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German Pages [464] Year 1996
V&R
Arbeiten zur Pastoraltheologie
Herausgegeben von Peter Cornehl und Friedrich Wintzer
Band 29
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Alltagsseelsorge Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuches
Von Eberhard Hauschildt
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Hauschildt, Eberhard·. Alltagsseelsorge : eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuches / von Eberhard Hauschildt. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1996 (Arbeiten zur Pastoraltheologie ; Bd. 29) ISBN 3-525-62346-1 NE: GT
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort © 1996 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen
„... selbst ein so freies, loses Gespräch ist schon Gegenstand der Auslegung." (Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik)
Vorwort Einer Arbeit über Gespräche gehen vielerlei Gespräche voraus. Diese Arbeit über die Alltagsseelsorge im Geburtstagsbesuch kommt von kirchlichen, wissenschaftlichen und privaten Gesprächen her. Mein erster Dank gilt den Pfarrerinnen und Pfarrern sowie Gemeindegliedern, die es zuließen, daß beim Geburtstagsbesuch der Kassettenrecorder mitlief, damit ein anderer im nachhinein das Geschehene beobachten und analysieren könne. Ohne die Bereitschaft dieser Menschen, die wegen des Datenschutzes anonym bleiben müssen, hätte die Arbeit keine Basis gehabt. Andere Pfarrerinnen und Pfarrer haben durch ihre Erzählungen Einzelhinweise gegeben und das Bild vervollständigt. Dankbar bin ich auch für den wissenschaftlichen Diskurs mit seinen Anregungen aus verschiedensten Bereichen und unterschiedlicher Intensität. Neben der Lektüre der einschlägigen Literatur waren da die knappe telephonische Auskunft durch den Ethnomethodologen Emanuel Schegloff in Los Angeles, die Korrespondenz über mein Vorhaben mit dem Linguisten Heiko Hausendorf, das Wiederentdecken der eigenen methodischen Intentionen in einer Arbeit des Soziologen Jörg Bergmann, die gemeinsame Durchsicht eines Gesprächstranskripts und meiner sozio-linguistischen Analyse anläßlich eines Besuchs bei der Psychotherapeutin Margret Hauschildt, meiner Schwester. Da gab es den Aufsatz zum Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt, verfaßt von meinem Doktorvater, dem Praktischen Theologen Wolfgang Steck, und viele Unterhaltungen mit ihm, meist über dem Mittwochs-Mittagsessen in der Gastwirtschaft Atzinger. Das wissenschaftliche Gespräch ist von alltäglicher Konversation nicht abgeschnürt. Die Grenzen zum Privaten sind fließend: Da waren Ratschläge und Anekdoten, die Freundinnen und Freunde erzählten, längst vergangene und vergessene Unterhaltungen, die Teil des eigenen Denkens und Empfindens wurden, Konversationserfahrungen in Partnerschaft und Familie, mit Nachbarn und Bekannten. Anders als das mündliche Wort muß ein Buch auf seinem Weg zur Leserschaft noch weitere Hürden überwinden. Dank all denen, die dazu geholfen haben. Die Prüfungskommission der Evangelisch-Theologischen 5
Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat die Schrift unter gleichem Titel als Habilitationsarbeit angenommen. Das Erstgutachten verfaßte Prof. Dr. Wolfgang Steck, das Zweitgutachten Prof. Dr. Christof Bäumler. Veröffentlicht ist hier der Textband der eingereichten Arbeit mitsamt einem im Anhang nachgedruckten exemplarischen Gesprächstranskript aus denjenigen Gesprächen, die der zusätzliche Materialband der Habilitationsschrift enthielt. Prof. Dr. Peter Cornehl und Prof. Dr. Friedrich Wintzer als Herausgeber dieser Reihe befürworteten die Aufnahme in die „Arbeiten zur Pastoraltheologie". Die Finanzierung sicherte die VG WORT GmbH. Frau Irmgard Oberressl übernahm das Korrekturlesen. Der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht mit seinem Lektor Dr. Wolfgang Schulz führten das Buch zur Drucklegung, die von der Firma Hubert & Co. ausgeführt wurde. München, den 29. 9. 1995
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Eberhard Hauschildt
Inhalt Vorwort
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Einleitung
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ERSTER TEIL
Grundlagen Kapitel 1: Wissenschaftliche Kontexte 1.1. Sozial- und kulturgeschichtliche Komponenten in der Herausbildung des neuzeitlichen Seelsorgegesprächs 1.1.1. Synthetisierung von Urbanitas und religiöser Gesprächsgemeinschaft 1.1.2. Aufwertung des Gesprächs als Ort der Wahrheit 1.1.3. Privatisierung des Gesprächs 1.2. Professionalisiertes Gespräch als Thema der Seelsorgelehre 1.2.1. Die Entdeckung des Subjekts im Seelsorgegespräch (von der Alten Kirche zum Pietismus) 1.2.2. Der enzyklopädische Ort der Seelsorge und das kirchliche Interesse (Schleiermacher und das 19. Jahrhundert) 1.2.3. Professionalisiertes Gespräch (20. Jahrhundert) 1.3. Die Alltagstypisierung von ,Gespräch' und die Begriffe der Theorie des Alltags Kapitel 2: Sozio-linguistische Methoden 2.1. Messung korrelierender Variablen (quantitative Gesprächsanalyse) 2.2. Klassifizierung kommunikativer Redeabsichten (Sprechakttheorie) 2.3. Hierarchisierung von Handlungen (Pragmatik) 2.4. Diskursgrammatik (die „Discourse Analysis" der Birmingham Language School) 2.5. Mechanismen interaktiver Wirklichkeitskonstruktion (ethnomethodologische „Conversation Analysis")
21 21 26 35 42 45 46 51 58 71 79 81 83 88 94 98
Kapitel 3: Annäherung an die Daten
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3.1. Das Institut .Geburtstagsbesuch' 3.1.1. Das moderne Geburtstagsfest
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3.1.2. Poimenische Schemata 3.2. Erhebungsverfahren, Korpus und Verarbeitung der Daten 3.2.1. Ethische und rechtliche Gesichtspunkte 3.2.2. Der Umfang der Daten und ihre Vollständigkeit 3.2.3. Zur Natürlichkeit der aufgenommenen Gespräche 3.2.4. Analyseverfahren und Präsentation der Ergebnisse 3.3. Ein exemplarisches Gespräch und die Wahrnehmung des Alltäglichen als defizitäres Verhalten 3.3.1. Das Gesprächstranskript als Konfrontation mit der Trivialität des Alltags 3.3.2. Uberblick über das exemplarische Gespräch C2 3.3.3. Defizite an Therapie 3.3.4. Defizite an Verkündigung 3.3.5. Defizite an praktischer Hilfe
114 123 125 126 130 133 135 135 138 141 145 148
ZWEITER TEIL
Gesprächsanalyse pastoraler
Geburtstagsbesuche
Kapitel 4: Geburtstagsbesuch als alltägliches Gespräch
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4.1. Die drei interaktiven Gesprächsebenen 4.1.1. Handlungsbegleitende Dialoge 4.1.2. Small talk 4.1.3. Darstellendes Gespräch 4.2. Die sprachlichen Interaktionsformen des darstellenden Gesprächs 4.2.1. Darstellungsgewährung:,Bericht' 4.2.2. Darstellungskonkurrenz:,Diskussion' 4.2.3. Darstellungsaushandeln:,Austausch' 4.3. Gesprächsfiguren des Geburtstagsbesuchs
153 154 157 176 180 180 190 200 208
Kapitel 5: Geburtstagsbesuch als institutionelles Gespräch
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5.1. Rollentypische Interaktionspräferenzen 5.1.1. Darstellungsinduzierer 5.1.2. Darstellungsreduzierer 5.1.3. Darstellungsqualifizierer 5.2. Psychotherapie, Psychokultur und die therapeutischen Episoden in der Alltagsseelsorge 5.3. Therapeutische Gesprächsfiguren 5.3.1. Ambivalenzdarstellung 5.3.2. Selbsttherapie 5.3.3. Psychokiatsch 5.3.4. Therapieverweigerung
216 216 220 222
8
229 234 234 250 257 268
Kapitel 6: Geburtstagsbesuch als alltagstheologisches Gespräch
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6.1. Ethik - Religion - Alltagsreligiosität 6.2. Darstellungsinhalte 6.2.1. Ethische Aussagen 6.2.2. Transzensdenzaussagen 6.2.3. Kirchliche Aussagen 6.3. Verkündigende Gesprächsfiguren 6.3.1. Im Interesse der Laien: Gespräch und Segen 6.3.2. Im Pfarrerinteresse: über den Beruf aufklären 6.3.3. Heterodoxie diskutieren 6.3.4. Kirchliche Laienidentität bewähren 6.3.5. Volkskirchlich handeln
274 281 281 287 303 327 327 337 345 356 363
DRITTER TEIL
Ergebnisse und
Konsequenzen
Kapitel 7: Seelsorgetheorie und Seelsorgepraxis
369
7.1. Zur Theorie der Seelsorgetheorie und Seelsorgepraxis 7.1.1. Der Begriff der Seelsorge zwischen Verkündigung, Therapie, Diakonie und Alltag 7.1.2. Professionelle Kompetenz und Alltagskompetenz 7.2. Zur Praxis der Seelsorgetheorie und des Seelsorgetheoretikers 7.2.1. Weitere Forschungen über Alltagsseelsorge 7.2.2. ,Allgemeines Priestertum'
371
Anhang: Transkript des Gesprächs C 2
407
Literaturverzeichnis
441
371 388 398 398 400
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„Die Ursprungssituation des pastoralen Seelsorgegesprächs ist das Alltagsgespräch."1
Einleitung Seelsorge gehört zum alltäglichen Handeln der Kirche. Ganz offensichtlich jedenfalls gehört Seelsorge zum alltäglichen Handeln ihrer professionellen Repräsentanten. Ja, sie scheint geradezu das Charakteristische der pastoralen Tätigkeit auszumachen. „Seelsorger" - so lautet eine populäre Bezeichnung für den pastoralen Berufsträger überhaupt. Seelsorge ist in diesem Beruf selbstverständlich. Pfarrerinnen oder Pfarrer mögen predigen oder unterrichten, sie mögen Dienstbesprechung halten oder Kindergarten-Eltern treffen, immer sind sie zugleich Seelsorgerin, Seelsorger. Daran mißt man sie, und so verstehen sie sich selbst auch. Seelsorge ist in diesem Sinne für sie gewöhnlich, ist alltäglich. U m dieses Gewöhnliche und Charakteristische am pastoralen Beruf soll es in dieser Studie zur Alltagsseelsorge gehen. Seelsorge geschieht nicht vornehmlich am Sonntag oder in der Kirche. Sie ist nicht auf die heiligen Orte und Zeiten angewiesen. Sie findet im Alltag statt. Während nicht wenige andere institutionelle Formen von Beratung an spezielle Beratungsräume oder institutionelle Beratungsabmachungen gebunden sind, kann es zur Seelsorge überall kommen: zu Hause, am Telefon, auf der Straße, beim Einkauf, zwischen Tür und Angel. Sie ergibt sich bei verschiedensten Gelegenheiten, oft auch spontan und nebenbei. Seelsorge ist also Alltagsseelsorge auch deshalb, weil sie im Alltag geschieht. Seelsorge und Alltag gehören insoweit in der Erfahrung der Seelsorger/innen und derer, die die Seelsorge in Anspruch nehmen, zusammen. Auch in einer dritten Hinsicht besteht diese Verbindung. Hier entstammt die Einsicht der wissenschaftlich kontrollierten Reflexion. Wolfgang Steck formulierte 1987 in der Uberschrift eines Aufsatzes die These vom „Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt". Er führt vor, wie diese Herkunft aus dem Alltag präsent ist. Sie zeige sich in der vielfachen Weise, mit der Seelsorge auf die alltägliche Gesprächskultur bezogen bleibe: thematisch, formal und institutionell. Die Themen der Seelsorge sind nach Steck die alltäglichen Beziehungsfragen und Probleme menschlicher Le1 W.STECK, Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt, 1987b, 175-183; 175.
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bensführung, wie sie lebensgeschichtlich den einzelnen betreffen; sie liegen in bereits durch Alltagswissen bearbeiteter Fassung vor und haben schon eine Geschichte alltäglicher Gesprächsgänge durchlaufen. 2 Die Form des Seelsorgegesprächs entspricht ebenfalls der der Alltagswelt: Hier wie dort bleibt das charakteristische seelsorgerliche Gesprächsmilieu jederzeit widerrufbar; die Beendigung des Gesprächs steht beiden Partnern nach sozialen Regeln der Alltagswelt frei; das Gespräch kommt zustande nur, wenn beide Seiten je ihre Rolle übernehmen; seine Dynamik gewinnt es aus der Trennung von erzählter und Erzähl-Szene mit der ethisch riskanten Verschiebung des Vertrauens aus der Intimität des Erzählten in die Vertraulichkeit der durch das Gespräch hergestellten Erzähl-Szene.3 Als institutionelle und professionalisierte Gesprächsform baut Seelsorge auf den alltäglichen gesellschaftlichen Gesprächsinstitutionen, besonders denen der Partnerbeziehung und Familie, auf und ist mit ihnen eng verwoben, wie sich an der Beziehung von Seelsorge und Kasualien zeigt.4 Stecks Skizze der Verbindung von Seelsorge und Alltag verläßt sich darauf, daß die aufgezeigten Phänomene mit der alltäglichen Seelsorgeerfahrung der Leserinnen und Leser zusammenstimmen. Die vorliegende Untersuchung will diese Hinweise weiter verfolgen und vertiefen, indem sie auf ein anderes Genus praktisch-theologischer Wissenschaft überwechselt: das der Analyse konkreter empirischer Praxis. Ich werde es also weder, wie das bislang in der Seelsorgetheorie geschah, bei allgemeinen Erinnerungen oder anekdotischen Berichten belassen noch mich mit Protokollen' begnügen, die von Seelsorgern und Seelsorgerinnen nachträglich aus der Erinnerung verfaßt wurden. 5 Ich möchte vielmehr - in dieser "Weise
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STECK 1987b, 176f. STECK 1987b, 177f.
4 STECK 1987b, 180-183. 5 Vgl. zur Beschränkung auf Protokolle die Argumentation bei H.-C.PIPER (Kommunizieren lernen in Seelsorge und Predigt, 1981). Der erste Grund lautet: „Auf dem Gebiet der Seelsorge ist es aus naheliegenden Gründen kaum möglich, die Kommunikation zwischen einem Seelsorger und einem Gesprächspartner unmittelbar zu beobachten. Auch die Benutzung von Videorecordern und Tonbandaufzeichnungen stößt in der Regel (Krankenhausbesuche, Hausbesuche, Kasualgespräche) auf unüberwindbare Schwierigkeiten. Wir behelfen uns deshalb mit Gedächtnisprotokollen ..." (61). Hinzu kommt ä s zweiter Grund, daß dieser „Notbehelf" sich doch als „äußerst hilfreich" erweist: „Es zeigt sich nämlich, daß die Verbatims zwar hinsichtlich der präzisen Wörtlichkeit Mängel und Lücken aufweisen, wenn man sie etwa mit Tonbandprotokollen vergleicht, daß aber die Kommunikationsprozesse selber, vor allem aber die Störungen in ihnen, um so deutlicher zutage treten" (ebd.). Beide Behauptungen bedürfen der Uberprüfung.
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meines Wissens erstmals 6 - den .wirklichen' 7 Wortlaut von Gesprächen der pfarramtlichen Praxis zum Gegenstand der Untersuchung erheben. In den Gesprächen suche ich nach detaillierten Mechanismen und Verfahren alltäglicher Seelsorge. Die von Steck phänomenologisch allgemein skizzierte Beziehung von Seelsorge und Alltagswelt muß in ihren einzelnen Strukturen und Details am empirischen Material vorzeigbar sein. Dabei sind neben Bestätigungen der Thesen Stecks auch Korrekturen eher zu erwarten als auszuschließen. „Einzelseelsorge - das war lange Zeit hindurch das unanschaulichste Stück der Berufsarbeit des Pfarrers" - so schrieb Joachim Scharfenberg 1979.8 Für ihre alltagsnahen Formen gilt dieser Satz immer noch. Diese Unanschaulichkeit zu reduzieren, das ist die Aufgabe, die sich diese Arbeit gestellt hat. Sie will damit - ganz in Fortführung der Intention der sich therapeutisch verstehenden Seelsorge - „ein wenig die Augen ... öffnen für die tatsächlichen Erfahrungen, die wir ja alle machen". 9 Sie begreift dies als hermeneutischen Vorgang, als „Auslegungsaufgabe ..., die faktischen Realisierungen christlicher Glaubensbezeugungen im psychosozialen Zusammenhang verstehend aufzuweisen". 10 a) Eine Arbeit über Alltagspraxis ist nicht selber Alltag. In der Praxis des Alltags drängen sich Erfahrungen und Deutungen unmittelbar auf. Eine wissenschaftliche Analyse dagegen hat die Vermitteltheit ihrer Begegnung mit den Gegenständen der Praxis offenzulegen. Sie reflektiert ihre eigene Zugangsweise, fragt nach den Vorannahmen und Perspektiven der beobachtenden Person, die schon immer in die Beobachtung selbst eingehen.
6 Auf einem Spezialgebiet der Seelsorge hat der Linguist Heiko HAUSENDORF bereits in diese Richtung vorgearbeitet. Er hat ein Tonbandprotokoll eines im Krankenhaus geführten Seelsorgegesprächs daraufhin analysiert, welche Definitionen von Klinikseelsorge bei den Gesprächspartnern im Gesprächsvorgang selbst realisiert werden (Reproduktion von Seelsorgebedürftigkeit vs. Sinnstiftung, 1988, 158-214; die Ergebnisse sind weiterverarbeitet in: H.HAUSENDORF, Gespräch als System, 1992). Zu erwähnen ist auch der Kurzbericht G.BAUMANN/ S.BEHREND/ M.KASTNER, Linguistische Gesprächsanalyse und Telefonseelsorge, 1990, 354-361. Der „Arbeitsgruppe Linguistik in der Telefonseelsorge, Bielefeld" gehört neben den genannten Autorinnen auch Elisabeth Gülich an. Dort können allerdings keine (womöglich heimlich mitgeschnittenen) Aufnahmen tatsächlicher Gespräche analysiert werden, sondern es wird wieder auf Rollenspiele und Erinnerungsprotokolle zurückgegriffen. 7 Auch in dieser Untersuchung wird zwar nicht die gehörte Wirklichkeit ohne jede Einschränkungen als Gegenstand erfaßt und wiedergegeben werden können (vgl. 3.2.4. u. 3.3.1.). Dennoch kommt die erreichte Repräsentation von Gesprächen dem, was hörbar gesagt wurde, um viele Grade näher. 8 J.SCHARFENBERG, Zur Einführung, 1979b, 7f.; 7. 9 Ebd. 10 R.SCHMIDT-ROST, Seelsorge zwischen Amt und Beruf, 1988; 121.
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Die Analyse von Gesprächen muß darum zunächst die in ihr implizierten Grundlagen aufdecken, bearbeiten und damit zur Diskussion stellen. Sie muß sich der Geschichtlichkeit stellen, sowohl der soziohistorischen Bedingtheit ihres Gegenstandes und seiner theologischen Deutung als auch der begrifflich-theoretischen Hintergründe des eigenen Vokabulars einschließlich der theologischen Termini (Teil I der Arbeit).11 Die Gestalt der Seelsorge, wenn sie denn durch ihre Beziehung zum Alltag, also zu geformter sozialer Wirklichkeit, bedingt ist, wird auch gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen sein. Seelsorgegespräche stehen in einem historischen Kontext. Seelsorge, genauer: das seelsorgerliche Gespräch, war nicht immer schon das, was es heute ist. Vielmehr - so wird sich zeigen - stellt die Seelsorge in ihrer gegenwärtigen Gestalt ein spezifisch neuzeitliches Produkt dar, entstanden im soziokulturellen Wandel der Gesellschaft (Kap. 1.1.). Dies findet seinen Niederschlag und seine Entfaltung auch in der theologischen Theorie vom Gespräch, der Abfolge von Entwürfen der Seelsorgelehre (Kap. 1.2.). Um die neuzeitliche Alltagsseelsorge geht es. Doch was meint denn eigentlich die Bezeichnung ,Gespräch' im (neuzeitlichen) Alltag? Und was sind die formalen Strukturen von Wissen und Handeln, an denen solche Seelsorge durch Gespräch teilhat? Auch eine empirische Untersuchung arbeitet schon immer mit einer spezifischen Begrifflichkeit zur Bezeichnung dessen, wofür sie sich interessiert. Ich möchte mich dazu der ,Theorie des Alltags' bedienen. Dabei beziehe ich mich auf diejenige Ausarbeitung, die Alfred Schütz entworfen hat12 und die durch Thomas Luckmann, z.T. zusammen mit Peter L. Berger, weiter entfaltet worden ist.13 Man könnte jene Theorie als ,sozialphänomenologisch' bezeichnen. Sie ist darum be-
11 Diese drei Dimensionen sind zusammenzuhalten. J.STEIGER (Die Geschichte- und Theologie-Vergessenheit der heutigen Seelsorgelehre. Anlaß für einen Rückblick in den Schatz reformatorischer und orthodoxer Seelsorgeliteratur, 1993, 64-87) hat jüngst bei der Seelsorgelehre „Geschichtsvergessenheit und Erblindung vor der eigenen Tradition" diagnostiziert (67), sie „selbst zum Seelsorgefall" (87) erklärt und ihr eine „Aufarbeitungstherapie" verordnet (87). Ich halte schon diese Diagnose, wenn auch in der Tendenz nicht unberechtigt, für zu pauschal. Die Beachtung der Trostliteratur aus der Zeit der Reformation und der altprotestantischen Orthodoxie ist in der Tat ein Desideratum. Steiger aber verfährt so, daß er die alten Texte mit moderner Begrifflichkeit assoziiert, ohne die unterschiedlichen soziokulturellen Voraussetzungen der Texte und der modernen Begriffe systematisch zu bearbeiten. Sein eigenes theologisches Schema fusioniert beide, ohne daß dieses Verfahren selbst kritisch befragt wird. So wird man der Geschichtlichkeit der Seelsorge und eben damit auch der Geschichte der Seelsorge nicht gerecht. 12 A.SCHÜTZ, Gesammelte Aufsätze, Bd.l, [1940-1955]. 13 P.L.BERGER/ T.LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, [ 1 9 6 6 ] . A . S C H Ü T Z / T.LUCKMANN, S t r u k t u r e n d e r L e b e n s w e l t , B d e . l [1984].
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u. 2, [ 1 9 7 9 ]
u.
müht, ständig die Phänomene so in den Blick zu bekommen, wie sie im Alltag wahrgenommen werden (Kap. 1.3). Für die Zwecke der Arbeit scheint mir diese Theorie auch deshalb geeignet zu sein, weil sie sich auf einem mittleren Abstraktionsniveau bewegt. Sie beansprucht nicht, als philosophische Theorie Grund und Sinn von Wissen, Wahrheit etc. grundsätzlich zu klären, sondern nimmt solche Größen als sozial gegeben hin. Sie beiaßt sich andererseits nicht wie etwa Soziologie und Psychologie mit den konkreten sozialen und psychischen Prozessen, sondern widmet sich der Frage, nach welchen formalen Mechanismen Wissen und Sinn in einer Gesellschaft und ihren Individuen entstehen und aufrechterhalten werden. Das geschieht zunächst und zumeist - so diese Theorie - im Alltag, in der alltäglichen „Konstruktion der Wirklichkeit".14 Aufgrund ihres formalen Charakters legt diese Theorie bestimmte Perspektiven zwar nahe, greift aber noch nicht der empirischen Arbeit selbst vor. So ist in einem eigenen weiteren Arbeitsgang nach der für den Gegenstand adäquaten Methodik zu suchen. Der Blick auf das Spezifische der Handlungsform,Alltagsgespräch' bzw.,Seelsorgegespräch', geschärft durch die theoretischen Vorarbeiten, macht hier relativ eindeutige Entscheidungen möglich. Es wird sich herausstellen, daß sozio-linguistische Methoden, und zwar ganz bestimmte, für das beabsichtigte Vorhaben am geeignetsten sind (Kap. 2.). Nicht jedes Gespräch läßt sich aufnehmen, und nicht jede Aufnahme verspricht auch, für Alltagsseelsorge einigermaßen typisch zu sein. Aus der Fülle sozialer Anlässe von Seelsorge ist das .Institut' des Gesprächs anläßlich eines pastoralen Besuchs zum Geburtstag 15 ausgewählt. Das bedarf der Begründung. Welche Eigenarten hat jene Besuchsform (Kap. 3.1.)? Endlich sind die durch Gegenstand, Methode und vor allem auch das Datenerhebungsverfahren (Kassettenrecorder-Aufnahme durch den Seelsorger/ die Seelsorgerin) bedingten Besonderheiten und Begrenzungen hinsichtlich der zu erwartetenden Ergebnisse zu bedenken; auch das Vorgehen bei der Analyse und der Darstellung des Materials soll offengelegt und damit nachvollziehbar und kritisierbar gemacht werden (Kap. 3.2.). b) An einem exemplarisch vorgestellten Gesprächs-Transkript zeigt sich als erstes Charakteristikum bei der Beschäftigung mit dem tatsächlichen Wortlaut die Trivialität solcher Gespräche zum Geburtstagsbesuch (Kap. 3.3.). Sie scheinen den Ansprüchen der Seelsorgetheorie auf Therapie, Verkündigung oder wenigstens diakonische Effizienz im Seelsorgegespräch über-
14 V g l . d e n T i t e l v o n BERGER/ LUCKMANN.
15 Der Begriff ,Institut' soll hier für Institution im weiten Sinne stehen: Geburtstagsbesuch ist ein Fall, wo „habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden" (BERGER/ LUCKMANN, 58).
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haupt nicht gerecht zu werden. Die aufgenommenen Gespräche halten vielmehr die Differenz von erfahrener Wirklichkeit und den gängigen Konzepten von Seelsorge fest. Um genauer festzustellen, was denn ,Alltagsseelsorge' genannt werden könnte, bedarf es der detaillierten Beobachtung der alltäglichen Erscheinungen von (Alltags-)Seelsorge. Die eigentliche Analyse der Aufnahmen von Gesprächen zum Geburtstagsbesuch (Teil II der Arbeit) geschieht in drei Arbeitsgängen. Zunächst sollen die aus dem Alltagsgespräch stammenden Elemente solcher offenen seelsorgerlichen Form herausgearbeitet werden (Kap. 4). Es finden sich hier drei Gesprächsebenen, die jeweils gemeinsam von beiden beteiligten Seiten aufgebaut werden (Kap. 4.1.). Die dritte und wichtigste dieser Gesprächsebenen nenne ich darstellendes Gespräch'; sie ist durch typische Interaktionsformen gekennzeichnet (Kap. 4.2.). Hier begegnen Gesprächsfiguren, die durch die allgemeine Situation ,Geburtstagsbesuch' bestimmt sind, also nicht durch das pastorale Gegenüber (Kap. 4.3.). Sodann läßt sich vom Alltagsgesprächs-Charakter des pastoralen Geburtstagsbesuchs her aber auch zeigen, daß und wie im alltäglichen Gespräch sich jene Formen von Gespräch anbahnen, die in den SeelsorgeIdealen ,Therapie' und ,Verkündigung' vereinseitigt werden: Im Gespräch mit dem Seelsorger oder der Seelsorgerin nehmen beide Seiten bestimmte Positionen ein (Kap. 5.). Wie diese Rollen aussehen, wird im Gespräch selbst ertastet und durch bestimmtes Gesprächsverhalten gemeinsam manifestiert. Als ,rollentypische Interaktionspräferenzen' sind sie aus dem Gesprächsmaterial erhebbar (Kap. 5.1.). In der rollentypischen Gesprächsungleichheit entwickeln sich Muster, die als .therapeutische Gesprächsfiguren' interpretiert werden können (Kap. 5.3.) und episodenhaft in der Alltagsseelsorge vorkommen (Kap. 5.2.). Schließlich werden im Gespräch zum Geburtstagsbesuchs natürlich, gerade auch von der Seite der Besuchten, Themen angesprochen. Unter diesen interessieren mich diejenigen mit religiösen Inhalten (Kap. 6.). Wir begegnen ihnen in der für den Alltag typischen Form (Kap. 6.1.) als ethische Aussagen, Transzendenzaussagen oder kirchliche Aussagen (Kap. 6.2.). In unterschiedlicher Weise werden so im Gespräch gemeinsam .verkündigende Gesprächsfiguren' realisiert (Kap. 6.3.). c) Nach der Analyse der Erscheinungsformen von Alltagsseelsorge gilt es, Folgerungen daraus zu erarbeiten (Teil III der Arbeit). Wie läßt sich jetzt der Gegenstand der Untersuchung, die .Alltagsseelsorge', theoretisch-begrifflich genauer fassen, und was bedeutet das für die Diskussion darüber, was eigentlich Seelsorge genannt zu werden verdient (Kap. 7.1.1.)? Wie verhalten sich in der Alltagsseelsorge professionelle und alltägliche Gesprächsfähigkeiten zueinander, und wie könnte Alltagsseelsorge verbessert werden (Kap. 7.1.2.)? Welchen weiteren Gang der Forschung über Seelsorge lassen die Ergebnisse angeraten erscheinen? (Kap. 7.2.1.). 16
Einer empirischen Analyse gegenüber wird in der Theologie nicht selten Unbehagen geäußert. Das liegt nur zu einem Teil daran, daß derart empirische Verfahren in dieser geisteswissenschaftlichen Diziplin wenig betrieben werden (vgl. dazu Kap. 3.2.). Einer Arbeit, die wie diese den Zusammenhang mit der gesamtgesellschaftlichen Gesprächskultur und dem allen gemeinsamen Alltag herausarbeitet, wird darüber hinaus gerne die kritische Frage gestellt: Wo bleibt das Theologische? Es sei dahingestellt, daß auch die Art einer solchen Frage selbst der Rückfrage bedürfte. Dennoch will ich hier schon andeuten, in welche Richtung sich die Antwort der vorgelegten Untersuchung bewegen wird. Die Arbeit wird zum einen bereits durch ihren Gegenstand selbst theologisch. Das ist nicht wenig, sondern viel. Wohl bedeutet es, daß Argumentationen mit spezifisch theologischer Begrifflichkeit hier nicht exklusiv zu finden sind, ja, daß sie - über weite Strecken wenigstens ausdrücklich sistiert werden. Aber das hat auch zur Folge: Das Theologische erscheint hier nicht als bloßes theoretisches Postulat, sondern als das insoweit hat die Dialektische Theologie ganz recht16 -, was durch den Gegenstand selbst gefordert wird. Nur begegnet dieser Gegenstand als theologischer im Alltag nicht unmittelbar, sondern als Einfluß des Christentums auf die Gesprächskultur (Kap. 1.1.), als Deuteschema der professionellen Geburtstagsbesucher (Kap. 3.1.2.), als Inhalt von Gesprächen (Kap. 6.2.3. u. 6.3.). Die Arbeit ist theologisch auch in einer zweiten Hinsicht: Sie hat ein bestimmtes theologisch-kirchliches Interesse (Kap. 7.2.2.). Wenn die bisherige Seelsorgetheorie ,nicht mit tatsächlichen' Gesprächen arbeitete, dann ist damit zugleich eine Dominanz der Pfarrerseite in der Seelsorge gegeben. Die andere Seite im Gespräch bleibt in der herkömmlichen Seelsorgetheorie untergewichtet. Mein Interesse ist, die Laien zu Wort kommen zu lassen. Zumindest will ich einen Beitrag dazu leisten, indem erst einmal überhaupt genau wahrgenommen wird, wie die Laien durch Gesprächsäußerungen, aber - so wird sich zeigen - auch bei der gesamten Organisation des Gesprächs schon immer wesentlich an der pastoralen Seelsorge beteiligt sind. Das scheinbar,Nicht-Theologische' und das,Theologische' fügen sich so zusammen zu der einen Aufgabe der Seelsorgelehre. Sie besteht - um noch einmal Steck mit einer Formulierung vom Abschluß seines Aufsatzes aufzugreifen - darin, „die poimenische Praxis des Pfarrers aus den ihr gesetzten Bedingungen zu entwickeln und}7 in ihrer Entfaltung das reformatorische Prinzip des Priestertums aller Gläubigen zu bewahrheiten."18
16 Vgl. K.BARTH, Kirchliche Dogmatik, Bd.I,l, 1932; 2. 17 Hervorhebung von mir. 18 STECK 1987b, 183.
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ERSTER TEIL
Grundlagen
KAPITEL 1
Wissenschaftliche Kontexte „Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander" (F.Hölderlin, Friedensfeier, 1802).
1.1. Sozial- und kulturgeschichtliche Komponenten in der Herausbildung des neuzeitlichen Seelsorgegesprächs Gespräch unterscheidet sich von Rede durch seine explizite Wechselseitigkeit: zwei - oder mehrere - sprechen miteinander. Diese Wechselseitigkeit als zumindest virtuelle Gleichheit der Gesprächsbeteiligten aufzufassen, versteht sich nicht von selbst. Seelsorge als wechselseitiges Gespräch gewinnt ihre Gestalt erst im Laufe der Ausprägung neuzeitlicher Kommunikationsformen. Gesprächsseelsorge gehört in einen bestimmten sozialen und kulturellen Zusammenhang und entwickelt sich gemeinsam mit ihm. Um dies aufzuhellen, möchte ich ein bestimmtes Vorkommnis im Detail vorführen: Im Sommer des Jahres 1670 treten aus der Frankfurter Gemeinde einige Männer an ihren Pfarrer heran, den Senior Philipp Jakob Spener, und schlagen eine neue Art von Zusammenkünften vor. Daraus sollte sich das erste collegium pietatis entwickeln. Hier läßt sich das Neue gut greifen. Damit soll dieser Zeitpunkt nicht zu dem urplötzlichen Beginn des Seelsorgegesprächs stilisiert werden. Historia non saltat. Seine Bedeutung als Anfang des neuzeitlichen Seelsorgegesprächs erhält dieser Vorgang erst, indem er auf dem Hintergrund vorhergehender und nachfolgender Entwicklungen gelesen und gedeutet wird. Damit wird der Akzent anders gelegt als in den historischen Ausführungen der 1990 erschienenen Studie von Martin Nicol über „Gespräch als Seelsorge. Theologische Fragmente zu einer Kultur des Gesprächs". Nicol hellt wichtige kulturhistorische Zusammenhänge auf. Darauf kann zurückgegriffen werden. Aber die Studie begrenzt sich dabei auf den Zeitraum von Schleiermacher bis Freud. Der spezifisch neuzeitliche Charakter der modernen Seelsorge tritt jedoch viel deutlicher hervor, wenn man nach den Anfängen fragt. Darüber hinaus muß auch stärker der Blick dafür gewonnen werden, was uns kulturell vom Ideal des frühen 19. Jahrhunderts trennt. Ebenso verfahre ich bewußt anders, als J.Scharfenbergs ideengeschichtliche
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Skizze es tut.1 Diese stellt eine Dualität zweier „Denkstrukturen und Bewußtseinslagen" fest und bietet an, das „Dominieren des Verkündigungsgedankens in der Seelsorge" zu verstehen als „Ausdruck eines im Grunde ursprungsmythischen Denkens ..., das sich niemals aus dem autoritären Gefälle der Rückbindung an die Ursprünge lösen kann, während mit dem Stichwort ,Gespräch' Impulse der Partnerschaft gegeben werden, wie sie sich im Bundesgedanken ausgedrückt haben und wie sie unter Verzicht auf Endgültigkeit und Eindeutigkeit in immer neu gesetzten Zielen Zukunft, Freiheit und neue Lebens- und Lösungsmöglichkeiten eröffnen".2 Statt von der Dualität zweier Sprachprinzipien durch die Zeiten hindurch auszugehen, interessiert sich meine Studie für die historischen Veränderungen, die in Wechselwirkungsprozessen sozialer und geistesgeschichtlicher Faktoren hervorgebracht wurden.
Das collegium pietatis ist bekannt aus der Perspektive, in der es Spener dann ab 1675 beschrieb und verteidigte. Weniger beachtet wird, wer die Leute eigentlich waren, die den Anstoß dazu gaben, und was sie wollten. Johannes Wallmann hat erforscht, daß die Idee zu den Zusammenkünften von mehreren Juristen, einem Theologiestudenten und einem Scholarchen (Schulaufseher mit magistratlichen Befugnissen) ausging.3 Alle gehörten also dem städtischen Bürgertum an, teils der Bildungselite, teils dem Patriziat. So trifft sich ab August 1670 zunächst „fast ein reiner Akademikerkreis".4 Als Bürger möchte man unter Bürgern zusammenkommen. Die sonstigen Geselligkeitsformen, die das Frankfurter Stadtleben bot, bewertete man als unsittlich und sündig.5 Spener dürfte sieben Jahre später in seinem „Sendschreiben" das Anliegen dieser Gruppe ziemlich zutreffend referiert haben. Der im Vergleich zu seinen eigenen Intentionen bestehende Unterschied ist nicht verwischt, wenn er berichtet: „Sie wünscheten aber gelegenheit zu haben / daß zuweilen Gottseelige gemüther möchten zusammen kommen / und von dem einigen ihnen allen nothwendigen / so sie auch deßwegen allem übrigen vorzögen / in einfalt und liebe sich besprächen: auff daß sie in solchen conversationen, was sie anderstwo bey andern vergeblich suchten / unter sich finden möchten."6
1. J. SCHARFENBERG, Seelsorge als Gespräch, [1972], 25-34. 2
SCHARFENBERG [ 1 9 7 2 ] , 2 6 .
3 J.WALLMANN, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, 1986; 271-276. Wallmanns Ausführungen waren mir für die folgende historische Interpretation der Aussagen Speners äußerst hilfreich. 4
WALLMANN, 2 7 6 .
5 Ph.SPENER, Sendschreiben, [1677a]; 46; vgl. WALLMANN, 269. Zu denken wäre wohl an die Frankfurter „Herrenstuben" der Patrizier (=Trinkstuben; K.BRÄUER, Studien zur Geschichte der Lebenshaltung in Frankfurt a.M., 1915; 352) und die Weinschänken (345-348), an Einzelfeste wie Schützenfeste und Messen (357f.), vielleicht auch an die Erfahrungen mit studentischer Geselligkeit wie jene Zusammenschlüsse zu trinkfreudigem geselligem Essen, die sogenannten „Tischbursen" (268f.). 6 SPENER [1677a], 46.
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Die Originalausgabe hebt in diesem Satz ein Wort drucktechnisch als Fremdwort hervor: Konversation. Leider fehlt noch in der Forschung eine ordentliche Begriffgeschichte zu diesem Wort. Doch so viel läßt sich immerhin erheben: Hatte der Begriff früher jegliche Art von Umgang7 bezeichnet, so war er Anfang des 17. Jahrhunderts zum terminus technicus für den vertrauten, gesprächigen, zwanglosen Umgang der (französischen) höfischen Gesellschaft geworden.8 Ab dem zweiten Drittel des Jahrhunderts hatte sich Konversation in den entstehenden Salons entfaltet und damit zunehmend bürgerliche Kreise erreicht.' So gilt das 17. Jahrhundert als „die eigentliche Epoche der Konversation in dem uns heute geläufigen Sinne".10 Es verwundert kaum, daß auch auf der anderen Seite des Rheins diese Entwicklung Eindruck machte, besonders in dem rapide wachsenden Frankfurt, dem führenden deutschen Handelszentrum seinerzeit, zugleich Literaturmetropole.11 1668 wird hier nur sechs Jahre nach seinem Erscheinen ein Klassiker der Konversationsliteratur in deutscher Ubersetzung verlegt.12 Nicht einfach allgemeines miteinander Umgehen wünschen die Initiatoren des Kollegiums und nicht jede Form von Rede, sie möchten vielmehr zusammenkommen mit dem präzisen Zweck des Gesprächs, insoweit analog zu den französischen Salons, wenn nicht sogar angeregt durch sie. Mit einiger Wahrscheinlichkeit benutzten sie selbst dafür den modernen Begriff ihrer Zeit: Konversation. Auch hinter einem zweiten Stichwort dürften sich Bezüge zu einem neuen Phänomen des 17. Jahrhunderts verbergen. Spener spricht im obigen 7 So noch S.Guazzo im 16. Jahrhundert (siehe 1.1.1. A n m . ) . 8 C.SCHMÖLDERS, Die Kunst des Gesprächs, [1979]; 9f. 25f. Die von der Autorin herausgegebene und eingeleitete Sammlung enthält die wichtigsten historischen Texte zur Gesprächstheorie. Vgl. auch C.STROSETZKI, Konversation, 1978; 14-20. 9 Das große erste Beispiel, zugleich prägendes Muster für viele weitere Salons, ist das „Hotel de Rambouillet" in den Jahren von 1624-1648, Treffpunkt von Adel und Bildungselite (R.PICARD, Les salons litteraires et la societe fran?aise 1610-1789, 1943; 26-60). Im 18. Jahrhundert differenzieren sich die geselligen Zusammenkünfte zu literarischen Salons und intellektuellen Zirkeln, bis mit der Revolution die Epoche der Salons endet (lOlff.). 10
SCHMÖLDERS, 1 3 9 .
11
V g l . WALLMANN, 1 9 9 f .
12 Rene de Bary, Der Hoff-Geist oder Anweisung zu Hoefflichen Conversationen, übersetzt v. P.A.K., Verlag Schiele („L'esprit de la cour ou les conversationes galantes, Paris 1662). Hierbei handelt es sich freilich noch um eine ganz am Modell höfischgeselliger Öffentlichkeit orientierte Darstellung. Carl Philipp Harsdörffers „Gesprächsspiele für Frauenzimmer" von 1641/42 kommen wohl kaum als Vorbild in Frage. Das Buch unterscheidet sich zwar von seinen Vorgängern, den Spielbüchern der italienischen Renaissance, durch sein pädagogisches-sprachorientiertes Ziel, mit Sprachspielen die deutsche Sprache zu verfeinern (R.ZELLER, Spiel und Konversation, 1974; 74f. 85), und durch seine enzyklopädische Abzweckung (86). Doch bleibt das Gespräch auf den Horizont des Spiels begrenzt.
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Zitat von der „Liebe", in der die Gespräche geführt werden sollen, und berichtet von der „absieht / daß also unter Christlichen gemüthern eine heilige und genauere freundschafft gestifftet würde".13 Das fügt sich ein in die im 17. Jahrhundert beginnenden Gründungen von Sozietäten, in denen sich Liebhaber einer Sache zu einer ,philadelphia' zusammenschließen.14 Als ursprünglicher Plan jener Gruppe Frankfurter Bürger läßt sich also „die Gründung einer christlichen Liebesgesellschaft oder Gesprächgesellschaft"15 rekonstruieren. Wäre Spener dem Anliegen der Gruppe nicht entgegengekommen, so hätte sie sich nach seiner Einschätzung auch ohne ihn getroffen.16 Nicht also handelt es sich bei dem ersten collegium pietatis - was Spener auch nie behauptet hat - um ein von ihm erdachtes und initiiertes Treffen, sondern: „Was im August 1670 zustande gekommen ist, zeigt eher die Form eines Kompromisses, der sich aus der von einigen Frankfurter Bürgern gefaßten Idee einer christlichen Liebesgesellschaft und den Ideen des Frankfurter Seniors ergeben hat."17 Der ursprüngliche Plan der Bürger wird so verkirchlicht, und es entsteht eine Mischform mit kirchlich-institutionellen Elementen. Spener erreicht seine Teilnahme.18 Man trifft sich zweimal wöchentlich, jeweils nach der offiziellen kirchlichen Veranstaltung, der in der Barfüßerkirche gehaltenen Betstunde.1' Dazu aber wechselt man von der Kirche ins Haus, das Pfarrhaus, jenen halb privaten, halb öffentlichen Raum, und zwar anfangs jedenfalls in die Studierstube.20 Spener hält keine offizielle magistratliche Inkenntnissetzung für nötig, handelt es sich doch seines Erachtens um eine „privat-übung"21, versichert sich aber des Wohlwollens der Scholarchen.22 Die Veranstaltung rahmt Spener liturgisch ein durch ein von ihm gesprochenes Eingangsgebet und das Schlußgebet. Auch in der verkirchlichten Form wird noch die kulturelle Nähe zu bürgerlichen Entwicklungen der Zeit sichtbar. Für das Frankfurt der 40er Jahre des Jahrhunderts ist belegt, daß gutsituierte Gelehrte und Patrizier sich zusammenschlossen zum Abonnement einer gedruckten Zeitung. Das
SPENER [1677a], 51 (Hervorhebung von mir). 14 WALLMANN, 271. Vgl. das Aufkommen von Gesellschaften aus Adligen und Bürgern zur Sprachpflege noch vor dem 30jährigen Krieg (U. IM HOF, Das Gesellige Jahrhundert, 1982; 124), von Collegien der Rosenkreuzer in der 1. Hälfte des Jahrhunderts (W.-E.PEUCKERT, Die Rosenkreutzer, 1928) und von gelehrten Zeitschriften ab den 1680er Jahren (H.-U.WEHLER, Deutsche Gesellschaftgeschichte, Bd.l; 309). Das erste Kaffeehaus in Frankfurt öffnete erst 1689 (BRÄUER, 351). 13
15
WALLMANN, 2 7 1 .
17
WALLMANN,
16
WALLMANN, 2 7 7 .
282. 18 SPENER [1677a], 46. 1 9 SPENER [1677a], 5 2 . 20 SPENER, [1677a], 46. Vgl. dazu wie auch zum Folgenden WALLMANN, 278. 21 SPENER [1677a], 47. 2 2 SPENER [1677a], 48. Vgl. WALLMANN, 277f.
