Alte Dinge – Neue Werte. Musealisierung und Inwertsetzung von Objekten [1. ed.] 9783835352728, 9783835349315


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German Pages 288 [289] Year 2022

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Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Michael Farrenkopf / Aikaterini Filippidou / Torsten Meyer / Stefan Przigoda /Achim Saupe / Tobias Schade: »Davor« – »Dazwischen« – »Danach«. Werte und Inwertsetzung in Museen
Daniel Hess: Museale Sammlungen unter neuen Perspektiven. Vom Germanischen zu einem europäischen Museum
Thomas Thiemeyer: Museen und Werte. Die Diskussion um die neue ICOM-Definition
Andreas Ludwig: Dingaufmerksamkeiten. Was ist es wert, in Wert gesetzt zu werden
Michael Farrenkopf / Torsten Meyer: Stillgelegt. Aspekte der Musealisierung des deutschen Braunkohlenbergbaus vornehmlich in den ostdeutschen Revieren
Michael Hutter: Die Kommodifizierung kultureller Güter ­vor, während und nach ihrem Museumsaufenthalt
Willi E. R. Xylander: Biologische Objekte in Naturkundemuseen und der neue Wert alter Dinge
Andrea Funck: Welche Werte sind die richtigen? Der Wertbegriff in der Konservierung und Restaurierung
Tobias Schade: Musealisierung und Museumsleben. Wertbildungen am Beispiel der ›Kon-Tiki‹
Mareike Runge / André Dubisch: Zwischen Inszenierungen und Originalen. Das »Experiment Geschichte« im Europäischen Hansemuseum Lübeck
Martin P. M. Weiss: Ein Schiff in den Raum stellen. Eine Sonderausstellung mit Virtual-Reality-Brillen
Jana Hawig: Dinge in Storytelling-Ausstellungen am Beispiel von »Pia sagt Lebwohl«
Carla-Marinka Schorr: #neuland: neue Dinge, alte Werte. Eine Ausstellungsanalyse im Hinblick auf Formen, Funktionen und Praktiken der Wertzuschreibung
Stephan Schwan: Aura, Lernstoff, soziales Kapital. Der Wert musealer Dinge für die Besuchenden
Patricia Rahemipour: Aufgewertet. Wertüberlegungen zum Museum
Autor:innen und Herausgeber:innen
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Alte Dinge – Neue Werte. Musealisierung und Inwertsetzung von Objekten [1. ed.]
 9783835352728, 9783835349315

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Alte Dinge – Neue Werte

WERT DER VERGANGENHEIT Herausgegeben von Martin Sabrow und Achim Saupe

Alte Dinge – Neue Werte Musealisierung und Inwertsetzung von Objekten

Herausgegeben von Michael Farrenkopf, Aikaterini Filippidou, Torsten Meyer, Stefan Przigoda, Achim Saupe, Tobias Schade

WALLSTEIN VERLAG

Eine Publikation des Leibniz-Forschungsverbunds Wert der Vergangenheit Verbundpartner: Deutsches Bergbau-Museum Bochum – Leibniz-Forschungsmuseum für Geo­ ressourcen (DBM) • Deutsches Museum (DM), München • Deutsches Schifffahrtsmuseum – Leibniz-Institut für Maritime Geschichte (DSM), Bremerhaven • Leibniz-Institut für Bildungsmedien – Georg-Eckert-Institut (GEI), Braunschweig • Germanisches Nationalmuseum  – ­­­­Leibniz-Forschungsmuseum für Kultur­geschichte (GNM), Nürnberg • Herder-Institut für historische Ostmittel­europaforschung – ­Institut der Leibniz-Gemeinschaft (HI), Marburg • Institut für Zeitgeschichte (IfZ), München-Berlin • Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS), Mannheim • Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz (IEG) • Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO), Leipzig • Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – ­Simon Dubnow (DI), Leipzig • Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt • LeibnizInstitut für Medienforschung – Hans-Bredow-Institut (HBI), Hamburg • LeibnizInstitut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS), Erkner • Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM), Tübingen • Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB), Bonn-Hamburg • Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kultur­ forschung (ZfL), Berlin • Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO), Berlin • Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) • Römisch-­­ Ger­manisches Zentralmuseum – Leibniz-­Forschungs­institut für Archäologie (RGZM), Mainz • Senckenberg Gesellschaft ­f ür Naturforschung (SGN)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond und der Raleway Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf Umschlagbild: Behaim-Globus im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg Foto: GNM. Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen ISBN (Print) 978-3-8353-5272-8 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-4931-5

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Michael Farrenkopf / Aikaterini Filippidou /  Torsten Meyer / Stefan Przigoda / Achim Saupe /  Tobias Schade »Davor« – »Dazwischen« – »Danach«. Werte und Inwertsetzung in Museen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Daniel Hess Museale Sammlungen unter neuen Perspektiven. Vom Germanischen zu einem europäischen Museum . . . . . . . . . . . . . . 37

Thomas Thiemeyer Museen und Werte. Die Diskussion um die neue ICOM -Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Andreas Ludwig Dingaufmerksamkeiten. Was ist es wert, in Wert gesetzt zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Michael Farrenkopf / Torsten Meyer Stillgelegt. Aspekte der Musealisierung des deutschen Braunkohlenbergbaus vornehmlich in den ostdeutschen Revieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Michael Hutter Die Kommodifizierung kultureller Güter ­ vor, während und nach ihrem Museumsaufenthalt . . . . . . . . . . . . . 111 Willi E. R. Xylander Biologische Objekte in Naturkundemuseen und der neue Wert alter Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Andrea Funck Welche Werte sind die richtigen? Der Wertbegriff in der Konservierung und Restaurierung . . . . . . . . . . . . 141

Tobias Schade Musealisierung und Museumsleben. Wertbildungen am Beispiel der Kon-Tiki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

inhalt

Mareike Runge / André Dubisch Zwischen Inszenierungen und Originalen. Das »Experiment Geschichte« im Europäischen Hansemuseum Lübeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Martin P. M. Weiss Ein Schiff in den Raum stellen. Eine Sonderausstellung mit Virtual-Reality-Brillen . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Jana Hawig Dinge in Storytelling-Ausstellungen am Beispiel von »Pia sagt Lebwohl« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Carla-Marinka Schorr »#neuland«: neue Dinge, alte Werte. Eine Ausstellungsanalyse im Hinblick auf Formen, Funktionen und Praktiken der Wertzuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Stephan Schwan Aura, Lernstoff, kulturelles Kapital. Der Wert musealer Dinge für die Besuchenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Patricia Rahemipour Aufgewertet. Wertüberlegungen zum Museum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Autor:innen und Herausgeber:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

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Vorwort

»Alte Dinge – Neue Werte«, unter diesem Titel planten die Herausgeber und die Herausgeberin für das Jahr 2020 eine Tagung am Deutschen Bergbau-Museum Bochum, die museale Inwertsetzungsprozesse und -praktiken erkunden sollte. Eine Publikation der Ergebnisse wurde dabei schon früh ins Auge gefasst. Mit der Tagung sollte auch der Übergang vom Leibniz-Forschungsverbund »Historische Authentizität« (2013-2021) zum neuen Verbund »Wert der Vergangenheit« eingeleitet werden, der im September 2021 seine Arbeit aufgenommen hat. Angesichts der durch die Corona-Pandemie bedingten Einschränkungen musste von der Veranstaltung nach mehrmaligen Neuterminierungen Abstand genommen werden, von dem Publikationsvorhaben hingegen nicht. Als Ersatz für die Tagung wurden die anvisierten Autor:innen des Sammelbandes zu einem virtuellen Workshop eingeladen, auf dem zum einen die konzeptionellen Überlegungen diskutiert und geschärft, zum anderen erste Überlegungen zu den vorliegenden Beiträgen vorgestellt wurden. Diese Inputs verdichteten die Beiträger:innen in den folgenden Monaten für das Publikationsvorhaben, das sich als explorativ versteht und multi­ disziplinäre Zugänge und Blickweisen vereint. Unser Dank gilt allen beteiligten Autor:innen für den intellektuellen Austausch und ihre Geduld im Zuge des Publikationsprozesses. Besonders danken wir der Leibniz-Gemeinschaft und dem aus dem Leibniz-Forschungsverbund »Historische Authentizität« hervorgegangenen Nach­folgeverbund »Wert der Vergangenheit« sowie dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereich 1070 Res­sourcenKulturen der Universität Tübingen, namentlich Thomas Thiemeyer, für die Gewährung von Druckkostenzuschüssen und die Unterstützungen der geplanten Tagung. Paula Dahl (ZZF Potsdam) unterstützte uns in der Drucklegungsphase der Veröffentlichung ganz erheblich, wofür wir an dieser Stelle herzlich danken. Die Herausgeber und Herausgeberin Michael Farrenkopf, Aikaterini Filippidou, Torsten Meyer, Stefan Przigoda, Achim Saupe, Tobias Schade Bochum, Potsdam und Tübingen, im Herbst 2022

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Michael Farrenkopf / Aikaterini Filippidou /  Torsten Meyer / Stefan Przigoda /  Achim Saupe / Tobias Schade

»Davor« – »Dazwischen« – »Danach« Werte und Inwertsetzung in Museen

Museen sammeln Dinge, denen eine Bedeutung zugeschrieben wird. Für die dahinterstehenden Akteure haben Dinge einen Wert, ebenso wie die dort gesammelten und ausgestellten Dingzusammenhänge später von jenen Werten und Wertkonflikten zeugen, die Gesellschaften zu einer bestimmten Zeit prägten, über die sie sich definierten, von denen sie berichten wollten und die sie beschreibbar machen. Doch gehören Werte ins Museum? Und wenn ja, welche? Oder die Diskussion über Werte? Und welche Werte generieren Museen überhaupt? Dass museale Dinge Werte darstellen und Werte produzieren, darüber herrscht breiter Konsens. Die Beschreibung dieser Werte und die mit ihnen zusammenhängenden Inwertsetzungsprozesse bleiben freilich umstritten und fragil. Welche Werte haben Dinge im Museum? Und ver­ ändern sich diese Werte der Dinge im Prozess der Musealisierung nicht ständig, also im Verlauf ihrer Sammlung, Bewahrung, Erforschung, Präsentation und Vermittlung? Und vor allem im Zuge ihrer Bearbeitung und Re-Inszenierung? Und wie wandelt sich im Zuge dieser Pro­ zesse wiederum der von der Gesellschaft dem Museum zugesprochene Wert? Anhand dieser wenigen Fragen wird klar, welche unterschiedlichen Facetten die Frage nach dem »Wert alter Dinge« im Museum annehmen kann und damit auch nach dem »Wert der Vergangenheit« in einem übergreifenden Sinn. Das hat auch damit zu tun, dass die Frage nach den Werten und der damit einhergehende Appell an Werte – manchmal lautstark vorgebracht, manchmal stillschweigend impliziert – in den letzten Jahren deutlich an gesellschaftlicher Verbreitung gewonnen hat. Das Phänomen lässt sich im Bereich des Museums beobachten, wenn das International Council of Museums (ICOM) eine Diskussion über die ethische Ausrichtung des Museums anstößt oder wenn Ausstellungen ganz bewusst die Frage nach sich wandelnden Werten im Zuge der Digita­ lisierung stellen und die Bedeutung tradierter Werte auch in

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Transformationszeiten betonen. Sogar ein »Museum für Werte« ist in den letzten Jahren gegründet worden.1 Hinter der Frage nach den Werten wird eine normative Einfärbung kultureller Diskurse sichtbar, der Wissenschaftler:innen von Beruf aus skeptisch gegenüber stehen, streben sie doch – sofern sie dem klassischen Ideal Max Webers folgen – eine weitgehend wertfreie, fachlich regulierte und distanzierte Beschäftigung mit ihren Gegenständen an. Doch das Konzept einer wertfreien Wissenschaft ist in eine manifeste Krise ge­ raten, verdeckt es doch zu sehr die Machtverhältnisse, in die Wissen­ schaftler:innen und Forschungsinstitutionen eingebunden sind, die historischen Kontexte, die Wissenschaft und kulturelle Institutionen wie Museen prägen, die zeitbedingten Episteme und Paradigmen, die Dinge überhaupt begründbar machen, und nicht zuletzt die (methodisch ein­ gehegte) Subjektivität und Perspektivierung ihrer Forschungen und Umsetzungen. So scheint das Konzept der Wertfreiheit eine politisch aktive Position zu verhindern, die Wissenschaftler:innen und Kura­tor:innen heute angesichts globaler Krisen oftmals einnehmen wollen, wenn nicht sogar müssen. Nicht allein Information ist gefragt, son-dern Expertise, Deutung und der Hinweis auf Handlungszwänge und -optionen. Werte spielen selbstverständlich in der Beschäftigung mit Vergangenheit, mit bestimmten Themen und im Rahmen von Institutionen immer eine Rolle. Nicht zuletzt ergibt sich die Brisanz und Aktualität der Werte aus dem gesellschaftlichen Auftrag, gegenwarts- und gesellschaftsrelevante Themen zu behandeln. Und so sind die Werte schon immer mit am Werk, wenn es um die Formulierung neuer Themen und Konzepte oder die Überarbeitung einer Dauerausstellung geht. Wie »alten Dingen« im Museum Bedeutung zugeschrieben wird, ist eine Frage, die die reflexive Museologie seit ihrer Entstehung in den 1980er Jahren beschäftigt hat. Für den Kulturwissenschaftler Krzysztof Pomian werden Artefakte zu mehrdeutigen Zeichen- und Bedeutungsträgern, sobald sie im Rahmen einer Sammlung »natürlicher oder künstlicher Gegenstände […] zeitweise oder endgültig aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten werden«.2 Ihrem Gebrauchswert entzogen, werden Museumsdinge aufbewahrt und zur Schau gestellt. Dabei bekommt ihre materielle, physische und ästhetisch-aisthetische Dimension eine gewichtigere Rolle als in ihrem Leben »davor«. Ihre Bedeutungen sind ihnen freilich weniger inhärent als vielmehr zu­ ­

1 Siehe die Homepage www.wertemuseum.de [Abruf: 1. 6. 2022]. 2 Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988, S. 16. 10

»davor« – »dazwischen« – »danach«

geschrieben.3 Dinge verweisen zudem auf etwas, »das augenblicklich nicht da ist«.4 Sie können im Zuge eines argumentativen Zusammenhangs eine historische Zeugnis-, Beleg- und Beweisfunktion einnehmen, sie können aber auch als Zeitkapseln fungieren, die die Betrachter:innen zunächst einmal in eine unbekannte Vergangenheit zurückwerfen. Viel kommt auf Kontextualisierung, Kontextwissen und Erzählstrategien an, um Dingen privilegierte Bedeutungen zuzuweisen. Neben ihrer historischen Bedeutung als Zeugen repräsentieren Dinge im Museum als Exemplar eine bestimmte Serie oder einen bestimmten Typ, als Werk eine individuelle und historisch kontextualisierbare Leistung.5 Diese Funktion als Bedeutungsträger wird durch das Kuratieren, die Kontextualisierung, den Blick und durch Sprache und Erzählung hergestellt. Die Dinge sind Teil einer Wissensproduktion, die das Museum aber nicht komplett einhegen kann, wie vielfach beschrieben worden ist: Sobald die Dinge in eine Sammlung kommen, werden sie, so der bekannte Ausdruck von Pomian, zu »Semiophoren«, zu mehrdeutigen Bedeutungsträgern, die vielfältig dechiffriert und in unterschiedliche Sprachen übersetzt werden können. Werden sie in einer Ausstellung ­präsentiert, korrespondieren die mit Bedeutung aufgeladenen Dinge zudem »mit anderen (sichtbaren oder unsichtbaren) Objekten«.6 Mit dieser prinzipiellen Bedeutungsoffenheit, die Assoziationen und Konnotationen geradezu aktiviert, kann im musealen Rahmen und Raum gespielt werden, und doch wird sie immer auch eingeschränkt: durch die Auswahl und Aufnahme von Dingen in eine Sammlung, durch ihre Analyse im Rahmen der Forschung, ihre Auswahl für eine Ausstellung, durch die Intention und Interpretationsangebote der Kurator:innen und durch die Autorität der Institution Museum, die etwas – gegebenenfalls sogar ­Werte – vermitteln will.

3 Gottfried Korff, Dinge: unsäglich kultiviert. Notizen zur volkskundlichen Sach­ kulturforschung, in: Franz Grieshofer / Margot Schindler (Hg.), Netzwerk Volkskunde. Ideen und Wege (Sonderschriften des Vereins für Volkskunde in Wien, 4), Wien 1999, S. 273-290; siehe dazu auch ders., Vom Verlangen, Bedeutung zu sehen, in: Ulrich Borsdorf / Heinrich Theodor Grütter / Jörn Rüsen (Hg.), Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 81-104. 4 Pomian, Der Ursprung des Museums, S. 84. 5 Thomas Thiemeyer, Werk, Exemplar, Zeuge. Die multiplen Authentizitäten der Museumsdinge, in: Martin Sabrow / Achim Saupe (Hg.), Historische Authentizität, 2. Aufl., Göttingen 2019, S. 80-90. 6 Anke te Heesen, Exponat, in: Heike Gfrereis / Thomas Thiemeyer / Bernhard Tscho­ fen (Hg.), Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen 2015, S. 33-44, hier S. 35. 11

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Ein anderer Pfad der Wertebildung und Wertediskussion ist sicherlich im Bereich der gesellschaftlichen Optimierung des Museums zu sehen. In der Beschäftigung mit Leitbildern und der Verständigung über die Aufgabe von Museen hat spätestens seit der Jahrtausendwende auch in Deutschland eine Diskussion über die gesellschaftliche Relevanz von Museen begonnen, in der auch der Bezug auf Werte immer wieder betont wird. Fördern sollen Museen »Aufgeschlossenheit, Toleranz und den gesellschaftlichen Austausch«, heißt es etwa 2006 in einer Broschüre des Deutschen Museumsbundes: »Sie sind der Beachtung und Ver­breitung der Menschenrechte – insbesondere des Rechts auf Bildung und Er­ ziehung – sowie der daraus abzuleitenden gesellschaftlichen Werte ver­ pflichtet.«7 Offengelassen wird freilich, welche Werte das neben den genannten Kommunikationsidealen sein könnten, auch wenn sie von Museumstyp zu Museumstyp verschieden sein mögen.8 Ihre gesellschaftliche Aufgabe definieren die Museen aber auch dadurch, dass sie »sich nicht auf die historische Rückschau« beschränken, sondern »die Aus­ einandersetzung mit der Geschichte als Herausforderung für die Gegenwart und die Zukunft« begreifen. Der Prozess der Musealisierung, der seit den 1980er Jahren eine so ausgreifende gesellschaftliche Dominanz gewonnen hat, soll hier zur Selbstreflexion anregen. Unterstellt wird dabei implizit, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte zu einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess führt. Inwertsetzung und Werte Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge beschäftigen sich mit Wertvorstellungen, die die Arbeit in Museen und museologischen Einrichtungen konturieren, sowie mit Bewertungskriterien und Inwert­ setzungspraxen in Prozessen der Musealisierung. Auch wenn die Frage nach dem Wert musealer Dinge, der Schaffung von Bedeutung, sowie den Werten im Museum immer wieder eine wichtige Rolle in der Forschung spielt, so ist dies noch nicht systematisch erörtert worden. Diesen Anspruch kann auch dieser Band nicht erfüllen, und so versteht er sich als eine erste interdisziplinäre Exploration des Themas im Museums­ 7 Deutscher Museumsbund (Hg.), Standards für Museen, Kassel / Berlin 2006, S. 6. 8 Das ist auch eine durchaus folgerichtige Konsequenz pluralistisch verfasster Gesellschaften und ihrer Institutionen: Man beschwört Werte, klammert aber aus, welche politischen kulturellen Werte das genau sein könnten. Der Tendenz nach sind Werte dann »catch all«-Begriffe, auf die sich größere Mehrheiten verständigen können, etwa: demokratische Werte. 12

»davor« – »dazwischen« – »danach«

bereich, die Forschungsperspektiven eröffnen soll. Dabei ist der Begriff der Inwertsetzung, mit dem wir operieren, im Museumskontext schwierig zu definieren. Als allgemeine Ausgangsdefinition schlagen wir vor, ihn als eine Form der Bedeutungsgenerierung zu verstehen, der einen Mehrwert durch verschiedene Praktiken des Wertens und Bewertens schafft: etwa durch die Auswahl und Aufnahme in eine Sammlung und durch wissenschaftliche, konservatorisch-restauratorische, kuratorische und ver­mittlungsbezogene Bearbeitung. So kann aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit dem Begriff der Inwertsetzung jenseits eines ­ökonomischen Blickwinkels gearbeitet werden, etwa im Hinblick auf soziokulturelle Bewertungen und Inwertsetzungen von Ressourcen in vergangenen und rezenten Gesellschaften.9 Da der Inwertsetzungsbegriff aber oft genug in Verwertungskontexten genutzt wird – etwa in der städte­baulichen Sanierung –, impliziert er auch, dass in diesem Prozess ein Kapital, gegebenenfalls sogar ein ökonomischer Wert, geschaffen wird, den das Ding in dieser Form vorher nicht besessen hat und es prinzipiell verwertbar macht. Zu den klassischen, aktuell brüchiger werdenden Definitionen des Museums gehört freilich, dass sie gemeinwohlorientiert sind und nicht gewinnorientiert arbeiten. Durch die Verwandlung von alltäglichen, aber als besonders typisch und charakteristisch gewürdigten Dingen in museale Objekte kann das Museum den Wert der Dinge, die noch keine Musealisierung erfahren haben, steigern. Im Rahmen der Kunst ist das ganz offensichtlich,10 im Rahmen von anderen Sammlungsgütern ist dieser Prozess eher auf dem Feld des kulturellen und symbolischen als des ökonomischen Kapitals angesiedelt. Ausgestellte Museumsdinge und die Museen als Institutionen bieten kulturelles und symbolisches Kapital, und das macht sie werthaltig: Ihre Konsumption verspricht Bildung, Anerkennung und Distinktion, investiert wird Zeit, die sich auch bezahlt machen soll.11 Auch der Wert-Begriff ist äußerst schillernd. Unterscheiden kann man zunächst ganz basal zwischen dem Wert einer Sache und der Bewertung 9 Siehe beispielsweise Beiträge in Tobias Schade u. a. (Hg.), Exploring Resources. On Cultural, Spatial and Temporal Dimensions of ResourceCultures, Tübingen 2021. 10 Siehe dazu den Beitrag von Michael Hutter in diesem Band sowie Michael Hutter / David Throsby (Hg.), Beyond price. Value in Culture, Economics, and the Arts, Cambridge 2008. 11 Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, in: ders., Die verborgenen Mechanismen der Macht. Aus dem Französischen von Jürgen Bolder unter Mitarbeit von Ulrike Nordmann u. a., Hamburg 1992, S. 49-80; ders., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a. M. 1982. 13

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einer Sache, zwischen der Bestimmung des Wertes und den Praktiken des Bewertens.12 Dabei ist der Wert zugeschrieben und nicht im Sinne einer »objektiven Werthaltigkeit« zu verstehen.13 Kulturelle Werte basieren darüber hinaus auf intersubjektiv geteilter Wertschätzung, die auf viel­ fältige Praxen des Bewertens zurückgeht: Wertungen sind bedürfnisgebunden; der Wertende verleiht den Dingen ihren Wert, je nach seinen Umständen. Werte sind nichts, was dem Bewerten vorausgeht, sondern etwas, was aus dem Bewerten hervorgeht. Werte sind nicht vorausgesetzt, sondern abgeleitet. Sie sind nicht die Prämissen, sondern die Resultate des Bewertens.14 Nicht nur materielle und immaterielle Dinge können dabei einen soziokulturellen Wert erhalten,15 sondern auch Vergangenheit(en) selbst. Eine kulturwissenschaftlich-interdisziplinäre, auf die Geschichtskultur bezogene Erforschung von Wertperspektiven steht jedenfalls erst am Anfang: Sie muss die reichhaltige internationale Forschung über »cultural values« und »cultural property«16 einbeziehen und dabei zugleich beachten, dass der ökonomische Druck auf die Museen ebenso wie der Versuch ihrer kulturellen und geschichtskulturellen Instrumentalisierung gerade in inter­nationaler Perspektive ungleich höher ist, als dies in der Bundes­ republik der Fall ist. Umgesetzt werden soll dies im Rahmen eines neuen Leibniz-Forschungs­ verbunds zum »Wert der Vergangenheit«, der seit September 2021 die Arbeiten des Leibniz-Forschungsverbunds »Historische Authentizität« fortführt.17 Grundsätzlich geht es dem Verbund um die Werte, die Gesellschaften der Vergangenheit als solcher zuschreiben. Untersucht werden sollen in diesem Zusammenhang Wertbildungsprozesse ebenso wie Wertekonkurrenzen, um die Deutungsmacht von Werten, aber auch 12 Anne K. Krüger, Soziologie des Wertens und Bewertens, Bielefeld 2022. 13 Vgl. Martin Sabrow, Der Wert der Vergangenheit, in: ders. (Hg.), Der Wert der Vergangenheit, Leipzig 2021, S. 9-25, hier S. 11. 14 Andreas Urs Sommer, Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt, Stuttgart 2016, S. 16. 15 Hier sei auf den SFB 1070 RessourcenKulturen an der Universität Tübingen verwiesen, wo in interdisziplinären Projekten zu Ressourcen und ihren Bewertungen in Zeit, Raum und Vorstellungen geforscht wurde und wird: www.sfb1070.unituebingen.de [Abruf: 23. 6. 2022]. 16 Regina Bendix, Culture and Value. Tourism, Heritage, and Property. Bloomington 2018; dies. / Stefan Groth / Achim Spiller (Hg.), Kultur als Eigentum. Instrumente, Querschnitte und Fallstudien, Göttingen 2015. 17 Siehe zum Programm des Leibniz Forschungsverbunds »Wert der Vergangenheit« die Homepage www.leibniz-wert-der-vergangenheit.de [Abruf: 12. 2. 2022]. 14

»davor« – »dazwischen« – »danach«

deren wandelbare Geschichtlichkeit zu untersuchen. »Werte« werden dabei zunächst als kommunikative Konstrukte und »regulative Fiktio­ nen«18 verstanden, die »Unverbundenes miteinander« verbinden und Identifikationsangebote machen.19 Dadurch schaffen sie Sinnangebote bzw. formulieren einen »Selbstwert« – sowohl für Individuen als auch für soziale Gruppen und Gesellschaften – und zollen der gegenwärtigen Wertepluralität Rechnung. Dabei kann der vielschichtige und vieldeutige Begriff des Wertes als Aushandlungsprodukt sozialer Beziehungen verstanden werden, denn Werte beanspruchen immer intersubjektive Geltung. Der Wert der Vergangenheit im engeren Sinne bezeichnet dabei zum einen den Stellenwert der Vergangenheit gegenüber Gegenwart und Zukunft ebenso wie die Beziehung und Priorisierung unterschiedlicher Epochen und Ereignis­ zusammenhänge zueinander. Der Wert der Vergangenheit zielt zweitens auf den Orientierungswert, den Gesellschaften in ihrem Rückbezug auf Vergangenheit dieser für den Weg in die Zukunft beimessen. Drittens umfasst der Wert der Vergangenheit als Wertehaushalt die historisch fundierten Grundüberzeugungen einer Gesellschaft oder unterschiedlicher Gruppen und Milieus. Historisch begründete Werte berufen sich auf die Aspekte der Ver­ gangenheit, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Anerkennung als kulturelles Erbe ausgezeichnet werden – seien es Dinge, Traditionen oder Ideen. Sie definieren wie alle Werte Zugehörigkeit und Fremdheit, ­ Gleichheit und Differenz, sie wirken gemeinschaftsbildend und zugleich abgrenzend. Historisch grundierte Wertedebatten verhandeln Exklusion und Inklusion und stellen eine feste diskursive und handlungsanleitende Größe im Ringen um gesellschaftlichen Zusammenhalt dar. Es kann davon ausgegangen werden, dass Aushandlungsprozesse über den Wert der Vergangenheit insbesondere in Zeiten politischer Um­ brüche, Transformationen und Krisen eine herausragende Rolle spielen. Das Ziel des vorliegenden Bandes ist es, die kulturellen und materiellen Dimensionen von vergangenheitsbezogenen Inwertsetzungspraxen im Museum und in museologischen Einrichtungen in den Blick zu nehmen. Dabei ist es das Anliegen, ein differenziertes Verständnis für frühere und gegenwärtige Praxen des Bewertens, Umwertens, Aufwertens, Ent­wertens und Verwertens von Dingen und Vergangenheit im Musealisierungs­ prozess und die ihnen zugrundeliegenden Sinnwelten und Geltungs­ horizonte zu gewinnen. 18 Sommer, Werte, S. 141. 19 Ebd. 15

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Werte, Inwertsetzung und Museum Zu den wesentlichen Akteuren kultureller und gesellschaftlicher Wertund damit auch Identitätsbildung zählen sicherlich Museen sowie museo­ logische Einrichtungen und die Museumsverbände. Mit der interdisziplinären Untersuchung der Zuschreibung von Werten an die Vergangenheit und Prozessen ihrer Bewertung, Umwertung, Entwertung und Inwertsetzung im Bereich des Museums und museologischer Einrichtungen betritt das Publikationsvorhaben Neuland. Der Band will insofern dazu anregen, über Kriterien und Praktiken, aber auch dem Museum zu­ gesprochene Funktionen nachzudenken, die relevant sind, damit Werte in Museen Geltung erlangen. Eine Orientierung an Wertparametern ist in den historisch arbeitenden Disziplinen insbesondere in der Denkmalpflege reflektiert worden, wenn es etwa um die Bewahrung, Konservierung, Restaurierung und auch Rekonstruktion von Vergangenheitszeugnissen geht. Hier werden denkmalpflegerische Maßnahmen etwa vor dem Hintergrund vom Alters-, Kunst-, Erinnerungs-, Identitäts-, Alteritäts- und Streitwert begründet.20 In den transnationalen Debatten rund um das UNESCO -Welterbe, das den »outstanding universal value« zur Voraussetzung für die Auszeichnung von Kultur- und Naturerbe macht, wurden die entsprechenden Kriterien fortwährend evaluiert, kritisiert, aber auch reformuliert.21 Im Bereich des Museums und der Museologie werden – wie schon dargestellt – Wertdimensionen und -hierarchien musealer Objekte im Kontext der Frage reflektiert, wie aus Überresten Museumsstücke mit 20 Zum »Alterswert« siehe Alois Riegl, Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung, Wien / Leipzig 1903, zum »Streitwert« von Objekten der Denkmalpflege: Gabi Dolff-Bonekämper, Gegenwartswerte. Für eine Erneuerung von Alois Riegls Denkmalwerttheorie, in: Hans-Rudolf Meier / Ingrid Scheurmann (Hg.), DENK malWERTE . Beiträge zur Theorie und Aktualität der Denkmal­ pflege. Georg Mörsch zum 70. Geburtstag, München 2010, S. 27-40; zur wandelbaren Matrix der Werte in der Denkmalpflege insgesamt: Hans-Rudolf Meier / Ingrid Scheurmann / Wolfgang Sonne (Hg.), Werte. Begründungen der Denkmalpflege in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2013. 21 Jukka Jokilehto, The World Heritage List. What is OUV ? Defining the Outstan�ding Universal Value of Cultural World Heritage Properties, Berlin 2008; Sophia Labadi, UNESCO, Cultural Heritage, and Outstanding Universal Value. Valuebased Analyses of the World Heritage and Intangible Cultural Heritage Conven� tions, Lanham 2013; Tanja Vahtikari, Valuing World Heritage Cities, New York 2017; Corinne Geering, Building a Common Past. World Heritage in Russia under Transformation, 1965-2000, Göttingen 2019; Andrea Rehling, Natur- und Kulturerbe, in: Martin Sabrow / Achim Saupe (Hg.), Handbuch Historische Authentizität, Göttingen 2022, S. 269-278. 16

»davor« – »dazwischen« – »danach«

besonderem kulturellen Wert werden.22 Insbesondere die bereits an­ gesprochene Diskussion um Leitbilder für Museen, in denen nicht nur Zweck und Auftrag, sondern »leitende Werte und gesellschaftliche Funktion des Museums«23 herausgestellt werden sollen, hat den Diskurs um die gesellschaftliche, d. h. auch wertbezogene Verantwortung des Museums befördert. Neben der Wertevermittlung, die Museen und museologische Einrichtungen intendieren, geht es darum, welche Werte Dinge repräsentieren können. Fest steht, dass Musealisierungprozesse selektiv sind und die im Museum und in museologischen Einrichtungen zu betrachtenden Dinge allenfalls einen Ausschnitt vergangener Wirklichkeiten repräsentieren. Sinn gewinnen die Dinge, indem sie vielfach zueinander in Bezug gesetzt werden, und durch Erzählungen, die das Museum anbieten kann, die aber auch schon in der Gesellschaft als Deutungsangebot vorhanden sind und von den Besucher:innen mitgebracht werden. Insofern unterliegt jede Sinnaufladung der Dinge einem stetigen Wandel, wie schlaglicht­ artig die Neubewertung von Dingen im Zuge postkolonialer Perspektiven und die Wiedergutmachungs- und Restitutionsdebatten zeigen.24 Während sich der Wert musealer und musealisierter Objekte – neben ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Aufladung – nicht zuletzt dadurch konstituiert, dass sie dem Markt bzw. ihren originären Funktionszusammenhängen entzogen werden, führen parallele Prozesse der Inwert­ setzung von Vergangenheit zu ihrer Kommodifizierung, etwa in der Stadt- und Regionalentwicklung oder im Geschichts- und Welterbe­ tourismus.25 Museen spielen im Kontext dieses Strukturwandels auch insofern eine Rolle, als sie einerseits helfen, den sozialen Wandel abzu­ federn, andererseits kulturelles Kapital bereitstellen, das in neue Wertschöpfungsketten eingebunden werden kann. Diese Gemengelage stellt für Museen eine Herausforderung dar: Da sie sich ihrem Selbstverständnis entsprechend nicht der ökonomischen Verwertung andienen sollen, 22 Regine Falkenber / Thomas Jander (Hg.), Assessment of Significance. Deuten – Bedeuten – Umdeuten, Berlin 2018; James Clifford, Sich selbst sammeln, in: Gott­ fried Korff / Martin Roth (Hg.), Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt a. M. 1990, S. 87-106; Arjun Appadurai (Hg.), The ­Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986. 23 Deutscher Museumbund e. V. gemeinsam mit ICOM-Deutschland, Standards für Museen, Kassel / Berlin 2006, S. 6 und 9. 24 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy, Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin 2019; Götz Aly, Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten, Frankfurt a. M. 2021. 25 Vgl. hierzu bereits klassisch: David Lowenthal, The Past is a Foreign Country, Cambridge 1985; John Urry, The Tourist Gaze 3.0, 3. Aufl., London 2011. 17

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müssen sie ihren Ort und ihren Einfluss in den neuen Wertschöpfungsketten kritisch reflektieren. Wie kann man nun den Wert der Dinge im Museum analytisch näher fassen? In Analogie zu den Theoremen der Denkmalpflege kann man zum einen versuchen, ihren historischen Wert näher zu bestimmen: ­Neben einem wissenschaftlichen Quellenwert kann man dann einen historischen Zeugniswert, einen besonderen Alterswert, einen kulturellen Überlieferungswert oder einen besonderen gesellschaftlichen, gruppen­ spezifischen und (inter-)subjektiven Erinnerungs- und Streitwert in den Blick nehmen.26 Diese unterschiedlichen Wertzuschreibungen implizieren unterschiedliche Temporalitäten: [D]er historische Wert rekurriert eher auf vergangene Ereignisse und ihre Bedeutung in der Gegenwart, der Alterswert betont das Gewordene und Vergehende, der Überlieferungswert die Tradition und das Traditionale, der Erinnerungs- und Streitwert die eher kurze Distanz zwischen drei oder vier Generationen, wobei letzterer durch die Brisanz und unterschiedliche Einschätzung der Vergangenheit bestimmt ist.27 Zudem werden im Museum zahlreiche weitere, kollektive und individuelle, Wertdimensionen relevant: ästhetischer, künstlerischer, politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, technologischer, sozialer, emotio­ naler und religiöser Wert sind hier zu nennen, aber auch der einstmalige Gebrauchswert und die vergangene persönliche Wertschätzung bestimmter Dinge. Dabei handelt es sich insgesamt um Werte, die den Dingen durch Akteure, Gruppen und Milieus aus verschiedenen Perspektiven (etwa regional, national, global usw.) zugeschrieben werden. Dieser zu­ geschriebene Wert ändert sich im Zuge wandelnder Kontexte und Umstände, und dass diese unterschiedlichen Wertzuschreibungen überhaupt möglich sind, begründet sich aus der eingangs hervorgehobenen Charakteristik musealer Dinge als Semiophoren.28

26 Siehe u. a. Chiara de Cesari / Rozita Dimova, Heritage, gentrification, participation: remaking urban landscapes in the name of culture and historic preservation, in: International Journal of Heritage Studies 25 /9 (2019), S. 863-869; Robert Shepherd, Commodification, culture and tourism, in: Tourist Studies 2 /2 (2002), S. 183-201. 27 Achim Saupe, Weitergabe und Wiedergabe. Neue Perspektiven auf Tradierungsprozesse, in: ders. / Stefanie Samida (Hg.), Weitergabe und Wiedergabe. Dimen­ sionen des Authentischen im Umgang mit immateriellem Kulturerbe, Göttingen 2021, S. 17-35, hier S. 27. 28 Pomian, Der Ursprung des Museums. 18

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Alte Dinge – Neue Werte Die Dinge im Museum sind nicht mehr die Dinge, die sie waren, bevor sie in das Museum kamen. Dabei ist die »Verwandlung der Dinge in kulturelle Objekte«29 und Transformation der Dinge durch Prozesse und Praxen der Musealisierung und Inwertsetzung vielschichtig: Dinge werden ihrem gesellschaftlich-lebensweltlichen Umfeld ebenso wie ihrem ökonomischen Kreislauf entzogen und kulturell neu aufgeladen. Nicht mehr vorrangig ihr ehemaliger Gebrauchswert, ihr politischer oder gesellschaftlicher Wert, ihr religiöser oder ökonomischer Wert – sondern der wissenschaftliche, kulturelle, ästhetische und insbesondere histo­ rische (Symbol-)Wert für Gegenwart und Zukünfte erscheint nun bedeutsam. Diese Transformation verleiht ihnen einen neuen Charakter, etwa wenn sie als Werk, Zeugnis oder Exemplar unterschiedliche argumentative Funktionen zugewiesen bekommen.30 Dieser »neue Wert« der »alten Dinge« muss oft erst konservatorisch, ästhetisch und intellektuell herausgearbeitet und hergestellt werden, damit die Dinge – seien es nun Kunstwerke oder Alltagsgegenstände – in einer Ausstellung als »Originale« oder »Meisterwerke« wirken können. Ebenso gilt dies für Kopien, Rekonstruktionen, Digitalisate oder son­stige Substi­ tute und Simulationen. Diese Transformation wird auch beeinflusst durch Sammlungskonzepte und Sammlungsklassifikation, Restaurierung, Präpa­ rierung, Konservierung und Digitalisierung sowie auch die Einordnung in das Ausstellungsnarrativ und durch die musealen Bedeutungszuweisungen. Durch diese bewahrende Wertschätzung können auserwählte Dinge zugleich ikonisiert und kanonisiert werden, was – wie angedeutet – dann Ausgangspunkt für ihre ökonomische (Neu-)Aufwertung auch außerhalb des Museums sein kann. Diese Prozesse zeugen zum einen von der gesellschaftlichen und historischen Relevanz, die den Dingen zugeschrieben wird, andererseits sind sie zugleich mit gesellschaftlichen und politischen Anerkennungsfragen und ethischen Problemen verbunden. Generell lässt sich deshalb fragen, welche Werte und Formen der Wert­ bildung uns im Museum und in museologischen Einrichtungen begegnen. Verbunden ist das mit der machtkritischen und politischen Frage, welche Akteure durch die Auswahl der Dinge überhaupt als gesellschaftlich 29 Andreas Ludwig, Geschichte ohne Dinge? Materielle Kultur zwischen Beiläufigkeit und Quelle, in: Historische Anthropologie 23 /3 (2015), S. 431-445; ders., Mat­ erielle Kultur, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 1. 10. 2020, http://doc upedia.de/zg/Ludwig_materielle_kultur_v2_de_2020 [Abruf: 31. 5. 2022]. 30 Thiemeyer, Werk, Exemplar, Zeuge; ders., Museum, in: Sabrow / Saupe (Hg.), Handbuch Historische Authentizität, S. 309-320. 19

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r­ elevant markiert werden und welche Formen von Exklusion und Inklusion über Sammlungsprozesse stattfinden. Hinsichtlich der Neubewertung von Dingen interessiert, was überhaupt Prozesse der Umwertung auslöst, die zu einer institutionellen oder kulturellen Musealisierung oder einer Neuinterpretation führen. Ausgehend von der Annahme, dass dies mit neuen gesellschaftlichen Akteuren verbunden ist, fragt es sich, wer an den Diskursen der Inwertsetzung und Neubewertung überhaupt beteiligt ist. Dabei muss sich das Augenmerk nicht allein auf Debattenbeiträge, Infragestellungen und Forderungskataloge richten, son­ dern auch die Praktiken berücksichtigen, mit denen Wert hergestellt wird. Wenn über Wert gesprochen wird, dann darf der Tauschwert der ­Dinge nicht fehlen. Welche Bedeutung hat also der monetäre Wert der Dinge für die jeweiligen Praxen der kulturellen Inwertsetzung? Welchen hat er für private Sammler:innen, welchen für Museen? Dabei ist einerseits an den Kunstmarkt und an Kunstmuseen zu denken, die eine Sonder­ rolle einnehmen, aber auch an Design-Museen und Liebhaber-Museen, die sich auf bestimmte Dinge der Warenkultur spezialisiert haben: etwa Museen für Schallplatten oder für Motorräder. Jedenfalls scheint der Wert der Dinge – nochmals an Pierre Bourdieus Beschäftigung mit dem kulturellen Kapital erinnernd – im Hinblick auf Kunstmuseen besser untersucht zu sein, als das für kulturgeschichtliche oder naturkund­liche Museen der Fall ist. Tendenziell kann man aber festhalten, dass das, was in prominenten Museen gesammelt wird, auch außerhalb des engeren Feldes auf Interesse stößt, Marktwert schafft und insofern Distinktion verspricht. Stationen der Inwertsetzung Ziel des Bandes ist es, den Prozess der Inwertsetzung und damit auch der Be­wertung, Umwertung, Entwertung, Aufwertung, Neubewertung und Ver­wertung näher zu beschreiben und die dahinterstehenden Entscheidungs­ prozesse der beteiligten Akteure zu analysieren. Dabei ist es das verbindende Konzept der Publikation, Stationen der Inwertsetzung »alter Dinge« anhand der drei idealtypisch und heuristisch konzipierten Begriffe des »Davor«, »Dazwischen« und »Danach« sowie die damit im Fol­genden näher dargelegten zusammenhängenden Fragenkomplexe zu analysieren. In den Blick geraten somit Prozesse und Praktiken, Strukturen und Hintergründe, akteursbezogene Anforderungen und (Sach-)Zwänge sowie auch Innovationen beispielsweise im Feld der Erschließung und Konservierung und neue (Forschungs-)Erkenntnisse. 20

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»Davor« Mit dem Topos des »Davor« soll gemeint sein, dass die Dinge (neu)­ entdeckt, (neu)verhandelt und (neu)bewertet werden. Dabei unterliegen diese Prozesse gesellschaftlichen Diskursen, politischen sowie ökonomischen Interessen, neuen wissenschaftlichen Fragestellungen, musealen Vor­ gaben und nicht zuletzt alltagspraktischen Entscheidungen. Das »Davor« adressiert also vornehmlich Dinge, die ganz neu und vielleicht erstmals in Betracht gezogen werden. In den Blick geraten hier aber nicht nur Sammlungsstrategien, sondern auch Prozesse der De- und Re-Musealisierung: So können Paradigmenwandel dazu führen, dass »alte Dinge« ­ihren eingenommenen Platz verlieren, ent-musealisiert werden und andere Dinge an ihre Stelle treten. Ähnliches gilt auch für die Er­neuerung von existierenden Dauerausstellungen, die i. d. R. nach we­nigen Jahrzehnten als veraltet gelten. Für das »Davor« scheinen insbesondere nachstehende Diskurse, Prozesse sowie Phänomene und die mit ihnen verbundenen Fragen prägend zu sein: Das institutionelle Selbstverständnis von Museen unterliegt historisch erheblichen Schwankungen: sie verstehen sich als Bildungseinrichtungen und Wissensproduzenten, oder als Ort der Identitätsstiftung und Selbstversicherung, der kritischen Reflexion und politischen Demokratisierung. Die jeweils als »gültig« erachtete Definition übt erheblichen Einfluss darauf aus, welche Dinge im »Davor« wie wertgeschätzt und bewertet werden. Gleiches gilt für durch Paradigmenwandel ausgelöste institutionelle Neuverortungen.31 Bezogen auf Dinge der Alltagswelt, kann das »Davor« an die Kern­these der »Mülltheorie«32 von Michael Thompson anschließen, nach der Dinge, die ihres Gebrauchswertes verlustig gingen, zunächst in eine Latenzphase geraten und teils völlig entwertet sind, »bevor ihr kultureller Wert identifiziert wird [und] sie […] für das Museum relevant werden«.33 Angesprochen sind damit aber auch generelle Fragen nach der Sammlungspolitik, mithin der Auswahl der Dinge: Wird exemplarisch gesammelt, 31 Siehe den Beitrag von Thomas Thiemeyer in diesem Band sowie ders., Politisch oder nicht: Was ist ein Museum im 21. Jahrhundert? in: Blätter für deutsche und internationale Politik 64 /10 (2019), S. 113-123. 32 Michael Thompson, Rubbish Theory. The Creation and Destruction of Value. With a Foreword by E. C. Zeeman, Oxford 1979 (dt.: Müll-Theorie. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten. Neu herausgegeben von Michael Fehr. Aus dem Englischen übersetzt von Klaus Schomburg, Essen 2003). 33 Ludwig, Materielle Kultur. 21

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bestimmt ein der Vergangenheit zugeschriebener Wert oder aber die »Brille« der Gegenwart die Auswahl – und was heißt es überhaupt, für die Zukunft zu sammeln? Problematisch ist dabei für die Analyse, dass Sammlungskriterien und Auswahlentscheidungen oft kaum dokumentiert sind bzw. aus Sammlungserweiterungen heraus rekonstruiert werden müssen. »Dazwischen« Im »Dazwischen« der Dinge werden wissenschaftliche und kuratorische Praktiken deutlich. Durch Präparation, Restaurierungs- und Konser­ vierungstechniken, die wissenschaftliche Erforschung der Objekte, aber auch durch neue Ausstellungskonzepte, die Weiterentwicklung von Narrativen sowie die Erarbeitung von neuen Vermittlungsstrategien werden Dinge in Wert gesetzt und inszeniert. In diesem Stadium der DingTransformation bestimmt ein umfassendes, alle Sinne ansprechendes Anliegen die museale Arbeit, indem affektive, kognitive und physische Momente der Begegnung mit komplexen Ding-Arrangements (historisches) Lernen ermöglichen sollen. Zudem fragt es sich in der konkreten Museumsarbeit, ob mit ein und demselben Ding unterschiedliche Werthorizonte angesprochen bzw. sicht­ bar gemacht werden können und eine fruchtbare Debatte entzündet werden kann. Vor dem Hintergrund der materiellen Verfasstheit der Dinge stellt sich nun die Frage, ob es im Hinblick auf den museal kon­ struierten bzw. festgelegten Wert einen Unterschied macht, Originale, Kopien oder Rekonstruktionen auszustellen. Welche Bedeutung kommt insofern immersiven Medien, wie VR , AR , MR , multimodalen Erfahrungen und Erlebnissen sowie »klassischen« Vermittlungsstrategien zu? Oder kurzum: Wie werden Dinge in ihrer Materialität (neu) erfahrbar gemacht? Und ändert sich damit ihre Wertschätzung? Das »Dazwischen« legt auch die Frage nahe, wie und wann neue Ausstellungskonzeptionen und Museumsnarrative entstehen.34 Im Detail ist zu klären, inwieweit die Gegenwart und ihre Deutungsmuster und Erzählungen die Deutung der Dinge vorstrukturieren, wenn nicht sogar vorgeben. Museen verstehen sich als Institutionen, die Wissenschaftlichkeit, Glaubwürdigkeit und Authentizität verbinden.35 Doch wie verhalten sich 34 Vgl. den Beitrag von Jana Hawig in diesem Buch. 35 Thomas Eser u. a. (Hg.), Authentisierung im Museum: Ein Werkstatt-Bericht, Heidelberg 2017; Dominik Kimmel  / Stefan Brüggerhoff (Hg.), Museen – Orte des 22

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diese Faktoren im Prozess des »Dazwischen«; oder konkret: Wie werden unterschiedliche Intentionen und Vermittlungsabsichten – etwa zwischen den beteiligten Wissenschaftler:innen und Kurator:innen – moderiert und harmonisiert? Trotz Leitbildern und Ausstellungskonzeptionen bestimmt dabei auch der Eigensinn musealer Akteure die Inwertsetzung und Bedeutungszuweisung im Museum. So müssen nicht nur Paradigmen­ wechsel in den Blick genommen werden, die zu Neuinterpretationen führen können, sondern auch personelle Wechsel und Dispositionen der Beteiligten. Und wie sieht es mit den Besucher:innen aus: können auch sie schon frühzeitig in Wertbildungsprozesse eingebunden werden und diese dann auch beeinflussen? Das »Dazwischen« bestimmt sich hier zunächst aus der musealen Perspektive, indem die museumsspezifischen Arbeits- und Bearbeitungsschritte beim Umgang mit der materiellen Kultur zur Grundlage gemacht werden. Zudem kann das »Dazwischen« nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich und intersubjektiv verstanden werden: dann nämlich, wenn zwischen dem expositorischen Akteur – also allen be­ teiligten Akteuren und Institutionen der Musealisierung – und den Besucher:innen ein neuer Aushandlungsraum – ein third space 36 – entsteht, in dem Neubewertungsprozesse zumindest dem Anspruch nach diskutiert, erprobt und ermöglicht werden.37 »Danach« Das »Danach« der Dinge meint das Stadium, nachdem die Dinge in Wert gesetzt wurden. Den Dingen wurden neue Werte eingeschrieben: vielleicht erstmals museale Werte, oder aber in einem Prozess der Neu­ bewertung ein transformierter musealer und gesellschaftlicher Wert. Diese neuen Wertdimensionen werden von Museen kommuniziert. Wie sie dies tun, ist ein Analysefeld, dem sich die Beiträge in diesem Band aus unterschiedlicher Warte annähern. Im Prozess der Musealisierung wird jedenfalls eine Auswahl von Dingen ikonisiert und kanonisiert, nicht zuletzt, indem sie bisweilen Teil einer spätmodernen Event-, Pop- oder Authentischen? Museums – Places of Authenticity? Beiträge internationaler Fachtagungen des Leibniz-Forschungsverbundes Historische Authentizität in Mainz und Cambridge, Mainz 2020. 36 Dazu Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London / New York 1994; zur Rezeption siehe u. a. Philipp Schorch, Contact Zones, Third Spaces, and the Act of Interpretation, in: museum and society 11 /1 (2013), S. 68-81. 37 Vgl. dazu den Beitrag von Carla-Marinka Schorr in diesem Band. 23

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Verwertungskultur werden.38 Sie können zur Ware werden, in der sich ihre Re-Ökonomisierung manifestiert. Hier ist u. a. an das M ­ erchandise in Museums-Shops zu denken, an private und öffentliche Events in Ausstellungen, aber auch an Prozesse außerhalb von Museen, etwa in den (neuen sozialen) Medien. Was bedeuten Ikonisierung und Kanoni­ sierung, Eventisierung und Kommodifizierung aber für das »Original«, und verlieren die Ausstellungstücke in diesem Zuge an Deutungs- und Interpretationsgehalt?39 Und signalisiert die popkulturelle Verwertung von alten Dingen bereits neue Werte? So rücken im Stadium des »Danach« auch stärker die Besucher:innen in das Zentrum des Interesses der Museumsforschung: Welche Werte verbinden sie mit den ausgestellten Dingen und mit der Institution des Museums? Interessant wären hier sowohl die Ausrichtung auf Fragen der Vermittlung und damit gelingender Wissenschaftskommunikation als auch die Möglichkeit, auf solche intendierten und rezipierten Wert­ fragen einzugehen. Zu fragen wäre deshalb auch, wie die Besucher:innen auf neu eingeschriebene Werte reagieren, wenn alte Deutungsmuster von den Ausstellungsmacher:innen über Bord geworfen werden. Bleiben ­ältere Wertzuschreibungen noch sichtbar? Und will das Museum ggf. diesen Konflikt aktiv austragen, indem Debatten angestoßen werden? Fertige Ausstellungen und überarbeitete Dauerausstellungen werden oftmals kritisch diskutiert oder fordern selbst zur Kritik heraus. Nicht alle Kommentator:innen wird das Konzept, die Themenpräsentation, die Auswahl der Dinge überzeugen, wenn sie diese nicht sogar als ver­ schleiernd, affirmativ oder grundfalsch verwerfen. Wie politisch und kritisch das Museum sein soll, wird nicht nur im »Davor«, sondern auch im »Danach« diskutiert. Welche historische und gesellschaftliche Verantwortung kommt ihm zu? Welche Werte sollten vermittelt werden? Welche Interpretationsangebote können gemacht werden – und wie inter­ pretationsoffen soll das Museum bleiben? Was ist der Streitwert der Museumsdinge – und wie können sich Museen in diesem Streit positionieren, wenn sie sich nicht nur als Ort der Begegnung und des Disku­ tierens verstehen wollen? 38 Siehe den Beitrag von Michael Farrenkopf und Torsten Meyer in diesem Band. 39 Dies hat etwa die Denkmalpflege mit Bezug auf das industrielle Erbe diskutiert. Vgl. Hans Rudolf Meier / Marion Steiner, Denkmal – Erbe – Heritage: Begriffshorizonte am Beispiel der Industriekultur. Monument – Patrimony – Heritage: Industrial Heritage and the Horizons of Terminology, in: Simone Bogner u. a. (Hg.), Denkmal – Erbe – Heritage: Begriffshorizonte am Beispiel der Industrie­ kultur. Monument – Patrimony – Heritage: Industrial Heritage and the Horizons of Terminology, Holzminden 2018, S. 16-35. 24

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In der Neubewertung der Dinge liegt die Möglichkeit, sich vor dem Hintergrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und neu entwickelter, gesellschaftlich relevanter Interpretationshorizonte mit den alten Dingen zu beschäftigen. Das Stadium des »Danach« kann deshalb erhebliche politische Implikationen und Verwerfungen mit sich bringen, denn alte Dinge und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen treffen nun auf neue Deutungsmuster, ausgearbeitete Interpretationen und auf Prognosen, die ein Umdenken und Handeln zwingend erforderlich machen. Als Beispiele können etwa die beiden Wehrmachtsausstellungen40 dienen oder auch der Umgang mit ostdeutscher Kunst, der zu einem Kampf um Anerkennung ostdeutscher Lebensläufe und »Identität« wurde.41 Heute sind das insbesondere Debatten um eine notwendige postkoloniale Neuorientierung der Museen und die Restitution kolonialer Objekte. Aber auch die Debatte um das Anthropozän hat gesellschaftliche Sprengkraft, impliziert sie doch ein bewussteres ökologisches Handeln und eine radikale Wende im Umgang mit mineralischen Georessourcen. Schließlich wird gerade anhand der Politiken der Deutung, Re-Interpretation und (Neu-)Auswahl deutlich, dass der Prozess der Inwertsetzung im Zuge der Ent- und Re-Musealisierung von Dingen fluide ist und sich das »Danach« mit dem »Davor« vielfach verbindet und überschneidet. Insofern hat das Angebot, Inwertsetzungsprozesse idealtypisch in ­Phasen des »Davor – Dazwischen – Danach« einzuteilen, eine ausschließlich heuristische Funktion. Angefragt für jeweils bestimmte Felder bzw. Phasen der Inwertsetzung, hat sich aus Sicht der Autorinnen und Autoren ergeben, dass das attraktivste Feld jenes des »Dazwischen« ist, da sich mit diesem räumlichen, zeitlichen, aber auch intersubjektiv auszudeutenden Topos vielfältige Aushandlungsprozesse und Problem­ lagen im Museum besonders gut beschreiben lassen. Zu den Beiträgen dieses Bandes Daniel Hess beschäftigt sich in dem ersten Beitrag des Bandes mit der Frage, wie Museen auf die Kritik reagieren, dass ihre Sammlungen zum Teil als unzeitgemäß angesehen werden und so nicht mehr den Werten 40 Hannes Heer / Klaus Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Hamburg 1995; Christian Hartmann / Johannes Hürter / Ulrike Jureit (Hg.), Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, 2. Aufl., München 2014. 41 Anja Tack, Riss im Bild. Kunst und Künstler aus der DDR und die deutsche Vereinigung, Göttingen 2021. 25

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der Gegenwart entsprächen. Die Herausforderung bestehe heute darin, das Zusammenkommen der Sammlung zu erklären und zugleich das Museum als eine »Schule des Befremdens«,42 aber auch der kritischen Re-Lektüren zu verstehen: Keine Vergangenheit könne heutigen Interessen untergeordnet werden. Hess geht davon aus, dass das Unbehagen am kulturellen Erbe kein neues Phänomen sei, sondern letztlich Bestandteil jeder kulturellen Überlieferung. Mit einer kritischen Befragung von Objekten, hier aus den Beständen des Germanischen Nationalmuseums, sei es jedoch möglich, nicht nur ideologisch gefärbte Objektdeutungen vergangener Epochen zu dekonstruieren, sondern im Austausch mit ­einer Re-Lektüre von Sammlungsobjekten und ihrer Rezeption in der Vergangenheit die Verschiebung unserer heutigen Wertvorstellung zu reflektieren. Das zeigt sich auch an dem auf dem Buchumschlag ab­ gebildeten Behaim-Globus des an der portugiesischen Expansion des 15. Jahrhunderts beteiligten Nürnbergers Martin Behaim, auf den die weltweit älteste überlieferte Darstellung der Erde in Kugelform zurückgeht. Der Globus repräsentiert heute nicht mehr allein europäischen Wissensdrang, sondern eine Kartographierung der Welt aus eurozentristischer Perspektive und den Prozess der Kolonialisierung. Für Hess, der mit seinem Beitrag eine Neubewertung der »germanischen« Ausrichtung des Museums in europäischer Perspektive intendiert, folgt daraus, dass europäische Werte und Kultur auf Grenzüberschreitungen, auf Migra­ tion und Diversität, auf Wissens- und Technologieaustausch, aber ebenso auf Abgrenzung, Ausbeutung und Stigmatisierung beruhen. Für Hess sind es deshalb die stete Neubefragung von »alten Dingen« und die »Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit sich wandelnder Bedeutungszuschreibungen«, die zur Neujustierung von Werten wie Zugehörigkeit und Gleichheit, aber auch Differenz und Fremdheit führen können. Die Vergangenheit lasse sich, so Hess, nicht »moralisierend korrigieren« und der Prozess der Musealisierung nicht umkehren. Und so ließe sich auch ein solches Konstrukt wie Europa letztlich »nur als Museum« verstehen und damit als ein »Ort einer kontinuierlichen Begegnung und Ausein­ andersetzung mit Geschichte und Kultur«. Um die Werteorientierung von Museen generell geht es in dem Beitrag von Thomas Thiemeyer, der sich mit der noch anhaltenden Kontroverse über eine neue Museumsdefinition im ICOM beschäftigt. Der weitgehend neutralen Definition von 2007, die das Museum bestimmt als eine »gemeinnützige, auf Dauer angelegte, der Öffentlichkeit zugängliche 42 Peter Sloterdijk, Museum. Schule des Befremdens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Magazin vom 17. März 1989, S. 56-66. 26

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Einrichtung im Dienste der Gesellschaft und ihrer Entwicklung, die zum Zwecke des Studiums, der Bildung und des Erlebens materielle und immaterielle Zeugnisse von Menschen und ihrer Umwelt beschafft, ­ bewahrt, erforscht, bekannt macht und ausstellt«, sollte eine neue, ­ ­zukunftsorientierte und stärker ethisch ausgerichtete Vision gegenübergestellt werden, die zugleich ein postkoloniales Kulturverständnis und ein Eintreten für Diversität, Partizipation und Demokratisierung forderte. Kritiker sahen darin nicht nur die Autorität des Museums als Wissensproduzent gefährdet, sondern befürchteten, dass sich Regierungen außer­ halb der wohl­habenden, liberalen und demokratischen Gesellschaften auf eine solche Definition nicht einlassen würden. Thiemeyer selbst ­plädiert für eine Definition, die klar die Funktion des Museums umreißt, und für ein wertebasiertes Leitbild, das eine kontinuierliche Werte­ diskussion und gesellschaftliche Selbstverständigung im Museum ermöglicht. Andreas Ludwig beschäftigt sich mit der Frage, wie in unterschied­ lichen sammlungsbezogenen Kontexten Wert und Werte generiert werden – nämlich im Zuge des Sammelns von Gegenwart, von Alltag, durch Partizipation und im Rahmen der Neubewertung von bestehenden Sammlungen. Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob der Wert des Museums in der Sammlung, der Materialität der Dinge oder eher ­ ­in­stitutions- und vermittlungsabhängig gesehen wird. Im Hinblick auf museale Inwertsetzungsprozesse gehört das Sammeln zu den grundlegenden Aufgaben des Museums und ist Voraussetzung für die musealen Aufgaben des Bewahrens, Erforschens und Vermittelns. Im Prozess der Musealisierung erweist sich dieses »Davor« jedoch als idealtypische Einordnung, da es, so Ludwig, im selbstreflexiven Museum um eine »permanente Verschiebung und Neuordnung der Zeitdimensionen von Ver­ gangenheit, Gegenwart und Zukunft« geht. So tragen gerade fortgeführte Sammlungsinitiativen dazu bei, die Bedeutung der Vergangenheit zu ­reaktualisieren, sich aber zugleich auch über die Wirkung des Sammelns zu verständigen. Das heuristische Modell des »Davor«, »Dazwischen« und »Danach« ermöglicht es Ludwig darüber hinaus, die temporale Eigen­logik von musealen Sammlungen näher zu beschreiben, die über die materiellen und funktionalen Aspekte der Auseinandersetzung und Be­arbeitung der Objekte hinausgingen. Gerade das »Davor«, das Ludwig als »die Lebenswelt und deren Dingausstattung« bestimmt, und das »von den Zeitgenoss:innen ebenso wie von der Soziologie, der Konsum­ forschung, dem Abfallmanagement oder der Ethnographie wahrgenommen« wird, sei durch einen Zustand der Offenheit hinsichtlich mög­ licher musealer Inwertsetzungen geprägt. Ludwig plädiert in diesem 27

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Rahmen für eine transparente Kommunikation jener Entscheidungs­ prozesse, die die Übernahme von Objekten ins Museum betreffen, auch um Wertbildungen und die damit zusammenhängenden Inklusions- und Exklusionsprozesse später besser nachvollziehen zu können. Der Beitrag von Michael Farrenkopf und Torsten Meyer widmet sich Prozessen der Musealisierung des deutschen Braunkohlenbergbaus. Vor dem Hintergrund institutioneller Prozesse wirft der Beitrag einen Blick auf die kulturelle Musealisierung einer ehemaligen Abraumförderbrücke im Lausitzer Braunkohlenrevier – dem heutigen Besucherbergwerk F 60 bei Lichterfeld. Damit gerät eine museologische Institution in den ­Fokus, die kein klassisches museales Selbstverständnis aufweist. Bereits im »Davor« des Objekts, das in den Ausführungen zentral ist, wurde erkenn­ bar, dass das musealisierte Ding nur überlebensfähig ist, wenn es touristisch re-ökonomisiert wird. Diese Spezifik des »Davor« wirft zugleich Fragen auf, ob in solchen Fällen überhaupt »Dazwischen« und »Danach« deutlich konturiert werden können. Vielmehr, so verdeutlichen Farrenkopf und Meyer, scheint einiges dafür zu sprechen, dass in diesem konkreten Fall der Musealisierung die Überschneidung der Ding-Phasen überhandnimmt. Und indem dieser Beitrag ein besonders ge­lagertes Bei­ spiel fokussiert, macht er auch darauf aufmerksam, dass die »Dingwelt« überlieferungswürdige Gattungen bereithält, deren Überleben per se von ihrer Re-Ökonomisierung abhängt. Erinnerungspotenziale solcher Dinge mögen zwar von ihrer Touristifizierung und Eventisierung überdeckt werden, ohne sie jedoch wären die Dinge selbst nicht mehr existent. Der Beitrag von Michael Hutter widmet sich der Kommodifizierung von kulturellen und kreativen Gütern – sein Beispiel ist Kunst, der Kunstmarkt und das Kunstmuseum, in dem sich in einem »Wertspiel« kommerzielle und künstlerische Wertlogiken ganz grundlegend überschneiden. Verortet wird die Wertschöpfung durch das Kunst­museum von Hutter im »Dazwischen«, denn die Objekte haben schon vor ihrem Museumsleben entscheidende Wertbildungsprozesse durchlaufen, und sie kommen auch, gerade im Rahmen der musealen Zus­ammenarbeit mit privaten Sammlern, potenziell wieder auf den Markt, da nicht nur Depot­ kapazitäten – gleichzeitig Voraussetzung der Absonderung, Verknappung und möglichen Wertsteigerung – beschränkt sind, sondern sich auch Sammlungskonzepte und -wünsche verändern. Dass es überhaupt zur Kommodifizierung kultureller Güter kommt, liegt für Hutter im Anschluss an Igor Kopytoff, Andreas Reckwitz und Lucien Karpik daran,43 43 Igor Kopytoff, The cultural biography of things: commoditization as process, in: Appadurai (Hg.), The social life of thing, S. 64-91; Andreas Reckwitz, Die 28

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dass sie »singuläre Güter« sind, die für die Eingeweihten des Kunst­ systems nicht nur einen ästhetischen Wert haben, sondern Sinnangebote schaffen, indem sie Verstehensprozesse auslösen. In diese »Wertschöpfung durch Singularisierung« sind die Museen zen­tral eingebunden, die die Werke (und Objekte) durch Auswahl, Ausstellung, Präsentation, Zusammenhänge, Narration, Begleitkommunikation und Archivierung in ein ästhetisches, historisches, wissenschaftliches, religiöses und politisches Sinn- und Wertesystem einordnen und dadurch mit Bedeutung aufladen. Zu fragen ist, wie sich diese Kommo­difizierung auf natur-, kultur- und technikgeschichtliche Museen übertragen lässt. Über die Kom­ modifizierung von Objekten im Angebot des Museumsshops, in Bildungs­ angeboten und im Rahmen der Inszenierung und Vermietung der Räumlichkeiten als Eventlocation hinaus ist dabei insbesondere an Inwertsetzung von kulturellen Gütern in einem »kulturellen Feld« (Bourdieu) und in »Wertsphären« (Weber) zu denken, die nicht nur Sinn­angebote schaffen, sondern auch vielfältige Kennerschaft außerhalb eines engeren Kreises von »Eingeweihten« produzieren, die ihre Expertise nicht zuletzt durch Sammeln von Büchern, Bildungsreisen usw. erweitern. Um biologische Objekte in Naturkundemuseen und den neuen Wert alter Dinge geht es im Beitrag von Willi E. R. Xylander. Gerade angesichts aktueller Debatten über Biodiversitätsverluste ist hier der neue Wert der überlieferten naturkundlichen Sammlungen offensichtlich. Sein Hauptaugenmerk richtet Xylander jedoch auf die Praktiken, die in den unterschiedlichen, changierenden und oszillierenden Stadien des »Davor«, »Dazwischen« und »Danach« in Naturkundemuseen relevant sind und aus denen jeweils neue Wertbildungen resultieren. Das erste Stadium bildet hier das selektive und gezielte Sammeln von Objekten und zu­ gehörigen Daten, in dem aber im Fall der Naturkunde schon erste präparatorische Maßnahmen den Objekterhalt garantieren. Die wissenschaftliche Bearbeitung dieses Materials ist der zweite Schritt, indem die taxonomische Bestimmung erfolgt, objektspezifische Metadaten erfasst sowie im Rahmen moderner Biodiversitätsforschung auch Aussagen zu Ausbreitungs- oder Rückgangsphänomenen getroffen werden. Nicht zuletzt aufgrund der Konsultation historischer naturkundlicher Sammlungen lassen sich aus diesen Analysen Schutzstrategien für gefährdete Arten ableiten. Für Xylander gehören auch Inventarisierung und wissenschaftliche Veröffentlichungen zu dieser zweiten Phase des Wertbildungs­ prozesses, sodass sich die Phase des »Danach« insbesondere auf die schaft der Singul­aritäten: Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017; Lucien Karpik, Mehr Wert: Die Ökonomie des Einzigartigen, Frankfurt a. M. 2011. 29

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Wissens­vermittlung bezieht. Insgesamt wird hier der besondere Charakter naturwissenschaftlicher Sammlungen im Speziellen und der Forschungsmuseen im Allgemeinen deutlich. Dabei zeigt sich nicht nur der Spagat zwischen (öffentlich finanzierten) Fach- und Forschungs- sowie Publikums­ interessen, den diese Museen überbrücken müssen, sondern auch ihre Bedeutung als honest broker, die mit ihrer Expertise Gründe liefern, das ökologische Bewusstsein zu schärfen und ein Umdenken im Umgang mit den natürlichen Rohstoffen zu forcieren. Das Bewahren alter Dinge gehört zu den definierten Kernaufgaben von Museen, und bewahren heißt stets auch konservieren und ggf. restau­rieren. Diesem Handlungsfeld widmet sich Andrea Funcks Beitrag. Sie unterstreicht dabei, dass die handlungsleitende Sensibilität der Res­ tau­rator:innen oft noch auf alten Wertdiskursen der Denkmalpflege beruht, namentlich und allen voran jenen, die von Alois Riegl und Georg Dehio initiiert wurden. Hieran hat sich, trotz intensiver, internationaler Debatten um neue Werte in den vergangenen Jahrzehnten aus Sicht der Autorin substanziell wenig geändert. Trotz heute zahlreicher Hand­ reichungen und denkmalpflegerischer Chartas ließen sich grundlegende Werte­konflikte, die etwa bei der Abwägung einer Konservierung des ­Alterswerts im Gegensatz zur Bewahrung des historischen Werts eines Objekts entstehen können, nur im konkreten Fall erörtern und begründen. Zuvorderst jedoch kann und muss der Beitrag von Funck als ein doppeltes Plädoyer gelesen werden: zum einen, sich in der Community der Kon­ servator:innen-Restaurator:innen stärker und selbstbewusster den Werten eigenen Handelns bewusst zu werden, auch im Austausch mit so­genannten Herkunftsgemeinschaften in postkolonialen Kontexten, und diese transparent zu kommunizieren und zu reflektieren. Zum an­ deren, dass sie ihre Expertise im musealen Alltag früher als bislang in Neubewertungsprozesse alter Dinge integrieren sollten und dies nicht erst im ­Stadium des »Dazwischen« und »Danach«, sondern bereits im »Davor« der dann noch nicht musealisierten Dinge. Das Expeditionsfloß Kon-Tiki, mit dem Thor Heyerdahl 1947 den Pazifik überquerte und das seit 1950 in einem eigens errichteten Museum in Oslo gezeigt wird, ist der zentrale Gegenstand des Beitrags von Tobias Schade. Schade widmet sich den Strategien der musealen Inwertsetzung, die sich am Ereignis der Expedition, der Person Heyerdahls und seiner Crew sowie am Objekt selbst ablesen lassen. Zunächst verweist der ­Artikel darauf, wie die Selbstinszenierung und multimediale Aufmerksamkeit für die Expedition Heyerdahls nach einer kurzen Latenzphase, in der das Boot funktionslos geworden war, recht schnell die Idee der Musea­lisierung entstehen lässt. Das nachgebaute, imaginierte »alte 30

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Ding«, das beweisen sollte, dass eine Besiedlung Polynesiens von Südamerika aus erfolgt sein könnte, wurde so zu einem musealisierten Original, dessen Reiz unter anderem auf einer temporalen Doppel­ ­ kodierung beruhte: imaginierte Vorzeit und zeitgenössische Expeditionsfahrt. Im Verlauf ­einer über 70 Jahre langen Museumsgeschichte wandelten sich das ­Be­sucher:innen­interesse und damit zusammenhängend auch museale ­Inszenierungsstrategien. Zu den Strategien der Inwertsetzung gehören die Stilisierung der Person, die Vermittlung von Wissen, die Tradierung und moderate Anpassung von Narrativen, die oftmals schon in den ­Publikationen und der geschickten Selbstvermarktung Heyerdahls und seiner Crew zu finden waren, aber auch in der Schaffung einer ­Atmosphäre, die nicht nur den Nachvollzug eines Abenteuers ermög­ lichen soll, sondern Entdeckerleidenschaft, Forschungsdrang und Seefahrtkunst inszeniert. Damit wird die Kon-Tiki nicht allein zu einem ­Mythos, weil das Floß auf die Beherrschung der Naturgewalten aufmerksam macht, sondern zugleich zu einem Identifikationsobjekt, das zentrale Bestandteile eines norwegischen Selbstverständnisses und seiner Werte repräsentieren will. Vor dem Hintergrund des heuristischen Stadien­ modells zeigt sich auch hier, wie sich diese überschneiden und wie ­Verwertungslogiken nicht nur die nachträgliche Aufwertung des Produkts bestimmen, sondern schon im Stadium des »Davor« dafür sorgen, dass das Floß zu einem potenziellen Museumsding werden konnte. Mareike Runge und André Dubisch berichten in ihrem Beitrag aus dem seit den 1990er Jahren geplanten und seit 2015 geöffneten Europäischen Hansemuseum Lübeck über die hier vorgenommene Bewertung und Neubewertung der Hansegeschichte. Dabei ist die Geschichte der Hanse ein hervorragendes Thema für eine Betrachtung des Wandels ihrer werte­bezogenen Interpretation, ist doch die Rezeptionsgeschichte der Hanse kontaminiert durch eine spezifisch »deutsche Wertschätzung«, die vom Kaiserreich bis in die Zeit des Nationalsozialismus die Hanse als Vorbild für koloniale Expansion und deutsche Flottenpolitik sah, in der DDR nicht nur als politischer Städtebund, sondern als Vorreiter gegen den Feudalismus gedeutet und nach 1990 zu einer wirtschaftlichen ­Interessengemeinschaft mit europäischer Tragweite umgedeutet wurde; auch durch die beschriebene Ausstellung. Jenseits dieser Rezeptions­ geschichte beschäftigen sich Runge und Dubisch mit der Implemen­ tierung der Objekte in die neue Dauerausstellung und beleuchten den Umgang mit Inszenierungen, Originalobjekten und Faksimiles – und damit auch die Bedeutung der Authentizität der Objekte für einen sinnlichen und autoritativen Zugang zur Geschichte. Die Objekte fungieren dabei einerseits als historische Zeugen, die Handlungspraktiken und 31

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g­ esellschaftliche Werte und Normen ihrer Zeit widerspiegeln. Sie tragen aber darüber hinaus zu einer Inwertsetzung der Vergangenheit »der ­Hanse« insofern bei, als der Versuch unternommen wurde, sie zu Akteuren der Ausstellung zu machen und die Wissensaneignung auf einer ­intellektuellen und emotionalen Ebene zu ermöglichen. Dies geschieht durch Inszenierungen, die das Handels- und Alltagsleben der Kaufleute wiederaufleben lassen, wobei zugleich mit klischeehaften Hansebildern gebrochen werden soll. Gleichzeitig sind sich die Ausstellungsmacher:innen bewusst, dass Betrachter:innen die Exponate vor dem Hintergrund ihrer eigenen persönlichen Erfahrungen neu interpretieren. Insofern, so Runge und Dubisch, sind die Exponate einem »stetigen, fluiden und subjektiven Zuschreibungsprozess« ausgesetzt. Zudem verweisen sie da­rauf, dass schon jetzt über eine Aufwertung der Dauerausstellung durch neue Medien­ angebote nachgedacht wird. Martin P. M. Weiss thematisiert in seinem Beitrag zur Sonderausstellung »360° POLARSTERN« des Deutschen Schifffahrtsmuseums (DSM) in Bremerhaven die Öffnung bzw. Erweiterung des Ausstellungsraums durch die virtuelle Inwertsetzung des Forschungsschiffes Polarstern. Mithilfe von Virtual- und Augmented-Reality-Elementen sollte den ­ Besucher:innen ein Einblick in Aufbau und Funktion des Forschungsschiffes und in das Leben und Arbeiten der Wissenschaftler:innen an Bord gegeben werden, der sonst kaum möglich ist, da sich das Schiff noch im aktiven Dienst und damit im Stadium des »Davor« befindet. Ebenso wurden aber auch historische Originalobjekte aus den Sammlungen des DSM, die ursprünglich aus dem Kontext des Forschungsschiffes stammten, gezeigt. Diese Gleichzeitigkeit von »Davor« und »Danach« bzw. das Zusammenspiel von virtuellem Erlebnis und physischem O ­ bjekt bedingte, so Weiss, eine gegenseitige Aufwertung, wobei die Originalobjekte den musealen Charakter der Sonderausstellung begründeten. Zugleich machte sie sich den besonderen Authentizitäts- und Nahbarkeitswert ­eines noch im »Davor« befindlichen Dings zunutze, erfreuen sich doch die etwa alle fünf Jahre stattfindenden Open Ship Days der Polarstern eines enormen Publikumszuspruchs. Mit dem Einsatz neuer, virtueller Medien und in bewusstem Kontrast zu einem »klassischen«, egalitären Museumsverständnis sollten gleichfalls der Museumsraum geöffnet und dadurch neue Besucher:innengruppen für das DSM gewonnen werden. Indessen reißt Weiss abschließend einige offene Fragen zu dem Verhältnis zwischen virtuellen und physischen Ausstellungsräumen einerseits und den Besucher:innen und deren Interaktion mit diesen Räumen und den darin exponierten Objekten andererseits an und plädiert in dieser Hinsicht für ein behutsames Ausloten der damit verbundenen Möglichkeiten. 32

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Jana Hawig analysiert in ihrem Beitrag Ausstellungstrategien des Story­ tellings am Beispiel von »Pia sagt Lebwohl«, einer Ausstellung zur Arbeit mit Tod und Trauer, die 2019 /2020 in der DASA Arbeitswelt Ausstellung in Dortmund zu sehen war. Das Ziel, einem freizeitorientierten Familien­ publikum den persönlichen und beruflichen Umgang mit der Grenz­ erfahrung Sterben vor Augen zu führen, wurde in einer emotionalen und erzählerischen Auf­bereitung umgesetzt. Hawig führt in die zentralen Merkmale des musealen Storytelling ein, das versucht, Vermittlungs­ strategien verstärkt von der Zielgruppe ausgehend zu konzeptionieren. Insofern liegt hier die Musealisierung der Dinge nicht in historischen, wissenschaftlichen oder populären Werten bzw. Alterswerten begründet, stattdessen sind die in der Ausstellung gezeigten Dinge Mittel zum Zweck. Sie sind »non-funktionale« Requisiten oder »plot-funktionale« Werkzeuge, mit denen und anhand derer eine Geschichte erzählt wird. Dementsprechend sind die neuen Werte dieser Dinge nicht an das spe­ zifische Objekt gebunden, sondern vielmehr an die Szene in der Erzählung. Eine besondere Be­deutung kommt dabei sogenannten semantischen Objekten zu, die Basis­oppositionen der Erzählung ausdrücken. Oppositionspaare wie in diesem Fall »Verlust – Gewinn, Konflikt – Lösung, Trauer – Hoffnung, Schmerz – Heilung« strukturieren die ­ ­museale Erzählung, stellen ein zentrales Motiv der Handlung der Protagonisten der Erzählung dar und werden durch die Besucher:innen situativ anhand eigener Lebenserfahrungen bewertet. Charakteristisch ist an dieser neuen Ausstellungsform, dass sie nicht auf Sammlungen angewiesen ist, sondern konsequent vom Thema aus zur musealen Umsetzung schreitet. Insofern wird in diesem Beispiel eine Geschichte mit allge­ meiner Relevanz inszeniert, und so belegen die Dinge keine Ereignisse oder reale Dingausstattungen, sondern machen die Narration glaubhaft und erfahrbar. Nicht die (Um-)Bewertung »alter Dinge«, sondern die Bewertung »neuer Dinge« steht in Carla-Marinka Schorrs Beitrag im Fokus. Das »neue Ding« ist dabei das sogenannte »Neuland«, genauer gesagt, die Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft, die in der Ausstellung »#neuland. Ich, wir und die Digitalisierung« als Haupt­ exponat im Vordergrund stehen. Werte werden dort zentral thematisiert, denn die Ausstellung lädt dazu ein, gesellschaftliche Normwerte wie Privatheit, Autonomie, Freiheitsrechte, Transparenz und Wahrheit und ihr Verhältnis zueinander zu diskutieren, indem sie »alte Werte« aus der Vordigitalisierungszeit und »neue Werte« nach der Digitalisierung in den Blick nimmt. Dabei kommt die Ausstellung mit sehr wenigen Exponaten aus und nutzt vor allem Texte und grafische Elemente – so z. B. in Form 33

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von Zitaten oder Abbildungen von Posts in den sozialen Medien, die im ­Rahmen der Ausstellung mitunter auch aus der digitalen Welt in den ana­logen Raum »übersetzt« werden: Dies betrifft bspw. die doppelt bedruckten und glossarartig angeordneten Texttafeln, die Assoziationen mit Internetlinks erwecken, oder aber »materialisierte« und im Raum ausgestellte Hasskommentare. In dem in diesem Beitrag betrachteten Stadium des »Dazwischen«, das Schorr als den Raum zwischen den Ausstellungsmachenden und den Besucher:innen definiert, soll den ­ Besucher:innen die Möglichkeit gegeben werden, den eigenen Wertekanon zu hinterfragen und neu auszuhandeln. Dabei liegt dem Ausstellungskonzept, wie Schorr herausarbeitet, jedoch die Idee zu Grunde, dass auch in der neuen Welt des Digitalen alte Werte zählen. Ob ein solches ­Konzept offen genug ist, um der Transformation der Werte und der ­Bewertungstechnologien in den letzten Jahrzehnten gerecht zu werden, steht allerdings in Frage. Stephan Schwan widmet sich in seinem Beitrag den Mechanismen der Wertzuschreibung aus Besucher:innensicht, indem er psychologische Modelle des Denkens und Empfindens heranzieht. Dabei untersucht er, welche Bedingungen vorliegen müssen, damit Besucher:innen Ausstellungs­ objekten einen Wert zumessen. Eine besondere Rolle der Inwertsetzung spielt hierbei die Möglichkeit einer musealen, am Exponat gemachten Erfahrung, die sich sowohl auf unterschiedliche Spezifika des Exponats (Original, Aura, Seltenheit etc.) beziehen kann als auch auf den Wissens­ erwerb und dabei ganz eigene, individuelle Verbindungen, wie etwa Kindheitserinnerung und Vertrautheit mit einem Ausstellungsobjekt, integrieren kann. Schwan verweist zudem darauf, dass sich die Be­ ­ sucher:innen den Versuchen der Kurator:innen, die Besuchenden für den historischen Wert der gezeigten Dinge zu sensibilisieren, oft ent­ ziehen. Besuchende würden »ihre eigenen, stark individuell geprägten Werturteile« mitbringen. Insofern ist es eine der zentralen musealen Herausforderungen, die auratischen Qualitäten musealer Objekte dazu zu nutzen, in ein Gespräch zu kommen, das zugleich Lernen und Ver­ stehen ermöglicht. Nicht nur Exponaten oder Ausstellungen werden Werte zugeschrieben, sondern auch Museen. In dem abschließenden Beitrag »Aufgewertet – Wertüberlegungen zum Museum« beleuchtet Patricia Rahemipour verschiedene Aspekte der Wertakkumulation und -zuschreibung. Quantitative Kriterien, wie die Größe des Hauses, der Ausstellungsfläche oder der Sammlung bzw. die Anzahl der Exponate oder der Besucher:innen, zeichnen sich dabei als wenig hilfreich aus, schließlich kann ein einzelnes, kleines Museum in einer Kleinstadt ohne Konkurrenz einen 34

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ren Impact haben als ein Haus vergleichbarer Größe in einer Großstadt, in der es aber mehrere Museen gibt. Aber auch andere Aspekte, wie der »Einzelwert von Objekten«, der »Ensemblewert« oder der »Erlebniswert« des Museums oder der musealen Ausstellung sind zwar wichtige, aber nur relative Kriterien. Eine Vermessung von Museen anhand von Wertkriterien sei, so Rahemipour, letztlich nicht möglich. Jedoch sei es hilfreich, diese Aspekte zu identifizieren, zu reflektieren und sich Dynamiken der Wertschöpfung anzunähern, um Prozesse der Wertzuschreibung nachzuzeichnen, Beziehungen zwischen Objekten, Institutionen und Rezipient:innen zu analysieren, beteiligte Akteure und ihre Argumentationskriterien für die Werthaltigkeit des Museums zu untersuchen und deren gesellschaftliche Kontexte aufzudecken. Im Anschluss an die Beiträge könnte man zu der Auffassung gelangen, dass der Wert des Museums und der in ihm präsentierten alten Dinge im Wesentlichen vom Zeitgeist und den ihn begleitenden Inszenierungs­ formen, von den Besucher:innen und von einem Marktwert abhängt, der sich im kulturellen Feld insgesamt bildet. Feststellen lässt sich jedenfalls sowohl eine Obsession für Werte und Praktiken des Bewertens als auch ein weitgehender Konsens über die Relativität von Werten. Werte und Bewerten stehen gerade in einer digitalen, partizipativen und kommunikationsfreudigen Welt hoch im Kurs. Während die Konturen solcher Bewertungskulturen sichtbar werden, zeichnen sich ihre Konsequenzen am Horizont erst ab. Wer nicht werten will, gerät in Miss­ kredit. Wer schlecht bewertet wird, wird zur Besserung gedrängt. Wer nicht bewertet wird, hat in der Ökonomie der Aufmerksamkeit versagt. So bezieht sich die Kommodifizierung kultureller Güter heute nicht ­allein auf Angebots- und Nachfragelogiken, sondern auf eine Matrix des Bewertens, die selbst Vermarktungslogik ist und Marktwert erzeugt. Die Kulturwissenschaften, aber auch die Museen müssen dazu trotz aller Evaluierungen ihres eigenen Tuns eine kritische Distanz wahren: Sie müssen die Kategorien der Bewertung, des Ratings und Rankings dekonstruieren und die mit den Umwertungsprozessen, Neubewertungsprozessen und Aufwertungsprozessen verbundenen Ideologeme beschreiben.

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Daniel Hess

Museale Sammlungen unter neuen Perspektiven Vom Germanischen zu einem europäischen Museum

Museen sind weltweit aktuell verstärkt mit Vorwürfen konfrontiert, dass ihre Sammlungen den heutigen zentralen gesellschaftlichen Werten nicht mehr entsprechen. Artefakte aus einer als ungerecht und als diskriminierend empfundenen Vergangenheit sollen neuen Artefakten Platz ­machen, die einem vermeintlich gerechteren Wunschbild der Welt entsprechen. Zuweilen drängt sich der Eindruck auf, dass dabei auch Vergangenheit korrigiert werden soll. Museen sind herausgefordert zu reagieren, nicht nur als Speicher des kulturellen Gedächtnisses, sondern auch als öffent­ liche Orte einer kritischen Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Erinnerung. Gerade Museen sind ideale Foren, in denen man von den vehement und unversöhnlich geführten öffentlichen Auseinandersetzungen zum Dialog zurückfinden kann. Die Geschichte unserer musealen kunst- und kulturgeschichtlichen Sammlungen greift weit in eine Vergangenheit zurück, die im Zuge des aktuellen gesellschaftlichen Transformationsprozesses als zusehends fremd und unheilvoll wahrgenommen wird. Museale Sammlungen bedürfen des­ halb mehr denn je der Erklärung, unter welchen Rahmenbedingungen sie zustande gekommen sind, welche Selektions- bzw. Auswahlprozesse ihrer Struktur zugrunde liegen und welche Werte und Weltanschauungen mit den aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgerissenen und ins Museum überführten Dingen sich bisweilen wie blinde Passagiere in unsere Gegenwart hinübergerettet haben. Aus der Perspektive der Geschichtsschreibung ist die Vergangenheit nicht nur ein Rückspiegel, in dem sich Gegenwart wiedererkennt, sondern auch eine Quelle von Fremderfahrung, die gerade nicht voll bewältigt und abschließend beurteilt werden kann, schreibt Aleida Assmann und fährt mit einem Zitat von Arno Borst fort, dass das historische Bewusstsein nichts anderes sei als »die Anerkennung der Fremdheit anderer Zeiten und Epochen«.1 Geschichte wird zu Fremd1 Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, 2. Aufl., München 2016, S. 99. 37

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heitserfahrung und Irritation, wobei die Fremdheit mit zunehmendem zeitlichen Abstand wächst. Dass die Vergangenheit nicht nur licht­vollen Glanz, sondern auch tiefe und lange Schatten in die Gegenwart wirft, dafür hat der Mensch als Schöpfer und Zerstörer über Generationen hinweg selbst gesorgt. Odysseus bricht als Held auf und kehrt, so zumindest im Schauspiel Christoph Ransmayrs von 2010, als Städteverwüster und Schlächter zurück. Unser materielles Kulturerbe ist kein Luxus­ artikel des Wohlstands und der Selbstgefälligkeit, kein glitzernder Kronleuchter zur Festdekoration von politischen und gesellschaft­lichen Ereignissen, es dient vielmehr der Erinnerung und Ermahnung, den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen. Spätestens seit Walter Benjamin wissen wir, dass kein Dokument der Kultur nicht zugleich ein solches der Barbarei ist.2 Das aktuelle Unbehagen an unserem kulturellen Erbe ist deshalb kein neues Phänomen, sondern Bestandteil der kulturellen Überlieferung selbst. Anstatt unsere kontaminierte Kulturgeschichte moralisch zu bereinigen, gilt es im Perspektivwechsel und mit Blick in den Abgrund »auch materielle Spuren der noch sichtbaren Geschichte zu ertragen, die im Widerspruch zum geltenden Werterahmen der Gegenwart stehen«, um noch einmal Aleida Assmann zu zitieren.3 Die Beschäftigung mit Kultur­ geschichte ist nicht nur ein Gang in die Vergangenheit, sie öffnet auch neue Perspektiven und Zugänge für das Verständnis der Gegenwart. Denn historische Fragestellungen entwickeln sich immer in der Gegenwart, und das Vergangene wird letztlich erst in seinem Bezug zur Gegenwart verständlich. Die Kernaufgabe von Museen bleibt deshalb das Bewahren der materiellen Sachzeugnisse, denn nur sie lassen sich von künftigen Generationen mit neuen Methoden untersuchen, um auf dann virulente, uns noch nicht bekannte Fragen Antworten finden zu können. Kulturgeschichte ist Bewegung und resultiert aus der Überwindung geografischer und mentaler Grenzziehungen. Die Migration von Menschen und Ideen gehört seit jeher zum menschlichen Erfahrungs­horizont, woran auch die im 11. Jahrtausend v. Chr. entwickelte Lebensform der Sesshaftigkeit nichts zu ändern vermochte. Gerade die europäische Kultur beruht auf dem Austausch von Wissen, Kulturtechniken und Gütern, d. h. auf der Begegnung von Menschen aus den verschiedensten Kulturkreisen. Der aktuelle gesellschaftliche Transformationsprozess fordert zu 2 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Werke II, Frankfurt a. M. 2011, S. 960. 3 Assmann, Das neue Unbehagen, S. 98. 38

museale sammlungen unter neuen perspektiven

neuen Perspektiven, zu neuen Blicken auf die materiellen Zeugnisse der Vergangenheit auf. Diesen Perspektivwechsel gilt es an einigen prominenten Sammlungsstücken im Germanischen Nationalmuseum zu erproben. Kulturgeschichte wird dabei im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs zu einem Plädoyer für Mehrdeutigkeit und kulturelle Diversität. Das Germanische Nationalmuseum sollte seit seiner Gründung 1852 die Aufgabe eines gesamtdeutschen Nationalmuseums erfüllen, und zwar in einem zeitlich und räumlich umfassenden Sinn, nachdem 1848 in der Frankfurter Paulskirche der Versuch einer Nationenbildung und einer freiheitlichen Verfassung gescheitert war. Das Museum sollte »kein blos [sic] deutsches, sondern ein germanisches [sein], zu dessen Förderung alle germanischen Stämme eingeladen und berufen sind.«4 Den Ausgangspunkt bildete die Zerstörung von Archiv- und Kulturgut im Zuge der Auflösung der politischen und religiösen Traditionen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Vielfältige und nachhaltige Initiativen der Erforschung und Bewahrung des durch tiefgreifende gesellschaftliche Umbrüche bedrohten kulturellen Erbes folgten. Die Gründungsidee des Germanischen Nationalmuseums wurzelte in der Überzeugung, dass die Basis einer gemeinsamen Kultur in der gemeinsamen Sprache und Geschichte liege. Daraus sollte zum einen die deutsche Nation hervorgehen, zum anderen war damit aber auch die Grundlage zu einem den gesamten deutschen Sprachraum umfassenden Museum mit europäischer Perspektive gelegt. In diesem Spannungsfeld von nationaler Eingrenzung und europäischer Weitsicht lässt sich der Wert von Geschichte und Kultur immer wieder neu aushandeln. Im Unterschied zu den meisten aus der höfischen Repräsentationskultur erwachsenen europäischen Museen liegen dem Germanischen Nationalmuseum bürgerliche Ideale und Sammelbestrebungen zugrunde. Viele Stiftungen und Leihgaben von Einzelpersonen und Körperschaften machten und machen das Germanische Nationalmuseum zu einem auf vereinten Initiativen beruhenden Gemeinschaftsmuseum, das ein kollektives kulturelles Gedächtnis und demokratische Werte verkörpert.

