkeit eines christlichdeutschen Idealreichs, das er zunächst nur im Kloster vorbereiten kann. Eichendorff beteiligte sich außerhalb des Romans ebenso an der Debatte um die deutsche Nationalidentität und befürwortete die Errichtung symbolischer Gedächtnisorte wie des Kölner Doms oder den Wiederaufbau der Marienburg. Er verband mit ihnen aber ganz andere Ideale als die Mehrheit seiner Zeitgenossen. Der Briefwechsel in Sachen Marienburg mit dem Oberpräsidenten der Provinz Preußen Theodor Schön offenbart die Unterschiede: „Während Schön an den Ordensstaat als Vorbild für Preußen erinnern will, geht es Eichendorff um die Christianisierung durch den Orden als Aufgabe auch für die seiner Meinung nach wieder heidnisch werdende Gegenwart.“842 Nur wenn der „Geist Gottes“ „im öffentlichen Leben wieder Raum“ gewonnen habe, so der Graf des Romans die Nationalgeistdebatte des 18. durch die Glaubensfrage des 19. Jahrhunderts substituierend, könne das heilige Reich neu entstehen. Seine vita con840 Ebd., S. 375. Leontin verspricht, „die Ehre und die Erinnerung an die vergangene große Zeit“ „heilig“ zu bewahren. Ebd., S. 372. 841 Zu dem patriotischen Kreis heißt es: „Eine gleiche Gesinnung schien alle Glieder dieses Kreises zu verbrüdern. Sie arbeiteten fleißig, hoffend und glaubend, dem alten Recht in der engen Zeit Luft zu machen […].“ Ebd., S. 231. Leontin, die Vaterlandsliebe der drei Freunde aussprechend: „Ich meine jene uralte, lebendige Freiheit, die uns in großen Wäldern wie mit wehmütigen Erinnerungen anweht, oder bei alten Burgen sich wie ein Geist auf die verfallene Zinne stellt […].“ Ebd., S. 370 f. Siehe auch Fabers Gedicht „an die Deutschen“: ebd., S. 81. 842 Schiwy: Eichendorff, S. 413 – 423, hier S. 421.

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templativa ist zugleich eine vita activa – freilich mit den Mitteln einer vergangenen Epoche. […] [D]ann erst wird es Zeit sein, unmittelbar zu handeln, und das alte Recht, die alte Freiheit, Ehre und Ruhm in das wiedereroberte Reich zurückzuführen. Und in dieser Gesinnung bleibe ich in Deutschland und wähle mir das Kreuz zum Schwerte. Denn wahrlich, wie man sonst Missionarien unter Kannibalen aussandte, so tut es jetzt viel mehr Not in Europa, dem ausgebildeten Heidensitze.843

Wie die Examensschrift endet Ahnung und Gegenwart im Bewusstsein eines unausweichlichen, primär geistigen „Kampf[es] zwischen Altem und Neuem“844 und der gedämpften Hoffnung, beide Kräfte könnten sich nicht zuletzt durch die Einwirkung der christlichen Dichtung auf die Menschen (dort ist es die Wissenschaft) zu einer weltlich-geistlichen Harmonie versöhnen. Im neunten Kapitel des Taugenichts (1826) stimmt der aus Italien nach Deutschland heimkehrende Protagonist ein Lied an, dessen zwei Strophen jeweils auf „Vivat Östreich!“ enden. Vom Heimweh geplagt blickt er soeben von einem „hohen Berge, wo man zum erstenmal nach Östreich hineinsehen kann“, ins Tal und sieht dort drei musizierende Gesellen, die sich später als Prager Studenten zu erkennen geben. Nach freundlicher Begrüßung kramt einer von ihnen eifrig in seinem Schubsack und zog endlich unter allerlei Plunder eine alte zerfetzte Landkarte hervor, worauf noch der Kaiser in vollem Ornate zu sehen war, den Szepter in der rechten, den Reichsapfel in der linken Hand. Er breitete sie auf dem Boden behutsam auseinander, die andern rückten näher heran, und sie beratschlagten nun zusammen, was sie für eine Marschroute nehmen sollten.845

Die 1822 geschriebene Novelle lässt den historisch-politischen Raum ihrer Handlung merkwürdig offen. Von Deutschland, Österreich oder Italien ist zwar mehrfach die Rede, aber eine konkrete regionale oder historische Zuordnung ist schlechterdings kaum möglich. Hier nun wird jedoch mit der kaiserlichen Landkarte ein deutlicher Akzent gesetzt: Die jungen patriotischen Studenten orientieren sich an den Grenzen des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, das 1806 untergegangen war. Dass die Karte alt und zerfetzt ist, erinnert an die in der Examensarbeit beschriebene 843 Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, in: DKV, Bd. 2, S. 375. Erste Kursivierung M. H. 844 Ebd., S. 381. 845 Eichendorff: Taugenichts, in: DKV, Bd. 2, S. 543

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Zerstörung des Reichs durch Säkularisation und Mediatisierung. Die Reichskoordinaten werden, so lässt sich folgern, bewusst kontrafaktisch in der imaginativen Topographie des Romans beibehalten. Mit diesem Motiv ist Eichendorff nach 1806 durchaus nicht allein: 1809 fragt der Vater aus Kleists Katechismus der Deutschen seinen patriotischen Sohn, wo das Deutschland, dem er sich zugehörig fühle, denn zu finden sei. Der Junge antwortet: „Auf der Karte“. Der Vater erwidert ihm: „Ja, auf der Karte! – Diese Karte ist vom Jahre 1805“, seit dem Preßburger Frieden sei das Reich jedoch zerstört.846 Natürlich halten Vater und Sohn dennoch aus Vaterlandsliebe weiter an dem untergegangenen Reich fest. In der Tat hätten beide auch noch auf aktuellen Karten von 1809 das Reich finden können. Kartographie ist ein durch und durch politisches Fach: Bei Daniel Friedrich Sotzmann kann man die „territoriale Revolution“847 zwischen 1789 und 1817 kontinuierlich nachvollziehen.848 Andere Karten dieser Zeit titulierten etwa den Rheinbund und später den Deutschen Bund mit „deutsches Reich“849. Besonders die Jahre 1805 und 1806 führten zu spürbaren Veränderungen der Landkarte Deutschlands.850 Noch 1828 kündigte schließlich die Cottasche Buchhandlung eine Karten846 Kleist: Katechismus der Deutschen, in: SW, Bd. 2, S. 350. 847 Der Begriff ,territoriale Revolution‘ wird in der historischen Forschung gerne auf Volker Press zurückgeführt. Dieser bezieht sich jedoch auf Rudolfine Freiin von Oer und Adolf Beer, hält ihn jedoch selbst für „etwas irreführend“. Press, Volker: Warum gab es keine deutsche Revolution? Deutschland und Frankreich 1789 – 1815, in: Revolution und Krieg: zur Dynamik historischen Wandels, hrsg. v. Dieter Langewiesche/Elisabeth Fehrenbach, Paderborn 1989, S. 67 – 85, hier: S. 82. 848 Zu Daniel Friedrich Sotzmanns (1754 – 1840) Karten: Scharfe, Wolfgang: Daniel Friedrich Sotzmann. Leben und Werk eines Berliner Kartographen, in: Kartographisches Colloquium Wien ’86. Vorträge und Berichte, hrsg. v. Wolfgang Scharfe/Ingrid Kretschmer/Franz Wawrik, Berlin 1987, S. 11 – 22. 849 Vgl. etwa die Ankündigung: „In der Schneider= und Weigelschen Kunst= und Landkarten=Handlung zu Nürnberg, ist eine zweckmäßige illuminirte Landkarte des deutschen Rheinbundes oder des deutschen Reichs erschienen“, in: Fränkische Chronik 1 (1807), S. 701; Ankündigung eines politisch-physikalischen Atlas der Erde: „[…] die letzte [von 1818] ist eine Karte des deutschen Reichs in seine Bundessstaaten eingetheilt, nach den neuesten Bestimmungen gezeichnet, von J. M. F. Schmidt“, in: Allgemeines Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur, Leipzig 1819, S. 324. 850 Z. B. die Ankündigung neuer Landkarten in der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom Jahre 1806, Bd. 2, Halle/Leipzig 1806, S. 491: „Folgende, nach dem Preßburger Frieden neu berichtigte Karten, zu unserm Gasparschen Handatlasse gehörig“. Es folgen zwei neue Karten zum „österreichischen Kreise“ und zum „bayerischen Kreise“.

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sammlung von 1791 bis 1821 an und bedauerte, wie sehr sich „das von allen Seiten mißhandelte deutsche Reich“ über die Friedensschlüsse von Campo Formio, Rastatt, Lunéville und vor allem Preßburg verändert habe und schließlich die „gänzliche Auflösung der deutschen Reichsverfassung“ die logische Folge gewesen sei.851 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird diese verlorene Reichskarte in vielen literarischen Werken erwähnt. Ludwig Tiecks später Roman Der junge Tischlermeister (1836) spielt 1805, vor dem Preßburger Frieden. Wie bei Kleist lernt dort ein Junge, die Karte des Alten Reichs in seinem Herzen zu tragen: Deutschland war aufgeschlagen, und der alte Magister suchte ihm die Einteilung der Kreise, den Lauf der Flüsse und den Zusammenhang der Gebirge deutlich zu machen. ,Recht in der Mitte Germaniae‘, sagte er eben, ,liegt allhier das alte Noricum, oder Nürnberg, welches darum billigerweise die Hauptstadt des deutschen Reichskörpers sein sollte.‘ Leonhard beugte sich über den Knaben und sah mit in die Karte. ,Ein herrliches Land ist Franken‘, fing er an; ,und vor allen das Bambergische und die Ufer des Mains.‘ – ,Sind wohl dorten gewesen?‘ fragte der Magister. – ,Lange Zeit‘, antwortete der Meister, ,und wunderbar war alles dort nebeneinander, so verschieden und doch so schön vereinigt.852

Karl Immermann spricht in seinem Roman Die Epigonen (1836) die anhaltende Prägungskraft, welche die Existenz des Reichs und seiner Territorien auf die Bewohner ausgeübt hatte, direkt an: Nun dauert aber das Gedächtnis einer politischen Vergangenheit länger, als unsre Staatskünstler sich träumen lassen. Weiterhin, in den rheinischen Kreisen, war bekanntlich die Landkarte noch bunter zu den Zeiten des Reichs, welches doch noch kein Menschenalter tot ist. Betrachte man denn eine eigentümliche Folge, welche die Verhältnisse kleiner Staaten in den Menschen erzeugen! Wenn in einem großen Reiche etwa ein Dutzend Personen zu dem Bewußtsein politischer Würde und Wichtigkeit gelangen, so entsteht auf einem viermal geringeren Raume, welcher von kleinen Staaten besetzt ist, we851 „Ankündigung. Deutschlands und der einzelnen deutschen Staaten wichtigste Momente in den dreißig Jahren von 1791 – 1821. Im Verein mit mehreren Geschäftsmännern und Gelehrten herausgegen von Jos. Ant. von Belli de Pino, königl. bayerischem Ministerialrath, des Civil=Verdienst=Ordens der bayerischen Krone und anderer Orden Ritter und J. Theodor von Roth, königlich bayerischem Ministerialrath, des Civil=Verdienst=Ordens der bayerischen Krone Ritter“, in: Intelligenzblatt des Rheinkreises 12 (1829), S. 92. 852 Tieck, Ludwig: Werke in vier Bänden. Nach dem Text der ,Schriften‘ von 1828 – 1854, unter Berücksichtigung der Erstdrucke, hrsg. v. Marianne Thalmann, München 1963, Bd. 4, S. 210.

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nigstens das Vierfache jenes Bewußtseins und des daraus entspringenden Sinns für das Öffentliche.853

Besonders die fränkische und schwäbische Reichskarte galten mit ihrer bunten Vielfalt als typisch für die Reichsstruktur: „Kein Kreis des deutschen Reiches“, heißt es in einem Lexikon von 1801, „ist so zerstückelt und so bevölkert, also so schwer in eine Landkarte zu bringen, als dieser, und doch hat kein Kreis des teutschen Reichs so vollständige Karten aufzuweisen, als der schwäbische.“854 Arnim ruft im Gedächtnis der Leser seiner Kronenwächter (1817) exakt eine solche Karte auf und damit die verlorengegangene ,Einheit in der Mannigfaltigkeit‘ des Reichs: Die Karte von Schwaben, wie sie Homann’s Erben im Jahre 1734 herausgaben, muß noch jetzt nach so vielen Veränderungen, wohlgefallen. Diese sinnreichen Nürnberger haben alle Farben ihres weltberühmten Muschelkastens benutzt, die Grenzen der vielen Staaten augenscheinlich zu machen, auf daß ein jeder in dieser Farbenpracht den Bogen der Gnade erkennen möge, den Gott über dieses herrliche Land gestellt hatte, als er es nach freier Entwickelung durch Krieg und Friede mit der Kraft seines heiligen, deutschen Reichs für Jahrhunderte schützte.855

Das politische Reich im Taugenichts, um wieder auf Eichendorff zurückzukommen, ist unsichtbar, doch bleibt es in den Köpfen bestehen. Wolfgang Burgdorf spricht von einer nachhaltigen reservatio mentalis, einer politisch-mentalen Prägung durch das Alte Reich, die sich etwa im Festhalten an Wappen und Titulaturen oder Begriffen wie „Reichspost“ noch lange Zeit nach Auflösung des Reichs niederschlug und „am Beginn der Sehnsucht nach einem neuen Reich“ gestanden habe.856 Im Taugenichts finden sich neben der zerrissenen Reichskarte noch andere Reminiszenzen an das Reichsbewusstsein. Nicht zuletzt mag das berühmte in die Ferne, aber auch wieder in die Heimat rufende Posthorn an ebendiese Reichspost erinnern, immerhin trugen die Thurn und Taxis nicht nur den Reichsadler und das Posthorn im Wappen, sie beanspruchten aufgrund ihrer kaiserlichen Privilegierung auch das Blasen des Posthorns allein für sich.857 853 Immermann, Karl: Die Epigonen, in: ders.: Werke, 5 Bde., hrsg. v. Benno von Wiese, Frankfurt a.M./Wiesbaden 1971–1977, Bd. 2, S. 369 f. 854 Röder, Philipp Ludwig Hermann: Geographisches Statistisch=Topographisches Lexikon von Schwaben, Bd. 2, Ulm 1801, S. 613 f. 855 Arnim, Achim von: Die Kronenwächter, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 15. 856 Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 223. 857 Eichendorff: Taugenichts, in: DKV, Bd. 2, S. 474, 501 f., 505 f., 528; zum Privileg der Thurn und Taxis: Gerteis, Klaus: Das Postkutschenzeitalter. Bedin-

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Kapitel 5: Abgesänge und Arbeit am Mythos

Während die Territorialisierung der Reichspost nach 1805 zwar lokal für eine gesteigerte Reisegeschwindigkeit sorgte, bewirkte der Verlust des Reichszusammenhangs für Fernreisende zunächst „erhebliche Nachteile“858. Selbstverständlich sind das Fernweh und die Einsamkeit am Fenster beim Ertönen des Posthorns „im stillen Land“859, um das berühmte Gedicht Sehnsucht zu zitieren, längst nicht allein mit dieser historischen Dimension zu fassen. Wenn sich aber der Taugenichts im Roman über die Geschwindigkeit der Post beklagt, die zum Merkmal des neuen Jahrhunderts nach dem Reichsuntergang wurde, zeigt sich, dass für ihn im Klang des Posthorns die Erinnerung an das verklärte, ruhige Tempo aus der vergangenen Zeit des Reichs mitschwingt.860 Vor allem aber sind es die Lieder und Gesänge, die ,Deutschland‘ im Bewusstsein des Helden bewahren: Aber ganz von weiten kam der Klang eines Posthorns über die waldigen Gipfel herüber, bald kaum vernehmbar, bald wieder heller und deutlicher. Mir fiel dabei auf einmal ein altes Lied recht aufs Herz, das ich noch zu Hause auf meines Vaters Mühle von einem wandernden Handwerksburschen gelernt hatte, und ich sang […].861

Natürlich endet das folgende Lied „von der alten schönen Zeit“, der fernliegenden „Heimat hinter den Gipfeln“, mit dem Vers: „Grüß Dich Deutschland aus Herzensgrund!“862 „Es war, als wenn mich das Posthorn bei meinem Liede aus der Ferne begleiten wollte.“863 Wilhelm Gössmann ist der Überzeugung, dass aus dem Deutschlandbild des Taugenichts jede politische Dimension auszugrenzen sei. „Das Deutschland des Taugenichts ist ein Deutschland der Lieder, der Italiensehnsucht, der Kulturlandschaft, der Kunst und der träumenden Philister.“864 Im Heimweh des Protago-

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gungen der Kommunikation im 18. Jahrhundert, in: Aufklärung 4 (1989), S. 55 – 78, hier S. 58 f. Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt, S. 60. Eichendorff: Sehnsucht, in: DKV, Bd. 1, S. 315. „Wir fuhren nun über Berg und Tal Tag und Nacht immerfort. Ich hatte gar nicht Zeit, mich zu besinnen, denn wo wir hinkamen, standen die Pferde angeschirrt, ich konnte mit den Leuten nicht sprechen, mein Demonstrieren half also nichts […].“ Eichendorff: Taugenichts, in: DKV, Bd. 2, S. 506 f. Ebd., S. 515. Ebd., S. 515 f. Ebd., S. 516. Gössmann, Wilhelm: Der ,Taugenichts‘ als literarisches Deutschlandbuch, in: Joseph von Eichendorff. Seine literarische und kulturelle Bedeutung, hrsg. v. Wilhelm Gössmann/Christian Hollender, Paderborn/München/Wien/Zürich 1995, S. 143 – 161, hier S. 160.