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geschah in Anbetracht ihrer guten Finanzverhältnisse kaum wegen des Preises, sondern um der Geselligkeit des gemeinsamen Lesens willen.23 Das Kollegium gibt sich als christliche Lesegesellschaft: Dem Gespräch wird als primärer Gegenstand erbauliches Schrifttum zugeordnet. Spener trägt einige Seiten vor, faßt dann noch einmal den Inhalt zusammen und thematisiert wichtige Punkte.24 Anschließend sollen die Anwesenden sich untereinander besprechen', „was jeglicher in solchem gelesenen beobachtet".25 Im Gegensatz zu Standes- und Berufskollegien, etwa bei Predigerkonventen, gibt es „keine Ordnung" des Gesprächs, sondern man will „es dabey bleiben lassen / wie es sonst in guter freunde gesprächen zu geschehen pfleget / daß reden mag weme beliebet / und wo der ein aufhörte ein ander / der etwz darbey zu erinnern hätte / darinnen fortführe / entweder solche matery selbst ferner fortzusetzen und zu bekräftigen / oder etwas anders auff die bahn zu bringen".26 Mit gutem Blick charakterisiert Spener so die Eigenart des informellen Gesprächs unter Gleichen. Es entspricht ganz dem Ideal der Konversation: „Chacun doit ecouter et parier a son tour." 27 Fassen wir zusammen: Bürgerliche Laien orientieren sich am Modell bürgerlicher Geselligkeit und begreifen sich zugleich als Alternative dazu. Das ,Einige ihnen allen Notwendige' soll so zur Sprache kommen, daß es gegenüber den herkömmlichen religiösen Kommunikationsformen von Predigt und Unterricht eine „noch mehrere erbauung"28 verspricht. Man gibt sich als „Privatanstalt".29 - Inwiefern knüpfen nun diese Charakteristika des collegium pietatis an ältere Traditionen an und weisen ihrerseits auf spätere Entwicklungen des Gesprächs voraus?
23 So interpretiert M.WELKE (Gemeinsame Lektüre und frühe Formen von Gruppenbildung im 17. und 18. Jahrhundert, 1981; 36) die Angaben bei BRÄUER, 91ff. 2 4 WALLMANN, 2 7 8 .
25 SPENER [1677a], 49.
26 Ebd. 27 Trotti de La Chetardie (1683), Instructions pour un jeune seigneur, Bd.l; 53f., zit. nach STROSETZKI, 15. 28 SPENER [1677a], 66. 2 9 WALLMANN, 2 7 8 .
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„...ein den klügelnden Verstand niederschlagender Gedanke an den Beherrscher der Welt mitten unter dem Gespräch über die Schikksale und Unternehmungen der Menschen; ein Gefühl von dem, dessen Ebenbild sich in uns offenbaret, wenn wir uns von Liebe und Wohlwollen durchdrungen fühlen, mitten unter dem geselligen Genuß dieser menschlichen und schönen Empfindungen" (aus einer Predigt von F. Schleiermacher30).
1.1.1. Synthetisierung von Urbanitas und religiöser
Gesprächsgemeinschaft
Die Frankfurter bürgerlichen Initiatoren leiten ihr Anliegen einerseits aus dem Ungenügen städtischer Geselligkeit her und greifen andererseits eben zu solchen Geselligkeitsformen, die bald als typisch bürgerlich gelten werden. Wie kommt es dazu? a) Texte der Antike kennen die „urbanitas" als „Inbegriff des geselligen Affekts".31 Zu denken ist dabei zunächst an die antiken griechischen Symposien und römischen Konvivien, jene Trinkgelage und Gastmahle der freien Städter bzw. römischen Bürger der Oberschicht. Die antike Rhetorik schätzt die urbane Rede als in Aussprache, Vokabular und humorvoller Gewandtheit bestehenden Ausweis städtischer Bildungskultur.32 Jenes Ideal wird mit der Herausbildung einer städtischen Kultur im Italien der Renaissance wieder interessant und nun explizit für das gemeinsame Gespräch entfaltet. So beschreibt Giovanni Pontanus in seinem Buch „Uber das Gespräch"33 den Typus des Urbanen Menschen. Während „sowohl das Leben als auch die Sprache derer, die auf den Feldern leben, rauher ist und ... die Sitten, die Aussprache und Gebärden von bäuerlicher Art sind", werden „diejenigen urban genannt, die eine Redeweise benutzen, wie sie eines Bürgers und eines Menschen, der in der Stadt verkehrt, würdig ist".34 Gespräch stellt hier die wirtschaftlich und sozial nötige Beziehung der Bürger untereinander her und vertieft sie. Es hat dabei anders als die Sprache auf dem Lande zugleich einen deutlich spielerisch-rekreativen Charakter: „... heiter nannte man sie aber, weil sie bei Zusammenkünften und bei häuslichem Geplauder, desgleichen bei Gesprächen mit Freunden und
3 0 F.SCHLEIERMACHER, P r e d i g t e n , B d . l , 1 8 3 4 ; 4 0 , zit. bei NICOL, 3 9 . 31
SCHMÖLDERS, 15.
32 Vgl. CICERO, Brutus 170-172 u. 177, De oratore 1,17; QUINTILIAN, Institutio oratoria 6,3,17 u. 6,3,102-105. Die Griechen hatten den Sachverhalt unter dem Begriff des „asteneios" verhandelt und diesen städtische Siedlungsweise bezeichenden Ausdruck von dem stadtstaatlich-politischen „politeios" unterschieden (vgl. P.MUSIOLEK, Asty als Bezeichnung der Stadt, 1981, 268-375). 33 Originaltitel: De Sermone [1509], verfaßt 1499 (Angaben nach SCHMÖLDERS, 22). 34 Zit. nach SCHMÖLDERS, 112.
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Landsleuten, die Worte mit Liebenswürdigkeit setzten und zu Vergnügen und Erbauung der Zuhörer".35 Zugleich ist durchaus auch der im Hinblick auf Handelsverbindungen bestehende wirtschaftliche Nutzen36 im Blick. Zwar transportiert das Konzept der,urbanitas' ein gehöriges Maß an städtischen Ressentiments gegenüber der bäuerlichen Gesellschaft. Dennoch dürfte richtig beobachtet sein, daß die städtische Geselligkeit eine eigene Gesprächskultur ausbildet, die sich unterscheidet von den Gesprächen, die auf dem Lande unter Nachbarn im Zusammenhang der jahreszeitlichen Feste oder in der Lied- und Erzählgemeinschaft geführt werden. Das frühe Christentum steht den Geselligkeitformen der Antike, besonders dem Konzept der urbanitas, zunächst ziemlich kritisch gegenüber37 und beargwöhnt das gesellige Gespräch. Es übernimmt damit die in der Auseinandersetzung mit dem Hellenismus propagierte weisheitliche Warnung des hellenistischen Judentums vor den Lastern der Zunge.38 Es verstärkt die dort begegnende antisinnliche Tendenz, kann dafür an die zeitgenössische Problematisierung des Sprechens anknüpfen39 und mahnt zu äußerster Zurückhaltung im gesprächigen Umgang als dem Ort möglicher Versündigung.40 Gespräch gilt als gefährlich, weil und insofern die Präsenz des anderen zur Normenverletzung anleiten könnte.41 Die christliche
3 5 SCHMÖLDERS, 1 1 2 .
36 Stefano Guazzo benutzt in „Der bürgerliche Umgang" (La civil conversatione; 1574) die Metapher vom Gespräch als Geld (zit. bei SCHMÖLDERS, 13lf.; vgl. 109). 37 TERTULLIAN, Apologeticum 21,30: „urbanitate deceptos". 38 Vgl. Jesus Sirach 5,10-15; 6,1-5; 20,18-20; 23,7-9; 28,17-23; 32,4-10 und entsprechend dann Jak 1,19 und 3,1-12. 39 LUCIAN, Demonax 51: Spreche wenig und höre viel zu; PLUTARCH, Moralia 506c: Die ambivalente Zunge ist größtes Gut und größtes Übel. Zu Quintilians Konzeption eines „orator tacens" siehe O.SCHEEL, Quintilian oder Die Kunst des Redens und des Schweigens, [1977]; 353. 40 AMBROSIUS V. Mailand (Von den Pflichten der Kirchendiener) 1,5: „Was sollten wir vor allem anderen lernen als schweigen, um reden zu können, auf daß nicht mein Wort mich verurteilt, bevor ein fremdes mich losspricht? Denn es steht geschrieben: ,Aus deinen eigenen Worten wirst du verurteilt werden' [Mt 12,37], Wozu mit Reden die Gefahr der Verurteilung gewärtigen, wenn sich mit Schweigen sicherer leben läßt?" 1,6: „Die Heiligen des Herrn liebten es darum, zu schweigen, weil sie wußten, daß häufiger die Zunge des Menschen das Sprachrohr der Sünde und das Wort des Mundes der Anfang zur menschlichen Verirrung ist". SCHMÖLDERS versieht entsprechende Zitate mit dem Titel „Die christliche Technik des Schweigens oder Die Angst vor dem Nächsten" (16) und spricht von der ,,unchristliche[n] Tradition der Gesprächsidee" (107). Damit aber verzeichnet sie die Gesprächsabstinenz des Christentums dann doch etwas zu polemisch. Ambrosius jedenfalls kennt durchaus ein „Maßhalten sowohl im Schweigen wie im Reden" (1,35). 4 1 SCHMÖLDERS vermerkt den vielsagenden Befund, daß in mittellateinischen Wörterbüchern conversatio einerseits den monastischen Lebenswandel, andererseits den sexuellen Verkehr bezeichnet (18).
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Sprachkultur entfaltet darum andere Dialogformen mit einem anderen Gegenüber. Gläubige sprechen entweder zu Gott im Gebet42 oder sie widmen sich seinem Wort, der Heiligen Schrift, etwa in Predigt, gelehrter Interpretation und volkstümlichem Traktat. In beiden Fällen ist der Dialog nach innen verlegt und bekommt, von außen gesehen, monologischen Charakter. Eine Ausnahme bildet höchstens die auf wenige Personen beschränkte Gelehrtendiskussion. Die mystische Literatur führt dann den prinzipiell jedem Christen möglichen Dialog zwischen dem Menschen und seiner Seele vor.43 b) Durch die protestantische Reformation mit ihrer These vom allgemeinen Priestertum beginnen sich die Verhältnisse zu verändern. Der Kreis derer verbreitet sich wesentlich, die sich an der interpretativen Arbeit an der Schrift beteiligen. Es kommt zur Popularisierung der Streitkultur. Forum des Diskurses ist nicht mehr allein die lateinische Literatur der Gelehrten oder die universitäre Disputation. Der Reichstag debattiert. In den kommunalen Räten diskutiert man ebenfalls. In Städten finden sogar Bürgerund Zunftabstimmungen statt.44 Gemeindeglieder fordern altgläubige Prediger heraus, Mönche und Nonnen müssen die Auflösung oder Beibehaltung ihrer Klöster voreinander begründen. Die deutschsprachige Flugblätterproduktion bietet eine nie dagewesene „Explosion des gedruckten Wortes"45. Die protestantische Dialogliteratur (vor allem Hans Sachs) wandelt ab 1521 die überkommene Gattung von Lehrgesprächen typisierten und allegorischen Charakters in Szenen um, die an konkreten Orten spielen und den „Mann von der Straße" (u.a. Bauern und Schuhmacher) den Dialog führen lassen.46 So entsteht und verbreitet sich ein allgemeiner öffentlicher Diskurs - der freilich nur so lange geführt wird, bis die Wahrheit entschieden ist; dann werden die Unterlegenen aus dem Gemeinwesen vertrieben.47 Nach 1524/25 ist auch die Blüte der Dialogliteratur schon wieder vorbei.48 Der Wandel ergreift ebenso das Haus und macht es zu einem Ort interpretativer Arbeit.49 Die Tischgespräche in Luthers Haus werden zwar 42 Vgl. auch Augustins Confessiones als Vorläufer der Autobiographie. 4 3 R.MOHR, A r t . E r b a u u n g s l i t e r a t u r I . - III.
1982, 2 8 - 8 0 ; 44.
44 B.MOELLER, Reichsstadt und Reformation, 1987; 85. 45 W.SCHULZE, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert, 1987; 124. 46 G.SEUFERT, Nachwort, in: H.SACHS, Die Wittenbergisch Nachtigall, 1974; 174; vgl. G.NIEMANN, Die Dialogliteratur der Reformationszeit, 1905; 52. 4 7 MOELLER 1 9 8 7 , 8 5 . 4 8 NIEMANN, 7 9 - 8 4 .
49 Die Hauptstücke des christlichen Glaubens sollen den Kindern „da heymen ynn heusern des abents und morgens" vorgelesen werden (M.LUTHER, Deutsche Messe und Ordnung Gottesdienste [1526], 44-113; 76, Z.14). „Nicht alleyne also, das sie die wort auswendig lernen noch reden, wie bis her geschehen ist, sondern von stuck zu stuck
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nur in der Form von Sentenzen des Reformators und deren unmittelbarer Veranlassung überliefert, dennoch führen sie den Eingang der Disputation in das Haus vor Augen. Die Hausandacht wird zunächst allein vom Hausvater und in der Regel mit vorformulierten Texten durchgeführt und sie verbreitet sich wohl, mit Ausnahme vielleicht von Pfarrhäusern, auch nicht sonderlich weit. Dennoch demonstriert das Ideal der Hausandacht die Notwendigkeit der interpretativen Aufgabe für einen jeden Christen. Private seelsorgerliche Trostbriefe Luthers werden mit großem Interesse gesammelt und veröffentlicht.50 Die Erbauungsliteratur nimmt einen Aufschwung.51 c) In den Anfängen des Pietismus von 1670 verbinden sich nun die aus christlichen Wurzeln stammende Tradition religiöser Interpretationsarbeit der einzelnen und die antike Tradition urbaner Gesprächsgeselligkeit. Mitglieder des Frankfurter Bürgertums initiieren eine Geselligkeitsform bürgerlichen Zuschnitts zur Intensivierung der religiösen Interpretationsarbeit, die sie als auf das Subjekt bezogene Arbeit, als Erbauung52 verstehen. Im 17. Jahrhundert entstehen in weiteren Städten unabhängig voneinander noch einige andere religiöse Konventikel, teils dezidiert kirchlichen, teils auch separatistischen Zuschnitts.53 Diese Entwicklung wird von kirchlicher wie staatlicher Obrigkeit mit Argwohn verfolgt. Bezeichnend ist ein verleumderisches Gerücht, mit dem sich Spener auseinanderzusetzen hat: Bei den Zusammenkünften hätten Frauen auf den Tischen Komödien gespielt.54 Es legt die Ängste der Gesellschaft vor Sinnlichkeit und Umkehrung politischer Ordnung offen. Das neue Institut entzieht sich obrigkeitlicher Aufsicht. Und wo die Katze fehlt, da klettern bekanntermaßen die Mäuse auf die Tische und fangen auch noch an zu tanzen. Speners apologetische Interpretation läßt darum die bürgerlich-städtischen Wurzeln in den Hintergrund treten und legitimiert das Neue durch den Rekurs auf Tradition, die freilich damit ihrerseits neu interpretiert wird. Es sei jetzt die Möglichkeit gegeben, „wiederumb die alte Apostolische art der Kirchen-versamlungen in den gang" zu bringen; wichtig wird frage und sie antworten lasse, was eyn iglichs bedeute und wie sie es verstehen" (Z.15-18). 50 U.MENNECKE-HAUSTEIN, Luthers Trostbriefe, 1989; 12f. 51 Schon Luthers frühe deutsche Schriften hatten einen bis dahin völlig ungekannten literarischen Erfolg (B.MOELLER, Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation, 1990; 61-63). 52 Z u m Begriffswandel zu dieser Bedeutung hin vgl. G.KRAUSE, Art. Erbauung II., 1982, 2 2 - 2 8 ; 25f. Charakteristisch ist dann auch der Titel des wenig später erscheinenden Buches: Ahasverus Fritsch, Von Christschuldiger Erbauung deß Nächsten durch gottselige Gespräche, 1776; Angaben nach KRAUSE, 26. 53 WALLMANN, 2 8 3 - 2 9 0 . 54 SPENER [1677a], 90.
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der Verweis auf l . K o r 14. 55 Daß Spener dabei Luthers Äußerungen zum allgemeinen Priestertum für sich hat, streicht er groß heraus. 56 Mittelalterliche Versuche v o n Laiengruppierungen scheiterten am Widerstand v o n weltlicher und kirchlicher Obrigkeit. Institutionell-kirchliche Einbindung und biblisch-dogmatische Legitimierung schützen hingegen die jetzt entstandene F o r m v o r Ubergriffen durch kirchliche und staatliche Aufsicht. Das bedeutet zugleich eine entschiedene thematische Eingrenzung auf das Religiöse. Gegen 1675 wird statt der Erbauungsschriften die Bibel der Interpretationsgegenstand des Kollegiums. 57 Erlaubt sind in den Gesprächen solcherart Gesprächsbeiträge, die „zu der aufferbauung deß lebens oder bekräftigung des einfältigen glaubens dienlich" 58 sind, während theologische und andere Disputationen ausgeschlossen werden. 59 Klerus und Laien haben aber - und das bleibt das Neue - im Gespräch selbst prinzipiell keinerlei unterschiedliche Funktion; sie gehen als „Freunde" miteinander um. Es entsteht so das Prinzip kommunikativer Gegenseitigkeit in religiösen Fragen. 60 d) Was zunächst am Hof und auch in der kleinen städtischen Oberschicht begann, weitet sich dann im Verlauf des 18. Jahrhunderts, nicht zuletzt
55 Ph.SPENER, Pia desideria, [1675/80]; 98. Die Begründung mit l.Kor 14 dürfte ein über einen der Initiatoren des collegiums, des Juristen Johann Jakob Schütz ( W A L L MANN, 271), vermittelter Gedanke des Jean de Labadie sein, Exjesuit, reformierter Prediger und Gründer separatistischer Zirkel (WALLMANN, 322). 56 SPENER [1675/80], 104-109, und Ph.SPENER, Das Geistliche Priesterthum, [1677b], mit Lutherzitaten auf 37 (!) Druckseiten (76-113). 57 SPENER [1677a], 51. 5 8 SPENER [1677a], 4 9 . 5 9 SPENER [1677a], 5 0 . 60 M . F A U S E R verweist in seiner Arbeit über „Das Gespräch im 18. Jahrhundert" (1991) auf eine pietistische Gebetssammlung unter dem Titel „Gespräche des Hertzens mit Gott" und konstatiert: „... genauso fassen alle Pietisten den Begriff" (28; vgl. 133f.). Wenn nicht der Begriff des Gesprächs, so jedenfalls der Begriff der Konversation konnte aber auch ganz positiv aufgenommen werden, neben Spener etwa auch von A . H . F R A N C K E , Kurtzer und Einfältiger Unterricht, [1702]; 143: „Gelegenheit zu guter und erbaulicher conversation" (von FAUSER, 134, selbst zitiert). Der Pietismus läßt sich dann nicht mehr so einlinig, wie Fauser das tut, als Gegenbewegung zur bürgerlichen Geselligkeit verstehen. Fauser arbeitet hinsichtlich der Vorstellungen über Geselligkeit und Gespräch im 18. Jahrhundert im Bürgertum eine Dialektik von nach dem Nützlichkeitsprinzip gesprächsnormierenden Tendenzen einerseits und gesprächsfreisetzenden Tendenzen der Individualität andererseits heraus (32ff. 55. 180-187. 324). An dieser Ambivalenz hat auch der Pietismus Anteil, der die Gleichheit religiös noch radikaler und intimer herausstellen kann und zugleich das Gespräch noch stärker reglementiert. Fauser selbst stellt fest: „Lockerung der Affektregulierungen ..., lässige Lebenshaltung, ... diese Fertigkeit, darüber gibt es keinen Zweifel, fehlte nicht nur den Pietisten, sondern dem ganzen Jahrhundert" (146). 30
unter Einfluß von Pietismus und Pfarrhaus, aus. Ideale und erste Institutionen der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft 61 beginnen, sich zu formieren, von denen viele dann im 19. und 20. Jahrhundert die gesamte Bevölkerung durchdringen. Die Tendenz der Verbreiterung der sozialen Basis kennt - mit Einschränkungen - bereits das erste collegium pietatis. In dem anfänglichen ,Akademikerkreis' bilden schon Ende 1670 auch die ,indocti' eine starke Gruppe; 1675 gehören die meisten zu den ,simpliciores', Handwerker machen einen guten Teil aus.62 1677 heißt es, daß auch verheiratete und unverheiratete Frauen, hinter einem Sichtschutz, passiv teilnehmen dürfen.63 Das städtisch-bürgerliche Gesprächsforum wird so in seiner pietistischen Fassung mit seiner kirchlich-institutionalisierten Version für weite Kreise der Bevölkerung offen. Allerdings bleibt die Beteiligung der Einfachen de facto ähnlich passiv, wie sie gegenüber den Frauen ausdrücklich restringiert wird. 1677 führen das Wort die Studierten, vor allem die Theologen; die anderen stellen lediglich hin und wieder Fragen. 64 Auch setzt sich die Gemeinschaftsform der Kollegien selbst bei pietistischen Pfarrern kaum durch. 65 Man bevorzugt in der Öffentlichkeit die traditionelle katechetische Form. Die neuen Impulse verwirklichen sich stattdessen viel stärker in der nicht-öffentlichen Sphäre als Hausandacht und Hausbesuch. Die in solchen streng religiösen Gesprächsformen des Pietismus aufgewachsenen und geschulten Mitglieder (z.B. Wieland und Schleiermacher) werden dann aber ihrerseits auch weltliche und öffentliche Geselligkeitsformen bereichern und entfalten. Aus der familiären Gesprächsgemeinschaft der Pfarrhäuser, zu Anfang des 18. Jahrhunderts häufig in Mischung von pietistischen und aufklärerischen Elementen 66 , erwachsen in Idealisierung und leidvollem Widerspruch nicht wenige namhafte Beiträge zur literarischen Kultur der Zeit (etwa durch die Pfarrerssöhne Gottsched, Geliert, Claudius, Lavater, Lichtenberg, Lenz). 67 61 Im 18. Jahrhundert wird das ständische Stadtbürgertum durch das neue Bürgertum, bestehend aus Bourgeoisie (Kaufleuten und Unternehmern) und Bildungsbürgertum (vor allem: Staatsbeamte) abgelöst (J.KOCKA, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 19. Jahrhundert, 1987; 23-30). 62 WALLMANN, 292f.
63 SPENER [1677a], 63.
64 SPENER [1677a], 63. Freilich sind hier auch - bei einer Gruppenstärke von über 50 Personen bis weit darüber hinaus (WALLMANN, 290f.) - die üblichen Muster von Gesprächsbeteiligung in Anschlag zu bringen. 65 E.BEYREUTHER, Speners „Das Geistliche Priestertum" 1677, 1979; 75f. Anm.9. 66 Vgl. dazu G.KAISER, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, 1961. 67 Vgl. A.SCHÖNE, Säkularisation als sprachbildende Kraft, 1958; 10, und seine Detailuntersuchung zu Lenz (76-116).
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Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, getragen von der neuen erweiterten bürgerlichen Schicht, kommt es zur Blüte einer Institution geselligen Gesprächs, der frühromantischen Salonkultur Berlins. Nach einem Aufschwung der Dialogliteratur und geselliger Lesezirkel besonders ab der Mitte des Jahrhunderts68 regiert hier nicht die themengebundene Debatte, sondern die individuenzentrierte Pflege der Freundschaft.69 Diese Atmosphäre70 zieht unter anderem auch den pietistisch erzogenen Friedrich Schleiermacher und den Pfarrerssohn Adam Müller in ihren Bann. Beide entfalten nun philosophisch das Ideal des freien Gesprächs und dialogischer Existenz mit einer Synthese antiker und religiöser Traditionen.71 Das gesellige Gespräch wird als „Ort religiöser Erfahrung"72 und als „Wahrnehmung des Göttlichen"73 gewertet. Religion vollzieht sich als Gespräch - wahres Gespräch hat religiöse Qualität. Doch diese Beschreibung ist Ideal. Eine ihr genügende Wirklichkeit vermutet der romantische Blick am ehesten in der Vergangenheit. Die Salonkultur selbst erweist sich angesichts der ökonomischen und politischen Verhältnisse als schnell vergängliche Erscheinung.74 Die Zäsur kommt durch den Einzug der Franzosen im Oktober 1806. Patriotische Zwecke, liberale oder antiliberale Gesinnung dominieren nun. Den Erfolg der jüdischen Frauen in den Salons greift schon 1803 ein vielbeachtetes Pamphlet K.W.Grattenauers an, das einen gegen Assimilation sich wendenden rassistischen Antisemitismus vertritt. 75 Die „Christlich-Deutsche Tischgesellschaft" von 1811 wird mitbegründet von Adam Müller; zu ihr gehören auch Achim von Arnim, Clemens v. Brentano und Heinrich von Kleist. Deren Satzung schließt Franzosen, Juden (auch konvertierte!) und Frauen ausdrücklich aus.76
Die Bildung öffentlicher Meinung übernimmt die - zumeist zensierte Presse.77 Das preußische höhere Beamtentum führt die Pflege der Gesel68 Vgl. H.-G.WINTER, Dialog und Dialogroman in der Aufklärung, 1974. 69
V g l . FAUSER, 4 2 0 f .
70 Man beachte hier die starke jüdische Komponente dieser Salons, und zwar weniger bei den Männern, sondern vor allem bei den Frauen (Henriette Herz, Rahel Levin, Sara Levy, Philippine Cohen, Dorothea Veit, Sara und Marianne Meyer, Rebecca Friedländer, Amalie Beer); sie stellten 37% aller Frauen in den Salons p.HERTZ, Die jüdischen Salons im alten Berlin, [1988]; 228; zu den sozialen Gründen dafür siehe HERTZ, 222-232). Überhaupt wäre es eine Aufgabe zu erforschen, in welchem Ausmaß die jüdische katechetische Haustradition und das rabbinische Diskussions- und Entscheidungsmodell einen wichtigen Beitrag zur deutschen bzw. europäischen Gesprächskultur leisten. 71 Dies hat NlCOL in seinen Abschnitten zu Schleiermacher (23-40) und Müller (44-53) ausgeführt. 72
NICOL, 3 1 .
74 HERTZ, 41. 281-317.
7 3 NICOL, 4 9 .
75 HERTZ, 292-296.
7 6 HERTZ, 3 0 5 ; I.DREWJTZ, B e r l i n e r S a l o n s , 1 9 6 5 ; 1 0 5 . 7 7 SCHMÖLDERS, 6 3 .
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ligkeit auf seine Weise fort: Es regieren die Normenbeschreibungen der „Schule der Höflichkeit" (C.F. Ruhmohr, 1834) und des allgegenwärtigen „Knigge". Sie reduzieren Gesprächsverhalten zur ,Etikette'. Den Frauen bleibt nur die harmlos-heitere Biedermeier-Geselligkeit. An die Stelle der Konversation tritt das Konversationslexikon.78 Die reale Dialogik zieht sich zunehmend in die privaten Bereiche von Ehe, Briefkultur und Tagebuch zurück. So bleibt das Ergebnis der Entwicklung zweideutig: Als die Spannung zwischen städtisch-antiker und christlicher Tradition versöhnt ist, tut sich der Graben zwischen Ideal und Wirklichkeit des Gesprächs auf.79 e) Mag jenes Ideal der Versöhnung antiker urbanitas und religiöser Gesprächsgemeinschaft auch heute noch ansprechen, die sozio-kulturellen Bedingungen für das Gespräch haben sich seit jener Salonkultur auf jeden Fall noch einmal weitgehend verändert.80 Das 19. Jahrhundert bringt die Verstädterung der Gesellschaft mit einer vormals nicht gekannten demographischen Gewichtsverlagerung der Bevölkerung in die Städte, genauer: in die industrielle Stadt, die zahlenmäßig dominiert wird von einer neuen Arbeiterklasse neben dem Kleinbürgertum. In beiden Bevölkerungsgruppen müssen die arbeitenden Individuen sich den wandelnden Anforderungen technisierter Arbeitsfelder anpassen, auch regional mobil bleiben; man lebt in von der Arbeit getrennten kleinen Mietwohnungen in relativer sozialer Isoliertheit.81 Die Kleinfamilie soll als Gegengewicht Ordnung und Stabilität bringen. Trotz Gegenanstrengungen der verfaßten Kirche säkularisiert sich Religion einerseits zu Weltbildideologien (Nationalismus, Sozialismus), andererseits zum bürgerlichen Kult der Einzigartigkeit der individuellen Seele. f) Im 20. Jahrhundert, vollends seiner zweiten Hälfte, wird ,Urbanität' zu einer Lebensform der gesamten Gesellschaft. Auch das Land ist kulturell und sozial nicht mehr autark, sondern Teil des neuen Gesamtgeflechts. Öffentliche Beziehungen werden nach rationalen Gesichtspunkten funktionalisiert, private - nicht zuletzt aufgrund erhöhter Mobilität (Auto) und neuartiger Kommunikationsmittel (Telefon) - noch weitergehend nach 78
SCHMÖLDERS, 5 9 .
79 FAUSER weist auf die „Transformation der Geselligkeit in der Ästhetik" (72) bei Goethe, Kant und Schiller hin (69-75) und auf die Dissoziierung von Theorie und Praxis, die sich in der topischen Behandlung des Gesprächs im 18. Jahrhundert fortschreitend zeigt (257-279). 80 Das ist bei NlCOL nicht berücksichtigt, wenn er sich am Ideal des existentiellen Gesprächs' orientiert und die letzten 50 Jahre dieses Jahrhunderts allein von der Seelsorgeliteratur repräsentiert sein läßt. 81
V g l . A . H A H N / H.A.SCHUBERT/ H.-J.SIEWERT, G e m e i n d e s o z i o l o g i e , 1 9 7 9 ; 3 9 f .
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individueller Neigung auswählbar. Auch Religion wird zur angebotenen und individuell auswählbaren Ware.82 Viele neue Dienstleistungsberufe erfordern Gesprächsfertigkeiten als wesentlichen beruflichen Inhalt (Verkaufsgespräch, Beratungsgespräch). Das Massenmedium Fernsehen ersetzt einerseits Gesprächsgeselligkeit.83 Andererseits führt es laufend bestimmte Formen gesprächiger Geselligkeit vor (neben Spielfilmen auch in Spiel- und Talkshows). Es bietet, auf zunehmend kommerzialisierter Grundlage, so etwas wie neue Ideale von Gespräch, und zwar als inszeniertes Ideal.84 Neben den konsumierenden Freizeittätigkeiten hat sich gerade in den letzten Jahren ein verstärktes Bedürfnis nach nicht-formalisierter aktiver Partizipation entwickelt. In Freizeit und Urlaub will man selbst, persönlich, ,zum Anfassen' andere Wirklichkeit aufnehmen. Das wirkt sich auch auf die religiöse Kommunikation aus und findet seinen Reflex in Veränderungen praktisch-theologischer Theoriebildung. Die Predigt, Modell der religiösen Kommunikation für die Dialektische Theologie, gerät unter Legitimationsdruck. Ihr ,monologischer Charakter' wird beargwöhnt, und im Gegenzug gibt es Versuche, sie als Einzelmoment eines grundsätzlich dialogischen Prozesses zu verstehen.85 Die Liturgik bekommt gegenüber der Homiletik ein neues eigenes Gewicht und arbeitet die selbsttätigen Vollzüge der gottesdienstlichen Partizipienten heraus.86 Die Entwicklung bis zu unserer Gegenwart hin stellt sich aus der zeitlichen Nähe als ziemlich diffus und komplex dar. Tendenzen überkreuzen sich. Gespräche zu führen scheint zugleich leichter und schwerer geworden zu sein. Religiöse Kommunikation orientiert sich am Modell des Gesprächs, aber die religiöse Qualität des Gesprächs, die Schleiermacher beschwor, ist in dieser Weise heute nicht (mehr) evident. Was dies alles für die
82 Vgl. T.LUCKMANN, Die ,massenkulturelle' Sozialform der Religion, 1988; 46, und T.LUCKMANN, Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, 1963. 83 Während seiner Nutzung werden Gespräche weitgehend unterbunden (B.HURRELMANN, Fernsehen in der Familie, 1989; 87). Je extensiver der Fernsehkonsum ist, desto weniger wird über das Gesehene gesprochen (92; genau umgekehrt verhält es sich beim Lesen, ebd.). Bei ohnehin „gesprächsarmen" Familien, die bei wachsendem Angebot ihren Fernsehkonsum noch erhöhen, ergibt sich so ein weiterer Trend zur Einschränkung der Kommunikation (102). 84 Fernsehen ist dasjenige Massenmedium, das noch am ehesten Gegenstand gewisser Gespräche der Familienmitglieder werden kann (HURRELMANN 1989, 91). Die Gesprächsgeübten erfahren durchs Fernsehen Bereicherungen für ihr eigenes Gesprächsverhalten: „Wer es gewohnt ist, im Gespräch über die unmittelbaren Alltagsangelegenheiten hinauszugreifen, kann auch aus dem Fernsehen mehr Anregungen für die persönliche Kommunikation gewinnen" (95). 85 Vgl. ζ. B. K.-F.DABER, Predigt als Rede, 1991; 201-207. 2 1 5 - 2 2 8 (siehe auch Kap. 7.1.1. Anm.22). 8 6 V g l . R.VOLP, L i t u r g i k , B d . l , 1 9 9 2 , z . B . S . 3 8 , u n d M.JOSUTTIS' ( D e r W e g
ins
Leben, 1991) Unternehmen einer „Liturgik auf verhaltenswissenschaftlicher Basis" (9).
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Gesprächskultur bedeutet und wie genau es sie verändert, darüber fehlen detaillierte Untersuchungen. Daß es auf das Gespräch einwirkt, darüber kann aber kein Zweifel bestehen. Selbst wenn man sich das Verhalten in Gesprächen als gleich geblieben vorstellen würde, gäbe schon der skizzierte gewandelte Kontext dem gleichen Verhalten einen veränderten Sinn. So werden einerseits die Ideale von Gespräch wirken, seien sie romantisch oder massenmedial-kommerziell geprägt. Die Wirklichkeit selbst ist dann noch einmal etwas anderes. Die Analyse der Gespräche zum pastoralen Geburtstagsbesuch soll für eine Stelle im heutigen Kontext Einblick in die veränderte Wirklichkeit gegenwärtiger Gesprächskultur geben.
Veritas Dei: nos veros facit (nach M.Luther). „Einer hat immer Unrecht: aber mit zweien beginnt die Wahrheit" (F.Nietzsche87).
1.1.2. Aufwertung des Gesprächs als Ort der Wahrheit Welche Bedeutung kommt dem Gespräch für die Wahrheitsfindung zu? In der Wertung der Bedeutung des Gesprächs für die Frage nach der Wahrheit hat sich in der westlichen Kulturgeschichte ein charakteristischer Wandel vollzogen. Veränderungen in der Gesprächstheorie und in der gesellschaftlichen Praxis treten hier in ihrer Wechselwirkung hervor; der philosophische Begriff von Wahrheit und die Frage nach ihren Kriterien sind involviert. Auf diesen gesamten Komplex kann im Rahmen der hier vorgelegten Untersuchung natürlich nur skizzenhaft verwiesen werden. Sich diese Zusammenhänge grob zu vergegenwärtigen hat dennoch seinen Sinn: Es soll darauf aufmerksam machen, wie von verschiedenen Seiten her unter der Signatur der Neuzeit das Gespräch an Bedeutung gewinnt, eben auch in der Wahrheitsfrage; und die Anfänge des Pietismus markieren eine nicht unbedeutende Station in dieser Entwicklung.
a) Machen wir uns die Ausgangslage klar. Das große klassische und wirkungsvolle Modell der Dialogik bieten die sokratischen Dialoge. Wahrheit erscheint hier (man denke an das ,Höhlengleichnis'88) als transzendente Größe, deren Erkenntnis ,erinnert' werden muß und kann. In den Dialogen überführt Sokrates die Gesprächspartner der Wahrheit, die schon von 87 F.NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft 260, [1882], 7-270; 158. 88 PLATON, Res Publica, 7.Buch, 514ff./lff.
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vornherein und auch ohne das Gespräch stattfindet. Gespräch ist ein Mittel zur Wahrheitsfindung, ist Unterricht in Wahrheit. Christliche Lehre beurteilte die Fähigkeit zur Erinnerung an die Wahrheit skeptischer, bot stattdessen die geoffenbarte göttliche Wahrheit an. Sich dieser Wahrheit überführen zu lassen, dazu dient der Dialog mit der Heiligen Schrift. Die scholastische Dogmatik führt deshalb mittels des quaestioresponsio-Schemas ein virtuelles Gespräch des Denkens vor, das in These und Antithese die Summe göttlicher Wahrheit darzustellen unternimmt. Bis tief in die Neuzeit hinein gilt das Gespräch dann als ein mögliches Instrument der Findung jener dem miteinander Sprechen vorausliegenden Wahrheit. Solange die Gesellschaft ihre Werte und damit ihre Wahrheit durch Tradition, durch religiöses und gesellschaftliches Herkommen vorgegeben und in dieses eingebunden erfährt, ist diese Sicht auch konkurrenzlos plausibel. b) A n der Entwicklung der Gesprächstheorie läßt sich nun ablesen, wie die Auflösung dieser Verstehensvoraussetzung sich in der Reflexion niederschlägt und von ihr weitergetrieben wird. 89 Die antike Rhetorik™ (Cicero und Quintilian) hatte unter den Begriff des Schicklichen (decorum; prepon) die Gesamtheit jener Tugenden versammelt, deren ein Redner bedarf, um der Wahrheit zu dienen. Indem der Redner sich am Schicklichen orientiert, mäßigt er sich und nimmt Rücksicht auf Zustimmung, er handelt damit gut. Der Schein des Schicklichen und das innere Sein des Guten stimmen überein und sind gerade in ihrer Identität Ziel und Garant menschlichen Zusammenlebens. Rhetorik ist so Kunst der Rede und zugleich ist sie Ethik überhaupt; sie enthält ein Bildungsprogramm ebenso wie die Grundlagen der politischen Kultur. Ambrosius rezipiert im vierten Jahrhundert diese Sicht ziemlich weitgehend, gestaltet seine .Pflichten der Kirchendiener' als Paraphrase von Ciceros ,De officiis' und nimmt die Decorum-Passagen von dort auf, auch gerade das Thema der Bescheidenheit.91 Die frühe Neuzeit übernimmt das Vokabular und die einzelnen Argumente der klassischen Vorbilder. U n d doch tut sie dabei etwas entscheidend Neues. Sie begründet das richtige Sprechen nicht mehr aus dem sittlichen Gesamthorizont, sondern aus einem vernünftigen Prinzip, das sich als Kommunikationsideal formulieren läßt. Damit tritt an die Stelle des rhetorischen Gesamtzusammenhangs die Formulierung von aus einem Prinzip ableitbaren Strategien. Zugleich werden aber so die einzelnen Bereiche, 89 K . - H - G Ö T T E R T ( 1 9 8 8 ) hat in seiner Arbeit über „Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie" die Entwicklung bis Schleiermacher hin herausgearbeitet. Im folgenden übernehme ich im wesentlichen seine Erkenntnisse. 9 0 GÖTTERT, 2 0 - 2 5 .
91 AMBROSIUS V. Mailand, De officiis ministrorum, Kap. 43ff. 36
die die antike Rhetorik umschloß, als selbständige P h ä n o m e n e wahrnehmbar. Erst jetzt bildet sich eine eigene Theorie des Gesprächs langsam heraus. Das organisierende Prinzip mit seinem Gesprächsideal wandelt sich in der Abfolge der Theorien entsprechend der gesellschaftlichen Situation und ihrem geistigen Horizont. In der Renaissance wird das Ideal der Anmut herausgearbeitet, das die Repräsentationstechniken höfischen Umgangs zusammenbindet. 92 Das Barockzeitalter lehrt das Ideal der Klugheit, den Schein für die eigenen Interessen nutzbar zu machen zur Beherrschung von Beziehungen. 53 Das absolutistische Frankreich entwickelt in den Konversationszirkeln des entmachteten Adels das Gesprächsideal der Höflichkeit; politesse kultiviert aus sozialem Kalkül die Gleichheit des Verzichts. 94 Das frühbürgerlich-demokratische England der beginnenden Aufklärung setzt sich davon ab mit seinem Ideal ungekünstelter Offenheit und propagiert - wenn auch um der Nützlichkeit willen mit Einschränkungen versehen - die Wahrhaftigkeit im Gespräch. 95 Jean-Jacques Rousseau verschärft in den Jahrzehnten vor der Französischen Revolution dieses Ideal zur Forderung nach natürlicher Offenheit als Ausfluß des natürlichen Gleichgewichts der Gesprächspartner und beschreibt sie dichterisch als Idylle wortlosen Einverständnisses. 96 c) D i e frühneuzeitliche Gesprächstheorie hatte die Frage nach der Wahrheit i m Gespräch beantwortet, indem sie M a x i m e n der Wahrhaftigkeit der Redenden i m H i n b l i c k auf die spezifischen Bedingungen eines Gesprächs bedachte und v o n daher einschränkte. D i e sprachliche Vermittlung der Wahrheit, nicht die Wahrheit als solche, liegt i m H o r i z o n t jener Reflexionen über das Gespräch. 9 7 D i e Wahrheitsfähigkeit des Gesprächs selbst kann erst dann z u m T h e m a werden, als m a n an der Wende z u m 19. Jahrhundert a u f m e r k s a m wird auf die d e m Gespräch spezifische K o m m u n i k a t i o n s f o r m . D i e lebenspraktische rhetorische Einheit v o n Theorie u n d Praxisanweisung hat sich aufgelöst. Es entsteht damit zugleich R a u m für eine wissenschaftliche Theorie des Gesprächs. D a b e i ergeben sich nun zwei grundsätzliche Möglichkeiten, das Ge-
92 GÖTTERT, 25-43. Aus dem hier vorgeführten Schema fallen manche humanistischen Schriften heraus, besonders die Abhandlung „Di civili conversatione" (Venedig 1584) von Stefano Guazzo. Göttert hat sie leider nicht ausreichend berücksichtigt. Nach R.AUERNHEIMERS Analyse (Gemeinschaft und Gespräch. Stefano Guazzos Begriff der ,conversatione civile', 1973) wird hier jedoch gegenüber der cartesischen Begründung der Wahrheit in der Logik des Wissens das Gespräch als Fundamentalkategorie von Wissenschaft und Alltag entfaltet. Das läßt sich als Rückschritt hinter die Emanzipation durch die Vernunft hin zur Normativität der Tradition lesen oder aber auch - so Auernheimer - als weit vorausweisender Protest gegen die unkommunikative Technisierung der Wahrheit, der ein Gegenmodell kommunikativer Wahrheitsfindung propagiert. 93 GÖTTERT, 4 4 - 6 7 .
9 4 GÖTTERT, 6 8 - 8 8 .
9 5 GÖTTERT, 1 0 1 - 1 1 5 .
96 GÖTTERT, 1 2 9 - 1 3 5 .
9 7 V g l . GÖTTERT, 163.
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sprach als solches zum Gegenstand zu machen. Man könnte die normativen Bemühungen durch deskriptive zu ersetzen versuchen und die empirische Vorfindlichkeit von Gesprächsfaktoren beschreiben. In Ansätzen beschreitet diesen Weg Christian Garve.98 Die ersten Grundsätze soziologischer und psychologischer Gesprächsanalyse werden entwickelt, wenn Garve nach den individuellen Affekten beteiligter Subjekte und nach der Bedeutung des ,common sense' fragt, jetzt verstanden als Inbegriff sozial vermittelter faktischer Werte und sozial trainierter Gesprächsregeln. Die Frage nach der Wahrheit im Gespräch ist überführt in die Beschreibung der Wirklichkeit der in ihm wirkenden psychischen und sozialen Mechanismen. Einen anderen Weg wählt Friedrich Schleiermacher. Er überführt das Problem in die hermeneutische Fragestellung. Im Anschluß an Kants Konstruktion der Moralität versucht er zunächst, ebenso die Schicklichkeit als einen Bereich zu bestimmen, der „freie, durch keinen äußeren Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit" zu seiner Grundlage habe und in dem freie „Wechselwirkung" herrsche." Innerhalb dieses Rahmens wird dann noch ein letztes Mal das Material der alten Gesprächstugenden entfaltet, wenn auch weitgehend als Ausfluß der Vernunftnatur bestimmt. Im Horizont gelingender Salonkonversation mag Schleiermacher zunächst diese Deutung noch befriedigen. Doch dann kommen Erfahrungen kommunikativer Grenzen: Auflösung der Arbeits- und Lebensgemeinschaft mit Friedrich Schlegel und unerfüllte Liebe zur verheirateten Eleonore Grunow. Vielleicht auch dadurch beflügelt100, wird in den Monologen von 1800 die Kommunikationskrise thematisiert.101 Inwiefern kann überhaupt Sozialität die Freiheit des Individuums steigern? Wie ist Verstehen überhaupt möglich? Die Antwort des reifen Schleiermacher lautet: Nicht mehr durch die Aufstellung von Normen für Sprechende, sondern durch die Analyse der Sprache, der Sprachproduktion selbst.102 Sprache macht Freiheit sozial, Sprache erst verhilft dem Individuum zur Identität.103 Zur Sprachverfaßtheit des Wissens gehören wesentlich die Verschiedenheit und die Unvollendetheit.104 Darum kann es nicht um deren Aufhebung gehen. Vielmehr folgert daraus die Erkenntnis, daß gewußte Wahrheit wesentlich erst im Dialog entsteht. An der Dialektik von Fremdem und Bekanntem
9 8 GÖTTERT, 1 3 6 - 1 5 6 .
99 F.SCHLEIERMACHER, Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, [1799], 3-31; 3 u. 10. 100 Auf die zeitlichen Zusammenhänge weist GÖTTERT ZU Recht hin (179). 101
V g l . GÖTTERT, 1 7 9 - 1 8 3 .
102 Vgl. F.SCHLEIERMACHER, Ethik, [1812/13], 241-420; 2. Teil § 182-184 = S.306; 3. Teil § 180-182 = S.355; vgl. GÖTTERT, 180. 103 SCHLEIERMACHER [1812/13], 2. Teil § 196 = S.308f u. § 208f = S.310f. 104 F.SCHLEIERMACHER, Dialektik, [1822]; 374f.
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kommt es zur Einsicht. Die Möglichkeit des Verstehens eines anderen ist es, die das Gespräch zum ausgezeichneten Ort der Individualität macht; sie ist es, die sozial bereichert und die Sozialität individuell präzisiert. Sprache ist nicht nur der Weg zur Wahrheit, Wahrheit selbst ist sprachgebunden, und Sprache entsteht im Gespräch, d.h., Wahrheit gibt es nur als im Gespräch ausgesprochene.105 Die Schleiermachersche Interpretation mit dem Versuch einer Balance zwischen geschichtlichen Prinzipien (Sprachen) und der Individualität des Subjekts bleibt natürlich nicht unbestritten. Auf der einen Seite wird Wahrheit in der Einheit von Sein und Denken verortet: bei Schelling als Aufhebung der vielen Subjekte und Substanzen in das Absolute unter Restitutiierung der Vorstellung ewiger Wahrheiten 106 , nach Hegel gilt, „daß das Absolute allein wahr und das Wahre allein absolut ist". 107 Auf der anderen Seite radikalisiert Kierkegaard die Subjektbezogenheit von Wahrheit zur These: „Wahrheit ist die Subjektivität". 108 Die von Schleiermacher auf einer neuen Ebene formulierte Erkenntnis der Gesprächsbindung des Prozesses von Wahrheitsfindung 109 stimmt zusammen mit der Entwicklung in den Bereichen, die die klassische Rhetorik in sich enthielt: Ethik wie Pädagogik und Politik. Die Ideen der Pluralisierung und Demokratisierung greifen hier um sich. Im 19. Jahrhundert und zumindest der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzen sich entsprechende Bemühungen allerdings nur sehr bedingt durch. Zugleich gehört in diesen Zeitraum auch die gegenläufige Tendenz zur gesprächsfeindlichen Spezialisierung und Technisierung. Dennoch ist die Verlagerung der Gewichte mag man sie als Akt der Befreiung begrüßen oder als Relativismus bedauern - eindeutig.