4 So der Aufruf zur Gründung des Museums 1855, zusammenfassend dazu zuletzt Jutta Zander-Seidel, »Drum ist das germanische Museum ein National-Museum«. Namens­gebung und Namensverständnis, in: dies. /Anja Kregeloh (Hg.), Geschichts­ bilder. Die Gründung des Germanischen National­museums und das Mittelalter, Nürnberg 2014, S. 57-65. 39

daniel hess

Die Adlerfibel und die spätantike Transferund Migrationskultur In seiner Doppelrolle als nationales und europäisches Museum ist das Germanische Nationalmuseum ein idealer Ort für die immer wieder neue kritische Auseinandersetzung mit Geschichtsbildern und der Kon­ struktion von Geschichte. Die rund 1,4 Millionen Objekte umfassende, einen Zeitraum von 600.000 Jahren abdeckende Sammlung bewahrt viele Zeugnisse der Alltags- und Hochkultur, die über weite geografische Räume gespannte Verbindungen deutlich werden lassen. Sie dokumentieren die wechselseitigen Einflüsse von antiken, byzantinischen, arabischen, nordeuropäischen und asiatischen Kulturen. Sie sind damit ein ide­ aler Ausgangspunkt, um Transfer- und Migrationsprozesse in den Blick zu nehmen, wie sie im Rahmen des Aktionsplans Leibniz-Forschungs­ museen unter dem Motto »Eine Welt in Bewegung« untersucht werden, um den Austausch und Dialog von Wissenschaft und Gesellschaft zu befördern und zur Mitgestaltung von Veränderung anzuregen.5 Eines der prominentesten, frühen Stücke ist die Adlerfibel aus dem Schatz von Domagnano (Abb. 1), die im unmittelbaren Umfeld des ostgotischen Herrschers Theoderich und seiner Residenz in Ravenna um 500 n. Chr. entstanden ist und ursprünglich als Mantelschließe diente. Sie ist in Form eines stilisierten Adlers gehalten, der als Sinnbild römischer Staatsmacht und als Zeichen des germanischen Gottes Odin eine Verbindung zwischen römischen und germanischen Traditionen stiftete.6 Der Erwerb wurde 1898 als »gotischer (germanischer) Goldfund« verzeichnet, der bei Mailand gefunden worden sei.7 In der damaligen deutschen Geschichtsschreibung waren Goten, Germanen und Deutsche längst zum Synonym geworden; Theoderich galt gar als germanischer »Volkskönig«.8 Als »germanisches Kulturerbe« führte die Adlerfibel quasi an die Wurzeln der National- und Vaterlandsgeschichte zurück und doku­mentierte die Altehrwürdigkeit des germanischen bzw. deutschen Kulturerbes. Es erstaunt deshalb nicht, dass die Adlerfibel zum Symbol des Germanischen Nationalmuseums wurde, erstaunlich ist vielmehr, 5 Vgl. weiter Leibniz-Forschungsmuseen (leibniz-forschungsmuseen.de) [Abruf: 5. 5. 2022]. 6 Zum Schatzfund von Domagnano vgl. zusammenfassend Tobias Springer, Früh­ geschichte. Archäologische Funde von den Römern bis zum Mittelalter im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 2014, S. 90-94 und 213. 7 Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1898, S. 16. 1892 erfolgte bereits der Ankauf einer Zikadenfibel, einer »goldene[n], langobardische[n] Fibel in Bienen­ gestalt«, ebd. 1892, S. 31. 8 Hans-Ulrich Wiemer, Theoderich der Große. König der Goten. Herrscher der ­Römer, München 2018, S. 61-71. 40

museale sammlungen unter neuen perspektiven

dass sich ihre ideologische Instrumen­ talisierung in den Schriften des Museums auf die NS -Zeit beschränkte: Die Adler­fibel zierte nur die beiden Jahrgänge 1939 und 1940 der über die ­gesamte NS -Zeit erschienenen Jahres­ berichte sowie den Anzeiger des Germa­ nischen Nationalmuseums von 19361939, dessen nächste Nummer erst wieder 1954 erschien; als Bibliotheks­ tempel überlebte sie bis 1956, vier Jahre zuvor zierte sie die erste Gedenkmünze der Bundesrepublik ­ Deutsch­land. Heute repräsentiert die Adlerfibel den Mittelmeerraum als Migrationsraum von Menschen, Ideen und Kulturtechniken, mit einer hohen Dynamik im Kontext der ­sogenannten Völkerwanderung. Mit Blick auf die Adlerfibel und den Abb. 1: Adlerfibel aus dem Schatz Schatz von Domagnano wird auch von Domagnano, Ravenna um 500, das Diktum vom Niedergang oder Germanisches Nationalmuseum Fall des Römischen Reiches obsolet, da es sich dabei um einen über einen längeren Zeitraum wirkenden Transformationsprozess unter Stichworten wie Kooperation, Integration oder Akkulturation handelte.9 Einen vergleichbaren Transformationsprozess und eine über weite geografische Räume und über Religionen hinauswirkende kulturelle Kontinuität belegen auch die in Ägypten zwischen dem 4. und 9. Jahrhundert entstandenen spätantiken, frühislamischen Textilien. Ihre Tradition hat nicht nur die Teilung des Römischen Reiches im Jahr 395, sondern auch die islamische Eroberung Ägyptens in den Jahren 640 /42 schadlos überstanden. Kontinuität und Verbindung schufen gemein­ same ikonographische Traditionen aus dem Erbe von Antike und Altem Testament. Illustres Beispiel sind die unter den Geweben mit biblischen Themen vom 6. bis 10. Jahrhundert auffällig häufigen Szenen der Josephs­geschichte. Das in Nürnberg verwahrte, ursprünglich als Ärmelbesatz dienende Fragment besteht aus einem zentralen Medaillon mit beidseitig anschließenden zweizonigen Bildstreifen und lässt vier Szenen 9 Ebd., S. 149 f. 41

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Abb. 2: Fragment eines Ärmelbesatzes mit Szenen der Josephs­ geschichte, Ägypten, 7. /9. Jahrhundert, Germanisches ­Nationalmuseum

der Josephslegende erkennen: Joseph wird in die Zisterne geworfen; die Brüder tränken Josephs Rock im Blut eines Ziegenbockes; Ruben reißt sich die Kleider vom Leib; der Verkauf Josephs an die Ismaeliter (Abb. 2).10 Als typologischer Vorläufer Christi und als einer der Propheten des Islam, dem unter seinem arabischen Namen Yusuf die gesamte zwölfte Sure des Koran gewidmet ist, garantierte Joseph als Sohn Jakobs christliche und islamische Identität sowie ikonographische Kontinuität. In den europäischen Museen lösten die ab 1880 in Ägypten aufgefundenen Textilien einen »wahren Stoffrausch« aus, was zu Plünderungen Zehntausender von Gräbern und zur Etablierung eines höchst zweifel­ haften internationalen Handels führte.11 Als »koptische Textilien« wurden die im Wüstensand konservierten Fragmente zu Kronzeugen für die um 1900 viel diskutierte Idee, dass die früheste christliche Kultur neben ihrer Wiege in Rom auch byzantinisch-orientalische Wurzeln hat, was Josef Strzygowski in seiner wegweisenden Schrift »Orient oder Rom« entsprechend zu begründen versucht hatte.12 Die seit 1890 europaweit erschienenen Bestandskataloge erschlossen nicht nur neue Kunstdenk10 Jutta Zander-Seidel, Mittelalter, Kunst und Kultur von der Spätantike bis zum 15. Jahrhundert, Nürnberg 2007, S. 51 f. Vgl. außerdem Sabine Schrenk, Textilien des Mittelmeerraumes aus spätantiker bis frühislamischer Zeit, Abegg-Stiftung, Riggisberg 2004, bes. S. 68, 201, 272 und 336 f. 11 Vgl. Zander-Seidel, Mittelalter, S. 46. 12 Josef Strzygowsky, Orient oder Rom. Beiträge zur Geschichte der spätantiken und frühchristlichen Kunst, Leipzig 1901, zu den Textilien bes. S. 90-118. 42

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mäler, sondern wurden auch zur Inspirationsquelle für die Kunst der Moderne, wie etwa das Werk Ernst Ludwig Kirchners eindrucksvoll ­dokumentiert: Er illustrierte nicht nur sein persönliches Exemplar von Gerspachs Pariser Katalog, sondern beschäftigte sich zwei Jahre nach dem Erscheinen des Berliner Bestandskatalogs im Davoser Tagebuch intensiv mit den ihn faszinierenden, chiffrenhaft reduzierten Form­ ­ gebungen dieser Werke.13 Adlerfibel und koptische Textilien werden damit zu vielschichtigen und epochenübergreifenden Beispielen einer europäischen Transferkultur seit der Spätantike. Durch den Zusammenbruch des Römischen Reichs, die Kirchenspaltung des Frühchristentums und die feindliche Einstellung gegenüber den Naturwissenschaften waren im Westen viele Kenntnisse der Antike verloren gegangen. Ohne das kulturelle Erbe des Islams, das sich vom 8. bis zum 15. Jahrhundert von Spanien aus auch in das restliche Europa verbreitete, wären hier nicht nur große Teile der antiken Schriftkultur, sondern auch fundamentale mathematische und astronomische Errungenschaften verborgen geblieben. Kein Objekt verkörpert diesen Einfluss deutlicher als das unter islamischer Herrschaft 1079 /80 in Saragossa entstandene Astrolabium des Ahmad ibn Muhammad alNaqqash (Abb. 3), das als eines der frühesten europäischen Astrolabien überhaupt gilt.14 Diese wohl in der Spätantike erfundenen astronomischen Instrumente geben das Himmelsgewölbe zweidimensional wieder und dienten für verschiedene Vermessungen sowie zur Zeitbestimmung. Als Gegenstände der Gelehrsamkeit wurden die repräsentativen Instrumente bereits im Mittelalter gesammelt. Das andalusische Astrolabium von 1079 /80 weist einige, später hinzugefügte europäische Markierungen auf, damit man es auch außerhalb Spaniens verwenden konnte. Ob ­dieses Astrolabium zur Sammlung des Nürnberger Mathematikers und Astronomen Regiomontanus (1436-1476) gehörte, wissen wir nicht. Jeden­ falls hatte sich ursprünglich arabisches Wissen in Nürnberg so weit etabliert, dass der Nürnberger Mathematiker und Instrumentenbauer Georg 13 Vgl. weiter Lothar Grisebach, Ernst Ludwig Kirchners Davoser Tagebuch, Neu­ ausgabe Ostfildern-Ruit 1997, S. 189-198 und 329; Hanna Strzoda, Die Ateliers Ernst Ludwig Kirchners, Petersberg 2006, S. 182-188, sowie Frank Kammerzell, Ernst Ludwig Kirchner. Ägyptisches und Koptisches, in: Gerald Moers / Heike Behlmer /Katja Demuß / Kai Widmaier (Hg.): jn.t dr.w, Festschrift für Friedrich Junge, Göttingen 2006, S. 345-381. 14 Vgl. weiter David A. King, Die Astrolabiensammlung des Germanischen Nationalmuseums, in: Focus Behaim Globus, Teil 1, Ausst. Kat., Germanisches Nationalmuseum Nürnberg 1992, S. 101-114. Zur Verbreitung der arabischen Wissenschaft und Kultur in Spanien zusammenfassend Brian A. Catlos, al-Andalus. Geschichte des islamischen Spaniens, München 2019, bes. S. 175-188. 43

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Abb. 3: Astrolabium des Ahmad ibn Muhammad al-Naqqash, Saragossa, um 1079 /80, Germani­ sches Nationalmuseum

Hartmann (1489-1564), Vikar an der Sebaldus-Kirche, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Volksastrolabien in großer Zahl fertigte und vertrieb. Die dunkle Seite des Behaim-Globus Mit den europäischen Entdeckungsreisen weiteten sich im 15. Jahrhundert die Horizonte; Menschen, Waren und Ideen begannen global zu zirkulieren. Mit den portugiesischen und spanischen Expeditionen setzte der komplexe Prozess der Globalisierung ein: Die Spanier suchten ihr Glück im Westen, die Portugiesen stießen über Afrika nach Asien vor. Im Vertrag von Tordesillas wurde die Welt 1494 zwischen Portugal und Spanien aufgeteilt. Die portugiesischen Expeditionen entlang der afrikanischen Küste, an denen sich auch der Nürnberger Martin Behaim be­ teiligte, waren damals in vollem Gang: 1488 hatte man bereits das Kap der Guten Hoffnung umrundet. Behaims berühmter »Erdapfel« (Abb. 4) ist die weltweit älteste erhaltene Darstellung der Erde in Kugelform, der die portugiesischen Ent­ deckerfahrten nicht nur als Zeugnis europäischen Wissensdrangs doku44

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Abb. 4: Behaim-Globus, Nürnberg 1492, Germanisches Nationalmuseum

mentiert, sondern auch als Prozess der Kolonialisierung, die im Zeitalter der »europäischen Entdeckungen« globale Dimensionen annahm.15 Deutliches Indiz sind die entlang der afrikanischen Küste aufgerichteten Steinsäulen, die auf dem Globus als Flaggen gezeigt sind und die schrittweise Eroberung der afrikanischen Küste durch die portugiesischen Seefahrer im 15. Jahrhundert markieren. Die Fahnen vertreten die vor Ort errichteten Steinsäulen, auf denen der Herrschaftsanspruch durch Inschrift und portugiesische Wappen verdeutlicht wurde. Eine solche Säule ging im 19. Jahrhundert aus der Kolonie Deutsch-SüdwestAfrika in deutschen Besitz über und war bis zu ihrer aktuellen Rückgabe 15 In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass der seit 1906 als Leihgabe der Familie Behaim im Germanischen Nationalmuseum ausgestellte, 1928 aus dem Museum abgezogene Globus 1937 mit maßgeblicher finanzieller Unterstützung des Reichskanzlers Adolf Hitler und des Oberbürgermeisters Willy Liebel angekauft werden konnte und damals im Museum einer der Höhepunkte der Ausstellung »Nürnberg, die deutsche Stadt« markierte; vgl. Johannes Willers, in: Focus Behaim Globus, Teil 1, Ausst. Kat. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg 1992, S. 211. 45

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Abb. 5: Behaim-Globus, Ausschnitt Golf von Guinea

nach Namibia als Exponat im Deutschen Historischen Museum aus­ gestellt.16 Im Schatten des im November 1510 am Behaim-Globus angebrachten Horizontringes verbirgt sich außerdem der Beginn des dunkelsten Kapitels in der Geschichte der Globalisierung: die Erfindung des interkontinentalen Sklaven- und Zuckerhandels. Erprobt und entwickelt wurde dieses Geschäft auf den 1471 und 1472 eroberten Inseln São Tomé und Principes im Golf von Guinea (Abb. 5). Auf dem Globus ist verzeichnet, dass diese Inseln von Schiffen, die der portugiesische König »zu diesen porten des mohrenlandes« ausgeschickt habe, im Jahr 1484 »gefunden« worden seien. Auf den unbesiedelten Inseln herrsche Wildnis; der König von Portugal schicke nun jährlich »sein Volk dahin, das sonst den Tod verschuldet hat«, Männer und Frauen, damit sie sich mehren und das Land durch Portugiesen bevölkern.17 Eine dauerhafte Besiedelung ist erst 1485 belegt und gewährte den Ansiedlern das Recht zum Sklavenhandel und zum Anbau von Zuckerrohr. Ab den 1490er Jahren wurden zu Gefängnis verurteilte portugiesische Kriminelle und schließ16 Vgl. Focus Behaim Globus, Teil 2, Ausst. Kat. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg 1992, Kat. Nr. 4.26. 17 Vgl. Ernst Georg Ravenstein, Martin Behaim. His life and his globe, London 1908, Taf. 1. 46

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lich auch gewaltsam christianisierte, zwischen zwei und zehn Jahre alte Juden sowie afrikanische Sklaven nach São Tomé deportiert.18 Die Portugiesen bauten auf São Tomé Zuckerrohr an und etablierten den neuzeitlichen »Zuckerhandel« in seiner Verbindung von Plantagenwirtschaft und Sklaverei, der über das hier entwickelte atlantische Sklaven-Handelsnetz von den großen Kolonialgesellschaften ab 1518 /20 in die Karibik ausgeweitet wurde.19 Aus dieser Perspektive erschließen sich auch neue Zusammenhänge in klassischen Forschungsfeldern des Germanischen Nationalmuseums wie etwa dem Leben und Wirken Albrecht Dürers. Auf seiner Niederländischen Reise kam der Nürnberger Künstler im August 1520 in Antwerpen nämlich in den Genuss des neuen kolonialen Luxusprodukts: Rodrigo Fernandez d’Almada, den Dürer im Tagebuch zunächst »Signor Ruderisco von Portugal«, dann aber vertraulich »Ruderigo« nennt, schenkte ihm ein ganzes Sortiment an Zuckerwaren: ein Fässchen eingemachten Zucker, Kandiszucker, Zuckerstangen, Marzipan »und allerley anders zucker und etlich zucker rohr, wie sie wachsen«.20 Drei solche Zuckerrohre schenkte Dürer im März 1521 seinem Nürnberger Freund Willibald Pirckheimer.21 Rodrigo begegnete Dürer wiederholt, ließ sich von ihm zeichnen und malen und erhielt schließlich auch das »mit großem Fleiß« gemalte Tafelbild mit dem Hl. Hieronymus zum Geschenk.22 Rodrigo Fernandenz d’Almada war zunächst Sekretär des königlich portugiesischen Handelsvertreters João Brandão, dann von 1521 bis um 1550 portugiesischer Faktor in Antwerpen. Er wohnte im Hof van Immerseel in der Lange Nieuwstraat und schenkte Dürer neben dem kostbaren Zuckerwerk – um 1500 kostete ein Kilo Zucker in Antwerpen ca. fünf Gramm Silber23 – unter anderem auch einen Papagei, nachdem er bereits Dürers 18 Vgl. André E. A. M. Thomashausen, Die Portugiesen auf São Tomé und Principe, in: Robert Ptak (Hg.), Portugals Wirken in Übersee. Atlantik, Afrika, Asien. Beiträge zur Geschichte, Geographie und Landeskunde (Portugal-Reihe, Bd. 12), Heidel­ berg 1985, S. 75-81, bes. S. 78 ff.; Robert Garfield, A History of São Tomé Island 1470-1655. The Key to Guinea, San Francisco 1992, S. 5-23. 19 Vgl. dazu weiter Garfield, A History of São Tomé Island, S. 24-87; Michael Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen. Eine Weltgeschichte des Sklavenhandels im atlantischen Raum, Berlin / Boston 2015, bes. S. 150 f., 153 und 270-278; Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der euro­ päischen Expansion 1415-2015, 4. Aufl., München 2018, S. 91 f. und 411 ff. 20 Hans Rupprich, Dürer. Schriftlicher Nachlass Bd. 1, Berlin 1956, S. 154; vgl. auch Gerd Unverfehrt, Da sah ich viel köstliche Dinge. Albrecht Dürers Reise in die Niederlande, Göttingen 2007, S. 50. 21 Rupprich, Dürer, S. 167. 22 Zu den Gemälden vgl. ebd., S. 166. 23 Zeuske, Sklavenhändler, S. 277. 47

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Frau Agnes einen »kleinen grünen Papagei« geschenkt hatte, für den diese in Antwerpen einen Käfig kaufte. Weitere Geschenke Rodrigos sind indische Seidentücher, sechs große »indianische Nüsse«, Korallen sowie zwei große portugiesische Gulden, offenbar als Gegengabe für eines der beiden oben genannten Gemälde. Die nächsten Zucker­ ­ geschenke Rodrigos vom Januar und April 1521 dienten offenbar medizinischen Zwecken, wie zum einen der Kontext mit weiteren Arzneien, zum anderen Dürers Notiz verdeutlicht: »Rodrigo hat mir viel ein­ gemachtes zucker geschickt in meiner kranckheit«.24 Zucker diente nicht nur als luxuriöses Naschwerk und wurde als solches auf vielen Stillleben seit dem 16. Jahrhundert inszeniert, sondern auch als Medizin. In jedem Fall war er ein äußerst gewinnträchtiges ­koloniales Handelsgut, das globale Netzwerke schuf. Dem Zuckerweg nach Surinam verdankte die Sammlerin, Naturforscherin, Malerin und Zeichnerin Maria Sibylla Merian ihre auf eigene Initiative unternommene Forschungsreise in die niederländische Kolonie in Südamerika.25 Sie sei von den Menschen dort – in Surinam lebten neben ungefähr 8000 Afrikanern rund 600 niederländische Protestanten, rund 300 portugiesische und wenige deutsche Juden, hugenottische Flüchtlinge und einige Engländer – verspottet worden, dass sie etwas anderes suchte als Zucker. Was sie suchte, waren die exotischen Insekten und deren Verwandlung, denen sie ihr Hauptwerk »Metamorphosis Insectorum Surinamensium« widmete. Merian kam dabei 1699 bis 1701 in Kontakt mit der führenden Zucker-Elite und damit auch mit den in Surinam gebräuchlichen brutalen Methoden der Sklaverei. Weltbilder im Wandel In seinen Texten und Bildern griff der Behaim-Globus auf viele ältere Quellen zurück; das Wissen der Autoritäten verbürgte die Glaubhaftigkeit des Gezeigten. Auf dem Globus erscheint die Welt, wie man sie sich im europäischen Überlegenheitsgefühl vorstellte. Behaims »Erdapfel« entstand in den Jahren 1492 /94, Amerika sucht man darauf vergeblich. Kaum war der Globus fertig, war sein Weltbild schon überholt. Das Entstehungsjahr des Behaim-Globus markiert den Beginn eines menschen­ bedingten weltumspannenden Artenaustauschs. Die neuen, nach Europa 24 Rupprich, Dürer, S. 164 f. und 169. 25 Vgl. weiter Natalie Zemon Davis, in: Maria Sibylla Merian 1647-1717. Künstlerin und Naturforscherin, hg. von Kurt Wettengl, Ausst. Kat. Historisches Museum Frankfurt a. M. / Ostfildern-Ruit 1997, bes. S. 177-180. 48

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Abb. 6: Trachtenbuch des Christoph Weiditz, um 1530 /40, Bl. 22 (kasti­ lischer Sklave in Ketten), Germanisches National­ museum

gelangenden Güter erregten auch Dürers Interesse, wie sein ­Tagebuch belegt. Zu gerne wüsste man, was Dürer mit den am 8. Juni 1521 in Antwerpen erworbenen 13 Borstenpinseln aus dem Haar von w ­ ilden Meerschweinchen anstellte. Im Schloss zu Brüssel hatten ihn die Geschenke fasziniert, die Hernan Cortèz vom Herrscher über das A ­ zteken-Reich, Moctezuma II., aus dem »neuen gulden land« (Mexiko) für Kaiser Karl V. mitgebracht hatte. Dürer schätzte den Wert der kunstvollen Artefakte auf hunderttausend Gulden und bewunderte die »sub­tile(n) jngenia der menschen jn frembden landen«.26 Diese Äußerung zeugt von Respekt gegenüber den Leistungen fremder Kulturen. Ein wenngleich exotisches, so doch respektvolles und mit Blick auf den kastilischen Sklaven in ­Ketten (Abb. 6) auch authentisches Bild von Afrikanern und Azteken zeichnen etwa die Holzschnitte Hans Burgkmairs aus dem Jahr 1508 sowie die als früheste authentische Darstellungen amerikanischer Indigener geltenden Illustrationen im Trachtenbuch von Christoph Weiditz von 1530 /40.27 Ganz im Gegensatz dazu kultivieren die früheren Quellen aus den Jahren 1505 und 1509 das christlich europäische Überlegenheits­gefühl in der Verbindung von Motiven wie Nacktheit und Kannibalismus.28 26 Ebd., S. 174 und 155. 27 Vgl. zusammenfassend Luther, Kolumbus und die Folgen. Welt im Wandel 15001600, hg. von Thomas Eser / Stefanie Armer. Ausst. Kat. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg 2017, Kat. Nr. 61-62. 28 Ebd., Nr. 18-19. Vgl. weiter auch Oliver Eberl, Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus, Hamburg 2021, S. 112-167. 49

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Es sind dies nur einige wenige Zeugnisse, auf die sich großangelegte, von der europäischen in die globale Geschichte ausgreifende Studien stützen können. Was die materielle Überlieferung betrifft, bleibt sie höchst lücken­haft und befördert damit Einseitigkeit und Unausgewogenheit. Über Dürer wissen wir nur deshalb so viel, weil schon zu seinen Lebzeiten alles, was seinen Namen trug, auf bewahrt wurde. Inwieweit dieser Ausnahmekünstler aber repräsentativ für viele der deutlich schlechter überlieferten Künstler-Handwerker der höchst innovativen Spätgotik ge­wesen ist, darüber können wir nur Vermutungen anstellen. Trotz aller Bemühungen um eine im Zeitalter der Digitalisierung wieder neu an­ gestrebte möglichst vollständige Erfassung historischer Daten bleibt die Kulturgeschichte fragmentarisch. Wie selektiv die Überlieferung an Sach­kulturgütern ist, macht man sich angesichts der opernhaft inszenierten Historienbilder und Dioramen des 19. und 20. Jahrhunderts selten klar, so sehr haben sie unsere Vorstellungen früherer Zeiten und Kulturen bestimmt. Die Suggestionskraft der Inszenierungen des 19. Jahrhunderts wirkt über den Film und die digitalen Medien bis heute fort. Rahmenbedingungen des Sammelns Jedes Sammeln war und ist selektiv, unterliegt persönlichen Interessen und Wertvorstellungen, zeitlich bedingten Weltanschauungen und ­Moden, die einen maßgeblichen Einfluss auf Auswahl und Sammlungskriterien ausüben. So trug der Sherlock-Holmes-Autor Arthur Conan Doyle auf seiner Polarmeerreise auf einem Walfänger aus Anlass seines Abenteuers 1880 »ein ansehnliches Polarmuseum mit vielen interessanten Stücken« zusammen, das skurrile Exponate von »Eskimohosen aus Robbenleder« über ein Robbenjagdmesser und einen Bärenschädel bis zum Trommelfell eines Wals und einem »Einhorn-Horn« umfasste.29 Wie bei Conan Doyle bestimmt zunächst die von individuellem oder institutionellem Interesse bzw. Auftrag geleitete Auswahl den Sammel- und Selektionsprozess. Neben enzyklopädischen Interessen definieren auch Kategorien wie Seltenheit und Exklusivität die Sammelleidenschaft, wobei der im seltenen Fund erbrachte Nachweis einer Erstentdeckung oder Dechiffrierung zu den besonderen Trophäen des Sammeljägers zählt. 29 Arthur Conan Doyle, »Heute dreimal ins Polarmeer gefallen.« Tagebuch einer arktischen Reise. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann, 2. Aufl., München 2017, S. 119 f. 50

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Die im Laufe dieses ersten Selektionsprozesses ausgewählten und ihrer ursprünglichen Bestimmung entledigten Dinge sind dann einem grundlegenden Funktions- und Bedeutungswandel unterworfen und verwandeln sich zu fragilen, nur mehr mit Handschuhen anzufassenden musealen Preziosen mit neuen Funktionen und Bedeutungen. Deren weitere Erhaltung bleibt maßgeblich von Faktoren wie Wertschätzung und Pflege, von konservatorischen Rahmenbedingungen, Krieg und Zerstörung, Tausch und Verkauf zugunsten anderer Objekte abhängig. Geschmacksund Weltanschauungsmoden bleiben maßgebliche Selektions­kriterien und entscheiden über die Präsentation in den Schau- oder Depoträumen bzw. über die weitere museale Verwahrung der einstmals gesammelten Dinge. Auswahlkriterien, Wertzuschreibungen und Sammlungspraktiken bedingen sich gegenseitig und unterliegen einem stetigen Wandel, da die sich verändernde Gegenwart zu stets neuen Fragen und Blicken in die Vergangenheit herausfordert. Die interpretative Einordnung unterliegt deshalb jenseits der wissenschaftlichen Neugierde und den zur Ver­ fügung stehenden technologischen Untersuchungsmethoden immer auch Rahmenbedingungen wie gesellschaftlich aktuell brennenden Fragen und dem daraus resultierenden Erkenntnisdrang. Da die ursprüngliche Funktion und Bedeutung der gesammelten Dinge nur im ursprüng­ lichen Kontext verständlich werden, ist ihre Interpretation auch maßgeblich vom Forschungs- und Kenntnisstand des kulturgeschichtlichen Kon­ texts abhängig. Entsprechendes gilt schließlich auch für die museale Präsentation, bei der die konservatorischen und finanziellen Rahmen­ bedingungen weitere begrenzende Faktoren bilden. Neue Blicke auf alte Dinge Die immer wieder neue Beschäftigung mit »alten Dingen« führt zwangsläufig zu immer wieder neuen Positionen und zur Neujustierung von Werten wie Zugehörigkeit und Fremdheit, Gleichheit und Differenz. Ver­ gangenheit lässt sich nicht moralisierend korrigieren, doch lassen sich bis­ lang übersehene oder verdrängte Aspekte der vormusealen und musealen Biografien der Sammlungsobjekte unter neuen Fragestellungen und Per­ spektiven in neuer Klarheit herausarbeiten. Der Prozess der Musealisierung ist nicht umkehrbar, auch der Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit sich wandelnder Bedeutungszuschreibungen kann man nicht entfliehen. Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Museums-, Sammlungsund Objektgeschichte befähigt jedoch zunehmend, Mehrdeutigkeiten 51

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und Widersprüchlichkeiten auszuhalten und damit einer fundamentalistischen Einengung auf die eine, vermeintlich allein richtige Deutung zu entgehen.30 Als Transfer- und Migrationsgeschichte lässt sich Kulturgeschichte neu und aufregend verstehen. Im Germanischen Nationalmuseum harren viele »alte«, bekannte und weniger bekannte Dinge einer Neu-Annäherung. Eine Liste würde sehr lang. Deshalb sei hier stellvertretend ein christliches Reliquiar aus der kaiserlichen Schatzkammer in Wien erwähnt, das im 14. Jahrhundert in Venedig unter Verwendung eines Halbmondes aus Bergkristall aus einer fatimidischen Moschee des 11. Jahrhunderts geschaffen wurde. Auch die besonders im Mittelalter in ganz Europa verbreiteten Emailarbeiten aus Limoges erlauben neue Interpretationsansätze aus europäischer Perspektive, ebenso die vielen Beispiele einer über ganz Europa ausgreifenden Mal- und Musikkultur seit dem Mittelalter. Wiederholt prägte Europa einen ureigenen, grenzübergreifenden Klang, einen höfischen Stil und eine Kultur der Dinge aus, die Verbindungen über die wiederkehrenden Phasen von Ausgrenzung und Abschottung hinaus stifteten und durch Austausch und Anverwandlung gemeinsame Orientierung gaben. Betrachtet man diese Zeugnisse, so basiert euro­ päische Kultur wesentlich auf Grenzüberschreitungen, auf Migration und Diversität, auf Wissens- und Technologieaustausch, auf gegenseitiger Befruchtung und Aneignung mit allen damit verbundenen, bis in die Gegenwart hineinwirkenden Bereicherungen und Segnungen. Die Konstruktion von Gemeinsamkeiten ist jedoch nur eine Seite der Medaille, da europäische Kultur sich immer wieder und ebenso vehement über Differenzen und Abgrenzungen definierte. Diese Konstruktionen gilt es bei der möglichst vorurteilsfreien Beurteilung von historischen Sachzeugnissen in ihren jeweiligen historischen Kontexten zu verstehen und im gesellschaftlichen und politischen Dialog zu diskutieren. Unter transnationaler und epochenübergreifender europäischer Perspektive rücken schließlich Gemeinsamkeiten wie die Orientierung an einer glanzvollen Vergangenheit und die zentrale Bedeutung der Dinge in den Blick. Sie dienten der Repräsentation und der Demonstration von Macht und Einfluss, und sie sicherten Identität. Vielleicht lässt sich ­Europa letztlich überhaupt nur als Museum, d. h. als Ort einer kontinuierlichen Begegnung und Auseinandersetzung mit Dingen sowie Geschichte und Kultur verstehen. 30 Vgl. dazu weiter Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018. 52

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Abbildungen Abb. 1: Adlerfibel aus dem Schatz von Domagnano, Ravenna um 500. Germanisches Nationalmuseum, Inv. FG 1608. (Foto: Jürgen Musolf ) Abb. 2: Fragment eines Ärmelbesatzes mit Szenen der Josephsgeschichte, Ägypten, 7. /9. Jahrhundert, Germanisches Nationalmuseum, Inv. Gew 221. (Foto: Jürgen Musolf ) Abb. 3 Astrolab des Ahmad ibn Muhammad al-Naqqash, Saragossa, um 1079 /80. Germanisches Nationalmuseum, Inv. WI 353. (Foto: Jürgen Musolf ) Abb. 4: Behaim-Globus, Nürnberg 1492. Germanisches Nationalmuseum, Inv. WI 1826. (Foto: Jürgen Musolf ) Abb. 5: Behaim-Globus, Ausschnitt Golf von Guinea. (Foto: Daniel Hess) Abb. 6: Trachtenbuch des Christoph Weiditz, um 1530 /40, bl. 22 (kasti­ lischer Sklave in Ketten). Germanisches Nationalmuseum, Inv. Hs. 22474. (Foto: Monika Runge)

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Museen und Werte Die Diskussion um die neue ICOM-Definition 1

Es gibt Streit im Internationalen Museumsrat ICOM, dem mit rund 45.000 Mitgliedern und 20.000 Museen aus 141 Ländern größten Museums­ verband der Welt. Ausgelöst hat ihn 2019 die Frage, was ein Museum sei. Seit 1946 definiert ICOM immer wieder neu seine Sicht auf die Institution. Diese Definitionen sind kulturpolitische Statements, die weltweit für alle Typen von Museen gelten müssen – vom ehrenamtlich geführten Derendinger Heimatmuseum bis zum prestigeträchtigen New Yorker Metropolitan Museum of Art, vom üppig finanzierten chinesischen ­Nationalmuseum in Peking bis zum gerade niedergebrannten brasilianischen Nationalmuseum in Rio de Janeiro, vom forschungsstarken Naturkundemuseum in der Stadt bis zum bürgernahen Handwerksmuseum auf dem Land, für Museen in Demokratien, Militärdiktaturen oder in Ländern mit autokratischen Regimen. Die letzte Definition stammt von 2007: »Ein Museum«, definierte ICOM seinerzeit, ist eine gemeinnützige, auf Dauer angelegte, der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung im Dienste der Gesellschaft und ihrer Entwicklung, die zum Zwecke des Studiums, der Bildung und des Erlebens materielle und immaterielle Zeugnisse von Menschen und ihrer Umwelt beschafft, bewahrt, erforscht, bekannt macht und ausstellt.2 Diese Definition ist funktional und schmucklos. Sie definiert Zweck, Aufgabe und Status des Museums, ist international weithin anerkannt und in vielen Ländern rechtlich relevant. Zur Gegenwart der Museen in aller Welt passe sie hingegen nur noch bedingt. Das fand zumindest die ehemalige Direktorin des Museums der Weltkulturen in Göteborg, Jette Sandahl: »Die aktuelle Definition formuliert Werte und basiert auf 1 Dieser Aufsatz ist die überarbeitete Version eines Textes, der erstmals erschienen ist unter dem Titel »Politisch oder nicht: Was ist ein Museum im 21. Jahrhundert?«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10 (2019), S. 113-119. 2 Zitiert nach der aktualisierten Übersetzung in ICOM: Ethische Richtlinien für Museen, Paris 2010, http://www.icom-deutschland.de/client/media/364/icom_ethi­ sche_richtlinien_d_2010.pdf [Abruf: 9. 5. 2022]. 55

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­ nnahmen, die aus früheren Zeiten stammen. Sie spricht nicht die SpraA che des 21. Jahrhunderts.«3 Deshalb hat ICOM 2017 ein Standing Committee for Museum Definition, Prospects and Potentials (MDPP) eingerichtet, dem Sandahl vorstand (bis der Konflikt um den neuen Definitionsvorschlag sie und etliche Kolleg:innen aus dem Gremium wirbelte). Das Komitee hatte die Auf­ gabe, dauerhaft die Entwicklung der Museen weltweit zu beobachten und eine neue Museums-Definition zu formulieren. Dazu hatte es 2018 /19 Konferenzen und Runde Tische in aller Welt ausgerichtet und war mit rund 1.000 Museum professionals ins Gespräch gekommen. Zudem hatte es seine Mitglieder aufgerufen, Definitionsvorschläge einzureichen. Aus diesen Diskussionen hatte Sandahl mit ihrer Arbeitsgruppe den Schluss gezogen, dass der Wunsch nach einer stärkeren politischen Positionierung stark sei: Je mehr das Bewusstsein innerhalb der Museen wächst, dass sie die Gesellschaften, in denen sie existieren, stark beeinflussen, desto größer wird der Ruf nach einem Wertegerüst und nach expliziten ethischen Leitlinien für die Museumsarbeit, schrieb sie in der ICOM-Zeitschrift Museum international, die in Aus­ gabe 1-2 /2019 wichtige Argumente der Debatte dokumentierte.4 Ein apo­ litisches Selbstbild des Museums als Institution, die Sammlungen bloß verwahrt, zugänglich macht und mit ihnen Forschungs- und Bildungs­ arbeit ermöglicht, sei nicht mehr haltbar in Zeiten, in denen keine öffent­lich finanzierte Institution sich ihrer »sozialen Verantwortung« entziehen könne.5 Der Definition von 2007 hatte die MDPP-Gruppe in einer ersten Stellungnahme von Dezember 2018 ein »ethisches Vakuum« bescheinigt.6 Auch die Ethischen Richtlinien für Museen, die ICOM 2004 zuletzt überarbeitet hat, galten ihr als zu zurückhaltend bei Wertefragen. Für die Zukunft erwarteten Museen eine klarere Haltung von ICOM, eine De­ finition, »die aktiv für bestimmte Werte eintritt oder diese aktivistisch 3 ICOM: Museum Definition. Interview with Jette Sandahl, 27. 11. 2017, https:// www.youtube.com/watch?v=dzlY8BDnE-0 [Abruf: 9. 5. 2022]. 4 Themenheft »The Museum Definition. The Backbone of Museums«, in: Museum international 1-2 (2019), S. 2. 5 Ebd. 6 ICOM Standing Committee for Museum Definition, Prospects and Potentials (2018): Report for the ICOM Executive Board, December 2018, S. 7, https://icom. museum/en/ressource/mdpp-report-and-recommendations-adopted-by-the-icomeb-meeting-december-2018/ [Abruf: 9. 5. 2022]. 56

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einfordert in Bezug auf Menschen, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit sowie in Bezug auf die Umwelt als der – zunehmend bedrohten – Grundlage allen Lebens.«7 Eine Definition als museumspolitische Zäsur Damit war der Ton gesetzt, mit dem das neue ICOM-Komitee die weltweite Zukunft der Museen beschrieb: Grundsätzlich ging es darum, das Verhältnis von Museum und Gesellschaft auf bestimmte Werte festzulegen. Die MDPP-Gruppe beschrieb Museen als Teil der innergesellschaftlichen Machtverhältnisse, als genuin politische Institutionen, die zur Identitätsbildung beitragen, bestimmte Geschichtsbilder und Wissens­ bestände vermitteln und für die Sammlungen, die sie horten, in der Verantwortung stehen. Folgt man dieser Ratio – und dafür gibt es gute Gründe, fundiert durch viele Beispiele aus der Museumsgeschichte8 –, dann ­müssen Museen sich in öffentliche Debatten einmischen, sich explizit zu ­gesellschaftlichen Normen verhalten und offen für (Selbst-)Kritik sein. Am Ende der Debatte hatte die MDPP-Gruppe zusammen mit dem ICOM-Vorstand eine neue Definition formuliert, die am 7. September 2019 bei der ICOM-Generalversammlung in Kyoto hätte angenommen werden sollen. Sie verstand unter Museen democratizing, inclusive and polyphonic spaces for critical dialogue about the pasts and the futures. Acknowledging and addressing the conflicts and challenges of the present, they hold artefacts and specimens in trust for society, safeguard diverse memories for future generations and guarantee equal rights and equal access to heritage for all people. Museums are not for profit. They are participatory and transparent, and work in active partnership with and for diverse communities to collect, preserve, research, interpret, exhibit, and enhance understandings of the world, aiming to contribute to human dignity and social justice, global equality and planetary wellbeing.9 Dieser Definitionsvorschlag war eine Zäsur. Mit ihm hatte ICOM erstmals grundlegend neu definiert, was ein Museum ausmachen soll und nicht – wie bislang üblich – bloß die bestehenden Definitionen aktua­ 7 Ebd. 8 Vgl. Thomas Thiemeyer, Geschichte im Museum. Theorie – Praxis – Berufsfelder, Tübingen 2018. 9 https://icom.museum/en/news/icom-announces-the-alternative-museum-definition-that-will-be-subject-to-a-vote/ [Abruf: 19. 9. 2022]. 57

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lisiert. Nachdem der neue Wortlaut den Mitgliedern bekannt gemacht worden war, hatte ICOM Europe im Verbund mit dem ICOM-Komitee für Museologie (ICOFOM) einen Protestbrief lanciert, den mehrere Mitgliedsverbände – darunter ICOM Deutschland – unterschrieben ­ ­hatten.10 In ihm forderten die Unterzeichnenden eine Verschiebung der Abstimmung, um die Definition grundlegend neu zu diskutieren und zu verändern. Der bisherige Diskussionsprozess sei »intransparent« gewesen und habe keinen echten Austausch zugelassen. In den Sozialen Netz­ werken (#museumdefinition auf Twitter) und beim Kongress kochte das Thema hoch. In Kyoto entschieden die Mitglieder schließlich, die De­ finition weiter zu diskutieren und die Abstimmung zu verschieben. Seitdem ist der Diskussionsprozess weiter- und in andere Hände übergegangen. Im Verbund mit den nationalen ICOM-Komitees versuchte nun eine Gruppe namens »ICOM Define« in einem basisdemokratischen Prozess – Slogan: »On the way to a new museum definition: We are doing it together !«11 – einen neuen Definitionsvorschlag zu erarbeiten. Dazu wurden zunächst innerhalb der Nationalkomitees zentrale Begriffe abgefragt, die sich in der neuen Definition wiederfinden sollten. Aus diesen kompilierte ICOM Define 2022 fünf Definitionsvorschläge, die allerdings auch weitere, zuvor nicht stärker gewichtete Begriffe ent­ hielten (beim Abfassen dieses Beitrags stand die Abstimmung noch aus).12 Andernfalls bliebe die bestehende Definition in Kraft (die somit implizit auch zur Wahl steht). Kern des Streits, der bis heute schwelt und zahlreiche Diskussions­ runden und Publikationen angeregt hat,13 ist die Frage, ob der neue Text 10 Aufruf auf der Website von ICOM Europe zur Verschiebung der Abstimmung unter http://network.icom.museum/fileadmin/user_upload/minisites/icom-europe­/images/ Invitation_to_postpone_ICOM_Museum_new_Definition.pdf [Abruf: 9. 5. 2022]. 11 Vgl. https://icom.museum/en/news/on-the-way-to-a-new-museum-definition-we-­ are-doing-it-together/ [Abruf: 9. 5. 2022] 12 Vgl. https://icom.museum/wp-content/uploads/2022/07/EN_EGA2022_Museum­ Definition_WDoc_Final-2.pdf [Abruf: 17. 8. 2022]. Bei der ICOM-Generalkonferenz in Prag stand dann nur noch einer dieser fünf Vorschläge zur Abstimmung. Er lautet: »A museum is a not-for-profit, permanent institution in the service of society that researches, collects, conserves, interprets and exhibits tangible and intangible heritage. Open to the public, accessible and inclusive, museums foster diversity and sustainability. They operate and communicate ethically, professionally and with the participation of communities offering varied experiences for education, enjoyment, reflection and knowledge sharing.« (https://icom.museum/en/resources/standards-guidelines/museum-definition/ [Abruf: 19.9.2022]) Er hat sich stark der bestehenden ICOM-Definition angenähert. 13 Vgl. dazu u. a. das Themenheft »Defining the Museum: Challenges and Compromises of the 21st Century«, in: ICOFOM Study Series 48 /2 (2020). 58

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noch eine Definition ist oder eher eine Vision, die Museen einen Weg in die Zukunft weist. So verstand ihn seinerzeit die MDPP-Gruppe.14 ICOM Europe hingegen machte geltend, dass eine Definition erstens griffig, also kurz sein müsse (eine Art Merksatz), und zweitens den Status quo zu beschreiben habe. Sie solle sagen, was Museen aktuell zu erfüllen haben und nicht, was in Zukunft wünschenswert wäre. Die Kritiker:innen sahen und sehen die politische Relevanz gefährdet, die die ICOM-­ Definition inzwischen erlangt hat. Am Ende lebt die Definition nämlich davon, dass möglichst viele nationale Museumsverbände und Staats­ regierungen sie anerkennen und sich politisch auf sie beziehen. Nur dann kann sie eine Form der Verbindlichkeit erreichen, die Museen hilft, ihre Interessen auch gegen Widerstände durchzusetzen. Nur dann kann sie dem rechtlich nicht geschützten Begriff »Museum« eine Kontur geben, die nicht zuletzt darüber entscheidet, wer ICOM-Mitglied werden kann und wer nicht (das ist für ICOM eine zentrale Funktion der Definition, weshalb diese auch Teil der Satzung ist). Zweitens haderten die Kritiker:innen mit der Politisierung des Museums, die in der neuen Definition angelegt ist und die an der Realität der meisten Museen vorbeigehe. »Die Begriffe des Textes, der zur Abstimmung steht, sind nicht jene, die die Mehrheit der ICOM-Mitglieder nutzen.« Als besonders gravierend empfanden sie, dass der politische Fokus den Bezug auf das materielle und immaterielle Kulturerbe eliminiert habe – »das Alleinstellungsmerkmal, das Museen von anderen Kultur­institutionen unterscheidet«.15 Der neue Wortlaut galt ihnen als zu unspezifisch, um die Charakteristika der Institution Museum kenntlich zu machen. In diesem Punkt verfing die Kritik: In jedem der fünf neuen Definitionsvorschläge von 2022 kommt das »tangible and intangible ­heritage« explizit vor. Liberal und postkolonial: Welche Werte vertritt ICOM? Was den 2019 gescheiterten Definitionsvorschlag zudem so provokant machte, war sein Duktus, der kategorial anders als der früherer Definitio­ nen war: Mit seinem Plädoyer für eine stärkere Wertorientierung spricht 14 Vgl. dazu z. B. die vier Fragen, die bei den Runden Tischen den Mitgliedern gestellt wurden. Sie zielten alle darauf, wie Museen und Gesellschaft sich in den nächsten zehn Jahren entwickeln sollen. Vgl. Lauran Bonilla-Merchav, Letting Our Voices Be Heard: MDPP Roundtables on the Future of Museums, in: Museum Internati�onal 71 /1-2 (2019), S. 160-169. 15 Aufruf auf der Website von ICOM Europe zur Verschiebung der Abstimmung. 59

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er die Sprache kulturpolitischer Empfehlungen im Stil von UN und UNESCO. Als ethische Orientierungspunkte dienen vor allem die UNErklärung zu den Rechten indigener Völker (Resolution 61 /295 von 2007)16 und die UNESCO -Empfehlung zum Schutz und zur Förderung von Museen und Sammlungen von 2015,17 an der ICOM stark mit­ gearbeitet hatte. »ICOM«, heißt es im MDPP-Statement von 2018 mit Blick auf diese beiden Dokumente, »ist Teil einer Welt, deren Leitwerte Gerechtigkeit, Freiheit und Friede, Solidarität, soziale Integration und nachhaltige Entwicklung heißen.«18 Das ist ein Bekenntnis zu den Werten liberaler Gesellschaften, von denen freilich fraglich ist, ob es die Zustimmung aller Regierungen rund um den Globus finden wird. Die Kontrastfolie dieser Vision bilden die grassierenden Populismen und aggressiven Nationalismen mit ihrer ausgrenzenden (bis offen kriegerischen) Politik und einer Tendenz zu »gruppenbezogener Menschenfeind­ lichkeit« (Wilhelm Heitmeyer). Sie schlägt zuweilen unmittelbar auf Museen durch, etwa in Polen, wo die regierende PiS-Partei den unlieb­ samen Direktor des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig, Paweł Machcewicz, abgesetzt und dem Haus mehr Patriotismus ver­ ordnet 19 hat. Die politische Agenda der Definition von 2019 war aber nicht nur ­liberal, sondern auch postkolonial grundiert. Sie war selbstreflexiv und – zumindest implizit – durch eine neoliberale Perspektive auf Museen gekennzeichnet. Diese baute auf der Prämisse auf, dass Museen zunehmend den Gesetzen des Marktes von Angebot und Nachfrage gehorchen (müssten), um ihre gesellschaftliche Relevanz nachzuweisen – ein Finanzierungs- und Quotendruck, dem die deutschen Museen bislang vergleichs­ weise wenig ausgesetzt sind. Sie sind zu großen Teilen staatlich oder kommunal finanziert (oft allerdings am Minimum) und nur selten wie ihre angloamerikanischen Schwestern von matching funds abhängig, bei denen die öffentliche Hand maximal so viel zuschießt, wie das Museum zuvor an Spenden eingeworben und an Einnahmen erzielt hat. Zudem 16 Resolution 61 /295, https://www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/Declaration ­%28German%29.pdf [Abruf: 9. 5. 2022]. 17 United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, Recommenda�tion concerning the protection and promotion of museums and collections, their diversity and their role in society, Paris 20. 11. 2015, http://www.unesco.org/new/ fileadmin/MULTIMEDIA /HQ/CLT/images/FINAL_RECOMMENDATION_ ENG_website_03.pdf [Abruf: 9. 5. 2022]. 18 ICOM Standing Committee for Museum Definition, Prospects and Potentials (2018), S. 6. Übersetzung des Verfassers. 19 Vgl. dazu Paweł Machcewicz, The War That Never Ends: The Museum of the ­Second World War in Gdansk, Oldenbourg 2019. 60

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sichert ihnen der enge Nexus zwischen Kultur und Bildung, der seit dem 19. Jahrhundert das Glaubens­bekenntnis des deutschen Bildungsbürgertums darstellt, in der selbst­ernannten deutschen »Kulturnation« (noch) einen Vertrauensvorschuss.20 Weltweit sind dagegen immer mehr Museen darauf angewiesen, sich das Geld einzuwerben, mit dem sie arbeiten wollen. Deshalb hat ICOM seinen Mitgliedern vorgeschlagen, Museen nicht mehr rundheraus als »non-profit« zu definieren, sondern als Institutionen, die »not for profit« arbeiten – als Häuser mithin, die nicht primär Profit erzielen sollen, ­denen es aber gestattet ist, Geld zu verdienen. Die Kehrseite dieser Öffnung – die ICOM schon 2007 in der Definition sichtbar machen wollte – ist der (partielle) Autonomieverlust der Institution. Dieser vollzieht sich schon länger, hat im Kontext neoliberaler Kulturpolitiken, die staatliche Finanzierungen immer weiter kürzen, inzwischen aber eine neue Qualität erreicht. Das zeigte u. a. die hitzige Debatte um Spenden der Sackler-Familie an britische und amerikanische Bildungs- und Kultureinrichtungen, die 2018 /19 hochkochte und die von der MDPP-Gruppe aufmerksam registriert wurde.21 Den Sacklers gehört die Pharma-Firma Purdue, die mit dem Schmerzmittel Oxycontin Mil­ liarden verdiente – ein Medikament, das nicht nur Schmerzen lindert, sondern die Opioid-Krise in den USA mit mehr als 400.000 Drogen­ toten ausgelöst hat. Dürfen Kulturinstitutionen Geld von solchen Mäzenen akzeptieren? In Zukunft nicht mehr, hatten unter anderen die Tate Modern in London und das Guggenheim-Museum in New York entschieden. Allein in Großbritannien haben Stiftungen der Sacklers in den letzten Jahren mehrere Hundert Millionen Euro an Museen, Bibliotheken oder Universitäten überwiesen.22 So entstehen Abhängigkeiten, die der Glaubwürdigkeit der begünstigten Institutionen schaden können. Auf solche Fälle zielt das Adjektiv »transparent« im neuen Definitions­ vorschlag. Es hat eine institutionskritische Stoßrichtung, die von Museen zu Recht mehr Rechenschaft über ihre Geschäfte fordert. In Deutschland, wo Kultur traditionell außerhalb der Sphären des Ökonomischen und Nützlichen angesiedelt war (und in Teilen immer noch ist), ist der Zugriff auf Kulturgut aus kommerziellen Gründen seit 20 Vgl. dazu Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. / Leipzig 1994; Walter Grasskamp, Das Kunstmuseum. Eine erfolgreiche Fehlkonstruktion, München 2016. 21 Gespräch des Autors mit Jette Sandahl am 5. Juli 2019. 22 Emily Witt, Pain Killer. Über die Opioid-Krise in Nordamerika, in: Merkur 73 / 843 (2019), S. 5-17; Alex Marshall, Museum Cut Ties with Sacklers as Outrage Over Opioid Crisis Grows, in: New York Times, 25. 3. 2019. 61

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den 1970er Jahren immer wieder kritisch unter dem Stichwort der »Kommodifizierung« diskutiert worden. Kommodifizierte Kultur ist ­ eine Ware. Sie dient nicht mehr primär der Identitätsbildung, ästhetischen Erbauung oder Erkenntnisstiftung, sondern dem Geschäft. Kommodifizierte Kultur gibt sich maximal geschmeidig, will für möglichst viele »Konsumierende« attraktiv sein, um sich gut zu verkaufen. Im Kultur­betrieb ist die Quote ihr Maßstab: Zuschauer- und Besuchs­ zahlen. Die Marktgängigkeit wird ihr gerne als Qualitätsverlust zur Last gelegt: Kultur, die sich den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unterwirft und möglichst vielen gefallen will, könne schlechterdings nicht »außergewöhnlich« sein. Sie bediene nur standardisierte, »künstliche« Bedürfnisse, die sie zuvor selbst erzeugt habe, lautet der Verdacht, den prominent die Philosophen Max Horkheimer und Theodor Adorno als »Kulturindustrie« auf den Begriff gebracht haben. Mit der Freiheit und Widerständigkeit autonomer Kunst, die den Menschen herausfordert, habe sie nichts mehr gemein.23 Auch wenn man nicht alle Einschätzungen zur »Kulturindustrie« teilt: Richtig ist die Feststellung, dass sich Kultur im engen Sinne in dem ­Moment verändert, in dem nicht mehr eine kleine Gruppe von Kenner:in­ nen allein nach fachwissenschaftlichen Kriterien darüber entscheidet, was ein Museum sammelt und ausstellt, sondern wenn nach Maßstäben bewertet wird, die maßgeblich Laien – das Publikum – definieren. Kultur verliert dadurch ihre Exklusivität und kommt in der Mitte der Gesellschaft an. Das muss sie nicht »schlechter« machen (was hieße das überhaupt?). Anders und weniger exklusiv macht es sie in jedem Fall. Die Bewertungskriterien, die es anlegt, sind weniger kennerschaftlich als vielmehr mehrheitsfähig. Transparenz heißt nicht nur offenzulegen, woher die Mittel stammen, mit denen Museen arbeiten und welche Kriterien Qualität bewerten. Transparenz betrifft auch die Sammlungen und ihre Geschichte. Den Museumsdepots gilt heute mehr denn je das öffentliche Interesse, seit sich herumgesprochen hat, dass Bestände aus der NS - und Kolonialzeit unter fragwürdigen bis verbrecherischen Umständen in westliche Museums­ depots gelangten. Die Washingtoner Prinzipien von 1998 zur NS -Raubkunst oder die jüngst publizierten Empfehlungen für dem Umgang mit kolonialzeitlichen Sammlungen in deutschen und französischen Museen sind die wissenschaftlichen und kulturpolitischen Antworten auf Fragen nach vergangenem Unrecht, dem sich heutige Kulturinstitutionen zu 23 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1969. 62

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stellen haben.24 An ihrem Beispiel werden aktuell Fragen der öffentlichen Moral verhandelt, die genuin politisch sind und zu denen sich die Institutionen verhalten müssen. Wenn der ICOM-Vorstand seine Mitglieder 2019 per Definition auffordern wollte, »equal rights and equal access to heritage for all people« zu garantieren, dann zielte das nicht zuletzt auf marginalisierte gesellschaftliche Gruppen – namentlich auf jene einst kolonisierten Völker und Staaten in Übersee, deren kulturelles Erbe in europäischen Museen lagert, bzw. auf jene indigenen Minderheiten in Ländern wie Kanada, Australien oder den USA , die Zugang zu den Artefakten ihrer Vorfahren einfordern und in einigen Fällen eigene Museen gründen konnten. Die Idee, Museen sollten »participatory and transparent« sein, und »in active partnership with and for diverse communities« arbeiten, ging in dieselbe Richtung.25 Sie sprach »communities« ein Recht zu, eigenständig mit Sammlungen zu arbeiten, was speziell wohl an jene in der Regel substaatlichen Gruppen und Herkunftsgesellschaften adressiert war, die lange Zeit großflächig aus kulturpolitischen Verhandlungen herausgehalten wurden (insbesondere bei Verhandlungen zwischen Staaten, für die ­allein Regierungen als zuständig gelten).26 Die Begriffe Partizipation und Partnerschaft stehen Pars pro Toto für ein verändertes Selbstbild vieler Museen in den wohlhabenden, liberalen und demokratischen Gesellschaften, denen es – zumindest dem Anspruch nach – zuerst um Dialog und Kommunikation mit ihren Be­ sucher:innen geht. Sie sehen sich als öffentliche Räume, in denen sich unterschiedliche Stimmen artikulieren und frei miteinander sprechen können sollen. Folgerichtig nennt der umstrittene Definitions­vorschlag Museen »democratizing, inclusive and polyphonic spaces for critical ­dialogue«, die »diverse memories for future generations« schützen. Die 24 Vgl. zu den Washingtoner Prinzipien Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, https://­ www.kulturgutverluste.de/Webs/DE /Stiftung/Grundlagen/Washingtoner-Prinzi pien/Index.html [Abruf: 9. 5. 2022]; zu kolonialzeitlichen Sammlungen Felwine Sarr / Bénédicte Savoy, Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kultur­ güter, Berlin 2019; Deutscher Museumsbund (Hg.), Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten (2. Version), Berlin 2019, https://www.museumsbund.de/­ wp-­content/uploads/2019/08/dmb-leitfaden-kolonialismus-2019.pdf [Abruf: 9. 5. 2022]. 25 Alle Zitate der Museumsdefinition unter https://icom.museum/en/news/icomannounces-the-alternative-museum-definition-that-will-be-subject-to-a-vote/ [Abruf: 19. 9. 2022]. 26 Der Community-Begriff wird aktuell stark diskutiert. Vgl. dazu als einen der neueren Ansätze aus der Anthropologie Erica Lehrer, From ›Heritage Communities‹ to ›Communities of Implication‹, in: traces fanzine 2018, http://www.traces.polimi. it/index.html@p=3595.html [Abruf: 9. 5. 2022]. 63

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Kritiker:innen sagen, nur einige Museen können derart hohe Ziele er­ füllen – ganz abgesehen davon, ob sie eine solche Selbstbeschreibung angemessen finden. Auch bezweifeln sie, dass sich viele Regierungen e­iner solchen Lesart anschließen werden. Letzten Endes lautet die Botschaft dieser Zeilen nämlich, dass Museen einen Teil ihrer Autorität über Sammlungen und Weltdeutungen preisgeben. Preisgegeben wird damit ein Teil der fachlichen Expertise, die nun nicht mehr allein bei den Kustoden und Kuratierenden gesucht wird. Diese Aushandlung um ­ den Stellenwert von Expert:innenwissen ist eine der interessantesten Zukunfts­fragen in den Museen, weil sie neu definiert, was gesellschaftlich rele­vantes Wissen ist: Expert:innenwissen jedenfalls kann nie demokratisch sein, weil es das Privileg weniger Fachleute ist, die sich lange mit einem Thema beschäftigt haben. Laienwissen ist kategorial anders beschaffen und wird inzwischen innerhalb der Kulturinstitutionen zunehmend ­eingebunden und ernst genommen (Stichwort Bürgerwissenschaft oder ­Citizen Science).27 Die diverse Gesellschaft als neue Norm Im Großen hat ICOM in dem 2019 gescheiterten Definitionsangebot ein an­deres Bild von Gesellschaft entworfen:28 Es verteidigt (kulturelle) Vielfalt als Wert an sich und will Minderheiten schützen. Die Verweise auf »diverse memories«, »polyphonic spaces« und »communities« zeichnen das Bild einer diversen Gesellschaft als Norm. Einer Gesellschaft, die sich nicht als ­homogen wahrnimmt, sondern in der es viele widerstreitende Interessen gibt; einer Gesellschaft, die sich permanent verändert und die Regeln, nach denen ihre Mitglieder zusammenleben, immer wieder neu verhandeln muss und will, und zwar in Zeiten erhöhter Migration. Solche Gesellschaften können im Extremfall »agonistisch« sein, also so tief gespalten, dass nicht mehr Kompromiss und Konsens das Ziel der Politik sind, sondern das mehr oder weniger offene Dominieren bzw. 27 Vgl. dazu Thomas Thiemeyer, Knowledge, in: Francois Mairesse (Hg.), Keywords of Museology (im Erscheinen); Christiane Cantauw / Michael Kamp / Elisabeth Timm (Hg.), Figurationen des Laien zwischen Forschung, Leidenschaft und politi­ scher Mobilisierung. Museen, Archive und Erinnerungskultur in Fallstudien und Berichten, Münster / New York 2017; Katrin Vohland / Anne Land-Zandstra / Luigi Ceccaroni / Rob Lemmens / Josep Perelló / Marisa Ponti / Roeland Samson / Katherin Wagenknecht (Hg.), The Science of Citizen Science, Heidelberg 2021. 28 Das legen insbesondere die zuvor lancierten Diskussionspapiere nahe, siehe insb. ICOM Standing Committee for Museum Definition, Prospects and Potentials (2018), S. 6. 64

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Dominiertwerden das Miteinander bestimmt.29 Wer Gesellschaften so konzipiert, geht nicht mehr von einem konfliktfreien, harmonischen und stabilen Zusammenwirken von Gesellschaft und Museum aus, über das man getrost schweigen kann. Vielmehr versteht er Museen im Foucaultschen Sinne als Disziplinarinstitutionen, die bestimmte Sichtweisen auf die Welt ermöglichen und andere verweigern.30 Sie sind in Macht­ beziehungen eingebunden und folgen politischen Aufträgen. Sie bilden nicht bloß ab und nach, sondern definieren maßgeblich, was in einer Gesellschaft als richtig und falsch gilt. Die Provokation des neuen Textes liegt darin, von den Museen zu verlangen, der Öffentlichkeit darüber Rechenschaft abzulegen und sich so angreif bar zu machen. Generell zeichnet ihn eine weniger wohlwollende, sondern stärker kritische Haltung gegenüber Museen und Kulturerbe aus, wie sie u. a. die Critical Heritage Studies kennzeichnet.31 So gesehen sind auch die Aufgaben, die Museen in Gesellschaften übernehmen, alles andere als wertfreie Praktiken. Längst interessiert sich eine reflexive Museumsanalyse vor allem für die Vorannahmen und Selek­tionskriterien, auf deren Grundlage Museen »sammeln, bewahren, forschen und ausstellen«.32 Diese vier Verben bilden seit 1974 den ­Kanon der Museumsaufgaben. Neu hinzukommen sollte 2019 der Begriff »interpretieren«. Mit ihm wollte MDPP Museen als Institutionen definieren, die Deutungsangebote machen, ohne davon auszugehen, im Besitz der Wahrheit zu sein. Hier muss man sich die kulturpolitischen Ideen von shared heritage, shared responsibility oder cultural democracy hinzudenken, denen es darum geht, die Verfügungsmacht und Deutungshoheit der Museen über ihre Bestände mit Gruppen zu »teilen«, die nicht zur In­ stitution gehören.33 Es ist gerade dieser selbstkritische, liberale und sozialkonstruktivistische Subtext, der für Irritationen sorgt. Er läuft Gefahr, für viele Museen 29 Vgl. u. a. Chantal Mouffe, Agonistik. Die Welt politisch denken, 2. Aufl., Berlin 2016. 30 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1977. 31 Vgl. dazu insb. die Göttinger DFG -Forschungsgruppe 772 »Die Konstituierung von Cultural Property: Akteure, Diskurse, Kontexte, Regeln«; hier etwa Stefan Groth /Regina Bendix / Achim Spiller (Hg.), Kultur als Eigentum. Instrumente, Querschnitte und Fallstudien, Göttingen 2015. 32 Shelley Ruth Butler, Reflexive Museology. Lost and Found, in: Sharon Mac­ donald / Kylie Message / Andrea Witcomb (Hg.), Museum Theory (International Handbook of Museum Studies, Bd. 1), Oxford / Malden 2015, S. 159-182. 33 Vgl. ICOM Standing Committee for Museum Definition, Prospects and Potenti� als (2018), S. 11 f. 65

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nicht anschlussfähig zu sein und in Ländern, die von Minderheitenschutz, freier Rede und antiautoritären Kulturinstitutionen nichts ­halten, nicht akzeptiert zu werden. Denn am Ende definiert noch immer die Kulturpolitik der Nationalstaaten und Kommunen, was Museen sein können und sollen. Der Streit um die ICOM-Definition ist also nicht allein ein Konflikt darüber, ob man die formulierten Werte teilt oder ablehnt. Dass sich ICOM auf liberale Werte und die politische Funktion des Museums rückbesinnt, ist ein gutes Zeichen in Zeiten, in denen alte Verbindlichkeiten und soziale Standards des guten Umgangs miteinander weg­ brechen und Kritik in den Echokammern der sozialen Netzwerke und eingeschüchtert von der Rabulistik autoritärer Politik einen schweren Stand hat. Die Frage ist nur: Geht es darum? Geht es um eine ambitionierte Museumsvision für die Zukunft? Oder sollte ICOM mit seiner Definition eher das kulturpolitische Anliegen verfolgen, (Mindest-) Standards zu formulieren, die für alle Museen heute schon gelten (sollten) und die die Politik respektiert – auch und gerade in solchen ­Ländern, in denen Museen besonders schutzbedürftig sind? Meines Erachtens braucht es beides: eine funktionale Definition, die kurz und klar und sehr konkret umreißt, was ein Museum ist, und zwar in Begriffen, die leicht verständlich sind.34 Und eine Vision, die den Museen weltweit ein Leitbild, ein »framework of value-based advocacy«35 liefert, an dem sie sich orientieren und auf das sie sich berufen können. Die Debatte darüber, welche Werte überhaupt zur Diskussion stehen, hat noch nicht richtig begonnen. Sie zu führen wäre eine sinnvolle Fortsetzung der zuletzt zu sehr technisch geführten Definitionsfrage. Denn im Kern geht es um die politische Frage, für welche Werte unsere Kulturinstitutionen stehen sollen und welche Werte konsensfähig sind. Da­ hinter stehen Welt- und Menschenbilder, die permanent neu verhandelt werden müssen.

34 Schließlich beschreibt ICOM Museen nicht zuerst für sich selbst, sondern für eine Öffentlichkeit und Kulturpolitik, die völlig zu Recht vom größten Fachverband eine Antwort auf die Frage erwarten, was Zweck und Aufgabe der Institution ist, die er vertritt. 35 ICOM Standing Committee for Museum Definition, Prospects and Potentials (2018), S. 6. 66

Andreas Ludwig

Dingaufmerksamkeiten Was ist es wert, in Wert gesetzt zu werden

Seit mehr als vierzig Jahren wird in den Museen intensiv über ihr Selbstverständnis und über ihre Stellung in der und für die Gesellschaft ­dis­kutiert. Man wird dies als Reaktion auf einen vorangegangenen Dorn­ röschenschlaf interpretieren können, in den die Museen seit der Gründungs­ welle des späten 19. Jahrhunderts und der Museumsreform­diskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfallen waren. Dies gilt insbesondere für die – im weitesten Sinne – kulturhistorischen Museen, auf die sich auch die folgenden Ausführungen beziehen.1 In ihnen hat sich im Lauf der Jahrzehnte ein Sammlungsbestand angehäuft, der sich als Sedimentierung von Interpretationen des Sammlungswürdigen deuten lässt. Seine Fortführung, Ergänzung und Neubefragung war und ist Gegenstand musealen Selbstverständnisses als Sammlungs­ institution, auch wenn diese Funktion als Baustein der gesellschaftlichen Gedächtnisinstitutionen selten im Vordergrund der Reformdebatten stand. Auf vier dieser sammlungsbezogenen Diskussionen, das Sammeln von Gegenwart (I) und von Alltag (II), die Demokratisierung des Sammelns qua Partizipation (III) und die Diskussion um das »Reassessment« (IV ), also die Neubewertung überkommener Sammlungen, wird im Folgenden als jeweilige Neuformulierung von musealer Inwertsetzung näher eingegangen. Zudem gilt es, zumindest ansatzweise, die Auswirkungen der Inwertsetzungsprozesse zu thematisieren, denn jede der vier oben genannten Reformdiskussionen hatte Folgen, wenn nicht für den Sammlungs­ bestand, so doch zumindest für die Reformulierung des Museums als Institution. Liegt der Wert, den das Museum als Ganzes verkörpert, überhaupt noch in den Dingen und sind demzufolge Inwertsetzungs­ prozesse auf andere Felder als die Sammlung übergegangen, indem seit 1 Der Beitrag thematisiert die Entwicklungen in der Bundesrepublik mit einem Ausblick auf Skandinavien. Die Museen in der DDR haben eine andere Entwicklung genommen, vgl. Andreas Ludwig, Sammeln von Gegenwart in historischen Museen der DDR , in: Lucas Cladders / Kristin Kratz-Kessemeier (Hg.), Museen in der DDR . Akteure – Orte – Politik, Wien / Köln 2022, S. 243-255. 67

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der Formulierung einer »Kultur für alle«2 Vermittlungsfragen in den Vordergrund gerückt sind? Oder deutet sich eine Trendwende an, in der die Sammlungen erneut Relevanz gewinnen, etwa durch die inner­ museale Diskussion um ein »Assessment of Significance«3 oder die Wieder­entdeckung der Hochschulsammlungen als materielles Archiv,4 als Inwertsetzung des Vergessenen und an Materialität gebundenen ­Wissens? Die Herausgeber dieses Bandes haben das Thema der Dingaufmerksamkeiten dem Kapitel des »Davor« zugeordnet und dies ergibt durchaus Sinn, wenn man Sammeln als erste und grundlegende Aufgabe des ­Museums ansieht, als Voraussetzung für die nachgelagerten musealen Aufgaben des Bewahrens, Erforschens und Vermittelns. Bei näherer Betrachtung erweist sich dieses »Davor« jedoch als idealtypische zeitliche Einordnung, die im Konkreten eher eine permanente Verschiebung und Neuordnung der Zeitdimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sein scheint. Mit Sammeln verbundene und durch das Sammeln ausgelöste Inwertsetzungsprozesse tragen, insbesondere bei ­ihrer Neuformulierung, immer diese drei Zeitdimensionen in sich, allein schon indem sie sich auf Tradition, Aktion und Wirkung des Sammelns be­ ziehen. Dies wird in einem abschließenden Absatz diskutiert werden (V ). Sammeln von Gegenwart (I) Eine erste Diskussion um das Zustandekommen von Museumssammlungen fand auf Grundlage von deren Analyse und Neubewertung und der Frage nach ihrer Wirkfähigkeit in der Gesellschaft seit den 1970er 2 Hilmar Hoffmann, Kultur für alle. Perspektiven und Modelle, Frankfurt a. M. 1979. 3 Regine Falkenberg / Thomas Jander (Hg.), Assessment of Significance. Deuten – Bedeuten – Umdeuten, Berlin 2018. 4 Vgl. dazu Koordinierungsstelle für wissenschaftliche Universitätssammlungen in Deutschland, https://wissenschaftliche-sammlungen.de/, und das Sammlungsportal https://portal.wissenschaftliche-sammlungen.de/discover [Abruf: 18. 9. 2021]; Cor­ nelia Weber / Sarah Elena Link / Martin Stricker / Oliver Zauzig, Zur Einführung, in: dies. (Hg.), Objekte wissenschaftlicher Sammlungen in der universitären Lehre – Beiträge einer Arbeitstagung der Koordinierungsstelle für wissenschaftliche Uni­ versitätssammlungen in Deutschland in Kooperation mit der Stiftung Mercator ­(objekte2015), 28.-29. 5. 2015, https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/389 [Abruf: 8. 3. 2022]. An der Universität Göttingen wurde mit der seit 2013 bestehenden Zentralen Kustodie der Universitätssammlungen eine Professur für Materialität des Wissens eingerichtet und 2022 das »Forum Wissen« eröffnet, das die 70 Universitäts­ sammlungen der Öffentlichkeit unter anderem in Form einer Dauer­ausstellungen vorstellt. Vgl. https://www.forum-wissen.de [Abruf: 29. 8. 2022]. 68

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Jahren statt. In der Bundesrepublik ist die von der Deutschen Forschungs­ gemeinschaft (DFG) initiierte Denkschrift zur Lage der Museen5 von 1974 die erste grundsätzliche und spartenübergreifende Positionsbestimmung, die einen Einblick in museumsspezifische Argumentationsmuster erlaubt. Auslöser für eine solche, die aktuelle Lage und gesellschaftliche Funktion der Museen beschreibende Denkschrift war der ebenfalls von der DFG initiierte Appell zur Hilfe für die Museen drei Jahre zuvor.6 Während dieser Appell eine in acht Forderungen mündende Professionalisierung des Museumswesens formuliert hatte, die auf die in den 1950er und 1960er Jahren dominierende Wiederaufbauphase folgen sollte, setzte sich die Denkschrift aus Einzelbeiträgen zu den wichtigsten Museumssparten zusammen. Die daraus resultierenden, notwendigerweise heterogenen Argumentationen zeigen eine Umbruchsituation, in der sowohl Reform wie auch Beharren formuliert wurden. Während der DFG -­ Präsident Heinz Maier-Leibnitz in seinem Vorwort darauf verwies, dass Museen »in ständigem Bezug auf die jeweilige Gegenwart« und mit Blick in die Zukunft agieren sollten,7 was im Folgenden einzelne Beiträger im Sinne einer veränderten Welt oder als »gegenwärtige gesellschaftliche Veränderungen«8 als gegeben konzedierten, waren die von der DFG er­ betenen gutachterlichen Beiträge doch stark von einer Skepsis gegenüber der Gegenwart geprägt. Dingaufmerksamkeit bezog sich auf den Rettungs­ gedanken, der angesichts der beschleunigten Außergebrauchnahme von Artefakten zu einer Belastung für die Sammlungen führen würde,9 kulturelle Relikte würden durch eine »Weltindustriekultur« zerstört und zum »Schwinden der gewachsenen Kulturen«10 führen. Museen hatten nach dieser Auffassung vor allem die Funktion der Rettung von bedrohtem Kulturgut. Dieser kulturpessimistischen Sichtweise standen jedoch auch stärker analytische oder kulturell vermittelnde Positionen gegen­ über. So bemerkte der Direktor des Römisch-Germanischen Zentral­ museums:

5 Hermann Auer, Denkschrift Museen. Zur Lage der Museen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West), Boppard 1974. 6 Die Notlage der Museen in der Bundesrepublik Deutschland. Appell zur Sofort­ hilfe, vorgelegt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1971, abgedr. in: ebd., S. 185-194. 7 Heinz Maier-Leibnitz, Vorwort, in: ebd., S. 9. 8 Stefan Waetzold, Museumspolitisches Nachwort, in: ebd., S. 179-183, hier S. 179. Gemeint war in erster Linie die Bildungsreform seit den 1960er Jahren. 9 Kurt Böhner, Kulturgeschichtliche Museen, in: ebd., S. 83-100, hier S. 91 f. 10 Wilhelm Schäfer, Museen in unserer Zeit, in: ebd., S. 10-20, S. 13 und 17. 69

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Ziel dieses Sammelns ist die lebendige Verbindung unseres eigenen Lebensgefühls mit solchen ›Erinnerungen‹ im weitesten Sinne, die uns auf der einen Seite fremd und vergangen gegenüberstehen, mit denen uns aber auf der anderen Seite auch die große Kontinuität allen menschlichen Lebens unmittelbar verbindet.11 Sammeln wurde hier als Voraussetzung von Sinnkonstruktion beschrieben, die im Historischen sowie im Lebensweltlichen gründet, die Sammelnde und Betrachtende gleichermaßen betrifft. Die Denkschrift von 1974 zeichnete also ein kulturpessimistisches wie auch idealisierendes Bild von Museen, das auf der historisch gewachsenen Selbstverständlichkeit des Sammelns als Basisaktivität beruhte12 und das mit Blick auf traditionelle Sammlungsimpulse eine institutionen- wie sozialgeschichtliche Phase musealer Arbeit charakterisiert. Diese traditionale Auffassung von Museums- und Sammlungsarbeit wurde im Verlauf der 1970er Jahre nachhaltig irritiert. Erinnert sei hier nicht nur an das bereits oben genannte Diktum einer »Kultur für alle«, das in Bezug unter anderem auf die Museen, auf erleichterte Zugäng­ lichkeit und Besucher:innenorientierung zielte und etwa in Frankfurt am Main, Köln, München und Nürnberg zu neuen, besucher:innen­ bezogenen Museums­konzeptionen führte.13 Erinnert sei auch an den Boom historischer Ausstellungen, der 1977 mit der Stauferausstellung in Stuttgart begann und der nicht nur ein Massenpublikum anzog, sondern auch zeitgemäße Narrative des Historischen anbot.14 Diese öffent11 Böhner, Kulturgeschichtliche Museen, S. 83. Zur analytischen Herangehensweise mit Bezug auf Wissen­schaftsgebundenheit, Repräsentationswillen und Besucherperspektive vgl. Heiner Treinen, Museum und Öffentlichkeit, in: Auer, Denkschrift Museen, S. 21-38. 12 Vgl. dazu in der gleichen Publikaton u. a. Böhner, Kulturgeschichtliche Museen. 13 Vgl. u. a. Detlef Hoffmann / Almut Junker / Peter Schirmbeck (Hg.), Geschichte als öffentliches Ärgernis oder: ein Museum für die demokratische Gesellschaft. Das His­ torische Museum Frankfurt a. M. und der Streit um seine Konzeption, Fernwald 1974; Hermann Glaser / Bernward Deneke / Karl Georg Kaster / Johannes Hübner, Museum und demokratische Gesellschaft. Vorüberlegungen zum Konzept ­eines historischen Museums für Nürnbergs Industriekultur, Nürnberg 1979; Jörgen Bracker, Zum Kon­zept des Römisch-Germanischen Museums Köln – in Aus­wirkung und Kritik, in: Ellen Spickernagel / Brigitte Walbe (Hg.), Das Museum. Lernort contra Musentempel, Gießen 1976, S. 84-98, sowie die Zusammenfassung der anschließenden Dis­ kussion. Zu den maßgeblich von München und Nürnberg ausgehenden museums­ pädagogischen Initiativen vgl. Klaus Weschenfelder / Wolfgang Zacharias (Hg.), Handbuch Museumspädagogik, Düsseldorf 1981; Mario Schulze, Wie die Dinge spre­chen lernten. Eine Geschichte des Museumsobjektes 1968-2000, Bielefeld 2017. 14 Vgl. Mario Schulze / Anke te Heesen / Vincent Dold (Hg.), Museumskrise und Ausstellungserfolg. Die Entwicklung der Geschichtsausstellung in den Siebzigern, 70

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lichkeitsbezogenen Inno­vationen hatten unterschiedliche Auswirkungen auf die Dingaufmerksamkeit und wenn, wie vor allem im RömischGermanischen Museum Köln, dann vor allem mit Blick auf die Präsentation. Das Sammeln von Objekten, also das der Vermittlung vorangegangene »Davor«, war hingegen kein Thema. Hier kam der entscheidende Impuls aus Skandinavien, wo unter dem Begriff Samdok (Samtidsdokumenta­ tion – Gegenwartsdokumentation) eine grundlegende Innovation musealer Sammlungsarbeit vorgeschlagen wurde, die sich mit den Begriffen Planung, Systematik, Gegenwarts- und Gesellschaftsorientierung sowie Kontextualisierung zusammenfassen lässt. Auslöser für den mit dem Samdok-Projekt verbundenen Paradigmenwechsel war eine Sammlungsanalyse im Schwedischen Nationalmuseum, dem Nordiska Museet in Stockholm, deren Ergebnis zeigte, dass das 20. Jahrhundert in den Museumssammlungen fast vollständig fehlte.15 Das Ergebnis der Analyse führte zu einer Neuausrichtung der schwedischen Museumspolitik insgesamt und 1977 zur Gründung des Museums­ verbunds Samdok, der bis 2011 Bestand hatte.16 Dies bedeutete einen ­Paradigmenwechsel musealer Inwertsetzung: »It was now possible to distinguish between different ways of collecting – one with its origin in an historical gaze, and another focusing on what had yet to become history.«17 Gemeint war ein durch ein Netzwerk schwedischer Museen getragener Blick auf die damalige schwedische Gesellschaft, dessen Relevanz sich an der offiziellen Sozialstatistik orientierte, vor allem mit Blick auf die Arbeitswelt.18 Sie wurde durch Feldforschungsaktivitäten breit dokumentiert, wodurch das Sammeln von musealen Objekten unter

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Berlin 2015; Martin Große Burlage, Große historische Ausstellungen in der Bundes­ repubik Deutschland, Münster 2005. Anna Steen, Samdok: tools to make the world visible, in: Simon J. Knell (Hg.), Museums and the Future of Collecting, Farnham 1999, S. 196-203, hier S. 198. Vgl. Bengt Nyström / Gunilla Cedrenius, Spread the responsibility for museum documentation, Stockholm 1982. Zur Entwicklung und Arbeitsweise von Samdok vgl. Elin von Unge, When Culture becomes Heritage. In Search of the Samdok Discourse of Collecting Contemporary Heritage, Masterarbeit, Universität Göteborg 2008; Bodil Axelsson, The Poetics and Politics of the Swedish Model for Contemporary Collecting, in: Museum & Society 12 /1 (2014), S. 14-28. Die Debatten von Samdok werden heute auf internationaler Ebene im 2012 gegründeten ICOM-Komitee COMCOL fortgeführt. Elin Nystrand von Unge, Samla Samtid. Insamlingspraktiker och temporalitet på kulturhistorika museer i Sverige, Diss., Universität Stockholm 2019 (mit englischer Zusammenfassung), S. 228, https://www.su.se/english/profiles/elny0570-1.189178 [Abruf: 18. 9. 2021]. Nyström / Cedrenius, Spread the Responsibility, S. 15. 71

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dem Milieubegriff19 kontextualisiert wurde. Daneben wurden aber auch Sammlungskriterien entwickelt, die unter anderem auf Häufigkeit und Repräsentativität zielten.20 Hinterfragt wurde damit die museale Konvention des antiquarischen Sammelns, das sich im schwedischen Fall meist auf die vorindustrielle und ländliche Gesellschaft bezogen hatte. Die Dingaufmerksamkeit von Samdok richtete sich nun auf die aktuelle Gesellschaft, wobei sich das Argument der Gegenwartsdokumentation immer auch auf die Vorstellung bezog, vorsorgend für eine Zukunft zu arbeiten, in der die bisher für die Museumssammlungen charakteristischen Zufälle der Überlieferung vermieden werden sollten. Die in vielen Publikationen verwendete Formel »Collecting today for tomorrow« macht das deutlich. Die Inwert­ setzung der Gegenwart erfolgte demnach unter zwei Aspekten: der Ding­aufmerksamkeit für die Gegenwartsgesellschaft und ihrer perspek­ tivischen Verfügbarkeit durch Musealisierung. Durch Sammeln in Wert gesetzt werden sollte also das selbstverständlich und normal Erscheinende der eigenen Zeit. In der musealen Praxis zeigten sich jedoch Schwierigkeiten, das Projekt Samdok umzusetzen. So wurde einerseits frühzeitig erkannt, dass industrielle Milieus sich oft weniger objektbasiert als vielmehr durch Fotografien, Dokumente und Ähnliches dokumentieren lassen, andererseits im Konsumsektor das Problem der Kommerzialisierung der Lebenswelten und die industrielle Massenproduktion zu einer Gleichförmigkeit der Sammlungsobjekte führten.21 Dieses Problem wird später noch einmal bei der Sammlung von Alltagskultur diskutiert werden. Die systematische und gegenwartsbezogene Herangehensweise von Samdok rief in der Museumswelt sowohl Zustimmung als auch Kritik hervor. Auf einer Tagung des ICOM-Komitees für Museologie (ICOFOM) wurde der Einwand formuliert, ein Museumszusammenschluss wie Samdok widerspreche der Autonomie des Museums, was als introverierte Sichtweise mit der Folge einer Stagnation kritisiert wurde.22 Jedoch wurde 19 Göran Rosander, Today for Tomorrow. Museum Documentation of Contem­ porary Society in Sweden by Acquisition of Objects, Stockholm 1980, S. 37 ff. 20 Gunilla Cedrenius, Collecting Today for Tomorrow, in: Collecting Today for ­Tomorrow. Symposium. ICOM International Committee for Museology, Bd. 1 (ICOFOM Study Series, Bd. 6), Leiden 1984, S. 41-47, hier S. 45. 21 Schon frühzeitig bei Rosander, Today for Tomorrow und Nyström / Cedrenius, Spread the Responsibility, S. 11. 22 Kritik besonders von Andreas Grote, dem Direktor des West-Berliner Instituts für Museumskunde, der jede Empfehlung als Einflussnahme ablehnte. G. Ellis Burcaw dagegen sah im Gegenwartssammeln das Bedürfnis nach Erinnertwerden und das Konzept nur für Gesellschaften in rapidem Wandel brauchbar. Vgl. Andreas Grote, 72

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das Samdok-Konzept vor allem zum Ausgangspunkt für weiterführende Debatten genommen. Zwei Argumente, die in der späteren Museums­ diskussion einflussreich geworden sind, wurden hier bereits formuliert: Zum einen wurde das partizipative Herangehen der französischen Écomusées als Konzept propagiert – »people become the real collectors and even curators of their own heritage«23 –, zum anderen wurde an die Not­ wendigkeit einer systematischen Lektüre und Re-Lektüre von Museumsobjekten erinnert, ein Konzept, das später unter dem Stichwort »Assessment of Significance« aufgenommen wurde.24 Die Hinwendung zum musealen Gegenwartssammeln, wie sie von Samdok und der Mehrheit der Vortragenden während der ICOFOMTagung propagiert wurden, war Teil einer umfassenderen Museums­ reformdiskussion, die von deutschen Museen unterschiedlich aufgenommen wurde. Zunächst ist festzuhalten, dass das Samdok-Konzept des strukturierten Gegenwartssammelns nur selten propagiert25 und auch nur selten angewandt wurde, zuletzt im Rahmen der Sammlungs­diskus­ sion unter Volkskundemuseen und in der Sammlungskonzeption des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.26 Das Sammeln von Alltag (II) Gegenpol der Musealisierung von Gegenwart war fast zeitgleich die aus dem Rettungsgedanken geborene Gründung von Industriemuseen.27 Sie

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(ohne Titel), in: Collecting Today for Tomorrow, Bd. 1, S. 135-138, hier S. 137; G. Ellis Burcaw, (ohne Titel), in: ebd., S. 110-121, hier S. 114 f. Mathilde Bellaigne-Scalbert, Trifling and Essential – The Ethnographical Arte� facts, in: ebd., S. 75-78, hier S. 76. Waldissa Rússio Guarnieri, (ohne Titel), in: ebd., S. 51-59, hier S. 53. Klaus Weschenfelder, Museale Gegenwartsdokumentation – vorauseilende Archivierung, in: Wolfgang Zacharias (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990, S. 180-188. Eva Kjerström Sjölin, Fokus Gegenwart. Die aktuelle Diskussion und Praxis der Dokumentation schwedischer Museen, in: Jan Carstensen (Hg.), Die Dinge umgehen?, Münster u. a. 2003, S. 11-16; Dietmar Preißler, Museumsobjekt und kulturelles Gedächtnis. Anspruch und Wirklichkeit beim Aufbau einer zeithistorischen Sammlung, in: Museumskunde 70 /1 (2005), S. 47-53; Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Sammlungskonzept, Bonn 2019, S. 24. Die wichtigsten waren das Centrum Industriekultur Nürnberg, gegr. 1979 (heute Museum Industriekultur Nürnberg), das Westfälische Industriemuseum in Dortmund, ebenfalls 1979 gegründet (heute LWL -Industriemuseum mit mehreren Standorten), das Rheinische Industriemuseum in Oberhausen, gegr. 1984 (heute LVR-Industriemuseum, ebenfalls mit mehreren Standorten), das Museum der 73

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resultierte aus der Deindustrialisierung, die vor allem Bergbau, Textil-, Metall- und Schwerindustrie betroffen hatte, und der sich entwickelnden Industriedenkmalpflege.28 Erst die absterbenden Industrien, ihre Standorte und Ausrüstungen waren es wert, kulturell in Wert gesetzt zu werden, wobei nicht allein die inzwischen eingetretene Funktionslosigkeit ehemaliger Industriestandorte das Besondere im Sinne eines musealen »Davor« ausmacht, sondern der Versuch, sie zusammen mit einer Dokumentation der gewerblichen Tätigkeit zu musealisieren.29 Hier wird der Zusammenhang mit der Hinwendung zur Alltagskultur als museales Sammlungsgebiet deutlich, die im Laufe der 1980er Jahre zahlreiche Stadt- und Heimatmuseen erfasste. Die Inwertsetzung des Alltäglichen im lokalen Kontext war an sich nichts Neues, gehörte doch das Sammeln von »Inventar« und Gebrauchsgegenständen schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zur täglich geübten Sammlungs- und Forschungspraxis volkskundlicher Museen und hatte sich über Schenkungen des »Alten« auch in den Lokalmuseen niedergeschlagen. In den 1980er Jahren verlagerte sich das Interesse jedoch von der vorindustriellen, oftmals auch ländlichen Welt auf das 20. Jahrhundert und vielfach auf die großstädtischen Lebensweisen jenseits des (auch museumsgründenden) Bürgertums. Damit gewannen die Museumsaktivitäten Anschluss an die Gegenwart und an eine industrielle Massenkultur, deren Individualisierung nicht mehr durch das besondere Einzelstück, sondern durch breitere Kontextualisierung möglich war, die Fundsituation, sozial­historischen Zusammenhang und biographische Kommentierung umfasste.30 ­ rbeit in Hamburg, gegr. 1982, sowie das Landesmuseum für Technik und Arbeit A in Mannheim, gegr. 1985 (heute Technoseum). Ebenfalls einen stark industrie- und sozialgeschichtlichen Charakter hatte das Ruhrlandmuseum Essen (heute Ruhrmuseum) durch eine konzeptionelle Neuorientierung im Jahr 1984 erhalten. ­Prägend für nachfolgende Entwicklungen war jedoch die Konzeption des 1976 gegründeten Stadtmuseums Rüsselsheim als industrie- und sozialgeschichtliches Museum. 28 In der Bundesrepublik institutionell erstmals verankert durch: Der Minister­ präsident des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Nordrhein-Westfalen-Programm 1975, Düsseldorf 1970. 29 Karin Haist, Menschen hinter den Objekten. Problematik einer Sammlungspraxis in alltags- und lebensgeschichtlichen Zusammenhängen, in: Museum der Arbeit (Hg.), Europa im Zeitalter des Industrialismus. Zur »Geschichte von unten« im europäischen Vergleich, Hamburg 1993, S. 238-246. 30 Es ist an dieser Stelle nicht leistbar, einen auch nur annähernd soliden Überblick über die zahlreichen Initiativen und Neukonzeptionen anzubieten. Beispielhaft soll deshalb lediglich auf die Beiträge einer 1990 vom Museum der Arbeit organisierten Tagung sowie eine vergleichende Untersuchung der West-Berliner Heimatmuseen verwiesen werden. Vgl. Museum der Arbeit, Europa im Zeitalter des Industrialismus; für West-Berlin vgl. Sigrid Heinze / Andreas Ludwig, Geschichtsvermittlung 74

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Allerdings war die sammelnde Inwertsetzung von Alltagskultur keineswegs ein Projekt der historischen Museen allein, sondern wurde auch von der Diskussion um die Warenästhetik31 und die Gründung des Werkbund-­ Archivs in West-Berlin 1973 beeinflusst, das auch Objekte der a­ ktuellen Warenkultur sammelte.32 Die Sammelintensität von Objekten der Alltagskultur rief Kritik ­hervor, die sich zunächst in der Formel vom »Raffen oder Gewichten« artikulierte.33 In die Debatte kam damit die Frage der Auswahlkriterien, mit denen Museen arbeiten. Während sich diese bei naturkundlichen Museen an der Taxonomie und bei archäologischen Museen an der ­präzisen Funddokumentation ausrichten, mussten sich die kulturhisto­ rischen Museen mit dem Paradigmenwechsel der Inwertsetzung von vergleichsweise zeitnahen Alltagsobjekten auseinandersetzen, was für viele eine Ausweitung der Sammlungsgebiete bedeutete. Nicht mehr die kunstgewerbliche Bewertung von Kunstfertigkeit und Material, der ­Alters- oder der Seltenheitswert, auch nicht die Zuordnung von Objekten zu bedeutenden Persönlichkeiten waren die Kriterien des ­ ­Sammelns von Alltagskultur, sondern der – zumeist immer noch histo­ rische – ­Gebrauch und die Zuordnung zu Zeitepochen, sozialen Verhältnissen und Lebensweisen, wobei durch die Formel einer »Geschichte der Namenlosen«34 auch eine Repräsentativität für die jeweilige Gesellschaft gemeint war. Die museale Hinwendung zur Alltagskultur bezog sich auf die zur empirischen Kulturwissenschaft entwickelte Volkskunde als Leitwissenschaft, aber erstmals auch auf die Geschichtswissenschaft in Form der in den 1980er Jahren diskutierten Mikro- und Alltags­

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und Ausstellungsplanung in Heimat­museen – eine empirische Studie in Berlin (Materialien aus dem Institut für Museum­skunde, Bd. 35), Berlin 1992. Heinz Drügh / Christian Metz / Björn Weyand (Hg.), Warenästhetik. Neue Perspek­ tiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Frankfurt a. M. 2011; vgl. dazu als museale Interpretation Gottfried Fliedl / Ulrich Giersch / Martin Sturm (Hg.), Wa(h)re Kunst. Der Museumsshop als Wunderkammer. Theoretische Objekte, Fakes und Souvenirs (Ausstellungskatalog), Frankfurt a. M. 1997. Werkbund-Archiv (Hg.), Alchimie des Alltags. Das Werkbund-Archiv, Museum der Alltagskultur des 20. Jahrhunderts. Gebrauchsanweisung für einen neuen ­Museumstypus, destilliert von Eckhard Siepmann, Gießen 1987. Christian Kaufmann, Raffen oder Gewichten – zwei unterschiedliche Zielsetzungen für die Sammeltätigkeit in der Postmoderne, in: Hermann Auer / Deutsches Nationalkomitee des Internationalen Museumsrates ICOM (Hg.), Museologie. Neue Wege – Neue Ziele. Bericht über ein internationales Symposium, München u. a. 1989, S. 149-154. Alf Lüdtke, Einleitung, Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte?, in: ders. (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebens­ weisen, Frankfurt a. M. 1989, S. 9-47. 75