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nisten in Italien kommt jedoch ein geographisch-kultureller Deutschlandbegriff zur Sprache, der politisch-religiöse Konnotationen wach hält: Denn mir war in dem fremden Lande nicht anders, als wäre ich mit meiner deutschen Zunge tausend Klafter tief ins Meer versenkt, und allerlei unbekanntes Gewürm ringelte sich und rauschte da in der Einsamkeit um mich her, und glotzte und schnappte nach mir.865

Immerhin ist explizit von Deutschland, Österreich, der Donau und Wien die Rede. „,Vivat unser kühlgrünendes Deutschland da hinter den Bergen!‘“, ruft einer der Maler morgens aus dem Fenster. „Ich tat ihm höflich Bescheid, und grüßte in meinem Herzen die schöne Heimat in der Ferne noch viel tausendmal.“866 Otto Eberhardt widerspricht Meino Naumann, der aufgrund der Handlungsorte Wien und Rom sowie der Landkarte mit Kaiserporträt im Taugenichts die Sehnsucht nach dem Heiligen Römischen Reich des Mittelalters artikuliert sieht.867 „Heimat“ dürfe nur im höheren, kulturellen und religiösen Sinne verstanden werden, es handle sich um den „Ursprung des Lebens und der Dichtung“, die „Heimat im Paradies“868. „Im Spiritualsinn erscheint Deutschland – gegenüber Italien als dem Land der irdischen Welt – als eine Chiffre für die himmlische Heimat“869, schreibt er und verweist auf die Analogie des Reise-Lieds mit Kordelchens Gesang nahe Rom in Dichter und ihre Gesellen: Heißt es hier „Gedanken geh’n und Lieder / Fort bis in’s Himmelreich“, lautet das Lied dort „Gedanken geh’n und Lieder / In’s liebe deutsche Reich“870. ,Himmelreich‘ und ,deutsches Reich‘ treffen sich jedoch in dem spiritualisierten Begriff des heiligen Reichs: In der Tat ist das Deutschland des Taugenichts nurmehr in den Liedern und der Geographie (sowohl auf der Karte als auch in Stadt und Land) präsent, es ist aber jene Kulturnation, die Arnim mit dem Projekt der Volksliederedition aus den Flammen des einstürzenden Reichs retten wollte und die unweigerlich an die Berge, Flüsse und Städte gebunden ist. Am 10. Juli 1814 unterstreicht Eichendorff in einem Brief an Karl Albert Eugen Schaeffer die religiös-patriotische Bedeutung der Kunst: Jene göttliche Idee, die allen Künsten gemein, jenes Stück Himmel in der Menschenbrust wird vielmehr nur durch die Eigentümlichkeit der Nation, zu 865 866 867 868 869 870

Eichendorff: Taugenichts, in: DKV, Bd. 2, S. 504. Ebd., S. 526. Naumann: Fabula docet, S. 139. Eberhardt: Taugenichts, S. 435. Ebd., S. 436. Eichendorff: Reise-Lied, in: DKV, Bd. 1, S. 265; Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen, in: DKV, Bd. 3, S. 256.

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welcher der Künstler gehört, ein besonderes, ein wahrhaftes Kunstwerk, und ist sodann Eins mit dem Vaterlande, ein Gegenstand der Vaterlandsliebe.871

Verborgen in den Liedern und der Ideallandschaft aus Wäldern, Bergen und Schlössern lebt das ideale Reich des Mittelalters fort, ohne direkt ,politisch‘ sichtbar zu sein. Es ist für Eichendorff wie in Wetzels Magischen Spiegel mehr als ein irdisches, eben ein heiliges Reich. Deutschland erhält in seiner Examensarbeit ja gerade deshalb eine besondere katholisch-kosmopolitische ,Sendung‘, weil es in seiner Struktur und seinem Wesen die Verbindung von spiritueller und politischer Ordnung repräsentiert. Die Reichsbischöfe sind für beide die edelsten Vertreter dieser Korrelation von himmlischer und irdischer Welt. In Wien, dem Sitz der freilich nur verdeckt durchscheinenden Zentralsonne dieser weltlich-geistlichen Ordnung, endet der Roman mit einer standesgemäßen Hochzeit des Müllersohns und gleichsam dem Ruf ,Vivat Österreich‘. Der Taugenichts wird dadurch nicht zu einem politischen Buch, das hieße, den Text zu sehr strapazieren, doch leuchtet die Signatur des verlorengegangenen IdealReichs fraglos hinter dem Lebensweg des gottgeliebten und unpolitischen Toren hervor. 4.2 Das nationale Reich: Heinrich von Kleist Ernst Moritz Arndts berühmtes Gedicht Was ist des Deutschen Vaterland, kurz vor der Völkerschlacht bei Leipzig geschrieben, wird gemeinhin als Beispiel eines deutschen Nationalismus zitiert, der mit dem Heiligen Römischen Reich nichts mehr zu tun habe. Kriterium der Vaterlandsdefinition ist dort bekanntlich die deutsche Sprache – „So weit die deutsche Zunge klingt, / Und Gott im Himmel Lieder singt!“872 Sprachnation und Staatsnation sollen in einem großen, politischen Deutschland zur machtvollen Einheit kommen. Arndt stellte sich in diesem Gedicht allerdings nicht gegen das vergangene ,deutsche Reich‘, wiewohl er die „Verfassung der Vielherrschaft“ und die kosmopolitische Panegyrik derselben an anderer Stelle scharf kritisierte und für die deutsche Schmach 871 Zit. n. Kafitz, Dieter: Wirklichkeit und Dichtertum in Eichendorffs ,Ahnung und Gegenwart‘. Zur Gestalt Fabers, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 350 – 375, hier S. 352. 872 Arndt, Ernst Moritz: Was ist des Deutschen Vaterland, in: ders.: Ausgewählte Gedichte und Schriften, hrsg. v. Gustav Erdmann, Berlin 1969, S. 67.

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gegen Frankreich verantwortlich machte.873 Das Gedicht ist ein Wechselgesang, dem Frage-Antwort-Spiel der nationalen Katechismen dieser Zeit vergleichbar. Als Antwort auf die Frage ,Was ist des Deutschen Vaterland‘ werden deutsche Territorien vorgeschlagen, deren Größe allein genommen dem Sprecher aber nicht genügt. In der häufig zitierten ArndtAusgabe von 1912874 folgt nach Preußen, Schwaben, Bayern, Steierland, Pommern, Westfalen, der Schweiz und Tirol nur noch Österreich, da 1812/13 kein größerer ,deutscher‘ Bezugsrahmen zur Verfügung stand. Anschließend bleibt nur die große deutsche Sprachnation. Im Original hingegen gibt es vor dem Finale noch eine Österreich übertreffende politische Kategorie: „Ist’s, was der Fürsten Trug zerklaubt, / Vom Kaiser und vom Reich geraubt?“875 Wie im Geist der Zeit (1806) wird hier das eigennützige Verhalten der Fürsten um 1800, die Zerstörung des ,deutschen Reichs‘, als nationale Katastrophe erwähnt, dabei aber die bekannte frühneuzeitliche Formel ,Kaiser und Reich‘ gebraucht, um den größten geographisch-politischen Rahmen der Nation heranzuzitieren. Arndt ist deshalb kein Reichspatriot; es zeigt sich aber, wie nahe der Nationalismus des 19. Jahrhunderts dem Reichspatriotismus kommen konnte und wie fließend die Übergänge sind, blieb doch die föderale Identität und das Reichsbewusstsein der Ausgangspunkt, um über das Nationale nachzudenken. Gleichsam umgekehrt verhält es sich im Falle des Nürnberger Buchhändlers Johann Philipp Palm. In seiner patriotischen Flugschrift beklagt dieser die Zerstückelung Deutschlands durch das übermächtige Frankreich 873 Für Arndt liegt die Schuld am Reichsuntergang nicht allein an der mangelnden Vaterlandsliebe der deutschen Fürsten und der fehlenden Einbeziehung des deutschen Volks in das politische Geschäft, sondern auch an der deutschen Geschichte im Ganzen, die zu immer größerer Spaltung zwischen Kaiser und Ständen, zwischen den Religionen und schließlich zwischen Österreich und Preußen geführt habe (Arndt: Geist der Zeit I, Kap. „Die neuen Völker“, zu Deutschland S. 101 – 108). Die Kosmopoliten, die diese politische Konfiguration priesen, da anstelle des „Politischen und Volkstümlichen“ so „das Allgemeine und Menschliche“ treten könne, verweist er in das Reich der Träume, denn „ohne das Volk ist keine Menschheit und ohne den freien Bürger kein freier Mensch. Ihr Philosophen würdet es begreifen, wenn ihr Irdisches begreifen könntet“. Ebd., S. 107. 874 Arndt: Was ist des Deutschen Vaterland, in: ders.: Arndts Werke, Tl. 1, S. 126 f. Dazu: Schulz, Gerhard: Von der Verfassung der Deutschen. Kleist und der literarische Patriotismus nach 1806, in: Kleist-Jahrbuch (1993), S. 56 – 74, hier S. 69, Fußnote 39. 875 Arndt: Was ist des Deutschen Vaterland, in: ders.: Ausgewählte Gedichte und Schriften, S. 67.

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und prangert das Leid an, das mit den französischen Truppen über die „deutsche[n] Mitbr[ü]der“ hereingebrochen sei. „[N]ur ein Schattenbild der vorigen deutschen Staatsverfassung“876 existiere noch, da die Gewalt längst von Wien nach Paris übergegangen sei. Palm spart nicht mit Kritik an den deutschen Fürsten, insbesondere an Preußen und Österreich, die den „französischen Geyer“ in den deutschen „Taubenschlag“ hineingelassen hätten.877 Scharf greift er vor allem Napoleon an, dessen schrankenlose Machtgier schlimmer sei als die von „Tamerlan und Attila“878. Alle noch selbständigen Fürsten ruft er schließlich zur „Vertheidigung unseres deutschen Vaterlandes“ auf, um „dem weiteren Verfall des Reiches“ entgegenzusteuern.879 Aus Palms Flugschrift spricht die Verzweiflung eines Reichspatrioten, der den Untergang des ,deutschen Vaterlandes‘ bedauert. Für seine Flugschrift wurde er hingerichtet und konnte so von den Nachkommen zum Märtyrer eines antifranzösischen Nationalismus stilisiert werden, wiewohl er keineswegs an einen modernen Nationalstaat dachte.880 Gleich zweimal spielt Kleist auf den Nürnberger Buchhändler an. Palm habe „ein dreistes Wort“ riskiert, als Napoleon „das deutsche Reich, im Jahr 1805, zertrümmert[e]“881, heißt es im Brief eines politischen Pescherä, und der Titel des Epigramms Die tiefste Erniedrigung ist wohl eine Reminiszenz an die berühmte Flugschrift. Es wurde sogar zum Motto der Hermannsschlacht. Aus dem Scheitern Palms, dessen Tod die Reichsauflösung nicht verhindern konnte, leitet er die Sprachlosigkeit des Dichters ab: „Wehe, mein Vaterland, dir! Das Lied dir zu Ruhme zu singen, / Ist, getreu dir im Schoß, mir, deinem Dichter, verwehrt!“882 Kleist entzieht sich ähnlich wie Palm einer klaren Zuordnung,883 seine nationalistischen Schriften hoffen 876 [Palm, Johann Philipp]: Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung, o. O. 1806, S. 32 f., 877 Ebd., S. 133 f. 878 Ebd., S. 134. 879 Ebd., S. 144. 880 Vgl. Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 192 – 194. 881 Kleist: Brief eines politischen Pescherä, in: SW, Bd. 2, S. 373. 882 Kleist: Die tiefste Erniedrigung, in: SW, Bd. 1, S. 31. 883 Allemann, Beda: Der Nationalismus Heinrich von Kleists, in: Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966 – 1978, hrsg. v. Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1981, S. 46 – 54. Zur Einordnung Kleists zwischen Nationalismus und Reichspatriotismus bereits: Press: Das Ende des Alten Reichs, S. 51 und 54 f. Ihm folgend: Müller-Saget, Klaus: Heinrich von Kleist: ,Über die Rettung von Österreich‘. Eine Wiederentdeckung, in: Kleist-Jahrbuch (1994), S. 3 – 48; Riedl: Das Alte Reich und die Dichter, S. 204 ff. Gerhard Schulz erwähnt den Zusammen-

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zugleich auf die Resurrektion des untergegangenen Reichs. Von der Reichsromantik unterscheidet ihn dabei, und das ist entscheidend, das Verhältnis zur Religion: Während für diese Nation und Christentum zwei Seiten derselben Medaille sind, der Glaube gleichsam den Nationalgeist ersetzt, spielt Religion bei Kleist keine Rolle. Für ihn wie für Arndt gilt Nipperdeys Satz: „Das Religiöse wird im Nationalen säkularisiert, das Säkulare sakralisiert.“884 Kaum ein Text zeigt die Verwobenheit zwischen Nationalismus und Reichspatriotismus, Atheismus und Nationalreligion deutlicher als Kleists Katechismus der Deutschen. Die Form des Katechismus oder des Glaubensbekenntnisses für politische Texte wurde seit der Französischen Revolution häufig gewählt. Noch Marx und Engels planten ihr Kommunistisches Manifest zunächst als Katechismus.885 Für die Geschichte des Nationalismus ist etwa Arndts Katechismus für den teutschen Kriegs- u. Wehrmann (1813) einschlägig.886 Das Wort der Sakralisierung des Säkularen bewahrheitet sich somit auch formal. Kleists Katechismus zeigt das Zwiegespräch eines Vaters mit seinem Sohn im Sinne einer religiösen Unterweisung. Anders als die Formkonvention es will, wird das kindliche Urvertrauen zum Lehrmeister des Vaters.887 Der Untertitel, „abgefaßt nach dem Spanischen“, spielt auf den spanischen Befreiungskampf an, die Stoßrichtung ist daher von vornherein eindeutig: Kampf gegen das napoleonische Frankreich. Auf die Frage, „wer

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hang zwischen Reichspatriotismus und Nationalismus so gut wie nicht. Vgl. Schulz: Von der Verfassung der Deutschen; Schulz, Gerhard: Kleist. Eine Biographie, München 2011, S. 407 – 436. Essen beschränkt sich auf eine rein formale Analyse ohne jede Einordnung und Zuordnung des Inhalts: Essen, Gesa von: Kleist anno 1809: Der politische Schriftsteller, in: Kleist – ein moderner Aufklärer?, hrsg. v. Marie Haller-Nevermann/Dieter Rehwinkel, Göttingen 2005, S. 101 – 132. Nipperdey: Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 300. Zu Arndt: Kaiser: Pietismus und Patriotismus, S. 44 ff. Vgl. Erbentraut, Philipp/Lütjen, Torben: Eine Welt zu gewinnen. Entstehungskontext, Wirkungsweise und Narrationsstruktur des ,Kommunistischen Manifests‘, in: Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells, hrsg. v. Johanna Klatt/Robert Lorenz, Bielefeld 2011, S. 73 – 99. Vgl. Arndt, Ernst Moritz: Katechismus für den teutschen Kriegs- u. Wehrmann, worin gelehrt wird, wie ein christlicher Wehrmann seyn und mit Gott in den Streit gehen soll, o. O. 1813. Vgl. Kittsteiner, Heinz Dieter: Kleists ,Katechismus der Deutschen‘, in: Recht und Gerechtigkeit bei Heinrich von Kleist. II. Frankfurter Kleist-Kolloquium 17.– 18. Oktober 1997, hrsg. v. Peter Ensberg/Hans-Jochen Marquardt, Stuttgart 2002, S. 59 – 68, hier S. 60. Gegensätzlich: Essen: Kleist Anno 1809, S. 120 – 126.

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bist du?“, lautet die Antwort des Sohnes: „Ich bin ein Deutscher.“888 Regionale und gemeindeutsche Identität sind nicht durch eine deutsche „Kulturnation“ gewährleistet, sondern durch die Zugehörigkeit Meißens zu Sachsen und Sachsens zu Deutschland. Mit Deutschland kann nur das Alte Reich in seinem territorialen Bestand „vom Jahre 1805“ gemeint sein, wie der Vater erläutert.889 Den österreichischen Kaiser Franz I. erhebt der Junge jedoch kurzerhand wieder zu alten Würden: „Seit Franz der Zweite, der alte Kaiser der Deutschen, wieder aufgestanden ist, um es [das Reich] herzustellen […].“890 Mit dem beginnenden Krieg gegen Napoleon verlebendigt Kleist fiktional das Alte Reich. Napoleon wird, wie bei Palm, zum größten Feind der Deutschen, weil er das Reich „mitten im Frieden, zertrümmert, und mehrere Völker, die es bewohnen, unterjocht“ habe.891 Dem Reich bringt der Junge genauso unerschütterliche Liebe entgegen wie dem Kaiser unerschütterliches Vertrauen. Aufgabe der Deutschen sei es, „das Reich, das zertrümmert ward, wiederherzustellen“892. Natürlich ist Kleists Katechismus ein Appell an die deutschen Machthaber im Kampf gegen Napoleon. Partikularen Eigennutz gilt es abzulegen, um für die gemeinsame Sache zu streiten. Die deutsche Katastrophe im Reichsuntergang und der napoleonischen Fremdherrschaft wird uminterpretiert zur notwendigen Geißel Gottes. Nur eine existenzielle Not wie diese kann bewirken, dass die Deutschen die höchsten Güter der Menschheit wieder erlangen: „Gott, Vaterland, Kaiser, Freiheit, Liebe und Treue, Schönheit, Wissenschaft und Kunst“893, lautet das Credo des patriotischen Sohns. Bereits 1801 nannte Kleist die Ereignisse um den Frieden von Lunéville ein „Grab“ „der deutschen Freiheit“894. An Otto August Rühle von Lilienstern schrieb er Ende 1805, dass man derzeit „kaum auf viel mehr rechnen“ könne, „als auf einen schönen Untergang“. „Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts als bloß den Umsturz der alten erleben.“ Dank Napoleon werde „sich aus dem ganzen kultivierten Teil von Europa ein einziges, großes 888 889 890 891 892 893

Kleist: Katechismus der Deutschen, in: SW, Bd. 2, S. 350. Ebd. Ebd. Ebd., S. 351. Ebd., S. 316. Ebd., S. 356. Es ist bezeichnend für die Wahrnehmung des Reichsbezugs bei Kleist, dass einer der wenigen Aufsätze neueren Datums, der den Katechismus bespricht, alle genannten „edlen Werte“ aufzählt und nur „Kaiser“ weglässt. Kittsteiner: Kleists ,Katechismus der Deutschen‘, S. 67. 894 Kleist an Adolphine von Werdecke, Nov. 1801, in: SW, Bd. 2, S. 700.