105 Die Dialektik gilt SCHLEIERMACHER als Kunst der Gesprächsführung ([1822], 47-51). Sie ist auf Vorstellungen aus, „die nur auf Wahrheit gegründet sind" (48), und: „Immer aber gelangt jeder Mensch zu besserer Erkenntnis und reinem Wissen nur durch das Gesprächführen" (54). Hermeneutik gilt ihm als „die Kunst, die Rede eines anderen zu verstehen" (F.SCHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, [1838], 69-306; 75); sie nimmt ihren Ausgang im gesprächigen Umgang: „selbst ein so freies, loses Gespräch ist schon Gegenstand der Auslegung" (179). 106 F.SCHELLING, Über die Quelle der ewigen Wahrheiten, [1850], 575-590; 587. 107
G.F.HEGEL, P h ä n o m e n o l o g i e des Geistes, [ 1 8 0 7 ] ; 7 0 .
108 S.KIERKEGAARD, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, [1846]; 179ff. 109 Aber schon bei C.THOMASIUS in seiner nachpietistischen Phase läßt sich die These der „apriorischen Gesprächigkeit der Vernunft" (M.FAUSER, 47) finden: „Ratio absque sermone non est, ... sermonis extra societatem nullus est usus, ... nec ratio citra societatem se exerit" (THOMASIUS, Institutiones Iurisprudentiae Divinae, 1694; 138). FAUSER kommentiert das Zitat: „Vernunft ist gesellig und Geselligkeit vernünftig. Dies vorausgesetzt muß das Denken selbst auch auf gesellige Weise vor sich gehen, eben als Gespräch" (46).
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d) In den wissenschaftlichen Bemühungen des 20. Jahrhunderts um das Gespräch wird in der Regel Wahrheit nicht als dem Gespräch vorausgesetzt konstruiert, sondern in die beschriebene Gesprächswirklichkeit selbst überführt. Wissenschaft verfaßt Kataloge der sozialen Formen des Gesprächs. Sozial vermittelte Mechanismen des miteinander Sprechens sind Gegenstand anthropologischen, ethnologischen, soziologischen und linguistischen Interesses. Sigmund Freud hat als erster die psychischen Funktionen des Gesprächs theoretisch systematisiert und für therapeutische Zwekke instrumentalisiert. Im therapeutischen Gespräch wird erinnert, wiederholt und durchgearbeitet110 und so dem Patienten zu je seiner Wahrheit verholfen. Auch in der Philosophie und Ethik des 20. Jahrhunderts gibt es neben der Ausrichtung am mathematischen Wahrheitsideal111 die starke Tendenz, die Entstehung von Wahrheit112 im Gespräch bzw. Diskurs zu verorten, angefangen von der Ich-Du-Philosophie113 über den Emotivismus der analytischen Ethik114 und die Wittgensteinschen Sprachspiele115 bis hin zur Habermasschen Konsensethik116 oder zum Radikalen Konstruktivismus.117 In der Gegenwart nimmt der Eindruck gesellschaftlicher Pluralisierung weiter zu. Die ideologischen Fixierungen der Wahrheitsfrage aus dem 19. Jahrhundert - Kapitalismus, Nationalismus, Sozialismus - haben sich in ihren Reinausführungen als freiheitsfeindlich, dialogunfähig und für die moderne Gesellschaft ungeeignet erwiesen. Technik und Spezialistentum können Vorgänge optimieren, aber nicht die ethische Begründungslast tragen. Immer deutlicher scheint sich herauszukristallisieren: Wenn es überhaupt Wahrheit, wenn es wenigstens wertige Wirklichkeit gibt, dann kann sie nur dialogisch realisiert werden. So wird in unserer Kultur - trotz tagtäglicher Erfahrungen mißlingender Kommunikation - das freie, einander verstehende Gespräch zum ausgezeichneten Ort der Wahrheitsfindung und 110 S.FREUD, Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, [1914], 205-215. 111 Beachtenswert, wie aus solchen Anstrengungen der Weg dann doch zur dialogischeren Philosophie führt: vom frühen zum späten Wittgenstein und von B.Rüssel zur analytischen Sprachphilosophie. 112 Wir müssen hier davon absehen, daß sich natürlich dabei auch der Wahrheitsbegriff selbst verändert bzw. sich die Gewichtungen im Verhältnis der Konsens-, Kohärenz- und Korrespondenztheorien der Wahrheit verschieben. 113 H.COHEN, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, [1919]; F.EBNER, Das Wort und die geistigen Realitäten, [1921]; F.ROSENZWEIG, Der Stern der Erlösung, [1921]; M.BUBER, Ich und Du, [1923]. 114 A.AYER, Language, Truth and Knowledge, [1936]; C.STEVENSON, Ethics and Language, 1944. 115 L.WITTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen, [1953], 116 J.HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handelns Bd.l und 2, 1981. 117 Z.B. S.J.SCHMIDT, ed., Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, 1989; S.J.SCHMIDT, ed., Kognition und Gesellschaft, 1992.
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zum Symbol von Wahrheit in den demokratischen Gesellschaften. 118 Postmoderne Theologie entwirft das Programm einer „Theologie als Gespräch". 119 In der Praktischen Theologie wird der „Diskurs" zur Signatur kirchlicher Praxis erhoben. 120 Nicht nur für die protestantische Seelsorgetheorie ist das ,Gespräch' zum Generalnenner geworden (siehe 1.2.3.), auch die katholische Seelsorgelehre sucht nach einer „kriteriologischen Fundierung der Seelsorge als Gespräch". 121 In diesem Kontext tritt nun noch einmal die Bedeutung der pietistischen Anfänge für jene Aufwertung des Gesprächs deutlicher hervor. Daß durch Partizipieren an einem anderen Individuum die fromme Seele erbaut werde, ist die neue Entdeckung des Pietismus. Oder genauer: Hier wurde diese Erfahrung zuerst entschieden in entsprechende Handlungsformen gefaßt, die sich als kulturwirksam erwiesen. Erbauung gilt dabei zunächst noch als Nachvollzug eines durch biblische Wahrheit festgelegten Ziels. Gleichzeitig ist Erbauung aber auch von der Art, daß bloße Kenntnisnahme der Wahrheit nicht ausreicht, sondern das Wahre der Vermittlung von Subjekt zu Subjekt bedarf. De facto kommt Wahrheit erst, ja kommt sie nur in diesem Gegenüber von Subjekten zum Tragen. Das Gespräch ist die reinste Form solchen Auftretens von Wahrheit. Anders als in der Predigt - so Spener - würde an dem Gespräch von ,Prediger' und Gemeindegliedern „ein zu beyder besten viel dienendes vertrauen zwischen ihnen gestifftet". 122 Vertrauen ist Bedingung und Charakterisierung des Gesprächs zugleich. Vertrauen baut darauf, daß die Wahrheit im anderen erscheint. Die soziokulturellen Veränderungsprozesse gehen auch an der kirchlichen Institution nicht spurlos vorüber. Während die katholische Kirche ein zentralistisches Verfassungssystem bislang noch aufrechtzuerhalten versucht, haben die evangelischen Kirchen weitgehend demokratisierte Verfassungsstrukturen aufgebaut. Die Pluralisierung der Wahrheit im Gespräch verändert auch die Gesprächsinstitutionen. Das Seelsorgegespräch
118 Vgl. H.R.MÜLLER-SCHWEFE, Die Stunde des Gesprächs, 1956: „Wir leben, wenn wir der allgemeinen Meinung trauen dürfen, im Zeitalter des Gesprächs. Seit 1945 ist das so. ... So gehört das Gespräch zum Lebensstil unserer Zeit. Durch ihn unterscheidet sich der Westen vom Osten. Der Westen ... ist frei zum Dialog" (5). 119 D.TRACY, Theologie als Gespräch. Eine postmoderne Hermeneutik, [1987]. 120 C.BÄUMLER (Kommunikative Gemeindepraxis, 1984; 139) fordert, „daß der Diskurs nicht eine Methode der Gemeindepraxis ist, die bei bestimmten Gelegenheiten verwendet wird, sondern das Grundmodell, nach dem sich die Kommunikation des Evangeliums in der Gemeindepraxis insgesamt vollziehen sollte." 121 Dieser Aufgabe widmet sich die Studie von H.WINDISCH (Sprechen heißt lieben. Eine praktisch-theologische Theorie des seelsorgerlichen Gesprächs, 1989; 14). Sie führt dies allerdings mit einer „strengen Eingrenzung auf das systematisch-theologische Formalobjekt" (ebd.) durch, wählt also einen ganz anderen Weg als die vorliegende Untersuchung. 122 SPENER [ 1 6 7 5 / 8 0 ] , 100.
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heute befindet sich wie jedes andere Gespräch auch auf dem Markt der Wahrheiten, neben den Gesprächen der sonstigen privaten Umwelt, anderen Beratungsinstitutionen und medial vermitteltem Gespräch (Fernsehen). Wie kann die Wahrheit Gottes zur Geltung gebracht werden, nachdem das traditionelle Modell vorausgesetzter abstrakter Wahrheit unplausibel geworden ist? Unter Rückgriff auf Martin Luthers Definition der Iustitia Dei ließe sich auch sein Wahrheitsbegriff fassen: Veritas Dei: nos veros facit. 123 Hier wäre der alte Wahrheitsbegriff mit den Mitteln religiöser Metaphorik bereits in einen relationalen und operationalen Wahrheitsbegriff umformuliert. Wahrheit Gottes im Gespräch wäre nicht eine dem Gespräch vorausliegende Eigenschaft, sondern eine erst im Gespräch sich eröffnende, eine, die durch das Gespräch erst sich an den Beteiligten als Wahrheit erweist. Doch: Gott bleibt ihr Autor. Was hat das für das konkrete Erscheinen dieser Wahrheit zu bedeuten? Wie verbinden sich die Relationalität göttlicher Wahrheit und die Relativität menschlicher Wahrheit im seelsorgerlichen Gespräch? Und welche Rolle kommt dem Expertentum dabei zu? N a c h der Diagnose des Pietismus reicht das Sach-Expertentum des gelehrten Predigtvortrags ja gerade nicht aus; aber der Pietismus entwickelt kommunikative ,Seelenexperten'. Auch dieser Fragenkomplex wird sich in der Analyse der Gespräche zum Geburtstagsbesuch in concreto studieren lassen.
„In guter Gesellschaft können niemals zwei Personen über den Tisch hinüber ein so wertvolles Gespräch führen, wie wenn man sie allein läßt" (Ralph Waldo Emerson124).
1.1.3. Privatisierung des Gesprächs Die Privatisierungs-Komponente der neuzeitlichen Gesprächskultur war in den beiden anderen Abschnitten schon indirekt mitbehandelt. Darum können wir uns hier vergleichsweise kurz fassen.
123 M.LUTHERS entsprechende Formulierung zur iustitia Dei in seinem ,Selbstzeugnis' lautet: „iustitiam Dei ... qua nos Deus misericors iustificat" (Vorrede zum ersten Bande der Gesamtausgaben seiner lateinischen Schriften, [1545], 176-187; 186 Z.7f.); sie wird ausdrücklich auf andere Gottesprädikate wie opus, virtus, sapientia, fortitudo, salus, gloria übertragen (2.11-13). Vgl. G.EBELINGS Ausführungen zur „Wahrheit als kommunikatives Attribut" (Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd.2, 1979; 116-118): Gottes „Verhältnis zur Wahrheit" besteht „nicht nur in dem Wahrnehmen, sondern auch und vor allem in dem Wahrmachen" (117). 124 R.W. Emerson, Essays, 2. Reihe, 1910; 34; zit. nach SCHMÖLDERS, 254.
42
Während die französische Konversationskultur des 17. Jahrhunderts sich noch dem Bereich der Öffentlichkeit zurechnete125, begann das collegium pietatis als private Veranstaltung durch die Initiative einzelner Bürger. Speners Einstufung der Treffen als ,Privat-Ubung' sollte sie vor Eingriffen durch den Magistrat bewahren. „Freiwilligkeit, Liebesgemeinschaft und Bildung", mit diesen Begriffen hat J.Habermas' klassische Studie zur neuzeitlichen Differenzierung von Öffentlichkeit und privatem Raum die neuen Prinzipien der Begegnung von Individuen miteinander beschrieben.126 Was Habermas als Entwicklung des 18. Jahrhundert vorführt, läßt sich hier also schon für das Jahr 1670 festmachen. Im folgenden Jahrhundert bildet sich dann der bürgerliche private Raum aus. Das läßt sich etwa ablesen am Wandel von formalisierter Korrespondenz zum privaten Freundschaftsbrief127, der Entstehung des bürgerlichen Romans über individuelle Schicksale wie z.B. Goethes „Werther" und nicht zuletzt der Entwicklung von Ehe und Familie zur Liebesgemeinschaft von Ehepartnern und Kindern.128 Die vorbildliche Familie stellt sich nun als „Gesprächs- und Lesegemeinschaft" dar.129 Während die adlige Hausgeselligkeit in ihren Tischgesprächen repräsentative Öffentlichkeit darstellte, gibt sich die bürgerliche Tischgemeinschaft als Erweiterung der Privatsphäre. Um den jetzt nicht Hierarchie abbildenden, sondern mit seiner ovalen Form Rangordnungen nivellierenden Tisch trifft man sich aus gemischten Ständen zum Gespräch; ja sogar die Versorgung mit Essen kann anteilig übernommen werden.130 In den pietistischen Konventikeln hatte man zwar versucht, das Prinzip der Individualität wieder moralistisch zu reglementieren und das Prinzip der Bildung rigoristisch auf den christlichen Glauben zu beschränken. Pietistische Introspektion, ihre Formierung der Vergangenheit des Subjekts zur unverwechselbar individuellen Bekehrungsbiographie, ihre Pflege des subjektiven gegenwärtigen Erlebens im frommen Tagebuch waren dennoch Ausdruck bürgerlicher Privatheit und wurden zugleich ein Faktor, der sie verstärkte.
125
C.STROSETZKI,
148.
Strukturwandel der Öffentlichkeit, [ 1 9 6 2 ] ; 5 9 . 127 Vgl. G . S T E I N H A U S E N (Geschichte des deutschen Briefes, Bd.2, 1891) über den „Briefkultus" des 18. Jahrhunderts (302-340). In den 70er und 80er Jahren „gelangt das Individuelle in die vorderste Reihe der Stilprinzipien" ( R . M . N I C K I S C H , Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts, 1969; 223). 128 Differenziert zu der Allmählichkeit dieser Entwicklung: R . V . D Ü L M E N , Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, Bd.l, 1990, bes. der Abschnitt: „Die Geburt der bürgerlichen Familie: Utopie oder Wirklichkeit" (230-240). 129 B.HURRELMANN, Erziehung zur Bürgerlichkeit in der Jugendliteratur der Aufklärung, 1982; 206. 1 3 0 Vgl. M . F A U S E R , 2 8 4 - 2 9 4 , mit Belegen. 126
J.HABERMAS,
43
Die spezifisch explizit-religiöse Füllung des privaten Raums verliert dabei im 18. Jahrhundert immer stärker ihre dominierende Stellung. Das Innenleben säkularisiert sich131, ablesbar etwa am Wandel im Zahlenverhältnis von Veröffentlichungen an Erbauungsliteratur und schöngeistiger Literatur. 132 Mit der Verbürgerlichung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert werden die Prinzipien privater Begegnung zum Ideal erhoben. Im 20. Jahrhundert erreicht die Differenz von Öffentlichkeit und privatem Raum, von Arbeit und Familie sämtliche Bevölkerungsschichten. Das private Gespräch hat seinen Ort in der nun allgemein gegebenen Möglichkeit der ,Freizeit'. 133 Die Massenmedien führen permanent privates Gespräch vor Augen. Öffentlichkeit soll sich überhaupt nahe und privat präsentieren, von dem persönlich anredenden Schreiben aus dem Versandhaus über die gemütliche Käseecke mit persönlicher Bedienung im Supermarkt bis zum Nähe ausstrahlenden gottesdienstlichen Liturgen zum Anfassen. 134 Die Veröffentlichung des Privaten (Talk-Show) gibt allgemeinverbreitete Muster ab. Gesprächsausbildung etwa in der kirchlichen Seelsorge (Klinische Seelsorgeausbildung) führt auch in der Kirche bestimmte (neue) Gesprächsmuster ein. Geht die Entwicklung also auf eine Uniformierung der privaten Gespräche zu? Andererseits ist für die letzten Jahrzehnte ein „gesellschaftlicher Individualisierungsschub von bislang unbekannter Reichweite und Dynamik" 1 3 5 konstatiert worden mit einer „Pluralisierung der Lebensstile" und Lebensläufe.136 Das wird auch auf die Seelsorge durchschlagen. Nicht nur, daß Biographien und lebensgeschichtliche Themen der Seelsorgesuchenden noch vielfältiger geworden sind. Entsprechend sind auch auf der Seite des Seelsorgers (und der Seelsorgerin) die Varianzen größer geworden, was Geschlecht, soziale Herkunft und theologisch-politische Uberzeugung betrifft. Ist dann also auch die Gestalt des Seelsorgegesprächs so privat und
131 Vgl. insgesamt dazu A.SCHÖNE, außerdem A.LANGEN, Der Wortschatz des Pietismus, 1968. 132 1740 entfielen von der Produktion an Zeitschriften und Büchern 19% auf Erbauungsliteratur, 5,8% auf Schöngeistiges; bis 1800 hatte sich die Relation mehr als umgekehrt (R.ENGELSING, Der Bürger als Leser, 1974; 83). 133 Zur Entwicklung von bürgerlicher Freizeit im 18. Jahrhundert und ihrer Ausweitung auf alle gesellschaftlichen Gruppen im 20. Jahrhundert siehe W.NAHRSTEDT, Die Entstehung der Freizeit, 1972. 134 R.SENNETT, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, [1974], spricht darum von der „Tyrannei der Intimität" (Untertitel), die den öffentlichen Raum als Gegenüber zum privaten zerstört. 135 U.BECK, Risikogesellschaft, 1986; 116. 136 W.ZAPF, Individualisierung und Sicherheit, 1987; 18.
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zufällig geworden wie die daran beteiligten Personen? - Es scheinen sowohl Tendenzen der Uniformierung wie der Privatisierung wirksam zu sein. 137 Wie aber genau greifen sie im Gespräch ineinander?
„Seelsorge als G e s p r ä c h " - „Gespräch als Seelsorge" (zwei Titel von Fachbüchern zur Seelsorge 138 ).
1. 2. Professionalisiertes Gespräch als Thema der Seelsorgelehre Das moderne Seelsorgegespräch - so haben wir gesehen - erhält seinen Charakter aus jenen Prinzipien, die im Pietismus zum ersten Mal in der Christentumsgeschichte eine deutliche Gestalt finden: Synthese von urbaner Geselligkeit und christlicher Dialogik, Wahrheit in ausgezeichneter Weise im Gespräch, Gespräch als Raum privater Begegnung. Doch nicht nur der Charakter des Gesprächs selbst, auch die Reflexion über das Seelsorgegespräch hat eine spezifisch neuzeitliche Gestalt: sie wird professionalisiert. Uber das Seelsorgegespräch wird nun innerhalb eines eigenen Theoriezusammenhangs nachgedacht - es wird zum Thema der sich als wissenschaftliche Theorie organisierenden Praktischen Theologie. Von dieser professionellen Theorie noch einmal zu unterscheiden ist die Reflexion des konkreten Gesprächsverhaltens selbst, also die Professionalisierung der Gesprächsführung der Berufsträger. Ebenso wie das Gespräch selbst ist auch die kirchliche Institution der Seelsorge älter als ihre neuzeitliche Fassung. A n der Beziehung zwischen dem Phänomen Gespräch und dem Begriff der Seelsorge läßt sich der Wandel ablesen. Die Geschichte der Seelsorgelehre kann dabei einerseits als der theoretische Reflex auf historische Wandlungen der Gesprächskultur aufgefaßt werden, andererseits vollzieht sich die Reflexion als hermeneutische Bemühung um die Wiederentdeckung dessen, was biblische Vorbilder und theologische Prinzipien in sich enthalten. Beim Gang durch die Geschichte der Seelsorgelehre möchte ich, je näher wir zur Gegenwart gelangen, desto deutlicher die jeweiligen theologischen Entwürfe auf ihre Interpretationsleistungen hin kritisch befragen.
137 Dem entsprechen die gegensätzlichen Deutungen des Verhältnisses von Außenund Innenleitung in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. Während D.RIESMAN seine Zeitgenossen als „einsame Masse" darstellt und kulturkritisch einen Wandel von der innengeleiteten zur außengeleiteten Lebensweise diagnostizierte (Die einsame Masse, [1950]; 120ff.) hat R.SENNETT vehement die These vertreten, daß dem die Gegenwart kennzeichnenden Sog der Innenleitung durch „Tyrannei der Intimität" gegenüber neue öffentliche Ausdrucksweisen gepflegt werden müssen (18f. 424-428). 138
SCHARFENBERG [ 1 9 7 2 ] , u n d N I C O L .
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„Eine Geschichte der intimen Seelsorge kann nicht geschrieben werden, weil sie noch stärker der wesentlichen Quellen entbehrt als schon die Geschichte der Predigt."139 1.2.1. Die Entdeckung des Subjekts im Seelsorgegespräch (von der Alten Kirche zum Pietismus) Hinweise zur Entdeckung des Subjekts in der Seelsorge müssen sich an das halten, was sich indirekt von der Seelsorgepraxis in Begriffen, Vorstellungen und propagierten Handlungsmustern niederschlägt. a) ,Cura animarum' (zu deutsch: ,Seelensorge'; so etwa auch öfters noch bei Luther) - diesen Begriff hatte die frühe Kirche geschaffen; sie nahm damit die ,epimeleia tes psyches' (,Seelsorge' - Singular!) der griechischen Philosophen nach dem Vorbild des Sokrates auf und veränderte sie in bezeichnender Weise.140 Die Philosophie interessierte sich für die Integrität des einzelnen als innerlich unabhängigem Polisbürger (Plato) oder in seinem Leib-Seele-Gleichgewicht (Plutarch).141 Die Harmonie des großen Kosmos sollte sich im einzelnen abbilden. Die Kirche nahm den Begriff auf. Indem sie die Pluralformulierung wählte (früher und wirkungsvoller Beleg bei Gregor von Nazianz142), fügte sie ihn in ein Verständnis ein, wie sie es etwa in Hebr 13,17 ausgedrückt finden konnte: „Gehorcht euern Lehrern und folgt ihnen, denn sie wachen über eure Seelen und dafür müssen sie Rechenschaft ablegen." Darin ließ sich dann auch die Tradition von Christus als dem guten Hirten so integrieren, daß die christologischen Bilder auf das priesterliche Amt übertragen wurden. Insoweit konnte sich die kirchliche Fassung des Begriffs der Seelsorge auf wichtige biblische Traditionen berufen, aber durchaus nicht auf sämtliche.143 In den Evangelien und bei Paulus ist es selbstverständlich auch Aufgabe des einzelnen selbst, für seine Seele zu sorgen (z.B. Mt 6,33; 16,26; Rom 14,12; Phil 2,12). Paulus wünscht für seine Gemeinden: „Wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr selbst geistlich seid; und sieh auf dich selbst, daß du nicht versucht werdest" (Gal 6,1). Als mit Geist Betraute sollen und können Gemeindeglieder aneinander ,Seelsorge' ausüben; beide Seiten stehen in der Gefahr der Versuchung
139 O.HAENDLER, Grundriß der Praktischen Theologie, 1957; 371. 1 4 0 W.JETTER, c u r a a n i m a r u m , 1 9 8 6 , 4 1 3 - 4 2 0 ; 4 1 8 - 4 2 0 . 141 JETTER, 4 1 8 f . 1 4 2 JETTER, 4 2 0 .
143 Vgl. zur Seelsorge in der Alten Kirche: T.BONHOEFFER, Ursprung und Wesen der christlichen Seelsorge, 1985. Sein Resümee lautet: „Die Hoffnung, eine deutliche Traditionslinie eigentümlicher christlicher Seelsorgepraxis vom Neuen Testament in die alte Kirche hin nachzeichnen zu können, die für uns wegweisend sein könnte, wurde enttäuscht. Was die seelsorgerliche Praxis betrifft, bietet die alte Kirche das Bild des Zusammenfließens verschiedenster Traditionen" (155).
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und somit der ,Seelsorgebedürftigkeit'. Damit wird hier noch nicht schon einfach moderne Seelsorge getrieben. Die ,Diagnose' ist ganz unproblematisch als der Gemeinde selbstverständliche Feststellung von ,Verfehlung' gedacht, und die Bedeutsamkeit des individuellen Sinns von Handlungen liegt außerhalb des Horizonts. Dennoch: Hier ist die seelsorgerliche Gegenseitigkeit deutlich beschrieben.144 Doch diese Vorstellung hat ebensowenig wie die Betonung der Selbstverantwortlichkeit den kirchlichen Begriff der vorneuzeitlichen Seelsorge geprägt.145 Die paulinische Gemeindestruktur, auf die sie sich bezog, war vergangen. Schon im Epheserbrief verschob sich bei der gegenseitigen ,Seelsorge' der Blick auf seine Funktion im kirchlichen Gesamtorganismus (Eph 4,16). Seit den Pastoralbriefen gilt das förmliche Amt mit seiner Tradierungsaufgabe der guten Lehre als Garant von Gemeinde. Im Laufe der Jahrhunderte wurde daraus die Seelsorge als rechtlich-territorial fixierte Amtsaufgabe des Priesters gegenüber der gesamten Gemeinde: ,Sacerdos, curam animarum habens'. Das bedeutet im Rückblick eine folgenschwere „Veramtlichung": „Nur allzuleicht konnte und kann so die Amtspflicht zum Amtsprivileg werden und dieses zu einer undurchschauten Intimform geistlicher Machtausübung mißraten."146 Durch das ganze Mittelalter hindurch handelt kirchliche Seelsorge sehr wohl auch am einzelnen (cura animarum specialis), aber sie behandelte ihn dabei als Teil ihrer Fürsorge für das Ganze, nicht als Individuum. Gespräch ist dann ein Mittel unter vielen und für die Gesamtgestalt der Seelsorge unerheblich. 147
144 Das gilt so nicht von den Gesprächen, die von Jesus berichtet werden. Sie bieten nicht historische Gesprächprotokolle, sondern werden überliefert mit dem literarischen Zweck, Jesus als den Christus zu verkündigen. Sie belegen zugleich wohl auch missionarische Werbe- und apologetische Verteidigungsstrategien (des Urchristentums). 145 Zwar gibt es immer auch ein gewisses Maß an Aufgaben, die allen Christen zuerkannt werden; A . H A R D E L A N D (Geschichte der speciellen Seelsorge, 1898) führt sie unter dem Titel „Laienseelsorge" auf (208-234). Die Auffassung des Chrysostomus aber war schon zu seiner Zeit sehr ungewöhnlich und wurde dann in den folgenden Jahrhunderten nicht mehr beachtet: „Überlasst nicht alles Euern Lehrern und denen, die euch vorstehen, denn Ihr könnt Euch wechselseitig erbauen... Ihr könnt Euch untereinander mehr Gutes thun als wir Euch. Ihr verkehrt längere Zeit unter einander, Ihr kennt Eure Angelegenheiten besser und auch Eure Mängel, auch habt Ihr zu einander mehr Vertrauen und Liebe und steht in lebendigerem Umgang... Mehr als wir vermögt Ihr zu strafen und zu ermahnen. Und das nicht allein... ich bin nur Einer, Ihr seid Viele und Ihr alle könnt Lehrer sein" (hom 30 ad Hebr; zit. nach der Übersetzung bei H A R D E L A N D , 222). 146
JETTER, 4 2 0 .
147 Das gilt auch für das „Liber regulae pastoralis" Gregor des Großen, trotz T . O D E N S Versuch, es als Vorwegnahme („anticipation") der modernen Psychotherapie zu lesen (Care of souls in the classic tradition, 1984; 57-59). Die Anwendung der generellen Tugendlehre sowie ihres Prinzips der goldenen Mitte zwischen den vereinseitigenden Lastern (vgl. 76-114) als „contextual pastoral counseling" (76) zu bezeichnen, verdeckt die Differenzen zur Moderne. Bei Gregor geht es um admonitio (76); im Hinblick auf die Interaktionsform Gespräch wird nur darüber reflektiert, daß der Seelsorger das richtige Maß zwischen übertriebenem Reden und übertriebenem Schweigen findet (66f.).
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b) Die Reformation versteht den Glauben als ein Geschehen, das sich unvertretbar am jeweiligen Subjekt ereignet. Das verändert Begriff und Praxis der Beichte148 und weitet den Raum für individualisiertere Beratung in Glaubens- und Lebensfragen, wie sich etwa in Luthers Trostbriefen zeigt.149 Entsprechend intensiviert Luther die Rede von ,Seelsorge' als der Summe individuen- und situationszugewandten pastoralen Tuns.150 Doch das hat kaum Auswirkungen. Die altprotestantische Orthodoxie kennt als Formen der cura animarum specialis lediglich die Einzelbeichte, den Krankenbesuch und - vor allem, aber nicht ausschließlich in reformierten Gebieten151 - Hausvisitationen als Aufsichtsakte oder auch Privatadmonitionen als ersten Grad der Kirchenzucht.152 Diese alle lassen sich als Anwendung der allgemeinen Heilmittel (Wort Gottes und Sakramente sowie der Heiligung der Kirche) auf den einzelnen begreifen. Ein individuelles Verhältnis der Personen zueinander ist dazu nicht nötig. Daneben gibt es im 16. und 17. Jahrhundert das gerade auch für Laien gedachte Genre der Trostbüchlein. Sie enthalten eine Sammlung biblischer Sprüche, deren Kenntnis dann in Krisensituationen (besonders dem Sterben) helfen soll.153 Hier zeigt sich der gleiche Sachverhalt: Allgemeine biblische Loci sind anzuwenden; Seelsorge ist Katechetik durch Auswendiglernen. Der Uneinigkeit zwischen reformierten und lutherischen Theologen und unter den lutherischen Theologen selbst154, in welchem Ausmaß es zu den seelsorgerlichen Amtspflichten auch gehöre, aktiv in die Häuser und auf die einzelnen zuzugehen155, entsprechen Klagen von Pfarrern über zu große Parochien. 1661 hält Theophil Großgebauer 13 Prediger für 10 000 Gemeindeglieder für zu wenig.156 Pfarrer Winckler aus Hamburg macht 148
HARDELAND, 2 4 8 - 2 5 5 .
149 Z u Luther als Seelsorger vgl. HARDELAND, 256-270, und MENNECKE-HAUSTEIN.
R.PREUL (Die Bedeutung des Gewissensbegriffs für die Seelsorge, 1989, 71-83) arbeitet heraus, wie sich aus Luthers Gewissensbegriff das neue Verständnis von Seelsorge als Teilnahme des Seelsorgers am inneren Dialog im Gewissen des Gegenübers ergibt (81). 150 Vgl. G.EBELING, Luthers Gebrauch der Wortfamilie „Seelsorge", 1994, 7-44. 151 HARDELAND, 2 9 0 . 2 9 2 . 3 5 2 - 3 5 5 .
152 Vgl. insgesamt HARDELAND und K.SCHMERL, Die specielle Seelsorge in der lutherischen Kirche unter der Orthodoxie und dem Pietismus, 1893. 153 Vgl. dazu das bei J.A.STEIGER (Die Geschichts- und Theologie-Vergessenheit der heutigen Seelsorgelehre. Anlaß für einen Rückblick in den Schatz reformatorischer und orthodoxer Seelsorgeliteratur, 1993, 64-87; 70-87) dargebotene Material. Siehe außerdem V.LÄPPLE, Das Methodenproblem in der evangelischen Seelsorge, 1979, 15-35, der eine Skizze der Seelsorgegeschichte anhand der Rolle des Gewissens bietet. 154 Sie ergibt sich zunächst aus der Lehrdifferenz darüber, ob der Ort der vocatio specialis die Predigt sei (wie bei den Lutheranern) oder wie bei den Reformierten Predigt zur vocatio generalis gehöre und die vocatio specialis als innere Erleuchtung im Christen selbst stattfinde (D.RÖSSLER, Grundriß der Praktischen Theologie, [1986]; 184). 155 HARDELAND, 2 9 0 . 2 9 2 . 3 5 2 - 3 5 5 .
156 Wächterstimme. Aus dem verwüsteten Zion, nach HARDELAND, 386. 48
sich 1668 Sorgen, ob er rechter Pfarrer sein könne, wenn er über die Seelen in seiner Gemeinde vor Gottes Richtstuhl nicht Rechenschaft geben könne.157 Es zeigt sich darin einerseits ein gesteigertes Bedürfnis nach Optimierung der Anwendung des Allgemeinen auf individuelle Gegebenheiten; die reformierte Praxis wird auch in lutherischen Gebieten zunehmend plausibel.158 Andererseits rückt die Kenntnis individueller Gegebenheiten langsam zu einer eigenen Aufgabe des Pfarramtes auf. Paul Tarnow versteht 1623 das Bild der Gemeindeleitung durch den Hirten auch als Aufforderung, zu jeder Zeit und Gelegenheit Besuche durchzuführen. 159 Die fürstlich-hessisch-darmstädtische Kirchenordnung von 1631 schreibt die individuelle Kenntnis der Gemeindeglieder für den Pfarrer vor, auch Gesunde seien zu besuchen; sie fordert, große Gemeinden so zu unterteilen, daß jeder Pfarrer einen bestimmten Seelsorgebezirk erhält.160 Die theologische Fakultät Helmstedt hält es bereits im Jahre 1612 für möglich, daß Gemeindeglieder sich ihren Beichtvater aussuchen, wenn eine Parochie mehrere Pfarrer hat.161 Es ist also keineswegs so, daß die Orthodoxie ein seelsorgerliches Eingehen auf Individuen für überflüssig gehalten hat.162
157
HARDELAND, 3 5 9 .
158
HARDELAND, 3 5 1 - 3 5 5 .
159 De sacrosancto ministerio 11,22, nach HARDELAND, 390. 160 Nach SCHMERL, 53. 161
HARDELAND, 3 4 4 .
162 Als drastisches Beispiel dafür, daß nach Ansicht der Orthodoxie allein die Predigt für die cura specialis ausreiche, wird bis in die Gegenwart hin aus einem Gutachten der Fakultät Leipzig von 1668 zitiert. Auf die bereits oben erwähnte Anfrage des Pfarrers Winckler, der zuständig war (freilich nicht allein) für 30 000 Gemeindeglieder, findet sich im Antwortschreiben eine Passage mit dem Hinweis auf den Propheten Jona, der in Ninive vor 120 000 gepredigt habe. RÖSSLER (184) zitiert dies von E.ACHELIS (Lehrbuch der Praktischen Theologie, Bd.3, 1911; 21f., aus der 2. Aufl. von 1898 unverändert übernommen), dessen Darstellung ihrerseits auf K.SCHMERL (66f.) fußt, der A.THOLUCK zitiert (Das kirchliche Leben des siebzehnten Jahrhunderts, Bd.2, 1862; 102). Diese Darstellung hat aber HARDELAND bereits 1898 widerlegt. Selbst wenn man in Betracht zieht, daß Hardeland ebenso orthodoxiefreundlich ist wie Tholuck orthodoxiekritisch, muß doch seinem Nachweis gefolgt werden, daß jene Zitate aus dem Zusammenhang gerissen sind. Wincklers Anfrage betraf den grundsätzlicheren Sachverhalt, inwieweit der Pfarrer über die Seelenbeschaffenheit des einzelnen Auskunft geben können muß (358). Die Bedeutung von Seelsorge an einzelnen wird in der Antwort darauf ausdrücklich bestätigt (359). N u r sei Winckler, wenn äußere Gründe ihn an der völlig zufriedenstellenden Durchführung dieser Aufgabe hinderten, dennoch rechtmäßiger und wirklicher Pfarrer. Winckler seinerseits antwortet darauf, seine Bedenken richteten sich gegen die kirchliche Ordnung eines Titularpastorenamtes bei Ausführung der Einzelseelsorge durch andere Kräfte (vgl. 358f.). Im zweiten Responsorium fällt dann jenes Argument mit dem Verweis auf das Jonabuch, um die Möglichkeiten eines pastoralen Auftrags auch ohne Einzelseelsorge zu begründen (360).
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c) Die Begründung aber für die unverzichtbare Bedeutung der individuellen Begegnungsform von Pfarrer und einzelnen Gemeindegliedern liefert erst der Pietismus }bi Er nimmt die vereinzelt schon erhobenen Forderungen auf und macht sie allgemein vernehmbar. Er polemisiert gegen das Alleinpredigen und fordert Hausbesuche, die nicht obrigkeitlich als Visitation durchzuführen seien, sondern „zur gegenseitigen Ermunterung zum Lauf in der Frömmigkeit" 1 6 4 dienen. Der Seelsorger solle seine Gemeindeglieder „der Seelenbeschaffenheit nach kennen". 165 Die Formalisierung der Einzelbeichte wird problematisiert. Veit Ludwig Seckendorff stellt sich die Privatbeichte 1685 als „erbauliche Konversation" ohne Absolution vor. 166 Der einzelne als (neuzeitlich verstandenes) Subjekt in seiner individuellen Selbstentfaltung wird zum Gegenstand der Seelsorge. 167 Es gibt keinen Amtsbonus; auch Laien können diese Aufgabe übernehmen. Die religiöse Entwicklung des einzelnen gilt es zu befördern. Der heiligende Charakter der Einzelseelsorge wird erweitert auf das Gespräch in seiner Funktion für die Deutung der Biographie von Individuen. Religiöse Defekte - und welche Defekte sind nicht auch religiöse? - sind durch
163 Fast schon pietistisch klingen Instruktionen aus den Reformen unter Ernst dem Frommen von Gotha in den 1640er bis 1660er Jahren, die unter dem Einfluß Valentin Andreaes formuliert werden. Danach hat der Prediger „bei Zusammenkünften Anlass zu suchen, seine Zuhörer mit christlichem Gespräch zu erbauen und auf einen jeden genaue Aufsicht zu halten, wie er sein Christentum führe" (zit. nach HARDELAND, 374). Die Pfarrer sollen „bei Zusammenkünften Anlass suchen und nehmen, mit ihren Zuhörern christliche Gespräche von gottseligen Dingen und rechter Übung wahren Christentums anzustellen, hierdurch sie nicht allein zu erbauen, sondern auch ihnen Anleitung zu geben, welchermassen auch sie sich selbst unter einander auf solche Weise könnten christlich erbauen. Es muss aber bei Anstellung solcher gottseligen Gespräche eine christliche Vorsichtigkeit und gute Bescheidenheit gebrauchet und insonderheit verhütet werden, damit mit grossem Verdruss der Anwesenden solche Gespäche nicht zu weitläufig und lang fallen und alle andere ehrbare und ergötzliche Gespräche verhindern. Viel weniger sollen andere darinnen mit verdriesslichen Worten angegriffen oder sonsten fürwitzige und unerbauliche Dinge vorgebracht werden. Diese Anleitung zum gottseligen Gespräch ist auch in den Predigten zu geben und Anmahnung zu thun, dass die Eltern ihrer Schuldigkeit nach mit den Ihrigen zuhause gleichfalls solche gottselige Gespräche anzustellen hätten" (Ernestinische Verordnungen, das Kirchen und Schulwesen wie auch die christliche Disciplin betreffende, 1698; zit. nach HARDELAND, 375). 164
N a c h SCHMERL, 9 4 .
165 Spener 1681 in einem Schreiben an den Frankfurter Senat, zit. nach THOLUCK, 101. 166 Der Christenstaat, nach P.GRAFF, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen, Bd.l, 1937; 379, vgl. 376. 167 Vgl. RÖSSLER, 184f. In der Darstellung der Geschichte der Seelsorge hält C.I.NLTZSCH (Die praktische Theologe, Bd.3,1, 1857; 37) die Veränderung durch den Pietismus für eine „zweite Reformation".
50
Gespräch zu heilen. 168 Freilich, die Diagnose und die Erfolgsbewertung der Therapie bleiben dabei fest eingebunden in einen traditionellen bibelbezogenen Deuterahmen. Die Therapie besteht gerade darin, den einzelnen dazu zu bewegen, selbsttätig sich in diesen Deuterahmen einzufügen. Wenn die Aufklärung die pietistische Besuchspraxis relativ kritisch sieht, so deshalb, weil sie die Eigenständigkeit der Subjekte radikaler gewahrt wissen will. Der Seelsorger darf sich nicht aufdrängen und tritt in geselligen Zusammenkünften nicht als Lehrer des Amtes, sondern als Mensch unter Mitmenschen auf.169
„Alle Seelsorge knüpft sich ebenso an diese allgemeinen geselligen Verhältnisse als an den Cultus." 1 7 0
1.2.2. Der enzyklopädische Ort der Seelsorge und das kirchliche Interesse (Schleiermacher und das 19. Jahrhundert) a) Weder Aufklärung noch Pietismus entwickeln eine eigene Seelsorgetheorie. Sie hat zuerst im Rahmen des Konzepts einer Wissenschaft der Praktischen Theologie Friedrich Schleiermacher versucht zu formulieren und den Ertrag von Pietismus und Aufklärung in sie einzuholen. Mehrere Gesichtspunkte verbinden sich zu einem durchaus spannungsvollen Gebilde, auf das hier etwas genauer eingegangen werden soll. Zunächst zur einen Seite der Argumentation: Die Seelsorgetätigkeit wird eingebettet in denjenigen Ort sozialer Begegnung, an dem das gleichberechtigte freie Gespräch stattfindet. Kaum das Gesprächführen selbst, wohl aber die zu ihm gehörende soziale Situation sind in Schleiermachers Seelsorgetheorie ausgearbeitet. Es ist „die natürliche freie sittliche Geselligkeit der Menschen ..., aus der das kirchliche Verhältniß entsteht und sich darin erhält". 171 Auch das seelsorgerliche Handeln als eine der „geistlichen Functionen hat seinen Stüzpunkt" in dem „freien geselligen Verhalten", den „geselligen Verhältnissen" 172 . Insofern gilt: „Alle Seelsorge knüpft sich... an diese allgemeinen geselligen Verhältnisse" 173 . Daß Kirche sich sozial als 168 Während FAUSER die bürgerliche Fassung der Gesprächspraxis des Pietismus m.E. zu stark zurückdrängt (siehe 1.1.1. Anm.60), streicht er die Bedeutung pietistischer Gesprächskultur als Vorläufer der Psychotherapie mit um so kräftigeren Worten heraus: „Darin ist der eigentliche Beitrag des Pietismus zur Geschichte des Gesprächs zu sehen: die Pietisten entdecken die biblische Gesprächssituation neu, sie sehen darin die Technik der Befreiung, der Seelenheilung vorgebildet. Sie entdecken das Gespräch als therapeutische Methode" (140). 169 Belege bei HARDELAND, 483ff. 170 F.SCHLEIERMACHER, Praktische Theologie, 1850; 509. 171
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 5 1 9 .
173
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 5 0 9 .
172
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 5 0 9 .
51
„lebendiges Zusammensein" gestaltet, macht die Existenz von Einzelseelsorge überhaupt erst plausibel; in der traditionellen (orthodoxen) „trokkene[n]" These von dem Genügen öffentlicher Wirksamkeit ebenso wie in der (aufklärerischen) These der öffentlichen Kirche als „Anstalt des Staats", die den bürgerlichen privaten Freiraum nicht berühre, erscheint sie hingegen als überflüssig. 174 Dann aber kann die Seelsorge gerade nicht, was Schleiermacher als das katholische Modell vor Augen steht, als Pflicht des einzelnen und Recht des Priesters zur Seelsorge entfaltet werden. 175 Vielmehr muß sie ihren Grundbedingungen entsprechend als „ein frei eingegangenes Vertrauensverhältnis, nicht als ein Vormundschaftsverhältnis" beschrieben werden.176 Das Recht zur Aufnahme von Seelsorge wie zu deren Ablehnung haben die Laien - grundsätzlich erst einmal kein Recht dazu hingegen haben die Seelsorger, wiewohl es ihre Pflicht ist, dem Ersuchen um Seelsorge nachzukommen. 177 „Bei der Stellung welche wir in unserer Kirche haben daß jeder Christ sein eigener Priester sei, ist ein solches persönliches Verhältniß kein anderes als ein freundschaftliches, und das ist vollkommen Sache der Freiheit und gilt eben so von einem vorübergehenden Verhältniß als von einem beständigen." 178 Was bei Spener vorsichtig in der Bedeutung des Vertrauens für die spezifische Gegenseitigkeit des Gesprächs angedeutet war, wird hier zur Grundlegung von Seelsorge überhaupt.179 Nicht nur für die Anknüpfung, auch für das Ende der Seelsorgebeziehung180 und ebenso für das seelsorgerliche Handeln selbst gilt dieses Prinzip. „Sollen wir zurechtweisen, so müssen wir erst zurechtgewiesen werden, um ein Urtheil zu fällen, das gemeinschaftlich werden kann ,.."181 Insoweit orientiert sich Schleiermachers Ideal der Seelsorge am Leitbild des „mündigen Laien" 182 ; hier „braucht... nichts hierarchisches zu sein".183 Doch diese Beschreibung der seelsorgerlichen Beziehung ist nur die eine Seite der Sache. Daneben gibt es auch die „[a]ndere Deduction als Ergänzung des zu früh abgebrochenen katechetischen Geschäftes". 184 Sie aber ist es, die den theoretischen, den enzyklopädischen Zusammenhang mit den anderen kirchlichen Handlungsweisen herstellt. Dem Kultus als ,erbauen-
174 SCHLEIERMACHER 1850, 4 2 8 f .
175 SCHLEIERMACHER 1850, 4 2 9 f .
176 So die von F.WINTZER (Seelsorge, [1978b]; 6) formulierte Uberschrift für den A b d r u c k eines Abschnitts zur Seelsorge aus der Praktischen Theologie (SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 3 5 f f . ) . 177
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 2 8 - 4 3 1 .