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geschichte.35 In den Museen etablierte sich die Alltagsgeschichte öffentlich sichtbar vor allem in Form von Ausstellungen. Dies geschah zum einen in Form einer sozialgeschichtlich überarbeiteten Lokalgeschichte,36 durch eine Verschiebung des Fokus vom Technikmuseum zum Museum der Arbeit im Industriezeitalter,37 durch eine Dokumentation der unscheinbaren Begleiter der Konsumgesellschaft38 sowie durch eine Aus­ weitung der Sammlungspraxis der Volkskunde- und Freilichtmuseen auf die unmittel­bare Vergangenheit.39 Dieser, teilweise in Ausstellungs­ katalogen nachvollziehbaren Hinwendung zur Alltagskultur des 20. Jahrhunderts steht ein, vielleicht sprechendes, Schweigen hinsichtlich der Sammlungsaktivitäten der Museen gegenüber, das sich auch durch die Formel des Ent­sammelns40 als Trennung von alltagskulturellem Kulturgut nicht befriedi­gend auf­klären lässt. Galt Alltagskulturforschung zunächst als »Vehikel der Gegenwarts­ kritik« (Carola Lipp), so wurde sie schon gegen Ende der 1980er Jahre als 35 Carola Lipp, Alltagskulturforschung in der empirischen Kulturwissenschaft und Volkskunde, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1995, S. 78-93. 36 Zuerst im Stadtmuseum Rüsselsheim, vgl. Museum der Stadt Rüsselsheim (Hg.), Katalog der Abteilung I. Vom Beginn der Industrialisierung bis 1945, 2. erw. Aufl., Rüsselsheim 1981. 37 Museum der Arbeit Hamburg-Barmbek, Überlegungen für ein Konzept, o. O. [Hamburg] 1985; vgl. die Beiträge in: Museum der Arbeit (Hg.), Europa im Zeitalter des Industrialismus. 38 Gewerbemuseum Basel / Museum für Gestaltung (Hg.), Keinen Franken wert. Für weniger als einen Franken (Ausstellungskatalog), Basel 1987 (Sammlung besteht nicht mehr); Friedrich Friedl / Gerd Ohlhauser (Hg.), Das gewöhnlich Design. Dokumentation einer Ausstellung des Fachbereichs Gestaltung der Fachhochschule Darmstadt (Führer und Schriften des Rheinischen Freilichtmuseums und Landesmuseums für Volkskunde Kommern, Bd. 10), Köln 1979 (Sammlung wurde im Museum gesichert). 39 Sabine Thomas-Ziegler, Alltagsleben in der DDR . Eine Ausstellung des Rheinischen Freilichtmuseums und Landesmuseums für Volkskunde in Kommern, in: Bernd Faulenbach / Franz-Josef Jelich (Hg.), Probleme der Musealisierung der doppelten deutschen Nachkriegsgeschichte. Dokumentation einer Tagung des Forschungsinstituts für Arbeiterbildung und der Hans-Böckler-Stiftung (Geschichte und Erwachsenenbildung, Bd. 1), Münster 1993, S. 85-91; Claudia Richartz-Sasse, Ausgestellte Gegenwart: ZimmerWelten. Zur aktuellen Sammlungsstrategie des Westfälichen Freilichtmuseums Detmold, in: Uwe Meiners (Hg.), Materielle Kultur. Sammlungs- und Ausstellungstrategien im historischen Museum. Referate der 14. Arbeitstagung der Arbeitsgruppe »Sachkulturforschung und Museum« in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde vom 3. bis 6. Oktober im Museumsdorf Cloppenburg – Niedersächsisches Freilichtmuseum, Cloppenburg 2002, S. 167-172. 40 Helmut Lackner, Sammeln und Entsammeln im kulturhistorischen Museum, in: Curiositas. Jahrbuch für Museologie und museale Quellenkunde 12-13 (2012), S. 69-89. 76

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»Musealisierung des Popularen«, als Teil eines allgemeinen Musealisierungs­ trends analysiert und ihre Nähe zu Nostalgie und Folklorismus kritisiert, wobei Gottfried Korff, der scharfsinnige Beobachter der Museumstrends dieser Zeit, auch darauf verwies, dass das Sammeln von Alltagsobjekten seit jeher Arbeitsfeld kleiner Museen gewesen sei.41 Dennoch ist das Sammeln des Immergleichen in Form der Dingausstattungen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts und in der Folge die Überlastung der ­Museumsdepots schon frühzeitig Thema gewesen.42 Es handelt sich bei den seit den 1980er Jahren angelegten Sammlungen zur Alltagskultur dennoch um ein neues, den bisherigen Zeit- und teilweise auch Themenhorizont der Museen ausweitendes Gebiet, nicht jedoch um ein Konzept des »enzyklopädischen Inventars«,43 das inzwischen als ursächlich für die Überlastung der Museumsdepots ins Spiel gebracht wird. Vielmehr ist das Alltagskulturkonzept aufgrund des potenziell erhöhten Reliktanfalls, der die Massenproduktionsgesellschaft charakterisiert, problematisch ver­ bunden mit dem beschleunigten Zyklus der Außergebrauchnahme von Dingen, unter anderem von veralteten oder dysfunktional gewordenen Konsumgütern.44 Die Vergangenheit rückt an die Gegenwart heran, so eine These Hermann Lübbes,45 und verursacht, da sie nunmehr auch die sich entwickelnde Konsumgesellschaft betrifft, ein deutliches Mehr an potenziell »historischen Objekten«, die sich vor dem Hintergrund des Dokumentationsbedürfnisses von Alltäglichem als massives, interessengeleitetes Sediment in den Museumssammlungen ablagert. Es handelt sich, wenn man so will, um das Strandgut einer sich dynamisierenden 41 Gottfried Korff, Die Popularisierung des Musealen und die Musealisierung des Popularen, in: Gottfried Fliedl (Hg.), Museum als soziales Gedächtnis? Kritische Beiträge zur Museumswissenschaft und Museumspädagogik, Klagenfurt 1988, S. 9-23; ders., Die Wonnen der Gewöhnung. Anmerkungen zu Positionen und Perspektiven der musealen Alltagsdokumentation (1993), in: ders., Museums­dinge: deponieren – exponieren, hg. von Martina Eberspächern / Gudrun M. Könign / Bernhard Tschofen, Köln / Weimar / Wien 2007, S. 155-166. Dies gilt aber auch für kunstgeschichtlich basierte Museen. 42 Gottfried Korff, Der gesellschaftliche Standort der Heimatmuseen heute, in: ­Joachim Meynert / Volker Rodekamp (Hg.), Heimatmuseum 2000, Bielefeld 1993, S. 13-26, hier S. 20 f. 43 Willi Xylander / Uwe Meiners, Sammlungen – Grundlage der Museen, in: Volker Rodekamp / Bernd Graf (Hg.), Museen zwischen Qualität und Relevanz. Denkschrift zur Lage der Museen (Berliner Schriften zur Museumsforschung, Bd. 30), Berlin 201,2 S. 73-88, hier S. 79. 44 Ähnlichkeiten mit dem damals ebenfalls in Blüte stehenden Flohmarkt, der aus den gleichen alterungsbedingten Ausscheidungsprozessen lebt, wurden verschiedent­ lich benannt. 45 Vgl. u. a. Hermann Lübbe, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin / Heidelberg / New York 1992. 77

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Konsumgesellschaft (auch der Begriff »Schüttware« ist einmal gefallen), das aus der Perspektive des Gebrauchswerts zu »Müll« geworden war. Das Sammeln von Alltagskultur kann daher auch als eine Inwertsetzung des wertlos Gewordenenen interpretiert werden, wie die sogenannte Mülltheorie besagt,46 die vielleicht nicht zufällig zeitgleich entwickelt wurde. Hier zeigt sich der gegenüber dem Samdok-Prinzip aufgekommene zeit­ liche Abstand zur zu dokumentierenden Gesellschaft als ein Wechsel des Interesses von deren Dingausstattungen zu deren Relikten, von deren Gegenwart zu den Überresten, auch wenn der in den Blick geratene Wirklichkeitsausschnitt deutlich erweitert wurde. Auch wenn inzwischen Debatten über das Entsammeln geführt werden,47 ist der kulturhistorische Wert des »enzyklopädischen Sammelns« als Teil eines Systems der kulturellen Überlieferung immer noch akzeptiert48 und als »Sacharchiv der materiellen Kultur« Teil der Überlegungen zum nachhaltigen Sammeln.49 Bezogen auf die Dingaufmerksamkeiten bedeutet dies einen historisch informierten Blick auf die, vor allem durch Alltagsdinge, gefüllten Museumsdepots und die Frage, was es wert ist, in Wert gesetzt zu werden, erweist sich als eine sammlungsanalytische, ja museumshistoriographische. Sie ist aber zugleich eine erinnerungskulturelle, denn musealisiert wurden unter dem Alltags­ ­ paradigma verstärkt Objekte, die sich den traditionellen Wertkategorien alt, selten, wertvoll usw. zumeist entzogen. An ihre Stelle traten Wieder­ erkennbarkeit und lebensweltlicher Bezug. Partizipation – eine Demokratisierung des Museums (III) Inwertsetzungsprozesse durch Sammeln haben sich, wie die vorangegangenen Abschnitte gezeigt haben, vor allem aus kuratorischen Interessen, also aus dem Museum selbst heraus entwickelt. Die Sammlungen spiegeln somit die durch akademische Ausbildung und Museumspezifik kontu46 Michael Fehr, Müllhalde oder Museum. Endstationen in der Industriegesellschaft, in: ders. / Stefan Grohé (Hg.), Geschichte-Bild-Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln 1989, S. 182-196; Michael Thompson, Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Stuttgart 1981 (engl. 1979). 47 Dirk Heisig (Hg.), Ent-Sammeln. Neue Wege in der Sammlungspolitik von Museen, Aurich 2007. 48 Xylander / Meiners, Sammlungen – Grundlage der Museen, S. 75. 49 Friedrich Scheele, Geschichtsmuseen, in: Deutscher Museumsbund (Hg.), Nachhaltiges Sammeln. Ein Leitfaden zum Sammeln und Abgeben von Museumsgut, Berlin / Leipzig 2011, S.  70-75. 78

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rierte Aufmerksamkeit der Institution und ihrer Mitarbeiter:innen. Sie spiegeln darüber hinaus aber auch das Geschichtsverständnis und, konkreter, die zeitspezifischen Vorstellungen von Bewahrenswertem durch eine Öffentlichkeit, die sich zunächst museumstypisch in Schenkungen ausgedrückt hatte. Diese Bindung an die Öffentlichkeit ist Kern der Diskussion partizipativer Ansätze in der Museumsarbeit, die als eman­ zipatorischer wie auch sozialintegrativer Ansatz bis in die 1970er Jahre zurückreicht und bis heute anhält. Dabei ging es zunächst um eine Kritik an der Institution als Repräsentationsinstanz und -ort »der Herrschenden«, also ihrer Gründer und Träger, also am Museum als einer Institution von und für Eliten.50 Dies galt je nach Kontext auf lokaler oder natio­ naler Ebene, wobei exemplarisch die Diskussionen um ein »Forum für Geschichte und Gegenwart« statt eines historischen Nationalmuseums in Berlin51 auf der einen, die Gründung des Anacostia Neighborhood ­Museums in Washington, D. C ., als Lokalmuseum neuen Typs52 sowie der Écomusées53 auf der anderen Seite genannt seien. In beiden Fällen ging es um Partizipation und damit, wer über eine historisch-museale Inwertsetzung bestimmt. Während sich partizipative Elemente im Vorfeld der Gründung des Deutschen Historischen Museums (DHM) schnell erledigt hatten und das DHM ein klassisches träger-, direktoren- und kuratorengeteuertes Museum ist, nahm Besucher:innenpartizipation in lokalen Museen nach dem Washingtoner Vorbild langfristig zu. Dabei weiteten diese das Feld der Beteiligten sukzessive aus. So waren die Vorstellungen über Parti­ zipation zu Beginn der 1980er Jahre vor allem auf ein antizipiertes ­Publikum gerichtet, für das das Museum, ähnlich wie Volkshochschulen, seine Inhalte in die Stadtteile bringen wollte. »Zielgruppenarbeit« und »stadt­teilbezogene Arbeit« wurden dabei zunächst als Varianten sozialer 50 Zu frühen Ansätzen im Historischen Museum Frankfurt vgl. Hildegard FeidelMerz / Wolf-Heinrich von Wolzogen, Das aktive Publikum, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung 10 (1980), S. 38-61. 51 Gottfried Korff, Forum statt Museum oder: Das demokratische Omnibus-Prinzip der historischen Ausstellungen, in: Geschichte und Gesellschaft 11 /2 (1985), S. 244251; Der Senator für Kulturelle Angelegenheiten (Hg.), Protokoll der Anhörung zum Forum für Geschichte und Gegenwart, Berlin 1983 /84. 52 Michael W. Robbins, The Neighborhood and the Museums, in: Curator 14 /1 (1971), S. 63-68. 53 Wassilia von Hinten, Zur Konzeption des Ecomusée in Frankreich, in: Helmut Ottenjann (Hg.), Kulturgeschichte und Sozialgeschiche im Freilichtmuseum. Historische Realität und Konstruktion des Geschichtlichen in historischen Museen. Referate der 6. Arbeitstagung der Arbeitsgruppe »Kulturgeschichtliche Museen« im Museumsdorf Cloppenburg – Niedersächsisches Freilichtmuseum, Cloppenburg 1985, S. 88-96. 79

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Arbeit im Rahmen der Forderung nach einer »Bildung für alle« inter­ pretiert.54 Nur am Rande wurde eine Einbeziehung des Publikums in die Museumsarbeit erwähnt. In diesem Zusammenhang wurde das »offene Museum« propagiert, das jedoch zunächst museumspädagogisch angelegt sein sollte.55 Diesem Konzept des Museums als Lernort ist der des Museums als »soziales Gedächtnis« entgegengesetzt, wie er schon in den Écomusées praktiziert wurde, sowie der der Museumsausstellung als Ordnung des Sammlungswissens.56 Deutlich wird hier die mehrfache Inwertsetzung des (privaten) Erinnerungsstücks als musealisiertes Objekt, als Ein­ ordnung in ein kulturelles Gedächtnis und in eine kuratorische Narra­ tion. Die in diesem Zusammenhang verwendete Gedächtnismetapher verweist zum einen auf die Interpretation der Museumssammlung als materielles Archiv, dessen Zustandekommen nunmehr reflektiert wurde, andererseits auf die Interpretation des Museums als sozial und örtlich gebundene Institution. Der Prozess der musealen Inwertsetzung wurde damit auf eine breitere Grundlage gestellt, als dies beim rein kuratorischen Sammeln möglich wäre, und wurde zugleich durch seine Integra­ tion in ein soziales Feld dynamisiert. Die sammelnde, bewahrende und interpretierende Institution Museum öffnet sich personell und in ihren Verfahrensweisen, jedoch in unterschiedlicher Intensität.57 Diese Öffnung war mit einer Kritik am bestehenden Museum verbunden: Parti­ zipation breche mit dem »authorized heritage discourse« und führe zur Integration verschiedener »heritage communities« und einer »shared responsibility«.58 Die partizipative Ausrichtung des Museums am loka­ lisierbaren sozialen Feld bewirkt eine Neuinterpretation der Inwert­ setzung als sozialen und – idealtypisch – kollektiven Prozess. Einen ­wesentlichen Einfluss auf die Ausformung des partizipativen Museums 54 Feidel-Merz / von Wolzogen, Das aktive Publikum, S. 38 und 43. 55 Ellen Spickernage / Brigitte Walbe (Hg.), Das Mueum. Lernort contra Musentempel, Gießen 1976. 56 Fliedl, Museum als soziales Gedächtnis; Lutz Thamm, Sammlungspraxis als Gegenwartskultur, in: ders./Udo Gößwald (Hg.), Erinnerungsstücke. Museum als soziales Gedächtnis, Berlin 1991, S. 13-19, hier S. 14 f. 57 Léontine Meijer-van Mensch, Partizipation an der Museumsarbeit – zwischen Hobbyismus und Professionalisierung, in: Markus Walz (Hg.), Handbuch Museum. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart 2016, S. 329-332, hier S. 329. Mit Bezug auf Nina Simon, The Participatory Museum, Santa Cruz 2010 sind dies partizipatives Sammeln, gemeinschaftsgeführtes Sammeln, Co-Kreation und CoKuratieren. Vgl. dazu den Überblick in Peter van Mensch / Léontine Meijer-van Mensch, New Trends in Museology, Celje 2011. 58 Van Mensch / Meijer-van Mensch, New Trends in Museology, S. 51. Der Begriff der heritage commu­nity ist der Konvention von Faro (2005) entnommen. 80

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nahm also dessen Fixierung als gemeinschaftsorientierte und soziale Einrichtung, mit der auf eine zunehmend diverse Gesellschaft Bezug genommen wurde, deren Repräsentation im Museum gefördert werden sollte. Auf der einen Seite stehen Ausstellungen als Ergebnis von Projekten, mit denen die Museen aktuelle gesellschaftliche Fragen aufgreifen und diesen in Zusammenarbeit mit den Betroffenen nachgehen.59 Dies kann bis zum gemeinsamen Kuratieren gehen, bedeutet aber grundsätzlich ­einen gemeinsamen Prozess des Lernens und der Vermittlung bis dahin wenig oder nicht präsenter Themen. Partizipative Ansätze sind zumeist unmittelbar ergebnisorientiert und materialisieren sich in Sonderausstellungen und auch in Dauerausstellungen, wofür im deutschen Zusammen­ hang unter anderem das Historische Museum Frankfurt steht.60 Inwert­ set­zung bedeutet hier die Inwertsetzung des Kooperationspartners ebenso wie des Themas, also in Verfahren und Inhalt zugleich. Auf der anderen Seite werden partizipatorische Verfahren aber auch bei der Weiter­ entwicklung der Museumssammlungen angewandt, zielen also auf eine langfristige Sicherung ab,61 obwohl dies nicht das vorrangige Ziel partizipativer Museumsarbeit zu sein scheint.62 Partizipatives Sammeln, in den 1980er Jahren noch, wie oben dar­ gestellt, als Wertschätzung von Schenkungen interpretiert, wurde nun zu einem offenen Verfahren, bei dem die Museumskurator:innen einen Teil ihrer Fachkompetenz abgeben. Aktuelle Beispiele sind partizipative 59 Im Fokus stehen oft museumsferne soziale Gruppen, wie dies besonders an britischen Beispielen deutlich wird, vgl. Zelda Baveystock / Owain Rhys (Hg.), Collec� ting the Contemporary. A Handbook for Social History Museums, Edinburgh 2014. 60 Exemplarische Herangehensweisen finden sich in: Guido Fackler / Brigitte Heck (Hg.), Identitätsfabrik reloaded? Museen als Resonanzräume kultureller Vielfalt und pluraler Lebensstile. Beiträge der 21. Arbeitstagung der dgv-Kommission »Sachkulturforschung und Museum«, veranstaltet vom Referat Volkskunde des Badischen Landesmuseums Karlsruhe und der Professur für Museologie der Universität Würzburg vom 22. bis 24. Mai 2014 im Badischen Landesmuseum Karls­ ruhe (Europäische Ethnologie, Bd. 10), Berlin 2019; Susanne Gesser / Martin Handschein / Angela Janelli (Hg.), Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld 2012. 61 Ein Beispiel unter vielen ist die »Galerie des dons« des Pariser Migrationsmuseums, vgl. Musée de l’histoire de l’immigration, Guide de la Galerie des dons, o. O.­ [Paris] 2014. 62 Vgl. Léontine Meijer-van Mensch / Annemarie de Wildt, AIDS Memorial Quilts. From mourning and activism to heritage objects, in: Sophie Elpers / Anna Palm (Hg.), Die Musealisierung der Gegenwart. Von Grenzen und Chancen des Sammelns in kulturhistorischen Museen, Bielefeld 2014, S. 87-106. 81

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­ lemente bei der Entwicklung der Ausstellung »Berlin Global« am ent­ E stehenden Humboldt-Forum63 oder die Sammlungsinitiativen am Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020, bei denen durch eine Reihe von Museen die Bevölkerung zur Einlieferung signifikanter Objekte aufgefordert wurde und diese anschließend der Öffentlichkeit als kollektives Erinnerungsobjekt präsentiert wurden.64 Diese als Rapid Response Collecting bekannte Sammlungsstrategie65 soll einen direkten und unmittelbaren Zugang zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit ermög­ lichen, die durch Ereignishaftigkeit geprägt ist, wobei offen ist, ob das Museum sammelnd-interpretierend aktiv wird oder auf Einlieferungen rekurriert.66 Wie hier deutlich wird, reicht die Auslagerung der Inwert­ setzungskompetenz auch beim Thema des Sammlungswürdigen vom kuratorischen bis zum kollektiven Sammeln. Zugleich wird die Frage nach der Zeitlichkeit musealer Dingaufmerksamkeiten aufgeworfen. Geht es beim partizipativen Sammeln um eine Reaktion auf aktuelle Ereignisse, wie der Begriff Rapid Response Collecting nahelegt, oder um zeitgenössische, lokalisierbare gesellschaftliche Problemlagen, die die Museen damit als soziale Akteure »im Feld« ausweisen? Oder steht aus einer eher musealen Perspektive die Frage nach der Bildung eines kulturellen Gedächtnisses im Vordergrund, mithin auch die Frage nach einem anlassbezogenen oder strukturellen Vorgehen bei der Bildung eines an das Museum gebundenen Fundus? In Wert gesetzt werden demgemäß nicht mehr nur ereignisgeschichtlich relevante Objekte, sondern vor ­allem auch Themen und Prozesse. Beim partizipativen Museum steht also die kommunikative Inwertsetzung im Vordergrund. 63 Berlin Global Backstage, Partizipation aus kuratorischer Sicht, https://www.you tube.com/watch?v=LBvXHw8TLX s [Abruf: 15. 9. 2021]. 64 Beispielsweise das Format »Berlin jetzt«, mit dem die Stiftung Stadtmuseum Berlin zur Einlieferung von thematisch orientierten Objekten, Bildern und Fotografien auffordert und diese anschließend als online zugängliche Sammlung auf Dauer verfügbar macht, vgl. https://www.stadtmuseum.de/berlin-jetzt [Abruf: 15. 9. 2021]. Zum Corona-Sammeln vgl. Sebastian Kühn / Andreas Ludwig / Pavla Šimková /  Lotte Thaa, Corona im Museum, in: WerkstattGeschichte 84 (2021), S. 141-150; Stefanie Samida, Kollektives Sammeln in Zeiten des Übergangs, in: Saeculum 70 /2 (2020), S. 283-299. 65 Entwickelt 2014 am Londoner Victoria & Albert Museum, vgl. https://www.vam. ac.uk/collections/rapid-response-collecting [Abruf: 15. 9. 2021]. 66 Zum sammelnd-interpretierenden Vorgehen zum Thema Corona vgl. Badisches Landesmuseum, Sammeln in Zeiten von Corona, https://youtu.be/mQRB o_ tIQf0 [Abruf: 5. 9. 2021]; zum kuratorischen Sammeln Sandra Mühlenberend / Susanne Rößiger, Referenzobjekte der Jetztzeit. Ein Projekt des Deutschen Hygiene­ museums zum Sammeln der Gegenwart, in: Elpers / Palm (Hg.), Die Musealisierung der Gegenwart, S. 107-122. 82

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Wiederbewertung bestehender Museumssammlungen (IV) Ein seit der Jahrtausendwende verstärkt zu beobachtender Gegenpol zu den gesellschaftsorientierten partizipativen Museumsprojekten ist die erneute Betrachtung der vorhandenen Sammlungen, also gleichsam ein Blick nach innen. Er gilt sowohl dem Einzelobjekt wie der Sammlung als Ganzem. Die Hinwendung zum Einzelobjekt, wie sie auch in einer Reihe von Ausstellungen im Zentrum stand,67 war mit einer objektzentrierten Perspektive auf die Geschichte ebenso wie mit einem Blick auf die Sammlung verbunden. Im Gegensatz zu den großen kulturhistorischen Ausstellungen seit den 1970er Jahren, die ausgewählte Objekte in einem kuratorisch inszenierten Panorama darstellten, ergab sich die Ausstellungs­ narration nun aus dem Einzelobjekt heraus, indem es detailliert aus­ geleuchtet, beschrieben und kontextualisiert wurde. Damit sollte eine historische Gesamtnarration vermieden und durch verfremdende Ordnungssysteme ersetzt werden, etwa durch die künstliche Chronologie, in der ein ausgewähltes Objekt für je ein Jahr stand. Diese Art kuratorischer Dekonstruktion führte neben der fokussierten Dingaufmerksamkeit auf das Einzelobjekt auch zu einer Introspektion der Sammlungen und ihrer gedanklichen Neuordnung, die sich etwa bei der Ordnung der Objekte des Ruhrlandmuseums in die provokant gemeinten Kategorien alt, selten, wertvoll, fremd und schön ausdrückte.68 Diese Kategorien des Sammelns kulturhistorischer Museen des 19. Jahrhunderts wurden durch ihre neuerliche Anwendung als historische Ordnungsmuster erkennbar und damit auf die Historizität der Museumssammlung selbst verwiesen und das Objekt nicht mehr nur als Beleg einer historischen Zeit, sondern als Indiz über das Sammlungswürdige interpretiert. Auch wenn andere museale Sammlungskategorien wie angestrebte Vollständigkeit im Sammlungsgebiet oder Erhaltungszustand des Einzelobjekts hier fehlen, ist doch die museale Praxis der Inwert­ setzung deutlich gemacht. Das Objekt ist nicht allein Quelle und Beleg einer historischen (angenommenen) Wirklichkeit, sondern ebenso Beleg 67 Vgl. u. a. Milena Karabaic / Markus Krause (Hg.), Arbeitsjacke und Zinkengel. 111 Objekte aus der Sammlung des Rheinischen Industriemuseums, Essen 2003; Mathilde Jamin / Frank Kerner (Hg.), Die Gegenwart der Dinge. 100 Jahre Ruhrlandmuseum (Ausstellungskatalog), Essen / Bottrop 2004; Udo Gößwald (Hg.), 99 x Neukölln (Katalog zur Dauerausstellung), Berlin 2010; Museumsverband des Landes Brandenburg (Hg.), Jahrhundertausstellung. Ein Ding-Fest brandenburgischer Museen (Ausstellungskatalog), Potsdam 2012. 68 Vgl. die Kapiteleinteilung bei Jamin / Kerner, Die Gegenwart der Dinge. 83

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einer musealen Vorstellung von Wert. Wie wir gesehen haben, unter­ liegen solche Wertvorstellungen einem Wandel, sie veränderten sich vom Alten, Seltenen und Schönen zum Alltäglichen und Seriellen, vom Exem­plarischen zur Akkumulation, vom (wahlweise ästhetischen und analytischen) Kuratorischen zum Partiziptiv-Repräsentativen. Die Museumssammlung als Sedimentierung von Wertvollstellungen, die sich in Sammlungspraxen materialisierten, hatte sich bis in die jüngste Zeit zunächst vor allem in der Opposition von museumspraktischen Problembeschreibungen manifestiert, etwa der Frage nach Raffen oder Gewichten, Sammeln oder Entsammeln, Kontinuität oder Neuakzentuierung von Sammlungsschwerpunkten, antiquarischem oder Gegenwarts­ sammeln, kuratorischem oder partizipativem Sammeln. Nun richtete sich der Blick jedoch unter dem Begriff der Sammlungsarchäologie69 auf die Sammlungen als Ganzes, ihre Komposition und ihre Entstehungswellen.70 Man kann diese Entwicklung als Vorstufe von fortlaufenden zu aktualisierenden Sammlungsstrategien verstehen, bei denen entschieden werden muss, welche Sammlungsbereiche stillgelegt und welche weitergeführt werden sollen, und bei denen selbstverständlich eine Neubewertung von Dingen stattfindet, jedoch nicht notwendig eine Neu­befragung. Dies wird an den sogenannten Schaudepots deutlich, mit denen einzelne Museen ihre Sammlungen gleichsam als Wiederentdeckung ö­ ffentlich gemacht haben.71 Hier handelt es sich um eine Inwertsetzung des bislang Verborgenen, um ein Erinnern an die Sammlung als Entwicklungs­ geschichte des kulturellen Gedächtnisses, wobei allerdings nicht die einzelnen Sammlungsschichten, sondern eine thematische Neubefragung im Vordergrund steht. So entspricht das Schaudepot teilweise der Tektonik der Sammlung, teils aber auch einer Neuordnung unter thema­ tischen Gesichtspunkten72 oder einer enzyklopädische Struktur. In allen Fällen handelt es sich um eine öffentliche Reflexion über die Sammlungs­ komposition als materielles Archiv mit dem Ziel einer erneuten Inwertsetzung.

69 Ulfert Tschirner, Sammlungsarchäologie. Annäherung an eine Ruine der Museums­ geschichte, in: Kurt Dröge / Detlef Hoffmann (Hg.), Museum revisited. Transdisziplinäre Perspektiven auf eine Institution im Wandel, Bielefeld 2010, S. 97-112. 70 Uta Hassler / Torsten Meyer (Hg.), Kategorien des Wissens. Die Sammlung als epistemisches Objekt, Zürich 2014. 71 Thomas Thiemeyer, Das Depot als Versprechen. Warum unsere Museen die Lagerräume ihrer Dinge wiederentdecken, Köln / Weimar / Wien 2018. 72 Beispielsweise im Bremer Focke-Museum, in dessen Schaudepot die Sammlung nach Tätigkeiten neu geordnet wurde. 84

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Anders ist dies bei der Neubefragung der Einzelobjekte, die, wie wir gesehen haben, als kristallisierte Zeit73 in Ausstellungen wiederentdeckt wurden, und zwar nicht als »Leitfossilien« für die Darstellung einer historischen Entwicklung, sondern als objektzentrierte Ausleuchtungen in verschiedene Richtungen, also unter dem Gesichtspunkt einer das musealisierte Objekt betreffenden Spurensuche.74 Das (Museums-)Objekt erhält hier eine prismatische Funktion, indem es unterschiedliche Frageperspektiven bündeln und entsprechend unterschiedliche Narrationen streuen kann.75 So kann ein Objekt der Alltagskultur, etwa ein Haushaltsgerät, aus den unterschiedlichen Perspektiven des Design, der Produktion, der Verbreitung, des Gebrauchs, seiner Bedeutung als (distinktives) Konsumobjekt oder seines Erinnerungswertes betrachtet werden.76 Die aus der Objektanalyse hervorgehende Inwertsetzung ist also keineswegs eindimensional oder gar eindeutig, sondern fragegeleitet und multi­ polar. Diese objektzentrierte Inwertsetzung rekurriert auf die Diskussion über die materielle Kultur als Quelle und die Verfahren ihrer Lesebarkeit, also auf die Forschung mit, über oder durch Objekte,77 auf ihre Funktion als ­Illustration, Argument oder Thema. Dies sind allerdings theoretische Erwägungen, die in der Museums­ realität nur selten zum Tragen kommen, wenn über den Wert der Dinge nachgedacht wird. Die Selbstverständlichkeit, mit der Objekte Teil einer Museumssammlung sind, akzeptiert nicht allein deren Zustande­kommen als Dingakkumulation des zu unterschiedlichen Zeiten als wertvoll Interpretierten, sondern oft auch den dem Objekt ursprünglich zugeschriebenen 73 Elfie Micklautz, Kristallisierter Sinn. Zu soziologischen Theorie des Artefakts, München / Wien 1996. 74 Andreas Ludwig, Zeitgeschichte der Dinge. Spurensuchen in der materiellen Kultur der DDR , Wien / Köln / Weimar 2019. Der Begriff des Leitfossils wurde in einer frühen Ausstellung des Nürnberger Centrums Industriekultur verwendet, vgl. Centrum Industriekultur (Hg.), Industriekultur. Expeditionen ins Alltägliche. Begleitheft zur Ausstellung, Nürnberg 1982. 75 Annette Caroline Cremer, Zum Stand der Materiellen Kulturforschung in Deutsch­ land, in: dies. / Martin Mulsow (Hg.), Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln / Weimar / Wien 2017, S. 9-21, hier S. 17. 76 Andreas Ludwig, »Hunderte von Varianten«. Das Möbelprogramm Deutsche Werkstätten (MDW ) in der DDR , in: Zeithistorische Forschungen 3 /3 (2006), S. 449-459. 77 Steven W. Lubar / David Kingery, History from Things. Essays on Material Culture, Washington D. C. 1993; Adrienne D. Hood, Material Culture: the Object, in: Sarah Barber / Corinna M. Peniston-Bird (Hg.), History beyond the Text. A ­ Student’s Guide to approaching alternative sources, London / New York 2009, S. 176-198. 85

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Wert. Die Folge ist, dass sich einerseits Konventionen der Wertzuschreibung fortsetzen, also alt, selten, schön usw. gleichsam überzeitlich gelten, andererseits viele Objekte einfach dem Vergessen anheimfallen, wenn Wertzuschreibungen aus der Zeit fallen, etwa wenn kunstgewerbliche Objekte, die zunächst als Beispiele »guter« Gestaltung galten, unter ­neuen Geschmacksurteilen entwertet werden oder ihrer Funktion als Referenzobjekte entkleidet sind. Dem wird unter dem Begriff des Assessment of Significance eine erneute Aufmerksamkeit entgegen­gebracht, die an den Inwertsetzungsprozessen ansetzt.78 Im Zentrum steht also weniger das Objekt in seiner früheren lebensweltlichen Funktio­nalität, sondern die Bedeutung, die ihm im Zuge einer Musealiserung beigemessen wurde, also seine museale Dingkarriere. Inwertsetzung, das wird hier deutlich, ist ein diskontinuierlicher, aber langanhaltender Prozess. Die Frage, was es wert ist, in Wert gesetzt zu werden, stellt sich demnach wiederholt und mit möglicherweise, ja vielleicht erwartbar unterschiedlichen Ergebnissen. Damit ist weniger die verbreitete Einteilung in Gebrauchswert, Erinnerungswert, ästhetischer Wert oder Quellenwert gemeint, sondern die museale Praxis der Inwertsetzung qua Inkorporation in die Sammlung und damit in ein institutionenspezifisches kulturelles Gedächtnis, in dem es verbleibt, um durch Vergessen oder Entsammeln entwertet oder wiederum erneut befragt zu werden. Zeitverschiebungen (V) Die skizzierten Zugangsweisen zum Sammeln als Inwertsetzung der Dinge im Museum erweisen sich als historisch verortbare Zugriffe auf den Wert der Dinge, für das Museum als Ort der Bewahrung des »Sammlungs­ würdigen« ebenso wie für eine jeweils spezifische Dingaufmerksamkeit als Impuls aus der Gesellschaft und deren materieller Kultur, und schließlich für die gesammelten Objekte als musealisiertes kulturelles Gedächtnis. Die Zuordnung des Sammelns als ein »Davor« in der Abfolge musealer Arbeitsschritte von Inwertsetzung ist, wie gerade der vorangegangene Abschnitt verdeutlicht hat, keineswegs allein ein Schritt vor dem »Da­ zwischen« und dem »Danach«, sondern bewegt sich je nach Perspektive zwischen den Zeiten. Es sollen deshalb an dieser Stelle einige Aspekte der diesem Band zugrunde liegenden »Kritik des linearen Zeitkonzepts« formuliert werden. 78 Falkenberg / Jander (Hg.), Assessment of Significance. 86

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Ein »Davor« bestimmt sich hier zunächst aus der musealen Perspektive, indem die museumsspezifischen Arbeitsschritte, genauer: die musealen Bearbeitungsschritte beim Umgang mit der materiellen Kultur zur Grund­ lage gemacht werden. Die Inwertsetzung durch das Sammeln von Objekten ist das »Davor« in Bezug auf Bewahren, Erhalten, Erforschen, Kuratieren, Präsentieren und Erklären. Das »Davor« kann aber auch die Dinge vor ihrer Übernahme ins ­Museum betreffen. Das »Davor« wäre dann die Lebenswelt und deren Dingausstattung, die von den Zeitgenoss:innen ebenso wie von der Sozio­logie, der Konsumforschung, dem Abfallmanagement oder der Ethnographie wahrgenommen werden, bevor oder während sie Gegenstand musealer Dingaufmerksamkeit sind. Aus einer solchen Perspektive lebensweltlicher Dingnutzung ist die Inwertsetzung durch museale Ding­ aufmerksamkeit und Sammeln ein »Danach« oder, bezieht man alle Museumarbeiten ein, das »Dazwischen« zwischen Gebrauchswertstadien und musealen Inwertsetzungsprozessen. Das museale »Davor« entsteht erst durch den Akt der Wahrnehmung, einer Inwertsetzung im »Jetzt«, das in einer zeitlichen Dynamik positioniert wird. Und zwar nicht, weil die Dinge im Sinne einer Dingausstattung »da sind«, sondern weil sie durch diese Wahrnehmung eine Bedeutung erlangen, wie Gert Selle herausgearbeitet hat.79 Was Selle für den Gebrauch der Dinge beobachtet hat, gilt ebenso für die fokussierte Dingaufmerksamkeit des Museums mit dem Ziel der Musealisierung. Temporalen Sinn bekommt das »Jetzt« also, indem man sich Gedanken über das »Früher« und »Später« macht. Mit Blick auf die materielle Kultur und ihre Inwertsetzung haben die Dinge des »Jetzt« innerhalb einer temporalen Achse eine spezifische ­Position inne: Im Sinne der »Mülltheorie« ist das »Jetzt« ein »Davor«, also ein Zustand, der den Phasen der Wertlosigkeit und der anschließenden musealen Inwertsetzung vorangeht. Das gleiche gilt für die fach­ wissenschaftliche Inwertsetzung der Dinge als Quelle. Das museale »Jetzt« ist also eigentlich ein »Danach«. Die Zeit zwischen Gebrauchswert und der kulturellen bzw. musealen Inwertsetzung ist nach der »Mülltheorie« aber eine Latenzphase der Wertlosigkeit, also ein »Da­ zwischen«. Aus der Perspektive eines angenommenen »Davor« der musealen Inwert­setzung durch Sammeln ist alles vor dem »Davor« letztlich Rohstoff, der sich durch Inwertsetzungsprozesse in ein »Danach« selektieren79 Gert Selle, Leben mit schönen Dingen. Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, Reinbek 1987. 87

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den und autoritativen Charakters wandelt, gleichsam ein sammelndes »Dazwischen« mit dem Ziel des »Danach«. Demgegenüber wäre zu bedenken, dass die Zeitmetapher des »Davor« immer auch einen Zustand der Offenheit hinsichtlich möglicher musealer Inwertsetzungen bedeutet und sie transparent machen kann. Mit Bezug auf die vier hier vorgestellten musealen Inwertsetzungs­ zugänge wäre zu überlegen, ob das Sammeln von Gegenwart (I) eine Verwandlung des »Jetzt« in ein »Davor« mit dem Ziel der durch das Museum praktizierten Erhaltung des »Jetzt« darstellt und ein »Danach« vorbereitet. Mit dem Sammeln von Alltagsobjekten (II) geht die Vor­ stellung eines historischen »Jetzt« einher, während beim partizipativen ­Museum (III) das »Jetzt« in ein »Davor« ebenso wie in ein »Dazwischen« und das »Danach« verschoben wird. Beim »Reassessment of Significance« wird dem »Dazwischen« (eventuell auch dem »Danach«) ein erneutes »Davor« nachgeschoben, also eine zirkuläre Bewegung angestoßen. Die Zeitebenen des »Davor«, »Dazwischen« und »Danach« bleiben also in Bewegung und diese Flexibilität der Betrachtungsperspektiven kann die museale Inwertsetzung beeinflussen, indem der Blick sich von der organisatorischen Abfolge musealer Bearbeitungsschritte auf das ­Objekt verschiebt. An ihm, besser: im Umgang mit ihm zeigt sich eine prismatische Funktion, in die neben materiellen und funktionalen Aspekten auch Zeitlichkeitsperspektiven der musealen Inwertsetzung ­ eingehen und wieder von ihm ausgehen.

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Michael Farrenkopf / Torsten Meyer

Stillgelegt Aspekte der Musealisierung des deutschen Braunkohlenbergbaus vornehmlich in den ostdeutschen Revieren

Spätestens 2038, so legt es zumindest das am 3. Juli 2020 verabschiedete Kohleausstiegsgesetz fest,1 soll das Zeitalter der nationalen Kohlengewinnung in Deutschland enden. Nachdem bereits 2018 die letzten beiden Stein­ kohlenbergwerke, Prosper-Haniel und Ibbenbüren, geschlos­sen wor­den waren, folgen in den kommenden Jahren die noch aktiven Braunkohlentagebaue in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und SachsenAnhalt. Mit diesem politisch gewollten Ausstieg verbinden sich absehbar vielfältige und -schichtige Folgen,2 zu denen auch die Frage zählt, wie mit dem materiellen und immateriellen Erbe des Braunkohlenbergbaus umzugehen ist. Einerseits kann diese zukünftige Musealisierung des deutschen Braunkohlenbergbaus auf vergangene und gegenwärtige Inwertsetzungsprozesse rekurrieren. Andererseits ist auffällig, dass die bisherige Musealisierung der Sparte deutlich weniger ausgeprägt scheint als jene des Stein­kohlenbergbaus. Dies mag unter anderem daran liegen, dass der Braunkohlentagebau materiell stark geprägt wurde durch technische Groß­ geräte, die eine besondere Herausforderung für das (museale) Sammeln und Bewahren darstellen – nicht zuletzt aus Platz- und Kostengründen. Ein solches Großgerät, konkret die modernste und letztgebaute Abraum­ förderbrücke aus DDR-Produktion, eine F 60, steht im Zentrum der folgenden Ausführungen. Es dient dazu, den Prozess der Musealisierung, der die unterschiedlichen, fluiden Stadien des »Davor«, »Dazwischen« und »Danach« eines Objekts markieren kann, exemplarisch zu kon­ turieren. Musealisierung ist allerdings ein doppeldeutiger Topos. Als ­sozio-kulturelle Praktik fasst er Prozesse der Inwertsetzung alter Dinge, denen neue ethische, ökonomische, soziale oder auch kulturelle Werte zu- und eingeschrieben werden.3 Aus institutioneller Perspektive hin­ 1 Vgl. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw27-de-kohleausstieg­701804 [Abruf: 4. 5. 2022]. 2 Für deren Abfederung wurde das Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen verabschiedet. Vgl. Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen, in: Bundesgesetzblatt. Jahrgang 2000, Teil I, Nr. 37, S. 1795-1817. 3 Gott­fried Korff, Museumsdinge: deponieren – exponieren, hg. von Martina Eberspächer / Gudrun Marlene König / Bernhard Tschofen, 2. erg. Aufl., Köln u. a. 2007. 89

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gegen kennzeichnen ihn die Genese und Etablierung von Erinnerungsund Refle­xionsorten, allen voran von Museen,4 die paradigmatisch die institutionelle Hülle der soziokulturellen Praktik der Musealisierung bilden. Dieser Doppeldeutigkeit trägt der vorliegende Text insofern ­ Rechnung, als in einem ersten Schritt der institutionelle Musealisierungsprozess des deutschen Braunkohlenbergbaus skizziert wird. In den Blick genommen werden »museologische Einrichtungen«. Häufig sind sie mit Synonymen wie »Kulturerbe-Institution« oder »Kulturelles Gedächtnis« einer Region oder einer spezifischen Branche wie etwa der des Braunkohlenbergbaus belegt. Grundsätzlich ist von Belang, dass zum einen der Begriff des M ­ useums einem ständigen Wandel unterliegt,5 zum anderen Museen in verschiedenen, größeren Zusammenhängen zu sehen sind, wobei es ­allerdings an dauerhaften Zuordnungen und einer Prägnanz der verwendeten Begriffe mangelt, so dass Letztere »möglicherweise als Leerformeln ­(Empty Signifier) nach beliebiger Akzeptanz heischen«.6 Insofern stehen nicht nur klassische Museen, sondern auch zivilgesellschaftliche »Kulturerbe-Institutionen« zur Debatte; räumlich fokussiert auf die ostdeutschen Bundesländer. Eine Fokussierung, die sowohl dem weiter oben genannten musealisierten Objekt Rechnung trägt als auch widerspiegelt, dass museale Institutionalisierungsprozesse der Braunkohlen­ industrie in den sogenannten neuen Bundesländern deutlich ausgeprägter sind als in den alten, in denen jene der Steinkohlenindustrie dominieren.7 Geschuldet ist dies der je spezifischen ökonomischen und historischen Bedeutung der beiden Ressourcen. Während das westdeutsche »Wirtschaftswunder« eng verbunden war und ist mit dem Steinkohlenbergbau,8 4 Michael Farrenkopf, »Erkenntnisse zutage fördern« – Zur Musealisierung des Braunkohlenbergbaus in Deutschland, in: Helmuth Albrecht / Michael Farrenkopf / Torsten Meyer (Hg.), Der Umgang mit den Denkmalen des Braunkohlenbergbaus ­(INDUSTRIE archäologie – Studien zur Erforschung, Dokumentation und Bewahrung von Quellen zur Industriekultur, Bd. 22), Halle / Saale 2022 [im Erscheinen]. 5 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Thomas Thiemeyer in diesem Band. 6 Markus Walz, Metastrukturen und Abgrenzung zu anderen Institutionen: Kultur – Gedächtnis – Kulturerbe – Information und Dokumentation, in: ders. (Hg.), Handbuch Museum. Geschichte – Aufgaben – Perspektiven, Stuttgart 2016, S. 26-32, hier S. 26. 7 Vgl. Farrenkopf, »Erkenntnisse zutage fördern«; siehe auch https://www.bergbausammlungen.de/de/sammlungsportal [Abruf: 18. 6. 2022]. 8 Vgl. Michael Farrenkopf, Wiederaufstieg und Niedergang des Bergbaus in der Bundes­republik Deutschland, in: Dieter Ziegler (Hg.), Rohstoffgewinnung im Strukturwandel. Der deutsche Bergbau im 20. Jahrhundert (Geschichte des deutschen Bergbaus, Bd. 4), Münster 2013, S. 183-302. 90

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so bestimmte der Braunkohlenbergbau die DDR-Ökonomie von Beginn an.9 Vor diesem Hintergrund thematisiert der zweite Abschnitt dieses Beitrags die sozio-kulturelle Praktik der Musealisierung am konkreten Beispiel der Abraumförderbrücke F 60, Nr. 36, die im Tagebau KlettwitzNord eingesetzt worden war und heute als »Besucherbergwerk F60« einer breiten Öffentlichkeit zugänglich ist. Wenngleich das zur Diskus­ sion stehende Objekt weder in ein Museum kam – angesichts einer ­Gesamtlänge von 502 m, einer Breite von 204 m, einer Höhe von ca. 80 m und einem Gewicht von rund 11.000 t Stahl wenig verwunderlich –, noch seine Erhalter und Betreiber es als »Museum« verstehen, ­offenbaren seine 2009 erfolgte Aufnahme in die Denkmalliste des Landes Brandenburg sowie der 2019 vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz verliehene Preis für Denkmalschutz, dass es sich um ein ex­zeptionell inwertgesetztes, da formal von Authentisierungsinstitutionen nobilitiertes Objekt des deutschen Braunkohlenbergbaus handelt, in dem sich auch das kulturelle Gedächtnis der Braunkohlenregion Lausitz materialisiert. Die fluiden Stadien des »Davor«, »Dazwischen« und »Danach« stellen sich insofern auch anders gelagert dar als im Falle »klassisch« musealisierter Dinge. Insbesondere diese Unterschiede könnten dazu beitragen, den etablierten musealen Blick auf die Dinge zu weiten. Diesen Aspekt greifen die abschließenden Überlegungen des Textes auf. Museologische Einrichtungen des deutschen Braunkohlenbergbaus Wenngleich derzeit kein wissenschaftlich fundierter Überblick zu den museologischen Einrichtungen des Braunkohlenbergbaus in Deutschland vorliegt, erlaubt das jährlich vom Deutschen Braunkohlen-Industrie-­ Verein e. V. (DEBRIV) herausgegebene »Medien- und Museumsverzeich­ nis Braunkohle« zumindest eine erste Annährung.10 Aktuell erfasst dieses Verzeichnis 26 Einrichtungen, die sich im weitesten Sinne der musealen Auseinandersetzung mit dem Braunkohlenbergbau widmen. Allerdings ist zu vermerken, dass diese Anzahl auf gewissen Inkonsistenzen beruht. So wird unter »Traditionsvereinen«, deren Beschäftigung sich unter ­an­derem auf Technische Denkmale bezieht, nur der Traditions­verein 9 Vgl. André Steiner, Bergbau in der DDR – Strukturen und Prozesse, in: Ziegler (Hg.), Rohstoffgewinnung im Strukturwandel, S. 303-354. 10 Deutscher Braunkohlen-Industrie-Verein e. V., Medien- und Museumsverzeichnis Braunkohle, Stand: 1 /98, Köln 1998. 91

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­ itterfelder Bergleute e. V. aufgeführt, während beispielsweise die TradiB tionsvereine Braunkohle Lauchhammer e. V. und Braunkohle Senften­ berg e. V. nicht erscheinen.11 Von diesen 26 Institutionen liegen nur ­sieben in den alten, hingegen 19 in den neuen Bundesländern, davon 10 im Mitteldeutschen und 9 im Lausitzer Revier.12 Werfen wir einen kurzen Blick auf die generellen Charakteristika der Institutionen in den alten Bundesländern, so ergibt sich folgendes Bild: Revierübergreifend erscheinen in dieser Auflistung das Deutsche Bergbau-­ Museum Bochum und das Deutsche Museum in München, für das wich­ tigste, noch fördernde westdeutsche Revier, das Rheinische Revier, listet der DEBRIV das von RWE Power getragene »Informationszentrum Schloss Paffendorf« in Bergheim und das Bergbaumuseum Aldenhoven im Kreis Düren. Für die bereits stillgelegten Reviere in Bayern und ­Hessen nennt diese Liste das Heimat- und Industriemuseum Wackersdorf, das Bergbaumuseum Peißenberg, beide in Bayern, und das Hessische Braunkohle Bergbaumuseum. Von diesen Einrichtungen befinden sich nur zwei nicht in mehrheitlich öffentlicher bzw. kommunaler ­Trägerschaft; die Museen in Bayern und Hessen lassen sich ferner als technikgeschichtlich orientierte Heimatmuseen klassifizieren.13 Für die drei genannten museologischen Einrichtungen lässt sich darüber hinaus konstatieren, dass ihre Eta­blierung rasch der Stilllegung des regionalen Bergbaus folgte und aus­geprägten städtisch-kommunalen Rückhalt besaß, was begleitende Förder­vereine und Stiftungsmodelle, wie prominent im Falle des Hessischen Braunkohle Bergbaumuseums, das nach wie vor eine hervor­ gehobene muse­ale Bedeutung für die westlichen Reviere hat, nicht ausschließt (Abb. 1). Strukturell unterscheiden sich die museologischen Einrichtungen im Rheinischen Revier hiervon deutlich. Bei ihnen handelt es sich um das Informationszentrum Schloss Paffendorf und das Bergbaumuseum Alden­ hoven. Für das privatwirtschaftlich getragene Informationszentrum ist festzuhalten, dass es von den vier konstitutiven musealen Kategorien 11 Vgl. Traditionsverein Braunkohle Lauchhammer e. V. (Hg.), 10 Jahre Traditions­ verein Braunkohle Lauchhammer e. V., Lauchhammer 2011; http://www.tv-braun�kohle.de/index.php [Abruf: 23. 5. 2022]; vgl. zur weiteren Problematisierung: Farren­ kopf, »Erkenntnisse zutage fördern«. 12 Vgl. https://braunkohle.de/media/bergbau-erleben/ [Abruf: 23. 5. 2022]. 13 Vgl. Stefan Siemer, Die Erfassung der Vielfalt. Museen und Sammlungen zum Steinkohlenbergbau in Deutschland, in: Michael Farrenkopf / Stefan Siemer (Hg.): Bergbausammlungen in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme (Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Nr. 233; Schriften des Montan­ historischen Dokumentationszentrums, Nr. 36), Bochum 2020, S. 119-156, hier S. 124 f.; weiterführend im Detail vgl. Farrenkopf, »Erkenntnisse zutage fördern«. 92

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Abb. 1: Das Hessische Braunkohle Bergbaumuseum Borken veranschaulicht mit einem Schaufelradbagger den Prozess der Kohlegewinnung in einem Braun­ kohlentagebau. Das Leitexponat wird den Besuchenden des Themenparks Kohle & Energie im Demonstrationsbetrieb vorgeführt. Das Großgerät wurde in den Jahren 2021 /22 aufwendig restauriert und konserviert.

Sammeln, Bewahren, Ausstellen / Vermitteln und Forschen einzig das Ausstellen erfüllt; insofern ist der Eigenname treffend gewählt, von ­Musealisierung des Braunkohlenbergbaus kann an diesem Beispiel nur in sehr engen Grenzen gesprochen werden. Diese Aussage gilt ebenfalls für das Bergbaumuseum in Aldenhoven, wenn auch aus anderen Gründen. Unweit des Tagebaus Hambach gelegen, eröffnete das Museum 1997; die Gründung des Trägervereins, des Bergmännischen Traditionsvereins für Stein- & Braunkohle »GLÜCK AUF« Aldenhoven 1992 e. V., erfolgte bereits 1992 als Reaktion auf die Stilllegung des Verbundbergwerks Emil Mayrisch-Anna, die das Ende der über 800 Jahre zurückreichenden ­Tradition des Steinkohlenbergbaus im Aachener Revier markierte.14 Charakteristisch für das Bergbaumuseum Aldenhoven ist mithin das bürgerschaftliche Engagement, hinzu kommt, dass der Großteil der Objekte aus dem Steinkohlenbergbau stammt15 und es an einer szenografischen 14 Hans Jakob Schätzke, Vor Ort. Geschichte und Geschichten eines Bergbauunternehmens im Aachener Revier, Herzogenrath 1992. 15 Vgl. Bergbaumuseum Aldenhoven, in: Farrenkopf / Siemer (Hg.), Bergbausammlungen in Deutschland, S. 498 f. sowie online unter: https://www.bergbau-samm�lungen.de/de/institution/bergbaumuseum-aldenhoven [Abruf: 18. 6. 2022]. 93

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Ausstellung mangelt. Die Kontextualisierung der Objekte ist nur durch persönliche Führungen und Erklärungen der Vereinsmitglieder möglich. Bleiben für die westlichen Braunkohlenreviere die museologischen Einrichtungen recht überschaubar, so verdichten sie sich in den beiden östlichen Revieren. Mit Blick auf die Liste des DEBRIV lassen sich von den 19 Nennungen allerdings einige Einrichtungen kaum als museologisch charakterisieren, so Braunkohlenlehrpfade oder Dachvereine; in­ sofern reduziert sich die Zahl der Einrichtungen auf 15, von denen im Folgenden nur einige skizziert werden. Am Anfang steht das Gut Geisendorf am Rande des Tagebaus Welzow-Süd, das von der Lausitz Energie Bergbau AG (LEAG) betrieben wird.16 Hier ist nicht nur eine Ausstellung zur Geschichte und Zukunft der Braunkohle in der Lausitz zu ­sehen, sondern der Ort bietet auch zahlreiche Kulturveranstaltungen.17 Wie das Informationszentrum Schloss Paffendorf nimmt auch das Gut Geisendorf keine sonstigen musealen Aufgaben wahr. Anders als bei den westdeutschen Institutionen ist für die ost­deutschen musealen Einrichtungen zunächst charakteristisch, dass sich nur zwei in öffentlich-kommunaler Trägerschaft befinden, alle übrigen hingegen be­ treiben Vereine bzw. Unternehmen. Seit 1998 unterhält und f­inanziert beispielsweise der Zweckverband Sächsisches Industriemuseum das Industrie­museum Chemnitz, die Tuchfabrik Gebr. Pfau Crimmitschau, das Be­sucherbergwerk / Mineralogische Museum Zinngrube Ehrenfrieders­ dorf sowie die Energiefabrik Knappenrode, die ein zeitgemäßes Museum für den Braunkohlenbergbau ist. Ein weiteres, spezifisch ostdeutsches Charakteristikum für die Gründung museologischer Einrichtungen ist die starke Fokussierung auf den Erhalt und die Inwertsetzung technischer Denkmale der Braunkohlen­ industrie. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf das Technische Denkmal Brikettfabrik »Louise« in Domsdorf (bei Liebenwerda, Lausitz) sowie die Brikettfabrik »Herrmannschacht« in Zeitz (Sachsen-Anhalt) verwiesen. Die Brikettfabrik »Louise«, 1882 in Betrieb gegangen, wurde 1991 still­ gelegt, ihr vorgesehener Abriss konnte verhindert werden, und 1992 wurde sie unter Denkmalschutz gestellt.18 1997 erfolgte die feierliche 16 https://www.leag.de/de/seitenblickblog/tags/gut-geisendorf/ [Abruf: 18. 6. 2022]. 17 https://lausitz.de/de/kultur/schloesser/artikel-gut-geisendorf.html [Abruf: 18. 6. 2022]. 18 Matthias Baxmann, Technisches Denkmal »Brikettfabrik Louise« in Domsdorf erhält Denkmalpreis, in: Industriekultur 29 /4 (2004), S. 38; Frieder Bluhm, G ­ utes Geschäft, Staub zu Kohle gemacht – die Brikettfabrik Louise in Domsdorf, Brandenburg, in: Industriekultur 43 /2 (2008), S. 29; Norbert Gilson, Brikettfabrik Domsdorf erhält GAG -Preis für Industriekultur 2018, in: Industriekultur 8 5/4 (2018), S. 40 f. 94

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Übergabe an das damalige Amt Wahrenbrück, heute gehört das Tech­ nische Denkmal Brikettfabrik »Louise« zur Stadt Uebigau-Wahrenbrück in der Lausitz und steht weiterhin unter Aufsicht der Bergbehörde.19 Kennzeichnend ist, dass sie vor allem als technisches Denkmal über verschiedene Spezialführungen erlebbar ist. Da das historische Produktionsgeschehen teilweise an Anlagen und Maschinen aus dem Gründungsjahr 1882 erläutert wird, können für Besuchende authentische Eindrücke evoziert werden.20 Weit näher als »Louise« kommt die Brikettfabrik »Herrmannschacht« in Zeitz dem klassischen Museumsverständnis. Benannt nach dem ehemaligen Leiter der Zuckerfabrik Zeitz, Richard Herrmann (1832-1889), produzierte die Fabrik von 1889 bis Ende 1959 und wurde 1961 unter Denkmalschutz gestellt. In den 1990er Jahren begann der Verein »Mitteldeutscher Umwelt- und Technikpark e. V.«, gegründet 1994, mit der Neukonzeption dieser museologischen Einrichtung. Ziel war es, Objekte in den Park einzubringen, die eine anschauliche Aufarbeitung der regionalen Industriegeschichte erlauben, auch Leistungen bedeutender Braunkohlentechniker und Erfinder sollten vermittelt werden. Darüber hinaus entwickelte der Verein eine didaktische Präsentation zu den Wechselwirkungen zwischen Braunkohlenindustrie und Umwelt. Einbezogen wurden aktuelle Erkenntnisse und Maßnahmen zur Bewältigung braunkohlenbedingter Umweltschäden.21 Drei Bereiche prägen das museale Konzept der Brikettfabrik »Herrmannschacht«: ­Erstens das Technische Denkmal, in dem den Besuchenden die Brikettproduktion am originalen Maschinenbestand erklärt wird. Zweitens der sogenannte Braunkohlenwald, in dem die Entstehung der Braunkohle erläutert wird. An rezenten Vertretern soll dieser Prozess für die Be­ suchenden nachvollziehbar werden.22 Drittens befindet sich im 2010 teilweise sanierten Turmhaus der Fabrik eine Ofenausstellung, die den »Energieträger« Brikett mit dem »Energiewandler« Ofen in Beziehung setzt. Die Ausstellung vermittelt nicht nur technische Belange der Öfen, sondern thematisiert zudem das soziale Umfeld und die sozialen Hintergründe zahlreicher Herde und Öfen.23 19 https://www.brikettfabrik-louise.de/die-gebaude/die-fabrik [Abruf: 18. 6. 2022]. 20 https://www.brikettfabrik-louise.de/wp-content/uploads/Satzung_Louise.pdf [Ab­ ruf: 18. 6. 2022]. 21 Paul Boué, MUT – Mitteldeutscher Umwelt- und Technikpark e. V. Dokumentation einer Realisierungsstudie, Zeitz / Leipzig o. J. [1994], S. 5. 22 https://www.recarbo.de/brikettfabrik-herrmannschacht/das-museum [Abruf: 18. 6. 2022]. 23 Verein »Mitteldeutscher Umwelt- und Technikpark e. V.« (Hg.), Brikettfabrik »Herrmannschacht« in Zeitz. Museum der braunkohlenveredelnden Industrie, Zeitz o. J., S. 7. 95

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Eine ganz besondere Kategorie bilden die großmaßstäblichen, vor­ rangig industriekulturell entstandenen museologischen Einrichtungen. Sie überliefern in situ die den modernen Braunkohlenbergbau prägenden, typischen Großgeräte und machen sie einer breiten Öffentlichkeit vor allem durch touristische Angebote zugänglich. Namentlich handelt es sich im Mitteldeutschen Revier um den Bergbau-Technik-Park im Leipziger Neuseenland, Großpösna, und FERROPOLIS – Die Stadt aus Eisen, Gräfenhainichen, ferner im Lausitzer Revier um das Besucherbergwerk & Licht- und Klangkunstwerk F 60 in Lichterfeld, auf das anschließend detaillierter zurückzukommen ist. Der Bergbau-Technik-Park im Leipziger Neuseenland beansprucht, ein Ort zu sein, »der einen authentischen Blick in die Vergangenheit gewährt und damit die Brücke schlägt zwischen Vergangenem, Gegenwart und Zukunft.«24 Ausgangspunkt für diese Einrichtung war das Be­mühen um die Überlieferung zweier Tagebaugroßgeräte des ehemaligen Tagebaus Espenhain, einem Schaufelradbagger und einem Bandabsetzer, deren Verschrottung beschlossen worden war. Ihre Sicherung gelang durch das Engagement der Mitglieder des 2002 gegründeten Bergbau-TechnikParks e. V. Dank Unterstützung der Kommunen Großpösna, Espenhain und Markkleeberg, des Freistaates Sachsen und des Regierungspräsidiums Leipzig sowie in Zusammenarbeit mit der Lausitzer und Mitteldeutschen Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH (LMBV) und der Mitteldeutschen Braunkohlengesellschaft mbH (MIBRAG) gelang der Erhalt dieser ­beiden Tagebaugroßgeräte, die heute das Kernstück des Parks bilden. Weiter­hin besitzt dieser eine umfangreiche Sammlung verschiedener Arbeitswerkzeuge, von Bekleidung und Tagebautechnik. Herausfordernd für den Erhalt ist die Größe der Objekte, die nicht in geschützte Räume eingebracht werden können und somit frei bewittert stehen. Ziel des Trägervereins ist zudem, nicht nur »die junge Generation« einzuladen, »die Ausmaße der Maschinentechnik und der Logistik zu bestaunen«, sondern ferner der »Generation der ehemaligen Bergleute« die Möglichkeit zu verschaffen, »sich in ›alte Zeiten‹ zurückversetzen« zu lassen.25 Daher widmet sich ein spezieller Bereich des Parks dem Heimatverlust und dem Verschwinden ganzer Dörfer. FERROPOLIS hingegen setzt deutlich ausgeprägter als der BergbauTechnik-Park auf touristische Nutzung und eine eventisierte Industriekultur. FERROPOLIS sieht sich selbst als »Museum, Industriedenkmal,

24 Vgl. Farrenkopf, »Erkenntnisse zutage fördern«. 25 http://www.bergbau-technik-park.de/park [Abruf: 18. 6. 2022]. 96

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Stahlskulptur, Veranstaltungsareal und Themenpark gleichermaßen«.26 Diese Eigendefinition des Ortes ist durchaus berechtigt, wird doch in der ehemaligen 30 kV-Station, ursprünglich der Umwandlung des Stroms zum Betrieb der Großgeräte (6000 V) und des Zugbetriebs (1200 V) dienend, eine Ausstellung zur regionalen Bergbaugeschichte gezeigt, die der Förderverein Ferropolis ständig weiter ausbaut. Das 1987 im Abraum des Tagebaus Gröbern gefundene Skelett eines Waldelefanten, der vor 120.000 Jahren in der Region lebte, stellt eine weitere Attraktion der Einrichtung dar. Auch finden sich in der ehemaligen 30 kV-Station bergbauliche Messgeräte und technisches Gerät eines Bergbaubetriebs. Ergän­ zend treten historische Fotodokumente aus dem Tagebau Golpa-Nord und den ehemaligen Dörfern Gremmin und Golpa hinzu. Derzeit entsteht im ersten Obergeschoss des Gebäudes ein »Modellsaal«, in dem Modelle von Tagebaugroßgeräten gezeigt werden. Restauriert – eine klassische museale Kernaufgabe – wurden sie von ehemaligen Bergleuten; die filigrane Ingenieurskunst kann im Detail veranschaulicht werden (Abb. 2). Schließlich ist darauf aufmerksam zu machen, dass es im Erd­ geschoss einen Experimentierraum für Schülergruppen gibt. Hier ist es möglich, Experimente aus dem Bereich erneuerbarer Energien durch­ zuführen und physikalische Phänomene anschaulich zu erklären – dies entspricht ­heutigen musealen Vermittlungsstrategien für jüngere Zielgruppen.27 Offensichtlich, und wenig verwunderlich ob der strategisch-ökonomischen Bedeutung der Braunkohle für die DDR , ist in den ostdeutschen Bundesländern das Interesse an der Bewahrung des materiellen Erbes dieser Sparte deutlich ausgeprägter als in den westdeutschen Ländern. Mit dem Bergbau-Technik-Park im Leipziger Neuseenland, FERRO­POLIS und dem Besucherbergwerk F 60 bei Lichterfeld-Schacksdorf treten uns drei museologische Einrichtungen entgegen, die sich vornehmlich dem Erhalt von Tagebaugroßgeräten widmen, deren Bewahrung in »klassischen« Museen ob ihrer Größe ausgeschlossen ist. Am Beispiel des Besucher­bergwerks F 60 in der Niederlausitz thematisieren wir nun den Prozess des »Davor-Dazwischen-Danach« eines solchen Objekts.

26 https://www.ferropolis.de/de/cms/_redaktionell/10/Geschichte/17/Entwicklung.­ html [Abruf: 18. 6. 2022]. 27 https ://www.ferropolis.de/de/cms/_redaktionell/10/Geschichte/18/Museum­ _30kV_Station.html [Abruf: 28. 9. 2021]. 97

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Abb. 2: Im ersten Ober­ geschoss der 30 kV-Sta­tion von FERRPOLIS ist ein Modellsaal zu finden. Hier werden beispielsweise die Modelle eines Absetzers und des Europabaggers gezeigt.

Die F60, Nr. 36, des Tagebaus Klettwitz-Nord – Das Objekt im »Davor« Abraumförderbrücken können als eine regional-spezifische Braunkohlen­ technologie des Niederlausitzer Reviers bezeichnet werden, sie wurde 1924 in der Grube »Agnes« bei Plessa erstmals eingesetzt. Die räumliche Verwurzelung bilanzierte bereits eine Bestandaufnahme aus dem Jahr 1938, aus der hervorgeht, dass 11 der 18 Exemplare im Niederlausitzer Braunkohlenrevier standen.28 Sie begründet sich vor allem aus der spezifischen Kohlengeologie des Reviers, insofern lassen sich Abraumförderbrücken als ressourceninduzierte Innovationen ansprechen.29 Konstruk28 Günter Bayerl, Die Niederlausitz. Industrialisierung und De-Industrialisierung ­einer Kulturlandschaft, in: ders., Peripherie als Schicksal und Chance. Studien zur neueren Geschichte der Niederlausitz (Die Niederlausitz am Anfang des 21. Jahrhunderts. Geschichte und Gegenwart, Bd. 1), Münster / Berlin / New York 2011, S. 255-325, hier S. 271 [zuerst in: Blätter für Technikgeschichte 65 (2003), S. 89-163]. 29 Zum ursprünglichen Konzept vgl. aus technikhistorischer Sicht: Reinhold Reith, Vom Umgang mit Rohstoffen in historischer Perspektive. Rohstoffe und ihre Kosten als ökonomische und ökologische Determinanten der Technikentwicklung, in: Johann Beckmann-Journal. Mitteilungen der Johann Beckmann-Gesellschaft 7 /1-2 (1993), S. 87-99; ders., Vom Umgang mit Rohstoffen in historischer Perspektive. 98

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tiv schlug sich dies darin nieder, dass sie bis in die 1950er Jahre hinein Unikate blieben,30 die den jeweiligen geologischen Bedingungen der einzelnen Tagebaue angepasst waren. Seither wurden in der DDR so­ genannte Einheitsförderbrücken konzipiert, deren erster Typ, eine F 34,31 ihren Betrieb im Tagebau Lohsa 1959 aufnahm.32 Kennzeichen der ­Einheitsförderbücken ist ihre einheitliche Grundkonstruktion, die es erlaubte, die bergbauliche Großtechnik quasi seriell zu produzieren, allerdings waren noch spezifische konstruktive Anpassungen für die Stand­ sicherheit erforderlich. Die letzte Generation dieser stählernen Kolosse sind die Abraumförderbrücken des Typs F60, der erstmals 1972 im Tagebau Welzow-Süd in Betrieb genommen wurde. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Abraumförderbrücken Verbundtechnologien sind, die in der Regel mit zwei Eimerkettenbaggern arbeiten. Im Tagebau Klettwitz-Nord, der als Ersatz für den auslaufenden Großtagebau Klettwitz, dessen Braunkohlen vor allem für die Veredlungs­ betriebe des VEB Kombinat Schwarze Pumpe bestimmt waren, geplant worden war, sollte ebenfalls eine solche Großtechnologie zum Einsatz kommen. Der Aufschluss von Klettwitz-Nord begann mit der EntwässeRohstoffe und ihre Kosten als ökonomische und ökologische Determinanten der Technikentwicklung, in: Wolfgang König (Hg.), Umorientierungen. Wissenschaft, Technik und Gesellschaft im Wandel, Frankfurt a. M. 1994, S. 47-69. Zu seiner Anwendung auf Abraumförderbrücken vgl. Lena Asrih / Nikolai Ingenerf / Torsten Meyer, Bergbau als techno-naturales System – Ein Beitrag zur modernen Bergbaugeschichte, in: DER ANSCHNITT. Zeitschrift für Montangeschichte 71 /1 (2019), S. 2-18, S. 4 f. und 9 ff. 30 Dies schließt nicht aus, dass vorhandene Abraumförderbrücken durchaus konstruktive Vorbildfunktion haben konnten. Die 1931 von der »Eintracht. Braunkohlen­ werke und Brikettfabriken GmbH« errichtete Abraumförderbrücke in der Grube »Louise« orientierte sich in dieser Hinsicht beispielsweise an der Plessaer Brücke, fiel nur kleiner als diese aus. Vgl. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Potsdam Rep. 14C Bergrevier Senftenberg, Nr. 583, bes. fol. 10. 31 Die Typenbezeichnungen der Einheitsförderbrücken, F34, F45 und F60, kennzeichnen deren Abtragshöhe des Abraums. 32 Kerstin Hartsch / Wolfgang Haubold, Entwicklung des Bodens in der Tagebaufolge­ landschaft zwischen Uhyst und Lohsa, in: Berichte der Naturforschenden Gesellschaft der Oberlausitz 9 (2000), S. 63-75, hier S. 66. Steinhuber gibt für die In­ betriebnahme 1958 an, doch handelt es sich hierbei um das Datum der Montage der Brücke. Vgl. Uwe Steinhuber, Einhundert Jahre bergbauliche Rekultivierung in der Lausitz: ein historischer Abriss der Rekultivierung, Wiederurbarmachung und Sanierung im Lausitzer Braunkohlenrevier, Diss. phil., Universität Olomouc 2005, S. 241; so auch: Hans Kaschad, Kohle und Energiewirtschaft in der DDR . 3 Bde., Buskow bei Neuruppin 2015-2018, Bd. 2, S. 190. Vgl. zur Datierung der Inbetriebnahme 1959 auch: Diethelm Müller / Heinz Krause / Horst Nakonz, 60 Jahre Abraumförderbrücken / 25 Jahre Typenabraumförderbrücken in der DDR , in: Neue Bergbautechnik 14 /5 (1984), S. 161-166. 99

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Abb. 3: Vor dem »Davor« der F 60, Nr. 36, als musealisiertes Objekt lag auch ein »Davor« des Funktionsobjektes, die komplexe Montage.

rung des Feldes 1981, im Jahr 1988 konnten die ersten Braunkohlen gefördert werden. Am 1. November des Jahres startete auch die Montage der F 60, Nr. 36, nachdem Ende 1983 das VEB Kombinat TAKRAF Lauchhammer den Auftrag erhalten hatte und seit 1984 der Montageplatz vorbereitet worden war (Abb. 3). Ebenfalls begannen die Montagearbeiten für die beiden Verbundbagger vom Typ Es 3750, von denen allerdings nur einer mit Beginn des Regelbetriebs der F 60, Nr. 36, am 11. März 1991 gekoppelt wurde, den Probebetrieb hatte die Brücke bereits am 5. Februar 1991 aufgenommen. Am 18. Dezember 1992 endete die Förderung, und bereits am 30. Juni des Jahres war die F 60, Nr. 36, stillgelegt worden. Die auf bis zu 30 Jahre projektierte Laufzeit des Tagebaus schrumpfte auf vier, hatten sich doch mit der am 3. Oktober 1990 erfolgten Inkorporation der DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes die energiepolitischen und -wirtschaftlichen Planungen der DDR überholt. Die ca. 730 Mio. Mark der DDR , die für die Aufnahme des Regelbetriebs in KlettwitzNord investiert worden waren,33 verpufften innerhalb kürzester Zeit im Nichts. Diese politisch bestimmte Entscheidung setzte auch die F 60, Nr. 36, gänzlich außer Wert – ein radikaler Einschnitt, da es in den 1992 aktiv fördernden Braunkohlentagebauen der Region keinen Bedarf gab, das stählerne Großgerät weiterzuverwenden. Auf einen Schlag, so überspitzt formuliert, verwandelte sich der stahlgewordene »Stolz […] ingenieur­ 33 BLHA Potsdam Rep. 888 Staatsbank Bezirksdirektion Cottbus, Nr. 1292, unfol., Staatsbank der DDR . Ifb Kohle und Energie. Stellungnahme zur Dokumentation zur Grundsatzentscheidung für das Investitionsvorhaben Tagebau KlettwitzNord, Teilvorhaben 4, Vorbereitung zur Aufnahme des Regelbetriebes 1988 vom 20. 8. 1987. 100

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technische[r] Höchstleistung«34 in einen Schrotthaufen. Das Schicksal des Artefakts schien vorgezeichnet, bereitete doch die LMBV, in deren Eigentum die stillgelegte Abraumförderbrücke übergegangen war, seit 1992 ihre Sprengung vor.35 Im Diskurs des »Davors« konnte die LMBV für diese »Entschaffung« noch weitere Argumente ins Feld führen: Nicht nur sei die Verschrottung juristisch bestätigt, auch verschlänge der Erhalt erhebliche Mittel. Zudem fehle es der F 60 an Denkmaleigenschaften, da sie zum einen aufgrund stattgefundener Teildemontagen nicht mehr in ihrer ursprünglichen Konstruktion existiere, zum anderen kein Unikat sei, befanden sich doch noch weitere Brücken dieses Typs im aktiven Einsatz. Nicht zuletzt konnte die LMBV argumentieren, dass die F 60 unter Bergrecht stehe und ihre Entlassung und Überführung in das ­öffentliche Baurecht kaum möglich wäre.36 Andererseits aber konnte selbst die LMBV nicht ignorieren, dass die kurze Betriebsdauer der ­Abraumförderbrücke eine günstige Voraussetzung für deren Erhalt war. Dieser Erhaltungszustand mochte zwar eine wichtige, praktische Voraussetzung für den Prozess der Musealisierung der F 60, Nr. 36, sein, demgegenüber hatten allerdings die bereits stattgefundenen Teildemontagen die Integrität des Objekts beeinträchtigt – so sank das Gewicht von ursprünglich 13.500 t auf 11.000 t und die Länge von ca. 600 m auf 502 m, wohingegen die Höhe mit rund 80 m nicht betroffen war. Da Abraumförderbrücken Verbundtechnologien sind, beeinträchtigte im März 1994 die Verbringung der neuen Eimerkettenbagger Es 3750 in den Tagebau Welzow-Süd, den sie im August des Jahres erreichten und dort die veralteten Eimerkettenbagger vom Typ Es 3150 ersetzten, zudem strenggenommen die Authentizität des Objekts. Es mag dem Fehlen etablierter, für die Musealisierung wichtiger Schutzargumente geschuldet sein, dass erst zeitverzögert ein Stimmenchor einsetzte, der für eine ­Musealisierung der F 60, Nr. 36, plädierte. Im »Davor« nahm dieser seit 1997 an Fahrt auf, schritten doch die Planungen der LMBV zur Sprengung der Brücke voran. Wie ließ sich die Musealisierung argumentieren, welche Argumente und Kontexte wurden formuliert? 34 Anke Risch, Erinnerungen und Hoffnung – das Besucherbergwerk F 60, Lichterfeld. Teil 1, in: bergbau. Zeitschrift für Rohstoffgewinnung, Energie und Umwelt 5 3/11 (2002), S. 503-505, hier S. 504. 35 https://www.f60.de/de/die-bruecke/chronik.html [Abruf: 18. 6. 2022]. 36 Die Argumente nach: Matthias Baxmann, Abraumförderbrücke F 60 bei Lichterfeld. Technisches Denkmal oder Symbol für die Lausitz?, in: Helmuth Albrecht / Norman Fuchsloch (Hg.), Erfassung, Bewahrung und Präsentation technischer Denkmale aus dem Bereich der Braunkohlenindustrie (INDUSTRIE archäologie. Studien zur Erforschung, Dokumentation und Bewahrung von Quellen zur Industriekultur, Bd. 1), Chemnitz 2001, S. 43-57, hier S. 50. 101

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Eindeutig auf touristische Perspektiven zielte beispielsweise der seinerzeitige Direktor des Amtes Kleine Elster / Niederlausitz, Gottfried Richter, in dessen Raum die F 60 stand. Im Amtsblatt vermeinte er 1997 zudem verkünden zu können: »Übrigens ist ein Name für die Tagebaubrücke bereits geprägt – ›Big Brontosaurus‹«.37 So wenig diese Namensgebung feststand, so sehr offenbart die semantische Mimikry ein Problem der inwertsetzenden Musealisierung. Während der Brontosaurus sich seit der Dinosaurier-Renaissance der 1970 /1980er Jahre mit dem Bild des »langhalsigen friedfertigen Dinosauriers«, des »braven Kolosse[s],«38 verbunden hatte, war die F 60, Nr. 36, zwar kolossal, aber alles andere als friedfertig. Als größte bewegliche Arbeitsmaschinen der Welt trugen die Abraumförderbrücken erheblich zur »Verheizte[n] Lausitz« bei.39 Ein Aspekt, der offenbar vermittels biologischer Schönfärbung überdeckt werden sollte und insofern die dem Objekt eingeschriebene industrielle Vergangenheit als unbequem markiert. Argumentativ griff Rolf Kuhn, der 1998 als Geschäftsführer der Vorbereitungsgesellschaft Internationale Bauausstellung (IBA) Fürst-Pückler-Land in die Niederlausitz gezogen war,40 die touristische Vermarktung des Objekts auf, bemühte aber einen anderen Vergleich: »Eher zufällig war auch das heute geflügelte Wort vom ›Liegenden Eiffelturm der Lausitz‹ entstanden: IBA-Geschäfts­ führer Prof. Rolf Kuhn verglich 1998 in einem Zeitungsinterview die F 60 mit dem Pariser Wahrzeichen, das ursprünglich nur für die Dauer der Weltausstellung 1889 errichtet worden war, dann aber stehen blieb und zur Touristenattraktion wurde; so könne auch die F 60 Wahrzeichen und Besuchermagnet der Lausitz werden.«41 Nicht nur verschob Kuhn in diesem Statement die Empfehlungen des Gründungskuratoriums der IBA , in denen Tagebaugroßgeräten keine besondere Bedeutung zuge­ 37 Gottfried Richter, Touristische Entwicklung von Lichterfeld-Sallgast, in: Amtsblatt des Amtes Kleine Elster / Niederlausitz 6 /8 (1997), o. S., zit. nach: Günter Bayerl, F 60 – Die Niederlausitzer Brücke. Eine Abraumförderbrücke als Wahrzeichen eine Tagebauregion, in: Blätter für Technikgeschichte 63 (2001), S. 33-59, hier S. 47. 38 Joachim Müller-Jung, Der Stehaufsaurier, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. 4. 2015, Online-Ausgabe (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/brontosauruszweimal-ausgestorben-und-dennoch-ueberlebt-13527852.html, Abruf: 18. 6. 2022). Vgl. auch Brian Switek, My Beloved Brontosaurus. On the Road With Old Bones, New Science and Our Favorite Dinosaurs, New York 2013. 39 Umweltzentrum Hoyerswerda (Hg.), Verheizte Lausitz. Der Braunkohlenbergbau und seine Probleme im ostelbischen Raum, Hoyerswerda 1990. 40 Nach ihrer Implementierung übernahm er von 2000 bis 2010 auch deren Leitung. Vgl. https://web.archive.org/web/20110721203410/http://www.iba-see2010.de/de/ kontakt/koepfe/inhalte/kuhn.html [Abruf: 18. 6. 2022]. 41 http://www.iba-see2010.de/de/verstehen/projekte/projekt3.html [Abruf: 18. 6. 2022]. 102

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wiesen worden war,42 sondern suchte ebenfalls nach einer semantischen Analogie, mit der die Schattenseiten der F 60, die großflächigen Devas­ tierungen und der Heimatverlust, übertüncht werden konnten. Gemeinsam ist beiden Stimmen die Betonung des industriell Monumentalen und die Re-Ökonomisierung der F 60, Nr. 36; im »Davor« war sie »eines der Hauptargumente zu ihrem Erhalt.«43 Mit der Re-Ökonomi­ sierung des Objekts verband sich zugleich das in den 1990er Jahren domi­ nante Diktum, nämlich »Industriekultur hat immer zwei Zeiten: Respekt vor der Vergangenheit und Mut zur Zukunft«.44 Günter Bayerl, seiner­ zeit Inhaber des Lehrstuhls für Technikgeschichte an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus, heute BTU Cottbus-Senftenberg, hatte sich bereits Anfang 1998 in einem Interview mit der ­Lausitzer Rund­schau für den Erhalt der F 60 stark gemacht und ihre industriekultu­ relle Bedeutung betont.45 Drei Jahre später, 2001, nachdem das Objekt in sein »Dazwischen« eingetreten war, blickte er re­sümierend zurück: Die Niederlausitz hat nicht nur eine Vergangenheit, sie hat auch eine interessante Zukunft. Die F 60 ist die Niederlausitzer Brücke – nicht nur zur Erinnerung, sondern auch als Wegweiser, der von der ­Störung zum Wandel führt. Ein Werkzeug des Transfers für eine transitorische Landschaft.46 Es scheint naheliegend, die Konstruktion als i­ndustriekulturelle Metapher zu nutzen, in ihr verbinden sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander und sie versinnbildlicht so den stetigen Zeitfluss. 42 Vgl. BLHA Potsdam Rep. 2605 pro brandenburg e. V., Nr. 16, unfol., Internationale Bauausstellung Fürst-Pückler-Land. Werkstatt für neue Landschaften in der Lausitz. Die Empfehlung des Gründungskuratoriums (Entwurf ) Juni 1997, S. 42 (Seitenangabe nach dem genannten Dokument). Die anderen drei Arbeitsbereiche waren: Neue Landschaften, Baukultur und Tourismus. Schlussendlich prägten die Durchführungsphase der IBA dann die sieben Themenschwerpunkte Industrie­ kultur, Wasserlandschaften, Energielandschaften, Neuland, Grenzlandschaften, Stadtlandschaften und Zwischenlandschaften. Vgl. http://www.iba-see2010.de/de/ verstehen/projekte/schwerpunkte.html#7682 [Abruf: 18. 6. 2022]. 43 Günter Bayerl, Vom Regenwald in die Wüste. Die Niederlausitz und die »Musealisierung« der Industriekultur, in: Hartmut John / Ira Mazzoni (Hg.), Industrieund Technikmuseen im Wandel. Standortbestimmungen und Perspektiven (Publikationen der Abteilung Museumsberatung, Nr. 20), Bielefeld 2005, S. 212-234, hier S. 218. 44 Ulrich Borsdorf u. a. (Hg.), Sonne, Mond und Sterne. Kultur und Natur der Energie. Katalog zur Ausstellung auf der Kokerei Zollverein in Essen, 13. Mai bis 13. September 1999 im Rahmen des Finales der Internationalen Bauausstellung Emscher Park, Bottrop / Essen 1999, S. 11. 45 Bayerl, F 60, S. 50. 46 Ebd., S. 59. 103

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Ähnlich argumentierte auch der Technikhistoriker und Denkmal­ pfleger Matthias Baxmann: »Die Abraumförderbrücke bei Lichterfeld kann – selbst wenn sie einer touristischen Nutzung zugeführt wird – ein solches Merkzeichen, eine ›Brücke des Erinnerns‹ sein.«47 Als Baxmann Ende 1998 diese These formulierte, war das Fortleben des Objekts noch nicht als »absolut sicher« anzusehen.48 In Baxmanns Ausführungen schwingt eine hintergründige Kritik an der re-ökonomisierten Eventisierung des Objekts mit, wie sie aktuell im denkmalpflegerischen Diskurs vorherrscht, der betont, dass sich damit kritische Reflexionspotenziale der Objekte verlören.49 Und während bei Bayerl die Brückenmetapher ausschließlich dazu diente, unterschiedliche Zeitschichten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verbinden, sollte der Topos »­ Brücke des Erinnerns« darüber hinaus den Denkmalcharakter des O ­ bjekts unter­ mauern. War dieser nicht zuletzt ob des fragmentarischen Erhaltungs­ zustands kaum über die Integrität oder Authentizität zu argumentieren, leitete Baxmann ihn aus dem Positionspapier »Industrie­denkmalpflege und Geschichtskultur der Internationalen Bauausstellung Emscher Park« her. Hier wurde behauptet, dass »Identität und historisches Bewusstsein […] untrennbar mit der räumlich gebundenen Überlieferung, den Bauten und der Industrielandschaft verbunden« seien.50 Die Inwertsetzung der F 60, Nr. 36, im »Davor« war geprägt durch ihre vorgesehene touristische Re-Ökonomisierung, ihren Erinnerungswert, ihr Potenzial für eine regionale Identitätsstiftung und Zukunfts­hoffnung für eine strukturschwache Region, die erheblich unter dem massiven Zurückfahren des Braunkohlenbergbaus nach der deutschen »Wiedervereinigung« gelitten hatte.51 Sie prägten und prägen auch das »Dazwischen« des Objekts. 47 Baxmann, Abraumförderbrücke  F60, S. 54. 48 Ebd. 49 Vgl. Hans-Rudolf Meier / Marion Steiner, Denkmal – Erbe – Heritage: Begriffshorizonte am Beispiel der Industriekultur. Monument – Patrimony – Hertiage: Industrial Heritage and the Horizons of Terminology, in: Simone Bogner / Birgit Franz / Hans-Rudolf Meier / Marion Steiner (Hg.), Denkmal – Erbe – Heritage: Begriffshorizonte am Beispiel der Industrie­ kultur. Monument – Patrimony – ­Heritage: Industrial Heritage and the Horizons of Terminology, Holzminden 2018, S. 16-35. 50 Positionspapier Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur der Internationalen Bauausstellung Emscher Park, in: industrie-kultur. Denkmalpflege, Landschaft, Sozial-, Umwelt- und Technikgeschichte 1 (1996), S. 36, zit. nach: Baxmann, ­Abraumförderbrücke  F60, S. 52. 51 Im dominanten Braunkohlensektor der Region sank zwischen 1990 und 1995 die Beschäftigtenzahl der LAUBAG von 65.478 auf 19.248. Vgl. Bayerl, F 60, S. 50. 104

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Das Besucherbergwerk F 60 – Die F 60, Nr. 36, im »Dazwischen« und »Danach« Als im Februar des Jahres 2000 rund 4.000 Schaulustige den ›Marsch‹ der F 60 aus dem Tagebau Klettwitz-Nord in Richtung Lichterfeld-­ Schacksdorf bestaunten, hieß dies nichts anderes, als dass das Objekt vor der Verschrottung gerettet werden konnte. Die Abraumförderbrücke fand ihren neuen Platz und ihre neue musealisierte Funktion am ­Tagebaurestloch, dem nach der Flutung entstehenden Bergheider See (Abb. 4). Ein symbolträchtiger Ort, da er nicht nur den für die F 60, Nr. 36, devastierten Ort Bergheide referenziert, sondern zudem bei Plessa liegt, wo in der Grube »Agnes« 1924 die erste Abraumförderbrücke der Welt in Betrieb genommen worden war.52 Die erfolgreiche Überführung des Objekts von seinem »Davor« in sein »Dazwischen« verdankte sich dabei zahlreichen, im Vorangegangenen beispielhaft genannten Akteuren. Besonders hervorzuheben sind die IBA Fürst-Pückler-Land und die zahlreichen Teilnehmer:innen an einer nicht repräsentativen TED -­Umfrage der Lausitzer Rundschau, die bereits im März 1998 mit großer Mehrheit für die Musealisierung der F 60, Nr. 36, votiert hatten.53 Das bürgerschaftliche Engagement rief zudem ein Umdenken bei der LMBV hervor, die sich immer weniger gegen den Erhalt sträubte. Selbst das scheinbar nicht zu bewältigende Problem des Bergrechts ließ sich nun ein­fach ­lösen, die F 60 verblieb als Besucherbergwerk unter Bergaufsicht.54 Zudem stellte die LMVB bis 2012 knapp 4,7 Mio. Euro für den Erhalt des Objekts zur Verfügung, weitere rund 4,1 Mio. Euro steuerte die Gemeinde Lichterfeld-Schacksdorf bei, zum Großteil Fördermittel vom Land Brandenburg, vom Bund und der Europäischen Union.55 Das »Dazwischen« der F 60, Nr. 36, als Besucherbergwerk F 60 liest sich auf den ersten Blick als Erfolgsgeschichte, für die vornehmlich der 2001 gegründete Förderverein F 60 e. V. verantwortlich zeichnete. Nachdem am 4. Mai 2002 »die feierliche Eröffnungsveranstaltung für das Besucherbergwerk«56 stattgefunden hatte, gründete sich im folgenden 52 Asrih / Ingenerf / Meyer, Bergbau als techno-naturales System, S. 9. 53 Vgl. Baxmann, Abraumförderbrücke F 60, S. 57. 54 Matthias Baxmann, Besucherbergwerk »Abraumförderbrücke F60« – Brücke aus der Vergangenheit in die Zukunft, in: Kulturamt des Landkreises Elbe-Elster (Hg.), Kohle, Wind und Wasser. Ein energiehistorischer Streifzug durch das ElbeElster-Land, Herzberg / Elster 2001, S. 73-88, S. 87. 55 https://www.lr-online.de/nachrichten/zehn-jahre-f60_-von-der-foerderbrueckezum-besucherbergwerk-33377418.html [Abruf: 12. 6. 2022]. 56 Anke Risch, Erinnerungen und Hoffnungen – das Besucherbergwerk F 60, Lichter­ feld. Teil 2, in: bergbau. Zeitschrift für Rohstoffgewinnung, Energie, Umwelt 53 /12 (2002), S. 552-553, hier S. 552. 105

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Abb. 4: Als Besucherbergwerk F 60 liegt die F 60, Nr. 36, des Tagebaus Klettwitz-Nord in ihrem »Dazwischen« und »Danach« am Bergheider See, an dem sie symbolisch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet.

Jahr die F 60 Concept GmbH, 2013 folgte jene der Besucherbergwerk F 60 gGmbH. Diese Gründungen können als Ausdruck der fortschreiten­ den Professionalisierung des Fördervereins gesehen werden, er ist auch alleiniger Gesellschafter beider Firmen.57 Stellvertretend für den Erfolg des Besucherbergwerks F 60 sei auf vier unterschiedliche Ereignisse verwiesen: 2006 wurde es in den Kreis der Ankerpunkte der Europäischen Route der Industriekultur (ERIH) auf­ genommen, 2009 konnte der 500.000ste Besuchende begrüßt werden und die Brücke wurde unter Denkmalschutz gestellt,58 2019 verlieh das 57 Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (Hg.), Feierliche Verleihung des Deutschen Preises für Denkmalschutz 2019 durch das Präsidium des Deutschen National­ komitees für Denkmalschutz. Montag, 28. Oktober 2019. Aula der Landesschule Pforta in Naumburg, Berlin 2019, S. 24 (http://www.dnk.de/_uploads/media/­2267_ Festbrosch%C3% BC re%20Deutscher%20Preis%20f%C3% BC r%20Denkmalschutz%202019.pdf, Abruf: 14. 6. 2022). 58 https://www.f60.de/de/die-bruecke/chronik.html [Abruf: 26. 6. 2020]. Vgl. auch Frieder Bluhm, Bergwerk mit Aussicht. Das Besucherbergwerk F60 bei L ­ ichterfeld, Brandenburg, in: industrie-kultur. Denkmalpflege, Landschaft, Sozial-, Umweltund Technikgeschichte 13 /3 (2007), S. 33. Ferner die Darstellung auf der ERIHHomepage (https://www.erih.net/i-want-to-go-there/site/show/Sites/f60-overbur�den-conveyer-bridge/, Abruf: 26. 6. 2020). Zur Unterschutzstellung vgl.: https:// www.berlin.de/tourismus/nachrichten/5955484-1721038-lausitzer-foerderbruecke-­ 106

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Abb. 5: Bereits im »Davor« der F 60 galt Eventisierung als zentrale Re-Ökonomi­ sierungsstrategie, die den Erhalt im »Dazwischen« und »Danach« erlauben würde – und so kann das Besucher­ bergwerk F 60 auch als Teil der (regio­ nalen) Popkultur gedeutet werden.