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System von Reichen bilden, und die Throne mit neuen, von Frankreich abhängigen, Fürstendynastien besetzt werden“. Bald schon könne man in den Zeitungen von der völligen Umgestaltung der „deutschen Reichsverfassung“ lesen, prophezeit der Dichter, und meint damit nichts Geringeres, als dass „der Kurfürst von Bayern König von Deutschland“ werde.895 Wahrscheinlich wurde der Brief parallel zu den Verhandlungen in Preßburg (Preßburger Friede, 26. Dezember 1805) geschrieben. Kleist war vom Untergang des Reichs enttäuscht, keine Frage, doch entsetzt war er von der Niederlage Preußens in Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806.896 Während seine Freunde Otto August Rühle von Lilienstern und Ernst von Pfuel hautnah an den Ereignissen teilhatten, erlebte er sie zumindest indirekt durch eine kurzzeitige Kriegsgefangenschaft.897 Sein Entsetzen leitete er in einen gleichsam reichsdeutschen Nationalismus mit ungebändigtem Napoleonhass um. Erst 1808/1809 stellte Kleist jedoch seine Dichtung in den Dienst der Nation. Der Grund dafür ist in den äußeren Umständen zu suchen, allen voran dem grundlegenden Stilwandel der österreichischen Politik. Über den österreichischen Legationssekretär in Dresden, Baron Joseph Andreas von Buol-Berenberg, mit dem bezeichnenden Spitznamen „Reichsadler“, war Kleist in Berührung mit dem österreichischen Propagandanetzwerk um Philipp von Stadion gekommen, das sich von Wien über Prag und Teplitz bis Dresden erstreckte.898 Stadion, wie der preußische Reformer Stein ein ehemaliger Reichsritter und Reichspatriot, suchte in der deutschen Öffentlichkeit für Österreich zu werben. Ähnlich der Propagandaoffensive in Folge des Siebenjährigen Kriegs – man denke an Friedrich Carl Moser – war der wichtigste Trumpf in der Hand Österreichs das Reich. „Unstrittig ist, daß Stadion die deutsche Nation und das Alte Reich gleichermaßen beschwor; insofern gehört auch er in die Ahnenga895 Kleist an Otto August Rühle von Lilienstern, Ende November 1805, in: SW, Bd. 2, S. 759 – 761. 896 Vgl. Michalzik, Peter: Kleist. Dichter, Krieger, Seelensucher, Berlin 2011, S. 282 f. 897 Ebd., S. 284 – 287 und 294 – 296. 898 Der Kontakt hatte zunächst und bereits seit 1807 mit kulturellem, erst später mit politischem Interesse zu tun: Weiss, Hermann: Funde und Studien zu Heinrich von Kleist, Tübingen 1984, S. 123 – 129. Zu den Hintergründen: ebd., S. 187 – 234; Weiss, Hermann F.: Kleists politisches Wirken in den Jahren 1808 und 1809, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 25 (1981), S. 9 – 40; Michalzik: Kleist, S. 353 – 357; Press, Volker: Das Ende des Alten Reichs und die deutsche Nation, in: Kleist-Jahrbuch (1993), S. 31 – 55, hier S. 48 ff.

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lerie von Nationalbewegung und Nationalismus Deutschlands.“899 1808/ 1809 standen intellektuelle Größen wie Friedrich Schlegel, Johannes Müller und Friedrich von Gentz mehr oder minder in österreichischen Diensten. Ziel der österreichischen Regierung war es, mit ihrer Hilfe die Isolierung der vorangegangenen Jahre zu überwinden und die anderen Staaten des ehemaligen Reichs für den Kampf gegen Napoleon zu gewinnen. Für Heinrich von Kleist stand das Jahr 1809 mit mehrtägigem Aufenthalt in Prag und Znaim im Zeichen des publizistischen Kampfs für Reich und Österreich. Auch das gescheiterte Zeitschriften-Projekt Germania mit Friedrich Christoph Dahlmann gehört in diesen Kontext. Die Zeitschrift sollte „der erste Atemzug der deutschen Freiheit sein“, jetzt, da der „Kaiser von Österreich“ sich „an die Spitze seines tapferen Heeres“ gestellt habe: „Dich, o Vaterland, will sie singen; und deine Heiligkeit und Herrlichkeit; und welch ein Verderben seine Wogen auf dich heranwälzt!“900 Nach dem Höhepunkt freudiger Erwartung, der Hoffnung auf eine Teilnahme Preußens und einer allgemeinen Volkserhebung im Umfeld der Schlacht bei Aspern (25. 5. 1809), erlebte Kleist die Niederlage Österreichs bei Wagram (5./6. 7. 1809) als herbe Enttäuschung.901 Neben patriotischen gab es freilich auch ökonomische Motive, die ihn zur politischen Schriftstellerei veranlassten und deren Erfolgsaussichten nun stark geschmälert waren. Wenig zuvor hatte er noch gehofft, die Rechte zum Druck des Code Napoleon zu erhalten – eine Tatsache, die sein nationales Engagement zwar nicht in Frage stellt, wohl aber die Radikalität der Texte durch einen gewissen lebenspraktischen Opportunismus dämpft. Das erste Phöbus-Heft (1808) sandte er sowohl an Franz II. als auch an den Napoleonbruder Jérôme. Eigener Erfolg und nationale Würde waren Kleist zumindest, so darf man annehmen, ebenbürtige Güter.902 Zu Lebzeiten sind seine politischen Aufsätze, Gedichte und die Hermannsschlacht allerdings nie gedruckt oder gar gespielt worden.903

899 Press: Das Ende des Alten Reichs, S. 50. 900 Kleist: Einleitung, in: SW, Bd. 2, S. 375 f. 901 Vgl. Weiss: Funde und Studien, S. 210 – 225; Weiss: Kleists politisches Wirken, S. 28 – 40. Vgl. auch: Samuel, Richard: Heinrich von Kleists Teilnahme an den politischen Bewegungen der Jahre 1805 – 1809, übersetzt v. Wolfgang Barthel, Frankfurt a. O. 1995, S. 94 f. und 189 ff.; Michalzik: Kleist, S. 361 – 370. 902 Vgl. Michalzik: Kleist, S. 305; Weiss: Funde und Studien, S. 195 f., 201 f., 218 f. 903 Zur Enttäuschung Kleists, die auch mit der Entlassung Stadions und der Bestallung Metternichs zusammenhing: Press: Das Ende des Alten Reichs, S. 50 f.; Samuel: Kleists Teilnahme, S. 266 ff.

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Dieses genauso berühmte wie aufgrund der martialischen Gewalt und der nationalsozialistischen Rezeption verpönte Stück entstand im Jahre 1808, noch vor Kleists enger Liaison mit Österreich, aber bereits unter dem Einfluss des Kreises um den österreichischen Gesandten Joseph Andreas Freiherr von Buol-Berenberg.904 Wiewohl das Stück bereits in Arbeit war, als Kleist von dem Partisanen-Krieg in Spanien gegen Napoleon Kenntnis erlangte, dürfte dessen Einfluss auf die Gestaltung des Dramas bedeutend gewesen sein: Im Unterschied zu Preußen schloss Spanien keinen Frieden, sondern ,erfand‘ aus Verlegenheit eine neue Form der Kriegsführung. Nur mit Guerilla-Taktik bestand die Möglichkeit, gegen ein überlegenes, imperiales Heer Erfolge zu erzielen.905 Die Forschung hat viel Fleiß darauf verwandt, die Beziehung zwischen Kleists Dichtung und dem ,Insurrektionsplan‘ des Freiherrn von Stein, Gneisenaus und Scharnhorsts bzw. – historisch und politisch weiter ausgreifend – deren militärreformerischen Zielen (insbesondere die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht) herauszuarbeiten.906 Ob allerdings in der Tat „intime Kenntnis der Pläne des Triumvirates“907 vorlagen, lässt sich philologisch nicht belegen. Die Parallelen freilich sind nicht zu übersehen: Kleist hofft wie diese über „skrupellose Propaganda“908 einen Volkskrieg gegen die französische ,Fremdherrschaft‘ auszulösen. Hermann lässt im Theaterstück sogar von Germanen in römischen Uniformen Häuser in Brand setzen und Felder plündern, um den Zorn des eigenen Volks zu steigern.909 Wie sie orientiert er sich an der spanischen Guerilla-Taktik. Ein Scheinbündnis Preußens mit Frankreich sollte Napoleon über die geheime Absprache mit Österreich hinwegtäuschen. Ebenso geht Hermann ein Bündnis mit den Römern ein 904 Weiss: Funde und Studien, S. 201. 905 Vgl. Schmitt, Carl: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 2010, S. 12 ff.; Michalzik: Kleist, S. 340 – 376. 906 Samuel, Richard: Kleists ,Hermannsschlacht‘ und der Freiherr vom Stein (1961), in: Heinrich von Kleist: Aufsätze und Essays, hrsg. v. Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1967, S. 412 – 458; Samuel: Kleists Teilnahme, S. 77 – 188; Kittler nimmt nicht nur den Partisanenkrieg, sondern umfassend Kleists Dichtung in den Blick (besonders eindrucksvoll den Zerbrochenen Krug, Michael Kohlhaas, die Hermannsschlacht und den Prinzen von Homburg) und greift dabei weit in die Genealogie der Familie Kleist und die Militärhistorie Preußens aus: Kittler, Wolf: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg 1987, S. 218 – 255 (zum Partisanenkrieg), S. 84 – 149 (zu den preußischen Reformideen). 907 Samuel: Kleists ,Hermannsschlacht‘, S. 445. 908 Ebd., S. 423. 909 Vgl. Kleist: Hermannsschlacht, in: SW, Bd. 1, S. 566.

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und trifft eine Absprache mit Marbod.910 Zum Tod für die nationale Freiheit des Vaterlandes unter Gefährdung selbst der eigenen Familie erklärte sich auch der Hermann in den Dramen und Epen des 18. Jahrhunderts bereit. Eine Politik der verbrannten Erde und martialisch-blutrünstigen Symbole aber, wie sie Kleists Held gegenüber seinem Volk, den Verbündeten und seiner Frau durchsetzt, stellt jedoch eine unübersehbare Radikalisierung dar: Frieden und Kultur stehen nun ganz hinter dem Letztwert des Nationalen zurück. Aus dem patriotisch-geradlinigen Hermann des 18. Jahrhunderts ist ein tückisch-römischer Stratege und Manipulator geworden, während Varus als integrer Feldherr agiert. Der nationale Kampf wird absolut und total. Kleist und das ,Triumvirat‘ hoffen vor allem auf ein militärisches Bündnis zwischen Preußen und Österreich.911 Richard Samuels Analyse ist soweit gewiss zutreffend, doch kapriziert er sich zu sehr auf Preußen und übersieht den reichsnationalen Anteil der Dichtung. Am deutlichsten zeigt sich das in der leidigen Zuordnungsfrage, ob die Sueven oder die Cherusker Preußen bzw. Österreich repräsentieren. Will man nicht in Hermann geradezu „ein Porträt des Freiherrn vom Stein“912 vermuten, stellt sich die Frage, warum für die Mehrheit der Forschung die Gleichsetzung Österreichs mit Marbod so selbstverständlich ist. Neben der Analogie zum Scheinbündnis des Insurrektionsplans ist das einzig tragfähige Argument die Geographie: Marbod als Herrscher des Markomannenreichs ist historisch in Böhmen zu verorten, also im Herrschaftsgebiet des zeitgenössischen Österreichs. Das textuelle Gegenargument in Marbods Aussage, Hermanns Geschlecht stehe – vergleichbar den Habsburgern – traditionsgemäß die Königskrone der Germanen zu, sei von Kleist, so Samuel, nur zur Verwirrung der Sachlage eingefügt worden.913 Zweiteres ist freilich eine schwache Rechtfertigung, insbesondere da Hermanns Anerkennung des Konkurrenten zu Beginn des Dramas „um seiner Macht, und seines Edelmuts“914 auch als Hinweis auf Preußens Ähnlichkeit zu Marbods Fürstentum gelesen werden könnte, verkörperte doch Preußen mehr als Österreich militärische Stärke. In der Tat siegt schließlich auch Marbod mit seinen Sueven, während Hermann geradezu in eine Zuschauerrolle fällt – diese passive Rolle hätte 910 Vgl. ebd., S. 547 – 550. Vgl. Samuel: Kleists ,Hermannsschlacht‘, S. 437 – 440. 911 Ebd., S. 432. 912 Ebd., S. 449. Andere Möglichkeiten wären Friedrich Wilhelm III., Scharnhorst oder Gneisenau: Kittler: Die Geburt des Partisanen, S. 227 f. und 242. 913 Samuel: Kleists ,Hermannsschlacht‘, S. 437. 914 Kleist: Hermannsschlacht, in: SW, Bd. 1, S. 560.

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Kleist den Preußen wohl kaum zugedacht. Marbods Huldigung der königlichen Ahnen Hermanns – ganz offensichtlich eine Erfindung des Dichters – lässt sich zudem als durchaus starke Parallelisierung mit Österreich lesen: Das Vaterland muß einen Herrscher haben, Und weil die Krone sonst, zur Zeit der grauen Väter, Bei deinem Stamme rühmlich war: Auf deine Scheitel falle sie zurück!915

Man könnte die Formulierung ,Das Vaterland muß einen Herrscher haben‘ beinahe durch Julius Freiherr von Sodens habsburgertreuen Titel von 1788 ersetzen: Teutschland muß einen Kaiser haben. Die Reaktivierung der vergangenen Krone entspricht sehr genau Kleists publizistischer Strategie, etwa im Katechismus der Deutschen. Samuel klammert aus, dass auch die Beziehung zu den Plänen des Freiherrn vom Stein das Festhalten am österreichischen Kaisertum nahelegen würde, denn dieser blieb trotz preußischem Dienst dem Alten Reich nicht nur in puncto Kaisertum verbunden.916 Mit historischen Vorlagen oder der Geographie zu argumentieren, ist allerdings nur die eine Seite, die andere ist die literarische Tradition, in welcher Kaiser und Reich, so konnte diese Arbeit zeigen, die Bezugskoordinaten der fiktiven Historienfiguren stellen.917 Dabei geht es weniger um exakte politisch-geographische Zuordnungen als vielmehr um herrschaftliche Grundprinzipien: Marbod repräsentiert dort meist die korrupte und eigennützige Herrschaft höfischer „Schmäuchler“918. Hermann stellt demgegenüber das Prinzip der Treue, des Gemeinsinns und des primus inter pares dar, der nicht mehr zu sein begehrt als seine Brüder, ihnen lediglich vorsteht. Mit wem die Figuren zu assoziieren sind, ist nicht festgelegt. Im 18. Jahrhundert herrschte die Tendenz vor, Marbods Herrschaft mit allen unter französischem Einfluss stehenden petites Versailles kurzzuschließen, während Hermann mit einem ins Ideale gesteigerten habsburgischen Kaisertum verbunden wurde. Gottsched rief in Gedichten Karl VI. als Hermann an, Klopstock widmete das erste Drama seiner Trilogie Kaiser Joseph II. Ganz explizit identifizierte Schott 1800 in seinem Germania-Singspiel Hermann mit dem Erzherzog Karl, um so li915 Ebd., S. 626. 916 Vgl. Duchhardt, Heinz: Freiherr vom Stein: Preußens Reformer und seine Zeit, München 2010, S. 79 f. 917 Vgl. in dieser Arbeit 2. Kap., 2.1 Appelle zur Eintracht: Hermannsdichtung aus dem Geist der ,Reichspublicistik‘? 918 Schönaich: Hermann, S. 21.

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terarisch für einen Krieg gegen Frankreich und Eintracht unter den ,Bruderstämmen‘ zu werben.919 Kleist nimmt keine starre Identifizierung vor, deshalb bleibt auch die Frage des Königtums letztendlich unentschieden, wiewohl alles für eine Wahl Hermanns spricht. Propagandistisches Ziel ist die Eintracht Deutschlands – „Wir zählen fünfzehn Stämme der Germaner“920 – angeführt durch ein Bündnis Preußens und Österreichs. Die vornehme Hochachtung gegeneinander und das tiefere Einverständnis Marbods und Hermanns, in der literarischen Tradition ein Novum, versinnbildlichen dieses „Hauptanliegen“921. Insofern entspricht Kleists Dichtung durchaus der Verbindung von Reichspolitik und nationalistischem Argumentationsmuster seiner Vorgänger aus dem 18. Jahrhundert. Neben dem Partisanenkrieg besteht allerdings ein wesentlicher Unterschied in dem ausdrücklichen Ziel, ein neues deutsches Königtum zu gründen. Während im 18. Jahrhundert eine Huldigung Hermanns als deutschem König tunlichst vermieden wurde oder, wie im Falle Justus Mösers und Klopstocks, mit dem tragischen Tod des Helden endete, Hermann eben immer nur als primus inter pares eines Bundes aus Brüdern dargestellt wurde, ist bei Kleist das Ziel einer neuen Herrschaft unbestritten. Aus dem Oberherrn der Schlacht soll ein dauerhafter König eines Reichs werden.922 Was hier stark nach einem nationalen Königtum französischer Prägung aussieht, wird allerdings, wie in seiner Schrift Über die Rettung von Österreich, im Sinne der reichsständischen Tradition der Frühen Neuzeit abgeschwächt: Der versammelte „Fürsten Rat“ solle darüber entscheiden.923 Aus der Wiedererrichtung des Alten Reichs wurde das Programm einer Reichsneuordnung, deren Inhalt offen bleibt. Kleists Positionierung zwischen Reichspatriotismus und Nationalismus zeigt sich also gerade auch in der Hermannsschlacht. Vergleichbare Töne finden sich sonst nur in seiner hochaggressiven Lyrik aus der gleichen Zeit: Nur der Franzmann zeigt sich noch In dem deutschen Reiche; 919 920 921 922 923

Vgl. in dieser Arbeit 2. Kap., 2.1.4 Hermannsdichtung am Ende des Alten Reichs. Kleist: Hermannsschlacht, in: SW, Bd. 1, S. 590. Samuel: Kleists ,Hermannsschlacht‘, S. 432. Kleist: Hermannsschlacht, in: SW, Bd. 1, S. 626 f. Ebd., S. 627; Kleist: Über die Rettung von Österreich, in: SW, Bd. 2, S. 382. Zu dieser Analogie bereits: Müller-Salget, Klaus: Heinrich von Kleist: ,Über die Rettung von Österreich‘. Eine Wiederentdeckung, in: Kleist-Jahrbuch (1994), S. 3 – 48, hier S. 40 f.