178
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 3 5 .
179 Vgl. auch SCHLEIERMACHERS Ausführungen zur Bedeutung des Vertrauens in der Seelsorge (1850, 430. 438. 44lf.). 180
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 4 2 f .
1 8 1 SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 3 6 .
182
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 7 8 1 .
1 8 3 SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 8 2 1 .
184 SCHLEIERMACHER 1850, 821. Vgl. auch die doppelte Ableitung im M o t t o des A b s c h n i t t s 1.2.2.
52
de' und auf die gesamte Gemeinde gerichtete Tätigkeit stehen Katechetik und Seelsorge gegenüber als Regierende' Tätigkeiten am einzelnen. 185 Katechetik („Seelsorge im weiteren Sinn") bereitet auf die mündige Teilnahme am Kultus vor, Seelsorge („im engeren Sinne") bereitet nach, wenn der Kultus nicht ausgereicht hat. 186 Notwendigkeit der Einzelseelsorge liegt vor, wenn sie „sich mit den einzelnen beschäftigt, die aus der Identität mit dem Ganzen herausgefallen sind".187 Seelsorge legitimiert sich dann als Behebung von Mangelzuständen.188 Diese sind zwar einerseits Mängel an Individuen. 189 Deshalb kann die Seelsorgeaktion im Sinne des modernen Bildungsanspruchs als immer zeitlich begrenzte Erwachsenenbildung bis zur Überführung in Mündigkeit gesehen werden. 190 Andererseits müssen die Mängel um der Gesamtheit der Gemeinde willen bearbeitet werden. Der Seelsorger handelt insoweit zielgerichtet als Agent der Gemeinde und in ihrem Interesse. Was beim zunächst dargestellten Zugang zur Seelsorge aus dem Zusammenhang freier Geselligkeit als unstatthaft gegolten hatte, ist von dieser zweiten Argumentationslinie her dem Seelsorger erlaubt. Als „Träger und Leiter der öffentlichen Meinung ... muß er ein Recht haben sie auszusprechen". 191 Insoweit ein die Gesamtheit tangierender Mangelzustand vorliegt, hat der Geistliche gegenüber dem einzelnen „das Recht ihn darüber zur Rede zu stellen". 192 Allerdings wird diese Zweckorientierung der seelsorgerlichen Tätigkeit durch Kautelen, die sich aus dem Prinzip der persönlichen Freiheit ergeben193, begrenzt: Der so agierende Seelsorger hat dennoch keinerlei Autorität, den einzelnen zur Seelsorge zu verpflichten; er muß überprüfen, ob Aussicht auf Erfolg besteht oder sein Gewissen ihn auch wirklich dazu drängt.194 Nur dann sollte er aktiv werden. Auch die anderen Regeln zum Verfahren der Seelsorge bleiben in Kraft. Wie stellt sich dann das Verhältnis beider Argumentationslinien zueinander dar? 185 So die Begrifflichkeit in der .Kurzen Darstellung des theologischen Studiums' (F.SCHLEIERMACHER 1830, § 279). H.-J.BIRKNER (Schleiermachers christliche Sittenlehre, 1964; 109) hält Schleiermachers Gegenüber von .Symbolisieren' und .Organisieren' aus der Philosophischen Ethik für „in etwa" gleichbedeutend mit dem von .wirksamem' und .darstellendem' Handeln aus der christlichen Sittenlehre. Entsprechendes dürfte auch für die Begriffe aus der .Kurzen Darstellung' gelten. 186
SCHLEIERMACHER 1 8 3 0 , § 2 9 1 . 2 9 9 .
187
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 2 8 ; v g l . SCHLEIERMACHER 1 8 3 0 , § 2 9 0 .
188 SCHLEIERMACHER 1850, 430. 443ff. Vgl. SCHLEIERMACHER 1830, l.Aufl. § 17f. = S.87f. und 2.Aufl. § 112. 189
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 4 2 .
190
191
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 3 1 .
1 9 2 SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 3 1 f .
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 3 1 . 4 4 5 .
193 SCHLEIERMACHER 1830, § 303: Die „anordnende Tätigkeit ... in Beziehung auf die Sitte" ist „beschränkt ... durch die unabweisbaren Ansprüche der persönlichen Freiheit. ... die Leitenden müssen durch ihr eigenes persönliches Freiheitsgefühl zurückgehalten werden." 194
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 3 2 .
53
Auch in der Schleiermacher-Interpretation wird das Verhältnis als schwierig empfunden. Wenn nicht nur die eine oder andere Seite wahrgenommen wird, so bietet es sich an, die Gewichtung zeitlich aus verschiedenen Phasen der Theoriebildung bei Schleiermacher abzuleiten195 oder auf bestimmte Aufgabenkreise seelsorgerlichen Handelns zu verteilen.196 Ich will versuchen zu zeigen, daß beide Linien durchgängiges Charakteristikum der Seelsorgelehre Schleiermachers sind. Bei Schleiermacher finden sich mehrere Weisen, wie beide Argumentationslinien miteinander verknüpft werden. Schon die Rede vom „Verlust der Gleichheit" 197 in der,Kurzen Darstellung' verweist auf die zunächst vorausgesetzte Gleichheit. Wenn „die Gleichheit in der Wirklichkeit immer nur das Kleinste der Ungleichkeit ist" 198 , mithin relativ, dann wird auch die Ungleichheit als eine relative betrachtet werden müssen. Es handelt sich also dann um die Dialektik von schon vorauszusetzender Gleichheit aller Christen und faktischer kasueller Ungleichheit. In den Vorlesungen zur Praktischen Theologie ordnet Schleiermacher die Herstellung des Kontaktes durch den Seelsorger den ländlichen Verhältnissen, das allein vom einzelnen ausgehende Recht zum Kontakt dagegen den städtischen Verhältnissen zu.199 Städtische Sozialität beruht auf dem Prinzip der Mündigkeit der einzelnen Bürger. Demgegenüber erscheint die ländliche Sozialität mit ihrer Überlappung der sittlichen und der kirchlichen Gemeinschaft als der traditionelle Strang pastoraler Seelsorge. Freilich läßt sich nicht einfach nur ein Fortschrittsverhältnis postulieren. Schleiermacher rechnet jedenfalls auch mit der Möglichkeit städtischer Verhältnisse auf dem Land; und umgekehrt gilt: „Eben so kann mitten in einer großen Stadt unter einen Zusammenfluß von Umständen" sich dörfliche Sozialität neu bilden.200 Das Besondere und Moderne protestantischer Seelsorge liegt nach dieser Argumentation aber weiterhin darin, daß sie sich aus der Sozialform freier Geselligkeit ableitet. Doch nun besteht bei Schleiermacher zudem auch noch ein Schwanken hinsichtlich der enzyklopädischen Verortung dieser freien Geselligkeit. In der ,Christlichen Sitte' begegnet sie als die äußere Sphäre des darstellenden Handelns, deren innere Sphäre dann das kultische Handeln der Kirche ist. „Geselligkeit" stellt sich so als eine Art „weltliche Parallele zum Gottesdienst" 201 dar. Der „Gottesdienst im weiteren Sinne, oder Werkthätiger Gottesdienst" ist zu verstehen als das „darstellende Handeln, das nicht rein für sich hervortritt, sondern im wirksamen enthalten ist". 202 Weil aber hier
195
V g l . F.WLNTZER, E i n f ü h r u n g i n d i e w i s s e n s c h a f t s - u n d p r o b l e m g e s c h i c h t l i c h e n
F r a g e n der Seelsorge, [1978a], S . X I - L ; X I X . 196
54
V g l . RÖSSLER, 1 9 0 .
197
SCHLEIERMACHER 1 8 3 0 , § 3 0 1 , v g l . § 2 9 9 u n d SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 3 3 4 .
198
SCHLEIERMACHER 1 8 3 0 , § 2 9 9 .
199 SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 3 9 .
200
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 4 0 .
2 0 1 BIRKNER, 1 4 0 .
202
F.SCHLEIERMACHER, D i e c h r i s t l i c h e S i t t e , 1 8 4 3 ; 6 1 8 .
das „darstellende Handeln ... vom wirksamen materialiter nicht unterschieden"203 ist, wird man analog auch das Gegenüber der beiden Argumentationslinien entschärfen können: Es handelt sich bei ihnen dann um verschiedene theoretische perspektivische Rekonstruktionen des einen Sachverhalts. In der philosophischen Ethik' erscheint die Geselligkeit sogar als individuelles Organisieren', also als Typ wirksamen Handelns. 204 In der Regel ist bei Tätigkeiten ein eindeutiges Uberwiegen entweder des handlungs- und objektbezogenen und oder des verstehens- und subjektbezogenen Prinzips vorhanden. Auf die Seelsorge hingegen scheinen beide Prinzipien anwendbar zu sein. So rechnet Schleiermacher denn auch durchaus mit erbauenden Tätigkeiten in der Einzelseelsorge.205 Wenn dies aber so ist, warum hat dann Schleiermacher nicht die erbauliche Gesprächsform in der Darstellung der Seelsorge explizit entfaltet? Daß interaktive Gesprächsweisen im Blick sind, ist ja durchaus erkennbar, wenn etwa das,Raten' von hierarchischen Anweisungen oder manipulatorischer Rede deutlich abgesetzt wird: „Das Rathgeben kann nie etwas völlig bestimmtes sein ,.."206 „...die Persönlichkeit des andern muß frei gemacht und gesteigert werden." 207 Die ausgezeichnete hermeneutische Bedeutung des Gesprächs als Grundsituation, die doch Schleiermacher ,entdeckt' hatte208, wird dennoch ganz offensichtlich nicht in eine eigene Beschreibung der angemessenen Gesprächsweise umgesetzt. Das ist aber keine Nachlässigkeit oder Inkonsequenz, sondern Absicht: „Die erbauende Tätigkeit grenzt hier zu nahe an das gewöhnliche Gespräch, um einer besonderen Theorie zu bedürfen." 209 Für die Seelsorgelehre ist die Gesprächsweise demnach nicht theoriebedürftig oder auch nicht theoriewürdig. Würde nun die Seelsorge allein aus ihrem Kontext der Geselligkeit her entwickelt, geriete ihr Charakter als relativ eigenständige Theorie insgesamt in Gefahr. So stellt sich denn Schleiermacher die Frage: „Ist das ganze Verhältniß nicht von solcher Art daß auch die Thätigkeit der Organe ganz in die Form des geselligen Verkehres fällt, in eine solche die keine Theorie zuläßt?" „... die Thätigkeit fällt dann in das allgemeine Gebiet des christlichen Lebens, wofür es keine andere Theorie giebt als die in der christlichen Sittenlehre; ..,"210 Erst über die andere Argumentationslinie kann das Problem gelöst werden, wie Schleiermacher an dem Beispiel demonstriert, daß „der Geistliche (es) mit einem Verbrecher zu thun hat". 211 „Liegt die Sache nur so, daß er mit diesem ein Gespräch führen kann, oder so, daß er
203
BIRKNER, 1 1 7 .
204 F.SCHLEIERMACHER, Ethik, [1812/13] 2. Teil § 206ff. = S.310ff. 205
V g l . SCHLEIERMACHER 1 8 3 0 , § 3 0 1 u n d § 3 0 2 m i t § 2 6 9 ; SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 ,
509, zit. als Motto zu Abschnitt 1.2.2. 206
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 5 2 .
2 0 7 SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 4 5 3 .
208
Siehe I.I.2.C.
2 0 9 SCHLEIERMACHER 1 8 3 0 , § 3 0 2 .
210
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 3 3 9 .
211
Ebd.
55
zusammenhängende Reden halten kann nach der Analogie des Gottesdienstes, dabei aber auf das besondere Verhältniß Rükksicht zu nehmen hätte? ... Wenn wir das lezte für unstatthaft erklären: so giebt es keine besondere Theorie darüber; im anderen Fall ist eine Theorie möglich, und es fragt sich: wie modificirt sich die Theorie der allgemeinen Katechetik in dieser Beziehung?"212 Erst der Zusammenhang mit einem institutionell geformten Handlungsinteresse erlaubt es, Seelsorge als wissenschaftliche Theorie dieser Institution zu entwickeln. Einerseits geschieht die wissenschaftliche Verortung bei der Beziehung zur institutionellen kirchlichen Handlungsform wirksamen Typs, der Katechetik; andererseits verweist der Rekurs auf den Gottesdienst, wiewohl die katechetischen Elemente der Predigt im Blick sind, noch einmal auf den Zusammenhang mit dem erbaulichen Handlungstyp. Erst in der Wahrnehmung spezifisch kirchlicher Handlungsinteressen ergibt sich Seelsorge als vom Alltag abgrenzbare Verfahrensweise, die theoretisch darstellbar ist. Fassen wir zusammen: Einzelseelsorge läßt sich nach Schleiermacher weder allein aus dem geselligen Zusammenhang noch allein aus institutionellen Handlungsinteressen begreifen. Sie erhält ihre konkrete Gestalt aus beiden Quellen; zur für die Praktische Theologie notwendigen Theorie macht sie allein ihr institutioneller Charakter. Deshalb erübrigt sich eine Explikation des Gesprächs-Charakters, wiewohl dieser sich eindeutig aus der Verankerung im geselligen Verkehr ergibt. Der Alltag braucht keine Theorie, richtiger: keine praktisch-theologische Theorie. Schleiermacher bietet also eine professionelle Theorie der Seelsorge, in der auch das Gespräch seine implizite Bedeutung hat. Eine Professionalisierung der Gesprächsführung selbst hält er nicht für nötig. b) M. Nicol vertritt die Ansicht: „Überhaupt hat Schleiermacher zwar eine Theorie der Seelsorge, nicht aber eine Theorie des seelsorgerlichen Gesprächs entwickelt. Dieses Gespräch war bei ihm offenbar noch ganz Mittel zum poimenisch bestimmten Zweck."213 Damit geht Nicol zwar an den oben dargestellten Gründen für den Textbefund bei Schleiermacher vorbei. Seine These gibt aber durchaus die Rezeption der Texte in der Schleiermacherschule und der Seelsorgelehre des 19. Jahrhunderts wieder. Als die Seelsorgelehre sich als wissenschaftliches Teilgebiet der universitären Disziplin praktische Theologie' etabliert, nimmt man das durch die enzyklopädische Ordnung herausgestellte kirchlich-institutionelle Element der Seelsorgelehre ungleich stärker auf als den Aufweis der Seelsorge in ihrem bürgerlich-geselligen Alltagskontext. Seelsorge gerät zum Feld eines durchgehend zielgerichteten institutionellen Handelns.214 Das läßt sich bei Carl 212
SCHLEIERMACHER 1 8 5 0 , 3 3 9 f .
213
NICOL, 4 3 .
214 Zum Professionalisierungsschub in der Seelsorge des 19. Jahrhunderts vgl. R.SCHMIDT-ROST, Seelsorge zwischen A m t und Beruf, 1988; bes. 75f.
56
Immanuel Nitzsch' „Praktischer Theologie", dem wirkungsmächtigen Vorbild für praktisch-theologische Theoriedarstellung, greifen. Die „seelsorgerische Selbstbetätigung der Kirche" steht jetzt (im Jahr 1857) unter anderen historisch-politischen und kirchlichen Vorzeichen; sie erfolgt im „Zeitalter" der „Mission nach Außen und Innen". 215 Das, was in der Seelsorge „seine Darstellung in Rede und Gespräch" 216 findet, muß als „Individualisirung der Rede Gottes" 217 verstanden werden. Zur Kennzeichnung dieser Art von Gesprächsführung, die die Interessen der Predigt wahrnimmt, greift Nitzsch ganz konsequent auf das Handwerkszeug der Rhetorik zurück. Das seelsorgerliche Gespräch ist ein rhetorisches Produkt vom Typ ,,unvorbereitete[r]" Rede, die eine „zwanglose und doch nöthigende Ueberzeugung und Ueberführung" erreicht.218 Aus der Besinnung auf den personalen Charakter der Seelsorgebegegnung wird eine ausführliche Darstellung wirksamer Eigenschaften, die die „Momente der seelsorgerischen Persönlichkeit" 219 ausmachen. Die Dynamik der Seelsorgetheorie Schleiermachers ist nun als „Widerspruch von Folgsamkeit und Selbstständigkeit, von Autorität und Freilassung" gedeutet, der „gelöst" sei im Prinzip der „Väterlichkeit". 220 Ziel der Seelsorge ist die „freie, wahre Kirchlichkeit". 221 Seelsorge findet nach der gängigen Seelsorgelehre des 19. Jahrhunderts in der Art als Gespräch statt, daß es als Mittel für bestimmte Zwecke des Seelsorgers dient.222 Das Gesprächsverhalten wird insofern professionalisiert, als es rationell als Mittel zum Zweck eingesetzt wird. Diese Verzweckung des Gesprächs kann dann aber nach alltäglichen Mustern ablaufen, so daß in der weiteren Seelsorgelehre des 19. Jahrhunderts das Gespräch in der Regel gar nicht eigens thematisiert werden braucht. Nitzsch' rhetorische Gesprächs-Charakterisierung wird nicht weitergeführt. Die gesprächsmethodische Stelle bleibt unbesetzt, weil sie durch alltägliches Gesprächskönnen ausgefüllt ist.
215
NITZSCH, 7 5 .
2 1 6 NITZSCH, 1 3 1 .
217
NITZSCH, 1 6 9 .
2 1 8 NITZSCH, 1 3 4 f .
219
NITZSCH, 9 6 .
2 2 0 NITZSCH, 17f.
221
NITZSCH, 8 1 .
222 NICOL hat das für Christian Palmer aus der Mitte und Heinrich Köstlin am Ende des Jahrhunderts vorgeführt (139-141).
57
„Wesentlich für die Seelsorge ist, daß sie Gespräch ist."223 1.2.3. Professionalisiertes
Gespräch (20. Jahrhundert)
a) Erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wird die Seelsorgelehre erneut auf das Gespräch aufmerksam. Als neue Aufgabe ergibt sich jetzt, die Besonderheit des Seelsorgerlichen am Gespräch zu benennen. Theoretisch und praktisch soll Gespräch nicht nur dem Ziel der Institution Kirche entsprechen, sondern sich auch gegenüber anderen Gesprächsarten und Gesprächsinstitutionen ausweisen können. Nach Martin Schian (1922) bildet in der Seelsorge das Gespräch „fast immer die Einleitung zum persönlichen Verkehr".224 Anders als bei Schleiermacher, jedoch konform mit der herrschenden Seelsorgelehre des 19. Jahrhunderts, wird dieser Charakter des Gesprächs aber nun als Instrument zur Durchsetzung seelsorgerlicher Absichten entfaltet. Das Gespräch „muß den Weg zum gegenseitigen Vertrauen bahnen".225 Es ist „unter den einzelnen Mitteln der persönlichen Seelsorge das meistgebrauchte, weil das meist anwendbare".226 Die Spannung von beabsichtigter vertrauensbildender Maßnahme einerseits und der Zielgerichtetheit der Seelsorge andererseits führt in ein Dilemma: Der „Ubergang vom allgemeinen zum seelsorgerlichen Gespräch ist oft nicht leicht zu finden".227 Während der Ubergang für Schleiermacher selbstverständlich war228, stellt er jetzt ein gravierendes Problem dar. Darum wird es etwas anderes, wenn Schian, formal wie Schleiermacher, es bei dem Hinweis auf die individuelle Urteilskraft des Seelsorgers beläßt: „Führung und Dauer des Gesprächs hängen von den Umständen ab."229 Dies kann kaum ein Ausweg aus dem Dilemma sein. Welche Kriterien sind hinsichtlich der Umstände anzuwenden? Es bleibt zuletzt nur der bei solch zielorientiertem Handeln sehr unpräzise erscheinende Verweis auf die Alltagskompetenz. „Die Entscheidung muß das Taktgefühl geben."230 1930 erscheint Ernst Pfennigsdorfs „Praktische Theologie". Die Art, wie Pfennigsdorf sich Seelsorge positiv vorstellt, bewegt sich völlig im Rahmen der kirchlicheren Entwürfe des 19. Jahrhunderts. In der Seelsorge wird Gottes Wort an den einzelnen herangetragen. „Der wirksamste Weg dazu ist das Gespräch."231 Aber dieser traditionellen Darstellung hat Pfennigs223
H . ASMUSSEN, D i e S e e l s o r g e , 1 9 3 4 ; 1 9 .
224 M.SCHIAN, Grundriß der Praktischen Theologie, 1922; 286. 225
SCHIAN 1 9 2 2 , 2 8 6 .
226 M.SCHIAN, Grundriß der Praktischen Theologie, 2.Aufl. 1928; 280. 227
SCHIAN 1 9 2 2 , 2 8 7 .
228 Siehe das Motto am Anfang von 1.1.1. 229
SCHIAN 1 9 2 2 , 2 8 7 .
2 3 0 SCHIAN 1 9 2 2 , 2 8 7 .
231 E.PFENNIGSDORF, Praktische Theologie, 1930, 641.
58
dorf einen neuartigen und ausführlich entfalteten Gedankengang vorgeschaltet. Es handelt sich um einen „Vergleich mit den verschiedenen Formen und Auffassungen weltlicher Seelenpflege". 232 Und dies kennzeichnet nun die neue Situation des 20. Jahrhunderts. Psychotherapie einerseits und die „Seelenpflege des Wohlfahrtsstaates" 233 andererseits erscheinen als mit der Seelsorge konkurrierende Institutionen. Neue Berufsbilder sind entstanden. Seelsorgerliches Handeln verliert damit seine Selbstverständlichkeit. Es wird neu definierungsbedürftig. Professionelles Heilen durch Gespräch ist nicht mehr ein gleichsam natürliches Monopol der kirchlichen Institution. Soll diese die Gesprächstechniken der Psychoanalyse übernehmen? Worin liegt dann der Unterschied zu jener? Tut sie es nicht, dann müßte das Gesprächshandeln in der Seelsorge selbst in seiner institutionellen Besonderheit dargestellt werden. Die erste Möglichkeit, nämlich die Gesprächstechniken der Psychoanalyse zu übernehmen, hatte Oskar Pfister schon seit 1909 propagiert. 234 Dazu ist die Seelsorge deswegen berechtigt, weil das psychoanalytische Gespräch „nämlich gar nichts anderes [ist] als eine erstaunlich verfeinerte seelsorgerliche Methode, die wissenschaftliche Ausbildung eines Verfahrens, das die religiösen Seelsorger seit den ältesten Zeiten instinktiv oder bewusst, plumper oder feiner ausübten" 235 ; bereits „Jesus vertritt das Grundprinzip der Psychoanalyse". 236 Für die moderne Seelsorge hat Freud die „besonderen technischen Hilfsmittel" 237 bereitgestellt. Im Seelsorgegespräch werden psychoanalytische Deutungen benutzt; es hält sich an die psychoanalytische Gesprächsgrundregel der freien Assoziation. 238 Eine Abweichung besteht höchstens insoweit, als im Gegensatz zum Freudschen Setting mit der berühmten Couch Pfister die „natürliche Gesprächshaltung, bei welcher man jede Bewegung am besten übersieht", bevorzugt. 239 Seelsorgeforschung diskutiert den Gesprächsverlauf von Fallbeispielen. 240 Durch die Übernahme der Psychoanalyse wird Seelsorge professionell. Worin unterscheidet sie sich dann von Psychotherapie? Zum einen findet 2 3 2 PFENNIGSDORF, 590.
233 PFENNIGSDORF, 5 9 9 f f .
234 O.PFISTER, Ein Fall von psychoanalytischer Seelsorge und Seelenheilung, 1909, 1 0 8 - 1 1 4 . 1 3 9 - 1 4 9 . 1 7 5 - 1 8 9 ; O.PFISTER, D i e P s y c h o a n a l y s e als w i s s e n s c h a f t l i c h e s Prinz i p u n d s e e l s o r g e r l i c h e M e t h o d e , 1910, 6 6 - 7 3 . 1 0 2 - 1 1 3 . 1 3 7 - 1 4 6 . 1 9 0 - 2 0 0 .
235 PFISTER 1909, 109. Ähnlich O.PFISTER, Analytische Seelsorge, 1927; 20. 2 3 6 PFISTER 1927, 20.
2 3 7 PFISTER 1927, 24.
238 O.PFISTER, Die psychoanalytische Methode, 1913; 366. 239 PFISTER 1913, 377.
240 PFISTER 1909. Der Aufsatz besteht vor allem aus der kommentierten Darbietung des Verlaufs der Gespräche zur Behandlung einer Person. Vgl. zum Seelsorger als Feldforscher: PFISTER 1910, 199. Die jüngst erschienene Monographie zu Pfister gelangt denn auch entsprechend zu einem differenzierten Verständnis dieses Pioniers der Pastoralpsychologie über die erneuerte ausführliche Analyse seiner Fälle und Falldarstellungen (E.NASE, Oskar Pfisters analytische Seelsorge, 1993).
59
sie ihre Grenze an der höheren Professionalität der Psychoanalytiker: „Ueberhaupt betrachtet sich der analysierende Pfarrer nie als Nebenbuhler, sondern stets als Gehilfen des Mediziners, zu dem er bei gemeinsamer Behandlung eines Kranken eine ähnliche Stellung einnimmt wie der Badewärter oder Masseur. ... Es bleiben für den Seelsorger noch immer überaus viele Fälle übrig, um die sich der Arzt nicht kümmert, da das Pathologische im medizinischen Sinne von geringem Belang ist." 241 Zum anderen kennt auch die psychotherapeutisch verfahrende Seelsorge ein Zuordnungsverhältnis zu den traditionellen pastoralen Aufgaben. Sie versteht ihre Arbeit als ein „Pflügen", auf das hin danach das „Säen" erfolgen kann. 242 „Die Aufgabe der analytischen Seelsorge ist dann erfüllt, wenn der Analysand befähigt ist, die Heilswahrheiten frei vom Hindernis der Triebverklemmungen aufzunehmen." 243 „Dagegen wirkt die synthetische Seelsorge heilsam nach bei der Stellungnahme zu den analytisch erworbenen Deutungen."244 b) Leiht sich nach Pfister die Seelsorge ihre Professionalität von der Psychotherapie 245 , so wählt man in den folgenden Jahrzehnten überwiegend den anderen Weg. In den Kreisen der Lutherrenaissance und der Dialektischen Theologie versucht man, die Legitimität kirchlicher Seelsorge aus eigenen Gründen zu erheben. Das bedeutet: Der Gesprächs-Charakter wird theologisch bedeutsam. 246 M.W. erstmals formuliert Hans Asmussens Lehrbuch „Die Seelsorge" 1934 so prägnant: „Wesentlich für die Seelsorge ist, daß sie Gespräch ist." 247 Es gilt, das Ganze der Seelsorge neu zu bedenken.248 Der „gegenwärtige Stand der Seelsorge" 249 , gemeint: ihrer Praxis, ist Asmussen zu uneindeutig. Sie erscheint entweder wie behördliche Sozialarbeit250 oder wie gänzlich unprofessionelle „konventionelle Unterhaltung" im „harmlosen Unterhaltungston". 251 241
PFISTER 1 9 0 9 , 1 8 7 f .
2 4 2 PFISTER 1 9 2 7 , 1 4 1 .
243
PFISTER 1 9 2 7 , 1 3 9 .
2 4 4 PFISTER 1 9 2 7 , 1 4 0 .
245 Dies ist auf dem Hintergrund der allgemeinen Tendenz einer ,,wachsende(n) Orientierung der Seelsorger am Facharzt seit den frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts" zu sehen (R.SCHMIDT-ROST 92; vgl. 93-104). 246 Einen geistesgeschichtlich wichtigen Einfluß üben auch die Vertreter der Dialogphilosophie aus (vgl. 1.1.2. Anm.113). 247 ASMUSSEN, 19. „Seelsorge ist wirkliches Gespräch" (16). 248 „Ich beurteile die Lage ... so, daß wir scheinbar die einfachsten Dinge erst wieder ganz neu lernen müssen. Nichts an ihnen ist selbstverständlich" (ASMUSSEN, S. XIV). 249
ASMUSSEN, 1.
250 „Ist unsere Aufgabe damit erledigt, daß wir Unterstützungen verteilen?" (ASMUSSEN, 7). „Ich habe in Vorzimmern von Pastoren gesessen, welche nur eine Stunde Sprechstunde hatten, aber es saßen im Vorzimmer 20-30 Menschen. Ist das noch Seelsorge, was in diesen Sprechstunden getrieben wird?" (9). 251
60
ASMUSSEN, 12. 11.
Die Eindeutigkeit erreicht man über theologische Definitionen des „Wesens" der Seelsorge. Eduard Thurneysens Seelsorgelehre formuliert vierzehn Jahre nach Asmussen noch deutlicher den Gesprächs-Charakter: „... Seelsorge ... vollzieht (sich) in der Gestalt eines Gespräches. Und zwar ist diese Gestalt nicht etwas Zufälliges, sondern es macht geradezu das Wesen dieses Mittels aus, daß es Gespräch ist, in Gesprächsform sich vollzieht."252 Ihr Spezifikum erreicht die Seelsorge nach Thurneysen, indem sie sich der sie fundierenden christlich-biblischen Anthropologie bewußt wird. „Am Verständnis des Menschen ... fällt die Entscheidung über das Wesen der Seelsorge."253 Und so ergibt sich die ,Wesentlichkeit' des Gesprächs-Charakters der Seelsorge anthropologisch: Die gottesebenbildliche Sprachlichkeit und „Wortmächtigkeit" des Menschen254 sind dialogisch ausgelegt: „Man wird sagen dürfen, daß eigentlich alles Sprechen des Menschen seiner Urgestalt nach Gespräch ist."255 Thurneysen rekurriert dafür auf Adam Müller, möchte aber darüber hinaus den Gesprächs-Charakter in seiner spezifischen Theologizität fassen. Da ergibt sich die Gemeinschaft, zu der das seelsorgerliche Gespräch beide zusammenschließt, die radikale Gleichheit und Gegenseitigkeit, erst von Gott her.256 Allein coram Deo kann das, was das romantische Gesprächsideal erhoffte, Wirklichkeit werden. Erst Gottes Wort - materialiter die Botschaft der Vergebung der Sünden in Jesus Christus257 - macht Seelsorge zum eigentlichen Gespräch. So ergibt sich, daß „das Seelsorgegespräch, weil und insofern es dabei um die Ausrichtung des Wortes Gottes sich handelt, ein besonderes, vom profanen, natürlichen Sprechen unterschiedenes Reden ist."258 „... in der Kirche ... geht [es] um jenes Gespräch, das Gott führt, und in das er den Menschen hereinzieht."259 Es erscheint hier der Gesprächs-Charakter als untrennbar zugehörig zur Definition von Seelsorge. Wenn das ,Wesen' des Menschen so dialogisch und so gottbezogen verstanden wird, dann muß Seelsorge Gespräch sein, Gespräch unter der Führung Gottes versteht sich. Sündenvergebung bzw. Rechtfertigung ist nicht nur ein mögliches Thema eines Gesprächs, sondern vollzieht sich als personale, verbale Begegnung, ist Teil einer dialogischen Beziehung. Gespräch bedarf der interpretativen Aufdeckung ihres Horizontes, der Gottesbezogenheit. Thurneysen spricht vom „göttlichen Von-Vornherein"260 des Gesprächs.261 252 E.THURNEYSEN, Die Lehre von der Seelsorge, 1948; 88. 253
THURNEYSEN 1 9 4 8 , 5 9 .
255
THURNEYSEN 1 9 4 8 , 9 3 .
2 5 4 THURNEYSEN 1 9 4 8 , 9 0 f . 2 5 6 THURNEYSEN 1 9 4 8 , 9 4 - 9 6 .
257
THURNEYSEN 1 9 4 8 , 129ff.
2 5 8 THURNEYSEN 1 9 4 8 , 9 1 .
259
THURNEYSEN 1 9 4 8 , 9 3 .
2 6 0 THURNEYSEN 1 9 4 8 , 1 4 0 .
261 Was Thurneysen behauptend formuliert, begegnet später bei H.R.MÜLLERSCHWEFE (Die Stunde des Gesprächs, 1956; 17) als (rhetorische?) Frage: „Ist das Gespräch unter uns vielleicht nur unter der Voraussetzung möglich, daß wir ein Verhältnis zu Gott, dem Umgreifenden, schon haben?"
61
Die Definition der Seelsorge als ein derartiges Gespräch bietet angesichts vielfältigen professionellen Gesprächshandelns Orientierung und Legitimation für den Seelsorger. Seelsorgerliches Handeln wird für ihn selbst eindeutig, soweit es am theologisch formulierten Ideal ausgerichtet ist. Damit bekommt das Handeln selbst legitimatorischen Charakter. Indem der Seelsorger seine kirchliche Rolle als Verkündiger und Liturg interpretierend ausfüllt, nämlich als Gottes „Werkzeug" im Modus des „Nach-Sprechen[s]"262, verhält er sich eindeutig. Sich selbst so verstehen kann der Seelsorger nur, wenn er dafür sorgt, daß es zum „Bruch" im Gespräch kommt, wo durch ihn endlich das Wort Gottes explizit werden kann.263 „Da wird ... ein neuer Anfang gesetzt werden, den der Seelsorger bestimmt."264 Er übernimmt die „Führung"265, denn der „Bruch" ist „Zeichen" für die ,Heiligung' des profanen Gesprächs durch das Wort Gottes.266 Der Seelsorger wird darauf abzielen, die Form der „Beichte" zu erreichen267, wo liturgisch die Gemeinsamkeit aller Sünder vor Gott begangen wird. Alles andere Gesprächshandeln kann nur indirekt oder vorläufig Seelsorge sein, sei es als von ihr durchwirkter Alltag268, sei es als ihr vorgelagerte beratende „Seelenführung".269 Die Legitimationsleistung der theologischen Gesprächstheorie wandelt sich so zu etwas anderem: Sie wird zur Norm konkreter Handlungen. Weil an der (theologischen) Deutung die Legitimität des Handelns hängt und weil diese Legitimität erst als in actu vollzogene realisiert ist, wird aus der theologisch-interpretativen Präponderanz des göttlichen Handelns die praktische Präponderanz des Handelns des Seelsorgers. Aller Einsicht in das Wesen des Gesprächs als der Gemeinschaft der Gleichen (der Sünder vor Gott) zum Trotz entwickelt sich so unkontrolliert eine faktische Handlungsdominanz. Die Handlungen im Gespräch bleiben vom Seelsorger aus strengstens zielorientiert.270 Die Atmosphäre freier Geselligkeit, die Schleiermachers Seelsorgelehre schätzte, verfliegt damit vollends. Das 19. Jahrhundert stellte die Differenz der Interessen bei missionarischer Wer-
262
THURNEYSEN 1 9 4 8 , 9 2 .
263
ASMUSSEN, 1 7 ; THURNEYSEN 1 9 4 8 , 1 1 4 - 1 2 8 .
264
ASMUSSEN, 1 7 .
265 ASMUSSEN, 17. 25. Schon 1931 begegnet der Begriff der Führung, hier zur Kennzeichnung des Spezifischen der Seelsorge gegenüber der Psychologie (E.JAHN, Psychologie und Seelsorge, 217-230; 230): „Die Seelsorge soll Einfühlung sein. Aber sie soll mehr als nur Einfühlung sein. Sie soll Menschenführung sein ... Der Seelsorger soll die Seele verstehen, um sie führen zu können." 266
THURNEYSEN 1 9 4 8 , 9 9 .
267
THURNEYSEN 1 9 4 8 , 2 5 1 - 2 7 9 . ASMUSSEN, 2 1 7 - 2 2 9 .
268
THURNEYSEN 1 9 4 8 , 9 7 f .
269
ASMUSSEN, 4 3 - 7 9 .
270 NICOL über Thurneysen: als Höhepunkt des seelsorgerlichen Gesprächs tritt das Gebet in Konkurrenz zum Gesprächsgeschehen" (147).
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bung in Rechnung. Hier haben sich nun die,Fronten' verhärtet: es herrscht Krieg.271 Hier geht es nicht mehr um Kooperation, sondern um Macht und Sieg. „Ist dieser Ausgangspunkt gewonnen, dann wird der Seelsorger die Führung auch nicht wieder aus der Hand lassen. Er wird lieber das Gespräch abbrechen, als auf die Führung des Gespräches zu verzichten." 272 Anders als Asmussen betont Thurneysen die Notwendigkeit langer Phasen des Zuhörens und Verstehenwollens.273 Der eigentliche Dialog ist aber in den Seelsorger selbst verlegt, der dieses Hören mit dem Hören auf Gottes Wort verbindet.274 Für das Gesprächsverhalten selbst lassen sich „keine ins Einzelne gehenden Regeln aufstellen", wenn nur das göttliche Von-Vornherein sich im Gespräch auswirke wie „das Gefälle des Strombettes den ganzen Flußlauf bestimmt". 275 Dies Gefälle hat der Seelsorger im Gespräch vor seinem Gegenüber geltend zu machen: „Treten wir ihm ... mit dem göttlichen Von-Vornherein entgegen, ,.." 276 Der Preis für die Eindeutigkeit der Gesprächstheorie ist die faktische Abdrängung gesprächiger Praxis. Die Abgrenzungsleistung für die Seelsorge gegenüber anderen Gesprächsinstitutionen meint man nur so erreichen zu können, daß die Legitimationstheorie teils konkrete praktische Methoden überflüssig zu machen behauptet, teils die Leerstelle selbst unkontrolliert ausfüllt.277 Auch für Otto Haendler gilt 1957: „Seelsorge ist Gespräch"; doch werden daraus andere Konsequenzen als in der herrschenden Seelsorgelehre
271 Solchen Ton wenigstens schlagen die verwendeten Metaphern an: „Man kann sich, um ein Bild zu gebrauchen, bei solchen Gesprächen vorkommen wie auf Patrouille geschickt, und zwar weit hinaus in unbekanntes, ja feindliches Gebiet, weit weg von der gewohnten Heimatbasis" (THURNEYSEN 1948, 109; vgl. aber auch schon A.KÖSTLIN, Die Lehre von der Seelsorge, [1895]; 292, mit seiner Rede vom „Angriffspunkt"). Dort wird ein „Kampfgespräch" (THURNEYSEN 1948, 114) ausgetragen, der „Kampf um das Verständnis des Menschen" (59). Bei ASMUSSEN kann sogar der Gesprächs-Charakter selbst dann als Kampfmittel einkalkuliert werden: „...in der Seelsorge kann und muß der Hörer auch reden. Er muß sich verraten, weil er reden muß" (16). „Er soll sich Angriffsflächen geben! Er muß in seinen Worten - nicht gefangen - sondern verhaftet werden. Das ist eine offene, männliche Sache" (19). 2 7 2 ASMUSSEN, 17.
2 7 3 THURNEYSEN 1948, l l l f .
274 Ebd.
2 7 5 THURNEYSEN 1 9 4 8 , 139.
276
THURNEYSEN 1948, 140.
277 NICOL hält es für vorbildlich, daß bei Thurneysen das Gesprächsgeschehen „durchgehend und notwendig theologisch qualifiziert" sei (145). Ob wirklich das Gespräch „in allen seinen Momenten" schon bei Thurneysen theologisch qualifiziert ist, läßt Nicol offen; jedenfalls leite Thurneysen dazu an, dies zu tun. Die Notwendigkeit der theologischen Qualifikation bedeute, daß allein und unersetzbar die theologische Sprache das Geschehen im seelsorgerlichen Gespräch „angemessen zur Sprache" bringe (145). Doch eine derartige Feststellung bleibt unklar: Sind also andere Gesprächstheorien dann prinzipiell unangemessen? Gilt diese Angemessenheit nur für das Seelsorgegespräch und für andere Gespräche nicht?
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seiner Zeit gezogen, wenn er fortfährt: „und damit die ungebundenste und an Möglichkeiten des Verlaufs reichste Form der Verkündigung". 278 Obwohl er sich der traditionellen Verankerung der Seelsorge im Begriff der Verkündigung anschließt, liegt für ihn eine deutliche Differenz zur Predigt darin, daß der Pfarrer „in der Seelsorge dagegen völlig auf das Gespräch angewiesen ist, von dem er weder Anfang, noch Verlauf, noch Schluß vorher wissen oder bestimmen kann". 279 Die Zielbestimmung von Seelsorge muß darum im Sinne einer „Strukturtheologie der Kirche" 280 offener beschrieben werden als normiert „durch die fruchtbare Spannung ihrer beider Prinzipien, der Wahrheit und der Liebe", was „wiederum eine Unendlichkeit von Möglichkeiten in sich birgt". 281 Seelsorge vollzieht den Weg „von Freiheit zu Freiheit". 282 c) Im Umkreis der Dialektischen Theologie versuchte man das Legitimierungsproblem durch theoretische Vereindeutigung zu lösen. Während Haendlers Plädoyer für eine andere, eine offenere Seelsorgetheorie hinsichtlich der „Durchführung des Einzelgesprächs" einen „Verzicht auf prinzipielle Gestaltung der Seelsorge" für „gerechtfertigt" hält 283 , geht es der ,Seelsorgebewegung' seit den sechziger Jahren gerade darum, zu einer Professionalisierung der Methoden der Gesprächsführung zu kommen. 284 Auch hier nimmt man „die Tatsache, daß die Seelsorge ihre Monopolstellung heute völlig zu verlieren droht und sich einer vielfältigen und vielgestaltigen säkularen Konkurrenz ausgesetzt sieht" 285 , wahr. Damit steht „die Praxis" „unter äußerem Druck"; der hohe Anspruch, den die Seelsorgetheorie der Dialektischen Theologie erhebt, verschärft nur das Problem: Es „hält der Seelsorger meistens Antworten auf Fragen bereit, die gar nicht gestellt werden." „Theorie und Praxis brechen auseinander". Die Seelsorgebewegung reagiert darauf als eine Praxis- und Ausbildungsbewegung. 286 Ihr
278
HAENDLER, 3 6 9 .
279
280
HAENDLER, 3 7 1 .
281
HAENDLER, 3 0 9 . HAENDLER, 3 6 9 .
282
HAENDLER, 3 7 0 .
283
HAENDLER, 3 0 9 .
284 Man weiß sich am „Anbruch eines außerordentlich methodenbewußten Zeitalters" (J.SCHARFENBERG, Zur Einführung, 1979b, 7 - 8 ; 7). Schon E.MÜLLER (Die Kunst der Gesprächsführung, 1954) plädiert, obwohl auch er meint, daß das Gespräch „wie jede wirkliche Kunst mehr Begnadung als Technik sei", in Abgrenzung von Thurneysen dafür, „primitive Kunstfehler" nicht zu entschuldigen, sondern ihnen mit einer „Technik der Gesprächsführung" aufzuhelfen (15f.). Im Blick hat Müller dabei die Gruppendiskussion und will die „amerikanische Gesprächskunst" des „Erfahrungsaustauschs" mit der europäischen des Ausgehens von „Grundsatzfragen" verbinden (20; vgl. 16-21). A.D.MÜLLER (Grundriß der Praktischen Theologie, 1954; 322) fordert eine „gründliche Gesprächsschulung" in Analogie zur Ausbildung für Unterricht und Predigt. 285 J. SCHARFENBERG [1972], 9f.; ebenso die folgenden Zitate. 286 Der Beginn liegt in einem klinischen Praktikum von vier Studenten unter der Supervision des Pfarrers Anton T.Boisen im Jahre 1925 in den USA. Ökumenische
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sekundiert dann auch die Seelsorgeliteratur. Die in der Gesprächstherapie gewonnenen praktischen Methoden sind zu übernehmen, nur so ist Seelsorge als professionelle Handlung legitimierbar. Das bedeutet dann im einzelnen je nach bevorzugter Gesprächsmethodik Unterschiedliches. Auf jeden Fall jedoch soll „die Sprachstruktur des Gespräches selber ernst" genommen werden; jener „bisher so schwer mißachteten, besonderen Struktur des Gespräches" gilt die Aufmerksamkeit. 287 Theoretisch legitimiert wird dies durch den Verweis auf die Gegenwart als „dialogische[s] Zeitalter", auf den in der modernen Gesellschaft entstehenden „Zwang zum Gespräch". 288 Kriterium des Gesprächs ist ein sowohl theologisch wie psychologisch gedachter Begriff von Freiheit (Scharfenberg)289 oder die sowohl psychologisch wie theologisch gedachte Rede von Annahme (Stollberg).290 In der Gesprächsmethodik impliziert dies als praktisches Ziel: Die Eigenaktivität der Klienten ist zu stärken. Deren Themen sind Gegenstand der Seelsorge. Deren Handlungskompetenz gilt es zu erweitern. Seelsorge verhilft den Klienten dazu, die ,Lösung' selbst zu finden, indem sie sie konsequent in einem Raum der Freiheit, der Annahme anspricht. Im Gesprächsverhalten selbst wird die Erfahrung von Annahme, von Freiheit wirklich, also das, was liturgisch die Beichte einmal darstellte. Zumindest für die Seelsorger und Seelsorgerinnen ist das offensichtlich, wenn auch ihr Gegenüber es oft nicht weiß. Die theologische Qualifizierung der Seelsorge hatte die Dialektische Theologie in einer direktiv durchgeführten und explizit zugesagten, aber damit gesprächsfeindlichen Art geltend gemacht. In der Seelsorgebewegung wird sie zum professionellen Spezialwissen des Pfarrers. In dieser Seelsorge sind nach dem Ideal psychotherapeutischer Gesprächsführung Übertragungen und Verdrängtes bewußt zu machen. Insoweit muß das Spezialwissen des Pfarrers, sein allgemeines formales psychologisches Deutungsrepertoire in gemeinsam erarbeitetes Wissen übergehen. Denn sonst ist die helfende Gesprächsführung unmittelbar in Gefahr, und das heißt, der Anspruch auf Professionalität kann nicht länger aufrechterhalten werden. Für das theologische Spezialwissen gilt das so nicht. O b es eingebracht wird, entscheidet nicht über den Gesprächs-Charakter des Gesprächs. Es kommt nur hinzu als die private Färbung durch die religiöse Persönlichkeit des Pfarrers oder als institutionelle Färbung durch den ,Raum der Kirche', in dem das Gespräch stattfindet.
Stipendiaten brachten die Bewegung dann nach Deutschland (vgl. D.STOLLBERG, Art. Clinical Pastoral Training, 1981, 123-125; 123f.) 287
SCHARFENBERG [ 1 9 7 2 ] , 10.
288
SCHARFENBERG [ 1 9 7 2 ] , 13.