Deutsche Nationalkomitee für Denkmalpflege (DNK) dem Besucherbergwerk Förderverein F 60 e. V. den Deutschen Preis für Denkmalschutz.59 Das DNK begründete seine Preisverleihung unter anderem mit den Worten: Dem Förderverein sind die Rettung und der Betrieb dieses einzig­ artigen Denkmals zu verdanken. Ein Denkmal mit starker regionaler Symbolkraft und hohem Aktualitätsbezug. […] Der Eiffelturm in Paris brauchte lange, ehe er ein solches Ausmaß der Identifikation erlangte. Die Förderbrücke F 60 setzt ein Zeichen, das Hoffnung und Mut macht für die Lausitz. Die Auszeichnung mit der Silbernen Halbkugel für den Förderverein F 60 e. V. ist unsere Antwort darauf.60 Diese Begründung des DNK ist bemerkenswert, da sie diametral zum puristischen Denkmalpflegediskurs steht, der betont, dass die touristische Vermarktung industriekultureller Objekte dazu führe, dass gesellschaftliche Kontexte und aufklärerische Perspektiven verloren gingen, verbände sich doch mit dieser Re-Ökonomisierung der Objekte eine ­industriekulturelle Beliebigkeit61 (Abb. 5). Insofern zollt die Preisverleihung des DNK der Inwertsetzung des musealisierten Objekts im »Davor« ­Beachtung. Es sind diese symbolischen Werte, die in dem ineinander f60-hat-denkmal.html [Abruf: 29. 6. 2020]. Es ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur die Brücke, sondern auch der Werkstattwagen, in dem eine Präsentation zu sehen ist, und die Gleisrückmaschine unter Denkmalschutz gestellt wurden. Vgl. Brandenburgisches Landesdenkmalamt, Denkmalliste des­Landes Brandenburg. Landkreis Elbe-Elster. Stand: 31. 12. 2019, S. 29 (https://bldam-brandenburg.de/ wp-content/uploads/2020/02/07-EE -Internet-20.pdf, Abruf: 15. 6. 2022). 59 Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hg.), Feierliche Verleihung. 60 Ebd., S. 23. 61 Meier / Steiner, Denkmal – Erbe – Heritage, S. 25. Zu dieser Kritik vgl. überblicksartig und prononciert bereits: Lutz Engelskirchen, Der lange Abschied vom Malocher. Industriearchäologie, Industriekultur, Geschichte der Arbeit – und dann? Ein kleiner Exkurs, in: Manfred Rasch / Dietmar Bleidick (Hg.), Technikgeschichte im Ruhrgebiet – Technikgeschichte für das Ruhrgebiet. Festschrift für Wolfhard ­Weber zum 65. Geburtstag, Essen 2004, S. 135-154. 107

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übergehenden »Dazwischen« und »Danach« der Abraumförderbrücke durch die touristische Re-Ökonomisierung deutliche Konturen er­hielten. Zusammenfassung Die letzten Jahrzehnte sind in Deutschland aus einer Vielzahl von Gründen von einem Rückzug aus der heimischen Gewinnung fossiler Energie­ rohstoffe geprägt. Während der vorrangig westdeutsche Steinkohlenbergbau bereits seit den späten 1950er Jahren von einem langfristigen De-Industrialisierungsprozess bestimmt war und auf gesetzlicher Grundlage Ende 2018 endgültig ausgelaufen ist, steht ein solches Ende der Braunkohlengewinnung in Deutschland bis spätestens 2038 noch bevor. Die herausragende technisch-ökonomische Bedeutung, die dieser aufgrund der Lagerstättenverfügbarkeit mit zugleich teilweise verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt in der ehemaligen DDR und das globale Klima entwickelte, ließ sich nach der »Wiedervereinigung« beider deutscher Staaten ab 1989 /90 in keiner Weise fortsetzen. Anders als in der Steinkohle, deren einstige Gewinnungsregionen einen langfristigen Strukturwandel durchliefen, vollzog sich der Wandel in den bedeu­ tenden Braunkohlenregionen der DDR in Mitteldeutschland und der ­Lausitz viel stärker in Formen eines Strukturbruchs. Eingebunden in diese grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungsprozesse stellten und stellen sich bis heute grundlegende Fragen nach dem Umgang mit den materiellen und immateriellen Zeugnissen der die Regionen prägenden Bergbauzweige. Eine wichtige Rolle spielen darin Prozesse der Musealisierung zum einen als soziokulturelle Praktik der Inwertsetzung alter Dinge, denen neue ethische, ökonomische, soziale oder auch kulturelle Werte zu- und eingeschrieben werden, wie beispielsweise die Wertschätzung von Industriearbeit im deutschen Transformations­ prozess oder jene neuer nachbergbaulicher Landschaften. Zum anderen ist auch die Genese und Etablierung von Museen als institutionalisierten Erinnerungs- und Reflexionsorten bedeutsam. Mit Blick auf den deutschen Braunkohlenbergbau fällt in diesem Kontext zunächst auf, dass es bis heute an umfassenderen wissenschaftlichen Studien zum Thema mangelt. Gleichwohl lassen sich Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern markieren. Hierzu zählt die institutionelle Trägerschaft, so gilt eine öffentlich-kommunale Trägerschaft für die musealen Einrichtungen Mittel- und Ostdeutschlands eher als Ausnahme. Letztere sind zudem stark auf den Erhalt und die Inwertsetzung technischer Denkmale der Braunkohlenindustrie fokussiert. Und darin bilden 108

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lich großmaßstäbliche, vorrangig industriekulturell entstandene museologische Einrichtungen eine spezielle Kategorie, indem sie in situ die den modernen Braunkohlenbergbau prägenden, typischen Großgeräte überliefern und sie einer breiten Öffentlichkeit vor allem durch touristische Angebote zugänglich machen. Für diese lassen sich nicht nur Fragen nach der soziokulturellen Praktik der Musealisierung als solcher stellen. Am Beispiel der Abraumförderbrücke F 60, Nr. 36, die heute als Besucherbergwerk F 60 einer breiten Öffentlichkeit zugänglich ist und sich insofern von »klassisch« musea­ lisierten Dingen deutlich unterscheidet, werden die zum Teil fluiden Stadien des »Davor«, »Dazwischen« und »Danach« genauer betrachtet. Im Ergebnis scheint vieles dafür zu sprechen, dass mit Blick auf eine museologische Einrichtung wie dem Besucherbergwerk F 60 trennscharfe Unterscheidungen der idealtypischen Objektphasen schwierig, wenn nicht gar unmöglich scheinen. Im Gegensatz zu »klassischen« Museen war und ist das Anliegen dieser konkreten museologischen Einrichtung weit weniger geprägt durch vorherrschende museale Selbstverständnisse, zudem zielte sie von vornherein darauf ab, das musealisierte Objekt zu re-ökonomisieren, da nur so der Erhalt möglich war, ist und bleiben wird. Insofern wird auch das »Davor«, »Dazwischen« und »Danach« dieses spezifischen Objekts in musealisierenden Kontexten fluide, zeichnete sich doch bereits im »Davor« ab, dass die F 60, Nr. 36, perspektivisch nur als Bestandteil der spätmodernen, regionalen (und nationalen) populären Geschichts- und Erinnerungskultur überlebensfähig sein würde. Zudem ließe sich behaupten, dass Kategorien wie Original, Kopie oder Rekonstruktion mit Blick auf dieses spezifische Objekt zu hinter­ fragen sind. Das Besucherbergwerk F60 kann aufgrund der erfolgten Teildemontagen an der ursprünglichen Abraumförderbrücke kein Original sein, es ist aber auch keine Kopie, geschweige denn Rekonstruktion. Original bleibt es andererseits insofern, als die Integrität der Materialität weitgehend bewahrt wurde. Dies kann gänzlich neu für die Besuchenden in Führungen erfahren werden – waren doch aktive Abraumförder­ brücken in den Tagebauen nicht der Allgemeinheit zugänglich. Und so erzählt das Objekt dann auch Geschichte höchst unterschiedlich, oszilliert narrativ zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

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Abbildungen Abb. 1: Schaufelradbagger im Themenpark Kohle & Energie. (Foto: ­Fotostudio Paavo Blafield, Kassel) Abb. 2: Modellsaal in der 30 kV-Station von FERRPOLIS. (Foto: Ferropolis Industriekultur gGmbH, Gräfenhainichen) Abb. 3: Montage der F 60, Nr. 36. (Foto: https://www.f60.de/de/diebruecke/chronik.html, Abruf: 24. 8. 2020) Abb. 4: Als Besucherbergwerk F 60 am Bergheider See. (Foto: © Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH [LMBV]) Abb. 5: Eventisierung als zentrale Re-Ökonomisierungsstrategie. (Foto: https://www.f60.de/de/veranstaltungen/veranstaltungsarchiv/2020/ pyrogames2020.html#fuehrungen-5, © Pyrogames, Abruf: 6. 1. 2021)

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Die Kommodifizierung kultureller Güter ­ vor, während und nach ihrem Museumsaufenthalt

Man macht sich selten klar, daß unser ganzes Leben, seiner Bewußtseinsinhalte nach, in Wertgefühlen verläuft und überhaupt nur dadurch Sinn und Bedeutung bekommt, daß die mechanisch abrollenden Elemente der Wirklichkeit über ihren Sachgehalt hinaus unendlich mannigfaltige Maße und Arten von Wert für uns besitzen.1 Es ist nicht leicht, Museen in ein systematisches Verhältnis zur Kommodifizierung, also zum Kauf und Verkauf von Gütern, zu setzen. Als ­»Güter« bezeichnet man Objekte, denen Wert zugeschrieben wird. Der Wert der Güter hängt von ihrer Nützlichkeit zum Erreichen irgendeines Ziels ab. Die Güter sind also Werkzeuge, oder sie sind Selbstzweck. Bei den Werkzeugen – vom Faustkeil bis zum Notebook – bestimmt die Wirksamkeit ihren Wert. Beim Selbstzweck – vom Gedicht bis zum Youtube-Clip – kommt die Qualität der Verständlichkeit dazu. Das Gut löst Verstehen im Bewusstsein der Verwenderin oder des Verwenders aus. Dieser Reiz des Verstehens wird allerdings nur bei denjenigen ausgelöst, die die Sprache beherrschen, in der das Gut seine Bedeutung hat. Un­ verständliche Güter sind dann solche, die anscheinend von anderen verstanden werden, während der Beobachter sie nur von außen wahrnimmt. Die Sprachgemeinschaft ist Kulturgemeinschaft. Seit einigen Jahrzehnten werden solche Güter mit Selbstzweck als »kulturelle und kreative Güter« erkannt, systematisiert und, in den ­meisten Ländern, statistisch erfasst.2 Dabei ist ein Grundmuster mit vier Kategorien erkennbar: (1) Literatur, Musik, darstellende Kunst und Bildkunst, inklusive Fotografie und Film; (2) Gestaltungsgüter wie Kleider­ mode, Produktdesign, Videospiele und Architektur; (3) Traditionelles 1 Georg Simmel, Philosophie des Geldes [1900], Frankfurt a. M. 1989, S. 25. 2 Vgl. dazu den UNESCO Creative Economy Report, New York 2013. 111

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Handwerk; (4) Nützliche Informationsgüter: Werbung, Nachrichten, Unterhaltungsmedien. Alle diese Güter sind in kulturelle Narrative eingesponnen, die sie erst verständlich und dann begehrenswert machen. Sie werden über die dafür bezahlten Geldsummen als Wirtschaftsgüter erfasst, aber die Warenförmigkeit, die dabei unterstellt wird, spiegelt nur einen Teilaspekt der Wertschöpfung. Das lässt sich am Beispiel der Kunstmuseen erläutern. Museen werden in der Regel zur ersten Kategorie gezählt. Sie sammeln Objekte, bewahren und beforschen sie, und zeigen ausgewählte Objekte in einem Format, das Wissen über miteinander verbundene Geschichten vermitteln soll.3 Im Fall von historischen und naturkundlichen Museen haben die gezeigten Objekte exemplarischen Wert. Sie illustrieren eine Technologie, oder sie re-inszenieren ein vergangenes Ereignis, und so werden die Museen selbst zum kulturellen Gut. Im Fall von Kunst­ museen sind die gesammelten Objekte bereits mit Bedeutung aufgela­ dene kulturelle Güter, und ihre Auswahl und Behandlung durch das ­Museum ist institutionalisierter Teil ihrer weiteren Wertentwicklung. Hängungen und Ausstellungen verknüpfen die Objekte, die gezeigt werden, und schließen alle anderen aus. Selbst innerhalb der getroffenen Auswahl können genauere Wertdifferenzierungen durch Platzierung, Begleitkommunikation und Archivierung eines Objekts ausgedrückt werden. Die Wertentscheidungen folgen dabei einer internen Logik der Hervorhebung oder Singularisierung, die in ästhetischen, historischen, wissenschaftlichen, religiösen, politischen und weiteren für den Eigenwert der Kultur relevanten Kategorien angelegt ist.4 Im Dreischritt »Davor – Dazwischen – Danach«, mit dem Wertbildungs­ prozesse in diesem Band erkundet werden, lässt sich die Wertschöpfung durch das Museum plausibel der Position des »Dazwischen« zuordnen. Die Objekte, die für eine Sammlung in Frage kommen, haben schon »davor« Wertbildungsprozesse durchlaufen, und sie können nach der »Zwischen«-Zeitspanne im Museum, also »danach«, noch andere Wertzuschreibungen erhalten. Kulturelle Güter haben eben Biographien, und 3 Für Literatur erfüllen Bibliotheken die Sammel- und Präsentierfunktion. Musika­ lische Werke werden in traditionsreichen Konzerthäusern gesammelt und von stän­ digen Orchestern aufgeführt. 4 Den Vorschlag, kulturelle Produktion durch Singularisierung zu kennzeichnen, macht Igor Kopytoff, The cultural biography of things: commoditization as a process, in: Arjun Appadurai (Hg.), The Social Life of Things: Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, S. 64-91. Andreas Reckwitz hat auf der Wertschöpfung durch Singularitäten eine ganze Gesellschaftstheorie aufgebaut: Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. 112

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in solchen biographies of things5 kommen auch Aufenthalte in Museen vor. Die zeitliche Positionierung ist analytisch hilfreich, wenn es im Weiteren um die Frage gehen wird, in welcher Weise und in welchem Ausmaß Prozesse der ökonomischen Wertbildung die eigenständige kulturelle Wertbildung entweder behindern, weil kulturelle durch wirtschaftliche Zielwerte verdrängt werden, oder befördern, weil der Horizont der Hand­ lungsmöglichkeiten für die Akteure, die in einer Museumsorganisation das Geschäft der Inwertsetzung kultureller Güter betreiben, größer wird. Wenn solche Übernahmen als »Ökonomisierung« bezeichnet werden, dann ist die negative Wirkung auf die kulturelle Wertbildung meist unter­stellt.6 Ich werde deshalb, Igor Kopytoff folgend, von »Kommodifizierung« sprechen, wenn es darum geht, den Einfluss ökono­mischer Wertbildung vor dem, während des und nach dem Museums­aufenthalt zu beobachten und einzuschätzen. Im Spektrum der Museen bieten Kunstmuseen die reichhaltigsten Varianten der Kommodifizierung. Meine Beispiele beziehen sich auf Museen, die im vergangenen Jahrhundert entstandene Stand-Bilder7 – Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen, Fotoabzüge – sammeln und ­zeigen.8 Weil die Werke, um die es geht, erst wenige Generationen oder sogar nur einige Jahre alt sind, spielen für sie die oft turbulenten Prozesse der Kommodifizierung, die vor, während und nach dem Museumsaufenthalt der Werke stattfinden, eine besonders prominente Rolle. Im Licht der durch diese Beispiele gewonnenen Erkenntnisse lassen sich dann auch Folgerungen ableiten, die für andere Museumsvarianten gelten. Kunstmuseen sind Organisationen, für die Fragen der Finanzierung und des Managements im Vordergrund stehen; sie müssen zudem kompetent sein, um auf der Ebene des Marktes zu agieren, und sie müssen im haushaltspolitischen Diskurs der Gemeinwesen, in deren Auftrag »öffentliche« und »teilöffentliche« kulturelle Güter bewirtschaftet werden, mitreden können. Auf diesen drei Ebenen der Beobachtung spielen sich die im Folgenden beobachteten Prozesse der Kommodifizierung ab.

5 Kopytoff, The cultural biography of things, S. 76. 6 Uwe Schimank / Ute Volkmann, Ökonomisierung der Gesellschaft, in: Andrea Maurer (Hg.), Handbuch der Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden 2016, S. 382-394. 7 Museen für Bewegt-Bilder, also Filme, sind noch selten. 8 Die Geschichte des modernen Museums ist selbst nicht älter als 250 Jahre. Vgl. Edward P. Alexander / Mary Alexander (Hg.), Museums in Motion. An Introduction to the History and Functions of the Museum, Lanham 2008. 113

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Kommodifizierung »Davor« Im zeitgenössischen Wertspiel9 der Bildkunst beginnen die Wertungen schon im Studio, in dem die Werke entstehen. Kollegen, Freunde, vielleicht auch Galeristen geben ihr Urteil ab. Nur Werke und ihre Urheber, die diese Phase überstehen, werden den Wertungen der Mitspieler im breiteren Publikum ausgesetzt. Die Wertung kann sprachlich bleiben, in Worten des Lobes oder der Kritik, aber sie kann auch über eine Zahlung erfolgen, mit der ein Betrachter das Recht erwirbt, über den Ort und den Zugang zum Werk zu verfügen. Mit anderen Worten: Werke wandern in private Sammlungen. Erst an diesem Punkt hat die Reputation eines Künstlers eine Größe erreicht, welche die Aufmerksamkeit der zentralen Museumssammlungen wahrscheinlich macht. Weil also schon vor dem Eintritt ins Museum Wertungsaktivitäten stattgefunden haben, erscheinen die Werke im Horizont der Entscheidungsorgane bereits mit einem Preisschild. Sie sind gleichzeitig sowohl Kunstwerke als auch verkäufliche Waren. Das Museum, also eine Organisation, die dazu geschaffen wurde, für wichtig erachtete Kunstgüter öffentlich zugänglich zu machen, tritt als Käufer auf. Die Direktion verfügt über einen Ankaufsetat, um auf dem Sekundär- oder Wiederverkaufsmarkt die Gebote von Mitbewerbern überbieten zu können. Der Etat, also diejenige Geldsumme, die während eines Haushaltsjahres für Ankäufe ausgegeben werden kann und soll, wird aus staatlichen Mitteln, durch selbst erwirtschaftete Erträge, durch private Spenden und Stiftungen und in seltenen Fällen durch den Verkauf eigener Werke finanziert.10 In der Gegenwartskunstszene operieren auch viele Museen, deren Grundhaushalt von einem privaten Geldgeber finanziert wird. Deshalb kommt es häufig zu Kooperationen staatlicher Organe und privater Sammler und Investoren, die auf die jeweils lokale Situation zugeschnitten sind. So war etwa Ingvild Goetz, die einen ­großen Teil ihrer Kunstsammlung dem Haus der Kunst in München geschenkt hat, im Auswahlgremium für dessen neuen Direktor, oder die Stadt Paris stellte dem Unternehmer François Pinault für eine Umsatz­ 9 Ich verwende den Begriff des Wertspiels, statt sozialem System (N. Luhmann), Wertsphäre (M. Weber) oder kulturellem Feld (P. Bourdieu). Dadurch lassen sich die Beiträge der Mitspieler, von den Künstlern über die Kuratoren und Galeristen bis zu den Museumsdirektoren, besser unterscheiden. Siehe dazu Michael Hutter, Ernste Spiele: Geschichten vom Aufstieg des ästhetischen Kapitalismus, Paderborn 2015; ders., »It’s the spectator who refines the work«. Amateurkompetenzen in der Überflussgesellschaft, in: Beiträge zur Verbraucherforschung, Bd. 11: Konsum­ ästhetik zwischen Kunst, Kritik und Kennerschaft, Düsseldorf 2020, S. 13-32. 10 Vgl. dazu unten S. 121 ff. 114

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beteiligung das Gebäude der alten Handelsbörse zum Umbau in sein Privatmuseum zur Verfügung.11 Neben dem Ankauf, bezahlt aus einem regulären Haushaltstitel der Organisation Museum, gibt es einen weiteren Modus, um ein Werk zum Bestandteil der eigenen Sammlung zu machen, nämlich den der Gabe. Gaben etablieren reziproke Schuldverhältnisse.12 Daraus entstehen dem beschenkten Museum Verpflichtungen gegenüber den Gebern. Schenkungen in Form des Nachlasses eines Künstlers oder eines Sammlers bringen die Verpflichtung, sich auch um den nicht besonders wertvoll erachteten Teil der Werke kümmern zu müssen. Schenkungen in Form einer Stiftung aus einer privaten Sammlung oder für einen Ankauf sind meist verbunden mit dafür gewährten Privilegien, die aber meist unscharf bleiben. Sie bestehen in sozialen Verknüpfungen, etwa den Be­ ziehungen zwischen Mitgliedern eines Fördervereins, zwischen Museums­ direktorin und Stifterin, oder zwischen dem Prestige einer Veranstaltung in der Kulturwelt und einem Sponsor-Unternehmen, das seinen eigenen Ruf damit verbinden will. Die Leistung besteht dann in der Nennung des Namens im gesamten »Auftritt« des Kunstprojekts und im Zutritt von Repräsentanten des Unternehmens und deren Gästen bei ausgewählten Veranstaltungen. Dieser Einnahmeposten wird meist unter fundraising zusammengefasst und beschäftigt zunehmend größere Abteilungen der Museumsorganisationen. Kommodifizierung zwischen Museumswänden Museen als Nachfrager und Anbieter

Alles, was im Kunstmuseum, als physischem Ort und als Organisation, geschieht, also das Auswählen, das Beforschen, das Archivieren, Renovieren, Kuratieren und Herzeigen, ist mit Aufwendungen verbunden, die Geld kosten. Mitarbeiter müssen bezahlt werden, Gebäude müssen errichtet und instand gehalten werden, Ressourcen werden verbraucht. Die kunstbezogene Wertschöpfung einer Museumsorganisation wird also ständig begleitet von warenförmigen Inputs, vom elektrischen Strom bis 11 Hutter, »It’s the spectator who refines the work«. 12 Die Entwicklung der Gabenphilosophie nach Marcel Mauss’ klassischem Essai sur le don wird virtuos verarbeitet in Iris Därmann, Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie, Paderborn 2005. Siehe auch Frank Adloff, Politik der Gabe: Für ein anderes Zusammenleben, Hamburg 2018. 115

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zum Katalogpapier, und von warenförmigen Outputs, wie Eintritts­ karten und Katalogen.13 Um museale Werte zu schaffen, setzen die daran beteiligten Mitarbeiter Praktiken der Auswahl, Konstellation, Narration und Distribution ein.14 Erst werden bestimmte Wertobjekte nach anerkannten Kriterien aus ­einer größeren Menge an ähnlichen Objekten ausgewählt. Dann folgen die schon erwähnten Verhandlungen mit den Voreigentümern der Objekte. Im Museum werden die Werke in eine räumliche Konstellation zu den bereits vorhandenen Objekten der Sammlung gebracht, sie werden ausgestellt oder im Depot archiviert. Gleichzeitig wird das neue Wert­ objekt in eine Narration eingesponnen, die Sinnbezüge zu anderen Kunstgütern und zu seinem gesellschaftlichen Kontext entdeckt und selbst herstellt. Die Bezüge können sich auf die Vergangenheit richten, also die »Geschichte« des Objekts,15 auf Gemeinsamkeiten mit und Unter­schiede zu anderen Kunstobjekten,16 und auf andere Wertspiele, etwa auf die Wissenschaften, auf ein Herrschaftssystem oder auf eine Glaubenswelt. Schließlich müssen die so geschaffenen Raumkonstellatio­ nen und Geschichten an Beobachter gelangen, die dann die eigene Erfahrung zur Grundlage ihrer Wertschätzung machen. Das geschieht durch die physische Präsenz der Beobachter in den Museumsräumen, die dafür ausgerüstet sind, und in zunehmendem Maß durch den Zugriff auf digitale Reproduktionen und Konfigurationen der Sammlungsobjekte in Tutorials, Blogs, Instaposts und Tweets. Auf welchen Märkten tritt nun die Organisation »Kunstmuseum« als Nachfrager, und wo als Anbieter von Waren auf ? Für Museen ist die Teilnahme an Marktspielen komplizierter als für Unternehmen, die von vorneherein private Güter herstellen, um dafür Geldbeträge bezahlt zu bekommen. Museen stellen ihre Wertobjekte 13 Vgl. dazu Michael Hutter, Communication Productivity: A Major Cause for the Changing Output of Art Museums, in: Journal of Cultural Economics 22 /2-3 (1998), S. 99-112. 14 Zu allgemeinen Kategorien von Wertungsprozessen siehe Frank Meier / Thorsten Peetz / Désirée Waibel, Bewertungskonstellationen. Theoretische Überlegungen zur Soziologie der Bewertung, in: Berliner Journal für Soziologie 26/3-4 (2017), S. 307-328; Michael Hutter, Three modes of valuation practices in art games, in: Valua­tion Studies 8 /1 (2021), S. 85-119. 15 Boltanski und Esquerre bauen auf der Narration über Werte der Vergangenheit eine Wirtschaftstheorie mit vier unterschiedlichen Warenkategorien auf: Luc Boltanski / Arnaud Esquerre, Bereicherung: Eine Kritik der Ware, Berlin 2018. 16 Zur Thematik der »Kanonisierung« liefert der Symposiumsbericht von Renate von Heydebrand, Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung, Stuttgart 1989, äußerst reichhaltiges Material. 116

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durch Verknüpfung her, nicht durch Absonderung. Gleichwohl operieren sie in einer Gesellschaft, in der auch sie Leistungen beanspruchen, die sie verbrauchen, und die sie deshalb mit Geld bezahlen, das sie, zumindest teilweise, aus eigenen Verkäufen privater Güter eingenommen h ­ aben. Es wird inzwischen erwartet, dass auch Museen über ihre Aufwendungen und ihr Einkommen Rechenschaft ablegen. Während der 1980er Jahre wurden die Prinzipien des New Public Management bei Organisations­ einheiten innerhalb der öffentlichen Verwaltung eingeführt und seitdem – mit unterschiedlichem Erfolg – durchgesetzt. Die heutigen Ausgestaltungen variieren von Land zu Land, aber die Hauptmerkmale sind überall die gleichen: quantitative Kriterien zur Messung des Verhältnisses von Ertrag zu Aufwand (Leistungseffizienz), Controlling-Techniken zur Kosten- und Ergebnissteuerung, kostenminimierende Beschaffungsverfahren und Finanzierungsvereinbarungen (anstelle kameralistischer Budgets), kündbare Mitarbeiterverträge und Unternehmensstrategien, die an Kundeninteressen orientiert sind.17 Wie in jedem Unternehmen, so stellt sich auch in Museen die Frage nach der besten Allokation der eigenen Geldmittel: Wie viel davon sollte zur Entlohnung freier und fester Mitarbeiter eingesetzt werden, wie viel für materielle Ressourcen, von der Bausubstanz bis zum Lichtkonzept, und wie viel für die Kommunikation über die Sammlung und geplante Ereignisse? Und schließlich: In welcher Relation zu diesen Aufwendungen steht der Ankaufsetat für neue Werke der Sammlung? Zu den erwähnten Finanzierungsvereinbarungen gehören auch Vor­ gaben für den selbst zu erwirtschaftenden Anteil. In den seltensten Fällen gelingt es Museen, ihre Ausgaben selbst zu decken. Die Gründe dafür liegen in der Nichtprivatheit der produzierten Güter, sie werden weiter unten diskutiert. In den meisten Fällen sind eigene Finanzierungsanteile gefordert. Welche Waren können Kunstmuseen verkaufen, um die nötigen Gelderträge zu erzielen? Zwei elementare Warentypen lassen sich unterscheiden: Zutrittsrechte zu einem bestimmten Ort, die als Eintrittskarten für Zeitabschnitte verkauft werden, und Reproduktionen, die einzeln oder gesammelt verkauft werden. Was die Zutrittsrechte angeht, so sind die Häuser, in denen Sammlungen von Kunstwerken präsentiert werden, oft so aufwendig gebaut, dass die architektonische Erfindung selbst zum singulären Gut wird. Wegen ihrer räumlichen Struktur können Zugangsrechte zu solchen Orten 17 Jürgen Kegelmann, New Public Management: Möglichkeiten und Grenzen des Neuen Steuerungsmodells, Wiesbaden 2008. 117

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leicht definiert werden. Die geforderten Preise werden sorgfältig differenziert, etwa nach Besucheralter, nach Zeitdauer und möglicherweise nach Jahreszeiten.18 Sonderausstellungen erfordern besonderen Aufwand. Der besteht vor allem aus den Kosten der zeitweisen Ausleihe von Werken aus anderen Sammlungen, inklusive Transport, Versicherung und der Verpflichtung, selbst mit Werken aus der eigenen Sammlung am Netzwerk der Ausstellungsprojekte teilzunehmen. Die Ausstellungen sind jeweils singuläre Ereignisse von beschränkter Dauer, während derer sich Kenner und Interessierte treffen oder miteinander, auch über die Ausstellung, reden. Dafür werden in der Regel höhere Eintrittspreise verlangt. Zutrittsrechte können auch für bestimme Veranstaltungen verkauft werden, die im Museumsraum stattfinden und die einen kleineren Kreis von Interessenten erreichen. Führungen und exklusive Abendessen b­ ieten diverse Möglichkeiten. Waren in Form von Reproduktionen der Kunstwerke nehmen viel­ fältige Gestalten an. Sie erscheinen als Grafik, Fotografie, Videofilm oder Plastik, und sie geben immer nur bestimmte Aspekte des Werks wieder. Solche »Spuren«19 der originalen Werke sind oft stark verkleinert, so dass sie in die Wohnumgebung der Käufer passen. Das Sortiment lässt sich zum Museumsshop erweitern, wenn Bilder der Sammlung auf be­ liebigen Gebrauchs- und Dekorgegenständen kopiert werden. Dabei hilft das im 19. Jahrhundert entwickelte und inzwischen weltweit durchgesetzte Urheberrecht. Danach haben Urheber oder diejenigen, die deren Rechte gekauft haben, das temporäre Privileg,20 derartige Abbildungen selbst herzustellen oder Lizenzen für Reproduktionen zu verkaufen. Zu den verkäuflichen Gütern zählen auch die Katalogpublikationen, die in der Regel für Ausstellungsereignisse produziert werden. Sie sind außerdem Bestandteil der wissenschaftlichen Arbeit an Museen, denn damit fördern Mitarbeiter ihre akademischen Karrieren. Dementsprechend 18 Preisdifferenzierung ist eine erfolgreiche Strategie, wenn die Käufer nur schwer auf Alternativen mit ähnlichem Wert und niedrigeren Preisen ausweichen können. Karpik hat die Bedeutung dieser »monopolistischen Konkurrenz« für singuläre Güter hervorgehoben, Lucien Karpik, Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen, Frankfurt a. M. 2011. 19 Der Street-Art-Künstler Banksy verwendet den Begriff traces für die verkäuflichen Grafiken und Objekte mit Motiven seiner nur temporär sichtbaren spray paintings. Vgl. dazu Michael Hutter, Three views of a saleroom. Valorization in and valuation of visual artworks by (mostly) Watteau, Altman and Banksy, in: Journal of Art Market Studies 5 /1 (2021), S. 1-15. 20 Die Einschränkung ist mit einer Gültigkeit der Exklusivrechte bis 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers großzügig bemessen. 118

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decken die Verkaufserlöse nur einen Teil der Kosten, während der verbleibende Anteil über die Forschungsfinanzierung bezahlt wird. Die Werbung für den Besuch von Sammlungen und Ausstellungen blieb lange Zeit beschränkt auf Zeitungspublizität, in Werbeanzeigen und insbesondere in Besprechungen durch Journalisten. Inzwischen ­haben digitale Technologien die gedruckten Medien überflügelt. Die billige Aufnahme und Wiedergabe von Videofilmen ermöglicht eine weitere, sehr leicht reproduzierbare Ereignisform. Die meist kurzen ­Filme schaffen visuelle Interpretationen bestimmter Museumssammlungen, Ausstellungen und Gesprächsrunden, die solche Ausstellungen begleiten. Sie dienen als Promotionsmaterial, das den Besuchsanreiz und damit die Zahlungsbereitschaft erhöht. Eine »Zahlschranke« kann vor dem kostenlosen Zugriff auf die digitalen Archive von Museen schützen. Genehmigungen für Bildnutzungen werden zu einer weiteren Ertragsquelle. Kunstmuseen als Anbieter nicht-privater Güter

Inzwischen ist es Stand des ökonomischen Wissens, dass die Güterversorgung einer Gesellschaft nicht nur über Märkte für private Güter orga­ nisiert werden kann.21 Vielen Gütern fehlt eine von zwei oder gar beide grundlegenden Eigenschaften, die private, also marktfähige Güter auszeichnen: sie sind (1) rivalisierend im Konsum und (2) ausschließbar gegen­über Nichtberechtigten. Anhand dieser beiden Kriterien ergeben sich drei weitere Gütervarianten.22 Güter, die zwar ausschließbar, aber nicht rivalisierend im Verbrauch sind, werden Club-Güter genannt. In einem Sportclub profitieren beispielsweise alle Mitglieder von den Anlagen des Clubs, während Nichtmitglieder ausgeschlossen werden können. Die Vorteile dieser Exklusivität sind groß genug, um Mitglieder dazu zu bewegen, einen ausreichenden Finanzierungsbeitrag zu leisten. Die Mitgliedschaft in einem Museumsförderverein ist ein solches Club-Gut. Güter, die zwar rivalisierend im Verbrauch, aber nicht oder nur aufwendig ausschließbar sind, werden Kollektivgüter (common goods) genannt. Klassisches Beispiel sind Fischgründe, deren Schwärme zwar nur einmal gefangen und gegessen werden, die aber nicht in privates territoriales Eigentum überführt werden können, weil die Schwärme an unterschiedlichen Orten auftauchen. Wenn eine Ressource nicht langfristig 21 Jason Potts, Innovation Commons: The Origin of Economic Growth, Oxford 2019. 22 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die eindeutigen Unterscheidungen des Schemas vernachlässigen, wie mehrdeutig Gütereigenschaften sein können. 119

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für den eigenen Verbrauch gesichert werden kann, besteht die Gefahr ihrer kurzfristigen Ausbeutung. Durch politische Vereinbarungen über Fangquoten und Zugriffsrechte wird versucht, derartige Schäden zu vermeiden. Auch Erfindungen und künstlerische Werke zeigen Eigenschaften von Kollektivgütern, weil Erfinder und Urheber andere Verwender oft nicht ausschließen können, so dass dritte Unternehmen mit starken Marktpositionen Erträge aus solchen Verwendungen privatisieren können. Deshalb haben sich Schutzrechte für immaterielle Güter durch­ gesetzt. Im Urheberrecht sind zeitlich befristete private Rechte mit späteren kollektiven Rechten gekoppelt. Güter, die weder ausschließbar noch rivalisierend im Verbrauch sind, werden öffentliche Güter (public goods) genannt.23 Informationen bieten ein besonders ausgeprägtes Beispiel: sie können nichtrivalisierend genutzt werden, und ihre Nutzung ist nur mit großem Aufwand ausschließbar. Zwar ist es möglich, Informationen geheim oder zumindest exklusiv zu halten und dadurch verkäuflich zu machen. Aber dadurch kommt es systematisch zu einer Unterversorgung, weil dieselben Informationen auch für andere Verwender wertvoll wären. Schulbildung wird deshalb inzwischen in den meisten Ländern über staatliche Bildungs­ organisationen finanziert, so dass relevantes Wissen möglichst vielen Personen zugänglich gemacht wird. Die Narrationen, über die kulturelle Güter verknüpft sind, gehören ebenfalls zu diesem Wissenspool und werden deshalb ebenfalls mit Geldmitteln aus öffentlichen Haushalten, in die alle Bürger über ihre Steuerabgaben einzahlen, gefördert. Informationen operieren mit Symbolen, und diese Symbole werden sowohl physisch als auch psychisch verarbeitet: Sie werden über Trägermedien, etwa Softwareprogramme, verbreitet, und sie werden von Rezipienten, etwa Mediennutzern, verstanden und erinnert. Der grundlegende Technologiebruch durch digitale Verbreitungsmedien hat insbesondere die Eigenschaft der Nichtausschließbarkeit von Informationsgütern in den Vordergrund gerückt.24 Kostenlose Vervielfältigung führt zu einem Angebot im Überfluss, und Computernetzwerke erleichtern den Zugang zu Datenbanken und Webseiten. Bei kulturellen Gütern, deren Wert durch die verknüpften Bedeutungen vieler Personen und Objekte steigt, tritt zudem der »Netzwerkeffekt« auf, wonach der Nutzen an der Netzwerkteilnahme mit dem Quadrat der Anzahl der Netzwerkteilnehmer 23 Michael Hutter, Wertung in Medienwirtschaft und Medienökonomien, in: Zeitschrift für Medienwissenschaften 10 /1 (2018), S. 18-27. 24 Michael Hutter, Information goods, in: Handbook of Cultural Economics, 3. Aufl, Cheltenham 2020, S. 287-293. 120

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steigt.25 In der Summe verstärken also digitale Technologien genau ­die­jenigen Eigenschaften, die kulturelle Güter zu öffentlichen Gütern ­machen. Auch Museen sind keine isolierten Betriebe, sondern funktionieren erst in den Wissens- und Objektnetzwerken, die durch Erziehung, Schulbildung und Bezugnahme zwischen den Wertobjekten in vielen Kulturstätten entstanden sind. Auch hier muss also erst eine Infrastruktur ­geschaffen und finanziert werden, innerhalb derer dann die kulturelle Bedeutung der einzelnen Objekte, Orte und Ereignisse von Besuchern, Zuhörern und Lesern genossen werden kann. Diese Netzwerke, ähnlich wie etwa Schienennetzwerke oder Telefonkabelnetze, sind nicht rivalisierend in ihrer Nutzung bis zu dem Punkt, an dem Überlastung einsetzt. Eine solche Überlastung ist teilweise unvermeidlich, weil der Netzwerkeffekt dazu führt, dass einige wenige Kunstgüter – etwa Leonardos Mona Lisa – zu prominenten Ikonen werden, die dann weite Kreise der Bevölkerung im Original erleben wollen. Es gibt zahlreiche kollektive und öffentliche Güter, für deren Produktion geeignete politische und rechtliche Voraussetzungen geschaffen wurden. Dazu gehören etwa die Schutzrechte für Erfindungen und Urheber, aber auch die Haushaltstitel, über die in einem Gemeinwesen gewünschte Leistungen finanziert werden. In der politischen Konkurrenz mit vielen anderen öffentlichen Gütern – etwa der Versorgung mit ­Sicherheit, Gesundheit oder Bildung – betreiben deshalb auch Museums­ direktoren Lobbyarbeit, um staatliche Budgetentscheidungen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Kommodifizierungen »danach« In der dritten Phase bietet das Kunstmuseum Objekte aus der eigenen Sammlung zum Verkauf an. Werke, die einst für die eigene Sammlung angekauft oder geschenkt wurden, werden so nach ihrem Museums­ aufenthalt erneut kommodifiziert. Dafür gibt es zwei gewichtige Gründe: Überflutung und Liquidisierung. Die Überflutung ist eine Konsequenz des ständigen Sammelns. Wenn dauernd neue Werke in das Kunstmuseum kommen, dann wächst der Bestand, ohne dass sich der Umfang der Schauräume ändert. Das Depot, der Ort der derzeit nichtöffentlichen Werke, tritt in den Vordergrund. Das Depot ist eine Form von Archivierung, und die ist wiederum ein 25 Michael Hutter, Neue Medienökonomik, München 2006. 121

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essenzieller Bestandteil der musealen Wertschöpfung. Die dafür aufzubringenden Ressourcen machen einen erheblichen Anteil der Museums­ ausgaben aus.26 Die Konsequenz aus der ständigen Expansion sind Abwägungen, ob bestimmte Objekte noch die Kriterien für den Verbleib in der Sammlung erfüllen, oder ob ihr Wert für das Museum wegen des materiellen Zustands, der Häufigkeit ähnlicher Werke in der Sammlung oder aus anderen Gründen unter eine gewisse Grenze gesunken ist. Solche Werke werden diskret an private Interessenten über den Kunsthandel weiter­ vermittelt, oder sie gehen im Rahmen von Schenkungen an andere Institutionen über. Der so generierte Ertrag ist vergleichsweise gering, aber dafür sinken die Depotkosten. Der zweite Grund ist bedeutend virulenter als der erste: Wenn Objekte im Museum an ästhetischem Wert gewonnen haben, wenn ihr Platz im Museum und der Verbreitungsgrad ihrer Abbildungen zum Teil ihrer Reputation geworden ist,27 dann gibt es Nachfrager, die bereit sind, für solche Spitzenobjekte marktgerechte Preise zu zahlen. Es besteht also ein ständiger Sog, Museumwerte gegen Geldwerte einzutauschen und damit flüssige Mittel zur Verfügung zu haben, die für alles Mögliche ausgegeben werden können. Dieser Sog ist so stark, dass er zu einem dichten Regelwerk für Kunstmuseen geführt hat, durch das Verkäufe verhindert werden sollen. Schon die Begriffswahl solcher codes of conduct ist aufschlussreich: man spricht von deaccessioning, also »Entsammeln«.28 Der Konsens in den Kunst­ museums-Dachorganisationen ist der, dass Verkauf nur legitim ist, wenn mit dem Erlös andere, in einem auf die Sammlung bezogenen Sinn ­»bessere« Werke gekauft werden. Museen, die gegen diesen Standard verstoßen, werden aus dem Netzwerk der Dachorganisation ausgeschlossen. Darüber hinaus versuchen oft politische Entscheidungsträger, den Export von Kunstgütern durch entsprechende Verbote zu verhindern. 26 Groys schreibt dem »Archiv der kulturellen Werte« eine zentrale Funktion im Wertungsprozess zu. Vgl. Boris Groys, Über das Neue: Versuch einer Kultur­ ökonomie, München 1992. 27 Allerdings betrifft das in Kunstmuseen bestenfalls 5 % des Bestandes. Nur diese Spitzenobjekte finden wegen des bereits erwähnten Netzwerkseffekts entsprechende Aufmerksamkeit auf dem globalen Auktionsmarkt. Vgl. dazu Hutter, Neue Medien­ ökonomik. 28 Vgl. dazu ICOM (2019), https://icom.museum/wp-content/uploads/2019/10/Gui delines-on-Deaccessioning-of-the-International-Council-of-Museums.pdf [Abruf: 7. 6. 2021] oder eine Handreichung für australische Museen: MGNSW (2021), https://­mgnsw.org.au/sector/resources/online-resources/collection-management/ deacces sioning-and-disposal/ [Abruf: 7. 6. 2021]. 122

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Allerdings erreichen sie dadurch meist nur erhöhte Kosten bei der Um­ gehung des Verbots. Noch komplizierter wird die Lage, wenn kulturelle Güter aus den Entstehungskulturen legal oder illegal entfernt wurden und nun in mehreren Kulturen – wenn auch unterschiedliche – Bedeutung haben. Die rechtliche Neubewertung der Umstände des ursprüng­ lichen Erwerbs kann zu Abgängen aus der Sammlung führen, die sogar mit zusätzlichen Kosten der Rückführung verbunden sind. Die finanziellen Schwierigkeiten infolge der Corona-Pandemie haben in jüngster Zeit dazu geführt, dass Wortführer unter den Museen, etwa der Direktor des Metropolitan Museum of Art in New York, darauf drängen, dass nicht nur Sammlungsankäufe, sondern auch collection care, also Aufwendungen für die bestehende Sammlung, ein legitimer Grund für einen Verkauf sein können. Dieser Vorstoß wird vermutlich den Spielraum zumindest der größten Kunstmuseen erweitern. Dennoch werden häufig Liquidisierungsversuche durch spontane Protestaktionen von Nutze­rn der betroffenen Museen gestoppt. In manchen Fällen ­haben sie zu einer Welle von Spenden geführt, die den drohenden Verkauf kulturell geschätzter Objekte durch Ankauf verhindert hat.29 Der Aufwand, der betrieben wird, um einen Übergang in die Kommodifizierung zu verhindern, ist also beträchtlich. Er ist nicht allein damit zu erklären, dass aus Werken einer Kunstsammlung, die einer formalen oder ideellen Gemeinschaft gehören, privater Gewinn geschlagen werden könnte. Dahinter stehen tiefe Überzeugungen zum Unterschied zwischen Kunstwert und Warenwert. Das geht so weit, dass in den Kulturen Südeuropas immer noch die Unveräußerlichkeit aller Objekte, die einmal ins Museum gekommen sind, als Verhaltensmaxime gilt.30 Derartig hohe ethische Hürden mögen bei Grundrechten wie Menschenwürde funktionieren, bei Objekten können sie umgangen werden. Die Um­ gehungen werden geräuschlos gehandhabt, so dass der Mythos der »Unbezahlbarkeit« erhalten bleibt. Denn so lange die Werke der Sammlung nicht auf den weithin publizierten Kunstauktionen der Saison auf­ tauchen, so lange verbleiben sie in einer Welt ohne »Danach«, eingefügt in die zeitlose ästhetische Werthierarchie, die das Museum für sie geschaffen hat. Die Werke sind nicht unbezahlbar, weil sie besonders teuer ­wären, sondern weil für sie nicht bezahlt werden darf. 29 Vgl. Harry Fisher-Jones, The deaccessioning debate: 1990-2020, in: The Art News­ paper, 30. 11. 2020, https://www.theartnewspaper.com/analysis/the-deaccessioning-­ debate-1990-2020 [Abruf: 7. 6. 2021] und Simone Sondermann, Deaccessioing. Aus­verkauf der Museen?, in: Weltkunst, 22. 1. 21, https://www.weltkunst.de/kunst­ handel/2021/01/deaccessioning-coronakrise-ausverkauf-der-museen [Abruf: 7. 6. 2021]. 30 Fisher-Jones, The deaccessioning debate. 123

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Fazit Die unvermeidlichen Verwicklungen von kommerzieller und künstle­ rischer Wertlogik, in denen Kunstmuseen operieren, sollten deutlich geworden sein. Werke migrieren in ihrer Biografie von Kunstform zu Waren­f orm, dann zur museal präsentierten Kunstform, und manchmal zurück zur Warenform. Aber gilt das auch für Naturkunde-, Geschichts-, Bergbau- und Heimatmuseen, deren Aktivitäten ebenfalls zu den kulturellen Gütern zählen? Die Inhalte und Umstände sind andere, aber der Blick bleibt der ­gleiche: Ein Heimatmuseum mag mit geringen Kosten Sensen und Webstühle aus dem Zustand des »Abfalls« holen31 und sie mit anderen Gegen­ ständen zum kulturellen Gut kombinieren. Dabei gerät die Produktion der Sammlungspräsentation stärker in den Fokus, ebenso die dafür ­nötige Teamarbeit und die Kosten für Medienstationen und an­dere Formen der digitalen Vermittlung. Im »Danach« der Museums­erfahrung ist Kommodifizierung ebenfalls weniger beim Verkauf kultureller Güter als beim Verkauf von diversen Leistungen zu finden, von Kinder-Workshops über Bildungsangebote bis zur Vermietung als Eventlocation. Während in den Kunstmuseen die Wertschöpfung im Wissenschaftsspiel eine sekundäre Rolle spielt, erfordert sie für »Natur­ ­ kunde«-Museen eine schwierige Balance zwischen (öffentlich finanzierten) Fach­interessen und (kaufkräftigen) Publikumsinteressen. Bei der Kommodifizierung aller kulturellen Güter wird die Relevanz der Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Dimension deutlich. Die Versorgung mit den drei nicht-privaten Warenarten ist für alle Museumsvarianten Teil ihres Auftrags. Club-Güter produziert das Museum für diejenigen, die zum »engeren Kreis« der Mitspieler gehören. Sie entstehen meist in Form von exklu­ siven Veranstaltungen: Der Kollektivgutcharakter einer Sammlung tritt dann in den Vordergrund, wenn der Besucherandrang reguliert werden muss. Die Museen produzieren außerdem öffentliche Güter, weil ihre Präsentationen zumindest im Prinzip beliebig vielen Verwendern gleichzeitig zur Verfügung gestellt werden könnten. Die »Öffentlichkeit«, von der hier die Rede ist, kann dabei die unterschiedlichsten Formen annehmen. Sie kann die Bewohner einer Stadt umfassen oder die Menge der an Technikgeschichte Interessierten oder das Netzwerk der Fans eines PopArt-Künstlers. In jedem Fall erfordert der Überfluss einer solchen Bereit31 Vgl. die Pionierstudie von Michael Thompson, Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten [engl. zuerst 1979], Stuttgart 1989. 124

die kommodifizierung kultureller güter

stellung eine kollektive Finanzierung durch die entsprechende Öffentlichkeit. Schließlich geraten noch die Veränderungen durch die technologische Entwicklung in den Blick: die digitale Vernetzung erreicht zwar völlig neuartige Publika, aber die Finanzierung solcher Erweiterungen der ­Museumsaktivitäten erfordert neuartige Praktiken. Gebietskörperschaften, die sich durch territorial begrenzte Steuereinnahmen refinanzieren, werden kaum die Versorgung derart fragmentierter, global verstreuter Öffentlichkeiten mit kulturellen Gütern übernehmen können. Es ist also nicht leicht für Museen, sich der Allgegenwart der Kommodifizierung zu entziehen.

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Biologische Objekte in Naturkundemuseen und der neue Wert alter Dinge

Naturkundliche Sammlungen sind gleichzeitig Dokumente und Archive für das Vorkommen und die Veränderung von Arten sowie die Entwicklung der Erdgeschichte und des Kosmos in Raum und Zeit. Sie umfassen Mineralien und Gesteine, Fossilien, Mikroorganismen, Pflanzen, Pilze und Flechten sowie kleine und große Tiere. In Deutschland gibt es 600 Naturkundemuseen mit jeweils spezifischen Profilen und Aufgaben und in unterschiedlichen Trägerschaften, deren »Sammlungen als Quellen und Gegenstand der Forschung« dienen.1 Die ca. 20 größten deutschen Naturkundemuseen und naturkundlichen Sammlungen, darunter die drei naturkundlichen Museen der Leib­nizGemeinschaft, haben sich als Deutsche Naturkundliche Forschungssammlungen e. V. (DNFS) organisiert, um strategische Fragen der Entwicklung der Museen zu diskutieren und abzustimmen und deren Interessen konzertiert zu vertreten; in diesem Verein vertritt der / die gewählte ­ Sprecher:in der Fachgruppe für die Naturkundlichen Museen im Deutschen Museumsbund die kleineren deutschen Naturkundemuseen.2 Die DNFS -Forschungsmuseen kuratieren ca. 147 Mio. Sammlungs­ objekte,3 deren Ursprünge und Geschichte bis ins 16. und 17. Jahrhundert zurückreichen. Das Gros der Sammlungsobjekte stammt jedoch aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Die gezielte Erweiterung von Sammlungen (auf der Basis der einrichtungsspezifischen Forschungs- und Sammlungsprofile) geht unvermindert weiter. Dies ist die Voraussetzung, um auch in der Zukunft Aufgabe und Anspruch zu gewährleisten, ein Archiv der globalen Biodiversität und Forschungsinfrastruktur zu sein. Objekt- und Metadaten sind Bestandteile der Sammlungen. In ihrer Summe erlauben die Sammlungsbestände durch Vergleich von Entwicklungen in Raum und Zeit die Charakterisierung von Lebensgemeinschaften 1 Bund-Länder-Eckpunktepapier zu den Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft, Oktober 2021, https://www.gwk-bonn.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/Papers/­ Bund-Laender-Eckpunktepapier_Forschungsmuseen_WGL .pdf [Abruf: 4. 3. 2022]. 2 DNFS -Mitglieder, www.dnfs.de/seite/mitglieder [Abruf: 4. 3. 2022]. 3 Deutsche Naturwissenschaftliche Forschungssammlungen e. V. (DNFS). Herausforderungen und Aufgaben. DNFS, Stuttgart 2015. 127

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und deren Veränderungen sowie oft deren »Ursprungszustand«. Sie doku­ mentieren die Biodiversität im Verlauf natürlicher Prozesse sowie die Auswirkungen von Eingriffen durch den Menschen. Sie dienen uns als Ressource zur Beschreibung der natürlichen Biodiversität, von Evolutions­ prozessen und der Stammesgeschichte der Organismen als deren Ergebnis. Aber historische Sammlungen als Archive der Natur und deren Veränderungen in Raum und Zeit können unter Heranziehung neuer (zum Zeitpunkt der Aufsammlung noch unbekannter) Methoden und Erkennt­ nisse zur Beantwortung von Fragen der Gegenwart, wie die Bedeutung und Konsequenzen aktueller Umweltveränderungen, aber auch von noch nicht absehbaren Fragen in der Zukunft genutzt werden. Die Entwicklung einer Sammlung durch gezieltes Mehren von Objekten und zugehörigen Daten, deren Erforschung und Deposition ist in der Regel ein dreistufiger Prozess, der im Weiteren beschrieben werden soll.4 Dieser Prozess umfasst zunächst das selektive und zielorientierte Sammeln und den initialen präparatorischen Objekterhalt (z. B. vor mikro­bieller Zerstörung). Die wissenschaftliche Bearbeitung dieses Mate­ rials ist der zweite Schritt. In diesem erfolgt die Zuordnung des Objektes zu einer Art durch einen Taxonomen, die Erfassung von objektspezifischen Metadaten sowie häufig die weitere Erforschung, z. B. der Morpho­ logie, Evolution oder Ökologie des Objekts, von populationsspezifischen Charakteristika oder Ausbreitungs- oder Rückgangsphänomenen innerhalb der Art. Am Ende der Forschung und als deren Ergebnis stehen der wissenschaftliche Zugewinn und dessen Kommunikation, z. B. durch die Veröffentlichung. Spätestens während dieses »Forschungsschrittes« werden die Objekte inventarisiert. Im dritten Schritt werden die Objekte in der Sammlung hinterlegt und die gewonnenen Informationen umfassend dokumentiert. Objekte und Daten dienen von da an als wissenschaftliche Referenz, Naturdokument und Forschungsinfrastruktur für spätere Forschungsfragen, vereinzelt auch als Objekt der Vermittlung oder Erbauung. Die verschiedenen Schritte, die die Objekte durchlaufen, sind keine Einbahnstraßen: Sammlungsobjekte können Gegenstand weiterer wissen­ schaftlicher Forschung, eventuell auch von Präparationen sein und so in das »Davor« oder »Dazwischen« rücktransferiert werden. Dieses Changieren ist ein Charakteristikum moderner Forschungssammlungen sowie der Forschung an Sammlungen. 4 Der Fokus in diesem Beitrag liegt auf den biologischen Sammlungen; die Ein­ beziehung der geologischen, petrologischen, paläontologischen Sammlungen hätte den Rahmen gesprengt. Die dargestellten Phänomene und Prinzipien lassen sich aber in vielen Fällen übertragen. 128

biologische objekte in naturkundemuseen

»Davor«: Das gezielte Sammeln Im 19. Jahrhundert fokussierten viele Museen und Sammlungen darauf, möglichst vollständig zu sein in Bezug auf bestimmte Pflanzen- und Tiergruppen oder Regionen der Erde. Ziel war oft, von möglichst vielen Vertretern der besammelten Taxa (in dieser Zeit oft Vögel und Säuge­ tiere, aber auch Käfer und Schmetterlinge sowie Conchilien) oder Ge­ biete – zumindest – einen Vertreter in den eigenen Sammlungen zu ­haben. Expeditionen und Ankäufe sollten »Lücken« schließen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelten sich neue Sammlungsschwerpunkte und -strategien. Sammelreisen und Ankäufe zur Schließung der »Lücken« nahmen in ihrer Bedeutung ab. An die Stelle früherer Sammelziele trat eine stärkere Forschungsorientierung und damit einhergehend ein taxon-, themen- und fragestellungsspezifisches Sampling-Design, also ein vorab festgelegtes Probenahme- bzw. Sammlungsverfahren, das essenzielle Voraussetzung ist, um bei der Erforschung (im »Dazwischen«) bestimmte Erkenntnisse zu generieren. Dieses gezielte Sammeln ist Teil eines wissenschaftlichen Forschungsansatzes und eine A-priori-Voraus­ setzung z. B. für viele ökologische, evolutions- oder auch populations­ genetische Studien. Nur wenn die Aufsammlung in einer bestimmten Form erfolgt, resultieren Vergleichbarkeit, statistische Auswertbarkeit und damit eine umfassendere Relevanz. So gewannen das spezifische Sammlungsprofil der Kustodie oder auch des Museums (z. B. in Bezug auf die taxonomische Gruppe, Biogeografie oder Forschungsthemen) und wissenschaftliche Fragestellungen an Bedeutung für das »Wie« und »Was« des Sammelns. Eine »A-priori-Logistik« wurde essenzieller Teil des Sammelns, die umfassendere Dokumentation der »Sammelumstände« ein wichtiger Teil kustodialer Tätigkeit und der Sammlung. Für die Vergleichbarkeit der Ergebnisse müssen Aufsammlungen gezielt geplant und vorbereitet werden, also stärker standardisierte Verfahren zur Anwendung kommen, die eine forschungsspezifische oder statistische Auswertung zulassen. Untersuchungen von Genmaterial bedürfen z. B. unvergällten Alkohols zur Lagerung des Materials. Gesetz­ liche Bestimmungen zur Aus- und Einfuhr von Sammlungsobjekten machen bei Objekten aus dem Ausland die Einholung von Genehmigungen für bestimmte weitere Untersuchungen notwendig (s. NagoyaProtokoll).5 5 Consortium of European Taxonomic Facilities (CETAF), Code of Conduct and Best Practice for Access and Benefit-Sharing, online unter https://cetaf.org/wpcontent/uploads / C ETAF-Code-of-Conduct-and-Best-Practice-for-Access-and-Be nefit-Sharing-all-annexes-included.pdf [Abruf: 1. 6. 2022]. 129

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Aber auch die Dokumentation der Randbedingungen unmittelbar bei der Aufsammlung, also z. B. die Fang- bzw. Entnahmemethode (Barberfallen, Planktonnetze, Extraktion aus Bodenproben, Totfunde als Folge von Autounfällen etc.), der ökosystemare Kontext (z. B. Lebensraumtypen, Boden- oder Gewässertyp, Landnutzungsformen und -intensität) sowie Auswahlkriterien für die Entnahme (Entwicklungsstadien, Geschlechtsreife usw.) erfolgen im »Davor« und werden als Metadaten später Teil der Sammlung. Denn das Wissen um diese Faktoren hat unmittelbaren Einfluss auf die Interpretation und die Aussagefähigkeit der Ergebnisse. Dabei muss die Aufsammlung nicht gleich sein mit einem einzigen Objekt: Plankton- oder Bodenproben, Fallen- oder Kescherfänge führen zu zahlreichen Objekten und sind »komplexer« in Bezug auf das Sammlungsergebnis als eine gezielte Handaufsammlung mit nur einem Individuum als Ziel und Ergebnis (also einem Frosch, Vogel oder Fisch); sie enthalten eine Vielzahl von Organismen aus unterschiedlichen Taxa. Hier ist die »Probe« eine zusätzliche Sammlungseinheit – gesammelt unter identischen Umweltbedingungen, die allen Individuen als Meta­daten in der Sammlungsdokumentation zugeordnet werden. Die Objekte werden eventuell im »Dazwischen« durch verschiedene Taxon-Spezialisten be­ arbeitet und im »Danach« unterschiedlichen Sammlungen zu­geordnet. Die Extraktion (z. B. von Bodentieren aus einer Bodenprobe) und das Vorsortieren – als Vorbereitung der späteren Determination durch den bearbeitenden Taxonomen – gehören aber noch zur Phase des »Davor«. Eine Übergangsphase vor der wissenschaftlichen Bearbeitung, aber nach der »Entnahme aus der Natur«, ist die fachgerechte Präparation, in deren Verlauf oft eine erste systematische Zuordnung zu einem Taxon erfolgt. Diese Präparation dient der Konservierung und damit dem langfristigen Erhalt des Objektes, ist aber oft gleichzeitig Voraussetzung für die Bestimmung. Während der Präparation werden häufig individuelle Besonderheiten der Objekte dokumentiert (z. B. Größe, Gewicht, Krank­ heiten, Missbildungen, Uterusnarben bei weiblichen Säugetieren als ­Indikator für die Anzahl von Nachkommen, Körperrelationen, Alters­ erscheinungen oder Augenfarbe). Solche Beobachtungen sind oft nur während dieses Prozesses zugänglich, für spätere Forschungsfragen aber von Bedeutung. Im Vorfeld dieses Vorgangs fällt gelegentlich die Entscheidung für ein bestimmtes Präparationsverfahren (z. B. für destruk­ tive Präparation oder für den Teilerhalt von Objekten). So werden von Säugetieren oft nur Schädel auf bewahrt; für seltene Wirbeltierarten oder Taxa, an denen biometrische Untersuchungen vorgenommen werden sollen, müssen eventuell die gesamten Skelette präpariert und in die Sammlung aufgenommen werden. Während der Präparation können 130

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Gewebe entnommen und (in Alkohol konserviert bei -72°C) für spätere Untersuchungen (z. B. mit genetischen Methoden oder zum Nachweis von Umweltgiften) eingelagert werden. Hier fallen Entscheidungen im »Davor«, die für die weitere wissenschaftliche Aussagekraft eines musealen Objektes – und auch der mit ihm korrelierten Daten – von heraus­ ragender Bedeutung sind. Schließlich können immaterielle Zeugnisse für die Artcharakteristik und -abgrenzung, aber auch für andere Forschungsfragen (wie Verhaltens­ spezifika und deren Saisonalität) von Bedeutung sein, wie z. B. die Lautäußerungen von Vögeln, Säugetieren und Froschlurchen oder Videos zum artspezifischen Paarungsverhalten von Nacktschnecken.6 Deren Dokumentation erfolgt fast immer im »Davor«, also im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Entnahme der Objekte aus ihrem Lebensraum, also vor dem eigentlichen Sammelvorgang, weil nur so »natürliche Verhaltensweisen« dokumentiert werden können. Die Video­ untersuchungen an Nacktschnecken erfolgen allerdings im Labor, sind also Teil der Forschung. Der Wert der Sammlungen als möglichst umfassende »Archive der Natur und ihrer Veränderungen in Raum und Zeit« orientiert sich an der Auswertbarkeit und Nutzbarkeit vor allem für die wissenschaftliche Forschung. Und die Forschungsansätze und -methoden, die für die speziellen Fragen zur Anwendung kommen sollen (oder in Zukunft könnten, denn die Forschungsfragen der Zukunft sind – wie uns die Vergangenheit lehrt – vorab nicht absehbar), bestimmen oft den Sammelvorgang und die Präparationsmethoden: Kurator:innen sollten daher möglichst auch Nutzungsoptionen in der Zukunft im Auge behalten. So entnimmt und konserviert das Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz ­Gewebeproben von vielen Tiergruppen, auch wenn aktuell niemand diese Proben bearbeitet. Eine entsprechende Konservierung ist für ­Pflanzen in Herbarien meist nicht notwendig, da ihre Gewebe fast ­immer schon in der hinterlegten Form nutzbar sind. In der Zukunft können diese ­Sammlungen z. B. für Rückschlüsse auf Verwandtschaften, Populations­ entwicklungen, Aussterbedynamiken, aber auch für Aus­ sagen zu Umwelt­giften von hoher Relevanz sein. Das »Davor« repräsentiert also den Weg des Objekts von der Planung der Probenahme über die Aufsammlung der Objekte und die Dokumentation der Umweltdaten bis zur erhaltenden Präparation; mit der wissenschaftlichen Bearbeitung beginnt die nächste Phase: Das »Dazwischen«. 6 John M. C. Hutchinson / Heike Reise, Mating in Ariunculus isselii, an arionid slug without a spermatophore, in: Journal of Molluscan Studies 81 /2 (2015), S. 247-258. 131

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»Dazwischen«: Die Forschung Mit Abschluss der Präparation wird das Objekt inventarisiert, d. h. katalogisiert, und damit Teil der Sammlung und des Museums. Bei den meisten Tiergruppen sind die Objekte in dieser Phase noch nicht bis zur Art bestimmt, sondern nach höheren taxonomischen Einheiten vor­ sortiert. Denn die Bestimmung bis zur Art auf der Basis aktueller taxonomischer Kenntnisse ist der erste Schritt im »Dazwischen«, also die essenzielle Voraussetzung für alle weitere empirische Forschung. Dieser Schritt der wissenschaftlich-validen Determination der Arten erfolgt fast immer durch die Kurator:innen, die taxonomischen Spezialist:innen des Museums für ihre Organismengruppe. Dabei kann der Bestimmungsvorgang selber weitere Präparationsschritte durch die Taxonom:innen erfordern, z. B. wenn Genitalpräparationen zur eindeutigen Artdifferenzierung notwendig sind (beispielsweise bei vielen Käfern, Schmetterlingen, Spinnentieren oder Tausendfüßern). In ihren Zielen unterscheiden sich grundsätzlich die Präparationen im »Davor« und im »Dazwischen«: Im »Davor« ist die primäre Aufgabe der Präparation der Erhalt des Objektes vor der Zerstörung durch inner­ lichen Zerfall und mikrobielle Zersetzung. Im »Dazwischen« dient die Präparation der Bestimmung bzw. weiteren Erforschung der Objekte. Das Ergebnis der Präparation kann dabei destruktiv sein, also zu einer teilweisen oder vollständigen Zerstörung des Individuums führen. Bei einer destruktiven Präparation werden die Teile auf bewahrt und dem Individuum und damit dessen Metadaten zugeordnet, z. B. räumlich im gleichen Gefäß oder durch identische Inventarnummern auf den Labeln. Ein zentrales Gebiet der Forschung an Naturkundemuseen ist die Beschreibung der Biodiversität unseres Planeten. Diese Arbeit ist besonders relevant angesichts unserer unvollständigen Kenntnis des wirklichen ­Artenbestandes der Erde – geschätzt kennen wir nur ca. 20 % der exis­ tierenden Arten – und des Verlustes an Arten durch den Menschen im Anthropozän. Die Untersuchung und Beschreibung neuer Arten anhand artspezifischer (morphologischer, genetischer und weiterer) Kriterien ist die Hauptaufgabe von Taxonom:innen. Neben der einschlägigen Literatur sind dafür die sogenannten »Typen« – die Individuen, anhand derer ­frühere Forscher:innen Arten erstmals beschrieben und als Referenz in Museums­sammlungen hinterlegt haben – als Vergleichsobjekte von besonderer Bedeutung. Diese Typen,7 die »alten Dinge«, ermöglichen die 7 Willi E. R. Xylander, Typen, in: Marten Sabrow / Achim Saupe (Hg.), Handbuch Historische Authentizität, Göttingen 2022, S. 506-512. 132

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Abgrenzung und Validierung von neuen Arten und schaffen so neue Werte für die Wissenschaft durch Erweiterung unserer Erkenntnis. Gleichzeitig bietet der Vergleich die Möglichkeit, Veränderungen und Artbildung in Raum und Zeit an Prozessen und Treibern festzumachen und somit die evolutionäre Entwicklung eines Taxons zu beschreiben und zu erklären. Die morphologische Forschung an Sammlungen geht aber oft weiter und beschreibt Funktionen von Körperteilen und even­ tuell deren Veränderungen im Verlaufe der Evolution. Das Wissen um die Artzugehörigkeit eines Individuums und »Sammlungsobjektes« und seiner Biologie in Korrelation mit den Metadaten, z. B. zu spezifischen Lebensraumansprüchen (»traits«) oder zur Häufigkeit des Auftretens von Arten und deren ontogenetischen Stadien zu bestimmten Jahreszeiten, erlaubt umfangreichere Aussagen in Bezug ­ auf Bestandsveränderungen, anthropogene Einflüsse oder Aussterbe­ ereignisse. Die Forschungsarbeit im »Dazwischen« kann zeitnah zum »Davor«, also kurz nach Eingang in die Sammlungen erfolgen. Nicht selten wird heutzutage nämlich konkret für ein Forschungsprojekt gesammelt. Die Objekte kommen aufgrund der spezifischen Forschungsfrage in die Sammlung, werden dort bewahrt und können gegebenenfalls später ­weiteren, auch ganz anderen als den ursprünglich intendierten Unter­ suchungen dienen. Oft ist die Bestimmung des Individuums auch für einen längeren Zeitraum das Ende des »Dazwischen«. Objekte und Daten werden unmittelbar nach der Bestimmung Teil der Sammlung, also des »Danach«, und erst nach längerer Zeit – oft als Konvolut von Objekten – wieder für die Forschung »reaktiviert«. Denn umfangreichere vergleichende Forschungs­ arbeiten greifen auf Sammlungseinheiten zurück, die deutlich früher und oft zu unterschiedlichen Zeiten gesammelt wurden, also Zeitreihen darstellen. Solche Zeitreihen sind von besonderer wissenschaftlicher Bedeutung, wenn der Sammlungsort (weitgehend) identisch ist und so RaumZeit-Vergleiche ermöglicht. Denn das Wissen um die Ver­teilung von (durch die Fachexpert:innen eindeutig bestimmten) Arten in Raum und Zeit, wie sie in den Museumssammlungen niedergelegt sind, korreliert mit den jeweiligen Umwelt- und anderen Metadaten und kann wertvolle Hinweise auf Verluste oder Zunahmen von Arten oder Ver­änderungen in Lebensgemeinschaften und von Lebensraumqualität ­liefern. So zeigen uns Vergleiche von Gemeinschaften der Ackerbegleitpflanzen im Herbarium in Görlitz aus den letzten 50 bis 80 Jahren und die Aufzeichnungen der Botaniker:innen zu den Sammlungsbelegen, wie die Intensivierung der Landwirtschaft die Artenbestände reduzierte und 133

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­ rten hat verschwinden lassen.8 Auch Langzeitreihen zum Vorkommen A von ­Tieren auf und im Meeresboden der Nordsee in den SenckenbergSammlungen dokumentieren den Rückgang »Alteingesessener« und die Einwanderung und Ausbreitung neuer Tierarten. Diese Faunenwechsel werden mit Eutro­phierung und Erwärmung des Meeres durch den Klima­ wandel, aber auch mit dem Fischfang und anderen Meeresnutzungen in Zu­sammenhang gebracht.9 Zahlreiche entsprechende Untersuchungen gibt es z. B. für Insekten, Säugetiere, Vögel und Amphibien. Durch den Einsatz neuerer genetischer Methoden, etwa beim Vergleich des Genoms älterer und jüngerer Sammlungsobjekte von seltener werdenden Arten, können wir Rückschlüsse auf ein bevorstehendes Aussterbeereignis ziehen. Denn einem Aussterbeereignis geht in der ­ ­Regel ein Rückgang der Population voraus, also der Individuen einer Art in einem bestimmten Verbreitungsareal. Dieser Rückgang manifestiert sich genetisch in einer abnehmenden Vielfalt, also in der Zunahme der Homo­genität des Genmaterials. Historische Sammlungsbestände ­können uns so den Verlauf der Populationsentwicklung und z. B. ein bevor­ stehendes Aussterbeereignis anzeigen; dies ist besonders relevant bei ­Arten, die weniger auffällig sind und deren Rückgang sonst durch das »Raster des Monitorings« fallen würde. Als Konsequenz lassen sich Schutzstrategien für gefährdete Arten ableiten. Hier helfen uns historische und ältere Sammlungen, also die »alten Dinge«, heute aussterbende Arten zu retten und der Menschheit ein Stück Biodiversität als Naturerbe und ideellen »Wert« zu erhalten. Die Erkenntnisse der Forschung an den Sammlungsobjekten werden wissenschaftlich ausgewertet, der Wissenschaftsgemeinschaft auf Tagungen präsentiert, publiziert und so das neue Wissen international verfügbar gemacht. Dies ist m. E. der finale Schritt des »Dazwischen«. Das »Dazwischen« stellt somit für naturkundliche Sammlungen den Wertschöpfungsprozess dar, bei dem die spezifische Erkenntnis zu den Objekten im weiteren Sinne – und manchmal auch ein materieller oder ideeller Wert für die Menschheit – generiert wird. Mit der Dissemination der Erkenntnis in die Wissenschaftsgemeinschaft ist die Phase des »Dazwischen« abgeschlossen.

8 Marlieb Dedek / Karsten Wesche, Die Segetalflora der Oberlausitz im Wandel – heutige Situation im Vergleich zu historischen Daten von Max Militzer, in: Be­richte der Naturforschenden Gesellschaft der Oberlausitz 25 (2017), S. 83-106. 9 Julia Meyer / Ingrid Kröncke, Shifts in functional and structural south-eastern North Sea macrofauna community structure, in: PloS One 14 /12 (2019): e0226410. 134

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»Danach«: Wissenstransfer und Bewahrung der Referenzen Die Phase des »Danach« ist charakterisiert durch zwei zentrale Aufgaben des Museums und der beteiligten Akteure: die Weitergabe der Erkenntnis an die Gesellschaft außerhalb der Forschung und die geordnete, dauerhafte Archivierung der Objekte der Erkenntnis in Sammlungen und der zugehörigen Dokumentationen in Datenbanken als Referenzen und Ressourcen für zukünftige Forschung. Die Objekte in den Sammlungen von Naturkundemuseen können sehr unterschiedlich sein: zweidimensional (herbarisierte Pflanzenbelege, Dauerpräparate auf Objektträgern, mit speziellen Einbettungsmedien ­f ixierte Milben, »Würmer« oder histologische Präparate) oder dreidimensional (wie Schädel, Felle / Bälge, in Formalin eingelegte Amphibien, Reptilien oder Fische). Sie können z. B. Trockenpräparate wie etwa ge­ nadelte Insekten in speziellen Schubladen sein oder in konservierende Flüssigkeiten wie Alkohol eingelegt werden, wie man es bei Krebsen, Tintenfischen und vielen anderen wirbellosen Tieren der Meere macht. Ihre Aufbewahrung erfolgt in der Regel in Sammlungseinheiten entsprechend der jeweiligen Präparationsform (also Alkoholsammlungen, Insektenkästen, Objektträger-Sammlungen, Skelett- und Balgsammlungen, Herbarien, Xylotheken). Alle Objekte sind individuell gekenn­zeichnet (nummeriert), in analogen und meist auch digitalen Katalogen inventarisiert und ihre jeweilige Kennzeichnung (Label) korreliert sie mit andernorts dokumentierten Daten und Metadaten.10 Die Publikationen als »finales Ergebnis des Dazwischen« können der Wissenschaftsgemeinschaft im »Danach« auf unterschiedliche Weise verfügbar gemacht werden: durch Repositorien der Museen, der Hoch­ schulen oder kommerzieller Anbieter. Heutzutage sind diese Publikationen und Repositorien oft verschlagwortet und im Internet weltweit recherchierbar. Metadaten zu den Objekten, wie Ort und Zeit der Aufsammlung, morphometrische Daten, aber auch Informationen zum Lebensraum werden in Datenbanken gespeichert und online verfügbar gemacht. Data­warehouses wie das in Görlitz entwickelte und inzwischen zum euro­päischen Standard avancierte Edaphobase11 korrelieren nicht nur die 10 Willi E. R. Xylander, Objects in natural history collections and their authenticity in the light of traditional and new collection strategies, in: Dominik Kimmel /  Stefan Brüggerhoff (Hg.), Museen – Orte des Authentischen? (RGZM-Tagungen, Bd. 42), Mainz 2020, S. 401-410. 11 Ulrich Burkhardt / David J. Russell / Peter Decker / Martin Döhler / Hubert Höfer / Stephan Lesch / Sebastian Rick / Jörg Römbke / Carmen Trog / Jörn Vorwald / Eberhard 135

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bei der Aufsammlung zu den Objekten dokumentierten Fundumstände im weitesten Sinne; sie setzen vielmehr auch zusätzliche Datenquellen wie digitale Karten, Modellierungen, Informationen aus GIS und Fern­ erkundung a posteriori in Beziehung zu den Metadaten der Sammlungsobjekte. So gelingt es, weiteren Mehrwert aus den hinterlegten Sammlungs­ informationen zu generieren.12 Diese komplexe Datenkorrelation erlaubt die Modellierung von Umwelt­ veränderung in Raum und Zeit durch unterschiedliche anthropogene Einflüsse, aber auch die Beschreibung und eventuelle Bewertung von »trade offs«, also nicht intendierte Konsequenzen bei geplanten Umwelteingriffen z. B. aktuell in der Klimadebatte (etwa Biodieselproduktion für eine klimaneutrale Mobilität versus Biodiversitätsverlust in den ­Tropen durch Regenwaldabholzung zur Gewinnung von Flächen für Palmölplantagen; Energiegewinnung durch Wasserkraft versus Biodiversitätsverluste durch Staustufen in Fließgewässern). Basierend auf den empirischen »Daten alter Sammlungen« erlauben uns mathematische Modelle Rückschlüsse auf Veränderungen in der Gegenwart und Prognosen für die Zukunft. Museen und ihre Mitarbeiter:innen werden in der Diskussion über den Einfluss des Menschen und die Konsequenzen der Biodiversitäts­ veränderungen in Raum und Zeit zu Ansprechpartnern:innen und – aufgrund ihrer Expertise und Unabhängigkeit – zu Honest Brokern. Denn sie verfügen über die Daten sowie über das Wissen um deren Bedeutung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und die Verluste an Bio­ diversität und bringen sie in den gesellschaftlichen Diskurs ein, wie beispielsweise aktuell mit der Berliner Erklärung vom Mai 2022.13 Museen werden so zu einem Ort des Dialogs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, zu einem Museion des transdisziplinären Austausches von Fragen, Wissen und Optionen des Handelns zwischen Bürger:innen und For­ scher:innen und zum Ort der Synthese, des Mehrwerts, der Lösung und Kommunikation für Probleme und Herausforderungen in der Welt von heute. Wurst / Willi E. R. Xylander, The Edaphobase Project of GBIF-Germany – A new online soil-zoological data warehouse, in: Applied Soil Ecology 83 (2014), S. 3-12. 12 Brandon P. Hedrick / J. Mason Heberling / Emily K. Meineke / Kathryn G. Turner / Christopher J. Grassa / Daniel S. Park / Jonathan Kennedy / Julia A. Clarke / Joseph A. Cook / David C. Blackburn / Scott V. Evans / Charles C. Davis, Digitization and the future of natural history collections, in: Bioscience 70 /3 (2020), S. 243-251. 13 Museum für Naturkunde, Dreißig Jahre nach Rio: Berliner Erklärung zum Weltnaturgipfel 2022: Wir brauchen mehr Natur – national und international!, https:// www.museumfuernaturkunde.berlin/sites/default/files/Berliner_Erkla%CC%88rung­_ final.pdf [Abruf: 1. 6. 2022]. 136

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Regelmäßig dienen ausgewählte Objekte auch dem Wissenstransfer und der Vermittlung, indem sie – vor allem in Ausstellungen, aber auch im Unterricht oder bei speziellen Führungen – repräsentativ, haptisch und authentisch für die Vielfalt auf unserem Planeten stehen und diese vermitteln. Die Inwertsetzung im »Danach« ist also die Sicherung und Verfügbarmachung der Quellen der Erkenntnis, der Sammlungsobjekte, für zukünftige Forschungsfragen und der daten- und objektbasierte diskur­sive Wissenstransfer in die Gesellschaft. Dynamik und Changieren Die Aufeinanderfolge von »Davor – Dazwischen – Danach« ist kein Axiom. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren naturkundliche Sammlungen vor allem komplexes Dokument für das Naturinventar der Region, der Nation oder auch der Erde. Mit dem Anwachsen der beschriebenen ­ Arten und supraspezifischen Taxa, der Deposition von ­Typen zur R ­ eferenzierung, einer modernen Taxonomie und der Hinterlegung von Langzeitreihen stieg die Bedeutung von naturkundlichen Sammlungen und ihren Objekten für die Forschung. Neue Methoden und Forschungs­ansätze, aber auch die drängenden gesellschaftlichen Fragen haben die Relevanz der naturkundlichen Sammlungen wachsen lassen. »Retrodynamik« zwischen den »drei Phasen« ist heutzutage nicht nur möglich, sondern auch notwendig und in der musealen Praxis absolut normal. Dieser Wechsel steht für das Selbstverständnis einer dyna­ mischen Sammlung unter wissenschaftlicher Kuratierung und für eine stete, zunehmend interdisziplinäre Nutzung. Selbst ein grundlegender Prozess wie die Determination von Individuen bis zur Art durch Fachwissenschaftler:innen am Anfang des »Dazwischen« ist keine finale Größe. Neue Erkenntnisse zur Taxonomie durch Revisionen, die Entdeckung neuer Arten (auch in gut untersuchten ­Regionen wie Europa), die eine kontinuierliche wissenschaftliche Kura­ tierung und eventuell Neuordnung der Sammlung nach sich ziehen, oder nomenklatorische Änderungen lassen Objekte oder ganze Sammlungsteile ihren Weg zurück in eine z. B. taxonomische oder ökologische Neubewertung finden. Die Entwicklung des Methodenspektrums und der Erkenntniszuwächse zwingen vereinzelt auch bei Taxa, die wir alle kennen und für systematisch eindeutig gehalten haben (wie die Giraffen),14 14 Raohael T. F. Coimbra / Sven Winter / Axel Janke / Vikas Kumae / Klaus-Peter Koepfli / Rebecca M. Gooley / Pavel Dobrynin / Julian Fennessy, Whole-genome analysis of giraffe supports four distinct species, in: Current Biology 31 /13 (2021), S. 2929-2938. 137

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zur Beschreibung neuer Arten und einer Revision von Objekten in Sammlungen weltweit. Auch neue Fragestellungen zu anthropogenen Veränderungen wie der erwähnten dramatischen Wandlung der Ackerbegleitflora lässt histo­ rische Belege – als Referenz mit dem aktuellen Zustand – erneut zum Objekt der Forschung werden.15 Sehr häufig bedürfen vergleichende Untersuchungen mit neuen Methoden oder Forschungsansätzen des Rückgriffs auf ältere Sammlungs­ bestände. So zeigten Röntgenuntersuchungen an Nervaturen im Vergleich von Blättern auf älteren Herbarbögen mit frisch gesammelten derselben Pflanzenarten eine Zunahme von Umweltstressoren mit der Zeit.16 Nur die musealen Sammlungen erhalten diese Zeitreihen als »alte Werte«, die solche vergleichende Forschung möglich machen. Ein besonders spektakuläres Beispiel für das Changieren von Objekten zwischen dem »Davor – Dazwischen – Danach« und dem Wert histo­ rischer Sammlungen im Kontext aktueller Fragestellungen und dyna­ mischer Umweltveränderungen sind Untersuchungen an den ältesten Flechtenbelegen Mitteleuropas: Ein Oberlausitzer Flechtensammler, Carl Gottlob Mosig, hatte diese zwischen 1780 und 1807 im Raum Meffersdorf / Isergebirge (heute in Polen) gesammelt und dem weltweit bedeutendsten Flechtenforscher seiner Zeit, dem schwedischen Arzt und Botaniker Erik Acharius, zur Beschreibung geschickt.17 Mosigs Sammlung und damit zahlreiche Syntypen zu Acharius’ Erstbeschreibungen liegen heute im Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz. Mosigs Sammelgebiet war aufgrund der Asche- und Schwefeldioxidemission der Braunkohlekraftwerke im »Schwarzen Dreieck« bis nach 1990 eine »Flechtenwüste«. Mit der Reduzierung von Braunkohleverstromung und neuen Filter­ anlagen kamen die Flechten zurück. Unklar blieb aber, ob die Flechten des 21. Jahrhunderts Reste der historischen Bestände waren, die in Refugial­räumen überlebt und sich nach Optimierung der Lebensverhältnisse wieder ausgebreitet hatten, oder Neueinwanderer. Vergleiche von Flechten aus rezenten Beständen – also des »Davor« und »Dazwischen« – 15 Dedek / Wesche, Die Segetalflora der Oberlausitz im Wandel. 16 Julio V. Schneider / Vanessa Negraschis / Jörg Habersetzer / Renate Rabenstein / Jens Wesenberg / Karsten Wesche / Georg Zizka, Taxonomic diversity masks leaf veinclimate relationships: lessons from herbarium collections across a latitudinal rainfall gradient in West Africa, in: Botany Letters 165 /3-4 (2018), S. 384-395; Julio V. Schneider / Renate Rabenstein / Jens Wesenberg / Karsten Wesche / Georg Zizka / Jörg Habersetzer, Improved non-destructive 2D and 3D X-ray imaging of leaf venation, in: Plant Methods 14 (2018), article 7. 17 Volker Otte, On C. G. Mosig’s lichen herbarium, with emphasis on type material of lichens and fungi, in: Mycotaxon 88 (2003), S. 393-399. 138

biologische objekte in naturkundemuseen

mit solchen aus Mosigs Sammlung – also vom »Danach« ins »Dazwischen« – konnten diese Frage lösen: Es gibt solche und solche.18 Diese Beispiele zeigen, dass die einst charakteristische lineare Entwicklung eines musealen Objekts in den frühen naturkundlichen Sammlungen, als diese nur als Referenz für die Existenz und das Aussehen einer Art dienten, in einem integrierten Forschungsmuseum mit einer bestens kuratierten wissenschaftlichen Sammlung nicht mehr gilt. Denn die Bedeutung der Sammlungen als Forschungsinfrastruktur hat zugenommen und damit auch ihre Relevanz für Wissenschaft und Gesellschaft. Dies hat eine häufigere Nutzung älterer Objekte für die Beschreibung von Trends zur Folge und die gezielte Neuaufsammlung an den Standorten, von denen Vergleichsobjekte aus der Vergangenheit vorliegen. Das »Davor – Dazwischen – Danach« zeigt vor diesem Hintergrund eine neue, gesellschaftlich bedeutsame Dynamik. Fazit Naturkundliche Sammlungen haben ihre lineare Entwicklung von der Aufsammlung – Planung / Probenahmedesign, Sammeln, Präparieren – über die Erforschung – Determination, Erforschung mit unterschied­ lichen Fragestellungen – bis zum deponierten musealen Sammlungs­ objekt, das es zu bewahren gilt – als analoge und digitale Referenz und Vermittlungsobjekt. Jede der Phasen dieser Entwicklung hat ihre Spezifika und ihren Wert für das Museum, die Wissenschaft und die Gesellschaft. Moderne Sammlungen verstehen sich als dynamische Forschungsinfrastruktur, bei der ein Wechsel zwischen den »Phasen« intendiert und systemimmanent ist, und leben dieses Prinzip.

18 Volker Otte / Karin Diedrich / Ulrike Beck, Umweltmonitoring mit Flechten in der Euroregion Neiße, in: Peckiana 9 (2014), S. 49-57. 139

Andrea Funck

Welche Werte sind die richtigen? Der Wertbegriff in der Konservierung und Restaurierung

Kulturelles Erbe, zu dem Kunstwerke und Kulturgüter als materielle Zeugnisse zählen,1 wird erhalten, weil ihm eine Wichtigkeit – ein Wert – zugewiesen wird.2 Diese Objekte3 zu konservieren und restaurieren,4 ­bedeutet, dass es einzelnen Personen oder Institutionen wert ist, Zeit und Geld in deren Bewahrung, aber auch in die Vermittlung, Erforschung oder Nutzung zu investieren und damit den Wert (z. B. monetär oder ästhetisch) des Kulturguts zu erhöhen.5 Je nach Objekt werden dem ­Erhalt ein spezieller Wert (z. B. wissenschaftlicher Wert) oder gleichzeitig 1 DIN Deutsches Institut für Normung (Hg.), DIN EN 15898: 2011. Erhaltung des kulturellen Erbes – Allgemeine Begriffe; erarbeitet vom Technischen Komitee CEN / TC 346 »Erhaltung des kulturellen Erbes«, Deutsche Fassung EN 15898: 2011, Berlin 2011, S. 7. 2 Das Kulturgutschutzgesetz (KSGS) Deutschlands von 2016 regelt den Schutz von Kulturgut in Deutschland vor Abwanderung ins Ausland (nationaler Kulturgutschutz) und den Schutz von Kulturgut ausländischer Staaten, das unrechtmäßig in Deutschland ist (internationaler Kulturgutschutz), https://www.kulturgutschutzdeutschland.de/DE /AllesZumKulturgutschutz/WozuKulturgutschutz/WozuKul turgutschutz_node.html [Abruf: 22. 2. 2022]. 3 DIN EN 15898, S. 7 definiert Objekte als »bewegliches und ortsfestes Kulturerbe«. 4 Siehe ebd., S. 11, für folgende Definitionen: »(Stabilisierende) Konservierung: Maßnahmen, die direkt an einem Objekt vorgenommen werden, um weiteren Abbau zu verhindern und / oder Schaden zu begrenzen.« Restaurierung wird definiert als »Maßnahmen an einem stabilen oder stabilisierten Objekt, die darauf abzielen, seine Wertschätzung, sein Verständnis und / oder seine Benutzung zu erleichtern, wobei seine Bedeutung sowie die vorgefundenen Techniken und Materialien respektiert werden.« Die »Präventive Konservierung« als »Vorkehrungen und Maß­ nahmen zur Vermeidung oder Minimierung von künftigen Schäden, Abbau und Verlust und folglich invasivem Eingriff«. 5 Auch Wert wird hier definiert, und zwar als »Wichtigkeit, die eine einzelne Person oder die Gesellschaft einem Objekt zuweist. Werte können unterschiedlichen Typs sein, z. B. künstlerischen, symbolischen, historischen, sozialen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder technologischen Typs. Der zugeschriebene Wert kann sich je nach den Umständen ändern, z. B. wie die Bewertung vorgenommen wird, ihrem Kontext und dem Zeitpunkt.« DIN EN 15898, S. 7 f. In der Bodendenkmalpflege wird zudem der Begriff der »Inwertsetzung« verwendet, der nach Nowack-Böck ­einen Mehrwert durch die konservatorisch-restauratorische Bearbeitung von Boden­ funden bezeichnet. Vgl. Britt Nowak-Böck, Konservierung und Restaurierung in der deutschen Bodendenkmalpflege – Selbstverständnis, Standort und Aufgaben in 141

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mehrere Werte (z. B. historischer Wert und Gebrauchswert) zugrunde gelegt. Vor dem Ergreifen von konservatorisch-restauratorischen6 Maßnahmen sollte ein vorrangiger Wert definiert werden, da dieser direkten Einfluss auf das Konservierungs-Restaurierungskonzept hat. Wertekatego­ rien können dabei auch in Konkurrenz zueinander stehen (so steht der finanzielle Wert häufig im Konflikt mit anderen Werten), was für Konservator:innen-Restaurator:innen7 eine Herausforderung hinsichtlich der Entscheidung über Tätigkeiten am Objekt darstellt. Mit dem Erhalt von Kunst und Kulturgut befassen sich unterschied­ liche Berufs- und Interessensgruppen, zu ihnen gehören vorrangig Res­ taurator:innen. Je nach Blickwinkel, fachlicher und persönlicher Inten­ tion, folgen Maßnahmen der Konservierung und / oder Restaurierung verschiedenen Werten. Berufsethische Grundsätze, fachliche Qualifikation von Restaurator:innen und Modelle der Entscheidungsfindung zur Planung und Umsetzung von Maßnahmen sollen Eingriffe an Objekten so objektiv wie möglich und damit wissenschaftlich nachvollziehbar ­machen. Doch: Schaffen bestimmte Werte bzw. deren Kategorisierung und Definitionen Grundlagen für Maxime in den Konservierungs- und Restaurierungswissenschaften,8 wie es beispielsweise »Konservieren geht vor Restaurieren« vermuten lässt? Eingangs kann festgestellt werden, dass Theorie und Praxis, Diss. phil., Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart 2021, S. 102 f. 6 Um zu verdeutlichen, dass Tätigkeiten der Konservierung und Restaurierung überwiegend miteinander einhergehen, wird häufig von der »Konservierung-Restau­ rierung« oder »Restaurierung-Konservierung« gesprochen. In der Regel wird der Begriff der Konservierung dem der Restaurierung vorangestellt, da konservierende Tätigkeiten überwiegen (sollten). Wird der Begriff »Restaurierung« solitär verwendet, inkludiert dies in der Regel die »Konservierung«. Zur Differenzierung der jeweiligen Maßnahmen, werden im Folgenden beide Begriffe aufgeführt. 7 Die Vorgaben, welche Tätigkeiten mit welchem Abschluss durchzuführen sind, regelt »E . C . C . O, Kompetenzen für den Zugang zum Beruf Konservator-Restaurator«, https://www.restauratoren.de/wp-content/uploads/2016/10/ECCO_Kompetenzen­ _­EQF-deutsch-Stand-Juli-2012.pdf [Abruf: 24. 6. 2021]. Den E . C . C . O, Kom­petenzen für den Zugang zum Beruf Konservator-Restaurator entsprechend wird von »Konservator:in-Restaurator:in« gesprochen, https://www.restauratoren.de/wp-con­ tent/uploads/2016/10/ECCO_Kompetenzen_EQF -deutsch-Stand-Juli-2012.pdf [Abruf: 24. 6. 2021]. Zur besseren Lesbarkeit wird im Folgenden der Begriff der / die Restaurator:in verwendet. 8 In der Fachdisziplin Konservierung-Restaurierung wird der Wissenschaftsbegriff nicht einheitlich verwendet (z. B. Konservierungswissenschaft, Restaurierungs- und Konservierungswissenschaft, Restaurierungswissenschaft). Im Folgenden wird der Begriff Konservierungs- und Restaurierungswissenschaften verwendet, da dieser Wissenschaft und Forschung in beiden Anwendungsbereichen und der großen fachlichen Bandbreite gerecht wird. 142

welche werte sind die richtigen?

Wertdefinitionen als Grundlage für die Konservierung-Restaurierung ein Desiderat darstellen, vor allem bei beweglichem Kulturgut,9 doch dazu im Folgenden mehr. Arbeitsgebiete, Aufgaben und Ziele von Konservierung-Restaurierung Die Konservierung-Restaurierung von musealen Objekten folgt in der Regel den von Museen festgelegten Kernaufgaben Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen / Vermitteln, sie sind in den »Standards für Museen« definiert.10 Maßnahmen der Konservierung-Restaurierung unterliegen demzufolge keinen gesetzlichen Vorgaben, nur der sich selbst auferlegten Prämisse des Bewahrens. In der Regel werden restauratorische, aber auch konservatorische Tätig­keiten an Einzelobjekten, häufig zum Zweck der Präsentation im eigenen Haus oder im Zuge einer Ausleihe, vor­ genommen. Oft stehen dem­entsprechend der ästhetische Wert (z. B. Design, Gemälde, moderne Kunst, Kunsthandwerk) oder der historische Wert (z. B. Gebrauchsobjekte berühmter Persönlichkeiten) im Vordergrund. Der konservatorisch-restauratorische Umgang mit Funden in der Boden­ denkmalpflege orientiert sich demgegenüber am gesetzlichen Auftrag der Fachbehörden. Gemäß den Denkmalschutzgesetzen umfasst er zum ­einen das Bewahren und Erfassen von Denkmälern, zum anderen auch das Bewerten und Vermitteln.11 Die Maßnahmen haben häufig die wissens­chaftliche Auswertbarkeit, d. h. die Ablesbarkeit des wissenschaftlichen Wertes zum Ziel. Tätigkeiten der Konservierung-Restaurierung 9 Der Begriff bewegliches Kulturgut (z. B. Kunstwerke, Manuskripte, Bücher) steht im Gegensatz zu unbeweglichem Kulturgut (Gebäude, archäologische Stätten), https ://www.bbk.bund.de/DE /Themen/Schutz-Kulturgut/Was-ist-Kulturgut/ Identifizierung-Kulturgut/identifizierung-kulturgut_node.html [Abruf: 28. 1. 2022]. 10 Deutscher Museumsbund, https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/­2017/ 03/standards-fuer-mu seen-2006-1.pdf [Abruf: 25. 1. 2022]. 11 Nowak-Böck, Konservierung und Restaurierung in der deutschen Bodendenkmalpflege, S. 79 f.; dies., Erhalt und Erfassung organischer Befunde in der bayerischen Bodendenkmalpflege, in: Sebastian Brather / Dirk L. Krausse (Hg.), Fundmassen – Innovative Strategien zur Auswertung frühmittelalterlicher Quellenbestände­(Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg, 97), Darmstadt 2013, S. 131-143; Monika Böck / Jochen Haberstroh / Britt Nowak-Böck, Konservierung, Restaurierung und Deponierung, in: Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege (Hg.), Aus ­gutem Grund – Bodendenkmalpflege in Bayern, Standpunkte – Ziele – Strategien, München 2013, S. 52-55. 143

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sind in diesem Bereich vor allem geprägt vom grabungsnahen Umgang mit Massenfunden, aber auch mit besonderen Einzelstücken. Maßnahmen in der Bau- und Kunstdenkmalpflege sollen sich ebenfalls an der Hauptaufgabe, möglichst das Denkmal in seiner historischen Substanz zu erhalten, orientieren. Auch sie sind abhängig von Denkmalschutzgesetzen.12 Vorrangige Wertekategorien sind aufgrund des Lebens in und mit den Gebäuden, Brücken etc. der Gebrauchswert sowie der historische Wert. Archive wiederum unterliegen dem gesetzlichen Auftrag, Archivgut zu sichern.13 Restaurator:innen befassen sich in diesem Bereich mit Bestandserhalt von Massen- und Einzelobjekten.14 Aufträge von Privatpersonen folgen – unabhängig von der Fachrichtung15 der Restaurator:innen – den persönlichen Wünschen der Auftraggebenden und sind geprägt von der Problematik, dass die KonservierungRestaurierung häufig den monetären Wert eines Objektes übersteigt. Daneben sind berufsethische Codices oft schwer mit den Vorstellungen der Kund:innen übereinzubringen, »wer zahlt, schafft an« bestimmt ­häufig die Ziele einer Konservierung-Restaurierung. Die Aufzählung der Tätigkeitsbereiche von Restaurator:innen weist bereits auf zwei Problemfelder hin: Das breite berufliche Anwendungsfeld erschwert die Suche nach einheitlich definierten Werten als Grundlage für Konservierungs- und Restaurierungskonzepte. Dies führt zur zweiten Problemstellung, wer die Entscheidungshoheit hat. Wer bestimmt, welche Werte Maßnahmen zugrunde gelegt werden, welche ­Tätigkeiten ergriffen werden, welche Anwendung finden und in welchem Umfang konserviert und restauriert wird? Meist entscheiden Kurator:innen, Gebietsreferent:innen, Denkmal­ pfleger:innen, Eigentümer:innen, Nutzer:innen was ausgestellt, aus­ gegraben, erhalten werden soll. Das »Davor«, d. h. die Vorüberlegungen 12 Landesamt für Denkmalpflege Baden Württemberg, https://www.denkmalpflegebw.de/geschichte-auftrag-struktur/bau-und-kunstdenkmalpflege [Abruf: 20. 1. 2022]. 13 »Das Bundesarchiv hat die Aufgabe, das Archivgut des Bundes auf Dauer zu ­sichern, nutzbar zu machen und wissenschaftlich zu verwerten.« (BA rchG§ 3 (1), siehe: Bundesarchiv, https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Artikel/Ueber-uns/­ Rechtsgrund­lagen/rechtsgrundlagen_bundesarchivgesetz.html [Abruf: 28. 1. 2022]. 14 Maria Kobold / Jana Moczarski, Bestandserhaltung. Ein Ratgeber für Verwaltungen, Archive und Bibliotheken, 3. überarb. Aufl., Darmstadt 2020, online abrufbar unter: https://tuprints.ulb.tu-darmstadt.de/11407/1/Bestandserhaltung-2019-online.­ pdf [Abruf: 20. 1. 2022] 15 Fachrichtungen in der Konservierung-Restaurierung sind z. B. kunsthandwerk­ liche Objekte, Gemälde und polychrome Bildwerke, Möbel und Holzobjekte, Technisches Kulturgut, Textil. Eine Übersicht bietet: https://www.restauratoren. de/beruf/ausbildung/studium/ [Abruf: 23. 2. 2022]. 144

welche werte sind die richtigen?

zur Aufnahme von Objekten z. B. in eine Museumssammlung oder als Denkmal, laufen in der Regel ohne Restaurator:innen ab. Dennoch sind zahllose Beispiele für einen Mehrwert eines interdisziplinären Objekt­ aufnahmeteams zu nennen. So lassen sich von Restaurator:innen unter anderem Einschätzungen zum zeitlichen und monetären Aufwand für den Erhalt, mögliche Schädlings- und Schadstoffbelastung, Lagerung und Verpackung argumentativ einbringen. Unumstritten sind Restaurator:innen als Expert:innen für Material, Alterungseigenschaften, Konservierung und Restaurierung in den nächsten »Lebensabschnitt« von Kunst und Kulturgut involviert. In dem ­»Dazwischen« eines Objektes, d. h. seiner Lebenszeit in der Museumssammlung oder als Denkmal, steht in der Regel außer Frage, dass Restaurator:innen Konzepte zur Konservierung und Restaurierung de­ finieren. In diesem Bearbeitungsschritt bzw. »Lebensabschnitt eines Objektes« müssen Restaurator:innen Aussagen darüber treffen, was mach­ bar ist und was nicht. Dabei sollten sie immer berufsethische Grundsätze und Methoden zur Entscheidungsfindung im Hinterkopf behalten, auch mit dem Bewusstsein, dass Maßnahmen Objekte und demnach auch Werte verändern, gar zerstören, können. Hier braucht es also Restaura­tor:innen als Fachleute – hierfür benötigen sie ausreichend Zeit, vor allem um unterschiedliche Wege möglicher Maßnahmen auf­ zuweisen. Nachdem Restaurator:innen ein oder mehrere Konservierungs- und / oder Restaurierungskonzepte erarbeitet haben, wird der Umfang bzw. das Gesamtziel festgelegt. In diesem Prozessabschnitt kommen die Werte ins Spiel: Sollen Maßnahmen rein erhaltend sein oder den wissenschaftlichen Wert, den ästhetischen oder gar den monetären Wert erhöhen? Welche Entscheidungshoheit bzw. Mitspracherechte haben Restaurator:in­ nen? Unumstritten dürfte sein, dass vor allem bei komplexen Eingriffen an Objekten diese nicht von Restaurator:innen (oder anderen Beteiligten) allein, sondern sinnvollerweise in interdisziplinärer Zusammen­ arbeit definiert werden. Doch wie wird in Abhängigkeit von verwendeten Materialien eines Objektes dessen Erhaltungszustand und früheren Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen entschieden, welcher materielle Zustand eines Objektes erzielt werden soll?