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Brüder, nehmt die Keule doch, Daß er gleichfalls weiche.924

So das martialische Kriegslied der Deutschen (1809), das damit sogar die anhaltende Existenz des ,deutschen Reichs‘ postuliert. Mit den Gedichten An Franz den Ersten, Kaiser von Österreich und An den Erzherzog Karl wendet er sich in denselben nationalistischen Tönen direkt an die österreichische Obrigkeit.925 Kleist ordnet die Kunst hier so absolut wie sonst nirgends dem politischen Appell unter. Am stärksten wohl in der Kontrafaktur von Schillers Ode an die Freude, die im gleichen formalen Gewand den kosmopolitischen Inhalt Schillers mit nationalistischer Aggression ersetzt: „Schlagt ihn [den Wolf ] tot! Das Weltgericht / Fragt euch nach den Gründen nicht!“926 Kleists politische Publizistik im Geist des Katechismus, die Hermannsschlacht wie auch die schneidenden nationalistischen Gedichte dieser Zeit unterscheiden sich in literarischer Hinsicht deutlich von seiner sonstigen Dichtung: Während die oft beschriebene Gefühlssicherheit Kleistscher Helden ohne Schwierigkeiten in die unhintergehbare Vaterlandsliebe nach dem Vorbild des braven Jungen im Katechismus übersetzt werden kann, der die väterliche Unterweisung qua Natur gar nicht nötig hat, tritt die charakteristische Mehrdeutigkeit seiner Texte durch paradoxe Informationen, komplexe Syntax, Leerstellen und unzuverlässiges Erzählen in den Hintergrund. An ihrer Stelle dominiert die Rhetorik des politischen Appells.927 Kaum ein anderer seiner Texte ist rhetorisch so stark geformt wie der Entwurf Was gilt es in diesem Kriege, der ebenso Teil der publizistischen Offensive im Geiste Stadions ist. Inhaltlich freilich besteht er beinahe ausschließlich aus den nationalen Topoi der Frühen Neuzeit: die Gerechtigkeit der Deutschen gegen andere Nationen, die „Kunst des Friedens“ und die Leistungen großer Landsmänner wie Leibniz, Guttenberg, Kepler, aber auch Hutten, Sickingen, Luther, Joseph II. und Friedrich II.928 Martialischer Nationalismus, reichspatriotische Eintrachtsappelle und herkömmlicher kosmopolitischer Nationalstolz stehen bei Kleist neben924 Kleist: Kriegslied der Deutschen, in: SW, Bd. 1, S. 28. Kursivierung M. H. 925 Kleist: An Franz den Ersten, Kaiser von Österreich, in: SW, Bd. 1, S. 28 f. und Kleist: An den Erzherzog Karl, in: SW, Bd. 1, S. 29 f. 926 Kleist: Germania an ihre Kinder, in: SW, Bd. 1, S. 27. Dazu: Essen: Kleist anno 1809, S. 106 f. 927 Ebd., S. 126 – 129. Natürlich betreibt das Propagandadrama Hermannsschlacht nicht nur Propaganda, es dekuvriert zugleich die Amoral propagandistischen Handelns. 928 Kleist: Was gilt es in diesem Kriege?, in: SW, Bd. 2, S. 378 f.

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einander. Doch gerade dieser Text ist zugleich ein Gegenentwurf zum „Kosmopolitismus“ innerhalb „Napoleons System“, der nach Johann Christoph von Aretin der „ächte[n] Teutschheit“ entspräche.929 Gegen dessen Lob der napoleonischen Reformen, die einen ewigen Frieden in der neuen Staatenordnung begründen könnten, führt Kleist das Lob der deutschen Errungenschaften und Selbständigkeit ins Feld und fordert eine nationale Volkserhebung.930 Kleists wirkungsmächtigste Erzählung, der Michael Kohlhaas, blieb von dieser Gemengelage nicht unberührt, ohne deshalb zu jenem tagespolitischen Text zu werden, zu welchem ihn manche Interpretatoren gerne machen würden. Die Analogie zum „kleinen Krieg“ der Partisanen im Stile des Insurrektionsplans trifft nur sehr bedingt zu,931 denn anders als bei dem historischen Original sind die kleinen Trupps des Michael Kohlhaas nur Vorbereitung zur Sammlung eines ganzen Heeres. Schließlich kommt es sogar zu einer regelrechten ,Schlacht bei Mühlberg‘. Dem Guerilla-Führer ist es auch nicht um die Vernichtung des Gegners zu tun, sondern allein um die Wiederherstellung des status quo ante. Ebenso wären Anspielungen auf die preußischen Reformen nur ex negativo über den Zoll der Tronkas aufzufinden und somit sehr versteckt.932 An keiner Stelle richtet sich die Geschichte jedoch gegen die ,alte Ordnung‘: Der Binnenzoll des Junkers ist willkürlich und widerrechtlich. Kohlhaas steht ganz auf dem Boden des bestehenden Systems und empfindet sein Unrecht nach dessen Regeln. Der Nepotismus und – ein Topos des 18. Jahrhunderts – die Entourage an schlechten Ratgebern um die beiden Kurfürsten erscheinen allein als Hindernis für Recht und Gerechtigkeit. Nein, in Kleists Erzählung steht etwas anderes im Zentrum als Reform und Revolution. Von Beginn hat Kohlhaas’ Aufbegehren, trotz aller Parallelen,933 mit dem mittelalterlichen Fehderecht kaum etwas zu 929 Aretin, Johann Christoph von: Die Pläne Napoleons und seiner Gegner besonders in Teutschland und Österreich, München 1809, S. 61. 930 Weiss: Funde und Studien zu Heinrich von Kleist, S. 192. 931 Vgl. Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie, S. 291 – 324. 932 Vgl. Schmidt, Jochen: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, 3. Aufl. Darmstadt 2003, S. 207 – 244. 933 Vgl. Boockmann, Hartmut: Mittelalterliches Recht bei Kleist. Ein Beitrag zum Verständnis des ,Michael Kohlhaas‘, in: Kleist-Jahrbuch (1985), S. 84 – 108; Kaufmann, Ekkehard: Michael Kohlhaas = Hans Kohlhase. Fehde und Recht im 16. Jahrhundert – Ein Forschungsprogramm, in: Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey, hrsg. v. Gerhard Dilcher/Bernhard Diestelkamp, Berlin 1986, S. 65 – 83; Kommentar zum Kohlhaas: Kleist, Heinrich: Sämtlicher Werke und Briefe, Bd. 3: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, hrsg. v. Klaus Müller-Salget,

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tun: Es geht um die „gebrechliche[] Einrichtung der Welt“, um die „Pflicht“ des Einzelnen, nicht nur für sich „Genugtuung“ zu erreichen, sondern auch „seinen Mitbürgern“ Sicherheit zu verschaffen.934 Kohlhaas, diese säkulare Hiob- und Antihiobfigur, schlägt die christlichen Mahnungen zur Nachsicht und Racheabstinenz in den Wind: Für ihn ist im Bösen nichts Gutes möglich.935 Seine Radikalität macht ihn zum ,entsetzlichsten‘ Menschen, den der Erzähler – gewiss anders als der Autor – nicht nachvollziehen kann und genauso wie Luther voreilig als Mordbrenner verunglimpft. In dieser Radikalität gleicht er anderen Charakteren bei Kleist, sei es Hermann in seinem nationalistischen Kampf gegen Rom oder Käthchen in ihrer bedingungslosen Liebe. Der kafkaeske Charme der Erzählung entsteht dadurch, dass ein konventioneller, durchschnittlicher Ausweg jederzeit möglich wäre: Es gäbe offenbar einen anderen Weg nach Kohlhaasenbrück, um die Pferde nachhause zu bringen, den Kohlhaas aber nicht wählt, da er die Rechtmäßgikeit der Forderung des Burgvogts trotz aller Zweifel überprüfen will.936 Ständig könnte er sie zudem zurückerhalten und sie, freilich unter einigem Verlust, selbst wieder gesund pflegen. Kohlhaas ist es jedoch keineswegs „um die Pferde zu tun“937: Der Einzelfall wird zum Beweis für die „ungeheure[] Unordnung“ der ganzen Welt.938 Noch vor dem unglücklichen Tod seiner Frau ist er bereit, seine ganze Existenz aufzugeben, um die Welt wieder einzurenken. Er führt keine Fehde, sondern einen „gerechten Krieg“939, er ist kein Rebell, sondern ein „Statthalter Michaels, des Erzengels“, um „die Arglist, in welcher die ganze Welt versunken“ ist, „zu bestrafen“940. Lützen, das Hauptquartier der Sieger von Mühlberg, wird deshalb zum „Sitz unserer provisorischen Weltregie-

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Frankfurt a.M. 2005, S. 705 – 729; Müller-Tragin, Christoph: Die Fehde des Hans Kolhase. Fehderecht und Fehdepraxis zu Beginn der frühen Neuzeit in den Kurfürstentümern Sachsen und Brandenburg, Zürich 1997. Kleist: Michael Kohlhaas, in: SW, Bd. 1, S. 15. Während Hiob „untadelig und rechtschaffen“ ist (AT, Buch Ijob, 1,1), ist Kohlhaas der „rechtschaffenste[]“ und „entsetzlichste[]“ Mensch (Kleist: Michael Kohlhaas, in: SW, Bd. 1, S. 9). Die Mahnung Lisbeths ist eine Umkehrung der Forderung von Hiobs Frau, Gott ob seiner Ungerechtigkeit ins Gesicht zu fluchen (AT, Buch Ijob, 2,9). Auf dem Weg nach Dresden kehrt er später um, um seinen Knecht zu vernehmen, biegt aber direkt nach Kohlhaasenbrück ein: Kleist: Michael Kohlhaas, in: SW, Bd. 1, S. 15 f. Ebd., S. 24. Ebd. Ebd., S. 35. Ebd., S. 41.

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rung“941. Der „Reichs- und Weltfreie[]“942 Kohlhaas ist bereit, sofort wieder in die Rechtsordnung des Heiligen Römischen Reichs einzutreten, so sie ohne Ausnahme exekutiert wird. Er bleibt dieser Linie ungeachtet des drohenden Todesurteils mit erschreckender Geradlinigkeit treu – doch wandelt sich mit wachsender Leiderfahrung das Rechtsgefühl zum Rachewunsch, der letztlich allein durch das Auftreten der Zigeunerin befriedigt werden kann. Kohlhaas’ Weg durch die Rechtsinstanzen ist ein Weg der Eskalation. Der historische Hans Kohlhase kam mit dem Reich selbst nicht in Berührung. Bei Kleist ist das Heilige Römische Reich geeigneter Motivspender, nicht jedoch politisches Thema: Über die mehrfachen Ebenen der Reichsverfassung ist es möglich, den Konflikt an einem Schlagbaum einer beliebigen Burg, über die Verhandlungen in Dresden zu einer „Angelegenheit gesamten heiligen römischen Reichs“943 anwachsen zu lassen. Der Kaiser und Brandenburg verbürgen Recht und Ordnung – allerdings erst sehr spät. Will man die Erzählung politisch verstehen, so muss an dieser Stelle angesetzt werden: Das Reichssystem könnte bestehen, so es auf guten Fürsten und funktionsfähigen Territorien basiert. Doch auch hier ist es Kleist nicht um historische Plausibilität, ebenso wenig um politische Restitution der alten Ordnung zu tun. Die poetische Fiktion kennt nur eine schwache Reichsinstanz, Reichsgerichte scheint es nicht zu geben, stattdessen aber einen kaiserlichen „Reichsankläger“944. Die Figur des Reichsanklägers wurde in der Forschung noch nicht kontextualisiert, dabei ist sie durchaus bemerkenswert. Reichsankläger oder „Reichs=Fiscal, Fiscalis Imperii“ hieß der kaiserliche Ankläger sowohl am „Kayserlichen Reichs=Hof=Rath“ als auch am „Kayserlichen Cammer=Gericht“945. Er, ,der Wahrer des Rechts von Kaiser und Reich‘, strebte Klagen gegen Obrigkeiten, Reichsstände, aber auch gegen einzelne Personen an, so eine Verletzung der Reichsgesetze vorlag – natürlich aber an den Reichsgerichten.946 Kleists Reichsordnung funktioniert anders: Der Kurfürst von 941 942 943 944 945 946

Ebd. Ebd., S. 36. Ebd., S. 89. Ebd., S. 79. Art. Reichs-Fiscal, in: Zedler, Bd. 31, Sp. 79. Vgl. Die Reichskammgerichtsordnung von 1555, eingeleitet und hrsg. v. Adolf Laufs, Köln/Wien 1976, allgemeine Abschnitte: XV, XVI, XVII, S. 99 – 102, in Sachen Landfrieden Abschnitt X, S. 188 – 190, Fiskalische Fälle und Sachen Abschnitt XX, S. 196 – 198; Obersteiner, Gernot Peter: Das Reichshoffiskalat 1596 bis 1806. Bausteine seiner Geschichte aus Wiener Archiven, in: Reichspersonal.

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Sachsen wendet sich an „die Majestät des Kaisers zu Wien“947, um – zur Auslieferung seines Gefangenen durch die polnischen „Heerhaufen“948 gezwungen – trotz des gegebenen Wortes gegen Kohlhaas vorgehen zu können. Am „Hofgericht zu Berlin“ soll ihn der „Reichsankläger“ wegen „Bruchs des von ihm [dem Kaiser] eingesetzten öffentlichen Landfriedens“ anklagen.949 Damit ist die Reichsgerechtigkeit aufgerufen, die trotz späterer Intervention Sachsens in formalistischer Schärfe nach Recht und Ordnung verfährt und schließlich über den „Anwalt kaiserlicher Majestät“, Franz Müller, am Hofgericht zu Brandenburg für die Verurteilung des Kohlhaas wegen Landfriedensbruchs sowie für die Wiederherstellung der Pferde desselben Sorge trägt.950 Der Unterschied ist bezeichnend: Statt an den Reichsgerichten agiert der Reichsfiskal am Gericht eines Landesherrn. Der Kurfürst von Brandenburg, der viel mehr als sein sächsischer Standesgenosse von aller Schuld exkulpiert wird, ist die eigentliche Instanz für Ordnung und Sicherheit, nach der Kohlhaas strebt. Anders als dem Haus des Sachsen wird ihm von der Zigeunerin Stärke und Macht „vor allen Fürsten und Herren der Welt“ prophezeit.951 Das Reich kann allein über Preußen in neuer Gestalt wiedererrichtet werden. Informiert über die Fehler seines Kanzlers tritt der Kurfürst – deus ex machina – als der Retter „aus den Händen der Übermacht und Willkür“ auf und bewahrt so seinen „brandenburgischen Untertan“ vor der Vierteilung im Sächsischen.952 Am Ende sind Rechtsgefühl wie die Rachegelüste des Protagonisten befriedigt, er erhält Genugtuung für das erlittene Unrecht und wird ehrenhaft hingerichtet, während seine nobilitierten Söhne in der Pagenschule des wiedergewonnenen Landesvaters erzogen werden. Das Phöbus-Fragment (1808) schrieb Kleist noch vor dem Engagement für das österreichische Kaisertum und die Wiedererrichtung des ,deutschen Reichs‘, die Buchfassung danach (1810). Wiewohl daher kein tagespolitisches Interesse den Kern des Michael Kohlhaas ausmacht, sind Reflexe davon durchaus zu spüren, am deutlichsten in der Umfunktionalisierung des Reichsfiskals.

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Funktionsträger für Kaiser und Reich, hrsg. v. Anette Baumann/Peter Oestmann/ Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal, Köln 2003, S. 89 – 164. Kleist: Michael Kohlhaas, in: SW, Bd. 1, S. 79. Ebd., S. 78. Ebd., S. 79. Ebd., S. 90, 94. Ebd., S. 91. Ebd., S. 77.

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Die Erzählung ist mindestens so preußischblau wie reichstreu953 und verweist daher mehr auf den Prinzen von Homburg, das ,in den Staub mit allen Feinden Brandenburgs‘, als auf das mythisch-märchenhafte Reichsbild des Käthchen von Heilbronn. Rechtsformen wie Feme, Fehde und Gottesgericht durch Zweikampf,954 die bereits unterschiedlichen Zeitphasen angehören bzw. sich genauer historischer Analysen weitgehend entziehen, stehen in diesem Drama weit anachronistischer als im Kohlhaas neben anderen, an das Reich der Frühen Neuzeit gemahnenden Rechtsinstitute:955 Sei es das Auftreten „kaiserliche[r] Kommissare“956 oder die typischen Streitigkeiten um Besitz, hier der Herrschaft Stauffen, die nach Wunsch des Reichsgrafen vom Strahl „bei Kaiser und bei Reich“ vorgebracht werden sollen. Die Gräfin spricht im Anschluss vom Wetzlarer Reichskammergericht.957 Ist darin unschwer das verrechtlichte Alte Reich zu erkennen, so wird das Finale des Stücks am mythischen Königshof in „Worms“ inszeniert.958 Während im Michael Kohlhaas die Rechtsstruktur des frühneuzeitlichen Reichs zur Steigerung der Handlung dient, vermischt Kleist im Käthchen völlig unterschiedliche Zeitebenen der Reichsgeschichte zu einem märchenhaften Reich mit einem von Ironie nicht freien großen Karl V. Die Begegnung des Dichters mit der Dresdner Romantik verursachte wohl die eigenartige Melange parodistischen und ernsthaften Umgangs mit der Reichsromantik und den Ritterdramen in der Nachfolge von Goethes Götz. Politisch ist das nicht: Das ,deutsche Reich‘ seiner Publizistik und seiner nationalen Dichtung sollte weniger mythisch, dafür sehr viel machtvoller sein. Es geht daher zu weit, wie Otto Brahm im Käthchen „die stolze Herrlichkeit von Kaiser und Reich in leuchtenden Farben“ wiederzufinden und von der „Sehnsucht nach der Wiederkehr der alten Zeiten“ zu sprechen.959 Dennoch gehört das Drama, wenn auch spielerisch und nur en passant, in den Kontext der literarischen 953 Zum Verhältnis von Preußen und Reichsidee in Kleists Erzählung: Riedl: Das Alte Reich und die Dichter, S. 204 – 216; mit Blick auf die preußischen Reformen: Schmidt: Heinrich von Kleist, S. 207 – 244; preußenkritisch: Wittkowski, Wolfgang: Rechtspflicht, Rache und Noblesse. Der Kohlhaas-Charakter, in: Beiträge 12 (1998), S. 92 – 113. 954 Kleist: Käthchen von Heilbronn, in: GW, Bd. 2, S. 149 ff., 179, 254. 955 Vgl. den Kommentar zum Käthchen von Heilbronn: Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2: Dramen. 1808 – 1811, hrsg. v. Ilse Marie Barth/ Heinrich C. Seeba, Frankfurt a.M. 1987, S. 1018. 956 Kleist: Käthchen von Heilbronn, in: SW, Bd. 1, S. 511. 957 Ebd., S. 476. 958 Ebd., S. 515 – 519 (Akt V, erster Auftritt). 959 Brahm, Otto: Heinrich von Kleist, Berlin 1903, S. 232.