289 Vgl. SCHARFENBERG [1972], 25 sowie 12. 42. 62f. 290 D.STOLLBERG, Wahrnehmen und Annehmen, 1978; 46. 105f. 152.
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Damit wird das therapeutische Deutungsensemble zur Norm, die entscheidet, was Seelsorge ist oder nicht. N u r solche Gespräche, die sich mit ihm erfassen lassen, nämlich als Gespräche über Konflikte und deren Beseitigung, sind für die Seelsorge interessant - eben die therapeutischen Gespräche.291 War der Preis der theologischen Vereindeutigung eine Entprofessionalisierung der Seelsorge und eine Eingrenzung auf explizit religiöse Thematik behandelnde Gespräche, so scheint umgekehrt der Preis der Professionalisierung die Ununterscheidbarkeit der Seelsorge von anderen therapeutischen Gesprächen zur Folge zu haben und eine Eingrenzung auf therapeutisches Gesprächshandeln. d) Martin Nicols schon mehrfach angesprochene Monographie „Gespräch als Seelsorge" widmet sich gezielt der Frage des Gesprächs-Charakters der Seelsorge. Sie möchte klären, „ob Seelsorge überhaupt als Gespräch ... entworfen werden" 292 kann. Bei den beiden Konzeptionen der Seelsorge als Verkündigung wie als Therapie arbeitet Nicol sowohl Bemühungen um den Gesprächs-Charakter wie auch deutliche Defizite heraus. Beiden Ansätzen gemeinsam ist die Zielgerichtetheit des Seelsorgegesprächs. Gerade darin sieht Nicol das Problem. Gegen solche Verzweckung möchte er das seelsorgerliche Gespräch als „existentielles Gespräch im Deutehorizont des christlichen Glaubens" 293 definiert wissen. Gelingt diese Kombination von kultureller Zeitgenossenschaft und theologischem Profil? „Existentielles Gespräch" meint nach Nicol ein erfahrungsorientiertes Sprechen, das das, was das Leben der Gesprächsteilnehmer innerlich betrifft, zum Gegenstand hat und die Beteiligten gemeinsam in den Bann zieht.294 Alle entscheidenden von Nicol aufgeführten Charakteristika des Seelsorgegesprächs ergeben sich eigentlich schon aus diesem seinem exi-
291 Daß die „partnerzentrierte Gesprächsführung" mit ihrer Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte (VEE) durchaus nicht immer angewendet werden kann, hat A.J.HAMMERS (Gesprächspsychotherapeutisch orientierte Seelsorge, 1979, 83-101) trotz seines „engagierten Plädoyers für diese Art von Seelsorge" deutlicher als viele andere betont: „Die Seelsorge in den Pfarreien geschieht zu einem guten Teil bei Gelegenheitskontakten nach den Gottesdiensten, auf der Straße oder bei sonstigen Anlässen." Hier müsse der Seelsorger „nach der Abklärung der Problemlage auch Lösungsansätze von sich aus aktiv einbringten]" (100)· I s t e r nicht ausreichend geschult, „wirkt es eher peinlich, wenn der Seelsorger mühsam weiterverbalisiert, nur um die Gesprächstechnik durchzuhalten. VEE als durchgängige Gesprächsaktion ist schließlich vollends fehl am Platze bei gemütlichen und spielerischen Kontakten sowie bei rein sachlichen Problemen" (101). Es folgt ein Beispiel davon, wie eine Seelsorge ausübende Person unangemessen die Methode des ,Spiegeins' verwendet, als jemand telephonisch bei ihr eine Adresse erfragen wollte: „Sie sind ein bißchen ratlos." - „Das schon, aber das könnte sich schnell ändern, wenn Sie mal endlich in Ihre Schublade greifen würden!" (101). 292
NICOL, 157.
2 9 4 NICOL, 13.
66
293 NICOL, 162.
stentiellen Charakter: Es verhält sich nach dem Paradigma eines Gesprächs unter Freunden. Ungleichgewichtigkeiten sind okkasionell möglich (etwa durch den Amtscharakter des Seelsorgers oder durch die Professionalität der Gesprächsführung), dürfen aber gerade nicht den Gesprächs-Charakter grundsätzlich verändern.295 Es handelt sich um ein zweckfreies Gespräch. Es besteht nur eine ziemlich lockere Handlungsbezogenheit des Seelsorgegesprächs; das macht seine „Widerständigkeit" gegenüber kirchlichen Strategien aus296, gegenüber der „Austeilungsstruktur von Seelsorge"297 überhaupt. Primär gehe es hier um „Wahrnehmung", um ein „existentielles Sicheinlassen".298 Als „existentielles Gespräch" wird damit das Gespräch in der Seelsorge in den weiten Raum einer Gesprächskultur gestellt mit der Hoffnung, daß „dabei die Grenzen zwischen kirchlicher Seelsorge und Kultur fließend würden".299 Selbstverständlich muß einer „angemessenen Einbeziehung eines psychologischen Deutehorizonts" 300 Rechnung getragen werden. Ideal solcher Kulturverbundenheit ist die auf religiöse Grundierungen durchsichtige Gesprächsdeutung der Romantik, bei der sich die „Achtung des Gesprächsgeschehens selbst als eines Ortes von Glaubenserfahrung" lernen lasse. Andererseits geht es um die „Notwendigkeit einer durchgehenden und nichtkonvertiblen theologischen Wahrnehmung des Gesprächsgeschehens". Sein spezifisches Profil erhält das Gespräch durch seine „christliche Deutung". Was aber heißt hier „Deutung"? Wie ist sichergestellt, daß sie nicht doch vom Seelsorger in das Gespräch eingetragen und in ungesprächiger Weise durchgesetzt wird? Nicol bemüht sich darum, dieser Konsequenz durch eine Reihe von Bestimmungen zu entgehen. Ich möchte sie kritisch überprüfen: 1. Die Gegenseitigkeit im Gespräch wird gewährleistet durch ein ausreichendes Maß an Gemeinsamkeit. Ein existentielles Gespräch wie unter Freunden setze sie voraus; diese sei in der klassischen seelsorgerlichen Situation zwar weniger durch gemeinsame Vergangenheit gegeben, aber bestehe im gemeinsamen Ziel, „existentiell teilzuhaben an dem ... Gesprächsgeschehen".301 Das Ziel liegt „im Vollzug" selbst. Das Gespräch ist also partnerschaftlich deshalb, weil es das ist, als das es definiert wurde - ein existentielles Gespräch. Das Argument besteht also aus einem Zirkelschluß. Seelsorgegespräch ist dann gegenseitig, wenn und weil es existentiell ist. Der Begriff des existentiellen Gesprächs steht hier für das ,eigentliche' Gespräch, für die Idee von dem, was Gespräch sein sollte. Gespräch ist partnerschaftlich, wenn es dem Ideal entspricht. Aber wer kontrolliert 295
NICOL, 162f.
296
NICOL, 180.
297
NICOL, 178.
298
NICOL, 182.
299
NICOL, 183.
300
NICOL, 157;
301
NICOL, 164;
dort auch die folgenden Zitate. ebenso das folgende Zitat.
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diese ,Deutung' des Wesens des Gesprächs? Müßte sie nicht auch in einem dialogischen Verfahren geprüft werden? Gibt es dann überhaupt Anhalte in der Wirklichkeit für eine solche Abgrenzung des existentiellen Gesprächs' als des eigentlichen und idealen Gesprächs? Dazu wird eine Rückkoppelung zum alltäglichen Phänomen des Gesprächs nötig sein (siehe 1.3.). Letztlich entscheiden die Gesprächspartner selber darüber, ob es so etwas wie existentielles Gespräch' als abgrenzbare Gestalt gibt. Nicols Festsetzung ist eben eine Deutung dieses Autors, die mit Berufung auf andere Autoren nachträglich zum tatsächlichen Gespräch erhoben wird. 2. Die christliche Deutung ist für Nicol auch deshalb echte Gesprächsdeutung, weil sie in den „traditionell seelsorgerlichen Situationen" doch schon immer von beiden Seiten vorausgesetzt sei: Der Seelsorger „nimmt das Gespräch wahr im Deutehorizont des christlichen Glaubens, während der andere diesen Deutehorizont, wie vage oder problematisch auch immer, bei ihm voraussetzt". 302 In der Tat läßt sich so der institutionelle Rahmen der Gesprächssituation beschreiben. Kennzeichnend ist aber nun doch, daß das Gespräch eine eigene Dynamik hat und eine eigene Welt bildet, innerhalb derer diese Voraussetzung auch revoziert werden kann. Was einmal für den Ausgangspunkt des Gesprächs galt, kann im Gespräch verloren gehen. Man plaudert mit dem Seelsorger als Freund, streitet mit ihm als Kombattanten. Dann kann die beiderseitige Christlichkeit aber nicht mehr als Fundament für eine durchgehende Deutung des Gesprächs herhalten. Fragen ließe sich auch, ob nicht die Differenz etwa zwischen dem definiten und dem vagen Deutehorizont für die Dialogik im Gespräch der viel beachtenswertere, weil viel kritischere Punkt ist. Der Begriff der Deutung macht also Voraussetzungen, die von der anderen Seite nicht unbedingt geteilt werden müssen. Es wird dann unumgänglich sein, die andere Seite mit ihren differierenden Deutungen gezielt in den Blick zu bekommen. 3. Nun ist es durchaus auch Nicols Intention, nicht ontologisch einen gemeinsamen Deutehorizont jenseits des Gesprächs selbst zu postulieren, aus dem das Gegenüber im konkreten Gespräch nicht mehr herauskommt. Je für den Einzelfall müsse das Deuten durchgeführt werden.303 „Die Fragestellung für den ,Seelsorger' wäre zunächst keineswegs die, wie eine solche andersartige Deutung in Richtung auf die eigene Sicht zu beeinflussen sei oder wie er, der ,Seelsorger', sie wenigstens insgeheim entsprechend umdeuten könne, sondern die, wie er selbst in seinem Deutehorizont mit der Deutung des anderen umzugehen habe." 304 Allerdings, was folgt dann auf das „zunächst"? Daß der Seelsorger für sich deuten kann, darüber wollte Nicol doch gerade hinausgehen. 302 NICOL, 165. 304 NICOL, 175.
68
303 NICOL, 175.
4. Wie also ist damit umzugehen, daß verschiedene Deutungen aufeinander treffen, etwa eine theologische und eine psychologische Aussage? Nicol meint: „Auf der Ebene wissenschaftlichen Sprechens sind die beiden Sätze konvertibel, insofern sie ... als zwei intentional verschiedene, aber doch auf dasselbe Phänomen bezogene Deutungen erscheinen. Auf der Ebene existentiellen Sprechens jedoch stehen mit den beiden Sätzen zwei verschiedene Erfahrungen und damit letztlich zwei Phänomene in Rede. Insofern das Phänomen entweder so oder so erfahren wird, sind die Sätze nicht konvertibel." 305 Das bedeutet aber: Bei den Deutungen gibt es im Gespräch selbst nur ein Entweder-Oder. N u r dann, wenn ein bestimmter Deutungstyp den Horizont bildet, kann das Gespräch als Seelsorge bezeichnet werden. Die vier Argumentationslinien Nicols können also nicht plausibel machen, wieso nach seiner Theorie das Deuten nicht in das Gespräch eingetragen und dort durchgesetzt wird. Der Versuch der Synthese führt auch nicht aus dem Dilemma zwischen Vereindeutigung durch Entprofessionalisierung des Handelns oder Nicht-Vereindeutigung durch Professionalisierung des Handelns hinaus. Der Entwurf Nicols gestaltet sich als eine Hermeneutik des professionellen Handelns, die dieses von ihrem Gesprächstyp des existentiellen Gesprächs her versteht. Er führt dies durch mit einer Reinterpretation dessen, was Klinische Seelsorgeausbildung tut. Nicht mehr professionelle Schulung zu effektiver Beratung bietet das Leitmotiv; der Begriff der Ausbildung wandelt seine Bedeutung, wenn er nun für „Ausbildung der Sprache" 306 hergenommen wird. Die Seelsorgebewegung war in der Analyse der Protokolle am Seelsorger interessiert, um über diesen Umweg die Gesprächspraxis zu erreichen. Bei Nicol dagegen wird Seelsorgeausbildung zu einem hermeneutischen Verfahren, und zwar einem solchen, dessen Gegenstand das eigene Ich ist: „Zwar sind m.E. Verbatims nicht gänzlich abzulehnen, aber sie könnten in Gespräch b [das Supervisionsgespräch] einem Sprechen über die Gesprächssituation a [das durchgeführte Seelsorgegespräch] weichen, in dem vornehmlich das Erleben des Seelsorgers als Erfahrung zur Sprache gebracht wird und in dem mithin der Verlauf von Gespräch a im einzelnen in den Hintergrund tritt. Leitfrage im Gespräch b wäre nicht mehr: ,Wie habe ich mich in Gespräch a verhalten?', sondern: ,Was habe ich in Gespräch a erlebt und erfahren?'" 307
Damit wird die Gesprächsbetrachtung der Auszubildenden weiter entfunktionalisiert. Die Konfliktbewältigung für andere gerät zur Lebensdeutung für sich selbst. Das Deuten - hier anders als in der Seelsorgebewegung eines mit durchgängig theologischen Figuren - wird ebenso wie im Ge-
3 0 5 NICOL, 168.
3 0 6 NICOL, 170.
307 NICOL, 172 Anm.55.
69
spräch selbst so auch in der Seelsorgeausbildung zur Deutung im (christlichen) Horizont allein des Seelsorgers. Damit stehen wir vor dem gleichen Problem wie die Seelsorgebewegung. Wie gerät das Gespräch über die Privatisierung des Christlichen im Subjekt des kirchlichen Professionellen hinaus? Zu dieser Frage kann Nicol nichts Genaues sagen; es bleibt nur dies, daß die christliche Deutung durchgehend sein müßte und gemeinsam geschehen müßte. Wie dies geschieht, ob dies beides zugleich tatsächlich möglich ist, bleibt genauso ungeklärt wie bei Thurneysen, der ebenfalls das Gespräch gewollt hatte und zugleich die Durchsetzung einer bestimmten Deutung forderte. Nicols Arbeit hat das Problembewußtsein weiter verschärfen können. Sein Ausgleichsversuch aber bringt letztlich nicht weiter. Die einfache Synthese durch Rückzug auf die existentielle Dimension erweist sich als Sackgasse: Auch im idealen Gespräch tauchen die altbekannten Probleme wieder auf. Der Ausweg müßte genau in der entgegengesetzten Richtung zu suchen sein. Nicht eine Vereindeutigung des Gesprächs auf das eigentliche Gespräch hin, sondern gerade die Wahrnehmung der unabgegrenzten Vielfalt der Situationen ist zu beachten. Nicht der Professionalisierung der Reflexion einen allgemeinen theologisch-hermeneutischen Uberbau aufzusetzen ist die ideale Synthese zwischen theologischer Unprofessionalität im Gesprächsverhalten und professioneller Untheologizität in der Reflexion, sondern auf die Wahrnehmung gerade der Vielfalt an Professionalisierungsund Theologizitätsgraden im Seelsorgegespräch kommt es an. Läuft das dann auf eine reine Addition von Einzelfällen hinaus? Das ist dadurch vermeidbar, daß gezielt nach Strukturen der Verknüpfung von verschiedenen Gesprächsformen, nach Typen von Professionalisierungsgraden und nach Theologizitätsmustern gesucht wird. Sie lassen sich erst durch die Analyse konkreter Fälle von Seelsorge aufweisen.
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„Das notwendigste Vehikel der Wirklichkeitserhaltung ist die Unterhaltung. Das Alltagserleben des Menschen ist wie das Rattern einer Konversationsmaschine, die ihm unentwegt seine subjektive Wirklichkeit garantiert, modifiziert und rekonstruiert."308 1.3. Die Alltagstypisierung von,Gespräch' und die Begriffe der Theorie des Alltags Die historischen Skizzen haben gezeigt, wie das Gespräch in unserer Kultur wichtig geworden ist. Man sei - so wird bisweilen gesagt - in das „dialogische Zeitalter" getreten.309 Josef Kopperschmidt hat den Begriff „Gespräch" als ein „Lieblingswort der Gegenwart" bezeichnet.310 Lieblingsworte bedürfen der terminologischen Präzision. Ich will versuchen offenzulegen, woher meine basalen Begriffe für die Beschreibung von Vorgängen im Gespräch stammen und was sie bedeuten.311 Das soll im Anschluß an die Schütz/Luckmannsche Theorie des Alltags geschehen.312 Alltag meint dabei jene konkrete geschichtliche Wirklichkeit, in der Menschen unserer Gesellschaft sich zunächst und zumeist bewegen (anstelle etwa der Welt des Traums) samt der dabei Verwendung findenden Typen von Wissen und Erfahrung. Ihre Terminologie gewinnt diese Theorie des Alltags, indem sie Bezeichnungen für Vorgänge zur Hand nimmt, auf die sie in
308 P.BERGER/ T.LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit [1966]; 163.
309 J . SCHARFENBERG [1972], 13.
310 J. KOPPERSCHMIDT, Gespräch in kommunikationstheoretischer Sicht, 1973, 23-49; 23. 311 Eine Problematik des zuletzt (1.2.3.d) diskutierten Entwurfs einer Gesprächsseelsorge durch N I C O L liegt darin, daß er auf Begriffen wie .existentielles Gespräch', ,christliche Deutung', ,Wahrnehmung' und ,Handlung' beruht, ohne daß die darin schon immer implizierten Vorstellungen und Typisierungen ausreichend expliziert sind. 312 Zu den diversen Alltagstheorien vgl. jetzt T.HENKE, Seelsorge und Lebenswelt, 1994; 126ff. H E N K E deduziert unter dem Oberbegriff der alltäglichen Lebenswelt aus der Habermasschen Kommunikations- und Gesellschaftstheorie einen breit angelegten Rahmen, in den er die Seelsorgetheoreme und Seelsorgephänomene einbringt. Meine Untersuchung mit ihrem viel induktiveren Verfahren will mit ihrer Begrifflichkeit gerade nicht eine Gesamttheorie zur Voraussetzung erheben, sondern nur klare und vergleichsweise formale Ausgangspunkte für die Annäherung an die Praxis benennen. Zur im folgenden eingeführten Terminologie vgl. den Abschnitt „Handeln und Handlungsverstehen als Bewußtseinsleistung" in A . S C H Ü T Z / T . L U C K M A N N , Strukturen der Lebenswelt, Bd.2, [1984]; 11-36. Auf Sprache und Gespräch werden die Begriffe dort nicht eigens bezogen, wiewohl natürlich sie auch als das Phänomen des Sprechens mitumfassend gedacht sind. Vgl. aber auch die Überlegungen dazu, wie eng oder weit der Begriff des Gesprächs zu fassen sei, in: T.LUCKMANN, Das Gespräch, 1984, 49-63.
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der detaillierten Beschreibung alltäglicher Vollzüge stößt. Im folgenden nähere ich mich in entsprechender Weise dem Phänomen Gespräch. Da spricht also jemand. Genauer greifbar ist zunächst nur dies: Ich erlebe, daß gesprochen wird. Als Erlebnis soll jene ganz grundlegende Form bezeichnet werden, mit der etwas meinen Bewußtseinsstrom trifft. Mir ist klar, es wird gesprochen, und ich kann es dabei belassen. Allerdings, schon jetzt handelt es sich nicht nur um eine pure Erlebnisphase. Denn dies, daß mir klar ist, daß gesprochen wird, bedeutet ja, daß etwas nicht nur einfach auf mich einwirkt, sondern es für mich als ein Etwas einwirkt: als Sprache. Selbst wenn ich nicht erkannt haben sollte, ob ein Mensch, ein Tier oder sonst etwas diesen Laut von sich gab: Ich ordne es doch schon sofort als etwas ein, was ich seit früher Kindheit als ,Geräusch' zu identifizieren pflege. Es flöß also schon Gelerntes in mein Erleben ein. Schon das alltägliche Erleben ist synthetisch. Es kann sein, daß das Erlebnis nun meine Aufmerksamkeit erringt. Es bleibt nicht mehr bloßes Geräusch, sondern ich höre zu. Ein solches durch Aufmerksamkeit ausgezeichnetes Erlebnis sei Erfahrung genannt. Ich mache die Erfahrung, daß eine Person eine bestimmte Wortfolge sagt - zum Beispiel: „Tschuldigung, könn' Sie mir sag'n, wie spät es is?" Ich habe also erfahren, daß eine Person bestimmte Worte zu mir sagt. Und nun gehe ich über das Engagement in dieser meiner aktuellen Erfahrung hinaus. Ich blicke auf das Gesagte zurück und versuche, es in einen Sinnzusammenhang einzuordnen. Sollte ich die deutsche Sprache nicht kennen, dann wäre ich auf ziemliche Mutmaßungen angewiesen (Spricht die Person mit mir? Oder mit sich selbst? Hat sie sich verlaufen? Möchte sie eine Zigarette?). Wegen meiner Deutschkenntnisse habe ich es da einfach. Ich verbinde die aktuelle Erfahrung mit syntaktischen, semantischen und pragmatischen Typisierungen, die ich gelernt habe und konstruiere mit meinem Bewußtsein einen Sinn: syntaktisch: „Jemand stellte eine Frage"; semantisch: „Die Person weiß nicht, wie spät es ist"; pragmatisch: „Sie möchte, daß ich ihr sage, wie spät es ist." Ich habe also reflektierte Bewußtseinsleistungen erbracht. Ich habe die aktuelle Erfahrung mit anderem in Beziehung gesetzt und damit ihr einen Sinn verliehen. Als höflicher Mensch werde ich eine Antwort geben. Der bisherige Erfahrungsablauf geschah von sich aus, auch wenn ich als Erfahrender nicht unbeteiligt war. Nun aber wird eine Antwort von mir aus geschehen. Ich fange nun selbst etwas an. Das ist ebenfalls ein Erfahrungsablauf, denn ich werde mich gleich ja auch erleben bzw. erfahren, z.B. als jemand, der den Mund öffnet und sich sprachlich äußert. Diese Erfahrung gewinnt jedoch ihren Sinn für mich nicht aus dem rückblickenden Vergleich, sondern orientiert sich an einem vorausblickenden Entwurf, nämlich daran, was ich sagen werde. Ein solcher von mir aus motivierter, zielgerichteter Erfahrungsablauf sei Handlung genannt. Der anderen Person ist mein Handeln nur vermittelt erfahrbar, nämlich 72
über meine Körperbewegungen, mein Verhalten. Normalerweise bereitet die Unterscheidung zwischen Handeln und Nicht-Handeln im Alltag kein Problem. Wenn ich jetzt sprechen werde, dann ist das leicht als meine Handlung ,Antwort' erkennbar. Aber letztlich kann nur der Handelnde selbst darüber entscheiden, ob etwas ein Handeln war oder nicht. Sage ich nämlich nichts, dann steht die andere Person vor dem Problem, ob ich entweder damit doch handle, also sie ignorieren möchte, oder nicht handele, weil ich womöglich nicht hingehört habe. Es gibt aber noch ein anderes Handeln, das grundsätzlich nicht am Verhalten ablesbar ist. Die Überlegungen etwa, die mein Gegenüber anstellt, weil mein Schweigen so seltsam ist, sind für mich auch nicht ablesbar, und sie greifen ihrerseits auch nicht in die Umwelt ein. Sie seien Denken genannt. Das sonstige Handeln ist, weil es in die gemeinsame Zeit eingangen ist, nicht mehr reversibel. Ein gesagter Satz läßt sich nicht ungesagt machen. Einen gedachten Satz hingegen kann ich revidieren, sooft ich will. Soll aber das Denken nun in die Umwelt eingreifen (ich schreibe ein Buch, damit andere es lesen), so ist daraus eine andere Art von Handlung geworden. Sie sei als Wirken bezeichnet. Auch das Sprechen wirkt. Dieses Wirken kann unbeabsichtigt sein - z.B.: Die Frage der Person hat mich erschreckt, weil ich sie nicht vorher bemerkt hatte. Ist die Wirkung aber beabsichtigt, also von ihrem Ziel für die handelnde Person her zu verstehen, dann heißt solches Wirken nach der Alltagstheorie Arbeit. Das Gespräch zeigt sich als ein komplexes Geflecht aus den verschiedenen Beziehungsformen von Umwelt und Bewußtsein: Erlebnisse, Erfahrungen, Verhalten und Handlungen. Die Handlungen während eines Gesprächs können eher Denken, Wirken oder Arbeit sein. Alltägliche Typisierungen313 samt den ihnen nachgebildeten alltagstheoretischen Begriffen haben fließende Ubergänge. Für die praktischen Zwecke des Alltags jedenfalls reicht eine nicht völlig trennscharfe Typisierung normalerweise aus. Es genügt dort, in der Regel unterscheiden zu können zwischen ,Laute hören' oder ,zuhören', zwischen sprachlich denken' oder sprachlich handeln', zwischen ,absichtslos' oder ,absichtsvoll etwas wirken'. Was im Alltag Gespräch genannt wird, zeichnet sich durch bestimmte Gewichtungen der verschiedenen Beziehungsformen von Umwelt und Bewußtsein aus: Pure Erlebnisse enthält das Gespräch nur als untergeordnetes Element. Konstitutiv zum Gespräch gehört jedoch ein gegenseitiges aufmerksames Erfahren: sprechen zum Gegenüber und hören auf das Gegenüber. Ein Erfahrungsaustausch' liegt also vor, der kognitive, emotionale und pragmatische Elemente enthält. Beide Seiten verhalten sich vorwiegend mittels des Zeichensystems Sprache zueinander und wirken in Gleich313 ,Typisierung' im Sinne der Theorie des Alltags meint soziale Routinen, d.h. reziprok erstellte und immer wieder bestätigte gleichförmige Handlungen (vgl. P.BERGER/ T.LUCKMANN [1966], 33f. 58f.).
73
zeitigkeit aufeinander.314 Eine Rede oder einen Brief nennen wir meistens nicht Gespräch, 315 sehr wohl aber kennen wir Telefongespräche und Gespräche unter Taubstummen in Taubstummensprache. 316 In einem Gespräch haben sich beide Seiten darauf geeinigt, die Sprache zum Fokus ihres Verhaltens zu machen. Im Rückblick werden die Beteiligten den sprachlichen Gehalt hervorheben, während von der nichtsprachlichen Kommunikation (z.B. Tonstärke, Gestik) nur dann etwas die Aufmerksamkeit erregt, wenn es vom Gewöhnlichen, besonders von der üblichen Ubereinstimmung mit dem Gesagten, abweicht. Wenn wechselseitige Aussagen auftreten, die nichtsprachliches Handeln begleiten, betrachten wir sie in der Regel nicht als Gespräch, auch wenn beide miteinander reden. Ein Beispiel: Zwei Möbelpacker rufen einander zu: „Ein bißchen höher!" - „So genug?" - „Nein, noch mehr." Wir sehen die beiden und stellen fest: Sie tragen das Sofa die Treppe herunter. Beim Gespräch hingegen - um es noch einmal zu wiederholen - sind die sonstigen Handlungen in den Hintergrund getreten. Sie verschwinden jedoch nicht völlig. Gesprächsbegleitendes Verhalten kann als nichtsprachliches Handeln, besonders als Ausdruck von Denken gelesen werden, etwa wie das Gegenüber schaut, also sein Gesichtsausdruck. Auch nichtsprachliche Handlungen, die nicht während des Gesprächs stattfinden, gehören mit zum Horizont des Gesprächs: Wenn ich darüber ein Gespräch führe, welche Krawatte am besten zu meinem Hemd ρ aßt, wird oder soll es die zukünftige Krawattenwahl beeinflussen. Doch der Fokus ist das Gespräch selbst. Ein Wirken liegt vor, das sich konzentriert auf das sprachlich sich vermittelnde Gesprächsgegenüber und auf Gegenstände, zu denen sich die Sprechenden im Gespräch denkend verhalten. Worüber geredet wird (das Thema), das steht im Moment des Redens nicht in einem Handlungszusammenhang mit den Sprechenden: die Krawatte, die noch im Kleiderschrank hängt; die Politik der Regierung; mein Ärger auf die Nachbarn. 317 An diese Art reflexiver Themenbeziehung dürfte auch gedacht sein, wenn Nicol von „Deutung" spricht.
314
V g l . LUCKMANN 1 9 8 4 , 5 5 f . 5 8 .
315 Allerhöchstens kennt man den Sonderfall eines Selbstgesprächs, wo das Ich in zwei Gesprächspartner auseinandertritt und eventuell seine beiden gedachten Gesprächsseiten sich auch ohne Bewegung des Stimmapparates ihre Argumente sagen. 316
LUCKMANN 1 9 8 4 , 5 4 f .
317 Selbst wenn ich im Gespräch mich oder gar die Beziehung beider Gesprächspartner zum Thema erheben sollte, bleibt in der Regel die Differenz zwischen erzählter Szene und Erzählebene gewahrt. Wenn ich mein Weinen unterdrücke, damit ich erzählen kann, was mich so traurig machte, oder wenn ich nicht zuschlage, solange ich mich über die dumme Bemerkung meines Gegenübers heftigst beklage, dann bewege ich mich auf der Erzählebene. Dabei setze ich auf der Erzählebene voraus: Ich will als ein sich normal verhaltender Mensch zum Gegenüber reden als einer Person, mit der man reden kann.
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Was es denn nun genau mit der Deutung auf sich hat, bedarf aber noch weiterer Aufmerksamkeit.318 Hier ist wieder die Orientierung an der Theorie des Alltags hilfreich. Sie kennt den Handlungstyp wechselseitig unmittelbaren Handelns,319 Zweifelsohne gehört das Gespräch dazu. Das wechselseitig unmittelbare Handeln stellt nach der Theorie des Alltags den grundlegenden Typ gesellschaftlichen Handelns dar, d.h. eines Handelns, das sich auf andere bezieht. Einseitiges gesellschaftliches Handeln (wie etwa die Rede) oder mittelbares gesellschaftliches Handeln (wie etwa das Buch) sind in der Alltagswelt vom Gespräch abgeleitet. Aus dem Gespräch gewinnt jedes Kind erst seine Sprache. Und auf die Antwort der Hörenden und Lesenden hin sind Rede und Buch bezogen, in welch geringem oder großem Ausmaß auch immer. Das unmittelbare wechselseitige Handeln unterscheidet sich von dem mittelbaren wie dem einseitigen in einem wichtigen Punkt: Der Verlauf der Wechselseitigkeit des Handelns kann vom Handelnden selbst beobachtet werden.320 Die deutenden Typisierungen, die die handelnde Person in bezug auf das Ziel ihrer Handlung („was ich dir sagen wollte") vorgenommen hat, kann sie sofort überprüfen. Das als Resultat zu deutende Handeln des Gegenübers („Hast du mich verstanden?") liegt sofort vor. Es kommt so zu einer Verschmelzung von Deuten und Handeln. Bei einer mittelbaren Handlung (Buch) oder einseitigen Handlung (Rede) hingegen sind Deutung und Handlung viel stärker voneinander getrennt: einerseits das „Ich vertrete eine solche Meinung", andererseits das „Ich möchte deshalb, daß ihr, die ihr mich hört bzw. lest, dieses und jenes tut." Anders verhält es sich im Gespräch. Ich möchte das vorführen, indem ich an Nicols Aussage erinnere und dann darüber hinausführe. Nicol sagte: Gespräch ist primär nicht Handlung, sondern Erfahrung in christlichem Deutehorizont.321 Dieses als Primär-sekundär-Relation beschriebene Verhältnis und die Rolle der „Deutung" läßt sich genauer beschreiben. Denken wir uns als Beispiel, ich hätte folgenden Gesprächbeitrag geäußert: „Da hast du recht." Er könnte in einem Gespräch vorkommen, das allgemein als ,seelsorgerlich' gilt oder ebenso allgemein als ,nicht-seelsorgerlich' eingeschätzt wird. „Da hast du recht" - wenn diese Worte erklingen, geht man davon aus, daß eine Erfahrung zugrunde liegt. Es handelt sich dabei zum einen um den Erfahrungsvorgang, daß ich eine Aussage eines Gegenübers als richtig oder wahr erfahre. Es ist zum anderen der Erfahrungsvorgang, daß mein Gegenüber erfährt, daß ihm zugestimmt wird. Die Erfahrung ist hier also immer eine doppelte zwischen den beiden Gesprächspartnern. Es 318 Wenn NICOL gar von der „Kategorie der ,Deutung'" spricht (162), wäre eigentlich eine genauere Begriffsbestimmung zu erwarten gewesen. 319
SCHÜTZ/ LUCKMANN [ 1 9 8 4 ] , 1 0 9 - 1 2 2 .
320
SCHÜTZ/ LUCKMANN [ 1 9 8 4 ] , 12 l f .
321
NICOL, 1 8 0 .
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gibt insoweit nicht eine, sondern immer nur doppelte, je unterschiedlich aufgenommene Erfahrung. 322 Aber gehen wir weiter. Der Satz ist nicht nur Erfahrung, sondern ebenso eine Handlung, und zwar - gegen Nicol - durchaus nicht nur sekundär. Allerdings, und das sollte wohl die Differenz von primär und sekundär auch andeuten: Diese Handlung ist,primär' konzentriert auf den Bereich des Gesprächs. Und hier verschmelzen eben Deutung und Handlung, denn diese Aussage „da hast du recht" ist zugleich a) Mitteilungshandlung für die andere Person („ich möchte, daß du diesen Sachverhalt auch weißt, daß ich dir zustimme"), b) Deutung des eigenen gerade sich vollziehenden Handelns („ich verstehe mich als einen, der dir gegenüber eine Zustimmung äußert") und c) Mitteilung meiner Deutung in bezug auf eine vorausliegende Handlung der anderen Person („ich habe dich so verstanden, daß du gerade eine korrekte Aussage gemacht hast"). Daß Deutung und Handlung so ineinandergreifen, hat nun aber Konsequenzen für die Darstellung von Gespräch. Im Alltag mag man durchaus vernachlässigen, daß das Gespräch eine Handlung ist. Da mag das Ganze so bewertet werden, als werde nur gemeinsam laut gedacht. Für eine Theorie des Gesprächs aber reicht dies schon dann nicht aus, wenn sie denn zwischen anderen und christlichen Deutungen unterscheidet. Sind etwa jene Mikro-Deutungen, die ich eben vorführte, christlich oder nicht? Die zunächst so einfache Alternative erweist sich für die Detail-Interpretation als schwierig. Wird die Entscheidung bei längeren und komplexeren Gesprächseinheiten tatsächlich einfacher sein? Man wird da nicht ohne zusätzliche Kriterien, also einem weiteren Deutungsvorgang auskommen. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß dann doch letztendlich kompetente Deuter (die Theologen) nachträglich ein Gespräch als Seelsorge oder Nicht-Seelsorge bewerten. Ein anderer Weg bleibt aber noch: den Deutevorgang im Gesprächsverlauf selbst zu verfolgen. Das ist es, was diese Arbeit vorhat: tatsächliche' Gespräche in ihrem ,wirklich' gesprochenen Verlauf zu analysieren. Die Anführungsstriche im letzten Satz sind jedoch bewußt gesetzt. Auch ein solches Verfahren ist eine Rekonstruktion, ist ebenfalls eine Deutung und erreicht nicht die Wirklichkeit an sich. Aber es beteiligt die beiden Seiten des Gesprächs intensiver und kontrollierter an dieser Deutung. Im Alltag wissen wir nicht nur ein Gespräch von anderem Sprachverhalten zu unterscheiden, sondern können noch weiter zwischen verschiedenen Gesprächssorten differenzieren: Geplauder, Besprechung, Diskussion, 322 W.PANNENBERG hingegen hat den vorauslaufenden „Ganzheitshorizont" des Gesprächs betont und letztlich mit der religiösen Dimension identifiziert (Anthropologie in theologischer Perspektive, 1983; 351-365). D a ß dieser sachliche Priorität habe, wird aber erst im Gespräch selbst erlebt und als Ergebnis eines Diskurses, also nachgängig zur Verschiedenheit v o n Erfahrungen, festgestellt werden können.
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Streit. Diese Worte erweisen sich bei genauerem Hinsehen als Kennzeichnung von Sprechverhaltenstypen: plaudern, besprechen, etc. - das sind unterschiedliche Verhaltensweisen, die ein Gespräch bestimmen können. Dabei treten die Verhaltensweisen typischerweise in bestimmten Situationen auf: ,Geplauder auf der Treppe mit dem Nachbarn', ,Besprechung im Dienstzimmer mit der Chefin', ,Diskussion im Universitäts-Seminar' etc. Nicols existentielles Gespräch' aber ist eine Unterscheidung, die der Alltag nicht kennt. Sie ist nachträgliche theoretische Deutung des Gespräche hinterher bewertenden Fachmanns. Im Alltag sucht man das wohl mit dem Terminus ,existentielles Gespräch' Gemeinte so zu beschreiben, daß man es als für das eigene Subjekt in seiner Deutetätigkeit gut bewertet: ein tiefgehendes, gutes, bewegendes, hilfreiches, vertrauensvolles Gespräch. 323 Wollen wir nicht eine bestimmte Deutung schon voraussetzen, sondern dem Deuten der Gesprächsteilnehmer selbst auf die Spur kommen, dann kann der Terminus ,existentiell' nicht zum Ausgangspunkt genommen werden.324 Wenn wir das Seelsorgegespräch, so wie es tatsächlich vorkommt, ins Auge fassen wollen, müssen wir zunächst einmal ganz weit und formal ansetzen: Jedes Gespräch, das zur Tätigkeit des Pfarrers, der Pfarrerin gehört, könnte Seelsorgegespräch sein.325 Das heißt: Jede Art von alltäglichem Gespräch mit einem pastoralen Gegenüber muß im Blickpunkt dieser Arbeit bleiben. Dieser Arbeit ist kein universaler Begriff von Gespräch zugrunde gelegt. Zwar zeigte sich, daß im Gespräch bestimmte Beziehungsformen von Umwelt und Bewußtsein immer vorhanden sind. Deren konkrete Gewichtung aber schwankt je nach Situation und kann sich historisch verschieben. Das gilt ganz besonders für die vorausgesetzte und realisierte ,Gleichheit'
323 J e stärker G e s p r ä c h e in feste institutionelle Z u s a m m e n h ä n g e eingebunden sind, desto deutlicher lassen sich hier „ G a t t u n g e n " des G e s p r ä c h s ausmachen; aber zwischen diesen u n d den ganz . „ s p o n t a n e n ' k o m m u n i k a t i v e n V o r g ä n g e n " d ü r f t e „ein weiter Bereich gattungsartiger K o m m u n i k a t i o n " liegen (LuCKMANN 1984, 62). In diesem wäre auch das Seelsorgegespräch anzusiedeln. 324 G e g e n den Begriff als solchen ist nichts einzuwenden. Ich selbst habe ihn ebenfalls ausführlich verwendet bei der A n a l y s e v o n Predigten (E.HAUSCHILDT, R u d o l f B u l t m a n n s Predigten, 1989; bes. 196-199. 268-271). A b e r hier verstand eben der A u t o r der Predigten sich selbst mit H i l f e dieses Begriffs (76). 325 N a t ü r l i c h sind auch darüber hinaus seelsorgerliche G e s p r ä c h e d e n k b a r , an denen Christen o h n e pastorale A n w e s e n h e i t beteiligt sind. D i e A u s w e i t u n g auf tendenziell alle G e s p r ä c h e , die Pfarrerinnen oder Pfarrer f ü h r e n , u n d die E i n g r e n z u n g auf nur die G e s p r ä c h e , die m i t d e m beruflichen Seelsorger b z w . der Seelsorgerin geführt werden, ist f o r s c h u n g s p r a g m a t i s c h begründet. Sie will keinen anderen Begriff v o n Seelsorge schon z u r Prämisse erheben. A b e r es k ö n n t e sein, daß v o n den Ergebnissen her eine b e s t i m m t e R e v i s i o n des Gegenstandsbereichs der Seelsorgelehre u n d Seelsorgeausbildung sich als sinnvoll erweisen w i r d (siehe d a z u 7.1.).
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der beiden Seiten im Gespräch und für die Stellung, die solchem Gespräch unter Gleichen im gesellschaftlichen Vollzug und in der Hierarchie kultureller Werte zugemessen wird. Ein allein auf das gegenseitige Sprechen fokussierendes Verhalten - so zeigte die historische Skizze - gewinnt da an Bedeutung, wo Raum entsteht für nicht unter Handlungsdruck stehendes Verhalten, wo die vorausgesetzte Partnerschaft ,geistesgeschichtlich' (Idee der Freiheit und Gleichheit) und sozial (Bürgertum) möglich ist (1.1.) Das ist für die Seelsorge zu dem Zeitpunkt der Fall, als urbane Geselligkeit und christliche Gleichheit der Gläubigen vor Gott kombiniert werden können (1.1.1.). Gespräch bekommt da seinen für unseren Alltag spezifischen Charakter, wo die Selbstreflexivität sich entfalten kann in einem Raum des Privaten und dessen Institutionen der neuzeitlichen Familie, Ehe und Freundschaft (1.1.3). Gespräch wird umso wichtiger, je mehr den dort erworbenen Deutungen gesellschaftlich ein Wahrheitswert zugemessen wird (1.1.2). Die Seelsorgelehre reagiert darauf mit einer Professionalisierung der Seelsorge einerseits und ihrer Theologisierung andererseits (1.2.) Wie werden sich in dieser kulturellen Lage Wirklichkeit und Ideal des Gesprächs zueinander verhalten? Wie kommen in der Seelsorge göttliche Wahrheit und menschliche Wahrheit zueinander? Wie verbinden sich hier Konventionalisierungs- und Individualisierungstendenzen? Welche Form nehmen Professionalisierung und Theologizität im Raum des Alltags an? Diese Fragen ließen sich zwar auch durch zusätzliche theoretische Überlegungen noch weiterverfolgen. Aber sie wiesen uns ständig auf einen anderen Weg - nämlich für ihre Beantwortung darauf zu achten, wie die am Gespräch Teilnehmenden selbst sie durch ihr Verhalten sich beantworten. Wir werden uns also darum bemühen, möglichst viel von der Gesprächspraxis, so wie sie in einigen konkreten Situationen vor kurzem irgendwo einmal abgelaufen ist, zum Gegenstand unserer Reflexion zu machen. Solch ein Zugang zum sinnlich Wahrnehmbaren bedarf aber eines methodisch kontrollierten Verfahrens.
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KAPITEL 2
Sozio-linguistische Methoden Das Seelsorgegespräch kann wie jedes Gespräch zum Gegenstand verschiedenster wissenschaftlicher Fragestellungen werden. In literarischen Gesprächen mag Tiefsinniges über Gott und die Welt enthalten sein, das die Philosophie interessiert; hingegen beschäftigt sich die Literaturwissenschaft mit der literarischen Qualität und Gestaltung von Texten. Auch überlieferten alltäglichen Gesprächen kann die Geschichtswissenschaft bisweilen noch wertvolle historische Informationen entnehmen. Theologie widmet sich gern den religiösen Vorstellungen und dogmatischen Traditionen im Gespräch. Psychologie interpretiert es dagegen als Indiz für die psychische Befindlichkeit der sprechenden Subjekte. Ethnologie erhebt die sich auch im Gespräch manifestierende Kultur. Soziologie nimmt das durch Sprache vorgeführte gesellschaftliche Rollen- und Schichtenverhalten wahr. Linguistik fragt nach der grammatischen und lexikalischen Sprachgestalt. Alle diese noch längst nicht erschöpfend aufgelisteten Forschungsinteressen an Dialogen finden in dieser Untersuchung nicht oder nur am Rande Beachtung. Denn in ihnen wird das Gespräch als Fundgrube für andere Größen verwendet, die außerhalb des Gesprächs ihren selbständigen Ort haben. Gespräch erscheint als Manifestation von Wissen, historischen Abläufen, Literatur, Theologie, psychischem Zustand, Kultur, Gesellschaft, System der Sprache. In dieser Arbeit aber soll die Analyse konkreter Gespräche das in den Blick bekommen, was dem Gespräch als Gespräch eigen ist. Ein wissenschaftlich-methodisches Repertoire dafür existiert nur seit relativ kurzer Zeit. Erst als die Linguistik sich den Fragen der tatsächlichen Sprachverwendung in sozialen Kontexten zuwandte, erst als die Soziologie sich für alltägliche sprachliche Manifestationen zu interessieren begann, konnte sich im Laufe der siebziger Jahre dieses Jahrhunderts auch eine sozialwissenschaftliche Analyse der dem Gespräch als Gespräch eigenen Mechanismen etablieren. U m Gesprächsanalyse in diesem engeren Sinne soll es gehen, um die sozio-linguistische1 Beschäftigung mit dem ,natürlichen' Gespräch. 1 ,Sozio-linguistisch' soll hier einfach für die Kombination von soziologischer und linguistischer Perspektive stehen. Traditionell wird zwischen der linguistischen Unterdisziplin ,Soziolinguistik' und der sich für Sprachphänomene interessierenden ,Soziolo-
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Die Begriffe Diskurs, Dialog, Gespräch und Konversation werden in der Forschung unterschiedlich abgegrenzt, bisweilen auch teilweise synonym gebraucht. Für diese Arbeit soll gelten: Diskurs meint die gesamtgesellschaftliche interaktive Herstellung von Ideen (wie etwa der wissenschaftliche Diskurs). Dialog bezeichnet eine mit Sprecherwechsel sich vollziehende Abfolge sprachlicher Äußerungen (also auch handlungsbegleitende Dialoge, literarische Dialoge und Briefwechsel). Gespräch werden dann nur bestimmte Dialoge genannt: „Ein Gespräch ist jener Spezialfall von zentrierter Interaktion, in dem mindestens zwei Beteiligte sprachlich kommunizieren (sei es von Angesicht zu Angesicht oder, unter Wahrung der Identität des Zeitraums, über ein technisches Medium vermittelt), derart, daß sie 1. nicht nur handlungsbegleitend sprechen, sondern über ein Thema, das im ,Brennpunkt ihrer kognitiven Aufmerksamkeit' steht, 2. mindestens einmal einen Sprecherwechsel vollziehen."2 ,Natürliches Gespräch' meint ein in reale gesellschaftliche Funktionsabläufe eingelassenes Gespräch, das nicht zum Zweck der Aufnahme unternommen wurde.3 Conversation' soll in seiner umgangssprachlichen Bedeutung verwendet werden und in etwa mit dem Wort ,Unterhaltung' übereinstimmen. Für eine bestimmte Forschungsrichtung innerhalb der soziologisch-linguistischen Gesprächsanalyse hat sich aber der Begriff ,Konversationsanalyse' eingebürgert (siehe unter 2.5.). Für die sozio-linguistische Gesprächanalyse haben sich - teils sukzessive, teils gleichzeitig - Methoden mit durchaus unterschiedlichen Prämissen und Perspektiven herausgebildet. In den achtziger Jahren wurden sie in der Forschung zunehmend miteinander kombiniert. Hier sind sie dennoch in ihrer,reinen' F o r m dargestellt, um die durchaus unterschiedlichen Logiken herauszuarbeiten. 4 Ein solches Darstellungverfahren ist auch deshalb angemessen, weil es um einen Einblick in eine neue Forschungsrichtung geht, deren Lage einerseits durch eine ,Lawine relevanter Arbeiten', andererseits durch einen fast völlig fehlenden methodischen und theoretischen Konsens gekennzeichnet ist.5 Außerdem soll darauf geachtet werden, inwieweit die einzelnen Perspektiven als dem Gegenstand Seelsorgegespräch angemessen erscheinen.
gie der Sprache' streng unterschieden (vgl. J.D.DESEREV, Wechselbeziehungen zwischen Soziologie, Linguistik und Soziolinguistik, 1987, 1-8; A.D.GRIMSHAW, Sociolinguistics versus sociology of language, 1987, 9-15; B.GARDIN/ J.B.MARCELLESI, The subject matter of sociolinguistics, 1987, 16-25). Wird aber die klassische soziologische bzw. linguistische Forschungstradition verlassen und ist das Interesse - zunächst einmal jedenfalls - auf das Gespräch und nicht schon gleich auf die Gesellschaft einerseits oder das System der Sprache andererseits gerichtet, dann verliert die Unterscheidung an Plausibilität. Das jedenfalls gilt für die im folgenden vorgestellten Methoden. 2 J.DlTTMANN, E i n l e i t u n g , 1979, 1 - 4 3 ; 5. 3 DITTMANN, 7.