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Erstellung von Konzepten zur Konservierung-Restaurierung Konservierungs- und Restaurierungskonzepte fassen auf Grundlage einer allgemeinen Beschreibung (Material, Technik, Auf bau etc.) des gegenwärtigen Zustands und der Schäden eines Objektes zusammen, welche Maßnahmen für die Konservierung und gegebenenfalls Restaurierung nötig und möglich sind. Ausbildung, Erfahrung und Weiterbildung von Restaurator:innen bilden hierbei die fachliche Grundlage. Die Bewertung der Authentizität, damit zusammenhängend die Einschätzung des ursprünglichen und gewachsenen Zustandes sowie der Gebrauchsspuren eines Objektes spielen in der Frage nach Strategien für die Konser­vierung und Restaurierung zentrale Rollen. Demensprechend definiert auch DIN 15898 Authentizität als das Ausmaß, in dem ein Objekt der von ihm beanspruchten Identität entspricht, und besagt ­weiter, dass diese nicht mit »Originalität« verwechselt werden darf.16 Dennoch wird der Begriff der Authentizität in der Konservierung-­Restaurierung uneinheitlich verwendet. In die Erstellung von Konservierungs- und Restaurierungskonzepten fließen grundsätzlich auch die Betrachtung von Wertkategorien ein und bilden quasi die Legitimation für die Durchführung von Maßnahmen, auch wenn dies anscheinend unterbewusst bis beiläufig geschieht. Da es sich in der Regel um einzigartiges Kulturgut handelt, gilt es, das Tun und das Lassen als Restaurator:in klug abzuwägen und zu dokumentieren. Nicht alles, was Restaurator:innen tun können, sondern was sie tun sollten, muss Ziel einer Konservierung-Restaurierung sein. Nur dann sind Eingriffe an Kunst und Kulturgut aus Sicht der Restaurierungswissenschaften und der entsprechenden Berufscodices legitim – für die Be­ arbeitenden selbst und den nachfolgenden Generationen gegenüber. Im besonderen Maße sollten Restaurator:innen sich deshalb Werten, deren Kategorien und Definitionen, bewusst sein, diese abwägen und an­schließend Entscheidungen zur Konservierung-Restaurierung herbei­ führen. Um Entscheidungen zielorientiert zu treffen, wurden Modelle zur Entscheidungsfindung entwickelt, worauf zurückzukommen ist. Künstlerischer, historischer und ästhetischer Wert, Gebrauchs- und Alterswert, aber auch monetärer Wert, finden, bewusst und unbewusst, Eingang in die Konzepterstellung. Entsprechend der unterschiedlichen, einleitend angerissenen, Arbeitsgebiete von Restaurator:innen sind Konzepte des Erhalts und damit die Ziele von Konservierungs- und Restaurierungs16 DIN EN 15898, S. 8. 146

welche werte sind die richtigen?

maßnahmen vielfältig. In dieser Breite dürfte auch der Grund liegen, dass es bisher in der Konservierung-Restaurierung keine Festlegung auf Wertebegriffe und deren Definitionen gibt, sondern diese eher der je­ weiligen Tradition der Anwendungsgebiete folgen. Restaurierungsethik Die Restaurierungsethik beschreibt ethische Grundsätze und zieht sowohl konservierende als auch restaurierende Maßnahmen nach sich.17 Berufsethische Codices18 sind ein fester Bestandteil der restauratorischen Argumentation, sei es beim Dokumentieren geplanter oder bereits durch­ geführter Maßnahmen, bei Stellungnahmen im musealen Leihverkehr, mit Kolleg:innen anderer Fachdisziplinen oder im Gespräch mit Auftrag­ geber:innen.19 Die Restaurierungsethik als theoretische Basis mit Normen und Regeln soll die Kompetenz, Sensibilität und Nachdenklichkeit aller Beteiligten bündeln sowie Restaurator:innen in ihrer Verantwortung unterstützen und institutionell absichern, Entscheidungen besser zu begründen und zu vertreten.20 Allerdings gibt es kein für alle Objektgruppen und Fachbereiche gültiges zusammenfassendes Papier, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Schriftstücke aus den letzten Jahrzehnten, die als berufsethische Grundlage für die Tätigkeiten von Restaurator:in­ nen herangezogen werden.21 Doch leisten restaurierungsethische Grundsatzpapiere und Handlungsleitfäden ausreichend Hilfestellung beim Um­ gang mit den Werten? Wissenschaftstheoretische Grundlagen für einen restaurierungsethischen Diskurs legten Ende des 19. Jahrhunderts die Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Alois Riegl und Georg Dehio in der Baudenkmalpflege.22 17 In diesem Sinne wäre der Begriff Konservierungs- und Restaurierungsethik treffender, hat sich aber nicht etabliert. 18 Eine Übersicht der Grundlagentexte ist auf der Seite des VDR e. V. zu finden: ­https://www.restauratoren.de/beruf/grundsatzpapiere/ [Abruf: 7. 7. 2021]. 19 Cornelia Weyer, Restaurierungsethik. Die Argumente der aktuellen Debatte, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung  8/2 (1994), S. 345-355, hier S. 345. 20 Katrin Janis, Was wie tun? – Ethik als Wegweiser in Entscheidungsprozessen, in: ICOM Deutschland (Hg.), Zur Ethik des Bewahrens: Konzepte, Praxis, Perspek­ tiven (Beiträge zu Museologie, Bd. 4), Berlin 2014, S. 47-57, hier S. 57. 21 Verband der Restauratoren, Grundlagentexte, https://www.restauratoren.de/be ruf/grundsatzpapiere/ [Abruf: 23. 2. 2022]. 22 Alois Riegl, Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung, Wien / Leipzig 1903; Georg Dehio, Denkmalschutz und Denkmalpflege im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Kunsthistorische Aufsätze, München / Berlin 1914, S. 216-282. 147

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Dehios Ideen lassen sich als »konservieren, nicht restaurieren« zusammenfassen23 und bilden somit eine Grundmaxime der KonservierungRestau­rierung bis in die Gegenwart. Riegl unterscheidet in Der Moderne Denkmalkultus von 1903, einer wichtigen Grundlage für die KonservierungRestaurierung bis heute, Erinnerungswert (Alterswert und historischer Wert) und Gegen­wartswert (Gebrauchswert und Kunstwert). Der Alterswert kann als »Ursprungswert« der Objekterhaltung verstanden werden, Riegl charakterisiert diesen als Zeichen des Zerfalls und als Wertschätzung von Alters­spuren.24 Weil sich der Alterswert auf das Vergehen von Substanz begründet, verbieten sich, so Riegl, konservierende oder res­ taurierende Tätigkeiten.25 Der historische Wert, so Riegl, beschreibt nicht die Spuren des Alters, sondern soll eine möglichst »un­verfälschte Urkunde« bewahren.26 Der Alterswert bedingt demnach eine Verlang­ samung, der historische Wert das vollständige Stoppen der alterungs­ bedingten Zerstörung,27 weshalb diese in Konkurrenz zueinander stehen können.28 Den Kunstwert als Gegenwartswert wiederum gliedert Riegl in den Neuheitswert im Sinne eines einheitlichen Gesamteindrucks eines Denkmals in Form und Farbe (»Wiederherstellung im neuen / alten Glanze« ist hier die ­Prämisse, Renovieren und Rekonstruieren die Folge) und den relativen Kunstwert, bei dem interpretatorische Bedingtheit besonders ins Gewicht fällt und der das Bewahren bzw. Wiederherstellen des Erst­ zustandes vorsieht.29 Folgende Maßnahmen lassen sich aus Riegls Wertekategorien bis heute ableiten:30

23 Georg Dehio / Alois Riegl, Konservieren, nicht restaurieren. Streitschriften zur Denkmalpflege um 1900, Braunschweig 1988, S. 98. 24 Nathalie Bäschlin, Fragile Werte. Diskurs und Praxis der Restaurierungswissenschaften 1913-2014, Bielefeld 2020, S. 109. 25 Riegl, Der moderne Denkmalkultus, S. 26. 26 Ebd., S. 30 f. 27 Ebd., S. 36. 28 Ebd., S. 34. 29 Ernst Bacher, Alois Riegl und die Denkmalpflege, in: ders. (Hg.), Kunstwerk oder Denkmal? Alois Riegls Schriften zur Denkmalpflege, Wien / Köln / Weimar 1995, S. 13-48, hier: https://kunstgeschichte.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_kunst ­geschichte/Bilder_IKG/Bilder_Institutsereignisse/Institutsereignisse_2015/E._Ba cher_-_Alois_Riegl.pdf [Abruf: 3. 2. 2022], S. 1-22, hier S. 7 f. 30 Nowak-Böck, Konservierung und Restaurierung in der deutschen Bodendenkmalpflege, S. 79. 148

welche werte sind die richtigen?

Wertkategorie Erinnerungswert

Gegenwartswert

Maßnahmen Historischer Wert

Erhaltung des Zustandes, Aufhalten des weiteren Zerfalls

Alterswert

Erhaltung in unverändertem Zustand, weitere Zerstörung / Veränderung ist legitim

Gewollter Erinnerungswert

vollständig restaurieren

Gebrauchswert

Maßnahmen, die praktische Benutzbarkeit gewährleisten / wiederherstellen

Kunstwert: Neuheitswert

Wiederherstellen eines geschlossenen, einheitlichen Gesamteindrucks; Altersspuren beseitigen; Fehlendes ergänzen

Kunstwert: »Relativer Kunstwert«

entspricht ursprünglicher, nicht gealterter Zustand dem heutigem Kunstwollen, Zerfall stoppen; Altersspuren entfernen (Reinigen)

Tabelle 1: Wertekategorien und abgeleitete Prinzipien Riegls nach Nowak-Böck

Riegl erfasst damit erstmals, obwohl bereits seit dem 18. Jahrhundert dokumentiert, systematisch und begrifflich die positive Wirkung von gealterten Oberflächen bzw. Kunst und Kulturgut.31 Er teilt mit dieser Ver­öffentlichung die wichtige Erkenntnis mit, dass historische Werte an materielle Artefakte gebunden seien und die Zuordnung auf subjektiven Kriterien beruhe. Damit verknüpft Riegl Wissenschaftlich-Dokumentarisches mit subjektiver Wahrnehmung.32 Riegls Wertekategorien und die daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen fließen in den darauffolgenden Jahrzehnten in die Entwicklung restaurierungsethischer Papiere ein, seine Wertedefinitionen und Maximen werden weiter ausdifferenziert und prägen die Restaurierungswissenschaften bis heute.33 So entstehen in der Folge im 20. Jahrhundert zahlreiche restaurierungsethische Codices. 1964 werden in der »Charta von Venedig« die Grundsätze der Denkmalpflege und Restaurierung zusammengefasst, auch sie ist eine der Grundlagen für das konservatorisch-­ 31 Bäschlin, Fragile Werte, S. 112. 32 Ebd., S. 110. 33 Weyer, Restaurierungsethik, S. 347. 149

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restauratorische Tun bis heute. Werte werden dort an zwei Stellen erwähnt. Artikel 9 besagt, dass die Restaurierung Ausnahmecharakter behalten sollte und die ästhetischen und historischen Werte des Denkmals bewahrt und erschlossen werden sollen. Ferner müssen verschiedene Zustände erhalten werden, Stileinheit ist kein Restaurierungsziel. Die Aufdeckung verdeckter Zustände ist nur dann gerechtfertigt, wenn das zu Entfernende von geringer Bedeutung, wenn der aufzudeckende Bestand von hervorragendem historischen, wissenschaftlichen oder ästhe­ tischen Wert ist und sein Erhaltungszustand die Maßnahme rechtfertigt (Artikel 11).34 Dass die genannten Werte in der Erstellung von Restaurierungs- und Konservierungskonzepten in Konkurrenz stehen dürften, versteht sich an der Stelle von selbst. Dennoch werden keine Empfehlungen zum Umgang im Falle einer Wertediskrepanz gegeben, auch fehlen Definitionen der Wertbegriffe. 1979 wird in der »Burra Charta« (2013 das letzte Mal überarbeitet) der denkmalpflegerische Umgang mit Objekten von kultureller Bedeutung (Denkmalwert) definiert.35 In der Version von 2013 werden Entscheidungs­ prozesse ausführlich formuliert. In diesem Zusammenhang werden auch der ästhetische, historische, wissenschaftliche oder gesellschaftliche Wert eines Denkmals, mit entsprechenden Fragen ergänzt, beschrieben.36 ­Dieses Papier ist in seiner ausschließlichen Fokussierung auf den Umgang mit Denkmälern ausgelegt, die Überprüfung der Übertragung auf den Umgang mit beweglichem Kulturgut könnte sinnvoll sein.37 Mitte der 1980er Jahre wird die Restaurierungsethik von ICOM durch den »Code of Ethics«38 in ihren Grundsätzen verankert. Diese umschreiben generelle Verpflichtungen von Restaurator:innen, deren Tätigkeiten (z. B. Dokumentation, Untersuchung, konservierende Maßnahmen, Res­ taurierung) und Verhalten sowie im letzten Kapitel »Weiterbildung / 34 ICOMOS, Charta von Venedig: Internationale Charta über die Konservierung und Restaurierung von Denkmälern und Ensembles (Denkmalbereiche), 1989, Artikel 9, Artikel 11, sie auch unter: https://www.restauratoren.de/wp-content/ uploads/2017/03/1989-Charta_von_Venedig.pdf [Abruf: 18. 6. 2021]. 35 ICOMOS, The Burra Charter: the Australia ICOMOS Charter for Places of Cul�tural Significance, Burwood 2013, siehe unter: https://australia.icomos.org/publi cations/burra-charter-practice-notes/#bc [Abruf: 28. 1. 2022]. 36 Ebd. 37 Die Bedeutung der »Burra Charta« für die Konservierung-Restaurierung in der Bodendenkmalpflege wird besonders deutlich in Nowak-Böck, Konservierung und Restaurierung in der deutschen Bodendenkmalpflege. 38 Der »Code of Ethics« wurde von der kanadischen Gruppe des »International Insti�tute for Conservation of Historic and Artistic Works« (IIC) im Jahre 1986 erstellt und 1987 von ICOM übernommen. 150

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Kommunikation / Ausbildung« – unabhängig von ihrem Tätigkeitsbereich. Diesem Papier wird in der Folge von den nationalen und internationalen Berufsverbänden zugestimmt und mit den dort aufgeführten Richtlinien erkennen es die Verbände und seinen Mitglieder an.39 Wertbegriffe bzw. -definitionen finden dort allerdings keinen Eingang. 1994 wird im »Nara-Dokument« zur Echtheit / Authentizität der Zu­ sammenhang zwischen Werten und der Authentizität beschrieben. Betont wird, dass für den Erhalt des Kulturerbes Informationsquellen (Ver­ lässlichkeit und Glaubwürdigkeit der Quellen) Voraussetzung zur Be­ urteilung aller Aspekte der Echtheit – der Begriff ist hier gleichbedeutend mit dem Begriff der Authentizität genannt – sind. Die Beurteilung des beigemessenen Wertes (der Wertbegriff wird nicht weiter definiert) von Kulturgut ist laut diesem Papier kulturell bedingt und wandelbar. Eine Einschätzung von Werten und Echtheit nach festgelegten Kriterien ist daher nicht möglich, so die Verfasser des Papiers.40 Der heute bedeutendste Grundlagentext der Konservierung-Restaurierung ist der Standeskodex von E . C . C . O.41 aus dem Jahr 2003, der in seiner Ausführlichkeit und seinen Verhaltensangaben für Restaura­ tor:innen weit über den »Code of Ethics« hinausgeht. Im Vordergrund steht die Beschreibung der fachlichen Qualifikationen von Restaura­ tor:innen und deren Verantwortung gegenüber der Kunst und dem Kulturgut. Werte sind kaum Thema in diesem Dokument. Aufgeführt wird beispielsweise, dass Restaurator:innen unabhängig vom Marktwert eines Objekts handeln sollen (Artikel 7), was in der Praxis nicht immer um­zusetzen ist. So ist es in der Regel für Restaurator:innen einfacher, für aufwendige, objekterhaltende Maßnahmen zu plädieren, wenn ein Objekt einen höheren monetären Wert aufweist. Noch schwieriger erweist sich in der Praxis die Vorgabe, dass sie kein Material entfernen dürfen, außer es ist für den Erhalt unbedingt nötig oder es stört den historischen und ästhetischen Wert des kulturellen Erbes erheblich ­(Artikel 15).42 Hier werden Handlungsempfehlungen ausgesprochen, die gemäß konserva­ torischen-restauratorischen Grundsätzen materialerhaltend sein sollten 39 Weyer, Restaurierungsethik, S. 345. 40 UNESCO / ICCROM/ ICOMOS, Das Nara-Dokument zur Echtheit / Authentizität. Nara-Konferenz zur Authentizität bezogen auf die Welterbe-Konvention, Nara 1994, zu finden u. a. unter https://www.restauratoren.de/wp-content/uploads/­ 2017/03/1994_UNESCO_NaraDokument.pdf [Abruf: 28. 1. 2022]. 41 E . C . C . O. ist als »European Confederation of Conservator-Restorers’ Organi­sa­ tion(s)« die »Europäische Vereinigung der Restauratorenverbände«, siehe http:// www.ecco-eu.org/ [Abruf: 24. 6. 2021]. 42 E . C . C . O., Code of Ethics, Brüssel 2003, https://www.ecco-eu.org/wp-content/ uploads/2021/03/ECCO_professional_guidelines_II.pdf [Abruf: 22. 3. 2022]. 151

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und damit Eingriffen, die störende Elemente beseitigen ­sollen, widersprechen. Vor allem Substanz und damit Zeitschichten zu erhalten, sollte ein vorrangiger Wert aus Sicht der Konservierung-­Restaurierung sein. Zusammenfassend wird deutlich, dass in den Codices an Riegls formulierten Werten festgehalten wird und diese teilweise nur als Begrifflichkeiten ohne Erläuterung, z. B. in berufsethischen Papieren, genannt werden. Definitionen der Werte im Sinne der Konservierung und Restaurierung fehlen. Auch Angaben zum Umgang mit Diskrepanzen werden nicht gemacht, obwohl diese doch besonders wichtig wären. Ferner zeigt sich, dass die aufgeführten Dokumente vorrangig den Erhalt von Baudenkmälern behandeln. Werte in der Konservierung-Restau­rierung werden, vermutlich in der Tradition Riegls und Dehios, bis heute intensiver an Baudenkmälern als an beweglichem Kulturgut diskutiert und weiterentwickelt.43 Methodische Herangehensweise durch Modelle zur Entscheidungsfindung Restaurator:innen wenden im beruflichen Alltag häufig die Heuristik an, um mit begrenzten Informationen zu den Objekten (weil nicht vorhanden, verloren gegangen oder zu wenig Zeit für Recherche) zu einer pragmatischen, d. h. möglichst wenig schädigenden (so viel wie nötig, so ­wenig wie möglich, reversible Materialien), langfristig nachvollziehbaren (Dokumentation der Maßnahmen) Lösung zu kommen. Die Unzufriedenheit mit dem heuristischen und damit nicht immer analytischen, möglichst objektiven, langfristig argumentativ nachvollziehbaren Vorgehen beförderte die Entwicklung von Modellen zur Ent­ scheidungsfindung. Diese folgen dem Bestreben von Restaurator:in­nen, eine möglichst rationale Entscheidungsfindung durch das Einbeziehen vieler Daten und die Auswertung von Informationen herbeizuführen. Die Grundlagen liegen, wie aufgeführt, in den restaurierungsethischen Texten. Diesem Impuls folgend, werden ab den späten 1980er Jahren erste Handlungsempfehlungen veröffentlicht, denen unterschiedliche Systema­ 43 Z. B. Randall Mason, Assessing Values in Conservation Planning: Methodological Issues and Choices, in: Marta de la Torre (Hg.), Assessing the Values of Cultural Heritage, Los Angeles 2002, S. 5-30; Erica Avrami / Susan Macdonald /Randall ­Mason/ David Myers (Hg.), Values in Heritage Management Emerging Approa�ches and Research Directions, The Getty Conservation Institute, Los Angeles 2019. 152

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tiken zugrunde liegen. Das Prinzip des Decision-Making wird auf die Anwendung in der Konservierung-Restaurierung übertragen und ist ein wichtiger Schritt hin zu einem anwendungsbezogenen, aber vor allem systematischen und planerischen Umgang in der Entscheidungsfindung. Das populärste Modell ist aus dem Jahr 1999 für die Anwendung zur Konservierung und Restaurierung von moderner Kunst,44 das 2019 einer Revision unterzogen wurde.45 Gemeinsam haben die beiden Modelle die systematische Datensammlung und die Gegenüberstellung des derzeitigen Zustands (»Current State Condition«) eines Objektes und des angestrebten Zustands (»Desired State Meaning«). Durch die Diskrepanz der beiden Beschaffen­ heiten (derzeitiger und angestrebter Zustand) wird eine intensive Aus­ einandersetzung mit dem Kunstwerk bewirkt. Hervorzuheben ist, dass der Zustand eines Objektes zu Zeiten der Herstellung nur indirekt in die Überlegungen einfließt. Die Diskussion stellt das Herzstück des DecisionMaking-Modells dar. Es werden Fragen zur Authentizität, zum ästhetischen und künstlerischen Wert (beides vor allem in der modernen und zeitgenössischen Kunst von zentraler Bedeutung), zur Funktionalität, Historie, künstlerischen Intention und – dieser Punkt ist besonders ­hervorzuheben – Einschätzung hinsichtlich zukünftiger Veränderungen aufgeworfen. In den darauffolgenden Schritten werden Möglichkeiten der Konservierung-Restaurierung (und Präsentation) aufgeführt und gegeneinander abgewogen. Erst dann folgt die Entscheidung über die Maßnahmen, das Konzept. Das aktualisierte Modell von 2021 endet mit den zusätzlichen Schritten der Durchführung und Bewertung der Maß­ nahmen.46 Beiden Modellvarianten ist gemeinsam, dass sie Vorgänge in der Konservierung-Restaurierung systematisieren, durch die formulierten Fragen den Blick der Anwender:innen weiten und die Diskussionen ­herbeiführen, die sonst – häufig aus zeitlichen und / oder pragmatischen Gründen – zu kurz kommen. Allerdings ist der Umgang mit den auf­ geführten Werten nicht ausreichend definiert. Auch lassen sich die 44 Foundation for the Conservation of Modern Art / Netherlands Institute for Cultural Heritage, The Decision-making Model for the Conservation and Restoration of Modern and Contemporary Art, 1999, https://www.sbmk.nl/source/documents/ decision-making-model.pdf [Abruf: 25. 6. 2021]. 45 Cologne Institute of Conservation Sciences / T H Köln, The Decision-Making Mo�del for Contemporary Art Conservation and Presentation, updated version 2021, https://www.th-koeln.de/mam/downloads/deutsch/hochschule/fakultaeten/kul turwissenschaften/f02_cics_gsm_fp__dmmcacp_190613-1.pdf [Abruf: 22. 3. 2022]. 46 Foundation for the Conservation of Modern Art, The Decision-Making Model, S. 4 ff. 153

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­ odelle, die für den Umgang mit moderner Kunst konzipiert wurden, M nur bedingt auf kunsthandwerkliche, aber vor allem wenig auf archäologische und ethnologische Objekte anwenden. So fehlen Werte für ­Objekte mit anderen Ansprüchen wie die Ästhetik, wie z. B. wissenschaftlicher Wert und Gebrauchswert. Hier steht noch eine Übertragung in andere Fachbereiche bzw. Objektgattungen aus. Eine Handreichung, 2010 veröffentlicht von Barbara Appelbaum,47 bietet umfassende Unterstützung bei Restaurierungs- und Konservierungs­ prozessen für bewegliches Kulturgut, auch in der Entscheidungsfindung für kunsthandwerkliche, archäologische und ethnologische Objekte.48 Im Prozess spielen die Werte eines Objektes eine zentrale Rolle, vor allem in Bezug auf ihre vormuseale und museale Lebenszeit. Betrachtet werden Kunstwert, ästhetischer und historischer Wert, Gebrauchswert, wissenschaftlicher und erzieherischer Wert, Alterswert, Neuwert, ideeller, finan­zieller und assoziativer Wert sowie Erinnerungswert und Seltenheit.49 Zentrales Instrument ist die schrittweise Bestimmung eines »ideal state« (angestrebter Zustand) und die Festlegung eines realistischen ­Behandlungsziels (»realistic goal«). Der angestrebte Zustand beschreibt laut Appelbaum jenen physischen Zustand eines Objektes, der von der / dem zuständigen Kurator:in (im Verlauf des Textes wird auch der / die Restaurator:in als mitdiskutierend aufgeführt) als wünschenswert erachtet wird. Dabei ist einer der vergangenen Zustände oder der aktuelle Zustand anzustreben.50 Um den angestrebten Zustand eines Objektes zu ermitteln, werden alle Informationen über es auf einer Zeitachse (»Lifetime of the cultural object«, auch Stationen vor dem Eingang in die Museumssammlung werden aufgeführt) in Bezug zu möglichen Wertekategorien des Ob­ jektes gesetzt. Mit Hilfe der ausgefüllten Matrix wird dann häufig ein ­Wandel der vorrangigen Werte im Verlauf des »Objektlebens« bis zum ­Eintritt ins Museum deutlich. Daraus lässt sich das realistische Behandlungsziel entwickeln, das so nah wie möglich an den angestrebten Zustand heranreichen soll. Das kann laut Appelbaum zu einem Dilemma zwischen »the truth«, »der Wahrheit«, die sich in diesem Zusammenhang darauf bezieht, wie ein Objekt zu einem bestimmten Zeitpunkt in seiner Vergangenheit tatsächlich aussah, und der »authenticity«, der Authentizität, die das Vorhandensein von Originalmaterial beschreibt, führen.51 47 48 49 50 51 154

Barbara Appelbaum, Conservation Treatment Methodology, Leipzig 2020. Ebd., S. XIX-XX . Ebd., S. 86-115. Ebd., S. 173-193 und 194-236. Ebd., S. 255-257.

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Das Ziel, die »Wahrheit« eines Objekts zu vermitteln, ohne die Authentizität zu verletzen, kann für viele Objekte unerreichbar sein. Wenn das Originalmaterial im Laufe der Zeit verändert wurde bzw. sich verändert hat, entspricht es nicht mehr der »historischen Wahrheit«. Solche Veränderungen erfordern j­edoch in der Regel die Hinzufügung von neuem und daher nicht authen­tischem Material (z. B. durch irreparable Material­ veränderungen bei archäologischen Funden oder Kunststoffalterung). In der Folge dieses Annäherungsprozesses aus der Kombination »ideal state« und »realistic goal« werden Restaurierungsziele formuliert und Maß­ nahmen und deren Restaurierungsmaterialien bestimmt. Sie sind von restaurierungsethischen Grundsätzen geleitet und werden in der Regel gemeinsam von Restaurator:in und Kurator:in getroffen. Die Vorteile des Modells von Appelbaum sind, dass ein strukturiertes, prozesshaftes Vorgehen entlang der Wertekategorien durch das Dickicht aus momentanem Zustand, erstrebenswertem Zustand und realistischem Behandlungsziel führt und damit konservatorisch-restauratorische Maßnahmen nachvollziehbar begründet. Außerdem ist das Modell auf verschiedene Objektgattungen, unabhängig von deren Alter, anwendbar. Es setzt Kunst und Kulturgut, deren momentanen Zustand und vergangene Zustände in den Mittelpunkt. Die Betrachtung der unterschiedlichen Interessensgruppen wie bei den Decision Making-Modellen und deren Einfluss auf den Prozess sind allerdings schwerer in dieses Modell einzubinden. So ist – neben der Frage nach der Sinnhaftigkeit in der Anwendung bekannter Wertbegriffe – die Möglichkeit, Herkunftsgesellschaften in die Konzeptfindung einzubeziehen (z. B. bei Objekten aus kolonialem Kontext oder Human Remains), schwierig. Hierfür braucht es neue Wege der Entscheidungsfindung. Anwendungsbeispiele Die folgenden Beispiele sollen verdeutlichen, dass die Wertedefinitionen von Riegl bis heute eine Grundlage für Konservierungs- und Restaurierungs­ konzepte darstellen, weitere Werte aber in der Praxis hinzugekommen sind. Unabhängig davon, um welche Werte es sich handelt, lässt die Auseinandersetzung in der Konservierung-Restaurierung noch einige Fragen offen.

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Alterswert

In der Regel ist es die Aufgabe von Restaurator:innen zu beurteilen, welche Ursachen für »altes Aussehen« verantwortlich sind und ob Spuren der Alterung eine Gefahr für das Objekt darstellen. Restaurierungs­ ethische Grundsätze geben hier prinzipiell das Erhalten von Spuren der Vergangenheit vor, ganz in der Tradition von Riegls Definition von ­Alterswert. Objekte, die vorrangig einen Alterswert aufweisen, kennzeichnet, etwas zugespitzt formuliert, dass sie alt sind, alt aussehen und dies gewünscht ist.52 Altersspuren charakterisieren gemäß Riegl den ­Alterswert, die Patina macht ein Denkmal als Menschenwerk begreif bar. Objekte sollen deshalb in unverändertem Zustand erhalten und eine natürliche Zerstörung akzeptiert werden.53 Der Alterswert ist also ganz dem Materiellen verpflichtet und wird besonders sichtbar durch die »Zersetzung der Oberfläche«, d. h. Verwitterung oder Patina.54 Deshalb steht der Alterswert laut Appelbaum eigentlich grundsätzlich in Konflikt mit Restaurierungsmaßnahmen.55 Besonders deutlich wird dies an Objekten des Designs. Hier sind Spuren der früheren Nutzung in der Regel im musealen Ausstellungskontext nicht gewünscht und werden häufig durch restauratorische Eingriffe reduziert oder entfernt. Ein weiteres Beispiel sind Kunstwerke, die in ihrer Intention und vonseiten ihres ­Materials nicht für den langen Erhalt gefertigt wurden, wie beispielsweise Kunstobjekte aus Schokolade vom Künstler Dieter Roth. Sie ­werden von Insekten zerfressen und altern bis zur völligen Zerstörung. Das ist aus musealer Sicht in der Regel nicht gewünscht, weshalb Restaurator:innen die Aufgabe zukommt, die Alterung gezielt zu stoppen (z. B. durch Sauer­stoffentzug). Bei diesen beiden Beispielen wird demnach der ästhetische Wert stärker als der Alterswert gewichtet, was streng genommen nicht einer der zentralen restaurierungsethischen Maxime »Konservieren geht vor Restaurieren« entspricht.56

52 Appelbaum, Conservation Treatment Methodology, S. 104. 53 Nowak-Böck, Konservierung und Restaurierung in der deutschen Bodendenkmalpflege, S. 79. 54 Bäschlin, Fragile Werte, S. 121. Patina ist erfahrbar in Form von Zeitschichten im Sinne des Alterswerts (positiv bewertet), als kultureller Widerspruch zwischen ­Alters- und Neuheitswert sowie als kultureller Widerspruch zwischen natürlich und künstlich erzeugten, authentischen und falschen Altersspuren. Ebd, S. 126. 55 Appelbaum, Conservation Treatment Methodology, S. 105. 56 Schmutz hingegen kann ebenso ein Zeichen des Alters sein. Diesen zu entfernen, sind sich Beteiligte in der Regel einig, da dies als Maßnahme der Konservierung dem Schutz eines Objektes dient. Ebd., S. 106. 156

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Gebrauchswert

Der Gebrauchswert ist ein vorrangiger Wert bei Kunst und Kulturgut, dessen Funktionalität im Vordergrund steht. Bei einem Baudenkmal bedeutet dies die Gewährleistung der weiteren praktischen Benutzbarkeit. Bewegliche Objekte werden häufig ihrer ursprünglichen (Be-)Nutzung bei Eintritt in eine Museumssammlung entzogen und einer neuen zu­ geführt. Dann ist der Gebrauchswert wichtig als vergangener Wert, um als Restaurator:in anhand von Informationen zur ehemaligen Nutzung Gebrauchspuren richtig zu interpretieren.57 Je nach Sammlungsschwerpunkt können allerdings der Erhalt eines Objektes, vorhandene Altersspuren durch die bisherige Nutzung und Patina einerseits (Alterswert) und die Nutzung im musealen Kontext andererseits (Gebrauchswert) in Konkurrenz zueinander stehen und Restaurator:innen geraten berufsethisch in eine Zwickmühle. Beispiele hierfür sind bespielte, historische Musikinstrumente oder bewegte, kinetische Kunst. Ein Kompromiss ist kaum möglich, entweder die Objekte werden be- bzw. genutzt oder nicht. Auch seltene Nutzung ändert nichts an der Tatsache, dass Teile irgendwann durch Verschleiß ergänzt oder repariert werden müssen, was restaurierungsethisch eben problematisch ist. Aber wie verhält es sich mit Kulturgut, dessen Nutzung Ursprungs­ gemeinschaften zugesprochen wird, auch wenn es sich in Museumssammlungen befinden? Dabei werden lebendig empfundene Objekte in ethno­logischen Sammlungen für Rituale beispielsweise in Form von Tän­ zen oder Fütterungen entnommen und anschließend w ­ ieder im ­Museum ver­wahrt. Hier müssen das europäisch geprägte Bild der Restaurierungsethik und die Modelle zur Entscheidungsfindung hinterfragt werden. Gebrauchs­spuren können nicht wie üblich interpretiert werden. Dafür muss eine gewünschte, tolerierte Alterung in Kauf genommen werden.58 Bestehende Wertvorstellungen sind von Restaura­tor:innen zu überdenken, ­Decision Making-Modelle, in denen Ursprungsgemeinschaf­ ten ein großes Mitspracherecht haben, müssen zu neuen Lösungen führen. Die genannten restaurierungsethischen Grundsätze, Vorstellungen von (vermeintlich unendlichem) Erhalt und daraus ab­geleiteten Maßnahmen, werden diesem Veränderungsprozess in Museen sonst nicht gerecht. In Australien wird das Thema schon länger und i­ntensiver in der Restaurierung diskutiert, hier sprechen die Autor:innen von der »Dekolonialisierung 57 Ebd., S. 97-102. 58 Karin Konold / Eva Ch. Raabe, Wertkonflikte im Umgang mit kulturell sensiblem Material. Die Carl-Strehlow-Sammlung des Weltkulturen-Museums in Frankfurt am Main, in: ICOM Deutschland (Hg.), Zur Ethik des Bewahrens, S. 75-84, hier S. 80. 157

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der Restaurierung«, im Zuge derer Restaurierungskonzepte, -praktiken und -grundsätze überdacht werden sollen. Ziel sollen »hybride Restaurierungs­ ansätze« sein, die als interkulturelle oder wertbasierte Restaurierungs­ methoden westliche und indigene Erhaltungspraktiken miteinbeziehen.59 Historischer Wert

Objekte mit einem historischen Wert weisen eine Verbindung zu einem einzelnen historischen Ereignis oder einem definierten Zeitraum auf. Merkmale, die dies verdeutlichen, sind in der Regel zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Alterung vermindert den historischen Wert und legitimiert somit das konservatorische-restauratorische Eingreifen.60 Dennoch altert Kulturgut mit vorrangig historischem Wert, und Materialien verändern sich. Die Kennzeichen sind unter Umständen weniger gut ablesbar, was eine Restaurierung wünschenswert macht. Das Er­greifen von aktiven Maßnahmen widerspricht in diesem Fall dem Belassen des gewachsenen Zustands und bringt die Authentizität ins Spiel. Sie bestimmt das konservatorisch-restauratorische Tun. Nach Appelbaum ist das Authentische eines Objekts der aktuell vorliegende (Material-)Zustand, während sich für viele Betrachter:innen die Authentizität auf das Aus­ sehen zum Zeitpunkt ihres historischen Moments bezieht.61 Diese unterschiedliche Sichtweise führt zu Diskrepanzen zwischen Restaurator:innen und anderen Entscheider:innen. Und nicht immer ist das Authentische klar zu benennen. Wie ließe sich entscheiden, welche der beiden authentischen Zeitschichten zu restaurieren sind, wenn 4000 Jahre alte neolithische Vasen von dem Künstler Ai Weiwei in Acrylfarben getaucht ­wurden? Ästhetischer Wert

Der ästhetische Wert begründet sich häufig in hoher Handwerkskunst, besonderem Einfallsreichtum oder Materialwahl, ansprechender Farbe oder Design. Eine Restaurierungsmaßnahme dient in diesem Zusammen­ hang der Verdeutlichung dieser Charakteristika. Der ästhetische Wert wird, wie bereits angeführt, in den restaurierungsethischen Codices als Legitimation für die Durchführung einer Konservierung-Restaurierung aufgeführt.62 Aber, so Appelbaum, restaurieren, damit ein Objekt einfach nur besser aussieht, entspricht nicht den restaurierungsethischen 59 Ebd., S. 83. 60 Appelbaum, Conservation Treatment Methodology, S. 95-97. 61 Ebd., S. 97. 62 Siehe ICOMOS, Charta von Venedig, und ICOM, Code of Ethics. 158

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Grundsätzen und hat keine Legitimation in der Entscheidungsfindung.63 Hier besteht also eine Diskrepanz, die sich in der Praxis von Restaura­ tor:innen häufig zeigt. Wie lässt sich anhand eines stark verbräunten Gemäldefirnis, eines angeschlagenen Designobjekts oder einer angelaufenen Silberkanne in einer Kunstkammersammlung der ästhetische Wert ablesen? Deshalb folgen Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen eher dem Neuheitswert nach Riegl und damit dem Wiederherstellen ­eines geschlossenen, einheitlichen Ganzen, dem Beseitigen von Altersspuren und Schäden sowie Stilreinheit.64 Finanzieller Wert

Den E . C . C . O.-Guidelines zufolge sollen Restaurator:innen ungeachtet des Marktwertes eines Objekts handeln.65 Der finanzielle bzw. Marktwert unterliegt starken Schwankungen und ist besonders abhängig von persönlichen Vorlieben, Sammelmoden, Anlageformen etc. Er ist demnach kein greifbarer und verlässlicher Parameter in der Entscheidung (auch wenn die anderen Wertekategorien ebenso wandelbar sind), ­welche Konservierungs- / Restaurierungsmaßnahmen durchgeführt werden sollen. Dennoch hat der monetäre Wert einen großen Einfluss auf die ­Arbeit von Restaurator:innen in Museen und den Erhalt von Kunst und Kultur­gut. Die Öffentlichkeit und der Kunstmarkt führen eine Bewertung von Kunst und Kulturgut gemäß ihrem monetären Wert durch. In der Regel sind es Kunstwerke,66 vor allem Gemälde, die höhere Preise erzielen als Kunsthandwerk oder Alltagsgegenstände. Aber auch das ­Kriterium der Einzigartigkeit (vs. Masse) schlägt sich im monetären Wert von Kunst und Kulturgut nieder. Vielleicht wird deshalb die Frage, ob eine zeitlich aufwendige Konservierung-Restaurierung durchgeführt werden soll, eher für Objekte positiv beantwortet, die einen hohen mone­ 63 64 65 66

Appelbaum, Conservation Treatment Methodology, S. 93 ff. Riegl, Der moderne Denkmalkultus, S. 25. E . C . C . O., Code of Ethics (2003), Artikel 7, S. 2. Der monetäre Wert ist eng verknüpft mit dem Kunstwert. Bei diesem handelt es sich um einen kulturellen Wert, und jedes Objekt, das als Kunst angesehen wird, hat einen Kunstwert. Das können auch Objekte in einem Museum sein, die ursprünglich nicht als Kunstwerk geschaffen wurden, sondern zum Beispiel einen religiösen, politischen, musischen oder dekorativen Hintergrund aufweisen. Aber die Ästhetik der Objekte bleibt ein zentrales Merkmal. Objekte berühmter Künst­ ler:innen werden als wertvoller erachtet, haben einen höheren wissenschaftlichen und historischen Wert. In der Restaurierung führt das Aussehen eines Objekts, das beim Kunstwert vorrangig zu sein scheint, zu Meinungsverschiedenheiten, vor ­allem was Alterswert, Neuwert, historischen Wert und assoziativen Wert angeht. Appelbaum, Conservation Treatment Methodology, S. 89-93. 159

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tären Wert haben. Restaurator:innen kommen leicht in Erklärungsnot, wenn sie für die Restaurierung eines Blechschildes die gleiche Stundenanzahl für eine Restaurierungsmaßnahme veranschlagen wie z. B. bei ­einem königlichen Diadem (»Ist das denn die viele Mühe wert?«). Dennoch kann der Aufwand, der konservatorisch-restauratorisch betrieben wird, häufig den Marktwert eines Objektes übersteigen, so auch bei Objekten der Bodendenkmalpflege. Dass auch der Materialwert eines Objektes nicht ausschlaggebend für das Restaurierungs- und Konser­ vierungskonzept ist, zeigt folgendes Beispiel. Der Materialwert eines Werkes von Albrecht Dürer aus dem 15. Jahrhundert entspricht dem ­einer zusammengesetzten Holztafel, Grundierung und Farbschichten und sicher nicht seinem Marktwert oder künstlerischem Wert. Deshalb lohnt es sich, wie John Ruskin im 19. Jahrhundert bereits propagierte, den Wert eines Objektes auch in der Zeit, die ein Handwerker oder Künstler für seine Herstellung aufwendet, zu be­gründen.67 Unumstritten dürfte sein, dass sich der Wert einer Konservierung-­ Restaurierung nicht nur an der am Objekt ablesbaren Tätigkeit bemisst, so Weyer, sondern auch nach dem Werterhalt – unabhängig vom Marktwert.68 Die Beantwortung der Frage, ob die Konservierung-Restaurierung von Kunst und Kulturgut finanziell wertsteigernd ist, fällt je nach Gattung hingegen unterschiedlich aus. So werden in der Regel Gemälde der Alten Kunst, des Kunsthandwerks, Möbel oder archäologische Objekte monetär mehr wert durch eine Konservierung-Restaurierung. Bei historischen Automobilen oder Blechspielzeugen erzielt hingegen momentan ein unrestaurierter Zustand Höchstpreise. Es ist anzunehmen, dass dies der Kunsthandel beeinflusst – in die eine wie auch in die andere Richtung. Schlussbetrachtung Die Konservierung-Restaurierung hat sich in den letzten Jahrzehnten von einem Handwerksberuf69 zu einer wissenschaftlichen Disziplin (Kon­ servierungs- und Restaurierungswissenschaften) entwickelt. Das bedingt eine stetige Professionalisierung der Methoden des Erhalts von Kultur­ erbe. Der Wandel zeigt sich nicht nur in der Vernetzung mit anderen Fachdisziplinen, sondern in einem breiteren Verständnis für Materialien, 67 Bäschlin, Fragile Werte, S. 88. 68 Weyer, Restaurierungsethik, S. 349 f. 69 Die Aussage soll nicht als Herabsetzung des Handwerks verstanden werden. Das Handwerk hat wichtige Aufgaben im Erhalt von Kulturerbe, vor allem in der Denkmalpflege, wie z. B. in der Anwendung historischer Techniken. 160

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deren Alterungsprozesse und Wechselwirkungen. Dabei muss von Restau­ rator:innen im Blick behalten werden, dass das Wissen um Werkstoffe in der Konservierung-Restaurierung stetig voranschreitet, die enge Zusammenarbeit mit den Materialwissenschaften stellt deshalb ein wichtiges Gebiet innerhalb des Bestandserhalts dar. Vor allem der wissenschaftstheoretische Diskurs über die Konservierung-Restaurierung selbst, deren Definition, Weiterentwicklung, aber auch Positionierung in der Wissenschaftslandschaft, gewinnt in den letzten Jahrzehnten an Fahrt.70 An und für Museen arbeiten heute überwiegend Restaurator:innen mit einem akademischen Abschluss.71 Sie werden in der Regel erst tätig, wenn die Objekte im Besitz bzw. in Obhut eines Museums sind. Die Ent­ scheidungen, was, warum in eine Sammlung kommt, treffen Restaura­ tor:innen meist nicht (mit), wobei deren Einbeziehung sinnvoll wäre (z. B. bei Beurteilung bezüglich möglicher Kontamination, Schädlingsbefall, Echtheit, Alterung von Materialien wie Kunststoffen sowie Einschätzung des personellen Aufwands, der Kosten für Konservierung-Restaurierung und langfristige Lagerung). An der Stelle der Transformation von Dingen zu Sammlungsobjekten ließe sich unter Einbeziehung der Restaurator:innen aus deren Erfahrungsschatz der zu erwartende zeitliche und monetäre Aufwand den Wertekategorien entsprechend gegen­überstellen und innerhalb der unterschiedlichen Interessensgruppen abwägen. Das ermöglicht mit gezieltem Aufwand, möglichst viele Objekte zu erhalten bzw. den Fokus auf jene zu legen, die es besonders wert sind, bewahrt zu werden. Die Auseinandersetzung mit Werten in der Konservierung-Restaurierung hat gezeigt, dass die restaurierungsethischen Codices und die Modelle zur Maßnahmenfindung theoretische Grundlagen für das Handeln als Restaurator:in darstellen, allerdings definieren sie Werte und deren konkreten Umgang im Zuge der Konservierung-Restaurierung von Kunst und Kulturgut nicht. Das führt zu Unklarheiten und unter Umständen zu einem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis. Da­neben fehlen die Empfehlungen im Umgang mit den Fragen, warum, wofür und für wen die Konservierungs- und Restaurierungsprozesse durchgeführt werden. Sie sind trotzdem die Basis für die Planung und Umsetzung von Maß­ nahmen, die Restaurator:innen zum jetzigen Zeitpunkt ethisch vertreten können, und die Beschreibung der Grenzen des Machbaren. Modelle des Decision Making ermöglichen es Restaurator:innen, intensiv abzuwägen, 70 Paul Bellendorf (Hg.), Quo vadis Konservierungswissenschaften? Status quo, Heraus­f orderungen und Perspektiven (DBU-Umweltkommunikation, Bd. 13), Mün­ chen 2019. 71 Übersicht der deutschsprachigen Hochschulen: https://www.restauratoren.de/be ruf/ausbildung/ausbildungsstaetten/ [Abruf: 23. 2. 2022]. 161

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und bieten Hilfestellungen bei der Strukturierung und Planung von Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen. Dennoch ist eine Weiterentwicklung bezüglich Wertdefinitionen in der Konservierung-Restaurierung erstrebenswert. Sicher ist nämlich, dass es durch die Konservierung-Restaurierung von Objekten zur Verstärkung ein­ zelner Wertekategorien kommen kann, aber auch zur Abschwächung oder gar Tilgung. Restaurator:innen sind sich der Verantwortung bewusst. Es wäre sinnvoll, Decision Making-Modelle und Diskussionen über Wert­ begriffe in der Denkmalpflege auf bewegliches Kulturgut, vor allem archäo­ logische, ethnologische und kunsthandwerkliche Objekte, zu übertragen. Daneben sollten die Wertbegriffe im Sinne der Konservierung-Restaurierung erarbeitet, in berufsethische Codices eingearbeitet und damit Antwort auf Diskrepanzen zwischen den restaurierungs­ethischen Grundsatzpapieren und dem konkreten Umgang mit Werten gegeben werden. Ein großes Thema darüber hinaus ist der Umgang mit Objekten aus kolonialem Kontext oder Human Remains.72 Hier müssen hiesige Vorstellungen zum Erhalt, restaurierungsethische Codices sowie Materialien und Techniken der Konservierung und Restaurierung diskutiert werden. Der Umgang aus Sicht der Konservierung-Restaurierung mit kolonialem Erbe, menschlichen Überresten, Raubgut etc. in Sammlungen deutscher Museen ist eine spannende Aufgabe – nicht nur infolge einer Not­ wendigkeit aufgrund des Wandels in den Museen, sondern auch, um die eigenen restauratorischen (Wert-)Vorstellungen zu überdenken. Für all diese Abwägungen, Diskussionen, Weiterentwicklungen und Mo­ delle der Einbindung von Entscheidungsträgern sollten die Restaurierungs­ hochschulen im Sinne der Konservierungs- und Restaurierungswissenschaften eine aktive Rolle übernehmen. Und es braucht Zeit – Zeit, die (auch) Restaurator:innen in Museen in der Regel nicht haben – sowie eine Diskussion über die Rolle von Res­ taurator:innen in Institutionen und deren Einbindung in Entscheidungs­ prozesse. Nur im Dialog und auf Augenhöhe, mit möglichst vielen (museumsinternen und -externen) Interessensgruppen, kann nachhaltig über das »Schicksal« von Museumsgut entschieden werden. Die Diskussionen über Wertekategorien helfen, Maßnahmen zu reflektieren, Fehler in der Konservierung-Restaurierung zu vermeiden, Ressourcen einzu­ teilen und Kunst und Kulturgut bestmöglich und nachvollziehbar für nach­f olgende Generationen zu erhalten. 72 Deutscher Museumsbund, Leitfaden Umgang mit menschlichen Überresten in Mu­ seen und Sammlungen, https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/2021/­ 06/dmb-leitfaden-umgang-menschl-ueberr-de-web-20210623.pdf [Abruf: 24. 2. 2022]. 162

Tobias Schade

Musealisierung und Museumsleben Wertbildungen am Beispiel der Kon-Tiki

Die Kon-Tiki ist ein Floß aus Balsaholz, das 1947 zur Überquerung des ­Pazifiks erbaut wurde und heute im Kon-Tiki-Museum in Oslo aus­ gestellt ist.1 Als zentrales Exponat2 des Museums ist es nicht nur Namensgeber der Institution, sondern auch Ziel vieler Tourist:innen.3 Im Gegensatz zu anderen in kulturhistorischen Museen ausgestellten Wasserfahrzeugen sind Informationslage und Quellenüberlieferung zu der Kon-Tiki und der Kon-Tiki-Expedition sehr dicht: Nicht nur das Floß selbst oder damit assoziierte Objekte sind bekannte und erhaltene Informationsträger, sondern ebenso die vielfältigen Zeugnisse der Crew bzw. über die Crew und die Reise, so etwa in Form von zeitgenössischen Berichten wie Zeitungsbeiträgen, Filmaufnahmen und Büchern. Aber auch zeitlich spätere Verarbeitungen in Kunst, Medien und Forschung, wie sie etwa im Bau der Replikate, als Merchandise, in der Spielfilm­ adaption oder eben auch in der musealen Präsentation und Narration deutlich werden, sind wichtige Informationsträger. Gerade durch die museale Präsentation – durch die Vermittlung von Wissen, Tradierung von Narrativen, Inszenierung4 des Objekts sowie 1 Die Forschungen wurden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen des SFB 1070 RessourcenKulturen (Projektnummer 215859406) gefördert. Mein Dank gilt auch Thomas Thiemeyer und Aikaterini Filippidou (beide Projekt C07) für den Austausch und die Diskussionen im Projekt sowie Johanna Gebühr und Beat Schweizer. Ebenfalls danke ich den Mitarbeiter:innen des Kon-Tiki-Museums Oslo, im Speziellen Reidar Solsvik, für ihre freundliche Unterstützung vor Ort und per E-Mail. 2 Der ehemalige Museumsdirektor Knut Haugland bezeichnete es 1989 als Eckstein / Grundpfeiler in der Museumsausstellung: vgl. Knut M. Haugland, Kon-Tiki ­Museet 40 år, in: Arnold Jacoby (Hg.), Thor Heyerdahl. Festskrift til 75-års dagen 6. oktober 1989, Larvik 1989, S. 65-74, hier S. 65. 3 Nach eigener Angabe des Kon-Tiki-Museums waren es seit 1950 ca. 20 Millionen Gäste, siehe https://www.kon-tiki.no/museum/ [Abruf: 28. 5. 2021]. 2019 besuchten laut Norges Museumsforbundet ca. 185.000 Gäste das Museum, während es im Naturhistorischen Museum (mit den meisten Besuchen) ca. 786.600 Gäste waren (https ://museumsforbundet.no/wp-content/uploads/2020/03/Statistikk-for2019-museumsforbundets-bes%C3%B8kstall.pdf [Abruf: 28. 5. 2021]). 4 Thomas Thiemeyer, Inszenierung, in: Heike Gfrereis / ders. / Bernhard Tschofen (Hg.), Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen 2015, S. 45-62. 163

tobias schade

Schaffung einer Atmosphäre5 und die Konstruktion von Geschichts­ bildern – zeichnen sich verschiedene Modi von Bewertungen ab. Dies trifft aber auch auf das Branding der Kon-Tiki sowie die Narration der Geschichte, in der Trias Ereignis – Person – Objekt, sowohl in Filmen und Büchern als auch im Museum zu. Denn verschiedene Werte werden von verschiedenen Akteuren, Gruppen und Institutionen aufgrund von Machtverhältnissen, Altersanmutungen und Wissensordnungen im Kontext sozialer Prozesse und Praktiken zugeschrieben – und auch durch Dritte verarbeitet, bestätigt oder ab­ gelehnt.6 Bewertungen und Inwertsetzungen sind wichtige Vorgänge bei der Konstruktion von Bedeutungen: So können materielle und immaterielle Dinge im Kontext von Praktiken in Wert gesetzt und zu kulturell kon­ struierten Ressourcen werden, die für Gruppen und Gesellschaften einen Wert erhalten.7 Das Ding im Museum – bei Stránský das »museum object«8 und bei Korff das »Museumsding«9 – kann etwa als Ressource betrachtet und dementsprechend analysiert werden. Dabei sind diese Ressourcen zusammen mit anderen Komponenten wie Rohstoffen, Werk­ zeugen, Akteuren, Praktiken, Techniken, Medien, Räumen, Institutionen, Macht, Wissens- und Glaubensordnungen in netzwerkartige Struk5 Dazu u. a. Gernot Böhme, Atmosphere as the Fundamental Concept of a New Aesthetics, in: Thesis Eleven 36 (1993), S. 113-126; Christina Kerz, Atmosphäre und Authentizität. Gestaltung und Wahrnehmung in Colonial Williamsburg, Virginia (USA), Stuttgart 2017; Gernot Böhme, Atmosphere (sensu Gernot Böhme), in: Online Encyclopedia Philosophy of Nature / Online Lexikon Naturphilosophie, 2021, https:­//journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/oepn/article/view/80607 [Ab­ ruf: 10. 5. 2022]. 6 Vgl. zum Wert der Dinge und verschiedenen Wertbildungen im Museum auch Tobias Schade, Das »Nydamboot« im Museum. Inwertsetzungen und Präsentationen im Wandel der Zeit, in: Archäologie in Schleswig 18 (2020), S. 139-157. 7 Vgl. zum Ressourcenkonzept beispielsweise Roland Hardenberg / Martin Bartelheim / Jörn Staecker, The ›Resource Turn‹: A Sociocultural Perspective on Resources, in: Anke K. Scholz / Martin Bartelheim / Roland Hardenberg / Jörn Staecker (Hg.), ResourceCultures: Sociocultural Dynamics and the Use of Resources – Theories, Methods, Perspectives (RessourcenKulturen, Bd. 5), Tübingen 2017, S. 13-23; Martin Bartelheim / Roland Hardenberg / Thomas Scholten, Ressourcen – RessourcenKomplexe – RessourcenGefüge – RessourcenKulturen, in: Tobias Schade / Beat Schweizer / Sandra Teuber / Raffaella Da Vela / Wulf Frauen / Mohammad Karami / Deepak Kumar Ojha / Karsten Schmidt / Roman Sieler / Matthias S. Toplak (Hg.), Exploring Resources. On Cultural, Spatial and Temporal Dimensions of ResourceCultures (RessourcenKulturen, Bd. 13), Tübingen 2021, S. 9-22. 8 Zbyněk Zbyslav Stránský, Originals versus Substitutes, in: ICOFOM Study Series 8 /9 (1985). Originals and Substitutes in Museums. Comments and Views, S. 95-114. 9 Gottfried Korff, Museumsdinge: deponieren – exponieren, hg. von Martina Eberspächer / Gudrun König / Bernhard Tschofen Köln 2007. 164

musealisierung und museumsleben

turen eingebunden,10 die sich auch in diachronen Perspektiven anhand verschiedener Prozesse, Dynamiken, Verbindungen und Veränderungen als Gefüge nachzeichnen lassen.11 Dies betrifft etwa die Einbettung der Kon-Tiki in eine museale Ausstellung, aber auch die veränderten Bewertungen der Kon-Tiki durch die Zeit, wie nachfolgend dargestellt wird. Dabei unterliegen die Bewertungen nicht nur kontingenten Prozessen, materiellen Eigenschaften, institutionellen Vorgaben, personellen Entscheidungen, finanziellen Abwägungen, Sachzwängen und fachlichen Praktiken, sondern auch individuellen Wahrnehmungen, Rezeptionen und Zuschreibungen von Museumsbesucher:innen. Dinge werden bewertet und in der Folge musealisiert und in Wert gesetzt; dabei finden im Rahmen ihres »Museumslebens«12 auch weitere Be-, Ver- und Umwertungen statt und legen so drei analytische Kategorien der Inwertsetzung (»Davor – Dazwischen – Danach«) nahe. Vordergründig spiegelt sich in dieser Abfolge eine idealtypische, temporale ­Linearität der drei Kategorien wider – im Sinne dreier Stationen der Bewertung und Inwertsetzung –, die verschiedene Perspektiven auf die Biografie13 bzw. das Leben14 eines Dings zulassen.15

10 Zu »RessourcenKomplex« vgl. Sandra Teuber / Beat Schweizer, Resources Redefi�ned. Resources and ResourceComplexes, in: Sandra Teuber / Anke K. Scholz / Thom�as Scholten / Martin Bartelheim (Hg.), Waters. Conference Proceedings for­­›Waters as a Resource‹ of the SFB 1070 ResourceCultures and DEGUWA (Ressourcen­ Kulturen, Bd. 11), Tübingen 2020, S. 9-19; siehe auch Bartelheim u. a., Ressourcen. 11 Zu »RessourcenGefüge« vgl. Matthias S. Toplak, Konstruierte Identitäten – Inszenierte Rea­litäten. Bestattungen als Medium des sozialen Diskurses am Beispiel der skandinavischen Wikingerzeit, in: Schade u. a. (Hg.), Exploring Resources, S. 4979; siehe auch Bartelheim u. a., Ressourcen. 12 »Museumsleben« meint hier die Biografie des Dings im Museum; vgl. dazu Nina Hennig, Objektbiographien, in: Stefanie Samida / Manfred K. H. Eggert /Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart 2014, S. 234-237; siehe auch Michael Gebühr, Kampfspuren an Waffen des Nydam-Fundes, in: Thomas Krüger / Hans-Georg Stephan (Hg.), Beiträge zur Archäologie Nordwestdeutschlands und Mitteleuropas. Klaus Raddatz zum 65. Geburtstag am 19. November 1979, Hildesheim 1980, S. 69-84, hier S. 69; Igor Kopytoff, The cultural biography of things: commoditization as process, in: Arjun Appadurai (Hg.), The social life of things. Commodities in cultural perspec� tive, Cambridge 1986, S. 64-91. 13 Kopytoff, The cultural biography of things. 14 Gebühr, Kampfspuren an Waffen des Nydam-Fundes. 15 Aber auch eine räumliche Verortung der drei Kategorien wäre möglich. 165

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Vom Experiment zum Exponat – Die Musealisierung der »Kon-Tiki« Die Kon-Tiki wurde 1947 erbaut mit dem Ziel, den Pazifik zu über­ queren und von Südamerika zu den polynesischen Inseln zu gelangen. Der zentrale Akteur hinter diesem Vorhaben war Thor Heyerdahl, der mit dieser Expedition die Machbarkeit seiner These demonstrieren ­wollte, dass Menschen schon in präkolumbischer Zeit diese Strecke mit ähnlichen Flößen zurückgelegt haben könnten.16 Entgegen dem wissenschaftlichen Konsens postulierte Heyerdahl eine Besiedlung Polyne­siens von Südamerika aus, was von vielen genauso angezweifelt wurde wie die Möglichkeit, dass in dem vorgeschichtlichen Südamerika Wasserfahr­ zeuge existiert haben könnten, mit denen die Reise über den Pazifik möglich gewesen wäre.17 Nach Andersson und Wahlberg war ein Ziel, »to provide an authentic reenactment of a prehistoric sea journey«.18 So ist es möglich, die KonTiki-Reise als Experiment oder Reenactment einer als historisch ima­ ginierten Situation zu betrachten, auch wenn das Floß selbst nicht auf konkreten, materiellen Vorlagen aus der historischen Zeit beruhte, sondern auf verschiedenen Bild- und Schriftquellen und rezenten Vor­ bildern. Da das Floß nur für dieses spezielle Vorhaben erbaut wurde, war es auch nur für eine kurze Zeit in Nutzung und verlor nach seinem Gebrauch, nachdem es am Ende der Reise auf einem Atoll gestrandet war, sowohl seine Funktion als auch seinen primären Wert für die Crew: 16 Heyerdahls Theorien und Beweggründe sind nicht unmittelbar Thema dieses Beitrags, sind jedoch im Rahmen von Musealisierung und Museumsleben zu berücksichtigen; für weitere, auch kritische, Betrachtungen vgl. u. a. Axel Andersson, A Hero for the Atomic Age. Thor Heyerdahl and the Kon-Tiki Expedition, Witney 2010; Donald Ryan, Thor Heyerdahl. The Man and His Philosophy, in: Ingjerd Hoëm (Hg.), Thor Heyerdahl's Kon-Tiki in New Light (The Kon-Tiki Museum Occasional Papers), Larvik 2014, S. 11-21; Scott Magelssen, White-Skinned Gods. Thor Heyerdahl, the Kon-Tiki Museum, and the Racial Theory of Polynesian Origins, in: The Drama Review 60 /1 (2016), S. 25-49; Victor Melander, David’s Weapon of Mass Destruction. The Reception of Thor Heyerdahl’s ›Kon-Tiki ­Theory‹, in: Bulletin of the History of Archaeology 29 /1 (2019), S. 1-11. 17 Reidar Solsvik, Science as Adventure. The Kon-Tiki and the Theory behind it Told to New Generations, in: Hoëm (Hg.), Thor Heyerdahl’s Kon-Tiki, S. 155-168, hier S. 159. 18 Axel Andersson / Malin Wahlberg, In the Wake of a Postwar Adventure. Myth and Media Technologies in the Making of Kon-Tiki, in: Eirik Frisvold Hanssen / Maria Fosheim Lund (Hg.), Small Country, Long Journeys: Norwegian Expedition Films, Oslo 2017, S. 178-211, hier S. 184 (Kursivierung im Original). 166

musealisierung und museumsleben

»Once in Polynesia the raft served no further purpose.«19 Dennoch wurde es von der Crew zusammen mit den Bewohner:innen des Atolls an Land geholt und der Mast geschient sowie aufgerichtet – die Crew konnte sich nach Aussage von Heyerdahl nicht von der Ausrüstung trennen.20 Es ist gut vorstellbar, dass das Floß und die Ausrüstung durch die erfolg­ reiche Reise sowie die abenteuerlichen Erlebnisse, mit und auf diesem, neue emotionale und individuelle Bedeutungen erhielten. Nur kurz nach dem Ereignis veröffentlichte Heyerdahl 1948 ein Buch über den Bau und die Reise des Floßes21 sowie 1950 eine Filmdokumentation mit Originalaufnahmen. Mittels verschiedener Medien popularisierte Heyerdahl die Reise der Kon-Tiki,22 sodass das historische Ereignis, die Erlebnisse der Reise und das damit verbundene Wissen nicht nur bewahrt, sondern auch tradiert wurden. In dieser Medialisierung begründet sich auch der Mythos der Kon-Tiki.23 Dabei sind die Person Thor Heyerdahl, das Ereignis der Reise, die wissenschaftliche Hypothese, die Narration in den Medien und das Objekt (Floß) miteinander verwoben. Die Grundlage dieser Entwicklung bildeten das Buch und die Dokumentation, die beide schon früh populär wurden. So wurde das Buch in verschiedene Sprachen übersetzt sowie in mehreren Auflagen veröffentlicht und die Filmdokumentation wurde mit einem Academy Award für das Best Documentary Feature ausgezeichnet.24 Zuerst wurde also das Ereignis durch das Narrativ in Wert gesetzt und damit auch die Person Heyerdahl. Denn die Begründung für das Er­ eignis – die Expedition bzw. das Experiment – lag in erster Linie in 19 Solsvik, Science as Adventure, S. 160. 20 Thor Heyerdahl, Kon-Tiki. Ein Floß treibt über den Pazifik. Aus dem Norwegischen von Karl Jettmer, Wien 1956, S. 149 und 152. 21 Grundlage für diesen Beitrag bildet die deutsche Ausgabe von 1956: Heyerdahl, Kon-Tiki. 22 Andersson legt detailliert dar, wie es Heyerdahl gelang, die Marke Kon-Tiki zu etablieren – auch um Geld zu verdienen (Andersson, A Hero for the Atomic Age, S. 53-72; vgl. auch Andersson / Wahlberg, In the Wake of a Postwar Adventure, S. 186-189); Solsvik zeichnet das Bild eines Mannes, der seine Geschichte vermarktete und seine Theorie popularisierte – einerseits, weil ihm der wissenschaftliche Aspekt der Reise wichtig war, andererseits, weil er dafür sorgen wollte, dass möglichst viele Menschen seine Geschichte hörten (Solsvik, Science as Adventure, S. 160 f.). 23 Nach Wahlberg war Heyerdahl aktiv an einem »Mythmaking« beteiligt, dies auch mittels Narrativierung der Geschichte und der Reise in Form der Dokumentation von 1950 »in terms of post-war realism« (Malin Wahlberg, Adventures in murky waters. The enactment and commemoration of Kon-Tiki, in: Journal of Scandina� vian Cinema 3 /2 [2013], S. 141-149, hier S. 142). 24 Ryan, Thor Heyerdahl, S. 13. 167

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Heyerdahls diffusionistischer Hypothese, die er durch eine praktische Machbarkeit belegen wollte. Die prominente Rezeption sowie der mediale Erfolg seiner Reise waren aber schlussendlich weniger in der wissenschaftlichen Theorie Heyerdahls begründet – die ihm selbst wichtig war, die in der wissenschaftlichen Fachwelt auch nach seiner Expedition jedoch nicht überzeugte25 –, sondern in dem Ereignis, in »The story of the Kon-Tiki and the six men who drifted 8,000 km on a primitive raft«,26 also in dem Abenteuer.27 Das Ereignis wurde daher bedeutender als die Theorie und auch in der aktuellen Ausstellung (Stand 2018) wird die Theorie hinter der Expedition zwar erwähnt, ist aber nicht relevant für die Inszenierung und Ausstellung des Floßes.28 Hier steht mehr das Ereignis im Fokus – »THE RAFT VOYAGE NO ONE THOUGHT POSSIBLE«.29 Heute ist die Kon-Tiki vor allem als Symbol für Heyerdahls Abenteuer bekannt und war eine Marke für Thor Heyerdahl, der diese begründete und nutzte,30 und ist noch heute eine Marke für das Museum, das unter anderem Kon-Tiki bezogenes Merchandise anbietet und nach dem Floß benannt ist. Das Objekt selbst gewann aber nachträglich erneut an Bedeutung und dies änderte sich im Verlauf der Musealisierung und Rezeptionsgeschichte. Nach Auskunft von Knut M. Haugland, dem ersten Direktor des KonTiki-Museums sowie Teilnehmer der Kon-Tiki-Expedition, war ursprüng­ lich nicht geplant, das Floß auszustellen. So gibt er Heyerdahl mit der Aussage wieder, dass das gestrandete und beschädigte Floß, so wie es dort 25 Melander beschreibt zwar, dass das Experiment von der Fachwelt durchaus wohlwollend aufgenommen wurde, dass die Reviewer jedoch nicht von Heyerdahls Hypothese bzw. Theorie überzeugt waren (Melander, David’s Weapon of Mass Destruction, S. 7). 26 Solsvik, Science as Adventure, S. 156. 27 Heyerdahl sah seine Reise selbst als Beitrag zur Forschung: vgl. dazu Willy Østreng, The Science Vision and Practice of Thor Heyerdahl in Critical Light, in: Hoëm (Hg.), Thor Heyerdahl's Kon-Tiki, S. 71-93; Ryan, Thor Heyerdahl; Andersson und Wahlberg betonen hingegen die Bedeutung des Abenteuers (Andersson / Wahlberg, In the Wake of Postwar Adventure), in dem »science simply ­vouched for the purity of the enterprise« (Andersson, A Hero for the Atomic Age, S. 100); nach Solsvik war die Expedition sowohl ein wissenschaftliches Unter­ fangen als auch ein Abenteuer (Solsvik, Science as Adventure). 28 Die Theorie wird u. a. in folgenden Modulen erwähnt: »IN PURSUIT OF ­PARADISE – A THEORY IS BORN« (Modul FATU-HIVA 1937-1938); »An idea comes to life« und »A theory born out of opposition« (Modul KON-TIKI); zur Kontextualisierung der Theorie im Museum äußerte sich Magelssen kritisch: ­Magelssen, White-Skinned Gods, S. 42f. 29 Untertitelung des Ausstellungsmoduls »KON-TIKI«. 30 Andersson, A Hero for the Atomic Age. 168

musealisierung und museumsleben

liegen würde, ein würdiges Monument sei.31 Andererseits wollte die Crew nach Aussage von Heyerdahl das Floß nicht auf dem Riff ver­bleiben lassen, sondern es bergen.32 Und kurz darauf waren Haugland sowie Gerd Vold Hurum, die Expeditionssekretärin, maßgeblich daran beteiligt, das Floß nach Norwegen zu verbringen.33 Noch im selben Jahr kam das Floß nach Oslo, wo es einige Zeit ungeschützt den Umwelt­einflüssen aus­ gesetzt und materiellen Veränderungen unterworfen war:34 Jugendliche feierten Partys auf dem Floß und ritzten ihre Namen in das Holz; ­Souvenirsammler entfernten ein paar Stücke und Teile des Floßes wurden auch durch Crewmitglieder verschenkt. Aus einem Werkzeug im Rahmen eines medial inszenierten Experiments war das Zeugnis eines Ereignisses geworden, das es wert war, nach Norwegen zurückgebracht zu werden. Dort blieb es vorerst aber ein Wrack, das dennoch Aufmerksamkeit auf sich zog und auch als Erlebnis bzw. Kuriosität und Souvenirlieferant Bedeutung erhielt. Parallel gab es in Oslo aber Bestrebungen, die Kon-Tiki auszustellen und für diesen Zweck wurde auch ein Komitee gegründet.35 Ab 1950 wurde das Floß in dem eigens errichteten Kon-Tiki-Haus ausgestellt.36 Das Floß wurde zum Exponat – und der damit verbundene neue Wert wurde gerade durch die Lage des Museums auf der Halbinsel Bygdøy (Oslo) deutlich. Es befindet sich neben dem Frammuseet und dem Norsk Maritimt Museum und in der Nähe des Vikingskipshuset, die ­allesamt auf die maritime Tradition und Identität Norwegens verweisen, im Sinne einer »wider Norse seafaring tradition«,37 dies betrifft beispielsweise die Polarexpedition (Fram) sowie das Geschichtsbild der sogenannten Wikinger als Seefahrer, Seeräuber, Händler, Entdecker und Eroberer. Nach Ansicht von Axel Andersson und Malin Wahlberg wird dies auch an der Kon-Tiki-Dokumentation (1950) deutlich, die dazu diente, »to bridge the present and the past as a significant Norwegian symbol of national identity«.38 31 32 33 34

Haugland, Kon-Tiki Museet 40 år, S. 65f. Heyerdahl, Kon-Tiki, S. 149. Solsvik, Science as Adventure, S. 160. Freundliche Mitteilung von Reidar Solsvik, Kurator des Kon-Tiki-Museums Oslo (2018); hierzu ist auch ein Beitrag des Autors in Vorbereitung: »Different Materia�lities – Different Authenticities? Considerations on Watercraft Exhibited in Museums«; vgl. dazu auch Haugland, Kon-Tiki Museet 40 år; Magelssen, WhiteSkinned Gods. 35 Haugland, Kon-Tiki Museet 40 år, S. 66 f. 36 Ebd., Abb. auf S. 66 f; hier auch S. 68. 37 Vgl. Andersson / Wahlberg, In the Wake of a Postwar Adventure, S. 179. 38 Ebd. 169

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Die Berühmtheit des Floßes basierte zwar auch auf seinem Alter und der Materialität, vor allem aber auf seiner Biografie – als Element des Ereignisses –, der Narration und auf der Person Heyerdahl, seinem Schöpfer. In diesem Gefüge wurde das Floß in Wert gesetzt und in dieser Hinsicht war die Kon-Tiki nicht nur ein Überrest des historischen Ereignisses, sondern vor allem auch ein Beweis und Zeuge39 für Heyerdahls Experiment und das damit einhergehende Narrativ der Hochseetauglichkeit der für prähistorische Zeiten postulierten Flöße. Die Gründe der Inwertsetzung sind vermutlich dem besonderen Zeitpunkt geschuldet: Zum einen war vor allem in den 1930er bis 1960er Jahren das Phänomen des sogenannten Polynesian Pop (Tiki-Kultur) existent, das eine Sehnsucht nach einem idealisierten Südseeparadies widerspiegelte und das durch aus dem Pazifik zurückkehrende US -­ ­ Soldaten verstärkt wurde.40 Zum anderen suchten die Menschen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nach Ablenkung und Abenteuern41 und auch andere populär-kulturelle Phänomene erlangten Beliebtheit und Berühmtheit.42 Im Hinblick auf die Kon-Tiki-Dokumentation von 1950 konstatieren Andersson und Wahlberg etwa, sie sei »an escapist narrative perfectly suited to the appetites of post-war movie audiences.«43 Während die Musealisierung hier noch in den Anfängen, in einem »Davor«, begriffen war, zeichneten sich durch die mediale Popularisierung Heyerdahls dennoch Inwertsetzungsprozesse ab, die eine heutige Erinnerungskultur um »one of history’s most famous explorers«44 und den Mythos Kon-Tiki, und damit verbundene populär-kulturelle Verwertungen, vorweggriffen. Diese Prozesse wären mitunter zwar dem Wertungsstadium »Danach« zuzuordnen, wirkten im Fall der Kon-Tiki aber auch schon im »Davor« und begünstigten die schon früh einsetzende Musea­ lisierung.

39 Thomas Thiemeyer, Work, specimen, witness. How different perspectives on ­museum objects alter the way they are perceived and the values attributed to them, in: Museum & Society 13 /3 (2015), S. 396-412. 40 Andersson, A Hero for the Atomic Age, S. 161-163. 41 Thor Heyerdahl Jr., Foreword, in: Hoëm (Hg.), Thor Heyerdahl’s Kon-Tiki, S. 5. 42 Solsvik, Science as Adventure, S. 155 f. 43 Andersson / Wahlberg, In the Wake of a Postwar Adventure, S. 206. 44 The Kon-Tiki Museum, About Thor Heyerdahl, https://www.kon-tiki.no/thorheyerdahl/ [Abruf: 10. 03. 2022]. 170

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Ein Floß steht im Museum – Das Museumsleben der »Kon-Tiki« Bewertungen von Dingen geben diesen Bedeutungen: So sind Museumsdinge etwa Semiophoren oder Erscheinungsdinge,45 denen verschiedene Bedeutungen zugesprochen werden – je nach persönlichen oder gesellschaftlichen Vorstellungen oder Erwartungen und auch abhängig davon, ob die Dinge im Museum etwa als »Werk«, »Exemplar« oder »Zeuge« inszeniert werden.46 Die Inszenierung der Kon-Tiki änderte sich durch kuratorische Praktiken und auch durch einen Ausstellungswandel. So war die frühe Ausstellung im Kon-Tiki-Haus in den 1950er Jahren sehr klein und nur ­wenige Objekte und das Floß selbst waren ausgestellt.47 Nach einer kurzen Ausstellungstour durch Europa (1954 /55)48 wurde die Kon-Tiki ab 195649 in einem neu errichteten Museum dauerhaft präsentiert. Nach 1958 /59 wurden einige neue Ausstellungen mit Expona­ten (auch Kopien) hinzugefügt, wie etwa die Unterwasserausstellung unter der Kon-Tiki mit Modellen von Fischen und einem Walhai.50 Damit waren nun zwei Perspektiven auf das Floß möglich: Es war von der Wasser­linie aus zu betrachten und zu umrunden – so, als treibe es auf dem Pazifik – und es war von unten in einer Art Unterwasserszenerie an­zuschauen. Dieses neue Ausstellungselement griff damit eine Situation aus Heyerdahls Buch auf, die Begegnung mit der Fauna des Pazifiks, wie es am Beispiel des ausgestellten Walhai-Modells deutlich wird. Vor 2007 gab es offenbar51 kaum größere Änderungen in der Ausstellung: Das Floß stand im Zentrum, auf einer welligen, wie Wasser an­ mutenden Oberfläche und war von mindestens zwei blauen Wänden umgeben. An einer Schmalseite waren Mittel- / Südamerika samt Pazifik mit Reiseroute der Kon-Tiki sowie stilisierte Fische, Vögel und Sonnendarstellungen(?) abgebildet. Diese Inszenierung erweckt einen maritimen sowie exotischen Eindruck. An einer Längswand war eine niedrige Vitrinen­ 45 Zu Museumsdingen im Sinne Gottfried Korffs, auch unter Bezugnahme auf Krzysztof Pomian (Semiophoren) vgl. Thomas Thiemeyer, Museumsdinge, in: Samida / Eggert / Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur, S. 230-233. 46 Thiemeyer, Work, specimen, witness. 47 Der Präsentationsraum scheint kleiner als in späteren Ausstellungen; zumindest an einer Wand waren Fische / Haie abgebildet; vgl. Abb. bei Solsvik, Science as Adven�ture, S. 163 Fig. 47. 48 Haugland, Kon-Tiki Museet 40 år, S. 68. 49 Jahresangabe bei Solsvik, Science as Adventure, S. 163. 50 Haugland, Kon-Tiki Museet 40 år, S. 69. 51 Nach Recherchen des Autors anhand von Fotomaterial sowie Interviews mit Museumsmitarbeiter:innen. 171

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reihe angebracht, an der gegenüberliegenden Wandseite eine Tribüne mit Bänken, die heute (Stand 2018) noch existiert, von der aus Besucher:innen sitzend auf die Kon-Tiki schauen konnten und können. Die Kabine des Floßes war mit Blättern bedeckt und an Deck lagen wenige Objekte wie etwa Taue und Kisten.52 Der Vergleich verschiedener Darstellungen älterer Ausstellungen zeigt, dass in der Zeit kleine Veränderungen in Präsentation und Inszenierung vorgenommen wurden.53 Auch nach 2007 folgte die Ausstellung dem vorherigen Muster. Zusätzlich ist auf Fotos von Museumsbesucher:innen54 zu sehen, dass um 2009 /2011 über dem Floß Vögel befestigt waren und die Vitrinenreihe an der Längswand um große Farbplakate ergänzt wurde, die die Ausstellungs­ ebene erhöhten. 2012 stellte das Museum fest, dass die Kon-Tiki restauriert werden musste. Sie wurde auseinandergebaut sowie neu vertäut und in diesem Kontext auch die Ausstellung aktualisiert.55 Dies geschah nach Angabe des Kurators unter Einfluss des 2012 erschienenen Spielfilms Kon-Tiki. Nicht nur orientierte sich das Museum dabei an der visuellen Ästhetik des Films, sondern arbeitete auch mit einem Büro für Marketing und Design zusammen, das ebenfalls am Marketingmaterial zum Film mit­ gearbeitet hatte.56 Hier beeinflusste ein äußerer Impuls, die populärkulturelle Verwertung durch den Spielfilm im »Danach«, die museale ­Praxis, die Ausstellung und Inszenierung des Objektes im Museum, also quasi im »Dazwischen«. Dabei werden mitunter auch neue Zielgruppen angesprochen, beispielsweise die jungen Museumsbesucher:innen, die die Kon-Tiki oder Thor Heyerdahl nicht mehr aus den Medien, dem Buch oder dem Dokumentarfilm kennen, sondern nur aus dem neuen Spielfilm, und deren durch diesen geprägte Sehgewohnheiten und Erwartungen in der neuen Ausstellung abgerufen werden. Neben der geänderten Inszenierung im Rahmen der Ausstellung hat sich auch der Umgang mit dem Exponat verändert. Anders als zuvor ist beispielsweise das Dach der Kabine in der aktuellen Ausstellung (Stand 2018) nicht mehr mit Blättern bedeckt und auf dem Floß liegen mehr 52 Vgl. Abb. in Reidar Solsvik / Holger Fangel / Cory Grier / Ove Heiborg, Bringing the kids along: creating a new Kon-Tiki exhibition for both parents and children, in: Halina Gottlieb (Hg.), Beyond Control – The Collaborative Museum and its Challenges, Stockholm 2013, S. 11-18, hier S. 13, Fig. 2. 53 Die Postkarten und Fotos konnten im Archiv des Kon-Tiki-Museums eingesehen werden; weitere Informationen auch aus mdl. Mitteilung von Reidar Solsvik. 54 Fotos abgerufen aus der Fotogalerie von tripadvisor.de [Kon-Tiki-Museum] [Abruf: 7. 6. 2021]. 55 Solsvik u. a., Bringing the kids along, S. 12. 56 Ebd. 172

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Gegenstände: Es sind Dinge aus den 1940er Jahren – die aber nicht zwingend von der Expedition selbst stammen – und Replikate, die alle einen Einblick in das Leben und den Alltag an Bord geben (Proviantkisten, Trinkflaschen, Laterne, Geschirr), an das Wissen der Leser:innen des Buches anknüpfen (Gummiboot, Funkgerät)57 und Szenerie samt Floß zudem in das 20. Jahrhundert verorten (Funkgerät inklusive Ballon sowie Benzinkanister). Damit wirkt das Floß auch weniger exotisch bzw. archaisch, sondern eher modern. Das Floß steht in der Mitte der Halle in ­einem blau dekorierten Raum, auf einem blauen Untergrund, sodass in Gänze der Eindruck einer maritimen Szenerie erweckt wird. Neuerdings sind auch vermehrt multimediale Elemente in die Ausstellungen eingebunden, die diesen Eindruck unterstützen. Dies erinnert zwar an die alte Ausstellung, auch dort schwamm das Floß augenscheinlich, in der aktuellen Ausstellung ist dies aber eindrücklicher visualisiert und das Floß wird heute vielmehr so inszeniert, als würde es sein Ziel in FranzösischPolynesien erreichen. Dies wird unter anderem an den Möwen deutlich, die wie schon zuvor sowohl als Modelle über dem Floß hängen, als auch an die Wand gemalt sind. Ebenso sind an der Wand Wolken, Wellen und Atolle abgebildet – hier wird der Eindruck erweckt, dass Land in der Nähe ist. Zudem sind an dem Exponat Flaggen gehisst. Das geschah nach Aussage von Heyerdahl, als Land zu erwarten war, also am Ende der Reise.58 In Gänze wird eine Atmosphäre geschaffen, die das Floß im Obergeschoss zu dem Zeitpunkt seiner Ankunft am Ziel (Abb. 1 a und 1 b) bzw. im Keller während der Nutzung auf dem Pazifik (Abb. 2) ver­ ortet, auch wenn das Floß in der Unterwasserszenerie nicht im Fokus steht, sondern viel mehr die Fauna. Interessanterweise wird in der heutigen Inszenierung das Ende der Expedition, der Erfolg des Experiments bzw. das Erreichen des rettenden Ufers, als darstellungswerter erachtet als beispielsweise der Beginn der Expedition bzw. die Reise auf dem ­weiten Pazifik. Die neue Ausstellung wurde in ihrer Größe nahezu verdoppelt und es werden mehr Exponate und Informationen präsentiert.59 Zusätzlich wurde eine Kinderführung installiert, in der die Krabbe »Johannes« – ein 57 Das Gummiboot sowie das Funkgerät werden als wichtige Begleiter im Buch erwähnt – zum einen wäre ohne das Funkgerät der Kontakt zur Außenwelt nicht möglich gewesen, zum anderen diente das Boot u. a. dazu, Ausflüge zu unternehmen, und ohne dieses wären vermutlich viele Bilder von der Kon-Tiki auf See nicht möglich gewesen (vgl. Abb. und Abbildungsunterschriften in Heyerdahl, Kon-­ Tiki). 58 Heyerdahl, Kon-Tiki, S. 123. 59 Solsvik u. a., Bringing the kids along, S. 17. 173

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Abb. 1 a, b: Die Kon-Tiki im Zentrum der Ausstellung, von der oberen Ausstellungs­ ebene betrachtet (Stand 2018). Das Floß ist so inszeniert, als würde es schwim­ mend sein Ziel erreichen.

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Abb. 2: Blick auf die Unterwasserszenerie unter der Kon-Tiki (Stand 2018). Im Zentrum steht der Walhai. Aus dem Keller betrachtet wirkt es so, als würde das Floß mitten auf dem Pazifik treiben.

tierischer Gast auf der Kon-Tiki, den Thor Heyerdahl schon in seinem Buch erwähnt60 – abgebildet ist, die mit den Kindern interagiert und die Kinderausstellung begleitet.61 Diese Beobachtungen des Ausstellungswandels verdeutlichen, dass das Museumsleben des Floßes im »Dazwischen« vielfältig ist. Dabei blieb der Wert als zentrales Exponat des Museums zwar erhalten, jedoch sind verschiedene Schichten und Abstufungen der Bewertungen zu erkennen, da im Laufe der Zeit auch andere wichtige Exponate (andere Boote) hinzugekommen sind, sich Erzählweisen änderten, wie die Fokussierung auf Heyerdahl, und auch andere Inwertsetzungen stattfanden. Dies in Form eines Ausstellungswandels, der unter anderem von gesellschaftlichen Erwartungen, wie einer veränderten Sichtweise auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz,62 und technischen Entwicklungen, wie der Digitalisie­ rung,63 abhängt. 60 Heyerdahl, Kon-Tiki. 61 Solsvik u. a., Bringing the kids along. 62 Im Rahmen der Ra-Expedition wird etwa thematisiert, dass die Crew im Meer treibendes Öl dokumentierte und Heyerdahl der UN einen Bericht schrieb. Auch verdeutlicht beispielsweise eine Machbarkeitsstudie von 2020 zu einem geplanten Umbau des Museums, dass dem Thema Nachhaltigkeit im Sinne Heyerdahls ein hoher Stellenwert beigemessen werden soll: vgl. https://snohetta.com/projects/ 540-new-kon-tiki-museum-proposal [Abruf: 10. 3. 2022]. 63 In den Ausstellungen existieren Displays, die Videoszenen wiedergeben, und ein Vorführsaal (»Cinema«), in dem die Kon-Tiki-Dokumentation abgespielt wird. Zudem wurde auch über ein VR-Modul nachgedacht. 175

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Lag der Fokus vormals alleinig auf der Kon-Tiki, hat sich die museale Perspektive im Laufe der Zeit verschoben. Heute verfügt das Museum über verschiedene Boote Heyerdahls und verschiedene Ausstellungen zu Heyerdahls Expeditionen, die gleich einer chronologischen Reise durch Heyerdahls Leben angeordnet sind,64 sodass die Kon-Tiki-Ausstellung nur ein Modul darstellt, auch wenn das Floß aufgrund seines Alters, ­seiner Bekanntheit und als Namensgeber des Museums sicherlich ein zentrales Exponat bleibt. Beginnend mit seinen Aufenthalten in FatuHiva gelangen Besucher:innen danach zur Kon-Tiki-Ausstellung und dann in die weiteren Ausstellungen unter anderem zu der GalapagosExpedition, den Osterinseln mit der Nachbildung einer Höhle, den Booten Ra II und Tigris sowie zur Túcume-Expedition. Von daher wirkt das heutige Kon-Tiki-Museum eher wie ein Thor-Heyerdahl-Museum: dies zum einen aufgrund des erweiterten Fokus auf andere Expeditionen Heyerdahls (aber nicht auf alle);65 zum anderen aber auch wegen der Referenzen auf ihn, etwa in der Lobby des Museums, wo er als »THE GREAT N ­ ORWEGIAN EXPLORER« bezeichnet wird, oder auch wegen der Aufstellung einer lebensgroßen Heyerdahl-Figur in einem Ausstellungs­ modul mit einer nachgebildeten Bibliothek (»Thor Heyerdahl Library«). Am Schreibtisch sitzend, zwischen hohen Regalen positioniert, wirkt er wie als Wissenschaftler inszeniert. In einem daran anschließenden Raum, dem »Auditorium«, wird »Thor Heyerdahl the person« vorgestellt: Hier finden sich Abbildungen und Darstellungen von ihm und es wird auf seine Kindheit sowie seinen Bezug zur Natur ver­wiesen. Zudem wird er als »Erzähler«, »Forscher« und »Seefahrer« por­trätiert. Deutlich wird Heyerdahls Bedeutung auch im »Mission Statement« des Museums: The primary task of the museum is to curate the collections, undertake or support research and inform the public of Thor Heyerdahl’s life, work and ideas, with focus on running a museum. The museum’s primary task is to curate the vessels and other objects from his expeditions 64 Stand 2018; Magelssen beschreibt eine gegensätzliche Tour durch die Ausstellungen, beginnend mit der Ra-Ausstellung (2014). Im Vergleich mit dem aktuellen Museumsaufbau zeichnet sich eine veränderte Wegführung ab (vgl. Magelssen, White-Skinned Gods, S. 38f., Fig. 11). 65 Heyerdahls Überlegungen zur Historizität der Asen – der nordischen Göttinnen und Götter – als reale Menschen, die nach Skandinavien migrierten, sind beispielsweise nicht Teil der musealen Ausstellung. Die in diesem Kontext stehenden Ausgrabungen in Azov (Russland) werden aber auf einer Tafel erwähnt. Das chronologisch und räumlich letzte Ausstellungsmodul ist den Ausgrabungen in Túcume gewidmet (1988-1992). 176

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and display them to the public. The museum should also undertake research and projects which is connected to Thor Heyerdahl’s lifelong work and research area of interests.66 Denn Heyerdahl führte nicht nur Experimente bezüglich historisch i­maginierter Segel- und Schifffahrtstechniken mit ethnologischer bzw. ­archäologischer Fragestellung durch, sondern organisierte auch Expeditio­ nen, wie beispielsweise archäologische Ausgrabungen auf den GalapagosInseln, auf den Malediven, auf den Osterinseln sowie in Peru und Russland, und schrieb mehrere Texte, wobei seine diffusionistischen Hypothesen verschieden kontrovers rezipiert wurden.67 Aus dieser Perspektive sind sowohl die Kon-Tiki als auch Heyerdahl Marken und Symbole, die sich auch gegenseitig in Wert setzen. Bezeichnenderweise rekurrieren viele nachfolgende Expeditionen mit Booten und Flößen auf die Kon-Tiki bzw. auf Heyerdahls Motivationen.68 Während der Norweger Torgeir S. Higraff beispielsweise mit seinem BalsaFloß Tangaroa (2006) eine ähnliche Route wie Heyerdahl nachsegelte, also quasi das Reenactment selber nachstellte (dabei aber schneller war), verfolgte David Mayer de Rothschild mit seiner aus Plastikflaschen erbauten Plastiki (2010) ein anderes Ziel. Hier ist der Name eine Referenz auf die Kon-Tiki und zudem wird auf Heyerdahl als Umweltschützer Bezug genommen (eine Rolle, die im Museum auch beleuchtet wird). Zusätzlich fand und findet eine Vermarktung statt, die sich auch in der materiellen Kultur äußert, etwa in Form von Büchern, Filmen, Liedern sowie Modellen und Replikaten, außerhalb des Museums,69 aber auch im Museumsshop.