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Identitätspflege der Deutschen, die er an anderer Stelle mit Blick auf die vielfältige deutsche Geschichte, betrieb: Eine Gemeinschaft gilt es, deren Wurzeln tausendästig, einer Eiche gleich, in den Boden der Zeit eingreifen; deren Wipfel, Tugend und Sittlichkeit überschattend, an den silbernen Saum der Wolken rührt; deren Dasein durch das Dritteil eines Erdalters geheiligt worden ist. Eine Gemeinschaft, die, unbekannt mit dem Geist der Herrschsucht und der Eroberung, des Daseins und der Duldung so würdig ist, wie irgendeine.960

Kleists Dichtung und sein politisch-nationales Engagement können nicht getrennt voneinander betrachtet werden, wiewohl ihr Charakter zweifellos unterschiedlich ist. Bereits von größerer Enttäuschung gezeichnet verfasste der Dichter den kurzen und in mehreren Versionen überlieferten Text Über die Rettung von Österreich. 961 Kleist legte Kaiser Franz I. eine Erklärung in den Mund, die unpubliziert wirkungslos blieb und so, ungewollt, scharf die Dissonanz zwischen seinen politischen Wünschen und den realen Bedingungen spiegelt. Das „deutsche Reich“ wird wieder für existent erklärt und eine allgemeine Volksbewaffnung gefordert. Nach dem Krieg soll ein „allgemeine[r] Reichstag“ der „Stände“962 – in einer früheren Version hieß es noch „Reichsstände“963 – eine neue Reichsverfassung erarbeiten. Mit diesem letzten publizistischen Aufgebot korrespondiert sein Gedicht Das letzte Lied. Auch wenn es nicht länger als Reaktion auf die Niederlage von Wagram verstanden werden kann, da es wohl bereits im April entstanden ist,964 ist es doch ein großes „Gedicht des Verstummens“965. In dem von Tieck beigefügten Untertitel wird in Analogie zur eigenen Zeit – man erinnere sich an Wielands Aristipp – das politische Ende des antiken Griechenlands durch eine Übersetzungsfiktion heranzitiert: „Nach dem Griechischen, aus dem Zeitalter Philipps von Mazedonien [d. i. Napoleon].“966 Es ist ein Lied des Untergangs und der Vernichtung: „Der alten 960 961 962 963 964 965 966

Kleist: Was gilt es in diesem Kriege, in: SW, Bd. 2, S. 378. Müller-Saget: Heinrich von Kleist: ,Über die Rettung von Österreich‘. Kleist: Über die Rettung von Österreich, in: SW, Bd. 2, S. 382. Press: Das Ende des Alten Reichs, S. 31 f. Anm. 2. Vgl. Weiss: Funde und Studien zu Heinrich von Kleist, S. 310 – 313. Michalzik: Kleist, S. 360. Kleist: Das letzte Lied, in: SW, Bd. 1, S. 31. Zum Untertitel die Anmerkung: ebd., S. 914. Diese Analogie ruft Kleist auch in dem Epigramm ,Demosthenes, an die griechischen Republiken‘ auf: „Hättet ihr halb nur so viel, als jetzo, einander zu stürzen, / Euch zu erhalten gethan: glücklich noch wärt ihr und frei.“ Kleist: Demosthenes, an die griechischen Republiken, in: SW, Bd. 1, S. 23.

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Kapitel 5: Abgesänge und Arbeit am Mythos

Staaten graues Prachtgerüste / Sinkt donnernd ein, von ihm [dem Krieg] hinweggespült […].“967 Das Gedicht betrauert neben dem verlorenen Reich die von politischem Schutz verlassene Generation und damit nicht zuletzt Kleist selbst: Und ein Geschlecht, von düsterm Haar umflogen, Tritt aus der Nacht, das keinen Namen führt, Das, wie ein Hirngespinst der Mythologen, Hervor aus der Erschlagnen Knochen stiert; Das ist geboren nicht und nicht erzogen Vom alten, das im deutschen Land regiert.968

Lied und Sänger verlieren mit dem unwiderruflichen Reichsuntergang – der Verlust des Namens ist, wie gesehen, ein weitverbreiteter Topos nach 1806 – und angesichts eines Volks, das nicht die Vaterlandsliebe seiner Vorfahren besitzt, ihren Adressaten und müssen verstummen: Und stärker rauscht der Sänger in die Saiten, Der Töne ganze Macht lockt er hervor, Er singt die Lust, fürs Vaterland zu streiten, Und machtlos schlägt sein Ruf an jedes Ohr, – Und da sein Blick das Blutpanier der Zeiten Stets weiter flattern sieht, von Tor zu Tor, Schließt er sein Lied, er wünscht mit ihm zu enden, Und legt die Leier weinend aus den Händen.969

967 Kleist: Das letzte Lied, in: SW, Bd. 1, S. 31. 968 Ebd., S. 31 f. 969 Ebd., S. 32.

Fazit: Altes Reich und Neue Dichtung Die Sattelzeit gehört zu den produktivsten Phasen innerhalb der deutschen Literaturgeschichte. Gleich mehrmals versuchten Dichter ganz forciert, ,neue‘ Dichtung deutscher Sprache hervorzubringen, brachen mit Konventionen und begründeten eigene Traditionen. Der Reichsidee gelang es in unterschiedlichen Reichskonzeptionen, so hat diese Arbeit gezeigt, erstaunlich lange, mit den neuen kulturellen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts Schritt zu halten. Sie wurde eingepasst und verwandelt, blieb aber in zahlreichen Grundkonstanten des Reichsdenkens bis zum Ende des Alten Reichs und darüber hinaus erhalten. Es waren nicht zuletzt die Literaten und die Literatur, die sie zu diesen Wandlungen befähigten, während Verfassungsideal und Verfassungswirklichkeit mehr und mehr auseinanderbrachen. Von ,neuer Dichtung‘ war hier auch deshalb die Rede, weil das politische Denken der Dichter den Rahmen des Alten Reichs vielfach überschritt: Mal unbewusst, mal bewusst wiesen die kulturpolitischen Programme und poetischen Entwürfe weit über das tatsächlich Mögliche hinaus, kappten aber die Bindung an das Überkommene in der Regel nie vollständig. Das Reich war für die Literaten, so das zentrale Ergebnis, der nationalpolitische Bezugsrahmen, der mit den kulturnationalen und ethnischen Selbstdefinitionen der Deutschen korrespondierte, ohne dass sich die Nationsvorstellungen über das Reichsbewusstsein allein fassen ließen. Die ethnisch-kulturelle und überständisch gedachte Nation, die sich auf viele Territorien verteilte, wurde mit dem politisch-geographischen, ständisch strukturierten und de facto multiethnischen Reich assoziiert – allerdings in höchst divergenter Art und Weise. Die von Autor zu Autor und von Text zu Text heterogene Beziehung zum Reich machte einen ebenso methodisch vielfältigen Zugriff notwendig. Die historische Darstellung als solche, etwa Goethes ,Reichskarriere‘ (1. Kap., 2. Politische Lebenswelt: Goethes Karriere im Alten Reich), bestimmte dabei nur einen geringen Anteil der Arbeit. Ein bedeutenderer Zugriff lag in der philologisch-ideengeschichtlichen Erforschung der Rezeption ,reichspublicistischer‘ bzw. reichshistorischer Schriften und Positionen seitens der Literaten – eine Rezeption, von der sowohl die germa-

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nistische als auch die historische Forschung bislang kaum Kenntnis hatte (2. Kap., 2. ,Reichspublicistik‘ und Nationalliteratur). Der stark verrechtlichten und nationalisierten Reichsidee des späten 17. und des 18. Jahrhunderts lässt sich auf diese Weise jedoch am besten nachspüren. An einem bislang weitgehend unbekannten Text von Abraham Gotthelf Kästner Hermann, Varus und Thuisto zeigte sich, wie stark sich das juridifizierte Reichsdenken durch Begriffe wie die ,deutsche Freiheit‘ und das rechtlich beschränkte Wahlkönigtum mit dem Arminiusmythos verbinden konnte. Ein Blick auf die humanistisch-juristische Tradition und das Umfeld Gottscheds in Leipzig, allen voran auf Johann Jacob Mascov, belegt diese Verbindung. Bis in die Quellenzitate und Anmerkungen der Dramentexte hinein offenbart sich der gemeinsame politisch-wissenschaftliche Nexus (2. Kap., 2.1 Appelle zur Eintracht: Hermannsdichtung aus dem Geist der ,Reichspublicistik‘?). Auch die literarische Programmatik des Sturm und Drang lässt aller kulturtheoretischen und politischen Divergenz zum Trotz Parallelen zwischen der reichspatriotischen ,Publicistik‘ und der kulturnationalen Strömung der Literaturgeschichte erkennen: Aus dem Monstrum-Verdikt Pufendorfs wurde der patriotische Satz „Teutschland wird auf teutsch regiert“ (Johann Jacob Moser). Mit dem staatlichen Nationalcharakter einer ,Einheit des Heterogenen‘ korrespondierte das poetische Ideal innerhalb der nach einem Nationalgenie fahndenden Literaturbewegung, die ebendiese Einheit des Heterogenen und Mannigfaltigen gleichermaßen zur differentia specifica des ,Deutschen‘ erklärte (2. Kap., 2.2 ,Deutsche Art und Kunst‘: Reichsverfassung und Ästhetik). Bei Johann Gottfried Herder und Justus Möser wurde diese Parallele, aber auch der Abstand zur Reichswirklichkeit explizit. Goethes Götz von Berlichingen erfreute sich aufgrund seiner formalen und inhaltlichen Gestaltung auch deshalb patriotischer Lobeshymnen, weil das Drama analog zum Alten Reich als ,schönes Monstrum‘ begriffen werden konnte, ein Drama, das die deutsche Vielfalt von Staaten und Ständen und ihre Geschichte in einer poetischen Einheit vorstellt. Viele Dichter des Sturm und Drang studierten das Reichsstaatsrecht, insbesondere in Göttingen. Goethes Beteiligung an rechtsgeschichtlichen Rezensionen für die Frankfurter gelehrten Anzeigen belegen umfassende Fachkenntnisse, die auch das Rechts- und Reichsbild seines nachweislich auf ,reichspublicistischen‘ Schriften und Publikationen aufbauenden Dramas Götz von Berlichingen bestimmen (2. Kap., 2.4 Dramatisches ,irregulare aliquod corpus‘. Reichsvariationen in Goethes ,Götz von Berlichingen‘). Herder las, zitierte, exzerpierte und besaß eine große Fülle reichsjuristischer und reichshistorischer Arbeiten. Ideengeschichtlich und

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methodisch ist die Distanz zwischen Herder und den Reichshistorikern schier unüberwindbar, und doch weist er ihnen sowohl im Kampf gegen Christian Adolph Klotz als auch in seiner Schlözer-Rezension eine wichtige Rolle zu, indem er ihre wissenschaftliche Gründlichkeit zum nationalcharakteristischen Äquivalent der ,Reichsdeutschen‘ in der Geschichtsschreibung erklärt. Ein ,idiotistisches‘ Originalwerk müsse, auch wenn es nicht nur den Reichskörper, sondern die ,Physiologie des ganze Nationalkörpers‘ zum Gegenstand habe, hier ansetzen. Den Höhepunkt seiner Auseinandersetzung mit dieser Tradition stellt schließlich die ihrerseits beinahe ,reichspublicistisch‘ zu nennende Preisschrift Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden dar (2. Kap., 2.3 Philosophie des Faktischen: Die ,Reichspublicistik‘ im Frühwerk Herders). Noch in Herders geschichtsphilosophischem Hauptwerk, den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, sind genauso wie in Schillers historischem opus magnum, der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs, bei aller ästhetischen und konzeptionellen Divergenz unabweisliche Spuren dieser Rezeption zu finden (2. Kap., 3. Staatengleichgewicht und europäische Kultur). Ein Autor wie Wieland hingegen überführte Fragen und Antworten aus den ,reichspublicistischen‘ Debatten um Sinn und Zweck der gegenwärtigen Reichsverfassung durch seine Schriften mit politischem Kalkül in einen weiteren patriotisch-aufgeklärten Diskurs jenseits der Fachwelt (4. Kap., 2. Wielands Verfassungspatriotismus in der ,Vorrede zum Historischen Calender für Damen‘). Neben den rezeptions- und ideengeschichtlichen Zusammenhängen zielte der weitaus größte Teil der Arbeit auf die (historisch) kontextualisierende Interpretation meist ,kanonischer‘, aber auch populärer, unbekannterer Texte der Kunstperiode. Dabei wurde an keiner Stelle der Anspruch erhoben, Literatur in der Größenordnung von Goethes Faust II und Schillers Wallenstein umfassend neu zu analysieren und zu interpretieren, vielmehr sollte allein der Aspekt des Reichsbezugs punktuell herausgegriffen und in den Werkzusammenhang eingebettet werden. Der Untersuchungszeitraum erstreckte sich in einem weiten Bogen über die Sattelzeit, von den frühesten Texten aus den 1740er-Jahren, z. B. Johann Elias Schlegels Hermann (1743), bis zu den 1820er-Jahren, etwa Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts (1827). Vier unterschiedliche Reichskonzepte lassen sich idealtypisch-abstrahierend benennen – ohne dabei Vollständigkeit zu suggerieren, sondern allein mit dem heuristischen Interesse, die Vielfalt der Autoren und Texte dieser Arbeit zu resümieren. Dabei sollen nicht die Ergebnisse der zahlreichen Einzelanalysen wiederholt, sondern nur einige Exempel zur Il-

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lustration der Typologie herausgegriffen werden. Die Einstellung eines Autors zum Reich wird dabei keineswegs einem Reichskonzept fest zugeordnet, da sich Gewichtung und Ausprägung je nach politischem, literarischem und biographischem Kontext, je nach Adressat, Text und Jahrzehnt verändert, wandelt und anpasst. Allen voran ist an das nüchtern-pragmatische Reichskonzept derer zu denken, die den status quo auf Reichsebene durch verfassungspolitische ,Reparaturen‘ wahren wollten, an der Grundsubstanz aber trotz aller Mängel festhielten, ohne sich allerdings zu nennenswerten Verklärungen hinreißen zu lassen. Ihr Reformimpetus beschränkte sich meist auf die einzelnen Territorien – eine Reichsreform erscheint praktisch unmöglich. Der Grund für die Dominanz dieses Reichskonzepts ist leicht zu finden. Er liegt in der lebenspraktischen Bedeutsamkeit des Reichs, dem insbesondere in dem Kapitel ,Reich als Kontext‘ nachgegangen wurde. Eine Skizze exemplarischer Reiseberichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – aus den Federn Johann Kaspar Riesbecks, Friedrich Nicolais, Christian Wölflings, Klemens Alois Baaders und Johann Christoph Röhlings – konnte zeigen, dass das Reich selbstverständlich ihr geographisch-politischer Erfahrungsraum war, sich aber meist keiner Lobeshymnen erfreute, sondern mit kühler Akzeptanz oder kritischer Inspektion betrachtet wurde. Das Reichsbewusstsein prägte sich dabei je nach Region und Konfession unterschiedlich aus. Grundsätzlich bezweifelten die Autoren den verfassungspolitischen Bezugsrahmen in aller Regel nicht: An ,Gedächtnisorten‘ wie dem Regensburger Reichstag wurde der sonst nur implizite Reichsbezug oftmals explizit (1. Kap., 1. Reisen in ,Deutschland‘). Aufgrund der lebensweltlichen Präsenz des Reichs verwundert es nicht, dass literarische Werke wie Schillers Die Räuber implizit in diesem Kontext situiert sind, wiewohl das Reich dort kein eigenes Thema ist. Noch Jean Paul nutzte seine rechtlich-politischen Kenntnisse aus der Reichsgeschichte als Bildreservoire für die Metaphorik seiner Romane (1. Kap., 3. Dichtung auf Reichsgrund?). Was sich an den Reiseberichten und implizit auch an der Dichtung zeigen lässt, wird ganz besonders in den ,biographischen Reisen‘ deutlich, der peregrinatio academica, die Teil des Lebenswegs zahlreicher Intellektueller des 18. Jahrhunderts war. Prominentestes Beispiel hierfür ist Johann Wolfgang von Goethe. In vielfacher Weise trat er noch als Geheimer Rat im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach mit der Reichsverfassung, dem Reichsrecht oder reichspolitischen Fragen in direkten, praktischen Kontakt (1. Kap., 2. Politische Lebenswelt: Goethes Karriere im Alten Reich). Seine Kommentare und Gutachten drücken ähnlich wie das Reichsbild des autobiographischen Rückblicks in Dichtung und Wahrheit eine nüchterne

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Akzeptanz der Reichsverfassung aus. Am Krönungsbericht lässt sich das in der Überblendung mehrerer Perspektiven auf das Alte Reich gut studieren. Goethe übersah die strukturellen Mängel keineswegs und ging auf Abstand zu den reichspatriotischen Verklärungen seines Herzogs Carl August und mancher ,Reichspublicisten‘. Und doch befürwortete er das föderale Reichssystem, die darin wachsende Vielfalt der Kultur und hoffte nach 1806, im Rheinbund eine äquivalente Ordnung zu finden (5. Kap., 3.3.2 Sich selbst historisch: Goethes autobiographische Retrospektive). Ähnlich nüchtern und pragmatisch zeigt sich das Reichskonzept in manchen bayerisch-patriotischen Dramen, ganz besonders in Joseph von Babos Otto von Wittelsbach. Während Nation und Vaterland hier emphatisch mit den bayerischen Territorien assoziiert werden, erhält die Reichsverfassung eine Bayern schützende und mit den deutschen Brüdern verbindende Funktion – die josephinischen Tauschpläne, die das Kaisertum aus Sicht der bayerischen Patrioten diskreditierten, zugleich aber das Reich als rechtliches System aufwerteten, spiegeln sich in diesen oft zu Unrecht als unpolitische Ritterspiele geltenden Historiendramen (2. Kap., 2.5 Götz-Nachfolge: Populäre Dramen zwischen Territorial- und Reichspatriotismus). In vielen Fällen lässt sich Ähnliches in den literaturprogrammatischen Ansätzen beobachten, die in dieser Arbeit begrifflich als ,literarische Reichsinstitutionen‘ gefasst wurden. Die Klagen über die Vielstaatlichkeit des Reichs, über das Fehlen einer die Kultur zentrierenden Hauptstadt gehen nicht zwangsläufig mit einer Ablehnung des status quo einher, vielfach ist sogar das Gegenteil der Fall. Schon in der Debatte um ein deutsches Nationaltheater offenbart sich, wie selbstverständlich bei aller Kritik an den Umständen das Konzept eines Nationaltheaters mit dem Selbstempfinden als föderale Nation innerhalb der vielstaatlichen Reichsverfassung kombiniert wurde. Es wäre falsch, aus der Klage den Wunsch nach einem zentralistischen Einheitsstaat der Nation abzuleiten, vielmehr überwiegen kulturelle Reformgedanken, die nicht in Opposition zu den politisch-historischen Rahmenbedingungen standen, sondern sich an diese anzupassen suchten, indem sie ähnlich der Reichsinstitutionen (Reichsgerichte, Reichstag, Reichskreise) Einheit und Vielheit zu verbinden trachteten (3. Kap., 1. Nationaltheater und föderale Nation). Deutlicher noch ist das im Falle jener ,Reichsöffentlichkeit‘, an die sich Wielands Teutscher Merkur richtete. Der Herausgeber konzipierte seine Zeitschrift analog zum Reichskammergericht als literarisches Revisionsgericht und geistigen Areopag, projektierte sie dabei aber nicht als Kompensation der deutschen Misere gegen die Reichsverfassung, sondern suchte sie in diese zu integrieren (3. Kap., 2. Wielands ,Teutscher Merkur‘ und die ,Reichsöffent-