4 K.SCHNEIDER, Small talk, 1988, hingegen bietet eine kombinierende Darstellung in Richtung auf eine „unified theory of spoken discourse" (41-105; 41). 5 Μ.STUBBS, Discourse analysis, 1983; 11. 80
„It is our purpose to describe in detail the conversational relation by isolating and measuring its primary components."6 2.1. Messung korrelierender Variablen (quantitative Gesprächsanalyse) Wenn Personen miteinander sprechen, dann tun sie dies immer auch als Wesen, die in soziale Konstellationen eingebunden sind. Ihr sozialer Stand, ihr Geschlecht, ihr Alter - das alles wird sich im Gespräch niederschlagen, und zwar nicht nur, was die vertretenen Meinungen, die im Gespräch geäußert werden, angeht und die Situation, in die das Gespräch eingebettet ist. Der Gesprächs-Charakter des Gesprächs selbst wird davon betroffen. An zwei Arbeiten seien beispielhaft Methode und Prämissen dieser Forschungsrichtung vorgeführt. D.Allen und R.Guy haben versucht, die Faktoren des „conversational bond" zu isolieren und mit den üblichen Parametern sozialer Gruppen zu vergleichen.7 Sprachintensität, nach Häufigkeit sowie Umfang und Wortlänge gemessenes Vokabular, Körperverhalten von Augen, von Gesichtsmuskeln und Kopf - alle diese Größen erweisen sich als isolierbare Einzelfaktoren jener Gesprächsbindung. Sie variieren je danach, Mitglieder welcher sozialer Gruppen miteinander sprechen. J.Daly, A.Vangelesti und S.Daugthon untersuchten „conversational sensitivity" in sechs Versuchsreihen. Die erste erhob empirisch durch Befragungen mit anschließender Faktorenanalyse sieben verschiedene Dimensionen der Sensibilität in Gesprächen: Bedeutungswahrnehmung, Gesprächserinnerung, Gesprächsalternativen, Gesprächsvorstellungskraft, Freude am Gespräch, Interpretation, Wahrnehmung von Nähe. 8 Die folgenden vier Studien erforschten die Korrelation des Maßes an Sensibilität mit gesprächsexternen Größen. Hinsichtlich der,Persönlichkeitsvariablen' korreliert die Gesprächsensibilität mit emotionaler Ausdrucksfähigkeit, emotionaler Sensibilität und der Fähigkeit zu sozialer Kontrolle. 9 Unter den .Verhaltensvariablen' ergaben sich Übereinstimmungen mit den Größen,allgemeine Erinnerungsfähigkeit' und selbständiges Zusammenfassen von Gesprächen'.10 Die letzte Studie fand Korrelationen der Sensibilität mit dem jeweiligen Gesprächs-Charakter selbst wie bei persönlich betreffenden oder überraschenden Gesprächsinhalten sowie bei positiver Einstellung zum Gespräch und bei der Notwendigkeit, sich im Gespräch selbst darzustellen. 6 D . A L L E N / R . G U Y , C o n v e r s a t i o n a n a l y s i s , 1 9 7 4 ; 5. 7 ALLEN/ GUY, 225. 8 J . D A L Y / A.VANGELESTI/ S.DAUGHTON, T h e n a t u r e a n d c o r r e l a t e s of c o n v e r s a t i o nal sensitivity, 1987, 1 6 7 - 2 0 2 ; 171. 9 D A L Y / VANGELESTI/ D A U G H T O N , 1 8 1 . 10 D A L Y / VANGELESTI/ D A U G H T O N , 1 8 5 .
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Der Bekanntheitsgrad des Themas oder Spannungen zwischen den Gesprächspartnern hingegen zeigten keine Korrelation. 11 Ziel solcher Untersuchungen ist - wenn auch dies nicht immer explizit gemacht wird - , zu einer Generaltheorie des Gesprächs zu gelangen. Allen/ Guy schwebt als Ideal ein einziger Theoriesatz vor, mathematisch ausdrückbar, der die generative Wirklichkeit des „conversational bond" anzugeben vermag und für alle Gespräche in allen Kulturen gültig ist. 12 Eine derartige Theorie des Gesprächs hat den Vorteil, durch empirisch gewonnene, meßbare Ergebnisse gestützt zu sein. Sie erfüllt die Kriterien quantitativer Forschungsmethodik nach dem Modell naturwissenschaftlicher Forschung. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen sind vergleichsweise eindeutig auch in nachfolgenden Arbeiten auf ihre Reliabilität überprüfbar. Gespräch ist ein statistisch meßbares Geschehen der Korrelation isolierbarer Faktoren. Es lassen sich allgemeine Gesetzmäßigkeiten formulieren. So wäre auch für das Seelsorgegespräch eine Untersuchung denkbar, die darstellt, wie Gesprächsbindung und Gesprächssensibilität von gesprächsexternen Faktoren und bestimmten Charakteristiken des Gesprächs selbst abhängig sind. Allerdings hat die nahezu mathematisch operationalisierbare O b j e k tivität' auch ihren Preis. Nicht nur wäre im einzelnen sehr genau die Relevanz der bei der Erstellung der Faktoren verwendeten Begriffe zu überprüfen. Vor allem ist problematisch, daß man hier die Komplexität des Gesprächs auf das reduziert, was als Einzelfaktor isolierbar und meßbar ist. So wird von der Innenperspektive der Teilnehmenden selbst völlig abstrahiert. Ihr Erleben, im Gespräch aktiv die Gesprächsbindung herzustellen und sich selbst zu sensibilisieren bzw. durch den anderen sich sensibilisieren zu lassen, bleibt forschungsmethodisch ausgeblendet. Ihre Wahrnehmung, daß im Gespräch das jeweilige Gegenüber sich über seine sozial determinierte Rolle hinausbewegt und man selbst sich ebenso verändert, erscheint als reine Illusion. Die reduktive Tendenz ist unausweichlich, solange ausschließlich quantifizierend gearbeitet wird. Erst die qualitativen Forschungsrichtungen, die im folgenden dargestellt werden, widmen sich den komplexeren Zusammenhängen im Gespräch.
1 1 D A L Y / VANGELESTI/ DAUGHTON, 1 9 1 . 12 ALLEN/ GUY, 2 2 5 . 2 3 3 .
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„How to do things with words"13 2.2. Klassifizierung kommunikativer (Sprechakttheorie)
Redeabsichten
Aussagen haben nicht nur semantische Bedeutungen und eine grammatische Struktur. Sie - wo wird das deutlicher als im Gespräch - haben eine kommunikative Absicht. Aussagen sind immer auch ,Sprechakte', sie tun etwas, sie stellen fest, fordern auf, fragen usw. Gesprächsanalyse läßt sich durchführen als Identifizierung von Sprechakten und Beschreibung ihrer kommunikativen Funktion. Die Sprechakttheorie geht auf den der analytischen Sprachphilosophie zuzuordnenden Oxforder Philosophen John L. Austin zurück. In „How to do things with words" arbeitet er den illokutionären Gehalt einer Aussage heraus, d.h. das Charakteristikum, daß durch das Aussprechen der Worte gehandelt wird wie etwa beim Warnen. Unter diesem illokutionären Gesichtspunkt unterscheidet Austin fünf sich überlappende Typen von Sprechakten: Verdikative (z.B. urteilen, schätzen), Exerzitive (befehlen, bitten), Kommissive (die den Sprecher binden: z.B. versprechen), Konduktive/Behabitive (die soziales Verhalten ausüben: grüßen, danken, verfluchen) und Expositive/Konstative (feststellen, begründen, fragen, deuten).14 Uber seinen Schüler John R. Searle15 fand die Theorie Anfang der siebziger Jahre Anschluß an die linguistische Diskussion und wurde dort zum wichtigen Anstoß eines neuen Forschungstrends weg von der generativen grammatischen Struktur hin zum sozialen Kontext der Sprache. In Deutschland hat besonders der Linguist Dieter Wunderlich die „Sprechhandlungen" bekanntgemacht.16 Searle geht davon aus, daß jeder Sprechakt auch ausdrückbar sein muß und sprachlich gekennzeichnet werden kann.17 Die Festlegung der Sprechakttypen ist im einzelnen bei ihm wie bei Wunderlich unterschiedlich und wechselt zum Teil auch in verschiedenen Veröffentlichungen des gleichen Autors. Bei Jürgen Habermas korrespondiert den sprachlich hergestellten, universalen Gegenstandsbereichen intersubjektiver Wirklichkeit ein System universaler Geltungsansprüche: objektive Wahrheit, gesellschaftlich vermittelte Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit.18 Diese sind in den Sprechhandlungstypen Konstativa, Regulativa und Repräsentativa impliziert.19 Hinzu kämen noch die Gesprächsorganisationsakte, die der intersubjektiven Verständlichkeit dienen.20 13 Originaltitel von J.AUSTIN, Zur Theorie der Sprechakte, [1962]. 14
AUSTIN, 1 6 6 - 1 8 3 ( 1 2 . V o r l e s u n g ) .
15 J.SEARLE, Sprechakte [1969]; J.SEARLE, Eine Taxonomie illokutionärer Akte, [1975]; 17-50. 16 D.WUNDERLICH, Zur Konventionalität von Sprechhandlungen, 1972b; D.WUNDERLICH, Sprechakttheorie und Diskursanalyse, 1976a, 463-488; D.WUNDERLICH, Studien zur Sprechakttheorie, [1976b]. 17 J.SEARLE [ 1 9 6 9 ] , 3 4 .
18 J.HABERMAS, Was heißt Universalpragmatik?, 1976a, 174-272; 246. 19
Ebd.
20
HABERMAS 1 9 7 6 a , 2 5 9 .
83
Die Sprechakttheorie versucht, die Intention der Aussage zu klären, die ein Gesprächspartner im Hinblick auf den anderen macht.21 Die Sprachphilosophen haben universale und fundamentale Intentionstypen erhoben. Sie folgen streng den logischen Regeln ihrer Theorie. Doch, gerade weil diese von den konkreten Kontexten, in die das Gespräch eingebettet ist, und denen, die das Gespräch selbst bildet, absehen, greifen sie in der konkreten Gesprächsanalyse nicht.22 Das Raster ist zu grob. In den faktischen Gesprächen überlagern sich ständig die fundamentalen Sprechakte. Darum wurde versucht, einen entgegengesetzten Weg zu beschreiten. Thomas Ballmer und sein Team fragten nach den realisierten Sprechakten konkreter Sprachen und fanden für das Deutsche knapp 500 Sprechaktkategorien und 5000 Sprechaktverben, für das Englische rund 600 Kategorien und 4800 Verben.23 Solche Beschreibung der Sprechaktverben von konkreten Sprachen wählt den Weg der lexikalischen Analyse24 und hat es schwer zu zeigen, wie man so über semantische Erwägungen hinauskommt. 25 Am ehesten ließe sich mit einer mittleren Zahl von Sprechakttypen arbeiten, so begrenzt, daß semantisch verschiedene Aussagen dennoch als der gleiche Sprechakt begriffen werden können, andererseits so differenziert, daß eine gewisse Vielfalt möglicher Sprachhandlungen zum Ausdruck gebracht wird. Juliane House und Willis Edmondson haben eine entsprechende Aufstellung vorgelegt. 26 Sie wurde f ü r den Zweck erarbeitet, an Alltagsgesprächen die kommunikative Kompetenz der Sprechenden durchsichtig und f ü r den Fremdsprachenunterricht erlernbar zu machen. Uber Erwägungen zur Logik des Verhaltens der Gesprächspartner zueinander gelangen sie zu einer Einteilung v o n insgesamt 25 sprachlich realisierten Sprechakten. Diese schließen in die Intentionen der Sprecher auch Handlungspläne für reaktive Verhaltenskonstellationen ein. Die Illokution 2 7 kann entweder einen Gehalt haben („substantive"; Gruppe A) oder ritualisiert sein („ritual"; Gruppe B). In der Gruppe Α ist zu unterscheiden
21
V g l . J.SEARLE, I n t e n t i o n a l i t ä t , [ 1 9 8 3 ] ,
22 So bietet die Arbeit „Speech acts in argumentative discussions" von F.V.EEMEREN und R.GROOTENDORST (1984), die auf Searles Werken fußt, ein theoretisches Modell für die Analyse von Diskussionen, die auf die Lösung von Meinungsverschiedenheiten gerichtet sind. Sie kommt dabei gänzlich ohne Rekurs auf konkrete Gespräche aus. 23 T.BALLMER, Probleme der Klassifikation von Sprechakten, 1979, 247-274; 265. T.BALLMER/ W.BRENNSTUHL, Speech act classification, 1981; 5 . AUSTIN dachte sogar an bis zu 10000 Verben (168). 24
BALLMER/ BRENNSTUHL 1 9 8 1 , 6 f f .
25 Sprechakttheorie im Zusammenhang formaler Semantik einschließlich einer semantischen Analyse englischer Sprechaktverben bietet D.VANDERWEKEN, Meaning and speech acts, 1990/1991. 2 6 J.EDMONDSON/ W . H O U S E , Let's talk and talk about it, 1 9 8 1 ; 4 8 - 6 1 . 9 8 . 27 Autor und Autorin verstehen unter Illokution die kommunikative Absicht der sprechenden Person (EDMONDSON/ HOUSE, 4 8 ) . 84
zwischen Einstellungsäußerung („attitudinal"; A . l ) und Informationssäußerung („informative"; A.2). Die Einstellungsäußerungen können sich auf eine zukünftige Angelegenheit („Re future event"; Α. 1.1.) oder eine nicht in der Zukunft liegende Angelegenheit beziehen („Re non-future event"; A.l.2). Bei den sich auf eine zukünftige Angelegenheit beziehenden Einstellungsäußerungen ergeben sich acht logische Möglichkeiten, inwiefern eine Angelegenheit (P) entweder von der sprechenden (S) oder der hörenden (H) Person zu tun ist und entweder als gut oder schlecht für S oder Η bewertet wird. Davon werden realsprachlich im Englischen sechs Sprechakte unterschieden. Da diese Sprechakte in der Beziehungslogik fundiert sind, scheint mir ihre Übersetzung in die deutsche Sprache relativ problemlos möglich zu sein. Ich versuche also die Übertragung: Die Illokutionen sind: - Verlangen (1), im eigenen Interesse von S, daß Η ein für Η gutes Ρ tut bzw. ein für Η schlechtes Ρ nicht tut; - Vorschlagen (2), daß Η ein für Η gutes Ρ tut; - Anbieten (3), daß S ein Ρ tut, von dem S nicht weiß, ob es für Η als gut gilt; - Erlauben (4), daß Η ein für Η gutes Ρ tut, das nicht im Interesse von S ist; - Gewillt sein (5), daß S ein Ρ tut, das für Η gut ist; - Entschlossen sein (6), daß S ein Ρ tut, das für S gut ist, bzw. daß S ein Ρ nicht tut, das für S oder Η schlecht ist. Für die sich auf eine nicht in der Zukunft liegende Einstellungsäußerung beziehenden Illokutionen ergeben sich entsprechend die acht logischen Möglichkeiten, die in diesem Fall in acht verschiedenen Sprechakten realisiert werden: - Sich beschweren (7): S rechnet Η eine schlechte Angelegenheit zu und ist auf Η böse; - Entschuldigen (8): S rechnet sich Ρ zu und es tut ihm leid, daß Ρ für Η schlecht ist; - Sich rechtfertigen (9): S hält sich für nicht schuld an P, das schlecht für Η war; - Vergeben (10): wie Fall 7, aber S ist nicht böse auf H; - Danken (11): Η tat P, was gut für S war; - Minimieren (12): S spielt herunter, wie schlecht Ρ für ihn war, das gut für Η war; - Beglückwünschen (13): Η tat P, was gut für Η und S war; - Mitfühlen (14): S sieht P, das schlecht für Η war, wie Η an. Bei den Informationsäußerungen (A.2.) kann nicht logisch sauber, sondern nur graduell je nach Art der Bedeutung der Information für den anderen unterschieden werden zwischen phatischen Informationsäußerungen (A.2.I.), die der Beziehung dienen, und sachbezogenen Informationsäußerungen (A.2.2., „business"). Bei zwei Informationsäußerungen überwiegt die phatische Intention: - Sich-Mitteilen (15) („remark"): S will Beziehung verstärken durch harmlose Äußerungen, die H's Zustimmung finden; - Ins-Vertrauen-Ziehen (16) („disclose"): S glaubt, daß Η an privaten Informationen über S interessiert ist. Bei zwei anderen Informationsäußerungen überwiegt die Sachbezogenheit: 85
- Mitteilen (17) („teil"): S gibt Information, die S für wahr hält und als relevant für Η einschätzt; - Meinen (18) („opine"): S unterrichtet Η über seine Bewertung einer Angelegenheit, die S für wahr hält und als relevant für Η einschätzt. All den bisher aufgeführten Illokutionen mit Gehalt stehen die rituellen Illokutionen (Gruppe B) gegenüber, deren sozial festgelegte Bedeutung die Semantik der Ausdrücke überlagert. Entsprechend verschiedenster sozialer Kommunikationsmuster ist eine prinzipiell unabgeschlossene Anzahl ritueller Ilokutionen zu erwarten. Einige wenige sind besonders verbreitet. In der rituellen Eröffnung („opening") kommen vor: - Grüßen (19): S zeigt an, Η wahrgenommen zu haben und als soziales Mitglied zu akzeptieren; - Wie-geht's (20): S zeigt Interesse in H's sozialer Befindlichkeit; - Willkommen heißen (21): S zeigt seine positive emotionale Einstellung gegenüber H. An vielfältigen Stellen im Gespräch möglich ist die rituelle Illokution: - Okay (22): S zeigt seine Zufriedenheit mit dem bislang erreichten Resultat der Kommunikation. An rituellen Schlußillokutionen kommen vor: - Zum-Schluß-kommen (23) („extractor"): S stellt dem Auseinandergehen eine Äußerung voran, die S' Wunsch zur Kommunikationsbeendigung begründend anzeigt; - Gute-Wünsche (24) („wish-well"): S kommuniziert seine positive Einstellung für die Zukunft von H; - Abgang (25)(„leave-take"): S kommuniziert seinen Willen, die Begegnung zu beenden. In Aufsätzen oder Monographien haben andere Forscherinnen und Forscher einzelne als Sprechakte verstandenen Äußerungen untersucht wie täuschen und sich irren, Bewertungen, Argumentationen, metakommunikative Sprechakte.28 Eine Klassifizierung der Gesprächsbeiträge nach solch einem Schema scheint praktikabel. Sie wäre zwar nicht universell, sondern abhängig von sprachlich-logischer Einteilung der Beziehung der Gesprächspartner zueinander. Sie wäre aber auch nicht nur auf eine Sprache begrenzt, sondern ließe sich immerhin als Klassifikation eines größeren Sprachkreises verwenden. Aber es bleibt klar: Eine gleichsam der Interpretation vorausge28 Nach W.ZILLING (Zur Frage der Wahrheitsfähigkeit bewertender Äußerungen in Alltagsgesprächen, 1979, 74-110) können Bewertungen im Zusammenhang mit Beschreibungen informativen Charakter haben („sieht gut aus"); wenn Einigkeit im zugrundeliegenden Deutungshorizont besteht, sind Behauptungen nachweisfähig. Metakommunikative Sprechakte erfolgen dann, wenn das Gegenüber auf eine bemerkte Sprachverstehensstörung aufmerksam gemacht werden soll (H.WLEGAND, Bemerkungen zur Bestimmung metakommunikativer Sprechakte, 1979, 214-244). Siehe außerdem: W.ABRAHAM, Überlegungen zur Sprechakt- und Handlungstheorie über täuschen und sich irren, 1979, 247-263; W.SCHECKER, Argumentationen als allokutionäre Sprechakte, 1977, 75-138.
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hende objektive Klassifizierung der Intentionen gesprochener Äußerungen ist das nicht mehr. Es handelt sich nur um einen interpretativen Versuch, die hinter den Worten liegende Intention in ihrem sozialen Kontext zu erheben. Das Verfahren ist nur deshalb einigermaßen erfolgreich, weil sprachlogische Operationen und Sprachkonventionen zur Hilfe genommen werden. 29 Das Agieren und Reagieren der Sprechenden selbst verhält sich zumeist sozial konform. Im Gespräch kommt aber anders als bei der bloßen Aussage zum logischen Sprachsystem und der Sprachkonvention das aktuelle Gesprächsgeschehen zwischen den Partnern dazu, das sich nicht über sozialisierte Intentionen allein erfassen läßt. Die Schwierigkeit zeigt sich besonders bei einem Phänomen, den in der Sprechakttheorie vieldiskutierten indirekten Sprechakten', wo die Bedeutung der Aussage von der sprachlich-grammatikalischen Oberflächengestalt abweicht. In Gesprächen insbesondere findet sich solche Rede permanent, die erst durch die jeweilige Gesprächsituation eindeutig wird. Wie etwa ließe sich im Hinblick auf den Sprechakt allein entscheiden, ob ,das Fenster ist offen' eine Aussage oder eine Aufforderung ist? Sind also - gegen Searle30 - doch mehrere Illokutionen gleichzeitig denkbar? Wenn ja, wie sollen dann solche Mischintentionen klassifiziert werden?31 In der Praktischen Theologie ist die Sprechakttheorie (der wenigen Fundamental-Sprechakte) bislang vor allem in der Homiletik rezipiert worden. 32 Das ist bezeichnend. Die Sprechakttheorie ist trotz ihrer Herausarbeitung der kommunikativen Absicht des Sprechens zuletzt monologisch angelegt.33 Integriert man aber die soziale und situationsorientierte 29 Für die Analyse von Aussagen, die nicht Teil eines Gesprächs sind, ergeben sich da schon relativ konstante Typen. So konnten wenigstens bei der Analyse von Sprechakten, die in Predigten intendiert waren und die von der Hörerschaft wahrgenommen wurden, mittels des statistischen Verfahrens der Faktorenanlyse Rededimensionen ermittelt werden, die den Habermasschen Sprechakttypen sehr nahe kamen (K.F.DAIBER, Predigen und Hören, Bd.2, 1983; 354). 30 SEARLE [1975], 48. 31 V.EHRICH/ D.SAILLE wählen als Oberbegriff „nicht-direkte Sprechakte" (Uber nicht-direkte Sprechakte, 1971, 255-287). „Indirekte Sprechakte" liegen nur vor, wenn der direkte Sprechakt eine soziale Konvention verletzen würde (Beispiel: Rhetorische Frage: „Könnten sie ...?"); die anderen sind als implizite Sprechakte zu bezeichnen. W.SÖKELAND (Indirektheit von Sprechhandlungen, 1980) differenziert zwischen BasisIllokutionen und der dann im Fall der indirekten Sprechakte dazu in Konkurrenz liegenden Sekundär-Illokutionen. Aber wie läßt sich bloß in Hinblick auf den Sprechakt selbst diese Unterscheidung vornehmen, wenn etwa im Gespräch die Aussage gemacht wird: „Das Wetter ist schön"? 32 Vgl. den Überblick bei H.W.DANNOWSKI, Kompendium der Predigtlehre, 1985; 121-127. 33 Vgl. W.RABLE, Argumentationen als allokutionäre Sprechakte? 1977, 139-148; 145.
87
Verwendung der Sprechakte, wie sie sich im Gespräch so ausgeprägt zeigt, in die Theorie, wird also die Sprechakttheorie statt auf den Aussagesatz auf die Gesprächskonstellation bezogen 34 , dann rückt der Handlungs-Charakter der gesprochenen Äußerungen ins Zentrum des Interesses.
„... communication is problem-solving."35 2.3. Hierarcbisierung
von Handlungen
(Pragmatik)
Wer spricht, tut etwas. Durch Sprechen wird gehandelt. Darum läßt sich der Handlungs-Charakter von sprechendem Verhalten so herausarbeiten, daß dieser durch seine Bezogenheit auf einen übergeordneten Wirkungszusammenhang präzisiert wird. Das gilt für das Gespräch insgesamt (a) wie auch für einzelne Handlungen innerhalb des Gesprächs (b). a) Das Gespräch läßt sich als Teilhandlung in den Blick nehmen, wobei vorausgesetzt ist, daß die in ihm erfolgenden Tätigkeiten „durch das Ziel der übergeordneten außersprachlichen Tätigkeit geprägt" 36 sind. Unter diesem Gesichtspunkt hat Roger Mackeldey „Grundlagen der Typologisierung alltagssprachlicher Dialoge" 37 vorgelegt. Mackeldey nimmt zunächst eine kritische Durchsicht bisheriger Klassifizierungsversuche vor: Die herkömmlichen 7exi5oriewklassifikationen bieten zwar in sich relativ homogene Typisierungen, klammern aber dialogisches Sprechen aus. Die bisherigen Klassifikationen von gesprochener Sprache arbeiten hingegen mit Merkmalskombinationen; dies führt zu inhomogenen und nicht-erschöpfenden Einteilungen, weil die Merkmale verschiedenartige Qualitäten benennen und diese keine formallogisch geschlossene Menge bilden.38 Mackeldey will diese Mängel beheben, indem seine Klassifikation nach der als invariant gedachten ,,kommunikative[n] Grundfunktion" von Dialogen fragt, die sich aus der Art der Verknüpfung mit dem „übergeordneten Tätigkeitszusammenhang"39 herleitet. Daraus ergibt sich eine binär aufgebaute Hierarchie von Dialogtypen auf drei Ebenen. Die Dialogtypen sind zunächst danach zu differenzieren, ob die kommunikative und (die ihr übergeordnete) nicht-kommunikative Handlung identisch sind
In diese Richtung geht neben EDMONDSON/ HOUSE Z . B . auch STUBBS, 147ff. (The classification of cooperative illocutionary acts, 1 9 7 9 , 1-14) erweitert Searles Sprechakttheorie um interaktive Sprechakte; für die Abfolge von Sprechakten aufeinander interessiert sich W.BALLMER, Speech act sequences, 1 9 8 8 , 5 4 - 6 9 . 35 G . L E E C H , Principles of Pragmatics, 1983; S. X. 3 6 R.MACKELDEY, Alltagssprachliche Dialoge, 1 9 8 7 ; 8 4 . 37 MACKELDEY, 83-99. 38 MACKELDEY, 8If. 34
M.HANCHER
39
88
MACKELDEY, 8 5 .
oder nicht. Bei den Grundfunktionen, die eine „relative Eigenständigkeit der sprachlichen Äußerungen" kennen, ist entweder die nicht-kommunikative Handlung dominant; dann handelt es sich um den Typ 1: „handlungssteuernde Dialoge". Andernfalls ist die kommunikative Handlung dominant, dann handelt es sich um den Typ 2: „handlungsvorbereitende Dialoge". Wenn eine Kongruenz zwischen kommunikativen und nicht-kommunikativen Handlungen besteht, kann die nichtkommunikative Handlung entweder nach außen gerichtet sein; dies ist bei Typ 3, den „Kontaktdialoge[n]," der Fall. Sie kann aber auch nach innen gerichtet sein; das ist dann der Typ 4: „Dialoge zur Befriedigung psychischer Bedürfnisse".40 Von Typ 1 bis Typ 4 wird der Zusammenhang zur übergeordneten außersprachlichen Tätigkeit immer indirekter, mithin der praktische Zweck des Gesprächs immer vermittelter.41 Diese Typisierung ist logisch erschöpfend und sie bildet eine in sich homogene Klassifizierungsgruppe. Die genannten Gesprächstypen ihrerseits zerfallen - mit einer Ausnahme - in je zwei Subtypen. Eine homogene Differenzierung für diese Subtypen kann Mackeldey nicht aufbieten. Nur innerhalb der einzelnen Verzweigungen ergeben sich binäre und insofern erschöpfende „Varianten der ausgeführten komplexen Tätigkeit". 42 Bei Typ 1 kann die Steuerung einseitig oder wechselseitig vorgenommen werden; bei Typ 3 gestaltet sich die Außenrichtung der Tätigkeit kontaktsicherstellend („Kontaktgespräche im engeren Sinne") oder kontaktentfaltend („Unterhaltungen"43); bei Typ 4 kann die Binnenausrichtung der Tätigkeit als Einbezug von Äußerem in das Subjekt geschehen (Interesse zur Befriedigung bei Mangel) oder Teilhabe-Geben nach außen durch das Subjekt (Mitteilung zum Abbau von Uberschuß). Nur bei Typ 2 kennt Mackeldey vier Varianten. Auch sie stellen m.E. aber binäre Paare dar: Man beachte, daß hier anders als bei Typ 1 die nicht-kommunikative Handlung dominiert. Deshalb verschiebt sich die Alternative von einseitiger und kommunikativer Steuerung nun von den Personen auf das Gesagte: Es kann entweder „informationstransferierend" oder „problemklärend" sein. Zugleich ergibt sich ein Alternativpaar aus der Nähe der kommunikativen Handlung zur nicht-kommunikativen, über die sie dominiert. Diese Nähe kann nicht-unmittelbar sein (in Mackeldeys Terminologie: „handlungsplanende Dialoge") oder sie kann unmittelbar sein („handlungsinitiierende Dialoge").44 Unterhalb dieser binären Ebenen ist dann auch die formallogische Geschlossenheit der Klassifizierungsmerkmale aufgegeben. Hier bestimmt bei denjenigen Dialogtypen, wo nicht-kommunikative und kommunikative Handlung differieren, eine prinzipiell offene Anzahl von Inhalten, um welche „Dialogarten" es sich handelt; bei den Dialogtypen, wo kommunikative und nichtkommunikative Handlung kongruent sind, ergeben sich die „Dialogarten" aus der offenen Reihe denkbarer Inhalte und/oder Situationen.45 Die vorgelegte Typologie von Alltagsgesprächen vermeidet in ihren drei oberen Ebenen die Addition von Merkmalen unterschiedlichen Charakters und kommt so immerhin zu vier verschiedenen Dialogtypen mit insgesamt 4 0 MACKELDEY, 9 1 f .
4 1 MACKELDEY, 8 9 f .
42 MACKELDEY, 92.
43 MACKELDEY, 94, nächstes Zitat ebd.
4 4 MACKELDEY, 9 4 .
4 5 MACKELDEY, 9 5 - 9 7 .
89
zehn Untervarianten. Wenn das Raster noch enger gemacht werden soll, geht Mackeldeys Vorschlag allerdings in eine bloße Aufzählung von Gesprächsinhalten und Gesprächssituationen über. Da zeigt sich dann aber auch - wie Mackeldey selbst ausführt - , daß etwa eine in dieser Weise inhaltlich charakterisierte Gesprächsart ,Witze erzählen' Unterfall von mehreren der vier Gesprächstypen sein kann (hier: sowohl,Unterhaltung' wie auch Befriedigung des Bedürfnisses nach Mitteilung'). 46 Diese Unbestimmtheit rührt daher, daß die Klassifizierung „z.T. von inneren, psychischen Faktoren der Dialogpartner abhängt". 47 Die Intention der Gesprächsteilnehmer ist es also doch wieder, wie wir schon bei der Sprechakttheorie festgestellt hatten, die auch dieser Klassifizierung zu Grunde liegt. Die gesamte Typologie basiert auf der Prämisse, daß der außersprachliche Kontext von Dialogen als Ziel einer Handlungsintention der Sprecher zu begreifen sei.48 Die „Funktion eines Dialogs" stellt nichts anderes als eine „Objektivation subjektiver Intentionen" dar.49 Doch es ist nicht einsichtig, warum sich nicht das Verhältnis von kommunikativer und nicht-kommunikativer Tätigkeit umkehren läßt. Ist es nicht vorstellbar, daß der kommunikative Kontext den übergeordneten Zusammenhang bildet, etwa wenn Teilnehmer ihre außersprachlichen Absichten im Gespräch .vergessen' oder wenn sie ,um der Sache willen', die jetzt als Gespräch präsent ist, oder ,um der Beziehung willen', die jetzt als Gespräch präsent ist, außersprachliche Handlungsziele revidieren oder sistieren? Wenn also auch solche umgekehrten Fälle denkbar sind, dann ist das Gespräch mehr als die Summe von Intentionen. Das Gespräch bildet dann eine Objektivation, die prinzipiell nicht durch Rekurs auf ihre Subjekte letztendlich geklärt werden kann. Das bedeutet, daß das sprachliche Objekt selbst in seiner von beiden Partnern erarbeiteten Gestalt der Gegenstand ist, der zu klassifizieren wäre. Erst so könnte sich eine wirkliche Gesprächstypologie ergeben. Sie würde dann nicht mehr eine Klassifikation der außersprachlichen mittels Gespräch verfolgten Zwecke darstellen, sondern nach im Gespräch selbst realisierten Typen dialogischer Kommunikationsformen suchen. b) Der pragmatische Impetus braucht sich nicht auf den Handlungs-Charakter des Gesprächs insgesamt fixieren. Schon die Sprechakte innerhalb eines Gespräches teilen mehr als nur die Intention der sprechenden Person mit. Sie wollen einen Effekt erzielen (Perlokution). Auch die einzelnen Gesprächsbeiträge lassen sich darum als zielgerichtete Handlungen verstehen. Das Handlungsziel bzw. das Gesprächsziel entscheidet über die Gestaltung des Gesprächsbeitrags. Eine Äußerung ist darum strategisch angelegt: Sie folgt handlungsleitenden Regeln. Anhand seiner strategischen
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46
MACKELDEY, 9 5 .
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Ebd.
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MACKELDEY, 8 4 .
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MACKELDEY, 8 5 .
Bedeutung innnerhalb eines Handlungsgefüges wird ein Gesprächsbeitrag als eigene Einheit abgrenzbar und beschreibbar. Der amerikanische Sprachphilosoph H. Paul Grice hat sogenannte ,Gesprächsimplikaturen' benannt, die sehr wirkungsvoll für die Diskussion geworden sind. Es geht um die in der Kommunikationsform Gespräch als solcher von den Teilnehmern gestalteten Idealisierungen. Sie folgen einem „Kooperationsprinzip", das sich folgendermaßen formulieren läßt: „Mache deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es von dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Gesprächs, an dem du teilnimmst, gerade verlangt wird." 50 Das Prinzip entfaltet sich in vier Maximen, deren Einteilung dem Kantschen Kategorienschema folgt. Sie lauten samt ihren Untermaximen: 1. Doppelmaxime der Quantität: „Mache deinen Gesprächsbeitrag so informativ wie (für die gegebenen Gesprächszwecke) nötig." „Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig."51 2. Maxime der Qualität: „Versuche deinen Beitrag so zu machen, daß er wahr ist." Untermaximen: „Sage nichts, was du für falsch hältst." „Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen." 3. Maxime der Relation: „Sei relevant." 4. Maxime der Modalität: „Sei klar." Untermaximen: „Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks." „Vermeide Mehrdeutigkeit." „Sei kurz (vermeide unnötige Weitschweifigkeit)." „Der Reihe nach!"52 Abweichungen von den Maximen kommen im faktischen Gespräch vor, werden aber von den Gesprächspartnern als erklärungsbedürftiger Einzelfall interpretiert. Neben dieser Aufstellung universaler Gesprächsstrategien haben andere versucht, die im gesellschaftlichen Kontext befolgten konventionellen Strategien zu benennen. Geoffrey Leech postulierte 1983 ein Höflichkeitsprinzip: ,Maximiere Übereinstimmung zwischen Selbst und Gegenüber.' 53 Es verwirklicht sich in drei Paaren von Maximen: la. Takt: Minimiere Kosten für Gegenüber und Nutzen für Selbst. Ib. Freigiebigkeit: Minimiere Nutzen für Selbst und maximiere Kosten für Selbst. 2a. Billigung: Minimiere Tadel für Gegenüber und Lob für Selbst. 2b. Bescheidenheit: Minimiere Lob für Selbst, maximiere Tadel für Selbst. 3a. Übereinstimmung: Minimiere Nicht-Übereinstimmung zwischen Gegenüber und Selbst. 3b. Mitgefühl: Minimiere Nicht-Zuwendung zwischen Gegenüber und Selbst.54 Darin sind die konventionellen Höflichkeitsregeln inkorporiert, die Robin Lakoff 1973 zuerst formulierte: 1. ,Dränge dich nicht auf.'2. ,Gib Wahlmöglichkeiten.'3. ,Handle so, als wären Du und Dein Gesprächspartner gleich.' 55
50 H.P.GRICE, Logik and Konversation, [ 1 9 7 5 ] , 2 4 2 - 2 6 5 ; de Vortrag wurde bereits 1968 gehalten. 5 1 GRICE, 249; die beiden folgenden Maximen ebd. 52 GRICE, 2 5 0 . 54 LEECH, 132. 55 R.LAKOFF, What
248.
Der zugrundeliegen-
53 LEECH, 81.
can you do with words, 1977, 7 9 - 1 0 5 ; 88. Die trotz großer interkultureller Varianz sich durchhaltenden Grundstrategien der ,positiven Höflichkeit' des Aufeinanderzugehens und der,negativen Höflichkeit' des einander Freihaltens
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Auch für einzelne Gesprächstypen sind entsprechende Maximen zusammengestellt worden, so etwa für den Small talk 56 und den Klatsch 57 .
Wenn Gesprächsziele über Maximen angesteuert werden, dann läßt sich die daraus erwachsende Regelhaftigkeit des Gesprächsverhaltens darlegen. Zwar ist weniger eine klar umrissene Typologie zu erwarten. Immerhin wird auffallendes Gesprächsverhalten, in dem sich das Gespräch etwa von Schrifttexten unterscheidet, als Anwendung solcher Strategien erklärbar. Die Verwendung der Gesprächsstrategien schlägt sich darüber hinaus auch in Sequenzierungen nieder. Weitaus besser als intentionale Sprechaktsequenzen oder komplexe Sprechhandlungen sind bestimmte pragmatisch ausgerichtete sogenannte Gesprächszüge abzugrenzen als funktionale Einheiten. Kohnen 58 zeigt dies am Beispiel der „Zurückweisungen" auf. Gleiches gilt für das „Insistieren".59 Es läßt sich danach fragen, durch welche Gesprächsverfahren Rollen so eingenommen werden, daß Erzählungen dargeboten oder therapeutische Gespräche geführt werden können. 60 Die Strategien von Verkaufs- und Einkaufsgesprächen61 und Aufforderungshandlungen 62 sind ebenfalls untersucht worden.
Gesprächsbeiträge lassen sich erklären und einordnen nach ihrer Leistung, bestimmte Gesprächsziele zu erreichen. Gesprächszüge lassen sich klassifizieren in Hierarchien logisch möglicher Handlungsalternativen zur Erreichung eines Ziels unter Einbeziehung des Gegenübers und situativer Bedingungen. Gesprächsbeiträge gehören - jedenfalls in der Regel - in einen übergeordneten Gesprächzusammenhang und ordnen sich diesem funktional zu. Freilich läßt sich nun durchaus fragen, wie groß dieser übergeordnete Gesprächszusammenhang sein muß. Bezogen sich die universellen Gesprächsmaximen auf das Gesamtgespräch, mithin auf die soziale Situation ,miteinander sprechen', so können einzelne Gesprächszüge auch kleineren Einheiten wie einer Erzählung oder einem Argumentationsvon Zumutungen sind als „universal strategies of interaction" bewertet worden, deren Funktion darin besteht, ,Gesichtsverlust' („face threatening acts") zu vermeiden (P.BROWN/ S.LEVINSON, Universals in language use, 1978, 56-289 u. 295-310; 64f.). 5 6 SCHNEIDER, 1 5 7 - 1 9 1 . 5 7 J.BERGMANN, K l a t s c h , 1 9 8 7 ; 1 3 6 - 1 9 0 .
58 T.KOHNEN, Zurückweisungen in Diskussionen, 1987. 59 M.SCHECKER, ,Insistieren' als Typus strategischer Kommunikation, 1986, 241247. 6 0 R.HAUBL, G e s p r ä c h s v e r f a h r e n a n a l y s e , 1 9 8 2 ; 1 1 1 - 1 3 1 . 1 3 4 - 1 8 4 . 6 1 F.HUNDSNURSCHER/ W.FRANCKE, eds., D a s V e r k a u f s - , E i n k a u f s g e s p r ä c h , 1 9 8 5 .
62 F.-J.BERENS, Aufforderungshandlungen und ihre Versprachlichung in Beratungsgesprächen, 1978, 188-213. Die Rechtfertigungsinteraktion behandelt H.FRANKENBERG (Familienkonflikte und ihre sprachliche Bewältigung, 1979) von einem sprechakttheoretischem Hintergrund aus; vgl. außerdem R.HEINE, .Rechtfertigen', 1990.
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gang innerhalb eines Gesprächs zugeordnet sein. Aber es wird nicht immer nur erzählt und argumentiert. In der sprachwissenschaftlichen Forschung ist gegen die Maximen Griceschen Typs eingewendet worden, daß die Zweckrationalität der Maximen je nach Bedarf in alltäglichen Situationen extrem schwanken könne und überhaupt dort vergleichsweise niedrig gehalten werde.63 Damit ist freilich noch nicht ausgeschlossen, daß sich doch der einzelne Gesprächsbeitrag in gewisser Weise auf den vorhergehenden beziehen muß und durch den folgenden fortgeführt wird. Dieser Fragestellung werden sich die beiden noch verbleibenden Methodiken sozio-linguistischer Gesprächsforschung stellen. c) Bevor wir aber dazu kommen, sei noch kurz nach der Plausibilität der pragmatisch orientierten Gesprächsforschung für die Beschreibung des Seelsorgegesprächs gefragt. Für die vormoderne Seelsorge war eine Verankerung der gesprächsartigen Teile von Seelsorge in einem Wirkungszusammenhang die selbstverständliche und alleinige Form von Seelsorge. Erst und nur als liturgische Handlung der Beichte, als Aktion der Kirchenzucht oder als diakonische Hilfe an Kranken kam Seelsorge als kirchliches Handeln überhaupt in den Blick (vgl. 1.2.1.). Doch findet sich diese Verwendung des Seelsorgegesprächs auch in der Gegenwart, und zwar nicht nur in bestimmten Konzepten, sondern auch im Vollzug der Gesprächspraxis selbst. Wer im Seelsorgegespräch diskutiert, will den andern überzeugen. Wer fragt, will eine Antwort hören. Besuchte überlegen sich: „Was will die Pfarrerin von mir?" Das gilt natürlich noch stärker von bestimmten Ausprägungen kirchlicher Seelsorge. Ein Beispiel dafür: 1960 berichtet ein (katholischer) Seelsorger von „Erlebnisse[n] aus 1000 Hausbesuchen". 64 Handlungsziel seiner Gespräche ist immer das gleiche: eine katholische Lebensführung, wie sie sich vor allem im Besuch der Messe und katholischer Ehe- und Erziehungspraxis festmacht.
Die Differenz des neuzeitlichen Seelsorgegesprächs zu seinen Vorgängern liegt gerade darin, daß es ein neues Verständnis von Gespräch einbringt. Seelsorge, die in die Form bürgerlicher Gesprächskultur eingeht, gewinnt ihre Gestalt als ein von Handlungsdruck entlasteter Freiraum: Es muß (noch) nichts dabei herauskommen außer eben ,ein gutes Gespräch'. 65 Man möchte sich ,gut verstehen'. Man möchte gerade nicht unbedingt seine
63 W.-D.STEMPEL, Bemerkungen zur Kommunikation im Alltagsgespräch, 1984, 1 5 1 - 1 6 9 ; 164. 168.
64 T.BLIEWEIS, Warum kommen Sie, Herr Pfarrer? 1960; zitiert ist der Untertitel. 65 Auch T.BLIEWEIS stimmt dann fünf Jahre später Äußerungen von Bruno Dreher zur „Absichtlosigkeit" und Partnerschaftlichkeit im Hausbesuch summarisch zu (Der Hausbesuch des Pfarrers, 1965; 111).
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eigene Strategie durchsetzen, sondern gegenseitig aufeinander hören. Freilich, auch dies ließe sich dann als eine eigene Gesprächsstrategie beschreiben. Nur dürften die einzelnen Gesprächszüge wie im Alltagsgespräch sich sehr viel weniger als bei der Diskussion oder der ausgebauten Erzählung an übergeordneten Zielen orientieren. Ist doch ihr Ziel zunächst einmal vornehmlich, sich selbst auszudrücken. Darum scheinen die schon angekündigten kleinräumigen Analysen für den spezifisch schwach zielorientierten Charakter des bürgerlichen Seelsorgegesprächs besonders relevant. "As there was no existing linguistic description of interaction, let alone a linguistic theory of interaction, the only way forward was to analogise from existing grammatical theory."66 2.4. Diskursgrammatik (die „Discourse Analysis" der Birmingham Language School) Seit 1970 hat die „English Language Research Group" an der University of Birmingham sich um die Analyse von Gesprächen bemüht. Man suchte nach einer der grammatischen Sprachbeschreibung analogen Struktur des „spoken discourse". Dazu wollte man eine begrenzte, das System erschöpfende Anzahl an Klassifizierungen erhalten, die sich präzise und wiederholbar auf konkrete Daten anwenden lassen.67 Die Hierarchie von Diskursklassen wurde zunächst im Hinblick auf eine bestimmte Diskursart entwickelt: schulische Unterrichtsgespräche. Hier ließ sich zeigen, daß nicht die einzelne Äußerung (wie etwa der Satz in der Grammatik) die grundlegende Einheit des Gesprächs bildet, sondern der Gesprächsgang zwischen beiden Interaktionsseiten, .exchange' genannt. Damit wird nun endlich und darin liegt der Fortschritt gegenüber den bisher vorgeführten Analysemethoden - der interaktive Charakter des Gesprächs zum Untersuchungsgegenstand. Die nächsttiefere Klassifizierungsgröße wurde als ,move' bezeichnet. Im Unterrichtsgespräch besteht ein exchange typischerweise aus drei moves: Initiation - Antwort - Feedback. Oberhalb der Klasse des exchanges liegt die der transaction', darüber als Gesamtgröße die ,lesson'.