66 Reidar Solsvik, Manual – Collections, Archives, Library (Kon-Tiki Archive Report Series, 12), Oslo 2017, S. 8. 67 Vgl. dazu u. a. Ryan, Thor Heyerdahl; Solsvik, Science as Adventure. 68 Capelotti zählt 37 ähnliche Expeditionen; von diesen sieht er 20 Expeditionen durch die Kon-Tiki-Expedition oder Heyerdahl inspiriert (Peter J. Capelotti, The Theory of the Archaeological Raft: Motivation, Method, and Madness in Experi�mental Archaeology, in: EXARC 1 (2012), https://exarc.net/issue-2012-1/ea/theoryarchaeological-raft-motivation-method-and-madness-experimental-archaeology [Abruf: 10. 5. 2022]). 69 Vgl. zur populär-kulturellen Verwertung u. a. einen Beitrag des Kon-Tiki-Museums: https://www.kon-tiki.no/research/blog/kon-tiki-in-modern-popular-culture/ [Abruf: 1. 8. 2021]. 177

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Synthese Verschiedene Formen der kulturellen Bewertung sowie auch die Inwertsetzung des Objekts, etwa in einem Gefüge museale Ausstellung, lassen sich besonders gut an der Musealisierung der Kon-Tiki sowie dem ­Museumsleben der Kon-Tiki durch die Zeit hinweg skizzieren. Dabei diente die Kon-Tiki verschiedenartig als Ressource. Einerseits war sie für Heyerdahl ein funktionales Werkzeug – ein Nachbau, der nautische Schifffahrts- und Segeltechniken früherer Jahrhunderte imaginierte –, um den Pazifik zu überqueren und seine Hypothese zu belegen. Da das Floß am Ende der Reise beschädigt auf einem Atoll strandete, verlor es aber seine Funktion und seinen vorherigen Wert. Andererseits war es aber auch im Rahmen des Mythos Kon-Tiki eine Ressource bei Heyerdahls Versuch, seine Expedition, seine Forschungen und seine Person in den Medien zu popularisieren. Dies gelang ihm auch, und in der nach­ folgenden Verwertung und Legendenbildung der Kon-Tiki-Expedition in den Medien, etwa in Heyerdahls Buch und der filmischen Dokumentation, gewann auch das Floß erneut an Wert. Dies wird auch daran deutlich, dass die Kon-Tiki recht früh nach Norwegen verbracht wurde, wo sie zwar vorerst im Wasser liegend ein Kuriosum darstellte und als Souvenirlieferant diente, dann aber zu einem Museumsding in einem eigens errichteten Ausstellungshaus wurde. Die Prozesse der Bewertungen der Kon-Tiki sind maßgeblich an die Popularisierung von Heyerdahl und die mediale Narration der (erfolgreichen) Expedition gekoppelt.70 Jedoch erhielt zuerst die Expedition einen Wert, als Beitrag zu Heyerdahls wissenschaftlicher Theorie und in der populär-kulturellen Verwertung als Abenteuer und Unterhaltung. Der Mythos scheint anfänglich also wichtiger als das materielle Objekt gewesen zu sein. Im Rahmen der Popularisierung der Kon-Tiki-Expedition mit anschließender Musea­ lisierung des Floßes wurde aber auch das Objekt erneut in Wert gesetzt: als Zeuge des Ereignisses, als einzigartiges Objekt mit dem Heyerdahl seine Reise durchführte, als Baustein in einer wissenschaftlichen Theorie und als Alleinstellungsmerkmal des Museums. In diesem Sinne wurde im »Davor« aus dem experimental-archäologischen, historisch-imaginierten Nachbau, mit dem ein als historisch geglaubtes Ereignis nachgestellt 70 Nach Samida zeichnen eine Entdeckung, eine Medienpräsenz und die Heroisierung der Person einen wissenschaftlichen Medienstar aus – und das mag auch für Thor Heyerdahl gelten: vgl. Stefanie Samida, Die archäologische Entdeckung als Medienereignis. Heinrich Schliemann und seine Ausgrabungen im öffentlichen Diskurs, 1870-1890 (Edition Historische Kulturwissenschaften, Bd. 3), Münster 2018. 178

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wurde, ein Original, das es wert war, in einem eigens errichteten Museum ausgestellt zu werden. Das »Dazwischen« beschreibt in diesem Beitrag die verschiedenen Ebenen der Ausstellung der Kon-Tiki im Museum, samt Restaurierung, Konservierung und Inszenierung. Alle Ausstellungen drehten sich in der Folge um das zentrale Exponat, doch die damit verbundenen Erzählungen und Darstellungen veränderten sich. War es vormals das einzige ­Exponat, wurden im Weiteren zusätzliche Exponate erworben und neue Ausstellungen um diese implementiert, sodass aus dem alleinig der KonTiki gewidmeten Museum in gewisser Weise ein Museum wurde, das sich auf Thor Heyerdahl fokussierte. Mit Veränderungen in der musealen Präsentation im Rahmen des Museumslebens des Dings waren auch neue Kontextualisierungen verbunden. Stand vormals das Objekt im Fokus der Kon-Tiki-Ausstellung, so zielt die aktuelle Ausstellung darauf ab, historische Kontexte und eine Atmosphäre des Ereignisses zu ver­ mitteln, in der das Objekt eingebunden ist. Im »Dazwischen« finden also ­dynamische Prozesse statt, die nicht nur musealen Praktiken, sondern auch äußeren Impulsen unterworfen sind. Mitunter greifen Prozesse und Bewertungen aus dem Zustand des »Danach« – d.h. Vermarktung, ­Geschichtskultur und populär-kulturelle Verwertung – auch schon während der Musealisierung oder im Museumsleben. Deutlich wird dies etwa an dem Wandel der Kon-Tiki-Ausstellung im Lauf der Zeit: so wurde 2012 /2013 die Ausstellung verändert, wobei sich das Museum an der Ästhetik des Spielfilms von 2012 orientierte. Interessanterweise gelten diese Bewertungen viel mehr dem Mythos Kon-Tiki, bestehend aus der Trias Ereignis – Person – Objekt, und we­ niger dem Objekt, das diesen Mythos lediglich bezeugt. Trotzdem setzen sich diese Komponenten auch gegenseitig in Wert und die Kon-Tiki wird damit auch zu einem wertvollen Symbol. In diesen Wechselwirkungen zeigt sich aber auch, dass das »Davor – Dazwischen – Danach« nicht zwingend aufeinanderfolgende Stationen in einem zeitlich linearen Prozess darstellt, sondern vielmehr Zustände und Perspektiven aufzeigt, die sich im Prozesse der Inwertsetzung überlappen können. Am Beispiel der Kon-Tiki wird deutlich, wie ein neu gebautes Ding, basierend auf imaginierten Vorbildern, im Laufe seiner Nutzung und Geschichte seinen Wert verändert und zu einem alten Ding werden kann. Aus dem (neuen) Werkzeug im Rahmen einer wissenschaftlichen Hypothese bzw. eines Experiments mit Beweischarakter wurde ein ­funktionsloses Wrack, das als Überrest eines Ereignisses erhaltens- und bewahrenswert wurde. Aber es wird auch deutlich, wie verschiedene ­Prozesse und Praktiken dazu führen können, dass diese alt gewordenen 179

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Dinge neue Werte erhalten, wurde doch das Floß im Rahmen der Musealisierung und im Kontext der populären Erzählung des Abenteuers schließlich zu einem Zeugen eines historischen Ereignisses und zu einem kulturell wertvollen Exponat, das auch heute etwa für das Museum eine identitätsstiftende sowie touristische Ressource darstellt und im Rahmen des Mythos Kon-Tiki (in der Trias Ereignis – Person – Objekt) weiterhin präsent ist. Abbildungen Abb. 1 a, b: Die Kon-Tiki im Zentrum der Ausstellung. (Foto: Tobias Schade; frdl. Genehmigung Kon-Tiki-Museum) Abb. 2: Blick auf die Unterwasserszenerie unter der Kon-Tiki. (Foto: Tobias Schade, frdl. Genehmigung Kon-Tiki-Museum)

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Zwischen Inszenierungen und Originalen Das »Experiment Geschichte« im Europäischen Hansemuseum Lübeck

Von »der Hanse« haben viele schon einmal gehört, ein klares Bild haben jedoch die wenigsten von ihr. Über die Zeit hinweg zählten Kaufleute aus bis zu 200 Städten zu dem Verbund, der sich selbst erstmals im 14. Jahrhundert als »Städte von der Deutschen Hanse« bezeichnete.1 Die Strahlkraft der rund 800 Jahre alten Hansegeschichte ist stark und reicht bis in die Gegenwart. Das überwiegend positive Verständnis, das bereits seit mindestens fünf Generationen besteht und zum Teil in einer romanti­ sierenden Verherrlichung gipfelte, macht die Hanse vor allem für das ­Kulturmarketing zu einem Phänomen mit großem Wert.2 Dabei handelt es sich sowohl um den begrifflichen als auch um den gesellschaftlichen Wert, der auch innerhalb der Hansegeschichte einen stetigen Prozess durchlaufen hat. Die Gesellschaft und Forschung zeichnet, geprägt durch Strömungen der Zeit, stetig neue Hansebilder.3 »Die Hanse« ist Teil einer Geschichts­ kultur, die im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Wissenschaft sowie Vereinnahmung und Interpretation agiert. Das dezidierte Forschungs­ interesse an dem Zusammenschluss von Kaufleuten und Städten führte 1870 zur Gründung des »Hansischen Geschichtsvereins«.4 Heute sehen wir diese Anfänge der hansischen Geschichtsschreibung sehr kritisch: In der Zeit des Kaiserreiches und später im Nationalsozialismus wurde die Hanse nationalpolitisch instrumentalisiert.5 Sie wurde in diesem Zuge nicht wie heute als wirtschaftliche Interessengemeinschaft, sondern als politische Größe mit militärischer Flottenmacht verstanden.6 Diese Lesart 1 Gisela Graichen / Rolf Hammel-Kiesow, Die Deutsche Hanse. Eine heimliche Super­ macht, Hamburg 2015, S. 6. 2 Stephan Selzer, Die mittelalterliche Hanse, Darmstadt 2010, S. 2. 3 Anzumerken ist, dass die Hanse vorranging ein Thema der deutschen Historiographie ist, jedoch auch in anderen Ländern zur Hanse geforscht wird. 4 Selzer, Die mittelalterliche Hanse, S. 7. 5 Ebd., S. 7-10. 6 Angela Ling Huang, Nun sag, wie hast du’s mit der Hanse? Von den Wechsel­ beziehungen alter Hansebilder und neuer Hanseforschungen, in: Geschichte für heute 3 (2020), S. 5-16, hier S. 7. 181

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l­egitimierte gesellschaftliche Entwicklungen des Kaiserreiches und des »Dritten Reiches«. Wie flexibel die Hansegeschichte sich mit gesellschaftlichen Werten aufladen lässt, zeigt die Rezeption und wissenschaftliche Bewertung bis heute. In der Nachkriegszeit spaltete sich nicht nur das Land, sondern auch die Hanse-Forschung. Während die Bundesrepublik sich von der Vorstellung eines politischen deutschen Städtebundes distan­ zierte, hielt die DDR-Forschung daran fest und interpretierte die Hanse­ städte als Kämpfer gegen die Feudalherrschaft.7 Nachdem der Eiserne Vorhang ge­fallen war, wurde die Hanse zunehmend in einen euro­ päischen Geschichtskontext eingebettet.8 Da die niederdeutschen Hanse­ kaufleute in 25 heutigen europäischen Staaten Handel trieben, einen Beitrag zur europäischen Marktwirtschaft leisteten und den (nord-)europäischen Warenaustausch maßgeblich beeinflussten, kann dieser heute als »europäischer Handel« verstanden werden.9 Wieder ist die Umdeutung und Bewertung der Hansegeschichte durch den Wunsch, den europäischen Gedanken parallel zur Entwicklung der Europäischen Union zu stärken, politisch verursacht. Über 150 Jahre ließ sich die Hansegeschichte also immer wieder mit (deutscher) Gesellschaftsentwicklung in Zusammenhang bringen. Daraus resultiert ein Teil der Wertschätzung des Phänomens. Der Terminus »Hanse« ist im gegenwärtigen öffentlichen Diskurs vorwiegend positiv besetzt. Das basiert auf dem romantischen Bild, das viele von der Hanse und von den Attributen haben, die mit ihr verbunden werden. Die Hanse wird heute mit Weltoffenheit, Fleiß und Ehrlichkeit assoziiert.10 Aufgrund der positiven Konnotation und der da­raus resultierenden wirtschaftlichen und touristischen Vorteile sind immer mehr Städte in Deutschland und Europa daran interessiert, den Zusatz »Hansestadt« tragen zu dürfen. Aus den heutigen Hansestädten und an7 Rolf Hammel-Kiesow, Von Leibniz bis zum »Städtebund: Die Hanse« – Konjunkturen der Hanserezeption, in: Kerstin Petermann / Anja Rasche / Gerhard Weilandt (Hg.), Hansische Identitäten (Coniunctiones – Beiträge des Netzwerks Kunst und Kultur der Hansestädte, Bd. 1), Petersberg 2018, S. 149-162, hier S. 156. 8 Graichen / Hammel-Kiesow, Die Deutsche Hanse, S. 6. 9 In Hinblick auf das Handelsnetzwerk der Kaufleute lässt sich die Hanse mit der heutigen Handelspolitik der Europäischen Union vergleichen, jedoch nicht gleichsetzen. Mehr dazu: Rolf Hammel-Kiesow, Die Europäische Union, Globalisierung und Hanse. Überlegungen zur aktuellen Vereinnahmung eines historischen Phäno­ mens, in: Hansischer Geschichtsverein (Hg.), Hansische Geschichtsblätter 125 (2007), S. 1-44. 10 Selzer, Die mittelalterliche Hanse, S. 2.; Lu Seegers, Hanseaten. Mythos und Realität des ehrbaren Kaufmanns seit dem 10. Jahrhundert, in: Felicia Sternfeld (Hg.), Katalog des Europäischen Hansemuseums, Lübeck 2016, S. 109-118. 182

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deren Städten mit »hansischer Vergangenheit« formiert sich die »Neue Hanse«, ein Verbund von derzeit 195 Städten aus 16 Ländern. Der frei­ willige Städtebund wurde 1980 in Zwolle (Niederlande) mit der Inten­ tion gegründet, auf der Grundlage des grenzüberschreitenden Hanse­gedankens und den geschichtlichen Erfahrungen die Gedanken und den Geist der euro­päischen Stadt / Gemeinde wiederzubeleben, das Eigen­bewusstsein der Hansestädte zu fördern und die Zusammenarbeit zwischen diesen Städten / Gemeinden zu entwickeln.11 Die heute überwiegend »deutsche Wertschätzung der Hanse«12 resultiert nicht aus der Überhöhung der deutschen Geschichte und Politik, sondern schlichtweg daraus, dass die meisten historischen Hansestädte geographisch in Deutschland liegen und die Hanse und deren Geschichte dementsprechend überproportional präsent bei der norddeutschen Bevölkerung sind. Nicht nur auf der politisch-touristischen StädtebundEbene spielt der Wert der Hanse eine Rolle, sondern auch in der freien Wirtschaft: Die Be-, Um- und nicht zuletzt Verwertung des Begriffs »Hanse« spiegelt sich vor allem in den zahlreichen Namen kleiner und großer Firmen und Vereine wie Lufthansa, Hansaplast und Hansa Rostock wider. Vor allem in den heutigen Hansestädten Lübeck, Hamburg und Bremen nutzen auch kleine Geschäfte »Hanse« in ihren Namen. So profitiert plötzlich nicht nur eine Stadt oder ein großes Unternehmen von dem Phänomen, sondern auch der Grillstand um die Ecke. Die Verwendung dieses Namens ist einerseits eine Form der Inwertsetzung der Vergangenheit, andererseits eine kommodifizierende Verwertung des Phänomens »Hanse«. Was aus der jahrhundertealten und teils verklärten Sicht auf die Hanse bleibt, sind somit Erinnerungen und Wissen. Da die »Bilder von der Hanse« als das »Erinnern an die Hanse« zuweilen nur teilweise mit der historischen Realität übereinstimmen, braucht es heute deshalb mehr denn je als Intervention das »Wissen« von der Hanse. In diesem Wissen liegen die Wurzeln des Europäischen Hansemuseums in Lübeck (EHM). So fußt das Museum auf der besonderen Bedeutung der Hanse selbst, sowohl in der Gesellschaft, als auch in der Politik und in der Forschung. Es wurde nicht ausgehend von einer Sammlung geplant, sondern aus dem Bedürfnis heraus, ein Museum zur Geschichte 11 Mitglied kann jede Stadt werden, die nachweisbar eine Verbindung zur Hanse­ geschichte hatte. Die Städte müssen jedoch keine historische Hansestadt sein. Die Beschreibung und Aufgaben des Netzwerkes sind online einzusehen unter https:// www.hanse.org/die-hanse-heute/aktives-netzwerk/ [Abruf: 15. 9. 2021]. 12 Selzer, Die mittelalterliche Hanse, S. 2. 183

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dieses mächtigen Kaufleuteverbundes namens »Hanse« in Lübeck, dem ehemaligen »Haupt der Hanse«, zu errichten. Die Idee, ein solches ­Museum zu entwickeln, lässt sich bis zurück in die 1990er Jahre ver­ folgen. Das erste Konzept verfasste der Hanseexperte Rolf HammelKiesow bereits 1993. Gut 20 Jahre später, am 27. Mai 2015, wurde das weltweit größte Museum zur Geschichte der Hanse schließlich eröffnet.13 Das Museum bewahrt, erforscht und zeigt das (im-)materielle Kulturgut der Hanse in Deutschland und Europa. Durch die angeschlossene ­»Forschungsstelle für die Geschichte der Hanse und des Ostseeraums« (FGHO), die 1993 ebenfalls von Rolf Hammel-Kiesow gegründet wurde, verfügt das Museum über eine einzigartige und wissenschaftlich fundierte inhaltliche Ausrichtung. Die FGHO betreibt und koordiniert historische sowie interdisziplinäre Forschung im ehemaligen hansischen Wirtschaftsraum von Portugal bis Russland.14 Ein weiteres wichtiges Aufgabengebiet der Forschungsstelle ist die wissenschaftliche Beratung und Mitarbeit bei Ausstellungsprojekten des Museums. Das EHM versteht sich vor allem als Bildungs- und Lernort und strebt an, ein Forum für aktuelle Fragestellung in Verbindung mit den Themen »Hanse« und deren Vermittlung zu werden.15 Im Folgenden wird das Konzept der Dauerausstellung sowie die Implementierung des Materiellen Kulturerbes in Hinblick auf das »Experiment Geschichte« anschaulich erläutert. Es wird aufgezeigt, dass die Ausstellung durch wissenschaftliche und museale Transformationsprozesse eine Bewertung, Neubewertung und letztendlich auch Verwertung erfährt. Im Zuge dessen wird der Umgang mit Inszenierungen, Originalobjekten und Faksimiles betrachtet und die Inwertsetzung der Vergangenheit »der Hanse« hinterfragt. Experiment Geschichte Die Geschichte der Hanse ist vielschichtig und komplex. Im Zuge der inhaltlichen und konzeptionellen Entstehung des Museums haben umfangreiche interdisziplinäre Recherchen stattgefunden. Wissenschaftler:in­ nen aus unterschiedlichsten Fachbereichen fassten die aktuellsten For13 Die Architektur und Gestaltung stammen von dem Hamburger Architekten An­ dreas Heller. 14 Die FGHO war bis 1997 am Archiv der Hansestadt Lübeck angegliedert und hat ihren Sitz seit 2015 am Europäischen Hansemuseum Lübeck. Mehr dazu unter ­https://fgho.eu/ [Abruf: 15. 9. 2021]. 15 Das Leitbild des Europäischen Hansemuseums: https://www.hansemuseum.eu/ wp-content/uploads/2021/07/EHM-Leitbild.pdf [Abruf: 15. 9. 2021]. 184

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Abb. 1: Die Fassade samt Eingangsbereich des Europäischen Hansemuseums mit Blick von der Untertrave

schungsergebnisse in insgesamt 3.300 Manuskriptseiten zur Hanse- und Stadtgeschichte sowie zum Leben der Kaufleute im Mittelalter und der Frühen Neuzeit zusammen. Aus der Fülle der Informationen wurde ein Narrativ entwickelt, das sowohl die Ausbreitung der Hansekaufleute in ganz Europa als auch die zeitliche Dimension der rund 800 Jahre alten Hansegeschichte verdeutlicht. Auch die Gestaltung des Außengeländes ist ein wesentlicher Bestandteil der Gesamtkonzeption des EHM. (Abb. 1) Auf diese Weise wird nicht nur die Ausstellung selbst, sondern das ganze Museumsareal zu einem »gebauten Geschichts­buch«.16 Das Museum liegt am Fuß des sogenannten Burghügels im Norden der Lübecker Altstadtinsel und vereint alte und neue Architektur. Der Neubau, das zum Museum dazugehörige Burgkloster und die darumliegenden geschicht­ lichen Zeugnisse formieren den Ort zu einem historischen Erlebnisraum. Die imposante Fassade des Museums zitiert sowohl die seit dem Mittelalter traufständige Bauweise als auch die ­giebelständigen Bürgerhäuser, die das Bild der Hanse prägen.17 Das aufwändig restaurierte Burgkloster, eine der bedeutendsten mittelalterlichen Klosteranlagen Norddeutschlands, ist Teil des Lübecker UNESCO-Welt­erbes und des EHM. Der Kirchplatz, 16 Dirk Meyhöfer, Europäisches Hansemuseum in Lübeck. Das gebaute Geschichtsbuch, in: ders. / Ullrich Schwarz (Hg.), Architektur in Hamburg (Jahrbuch 2015 /16), Hamburg 2015, S. 92-99, hier S. 93. 17 Ebd. 185

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Abb. 2: Der Kirchhof vor dem Burgkloster mit den Spuren der im 19. Jahrhundert abge­rissenen Maria-MagdalenenKirche

der vor dem Kloster liegt, ist einerseits als öffentlicher, andererseits als Erinnerungsort zu verstehen. Denn hier verweisen die auf dem Boden gezeichneten Grundrisse, das Mauerwerk, die Stützpfeilerfragmente und die gotischen Fenster auf die ehemalige Klosterkirche, die im 19. Jahrhundert abgerissen werden musste.18 Der Museumsbau, dessen Architektur und Lage sensibel auf die Geschichte des Ortes reagiert, setzt die Vergangenheit in Wert. (Abb. 2) Nachdem die Besucher:innen im Außenbereich die Geschichte des Ortes haben erleben und spüren können, begeben sie sich in das Museum und nehmen teil an einer Zeitreise durch wichtige Ereignisse der Hanse­geschichte. Entlang der alten Handelsrouten und Warenströme voll­ziehen die Besucher:innen die Entwicklung der Hanse des Mittel­ alters und der Frühen Neuzeit. In der Dauerausstellung soll so ein möglichst umfassendes Besuchserlebnis entstehen. Dabei soll die Wissens­ aneignung auf einer intellektuellen und emotionalen Ebene erfolgen.19 Die Choreografie der Dauerausstellung wechselt zwischen zwei unter18 Ebd., S. 97. 19 Tatjana Dübbel, Experiment Geschichte, in: Sternfeld (Hg.), Katalog des Euro­ päischen Hansemuseums, S. 109-118. 186

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schiedlichen Arten von Ausstellungsräumen: Inszenierungen und Kabinetten.20 Die zwei Präsentationsarten stehen in starkem Kontrast zueinander und werden dezidiert durch große »Schleusentüren« voneinander getrennt. Auf diese Weise entsteht einerseits ein retardierendes Moment, andererseits ein klarer »Cut zwischen zwei Welten«. Die stimmungs­ vollen, mit Licht und Sound ausgestatteten Inszenierungen zeigen Kernsituationen und Schlüsselmomente der Hansegeschichte. Sie lassen Schau­ plätze an Orten wie an der Newa (Russland), in Brügge (Belgien) und Bergen (Norwegen) sowie das alte Lübeck atmosphärisch aufleben und geben einen Einblick in das Handels- und Alltagsleben der Kaufleute im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Gewählt wurde diese Präsenta­ tionsform, um die klischee­haften Hansebilder aufzubrechen und um sich einer möglichst historisch korrekten, emotionalen und lebendigen Präsen­ tationsform anzunähern. Die Inszenierungen basieren dabei auf schrift­ lichen, bildlichen und archäo­logischen Quellen und spiegeln Momentaufnahmen der Hanse­geschichte wider. Es handelt sich dabei nicht um abgetrennte, hinter Glas geschützte Räume, sondern um größten­teils frei erleb- und begehbare Hansewelten, in denen die Besucher:innen die Szenerie und Ausstattung anfassen können. Komplementiert werden die Inszenierungen mit Text- und Hörstationen, um neben den emotionalen Erfahrungen auch den intellektuellen Zugang zu gewährleisten und um zu verdeutlichen, dass es sich nicht um eine ­Theaterkulisse, sondern um einen Ausstellungsraum handelt. An Textmonitoren können mittels RFID -Tickets Informationen über verschiedene vertiefende Themen ausgelöst werden.21 Durch die sichtbaren Beton­wände sowie durch die Monitortechnik entsteht ein gewollter und absichtlicher »Bruch« in den Räumen, der den Besucher:innen verdeutlicht, dass es sich um inszenierte Bereiche handelt. Das Zusammenspiel von intellektuellen und emotionalen Erfahrungen stimuliert die Neugierde und die Lust, sich Wissen anzueignen.22 Um festzustellen, inwieweit Besucher:innen auf die Räume reagieren, kann eine umfassende Besucherbefragung aus dem Jahre 2019 herangezogen werden. Das Ergebnis ist eindeutig: Auf die Frage »Was hat Ihnen am 20 Unter dem weitläufigen Begriff »Inszenierung« ist im Europäischen Hansemuseum die szenische Präsentation von Momentaufnahmen der Hansegeschichte gemeint. 21 RFID (Radio-Frequency Identification) ist der kontaktlose Datenaustausch zwischen einem RFID -Transponder und einem RFID -Lesegerät. Anhand der RFID Tickets können weitere Inhalte auf Monitore ausgelöst werden. An einem Terminal im Foyer des Museums können die Gäste eine von vier Sprachen, eine von 50 Städten und zwischen vier Interessensgebieten wählen. 22 Stephen Bitgood, Attention and value: keys to understanding museum visitors, London 2016, S. 65. 187

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Abb. 3: Einblick in die Inszenierung »Brügge 1361«

Besuch im Hansemuseum besonders gefallen?« wird nach der »medialen Umsetzung« am häufigsten die »lebendige und kreative Darstellung« genannt.23 Vor allem die Inszenierungen begeistern die Besucher:innen und bleiben im Gedächtnis. Der beliebteste Raum der Ausstellung ist »Brügge 1361«, der in der Befragung von 66 % der Befragten als »sehr gut« eingestuft wurde.24 (Abb. 3) In dieser Inszenierung können die Gäste durch die sogenannte Oude Halle flanieren und das Handelsgeschehen der Weltmetropole im 14. Jahrhundert erleben. Auch dieser Raum ist bis ins letzte Detail auf historischen und archäologischen Erkenntnissen ­basierend ausgestaltet. Die wissenschaftliche Detailverliebtheit beginnt bei den mit maßwerkverzierten gotischen Spitzbogenfenstern der Verkaufshallen, setzt sich fort bei dem schachbrettartigen Fußboden – der original heute noch in der Stadt Brügge existiert – und endet bei den vielen Gewürzen der Marktstände. Die Besucher:innen tauchen regelrecht in die Geschichte ein und können an den bunten Verkaufsständen Stoffe, Metalle und Pelze erfühlen. Auf den Informations­wänden wird die Bedeutung der Hanse für Flandern und Brügge museal aufbereitet, an den Ständen durch einen haptischen und emotionalen Zugang neu erzählt. Vor allem das Anfassen, die musikalische Geräuschkulisse und 23 Besucherbefragung EHM der Freizeit- und Tourismus GmbH, 21. 10. 2019 (unveröffentlicht). 24 Ebd. 188

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Abb. 4: Reliquienbeutel in der Inszenierung »Brügge 1361«. Auch in den ­Inszenierungen finden sich aufwendig gestaltete Rekonstruktionen. Diese Reliquien­beutel wurden von einer Weberin anhand hochauflösender Digitalfotos der Originale hergestellt. Um der mittelalterlichen Webtechnik möglichst nahezukommen, wurde eigens dafür ein Webstuhl umgebaut.

die szenische Ausleuchtung der Objekte sollen den Besuch zu einem Erlebnis machen. Innerhalb der Inszenierungen werden hoch­wertige Re­ pliken ausgestellt. In der Inszenierung »Brügge 1361« ist eine textile Besonderheit als Beispiel zu nennen: der Reliquienbeutel. Bei dem Beutel handelt es sich um eine detailgetreue, fadengenaue Rekons­ truktion, 25 ­basierend auf einer originalen Vorlage. (Abb. 4) Im ­Gegensatz zu einem Originalobjekt müssen bei dieser Rekonstruktion nur geringe konservatorische Vorgaben eingehalten werden. Das Objekt fügt sich auf diese Weise in die Inszenierung ein, muss nicht hinter Glas geschützt werden und kann von allen Seiten betrachtet und berührt ­werden. Im sich räumlich anschließenden Kabinett wird direkt Bezug auf die vorherige Inszenierung genommen. Zudem werden in Vitrinen und ­anhand von Texttafeln wissenschaftliche Quellen präsentiert. Die Räume 25 Der Reliquienbeutel wurde von Sylwia Wiechmann in der Damastweberei München gefertigt. Zur Vorlage dienten die »Kölner Borten« aus dem 13. Jahrhundert. Die konservatorisch gesicherten Stoffe sind in St. Castor in Trais-Karden (Deutschland) und in St. Servatius in Maastricht (Niederlande) ausgestellt. Es wird davon ausgegangen, dass die Stoffe für Kölner Reliquienbeutel gewebt wurden. Bei der Webtechnik handelt es sich um dreischüssigen Samit. Mehr Informationen dazu unter https://damasthandweberei.de/historische-gewebe/ [Abruf: 15. 9. 2021]. 189

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präsentieren sich als klassisch museale »white cubes« und dienen als ­Fußnote der zuvor erlebten Szenen aus der Geschichte der Hanse.26 Die Besucher:innen können hier Objekte, Urkunden und biografische Doku­mente betrachten und geschichtliche Zusammenhänge nachlesen. Sie werden dazu angeregt, eine Brücke zwischen den Inszenierungen und den Kabinetten zu schlagen und einen Wiederholungs- und Vertiefungsprozess auszulösen. Dieses Zusammenspiel ist für das Besuchserlebnis ausschlaggebend, da das Wiederholen von zuvor schon einmal ge­sehenen Dingen ein eminenter Vorgang für den Lern- und Erinnerungsprozess ist.27 Dabei fungieren die Kabinette als Vertiefung der Inszenierungen. Die im Rahmen des Museumskonzeptes wechselnde Präsentationsform motiviert zum Lernen und unterstützt den Vorgang, Wissen in Erinnerung zu behalten. Seitens der Aufmerksamkeitspsychologie ist die Gestaltung ausschlaggebend für die Motivation der Besucher:innen.28 Erst wenn Betrachter:innen Objekte und Texte wahrnehmen, fokus­ sieren und sich auf diese einlassen, kommt es zu einem Lernerfolg.29 Ein Aneinanderreihen von Inszenierungen hätte eine Überreizung und Überforderung zur Folge, die für das Besuchs- und Lernerlebnis frustrierend wäre. Eine reine Präsentation in Kabinetten würde schnell zu einer ­Motivationslosigkeit und Ermüdung führen. Die Inszenierungen samt den sich anschließenden Kabinetten bieten ein allumfassendes Besuchsund Lernerlebnis. Dieses Zusammenspiel und Ineinandergreifen ist eine experimentelle Form von Wissenschaftskommunikation: das Experiment Geschichte!

26 Der Begriff »white cube« stammt von Brian O’Doherty aus dem Jahre 1976 und meint den klassischen, cleanen Ausstellungsraum. Mehr dazu: Brian O’Doherty, Die weiße Zelle und ihre Vorgänger, in: Wolfgang Kemp (Hg.), Inside the White Cube – In der weißen Zelle, Berlin 1996, S. 7-33. 27 Heiner Treinen, Besucherforschung und Vermittlungsstrategien in kulturhist­ orischen Ausstellungen, in: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.), Besucher­ forschung und Vermittlungsstrategien in kulturhistorischen Ausstellungen, München 1991, S. 11-13, hier S. 13. 28 Hans-Joachim Klein, Evaluation für besucherorientierte Einrichtungen. Ursprünge – Formen und Methoden – Nutzanwendungen und Grenzen, in: Marita Anna Scher (Hg.), (Umwelt)-Ausstellungen und ihre Wirkung. Oldenburg 1998, S. 19-36. 29 Mehr dazu: Bitgood, Attention and value, S. 64-73. 190

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Spannungsfeld Original, Produktion & Rekonstruktion Blicken wir zurück: Die Ursprünge der Institution »Museum« liegen in den Privatsammlungen der Renaissance. Diese einstigen Wunderkammern von Gelehrten dienten vor allem dazu, Laien Dinge und Kunstwerke zu präsentieren, die für die Betrachter:innen damals vollkommen neuartig waren. Dabei waren zwei Beweggründe ausschlaggebend: Die Selbst­ darstellung, also die Präsentation des Besitzes einerseits und die Bereitstellung von Unbekanntem für die Öffentlichkeit andererseits.30 Heutzutage ist das bloße Sammeln und Ausstellen von Objekten schon lange nicht mehr die einzige Kernaufgabe eines Museums. Es zeigt sich, dass die Museumsarbeit inzwischen weit über die fünf Kernaufgaben sammeln, bewahren, beforschen, ausstellen und vermitteln hinausgeht. ­Museen dienen als Forum für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse. Sie stellen immer mehr Themen wie soziale Gerechtigkeit, Inklusion und Diversität in den Fokus.31 Zudem findet seit einigen Jahren eine kritische Auseinandersetzung mit der Provenienz der Dinge – vor allem aus dem kolonialen Kontext – statt. Das EHM ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, das Phänomen »Hanse« allumfassend zu thematisieren. Auf der einen Seite kann die Hanse als immaterielles Phänomen verstanden werden, auf der anderen Seite ist die materielle Kultur im Kontext des Warenverkehrs und der Kaufleute omnipräsent. So empfiehlt Hans Peter Hahn, dass eine Trennung von »Materiellem« und »Immateriellem« zu vermeiden sei, da »die in einer Gesellschaft verwendeten materiellen Dinge stets aus dem Kontext des Handels heraus zu verstehen sind«.32 Ob nun aber der hansische Handel auch eine im gesamten Wirtschaftsraum zu findende hansische Kultur begründet hat, wird heute viel diskutiert.33 In den Hansestädten 30 Gabriele Beßler, Wunderkammern. Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart, 2. erw. Aufl., Berlin 2012, S. 15. 31 Seit 2019 arbeitet der International Council of Museum (ICOM) mit seinen Mitgliedern gezielt an einer neuen Museumsdefinition, mehr dazu: https://icomdeutschland.de/de/nachrichten/147-museumsdefinition.html [Abruf: 23. 4. 2022]. 32 Hans Peter Hahn, Materielle Kultur. Eine Einführung, 2. überarb. Aufl., Berlin 2014, S. 9. 33 Ulrich Müller, Hanse und Archäologie. Von einem Konstrukt zur Vielfalt kultureller Praxen – Hansegeschichte als Regionalgeschichte (Kieler Werkstücke 37), Frank­ furt a. M. u. a. 2013, S. 133-172; Natascha Mehler, The Perception and Interpretati�on of Hanseatic Material Culture in the North Atlantic, Problems and Suggestions, in: Journal of the North Atlantic 2 /1 (2009), S. 89-108; Magdalena Naum, Migra�tion, Identity and Material Culture, Hanseatic Translocality in the Medieval Baltic Sea. Comparative Perspectives on Past Colonisation, Maritime Interaction and 191

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finden wir eine durch das Bürgertum und kaufmännisches Handeln geprägte Kultur, die oftmals mit einer allumfassenden Hansekultur der Kaufleute gleichgesetzt wird. Hansestädtische Kultur mit hansischer Kultur gleichzusetzen, ist aber keinesfalls unproblematisch, kann man doch das Hansische im städtischen Alltagsleben oft nur schwer fassen. Für die Betrachtung der hansischen Lebenswelten spielt die Sachkultur eine entscheidende Rolle. Mit den Schiffen gelangte die Alltagskultur in Form von Keramik oder Mobiliar bis in die entfernten Handelsniederlassungen der Hanse, auch Kontore genannt, und somit in den Alltag der Kaufleute – und sie prägte das Leben der Kontorsgemeinschaft maßgeblich. Die Zusammensetzung der archäologischen Funde in den Kontoren in Bergen und London zeigt, dass die materiellen Hinterlassenschaften nur einen sehr geringen Kultureinfluss von außerhalb der Kontor­grenzen aufzeigen. Zu den Objekten, die die Kaufleute vor Ort kauften, gehörten vor allem alltägliche Verbrauchsprodukte wie Naturalien oder aber sehr hochwertige Handelsgüter, wie beispielsweise Tuche oder Geschirr.34 Ergänzend zu den archäologischen Objekten existiert eine Fülle von schriftlichen Quellen zu den Handelsniederlassungen, die aus dem Kontext der Hanse entstammen. Die Geschichte der Hanse kann vor allem anhand der Privilegien, der Rezesse und Überlieferungen aus den Kontoren gelesen und erzählt werden. Durch Regeln und Sitten, die durch die Hansekaufleute im Laufe der Jahrhunderte in den Handels­niederlassungen entstanden sind, entwickelten sich hansische Mikro­kosmen innerhalb der Kontorstädte. So lässt sich weniger von einer übergeordneten hansischen Kultur sprechen als von einer Lebenswelt, die den deutschen Kaufleuten in allen vier Kontorstädten gemeinsam war.35 So ist die Betrachtung des Alltagslebens innerhalb der Kontore umso wichtiger. Aus diesem Grund handelt es sich bei den Inszenierungen im EHM auch um ­Momentaufnahmen aus den Kontorstädten, die auf schriftlichen Quellen der Hansekaufleute basieren. Aufgrund der inszenierten Raumbilder, den vergleichsweise wenigen ausgestellten Originalobjekten sowie der Nutzung von Faksimiles könnte der Verdacht aufkommen, dass Objekte im Museum eine untergeordnete Rolle spielen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Gerade durch das Zusammenspiel von Inszenierungen, FaksimiCultural Integration, Sheffield 2016, S. 129-148; Visa Immonen, Defining a culture, the meaning of Hanseatic in medieval Turku, in: Antiquity 81 (2007), S. 720-732. 34 André Dubisch, Lebenswelten des Kopmans van der dudeschen Hense in den Kontoren. Über den Alltag im Londoner Stalhof und der Deutschen Brücke in Bergen, in: Ivar Leimus (Hg.), Everyday Life in a Hanseatic Towns – Alltagsleben in einer Hansestadt, Tallin 2021, S. 25-56. 35 Ebd., S. 51. 192

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lierung und Originalobjekten findet eine mehrschichtige Materialisierung der Geschichte statt. Da das Europäische Hansemuseum aufgrund der pointierten Ausrichtung stark themenorientiert ist, wurden Objekte gewählt, die einen ­direkten Bezug zu wissenschaftlichen Recherchen aufweisen. Sie wurden passend zu den schriftlichen Quellen ausgesucht und nicht vice versa. Der Großteil der Originalobjekte sind Dauerleihgaben, die von unterschiedlichen europäischen Institutionen und Museen stammen. So bietet sich dem Museum eine einmalige Möglichkeit, wechselnde Objekte wie in einem »Schaufenster« zu präsentieren und die materielle Kultur der Hanse sichtbar zu machen. Die Dauerausstellung hat somit die Chance, durch einen entsprechend geringeren Aufwand neue Schwerpunkte zu setzen, im internationalen wissenschaftlichen Austausch zu stehen und Kooperationen mit anderen Museen einzugehen. Die archäologischen Objekte sowie die Faksimiles werden in den Kabinetten in den Fokus gerückt. In den typisch museal gestalteten Vitrinenräumen liegen sie hinter Glas und werden durch Exponattexte in einen hansischen Kontext gesetzt. Im Sinne des Gesamtnarrativs wird so versucht, Objekten einen besonderen historischen Wert beizumessen, der direkt Bezug auf die Geschichte der Hanse nimmt. Der Wert eines Museumsobjektes wird von vielen Dingen bestimmt: Neben dem Material- und dem Marktwert von Objekten ist oftmals der kulturhistorische Wert von zentraler Bedeutung. Objekte, die in einer Ausstellung stehen, haben bereits verschiedene Transformationsprozesse durchlaufen. Im Wandel vom Gebrauchsgegenstand zu einem Sammlungs­ stück bis hin zu einem Exponat änderten sich Werte und Wertzuschreibungen der Objekte. In diesem Zuge formieren Museen Dinge aus der Vergangenheit zu Informationsträgern der Gegenwart.36 Dieser Transformationsprozess wird parallel von einem Inwertsetzungsprozess be­ gleitet. Hatten die Objekte in der Vergangenheit eine bestimmte Funktion, sollen sie nun in ihrer ästhetischen und sinnstiftenden, also bildenden Funktion agieren.37 Laut Gottfried Korff sind Dinge, die im Museum ausgestellt werden, »Zeitzeugen, die uns über die Vergangenheit in Kenntnis setzen«.38 Die Objekte, die als Zeitzeugen agieren, bewahren Vergangenes und tragen es in die Gegenwart. Sie spiegeln Handlungspraktiken und gesellschaftliche Werte und Normen ihrer Zeit wider. Die Gegen36 Gottfied Korff, Zur Eigenart der Museumsdinge [1992], in: ders., Museumsdinge: de­ponieren – exponieren, hg. von Martina Eberspächer / Gudrun M. König / Bernhard Tschofen, 2. erg. Aufl., Köln 2007, S. 140-145, hier S. 141. 37 Krzystof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1998, S. 73-90. 38 Korff, Zur Eigenart der Museumsdinge, S. 141. 193

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Abb. 5: Silberner Pferdeschmuckanhänger, 13. Jahrhundert. Auf der Vorderseite ist ein Wappen zu sehen: drei sehr filigran in Form von Herzen gearbeitete Seerosen.

stände werden somit zu Akteuren der Ausstellung. Vor allem archäologische Funde eignen sich hervorragend für einen Blick in die Alltagswelt der Menschen der damaligen Zeit. Aus kleinsten Objekten können so in Verbindung mit interdisziplinären Erkenntnissen Geschichten erzählt werden, die ein greif bares Verständnis für die längst vergangene Zeit entstehen lassen. Die Wissenschaftler:innen können ihr Fachwissen museal umsetzen, sodass Gegenstände unterschiedlichen Materials einen besonderen Wert, wie in diesem Fall für die Geschichte der Hanse, erhalten. Ein gutes Beispiel für diese Inwertsetzung eines solchen Original­objekts ist der sogenannte Silberne Pferdeschmuckanhänger. (Abb. 5) Im zweiten Kabinett, thematisch an die Inszenierung »Lübeck 1226« anschließend, wird ein – auf den ersten Blick – unscheinbares Objekt in einer Vitrine ausgestellt. Es handelt sich hierbei um einen Originalfund, der während der archäologischen Ausgrabungen in Uferschichten des 13. Jahrhunderts mit Hilfe eines Metalldetektors geborgen wurde. Als die Archäolog:innen das kleine Metallobjekt im ehemaligen schwarzen Ufer­horizont der Trave fanden, waren zunächst sein historischer Wert und die Bedeutung für die Geschichte der Hanse nicht absehbar. Wie alle Fundstücke wurde das Objekt nach der Bergung verortet, bekam eine Fundnummer und wurde im Amt für Archäologie der Hansestadt Lübeck ­inventarisiert. Nach ­einer umfassenden Restaurierung konnte das Objekt in einer ersten 194

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­ uswertungsphase durch die Archäolog:innen in den Fund- und OrtsA kontext gesetzt werden. Der kleine Silberanhänger zählt neben weiteren Fund­ stücken wie Pfeilspitzen, Armbrustbolzen, Gürtelschnallen und ­einem Reitersporn zur Militärausstattung von Rittern und ein­fachen Soldaten. Des Weiteren deutet eine abgebrochene Öse darauf hin, dass das Schmuck­stück als Anhänger, vermutlich am Zaumzeug eines Pferds, getragen wurde. Setzt man diese Erkenntnisse in den interdisziplinären Hanse-Kontext, ergibt sich folgende Deutung: Seit Ende des 12. Jahrhunderts wurden von Lübeck aus Ritter in die Gebiete des heutigen Estund Lettlands entsendet, um die slawischen und baltischen Völker an der Ostseeküste gewaltsam dem christlichen Glauben zu unter­werfen. 1226 verbriefte Papst Honorius III. in einer Urkunde den besonderen Status Lübecks als Ausgangshafen für die Kreuzzüge, von denen die gesamte Stadt profitierte – insbesondere die Kaufleute. Historische Quellen belegen, dass 1228 /29 unweit der ehemaligen Burg und der Trave der sogenannte Pockenhof, das Haus des Deutschen Ordens, eingerichtet wurde. Hier quartierten sich die Ordensritter ein und warteten auf ihre Einschiffung. Vermutlich gingen sie voll ausgerüstet mit i­hren Waffen und Pferden an Bord – und dabei fiel das ein oder andere Hab und Gut zu Boden.39 Aufgrund der Interpretation und Neudeutung durch die Archäolog:in­ nen fanden der Anhänger und weitere Militärausstattungen ihren Weg in die nur wenige Meter vom Fundort entfernte heutige Vitrine. Damit wurde ein Gegenstand durch die Wissenschaftler:innen neu interpretiert, für die Geschichte der Hanse als wertvoll befunden und durch die Präsentation im Museum in Wert und Kontext gesetzt. Darüber hinaus wurden aufgrund der romantisch anmutenden Herzoptik des Objektes Repliken für den Museumsshop angefertigt, die von den Besucher:innen als Schmuckstück erworben werden können – eine kommodifizierende Verwertung des Objektes. Die Zuschreibung von Werten ist nach der Einbringung des Objektes in die Ausstellung nicht beendet: Die Betrachter:innen interpretieren Exponate und ganze Ausstellungen durch ihre eigenen persönlichen Erfahrungen neu. Die Exponate durchlaufen somit einen stetigen, fluiden und subjektiven Zuschreibungsprozess. Ganz unabhängig von Museums­ konzepten seitens der Wissenschaftler:innen unterliegen Museumsobjekte immer der Wahrnehmung der Betrachter:innen und im Zuge dessen immer einer Be-, Neu- und Umwertung. Beispielsweise wird der Pferdeschmuckanhänger von einigen Besucher:innen weniger in den histori39 André Dubisch, Silberner Pferdeschmuckanhänger, in: Sternfeld (Hg.), Katalog des Europäischen Hansemuseum, S. 32. 195

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Abb. 6: Aufwendig hergestelltes Faksimile des Privilegs des Königs Eduard IV. von England (für die Hanse, 1547)

schen Kontext gesetzt, sondern vielmehr als schlichtweg schön empfunden. Die Herzsymbolik ist aus der eigenen Lebenswelt bekannt. Aus diesem Grund kann ein persönlicher Bezug hergestellt werden. Im Museumsshop kann dieser dann sogar erworben und an eine geliebte Person verschenkt werden. Neben den archäologischen Objekten sind die Dokumente bzw. Faksimiles die »Highlights« der Vitrinenräume im EHM. Vor allem schriftliche Überlieferungen wie Verträge, Rechnungs­bücher und Privilegien sind Zeugnisse für die Geschichte der mittel­alterlichen und frühneuzeitlichen Hansekaufleute. Die fragilen originalen Schriftstücke, die aus verschiedenen Archiven Deutschlands stammen und als Vorlage dienten, dürfen aufgrund konservatorischer Bedingungen nicht ausgestellt werden. Da die jahrhundertealten Originaldokumente sehr empfindlich auf Temperatur, Licht und Luftfeuchtigkeit reagieren, werden sie als Fak­ similes – originalgetreue Reproduktionen von Quellen – präsentiert. (Abb. 6) Durch die Faksimilierung werden die schrift­lichen Zeugnisse dauerhaft der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Bei den Urkunden handelt es sich nicht um einfache Kopien, sondern um aufwendig gestaltete Reproduktionen. Die originalgetreuen Faksimiles werden seitens des Museums in Wert gesetzt, da sie nicht wie originale Archivalien aus­ geschlossen von der Öffentlichkeit verstaut, sondern als Zeugnisse der Hansegeschichte gleichwertig, wie Originale, ausgestellt werden. Die 196

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Reproduktion eines Objektes ist ein Zwischenschritt in ­einem Inwert­ setzungsprozess, den Originale nicht erfahren. Für die Faksimilierung wurde ein hoher Aufwand betrieben, um ein möglichst authen­tisches Aussehen zu gewährleisten. Dabei wurde sowohl auf die traditionelle Technik der Pergamentherstellung als auch auf moderne Druckvorgänge zurückgegriffen.40 Die aufwendige und originalgetreue Faksimilierung der ­Dokumente bezeugt eine Wertschätzung des Originals und ist zugleich dessen Verwertung. Im Rahmen der Inventarisierung wurde den Faksimiles eine Sammlungsnummer zugeteilt, sie wurden fotografiert und wie »echte« Sammlungsobjekte behandelt. In der Ausstellung wurden sie fachgerecht platziert, erhielten ein Objektschild und wurden ausgeleuchtet. Lediglich der Zusatz »Faksimile« auf dem Objektschild verrät, dass es sich um eine Reproduktion handelt. Auch die hauseigene Restauratorin behandelt die Schriftstücke wie Originale. Sobald ein Siegel schief hängt oder eines der Dokumente seinen Ort wechseln muss, wird sie hinzugezogen. Obwohl es sich um Reproduktio­nen handelt, muss auch hier auf das Klima innerhalb der Vitrinen geachtet werden. Darüber hinaus findet eine weitere Verwertung der Dokumente statt: Ein Teil der Urkunden wird für ein der Öffentlichkeit zugängliches Projekt der FGHO »Hanse.Quellen.­ Lesen!« genutzt. Mittels einer Software können interessierte Laien die Quellen lesen und transkribieren.41 Im Diskurs rund um die Begrifflichkeiten »Original« und »Rekon­ struktion« ist der Terminus »Authentizität« omnipräsent. Der Wert und die Faszination eines Museumsobjektes werden oftmals über die Originalität gemessen.42 Authentizität ist jedoch nicht mit Echtheit gleichzu­ setzen. Laut dem Museologen Stránský ist ein Objekt dann authentisch, wenn Besucher:innen dieses in ihrem Kontext nachvollziehen können.43 Ob es sich um eine Reproduktion, ein Original oder eine Inszenierung handelt, ist in diesem Falle zweitrangig. Er differenziert zwischen »originals« vs. »substitutes«. Auffällig ist, dass nicht das Wort »reproduction« 40 Dübbel, Experiment Geschichte, S. 117. 41 Mehr dazu: https://fgho.eu/de/projekte/hanse-quellen-lesen [Abruf: 15. 9. 2021]. 42 Mehr dazu bei Gottfried Korff, Speicher und / oder Generator. »Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im Museum«, in: ders., Museumsdinge: deponieren – exponieren, hg. von Martina Eberspächer/Gudrun M. König/Bernhard Tschofen, Köl n/ Weimar / Wien 2000, S. 167-178, hier S. 168 ff.; Achim Saupe, ­Authentizität, Version 3.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, 25. 8. 2015, https://docu�pedia.de/zg/Saupe_authentizitaet_v3_de_2015 [Abruf: 31. 5. 2022]; Martin Sabrow / Achim Saupe (Hg.), Historische Authentizität, Göttingen 2016. 43 Zbyněk Zbyslav Stáanský, Originals versus Substitutes, in: ICOM (Hg.), ­ICOFOM Study Series 9: Originals and Substitutes in Museums (1985), S. 95-114, hier S. 95 ff. 197

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oder »copy«, sondern »substitutes« verwendet wird. Für ihn sind Reproduktionen also Vertreter des Originals. Vertreter, weil das Original aus verschiedenen Gründen nicht anwesend sein kann. Auch Gottfried Korff erklärt, dass die Authentizität durch die »sinnliche Anmutsqualität« von Objekten einen Zugang zu der Vergangenheit schafft.44 Dementsprechend erleben die Besucher:innen über die Materialität, über die Ausleuchtung und Positionierung innerhalb eines Museumsraumes die Faszination des Exponats. Eine gute Reproduktion kann daher eine ebenso sinnliche Erfahrung und Verbindung zur Vergangenheit schaffen. Hinzu kommt die Distanz, die durch Glashauben oder Absperrbändern entsteht, un­ abhängig davon ob es sich um eine Replik oder um ein Original handelt. Die Aura der Museumsobjekte kann bei Besucher:innen zu einer Art Ehrfurcht und Abstandshaltung führen.45 Im Gegensatz dazu stehen Exponate in den Inszenierungen, die zum Anfassen oder Mitmachen anregen und dementsprechend distanzlos sind. Die Distanzlosigkeit ist das, was in einem Museum erreicht werden sollte: Die Besucher:innen beschäftigen sich kognitiv und emotional mit einem Thema und werden zum Lernen motiviert. Im Europäischen Hansemuseum wird eine Ausgewogenheit geschaffen: Einerseits werden die Originale und Faksimiles klassisch museal hinter Vitrinen präsentiert, andererseits brechen die ­Inszenierungen die Distanz zu den Ausstellungsobjekten auf und ermöglichen einen allumfassenden Zugang zu den Themen der Ausstellung. »Danach« ist »Davor« Obwohl sich die in der Ausstellung befindlichen Objekte, Dokumente und Inszenierungen im »Danach«, also in der vermeintlichen »Endstation Ausstellung« befinden, ist der Umgang mit ihnen stets ein zirkulärer Prozess. Museen überdenken ihre Konzepte, Ausstellungen und thematischen Schwerpunkte. Dinge durchlaufen Neubewertungen, Umwertungen und Verwertungen. Exponate können dementsprechend ausgetauscht werden, womit sich die Exponatzusammensetzung einer Ausstellung oder eines Vitrinenraumes ändern kann. Dies hätte zur Folge, dass ein Objekt gleichsam wieder zum Sammlungsstück wird und entsprechend neu bewertet werden muss. Die Besucher:innen nehmen die Objekte 44 Gottfried Korff / Martin Roth, Einleitung, in: dies. (Hg.), Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt a. M. 1990, S. 9-37, hier S. 15 ff. 45 Volker Kirchberg, Besucherforschung in Museen: Evaluation von Ausstellungen, in: Joachim Baur (Hg.), Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld 2010, S. 171-186, hier S. 177. 198

zwischen inszenierungen und originalen

unterschiedlich wahr, ergänzen und vertiefen ihr Wissen und äußern ihre Meinung zu bereits kuratierten Inhalten. Wie viele andere Museen ­arbeitet auch das Europäische Hansemuseum Lübeck aktuell an der ­Weiterentwicklung der Dauerausstellung. Das Grundkonzept und das Narrativ der Ausstellung bleiben dabei jedoch bestehen, da wir davon überzeugt sind und dieses von den Besucher:innen durchweg positiv angenommen wird.46 Neben der Verbesserung der Barrierefreiheit soll – auch wenn das Museum bereits mit unterschiedlichen Zugängen arbeitet – eine weitere Vermittlungsebene hinzukommen: ein digitaler Familienrundgang, der einen vollständig neuen, niedrigschwelligen Zugang zur Hansegeschichte ermöglicht. Anhand eines Tablets oder eines mitgebrachten Handys werden die Besucher:innen digital und auf spielerische Art und Weise durch die Geschichte der Hanse geführt. Dabei wurden über 200 einzelne Tasks gesammelt, die verschiedene technische sowie bauliche Maßnahmen zum Abbau von Barrieren oder der Schärfung der Inhalte umfassen. Eine der großen Säulen ist die Implementierung eines gänzlich neuen, analog-digitalen Erzählstrangs für Familien, Jugendliche und junge Erwachsene. Ziel ist es, die vorhandene Komplexität und den großen Umfang der Inhalte zur Geschichte der Hanse auf den Punkt zu bringen, modern und zielgruppengerecht umzusetzen und nicht zuletzt für verschiedene Lerntypen – und das möglichst inklusiv – zu öffnen. Per App und Mobile Device wird die fiktive Familiengeschichte einer han­ sischen Familiendynastie innerhalb der Dauerausstellung miterlebt. Die Erzählung verzahnt drei der sieben analogen Inszenierungen mit dem digitalen Content. Neben explorativen Interaktionen stehen spielerische Handlungen im Zentrum, die die Geschichte rund um die Anfänge, Krisen und Erfolge der Hanse zugänglich machen. Eine zentrale Botschaft ist, dass Kooperation, Diskurs und Zusammenarbeit auf Augen­ höhe wichtige Erfolgsfaktoren für Wirtschaft und Gesellschaft damals wie heute sind. Die Kabinette bleiben in ihrer Art bestehen, die Besucher:innen sollen jedoch einen stärkeren Bezug zu den dort präsentierten Dokumenten und Objekten bekommen. Geplant sind zum Beispiel Hands-on-Stationen, die zur aktiven Auseinandersetzung mit den Inhalten des Museums einladen. Die Besucherbefragung hat gezeigt, dass das Konzept der Inszenierungen grundsätzlich und wie oben erläutert gut aufgeht: Die Geschichte der Hanse bleibt dank der lebhaften Inszenierungen im Gedächtnis. Die Befragung hat jedoch »zu viel an Text« aufgezeigt, was als meistgenannter 46 Besucherbefragung EHM, 21. 10. 2019 (unveröffentlicht). 199

mareike runge / andré dubisch

negativer Punkt angeführt wurde.47 Dieses Feedback der Besucher:innen ist wertvoll für uns und bildet unter anderem einen der Ansatzpunkte für die zukünftige Weiterentwicklung der Dauerausstellung. Dabei wird keine Veränderung des Konzeptes vorgenommen, also keine Umwertung, sondern eine Aufwertung der Ausstellung angestrebt. Die Besucher:innen des Europäischen Hansemuseums bewegen sich zwischen Inszenierungen und Originalen und sind dabei Teil des »Ex­ periments Geschichte«. Ausgelöst durch verschiedene Stimuli, erleben und verstehen sie die Geschichte und die Bedeutung der Hanse. Nach Dirk Meyerhöfer besticht die Dauerausstellung zur Geschichte der Hanse gerade durch diese abwechslungsreiche Präsentationsart, die die Motivation und Intention des Museums, Wissen greifbar und spannend zu vermitteln, auf den Punkt bringt.48 Abbildungen Abb. 1: Die Fassade samt Eingangsbereich des Europäischen Hansemuseums, © Europäisches Hansemuseum. (Foto: Thomas Radbruch) Abb. 2: Der Kirchhof vor dem Burgkloster mit den Spuren der Maria-­ Magdalenen-Kirche, © Europäisches Hansemuseum. (Foto: Thomas Radbruch) Abb. 3: Einblick in die Inszenierung »Brügge 1361«, © Europäisches Hanse­ museum. (Foto: Olaf Malzahn) Abb. 4: Reliquienbeutel in der Inszenierung »Brügge 1361«, © Euro­ päisches Hansemuseum. (Foto: Olaf Malzahn) Abb. 5: Silberner Pferdeschmuckanhänger, 13. Jahrhundert, Leihgabe Bereich Archäologie und Denkmalpflege Hansestadt Lübeck, © Europäisches Hansemuseum. (Foto: Stefan Volk) Abb. 6: Faksimile des Privilegs des Königs Eduard IV. von England (für die Hanse, 1547), © Europäisches Hansemuseum. (Foto: Stefan Volk)

47 Ebd. 48 Meyhöfer, Europäisches Handelsmuseum, S. 93. 200

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Ein Schiff in den Raum stellen Eine Sonderausstellung mit Virtual-Reality-Brillen

Die Sonderausstellung »360° POLARSTERN« Die Sonderausstellung »360° POLARSTERN: Eine virtuelle Forschungsexpedition« eröffnete am 18. Mai 2019 im Deutschen Schifffahrtsmuseum / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte (DSM) in Bremer­haven.1 (Abb. 1) Auf mehreren Hundert Quadratmetern Ausstellungsfläche war es das Ziel der Ausstellung, »eines der wichtigsten Forschungsschiffe der Welt«, das 1982 in Dienst gestellte eisbrechende Forschungsschiff Polarstern, »erlebbar« zu machen.2 »Wer die Ausstellung besucht, begibt sich mit 360-Grad-Aufnahmen auf POLARSTERN-Fahrt«, versprach ein zur Ausstellung begleitend erstelltes Zeitungsheft.3 Das zentrale Element der Ausstellung bildete das Erlebnis, mit Hilfe von Virtual-Reality-Brillen das ansonsten nur für einen sehr kleinen und exklusiven Personenkreis zugängliche Forschungsschiff Polarstern näher zu erkunden bzw. sich so zu fühlen, als ob man an Bord sei. Dazu konnten in vier thematischen Clustern bzw. Themenbereichen jeweils mehrere wenige Minuten laufende 360-Grad-Aufnahmen angeschaut werden. Im Bereich »Forschung« waren Labore abgefilmt worden, im Bereich »Leben« konnte man unter anderem eine Kajüte (auf der Polarstern traditionell »Kammer« genannt) für Wissenschaftler anschauen, im Bereich »Fahren« die Brücke und den Maschinenraum betreten und im vierten Bereich mit dem Titel »Aufbruch« von Deck aus die Ausfahrt des Schiffes aus Bremer­haven virtuell miterleben. 1 Pressemitteilung des DSM vom 10. 3. 2021, »Sonderausstellungen SEA CHANGES und 360° POLARSTERN im DSM werden verlängert«, https://www.dsm.muse um/pressebereich/sonderausstellungen-sea-changes-und-360-polarstern-im-dsmwerden-verlaengert [Abruf: 12. 9. 2021]. Die Ausstellung war ein Kooperations­ projekt mit dem ebenfalls in Bremerhaven beheimateten Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung und wurde in Zusammenarbeit mit dem Bremer Gestaltungsbüro Gruppe für Gestaltung und der Berliner Digital-Agentur Playersjourney erarbeitet. 2 Siehe zur Polarstern: Dieter Karl Fütterer / Eberhard Fahrbach, Polarstern. 25 Jahre Forschung in Arktis und Antarktis, Bielefeld 2008. 3 Nordsee-Zeitung (Hg.), 360° POLARSTERN. Eine virtuelle Forschungsexpedition, Bremerhaven 2019, S. 2. 201

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Abb. 1: Die Sonderausstellung »360° POLARSTERN« von der Galerie des Museums aus gesehen im November 2019

Vier weitere Charakteristika und prägende Umstände sind darüber hinaus zu nennen, um sich ein Bild von der Ausstellung machen zu können. Erstens, dass jede der Stationen, an denen mit den Virtual-RealityBrillen die Filme angeschaut werden konnten, von historischen Originalobjekten aus der Sammlung des DSM umgeben waren. Zweitens, dass dem Virtual-Reality-Erlebnis in einem weiteren Ausstellungsbereich ein Augmented-Reality-Erlebnis zur Seite gestellt wurde: Besucher:innen konnten durch das Aufsetzen einer den VR-Brillen ähn­lichen Brille ein virtuelles Modell der Polarstern näher betrachten, das Modell durch Gesten­steuerung drehen und vergrößern und allge­meine Informationen über den Aufbau des Schiffs erhalten. Drittens, dass ein zusätzlicher Ausstellungsbereich, zusammengefasst unter dem Namen »Polarlounge«, für Veranstaltungen eingerichtet wurde. Viertens, dass der Bereich des Museumsgebäudes, in dem die Sonderausstellung auf­gebaut wurde, zuvor komplett leergeräumt worden war. Dadurch, dass virtuelle Elemente (die Virtual-Reality-Brillen) und weniger die historischen, dreidimensionalen Objekte das zentrale ­Moment der Sonderausstellung bildeten, unterschied sie sich fundamental von früheren. Im Folgenden wird diese Besonderheit näher unter die Lupe genommen, denn im Hinblick auf die Frage nach dem Wert von Objekten im musealen Kontext ist eine nähere Betrachtung der Sonderausstellung »360° POLARSTERN« aus drei Gründen aufschlussreich. Erstens wurde in dieser Ausstellung mit dem Museumsraum experimen­ tiert. Der Museumsraum selbst wiederum ist in erheblichem Maße da202

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durch definiert, dass er Objekte aufwertet. Der Unterschied zwischen dem gleichen Objekt inner- und außerhalb des Museumsraums ist, dass es im ersten Fall dem Warenverkehr entnommen ist. Museale Objekte werden in der Zeit eingefroren, weil sie ihrem ursprünglichen Kontext im »Davor« entrückt und nicht mehr wie ursprünglich vorgesehen verwendet werden. Sie werden – zumindest vorübergehend – gewisser­ maßen zur Luxusware und sind keine Konsum- oder Gebrauchsartikel mehr. Aufgewertet werden sie nicht zuletzt dadurch, dass sie eine besondere Pflege (Konservierung) erfahren, die wiederum Aufwand bzw. Zeit und Geld (Personal, Räumlichkeiten) erfordert. Zweitens erfuhr umgekehrt der Museumsraum des DSM durch die Unzugänglichkeit und damit den Seltenheitswert der originalen Polarstern eine Aufwertung. Weil die Ausstellung das nur selten erlebbare Schiff zugänglich machte, zog sie Besucher:innen an und die Anzahl an Be­suchern wiederum trägt nicht unerheblich zur Wertschätzung eines Museums bei – ganz konkret in dem Sinne, dass gerade öffentliche ­Museen wie das DSM sich ihren Geldgebern gegenüber, also der öffentlichen Hand, durch Besucherzahlen legitimieren müssen. Beide Gründe haben wiederum mit dem dritten zu tun: Im Kern gehörte das in der Ausstellung gebotene zentrale Erlebnis der virtuellen Forschungsfahrt im Sinne dieses Sammelbands in die Kategorie des »Davor«, weil das virtuell erlebbare Schiff noch in Verwendung war und die gezeigten Filme erst wenige Monate vor der Ausstellung aufgenommen worden waren. Gleichzeitig erfolgte jedoch eine zusätzliche Aufwertung dieses Erlebnisses mit historischen Objekten aus der Museumssammlung, die wiederum aus dem Originalkontext genau dieses Schiffs kommen. Dieser Teil des Ausstellungserlebnisses gehört also in die Kategorie des »Danach«. Das gleichzeitige Erleben von »Davor« und »Danach« trug zur gegenseitigen Aufwertung bei. Die zentrale, auszuarbeitende These ist, dass die Ausstellung museal war, weil sie Komponenten des »Danach« in sich trug. Bevor jedoch auf die Spezifika der Sonderausstellung und abschließend noch einmal auf die Rolle des physischen Museumsraums eingegangen wird, sollen zunächst die Rolle der Forschungsschifffahrt am DSM sowie allgemeine Herausforderungen bei der Vermittlung der Forschungsschifffahrt im musealen Kontext erläutert werden.

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Forschungsschifffahrt am DSM Die vor der Ausstellung erfolgte Beräumung des Museumsgebäudes war Ausdruck einer Entwicklung, vor deren Hintergrund die Konzeption der Sonderausstellung erfolgte: der langfristig angelegte, grundlegende ­Reform- und Transformationsprozess des DSM in Forschung und Aus­ stellung.4 Hierzu wiederum ist vor allem wichtig zu verstehen, dass das DSM Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft ist und sich in diesem Sinne als Forschungsmuseum und »Leibniz-Institut für Maritime Geschichte« definiert.5 Die Wurzeln dieses Selbstverständnisses reichen fast bis in die Gründungszeit zurück, als das DSM nur fünf Jahre nach seiner Er­ öffnung 1975 in die »Blaue Liste«, dem Vorgänger der Leibniz-Gemeinschaft, aufgenommen wurde.6 In Hinblick auf die Thematik der Forschungsschifffahrt hatte diese Neuausrichtung zwei besonders wichtige Folgen: Zum einen erhielt sie als Forschungsthema zusätzliches Gewicht. Nicht zuletzt das Schiff Polar­ stern diente dabei als ein Fallbeispiel für ein größeres, über­geordnetes Themenfeld mit dem Titel »Schiffe als Medien des Wissenstransfers und der Wissensgenerierung«.7 Zum anderen kristallisierte sich die Forschungsschifffahrt zunehmend als ein Thema heraus, das in der neuen Gesamtausstellung im wahrsten Sinne des Wortes ins Zentrum rücken sollte. Forschungsschifffahrt hatte auch in einer im Jahr 2000 eröffneten Ausstellung bereits eine Rolle ­gespielt und zur Sammlung des Museums gehört außerdem die Grönland, ein umgebauter Robbenfänger, mit dem 1868 die »Erste Deutsche Polarexpedition« durchgeführt worden war und der in restauriertem Zustand von Freiwilligen fahrtauglich gehalten wird. Zur Evaluierung des DSM durch den Senat der Leibniz-Gemeinschaft 2017 war ein Vor4 Senat der Leibniz-Gemeinschaft, Stellungnahme zum Deutschen Schiffahrtsmuseum – Leibniz-Institut für deutsche Schifffahrtsgeschichte, Bremerhaven (DSM), 28. 11. 2017, hier S. 2. Der Bericht ist online veröffentlicht: https://www.leibniz-ge meinschaft.de/fileadmin/user_upload/ARCHIV_downloads/Archiv/Evaluierung/ Senatsstellungnahmen/DSM _-_Senatsstellungnahme_28-11-2017_mit_Anlagen. pdf [Abruf: 12. 9. 2021]. 5 Das Selbstverständnis von »Forschungsmuseen« der Leibniz-Gemeinschaft wurde im Juni 2012 im »Bund-Länder-Eckpunktepapier zu den Forschungsmuseen der LeibnizGemeinschaft« der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) verschrift­licht: https://www.gwk-bonn.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/Papers/Bund-Laen der-Eckpunktepapier-Forschungsmuseen-Leibniz.pdf [Abruf: 12. 9. 2021]. 6 Zur Geschichte des Museums siehe: Kai Kähler, 40 Jahre Deutsches Schiffahrtsmuseum – Von Wandel und Wirkung, Bremerhaven 2015, hier S. 21. 7 Senat der Leibniz-Gemeinschaft, Stellungnahme zum Deutschen Schiffahrtsmuseum, Anlage B: Bewertungsbericht, S. B-10. 204

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haben gereift, in das Mittelschiff des im Jahr 2000 eröffneten, vom ­Architekten Dietrich Bangert entworfenen Teils des Museumsgebäudeensembles eine begehbare Forschungsschiffinstallation einzurichten, die Anleihen an Polarstern nehmen sollte.8 Damit sollte dem Thema weit mehr Aufmerksamkeit zukommen als bisher. In Vorbereitung der neuen Dauerausstellung waren deshalb im Zuge der Neuausrichtung die Herausforderungen diskutiert worden, die sich ganz grundsätzlich dabei ergeben, wenn man Forschungsschiffe und Forschungsschifffahrt museal vermitteln möchte. Auf diese Herausforderungen wird im Folgenden eingegangen. Forschungsschifffahrt im Museum: Herausforderungen und Beispiele Die Herausforderungen beginnen schon bei der Definition eines Forschungsschiffs. In einigen Fällen ist sie eindeutig – Polarstern zum Beispiel ist ein spezifisch für die wissenschaftliche Forschung gebautes Schiff –, aber eine allgemeine Festlegung der zugehörigen Kriterien ist schon insofern schwierig, als auch der Begriff ›Forschung‹ im Laufe der Jahrhunderte einer Wandlung seiner Bedeutung unterlag oder auch ein Schlauchboot auf einem See zeitweilig als Forschungsschiff fungieren kann.9 ›Forschung‹ auf der Grönland war etwas sehr anderes als auf der Polarstern. Einem dekonstruktivistischen Ansatz folgend, wurde deshalb sozusagen »for all practical purposes« angenommen, dass Forschungsschiffe schwimmende Gefährte sind, mit denen an eine bestimmte Stelle auf dem Meer oder auf einem Binnengewässer gefahren wird, um dort Instrumente über Bord ins Wasser zu lassen, die in der Folge wieder eingeholt werden, um die damit gewonnenen Daten zu erhalten. Teilweise erfolgt die Auswertung der Daten schon an Bord, das ist allerdings keines­wegs zwangsläufig. Genau dieses Prinzip zu verstehen, sollte bei der Vermittlung der Forschungsschifffahrt im Zentrum stehen. Anders formuliert: Der ­ ­Forschungsprozess und das Datensammeln sollten in den Mittelpunkt rücken und es sollte verstanden werden, dass Forschungsschiffe gewissermaßen große, variabel bestückbare wissenschaftliche Instrumente sind, 8 Ebd., S. 3. 9 »Forschung« wurde immer mehr mit dem Konzept »der« institutionalisierten »Wissen­schaft« assoziiert. Siehe zu dieser Entwicklung zum Beispiel: Marianne Sommer / Staffan Müller-Wille / Carsten Reinhardt (Hg.), Handbuch Wissenschafts­ geschichte, Stuttgart 2017, S. 2-19, hier S. 10-14. 205

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mit denen in erster Linie Datenmaterial erhoben wird.10 Noch einmal anders formuliert: Für die Forschung auf einem Forschungsschiff sind weniger die Labore an Bord ausschlaggebend, obwohl Labore und Forschung häufig gleichgesetzt werden, sondern in erster Linie das Arbeitsdeck, von dem aus Instrumente häufig unter extremen Wetterumständen ins Wasser gelassen werden. Hinzu kommt, dass mit der zunehmenden Entwicklung autonomer Messgeräte die Bedeutung von Forschungsschiffen sich wegbewegt von schwimmenden Forschungsplattformen hin zu Komponenten in einem Netz der Datensammlung und -über­tragung, zu der beispielsweise auch Satelliten zählen. Autonome Mess­geräte müssen nur einmal ausgesetzt werden und können lange Zeit später wieder eingeholt werden. Die extremen Umstände, unter denen auf Forschungsschiffen häufig gearbeitet wird, leiten über zu einer weiteren Herausforderung: Wie alle Museumsobjekte werden Schiffe aus ihrem natürlichen Kontext herausgenommen, wenn sie im musealen Kontext ausgestellt werden.11 Be­zogen auf das Beispiel des Forschungsschiffs Polarstern, wird diese Dekontextualisierung insofern besonders bemerkbar, als das Schiff mit exotischen, schwer erreichbaren Regionen (Arktis, Antarktis und den Meeren) verbunden wird und Umfragen, die in Vorbereitung der neuen Ausstellungs­ einheit durchgeführt wurden, deutlich belegten, dass gerade auch das Interesse an diesen Regionen ein wesentlicher Bestandteil des Interesses an dem Schiff selbst ausmacht.12 Der Verlust des ureigenen Anwendungskontexts der Schiffe lässt sich in diesem Fall entsprechend schwieriger mit der Aura des Museumsraums kompensieren.13 Die nächste Herausforderung, die sich nicht nur auf Forschungsschiffe beschränkt, sondern allgemein für Schifffahrtsmuseen konstatieren lässt und weitreichende Implikationen für ihre Musealisierung hat, ist, dass 10 Siehe zum Schiff als wissenschaftlichem Instrument: Richard Sorrenson, The Ship as a Scientific Instrument in the Eighteenth Century, in: Osiris, Bd. 11 /1 (1996), S. 221-236; Liba Taub, What is a scientific instrument, now?, in: Journal of the History of Collections 31 /3 (2019), S. 453-467. 11 Siehe hierzu zum Beispiel: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Erste Fassung), nachgedruckt in: Rolf Tidemann / Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Walter Benjamin – Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1991, S. 435-469. Ebenfalls diskutiert wird die Problematik beispielsweise in: Ivan Karp / Steven D. Lavine, Exhibiting Cultures – The Poetics and Politics of Museum Display, Washington 1991. 12 Zu den Umfragen siehe: Jasmin Hettinger, Unser Museum befindet sich im Wandel, in: Deutscher Museumsbund (Hg.), Hauptsache Publikum! Besucherforschung für die Praxis, Berlin 2019, S. 49. 13 Die Aura ist hier im Sinne Tony Bennetts gemeint: Tony Bennett, The Birth of the Museum – History, Theory Politics, London / New York 1995, S. 99-102. 206

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das auszustellende Objekt in der Regel größer ist als der verfügbare Platz: Die meisten (Forschungs-)Schiffe sind zu groß für ein Museum. Es gibt vor allem zwei Ansätze, diesem Problem zu begegnen: Ein ganzes Schiff wird in einem Museumshafen ausgestellt oder eine Auswahl wichtiger Komponenten des Schiffs – beispielsweise an Bord eingesetzte Instrumente oder Schiffsteile – wird im Museum kontextualisiert. Im ersten Fall stellt sich wieder die Frage der zwangsläufigen »Stilllegung« und Entrückung aus dem Einsatzgebiet, im zweiten Fall jedoch noch viel mehr die Frage der Priorisierung bzw. Auswahl von Komponenten und wie sie sich im Rahmen einer Ausstellung wieder zu einem Ganzen ­zusammenfügen. Dazu wiederum ist es wichtig, über die Sammlungs­ bildung zu reflektieren: Nach welchen Kriterien wurde von wem ge­ sammelt? Gab es überhaupt eine Auswahlmöglichkeit, oder konnte­ ­lediglich Übriggebliebenes und Ausrangiertes (»rubbish« im Sinne Michael Thompsons) aufgenommen werden?14 Ein naheliegender und besonders in Schifffahrtsmuseen häufig genutzter Weg, ein Gesamtbild für Betrachter:innen zu erzeugen, ist zudem der Einsatz von Schiffsmodellen mit möglichst viel Detailschärfe. Als besonders wertvoll gelten in diesem Zusammenhang Werftmodelle, nicht nur, weil sie meist sehr detailreich sind, sondern auch, weil sie in der Regel von den Werften, die auch das Schiff selbst bauen, angefertigt werden, um Auftraggebern ein Bild des entstehenden Schiffs zu ver­ mitteln. Damit sind sie sehr nah am Ursprungszustand des Schiffs und haben ebenfalls die Aura eines Originals. Außerdem sind sie gewisser­ maßen Schnappschüsse aus der Konstruktionsphase der jewei­ligen Schiffe, enthalten also eigene historische Informationen. Ein prominentes Beispiel für die Musealisierung eines gesamten Forschungsschiffs ist die am World Ocean Museum im russischen Kaliningrad bewahrte Vityaz. Das Schiff lief vor dem Zweiten Weltkrieg als Frachtschiff in Bremerhaven vom Stapel, wurde nach Kriegsende in der Sowjetunion umgebaut und zum Flaggschiff der vergleichsweise großen russischen Forschungsflotte. Bekanntheit erlangte es vor allem durch den Einsatz in einer Expedition 1957, in der der tiefste Punkt des Ozeans gelotet wurde. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde das Schiff vor dem Abwracken bewahrt und aufwendig restauriert, sodass heute nahezu alle Bereiche des Schiffes im Zustand der 1950er Jahre zu besichtigen sind oder professionell gestaltete Ausstellungseinheiten zum Beispiel zur Geschichte der russischen Polar- und Meeresforschung be14 Michael Thompson, Rubbish Theory. The Creation and Destruction of Value, New Edition, London 2017. 207

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Abb. 2: Die rekonstruierte Fahrtleiterkabine auf dem Forschungsschiff Vityaz im World Ocean Museum in Kaliningrad im November 2016

herbergen. (Abb. 2) Der Kontext, aus dem das Schiff stammt, wird also gewissermaßen in dem Objekt selbst thematisiert. Das Schiff bildete ferner den Ursprung eines inzwischen umfangreichen Museumshafens, zu dem außerdem um die Jahrtausendwende herum ein großes Museums­ gebäude mit einer regelmäßig aktualisierten Dauerausstellung zur Meeres­ forschung errichtet worden ist.15 Weitere Beispiele der Musealisierung ganzer Forschungsschiffe des 20. Jahrhunderts sind der japanische Eisbrecher Soya im Museum of Maritime Science in Tokio sowie der Atomeisbrecher Lenin im Arctic Expo Centre im russischen Murmansk. Über die zwei beschriebenen, eng mit dem physischen Museumsraum verknüpften Wege hinaus gibt es noch zwei weitere Methoden, mit ­denen Forschungsschiffe gleichsam lebendig – also möglichst im Rahmen ihres originalen Anwendungskontexts – erfahrbar gemacht werden können. Die erste sind Tage der offenen Tür auf Forschungsschiffen, die noch im Dienst sind. Im Fall der Polarstern wird ein solcher »Open Ship Day« ungefähr alle fünf Jahre durchgeführt und erfreut sich über­ wältigender Beliebtheit.16 Auch hier reizt Besucher:innen offenbar die 15 Zur Vityaz und ihrer Konservierung siehe: S. G. Sivkova / V. L. Styruk, »Vityaz« Research Vessel, in: B. G. Saltykov (Hg.), Relics of Science and Technology in Russian Museums, Moscow 2015, S. 36-38. 16 Alfred Wegener Institut (Hg.), Geschäftsbericht 2017, Bremerhaven 2018, S. 6 und 30. Insgesamt kamen 14.000 Besucher an zwei Tagen. Der Geschäftsbericht ist on­ line einzusehen: https://www.awi.de/fileadmin/user_upload/AWI/Ueber_uns/Orga ­nisation/Leitung/Dateien/AWI_Geschaeftsbericht_2017_DE.pdf [Abruf: 12. 9. 2021]. 208

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Nähe zu einem Gefährt, das im Gegensatz zu den stillgelegten Schiffen im Museum noch aktiv und mithin im »Davor« angesiedelt ist. Der ­Authentizitätswert bzw. der Nahbarkeitswert sind hier offenbar attraktiv. Das World Ocean Museum nutzt diesen Effekt, indem es mit einem Meeresforschungsinstitut kooperiert und unter anderem ein dem Institut gehörendes Forschungs-U-Boot ausstellt, das jederzeit für einen Einsatz abgeholt werden könnte.17 Die zweite Methode ist der Einsatz digitaler Techniken. Vorreiter war in dieser Hinsicht das vom Google-Gründer Eric Schmidt gestiftete Schmidt Ocean Institute. Es bietet im Google-Street-View-Modus einen Rundgang über das von ihm betriebene Forschungsschiff Falkor (ein umgebautes, ehemaliges Fischereischutzboot der Bundesrepublik).18 Auch das Alfred-Wegener-Institut bietet seit 2019 eine solche Tour auf der ­Polarstern an.19 Übergeordnetes Narrativ & Objektauswahl für die Sonderausstellung Die Gestaltung einer Sonderausstellung zur Forschungsschifffahrt bot die Möglichkeit, aufbauend auf den bereits erfolgten Erwägungen rund um die geplante Forschungsschiff-Installation, neue Techniken zu testen, Ausstellungsnarrative rund um die Forschungsschifffahrt weiterzuent­ wickeln, fachliche Kontakte zu pflegen und zu erweitern und außerdem Material zu schaffen, das für die spätere Dauerausstellung nutzbar war. Von vorneherein wurde auch geplant, die bereits erwähnten Be­ sucher:innen­befragungen im Kontext der Sonderausstellung systematisch weiterzuführen und auszubauen, was bei der Konzeption der oben angeführten »Polarlounge« mit einbezogen wurde.20 Während zu Beginn kurzzeitig im Raum stand, Filmaufnahmen mit der museumseigenen Grönland zu machen, fiel schnell die Entscheidung, den Fokus auf die Polarstern zu legen, die auch in der gleich­ ­ namigen Forschungsschiffinstallation als Referenzpunkt dienen 17 18 19 20

Persönliches Gespräch des Autors mit Larisa Zubina am 18. 11. 2016. https://schmidtocean.org/tour-rv-falkor/ [Abruf: 12. 9. 2021]. http://digatwin.com/polarstern/ [Abruf: 12. 9. 2021]. Siehe hierzu Julia Mayer, 360° POLARSTERN. Eine Ausstellungsexpedition mit Deutschlands bekanntestem Forschungsschiff, in: museums:zeit 76 (2019), S. 49 f.; dies., Erscheinen und Erfahren. Über Phänomenalität und Besucher­resonanz der VR-Ausstellung 360° POLARSTERN im Deutschen Schifffahrtsmuseum, in: Standbein Spielbein, Museumspädagogik aktuell 114 /2 (2020), S. 84-88. 209

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sollte.21 Hinzu kam, dass zeitgleich mit der Ausstellung eine der größten internationalen Arktis-Expeditionen stattfinden sollte, die das AlfredWegener-Institut federführend organisierte und bei der die Polarstern eine Schlüsselrolle spielte: die MOSA iC-Expedition. Als übergeordnetes Narrativ für die Sonderausstellung wurde das eines »Trainings« entworfen: Besucher:innen sollten sich fühlen, als ob sie sich auf eine Fahrt mit Polarstern vorbereiten würden, und so das Schiff durch die Ausstellung kennenlernen bzw. einmal das L ­ eben und Arbeiten an Bord beobachten können. Um dies zu unterstreichen und um gleich­ zeitig Besucher:innen etwas Haptisches zum Mitnehmen an die Hand zu geben, wurde ein »Expeditionsbuch« in Form eines Leporellos mit dem Untertitel »Trainiere mit der virtuellen Polarstern für eine Expedition« vorbereitet. Darin wurden Besucher:innen aufgefordert: »Trage Dein Expeditionsbuch stets bei Dir. Es verschafft Dir für Dein Training die nötige Orientierung und hält jede Menge ­Infos bereit!« Als zusätzliche räumliche Klammer wurde ein Grundriss der Polarstern auf dem Boden des Ausstellungsbereichs aufgebracht. In dem »Expeditionsbuch« wurden einige der ausgestellten historischen Objekte vorgestellt, die, wie oben beschrieben, die Virtual-RealityStationen flankierten und auf deren Auswahl noch kurz eingegangen werden soll. Vor allem zwei Kriterien sind dabei zum Tragen gekommen: Erstens wurde versucht, möglichst Objekte auszustellen, die noch nicht ausgestellt worden waren. Zweitens sollten diejenigen Inhalte, die über die Videos sowie eine zugehörige Audiospur mit Erläuterungen des zu Sehenden schwer zu vermitteln waren, ergänzend über die Objekte und die zugehörigen Objekttexte bzw. Grafiken transportiert werden. Ein Beispiel dafür ist der erste von der Polarstern aus eingesetzte ferngesteuerte Unterwasserroboter, genauer ein ROV (Remotely Operated Vehicle), der von allen Teilnehmer:innen der Expedition »Uwe« genannt worden ist.22 Neben diesem historischen ROV wurde nun eine selbst­ registrierende Messboje, der NEMO Float, ausgestellt. Die beiden Instru­ mente nebeneinander sollten die oben erwähnte zunehmende Bedeutung autonomer Messgeräte verdeutlichen, die nur mit dem Schiff ausgesetzt und nicht – wie noch der ROV – direkt wieder eingeholt werden müssen. Eine Schnapsflasche thematisierte ein Charakteristikum der Forschungs­ schifffahrt, das ebenfalls nicht über die Videos transportiert werden konnte. Alle Teilnehmer:innen der ersten Antarktisexpedition der Polar21 Niels Hollmeier / Martin Weiss, Virtuelle Forschungsarbeit im Deutschen Schifffahrtsmuseum, in: Museum Magazin 38 (2019), S. 14-22. 22 Persönliche Mitteilung von Gotthilf Hempel an den Autor, 16. 2. 2016. 210

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stern hatten eine solche Flasche erhalten und ihre Etiketten waren sowohl vom damaligen Kapitän als auch vom wissenschaftlichen Fahrtleiter unter­schrieben. Damit symbolisiert sie die enge Verflechtung von nautischem und wissenschaftlichem Wissen, das die Forschungsschifffahrt immer und grundsätzlich seit jeher prägt. Nebenbei verwies die Flasche noch auf das Jahr der Indienststellung der Polarstern und verdeutlichte mit einem eigens hergestellten Etikett mit der Aufschrift »bipolarer Schnaps«, dass das Schiff sowohl in die Arktis als auch in die Antarktis fährt, was eine Besonderheit unter Polarforschungsschiffen ist. Nichtsdestotrotz blieb der Fokus der Ausstellung und der Fokus des Interesses der Ausstellungsbesucher:innen eindeutig bei den VR-Stationen. Welch unerwartete Folgen dies hatte und welche Implikationen dies wiederum für die Rolle des Museumsraums hat, ist Thema des folgenden und vorletzten Abschnitts. Entgrenzung des Museumsraums Die Sonderausstellung kann als Erfolg gewertet werden, schon weil es gelang, unter anderem durch sie, die Besucher:innenzahlen trotz Umbaumaßnahmen im DSM auf einem »gehobenen« Niveau zu halten.23 Die erwähnte Verlängerung wurde mit »viel Zuspruch« begründet.24 Das Besucher:innenbuch zur Ausstellung deutet zudem darauf hin, dass ­neben den hohen Besucher:innenzahlen ein weiteres, selbstgestecktes Ziel erreicht wurde: Die Einträge stammen zunehmend von jungen Besucher:in­ nen. Offen­bar war gelungen, was die Direktion erhofft hatte, als sie einige Wochen vor der Eröffnung in der Presse wie folgt zitiert worden ist: Ziel ist es, neue Welten zu entdecken und entdecken zu lassen, um das Museum auch etwas zu entgrenzen. Wir wollen das Haus auf eine andere Ebene bringen und junge Menschen erreichen. Denn das ist ge­ rade die Kunst und wir sind wirklich froh, dass wir die Möglichkeiten haben, dieser Zielgruppe etwas bieten zu können. Das Schlimmste, was Museen passieren könnte, ist, dass die nachwachsende Generation sie nicht mehr für relevant erachtet.25 23 Deutsches Schifffahrtsmuseum (Hg.), Geschäftsbericht 2019, Bremerhaven 2020, S. 21. 24 Pressemitteilung des DSM vom 10. 3. 2021, »Sonderausstellungen. 25 Sunhild Kleingärtner, zitiert nach: »So geht Museum heute!« Virtual- und Augmented Reality. Auf offener See mit dem Forschungsschiff ! https://tantebabo.de/ szene/virtual-und-augmented-reality-auf-offener-see-mit-dem-forschungsschiff, 18. 2. 2019 [Abruf: 12. 9. 2021]. 211

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Die Verschiebung des Fokus einer Ausstellung weg von historischen ­Originalobjekten hin zu einem virtuellen Erlebnis war also durchaus programmatisch gemeint. Ziel war die Abwendung von einem »klassischen« Museumsverständnis, wie es sich, wenn man Tony Bennett folgt, im späten 19. Jahrhundert herauskristallisierte. Damals, so zeigt Bennett auf, wurde das Museum ganz bewusst abgegrenzt von anderen Ausstellungs­ formen. Bennett spricht vom »exhibitionary complex«, innerhalb dessen Museen sich, im Gegensatz zum Beispiel zu Jahrmärkten, als Orte etablierten, in denen die Bourgeoisie in Ausstellungsräumen korrektes Verhalten in der Öffentlichkeit erlernen sollte – unter anderem eine ­typische Museumsarchitektur und Aufsichten sollten Besucher:innen dazu be­ wegen, sich in den Hallen der hohen Kultur zivilisiert zu ver­halten.26 Kinder – die nachwachsende Generation – waren da nicht unbedingt erwünscht. Sich im Kontrast zu diesem Museumsideal zu profilieren, hat durchaus historische Vorläufer. Die Debatte darüber, Museen weniger elitär zu gestalten, entbrannte schon kurz nach dem Aufkommen dieses Museums­ ideals. Ein prominentes und frühes Beispiel dafür ist das Deutsche ­Museum in München, dessen Gründer Oskar von Miller sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts einerseits sehr geschickt des »klassisch-humanistischen Kulturbegriffs«27 der Kaiserzeit bediente, um mit einem Museum der »Meisterwerke der Naturwissenschaft und Technik« der Berufsgruppe der Ingenieure einen Prestigezuwachs zu verschaffen. Gleichzeitig setzte er auf eine »betont volksnahe und spielerische Gestaltung der Ausstellungs­ räume«,28 bei der er die Angst Wilhelm Conrad Röntgens beschwich­ tigen musste, seine Erfindung des Röntgengeräts werde auf Jahrmark­ tniveau präsentiert, weil Besucher:innen unter anderem ihr eigenes Portemonnaie durchleuchten konnten.29 Auch Tony Bennett konstatierte fast ein Jahrhundert später, wie hartnäckig sich das von ihm beschriebene Museumsideal halte, und argumentierte für einen stärkeren Einbezug indigener Gruppen in ethnografische Museumsnarrative. Die Sonderausstellung ist also als erfolgreicher Teil einer länger­ fristigen Öffnung des Ausstellungsraums zu sehen, der in diesem Fall 26 Bennett, The Birth of the Museum, S. 99-102. 27 Olaf Hartung, Museen des Industrialismus – Formen bürgerlicher Geschichts­ kultur am Beispiel des Bayerischen Verkehrsmuseums und des Deutschen Bergbaumuseums, Köln / Weimar 2007, S. 53. 28 Wilhelm Füßl, Gründung und Aufbau 1903-1925, in: ders. / Helmuth Trischler (Hg.), Geschichte des Deutschen Museums. Akteure, Artefakte, Ausstellungen, München 2003, S. 59-102, hier S. 69. 29 Ulrich Menzel, Die Musealisierung des Technischen. Diss. Technische Universität Braunschweig 2002, S. 250. 212

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über den Einsatz neuer Medien erfolgte. Anders formuliert: Durch digitale Medien wurde ein noch aktives, im »Davor« angesiedeltes Objekt ausgestellt, das außerdem zu groß für den Ausstellungsraum gewesen wäre. Damit wurde Zugang zu ansonsten verschlossenen Welten gewährt und, um mit Sharon Macdonald zu sprechen, ganz allgemein eine Assoziation aller Museen insbesondere unter Jüngeren mit einem reinen »connoisseur approach« vorgebeugt.30 Dies ist ein erstes Fazit, es wäre jedoch zu früh, hier zu enden: Abschließend soll noch einmal auf die Bedeutung der Kombination historischer Objekte und des virtuellen Erlebnisses eingegangen werden. Fazit: Plädoyer für Objekte Eingangs ist bereits erwähnt worden, dass Museen, wenn man sie als s­oziale Konstruktionen betrachtet, ganz wesentlich davon geprägt sind, dass sie Luxusgüter schaffen, indem sie Konsum- bzw. Gebrauchswaren dem Handelskreislauf bzw. dem »Davor« entnehmen. In der Regel ­steigern sie damit den Wert der Güter. Das lässt sich zu einem g­ ewissen Grad sogar pekuniär quantifizieren, zum Beispiel, wenn M ­ useumsstücke doch wieder verkauft werden. Auch das Bewahren der Objekte kostet Geld: Ihre Konservierung, die Errichtung und der Erhalt eines Museums­ gebäudes sowie die Expertise des betreuenden Fach- und Wachpersonals verursachen Kosten. Alleine durch die Aufnahme in eine Museumssammlung und ihre Bewahrung steigt potenziell der Seltenheitswert und damit nach den Gesetzen des Marktes der ökonomische Wert. Weniger genau lässt sich allerdings quantifizieren, wie sehr die Aura des Museums als exklusiver Ort hoher Kultur, wie Tony Bennett sie analysierte, zur Aufwertung der Objekte beiträgt. Soziale Barrieren wie Eintrittspreise, aber auch das Kanonisieren eines gewünschten sozialen Verhaltens tragen zumindest dazu bei, indem sie einen Exklusivitätswert schaffen. Zugespitzt könnte man sagen: Museen sind Prestigefabriken. Auch wenn sie, wie am Beispiel der Sonderausstellung beschrieben, gezielt ge­ öffnet werden, spiegeln sie immer die gesellschaftlichen Ideale einer jeweiligen gesellschaftlichen Elite wider, die sich die Kosten eines Museums 30 »What I had witnessed in the [Science] Museum was a general attempt to shift the focus from the collections to the visitors. It was an attempt to move from a connoi�seurship approach (in which displays are determined by developed expertise) to a forensic one (in which they have to be based on evidence of what visitors are likely to want).« Sharon Macdonald, Behind the Scenes at the Science Museum, Oxford / New York 2002, S. 247. 213