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lichkeit‘). Herders Institut für einen deutschen Allgemeingeist zielte ebenso darauf, die Vielstaatlichkeit in eine kommunikative Einheit zu transformieren. Aus der Reichsstruktur mit ihren Mängeln sollte ein kultureller Mehrwert erwachsen, die Kultur sollte aber die fehlende Staatlichkeit nicht ersetzen. In Wielands Zeitschriftenprojekt und in Herders Institutsplan offenbart sich der fließende Übergang zum aufgeklärt-kosmopolitischen Reichskonzept, das das Verlangen nach Reformen auf Reichs- und (vor allem) auf Territorialebene einschließt, vor allem aber das Werben für die sittliche und kulturelle Verbesserung innerhalb der gegebenen Verhältnisse meint. Nicht selten werden dabei gerade die Defizite der Reichsverfassung, die Vielstaatlichkeit und der Hauptstadtmangel, zum geschichtsphilosophischen Bonum erhoben, das die deutsche Kultur als Kultur der Kosmopoliten erst begründet. Auf ein nüchtern-pragmatisches oder gar kritisch-satirisches Reichskonzept (s. u.) sattelt sich gleichsam eine neue, politisch-kulturelle Identität auf: Das vielstaatliche Griechenland dient hier nicht nur als kulturelles und künstlerisches Ideal, sondern ebenso also politisches Grundprinzip. Wenn Herder im Institut den Kultur befördernden Wetteifer preist, um so das vielstaatliche Malum in ein alle europäischen Nationen hinter sich lassendes Bonum zu transformieren, belegt das zugleich, dass der griechisch-deutschen Wahlverwandtschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine in der Forschung bislang unterschlagene staatspolitische Facette eigen ist. Der Zusammenhang von politischem und kulturellem Griechenlandideal besitzt eine Tradition, die sich von Celtis über Wieland bis Humboldt nachweisen lässt und mit der vielstaatlichen Reichsverfassung eng verbunden ist (3. Kap., 3. Das Heilige Griechische Reich deutscher Nation: Herders Institut für den Allgemeingeist). Die Deutschen innerhalb des Alten Reichs tragen, so will es die kosmopolitische Revision des nationalisierten Geschichtsverlaufs belegen, den Keim für die größte aller kulturellen Blüten in sich. Dem Reich wird von Autoren wie Nicolaus Vogt, aber eben auch von Wieland, Schiller und Herder die Möglichkeit zugeschrieben, dank seiner ,strukturellen Nichtangriffsfähigkeit‘ nicht nur den Frieden inmitten Europas zu sichern, sondern das kulturelle Erbe des Abendlands gleichsam zu bündeln und im Sinne einer translatio artium an seine Spitze zu treten. Sowohl diachron als auch synchron arbeitet diese geschichtsphilosophische Umdeutung mit einer Bonum-durch-Malum-Figur: Die Negativa der Reichsgeschichte (Chaos des Mittelalters, konfessionelle Kriege etc.) werden wie die Negativa der gegenwärtigen Reichsverfassung (Hauptstadtmangel, staatliche Zersplitterung, fehlendes Nationalbewusstsein etc.) zu notwendigen Defiziten

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umgedeutet, die das Gute (Friedensordnung, Vielfalt einer kosmopolitischen Kultur) erst ermöglichen. Friedrich Schillers Geschichtsbild aus seinen Vorlesungen (Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?; Universalhistorische Übersichten) und insbesondere aus seiner Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs ist davon genauso geprägt wie der Deutschlandbegriff Johann Gottfried Herders (2. Kap., 3.2 ,Deutsche‘ und ,Europäische Freiheit‘ bei Schiller; 2. Kap., 2.3.4 Herders Deutschlandbegriff oder: ,Das Reich spricht deutsch‘). Kein Dichter repräsentiert das aufgeklärt-kosmopolitische Reichskonzept jedoch besser als Christoph Martin Wieland. Hierbei ist nicht nur an die reichspolitischen Schriften von 1792/1793 zu denken, die in dieser Arbeit zum ersten Mal in den näheren publizistischen Kontext eingebettet bzw. von ihm abgegrenzt wurden (4. Kap., 2. Wielands Verfassungspatriotismus in der ,Vorrede zum Historischen Calender für Damen‘). Bereits vor 1789, so ist gegen das in der Forschung tradierte Bild einzuwenden, beschäftigte sich Wieland mit dem Reich und der in ihm situierten kosmopolitischen Kulturnation. Sein späterer Verfassungspatriotismus konnte daher ohne Schwierigkeiten an reichspolitische Grundideen aus der vorrevolutionären Zeit anschließen. Diese finden sich etwa in der Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten (1758), in den Anmerkungen zu Christian Heinrich Schmids Über den gegenwärtigen Zustand des deutschen Parnasses (1773) sowie in der berühmten Schrift Das Geheimniß des Kosmopoliten=Ordens (1788) und vor allem in den Zusätzen zu der satirischen Schrift Deutschland im höchsten Flor (1786) (2. Kap., 3.1 Patriotismus und Kosmopolitismus: Wielands Bild vom Alten Reich vor 1789). Goethe und Schiller stellten in ihrer Programmatik aus der Weimarer Zeit dem politischen Formzerfall im Reich und in Europa den Formgewinn ihrer ,klassischen‘ Dichtungsperiode entgegen. Schillers Horen-Programm, die beiden berühmten Xenien über Nation und Reich, das Fragment über Deutsche Größe und Goethes Essay Literarischer Sansculottismus propagierten gerade aufgrund der föderalen Reichsvergangenheit die Rettung der europäischen Aufklärungskultur, nicht etwa des ,Deutschen Geists‘ (!), als vornehmste kosmopolitische Aufgabe der Deutschen (4. Kap., 3. Reichszerfall und Formgewinn). Die patriotisch-nationale Variante des Reichskonzeptes zeichnete sich hingegen durch meist kontrapräsentische Appelle zur machtpolitischen ,Eintracht‘ aus. Adressaten waren allen voran die Reichsstände, aber auch die überständisch gedachte Nation als solche. Nicht die griechische, sondern die germanische Vielfalt war dabei der historische Anker. Der Weg von hier zur Fiktion eines ,Quasi-Nationalstaats‘ auf Basis der Reichstra-

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dition ist zwar nicht weit, mit der föderalen Struktur der Reichsverfassung wie ihrer ständischen Grundlage brechen die Autoren aber in aller Regel nicht. Wohl das deutlichste Beispiel hierfür ist die Hermannsdichtung des 18. Jahrhunderts. Nicht nur belegen die Vorreden und die zeitgenössische Literaturkritik, dass eine rein kulturnationale Interpretation zu kurz greift, vor allem erschließt sich ihre reichspatriotische bzw. reichsnationalistische Dimension erst aus dem meist unbedacht gebliebenen historischen Kontext: Die Hermanns-Dramen, -Epen und -Gedichte gruppieren sich um drei Kernphasen, die jeweils von einer fundamentalen Reichskrise ausgelöst wurden, dem Österreichischen Erbfolgekrieg, dem Siebenjährigen Krieg und den Koalitionskriegen. Johann Elias Schlegel, Christoph Otto von Schönaich, Justus Möser und Christoph Martin Wieland ging es nicht, wie oft behauptet, um eine fiktionale Vorwegnahme einer deutschen Einheitsmonarchie im Sinne eines allgemeindeutschen aufgeklärten Absolutismus, sondern – bei aller ästhetischen Differenz untereinander – um die Eintracht der Reichsstände und die kulturelle Einheit der Nation. Das Reichsideal im Kostüm des germanischen Bruderbunds verbindet die ständische Libertät der Fürsten mit der Herrschaft eines primus inter pares. Friedrich Klopstock verwandelt den Stoff zwar in seiner literarisch innovativen Bardiete-Trilogie auch politisch wesentlich – der Nationsgedanke wird spiritualisiert, emotionalisiert und demokratisiert –, dennoch verbinden sein ,Wiener Plan‘ und seine Widmung des ersten Dramas an Kaiser Joseph II. die Dichtung auf das Engste mit dem reichshistorischen Kontext. Cornelius Hermann von Ayrenhoffs erstes Drama aus der gleichen Zeit entspricht nicht nur in Motiven und Topik der Tradition seit Schlegel und Schönaich, in seiner Vorrede stellt er das reichspatriotische Anliegen seiner Dichtung deutlich heraus. Noch mehr gilt das für die weitgehend unbekannte Hermanns- bzw. Germaniadichtung der Koalitionskriege, Friedrich August Gottlieb Schumanns Hermann Arminius oder Die Niederlage der Römer, Schotts Germania. Ein heroisches Singspiel, Haschkas Das gerettete Teutschland oder Pater Elias’ Germania. Kulturnation und Reichsbewusstsein berühren sich, wie diese Beispiele belegen, vielfach. Nation und Reich sind zwar keineswegs identisch, doch wird selbst ein kulturnationalistisches Programm wie der ,Wiener Plan‘ Klopstocks im Rahmen des Alten Reichs imaginiert (2. Kap., 2.1 Appelle zur Eintracht: Hermannsdichtung aus dem Geist der ,Reichspublicistik‘?). Die Ästhetik des Sturm und Drang unterstreicht das auf ihre Weise: Mit der Suche Johann Gottfried Herders nach nationalcharakteristischer Kunst korrespondiert, wie bereits referiert, die Beschreibung der historisch-

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politischen Eigentümlichkeit des ,deutschen Reichs‘. Die Einheit des Heterogenen und Mannigfaltigen wurde nicht nur zum ästhetischen Ideal, sondern zugleich zum politischen Prinzip, das die Vielstaatlichkeit genauso wie die ständische Struktur in einer ,höheren‘ Einheit versöhnen sollte. An Texten Johann Gottfried Herders, Justus Mösers und Johann Wolfgang von Goethes lässt sich diese (bewusste) Parallele nachzeichnen, ohne darüber hinwegzutäuschen, dass die lebendige nationale Einheit in der Mannigfaltigkeit von der verfassungspolitischen Realität konterkariert wurde. Herder selbst spricht von der leeren Titularverfassung, der ,leblosen Puppe‘ Karls des Großen und benennt so diese schmerzlich empfundene Differenz (2. Kap., 2.2 ,Deutsche Art und Kunst‘: Reichsverfassung und Ästhetik). Den reichspatriotischen, kulturnationalen Entwürfen der Literaten ist eine zutiefst kontrapräsentische Struktur eigen. Goethes Götz von Berlichingen führt, so zeigt eine Interpretation, die den ,reichspublicistischen‘ Hintergrund des jungen Lizentiaten der Rechte einbezieht, drei unterschiedliche Reichsvarianten vor. Das wirkmächtige Drama berührt jene Reichsreformhoffnungen, die sich an Joseph II. knüpften, allen voran durch die Reichskammergerichtsvisitation, die in der zweiten Fassung schließlich Eingang in das Drama fand. Dem mittelalterlichen Reich des Götz’, das allein aus der personalen Treuebeziehung zum Kaiser hervorgeht (,Kaiser ohne Reich‘), steht das Negativbild eines Reichs gegenüber, das sich aus despotischen Fürsten zusammensetzt, die sich der Formel ,Kaiser und Reich‘ nur als Deckmantel ihres Eigennutzes bedienen. Es ist ein Reich ohne Einheit, gleichsam ein ,Reich ohne Kaiser‘. Nur an wenigen Stellen des Dramas findet sich die vorsichtige Utopie eines Idealreichs, das seine Entsprechung in der zeitgenössischen Publizistik Friedrich Carl Mosers und anderer findet (,Reich und Kaiser‘) (2. Kap., 2.4 Dramatisches ,irregulare aliquod corpus‘. Reichsvariationen in Goethes ,Götz von Berlichingen‘). Die patriotisch-nationale Facette des Reichskonzepts war bis um 1800 geprägt durch die Existenz der Reichsverfassung. Die universalistisch-nationalromantische Verklärung des mittelalterlichen Reichs steht hingegen im Kontext ihrer Inexistenz. Novalis’ Spiritualisierung der deutschen Reichsnation mit religiös-transzendentalphilosophischen Vorzeichen füllt den dadurch entstehenden Freiraum ebenso mit dichterischer Imagination wie Friedrich Schlegels oder Joseph Görres’ politisches Ideal eines christlich-deutschen Reichs in Europa. Die Reichsromantik reagiert allerdings nicht nur auf den Reichsuntergang, der weithin als nationale Katastrophe wahrgenommen wurde. So manche politischen Vorstellungen können ihr ,frühneuzeitliches Erbe‘ (Föderativgedanke, machtpolitisch beschränktes

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Kaisertum etc.) nicht verbergen, und doch beförderte die Marginalisierung der verrechtlichten Reichsidee des 17. und 18. Jahrhunderts in den poetischen und historischen Darstellungen ihre schrittweise Elimination aus dem kollektiven Gedächtnis. In anderer Form gilt das auch für Heinrich von Kleist. Seine politischen Schriften wie seine Dichtung um das Jahr 1809 verbinden den Wunsch nach einer nationalen Erhebung gegen Napoleon mit der Resurrektion des 1806 untergegangenen Reichs – das Reich wird dabei jedoch nationalistisch uminterpretiert, das frühneuzeitliche Erbe verblasst mehr und mehr (5. Kap., 4. Ausblick: Historisierung, Spiritualisierung, Verjüngung). Der größte Reichspatriot des 18. Jahrhunderts war Friedrich Carl Moser – zugleich einer der schärfsten Kritiker der gegenwärtigen Zustände. Kritik, Satire und Patriotismus schließen sich keineswegs definitorisch aus. Nach Schiller wird in der Satire „die Wirklichkeit als Mangel dem Ideal als höchste Realität gegenübergestellt“1. Der Zorn angesichts der Missstände im Reich resultierte nicht selten aus der patriotischen Vorstellung eines Idealreichs. Einen weiten Teil der Literatur des 18. Jahrhunderts charakterisiert jedenfalls ein kritisch-satirisches Reichskonzept, das oftmals im Modus der Kritik das Vorhandensein eines starken Reichsbewusstseins bestätigt. Neben zahlreichen knappen Aussagen – Herders Spott über die tote Titularverfassung, seiner Klage über die politische Zersplitterung und den Hauptstadtmangel – ist insbesondere an die Frühgeschichte Scheschians aus Wielands Goldnem Spiegel, die Reichsmetaphorik in Jean Pauls Romanen und an Klingers Höllenszene in seinem Faust-Roman zu erinnern. Auch Goethes Faust II besitzt vielfach Züge einer kritisch-satirischen Hommage an das Alte Reich. Wielands Goldner Spiegel rekurriert nicht direkt auf die Reichsverfassung, das Reichsbewusstsein zeigt sich hier nur implizit, während sich der eigentliche Adressat des Fürstenspiegels in den Territorien befindet. Der Roman ist aber gleichsam gerahmt durch Bezüge zum Reich. Während Scheschians Untergang von 1794 wie eine Warnung an das Alte Reich zu lesen ist, wird seine Frühgeschichte 1772 in satirischer Absicht als Zustand der Anarchie geschildert. Die Parallele zu anderen Texten Wielands aus dieser Zeit belegt allerdings, dass darin kein Bruch mit dem Reich zu sehen ist. Die satirische Schilderung der ,Reichsstadt‘ Abdera offenbart sich bei näherer Hinsicht gleichermaßen nicht als Kritik an der ,deutschen Misere‘ im Politischen, sondern als Forderung nach – primär – sittlicher Verbesserung im Rahmen des Bestehenden (2. Kap., 3.1 Patriotismus und Kosmopolitismus: Wielands Bild vom Alten Reich vor 1789; 4. 1

Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, in: MA, Bd. 5, S. 722.