6 6 M . C O U L T H A R D / M . M O N T G O M E R Y / D.BRAZIL, D e v e l o p i n g a d e s c r i p t i o n o f s p o -
ken discourse, 1981, 1-50; 6. 67 COULTHARD/ MONTGOMERY/ BRAZIL, 2; z u m folgenden siehe den z u s a m m e n f a s -
senden Forschungsbericht über die Arbeiten von 1970-1981 (ebd., 1-50). Das gleiche Buch enthält eine Bibliographie der erschienenen Arbeiten (COULTHARD/ MONTGOMERY, eds., Studies in discourse analysis, 1981; 190-192).
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Die große Bedeutung und innere Struktur des exchange als interaktive Grundeinheit des Gesprächs konnte in einer ganzen Reihe von Details nachgewiesen werden. So ließ sich nun etwa auch der indirekte Sprechakt als eine innerhalb des exchange völlig klare Konkretisierung eines move darstellen. Aber man geriet doch in ein ähnliches Klassifizierungsproblem wie bei der Sprechakttheorie. Gegenüber den am System der Grammatik orientierten Idealen sprachlicher Klassifizierungen erwiesen sich die tatsächlichen Gespräche als ziemlich sperrig. Was bei dem stark strukturierten Diskurstyp Schulunterricht' noch als einigermaßen eindeutig erschien, ließ sich nur bedingt auf andere institutionelle Diskursformen übertragen. (Man untersuchte als nächstes Arzt-Patienten-Gespräche, Geschäftsbesprechungen und Fernsehdebatten. 68 ) Das informelle Gespräch wurde erst spät in die Überlegungen einbezogen. 69 Bei der grundlegenden Klasse des exchange erwies sich die Bestimmung seiner konstitutiven Teile und seiner Grenzen als bleibendes Problem, vor allem was den dritten move betraf: Er kann offensichtlich gerade in Alltagsgesprächen auch ausfallen.70 Das bedeutet aber, daß der nachfolgende move dann schon den nächsten Gesprächsgang eröffnet. Man versuchte, die Schwierigkeit in zwei Richtungen zu lösen. Zum einen nahm man nun die Tonhöhe und Abschlußmodulation mit in Betracht, um zu bestimmen, ob ein move einen exchange abschließt (bei normaler Tonhöhe oder Tonsenkung) oder einen neuen beginnt (bei Tonerhöhung).71 Zum anderen versuchte man, die Funktion der moves innerhalb des exchange zu formalisieren durch folgende Bestimmungen:72 Die initiation' hat eine bedingende Funktion (engl.: predicting), ist selbst aber nicht bedingt (predicted). Bei der Move-Sorte ,Antwort' verhält es sich genau umgekehrt. Der dritte move - jetzt „follow-up" genannt - ist nicht bedingt, sondern optional und bedingt auch seinerseits keine Fortführung. Dann ergibt sich als logisch vierte Möglichkeit eines move noch ein sowohl bedingter als auch bedingender move; er wird gefunden z.B. in jenen Schüler-Antworten mit erhobenem Ton am Ende der Antwort, die eine weitere Bestätigung durch den Lehrer erfordern („17?" - „Ja, richtig."), also ein doppelter follow-up.73 Außerdem möchte man nun quer zur exchange-funktionellen Abfolge von Initation und Antwort zwischen „elicitating" (E) und „informing" (I) moves
68
C O U L T H A R D / MONTGOMERY/ BRAZIL, 1 3 f f .
69 D.BURTON, Analysing spoken discourse, 1981, 61-81; 61f. Darüber hinaus erwiesen sich lange, monologische Gesprächsbeiträge als analytisch mit diesen Klassifizierungen nicht handhabbar, so daß man andere zur Hilfe nehmen mußte (COULTHARD/ MONTGOMERY/ BRAZIL, 3 I f f . ) .
70 BURTON, 63; ja, selbst die ,Antwort' ist nicht immer nötig (74). 71
C O U L T H A R D / MONTGOMERY/ BRAZIL, 2 0 .
7 2 M . C O U L T H A R D / D.BRAZIL, E x c h a n g e s t r u c t u r e , 1 9 8 1 , 8 2 - 1 0 6 ; 9 6 - 9 9 .
73 Neben dem bislang besprochen normalen „conversational" exchange ist dann 1981 von BURTON auch noch der eine „transaction" einleitende „explicit boundary exchange" eingeführt worden, z.B. eine Begrüßung oder Verabschiedung (73).
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unterscheiden.74 Beide kommen jeweils in zwei Subklassen vor: entweder als moves, die die Hauptinformation und eine Falsch-richtig-Antwort (engl.: „polarity") suchen bzw. bieten (El und II), oder als solche moves, die nur die Falsch-richtig-Antwort suchen bzw. bieten (E2 und 12). Innerhalb eines exchange - das ist der theoretische Zweck dieser Unterscheidung - darf nur, nach Analogie der Grammatik gefordert, einmal jeweils einer von diesen moves verwendet werden. Damit können nun auch ausgedehntere exchanges gedacht werden; so zum Beispiel folgender Exchange-Anfang: „Wo ist die Tasse?" (El) - „Warum fragst du?" (E2) - „Weil ich Durst habe" (12). Aber daß dadurch auch wirklich die Exchange-Grenzen bestimmbarer werden, gilt nur, solange die vorausgesetzte Regel, daß diese moves nur einmal im exchange vorkommen dürfen, Grundlage der Analyse ist. Mir scheint, daß davon abweichende Fälle gut denkbar sind, etwa eine weitere Gegenfrage („Warum nicht?"), die durch eine weitere Antwort („Weil doch soviel andere Tassen dastehen") beschlossen werden könnte?75 Der move seinerseits ist zusammengesetzt aus mehreren Elementen, den sogenannten „acts". Der grundlegende, für jeden move nötige act wird „head" genannt, übersetzbar vielleicht als .Hauptteil'. Ihm kann, aber muß nicht, auch ein „pre-head" vorausgehen und ein „post-head" folgen. Im Falle der Move-Sorte ,Eröffnung', kann sich vor den „post-head" noch ein act der Sorte „signal" setzen, der lediglich die Aufmerksamkeit herstellen soll. Eine ganze Reihe weiterer acts sind bestimmt worden.76 Auch deren Klassifizierung bereitet Probleme. Denn hier muß der Ubergang zwischen grammatikalischen Kategorien und Diskurskategorien gefunden werden.77 So enthalten die Definitionen der acts immer eine
74
C O U L T H A R D / BRAZIL, 1 0 1 - 1 0 3 .
75 COULTHARD/ BRAZIL würden solch eine weitere Frage als einen Herausforderungs-Move („challenge") werten, der einen neuen exchange einleitet (102). Das aber ist eben eine Frage der Definition. BURTON (69-73) bietet sieben verschiedene moves an, die folgende Funktionen erfüllen: 1 eine transaction rahmen, 2. einer transaction einen Fokus geben, 3. eröffnen, 4. erweitern („supporting), 5. herausfordern („challenging") 6. zur Eröffnung zurückkehren („bound-opening" nach einem „supporting move"), 7. auf der Eröffnung insistieren („re-opening" nach einem „challenging move"). 76 BURTON, 76-78. Die von BURTON revidierte Liste enthält folgende acts: 1. „marker" (well, o.k. etc., um ein Thema einzuführen), 2. „summons" (Aufmerksamkeit erringen), 3. „silent stress" (Betonung von 1. oder 2. durch eine Pause), 4. „Starter" (Vorbereitung für eine „initiation"), 5. „metastatement" (vorausgehende Bemerkung über Struktur des zu Sagenden oder Verlängerung des Rederechts), 6. „conclusion" (klärt die Struktur des vorausgehenden Diskurses), 7. „informative" (reine Information), 8. „elicitation" (Frage), 9. „directive" (will nicht-verbale Antwort erreichen), 10. „accusation" (will Entschuldigung erreichen), 11. „comment" (zusätzliche Information), 12. „accept" (,ja', ,hm' etc., um anzuzeigen, daß Vorhergehendes zustimmend verstanden ist), 13. „reply" (sprachliche Antwort auf „elicitation"), 14. „react" (nicht-sprachliche Antwort auf „directive"), 15. „acknowledge" (,ja' etc., „informative" in seiner Wichtigkeit verstanden), 16. „excuse" (verbale Antwort auf „accusation"), 17. „preface" (abseits liegendes Thema eingeführt), 18. „prompt" (z.B.: ,auf jetzt', um eine „directive" oder „elicitation" zu verstärken). Die Bezeichnung „signal" umfaßt die acts Nr. 1. und 2. 77
96
C O U L T H A R D / MONTGOMERY/ BRAZIL, 10f; v g l . 2 5 f .
grammatikalische ,Realisierung' und eine Beschreibung der Diskursfunktion. 78 Dabei gilt die grammatikalische Realisierung (Aussage, Befehl, Frage) häufig für mehr als eine Act-Sorte, und die Funktionsbeschreibung der acts mag in der Theorie zwar eindeutig klingen, doch de facto sind auf einen act durchaus divergierende Fortsetzungen denkbar. „Wo ist die Tasse?" könnte Frage, Anklage oder indirekter Befehl sein. Ablesbar wird dies erst aus der Reaktion des Interaktionspartners bzw. aus der Reaktion auf diese Reaktion. Dann aber ist also der genaue Typ eines act nicht in sich, sondern nur interaktiv bestimmbar. Die Autoren der Birmingham-Schule erklären, daß die Struktur von Interaktion solchen Charakter hat, daß jedes diskursive Ereignis durch das vorhergehende Ereignis definiert wird.79 Doch dies ist zu erweitern um die Einsicht, daß auch umgekehrt die Folgeereignisse das vorhergehende Gesprächsereignis definieren. Auch die Abgrenzung der dritten Klasse, der transactions, ist nicht ohne Probleme. Ein „preliminary", also eine Abgrenzung nach vorne, kann, aber muß nicht vorkommen. 80 Konstitutiv ist der „opening move", der dadurch definiert wird, daß er etwas ,Neues' ins Gespräch einbringt.81 Doch auch dies dürfte kaum immer eindeutig bestimmbar sein.82 Die Klassifizierungen der Birmingham-Schule 83 lassen sich auf viele Daten von Gespräch anwenden und bieten so ein hilfreiches Raster für die Analyse von Gesprächen als interaktiven Vorgängen. Aber es bleibt der Verdacht, daß das Raster nicht wirklich flexibel genug ist für die notorische ,Schwammigkeit' der Gesprächseinheiten gerade im Alltagsgespräch. Die eben besprochenen Schwierigkeiten, nach dem Modell grammatikalischer Klassifizierungen auch zu entsprechend eindeutigen diskursiven Einheiten zu gelangen, belegen dies. Die Klassifizierungen selbst müssen darum noch stärker in die interaktive Tätigkeit eingeholt werden. Das bedeutet dann aber eine Revision ihres Charakters als Klassifizierung, und es bedeutet eine Revision im Verfahren, klassifizierende Theorie zu gewinnen. Die Regelhaftigkeit des Gesprächs kann nicht mehr nach dem Modell der Grammatik konstruiert werden, und die Regeln dürfen nicht mehr als theoretisches System der Praxis vorauslaufend entworfen werden.
78
C O U L T H A R D / BRAZIL, 7 6 - 7 8 . F ü r d e n a c t „ a c c u s a t i o n " z . B . k l i n g t d a s d a n n s o :
„Realised by a Statement, question, command or moodless item. Its function is to request an apology or surrogate excuse" (77). 79
C O U L T H A R D / BRAZIL, 8 5 f .
8 0 BURTON 1 9 8 1 , 7 3 f .
81
Ebd.
82 Wieder bemüht man auch die Tonhöhe als mögliche Markierung der Grenzen der Transaction; bisweilen kann sie (von hoher Tonhöhe abfallender Abschluß) der alleinige Hinweis sein (COULTHARD/ BRAZIL, 106). 83 Außer den genannten Autoren sind in dieser Gruppe wichtig: John Sinclair, Michael Stubbs und Margaret Berry.
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turn-taking in conversation will be characterized as locally managed, party-administered, interactionally controlled, and sensitive to recipient design."84 2.5. Mechanismen interaktiver Wirklichkeitskonstruktion (ethnomethodologische„Conversation Analysis") Die bislang vorgestellten sozio-linguistischen Methoden haben eine Fülle an Schemata zur Analyse von Gesprächen dargeboten. Dabei stießen wir aber auch wiederholt auf zwei Problemkerne. Gerade im Hinblick auf die wenig strukturierten alltäglichen Gespräche traten als besonders fragwürdig zum einen die Klassifizierungen und zum anderen das Verhältnis von Gesprächstheorie und empirischen Gesprächsdaten hervor. Beides hängt miteinander zusammen. Die Klassifizierungen, wenn sie nicht wie im Fall der unter 2.1. vorgestellten Arbeiten sich von vornherein auf harte, objektiv meßbare Daten begrenzen, bleiben hinter der Vielfalt der Phänomene, die sie abbilden sollen, zurück. Bei groben Klassifizierungen wie den fünf universalen Sprechakten, den pragmatischen Dialogtypen und Konversationsmaximen war fraglich, ob bestimmte Fälle überhaupt darunter subsumiert werden können, und der strukturierende Erkenntnisgewinn für die Daten blieb gering. Bei spezialisierten Klassifizierungen hingegen wie der großen Liste an Sprechakten und den diskurs-grammatikalischen Einheiten war der Erkenntnisgewinn bei ,Anwendung' auf einzelne Daten zwar größer. Dafür handelte man sich aber die Unsicherheit ein, daß in praxi schwer zu entscheiden sein würde, ob bei konkreten Fällen der eine oder nicht doch ein anderer Typ oder beide in Mischform vorliegen. Eine Methode der Gesprächsanalyse, bei der aus der sprachphilosophischen oder grammatikalischen Theorie abgeleitete Klassifizierungen als Hypothese erst nachträglich empirisch erhärtet werden sollen, wird dem Phänomen Gespräch nicht ausreichend gerecht. Sie wird dem Phänomen Gespräch deshalb nicht gerecht, weil ihre Klassifizierungen eben die Wirklichkeit in einer Weise strukturieren, wie dies für die am Gespräch Beteiligten offensichtlich so nicht relevant ist, denn sonst würden diese sich ja besser an die von den Theorien vorgeschlagenen Klassifizierungen halten. Die Ethnomethodologie 85 beschreitet nun einen anderen Weg. Sie hat es 84 H.SACKS/ E.SCHEGLOFF/ G.JEFFERSON. A s i m p l e s t s y s t e m a t i c s f o r t h e o r g a n i z a -
tion of turn-taking for conversation, 1974, 696-737; 696. 85 Im Begriff Ethnomethodologie steht „Ethnie" für Mitglieder einer konkreten Gruppe von Personen, die in diesem Fall durch ihre gemeinsame Hervorbringung einer bestimmten sozialen Wirklichkeit bestimmt ist, und „Methodologie" für die Methoden, die jene Mitglieder selbst verwenden, um eben jene soziale Wirklichkeit zu erzeugen (vgl. W.PATZELT, Grundlagen der Ethnomethodologie, 1987; 14; J.STREECK, Ethnomethodologie, 1987, 672-679; 672). Es handelt sich um eine von A.Schütz beeinflußte
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zu ihrem Prinzip erhoben, im strengen Sinn induktiv und empirisch zu verfahren. Sie meinte bisweilen sogar, als ihr forschungsmethodologisches Proprium angeben zu müssen, sie setze keinerlei Theorie voraus und sei als Theorie gar nicht darstellbar.86 Genauer und richtiger wird das zu modifizieren sein: Es geht darum, inhaltliche Postulate einschließlich der scheinbar so selbstverständlichen Wertungen und Zuordnungen (die etwa die Sprachphilosophie und grammatikalische Logik enthalten) zu sistieren zugunsten eines Interesses allein an dem „Wie-es-gemacht-wird".87 Die Mechanismen, Einteilungen und Erklärungen, die die Beteiligten selbst anwenden zur Lösung der sich ihnen stellenden Aufgaben, sollen herausgefunden werden. Daß es dabei doch schon von Anfang an theoretische Vorannahmen gibt und dann auch sukzessive eine Theorie solcher Mechanismen aufgestellt werden kann, hat sich im Laufe der Entwicklung ethnomethodologischer Forschung gezeigt. Es bleibt aber die Bemühung um die Annäherung an das Ideal, theoretische Vorentscheidungen so formal und wenig determinierend wie möglich zu halten. Eine Arbeitsrichtung innerhalb der Ethnomethodologie ist die sogenannte „Konversationsanalyse". 88 Sie wählte Alltagsgespräche zum Ausgangspunkt ihrer Forschungen, zunächst Telephongespräche, um den Faktor nonverbaler Verständigung vorerst ausschließen zu können. 89 Da zeigt sich: Die Ordnung des Gesprächs ist nicht einfach da - etwa als schematischer Vollzug eines Ablaufs, nach dem sich jedes Alltagsgespräch eindeutig klassifizieren ließe. Sie wird statt dessen eigens im Gespräch selbst hergestellt, und zwar gemeinsam von den Akteuren selbst („local management system" als „interactionally managed system" 90 ). Diese Herstellung geschieht nach ganz einfachen Mechanismen. Sie sind sehr wohl sozial erlernt
Richtung der Soziologie, deren erste Anfänge vor allem auf Harold Garfinkel (1954) und aber auch auf Aaron Cicourel (1964) zurückgehen. Ihr Angriff auf die Prämissen der quantitative und theoretische Hypothesen überprüfenden Soziologie stempelte sie bis in die siebziger Jahre hinein zum Außenseiterdasein ab (Genaueres zur Entwicklung und Rezeption der Ethnomethodologie bei PATZELT, 14-25). 86 PATZELT kritisiert diese erkenntnistheoretisch nicht haltbare Überspitzung zu Recht (33) und legt überzeugend und erstmals in dieser Umfassendheit die Grundsätze einer „allgemeinen ethnomethodologischen Theorie" dar (31-150). 87
PATZELT, 3 7 .
88 Uberblicke bei: J.STREECK, Konversationsanalyse - ein Reparaturversuch, 1983, 72-104, mit einem Glossar deutscher Übertragungen für die englischen Fachbegriffe der Konversationsanalyse (lOlf.); J.HERITAGE, Recent developments in conversation analysis, 1985, 1-19; STREECK 1987; W.KALLMEYER, Konversationsanalytische Beschreibung, 1988, 1095-1108. Neben verstreuten Beobachtungen von Garfinkel waren die Untersuchungen von Harvey Sacks grundlegend, zum guten Teil mit Schegloff und anderen. 89 E.SCHEGLOFF, Sequencing in conversational openings, 1968, 1075-1095. 90
SACKS/ SCHEGLOFF/ JEFFERSON, 7 2 5 .
99
und durch Situationen bedingt (kontextabhängig), aber sie werden realisiert in jeweils ,kontexterneuernden' Aktionen. Ihr .kontextsensitiver'91 Charakter besteht darin, daß sie mit großer Flexibilität je für den Einzelfall soziale Wirklichkeit rekonstruieren. Die konversationsanalytische Erforschung kann darum in zwei Richtungen gehen. Sie kann (a) in konkreten Daten diese ,allereinfachsten' Mechanismen („simplest systematics") als überhaupt in Gesprächen opererierende Organisationswerkzeuge entdecken und ihren Regelcharakter zu erfassen versuchen. Und sie kann (b) zeigen, wie unter Verwendung dieser Mechanismen der institutionelle Kontext von Gesprächen ebenfalls lokal ausgehandelt, also rekonstruiert wird.92 a) Es geht hier um die Mikrostrukturen des Gesprächs. Der wichtigste gefundene Ordnungsfaktor ist das sogenannte „tum-taking", die Verteilung des Rederechts.'3 Wann wer von den am Gespräch beteiligten Partnern spricht, dieses Problem wird im Gespräch permanent durch bestimmte Mechanismen geregelt. Bei Turnzuweisung fallen Regelmäßigkeiten auf. Sie lassen sich als Regeln formulieren, die - eines der Kennzeichen konversationsanalytischer Regeln - konditioneile Relevanzen angeben: Eine Person, die gerade spricht, hat die Möglichkeit, frühzeitig im turn die als nächstes sprechende Person auszuwählen, etwa indem sie eine Frage formuliert. Daraufhin wird erwartet, daß die so gewählte Person den turn übernimmt. Wendet die gegenwärtige Sprecherin solche Technik nicht an, steht der nächste turn frei zur Selbstwahl des Gegenübers. Wird diese Option nicht angenommen, kann die gegenwärtige Sprecherin sich selbst wählen. Solcherart Turnzuweisungsverhalten setzt für die Folgeaktivität Relevanzen: Das Folgende wird in seiner Relevanz danach gemessen, wie es in das durch das Vorhergehende geschaffene Bedingungsgefüge paßt. Auch die Nicht-Wahl wird so als relevantes Verhalten erkennbar. Das „turn-taking" läßt sich auch aus der Perspektive der hörenden Person beschreiben: Während das Gegenüber spricht, hat sie entweder die Möglichkeit, dann einen turn zu beginnen, wenn ihr der turn vom Redenden zugeteilt wird. Sie kann außerdem, wenn der Redende seinen turn beendet hat, sich den neuen turn nehmen. Denkbar ist auch, daß sie den Redenden einfach unterbricht. Dann aber wird dieser neue Turn eben gerade explizit als auf den alten bezogen eingeführt werden: ,Tschuldigung, aber ...' womit angezeigt wird, daß das Rederecht des anderen verletzt, die bislang geltende Relevanzordnung sistiert wird und dafür eine Begründung geliefert werden muß. Es gibt für die mündliche Rede spezifische Ausdrücke, deren Hauptfunktion ist, einen turn zu verlassen (ne?, wa?, oder?) oder den neuen turn aufzunehmen, bevor noch inhaltlich etwas formuliert ist (äh, na, aber).94 Jeder Gesprächsbeitrag ist also turn-bezogen, denn er regelt in seiner Formulierung zugleich Übernahme und Vergabe des turn. Doch nicht nur die Übernahme und Vergabe von turns
91
SACKS/ SCHEGLOFF/ JEFFERSON, 6 9 9 .
92 Vgl. die Ü b e r s i c h t bei J.STREECK 1983, 99. 9 3 J.STREECK 1 9 8 3 , 7 6 - 8 2 .
100
9 4 J.STREECK 1 9 8 3 , 7 9 f .
wird interaktiv geregelt, auch die sonstige Gestaltung des turn geschieht interaktiv. Der Wechsel im Gegenüber, zu dem gerade gesprochen wird (jemand Neues tritt in die Runde), etwa kann verantwortlich sein für plötzliche Brüche und Selbstkorrekturen im gerade formulierten Satz.95 Neben den bedingten Relevanzen spielt bei den Regeln des interaktiven Aufbaus von Ordnung noch ein weiterer Mechanismus eine wichtige Rolle: die Organisation nach Präferenzen. Auch im Fall der schon eben angesprochenen Korrekturen oder .Reparaturen' von Gesprächsbeiträgen sind die Optionen nach Präferenzen geordnet. Die Präferenz kann empirisch an der Häufigkeit der gewählten Optionen abgelesen werden. Vorgezogen wird die Selbstkorrektur; wird die Korrektur durch das Gegenüber initiiert, dann wird die Selbstdurchführung der Korrektur dem vorgezogen, daß das Gegenüber die Korrektur vollzieht. Grammatikalische Inkongruenzen bei solchen Korrekturen werden in Kauf genommen, weil der Vorteil, das Rederecht zu behalten und also den turn tatsächlich auch auszuführen, Priorität hat. 96 Turns sind durch konditioneile Relevanz und Präferenzen miteinander verbunden. Daraus ergibt sich ein drittes Organisationsprinzip, die sequentielle Organisation.''7 Die einfachste und eindeutigste Sequenzfolge bilden die „Paarsequenzen" (adjacency pairs), benachbarte turns verschiedener Sprecher wie etwa Gruß - Erwiderung, Feststellung - Zustimmung, Kompliment - Entgegnung, Frage - Anwort. Was ein Gesprächsbeitrag sagt, wird erst klar, wenn er Teil einer Sequenz geworden ist, nämlich durch den folgenden turn des Gegenübers; danach kann der erste Sprecher, wenn er diese Behandlung seines turn nicht akzeptieren sollte, seinerseits reagieren. Besonders untersucht worden ist die sequentielle Ordnung bei der Aufnahme und bei der Beendigung von Gesprächen.98 Diese Mikromechanismen des Gesprächs zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich einerseits durch die gesamte konversationelle Organisation durchziehen, wie auch immer der einzelne Kontext, die einzelne Situation beschaffen sein mag. Zum anderen sind sie so einfach und flexibel, daß sie je singuläre Gesprächsdurchführungen in allen Variationsbreiten erlauben. Diese Mechanismen werden selbstverständlich auch beim Seelsorgegespräch zu finden sein. So bewährt sich zunächst einmal die Konversationsanalyse für die Beschreibung der Mikrostruktur des Gesprächs. Aber es kommt zu Auswei95 J.STREECK 1983, 80, verweist auf ein Beispiel bei C.GOODWIN (The interactive construction of a sentence in natural conversation, 1979, 97-122), wo dreimal innerhalb eines turn das Gesagte wechselnden Personen, zu denen gesprochen wird, so angepaßt wird, daß ihr (in diesem Fall unterschiedliches) Vorwissen berücksichtigt ist (engl.: recipient design). 96 J.STREECK 1983, 82-88. 97 J.STREECK 1983, 88-96. 98
SCHEGLOFF 1 9 6 8 ; SCHEGLOFF/ SACKS/JEFFERSON; v g l . die F r a g e s t e l l u n g v o n S a c k s :
Wie wird die Identitätsfeststellung zu Beginn eines Telephongesprächs hergestellt? Wieder stößt man auf ein Gefüge von konditionellen Relevanzen und Präferenzen Q.STREECK 1 9 8 3 , 92f.).
101
tungen. Längere Sequenzen sind untersucht worden wie die Struktur von Witzen und von Erzählungen." Auch hierbei handelt es sich um Gesprächssequenzen, die in allen möglichen Zusammenhängen vorkommen können. Dann stellt sich aber zusätzlich die Frage nach ihrer Einbettung in ihr Umfeld mit einer dezidiert anderen Verteilungsweise des Rederechts. 100 Und man möchte dann wissen, wie eigentlich solche Uberwechselvorgänge innerhalb von Gesprächen organisiert werden. Wie kommt es etwa von der zwanglosen Plauderei zum Gruppentherapie-Gespräch? 101 b) Damit begibt sich die Konversationsanalyse in einen zweiten Bereich. Die Flexibilität dieser Mechanismen bedeutet offensichtlich nicht, daß sie nur als etwas vom institutionellen Kontext Abgehobenes behandelt werden müssen. Vielmehr sind auch diese Mechanismen daran beteiligt, Kontexte herzustellen. Die Frage ist dann, wie im einzelnen diese Rekonstruktion institutioneller Wirklichkeit vonstatten geht.102 Der Linguist Heiko Hausendorf hat dies gerade für die Institution der Krankenhausseelsorge vorgeführt. 103 An einer einzigen Gesprächsaufnahme arbeitet er heraus, wie hier zwei verschiedene ,Definitionen' von Krankenhausseelsorge jeweils interaktiv von beiden Beteiligten aufgebaut werden. Das methodische Vorgehen, das Hausendorf wählt, ist ebenfalls das einer R e konstruktion' . Zuerst wird die These vorgestellt, dann wird sie an einer minutiösen - und am Wortlaut des Gesprächs überprüfbaren - Interpretation des Gesprächsvorganges durchgeführt. Hausendorf greift auf die Erkenntnisse mikroanalytischer Konversationsanalyse zurück; er achtet besonders auf den jeweiligen interaktiven Zusammenhang. Das Hauptgewicht der Analyse liegt aber darauf zu zeigen, wie in der Interaktionsform selbst die jeweilige Definition von Seelsorge durch die Beteiligten rekonstruiert wird. Die erste Definition von Seelsorge besteht in der Selbstlegitimierung von Seelsorge durch die „Seelsorgebedürftigkeit" derjenigen Seite im Gespräch, der die Präferenz der Sprecherrolle zukommt in einer insgesamt durch Anonymität gekennzeichneten Beziehung (darin ganz vergleichbar sonstiger institutioneller Hilfe). 104 Der ausgewählte
99 H.SACKS, O n the analyzability of stories by children, 1972, 329-345; H.SACKS,
An analysis of the course of a joke's telling in conversation, 1974, 337-353; H.SACKS, Some technical considerations of a dirty joke, 1978, 249-269. G.JEFFERSON, Sequential aspects of storytelling in conversation, 1978, 219-248; H.SACKS, Some considerations of a story told in ordinary conversations, 1986, 127-138. 100 SACKS 1972 u . 1986; JEFFERSON 1978.
101 R.TURNER, Some formal properties of therapy talk, 1972, 367-396. 102 Vgl. dazu insgesamt die Beiträge in: D.BODEN/ D.H.ZIMMERMAN, Talk and social structure, 1991. 103 H.HAUSENDORF, Reproduktion von Seelsorgebedürftigkeit vs. Sinnstiftung, 1988, 1 5 8 - 2 1 4 . 104 HAUSENDORF, 1 5 9 - 1 6 4 .
102
Gesprächsabschnitt enthält einen längeren Teil, in dem ein anderes Gespräch, gekennzeichnet durch Gesprächssymmetrie und Intimität, in Konkurrenz zur ,Seelsorge' tritt. Deshalb kann hier die Differenz besonders gut im Detail studiert werden. Als die ,Störung' durch andere ins Zimmer kommende Personen eintritt, muß der Patient in seinem Gesprächsverhalten über die Fortsetzung von „Seelsorgebedürftigkeit" entscheiden.105 Doch zunächst übernimmt das nichtseelsorgerliche Gespräch mit der hereingekommenen Person einfach die Führung, wird Wertschätzung durch persönliche Details und vierfach immer wiederaufgeschobene Verabschiedung dokumentiert.106 Danach folgen Versuche des Seelsorgers, die Andersartigkeit des Seelsorgegesprächs wieder aufzubauen. Der Patient wird animiert, seine Bereitschaft zur Fortsetzung des Gesprächs zu bekunden. Da er dies aber nicht tut, sondern die Grenzen verschwimmen läßt (sagt, er habe „gerne eine Unterhaltung" mit dem Pfarrer)107, thematisiert der Pfarrer zuletzt ausdrücklich selbst die Notwendigkeit solcher Bereitschaft durch den Patienten. Damit setzt der Seelsorger implizit die institutionelle Festsetzung, innerhalb derer sein Gegenüber als Patient einer 'seelsorgerlichen Behandlung' bedürftig sein muß, als normativ fest.108 Im zweiten Gesprächsteil ergibt sich eine andere Definition von Seelsorge, nämlich als „Sinnstiftung": Der Seelsorger soll unter Rekurs auf das Religionssystem Gewähr dafür bieten, daß der Patient den Glauben nicht verliert, daß er in dieses Religionssystem integriert bleiben kann.109 In diesem Fall verweigert der Seelsorger diese Rolle und wird von dem Patienten aber immer wieder in diesen Interaktionstypus gedrängt, bis er zuletzt ihn teilweise dann doch übernimmt, allerdings in einer Weise, die für den Patienten nicht ausreicht und so zum Abbruch des Gesprächs führt.110 Über die Definition von Seelsorge besteht keine Übereinstimmung. Aber in Erstrebung ihrer Rekonstruktion auf Seiten des Patienten und Ablehnung durch den Seelsorger ist doch diese Definition als eine gesellschaftlich und institutionell hier anerkannte gemeinsam sogar noch im Widerstreit wiederhergestellt worden. Gesprächsanalyse kann also erhellen, wie institutionelle Rahmenbedingungen singular ausgefüllt werden, und darüber hinaus die Existenz solcher institutioneller Rahmenbedingungen empirisch belegen. Für den uns interessierenden Fall einer Seelsorge, die viel weniger als die Gespräche im Krankenhaus institutionell festgelegt ist, ließe sich von einer entsprechenden Analyse der interaktiven Definition des Gesprächs einiges erwarten. D o c h muß der Ertrag ethnomethodologischer Forschung für das Gespräch auch nicht auf die Analyse einzelner Gespräche begrenzt sein. J ö r g Bergmann hat eine Arbeit zu einer alltäglichen informellen Gesprächsform, dem Klatsch, vorgelegt. Sie behandelt diejenigen wirksamen Konstellationen, die für diese Interaktionsform konstitutiv sind. D a hier eine variationsreiche „großformatige" Interaktionsform beschrieben werden
105 HAUSENDORF, 167.
106 HAUSENDORF, 1 6 5 - 1 7 2 .
107 HAUSENDORF, 174.
108
109 HAUSENDORF, 1 7 5 - 1 7 7 .
110 HAUSENDORF, 1 7 7 - 1 8 8 .
Ebd.
103
soll, kann die Darstellung nicht als durchgehende Explikation von Einzeltexten erfolgen. 111 So bietet Bergmann eine Ubersicht über das interaktive Inventar des Klatsches und einzelner besonders kennzeichnender Sequenzabschnitte, immer wieder durchbrochen durch exemplarische Analysen einzelner Gesprächsabschnitte. Konstitutiv für den Klatsch ist die „Klatschtriade" von „Klatschobjekt", „Klatschproduzent" und „Klatschrezipient". 112 Die „Klatschsequenz" besteht aus mehreren Teilen. Im Eingangsteil erfolgt die „interaktive Absicherung von Klatsch": 113 Die Bekanntheit des Klatschobjektes ist sicherzustellen; 114 in mehreren turns („Klatscheinladungen" und „Klatschaufforderungen") wird ausprobiert, ob angebotenes Wissen entsprechend aufgenommen werden wird oder der zukünftige Klatschproduzent bereit ist zum Klatsch. 115 Einzelne Elemente des Klatschens selbst („Wissensautorisierung", „Reputationsgefährdung", „Ereignisrekonstruktion" durch Zitate, „moralische Entrüstung" und „soziale Typisierung" 1 1 6 ) lassen sich ebenfalls in ihrer interaktiven Gestalt beschreiben. Zuletzt kommt die „Beendigung von Klatsch als interaktives Problem." 1 1 7 Anders als sonst gibt es dafür keine eigenen Mechanismen. Außeneinwirkung (keine Zeit, jemand kommt hinzu) oder Erschöpfung bilden das typische Ende des Klatsches. Es ergibt sich so ein Gesamtbild davon, mit welchen Mitteln hier die „Sozialform der diskreten Indiskretion" 118 erreicht wird.
Der ethnomethodologische Zugriff bewährt sich also nicht nur in der Mikroanalyse des Gesprächs. Er kann die Rekonstruktion institutioneller Gesprächssituationen und soziale Gesamtformen des Gesprächs umfassen. Es wird zu überprüfen sein, ob sich in den Gesprächen der Alltagsseelsorge einzelne typische Gesprächssequenzen und interaktiv erstellte Größen des Gesprächs erheben werden lassen. Die konversationsanalytische Methodik erweist sich somit für unsere Zwecke als die geeignetste. Die Klassifizierungen der anderen Analysemethoden sind nicht umsonst vorgestellt worden. Auch sie werden da und dort hilfreich sein für die Benennungen von einzelnen Beobachtungen; entscheidende Ergebnisse aber verspricht erst das ethnomethodologische Verfahren. Denn die Konversationsanalyse führt über die Problematik vorab theoretisch entworfener Klassifizierungen hinaus, indem sie ihre Einteilungen an konkreten Gesprächen möglichst weitgehend selbst erarbeitet. Sie nimmt ihren Ausgang beim Alltagsgespräch. Sie konzentriert sich konsequent auf den interaktiven Charakter des Gesprächs, seine Mechanismen und Gesprächstypen. Sie vermag Gesprächsmechanismen sowohl unter Absehung von seiner situativen Verortung verallgemeinernd zu 111 BERGMANN, 59.
112 BERGMANN, 6 1 - 9 7 .
113 BERGMANN, 111.
114 BERGMANN, 118.
115 BERGMANN, 1 2 0 - 1 4 0 .
116 BERGMANN, 1 4 2 - 1 8 5 .
117 BERGMANN, 1 8 5 - 1 8 9 .
118 BERGMANN, Untertitel und 205-212.
104
erfassen wie auch den singulären Fall zu beschreiben. Sie hat sich bei nicht institutionalisierten wie stark institutionalisierten Gesprächsfomen bewährt. Sie legt nicht fest, was Seelsorge sein sollte, aber sie bietet ein Instrumentarium, um detailliert darzulegen, wie Alltagsseelsorge durch Gespräche abläuft, mit welchen Mitteln sie von beiden Seiten her organisiert wird.
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KAPITEL 3
Annäherung an die Daten 3.1. Das Institut,Geburtstagsbesuch' Die ethnomethodologischen Forschungen legen nahe, daß im Gespräch gerne eine interaktive Rekonstruktion der institutionellen Formung der Gesprächssituation stattfindet (2.5.b). Dann aber ist es sinnvoll, eine Orientierung über mögliche institutionelle Rahmenbedingungen der Gesprächssituation ,Geburtstagsbesuch' im voraus vorzunehmen. Damit werden nicht die Kategorien der Beobachtungen am Datenmaterial vorweggenommen. Der ethnomethodologische induktive Forschungsimpetus bleibt erhalten. Doch Rekonstruktion ist besser feststellbar, wenn zumindest ein vager Begriff schon davon besteht, was rekonstruiert werden wird. Damit wiederholen wir noch einmal das in Kapitel 1 verwendete Verfahren, über historische Herkunft und theologische Deutungsmuster eine theoretische Grundlage zu formulieren; nun aber geschieht dies für den präzisierten Bereich des Phänomens Geburtstagsbesuch. Eine solche Orientierung über die institutionellen Rahmenbedingungen des Geburtstagsbesuches ist noch aus einem weiteren Grund nötig. Sie kann zeigen, inwiefern in diesem Bereich sich tatsächlich die für die moderne Seelsorge allgemein geltenden Bestimmungen wiederholen. Nur dann dürften ja Ergebnisse aus der Analyse von Gesprächen bei Geburtstagsbesuchen durch Pfarrerin oder Pfarrer etwas davon einfangen, was die kirchliche Institution der Seelsorge überhaupt charakterisiert. Damit erst kann die Analyse des Falls ,Geburtstagsbesuch' als relevant für die Diskussion um die Gestalt der Seelsorge überhaupt gelten.
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„Unser Gespräch und die Freude, mein Töchterchen, deines Geburtstags Machte mein Herz unruhig. Wohlauf nun, Feuer gezündet! Flink, und Kaffee gekocht! Die lieben Kinder sind durstig!" Q.H.Voß, Luise, Erste Idylle) 3.1.1. Das moderne Geburtstagsfest a) D a ß überhaupt Geburtstag gefeiert wird, ist nicht so ,natürlich' und selbstverständlich, wie die gegenwärtige allgemeine Verbreitung der Geburtstagsfeier suggeriert. Zwar kannte schon die Antike die Feier des Geburtstages.1 Die Aufzeichnung des Tages der Geburt war wegen der Erstellung von Katalogen zum Zwecke der Auflistung wehrfähiger Männer von Bedeutung2; astrologische Gründe machten die Geburtszeit wichtig, gab sie doch Auskunft über den Charakter der Geborenen. Für die Feier des Geburtstags war die Vorstellung leitend, daß jedem einzelnen von Geburt her ein eigener Dämon beigesellt sei.3 Zu seiner Verehrung wurde der Tag begangen, und zwar zunächst monatlich bei der Wiederkehr der Tageszahl4 mit Opfern, Gebeten und entzündeten Lichtern.5 Bei den Reichen waren Geschenke, Festessen, Einladungen und Geburtstagsgedichte bekannt.6 Analog ließ sich auch die ,natalis' einer Gottheit der Stadt, eines Tempels oder des Antritts eines Amtes feiern.7 Die auch in Ägypten (vgl. Gen 40,20) und Persien bekannte öffentliche Begehung des Geburtstages des Gottkönigs übernahmen die Römer. 8 Der Geburtstag gestaltete sich also als Gedenken an die Geburt und als Wiederholung der Geburtskonstellation. Das frühe Christentum kritisierte z.T. (Tertullian, Origines) die Feier der Geburt des sündigen Leibes9 und propagierte (z.B. Ambrosius) anstelle der Feier des Geburtstages von Verstorbenen die ihres Todestages.10 Die christlichen Kaiser führten hingegen das jährliche Geburtstagsfest als Staatsfeiertag mit Zirkusspielen und Schauspielen fort.11 Die Natalis Solis Invicti wurde durch die auf den gleichen Termin gelegte Natalis Christi ersetzt12 und die Sonnenwendfeier durch die des Täufergeburtstages.13 Vom 8. bis zum 11. Jahrhundert waren Meßformulare für das Gedächtnis des Geburtstages in Gebrauch.14 Die Sitte, Heiligennamen zu geben, entstand im Zusammenhang der mit den Bettelmönchen im 12.-15. Jahrhunderts stets wachsenden Heiligenverehrung.15 Die Gegenreformation bemühte
1 Vgl. insgesamt W.SCHMIDT, Geburtstag im Altertum, 1908. 2 F.BOEHM, Geburtstag und Namenstag im deutschen Volksbrauch, 1938; 5. 3 BOEHM, 10. 2 3 .
4 BOEHM, 1 2 - 1 6 . 2 5 .
5 BOEHM, 18. 25f. 28. 7 BOEHM, 75-129.
6 BOEHM, 16-21. 28-30. 8 BOEHM, 53-75.
9 W.DÜRIG, Geburtstag und Namenstag, 1954; 14-17. 10 DÜRIG, 18. 2 4 . 2 8 .
11 DÜRIG, 2 5 f .
12 DÜRIG, 31-34.
13 DÜRIG, 36-39.
14 DÜRIG, 4 0 - 4 3 .
15 DÜRIG, 6 1 .
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sich, den im Spätmittelalter entstandenen Brauch der Namenstagsfeier zu beleben und baute sie aus zum konfessionsspezifischen „Kampfmittel gegen die Heiligenphobie der Reformatoren"16. Doch die Sitte des Namenstages hielt sich auch bei den protestantischen Siebenbürger Sachsen und in Schweden, im katholischen Oberschlesien fand sie dagegen keine Verbreitung.17 Im 19. Jahrundert feierten nur noch katholische Dörfer und Landstädte allein den Namenstag, während der Geburtstag neben dem Namenstag auch Eingang in Städte und Industriegebiete in katholischen Gegenden gefunden hatte.18 Inzwischen ist er allgemein verbreitet. Der konfessionsspezifische Ausgangspunkt bei der konkurrierenden Verbreitung von (protestantischem) Geburtstag und (katholischem) Namenstag wird von einer anderen Entwicklung überlagert: Die Geburtstagsfeier setzt sich allgemein durch als Begehung „eines modernen Festes". 19 Sie erhält ihre Plausibilität aus dem neuzeitlichen linearen Zeitverständnis, das die Zeit zugleich individualisiert und universalisiert. Der vormoderne Geburtstag oder Namenstag orientierte sich an der Wiederkehr eines bestimmten Punktes im astronomischen oder kirchenjahreszeitlichen Kreislauf. Die Wichtigkeit gerade dieses Punktes im Jahr ergab sich aus der öffentlichen Bedeutung dessen, der gefeiert wurde (König), oder der religiösen Bedeutung desjenigen, von dessen Namen man Schutz erwartete (Genius in der Antike bzw. Heiliger beim Namenstag). Der wievielte Geburtstag des Kaisers zu feiern wäre, war dafür irrelevant. Ebenso blieb es unwichtig, ob der wirkliche Geburtstermin mit dem Namenstag zusammenfiel oder nicht. Der moderne Geburtstag dagegen mißt die Zeit linear und bezieht sie auf das Individuum. „Man feiert nicht den Tag seiner Geburt als vielmehr das neue Lebensjahr, ,.." 20 Das neue Lebensjahr schlägt ein neues Kapitel der vom Individuum gedeuteten Lebensgeschichte auf; im Geburtstag verdichtet sich subjektive Biographie. Jeder soundsovielte Geburtstag stellt einen je eigenen, ganz einzigartigen und unwiederholbaren Augenblick in ihr dar, ein Stück der unaustauschbaren Individualität des Subjektes. Die interindividuell anerkannte Wichtigkeit des Geburtstages ergibt sich jetzt aus abstrakten Quantifizierungsregeln. Dem ,runden' Geburtstag kommt allein deshalb besondere Bedeutung zu, weil sein Quantifizierungsparameter, die Zehnerzahlen, besonders hervorgehoben ist. Unter biologischen Gesichtspunkten wie Pubertät oder im Hinblick auf soziale Stufen des Alterwerdens wie Mündigkeit, Erwachsenenrecht, Pensionierung hätten sie ja kaum eine Bedeutung.
16 DÜRIG, 71. 17 BOEHM, 23; vgl. M . - L . HOPF-DROSTE, D e r G e b u r t s t a g , 1979, 2 2 9 - 2 3 7 ; 2 3 1 f . 18 HOPF-DROSTE, 2 2 9 . 2 0 HOPF-DROSTE, 2 3 3 .