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leisten kann. Diese Institutionen schaffen so vor allem kulturelles Kapital im Sinne Pierre Bourdieus.31 Entscheidend ist aber, dass die Schöpfung dieses Kapitalwerts wiederum ganz wesentlich an den physischen Objekten hängt, die Museen bewahren. Man kann zwar auch ein Museumscafé als Dreh- und Angelpunkt des Museumsbesuchs sowohl im Hinblick auf seine Funktion als sozialer »dritter Ort« als auch als Einnahmequelle ­sehen, aber ohne Objekte wäre es eben nur ein Café, kein Museumscafé.32 Das heißt, dass eine Öffnung des Museumsraums über neue Medien, wie die im Vorhergehenden beschriebene, sehr behutsam betrieben ­werden muss. Unterstreichen kann man dies mit einem Gedanken­ experiment: Hätte man die Ausstellung ohne historische Objekte nicht ebenso gut mit einer Virtual-Reality-Brille auch in gleicher Weise von zu Hause aus erleben können? Oder welche Rolle spielen die eigene Körper­ lichkeit der Besucher:innen und deren Interaktion mit dem Ausstellungs­ raum und den physischen Objekten? Und wie würde sich hier die mit der Sonderausstellung beabsichtige Verschränkung der in diesem Band idealtypisch gedachten Phasen des »Davor«, »Dazwischen« und »Danach« auswirken? Zwar wäre auch dabei über soziale Barrieren wie Paywalls die Konstruktion eines exklusiven virtuellen Raums möglich und somit vielleicht auch die Schaffung eines virtuellen Museumsraums – oder zumindest eines virtuelles Pendants zum physischen Museumsraum. Aber wenn man sich vor Augen führt, wie lange die Versuche, sich vom idealtypischen Museum des 19. Jahrhunderts zu lösen, bereits andauern, dann erkennt man die enge Verknüpfung der Rolle des Museums als wertschöpfende »Prestigefabrik« mit ebendem physischen Museumsraum, und das legt die Vermutung nahe, dass das »Danach« noch lange die Museumsarbeit prägen wird. Konkret würde das in Bezug auf ­Forschungsschiffe bedeuten, dass die in ihrer Gesamtheit bewahrten Schiffe am stärksten die Erinnerung an die Forschungsschifffahrt prägen werden. Es bleibt zu hoffen, dass im Rahmen dieser zukünftigen Auslotung des Verhältnisses von virtuellen Räumen zu physischen Museumsräumen möglichst viele und für alle Beteiligten genauso fruchtbare und zu Ex­ perimenten ermutigende Sonderausstellungen durchgeführt werden kön­ nen, wie es bei »360° POLARSTERN« der Fall war. 31 Siehe zum Kapitalbegriff Bourdieus: Hans van der Loo / Willem van Reijen, Paradoxen van modernisering, Bussum 1997, S. 127-130. 32 Zum Konzept des »dritten Orts« siehe: Ray Oldenbourg, The Great Good Place, 3. Aufl., New York 1999. Siehe zum Museumscafé Johannes Cladders Aussagen zu Hans Holleins Entwürfen für das Museum für bildende Kunst in Mönchengladbach in: Hans Ulrich Obrist, A Brief History of Curating, Zürich 2010, S. 62 f. 214

ein schiff in den raum stellen

Abbildungen Abb. 1: Die Sonderausstellung »360° POLARSTERN«. (Foto: Martin Weiss) Abb. 2: Die rekonstruierte Fahrtleiterkabine auf dem Forschungsschiff Vityaz. (Foto: Martin Weiss)

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Jana Hawig

Dinge in Storytelling-Ausstellungen am Beispiel von »Pia sagt Lebwohl«

»Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, muss es spätestens im dritten Akt abgefeuert werden«, soll der russische Dramatiker Anton Tschechow gesagt haben.1 Das Zitat verweist auf die zentrale Funktion von Dingen in erzählerischen Kontexten. Eine gute dramaturgische ­Praxis erfordert es, Dinge nur dann prominent zu platzieren, wenn diese im Verlauf der Erzählung eine für die Handlung relevante Funktion zugewiesen bekommen. Autor:innen und Regisseur:innen, ebenso wie Ausstellungsmacher:in­ nen, schreiben Dingen demnach spezifische Werte und eine Aussagekraft zu. Anders als in Erzählungen ist deren Funktion in klassisch-musealen Ausstellungen jedoch eine andere: Dort stehen Dinge als Exponate im Zentrum und nehmen als »authentische[] Belegstücke[]« eine Art Beweis­ funktion innerhalb der Wissensvermittlung ein.2 Was passiert nun mit den Dingen, wenn die beiden Referenzrahmen Ausstellung und Erzählung zusammenkommen? Dieser Beitrag geht der Frage nach, welche Funktionen Dinge in stark narrativierten Ausstellungen haben und mit welchen Werten sie hier verknüpft sind. In narrativen Ausstellungen bedienen sich Ausstellungsmacher:innen bewusst erzählerischer Mittel, um die Vermittlung ihrer Inhalte zu beeinflussen. Storytelling als Begriff ist eine Entlehnung aus dem Englischen und wird seit einigen Jahren in verschiedenen Branchen wie Marketing oder Werbung genutzt. In Anlehnung an das Buchkonzept untersucht dieser Beitrag Inwertsetzungen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten: Zum einen betrachtet er konzeptionelle Intentionen der Ausstellungsmacher:innen bei der 1 Vgl. Karolina Frenzel / Michael Müller / Hermann Sottong, Storytelling. Das Praxisbuch, München 2006, S. 102. 2 Friedrich Waidacher, Handbuch der Allgemeinen Museologie, Wien 1993, S. 233; vgl. Thomas Thiemeyer, Das Museum als Wissens- und Repräsentationsraum, in: Markus Walz (Hg.), Handbuch Museum. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart 2016, S. 18-21, hier S. 21; auf eine weitere Unterscheidung kuratorischer Funktionen von Dingen in Ausstellungen (vgl. Thomas Thiemeyer, Geschichte im Museum, Stuttgart 2018, S. 129 ff.) wird an dieser Stelle aus Platzgründen verzichtet. 217

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Verwendung von Dingen in Storytelling-Ausstellungen3 und wäre somit in der Phase des »Davor« anzusiedeln. Zum anderen werden Reaktio­nen der Besucher:innen auf die Dinge berücksichtigt, also Inwertsetzungen, die in der Phase des »Danach« vorgenommen werden, wenn die Ausstellung bereits steht. Storytelling-Ausstellungen Ein erzählerischer Blick auf Ausstellungen nimmt seit dem Aufkommen der Szenografie in den 1990er Jahren zu. Hier gewinnt die Raumgestaltung an Bedeutung, das Objekt hat nicht mehr das Primat der Wissensvermittlung inne.4 Ein Beispiel hierfür ist das 2005 eröffnete Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven, dessen Dauerausstellung vor allem durch die an Filmkulissen erinnernden detailreichen Raumgestaltungen geprägt ist. Auch in theoretischen Kategorisierungen von Ausstellungen5 und in Vermittlungsansätzen taucht die narrative Dimension auf. Eine Defini­ tion erzählerischer Ausstellungen stammt von Thomas Thiemeyer: Als narrativ sollen Ausstellungsstrategien bezeichnet werden, die auf eine starke Plotstruktur zielen und dabei um Linearität (gerichtete zeit­ liche Abfolge mit Anfang, Mitte und Ende), Kohärenz (Zusammen­ hang) und Kausalität (Ursache-Wirkungs-Logik) bemüht sind, um einen Ereignisverlauf zu einem bestimmten Ende zu führen.6 Für die Beschreibung dieser Strategie nutzt er narratologische Begriffe, die die Anordnung der Inhalte nach erzählerischen Gesichtspunkten 3 Eine detaillierte Definition von Storytelling-Ausstellungen auf narratologischer Basis wird derzeit durch die Autorin in Form einer Dissertation an der Universität Würzburg erarbeitet. Diese ist ebenfalls Teil des hier angesprochenen Forschungsprojekts. 4 Vgl. Thomas Thiemeyer, Inszenierung, in: Heike Gfrereis / ders. / Bernhard Tschofen (Hg.), Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen 2015, S. 45-62, hier S. 58 ff. 5 Vgl. Peter van Mensch, The Characteristics of Exhibitions, in: Museum Aktuell 92 (2003), S. 3980-3985; Michael Parmentier, Mit Dingen erzählen. Möglichkeiten und Grenzen der Narration im Museum, in: Tobias G. Natter / Michael Fehr / Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.), Die Praxis der Ausstellung. Über museale Konzepte auf Zeit und auf Dauer, Bielefeld 2014, S. 147-164, hier S. 156. 6 Thomas Thiemeyer, Simultane Narration. Erzählen im Museum, in: Alexandra Strohmaier (Hg.), Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielefeld 2013, S. 479-488, hier S. 483 (Hervorhebung im Original). 218

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festlegen. Dieser Ansatz nimmt zudem die Visualität der Ausstellung in den Blick. Eine Erzählung wird hier, anders als in einem Text, simultan wahrgenommen, auch wenn die Ereignisse möglichst linear angeordnet werden, um eine Nachvollziehbarkeit der Erzählung zu ermöglichen. Eine Ausstellungserzählung folgt demnach anderen Regeln als lineare Erzählmedien. Die in diesem Beitrag beschriebene Ausstellungsstrategie geht dabei noch einen Schritt weiter. Mit dem Begriff Storytelling wird ein grund­ legender Wechsel von der Ansprache des argumentativen in den des narrativen Modus beschrieben.7 Dieser Wechsel wird in solchen Kommunikationskanälen vollzogen, deren Inhalte nicht primär Geschichten erzählen, sondern ein anderes Ziel verfolgen: verbesserte Kundenansprache, die Erhöhung des Umsatzes, die Vereinfachung der Vermittlung etc. In diese Kommunikation werden nun erzählerische Elemente hinzugefügt, um einen narrativen Denkmodus bei den Rezipient:innen zu aktivieren, damit diese die dargestellten Informationen besser aufnehmen können. Hierfür werden typische Elemente aus Erzählungen wie Figuren, eine Handlung oder eine räumliche und zeitliche Verortung für die Darstellung genutzt.8 Die Macher:innen wollen hiermit bewusst die Vermittlung der Inhalte für eine bestimmte Zielgruppe erleichtern. So würde beispielsweise eine Ausstellung über die Geschichte des römischen K ­ aisers Nero nicht per se Storytelling nutzen, auch wenn Ausstellungen über historische Persönlichkeiten wegen ihrer »narrationsadäquaten« Inhalte prädestiniert für diese Strategie sind.9 Erst wenn Inhalte zum Leben des Kaisers mithilfe verschiedener narrativer Elemente in der Ausstellung erfahrbar10 und die Ansprache mit Bedacht auf die Zielgruppe bewusst verändert werden, nimmt die Ausstellung einen narrativen Modus ein. Das Ausmaß kann dabei graduell intensiviert werden. Je besser narrative Elemente wahrnehmbar und als solche erkennbar sind, desto narrativer ist die Darstellung. 7 Jerome S. Bruner, Actual Minds, Possible Worlds, Cambridge 1986, S. 11 ff. 8 Einen Überblick über narrative Elemente (Narreme) gibt z. B. Werner Wolf, Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie, in: Vera Nünning / Ansgar Nünning (Hg.), ­Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002, S. 23-104. 9 Werner Früh / Felix Frey, Narration und Storytelling. Theorie und empirische Befunde, Köln 2014, S. 87 ff.; vgl. auch Whites Strategie des Emplotment in Hayden White, Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-century Europe, Baltimore 2004, S. 7. 10 Erfahrbarkeit (experientiality) ist nach Fludernik ein zentrales Merkmal von Narrativität: Monika Fludernik, Towards a »Natural« Narratology, Baltimore 2002 [1996], S. 9. 219

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Der Begriff Storytelling wird hier bewusst genutzt, um strategische Parallelen zu anderen Disziplinen (v. a. Marketing, Corporate Story­ telling, Journalismus) und eine Fokussierung auf die Besucher:innen und deren Bedürfnisse herzustellen. Dieser erweiterte Zugang zum Ausstel­ lungs­machen umfasst verschiedene Bereiche der Museumsexpertise (vornehmlich Gestaltung, Vermittlung und Kuratierung) und nimmt so die Ausstellung mit all ihren Möglichkeiten der medialen Darstellungs­ formen in den Blick. Die Auseinandersetzung mit Storytelling erfordert ein gedank­liches Loslösen von Vermittlungsstrategien klassischer musealer Ausstellungen, da diese verstärkt von der Zielgruppe aus­gehend gedacht werden. Dinge in Storytelling-Ausstellungen Auch im Storytelling leisten Dinge einen wichtigen Beitrag, weil sie zum Handwerkszeug von Ausstellungsmacher:innen und zur Erwartungs­ haltung der Besucher:innen gehören. Thiemeyer attestiert Ausstellungserzählungen drei Eigenschaften, die er auf die Beschaffenheit ihres ­Mediums zurückführt: Sie sind »objektbasiert«, »fragmentarisch« und »dreidimensional«.11 Dinge sind also ein essenzieller Bestandteil von Ausstellungen und damit auch von deren Erzählungen. In StorytellingAusstellungen findet allerdings eine Bedeutungsverschiebung hin zu narrativen Parametern statt. Dinge sind dabei ein Element von mehreren, die die Erzählung transportieren. Dabei spielt es keine Rolle, wie alt die verwendeten Dinge sind und welche Funktion diese vor der kurato­ rischen Verwendung hatten. Wichtig ist die narrative Inwertsetzung im Kontext der Ausstellung. An dieser Stelle darf ein entscheidendes Spannungsfeld zwischen Gestaltung und Sammlungsobjekt nicht außer Acht bleiben, denn die in sich schon komplexe Mehrdeutigkeit12 von Objekten trifft in der Aus­ stellung auf eine visuell dominante und damit schnell zu erfassende Gestaltung, die mitunter als eigene Geschichte wahrgenommen wird. ­Dieser Erkenntnis liegt ein typischer Gegensatz von Objekten zugrunde: »Denn es handelt sich einerseits um ein mit Bedeutung aufgeladenes Ding und andererseits um einen mit anderen (sichtbaren oder unsichtbaren) Objekten in Korrespondenz stehenden Gegenstand.«13 Hier kommt zudem 11 Thiemeyer, Simultane Narration, S. 479 f. 12 Vgl. Waidacher, Handbuch, S. 239. 13 Anke te Heesen, Exponat, in: Gfrereis / Thiemeyer / Tscho­f en (Hg.), Museen verstehen, S. 33-44, hier S. 35. 220

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die unvorhersehbare Wahrnehmung der Rezipient:innen hinzu: Dinge erwecken verschiedenste Assoziationen und die Besucher:innen spinnen ihre eigene Geschichte um das, was sie wahrnehmen, unter anderem­ ­abhängig von den Vorkenntnissen und dem Besuchserlebnis.14 Dieses ­Aufeinanderprallen verschiedener Deutungen von Dingen tritt grundsätzlich in allen Ausstellungen auf; in erzählerischen wird es durch die zusätzliche narrative Inhaltsebene noch einmal intensiviert. Ist diese leicht wahrnehmbar, bietet sich hier allerdings die Chance, die Intention der Macher:innen und die aufkommenden Gedanken zusammen­zu­ bringen: Die Besucher:innen verstehen, dass das Ding Teil einer umfassenden Erzählung ist, verbinden damit aber vielleicht unabhängig davon eine eigene Assoziation.15 In Abgrenzung zu klassisch musealen Ausstellungen, in denen Objekten ein sammlungsbezogener Eigenwert zugeschrieben wird, werden diese in Storytelling-Ausstellungen gezielt und reflektiert instrumentalisiert. Die Inwertsetzung durch die Macher:innen orientiert sich an den Zielsetzungen der Ausstellung. Nach welchen Kriterien Dinge neu bewertet werden könnten, zeigt ein kurzer Theorie-Input zu Funktionen von Dingen in Erzählungen. Basierend auf Friedmann, kennt man in der Narratologie plotfunktionale und nonfunktionale Dinge. Erstere haben eine wichtige Funktion für das Vorankommen der Handlung und werden meist aktiv genutzt, wie z. B. das eingangs erwähnte Gewehr an der Wand. Sobald es eingesetzt wird, übt es eine spezifische Funktion aus, sei es als Quelle einer Gefahr oder um einen Konflikt (gewaltvoll) zu lösen. Nonfunktionale Dinge hin­ gegen bringen die Handlung nicht gezielt weiter. Sie dienen statt­dessen dazu, »in der erdachten, narrativen Welt die Illusion von Realität zu erzeugen.«16 Sie sind demnach eher als Teil des Settings anzusehen und zeichnen sich dadurch aus, dass sie leicht austauschbar sind. Manche Objekte erhalten innerhalb der Erzählung eine besondere Be­ deutung durch eine Wertzuschreibung. Diese nennt Friedmann seman­ tische Objekte. Sie symbolisieren »wichtige narrative Basisoppositionen«,17 die in Anlehnung an Jurij Lotman Gegensatzpaare beschreiben, die eine Erzählung maßgeblich charakterisieren, wie z. B. Macht und Verderben, die in der Erzählung »Der Herr der Ringe« in dem einen Ring fest­ geschrieben sind und gleichzeitig ein zentrales Motiv der Handlung 14 Lisa C. Roberts, From Knowledge to Narrative, Washington u. a. 1997. 15 Auf kritische Stimmen in Bezug auf die fehlende Wissenschaftlichkeit von Ausstellungserzählungen kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht eingegangen werden. 16 Joachim Friedmann, Storytelling. Einführung in Theorie und Praxis narrativer Gestaltung, München 2019, S. 185. 17 Ebd. 221

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darstellen.18 Die semantischen Zuschreibungen können nicht umgeschrieben werden, der Ring steht für die Basisoppositionen der Gesamt­ erzählung.19 »Pia sagt Lebwohl« Anhand der Sonderausstellung »Pia sagt Lebwohl – Eine Ausstellung zur Arbeit mit Tod und Trauer« (Laufzeit Oktober 2019 bis September 2020, DASA Dortmund) soll die Rolle von Dingen in Storytelling-Ausstellungen exemplarisch verdeutlicht werden. Ziel der Ausstellung war es, mit einem für das Familien- und Freizeitpublikum relevanten Thema eine emotionale, erzählerische Aufbereitung zu zeigen, die den Besucher:innen den persönlichen und beruflichen Umgang mit der Grenzerfahrung ­Sterben vor Augen führt. Es wurden Berufe ausgewählt, die auf den professionellen Umgang mit Sterbenden, Hinterbliebenen oder Verstorbenen hinweisen. Gleichzeitig sollten die Besucher:innen ihre Einstellungen zur eigenen Sterblichkeit reflektieren. Die Ausstellung wurde speziell für das Forschungsprojekt »Potenziale und Grenzen des Story­tellings als Vermittlungsmethode in Ausstellungen« realisiert, weshalb sie ihre In­halte anhand einer stark ausgeprägten Geschichte erzählt. Sie ist somit einerseits Gegenstand einer intensiven summativen Evaluationsforschung zur Wirksamkeit von Storytelling in Ausstellungen in Bezug auf Lernerfahrungen und andererseits erlaubt ihre thematische Aus­richtung das Aufzeigen von arbeitswissenschaftlichen Aspekten. Zwei der insgesamt fünf angewandten Evaluationsmethoden werden hier für Besucher:innen­ stimmen zu den Dingen in der Ausstellung hinzugezogen. Das ist einmal eine teilnehmende Besucher:innenbeobachtung,20 bei der Wege und Aktivitäten von Kleingruppen notiert und die Gespräche aufgezeichnet wurden. Zusätzlich gab es bei dieser Methode ein Vor- und ein Nach­ gespräch, die Aufschluss über Besuchsmotivationen, Vorkenntnisse und Einschätzungen zur Ausstellung liefern sollten. Zum anderen wurden leitfadengestützte Interviews mit Besucher:innen nach dem Ausstellungs­ besuch geführt, die nach dem Besuchserlebnis und gezielt nach der Wahrnehmung der Erzählung fragten. Begleitet wurde dies durch das Erstellen einer Mental Map, in der die Interviewten ihre einprägsamsten 18 Vgl. Matías Martínez / Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 2009, S. 159 ff. 19 Friedmann, Storytelling, S. 186 f. 20 Nach Gaea Leinhardt / Karen Knutson, Listening in on Museum Conversations, Oxford 2004. 222

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Momente visuell darstellen konnten.21 Die Besucher:innen wurden nicht gezielt nach den Dingen in der Ausstellung befragt; Statements dazu wurden aus eigenem Impuls heraus gemacht. Die fiktionale Erzählung der 17-jährigen Pia manifestiert sich primär in den immersiv gestalteten Räumen, die in einem linearen Rundgang von den Besucher:innen beschritten werden. Neben der Gestaltung bestimmen Großprojektionen von Pias Gesicht und ihren dort vorherrschenden Emotionen einige der Räume. Über Hörstationen, Wand­ grafiken und Talking Heads sind zusätzlich Ereignisse und Dialoge dargestellt. Zudem sind in jedem Raum Mitmachstationen positioniert, die verschiedene Ereignisse der Handlung aufgreifen und für die Be­ sucher:innen erfahrbar machen (z. B. »Wie wirst du im Alter aussehen?«, »Was kostet eine Bestattung?«, »Was sagst du viel zu selten?«). Die Handlung sieht grob skizziert wie folgt aus: In ihrem Jugend­ zimmer (Pias Zimmer 1) ist zu erfahren, dass Pia Schülerin ist und sich Gedanken über ihren Berufseinstieg macht. Sie trägt schwarze Kleidung und interessiert sich für die Gothic-Subkultur. Der Raum ist gespickt mit privaten Gegenständen und stellt damit die Protagonistin und ihre aktuelle Lebenssituation vor. Jedoch ist das Zimmer nicht naturgetreu gestaltet, denn gleichzeitig findet hier der Konflikt der Erzählung statt: Pias Oma Ruth ist gestorben. Die Besucher:innen finden sich in diesem Moment mitten in der Handlung wieder. Pia hat soeben erst von dem Tod erfahren, sie weint, ihr Vater versucht sie zu trösten und ihre Möbel sind entsprechend Pias emotionalem Zustand deformiert (verzerrt dar­ gestellter Stuhl, Bett und Lampe). In dem Pflegebett in der Mitte des zweiten Raums (Pflegezimmer) ist Oma Ruth gestorben. Pia trifft hier mit ihrem Vater auf den Pfleger und die Hausärztin der Verstorbenen. Beide berichten von ihrem beruflichen Alltag und dem Umgang mit Sterbenden. Sie geben Hinweise, welche Bewältigungsstrategien sie sich für diese emotionalen Extremsituationen angeeignet haben. Neben dem Setting des Altenheims gibt es eine ­Erinnerungswand, die unter dem Label »Was bleibt?« zu verstehen ist. Hier sind mit weißer Farbe verfremdete Erinnerungen an das Leben der Verstorbenen zu sehen. Nun müssen konkrete Entscheidungen für die anstehende Bestattung von Oma Ruth getroffen werden. Die Besucher:innen lauschen im dritten Raum (Bestattungsinstitut) dem Erstgespräch der Bestatterin mit Pia und 21 Christina Edinger, Workshop zu »Mental Maps« als Datenmaterial in der kulturwissenschaftlichen Raumforschung, https://spacesofknowledge.com/2016/04/11/ workshop-mental-maps/ [Abruf: 9. 6. 2021]. 223

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ihrem Vater. Der Vater drückt seine Unsicherheit aus, wie die Beerdigung gestaltet werden soll. Pia weiß, dass die Oma gerne Hortensien mochte. Inhaltlich beschäftigt sich der Raum zudem mit dem Beruf des Bestatters und der Gestaltung der eigenen Bestattung und des Abschiednehmens. Nach der Planung sind Besucher:innen nun im dunkel gestalteten, aber von Kerzen erleuchteten vierten Raum bei der Trauerfeier anwesend. Die Wandprojektion können sie selbst einstellen und so die Stimmung vorgeben (tiefe Trauer, Verzweiflung, Hoffnung, Melancholie). Hier ist die Rede des Trauerredners zu hören, in der er wichtige Stationen im Leben der Verstorbenen aufzeigt und gemeinsam mit den Trauernden Abschied nimmt. Der Trauerredner reflektiert das Gespräch mit Pia und spricht über Schwierigkeiten und Bewältigungsstrategien in seinem Beruf. Die Bestattung ist geschehen, nun treffen sich alle Figuren zum gemeinsamen Kaffeetrinken im größten und vorletzten Raum der Ausstellung (Leichenschmaus). Er ist hell gestaltet und die Wände sind mit bunten Blumen übersät. Pia ist nun etwas gefasster. Am Ende des Raums ist eine Grafik zu sehen, die Pia in verschiedenen Phasen ihrer Trauer zeigt. Sie soll verdeutlichen, dass die Ereignisse in den verschiedenen Räumen einige Monate auseinanderliegen. Der letzte Raum (Pias Zimmer 2) stellt wieder Pias Jugendzimmer dar, allerdings nun in veränderter Form. Es zeigt nicht mehr den Konflikt wegen des überraschenden Todes der Oma, sondern dessen Verarbeitung und Überwindung. Die Farben ihrer Kleidung und der Möbel sind freundlicher, alles ist geordnet, naturgetreu und an seinem Platz. Am Schreibtisch ist zu erfahren, dass Pia sich erfolgreich um eine Aus­ bildungsstelle als Ergotherapeutin beworben hat. Nach der Verlusterfahrung und dem Kontakt mit den verschiedenen Berufen hat sie erkannt, dass sie mit Menschen arbeiten möchte. Man erfährt vom Umzug in ihre erste eigene Wohnung und von einer Reise nach New York. Pia erzählt zudem, wie die Erfahrungen mit dem Tod ihrer Oma sie geprägt haben und was sie für ihre Zukunft mitnimmt. Sie trägt die Halskette ihrer Oma und hat deren Sessel nun in ihrem Zimmer stehen. Die folgenden exemplarisch ausgewählten Dinge befinden sich in den zuvor beschriebenen Räumen. Nonfunktionale Dekoration der Oma (Pflegezimmer)

Unter den vielen persönlichen Habseligkeiten der Verstorbenen finden sich auch drei kleine, gebrauchte Gegenstände auf einer Fensterbank: eine Blechdose mit Blumenmuster, eine kleine Vase mit Vögeln darauf 224

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Abb. 1: Fensterbank mit Dekoration der Verstorbenen im Pflegezimmer

und eine Vogelfigur aus Porzellan. Es handelt sich hierbei um nonfunktionale Elemente, die eine wohnliche und persönliche Stimmung in dem Zimmer der Verstorbenen herstellen und anzeigen sollen, dass es sich hier – in Kombination mit der Gardine – um eine Fensterbank handelt. Die Gegenstände sind austauschbar, beschreiben in ihrer Auswahl dennoch den Charakter der Besitzerin. Keine:r der begleiteten oder interviewten Besucher:innen erwähnt die Dekoration, was auf die Unscheinbarkeit der Dinge hinweist. Plotfunktionaler Arbeitsgegenstand – Pflegedokumentation (Pflegezimmer)

Neben dem Pflegebett steht ein Tisch, auf dem das Tagebuch der Verstorbenen und eine große Mappe liegt. Diese enthält das Formular Strukturierte Informationssammlung (SIS), das bei der Aufnahme einer pflegebedürftigen Person im Heim durch die Pflegekraft ausgefüllt wird. Es dokumentiert Pflegeziele und -maßnahmen, Medikamentengabe und besondere Vorkommnisse. Das Formular soll in der Erzählung durch eine Pflegekraft ausgefüllt worden sein, was in Wahrheit durch eine ­Kuratorin geschah. Mit der SIS wird festgestellt, wie die Pflegebedürftigkeit der neu angekommenen Person einzustufen ist. Im Falle der Oma steht hier beispielsweise »Frau N. äußert eine Unzufriedenheit mit ihrer 225

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Abb. 2: Handschriftlich ausgefüllte Pflegedokumentation der Oma

körperlichen Verfassung. Die operative Versorgung (11. 7. 18) ihres Schenkel­ halsbruchs mit einem künstlichen Hüftgelenk (TEP) ist laut ihrer Aus­ sage gut gelungen«, »Frau N. hat sich durch ihre Beeinträchtigung das selbstständige Leben in ihrer Wohnung nicht mehr zugetraut. Frau N. gibt an, sich gerne alleine zu beschäftigen.« Die Mappe ist plotfunktional, da sie im Rahmen der Handlung in Ruths Alltag im Pflegezimmer durch das Personal genutzt wird. Sie transportiert zudem die Vielschichtigkeit der Pflegetätigkeiten in der Altenpflege und beschreibt den Arbeitsalltag der Beschäftigten. Das Exponat ist als Flachware auf einem Tisch eher unscheinbar, es fiel Besucher:innen aber dennoch auf22 oder wurde aus ihren bisherigen ­beruflichen oder privaten Erfahrungen mit Pflegebedürftigen wieder­ erkannt.23 In den vorliegenden Gesprächen waren es also hauptsächlich Menschen mit Vorkenntnissen, die die Mappe während oder nach ihrem Besuch erwähnenswert fanden.

22 Interview mit Besucherin (52 J.). 23 Interview mit Besucher (54 J.); Ausstellungsrundgang mit zwei Besucherinnen (57 und 66 J.). 226

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Abb. 3: Beginn des Rundgangs mit verzerrtem Mobiliar und zerbrochenem Spiegel

Der Spiegel als Zeuge des Konflikts (Pias Zimmer 1 + 2)

Der Spiegel taucht als gleiches Modell zweimal in der Ausstellung auf: in Pias Zimmer 1 und in Pias Zimmer 2. Auch wenn ein Spiegel im Zimmer einer 17-Jährigen ein erwartbarer Gegenstand ist, fällt sofort auf, dass mit diesem im ersten Raum etwas nicht stimmt. Der erste Spiegel ist zerbrochen, als hätte jemand mit der Faust darauf geschlagen (unabhängig davon, ob Pia das tatsächlich getan haben soll oder ob es metaphorisch gedacht ist). Damit unterstützt er – neben anderen Elementen wie dem überdimensionalen Stuhl – gestalterisch die Darstellung des zentralen Ereignisses in diesem Raum: Pia hat von dem Tod ihrer Oma erfahren und ist verzweifelt. So spielt er auf der gestalterischen und auch metaphorischen Ebene eine tiefere Rolle, denn der Spiegel kann als Zeuge von Pias körperlichem Ausleben der Emotion verstanden werden. Der Konflikt manifestiert sich in ihm und es wird automatisch Spannung erzeugt, indem man sich fragt, was hier wohl passiert sei. Die Besucher:innen können die Entladung der Emotionen durch deren Visualisierung in der Gestaltung förmlich spüren. Der Kontrast des zerbrochenen zum intakten Spiegel im letzten Raum zeigt die Veränderung, die die Hauptfigur im Laufe der Erzählung durchgemacht hat. Das abermalige Auftauchen des Spiegels in Pias Zimmer 2 bringt die Erzählung auf der dinglichen 227

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Ebene zum Abschluss. Der Spiegel ist nun intakt und nimmt scheinbar seine Funktion als Bekleidungsaccessoire ein – im Vergleich zum zer­ brochenen Spiegel im ersten Raum zeigt er aber das emotionale Gleichgewicht von Pia. Damit ist der Spiegel nach Friedmann ein semantisches Objekt: Die zentralen Basisoppositionen der Erzählung (Verlust – Gewinn, Konflikt – Lösung, Trauer – Hoffnung, Schmerz – Heilung) zeigen sich in der materiellen Opposition zerbrochen – unzerbrochen oder zerstört – geordnet. Der Spiegel ist allerdings nicht plotfunktional, da er nicht aktiv genutzt wird und so in der eigentlichen Handlung keine Rolle spielt. Die emotionale Ansprache und auch der Bezug des zerstörten Spiegels zu Pia und dem vorliegenden Ereignis wird bei den Besucher:innen deutlich, mehrere kommentierten ihn in den Gesprächen, allerdings nur im ersten Raum.24 Zwei junge Besucherinnen unterhielten sich etwas intensiver in der Ausstellung über das Zimmer und den Spiegel und reflektierten das Erlebte auch noch einmal im Gespräch unmittelbar nach dem Ausstellungsbesuch: Besucherin 1 »Ich finde den Spiegel irgendwie so […] weißt du, das wirkt so auf einen. Diese ganze Situation, das beschreibt das irgendwie (lacht).« Besucherin 2 »Ja. Ja, kann ich mir vorstellen, dass wenn man …« […] Besucherin 1 »Aber ich versteh nicht ganz, was der Stuhl sein soll.« Besucherin 2 »Ja.« Besucherin 1 »Vielleicht, wenn sie sich so klein fühlt, weißt du? Und von dem Ganzen so erdrückt wird.« Besucherin 2 »Das Bett sieht auch so groß aus.« […] Besucherin 2 »Ja, und um den Schmerz rauszulassen, haut man viel leicht auch mal in den Spiegel.« Besucherin 1 »Ja (lacht). Aber man kann sich gut mit ihr identifi­ zieren.« […] Besucherin 1 »Achso, ich hatte noch was zu dem ersten Raum und zwar mit dem Spiegel, das fand ich sehr gut irgendwie. Das hat das für mich alles sehr gut zusammengefasst die Situation, diesen Schmerz, den man da fühlt. Ähm, ich glaube, dass man in so einer Situation, gerade wenn 24 Interview mit Besucherin (55 J.); Interview mit Besucherin (33 J.); Ausstellungsrundgang mit vier Personen (männl. 47 J., weibl. 41 J., männl. 11 J., weibl. 8 J.). 228

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man so eine emotionale Person ist, dass man dann auch so gegen einen Spiegel schlagen könnte, zum Beispiel. Und das hat diesen ganzen Schmerz, den sie fühlt, für mich sehr gut ausgedrückt.« (Pause)25

Verlust und Erinnerung: der plotfunktionale und semantische Sessel (Pflegezimmer + Pias Zimmer 2)

Am Beispiel des gelben Ohrensessels werden die verschiedenen Stufen der narrativen Inwertsetzung besonders deutlich. Auch er taucht zweimal in der Ausstellung auf: Im Pflegezimmer begleitet er die Inszenierung der weißen Erinnerungswand und stellt ein persönliches Möbelstück der ehemaligen Heimbewohnerin dar, in Pias Zimmer 2 ist er ein Teil von Pias Mobiliar. Damit könnte er beim flüchtigen Vorbeigehen wie die Dekoration auf der Fensterbank als nonfunktionales Element eingestuft werden. Durch das Wiedererscheinen in Pias Zimmer 2 wird der Sessel – ähnlich wie der Spiegel – semantisch und zeigt das Fortschreiten der Handlung und die Entwicklung der Protagonistin (Basisoppositionen: Verlust – Erinnerung, Leere – Hoffnung, Stillstand – Fortschritt). Pia erbt ihn von ihrer Oma, damit symbolisiert er die Erinnerung und das Weiterleben im Gedenken, auch wenn die Trauernde über den größten Schmerz hinweg ist. Der Sessel macht zudem den zeitlichen Abstand vom Pflegezimmer kurz nach dem Tod zu Pias Zimmer 2 einige Monate später deutlich. Auf einer gewissen Ebene wird er damit auch plot­ funktional, da Pia den Sessel erbt und ihn bewusst als einen Akt der ­Trauerbewältigung in ihr Zimmer setzt. Die beiden Sessel enthalten noch eine Überraschung: Setzen sich die Besucher:innen hinein, hören sie entweder die Stimme der Verstorbenen Ruth (Pflegezimmer) oder die von Pia (Pias Zimmer 2) über versteckte Hörstationen.26 Ruth spricht als Geist direkt zu Pia: »Ach Pia, dich so zu sehen fällt mir nicht leicht. Wie gern möchte ich dich jetzt in den Arm nehmen. Aber vielleicht tröstet es dich zu wissen, wie gut es mir hier im Pflegeheim ergangen ist. […] Der Mirko, einer der Pfleger hier, dem hat man den Stress nicht angemerkt. Der war immer gut gelaunt und hat sich wirklich für mich interessiert, auch als Person! […] Also, meine liebe Pia, pass gut auf dich auf und leb wohl!« 25 Ausstellungsrundgang und Nachgespräch mit zwei Besucherinnen (14 und 15 J.). 26 Auf diese mögliche Interaktion mit dem Sessel wird nicht explizit hingewiesen. In der DASA ist es jedoch üblich, dass vieles ausprobiert und angefasst werden darf. Daher war zu erwarten, dass sich vereinzelt Besucher:innen auf ihm niederlassen. 229

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Abb. 4: Erinnerungswand im Pflegezimmer und persönliche Gegenstände der Verstorbenen

Die lauschenden Besucher:innen nehmen die Position der Oma ein, die unsichtbar von ihrem Lieblingsplatz aus das Geschehen im Pflege­ zimmer beobachtet. Durch die zusätzlichen thematischen Informationen über den Pflegealltag leistet auch dieses narrative Ereignis einen Beitrag in der inhaltlichen Vermittlung. Im letzten Raum hört man nun Pia im Sessel, wie sie sich an ihre Oma erinnert: »Am liebsten erinnere ich mich ans Kaffeetrinken mit Oma Ruth. Ist ja eigentlich was für alte Tanten. Aber wir haben das so richtig zelebriert und hatten mega Spaß dabei. Manchmal haben wir auch ernste ­Themen besprochen. Ich weiß noch, als wir damals gemeinsam ein paar Tage am Meer waren, da kam das Thema Tod auf einmal auf. […] Ich bin so dankbar, dass ich meine Oma hatte. Sie hat mich so genommen, wie ich bin. Fand zwar nicht immer alles gut … das ganze Schwarz und so fand sie viel zu düster … aber sie hat mich gelassen. So möchte ich auch sein: gut zuhören können, eine eigene Meinung vertreten, aber jeden so wertschätzen, wie er ist.« Auch hier nehmen die Besucher:innen die Position von Pia ein: Man stellt sich vor, wie sie in Omas Sessel sitzt und an die Verstorbene denkt. Gleichzeitig wird deutlich, an welchem Punkt der Trauerbewältigung sich Pia gerade befindet. Spätestens mit dem Akt des Hinsetzens und 230

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Abb. 5: Das Ende des Rundgangs mit intaktem Spiegel und dem Sessel als Erbstück

Zuhörens werden die Sessel – neben der metaphorischen und semantischen Bedeutungsebene – plotfunktional. Auch die Sessel wurden von den Besucher:innen kommentiert und dabei unterschiedliche narrative Funktionen des Exponats erkannt. Eine Besucherin beschreibt ihn im Interview als einzige Besonderheit im Pflege­zimmer, da sie ihn »so schön« fand. Die Interviewerin fragt sie daraufhin, ob sie sich auch reingesetzt habe, was die Besucherin verneint und sich vornimmt, das gleich nach dem Interview nachzuholen.27 In diesem Fall ist der Sessel eher als optisch attraktives Dekorationselement wahrgenommen worden. Bei den Ausstellungsrundgängen wird er ausschließlich im letzten Raum oder bei den Nachgesprächen28 kommentiert, vermutlich, da man hier die Dopplung und damit eine gewisse Bedeutung des Dings im Rahmen der Erzählung wahrnimmt.29 Das wird am Beispiel einer Familie deutlich: Die Mutter vermittelt im Gespräch mit den beiden jüngeren Kindern, dass auch nach dem Tod »die Oma […] trotzdem da [ist]«, was die Kinder im Zusammenhang mit dem geerbten Sessel verstehen können. Sie erkennen auf kindliche Weise, dass 27 Interview mit Besucherin (35 J.). 28 Beim Nachgespräch wurde den Besucher:innen u. a. ein Foto von Pias Zimmer 2 gezeigt, auf dem der Sessel zu sehen war. Dieses Foto war mit dem Schlagwort »Neuanfang« gekennzeichnet. 29 Ausstellungsrundgang mit zwei Besucherinnen (14 und 15 J.). 231

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Pia durch die Anwesenheit des Möbelstücks direkt neben ihrem Bett regel­mäßig an die Verstorbene erinnert wird. Damit erschließen sie sich den Erinnerungswert des Sessels im Rahmen der Erzählung.30 Zwei ältere Damen unterhalten sich in Pias Zimmer 2 und beim Nachgespräch über die Bedeutung von Gegenständen, die sie an Verstorbene erinnern. Dabei zählen sie selbst Dinge auf, die sie geerbt haben und die ihnen viel bedeuten. Gleichzeitig stellen sie lachend fest, dass ihre Großmütter keine eigenen Sessel besaßen, sondern dass so etwas von allen genutzt wurde.31 Sie gehen dabei nicht auf Pia und ihre Geschichte ein, sondern projizieren das Gesehene direkt auf ihre eigenen, bereits sehr vielfältigen Erlebnisse. »Was bleibt?« Die Erzählung von Pia prägt die Inhalte und die räumliche Gestaltung der Ausstellung, da das Kernthema des Umgangs mit dem Tod an deren Ereignisse geknüpft ist. Dinge spielen in dieser Form der erzählerischen Ausstellungsstrategie keine zentrale Rolle: die quantitativen Daten aus Fragebogen und nicht teilnehmender Beobachtung lassen darauf schließen, dass die Gestaltung und die interaktiven Stationen im Zentrum der Wahrnehmung standen. Damit deckt sich die beabsichtigte Storytelling­ strategie mit den tatsächlichen Reaktionen der Besucher:innen. Nichtsdestotrotz haben Dinge hier eine Funktion und damit auch insbesondere einen erzählerischen Wert, was im Fallbeispiel durch die punktuelle Einfügung eines narratologischen Konzepts deutlich gemacht wurde. Spannend ist hier, dass keines der Dinge ein museales »Leben« vor der Ausstellung hatte. Sie wurden für diesen Anlass im Privaten gesammelt (Deko) oder gekauft und modifiziert (Spiegel, Pflegedokumenta­ tion, Sessel). Auch wenn in Wahrheit die Ausstellungsmacher:innen die Gegen­stände manipuliert haben, sind es im Rahmen der Erzählung die Figuren gewesen, die ihre Spuren hinterlassen haben. Diesen Aspekt ­einer handelnden fiktiven Figur findet man bei Sammlungsobjekten nicht. Hier sind es bekannte oder unbekannte historische Personen, die vermeintlich Spuren auf Dingen hinterlassen haben und diesen dadurch einen Ausstellungswert geben. Bei »Pia« verweisen die von den Macher:in­ nen gedachten und gestalteten Funktionen und Werte der Dinge auf 30 Ausstellungsrundgang mit fünf Personen (männl. 41 J., weibl. 39 J., weibl. 13 J., weibl. 10 J., männl. 8 J.). 31 Ausstellungsrundgang mit zwei Besucherinnen (86 und 74 J.). 232

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e­inen fiktiven Referenzrahmen, der auf keiner wissenschaftlichen Tra­ dition basiert. Die anfangs erwähnte Beweisfunktion von musealen Sammlungsobjekten wird hier erweitert: Dinge belegen hier keine Ereignisse, sondern machen die Narration glaubhaft und erfahrbar und ver­ fügen somit über einen Beglaubigungswert. Es wird deutlich, dass, obwohl die Besucher:innen nicht explizit da­ rauf angesprochen wurden, sie dennoch die erzählerischen Funktionen von manchen Dingen wahrgenommen und auch bewusst über deren erzählerischen Sinn nachgedacht haben. Das ist vor allem beim Spiegel deutlich geworden, dessen zerbrochener Zustand Aufmerksamkeit geweckt hat. Zudem lässt sich an den Reaktionen erkennen, dass die Besucher:innen durch die im narrativen Rahmen verwendeten Dinge Anknüpfungspunkte für ihre Lebenswelt finden und sie somit eine zusätzliche, individuelle Bewertung erfahren. Mit dem Fallbeispiel konnte gezeigt werden, dass ein ganz anderer Blick auf Inwertsetzung von Dingen in Museumsausstellungen mithilfe von narrativen Parametern möglich ist. Die Macher:innen haben bewusst einen hohen Grad an Narrativität in ihrer Vermittlungsstrategie umgesetzt, um neue Wege der Konzeption von Ausstellungen auszuprobieren und systematisch zu erforschen. Dabei entfernt sich diese Strategie von den traditionellen Vorgaben objektbezogener Ausstellungen und denkt szenografische und besucher:innenorientierte Ansätze weiter. Mit diesem Neudenken des kuratorischen Prozesses werden Dinge mit anderen Augen betrachtet: Einerseits findet durch die narrative Klammer eine Ein­ engung der Bedeutungszuweisung statt. Auf der anderen Seite kann eben­ jene Klammer die Bandbreite der Möglichkeiten der ­Inwertsetzung von Dingen vergrößern – auch von historischen Sammlungsdingen. Bei solchen ist eine Bedeutungszuschreibung im Rahmen einer Erzählung ein mutiger Schritt, verengen die Macher:innen doch den Blick auf das Ding. Vor allem Zielgruppen, die nicht zum Ex­pert:innenkreis zählen, können aber von narrativen Perspektivwechseln und der dadurch entstehenden emotionalen und an ihre Lebenswelt anknüpfenden Heranführung an ein Thema profitieren. Dabei muss stets beachtet werden, dass die Intentionen der Ausstellungsstrategie nicht zwangsläufig mit den Erwartungen und dem Rezeptionsverhalten der Besucher:innen übereinstimmen. Im Kern von Storytelling-Ausstellungen steht somit die Verbesserung des Besuchserlebnisses für bestimmte Gruppen. Dinge finden auch in narrativen Kontexten ihren Platz, sei es als nonfunktionale Requisiten in der narrativen Inszenierung, als plotfunktionale Werkzeuge von Protagonisten oder gar – wie das Gewehr über dem Kamin – als Ankündigung von Konflikten. 233

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Abbildungen Abb. 1: Fensterbank. (Foto: Patricia Dobrijevic DASA) Abb. 2: Pflegedokumentation. (Foto: Patricia Dobrijevic DASA) Abb. 3: Beginn des Rundgangs. (Foto: Patricia Dobrijevic DASA , Art Direction /­ Illustration: Romina Birzer) Abb. 4: Erinnerungswand. (Foto: Patricia Dobrijevic DASA , Art Direction /­ Illustration: Romina Birzer) Abb. 5: Ende des Rundgangs. (Foto: Patricia Dobrijevic DASA)

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Carla-Marinka Schorr

»#neuland«: neue Dinge, alte Werte Eine Ausstellungsanalyse im Hinblick auf Formen, Funktionen und Praktiken der Wertzuschreibung

Die Ausstellung »#neuland: Ich, wir und die Digitalisierung« hatte bereits einige Auf-, Ab- und Umbaumaßnahmen hinter sich, bis sie zum Untersuchungsgegenstand für diese Analyse wurde: Ursprünglich kon­ zipiert für das Museum für Kommunikation in Frankfurt am Main, wanderte sie weiter ins Nürnberger Museum für Kommunikation (MfK), wo sie im Herbst 2020 pandemiebedingt nur für wenige Tage als Sonderausstellung zu sehen war. Teile der Sonderausstellung wurden dann in die be­stehende Dauerausstellung des MfK integriert, wodurch gegenseitige Bezüge und neue Kontexte entstehen. In Ergänzung zu den Themen »Töne, Bilder, Schrift und Internet« sind nun mithilfe von Spuren auf dem Boden und dank eines Lageplans die farbenfroh gestalteten Ausstellungseinheiten von »#neuland« zu finden.1 »#neuland« ist eine Ausstellung über die Digitalisierung, ihre Folgen, Chancen und Herausforderungen für die demokratische Gesellschaft und »diskutier[t] dabei das richtige Verhältnis von Freiheit und Sicherheit, Transparenz und Privatheit – und entdeck[t], dass es um Grundwerte geht, die seit jeher Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse sind.«2 Durch die angestrebte Grundwertediskussion ist die Ausstellung ein geeigneter Untersuchungsgegenstand für diese Analyse, welche dem ­Forschungsinteresse der Herausgeber:innen dieses Bandes entsprechend untersucht, welche Praktiken, Formen und Funktionen relevant sind, damit Werte in Museen Geltung erlangen.3 Aus einem museumswissen1 Die Dialogroute mit dem Titel »Ich, wir und die Digitalisierung: #neuland ent­ decken. Eine Dialogroute durch das Museum für Kommunikation Nürnberg« (Laufzeit 16. 5. 2021-9. 1. 2022) wurde aus der Sonderausstellung »#neuland. Ich, wir und die Digitalisierung« entwickelt und ist ein gemeinsames Projekt der Museumsstiftung Post und Telekommunikation und der Nemetschek Stiftung. Siehe dazu auch: Homepage des MfK, https://www.mfk-nuernberg.de/dauerausstellung/ [Abruf: 14. 7. 2021]. Umfangreiche Infos unter: https://www.mfk-nuernberg.de/ausstel lung-neuland/ [Abruf: 14. 7. 2021]. Im Folgenden wird der Titel der Dialogroute mit »#neuland« zusammengefasst und statt als Dialogroute als eine Ausstellung be­ zeichnet. 2 Vgl. Wandtext »#neuland«. 3 Vgl. die Einleitung in diesem Band, S. 9-13. Die für die Analyse verwendete 235

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schaftlichen Ausstellungsverständnis heraus wird davon ausgegangen, dass durch das Arrangement verschiedener Ausstellungselemente gestalterischer, didaktischer und inhaltlicher Natur Aussagen zum ­Thema der Ausstellung getroffen werden, die häufig über das explizit in den Ausstellungstexten Geschriebene hinausweisen.4 Derlei Aussagen können unter anderem Wertzuschreibungen sein, die in der Ausstellung in den zu untersuchenden Formen, Funktionen und Praktiken vollzogen und kommuniziert werden. Die Ausstellung dabei entsprechend den Prämissen des Performative Turns nach als situativ zu begreifen, heißt, dass die hier zu untersuchenden Inwertsetzungen i­mmer wieder neu durch und mit den Besucher:innen entstehen, die mit ihrem eigenen Wertekanon den Aussagen begegnen und sich dazu verhalten.5 Möchte man sich an den Leitbegriffen der Herausgeber:innen orientieren, lassen sich diese Inwertsetzungen deshalb in einem eher räumlich verstandenen »Dazwischen« verorten, nämlich zwischen den Beteiligten vor und hinter den Kulissen der Ausstellung.6 Werte, Dinge und Akteure Der Wertbegriff ist für eine größtmögliche Bandbreite bei der Analyse zunächst bewusst offengehalten worden, wird im Text jedoch jeweils spezifiziert. An dieser Stelle lässt sich zwischen zwei Wertekategorien unterscheiden. Zum einen geht es in dieser Analyse um auf die Dinge bezogene Werte. Ich nenne sie hier zusammenfassend Sachwerte, ohne dabei ausschließlich den ökonomischen Wert der Dinge zu meinen. Zum anderen geht es um gesellschaftliche, soziale wie auch politische Grundwerte und Normen, die sich auf die Grundfrage der Ausstellung beziehen, wie das Zusammenleben der Gesellschaft im digitalen Zeitalter aussehen soll.7 Ich bezeichne sie hier übergreifend als gesellschaftliche Normwerte.

4 5 6 7

de ist das Ergebnis meines Dissertationsprojekts im Fach Museologie / Museums­ wissenschaft an der Universität Würzburg. Quelle der Analyse ist die Ausstellung »#neuland«. Darüber hinausgehende Hintergrundinformationen (z. B. durch Kuratorinneninterviews) wurden nicht eingeholt und Zusatzangebote (wie Führungen oder das digitale ­Angebot im sog. Expotizer unter: https://www.ausstellung-neuland.de [Abruf: 14. 7. 2021]) wurden nicht in die Analyse einbezogen. Zur Sprechakttheorie vgl. Mieke Bal, Kulturanalyse, Frankfurt a. M. 2006, S. 72-116. Vgl. Werner Hanak-Lettner, Die Ausstellung als Drama, Bielefeld 2011. Weiteres dazu im Abschnitt »Zuschreibungskreisläufe« dieses Textes. Vgl. die Einleitung in diesem Band. Wer »die Gesellschaft« ist, wird in der Ausstellung nicht definiert.

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»#neuland«: neue dinge, alte werte

Während die Sachwerte in »#neuland« als gesetzt angesehen werden – zumindest wird nirgendwo zur Verhandlung dieser aufgerufen –, sollen die gesellschaftlichen Normwerte oder »vertraute[n] Werte und Normen« in der Ausstellung diskutiert werden.8 Sie werden damit ein Diskussions»Gegenstand« der Ausstellung, der für Ausstellungen ungewöhnlich sichtbar exponiert wird, ebenso wie die Digitalisierung an sich ein Ausstellungsstück, ein Exponat, in »#neuland« ist, welches nur eben nicht dinglich oder materiell ist, sondern sich in verschiedenen Facetten zeigt.9 Die vorliegende Ausstellungsanalyse basiert deshalb auf einem sehr weiten Dingbegriff, um neben klassischen, materiellen – man könnte sagen ­»alten« – Dingen, die in der Ausstellung als Exponate gezeigt werden (beispielsweise ein Schiffskompass), auch die immateriellen Dinge und vermeintlich »neuen« Dinge einzubeziehen und hinsichtlich der Zuschreibung von Sachwerten und gesellschaftlichen Normwerten zu unter­ suchen: vornehmlich also das Neuland Digitalisierung als Hauptexponat, aber auch multiple digitale Identitäten, die digitalisierte Kommunikation, Hate Speech im Internet oder ein Glossar neuer Begriffe. Dass die immateriellen und »neuen Dinge« stärker im Mittelpunkt der Analyse stehen, spiegelt die Tatsache wider, dass es in dieser Ausstellung kaum materielle Exponate gibt und diese zusätzlich eher Hilfsfunktionen ­haben, wie im Abschnitt zur Exponatpräsentation erörtert wird. Gestalterisch wird viel mit Texten und Grafiken auf großformatigen Stell- und Trennwänden in knalligen Farben, von der Decke hängende Mobiles und Sockelvitrinen gearbeitet (Abb. 1) – ebenfalls Dinge, die – auch wenn sie keine Exponate sind – Beachtung finden, da sie Mittel der Wertkommunikation sind. Der Fokus dieser Analyse liegt auf den Akteuren, die in »#neuland« Werte erzeugen und darauf, wie sie das tun, also welche Formen der Wert­zuschreibung eingesetzt werden, welche Funktionen dabei relevant sind und wie Praktiken des Decodierens von Wertzuschreibungen und die ­eigener Wertneuzuschreibungen aussehen können.10 Dabei wurden drei Akteure identifiziert: Der erste Akteur ist der expositorische Akteur, der »nicht mit den Kuratoren und dem übrigen Museumspersonal iden­ 8 Vgl. Wandtext »#neuland«. 9 Durch die Entscheidung, die Digitalisierung als immaterielles, konzeptuelles Haupt­ exponat zu präsentieren, betritt die Ausstellung sozusagen selbst Neuland, denn nach wie vor zeigen Ausstellungen zumindest im deutschsprachigen Raum primär materielle Exponate. 10 Theoretisch basiert diese Herangehensweise auf der von Bal ausgeführten Idee des expositorischen Akteurs (Bal, Kulturanalyse). Um die Konzeptualität des Akteursbegriffs zu betonen, verzichte ich hier auf das Gendern, obwohl dahinter natürlich u. a. Menschen jeglichen Geschlechts stehen. 237

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Abb. 1: Farblich wie inhaltlich fügt sich »#neuland« gut in die Dauerausstellung des Nürnberger Museums für Kommunikation (MfK) ein

tisch«11 ist, sondern vielmehr die Geschichte der Museumsinstitution, Entstehungs­kontext und Zeitgeist, gesellschaftliche und soziale Bedingungen, Zufälle, Budgets, Praktikabilitäten u. v.m. einschließt und der dazu beigetra­gen hat, dass die Ausstellung so ist, wie sie ist. Die zweite Akteursgruppe nenne ich »externe Stimmen«. Diese werden in der Regel in Form von Zitaten bekannter Persönlichkeiten, Fach- und Alltags­ expert:innen in die Ausstellung eingebunden. Drittens bin ich als ­Museumswissenschaftlerin, Digital Native und damit Einwohnerin des von der Ausstellung thematisierten Neulands selbst ein Akteur, der zu­ geschriebene Werte decodiert und eigene Werte zuschreibt. Welche ­Formen der Wertzuschrei­bung nutzt nun der expositorische Akteur in »#neuland«?12

11 Bal, Kulturanalyse, S. 77 (Hervorhebung im Original). 12 Die im Folgenden vorgestellten Formen der Wertzuschreibungen verwenden Dinge bzw. Ausstellungselemente, die allgemeine Kommunikationsmittel des expositorischen Akteurs darstellen, siehe dazu auch die Einleitung in diesem Band, S. 9-13. 238

»#neuland«: neue dinge, alte werte

Werte zuschreiben Am explizitesten und erwartbar in einer textlastigen Ausstellung wie »#neuland« können Werte in Form verschriftlichter Sprache, durch Ausstellungstexte im wahrsten Sinne des Wortes zugeschrieben werden. Dem immateriellen Hauptexponat der Ausstellung, der Digitalisierung, werden in den Ausstellungstexten beispielsweise folgende Sachwerte zugeschrieben: Sie sei neu, sie sei noch umfänglich zu erforschen, also ein wertvoller Forschungsgegenstand, sie vereinfache in mancherlei Hinsicht den Alltag und die Kommunikation und sie sorge durch scoring, rating und likes für neue Währungen und ökonomische Werte. Der expositorische Akteur vermittelt darüber hinaus eigene gesellschaft­ liche Normwerte, die an vielen Stellen in den Texten zum Ausdruck kommen. Die erste Ausstellungseinheit von »#neuland« befindet sich im Treppenhaus unmittelbar vor dem Eingang zur Dauerausstellung und be­ handelt das Thema »Corona in Zeiten der Digitalisierung«. In einem Text mit dem Titel »HOME / OFFICE« geht es um das Arbeiten zu Hause als eine Möglichkeit, Begegnungen während der Pandemie zu reduzieren. Nach einigen Informationen dazu werden rhetorische Fragen gestellt: Spaltet es die Gesellschaft, wenn sich Schreibtischarbeiter:innen durch mobiles Arbeiten schützen können, während Menschen in Pflege-, ­Service- und Produktionsberufen vielen Kontakten ausgesetzt sind? Wer­ den traditionelle Rollenbilder reaktiviert, wenn Frauen durch ­private Care-Arbeit wie Kinderbetreuung und Homeschooling stärker belastet sind? Und wie können sich Arbeitnehmer:innen schützen, damit im Homeoffice Beruf und Privatleben nicht dauerhaft verschwimmen? Hinter diesen Fragen stehen gesellschaftliche Werte, die die Grundlage für die hier unter der Hand formulierten Ziele einer geeinten Gesellschaft, eines emanzipierten Frauenbilds und der Trennung von Berufund Privatleben darstellen: etwa demokratische Werte wie die Gleichheit aller Menschen, das Recht auf Erholung und Teilhabe. Immer wieder wird der expositorische Akteur derart deutlich in der Vermittlung seiner Werte. Offensichtlich wird hier eine Position vertreten, nach der Ausstellungen nicht neutral sind, sondern ihre Haltung deutlich kommuni­ zieren sollen. Durch die rhetorische Form der Frage wird dazu eingeladen, sich als Leser:in dazu zu positionieren.13 13 Der Kern der Debatte um die Neutralität der Museen und damit der Ausstellungen liegt in der im Zuge des Reflexive Turns begonnenen Selbstreflexion der Museums239 https://doi.org/10.5771/9783835349315

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Exponate in Wert setzen, stellen, legen Eine weitere vom expositorischen Akteur genutzte Form der Wert­ zuschreibung ist die Exponatpräsentation. Die materiellen Exponate werden allesamt hinter Glas in Szene gesetzt: Sogenannte Flachware (eine Landkarte gleich im Eingangsbereich, Gemälde und historische Dokumente andernorts) wird in Bilderrahmen präsentiert, größere Exponate in Vitrinen, welche auf Pulten oder Sockeln aus hellem Sperrholz stehen. Diese Form der Präsentation ist gut geeignet, um ein Anfassen der Exponate zu verhindern, den Status als Museumsobjekt zu kennzeichnen, und suggeriert mir, die Exponate seien schützenswert. Ein vermutlich aufgrund seines Alterswerts unter Glas gezeigter Kompass ist ein gutes Beispiel dafür, wie die materiellen Exponate in »#neuland« eingesetzt werden.14 Meine eingangs geäußerte Behauptung, sie hätten vorrangig eine Hilfsfunktion, soll nun schlaglichtartig anhand von zwei Beispielen belegt werden. Der gleich zu Beginn der Ausstellung gezeigte Schiffskompass wird als Metapher eingesetzt. Er ist – verdeutlicht durch den allgemein gehaltenen Exponattext und die Frage »Was könnte für uns ein Kompass in der digitalen Welt sein?« – ein Stellvertreterobjekt für den Kompass im Allgemeinen, steht also nicht für sich selbst in seiner ursprünglich erdachten Funktion, sondern ist als Vertreter seiner Gattung ein Bild für Orien­ tierung in der neuen, unbekannten Welt der Digitalisierung.15 Dieses Exponat hat damit die Funktion, die Aussage bzw. Frage des exposito­ rischen Akteurs zu illustrieren und dadurch bei der Kommunikation zu helfen. In der Ausstellungseinheit »Kommunikation« steht das zweite Beispiel, an dem die Hilfsfunktion der materiellen Exponate deutlich wird und branche, die bis heute nicht abgeschlossen ist: vgl. für den deutschen Sprachraum z. B. Beatrice Jaschke / Charlotte Martinz-Turek / Nora Sternfeld (Hg.), Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien 2005; oder Susanne Gesser / Nina Gorgus / Angela Janelli (Hg.), Das subjektive Museum, Bielefeld 2020. Für einen aktuellen Einblick in die (internationale) Debatte vgl. diesbezüglich die Kampagne und den entsprechenden Hashtag #MuseumsAreNotNeutral von La Tanya Autry und Mike Murawski: https://artstuffmatters.wordpress.com/muse ums-are-not-neu ­tral/ [Abruf: 14. 7. 2021]. 14 Zu Alois Riegls Begriff des Alterswerts und seine Auswirkungen auf die Denkmalpflege vgl. Ernst Bacher (Hg.), Kunstwerk oder Denkmal? Alois Riegls Schriften zur Denkmalpflege, Wien / Köln / Weimar 1995. 15 Exponattext »Schiffskompass«, Objektbezeichnung: »Schiffskompass. Frankreich, Ende 19. Jh.«. Vgl. Thomas Thiemeyer, Werk, Exemplar, Zeuge. Die Multiplen Authentizitäten der Museumsdinge, in: Martin Sabrow / Achim Saupe (Hg.), Historische Authentizität, Göttingen 2016, S. 80-90. 240

»#neuland«: neue dinge, alte werte

welches gleichzeitig aufzeigt, dass Wertzuschreibungen auch gegen­ sätzlich sein können. In einer Sockelvitrine stehen drei Styroporquader, auf die Hasskommen­ tare aus dem Internet gedruckt wurden. (Abb. 2) Es ist kein Exponatschild zu finden, das Hilfe bei der Einord­ nung bieten könnte, und so ist der Interpretations- oder Decodier­ spielraum bezüglich des Werts aber auch der Funktion des Exponats weit offen: Die Materialität und das wenig sorgfältige Arrangement der Quader (einer berührt die Glasscheibe, andere Abb. 2: Sockelvitrine mit Hass­ haben abgestoßene Kanten) las- kommentaren auf Styropor zwischen sen das Exponat aus meiner Sicht den Themenbereichen »Kommunika­ materiell wertlos erscheinen. Der tion« und »Optimierung« Inhalt des Texts auf den Quadern hat dagegen in der Zusammenschau mit den Ausstellungstexten zu Hate Speech und Love Storms einen gewichtigen Inhaltswert und die ­Vitrine verdeutlicht einen Präsentationswert. Die Präsentation der Würfel unter Glas steht somit im starken Gegensatz zu der reinen Materialität des Exponats, welcher ich persönlich keinen besonderen Wert zuschreibe, zumal die Vitrine am Rand des Ausstellungsraums steht. Die Glasvitrine hat aber eine so starke Wirkung, dass sie mich verleitet, eine neue Wertzuschreibung vorzunehmen bzw. dem expositorischen Akteur in seiner implizit kommentierenden Inwertsetzung zu folgen.16 Ich erkenne durch die Auseinandersetzung mit diesen scheinbar widersprüchlichen Wert­ zuschreibungen, dass das Styropor in seiner Funktion als Träger der Hasskommentare auch einen Sachwert hat, den besagten Wert der Hilfsfunktion, denn so können sich die Hasskommentare materialisieren. 16 Dennoch weiß ich nicht, warum die Entscheidung getroffen wurde, Styropor­ quader hinter Glas zu präsentieren, also ob der expositorische Akteur damit wirklich eine Wertzuschreibung kommunizieren wollte oder ob die Entscheidung beispielsweise darauf beruht, dass prinzipiell alle Exponate hinter Glas gezeigt werden. Hier zeigt sich, dass eine Entscheidung unabhängig von ihrer Intention wirkt und damit Folgen für die Rezeption hat. 241

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Bei diesem Inwertsetzungsvorgang spielt auch die Form der »Wahrheitsrede« eine Rolle, die der expositorische Akteur erfolgreich einsetzt, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird. Werte belegen und geltend machen Nach Mieke Bal gibt es zwei Hauptformen der »Wahrheitsrede« im ­ useum: Den Realismus, also etwas in möglichst wirklichkeitsgetreuen M Umgebungen zu zeigen, und den wissenschaftlichen Diskurs.17 Beide sollen potenzielle Zweifel am Wahrheitsgehalt der dargestellten Aussagen ausräumen. Zentrales Element der Wahrheitsrede sind Exponate, die als Belege für das Gesagte eingesetzt werden, also beispielsweise Originale, die mit ihrer Echtheit und Historizität als »notions of authenticity« ­Zeugen dafür sind, dass etwas stattgefunden hat, sachlich richtig oder wahr ist.18 Ebenfalls wirksam sind Diagramme oder ähnliche graphische Darstellungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen.19 Diese werden in »#neuland« an mehreren Stellen eingesetzt und fungieren als Zeichen für Wissenschaftlichkeit, der Werte wie Glaubwürdigkeit, Wahrheit und Objektivität zugeschrieben werden. In der Ausstellungseinheit »Wissen«, wo es mit Themen wie Fake News, Nachrichten und Faktenchecks auch um demokratische Werte wie »Pressefreiheit und kritische[n] Journalismus« geht, werden Grafiken zur Inhaltsvermittlung eingesetzt (»Hoax Map« und Schaubild zur Demokratie) und ein Balkendiagramm ver­ anschaulicht den »dramatischen« Rückgang der Reichweite von Tages­ zeitungen.20 Das Diagramm stützt die im Text festgestellte Veränderung der Medienlandschaft und bekommt durch seine Präsentation als Quelle schon fast Exponatstatus. Auf der anderen Seite der Stellwand ist ein weiteres Beispiel für Exponate mit Belegfunktion zu sehen, die diese Funktion insbesondere auch durch ihre gemeinsame Präsentation erlan17 Bal, Kulturanalyse, S. 114. 18 Der Begriff »notions of authenticity« entstand im Zuge der Masterarbeit über Authen­tizitätszuschreibungen und steht als Überbegriff für verschiedene, näher zu definierende Authentizitätskonzepte. Vgl. Carla-Marinka Schorr, Authentisierungs­ prozesse in der Museumspraxis: Mechanismen, Zusammenhänge, Konsequenzen, in: Michael Farrenkopf / Torsten Meyer (Hg.), Authentizität und industriekulturelles Erbe (Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Bd. 23 8/ Schriften des Montanhistorischen Dokumentationszentrums, Bd. 39), Ber­ lin / Boston 2020, S.  151-169. 19 Dazu zählen auch Zitate, diese werden aber im Abschnitt zu den »externen Stimmen« als Akteure gesondert behandelt. 20 Wandtext »Orientierung«. 242

»#neuland«: neue dinge, alte werte

gen. Die »Quittung über die Zahlung von Rundfunkgebühren« von 1955 mit dem Stempel »der Rias lügt, die Wahrheit siegt« soll hier zu dem Thema Fake News belegen, dass die Infragestellung öffentlich geförderter Nachrichtensender, aber auch Propaganda und die Unterstellung von Propaganda sowie das gezielte Verbreiten von Falschmeldungen eine längere Geschichte haben.21 In der Zusammenschau mit einem unmittelbar daneben ausgestellten Foto, welches zeigt, dass die Menschen­ ansammlungen zur Amtseinführung des ehemaligen US -Präsidenten Donald Trump kleiner waren als behauptet, werden historische Kontinuitäten betont und darauf verwiesen, dass die Verbreitung von Falsch­ meldungen durch die Digitalisierung zwar einfacher und schneller erfolgen kann, aber auch nicht neu ist.22 Diese beiden exemplarisch ausgewählten Exponate in ihrer Belegfunktion erhalten im Rahmen der Wahrheitsrede den Sachwert eines Zeugnisses oder Beweisstücks. Die hier angesprochene gemeinsame Präsentation oder auch Kontextualisierung von Themen oder Exponaten ist eine weitere Form, durch die der expositorische Akteur Werte erzeugt beziehungsweise zur Debatte stellt. Kontextualisierung erschafft neue Werte Die Ausstellungseinheit »Identität« ist in der Dauerausstellung genau vor einer Wand platziert, auf der normalerweise drei großformatige, fast ­lebensgroße Fotografien von Jugendlichen zu sehen sind. Der zugehörige Wandtext mit der Überschrift »Kleidung« thematisiert die Rolle der Mode in Identitäts- und Zugehörigkeitsfragen und passt damit inhaltlich sehr gut zu den auf den jetzt davorstehenden Stellwänden gestellten ­Fragen nach den verschiedenen Identitäten im Internet.23 21 Exponattext »Der Rias lügt, die Wahrheit siegt«. 22 Bal beobachtet diese »Betonung der Kontinuität von Traditionen« ebenfalls im American Natural History Museum und nennt sie im Zusammenhang mit den Formen der Wahrheitsrede eine »gut repräsentierte Strategie für kritische Einführungen« neben »expliziten und wiederholten Vergleiche[n]« und der »expliziten Selbstreflexion«, die eingesetzt werden, um auf »ideologische Probleme hinzu­ weisen«: siehe Bal, Kulturanalyse, S. 114 f. 23 Es ergeben sich in dieser Ausstellungseinheit nicht nur inhaltliche Synergien, sondern auch gestalterische: Der Raum der Dauerausstellung ist vornehmlich in Hellgrün und Weiß gestaltet, die Sonderausstellungseinheit primär in Dunkelgrün und Schwarz. So entsprechen sich Inhalt und Farbgebung, denn es bestehen bei beiden Kontinuitäten (Identität als gemeinsames Thema / Grüntöne) und Gegensätze (Virtualität und Realitä t/ Schwarz und Weiß). 243

carla-marinka schorr

Die Position der Stellwände suggeriert mir jedoch auf den ersten Blick, die Fragen dahinter seien abgelöst durch neue Fragen, denn durch das räumliche Arrangement lassen sich diese kaum noch lesen. Es scheint eine Abwertung der alten Ausstellungsinhalte durch die neuen zu geben, wie eine Aktualisierung dessen, was bisher zu dem Thema galt, bevor die (Ausstellung zur) Digitalisierung eingezogen ist.24 Gleichzeitig lässt ­dieses Vor- bzw. Hintereinanderstehen auch eine andere Interpretation zu:25 Wenn es um Online-Identitäten geht, stehen dahinter immer auch ­Offline-Identitäten. Hinter dem, was online passiert und auf der Stellwand unter »Me, Myself & I« mit gezeichneten Figuren erklärt wird, stehen echte Menschen, drei Jugendliche, die mit Vornamen und Geburtsdaten als solche identifizierbar sind und ihre persönlichen ­ ­Lieblingsoutfits zeigen – so wird der räumliche Bezug zum Sinnbild für die Relationalität von Realität und Virtualität und schafft bisher nicht dagewesene Zusammenhänge für beide Ausstellungseinheiten. In einer großen Wandvitrine der Dauerausstellung werden in einer nach Jana Scholze als »Klassifikation« oder nach Peter van Mensch als »systematisch« zu bezeichnenden Präsentationsform zahlreiche Telefone gezeigt, rechts beginnend mit den ersten Fernsprechern bis nach links zu den Smartphones.26 Links daneben hängt jetzt durch »#neuland« in ­starkem Kontrast zur blauen Vitrine eine orangefarbene Texttafel zur ­»Mediennutzung während der Corona-Pandemie«. Einige Ausstellungseinheiten vorher, im Einführungsbereich zu »#neuland«, thematisiert der expositorische Akteur die gesellschaftliche Diskussion, ob die Digitalisierung eher Evolution oder Revolution ist.27 In diesem Arrangement etwas weiter hinten argumentiert er nun in Richtung Evolution: Der Text informiert darüber, dass, wenn es in der Corona-Pandemie darum ging, den persönlichen Kontakt zu besonders zu schützenden Älteren einzuschränken, vor allem das Telefon eine wichtige Rolle gespielt habe. Smartphones und darüber nutzbare Internetkommunikationsangebote seien dagegen insbesondere für Jüngere wichtig gewesen, um mitein­ ander im Gespräch zu bleiben, ohne sich treffen zu können. In der Zusammenschau mit der Wandvitrine suggeriert das, dass ohne die präsen24 Im Gegensatz zum Kompass ist hier der Alterswert der Ausstellungsinhalte also negativ konnotiert. 25 Er verdeutlicht außerdem nebenbei, dass es bei Inwertsetzungen eben immer um Zuschreibungen, ums Codieren und Decodieren geht, was immer unterschiedlich ausfallen kann. 26 Jana Scholze, Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld 2004; Peter van Mensch, Characteristics of Exhibitions, in: Museum Aktuell 92 (2003), S. 3980-3985. 27 Wandtext »#neuland«. 244

»#neuland«: neue dinge, alte werte

tierte »Evolution« der Tele(fon)kommunikation »#keepyourdistance« nicht möglich gewesen wäre. Damit steht die Digitalisierung auch räumlich an der Spitze einer kontinuierlichen Entwicklungslinie und ist »als natür­ licher Wachstumsprozess – als Evolution« zu sehen.28 Durch die Form der Kontextualisierung schreibt der expositorische Akteur hier den Exponaten der Dauerausstellung einen erweiterten Bedeutungswert zu und arbeitet dabei ebenfalls mit der Form der ­ ­Wahrheitsrede (Grafiken auf der Texttafel, Betonung der historischen Kon­ tinuität, Exponate mit Belegfunktion) und vor allem auch mit ­Gestaltungselementen, die nun anhand eines weiteren Beispiels analysiert werden. Werte gestalten Immer wieder hängen in »#neuland« auffällige Kreise entweder als ­ obiles von oben herab oder sind an Stangen befestigt. (Abb. 3) Diese M drehbaren Eyecatcher sind auf der einen Seite mit einem Begriff und auf der an­deren Seite mit der Definition des Begriffs oder Erklärungen dazu bedruckt. Auf den Texttafeln der Stellwände kommen dieselben Begriffe vor und sind dort unterstrichen. Schnell verstehe ich, dass diese Mar­ kierung ähnlich funktioniert wie die blauen Links in Internettexten oder ein Schlagwortregister in Büchern. Durch die Kreise entsteht ein Glossar vieler Begriffe der Digitalisierung: »Arbeit 4.0«, »Containment-Scouts«, »Metadaten«, »Quantified Self«, »Rating«, »Sockenpuppe« oder »Soundcloud«, um nur einige zu nennen.29 Durch die vom expositorischen Akteur gewählte Form der Gestaltung werden verschiedene Sachwerte erzeugt: Manche Begriffe erhalten im Gegensatz zu anderen aufgrund ihrer Neuartigkeit den Wert, erklärt zu werden, durch Selektion entsteht ein besonderer Stellenwert und die Einzelpräsentation des Begriffs mit zusätzlichen Erläuterungen verleiht ihm nahezu einen eigenen Exponatwert. Gleichzeitig wird ein gesellschaftlicher Normwert vermittelt, denn durch die Gestaltungsform gelingt auch die Integration von Besucher:innen, die die ausgewählten Begriffe zuvor nicht kannten. So spiegelt sich hier eine demokratische (Netz-)Kultur wider, in der jeder mitreden kann und darf, wodurch sich die Besucher:innen wertgeschätzt fühlen können. 28 Ebd. 29 Online sind alle weiteren Begriffe und die dazugehörigen Definitionen zu finden: https://www.ausstellung-neuland.de/#antwort16 [Abruf: 14. 7. 2021]. 245

carla-marinka schorr

Abb. 3: Glossar der Begriffe der Digitalisierung

Zur Gestaltung in »#neuland« muss im Vorgriff auf die im Fazit aus­ geführte These »neue Dinge, alte Werte« auch angemerkt werden, dass »#neuland« zwar neue Dinge als unbekannt in­szeniert – die digitale Welt als Neuland –, die Gestaltung aber trotz poppiger Farben recht konventionell und vor allen Dingen mit Stell­wänden, Texttafeln, Vitrinen und Abstimmungsstationen mit Aufklebern fast durchgehend analog und sozusagen altbekannt daherkommt. (vgl. Abb. 1)30

30 Zwei Ausnahmen sind die »Medien-Inseln«, auf denen Videoaufnahmen von Inter­views zu sehen sind, die sich aber auch nicht mehr als neu in Ausstellungen bezeichnen lassen, und QR-Codes, die zu weiteren Informationen in Form von Videos, Homepages von inhaltlich passenden Organisationen oder Projekten führen. Eine wenig digitale Ausstellung hat sich für eine Wanderausstellung prinzipiell bewährt und ist deshalb auch in Hinblick auf Nachhaltigkeit und das Schonen 246

»#neuland«: neue dinge, alte werte

Zu den hier erörterten relevantesten Formen der Präsentation kommen Aspekte wie die Aktualität des Ausstellungsthemas bzw. das Auf­ greifen gesellschaftlicher Debatten, die Auswahl der Themen für die Ausstellungseinheiten, die Positionierungen im Raum, Lichtverhältnisse und Weiteres mehr hinzu, die im Rahmen dieses Aufsatzes nicht näher ausgeführt werden können, durch den expositorischen Akteur aber sehr wohl genutzt werden. »Nutzen« soll das Stichwort für den nächsten ­Analyseabschnitt sein: Welche Funktion haben im Zuge der Inwert­ setzung und Bewertung externe Stimmen als Akteure? Von wem, wo und wofür werden sie eingesetzt? Der Wert der anderen In »#neuland« werden externe Stimmen hauptsächlich in Form von Zitaten eingebunden, wie schon der Ausstellungstitel ein Zitat und Verweis auf einen politischen Moment ist, der auch gleich zu Beginn der Ausstellung aufgegriffen wird. Ein lebensgroßes Foto von der inzwischen ehemaligen Bundeskanz­ lerin Angela Merkel ist auf einer Stellwand im Eingangsbereich der Ausstellung zu sehen.31 Darüber ist in einer Sprechblase eine längere Version ihres hier gekürzten Zitats »Das Internet ist für uns alle Neuland« zu ­lesen sowie darunter die Beschreibung der Umstände einer Pressekonferenz mit dem damaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama, auf der die Aussage in Bezug auf das amerikanische Überwachungs­ programm Prism getätigt wurde. Weiter wird erklärt, dass diese zitierte Aussage Aufhänger einer mit dem Hashtag »#neuland« im Internet be­ gleiteten »Kontroverse« war, deren Diskussionsinhalt allerdings nur an­ gedeutet, nicht aber weiter ausgeführt wird.32 In Bezug auf Inwertsetzungsprozesse und die Konstitution gesellschaftlicher Normwerte lässt sich analysieren, dass die Aussage einer Bundeskanzlerin als Autoritätsperson per se einen gewissen Gültigkeitswert für das zum Zeitpunkt der Ausstellungseröffnung noch von ihr und ihren Kolleg:innen regierte Publikum der Ausstellung haben wird, gleich wie sich dieses dazu von Ressourcen eine gänzlich nachvollziehbare Entscheidung des expositorischen ­Akteurs. Ob diese nun auf neuen oder alten Werten beruht, bleibt offen. 31 Das Foto besteht aus einzelnen Punkten im Stil eines Zeitungsdrucks, spielt so gestalterisch auf die Pressekonferenz an und lässt die Interpretation zu, Angela Merkel als Vertreterin des analogen Zeitalters der tintesparenden Fotodrucke statt hochaufgelöster Bewegtbilder zu sehen. 32 Wandtext »Das Internet ist für uns alle Neuland«. 247

carla-marinka schorr

positio­niert. Die Sprecherin – zitiert und damit eingesetzt durch den expositorischen Akteur – verleiht durch ihre Autorität der Ausstellung wiederum einen Sachwert, indem sie bzw. ihre Aussage die Aktualität und politische wie gesellschaftliche Brisanz und Relevanz des Ausstellungs­ themas belegt.33 Gleichzeitig werden externe Stimmen und die dazugehörigen Erläuterungen durch den expositorischen Akteur auch als Aufhänger für die mit der Ausstellung avisierte Diskussion um Orientierung im Umgang mit der Digitalisierung genutzt, die auch eine Diskussion um Werte ist. Die externe Stimme hat hier die Funktion eines conversation starter, denn inhaltlich und sprachlich werden in dem kurzen Wandtext die für eine Diskussion notwendigen Gegenpole geschaffen: Deutschland und die USA als zwei westliche Nationen mit dennoch unterschiedlichen Wertekanons, eine weiße Frau und ein schwarzer Mann, die Regierung gegenüber den Journalist:innen und gegenüber der Netzcommunity, ob Neuland oder nicht, Digital Natives versus Digital Immigrants, »wir« gegen »Feinde und Gegner« und letztlich neue Werte als Gefahr für alte Werte. Damit ist die Grundwertediskussion in Bezug auf den Umgang mit der Digitalisierung eröffnet und im weiteren Verlauf der Ausstellung bindet der expositorische Akteur regelmäßig weitere externe Stimmen mit ­Stellungnahmen dazu ein. Dies sind zum einen Fachexpert:innen der digitalen Gesellschaft, ­deren Aussagen in Form von schriftlichen Zitaten oder verschriftlichten Interviewauszügen ebenfalls durch ihre Autorität Sachwert (hier ein argu­mentativer Wert) erlangen und die durch ihr Wissen die jeweilige Situation, zu der sie sprechen, bewerten zu können scheinen. Sie haben somit häufig die Funktion, Aussagen des expositorischen Akteurs zu belegen.34 Zum anderen kommen Alltagsexpert:innen zu Wort, Menschen, die weniger wegen ihrer Autorität, sondern eher wegen ihrer Nahbarkeit in Form von Videozitaten in der Medieninsel und vor allem auf der ­Ausstellungshomepage (Expotizer) eingesetzt werden und Zeitzeugenoder Erfahrungswert haben. Sie haben, wenn sie von ihren Erfahrungen mit der Digitalisierung berichten, eher eine illustrierende Funktion und dienen als Beispiel für mögliche zu beziehende Standpunkte in der Diskussion. Anzumerken ist auch, dass Erstere vor allem schriftlich zitiert 33 Diese Aktualität wird durch die Formulierung »bis heute« durch den expositorischen Akteur noch einmal betont, denn das Zitat stammt von 2013, wie vorher im Text steht. 34 Hierzu zählen im Grunde auch die statistischen Diagramme, die aus wissenschaftlichen Studien zitiert werden und im Rahmen der Ausführungen zur Wahrheits­ rede bereits weiter oben analysiert wurden. 248

»#neuland«: neue dinge, alte werte

werden und Letztere im bewegten Bild mit Ton, was ihre Autorität bzw. Nahbarkeit auch formell unterstützt. Beide haben neben ihrer belegenden oder illustrierenden Bedeutung aber vor allem die Funktion, die Diskussion zu bereichern und zu erweitern, in dem sie Argumente untermauern oder hinzufügen. Zwar waren an dem Tag meines Ausstellungsbesuchs keine anderen Besucher:innen anwesend, aber das Gästebuch hat externen Stimmen Raum gegeben. Die beiden Kuratorinnen Silke Zimmermann und Tine Nowak sowie das Team des MfK haben das Buch mit einer handschriftlichen Anrede versehen, die zusammen mit der im Ausstellungsraum gut sichtbaren Präsentation an einem Stehtisch eine Wertschätzung der Besucher:innenstimmen zeigt und somit den Wert des kommunikativen Austauschs festigt. Die Besucher:innen-Stimmen wiederum zeigten sich auch der Ausstellung gegenüber wertschätzend und hinterließen meist positive Kommentare, zum Teil auch mit Verbesserungswünschen. Ledig­ lich eine Person hatte »mehr erwartet«.35 Eine Stellungnahme zum ­Thema der Ausstellung, Bewertungen der Exponate oder Wertzuschreibungen zu spezifischen Ausstellungseinheiten oder dergleichen fanden aber bis dato im Gästebuch nicht statt, sodass hier wenig darüber aus­zusagen ist.36 Nicht immer müssen sich Wertzuschreibungen also materialisieren und können auch unbemerkt stattfinden. Welche Praktiken dabei eine Rolle spielen, soll der nächste Abschnitt mit Blick auf mich selbst als dritten Akteur zeigen. Zuschreibungskreisläufe Spätestens seit dem Interpretive Turn in den Kulturwissenschaften haben die Besucher:innen eine anerkannte Rolle in (Wert-)Zuschreibungs­ prozessen inne und es wird angenommen, dass der expositorische Akteur Aussagen mit und über Exponate und weitere Ausstellungselemente zwar encodieren und durch die Wahl gewisser Zeichen und Codes den De­ codiervorgang etwas beeinflussen kann, die Besucher:innen jedoch selbst 35 Gästebuch, Eintrag vermutlich vom 30. 10. 2020, also bezugnehmend auf die erste Variante der Sonderausstellung. 36 Bewertungen im Internet oder an anderen Stellen im Museum wurden nicht in die Untersuchung einbezogen. Auch die zum Zeitpunkt der Analyse recht niedrige Beteiligung externer Stimmen an den Mitmachstationen in »#neuland« ist wenig aussagekräftig bezüglich ihrer Funktion im Zuge der Inwertsetzung und Bewertung. 249

carla-marinka schorr

und immer wieder anders die vollzogenen Zuschreibungen herauslesen und interpretieren.37 Hinzukommt, dass sie als Akteure selbst Inwert­ setzungen vornehmen. Aufseiten der Besucher:innen lassen sich somit ­einerseits die Praktiken des Wiederzuschreibens von Wert und andererseits des Neuzuschreibens von Wert betrachten. Ohne eine breitere ­Publikumsbefragung, welche in diesem Methodensetting nicht vorge­ sehen ist, lassen sich weiterhin nur individuelle Ergebnisse erzielen. Dementsprechend ist dieser Abschnitt als Reflexion des eigenen Tuns als Forschende und Besucherin der Ausstellung zu lesen.38 Das Decodieren und Lesen von Zeichen hinsichtlich möglicher durch den expositorischen Akteur vorgenommener Inwertsetzungen basiert dabei auf einem breiten Repertoire soziokulturell geprägter, innerlich abgespeicherter Codes – was erkenne ich in dieser Ausstellung als verhandelten Wert? Rein körperlich bedeutet das, durch alle Stationen von »#neuland« zu gehen, um nichts zu verpassen, jeden Text, jedes Arrangement, jedes Exponat mit den Augen zu scannen und Sinn herstellen zu wollen. Ein suchender Blick führt mich durch die Ausstellung, motiviert durch das Ziel, eine fokussierte Ausstellungsanalyse anfertigen zu wollen. Das ist ein ebenso affirmativer wie »befangener« Besuch. Befangen auch deshalb, weil er auf der Hypothese beruht, dass sich Inwertsetzungen finden lassen. Dabei habe ich Wertzuschreibungen nicht nur gefunden, sondern auch erfunden und war dabei als Akteur tätig: Was ich wertvoll an der Ausstellung fand, sind Informationen, die ich bisher nicht hatte. Der Wert hierbei ist die Neuigkeit, wie sich am Beispiel der Ausstellungseinheit »Kommunikation« zeigen lässt. Neu war für mich etwa, dass es bereits 1966 mit »Eliza« eine kommunizierende, therapeutisch eingesetzte Maschine gab. Wesentlich mehr Informationen dazu gibt es in der Ausstellung nicht, aber bereits ein kurzer Satz hat mein Interesse geweckt, mich zu weiteren Recherchen animiert und wurde so für und durch mich persönlich in Wert gesetzt. Praktisch heißt das, dass ich In­teresse ent­ wickelt habe, stehen geblieben bin, mir Zeit genommen habe, den Text gelesen habe und durch Abgleich mit meinem bisherigen W ­ issen ein persönlicher Sachwert entstanden ist. Von dieser Inwert­setzung ist 37 Vgl. bspw. Edwina Taborsky, The discursive object, in: Susan Pearce (Hg.), Objects of knowledge (New Research in Museum Studies, Bd. 1), London 2002, S. 50-77. Zum Interpretive Turn in den Kulturwissenschaften vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2018, S. 58-103. 38 Ich würde nicht so weit gehen, dies eine Autoethnographie zu nennen. Ziel ist es stattdessen, einen kurzen Blick darauf zu werfen, wie die Praxis der Inwertsetzung aussieht, welche relevanten Motivationen und Interessen hinter einer Neubewertung stehen können und welche Folgen sie hat. 250

»#neuland«: neue dinge, alte werte

ä­ ußerlich nichts zu sehen und sie hatte bisher keine Konsequenzen für andere, was sich in genau diesem Moment der Reflexion und Wissens­ generierung geändert hat: Nun ist sie verschriftlicht und wurde gelesen und wird möglicherweise gerade jetzt bewertet, zieht also eine erneute Wertzuschreibung nach sich, steht genauso zur Disposition wie vorher »#neuland« für mich. Dieser Aufsatz ist damit selbst ein act of exposure: Ich als Autorin arbeite selektiv, s­elektierend und nutze Zeichen um ­meine Aussage bezüglich der Wertzuschreibungen in Wert zusetzen, in der Absicht, wertvolle Analyse­ergebnisse zu teilen.39 Auch das ist eine Inwertsetzungspraktik durch mich als Akteur und setzt sich weiter fort. Neue Dinge, alte Werte Im Überblick lässt sich zusammenfassen, dass die relevantesten durch den expositorischen Akteur genutzten Formen der Wertzuschreibung in »#neuland« Sprache in Textform, Exponatpräsentation, Wahrheitsrede, Kontextualisierung und Gestaltung sind. Externe Stimmen als Akteure der Inwertsetzung haben vor allem die Funktion eines conversation starters, wirken belegend oder illustrierend und sollen die angestrebte Grundwertediskussion durch ihre Standpunkte bereichern und erweitern. Meine eigenen Praktiken als Akteur in Bezug auf das Decodieren der Wert­ zuschreibungen und das eigene Neuzuschreiben lassen sich als ein aktives Besuchen der Ausstellung, als einen Prozess des Findens und Erfindens beschreiben. In den analytischen Blick gerieten dabei sowohl von mir so genannte Sachwerte als auch gesellschaftliche Normwerte, jeweils in Bezug auf materielle und immaterielle, vor allem aber auf »neue D ­ inge« unterschiedlicher Funktion. Die Ausstellung thematisiert vermeintlich »neue Dinge« und relativiert sie zugleich, indem sie sie historisch einordnet. Gerade in der Gestaltung und Vermittlung fällt auf, dass mit »alten«, sprich bereits »vertrauten« Gestaltungs- und Vermittlungswerten gearbeitet wird:40 Lange, wenngleich zumeist lesefreundliche Texte sollen die komplexen Inhalte rund um das wesentliche »neue Ding« (die Digitalisierung) in Zusammen­ schau mit illustrierenden Exponaten an das Publikum vermitteln. Dieses wird zwar kontinuierlich aufgefordert, sich eigene Gedanken zu machen, dabei aber nicht ernsthaft herausgefordert, denn es kann den Fragen des 39 Vgl. Mieke Bal, Double Exposurses. The Practice of Cultural Analysis, New York 1996. 40 »Vertraut« nimmt hier Bezug auf den Wandtext »#neuland«, in dem die gesellschaftlichen Grundwerte als vertraut bezeichnet werden. 251

carla-marinka schorr

expositorischen Akteurs leicht ausweichen und sich beispielsweise in den als didaktisches Element immer wieder und eigentlich clever eingesetzten Spiegeln genauso gut kritisch wie komisch reflektieren, ohne dass seine Positionierung Konsequenzen hätte.41 Bis zum Schluss offen bleibt die Frage an die Besucher:innen: »Was könnte für uns ein Kompass in der digitalen Welt sein?« Nicht nur in der Ausstellungseinheit »Identität«, dort aber sehr anschaulich, lässt sich ­zeigen, dass die Antwort des expositorischen Akteurs wohl »ein Wertekompass« lautet. In einem der Ausstellungstexte geht es darum, dass sich durch Big Data die Frage der Identität im Netz neu stelle, offenbar ­bleiben die damit verbundenen gesellschaftlichen Normwerte dem ex­ positorischen Akteur nach jedoch die »alten Werte« einer demokratischen Gesellschaft, wie in einem benachbarten Text zu lesen ist: »Privatautonomie«, »Freiheitsrechte«, »Legitimation und eindeutige Identifikation von Bürger:innen« oder »Transparenz« und »Wahrheit« in der Ausstellungs­ einheit »Wissen«.42 So entsteht bei mir an vielen Ecken der Ausstellung der Eindruck, dass inhaltlich, gestalterisch und didaktisch der Rekurs auf »alte Werte« als Strategie zur Eroberung von »#neuland« und seinen »neuen Dingen« eingesetzt wird. Abbildungen Abb. 1: »#neuland« in der Dauerausstellung des MfK. (Foto: Carla-Marinka Schorr) Abb. 2: Sockelvitrine mit Hasskommentaren auf Styropor. (Foto: CarlaMarinka Schorr) Abb. 3: Glossar. (Foto: Carla-Marinka Schorr)

41 Durch den gesetzten Fokus der Analyse wurden insbesondere die Aspekte zur Ausstellungsdidaktik in diesem Beitrag nicht weiter ausgeführt. 42 Wandtexte »Profil und Identität« und »Identifikation«. 252