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Kap., 1.1 Wielands ,Theatrum revolutionis‘ und der sichere Platz im Reich). Als schärfste und völlig unversöhnliche Reichssatire kann Friedrich Maximilian Klingers Roman Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt gelten. Nicht die Vielstaatlichkeit, sondern das durch die Reichsverfassung geschützte ,Feudalsystem‘ wird in den Lobeshymnen der Teufel auf das Heilige Römische Reich aufs Korn genommen. Der Reichsritter Julius von Soden formuliert in seinem Faust-Drama ebenso Kritik an politischem Missbrauch und der unpatriotischen Mentalität im Reich, verbindet dies aber mit einem aufgeklärt-kosmopolitischen Reichspatriotismus (5. Kap., 3.3.1 Das Reichsmotiv im Fauststoff ). Formen und Facetten des Reichsbezugs ließen sich noch beliebig ausdifferenzieren und präzisieren. Wiewohl keine starre zeitliche Zuordnung möglich ist, ergibt sich auf Basis des hier behandelten Textkorpus in groben Zügen eine allgemeine Entwicklungstendenz: Während bis in die 1770er-Jahre die nüchtern-pragmatischen und kritisch-satirischen Reichskonzepte überwogen, die nur in Krisenzeiten zu reichspatriotischen und nationalistischen Eintrachtsappellen führten, setzte in der Folgezeit eine forcierte Identitätssuche ein, die sich sowohl in patriotisch-nationaler als auch in kosmopolitischer Diktion niederschlug. Um 1800 standen nationale Wünsche, die auf eine profunde Reichsreform und auf militärische Verteidigung hofften, ebenso wie die kosmopolitische Rechtfertigung des Reichs der nackten Tatsache gegenüber, dass Schein und Sein der Reichsverfassung endgültig und unwiederbringlich auseinanderbrachen. Die Dichtung der ,Reichsgenerationen‘ spiegelt diesen Prozess: Wieland, Goethe und Schiller suchten einen kulturkompensativen und lebensphilosophischen Ausweg aus dem unvermeidlichen Schicksal. Während Goethes Märchen, Wielands Dialog Träume mit offenen Augen und Schillers Wilhelm Tell auf die Europa- und Reichskrise mit poetischen Utopien reagierten, die aber formal und inhaltlich gebrochen erscheinen, spiegeln Schillers Wallenstein, Wielands Aristipp und sein Kommentar zu den Cicero-Briefen wie auch Goethes Faust II den unabweislichen Reichsuntergang. Antwort ist hier keine Reformutopie mehr, sondern eine ästhetischphilosophische Programmatik, die sich bei den genannten Werken der drei Autoren jeweils im Rekurs auf das antike Erbe der Stoa und des Epikureismus fassen lässt (5. Kap., 1. Schein und Sein). Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten verarbeiten die Reichskrise subtil. Am auffälligsten wohl in den hier als politische Metapher verstandenen Geschwisterschreibtischen des berühmten Kunstschreiners David Roentgen. Der Riss durch das rechtsrheinische Möbelstück wird hervorgebracht durch die gänzliche Vernichtung des

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linksrheinischen resp. französischen und zeigt so den sympathetischen Zusammenhang Alteuropas und die Gefahr für das Reich, welche in der ,gestörten Kommunikation‘ der Unterhaltungen schlummert. Das Märchen antwortet darauf mit einer Friedensutopie, deren Bedeutung vielschichtig ist, durch die vier Könige aber, die unverkennbar auf die translatio imperii anspielen, auch auf das Alte Reich bezogen werden muss. Mehr noch: Der unförmige Bau des zusammengeklebten vierten Königs kann ungezwungen als Reminiszenz an das ,Monstrum‘ Pufendorfs verstanden werden. Die Liebe als Herrschaftsprinzip entspräche dann jener Eintracht, die schon Friedrich Carl Moser zwischen den Ständen des Reichs einforderte. Die Ehe der bürgerlichen Privatsphäre (Hermann und Dorothea) hängt mit der königlichen Ehe und Krönung zwischen Lilie und Prinz im Märchen als politischem Friedenssymbol eng zusammen. Lässt sich das als reichspolitische Vision im Rahmen eines pazifizierten Europas deuten, dekuvriert die Volksszene am Ende des Krönungszeremoniells, die bis ins Detail an den Ausklang der josephinischen Krönung in Dichtung und Wahrheit erinnert, Goethes fundamentale Zweifel an der Fortexistenz des Reichs und der alten Ordnung in Gestalt einer ironischen Brechung (5. Kap., 2.2 ,Translatio pacis‘ in Goethes ,Märchen‘). Goethes symbolisch-poetischem Friedensreich ,mit Fragezeichen‘ korrespondieren die sehr viel ,realeren‘ politischen Dialoge Wielands aus den Gesprächen unter vier Augen. Sie sind längst nicht nur an den französischen Ereignissen orientiert, sondern stellen essentiell reichspolitische Fragen. Während Was ist zu thun? wie in einem Brennspiegel die nationalen und patriotischen Debatten der vorangehenden Jahre in der Frage, ob die linksrheinischen Gebiete abgetreten werden sollen, bündelt, lanciert der Dialog Träume mit offenen Augen in der Figurenrede Sinibalds ein Reichsreformprogramm, das nur aus der ,publicistischen‘ Gemengelage um 1800 zu erklären ist – dem Wunsch, das Alte Reich durch Reformen zumindest der Substanz nach in das neue Jahrhundert zu überführen. Doch auch Wieland lässt durch die fingierte Gesprächssituation und ihre vorangehenden Überlegungen um Sinn und Zweck eigener Reformgedanken tiefe Zweifel an einem Fortbestand der Reichsordnung erkennen (5. Kap., 2.1 Wielands Traum von einem modernen Reichsstaat in den ,Gesprächen unter vier Augen‘). Ganz anders hingegen Schiller im Wilhelm Tell, dessen reichspolitische Dimension in der Forschung bislang übergangen wurde, wiewohl ausgerechnet die Analogie der föderalen Schweiz zur deutschen Reichsverfassung um 1800 geradezu toposhaft wiederkehrt. Johannes Müller führt die Parallele zwischen beiden ,Eidgenossenschaften‘ mit politischer Stoßrichtung nicht nur in seiner Darstellung des Fürstenbundes an, sondern auch in

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seinen Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft. Es verwundert daher wenig, dass Schiller im reichsrechtlichen Grundkonflikt des Dramas indirekt die Frage nach der Zweckmäßigkeit der deutschen Reichsverfassung diskutiert. Die Rütliszene sollte davon ausgehend nicht als Grundlage einer neuen Gesellschaftsordnung verstanden werden. Sie spielt als Ideal in einer uneinholbaren Vergangenheit: In alten Rechtsformen wie dem spätmittelalterlichen Einungswesen vertreten die Eidgenossen ein urdemokratisches, föderal verbundenes Gemeinwesen im Rahmen des mittelalterlichen Reichs. Neben die Reformideale mancher ,Publicisten‘, denen um 1800 oft wie Wieland eine strukturelle Verdichtung und Teilrepublikanisierung der Reichsverfassung vor Augen schwebte, tritt eine politisch viel weitgehendere Vergangenheitsutopie. Die durch Attinghausen und Rudenz vorgenommene Selbstabschaffung des Adels vollendet das Ideal und ermöglicht dank des glücklichen Zusammentreffens mit dem Mord an dem despotischen Kaiser und der Wahl eines neuen ,guten‘ Kaisers das Schlussbild einer geradezu ,demokratischen Reichsromantik‘, die jedoch – markiert durch die elegischen Eingangsverse des Dramas – im ,Modus des Vorbei‘ dargeboten wird. Für das ,deutsche Reich‘ sah Schiller die Möglichkeit einer solchen Entwicklung nicht mehr (5. Kap., 2.3 Die ,Einungsutopie‘ im ,Wilhelm Tell‘ oder die verpasste Reichsreform). Das zeigte schon seine Wallenstein-Trilogie. Die Koalitionskriege galten in zahlreichen poetischen, politischen und biographischen Texten dieser Zeit als Wiederkehr des Dreißigjährigen Kriegs. Wie Form und Realität, Ideal und Wirklichkeit der Reichsverfassung durch die Politik der deutschen Großmächte auseinandertraten, so lässt Schiller in Wallensteins Lager die poetische Form mit der Handlung konfligieren: Die ,altdeutsche‘ Form wird vom Zerfall der Ordnung in der ,verkehrten‘ Welt des Lagers – dieser Anti-Reichs-Welt – unterlaufen. An die Stelle des aufklärerischen Fortschritts tritt beim Schiller der Jahrhundertwende die skeptische Figur des Rads der Fortuna. Trost bietet allein die Kunst und eine stoische Geisteshaltung, während die Handlung der Trilogie im Treue-Dilemma von Max Piccolomini die unvermeidliche Krise des Reichs kurz vor seinem Untergang widerspiegelt (5. Kap., 3.1 Spiegel der Reichskrise: Schillers ,Wallenstein‘-Trilogie). Christoph Martin Wieland kommentierte nicht nur in persönlichen Briefen ebenso den Zerfall des Reichs – mal resignativ, mal zynisch. Sein großes, literarisch-philosophisches Alterswerk Aristipp und seine Zeitgenossen nimmt im Sinne einer similitudo temporum den Untergang der vielstaatlichen Poleiswelt als Hintergrundfolie für das dialogisch-vielseitige Geschehen des Briefromans. Der Konflikt zwischen Sparta und Athen, die

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Zwietracht der griechischen Poleis, die Einflussnahme eines starken äußeren Reichs und die Gefahr, von Makedonien erobert zu werden – all das fand Wieland in der Reichsgeschichte und der gegenwärtigen Politik wieder. Wielands Antwort auf diese Krise bestand im Rekurs auf die eudaimonistische Philosophie des Aristipp und im Falle der Cicero-Briefe in stoischen Gedankenfiguren. Ausdrücklich erscheint ihm der Untergang der Römischen Republik im Kommentar als historische Parallele zum Untergang des Alten Reichs. Die mühevolle Arbeit des Übersetzens weist er gar als Palliativum aus, um den Schmerz über den Reichszerfalls zu ertragen (5. Kap., 3.2 ,Similitudo temporum‘: Wielands ,Aristipp‘ und die ,Cicero‘Briefe). Goethe widmete sich dem Alten Reich ganz anders, aus dem Abstand mehrerer Jahrzehnte. Das Reichsbild aus Dichtung und Wahrheit wirkte tief in seinen Faust II hinein. Akt I, IV und V benennen in allegorisch-abstrakter Form die Ursachen des Reichsuntergangs in Eigennutz, Neid und Zwietracht seiner Glieder. Neben die ökonomische Krisenphänomenologie des frühen 19. Jahrhunderts tritt die politische Krisenphänomenologie des Heiligen Römischen Reichs – stellvertretend für den Untergang der alten Ordnung insgesamt. Der Kampf mit dem Gegenkaiser im vierten Akt nimmt sich wie eine Ausgestaltung der Arenga der Goldenen Bulle zur archetypischen Reichskrise aus. Die berühmte Erzämterszene verurteilt diese älteste und ehrwürdigste lex fundamentalis keineswegs als Ursache für den deutschen Partikularismus, wohl zeigt sich aber im Auseinandertreten von Schein und Sein ähnlich der Krönungsszene in Dichtung und Wahrheit die Differenz von Ideal und Wirklichkeit der Reichsverfassung. Fausts neugewonnene Herrschaft im fünften Akt gleicht aus reichsgeschichtlicher Sicht dem Herauswachsen der Großmächte aus dem Reichsverband, deren Politik des ,Länderschachers‘ Georg Sartorius in Ueber die Gefahren rückblickend zum Sündenfall der europäischen Politik und zur Präfiguration der späteren Reichsauflösung erklärt hatte. Das Alte Reich des Dramas bestätigt im stetigen Wechsel von Anarchie und Ordnung sowie der angedeuteten Zerstörung durch Säkularisation und Mediatisierung erneut das semper idem der Geschichte, das Kommen und Gehen menschlicher Reiche. Dem rastlosen Streben seiner Zeit setzt Goethe die Ruhe der Kunst- und Naturkontemplation, die Wertschätzung des zeitlosen Augenblicks im Sinne der antiken Eudaimonie- und Kairoslehre entgegen (5. Kap., 3.3 Fausts unheiliges Reich). Die jüngere Generation der Romantiker ging ,freier‘ mit ihrem geschichtlichen ,Erbe‘ um. Die Inexistenz des Reichs öffnet den Raum für seine dichterische Transformation, Verklärung und Spiritualisierung – je

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nach politischer Couleur. Die Reichsromantik war dabei keineswegs unpolitisch: Weit vor den Befreiungskriegen, dafür in direkter Reaktion auf den Verlust der zumindest nominellen politischen Einheit übertrugen romantische Autoren ihrer Dichtung eine politische Mission. Arnim verstand die Sammlung Des Knaben Wunderhorn als Rettung der kulturellen Identität aus dem einstürzenden Reichsgebäude. Das Nibelungenlied erlebte nicht zuletzt in Zeiten des Reichszerfalls als heroisches Nationalepos des Untergangs sein Revival, und Friedrich Schlegel stellte sich publizistisch ganz in den Dienst des Hauses Österreich, mit dem Ziel der ,Restitution‘ einer christlich-deutschen Reichsidee. Insbesondere bei Friedrich Gottlob Wetzel und Joseph von Eichendorff lässt sich nachweisen, wie sehr die Verklärung des mittelalterlichen Heiligen Römischen Reichs trotz aller Unterschiede vom Erbe des nüchternen juridifizierten Reichsdenkens im 17. und 18. Jahrhundert sowie den Ereignissen um 1800 geprägt blieb. Ein bislang in diesem Zusammenhang unbekannter Text, Wetzels Magischer Spiegel von 1806, reagierte direkt auf den Reichsuntergang. Er verstand sich als prophetischer Tröster in einer nationalen Katastrophe. Der Gedanke einer politischen Einheit in der Mannigfaltigkeit und die Wertschätzung einer eigenständigen ,deutschen‘ Rechtstradition verbinden sich hier mit der christlichen Spiritualisierung der deutschen Nation, der Verklärung der deutschen Reichsordnung zum kosmologischen Prinzip und der Prophezeiung kommender Größe. In Eichendorffs Examensarbeit, die sich historisch und politisch mit der Säkularisation von 1803 auseinandersetzt, sowie in anderen historisch-politischen Texten aus seiner Feder (Adel und Revolution, Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands) lebt ein ebenso auf die Einheit in der Vielheit zielendes Reichskonzept fort. Auch für ihn waren spirituelle und politische Ordnung durch das geistlich-weltliche Reich des Mittelalters und die frühneuzeitlichen Fürstbistümer vereint. Von weltlicher Großmachtphantasie findet sich bei Eichendorff jedoch nichts. Das ,heilige deutsche Reich‘ steht als verborgenes Reich, das nur noch auf einer zerrissenen Karte zu finden ist, im Hintergrund des Romans Aus dem Leben eines Taugenichts. Es handelt sich dabei kaum zufällig um einen weitverbreiten Topos der Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schon in Ahnung und Gegenwart leuchtet es hinter der vielfältigen Burgen- und Waldlandschaft und aus den patriotischen Liedern hervor. Der Weg des Protagonisten Friedrich führt über das Kreuz zum Reich – noch hofft er allein auf die Wiederkunft der politisch-spirituellen Ordnung, die auch für den Autor Eichendorff das ,deutsche Reich‘ idealiter repräsentierte (5. Kap., 4.1 Das heilige Reich: Arnim, Novalis, Schlegel, Wetzel und Eichendorff ). Kleists bereits genannte poetisch-

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publizistische Wiederbelebung des Alten Reichs vertritt in dieser Arbeit die nationalistische Verarbeitung des Reichsuntergangs: Nicht das christlichdeutsche Mittelalter wird hier idealisiert, sondern das Nationale sakralisiert und in die Zukunft projiziert (5. Kap., 4.2 Das nationale Reich: Heinrich von Kleist). Die Spuren des Reichsbewusstseins ließen sich noch weit in die Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhundert verfolgen. Sei es in der liberalen und nationalen politischen Lyrik vor 1871 oder der am Vielvölkerstaat der Habsburger orientierten humanistischen Verklärung des Reichs zu einem überzeitlichen Ideal in Grillparzers Dichtung.2 Um ein bewusst transnationales Reich, ein Reich des kulturellen Schmelztiegels, der Multiethnie und damit ein Symbol für Frieden und Völkerverständigung handelt es sich auch bei dem romantisierten Reichsbild der politischen Essayistik Hugo von Hofmannsthals – Österreich und mit ihm das Heilige Römische Reich werden dort zum Vorbild und Modell des europäischen Friedens, das sich ausdrücklich gegen die Engstirnigkeit der modernen Nationalstaaten wendet.3 Für Stefan George 2

3

Vgl. Eder, Heinrich: Die Gestalt des Reiches in der politischen Lyrik der Jahre 1840 – 1870, Wien 1937; Verdross, Alfred: Recht, Staat und Reich in der Dichtung Grillparzers, in: Die Wiener rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen/Adolf Merkl/Alfred Verdross, hrsg. v. Hans R. Klecatsky, Bd. 1, Wien 2010 (Erstdruck 1961), S. 691 – 704; zum habsburgischen Mythos in der Literatur: Kummer, Werner: Habsburgische und antihabsburgische Mythen: ein Beispiel mißglückter imperialer Identitätskonstruktion, in: Narrative Konstruktion, hrsg. v. Eva Reichmann, St. Ingbert 2000, S. 11 – 22. „Ihr habt ja keine Ahnung da draußen in Eurem geschichtslosen, ganz momentanen Dasein, was in diesem Österreich jetzt vorgeht, Volk gegen Volk mitten in der gemeinsamen schweren Not und die Rechnung vom Jahrhundert präsentiert und die Verknüpfungen und Anschuldigungen von Jahrhunderten – Gegenwart und bereit, Blut zu fordern. Dies, dies ist jetzt die Agonie, die eigentliche Agonie, des tausendjährigen heiligen römischen Reiches deutscher Nation, und wenn aus diesem Kataklysma nichts hervorgeht und in die Zukunft hinübergeht in das neue Reich, vermehrt um ein paar Millionen Deutsch-Österreicher, nichts als ein glatter, platter Nationalstaat – was das alte Reich nie war, es war unendlich mehr, es war ein heiliges Reich, die einzige Institution, die auf Höheres als auf Macht u. Bestand und Selbstbehauptung gestellt war – dann ist, für mein Gefühl, der Heiligenschein dahin, der noch immer, freilich so erblichen und geschwächt, über dem deutschen Wesen in der Welt geleuchtet hat.“ Hofmannsthal an Bodenhausen, 10. 7. 1917, in: Hofmannsthal, Hugo von/Bodenhausen, Eberhard v.: Briefe der Freundschaft, Düsseldorf 1953, S. 235 f. Vgl. zur politischen Essayistik Hugo von Hofmannsthals: Schumann, Andreas: „Macht mir aber viel Freude“. Hugo von Hofmannsthals Publizistik während des Ersten Weltkriegs, in: Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne, hrsg. v. dems./Uwe Schneider, Würzburg

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hingegen, der sich ebenso von dem imperialen Nationalstaat des Wilhelminismus distanzierte, lebte das heilige Reich als Reich der großen Geister im ,geheimen Deutschland‘ bzw. dem ,geheimen Reich‘ fort. Die Geschichte des mittelalterlichen Reichs wie seines Untergangs, das Auseinanderbrechen von Ideal und Wirklichkeit um 1800 mit den entsprechenden kulturkompensativen Verarbeitungsstrategien werden zu Vorboten und Belegen des spirituell-kulturellen Reichs uminterpretiert, dessen Adventus sich in der esoterischen Lehre des geistesaristokratischen Männerbundes um den poeta vates, den ,heimlichen Kaiser‘ Stefan George, bestätigt.4 Das frühneuzeitliche Reich prägt die deutsche Literaturlandschaft bis heute allerdings auch in ganz praktischer Art und Weise durch das darin grundgelegte föderale Prinzip, seien es die unterschiedlichen Metropolen um 1900, München, Berlin und Wien, mit ihrer jeweils spezifischen kulturellen Gestalt, oder die eigenständigen Traditionen provinzieller und mundartlicher Dichtung. Ja, selbst noch der so erfolgreiche Sonntagsabendkrimi des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, der Tatort, spiegelt bei aller historischen und mediengeschichtlichen Distanz die Fernwirkung der föderalen Reichsgeschichte wider – einmal mehr unterstreicht das die fundamentale Bedeutung des Themas ,Literatur und Altes Reich‘ für eine kulturgeschichtlich ausgerichtete Germanistik.

4

2000, S. 137 – 151; Ritter, Frederick: Hugo von Hofmannsthal und Österreich, Heidelberg 1967. Vgl. George, Stefan: Das neue Reich, in: ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 9, Stuttgart 2001; Raulff, Ulrich: „In unterirdischer Verborgenheit“. Das geheime Deutschland – Mythogenese und Myzel. Skizze zu einer Ideen- und Bildergeschichte, in: Geschichtsbilder im George-Kreis, hrsg. v. Barbara Schlieben/ Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer, Göttingen 2004, S. 93 – 115.