Stephan Schwan

Aura, Lernstoff, kulturelles Kapital Der Wert musealer Dinge für die Besuchenden

In literarischen Zeugnissen, in Internetdiskussionen ebenso wie in alltäglichen Gesprächen finden sich häufig zwei unterschiedliche Auffassungen zu der Frage, ob Museen und Ausstellungen und die in ihnen präsentierten historischen Exponate einen Besuch wert sind. Plakativ gesprochen, werden Museen einerseits als Hort verstaubter und weitgehend wertloser Relikte, andererseits als Orte angesehen, die wertvolle Zeugnisse der Vergangenheit beherbergen und dadurch eine besondere Nähe zu Geschichte ermöglichen. In gewisser Weise ähneln diese beiden Auffassungen auf der Ebene der einzelnen Besuchenden den wertbezogenen Unterscheidungen, die auf überindividueller, kultureller Ebene in Krzysztof Pomians Semiophoren-Konzept und Michael Thompsons Mülltheorie1 angesprochen werden: »Wenn ein Gegenstand nicht mehr am Austausch teilnimmt, wenn er, was auf dasselbe hinausläuft, jede Bedeutung verloren hat und möglicherweise auch jede Nützlichkeit, wird er zu Abfall. So­ lange er dagegen Bestandteil einer Sammlung bleibt, ist er auch Träger von Bedeutung, Zeichenträger, Semiophor«.2 Auf individueller Ebene verläuft diese Unterscheidung zwischen wertlosem »Abfall« und wert­ vollem Bedeutungsträger dabei nicht nur entlang der Grenzen zwischen Nichtbesuchenden und Besuchenden, sondern auch bei den Besuchenden selbst zwischen den ausgestellten Gegenständen. Zu der Frage, unter welchen Bedingungen einem Gegenstand von Museumsbesuchenden ein Wert zugeschrieben wird, können aktuelle psychologische Modelle des Denkens und Empfindens einen Beitrag leisten. Im Folgenden sollen deshalb mögliche psychologische Mechanismen der Wertzuschreibung und Wertschätzung musealer Objekte durch Besuchende vorgestellt und diskutiert werden. Hierfür wird zunächst das Konzept des Erfahrungswerts eingeführt und in seinen verschiedenen Ausprägungen beschrieben sowie im Anschluss die Rolle kognitiver und affektiver Mechanismen für die Wertschätzung von Exponaten durch die Besuchenden dargestellt. Es 1 Michael Thompson, Rubbish theory: the creation and destruction of value, Oxford 1979. 2 Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums, Berlin 1988, S. 81. 253

stephan schwan

folgt eine Diskussion der psychologischen Mechanismen von Wert­ zuschreibungen aufgrund authentischer Objekterfahrungen, aufgrund des erlebten Bezugs zum eigenen Selbst sowie aufgrund des durch Ex­ ponate ausgelösten Lernens und Verstehens von Sachverhalten. Der Beitrag schließt mit einer kurzen Skizze geeigneter empirischer Forschungs­ methoden zu diesem Thema. Der Erfahrungswert von Ausstellungsstücken Fragebogen- und Interviewstudien belegen, dass Museumsbesuche mit der Erwartung verknüpft sind, dort lohnende und befriedigende Er­ fahrungen (satisfying experiences) machen zu können.3 Diese Verhaltens­ tendenz lässt sich mit grundlagenwissenschaftlichen Ansätzen der Psycho­ logie, sogenannten Erwartungs-x-Wert-Modellen, beschreiben. Diese Modell­f amilie postuliert, dass Menschen durch ihr Verhalten mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit ein möglichst »wert-volles« bzw. erstrebens­ wertes Handlungsergebnis erzielen möchten. Im Fall von Museums­ besuchen können die jeweils angestrebten, als wertvoll erachteten Erfahrungen unterschiedlicher Art sein, für die Andrew J. Pekarik, Zahara D. Doering und David A. Karns anhand empirischer Studien eine Gruppierung in vier Kategorien – ­Objekterfahrungen, kognitive Erfahrungen, introspektive Erfahrungen und soziale Erfahrungen – vorgeschlagen ­haben.4 In Bezug auf Objekte streben Besuchende unter anderem an, Originale zu betrachten, seltene, ungewöhnliche und wertvolle Dinge zu sehen, durch Schönheit bewegt zu werden oder sich vorzustellen, diese Objekte zu besitzen. ­Kognitive Erfahrungen umfassen Lernen, Wissenserwerb und ein vertieftes Verständnis bestimmter Sachverhalte. Intro­ spektive Erfahrungen beinhalten die Imagination anderer Zeiten und Orte, die Reflexion über die Be­deutung des Ausgestellten, Gefühle der Verbundenheit und Zu­gehörigkeit sowie die Erinnerung an Kindheits­ erlebnisse oder Reise­erlebnisse. Durch die mit Familie oder Freunden verbrachte Zeit und das gemein­same Erleben von Eltern mit ihren Kindern sind Museen schließlich auch Orte sozialer Erfahrungen, die als wertvoll empfunden werden. 3 Andrew J. Pekarik / Zahava D. Doering / David A. Karns, Exploring satisfying experiences in museums, in: Curator. The Museum Journal 42 /2 (1999), S. 152-173; ­Andrew J. Pekarik / James B. Schreiber, The power of expectation, in: Curator. The Museum Journal 55 /4 (2012), S. 487-496. 4 Pekarik / Doering / Karns, Exploring satisfying experiences. 254

aura, lernstoff, kulturelles kapital

Somit sind Museen und Ausstellungen aus Sicht der Besuchenden mit Wertzuschreibungen verknüpft, die sich allerdings zuallererst auf den Besuchenden selbst beziehen: »Habe ich durch den Besuch der Ausstellung oder die Beschäftigung mit einem bestimmten Exponat eine Erfahrung gemacht, die ich als wertvoll empfinde?« Für Exponate, die bei Besuchenden solche als wertvoll empfundene Erfahrungen ausgelöst haben, ließe sich in Anlehnung an Wertkonzepte aus der Kunstgeschichte und Denkmalpflege von deren Erfahrungswert sprechen. Im Gegensatz zu anderen Wertformen ist der Erfahrungswert allerdings ein strikt re­ lationales und kontextabhängiges Konstrukt, denn er betrifft das Verhältnis zwischen Ausstellung bzw. Exponat und den individuellen Be­ suchenden. Ein Exponat kann bei manchen Besuchenden eine wertvolle Erfahrung auslösen, bei anderen nicht. Ebenso kann diese wertvolle Erfahrung sich bei manchen Besuchenden darauf beziehen, dass sie anhand des Exponats ein tieferes Verständnis eines historischen Sachverhalts entwickeln, während sich die Erlebensqualität bei anderen Besuchenden auf die Seltenheit oder die Ästhetik des Exponats bezieht. Der Erfahrungs­ wert wird zudem auch von den jeweiligen Umständen beeinflusst. So kann dasselbe Exponat bei denselben Besuchenden zu einem Zeitpunkt eine wertvolle Erfahrung auslösen, während es diese zu einem anderen Zeitpunkt gänzlich unberührt lässt. Zudem zeichnen sich Ausstellungen typischerweise durch ein umfangreiches Angebot an Exponaten und ­begleitenden Informationsmaterialien aus. Dagegen handelt es sich bei wertvollen Erfahrungen naturgemäß um »seltene Ereignisse«, die – wenn überhaupt – nur von wenigen Exponaten einer Ausstellung ausgelöst werden. Insofern stellt sich aus besucherpsychologischer Sicht die Frage, welche motivationalen und kognitiven Mechanismen der besucherseitigen Wertschätzung eines Exponats zugrunde liegen. Wertschätzung ist hierbei im doppelten Wortsinn zu verstehen: einerseits als Schätzung des möglichen Erfahrungswerts eines Exponats, andererseits als besondere Würdigung solcher Exponate, denen ein hoher Erfahrungs­ wert zu­ geschrieben wird. Wertehierarchien und kulturelles Kapital Eine erste Möglichkeit für die Besuchenden, den Erfahrungswert eines Exponats abzuschätzen, besteht darin, sich von einschlägigen externen Indikatoren leiten zu lassen. Denn typischerweise werden die verschiedenen Exponate in einer Ausstellung nicht gleichwertig präsentiert, ­sondern sind eingebettet in ein Netzwerk mehr oder weniger subtiler Hinweise 255

stephan schwan

auf den Wert, der ihnen durch Öffentlichkeit, Fachexperten und /oder Kuratoren zugeschrieben wird. Dadurch kommt innerhalb von Ausstellungen eine Wertehierarchie der Exponate zum Ausdruck, an ­denen Besuchende sich bei ihrem Gang durch die Ausstellung orien­tieren können. Die Palette der Signale wertvoller Ausstellungsstücke ist vielfältig; sie beginnt bereits im Vorfeld des Besuchs durch die Dar­stellung herausgehobener Exponate auf Plakaten und der Museums-Website, setzt sich fort in Orientierungsplänen der Ausstellungen, die die »Highlights« und deren Position in der Ausstellung markieren, und wird flankiert durch entsprechende Hinweise in Tourismusführern. Ein typisches Beispiel bietet die Webseite des Britischen Museums: Sie empfiehlt für eine einstündige Tour eine Auswahl von zwölf Objekten, die den Besuchenden unter anderem zum Stein von Rosetta in Raum 4, zu einer Benin-Bronze in Raum 25 und zu den Lewis-Schachfiguren in Raum 40 leiten. Aber auch die Auswahl von Ausstellungsstücken in personalen Führungen, die Verfügbarkeit von Audioguide-Erläuterungen und die Lichtregie und Inszenierung im Raum bieten Besuchenden Hinweise für ihre Wertschätzung der Ausstellungsstücke. Besuchende können sich an der durch die genannten Hinweise etablierten Werthierarchie bei der Auswahl der Ausstellungsstücke orien­ tieren, mit denen sie sich genauer befassen möchten. Dies hat zweierlei Vorteile: Zum einen wendet man sich Exponaten zu, über die offenbar ein Wertekonsens besteht. Durch das Aufsuchen dieser Ausstellungs­ stücke akkumulieren Besuchende kulturelles Kapital, das sie in künftigen sozialen Situationen nutzen können, indem beispielsweise in Gesprächen erwähnt wird, dass man sich mit einem berühmten historischen Gegenstand beschäftigt und ihn im Original vor Ort in Augenschein genommen hat. Zum anderen verspricht die Auswahl der Ausstellungsstücke ­anhand der etablierten Werthierarchie aber auch, dass diese Objekte besonders geeignet sind, bestimmte Erfahrungen auszulösen, beispielsweise einen besonderen ästhetischen Genuss oder das vertiefte Verstehen eines historischen Sachverhalts. Bekanntheit und die Aura des Originals Besuchende können sich bei ihrer Wertschätzung von Exponaten auch daran orientieren, wie bekannt ihnen das Ausstellungsstück und dessen Umfeld bereits ist – sei es das Objekt selbst, die historische Person, aus deren Besitz das Objekt stammt, das betreffende historische Ereignis oder aber auch Künstler oder Autoren eines Werkes. Wie im 256

aura, lernstoff, kulturelles kapital

genen Abschnitt beschrieben, kann die Häufigkeit, mit der bestimmte historische Objekte abgebildet werden, deren Bedeutsamkeit signalisieren und sie damit aus Sicht der Besuchenden aufwerten. Allerdings muss den Besuchenden nicht unbedingt bewusst sein, dass sie mit einem Ausstellungsstück oder dessen Umfeld schon mehrfach in Berührung gekommen sind, sei es in Gesprächen, durch Erwähnung in den Massenmedien oder durch Abbildungen auf Plakaten, in Zeitschriften oder im Internet. Schon allein die Tatsache, öfters mehr oder weniger zufällig mit einem Gegenstand konfrontiert worden zu sein, kann bereits zu einer höheren Wertschätzung dieses Gegenstands führen. Dieses Phänomen wird in der psychologischen Grundlagenforschung als mere exposure-Effekt bezeichnet.5 In Experimenten konnte gezeigt werden, dass Gegenstände, Personen oder Kunstwerke umso stärker wertgeschätzt werden, je öfter sie den Studienteilnehmenden präsentiert wurden. Die Wertschätzung äußerte sich darin, dass Stimuli, die ihnen häufig gezeigt worden waren, stärker gemocht wurden (liking) und intensivere positive Gefühle auslösten. Psychologische Modelle dieses Phänomens gehen davon aus, dass es ­Betrachtern zunehmend leichter fällt, einen Stimulus kognitiv zu ver­ arbeiten, je häufiger sie mit ihm in der Vergangenheit konfrontiert ­wurden. Diese flüssigere Verarbeitung löst wiederum positive Gefühle ­gegenüber dem Stimulus aus.6 Zudem heben sich solche Stimuli perzeptuell stärker gegenüber anderen, um die Aufmerksamkeit konkurrierenden Stimuli ab. Solche salienten Stimuli werden typischerweise extremer beurteilt als weniger saliente Stimuli, was bei neutralen oder positiven Stimuli zu einer Intensivierung der positiven Beurteilung und der damit verbundenen Wertschätzung führt.7 Der mere exposure-Effekt wurde aber nicht nur in grundlagenwissenschaftlichen Experimenten, sondern auch in museumsrelevanten Kontexten nachgewiesen. Beispielsweise zeigte eine Analyse des Informations­ abrufs auf einem digitalen Führer des Literaturmuseums der Moderne, dass ein starker positiver Zusammenhang zwischen der Nennungshäufigkeit eines Autors oder einer Autorin im Internet (operationalisiert über 5 R. Matthew Montoya / Robert S. Horton / Jack L. Vevea / Martyna Citkowicz / Elissa  A. Lauber, A re-examination of the mere exposure effect. The influence of repeated exposure on recognition, familiarity, and liking, in: Psychological bulletin 143 /5 (2017), S. 459-489; Robert B. Zajonc, Attitudinal effects of mere exposure, in: Journal of Personality and Social Psychology 9 /2 (1968), S. 1-27. 6 Rolf Reber / Piotr Winkielmann / Norbert Schwarz, Effects of perceptual fluency on affective judgments, in: Psychological Science 9 /1 (1998), S. 45-48. 7 Kellen Mrkva / Leaf van Boven, Salience theory of mere exposure: Relative exposure increases liking, extremity, and emotional intensity, in: Journal of Personality and Social Psychology 118 /6 (2020), S. 1118-1145. 257

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die Trefferzahl einer Google-Suche) und der Häufigkeit des Abrufs von Informationen zu einem Werk dieser Autoren und Autorinnen auf ­einem digitalen Museumsführer bestand.8 Die häufigsten Abrufe fanden sich für Werke von Franz Kafka, Erich Kästner und Hermann Hesse. Darüber hinaus konnte in einer Studie von James Cutting anhand von Werken des ­impressionistischen Malers Gustave Caillebotte ein ebenfalls starker ­ positiver Zusammenhang zwischen der Abbildungshäufigkeit einzelner Werke in Kunstbüchern und deren Wertschätzung durch Betrachtende belegt werden.9 Diese Befunde werfen ein Licht auf die Diskussion über den Verlust der Aura von Exponaten durch ihre massenhafte Reproduktion in den Medien, denn diese Reproduktion scheint nicht zu einem Verlust an Aurazuschreibung, sondern umgekehrt aufgrund ihrer Bekanntheit zu einer Steigerung der auratischen Wertschätzung historischer Exponate zu führen. Im Selbstverständnis von Museen ist das Sammeln, Erhalten und Ausstellen von originalen kulturellen Artefakten – Werke, Zeugnisse oder Exem­plare – von zentraler Bedeutung, denn sie haben als Überlieferungen der Vergangenheit eine herausgehobene Bedeutung für historische Forschung und Erkenntnis.10 Inwieweit mit ausgestellten Originalen aber eine besondere Wertschätzung durch die Besuchenden einhergeht, ist empirisch nicht eindeutig zu beantworten. Einerseits zeigt sich, dass ein substanzieller Teil der Besuchenden auch Repliken als Ausstellungsgegenstände akzeptiert. Andererseits gehen viele Besuchende grundsätzlich davon aus, dass sie es im Museum mit Originalen zu tun haben, wollen explizit darauf hingewiesen werden, falls dies nicht der Fall ist, und bezeichnen das Sehen von Originalen als eine lohnende Erfahrung.11 In der Literatur wird auf die »Aura« des ­Originals verwiesen, die aus der Einmaligkeit eines Objekts und dessen historischer Trajektorie beruht. Während Walter Benjamin davon aus8 Kira Eghbal-Azar / Martin Merkt / Julia Bahnmueller / Stephan Schwan, Use of digital guides in museum galleries: Determinants of information selection, in: Computers in Human Behavior 57 (2016), S. 133-142. 9 James E. Cutting / Gustave Caillebotte, French impressionism, and mere exposure, in: Psychonomic Bulletin & Review 10 /2 (2003), S. 319-343. 10 Gottfried Korff, Museumsdinge: deponieren – exponieren, hg. von Martina Ebers­ pächer/ Gudrun M. König/ Bernhard Tschofen, 2.  erw. Aufl., Köln / Weimar / Wien, 2007; Thomas Thiemeyer, Werk, Exemplar, Zeuge. Die multiplen Authentizitäten der Museumsdinge. in: Martin Sabrow / Achim Saupe (Hg.), Historische Authen­ tizität, Göttingen 2014, S. 80-90. 11 Stephan Schwan / Daniela Bauer / Lorenz Kampschulte / Constanze Hampp, Repre� sentation Equals Presentation?, in: Journal of Media Psychology 29 /4 (2017), S. 176-187; Stephan Schwan / Silke Dutz, How do visitors perceive the role of ­authentic objects in museums?, in: Curator. The Museum Journal 63 /2 (2020), S. 217-237; Pekarik / Doering / Karns, Exploring satisfying experiences, S. 152-173. 258

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ging, dass die mediale Reproduk­tion zu einem Verlust der Aura und damit zu einer verringerten Wertschätzung des Originals führt, deuten die genannten Modelle und empirischen Befunde der psychologischen Forschung in die entgegengesetzte Richtung.12 Vertrautheit und Selbstbezug Insbesondere in kulturhistorischen Museen, Heimatmuseen und Freilicht­ museen treffen Besuchende des Öfteren auf Exponate, die ihnen nicht nur aus den Medien, sondern aus dem eigenen Umfeld vertraut sind. Häufig handelt es sich um Alltags- oder Haushaltsgegenstände, die im Besitz der Eltern oder Großeltern vorhanden waren, die ihre ursprüng­ liche Funktion verloren haben, aber im eigenen Umfeld noch als Dekorationsobjekte oder Erinnerungsstücke verwendet werden oder an deren früheren Besitz in der Familie man sich zumindest erinnern kann. Auch hier finden sich Bezüge zu grundlegenden kognitiven Mechanismen der Wertzuschreibung. Viele empirische Studien belegen, dass Gegenstände, die man besitzt, grundsätzlich stärker wertgeschätzt werden als die ­gleichen Gegenstände, wenn man sie nicht besitzt. Dieser sogenannte mere ownership-Effekt tritt auch auf, wenn es sich um Objekte handelt, die man zwar aktuell nicht mehr besitzt, aber früher einmal besessen hat.13 Die größere Wertschätzung für Objekte, die man besitzt oder besessen hat, wird auf deren engeren Bezug zum eigenen Selbst zurück­ geführt.14 Denn zum einen werden Stimuli, die einen Selbstbezug ­haben, im Gedächtnis besser gespeichert und erinnert (self-reference memoryEffekt).15 Durch den Besitz werden darüber hinaus zusätzliche Assoziatio­ nen zu dem Gegenstand im Gedächtnis gebildet, da das Besitztum in das Selbstkonzept des Besitzenden integriert wird. Da Selbstbeurteilungen typischerweise positiv ausfallen, wird diese positive Färbung auch auf den Besitzgegenstand übertragen. Es entsteht dadurch eine positive emotionale Bindung zu dem Gegenstand, die sich wiede­rum in einer höheren Wertschätzung ausdrückt. Streng genommen ist der mere ownership-­ 12 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier­ barkeit (1938), Frankfurt a. M. 1963. 13 Michael A Strahilevitz / George Loewenstein, The effect of ownership history on the valuation of objects, in: Journal of Consumer Research 25 /3 (1998), S. 276-289. 14 Carey K. Morewedge / Colleen E. Giblin, Explanations of the endowment effect: an integrative review, in: Trends in Cognitive Sciences 19 /6 (2015), S. 339-348. 15 Timothy B. Rogers / Nicholas A. Kuiper / William S. Kirker, Self-reference and the encoding of personal information, in: Journal of Personality and Social Psychology 35 /9 (1977), S. 677-688. 259

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Effekt nur für konkrete Gegenstände, die man selbst besitzt oder besessen hat, empirisch belegt (bspw. die Schreibmaschine, die im Keller im Regal aufbewahrt wird). Es ist aber plausibel, dass dieser wertschätzende Effekt sich auch auf gleichartige Gegenstände erstreckt, selbst wenn ein bestimmtes Exemplar nicht im eigenen Besitz war (bspw. eine Schreib­maschine gleichen Typs, die in einer kulturhistorischen Ausstellung gezeigt wird). Umgekehrt ist es plausibel, aber ebenfalls empirisch noch ungeklärt, ob Besuchende Gegenstände, die sich noch im Besitz finden, stärker wertschätzen, wenn sie die Objekte in einer musealen Ausstellung antreffen. Während der mere ownership-Effekt jegliche Art von vertrauten Objekten betrifft, seien sie auch noch so alltäglich oder unscheinbar, zeichnen sich bestimmte Gegenstände darüber hinaus durch einen besonders ausgeprägten Selbstbezug aus, wenn sie entweder mit biografisch bedeut­ samen Ereignissen (bspw. Geburt, Hochzeit, Urlaub etc.) in Beziehung stehen oder die eigene Individualität ausdrücken (bspw. eine bestimmte Automarke, ein modisches Kleidungsstück etc.) und deshalb als mate­ rielle Erweiterung des eigenen Selbst wahrgenommen werden (extended self).16 Handelt es sich hierbei um Objekte aus vergangenen Lebens­ phasen, wird ihnen zudem ein hoher sentimentaler Wert (sentimental value) zugeschrieben.17 Über direkte Bezüge zur persönlichen Biografie ­hinaus können Gegenstände aber auch auf die Lebenswirklichkeiten bestimmter historischer Zeitabschnitte und die damit verbundenen gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Ereignisse und Entwicklungen verweisen und damit einen nostalgischen Wert zugeschrieben bekommen.18 Erkenntniswert und Wissenserwerb Während Seltenheit und Aura der Exponate oder deren Selbstbezug ­affektiv gefärbte Erfahrungen auslösen, führen Wissenszuwachs und Verstehen zu kognitiven Erfahrungen, die von den Besuchenden ebenfalls als wertvoll empfunden werden.19 Ebenso findet sich auch bei Be­ 16 Russell W. Belk, Possessions and the extended self, in: Journal of Consumer Research 15 /2 (1988), S. 139-168; Rosellina Ferraro / Jennifer Edson Escalas / James R. Bettman, Our possessions, our selves: Domains of self-worth and the possession– self link, in: Journal of Consumer Psychology 21 /2 (2011), S. 169-177. 17 Yang Yang / Jeff Galak, Sentimental value and its influence on hedonic adaptation, in: Journal of Personality and Social Psychology 109 /5 (2015), S. 767-790. 18 David Anderson / Hiroyuki Shimizu / Chris Campbell, Insights on how museum objects mediate recall of nostalgic life episodes at a Shōwa era museum in Japan, in: Curator. The Museum Journal 59 /1 (2016), S. 5-26. 19 Pekarik / Doering / Karns, Exploring satisfying experiences, S.  487-496. 260

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fragungen in Gedenkstätten, dass für die Besuchenden das Motiv, die historischen Ereignisse und deren gesellschaftliche und politische Bedingungen und Ursachen zu verstehen, von großer Bedeutung ist.20 Aus der Expertiseforschung ist zudem bekannt, dass beispielsweise die Wertschätzung historischer Kunstwerke zunimmt, wenn die Betrachtenden über ein größeres Wissen bezüglich Kunststil, Epoche, Künstlerinnen und Künstler und historischen Kontext verfügen.21 Da Laien häufig nicht über ein solches Hintergrundwissen verfügen, bilden Ausstellungsstücke für sie einen Anlass, entsprechende Kenntnisse zu erwerben. ­Exponaten, die solche lernbezoge­nen Erfahrungen ermöglichen, lässt sich deshalb ein hoher verstehens­bezogener Erfahrungswert zuschreiben. Befunde der Besuchenden­f orschung zeigen allerdings, dass Exponate aus Sicht der Besucherinnen und Besucher häufig nicht für sich selbst ­sprechen, sondern Verstehensprozesse anhand von Ausstellungsstücken auf angemessene Begleitinformationen angewiesen sind. Beispielsweise stimmte in einer Befragungsstudie von Stephan Schwan und Silke Dutz eine überwiegende Mehrheit der Besuchenden der Aussage zu, dass sie ein authentisches Ausstellungsstück umso mehr schätzen, je mehr sie darüber wissen.22 Die Befragten verneinten ausdrück­lich, dass sie sich durch zusätzliche Informationen zu einem Ex­ponat gestört fühlen, und wünschten sich mehrheitlich Verständnishilfen in Form von begleitenden Erklärungen und Geschichten, Illustrationen und Modellen. Diese Befunde belegen, dass Objekten und deren be­gleitenden Erklärungen, die bei Besuchenden Prozesse des Wissens­erwerbs und des Verstehens von Zusammenhängen auslösen, ebenfalls ein hoher Erfahrungswert zugeschrieben wird. Manifestationen der Wertschätzung Abschließend soll auf die Frage eingegangen werden, in welcher Weise sich Wertschätzung für ein bestimmtes Exponat bei den Besuchenden äußert. Die meisten Modelle der Besuchendenforschung nehmen einen 20 Avital Biran / Yaniv Poria / Gila Oren, Sought experiences at (dark) heritage sites, in: Annals of Tourism Research 38 /3 (2011), S.  820-841; Aaron Yankholmes / Bob McKercher, Understanding visitors to slavery heritage sites in Ghana, in: Tourism Management 51 (2015), S. 22-32. 21 Nicolas J. Bullot / Rolf Reber, The Artful mind meets art history. Toward a psychohistorical framework for the science of art appreciation, in: Behavioral and Brain Sciences 36 /2 (2013), S. 123-137. 22 Schwan / Dutz, Role of authentic objects. 261

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linearen positiven Zusammenhang zwischen Dauer und Intensität der Auseinandersetzung von Besuchenden mit einem Exponat und dessen Wertschätzung an. Auf der Grundlage von allgemeinen Modellen der Informationssuche und -nutzung geht beispielsweise Jay Rounds davon aus, dass Besuchende sich primär solchen Exponaten zuwenden, die ­ihnen einen großen kognitiven oder emotionalen Nutzen versprechen, und dass der zugeschriebene Wert mit jedem ähnlichen Exponat sinkt, sodass von einer Reihe ähnlicher Objekte meist nur die ersten Objekte eine besondere Aufmerksamkeit erhalten.23 Hierfür haben sich die Hinwendung zu einem Exponat (attention catch) und die Dauer des Verweilens am Exponat (attention hold) als grundlegende Verhaltensindikatoren etabliert.24 Genaueren Aufschluss über die Tiefe der Auseinandersetzung mit einem Exponat gibt eine detaillierte Analyse des beobachtbaren Verhaltens. Wichtige Indikatoren sind beispielsweise die genaue Inspektion eines Ausstellungsstücks, das Betrachten und Lesen begleitender Informationen, die Nutzung von Interaktionsangeboten am Exponat oder Gespräche mit Begleitenden über das Ausstellungsstück.25 Erkenntnisse über die subjektiven Qualitäten der Wertschätzung von Exponaten ­lassen sich über Selbstauskünfte in ihren verschiedenen Formaten – ­Protokolle des lauten Denkens, Interviews, Fragebögen – erfassen. Da Wertzuschreibungen typischerweise mit positiven affektiven Reaktionen einhergehen, kommen zudem Instrumente zur Erfassung von Emotionen zum Einsatz, sei es in Form von Fragebögen oder mittels physiolo­ gischer Messungen der Variablität der Herzfrequenz oder der Haut­ leitfähigkeit.26 Insgesamt verfügt die Besuchendenforschung somit über ein breites Methodenrepertoire, um psychischen Prozessen der Wert­ zuschrei­bung durch Besuchende auf die Spur zu kommen.

23 Jay Rounds, Strategies for the curiosity-driven museum visitor, in: Curator. The Museum Journal 47 /4 (2004), S. 389-412. 24 Beverly Serrell, Paying attention: The duration and allocation of visitors’ time in museum exhibitions, in: Curator. The Museum Journal 40 /2 (1997), S. 108-125. 25 Eghbal-Azar / Merkt / Bahnmueller / Schwan, Digital guides; Stephan Schwan / Melissa Gussmann / Peter Gerjets / Axel Drecoll / Albert Feiber, Distribution of atten�tion in a gallery segment on the National Socialists’ Führer Cult. Diving deeper into visitors’ cognitive exhibition experiences using mobile eye tracking, in: Museum Management and Curatorship 35 /1 (2020), S. 71-88. 26 Martin Tröndle / Steven Greenwood / Volker Kirchberg / Wolfgang Tschacher, An integrative and comprehensive methodology for studying aesthetic experience in the field. Merging movement tracking, physiology, and psychological data, in: Environment and Behavior 46 /1 (2014), S. 102-135. 262

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Fazit Objekten wird durch ihre Aufnahme in Sammlungen und ihre Präsentation in Museen in der Folge eines komplexen Aushandlungsprozesses ein besonderer historischer Wert zugeschrieben. Durch die Praktiken der Ausstellung zielen Kuratierende darauf, Besuchende für diesen historischen Wert der einzelnen Exponate zu sensibilisieren. Allerdings zeigen Be­obachtungs- und Befragungsstudien, dass sich Besuchende solche intendierten Wertzuschreibungen nicht unbedingt zu eigen machen. Im Spannungsfeld des »Dazwischen« der kuratorischen In-Wert-Setzung der Exponate und des »Danach« der Aneignung etablieren Besuchende vielmehr ihre eigenen, stark individuell geprägten Werturteile. Im Vordergrund steht hierbei das Potenzial eines Exponats, beim Besuchenden verschiedene Formen »wert-voller« Erfahrungen auszulösen, die sich auf die auratischen Qualitäten der Objekte selbst, auf die mit ihnen verbundenen selbstbezogenen Einsichten und auf das am Exponat vollzogene Lernen und Verstehen beziehen. Trotz aller individuellen Unterschiede lassen sich diese, den Ausstellungsstücken von den Besuchenden zugeschriebenen Erfahrungswerte auf eine Reihe grund­legender psychologischer Mechanismen zurückführen, die auch außerhalb der musealen Sphäre Gültigkeit haben. Beispielhaft wurden hierfür Modelle des mere exposure, mere ownership und extended self beschrieben und ihre Bedeutung für Wertzuschreibungen in Museen und Ausstellungen dargestellt. Sie zeigen, dass aktuelle Erkenntnisse grundlagenpsychologischer Forschung wichtige Beiträge für das Verständnis der Wertschätzung von Exponaten durch Museumsbesuchende leisten können. Erste empirische Studien und Ergebnisse liegen vor, eine systematische Entwicklung des Forschungsfeldes steht allerdings noch aus.

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Aufgewertet Wertüberlegungen zum Museum

Am 25. 11. 2019 um 4:59 Uhr geht eine Meldung an die örtliche Polizeidienststelle, dass in das Grüne Gewölbe der Staatlichen Kunstsamm­ lungen Dresden eingebrochen worden ist. In der Pressekonferenz um 13:00 Uhr spricht die Generaldirektorin Marion Ackermann vom »unschätzbaren kunsthistorischen und kulturhistorischen Wert« der entwendeten Gegenstände.1 Etwa hundert Jahre zuvor hat der Soziologe und ­Ethnologe Marcel Mauss in seinem Essay über die Gabe herausgearbeitet, dass gesellschaftliches Zusammenleben in unterschiedlichen Konstellatio­ nen auf der Idee von Wert und Gegenwert fußt. Durch Gaben, denen ein Wert zugeschrieben wird, ist es möglich, die Mitglieder einer Gesellschaft zueinander in Beziehung zu setzen.2 Dass diese Konzepte in jeder Gesellschaft anders ausgestaltet werden, ist trivial, nichtsdestotrotz bietet der Wertbegriff einen zentralen Zugang zum Verständnis der materiellen Kultur.3 Diese zwei auf den ersten Blick sehr verschiedene Perspektiven zeigen, dass das Museum als spezifischer Ort für materielle (und immaterielle!) Kultur ein Ort unterschiedlichster Werte ist. Und sie verdeut­ lichen, wie prägend der Wertbegriff für die Kommunikation mit, über und von Museen ist. Museen – wie alle Kultureinrichtungen – befinden sich im Wett­ bewerb. Höhere Besuchszahlen, Vergrößerung der Sammlungen, erfolgreiche Einwerbung von Drittmitteln oder aber Unterstützung bei der Instandsetzung denkmalgeschützter Bauten werden als Argumente ins Feld geführt, immer das beste Haus am Platze sein zu wollen und im Zweifel anderen diesen Rang streitig zu machen. Dabei kommen auch äußere Faktoren zum Tragen, wie etwa politische Forderungen nach 1 Phoenix, Pressekonferenz der Dresdner Polizei zum Raub in Schatzkammer, h ­ ttps:// www.youtube.com/watch?v=P1FH_WNwQaA, Min. 9:26 [Abruf: 21. 12. 2021]. 2 Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften [1925], Frankfurt a. M. 1970 (1925). 3 Ein Beispiel von vielen: Carlos Fausto, How Much for a Song? The Culture of Calculation and the Calculation of Culture, in: Marc Brightman / Carlos Fausto / Vanessa Grotti (Hg.), Ownership and Nurture: Studies in Native Amazonian Property Relations, New York / Oxford 2016, S. 134-155. 265

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­»erfolgreichen« Häusern und die Fragen der Geldgeber nach dem impact oder eben dem Wert musealer Arbeit.4 Dies ist legitim. Es muss aber hinterfragt werden, nach welchen Kriterien hier gemessen wird und vor allem, ob diese Kriterien sinnvoll sind. Möglicherweise ist es ja auch die eine glückliche Museumsbesucherin, die den Sommer, sprich den Erfolg eines Museums macht? Sind es also die harten Fakten, nach denen ­Museumsarbeit bewertet werden soll, oder geht es eher um die sogenannte social significance,5 also die gesamtgesellschaftliche Wirkung von Kultureinrichtungen? Um sich dem Thema etwas anzunähern, ist es sinnvoll, einmal die unterschiedlichen Parameter, die den Wert musealer Arbeit festlegen können, darzulegen und kritisch zu betrachten. Eine Frage der Größe? Eine auffallend häufig ins Feld geführte Kategorie ist Größe. Auf den ersten Blick erscheint sie als neutrale Maßeinheit. Wendet man sie jedoch auf den Museumsbegriff an, werden die Untiefen schnell offensichtlich. Größe kann sich dabei ebenso auf Besuchszahlen wie auf die Ausstellungs­ fläche oder aber auf den zahlenmäßigen Umfang einer Sammlung be­ ziehen. Meist wird jedoch die Größe eines Museums an seinen Besuchszahlen gemessen – und dies wiederum wird, ohne näher ausdifferenziert zu werden, mit guter, also wertvoller musealer Arbeit, die diese hohen Besuchszahlen generiert hat, gleichgesetzt. Völlig außer Acht lässt diese Herangehensweise, dass die Wirkung eines Museums – und damit sein Wert? – viel eher von seinem Umfeld abhängt als von seiner schieren Größe. Museen agieren in Kontexten. Ein kleines Haus in einer mittelgroßen Stadt erreicht relativ gesehen mehr Menschen als ein »großes« Haus in einer großen Stadt wie Berlin mit seinen insgesamt 180 Museen. Viele Besucher:innen sind also eine durchaus relative Kategorie. 4 Der englische Begriff impact ist nur unzulänglich mit Wirkung oder Wirksamkeit ins Deutsche zu übersetzen und wird daher im Folgenden in seiner originären Begriffsbedeutung verwendet, die eine enge Verzahnung von Wert und Wirkung mitdenkt. 5 Der niederländische Museumsverband hat bereits 2011 ein Papier veröffentlicht, das die kritische Frage nach dem Wert der Museen mit »More than worth it« beantwortet. Die Autoren lassen sich nicht ein auf die Messbarkeit von Wertkriterien. Sie arbeiten vielmehr fünf Felder aus, in denen die Museen ihre soziale Bedeutung entfalten: »collection value – connection value – educational value – experience ­value – economic value«: DSP-Group, more than worth it. The Social Significance of Museums, April 2011, https://www.dsp-groep.eu/projecten/the-social-significanceof-museums [Abruf 28. 9. 2022]. 266

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Zudem intendieren Museen auch Wert(e)vermittlung und legen besonderes Augenmerk darauf, welche Werte durch Dinge repräsentiert werden. Ein prominentes Beispiel ist das Thema der Nachhaltigkeit. Sie steht der Wachstumsorientierung, die der Berücksichtigung von Größe als Bewertungskriterium inhärent ist, diametral entgegen. Ohnehin integriert der Begriff Wert ungemein vielschichtige und manchmal auch ­gegenteilige Ansätze: den ökonomischen Wert und quantitative Perspektiven ebenso wie ein ethisch-moralisches Wertverständnis.6 Im Folgenden werden daher ausschließlich Werte betrachtet, die für Museen und damit letztendlich auch ihre Sammlungen relevant sind. Das Museum als Untersuchungsgegenstand der Museum Studies muss dazu in die Einzelteile seines symbolischen Kapitals zerlegt werden, um den Prozess der Inwertsetzung sowie seine Akteure – also diejenigen, die »bewerten« – sichtbar zu machen.7 Hieraus Schätzungen und einheitliche Kriterien zum Wert der Museen abzuleiten, bleibt jedoch utopisch.8 Es gilt stattdessen, eine Möglichkeit zu schaffen, diese Wertediskussion, die die Museen umkreist, ohne sie jedoch selbst einzubeziehen, ein wenig zu objektivieren. Dabei wird vorausgesetzt, dass Werte nicht stabil, sondern ein ständig neu zu verhandelndes Ergebnis sozialer und kultureller Konventionen sind.9

6 Als Überblick: Andreas Urs Sommer, Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt, Stuttgart 2016. 7 Im Folgenden werden einzelne Wertkategorien in Bezug auf Museen zur Sprache kommen, die aus meiner Sicht Teil eines symbolischen Kapitals der Museen sind. Mehr zum Bourdieu’schen Ansatz und der Bedeutung der Akkumulation: Wolfgang Müller-Funk, Einführung in die Schlüsseltexte der Kulturwissenschaften, Tübingen 2021, S. 241-258. 8 Interessant wäre auch, sich die Akteure solcher Wertdiskurse einmal näher anzusehen und resultierende Wertkonkurrenzen zu betrachten: Das sind neben Besucher:innen eben auch Akteure in Museen, die diversen Communities und nicht zuletzt die Politik. 9 Martina Heßler, Abfall als Denkobjekt. Eine Re-Lektüre von Michael Thompsons »Mülltheorie« (1979), in: Zeithistorische Forschungen 13 /3 (2016), S. 543-549, hier S. 544 (Themenheft »Der Wert der Dinge«). Eine spannende Übersicht zur Perspektive der Nutzer:innen: Jocelyn A. Dodd / Richard Sandell / Carol Scott, Cultural ­value. User value of museums and galleries: a critical view of the literature, University of Leicester 2014, https://hdl.handle.net/2381/37043 [Abruf: 5. 5. 2022]. 267

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Quantitative Kriterien Ein Ansatz, um sich dem Wert des Museums und damit dem Wert ­musealer Arbeit zu nähern, ist die Frage nach Kriterien, die eine Ordnung, Gliederung oder Klassifizierung ermöglichen. Grundsätzlich gilt es dabei, quantitative von qualitativen Kriterien zu unterscheiden.10 Es gehört zum Kerngeschäft des Instituts für Museumsforschung (IfM), mit »einfachen« Kennzahlen zu arbeiten. Die Gesamtstatisitk für Museen in Deutschland erhebt eine Vielzahl von Kennzahlen, die dann nach unterschiedlichen Bezugsgrößen, beispielsweise Museums­ arten, Trägerschaften, Gemeindegrößenklassen oder gruppierte Zahl der Besuche, ausgewertet werden können. Einfache Kennzahlen für das quantitative Kriterium »Größe« sind beispielsweise Besuchszahlen, die Depotfläche, die Sammlungsgröße oder die Zahl der jährlichen Sonderausstellungen der Häuser.11 Die Beobachtungen und Entwicklungen der letzten Jahre verdeutlichen, dass die Bewertungen dieser Zahlen in der Regel mit einer Logik des Wachstums verbunden sind: größer gleich besser, mehr ebenfalls gleich besser und so weiter. Ein gern genanntes Beispiel sind die Sammlungsgrößen. Wie wenig relevant die singuläre Betrachtung dieser Einheit ist, verdeutlicht der Größenunterschied, der naturhistorische Sammlungen von kunstoder kulturhistorischen Sammlungen trennt. Es liegt im wahrsten Sinne des Wortes in der Natur der Sache, dass naturhistorische Sammlungen ungleich größer sind. Zum Vergleich: Die Sammlung des Naturkundemuseums in Berlin umfasst laut Selbstangabe mehr als 30 Mio. Objekte, während man im Vorderasiatischen Museum Berlin rund 200.000 Objekte verwahrt. 10 Hier wird im Folgenden durch eine eher theoretische Betrachtung der Kriterien eine Annäherung versucht. Der Österreichische Museumsbund geht mit der so­ genannten MuseumScorecard einen konkreten Weg: Ausgehend von der B ­ alanced Scorecard, ist dies ein Angebot, das dazu anregt, Erfolg innerhalb und außerhalb der Institution nicht nur in Besuchszahlen zu messen, sondern den i­nstitutionellen Erfolg gemäß seiner Museumspraxis darzustellen und im Team weiter an Visionen und Zielen zu arbeiten: http://www.museums-scorecard.at/ [Abruf: 26. 12. 2021]. Schon 2010 wurde etwa an britischen Museen eine Umfrage gestartet, die den Blick auf unterschiedliche »values« von Museen weiten sollte, ausgelöst durch eine Wertdebatte der Museen durch die Labour Party 1998: National Museum Directors’ Conference (NMDC), Making a difference: the cultural impact of museums. July 2010, https://www.nationalmuseums.org.uk/media/do cuments/publications/cul tural_impact_final.pdf [Abruf: 5. 5. 2022]. 11 Allgemeines dazu in: Patricia ­Rahemipour / Kathrin Grotz (Hg.), Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2020, Heft 76, Berlin 2022. 268

aufgewertet

Wertet man die Kennzahlen differenzierter aus, so ergeben sich beispielsweise je nach Museumsgattung oder Trägerschaft oder anderen ­zusätzlichen Parametern unterschiedliche Größenrelationen und Bezugsrahmen. Was ist ein »großes« Naturkundemuseum im Vergleich zu einem »großen« Kunstmuseum und welches Gewicht haben bei dieser Bewertung jenseits der Besuchszahlen andere Kennzahlen wie etwa Samm­ lungsgröße, Zahl der Mitarbeiter:innen oder Ausstellungsfläche? Sollte man bei der Einordnung eher auf den Vergleich innerhalb der gleichen Museumsgattung setzen? Bei einem Museum zur Vorderasiatischen ­Archäologie könnte es zudem Sinn ergeben, inhaltlich zu argumentieren und eher nach der chronologischen und geografischen Spreizung der Objekte statt nur nach deren Anzahl zu fragen. Trotz dieser offensichtlichen Schwierigkeiten gilt: Die seit 1981 kon­ tinuierlich erhobenen Besuchszahlen in Museen gehören zu den am häufigsten am IfM abgefragten Kerndaten, und das zeigt ihren nach wie vor starken Einfluss auf die Bewertung des Größe-Relevanz-Verhältnisses. Nicht selten sind die Abfragen verbunden mit der Bitte um Darstellung der Zuwachsraten in den vergangenen Jahren. Hieraus werden wirtschaft­ liche Ansprüche oder Begründungen abgeleitet, die sich an die Politik und Unterstützer:innen richten. Dies verwundert kaum angesichts der knapp 7.000 Museen in Deutschland, die schon zahlenmäßig als bedeutsamer gesellschaftlicher Faktor gelten müssen. Allein die Sinn­haftigkeit bleibt dahingestellt. Qualitative Kriterien Gerade hinsichtlich der Kernaufgaben des Museums und deren Weiter­ entwicklung in Richtung ihrer Zukunftsfähigkeit, die die aktuellen Debatten prägt, braucht es die Ermittlung von qualitativen Kriterien, welche sich aus der komplexen Ableitung und Interpretation der genannten einfachen Kennzahlen ergeben können.12 Im Folgenden sei auf einige wenige näher eingegangen.13 Letztendlich ist es die Akkumulation verschiedener wertbildender Kriterien, die eine Annäherung an die Frage nach dem Wert der Institution Museum 12 So wenig die Frage nach dem Wert des Museums als solchem Sinn ergibt, so wichtig ist es, diese zu stellen, um die Möglichkeiten der Museen (mit Blick auf ihre Zukunftsfähigkeit) durch Kriterien zu beleuchten und aus dem passiven Reagieren herauszutreten hin zu einem proaktiven Handeln. 13 Die hier vorgestellten Wertkriteren sind vor allem solche, die in den aus der Arbeit des Instituts für Museumsforschung geführten Diskussionen und Debatten 269

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­ berhaupt möglich macht. Wohl nicht nur deshalb hat der niederländiü sche Museumsverband bereits 2011 als Wertkategorien für Museen ausschließlich auf deren »Social values«14 verwiesen. Einzelwert von Objekten Ein qualitatives Kriterium, das auf den Wert eines Museums und auf die museale Arbeit einzahlt, ist der Einzelwert von Objekten,15 insbesondere der sogenannten Leuchtturmobjekte. Zugleich hat sich, spätestens seit Michael Thompson im Jahr 1979 seine Müll-Theorie publizierte, die Betrachtung des Werts von Dingen verändert.16 Sie lenkte den Blick ­wieder auf die Objekte und die sozialen Aspekte, die den Wert der Dinge auf- oder auch entladen, wie es auch in den Material Culture Studies forciert wird, den Wert von Dingen als Folge variabler kultureller Zuschreibungen anzusprechen, der wiederum keineswegs in einem ökonomischen Wert aufgeht.17 Es geht Thompson vornehmlich um die gesellschaftlichen Mechanismen, die auf die Dinge und ihren Wert einwirken: nicht einmalig, sondern in vielfältiger und wechselhafter Weise. Dabei sieht Martina Heßler in ihrer Re-Lektüre der Müll-Theorie in Thompsons Beitrag nichts Geringeres als »eine Gesellschaftstheorie, die Dinge als Teil des Gesellschaftlichen selbstverständlich mitdachte.«18 Interessant in Bezug auf Museen und deren Sammlungen bzw. in Hinblick auf Objekthighlights ist die Wertaufladung von Dingen jenseits ihres Funktionswertes.19

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ders aktuell zu sein scheinen. Dabei ist die Listung weitaus nicht vollständig und nimmt keine eigene Wertung vorweg. Zu diesen zählen insgesamt fünf Wertkategorien: »collection value, connecting value, educational value, experience value and economic value«: DSP-Group, More than worth it, S. 3. Der Wert von Sammlungen in ihrer Gesamtheit bzw. von Sammlungskonvoluten wird hier nicht näher diskutiert. Sie sind ebenso wie die Einzelobjekte Träger und Akkumulatoren von Werten. Michael Thompson, Müll-Theorie. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten. Neu herausgegeben von Michael Fehr, Essen 2003 (engl. 1979). Dan Hicks / Mary C. Beaudry, Introduction. Material Culture Studies: A Reactio�nary View, in: dies. (Hg.), The Oxford Handbook of Material Culture Studies, Oxford / New York 2010, S. 1-21. Interessant hierzu auch: Hans Peter Hahn (Hg.), Vom Eigensinn der Dinge. Eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen, Berlin 2015. Heßler, Abfall als Denkobjekt, S. 545. Für naturhistorische Objekte kommt dieser Gesichtspunkt aus naheliegenden Gründen nicht in Betracht. Kunstgegenstände werden hier nicht näher betrachtet, weil ihre Wertakkumulation völlig anders verläuft und die Einschätzung von Funktionalität anders konnotiert wird. Eine ungewöhnliche Perspektive zur

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Die in Museen exponierten Dinosaurier, die Nofretetes und die Himmels­scheiben, die so prominent sind, dass sie für ganze Fachdisziplinen stehen, sind Wertakkumulatoren auf diversen anderen Ebenen. Ihr historischer Wert, ihre Einmaligkeit, die Grabungsgeschichte und die Sammlungsgeschichte verbinden sich mit ihrem fachlichen Wert, was für Leuchtturmobjekte typisch ist. Ein Beispiel: Ein Museum, das den mumifizierten Körper des so­ genannten Ötzi, Teil eines außergewöhnlichen frühbronzezeitlichen Fund­ ensembles aus den Ötztaler Alpen, beherbergt und zeigt, braucht im Prinzip jenseits dieses Leuchtturmobjektes nicht viel mehr, um jährlich hohe Besuchszahlen zu generieren und damit zur vermeintlichen Wertsteigerung des Museums selbst beizutragen.20 Im Gegenteil wird es eher zur Herausforderung, den Blick von diesem Einzelobjekt abzulenken und die eigentliche Arbeit sowie andere Teile der Sammlung des Museums in gleichem Maß sichtbar zu machen. Dass diese »Bewertung« von Leuchtturmobjekten nicht statisch ist, liegt auf der Hand. Sie setzt sich vielmehr aus unterschiedlichen Einzelwerten zusammen, wie ein Blick auf konkrete Beispiele offenlegt. Auf den Einzelwert von Objekten zahlen beispielsweise ihre Grabungs­ geschichte und Sammlungsgeschichte ein. Der Sammler als solcher ist Teil dieser »Wertschöpfungskette«. Alexander von Humboldt etwa ­wurde schon zu Lebzeiten als größter Naturforscher aller Zeiten eingeordnet. Die von ihm gesammelten Objekte genießen entsprechende Wertschätzung, ohne dass jedes einzelne von ihm gesammelte Objekt von besonderem wissenschaftlichen Wert wäre. Dass Museen dabei ein lebendiges Feld kultureller Praxis mit sich verändernden Wertkontexten und prominent in der öffentlichen Debatte vertreten sind, zeigt ein jüngeres Beispiel, nämlich die Diskussion um das Luf-Boot, das nicht erst seit gestern vom Ethnologischen Museum der Staatlichen Museen zu Berlin gezeigt wird. Durch die öffentliche Diskussion um die Rechtmäßigkeit seines Erwerbungskontextes ist seine Be­ deutung auch im außerfachlichen Diskurs enorm gestiegen, in der Folge deutung von Funktion in der Beziehung zwischen Menschen und Dingen: Ana�maria Depner, Dinge in Bewegung – zum Rollenwandel materieller Objekte. Eine ethnographische Studie über den Umzug ins Altenheim, Bielefeldt 2015. 20 Das Bozener Archäologiemuseum, wo der »Ötzi« ausgestellt wird, hat im Gegensatz zu den anderen Landesmuseen Südtirols um ein Vielfaches höhere Besuchszahlen. Die Schieflage hier ist signifikant. Darüber hinaus beobachtet das Museum selbst, dass es den Besucher:innen häufig darum geht, gezielt das Highlight des Museums aufzusuchen (Gespräch mit der Generaldirektorin der Südtiroler Landes­ museen Dr. Angelika Fleckinger am 18. 11. 2021). 271

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muss man im Humboldtforum Schlange stehen, um es ansehen zu ­können.21 Die Wertakkumulation als Teil einer »Wertschöpfungskette« bleibt also dynamisch und die Museen selbst sind Teil davon. Ensemblewert Das Gegenstück zum Einzelwert der Objekte und Sammlungen ist der eher selten diskutierte sogenannte Ensemblewert, also die Verortung eines Museums im beispielsweise städtischen oder ländlichen Kontext. Er ist aber von ausschlaggebender Bedeutung. Ein Beispiel dafür ist das Goldmuseum in Goldkronach. Es ist das einzige Museum in einer kleinen Stadt mit etwa 3.500 Einwohner:innen und ein wichtiger Identitäts­ marker des Ortes. Das Museum fördert die Erinnerung an die starke Verbindung zwischen Goldkronach und Alexander von Humboldt.22 In einer Millionenstadt wie Berlin mit ihren mehr als 180 Museen ist die Wirkung des einzelnen Museums gerechnet auf die Einwohnerzahl wesent­lich geringer als in dem oben beschriebenen Kleinstadtkontext. Das kleine Goldmuseum ist aber durch seine Singularität der Wechselwirkung mit anderen beraubt und wächst auch nicht an den Netzwerken, auf die andere Museen zurückgreifen können.23 Seine Relevanz und sein Wert beziehen sich also vor allem auf das Ensemble und auf seine örtliche Passung.24 Passung ist ein schöner altmodischer Begriff, der Profilierung unter Berücksichtigung von Abgrenzung und Vernetzung verknüpft. Ein ehrenamtliches Museum kann ein wichtiger sozialer Begegnungsort sein, weil mehrere Dutzend ehrenamtliche Mitarbeiter:innen dort sinnvolle 21 Die Diskussion um das Luf-Boot – ein großes Auslegerboot aus Papua-Neuguinea, das ein Exponat im Ethnologischen Museum in Berlin ist und zu den Objekten gehört, dessen rechtmäßiger Erwerb intensiv diskutiert wird – wird durch den Historiker Götz Aly und die Medien geprägt. Sein Buch war Anlass für diese Diskussion in der Öffentlichkeit: Götz Aly, Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten, Frankfurt a. M. 2021. 22 Alexander von Humboldt hat kurze Zeit in Goldkronach gelebt, während er als Beamter im regionalen Goldbergbau tätig war. 23 Die Aufwertung von Museen kann umgekehrt auch durch die Anziehungskraft der Häuser, in denen sie sich befinden, stattfinden. Ein kulturhistorisch bedeutender Ort wie die Museumsinsel in Berlin ist ein gutes Beispiel hierfür. Hier ist der Ort selbst eine Art »Besuchsgenerator«, weil er zum Weltkulturerbe gehört. 24 Der bereits zitierte Österreichische Museumsbund hat den Ensemblewert in der »MuseumScorecard« als grundlegenden Game Changer erfasst.Denkansatz ist die Tatsache, dass ein regionales Museum, das vll. nur 2.000 Besuche hat, ein wichtiger regionaler Kulturträger sein kann, weil 80 % seiner Gäste aus der nahen Umgebung kommen: http://www.museums-scorecard.at./ [Abruf: 2. 5. 2022]. 272

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Beschäftigung finden. Ein großes Museum mit vielen internationalen Besucher:innen ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Ein Museum gleich welcher Größe, wo jeden Freitag fürs Klima gestreikt wird, ist ein wichtiger Seismograf der Gesellschaft. Wie passt ein Museum also in den Stadtraum und die Netzwerke hinein, in denen es agiert?25 Wertwirkung von Forschung Ein zentraler Bereich musealer Aktivitäten ist die Forschung. Die Arbeit mit den Sammlungen erschöpft sich bekanntermaßen nicht in der Inventarisierung und Erschließung. Vielmehr ist sie Auftakt zur intensiven Beschäftigung mit den Objekten und ihren Kontexten. Dies kann in der Vorbereitung von Ausstellungen oder aber im Rahmen eingeworbener Drittmittelprojekte sein. Forschende Sammlungsarbeit generiert dadurch in Wechselwirkung mit den Museen einen wissenschaftlichen Wert. ­Interessanterweise ist die Wirkung dieses Werts vor allem nach innen gerichtet. Er ist förderlich bei Anwerbung ausgewiesener Expert:innen für ein Haus und führt innerhalb der Museumscommunity zu Anerkennung. Weitere Kreise zieht er vor allem innerhalb der Wissenschaft. Spitzenforschung erlaubt die bessere Positionierung eines Hauses innerhalb der Museumslandschaft und in der Fachwissenschaft. Drittmittelprojekte, zu denen Fachleute der Häuser eingeladen werden, sind ein weiterer positiver Effekt. Aber auch nach außen kann Wertwirkung erzielt werden: Das Archäologiemuseum in Bozen wurde geradezu um den 25 Ein relativ neuer Wert, den man ebenfalls im Rahmen von Museumsarbeit berücksichtigen muss, ist der sogenannte Community-Wert. Museen agieren nicht nur mit der Gesellschaft im Allgemeinen, vielmehr richtet sich ihre Arbeit an die eigenen Communities. Dabei definiert sich Community ständig neu und ist viskos. Zielgerichtet angesprochene Publika, die als Besucher:innen für eine Ausstellung gewonnen werden wollen, gehören ebenso dazu wie die Museumspraktiker:innen, die für Forschung gewonnen werden sollen. Es sind unterschiedlichste Communi�ties, mit denen Museen interagieren, und immer steht die Frage im Vordergrund: Wie adressatengerecht ist das Museum unterwegs? Spielt das Museum in seinen Communities eine Rolle oder agiert es unabhängig davon? Durch erfolgreiche ­Interaktion mit seinen Communities kann das Museum als Ort gesellschaftliche Prozesse aktiv prägen – mit Blick auf die aktuelle Debatte ein sehr wichtiger Wert, der auch von kleinen und gerade deshalb besonders agilen Museen erbracht werden kann. Da die Diskussion hier den Rahmen sprengen würde, sei auf sie nur am Rande verwiesen. Wie virulent sie für Museen, verknüpft mit dem Outreach-­ Begriff ist, zeigt sich beispielsweise auch an den zahlreichen Stadtlaboren und Outreach-Kuratoren. Als Einstieg: Museen und Outreach. Outreach als strategisches Diversity Instrument – Das Blog zum Buch, https://www.museum-outreach. de/community-outreach/ [Abruf: 5. 5. 2022]. 273

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berühmten Mumienfund des Neolithikums (»den Ötzi«) herum gestaltet, und neue wissenschaftliche Erkenntnisse werden mit starkem öffent­ lichen Interesse wahrgenommen. Gleiches gilt für das Museum für Vorgeschichte in Halle. Schon deutlich älter, spielte es überregional keine herausragende Rolle, bis die sogenannte Himmelsscheibe von Nebra gefunden wurde und die aus der Grabung resultierenden Erkenntnisse und Forschungsleistungen zu Glaubensvorstellungen der Bronzezeit sich seitdem ganz wesentlich auf den Wert dieses Hauses auswirken. Legendäre Grabungsgeschichten als Treiber von Forschung sind nicht neu: Als Sir Howard Carter in Ägypten das Grab des Tutanchamun barg, wurden in der Öffentlichkeit schnell Fragen nach der Art der Konser­ vierung geäußert und intensiv diskutiert. Die im gleichen Grab gebor­ genen Pflanzen sind dagegen weitgehend unbekannt. Aus fachlicher Sicht sind sie jedoch nicht weniger interessant, weil sie einzigartige Hinweise auf die Pflanzenwelt des Alten Ägypten geben. Dass sie nicht in gleicher Form wahrgenommen werden, mag mitunter auch an ihrer fehlenden »Instagrammability« liegen. Dabei geht es aber weniger um Vorzeig­barkeit. Es ist vielmehr zu vermuten, dass die Eignung bestimmter Objekte für Social Media nur zum Teil mit einem gefälligen Erscheinungsbild zu­ sammenhängt als vielmehr mit Zugänglichkeit im Sinne eines »man ­erkennt nur, was man kennt«. Viele Objekte erschließen sich nicht leichtgängig für ihre Betrachtenden. Sie setzen Kenntnisse und Hinter­ grundinformatio­nen voraus, die man erst erwerben muss, um die notwendige Kontextualisierung herzuleiten. Diesen Ansatz verwendete Thompson, wenn er von »Dingen als Teil der Gesellschaft« sprach und damit deren Konjunkturen oder Lesbar­ keiten thematisierte. Arbeiten aus feiner Bronze – wo der Wert der Handwerkskunst den materiellen Wert deutlich übersteigt – sind dennoch auch für Laien schnell als wertvoll einzuordnen. Andere Dinge, wie etwa jahrtausendealte, getrocknete Pflanzenreste, bergen vornehmlich »innere Werte«. Sie sind vor allem für die Fachwelt von Interesse, um beispielsweise Pflanzentransfers oder den Speisezettel in der Antike nachzuvollziehen. Diese Informationen erschließen sich für Betrachter:innen ohne Vorkenntnisse aus den wenig ansehnlichen Überresten nur schwer und wecken daher wenig Interesse.26 Das Fehlen wissenschaftlicher Aktivitäten führt selten zu mangelnder Akzeptanz in der Öffentlichkeit. Obwohl als eine der Kernaufgaben von 26 Bezogen auf den größeren Zusammenhang könnte man analog zur »museum lite�racy« von »object literacy« sprechen. 274

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Museen schon lange Teil des verbindlichen Aufgabenspektrums, scheint Forschung als Aufgabe der Museen zumindest in der Außenwirkung nur begrenzt relevant zu sein.27 Der wissenschaftliche Wert eines Hauses, also das Renommee eines Hauses in der Wissenschaft, hat dementsprechend nur wenig Anteil an seiner Gesamtwirkung. Dies ist wohl nur aus der historischen Perspektive zu begründen und vor allem vor dem Hintergrund paradox, dass zentrale Positionen in Museen nach wie vor hauptsächlich durch fachliche Expert:innen besetzt werden und andere Be­ fähigungen, die die Arbeit im Museum erfordert, nur eine untergeordnete Rolle spielen. Zumindest macht dies deutlich: Museen schöpfen derzeit noch nicht alle Möglichkeiten aus, die wissenschaftliche Basis ihrer ­Arbeit gegenüber dem Publikum entsprechend transparent zu ­machen. Der Öffentlichkeit fehlt im Zweifel auch der Referenzrahmen und die Kenntnis fachwissenschaftlicher Bewertungssysteme, um die Qualität und damit den wissenschaftlichen Wert des Präsentierten einschätzen zu können. Daher ­basiert die Einschätzung dieses Werts vor ­allem auf einer Art Vertrauens­vorschuss. Interessanterweise büßen die Museen dennoch wenig an ihrer Glaubwürdigkeit ein: So zeigte die Kulturstatistikerin Colleen Dielenschneider 2018 in einer Grafik, dass Museen als »ver­ trauenswürdige« Orte gelten.28 Erlebniswert Der oben vorgestellte Einzelwert von Objekten offenbart nur zum Teil die Möglichkeiten der Wirkung, die Museen entfalten können und die vice versa ihren Wert prägen. Eine schnelle Suchabfrage der Begriffs­ 27 Während die öffentliche Wahrnehmung der kulturhistorischen Museen und ihrer Forschungsleistung eher die Ausnahme ist, ist dies bei naturkundlichen Museen etwas anders. Ihre Forschungsleistung war und ist stärker in der Öffentlichkeit bekannt, wird als eine Kernaufgabe wahrgenommen und zahlt auf ihrem Wert ein. Diese – zugegebenermaßen – gewagte These bezieht sich auf die grobe Durchsicht und Kenntnis der Berichterstattung rund um Museen. Sie ist bislang nicht durch weitere Zahlen und Fakten belegt, könnte aber im Zentrum zukünftiger Untersuchungen stehen. 28 Colleen Dilenschneider, In Museums We Trust. Here’s How Much, https://www. colleendilen.com/2019/03/06/in-museums-we-trust-heres-how-much-data-up date/ [Abruf: 17. 12. 2021]: Die Grafik zeigt deutlich, dass Museen sogar als ­vertrauenswürdiger als Tageszeitungen angesehen werden. Unklar ist allerdings, wie viele Museen die Grundlage für diese Zahlen bildeten und wer und wonach gefragt wurde. Daher wird hier auf die Darstellung verzichtet. Ohne die Situation eins zu eins auf Deutschland übertragen zu können, ist jedoch davon auszugehen, dass beispielsweise die acht Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft etwa für Debatten zum Klima relevante Orte sind. 275

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paarung Erlebnis und Museum offenbart, dass vor allem Science Center, Freilicht- und Technikmuseen mit dem Erlebnis in ihrem Haus werben. Auch Umfragen, die sich mit dem eindrücklichsten Museumserlebnis befassen, zeigen, dass insbesondere Technikmuseen und Freilichtmuseen das museale Gedächtnis der Besuchenden prägen. Ebenso häufig genannt werden Science Center, die in Erinnerung bleiben und positiv besetzt sind.29 Es liegt nahe, den Grund im Erlebnischarakter dieser Museumsgattung zu suchen und davon auszugehen, dass durch das ­Ansprechen aller Sinne ein Erlebnis generiert und dadurch eine emo­ tionale Bindung gefördert wird. Diese These wird auch durch die Lernforschung unterstützt, die Erleben als wichtigen Aspekt des Lernens hinlänglich untersucht hat.30 Die Nachhaltigkeit eines solchen Lern­ erfolgs und die positive Bindung der Besucher:innen an die Institution Museum anzunehmen, liegt nahe. Mit Hilfe dieser Affekte – der emo­ tionalen Bindung durch Erleben – werden Besuchende umfassender ­angesprochen. Ein weiterer Aspekt ist die Affektbildung durch das Erzählen von Geschichten, was die grundlegende Zuwendung von Ausstellungen zum Narrativ, zum »erzählenden Ausstellen«, zum Storytelling, erklärt.31 Gesellschaftlicher Wert von Sammlungen und Objekten Prominenter wird seit einigen Jahren die Diskussion um den gesellschaftlichen Wert von Museen und ihren Sammlungen, die in der öffentlichen Debatte zunehmend eine Rolle spielen oder spielen können. Naturhistorische Belege sind beispielsweise relevanter Gegenstand fachlicher Aus­ einandersetzungen. Insbesondere Naturhistorische Museen haben noch nie gesammelt, ohne mit diesen Sammlungen auch zu forschen. Die Botanik ist als Disziplin eine objektbasierte Wissenschaft, bei der mit zunehmender Fokussierung auf die molekulargenetische Ebene die Bedeutung von Herbarbelegen sogar aufgewertet wird, weil sie für die in der DNA-Bank gelagerten Proben erst den konkreten Organismusbezug herstellen. 29 Hier finden sich nur verstreut Hinweise und wenig Literatur: Ein seit jüngerer Zeit häufiger genutzter Anhaltspunkt sind Auswertungen von Gästebüchern und das »Einsammeln« von Erinnerungen: Übersee-Museum Bremen, https://www.ueber see-museum.de/ausstellungen/virtuell/erinnerungen/ [Abruf: 5. 5. 2022]. 30 Zentral ist hier vor allem das Konzept der Erlebnispädagogik. Einführend beispielsweise: Michael Birnthaler (Hg.), Praxisbuch Erlebnispädagogik, Stuttgart 2010. 31 Siehe auch den Beitrag von Jana Hawig in diesem Band. 276

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Durch transversale Themen, die die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit beschäftigen, rücken im Zuge der Klimakrise und der berechtigten Sorge um die Zukunft der Erde aktuell naturhistorische Objekte in ­Museen stärker in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Die Forschung über und mit ihnen wird angesichts der akuten Bedrohung der Bio­ diversität heute viel stärker wahrgenommen und öffentlich diskutiert. Denn so kann man nicht nur Fehlstellen der Biodiversität aufzeigen, sondern auch Erkenntnisse gewinnen, wie man in Zukunft besser mit der Natur umgehen kann. Daher gewinnen innerhalb der naturkund­ lichen Museen histo­rische Sammlungen mit Objekten, deren Aufsammlung 100 oder mehr Jahre zurückliegt und die seltene und zum Teil bereits verschwundene Arten enthalten, zunehmend an Wert, denn sie belegen die Zerstörungen der Natur, die in den letzten 200 Jahren massiv zu­genommen haben. Die Konjunktur naturhistorischer Objekte wird von der Tourismus­ industrie zunehmend aufgegriffen und in die Argumentationsschleife »Sehenswürdigkeit« zielgerichtet eingebaut, wenn etwa das Museum für Naturkunde Berlin als Topsehenswürdigkeit des Tourismusportals »Visit Berlin« angepriesen wird. Die daraus resultierende Wertschätzung schlägt sich wiederum in Besuchszahlen nieder.32 Schließlich muss aber gerade mit Blick auf den gesellschaftlichen Wert von Objekten respektive Sammlungen offenbleiben, wer diese Werte akkumuliert und wie das geschieht. Mit der Akteur-Netzwerk-Theorie ist schon vor längerer Zeit der Versuch unternommen worden, auf das »Dazwischen« zu blicken, auf die komplexen Beziehungen zwischen Menschen und Dingen, denen gesellschaftliche Wirkung inhärent ist. Die Museen als »dinghaltende« Institutionen legen besonderen Wert auf diese Beziehung, die sie aktiv herstellen, wobei die Akteure in Museen noch nicht klar genug ausdifferenziert sind, um das »Dazwischen« in ­seinen Wertigkeiten genauer zu hinterlegen.33 Um transversale Werte34 im Hinblick auf »Glaubwürdigkeit« und »Nähe zur Gesellschaft« zu akkumulieren, greifen Museen zunehmend quer 32 Visit Berlin, https://www.visitberlin.de/de/top-museen [Abruf: 23. 12. 2021]. 33 Christina Antenhofer erweitert die Beziehung von Menschen und Dingen auf Menschen, Dinge und Orte: Christina Antenhofer, Die Akteur-Netzwerk-Theorie im Kontext der Geschichtswissenschaften: Anwendungen & Grenzen, in: Sebastian Barsch / Jörg van Norden (Hg.), Historisches Lernen und Materielle Kultur: Von Dingen und Objekten in der Geschichtsdidaktik, Bielefeld 2020, S. 67-88; vgl. auch Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2014. 34 Entspricht in etwa dem, was vom Niederländischen Museumsverband als »connec�ting value« adressiert wurde. 277

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zum Aufgabenspektrum liegende Themen wie Diversität und Nach­ haltigkeit aktiv auf. Gerade Letzteres wird mehr in Verbindung mit den Sustainable Development Goals gedacht. Neben dem viel diskutierten CO2-Fußabdruck zählen Aspekte wie Nachhaltigkeit im Sozialen Handeln ebenfalls dazu. Auch hier ist die Frage des Fokus entscheidend. Mit dem Nachhaltigkeitswert von Museen ist neben diesen eher klassischen musealen Aufgaben auch die Nachhaltigkeit ihrer jeweiligen individuellen Arbeit in Betracht zu ziehen. Handeln die Museen entsprechend diesem Anspruch, so erhöht sich ihr Wirk-Wert. So war die Arbeit von Martin Roth sicher für eine ganze Generation von Museumsmacher:innen prägend und hat die Museumslandschaft in ihrer Entwicklung beeinflusst. Anlassbezogene Ausstellungen (neuer aufregender Fund / Ankauf / Schenkung  =  Ausstellung darüber) wurden durch die Hinwendung zu den großen Themenausstellungen abgelöst. Dieser Einfluss und der daraus resultierende Wert kann nicht gesteuert werden, die Faktoren sind zu vielfältig.35 All das kann aber nicht davon ablenken, dass der Wert von Museen zukünftig mehr und mehr auch daran gemessen wird, wie die quer zum Aufgabenspektrum zu verortenden Aufgaben erfüllt werden: Ist nachhaltiges Handeln zentral für das Haus, wie divers ist ein Museumsteam, wie wird die Leitungsebene besetzt, welche Haltung nimmt ein Museum in Bezug auf gesellschaftliche Themen ein? Ein Haus wird eher in Kategorien von »gut« oder »schlecht« bewertet, wenn es diese Aufgaben ernsthaft verfolgt. Dabei scheint es nicht übertrieben, das Thema Nachhaltigkeit als gamechanger für die Art und Weise zu sehen, wie Museen in der Zukunft gesehen und bewertet werden. Der vielbeschworene Wert von Museen wird nicht nur durch das »Was«, sondern auch durch das »Wie« geprägt.

35 Ein Beispiel für Einflüsse, die wiederum Werte generieren: In den frühen 2000er Jahren wurden gerade im archäologischen Bereich vermehrt Ausstellungen über Europa realisiert. Eine Kategorie, die für die Vorgeschichte überhaupt nicht zutrifft. Sie wurde jedoch in die Titel und die Betrachtungsweise eingebaut, weil dies durch die Erstarkung eines geeinten Europas und der Fördermittelgeber opportun schien. 278

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Werte und Emotionen Gedenkstätten gehören, zumindest sofern sie auch Sammlungsgut verwahren, zu den Museen.36 Der Blick auf sie ist aber häufig verstellt. Dies könnte wohl an einer Art Reflex liegen, sich der komplizierten Thematik zu entziehen, aber auch an ihrer eingeschränkten thematischen Bandbreite. Trotz der geschilderten Zurückhaltung ist es lohnenswert, sich Gedenk­ stätten unter dem Gesichtspunkt des Wertekriteriums Emotion einmal näher anzusehen. Gedenkstätten begegnen ihren Besucher:innen auf sehr persönliche, meist emotionale Weise. Sie nehmen ungeschützt Kontakt auf mit ihren Themen und Ausdrucksformen. Je nachdem, wie tief die Erinnerung sitzt – entsprechend hoch bzw. lang wirkend wird der Wert dieser Häuser eingeschätzt. Obwohl die Besuchszahlen in Gedenkstätten recht hoch sind, würde man ihren Wert nicht daran messen, ob hier Emotionen ausgelöst werden. Er wird gemessen an der Gerechtigkeit, die nicht wiederherzustellen ist, an der Bedeutung der Ereignisse für die eigene Gegenwart, an der Hoffnung, durch Darstellung und Aufklärung von schrecklichen Vorgängen im Idealfall eine Wiederholung zu verhindern, und eben an ­Besuchszahlen. Dies geschieht in erster Linie durch Emotionen, die sie bei Besucher:innen – auch durch die Ansprache aller Sinne – aktiv be­ fördert. Das Feld der Emotionalität in Museen rückt zwar zunehmend in den Fokus der Forschung, ist bislang aber nicht breit untersucht. Die Bedeutung von Emotionen für den Wert des Museums ist jedoch un­ bestritten. Man versucht, alle Sinne bewusst einzubeziehen, die im ­Ganzen das Erleben unterstützen und die emotionale Wahrnehmung befördern. Im Prinzip geht es um drei »E’s« im Museum: Man schafft ein Erlebnis, das löst Emotionen aus und beides zahlt ein auf eine Erinnerung, die wiederum die Bindung zum Museum herstellt.37 Diese Formel ist 36 Erstmals gesondert in der Gesamtstatistik des Instituts für Museumsforschung 2019 dargestellt: Statistische Gesamterhebug an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2019. Including an English Summary, Berlin 2021. Zur Definition: S. 48. 37 Aktuell beschäftigt sich ein Forschungsprojekt der Berlin University Alliance, an dem auch das Institut für Museumsforschung beteiligt ist, mit der Frage nach dem Zusammenhang von Museen und sozialer Kohäsion. Das am IfM angesiedelte Teilprojekt fokussiert dabei vor allem das Thema der Emotionen: https://www. berlin-university-alliance.de/en/commitments/grand-challenge-initiatives/call-so�cial-cohesion_end/call-2020/museen/index.html [Abruf: 23. 7. 2022]. Siehe hierzu auch den Beitrag von Stephan Schwan in diesem Band. 279

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natürlich stark vereinfacht, aber die Wertzuschreibung wird durch Erinnerungen gespeist, weshalb hier diese Verkürzung erlaubt sei. Schlussbetrachtung Der Parforceritt durch Wertelemente von Museen und ihren Sammlungen hat deutlich gezeigt, dass das Thema vielschichtig ist und der individuellen Betrachtung bedarf. Er hat auch gezeigt, dass ein vollumfäng­ licher Überblick über die verschiedenen Wertdimensionen wohl kaum möglich ist. Deutlich wurde, dass der Wert von Museen durch viele Faktoren gespeist wird und dynamisch ist. Die vorgestellten Kriterien, die die gesamte Bandbreite längst nicht vollständig umreißen, zeigen, dass die Wertakkumulation (die auch das Gegenteil sein kann) in Museen zu unterschiedlichen Zeitpunkten geschieht und sich auf Einzelobjekte, die Sammlungen wie den gesamten Komplex Museum bezieht. Mit Blick auf die in diesem Band vorgenommene Dreiteilung kann man für Museen und Werte nicht von einem »Davor« oder »Danach« sprechen, vielmehr von einem ständigen »Dazwischen«. Es ist eine Zusammenschau vieler Faktoren, und der Wert des Museums wird nicht vom Wert der Objekte bzw. seiner Sammlungen und noch weniger von seinen Besuchszahlen bestimmt. Vielmehr stellen die ­Sammlungen, die Objekte, die Bauten, die Orte, die Besucher:innen usw. nur einzelne Faktoren unter vielen dar, sind nur ein Teil dieser Wertermittlung. Die Akkumulation von Werten zielt auf den (instabilen) Wert des Museums ab. Dieser ändert sich zudem je nach Betrachtungsweise, also etwa durch die Perspektive von Nutzer:innen, Wissenschaftler:innen oder aus der Metaperspektive gesellschaftlicher Gegebenheiten. Das ist insofern zentral, als unterschiedliche Wertwahrnehmungen das Nutzer:innen­ verhalten sehr spezifisch beeinflussen können. Eine individuelle Wert­ ermittlung und damit verbunden die individuelle Wertvermittlung sind daraus resultierend lohnenswerte Unternehmungen etwa im Rahmen der Publikumsforschung von Museen und weisen deutlich über eine Besuchs­ zahlenermittlung hinaus. Museen lassen sich also nicht vermessen. Dennoch ist die Frage danach wichtig. Sie schärft den Blick auf das Wesentliche und ermöglicht es, die Prozesse für eine Museumslandschaft der Zukunft klarer zu gestalten. Das Aufgabenquartett von Sammeln, Bewahren, Forschen und Ausstellen stellt längst nicht mehr den Kern des Museums dar, wenn es das je hat. Mittels Metabetrachtungen kann man das Wesen der 280

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Museums­landschaft einfangen, obwohl es selbst dann kaum in Wert­ kategorien einzupflegen ist.38 Dabei wurde deutlich, dass Museen mehr sind als »nur« Container für Sammlungen. Sie haben einen eigenen Anteil an der Bewertung der ­Dinge, die sie verwahren, und sie verhandeln wie selbstverständlich ­gesellschaftliche Werte. Bénédicte Savoy hat diesen Effekt kürzlich in ­einem Interview mit »Museen als Aufwertungsmaschinen« bezeichnet.39 Ein Mehrwert hinsichtlich der Wertfrage von Museen könnte sein, den erhobenen Anspruch umzudrehen. Ihre Innovationskraft liegt in der Selbstwahrnehmung, als wertbildende Einheiten zu fungieren und Werte sozusagen materiell mit Leben zu füllen. Daraus schöpfen die Museen ihre kulturpolitische Aufgabe. Als ernstzunehmende Orte der Dinge und Tatsachen müssen sie diese Rolle entsprechend wahrnehmen. Das Equilibrium zwischen spezialisierten kleinen ungewöhnlichen Ausstellungen und den großen »Blockbustern« analog zu Kinofilmen prägt letztendlich das Innovative der Museumsarbeit. Museen müssen weiterhin als wesentliche Akteure kultureller Wert- und Identitätsbildung gesehen werden. Aber wer bewertet die Museen und ihre Sammlungen und wie wird die wandelbare Geschichtlichkeit von Werten verhandelt? Sichtbar wird bei der Betrachtung möglicher Werte rund um die ­Museen, dass es sich nicht um einen aktiven Prozess handelt, vielmehr um einen passiven und ungesteuerten. Viele Aspekte der Wertschöpfung im Besonderen und der Wertermittlung im Allgemeinen sind dabei nicht in Betracht gezogen worden. Deutlich wurde jedoch, dass ein Aspekt für die Zukunft von Museen und ihre gesellschaftliche Rolle besonders relevant ist: Die Forschung und das daraus abgeleitete Wissen als Generator von Wert für die Objekte als solche, aber auch für die Museen. Diese Wertwahrnehmung oder Wertschaffung von Museen durch Forschung, so viskos und prekär sich dies auch gestalten mag, könnte zukünftig noch stärker im Mittelpunkt stehen. Dass dies nur in enger Verzahnung mit der Gesellschaft funktioniert – sich die Wertefrage nicht ohne Wirkungsfrage beantworten lässt –, haben die vorherigen Betrachtungen deutlich ge­ macht. Die Selbstwahrnehmung und aktive Steuerung des eigenen Wertes 38 Ähnlich ist der Effekt bei Hans Oswalds Berlin – Anfänge einer Großstadt. Er­ ­nähert sich dem Wesen der Großstadt durch vielfältige Skizzen aus unterschied­ lichen Perspektiven, die sich trotz ihrer Vereinzelung zu einem sinnvollen Pano­ rama fügen und wegen ihrer Vielschichtigkeit geeignet sind, gewisse Punkte sichtbar zu machen. Siehe Hans Ostwald, Berlin – Anfänge einer Großstadt: ­Szenen und Reportagen 1904-1908, Berlin 2020. 39 Interview mit Bénédicte Savoy vom 8. 12. 2021 in der Neuen Zürcher Zeitung: ­https://www.nzz.ch/feuilleton/kolonialkunst-benedicte-savoy-ueber-rueck­gabennach-afrika-ld.1657558 [Abruf: 13. 12. 2021]. 281

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zahlt umgekehrt wiederum auf den impact von Museen ein und macht somit vor allem eins möglich: die enge und aktive Verzahnung der Werte­ diskussion in Museen mit einer Zukunftsdebatte, die ihren Erhalt sichert. Denn am Ende hängt der Wert der Museen von Betrachtenden ab.

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Autor:innen und Herausgeber:innen

André Dubisch, Dipl. Prähist., ist studierter Archäologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Kurator der Dauerausstellung des Europäischen Hansemuseums Lübeck. Themenschwerpunkte als Projektleiter sind diverse Sonderausstellungen und die Weiterentwicklung der Dauerausstellung. Forschungsschwerpunkte: Materielle Alltags- / Hansekultur, Stadt- und Schiffsarchäologie. Veröffentlichungen u. a.: Lebenswelten des Kopmans van der dudeschen Hense in den Kontoren, über den Alltag im Londoner Stalhof und der deutschen Brücke in Bergen, in: Everyday life in a hanseatic town, Papers of the international conference in Tallinn, Varia historica VIII, Tallinn 2021, S. 25-52; Tragezeichen. Social Media des Mittel­ alters, Lübeck 2020. Michael Farrenkopf, Dr. phil., ist seit 2001 Leiter des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) und seit 2020 stellvertretender Direktor des Deutschen Bergbau-Museums Bochum (DBM). Nach dem Studium der Geschichte, Publizistik und Kunstgeschichte in Mainz und Berlin promovierte er über »Schlagwetter und Kohlenstaub. Das Explosionsrisiko im industriellen Ruhrbergbau (1850–1914)« an der TU Berlin. Er ist Lehrbeauftragter an der Ruhr-Universität Bochum und am Institut für Industriearchäologie, Wissenschafts- und Technik­geschichte (IWTG) der TU Bergakademie Freiberg. Veröffentlichungen u. a.: Logik und Lücke. Die Konstruktion des Authentischen in Archiven und Sammlungen (hg. zus. mit Andreas Ludwg und Achim Saupe), Göttingen 2021; Materielle Kulturen des Bergbaus | Material Cultures of Mining. Zugänge, Aspekte und Beispiele | Approaches, aspects and examples (hg. zus. mit Michael Farrenkopf und Stefan Siemer), Berlin / Boston 2022. Aikaterini Filippidou, M. A., hat Empirische Kulturwissenschaft und Klassi­ sche Archäologie an der Universität Tübingen studiert. Von 2017-2021 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 1070 RessourcenKulturen an der Universität Tübingen und promoviert in diesem Rahmen zu musealen Praktiken und Prozessen der Inwertsetzung. Seit August 2022 ist sie Referentin für Medien- und Öffentlichkeitsarbeit am Exzellenz­ cluster »Maschinelles Lernen: Neue Perspektiven für die Wissenschaft« der Universität Tübingen.

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autor:innen und herausgeber:innen

Andrea Funck, Prof. Dr. phil., ist gelernte Holzbildhauerin, studierte Restaurierung von Objekten aus Holz und modernen Materialien an der TH Köln sowie Kulturmanagement an der PH Ludwigsburg. Nach Stationen als Restaurierungsleitung am Landesmuseum Württemberg und als Direktorin des Doerner Instituts in München leitet sie seit Mai 2019 den ­ Studiengang Konservierung und Restaurierung von archäologischen, ethnologischen und kunsthandwerklichen Objekten an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Sie promovierte zum Thema »Restaurierung und Vermittlung in Museen« an der ABK Stuttgart und TU München. Forschungsschwerpunkte u. a.: Vermittlung, Restaurierungsethik, Decision-Making, Konservierung und Restaurierung moderner Materialien, Präventive Konservierung, Ausstellungs­ management und -technik. Veröffentlichungen u. a.: Verborgene Wissen­ schaft? Restaurierung als Vermittlungsthema in Museen, Bielefeld 2016; Braucht Restaurierung / Konservierung Vermittlung? – Eine kritische Betrachtung, in: IIC Austria Restauratorenblätter – Papers in Conservation Bd. 37, Horn 2020, S. 49-64. Jana Hawig, M. A ., ist Kuratorin bei der DASA Arbeitswelt Ausstellung in Dortmund. Sie studierte Museum Studies, Medienwissenschaften und Geschichte am International Centre for Cultural and Heritage Studies (ICCHS) an der Newcastle University (UK) und an der Universität Trier. Veröffentlichungen u. a.: Erzählungen im digitalen Raum. Formen und Perspektiven des Storytellings in digitalen Ausstellungen, in: Hendrijke Carius/ Guido Fackler (Hg.): Exponat – Raum – Interaktion. Perspektiven für das Kuratieren digitaler Ausstellungen, Göttingen 2022, S. 239-248; Exhibiting Images of War: The Use of Historic Media in the Bundeswehr Military Museum (Dresden) and the Imperial War Museum North ­ (Manchester), in: Jörg Echternkamp / Stephan Jaeger (Hg.): Views of Violence. Representing the Second World War in German and European Museums and Memorials, New York 2019, S. 75-91. Daniel Hess, Prof. Dr., ist Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums und Inhaber des Lehrstuhls »Museumsforschung und Kulturgeschichte« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er studierte Kunstgeschichte, Kirchengeschichte und Literaturkritik an der Universität Zürich; Promotion zu Meistern um das Mittelalterliche Hausbuch. 1992 bis 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Corpus ­Vitrearum Deutschland, dann Wechsel an das Germanische National­ museum, wo er bis 2019 die Sammlung Malerei bis 1800 / Glasmalerei betreute. Leitung zahlreicher Forschungs- und Ausstellungsprojekte, u. a. 284

autor:innen und herausgeber:innen

»Der frühe Dürer«, 2012, oder »Europa auf Kur«, 2021; Neukonzeption verschiedener Dauerausstellungen wie »Renaissance, Barock, Aufklärung«, 2010. 2017 Fellowship Villa Aurora / Getty Research Institute. Seine Forschungsschwerpunkte sind Malerei und Glasmalerei in Mittelalter und Renaissance, der Mensch und seine Dinge sowie die Beziehungen zwischen Natur und Kunst. Michael Hutter, Dr. rer. pol., ist Professor Emeritus am Wissenschafts­ zentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Er studierte Mathematik und Wirtschaftswissenschaft an der LMU München, Portland State University und der University of Washington in Seattle. Er habilitierte sich in Wirtschaftswissenschaften mit einer Arbeit zur »Produktion von Recht«. Von 1987-2007 hatte er den Lehrstuhl für »Theorie der Wirtschaft und ihrer gesellschaftlichen Umwelt« an der Universität Witten / Herdecke inne. Von 2008-2014 war er Direktor der Abteilung »Kulturelle Quellen von Neuheit« am WZB, sowie Forschungsprofessor für »Wissen und Innovation« am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin. Seine Forschungen beschäftigen sich mit den wechselseitigen Einflüssen von Wirtschaft und Kunst. Veröffentlichungen u. a.: Ernste Spiele. Geschichten vom Aufstieg des ästhetischen Kapitalismus, Paderborn 2021; Moments of Valuation. Exploring Sites of Dissonance (hg. zus. mit Ariane Berthoin Antal und David Stark), Oxford 2015. Andreas Ludwig, Dr. phil., studierte Geschichte und Germanistik an der FU Berlin. Er leitete das lokalhistorische Museum Berlin-Charlottenburg und das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhütten­ stadt und ist heute Assoziierter Wissenschaftler am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Postdam. Er forscht über materielle Kultur zu Museumsfragen, aktuell über das Sammeln von Gegenwart in Geschichts­ museen. Veröffentlichungen u. a.: Logik und Lücke. Die Konstruktion des Authentischen in Archiven und Sammlungen (hg. zus. mit Michael Farrenkopf und Achim Saupe), Göttingen 2020; Art.: Materielle Kultur, Version 2.0, in: Docupedia-Zeit­geschichte, 1. 10. 2020; Zeitgeschichte der Dinge. Spurensuchen in der materiellen Kultur der DDR , Wien / Köln / Weimar 2019. Torsten Meyer, Dr. phil., ist Senior Scientist am Deutschen BergbauMuseum Bochum und stellvertretender Fachbereichsleiter am Montanhistorischen Dokumentationszentrum (montan.dok). Er studierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Mittlere und Neuere Geschichte und Politische Wissenschaften an der Universität Hamburg. Er ist 285

autor:innen und herausgeber:innen

auftragter an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Authentizität und Industriekultur, Kulturlandschaftsgeschichte, Wissens­ geschichte des Bauens. Veröffentlichung u. a.: Authentizität und industrie­ kulturelles Erbe. Zugänge und Beispiele (hg. zus. mit Michael Farrenkopf ), Berlin / Boston 2020; Versuch über die polytechnische Bauwissenschaft, München 2019 (zus. mit Uta Hassler und Christoph Rauhut). Stefan Przigoda, Dr. phil., studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Publizistik in Mainz und Berlin. Seine Promotion untersuchte die Geschichte der Unternehmensverbände im Ruhrbergbau. Er war als wissen­schaftlicher Projektmitarbeiter im Bergbau-Archiv Bochum und im Nordrhein-Westfälischen Staatsarchiv Münster tätig. 2003 übernahm er die Leitung von Bibliothek und Fotothek des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Veröffentlichungen u. a.: Sammlungsdokumentation, Forschung und Digitalisierung. Potenziale zwischen Anspruch und Museumsalltag, in: Udo Andraschke / Sarah Wagner (Hg.): Objekte im Netz. Wissenschaft­ liche Sammlungen im digitalen Wandel, Bielefeld 2020, S. 293-304. Patricia Rahemipour, Dr. phil, ist seit 2019 Direktorin des Instituts für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin. Zuvor war sie u. a. am Deutschen Archäologischen Institut / Exzellenzcluster Topoi, bei der Römisch-Germanischen Kommission und am Jüdischen Museum Frankfurt. 2014 übernahm sie die Leitung des Botanischen Museums und der Abteilung Wissenskommunikation am Botanischen Garten Berlin. Sie studierte Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Philo­ sophie. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Museumsgeschichte, der Museums­f orschung, innovativer Formatentwicklung und der Wissens­ kommunikation in Museen. Zukunftsthemen wie soziale Kohäsion, ­Diversität, Grünes Museum und Risikomanagement in Museen spielen dabei eine große Rolle. Mareike Runge, M. A., hat Europäische Ethnologie/ Volkskunde und Kunstgeschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel studiert. Sie war wissenschaftliche Projektassistenz und Teilprojektleitung »In­ szenierungen« des Projektes »Weiterentwicklung Dauerausstellung« im ­Europäischen Hansemuseum Lübeck. Seit März 2022 Trainee im Bereich #kreativeStadt der Landeshauptstadt Kiel. Forschungs- und Tätigkeitsschwerpunkte: Erinnerungskultur, materielle Kultur und Ausstellungskonzeption sowie Stadtkulturarbeit. 286

autor:innen und herausgeber:innen

Achim Saupe, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Koordinator des LeibnizForschungsverbunds »Wert der Vergangenheit« am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Er studierte Geschichtswissenschaften, Philosophie und Politik an der Freien Universität Berlin und promovierte dort mit einer Arbeit über forensische Geschichtskonzeptionen, das kriminalistische Selbstverständnis von Historiker:innen und die Repräsentation von Geschichte als Kriminalroman. Forschungsschwerpunkte u. a.: Theorie der Geschichte, Geschichte in der Öffentlichkeit, Historische Stadtforschung, Geschichte der Sicherheit. Veröffentlichung u. a.: Handbuch Historische Authentizität (hg. zus. mit Martin Sabrow), Göttingen 2022. Tobias Schade, Dr. phil., ist Archäologe und wissenschaftlicher Koordinator im SFB 1070 RessourcenKulturen an der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Archäologie des Mittelalters, Geschichtsbilder / Geschichtskultur in digitalen Medien, Wandel in musealen Ausstellungen, Materialität, Authentizität. Veröffentlichungen u. a.: Exploring Resources. On Cultural, Spatial and Temporal Dimensions of Resource­Cultures (hg. zus. mit Beat Schweizer u. a.), Tübingen 2021; Die wikingerzeitliche Siedlung von Kosel-Ost. Ein ländlicher Fundplatz im Kontext der alt­ dänischen Siedlungslandschaft des 10. Jahrhunderts, Bonn 2018. Carla-Marinka Schorr, M. A., ist Doktorandin und Lehrbeauftragte an der Professur für Museologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Forschungsschwerpunkte: Ausstellungsanalyse, fachwissenschaft­ liche Methodenentwicklung, Authentizitäts- und Wertzuschreibungen in Ausstellungen. Veröffentlichungen: Sweeter Than Honey, Better Than Gold. A Hive-minded Approach to Collections Mobility (zus. mit Fabiola Fiocco), in: COMCOL Newsletter No. 31, Nov. 2017; Authentisierungsprozesse in der Museumspraxis: Mechanismen, Zusammenhänge, Konsequenzen, in: Michael Farrenkopf / Torsten Meyer (Hg.), Authentizität und Industriekulturelles Erbe, Berlin / Boston 2020, S. 151-169. Stephan Schwan, Prof. Dr., ist stellvertretender Direktor des Leibniz-­ Instituts für Wissensmedien (IWM) in Tübingen und leitet dort die ­Arbeitsgruppe »Realitätsnahe Darstellungen«. Er hat Psychologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen studiert und sich dort im Fach Psychologie promoviert und habilitiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind die kognitive Verarbeitung dynamischer visueller Darstellungen ­sowie Lern- und Verstehensprozesse in Museen und Ausstellungen. 287

autor:innen und herausgeber:innen

Thomas Thiemeyer, Prof. Dr., ist Professor am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Von 2003 bis 2006 war er Kurator bei dem Stuttgarter Architekten und Museumsgestalter HG Merz (u. a. Mercedes-Benz- und Porsche-Museum Stuttgart). Er forscht zu Museen, Sammlungen, Erinnerungskultur und ­Wissenschaftsgeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Das Depot als Versprechen. Warum unsere Museen die Lagerräume ihrer Dinge wieder­ entdecken, Wien / Köln / Weimar 2018; Geschichte im Museum. Theorie – Praxis – Berufsfelder, Stuttgart 2018. Martin P. M. Weiss, Dr. phil, ist seit 2021 Kurator am TECHNOSEUM / Landes­museum für Technik und Arbeit in Mannheim. Zuvor war er von 2015 bis 2020 am Deutschen Schifffahrtsmuseum / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte in Bremerhaven als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem Schwerpunkt Forschungsschifffahrt tätig und hat in dieser Zeit u. a. die Sonderausstellungen »360° POLARSTERN« und »SEA CHANGES – Welt und Meer im Wandel« mit kuratiert. 2013 promovierte er an der Universität Leiden zur Geschichte des Teyler Museums in Haarlem. Veröffentlichungen u. a.: Von Flaschenpost bis Fisch­reklame. Die Wahrnehmung des Meeres im 19. und 20. Jahrhundert (hg. zus. mit Jens Ruppenthal und Ruth Schilling), Köln 2019; Vom Frontendenken des Kalten Kriegs zum Globalen Wandel: Das Forschungsschiff POLARSTERN, in: Technikgeschichte, Jg. 85, H. 2, 2018, S. 105-128. Willi E. R. Xylander, Prof. Dr., ist seit 1995 Direktor des Senckenberg ­Museums für Naturkunde Görlitz und lehrt als Professor an den Universitäten in Dresden und Leipzig. Er studierte und promovierte an der Universität in Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Ökologie von Boden­ tieren, Stammesgeschichte parasitischer Plathelminthen, Museumsforschung. Er leitete zahlreiche Ausstellungsprojekte zu Senckenberg-Forschungsthemen (u. a. »Wölfe«, »Die dünne Haut der Erde – Unsere Böden« und aktuell »Grundwasser lebt !«). Veröffentlichungen u. a.: Objects in natural history collections and their authenticity in the light of traditional and new collection strategies, in: Dominik Kimmel / Stefan Brüggerhoff (Hg.), Museen – Orte des Authentischen? Museums, Places of Authenticity?, Mainz 2020, S. 401-410; Naturkundliche Wanderausstel­ lungen – Inhalte, Anforderungen, Risiken und Chancen, in: Natur im Museum 10, 2020, S. 28-36.

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