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620

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Namensregister Abbt, Thomas 77, 300, 341 Abel, Jacob Friedrich 372 Adolf, Gustav 257, 259, 261, 434 Alt, Peter-André 64, 372 Amalia, Anna 60, 330 Anderson, Benedict 51 Angermeier, Heinz 200 Archenholz, Johann Wilhelm von 40, 87 f., 283, 350 Aretin, Karl Otmar Freiherr von 7, 312 f. Aristoteles 94, 123 Arndt, Ernst Moritz 99, 219, 344, 536 f., 539 Arnim, Achim von 92, 479, 503 f., 533, 535, 569 Assmann, Aleida 26 Assmann, Jan 26 Aventinus, Johannes 422 Ayrenhoff, Cornelius Hermann von 107, 127 f., 562 Baader, Klemens Alois 48 f., 558 Babo, Joseph Marius von 34, 216 – 218, 403, 427 f., 559 Baden, Karl Friedrich Markgraf von 129, 290, 308 Balde, Jacob 18, 186 Baumgart, Hermann 393 Baumgarten, Hermann 393 Bayern, Karl Theodor von (Kurfürst in der Pfalz) 213 Becker, Johann Nikolaus 383, 385 Becker, Rudolph Zacharias 87, 286 – 288, 446, 503 Bibra, Sigmund von 279 Biester, Johann Erich 343 Binswanger, Hans Christoph 478 Blitz, Hans-Martin 99 f., 122 Bodmer, Johann Jakob 122, 138

Breitinger, Johann Jakob 122, 138 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 155 Bülau, Johann Jakob 23 Bünau, Heinrich von 114, 168, 172, 342 Buol-Berenberg, Joseph Andreas von 541, 543 Burgdorf, Wolfgang 51, 173, 192, 277, 368, 438, 454, 497, 533 Bürger, Gottfried August 134 Burkhardt, Johannes 9, 13, 184 Cagliostro, Alessandro 329, 482 Campe, Joachim Heinrich 309, 314 Carl August, Herzog von SachsenWeimar-Eisenach 54, 57 f., 62 f., 262, 307, 330, 490, 559 Carl Eugen, Herzog von Württemberg 64 – 66, 69 f., 82 Carl XI., König von Schweden 228 Cato, Marcus Porcius 191, 465 f. Cocceji, Heinrich von 152 Conring, Hermann August 94 f., 97, 106 Corneille, Pierre 127, 361 Crébillon, Prosper Jolyot 361 Creutz, Friedrich Karl Kasimir 23 Dahlmann, Friedrich Christoph 542 Dahn, Felix 511 Dalberg, Karl Theodor von 78, 289, 334, 407 – 409, 469 Dalberg, Wolfgang Heribert von 79 f. Dann, Otto 135, 251 – 253, 255, 291, 418 Datt, Johann Philipp 192 Demetz, Peter 331 Dilthey, Wilhelm 5 Dohm, Christian Wilhelm von 31, 221 f.

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Namensregister

Döring, Detlef 109 Dreitzel, Horst 163, 290 Dreyer, Carl Heinrich 190 Droysen, Gustav 393 Ebel, Johann Gottfried 406 f., 418 f. Eckermann, Johann Peter 326 f., 358, 362 Eichendorff, Joseph von 34, 36, 375, 405, 512 f., 516 – 525, 528 f., 531, 533, 535 f., 557, 569 Elias, Pater 131, 562 Epstein, Klaus 311 Erhard, Johann Benjamin 424 Erhart, Walther 371 Erthal, Friedrich Karl Joseph von 408 Estor, Johann Georg 115, 164 Fabri, Johann Ernst 49 Ferdinand II., Kaiser 230, 438, 441 Ferdinand III., Kaiser 230 Fichte, Johann Gottlieb 296, 501 Flach, Willy 60 f. Foucault, Michel 371 Frankenberg, Sylvius Friedrich Ludwig von 63 Franz II., Kaiser 1, 52, 131, 366, 468, 497, 542 Friedrich I., Kaiser 256, 510 Friedrich II., Kaiser 510 Friedrich II., König von Preußen 100 f., 214, 289, 330, 332, 434, 485, 490 f., 547 Frühwald, Wolfgang 3, 137 Fulda, Daniel 32, 160 Gatterer, Johann Christoph 151, 156 – 158, 160, 165, 167 Gebler, Tobias Philipp von 232, 282 Geiger, Carl Ignaz 50 Gellner, Ernest 22 Gentz, Friedrich von 424, 542 George, Stefan 570 f. Goeckingk, Leopold Friedrich Günther von 70, 134, 279 Goethe, Johann Caspar 55 Görres, Joseph 350, 431, 511, 520, 525, 563

Göschen, Georg Joachim 259, 263, 353 Gössmann, Wilhelm 534 Gottsched, Johann Christoph 35, 108 – 115, 118 f., 121 f., 126 f., 133, 143, 148, 267, 280, 285, 445, 545, 556 Grund, Johann Jakob 213 Gruner, Georg Friedrich 330 Grupen, Christian Ulrich 190 Gundling, Nicolaus Hieronymus 97, 139, 148, 152, 174, 178, 193 f., 220 Haaser, Rolf 471 Häberlin, Carl Friedrich 83, 142, 157, 168, 172, 316, 335 f., 366 Habermas, Jürgen 276 f. Hadot, Pierre 370 f., 373 Hahn, Johann Friedrich 134 Halem, Gerhard Anton von 336, 347 f., 352, 434 Hamann, Johann Georg 135 Hammerstein, Notker 14 Hartung, Fritz 56 Hartung, Heinrich Ernst 330 Haschka, Lorenz Leopold 45, 131 f., 562 Hausen, Carl Renatus 168 Häusler, Wolfgang 260 Haym, Rudolf 173 Heeren, Arnold Hermann Ludwig 220 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 255, 365 – 368, 371, 385, 388, 477 Heine, Heinrich 311, 511 Heineccius, Johann Gottlieb 163 Heinrich I., König 237 Heinrich IV., Kaiser 318 Heinse, Wilhelm 86, 366 Herodot von Halikarnass 421 Herrmann, Hans Peter 99 f. Hert, Johann Nikolaus 190 Herzog, Roman 12 Hetzer, Wilhelm Emanuel Gottlieb 330 Heyd, Johann Friedrich 264 Hinsberg, Joseph von 346, 358

Namensregister

Hirschi, Caspar 17 Hobsbawm, Eric 22 Hofmannsthal, Hugo von 570 Holberg, Ludvig 139 Hölderlin, Friedrich 96, 292, 348, 352 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 134 Hörnigk, Philipp Wilhelm von 246 Humboldt, Wilhelm von 409, 443 f., 560 Hume, David 151, 158, 165, 168 f., 220 Hutten, Ulrich von 208, 379, 547 Iffland, August Wilhelm 334 Immermann, Karl 532 Iselin, Isaak 151, 252, 302, 425 Jacobi, Friedrich Heinrich 445 Jaeger, Michael 370, 478 f. Jean Paul 34, 84 – 88, 90 f., 184, 219, 223, 286, 366, 558, 564 Jenisch, Daniel 361, 363 Johann Georg I., Kurfürst von Sachsen 263 Joseph II., Kaiser 52, 129, 213, 233, 245, 273, 332, 490 f., 545, 547, 562 f. Justi, Johann Heinrich Gottlob von 223 Kalb, Charlotte von 59 Kalb, Johann August Alexander von 59 Kalchberg, Johann Nepomuk 213 Kant, Immanuel 223, 250, 252 – 254, 258, 424 Karl der Großen 95, 150 Karl V., Kaiser 180, 230, 504, 510, 552 Kästner, Abraham Gotthelf 102 – 105, 108, 133 f., 136, 295, 513, 556 Keyßler, Johann Georg 43 – 45 Klein, Ernst Ferdinand 342

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Kleist, Heinrich von 34, 36, 368, 375, 467, 500, 531 f., 538 – 554, 564, 569 Klinger, Friedrich Maximilian 134, 458, 461, 463, 465, 467 f., 564 f. Klopstock, Friedrich Gottlieb 28, 100, 116, 127 – 130, 434 f., 545 f., 562 Klotz, Christian Adolph 165 – 168, 171, 557 Köhler, Johann David 134, 153, 167 – 169 Kohlhase, Hans 550 Kondylis, Panajotis 162 Konrad III., König 256 Kopp, Carl Philipp 189 – 191, 203 Korff, Hermann A. 5 Körner, Christian Gottfried 154, 264 Koselleck, Reinhart 32, 275 f. Krafft, Johann Friedrich 60, 330 – 332, 368 Krippendorff, Ekkehart 56 Kurz, Hermann 66 Kurzke, Hermann 507 Lang, Karl Heinrich Ritter von 471 Lengenfelder, Johann Nepomuk 213 Lapide, a Hippolithus (Bogislaw Philipp von Chemnitz) 163 Leibniz, Gottfried Wilhelm 30, 96, 220, 246, 254 f., 547 Leisewitz, Johann Anton 52, 134 Lenz, Jakob Michael Reinhold 72 Leopold I., Kaiser 107, 509 Leopold II., Kaiser 307, 334, 466 Leopold III. Friedrich Franz, Herzog von Anhalt-Dessau 141 Lessing, Gotthold Ephraim 135, 148, 165, 252, 268 – 270, 460 Liechtenstein, Karl Eusebius von 305 Lilienstern, Otto August Rühle von 541 Locke, John 424 Loën, Johann Michael von 55 Lohenstein, Daniel Casper von 101, 107, 118 Lothar III., Kaiser 97, 256 Löwen, Johann Friedrich 268

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Namensregister

Löwith, Karl 252, 254, 371 Luden, Heinrich 501 Ludewig, Johann Peter von 152 Ludwig XIV., König von Frankreich 112, 228, 267, 318, 324, 509 Ludwig XV., König von Frankreich 318 Lukian von Samosata 165, 375 Mably, Gabriel Bonnot de 38, 174 Macpherson, James 304 Mandeville, Bernard 482 Mann, Thomas 458 Marlowe, Christopher 459 f. Marquard, Odo 32, 250, 254 Marx, Karl 3, 199, 311, 478, 539 Mascov, Johann Jacob 86, 97, 106, 114 – 116, 148, 156, 163, 168, 174, 178, 556 Mattenklott, Gert 81 Maximilian I., Kaiser 180, 192, 194, 412, 480 Meinecke, Friedrich 5, 7, 290 Merck, Johann Heinrich 52, 244, 283 f. Meusel, Johann Georg 171 Michaelis, Johann David 173 Michelsen, Peter 458 Milbiller, Joseph 153, 359 Miller, Gottlob Dietrich 134 Mirabeau, Honoré-Gabriel Riqueti Comte de 336, 343 Montesquieu, Baron de (Charles-Louis de Secondat) 72, 76, 126, 136 f., 140 f., 144, 154, 161, 166, 174, 224, 253, 301, 343, 390, 519 Moser, Friedrich Carl 23, 29 f., 51, 66, 69, 72, 129, 137, 141 – 144, 163, 185, 208 f., 278, 299 – 303, 305, 341 f., 350, 379, 391, 402, 422, 541, 563 f., 566 Moser, Johann Jacob 66, 70, 78, 94, 97, 139, 150, 163, 210, 221 f., 463, 556 Möser, Justus 20, 23, 39, 54, 100 f., 122 – 126, 134, 136, 143 – 147, 149, 151, 174, 178, 190 – 192,

194, 199, 207, 210, 221, 274, 295, 298, 362 f., 435, 546, 556, 562 f. Mosers, Johann Jacob 155 Mosheim, Johann Lorenz von 133 Motte Fouqué, Friedrich de la 502, 524 Müller, Friedrich (Maler Müller) 272 Müller, Gerhard 469 f. Müller, Jan-Dirk 444 Müller, Johann Georg 307, 402 Müller, Johannes 30, 156, 173, 221 f., 289, 341, 402, 404, 409, 411 f., 415, 417, 420, 423 – 426, 438, 442, 469, 542, 566 Müller-Seidel, Walter 65, 71, 81 Münch, Paul 494 Naumann, Meino 535 Newton, Isaac 220 Nicolai, Friedrich 42, 44 – 47, 268, 300, 341 f., 558 Nilges, Yvonne 257 – 259 Nipperdey, Thomas 497, 499, 539 Nohl, Herman 5 North, Michael 13 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 36, 375, 505 – 507, 515 – 517, 563 Nowitzki, Hans-Peter 282 Olenschlager, Johann Daniel von 187, 190, 484, 486 Opitz, Martin 7, 109 Otto I., Kaiser 176, 237 Pahl, Johann Gottfried 288 Palm, Johann Philipp 467, 537 f., 540 Palmers, Robert 311 Pape, Johann Hermann Franz von (Papius) 204 f. Pelzer, Erich 310 Percy, Thomas 304 Pfeiffer, Christoph Ludwig 221 Pfuel, Ernst von 541 Piccolomini, Enea Silvio (Pius II.) 105 Pistorius, Georg Tobias 192 Planert, Ute 21 Press, Volker 491

Namensregister

Pufendorf, Samuel von 55, 64, 86, 94, 97 f., 107, 121, 163, 189, 209, 221, 264, 294, 383, 398, 556, 566 Pütter, Johann Stephan 11, 86, 94 f., 103, 134, 138, 140, 153, 157, 162 f., 168, 178 – 180, 189, 192 – 194, 221, 258, 260, 264, 278, 285, 348, 366, 390 Randel, Johann Adolph Friedrich 336 Reemtsma, Jan Philipp 227 Rehberg, August Wilhelm 424 Rehm, Walther 291 f. Reinhard, Carl Friedrich 470 Reinhold, Karl Leonhard 454 Riedel, Wolfgang 372 Riesbeck, Johann Kaspar 37, 40 – 43, 48, 558 Rist, Johann 132, 351, 432 Roentgen, David 393, 395 – 397, 565 Röhling, Johann Christoph 50, 334 f., 558 Rousseau, Jean-Jacques 76, 96, 141, 220, 294, 325, 343, 423, 491 Rückert, Friedrich 510 f. Rudolf I., König 349, 401, 405 Runde, Justus Friedrich 134, 173, 278 Runge, Philipp Otto 498 Safranski, Rüdiger 65 Sahmland, Irmtraut 122, 247 Saint-Pierre, Charles Irénée Castel de 96 Samuel, Richard 544 f. Sartorius, Georg 490 – 492, 494, 568 Schaeffer, Karl Albert Eugen 535 Schenkendorf, Max von 510 Scherpe, Klaus R. 63, 81 Schings, Hans-Jürgen 74, 250, 359, 371, 439 Schlegel, August Wilhelm 502 Schlegel, Friedrich 36, 292, 311, 375, 502 f., 508 – 511, 515 – 517, 542, 563, 569 Schlegel, Johann Elias 100, 108, 110, 113 f., 116 – 120, 122 f., 126, 136, 268, 557, 562 Schlegel, Johann Gottfried 60

625

Schlosser, Johann Georg 52, 134 Schlözer, August Ludwig von 151, 158 – 161, 169, 172 f., 315 f., 557 Schmaus, Johann Jacob 220 Schmid, Christian Heinrich 101, 209, 235, 561 Schmidt, Georg 8, 16, 249, 352 Schmidt, Michael Ignaz 156, 264, 426, 485 Schnabel, Franz 7 Schön, Theodor 529 Schönaich, Christoph Otto von 100 f., 108, 114, 119 f., 122 f., 126, 562 Schöne, Albrecht 327 Schöpflin, Johann Daniel 188 Schott, Johann Gottlieb 133, 158, 184, 545, 562 Schreiber, Aloys 348 Schubart, Christian Friedrich Daniel 64 – 66, 69 f., 78, 80, 101, 104 f. Schulz, Gerhard 2 Schumann, Friedrich August Gottlieb 130, 562 Schweighäuser, Johann Gottfried 443 Senckenberg, Heinrich Christian von 163, 189 f., 295 Senckenberg, Renatus Karl von 335 Seuffert, Johann M. 521 Seybold, David Christoph 264 Shaftesbury (Anthony Ashley-Cooper Earl of Shaftesbury) 135 Sickingen, Franz von 201, 208, 379, 464, 547 Sinclair, Isaac von 348 Smith, Adam 482, 490, 492 Soden, Julius Freiherr von 34, 142, 334, 458, 461, 463 – 468, 545, 565 Soden, Karl von 384, 386 Solms-Laubach, Elisabeth Charlotte Ferdinande zu 233, 455 f. Solon 224 – 226, 317, 449, 466 Sotzmann, Daniel Friedrich 531 Spittler, Ludwig Timotheus 326 Stadion, Philipp von 541 f., 547 Steinbach, Erwin 143 Sternschutz, Johann von 213 Stolberg-Stolberg, Christian zu 134

626

Namensregister

Stolberg-Stolberg, Friederike Luise zu 322 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold zu 134 Stollberg-Rilinger, Barbara 14 Stolleis, Michael 14, 55, 93 f. Streicher, Andreas 65 f. Strobel, Johann Baptist 270, 272 Strube, David Georg 163, 174, 177 f. Struve, Friedrich Gottlieb 168, 186 Stumpf, Johannes 422 Suphan, Bernhard 359 Teutschbrunn, Johann Heumann von 134, 140 Textor, Johann Wolfgang 55 f., 476 Thomasius, Christian 114, 152, 163 Tieck, Ludwig 532, 553 Törring, Josef August von 216 f. Treitschke, Heinrich von 393, 497 Trier, Balduin von 485 Tschudi, Aegidius 405, 412, 422 Tümmler, Hans 56 f., 62 Ueding, Gert

3

Vogt, Nicolaus 222, 560 Voigt, Christian Gottlob von 59 Voltaire (François-Marie Arouet) 151, 361, 491 Von der Hagen, Friedrich Heinrich 503

Wagner, Heinrich Leopold 135 Walch, Karl Friedrich 189 Wallenrodt, Johanna Isabella Eleonore von 83 f. Walther, Gerrit 138 Wehler, Hans-Ulrich 16 Weimar, Ernst August von 60 Wertheimer, Jürgen 64 Werthes, Friedrich August Clemens 213 Westphal, Ernst Christian 188 Wetzel, Friedrich Gottlob 36, 104, 375, 512 – 517, 569 Whaley, Joachim 8 Wiedemann, Conrad 99, 120 Wilhelm I., deutscher Kaiser 99 Wilson, W. Daniel 57, 62, 329, 344 Winckelmann, Johann Joachim 136, 156, 291 f., 295 f., 356, 371, 444, 496 Winkler, Heinrich August 499 Wolf, Norbert 212 Wolff, Christian 114 Wölfling, Christian 40 f., 47, 558 Wolzogen, Caroline von 409 Young, Edward

135

Zelter, Carl Friedrich Zeumer, Karl 18

468, 495