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19 HOPF-DROSTE, 2 2 9 .
b) Die Popularisierung der bürgerlichen Lebenskultur, die wir in Kapitel 1 für die Entwicklung der modernen Gesprächskultur nachzeichneten, findet auch hinsichtlich des neuzeitlichen Zeitbegriffs statt. Eines der Symptome dafür ist die moderne Geburtstagsfeier. Sie dürfte ihren Ausgangspunkt bei den noch repräsentativen Geburtstagsfesten von König und Adel genommen haben. Vom Mittelalter bis in das 18. Jahrhundert scheint der Geburtstag nur bei der Oberschicht einigermaßen verbreitet gewesen zu sein.21 In diesen Kreisen wurde auch der Geburtstermin wegen seiner Bedeutung für das Horoskop genau registriert.22 „... aus höfischer Umwelt wird die Geburtstagsfeier in das Bürgertum gedrungen sein, wo wir sie dann seit dem 17. Jahrhundert ihren bevorzugten Platz finden sehen."23 Freilich liegen für das 17. Jahrhundert eigentlich nur eine Fülle von Geburtstags· oder auch Namenstagsgedichten vor. 24 Für das 18. Jahrhundert sind dann ausführliche Geburtstagsfeiern im Bürgertum belegt. Das Geburtstagsideal ist beliebter Gegenstand des literarischen Genres der Idyllen. Johann Hinrich Voß beschreibt in „Der Siebzigste Geburtstag" (1781) das Fest eines Schulmeisters, Kantors und Küsters; dessen Höhepunkt besteht im Wiedersehen mit dem Sohn, der nach langen Mühen endlich eine Pfarrstelle erhalten hat und frisch vermählt ist. In „Luise" (1795) begeht die Familie den 18. Geburtstag der Pfarrerstochter mit einer Feier im Walde, am Ende wird sie von ihrem Vater mit ihrem Geliebten getraut. 1803 erschien von einem anonymen Verfasser „Der Geburtstag, eine Jäger-Idylle in vier Gesängen". Hier wird der sechzigste Geburtstag eines Försters ebenfalls im Freien begangen; der Sohn erhält an diesem Tag, weil er einen Wolf erlegt, eine Anstellung als Förster und bekommt seine Braut. Geburtstag wird hier zum Höhepunkt bürgerlichen Glücks stilisiert. In seiner Begehung treffen typische Werte bürgerlicher Lebenskultur der Zeit zusammen: der Sinn für das Schöne und Natürliche, nicht übertrieben dekadenter, aber doch den materiellen Erfolg signalisierender kulinarischer Genuß (der Kaffee wird besonders erwähnt; in allen drei Stücken ist ausführlich beschrieben, was gegessen und getrunken wird), romantische und familiäre Liebe, die Fortführung der Familie und der berufliche Erfolg. Dazu kommt bei Voß ein religiös geäußertes Gefühl der Dankbarkeit. Der Geburtstag kann aber auch zum Gegenstand der
Kindergeburtstag, 1 9 8 4 ; 1 6 . 22 Ebd. 23 BOEHM, 18; vgl. auch J . G R I M M / W. GRIMM, Art. Geburtstag, 1878; Z.1911f. Für das 16. Jahrhundert führt Grimm einen Beleg auf, wo jemand erst durch umständliche Berechnungen sein Geburtsjahr sich ins Gedächtnis zurückrufen muß (1911). 24 Gyphius, Opitz, Fleming, Tscherning, Hoffmann von Hoffmannswaldau, Gunther; Nachweise bei BOEHM, 48ff; 1636 erschienen in 3. Auflage Wolfgang Spangenbergs „Anbind- oder Fanbriefe", eine Sammlung von 39 Glückwunschgedichten für 19 verschiedene Heiligentage, versehen mit dem Untertitel „Glückwunschunge auff etlicher so wol Weibs als Mannspersonen Ehren Namen und Geburts Tage" (Angaben nach 2 1 R.FALKENBERG,
BOEHM, 5 6 ) .
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Kritik werden. Das Lustspiel in zwei Aufzügen von Franz von Heufeld, betitelt „Der Geburtstag" (1769), handelt von einem Geburtstag im adligen Wiener Milieu, bei dem eine Frau von Ehrenwerth vielerlei Besuche und Glückwünsche über sich ergehen lassen muß. Es gelingt ihr nicht, „die Ungelegenheit zu vermeiden, sich angratuliren zu lassen" (24). Sie muß die Gäste beköstigen. Eine Besucherin drängt ihr eine große abendliche Geburtstagsfeier auf, die im Fiasko endet. Man beschließt daraufhin, nie wieder Geburtstag als besonderen Tag zu feiern. Die (noch adlige?) Sitte beansprucht aber eben doch offensichtlich die Aufmerksamkeit des bürgerlichen Publikums.
Der Geburtstag ist im 18. Jahrhundert ein „oberschichtiger Brauch". 25 Gegen Ende des Jahrhunderts und im Verlauf des 19. Jahrhunderts entsteht aus dem großbürgerlichen Kinderkränzchenwesen unter Aufsicht der Erwachsenen auch eine eigene Gestaltung des Kindergeburtstages.26 Auf dem Lande hingegen wurde bis Mitte des 18. Jahrhunderts das Geburtsdatum nicht einmal in Kirchenbüchern festgehalten.27 Noch etwa bis zu Beginn dieses Jahrhunderts fiel dort die Begehung des Geburtstages eines Kindes weitgehend aus.28 Die im Bürgertum herausgebildete Beachtung auch des je individuellen Lebenspunktes für alle Altersstufen schafft sich ihren anschaulichen Ausdruck in der modernen Geburtstagsfeier. Die Geschenke, ursprünglich Opfergaben an den Dämon oder Repäsentationen des Lehnsverhältnisses, werden zum reinen Ausdruck entweder gesellschaftlicher Anerkennung (höfliches Geschenk) oder der Freundschaft (persönliches Geschenk). Die Kerze, aus dem Alltagsgebrauch durch Elektrifizierung vertrieben, dekoriert die herausgehobene Feier und rückt sie in die Nähe religiöser Symbolik. Die im religiösen Zusammenhang das göttliche Licht oder ein Licht für die verstorbene Seele veranschaulichende Kerze steht nun für das Lebenslicht; in jüngerer Zeit setzt sich auch hier die quantifizierende Logik durch: die Anzahl der Lebensjahre werden durch Kerzen abgebildet.29 Das ganz individuelle Licht auf dem mit Geschenken übersäten Altar für die Feier des Subjektes - so inszeniert das Geburtstagsfest eine höhere, eine religiöse Weihe. Es ist ein markanter Punkt privater bürgerlicher Religion. Im Geburtstag feiert das Subjekt den Zusammenhang seines Lebens. Familiäre Kohärenz, subjektives Lebens- und Liebesglück und soziale wie berufliche Stellung verdichten sich zu einem Ganzen. c) Eine Beteiligung der Kirche an der Feier des Geburtstags ergibt sich nicht von sich aus. In den Stationen des Kirchenjahres kommt der Geburtstag ebensowenig vor wie bei den kasuellen Amtshandlungen an Individuen. So 25 H.MÖLLER, Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert, 1969; 189. „In kleinbürgerlichen Biographien ist mir kein Hinweis begegnet" (ebd.). 26
FALKENBERG, 1 9 .
27
FALKENBERG, 1 6 .
28
FALKENBERG, 2 0 f .
29
HOPF-DROSTE, 2 3 7 .
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scheint sich der kirchliche Besuch anläßlich eines Geburtstags keineswegs sofort mit der Verbreitung der modernen Geburtstagsfeier eingestellt zu haben. Auf jeden Fall ist der Niederschlag davon in der Seelsorgeliteratur äußerst spärlich. Wahrscheinlich dürfte es zunächst zu Einladungen an den Pfarrer als Repräsentanten eines öffentlich angesehen Amtes zu Geburtstagsfeiern ähnlich angesehener Personen gekommen sein. Gerade auf dem Lande war der Pfarrer Gesprächspartner und zum Teil auch Freund in den höheren Ständen.30 Erst Mitte der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts ist es im Zusammmenhang mit dem Ausbau einer eigenständigen Mitgliederpflege unter Einsatz bürokratischer Hilfsmittel (Kartothek) zum ersten Mal zu geplanten Besuchen von ganzen Gruppen von Gemeindegliedern am Geburtstag gekommen. Nach Ende der Staatskirche mußten die Landeskirchen erst einmal einen Uberblick über ihre Mitglieder gewinnen. So ordnete etwa das Bayrische Oberkonsistorium Anfang 1919 eine „bis Ende des Jahres zu vollziehende Feststellung des Personalbestandes der evangelischen Kirchengemeinden" an. 31 Pfarrer Max Wehe aus Dessau schreibt 1926 in einem Bericht, der die „Gemeindekartothek als unentbehrliches Hilfsmittel der systematischen Gemeindepflege" preist: „eine ganz andere Erfahrung brachte die statistische Erfassung der Alten. Unsere Alten über 70 Jahre werden durch die Frauenhilfe an ihrem Geburtstage besucht und mit kleinen Gaben erfreut. Dieser Entschluß war natürlich erst möglich geworden, nachdem die Kartothek die Alten mit Namen und Geburtstag herausgegeben hatte." 32 „... gerade bei dem Hausbesuch spürt man doch, daß die Kirche sich organisieren muß". 3 3
Im Deutschen Pfarrerblatt von 1925 finden sich mehrere Artikel zum Thema Hausbesuch.34 Darunter ist auch ein Bericht eines Pfarrer Eierbach aus Gossel in Thüringen. Er dokumentiert die Neuheit der systematischen Geburtstagsbesuche und gibt einen Einblick in die pastorale Motivlage für eine derartige Aktivität. Das Dokument sei darum vollständig zitiert. 30 Ein literarischer Niederschlag davon findet sich z.B. in der Figur des „Pastor Lorenzen" bei Theodor Fontane, Der Stechlin (1899). 31 [ANONYMUS], Familienregister, 1919, 313. 32 M.WEHE, Die Gemeindekartothek als Hilfsmittel der Seelsorge, 1926, 222-225; 222. 33 Pfr. Lie. MÜLLER an der Johanneskirche in Breslau (Die Hausbesuche des Großstadtpfarrers, 1929, 106-111), 108. Geburstagsbesuche sind hier nicht ausdrücklich erwähnt. Auch O.STEINHÄUSER (Seelsorgebesuch - aber wie?, 1936/37, 402-409) ruft dazu auf, „bei ihrer [der Seelsorgebesuche, E.H.] Einrichtung planvoll vorzugehen" (404). 34 Pfr. WAHL (Hausbesuche, 1925, 163-165. 183f. 203f.) bringt einen gerafften historischen Uberblick zum Thema und schließt mit dem Satz „So bleibt auch die Weise des pastoralen Hausbesuchs in letzter Instanz Gewissenssache des einzelnen Amtsträgers." Außerdem A.WAUBKE, Hausbesuche. Ein Versuch zur grundsätzlichen Klärung, 797f.
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„Hausbesuche zu machen, fällt vielen unter uns recht schwer. W o soll man anfangen? Wie sie einteilen? Das sind äußere oft schwere Fragen. Die mehr inneren sind noch zahlreicher und schwieriger. Was soll man mit den Leuten reden? Vieles kommt von selbst zur Besprechung: Politik, Wirtschaft, Krankheitsgeschichten usw. Schwieriger ist es schon, die Rede auf kirchliche Belange zu bringen. Aber Hausbesuche sollen seelsorgerliche Besuche sein. W i e schwer aber ist es, auf religiöse Dinge zu kommen. Oft genug ist es einfach unmöglich. Gewiß leiden viele Amtsbrüder unter diesen Schwierigkeiten. Da darf ich vielleicht ein Hilfsmittel angeben, das mir diese Schwierigkeiten sehr wesentlich erleichtert hat. Bei der letzten Pastorentagung in der ev.-soz. Schule in Spandau erzählte ein Danziger Amtsbruder mir, er habe in seinem sehr großen Seelsorgerbezirk die Danziger Familienväter an ihrem Geburtstag besucht. Das leuchtete mir so ein, daß ich sogleich nach meiner Rückkehr aus Spandau mir das Familienregister und einen Kalender vornahm, um nun die Geburtstage aller Familienväter und -Mütter in den Kalender einzutragen, und dann fing ich sofort an, Besuche zu machen. Damit waren gleich viele der oben genannten Fragen gelöst: nun wußte ich, wo anfangen, wußte ich, wie einteilen. Und zu dem ist es sehr einfach, vom Geburtstag aus auf das Religiöse zu kommen. So komme ich nun in jedes Haus, in die meisten zwei mal, in manche vier mal, wenn die Kinder sich ins Elternhaus verheiratet haben. Ich habe noch nicht ein einziges mal Schwierigkeiten gehabt, habe schon vielerlei seelische Nöte kennen gelernt und konnte schon manchen seelsorgerlichen Rat erteilen. Ab und zu wird mir etwas vorgesetzt. Alkohol lehne ich strikte ab und kann öfters daran anknüpfend über dies und andere Volksübel aufklären. Andere kleine Erfrischungen nehme ich ruhig an, wo sie angeboten werden, da die Verweigerung der Annahme den Anschein erweckte, daß ich die Leute ^erachte'. (Einladungen zur Konfirmation etc. haben hier den Wortlaut: ,Wenn Sie uns nicht verachten wollen', so besuchen Sie etc.) Die Zeit der Besuche ist verschieden. Arbeiter besuche ich werktags am späten Abend; andere zu anderen Zeiten. Die Dauer ist auch verschieden, je nachdem, was die Geburtstagskinder zu sagen haben. Niemand erschrecke vor dem Gedanken, daß auf einen Tag gar zu viele Geburtstage fallen möchten. Hier jedenfalls ist dies nicht der Fall. Sie verteilen sich ziemlich gleichmäßig über das ganze Jahr. Bin ich einmal an einem Tag verhindert, so läßt sich der Besuch leicht nachholen, und ich habe noch nie gefunden, daß jemand darüber böse ist, wenn die Geburtstagswünsche verspätet eintreffen. In diesen Geburtstagsbesuchen sehe ich auch ein Mittel, zu zeigen, daß noch ein Band besteht zwischen Kirche und Familie. Ich habe auch schon bemerken können, daß am Sonntag solche ,Geburtstagskinder', die ich besucht hatte, im Gottesdienst waren, wo sie lange Zeit gefehlt hatten. So sehe ich auch darin soziale Arbeit der Kirche. Vielleicht erleichtern diese Zeilen dem oder jenem das Besuchemachen, dann haben sie ihren Zweck erfüllt. Sie verdanken ihre Entstehung dem Soziallehrgang in Spandau, der auch sonst solche Fülle von Anregungen bot." 35
35 ELERBACH, Hausbesuche, 1925, 263.
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Auf diese Art und Weise, durch Hinweise der Pfarrer untereinander, nicht als gesamtkirchlicher Plan, scheint dann diese neue Geburtstagsseelsorge in viele Gemeinden Eingang gefunden zu haben. In den fünfziger Jahren haben die Haushalterschaft-Bewegung36 und der als Laienaufgabe organisierte Besuchsdienst37 sie weiterverbreitet. Kirchliche und vor allem pastorale Geburtstagsbesuche werden in den darauffolgenden Jahrzehnten zum selbstverständlichen Teil von Gemeindearbeit38, der erwartet wird. Ein Pfarrer schreibt 1993: „... in meinem Sprengel - zwei kleine Dörfer - ist der Geburtstagsbesuch bei den Über-Siebzig-Jährigen das dritte Sakrament."39 Die Ausführungen von Pfarrer Eierbach legen offen: Der Geburtstag dient als Anlaßim den Hausbesuch. Das kirchliche Handeln orientiert sich damit an einem Stück privater und familiärer Religion. Es benutzt ebenfalls die hier wirksamen quantifizierenden Zeitparameter. Erst so können die dann bürokratisch verwaltbaren Informationen über Geburtsdaten in einen strategischen Besuchsplan umgesetzt werden, etwa von der Art, daß alle 65jährigen, 70jährigen, 75jährigen und darüber zu besuchen seien. Eine Unterstützung des Seelsorgers bzw. der Seelsorgerin durch Besuchsdienst verspricht dann die möglichst effektive Durchführung des Planes.40 So kommt es zu rational verwalteter kirchlicher Heiligung eines Stücks moderner privater Religion. Für Pfarrer Eierbach erfüllt der Geburtstag verschiedene Aufgaben, die er als Ziele von Seelsorge und pastoralem Handeln geltend macht. Sie sind nun in ihren pastoraltheologischen Horizont einzuzeichnen.
3 6 Vgl. H.-G.LUBKOLL, Christliche Haushalterschaft, 1955; 123f.; J.APPELKAMP u.a.,
Türen öffnen, 1979; 23. 37 Vgl. [ANONYMUS], Besuchsdienst - anderswo, 1956, 376f. E. HELMDACH, Besuchsdienst der Kirche als Umschlagsplatz besonderer A r t für das Evangelium, 1970, 6-9. 38 H.BÜSCHER, Mein Stadtpfarramt, 1969; 57f.; H.FIUSCH, Tagebuch einer Pastorin, 1980; 144f.; E.LOHSE, Kleine Pastoralethik, 1985; 88. Auch in katholischen Gemeinden wird diese Praxis gepflegt (T.BLIEWEIS, Der Hausbesuch des Pfarrers, 1965; 80. 84). 39 Herbert Kolb aus Neuenkirchen a. Brand, Brief an seine ehemalige Vikariatsgruppe vom 3.5.93. 40 Bei den systematischen Hausbesuchen versuchen die Pfarrer schon bald die Bewältigung jener professionellen Aufgaben, die zeitraubend sind und nicht unbedingt von ihm durchgeführt werden müssen, an Hilfskräfte zu verlagern. Die Frauenhilfe soll „die Besuche ihres Pfarrers ergänzen, fortführen und gegebenenfalls veranlassen" (MÜLLER, 107). Außerdem findet eine „regelmäßige Besprechung des Pfarres mit seinem Helferkreis" statt (STEINHÄUSER, 407). Es entsteht dabei eine neue professionelle Aufgabe, das Hilfspersonal zu leiten und zu schulen. Differenzierte Überlegungen dazu, welche Ziele beim Geburtstagsbesuch durch geschulten Laien-Besuchsdienst ebenso gut oder sogar besser erreicht werden könnten, finden sich bei S.DREHER, Geburtstagsbesuche bei Jubilaren, 1982, 158-170.
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„Das taucht bei mir also auf, diese Frage bei Geburtstagsbesuchen - ob - eh - ob es eigentlich richtig ist, jetzt da so ohne jedes Gebet und ohne Bibelwort da so wieder zu verschwinden. Ich mach's also immer noch nicht mit Bibelwort, weil ich einfach finde, das paßt da nicht hin. Ich faß also den Beruf so auf, daß man erst mal versucht, Kontakt zu den Leuten zu finden und auch den später zu halten. U n d daß man die religiösen Fragen zwar nicht ausklammert, daß man die aber jetzt erst mal nicht bewußt anspricht. Sondern einfach ein bißchen aus der Rolle zu fallen. Damit ich also nicht von vorneherein der bin, der da gleich seine Sprüche loswird. Sondern ich versuche erst mal, mit den Leuten auf deren Ebene so ein bißchen zu reden, soweit mir das möglich ist." (Votum eines Vikars oder einer Vikarin41) 3.1.2. Poimenische
Schemata
Bei der D u r c h s i c h t der Literatur z u m T h e m a fällt auf, daß es w e n i g Bedürfnis z u r R e f l e x i o n des neuen H a n d e l n s gibt. 4 2 E i n neues eigenständiges D e u t e m u s t e r f ü r dieses H a n d l u n g s f e l d hat die H e r a u s b i l d u n g des Geburtstagsbesuchs d u r c h die kirchlichen Berufsträger offensichtlich nicht begleitet. D i e neue Praxis w u r d e vielmehr h e r k ö m m l i c h e n T y p i s i e r u n g e n eingefügt. D a f ü r lassen sich zwei G r ü n d e benennen. Z u m einen stellt unter alltagsweltlichen w i e bürgerlichen G e s i c h t s p u n k t e n der G e b u r t s t a g s b e s u c h einen selbstverständlichen A k t sozialer oder persönlicher B e z i e h u n g dar. D e r Pfarrer o d e r die Pfarrerin t u n da nur, was alle tun. Z u m anderen greift m a n f ü r die kirchliche Bedeutsamkeit dieses H a n d e l n s auf die in allgemeinen T h e o r i e n über das seelsorgerliche H a n d e l n bereitgestellten M u s t e r z u r ü c k . I m R ü c k g r i f f auf diese allgemeinen T h e o r i e n z u r Seelsorge k ö n n e n dann auch w i r ein ziemlich deutliches Bild d a v o n erhalten, welche Interp r e t a t i o n s m u s t e r gängig zur V e r f ü g u n g standen u n d stehen. Vier, vielleicht fünf solcher institutionalisierter L o g i k e n lassen sich herausarbeiten. Sie
41 Bei W.FISCHER, Pfarrer auf Probe, 1977; 142. 42 Das gilt bis zur Gegenwart hin. Die einzige ausführlichere Behandlung des pastoralen Geburtstagsbesuches bietet DREHER. Der Autor interessiert sich für die beteiligten Subjekte. Er weist darauf hin, daß sich die jeweilige „Persönlichkeitsstruktur" der Pfarrer darauf auswirkt, welchen Typ von Geburtstagsbesuch sie bevorzugen (158f.), und vertritt die Ansicht, „daß es wichtig sei, sich zunächst einmal die häufiger vorkommenden Interessen und Bedürfnisse von Gemeindegliedern beim Geburtstagsbesuch ... zu vergegenwärtigen" (159). Dazu zählt er „Lebensbilanz ziehen", „Trauerarbeit", „Hilfe bei Familienkonflikten", „Einsamkeit", „Hilfe in der ,Depression nach dem Fest'" (159-164). „Weitere pastoraltheologische Aspekte des Geburtstagsbesuchs" sind: „Ehre und Repäsentation", „[f]ormeller Beitrag zur Festgestaltung", „Distanzreduzierung", „Informationsaustausch" (164-167). 114
stehen in Verbindung mit bestimmten Ausformungen kirchlicher Seelsorgepraxis. a) Geburtstag als öffentliche Repräsentation des Religiösen - der Pfarrer als Würdenträger: Für das Ende des 17. Jahrhundert ist die „Geburtstagspredigt" für den Fürsten belegt.43 Der Geburtstag des Regenten als öffentliches Fest verlangt nach einer Beteiligung der wesentlichen gesellschaftlichen Größen; er bedarf der religiösen Überformung. Der Pfarrer symbolisiert öffentlich den Bereich der Religion als zur Gesamtheit öffentlicher Anerkennung dazugehörend. Für bürgerliche Kreise, auch für das Dorf kann so die Beteiligung durch den Pfarrer als Zeichen kollektiver Anerkennung und religiöser Aufwertung gelesen werden. Aus dem ersten Drittel dieses Jahrhunderts berichtet ein Dorfpfarrer von der Begrüßung durch den bäuerlichen Hausherrn bei seinem ersten Besuch im Hause: „Das muß man sehen, wie er da hereinkommt und dir die Hand gibt! ,Woll'n Sie uns auch mal die Ehre antun, Herr Pastor? Sei'n Sie schön willkommen!'" 44 Die Ehrerweisung durch den Besuch des Pfarrers wird hier als „noch" auf dem Dorfe vorhandene Einstellung gelobt. In einem Bericht eines Pfarrers von 1967 hingegen erscheinen die Konsequenzen dieser Lesart eines Geburtstagsbesuchs als unangemessen. Da wird mit kritischer Attitüde eine zum Geburtstag besuchte Frau zitiert, die sich beklagt: „Voriges Jahr zu meinem Geburtstag haben Sie mich ja mit dem Herrn Vikar abgespeist!" 45 Geburtstagsbesuch wird von dieser Besuchten als Akt gesellschaftlicher Anerkennung gewertet. Der Ersatz durch den Vikar kommt einer Degradierung gleich. Diese Logik wird in diesem Jahrhundert von den Seelsorgern in der Regel kritisiert.46 Die Besuchten hingegen nehmen die Ehrerweisung ernst; der Pfarrer wird standesgemäß empfangen und bewirtet; nach seinem Besuch erscheint man nicht selten auch zu einem ,Gegenbesuch' in einer ,seiner' Veranstaltungen. 47 Die Ehre hat außer der sozialen auch eine reli-
43 GRIMM/ GRIMM 1878, Z . 1911.
44 B.FLSCHER, Seelsorge an der Dorfgemeinde, 1930, 1-19; 12. Pfarrer ELERBACH bemüht sich zu zeigen, daß er die Leute nicht verachtet (263). 45 [Anonymus], Briefe eines Großstadtpfarrers, 1967, 17-24; 18. 46 Bei H.-C.PIPER, Der Hausbesuch des Pfarrers, 1988, 125: „Viele warten verbissen auf den Besuch als Akt sozialer Anerkennung und Geltungsbestätigung." DREHER (164) stellt fest: „Die negativste Reaktion löst bei vielen Pfarrern das Stichwort aus, daß es eine Ehre sei, wenn der Pfarrer einen Jubilar besucht." 4 7 B e i PIPER 1988, 14; ELERBACH, 263. [ANONYMUS] (Ziele u n d M ö g l i c h k e i t e n der
heutigen evangelischen Seelsorge, 1911/12, 173-189; 186): „... etwas besser wird der Kirchenbesuch jedenfalls werden." Realistisch ist ein gewisser R. in S. (Hausbesuche? 1908, 268-274; 272): Die Besuchten kommen für einen Besuch auch zur „Gegenvisite im Gotteshaus", aber nicht öfter.
115
giöse Dimension. Seine Beobachtungen formuliert ein Pfarrer 1983 so: „Es kommt im Pastor ... ,der liebe Gott' mit zu Besuch"; ein Vertrauensvorschuß wird spürbar, meint aber nicht den individuellen Pfarrer, „sondern das hat etwas mit Vertrauensvorschuß gegenüber dem, in dessen Namen wir Besuche machen, zu tun".48 Der Pfarrer repräsentiert Gott, Kirche und Welt; er ist „Funktionsträger"49. b) Geburtstagsbesuch als persönliche Zuwendung eines Menschen - der Pfarrer als Hausfreund: „Der Geistliche als christlicher Hausfreund" - so überschreibt Alfred Krauss 1893 ein ganzes Kapitel in der Seelsorgerlehre seiner Praktischen Theologie.50 Darin werden zunächst die verschiedenen Qualitäten des „Hausfreundes" aufgeführt: „Ein Hausfreund ist ein Freund, welcher ... an allem Wohl und Weh, das die Familie betrifft, herzlichste Theilnahme empfindet. ... er eilt hin, sobald er Kunde bekommen hat und freut sich mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden."51 Mit gewissen Einschränkungen gelten sie auch für den Pfarrer: „An den geselligen Freuden des Hauses darf der Pfarrer so weit theilnehmen, als ihn die Gemeindeglieder selber gerne dabei sehen, als seine seelsorgerliche Autorität darunter nicht Noth leidet und als seine Geschäfte ihm gestatten. Vollständige Enthaltung mag eben so leicht unevangelisch sein als zu häufiges und zu lang andauerndes Theilnehmen."52 Damit wird die Orientierung am Defizitmodell als Grund für individuelle Seelsorge verlassen: Nicht um des Schadens willen, den die Defizienz des einzelnen am Ganzen der Gemeinde zufügt, wird der Pfarrer aktiv, sondern für den einzelnen als Person, auch in seiner Freude,53 gilt die Zuwendung des Pfarrers. Seelsorge nach den Prinzipien der Freundschaft (ein Vertrauensverhältnis und Freiwilligkeit), wie sie schon Schleiermacher nach Vorarbeiten im Pietismus herausgearbeitet hatte (siehe 1.2.2.), wird damit konsequent entfaltet. So tritt neben das traditionelle Interpretationsmuster ein zweites, das durchaus zeitgleich, aber, wie es den Anschein hat, an anderen sozialen Orten Anklang findet. Während in dem oben genannten Band von Seelsorgeerfahrungen der Dorfpastor die Ehrerweisung durch den Pfarrer noch schätzt, urteilt sein Kollege in der Großstadt anders. Dort seien die Men-
48
B e i PIPER 1 9 8 8 , 1 6 .
49
DREHER, 1 6 4 .
50 A.KRAUSS, Lehrbuch der Praktischen Theologie, Bd.2, 1893; 403-425. Der Begriff des Hausfreunds findet sich auch bei J.HAASE, Der praktische Geistliche, 1905; 346; C.A.G.V.ZEZSCHWITZ, System der Praktischen Theologie, 1878; 547: „Freund des Hauses"; E.ACHELIS, Lehrbuch der Praktischen Theologie, Bd.3, 1911; 117: „Hausfreund und Kinderfreund". 51
KRAUSS, 4 0 4 .
52
KRAUSS, 4 2 2 f .
53 Ebenso bei HAASE, 346; H.KÖSTLIN, Die Lehre von der Seelsorge, [1895]; 224; ACHELIS, 38f. 43f. Die Anfänge dafür liegen in der Aufklärung (vgl. 1.2.1.) Neuerdings wieder ausdrücklich vertreten von G.HARTMANN, Lebensdeutung, 1993; 50.
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sehen mit „pastoraler Würde und äußerer Amtsautorität" nicht erreichbar; vielmehr: „Ganz schlicht müssen wir als Menschen dem Menschen dienen" 54 ; erst so könne es zu einer „inneren, unmittelbar überzeugenden Autorität" kommen. 55 Ein Pfarrer aus einer Kleinstadt pflichtet ihm bei und strebt danach, „zu vielen Einzelnen ein persönliches Verhältnis" zu bekommen: „Und das Wichtigste und Nötigste ist und bleibt die ganz persönliche Berührung mit dem Einzelnen, nicht nur in seiner Krankheit und Not, sondern auch in seinen guten Tagen, im alltäglichen Leben." 56 Der Geburtstagsbesuch dient dann der „Distanzreduzierung" 57 . Der Pfarrer als Freund, das ist freilich ein Programm, dem - wie das obige Zitat von Krauss' Lehrbuch zeigt - in der Seelsorgelehre gerne sofort einschränkende Bemerkungen beigegeben werden. Dazu finden sich bei Krauss mehrere Argumentationslinien. Einmal enthält der Begriff des Hausfreunds bereits die Bestimmung einer Zuwendung zum ganzen Haus, nicht einfach zu einzelnen.58 Dann taucht als Einschränkung das Prinzip der Würde des Amtes auf (Krauss spricht von „seelsorgerlicher Autorität"). 59 Das eben gilt als die große Gefahr bei den Kontakten nach dem Prinzip der Freundschaft, hieran Schaden zu nehmen. 60 Außerdem wird diese Freundschaftsarbeit anderen Tätigkeiten des Pfarrers als nachrangig beigeordnet. Und dann wird auch bei Krauss doch das Spezifische des christlichen Hausfreunds im Gegensatz zu anderen Hausfreunden darin gesehen, daß dieser sich besonders um die Stunden des Leids kümmert. 61 Nicht zu wenig Freundschaft, aber auch nicht zu viel an Freundschaft ist ratsam - man versucht einen Mittelweg. Die zwei bisher vorgestellten Interpretationsmuster sind sowohl für die Besuchten als auch die Besuchenden nachvollziehbar. Sie beschreiben Grundmuster von Begegnung überhaupt. Über das traditionelle Muster
54 P.LE SEUR, Seelsorge in der Großstadt, 1930, 70-83; 73. 55 LE SEUR, 74. Vgl. auch R. in S.: „Warum sollen wir denn nicht auch mal als Mensch kommen, als reine gute Menschen, als teilnehmende Nachbarn, als fröhliche Unterhalter?" Wir „gewinnen die Herzen viel eher als Menschen, denn als Pfarrer" (271).
56 C.BERTHAU, Seelsorge in der Kleinstadt, 1930, 20-36; 35. In seinem Roman „Der Stechlin" (1899) hat Theodor Fontane mit der Figur des „Pastor Lorenzen" dieser Seelsorgeauffassung ein Denkmal gesetzt. 57 DREHER, 166.
58 KRAUSS, 404.
59 KRAUSS, 422.
60 Die Überlegung, daß Freundschaft notwendigerweise auch Benachteiligung anderer beinhaltet, spielt merkwürdigerweise hier keine Rolle. B.FLSCHER warnt aber den Landpfarrer vor zu engem Kontakt mit dem Gutshause und schlägt vor zu sagen: „Laden Sie uns bitte zu Ihren Gesellschaften nicht ein. Wir wären Ihnen aber von Herzen dankbar, wenn Sie uns erlauben würden, daß wir uns dann und wann zu einem zwanglosen Abend ansagen" (12). 61 KRAUSS, 404.
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sozialer öffentlicher Begegnung (der Pfarrer als Repräsentant des öffentlichen Lebens) hat sich das neue der privaten Begegnung (der Pfarrer als befreundeter Nachbar) geschoben. Beide stehen zueinander in Spannung. Das schafft Klärungsbedarf. Schon Nitzsch hat seinerzeit die Lage prägnant erkannt: „Je beweglicher nach Zeit, Ort und Persönlichkeit die Grenzen und Gelegenheiten oder Anlässe der pastoralen Wirksamkeit bleiben, desto mehr ist auf feste und unbewegliche Puncte für die Richtung zu denken." 62 Die Pluralisierung der Begegnungsformen verlangt auf Seiten des Berufsträgers nach Professionalisierung des Handelns. Seine Ziele muß der Seelsorger nun genauer im Kopf haben. Damit kommt ein ganz anderer Typ von Interpretationsmuster zum Tragen. Der persönliche Privatverkehr muß begriffen werden als „Gelegenheit zur Seelsorge", als Gelegenheit, professionelle Ziele durchzuführen. 63 Hausbesuche werden mit dem Vokabular der Zweckrationalität nach ihrer Effektivität taxiert; sie sind zu „verwerten" 64 . „... jede Gelegenheit ist zu benutzen, mit der Cura specialis einzusetzen". 65 Hausbesuch ist „die beste Art, Seelsorgegelegenheiten erst zu schaffen"66, das „beste Mittel, an alle Glieder der Gemeinde heranzukommen" 67 . Ein Pfarrer drückt es noch drastischer aus als die Seelsorgetheoretiker: „Warum soll man nicht von dem kranken Schwein auf unsern Herrgott kommen? Der Weg ist garnicht lang. U n d von den lieben Kindern z u m lieben Gott ist er noch viel kürzer. ... Man muß nur einhaken bei der bestimmten Gelegenheit, unauffällig natürlich, unaufdringlich." 6 8
Reinhard Schmidt-Rost hat die Entwicklung zur modernen Seelsorgelehre im 19. Jahrhundert nachgezeichnet. Seelsorge professionalisiert sich als diakonisches Handeln auf verschiedensten Feldern, jeweils am einzelnen
62 C.I.NITZSCH, Die praktische Theologie, Bd. 3,1, 1857; 59. 63
NITZSCH, 8 7 . V g l . KÖSTLIN, 2 2 4 . A l s G e l e g e n h e i t , u m P e r s ö n l i c h e s k e n n e n z u l e r -
nen bei ACHELIS, 117. Selbst keine .Gelegenheit' bekommen zu haben, ist noch Gelegenheit zu anderen indirekteren Zwecken: „Es hat sich keine Gelegenheit gefunden, oder man hat besonders als jugendlicher Seelsorger nicht den Mut gehabt, das Gespräch ins religiöse Gebiet hinüberzuspielen. Ist deshalb der Besuch vergeblich? ... Ist das nichts, wenn es in der Gemeinde heißt: unser Pastor interessiert sich für unsere Wirtschaft, der kann nicht bloß in der Kirche so schön reden, der kann auch bei alltäglichen Dingen mitsprechen?" R. in S. (270). 6 4 ACHELIS, 1 1 7 . 6 5 ACHELIS, 3 9 ; v g l . M.SCHIAN, G r u n d r i ß d e r P r a k t i s c h e n T h e o l o g i e , 1 9 2 2 ; 2 9 0 .
66 L.FENDT, Grundriß der Praktischen Theologie, Bd. 3, 1949; 33. Das Problem liegt dann darin: Der „Ubergang vom allgemeinen zum seelsorgerlichen Gespräch ist oft n i c h t z u f i n d e n " (SCHIAN 1 9 2 2 , 2 8 7 ) ; v g l . ELERBACH, 2 6 3 . NITZSCH b o t s i c h d a f ü r als
Lösung noch die Rhetorik an (134f.); bei SCHIAN geht es allgemein um das „Taktgefühl" (1922, 287). 67 E.PFENNIGSDORF, Praktische Theologie, 1930; 642. 68 R. inS., 270.
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und seiner Integrität ausgerichtet.69 Die beiden nächsten - der theologischen Leserschaft dieser Arbeit vertrautesten - Interpretationsschemata gehören in diesen Zusammenhang. Sie sind professionelle Interpretationen des Geburtstagsbesuchs und werden charakteristischerweise von den Besuchten so nicht geteilt. c) Der Geburtstagsbesuch als missionarische Gelegenheit - die Besuchten als Sünder. Eine solche Deutung kann sich anschließen an die vorneuzeitliche Tradition der Einzelseelsorge als Austeilung des Wortes Gottes an den einzelnen. Nitzsch hat diese Perspektive in die moderne Seelsorge eingeführt. Als „Individualisierung der Rede Gottes" 70 gewinnt nun die „Darstellung in Rede und Gespräch" 71 eine eigene Bedeutung; denn die Professionalität liegt genau darin, das Handeln möglichst zielbewußt und erfolgreich zu gestalten. Nitzsch rekurriert dabei auf das Wissen und Mittel der Rhetorik. Die dem Typus der „unvorbereiteten" Rede entsprechenden rhetorischen Muster seien anzuwenden; beabsichtigt ist „eine zwanglose und doch nöthigende Ueberzeugung und Ueberführung" der Besuchten. 72 Die Seelsorgelehre der Dialektischen Theologie versucht, an die Stelle profaner Methoden eine eigene Methodik zu setzen, die auf den Bruch im Seelsorgegespräch hinführt, den Umschlag von Gespräch in Verkündigung an den einzelnen. Pfarrer Büscher beschreibt 1969 sein Auftreten bei Geburtstagsfeiern so: „Zum Abschluß halte ich, selbst wenn die besondere Situation erschwerend wirkt, eine geistliche Ansprache und spreche auch meist ein Gebet." 73 Er versuche, „eine angemessene theologische Aussage zu machen", und: „In der Mehrzahl der Fälle lege ich der Ansprache ein Bibelwort zugrunde." 74 Der Pfarrer „kommt als Pastor des Jubilars oder der Jubilarin und darf allen Anwesenden zumuten, sich als solcher Gehör zu erbitten".
Helmut Tacke modifiziert das Verfahren der Verkündigung: „Die Seelsorge braucht das Gespräch, das ihr entspricht. Anleihen aus dem Raum Gottesdienst und Unterricht mit den entsprechenden Gesprächsprozessen sind nicht anzuraten." 75 Vielmehr ist es „Aufgabe, das Evangelium gesprächsgerecht in das Seelsorgegespräch einzubringen" 76 , d.h. insbesondere persönlich bezeugend und narrativ. Den Hausbesuch beim Geburtstag als individualisierte Gottesanrede zu deuten heißt, ihn als professionelles missionarisches Handeln zu begreifen.
69 R.SCHMIDT-ROST, S e e l s o r g e z w i s c h e n A m t u n d B e r u f , 1988. 70 NITZSCH, 169. 72 NITZSCH, 134f.
71 NITZSCH, 131. 73 BÜSCHER, 57.
74 BÜSCHER, 58; e b e n s o das f o l g e n d e Zitat. 75 H.TACKE, G l a u b e n s h i l f e als L e b e n s h i l f e , [1975]; 88. 76 E b d .
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„Wenn aber heute Hausbesuche so sehr empfohlen werden, so meint man in der Regel die Besuchsmission innerhalb der Volkskirche und darüber hinaus." 77 Dabei ergeben sich gewissermaßen als Nebenprodukte Effekte für den Gemeindeaufbau: Interessierte können für Aktivitäten rekrutiert werden („Talentfischerei" 78 ); ein „Gegenbesuch" 79 wird einkalkuliert; die Beerdigungen können persönlicher gestaltet werden, weil der Pfarrer bzw. die Pfarrerin die verstorbene Person kennt80; auch Anregungen für die Predigt könnten sich ergeben. Für Hans Otto Wölber drängt sich darum für die Hausbesuchsarbeit auch genau jene Kategorie professionellen Handelns auf, die gewöhnlich in der modernen Gesellschaft benutzt wird, wo Erwartungen verändert werden sollen, ein Konflikt zwischen beiden Seiten besteht und die Handlungsziele, wenigstens aber die technischen Mittel der ansprechenden Seite, verdeckt bleiben: Werbung. 81 Der Geburtstag ist ein ,Anlaß' für völlig andere Zwecke. ,Talentfischerei' ist dann nicht nur Nebenprodukt, sondern Hauptzweck. Was sich als Interesse am Individuum tarnt, verfolgt in Wirklichkeit den Zweck kirchlichen Gemeindeaufbaus, also der Organisationsverbreitung. d) Geburtstagsbesuch als therapeutische Gelegenheit - die Besuchten als Klienten·. Die therapeutische Seelsorgebewegung ist als Klinikseelsorge entstanden und hat Seelsorge bewußt von hierher interpretiert: „Krankenhausseelsorge als Grundtypus der Seelsorge". 82 Die „Bündelung aller Lebensprobleme des heutigen Menschen durch das Krankenhaus macht die Krankenseelsorge zur Seelsorge schlechthin".83 Das ist methodisches wie inhaltliches Postulat zugleich. Auch der Geburtstagsbesuch läßt sich in dieses Schema bringen. Als einer der,rites de passage' mit all seiner Traumatik verlange er nach kirchlicher Anteilnahme. 84 Der Besuch, der zum Geburtstag der Jubilare gemacht wird, gibt dann ganz besonders Gelegenheit zur Therapie: „In der Regel treffen die Pfarrer ihre Gemeindeglieder voller Ängste an, die alle Anzeichen einer Krise aufweisen." 85 N u n stehen die beiden zuletzt genannten Interpretationsschemata der Professionellen vor dem Problem, daß es Fälle gibt, wo offensichtlich diese Ziele nicht erreicht werden. Dann läßt sich der Besuch zurückstufen auf Vorarbeit: der Kontakt wird hergestellt86, damit später das eigentliche 77 H.O.WÖLBER, Das Gewissen der Kirche, [1963]; 142. 78 Bei PIPER 1988, 14. 79 Bei PIPER 1988, 14; BERTHAU, 20; vgl. A n m . 4 7 . 80 B e i PIPER 1988, 14.
82 H.DOEBERT, Neuordnung der Seelsorge, 1967; 92.
81 WÖLBER, 143.
83 DOEBERT, 17f. 84 PIPER 1988, 96. 85 E b d . 86 ACHELIS o r d n e t d e n H a u s b e s u c h der , , p r o p h y l a k t i s c h e ( n ) S e e l s o r g e " z u (117); f ü r
H.-J.THILO (Beratende Seelsorge, [1971]) dient er der ,,erste(n) Kontaktaufnahme", ggf. auch zur „Informationsvermittlung" (64); D.STOLLBERG (Wahrnehmen und Annehmen, 1978) s p r i c h t v o m „ K o n t a k t b e s u c h " (111).
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professionelle Handeln erfolgen kann. Hier tut sich eine Differenz zwischen den Behandelten und den professionellen Akteuren auf. In einer kleinen Umfrage kam als Ergebnis heraus, daß von den Besuchten die meisten „sich mal unterhalten" wollten, während damit sich nur 34,6% der professionellen Seelsorgerinnen und Seelsorger zufrieden gaben; sie wollten zu 40% bewußt seelsorgerliches Handeln, nicht nur Kontakt. 87 „Hier klaffen die Erwartungen in der Tat auseinander und können einen Konflikt herbeiführen." 88 e) Noch ein weiterer poimenischer Deutungstyp findet sich, und zwar quer zu den bisher genannten Schemata, in sie z.T. zeitlich und, was die Autoren angeht, personell verquickt. Gerade in jüngster Zeit scheint er in der Abgrenzung zur therapeutischen Seelsorge in den Monographien zur Seelsorgetheorie neue Plausibilität zu gewinnen.89 Hiernach verfolgt Seelsorge weder Zwecke außerhalb des Individuums, noch legt sie dieses auf das Behandlungsmodell fest. In der Seelsorge geht es vielmehr um christliche Bildung. Claus Harms schon hatte den Predigern geraten: „Wenn Sie die Gemeindeglieder in den Häusern besuchen und wo Sie zusammentreffen mit ihnen, dann, da die Rede so leiten, das Gespräch so führen, daß der Verstand gebildet, das Herz veredelt, richtige Begriffe und gute Grundsätze hervorgebracht werden, und meinetwegen auch Frieden stiften, Trost sprechen, guten Rath ertheilen ,.."90 C.I. Nitzsch hatte die wissenschaftliche Seelsorge als „Orthothomie" entfaltet „im Rahmen einer allgemeinen Bildungstheorie", und damit auf die hermeneutische Fähigkeit gezielt, göttliches Wort und Zustände wie Anlässe von Seelsorge zueinander in Beziehung zu setzen.91 Schmidt-Rost fordert: „Evangelische Seelsorge hat ihr Spezifikum ... darin zu sehen, die Selbständigkeit des einzelnen durch eine intensive Orientierung an einem gemeinsamen, Bedeutung vermittelnden Sinn zu ermöglichen, ohne dazu einen institutionellen Kirchenbegriff zu befestigen."92 Seelsorge ist „eine Interpretationsweise, eine Betrachtungsperspektive, ein Modus des Verstehens"93, sie „strebt... nach Bedeutungsge-
87 E.OLSZOWI, E i n Supervisionsmodell, 1988, 136-165; 140. 88 OLSZOWI, 140.
89 Unter dem Begrifff der Deutung wird dies sowohl bei M.Nicol, (Gespräch als Seelsorge, 1990) im Konzept der „wahrnehmenden Seelsorge" (181-183) als auch bei G.HARTMANN (Lebensdeutung, 1993) im „Konzept: Seelsorge als Lebensdeutung" (48-52) verhandelt. Am ausgearbeitetsten sind die Zusammenhänge bei SCHMIDT-ROST 1988. 90 C.HARMS, Pastoraltheologie, Bd.3, 1834; 2.
91 Vgl. dazu SCHMIDT-ROST 1988, 52-54; bes. 54, der dort allerdings keine Verbindungslinien zu seinem eigenen Ansatz zieht. 92 SCHMIDT-ROST 1988,119. 93 SCHMIDT-ROST 1988, 125.
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winn für den einzelnen". 94 Hieraus ergäbe sich eine sehr offene Einstellung zu dem, was in Seelsorge sich vollziehen kann, solange es nur selber interpretativen Charakter hat und der Interpretation offensteht. „Seelsorge als individuellen Vorgang des Verstehens im alltäglichen Leben zu gestalten", das bleibt dann das (schon von M.Luther herkommende) Ziel.95 Darüber, wie genau das geschehen soll, gibt es keine verallgemeinerbaren Aussagen, mit Ausnahme der inhaltlichen Vorgabe: „Seelsorge ist der Interpretationsvorgang, in dem Menschen, sich in ihrem Glauben an Jesus Christus gründend, menschliche Existenz unter der Perspektive ihres Glaubens zu bedenken versuchen. Diese Sorge impliziert somit den Anspruch, daß der christliche Glaube eine besondere Perspektive im menschlichen Leben eröffne, ..." 96 Für den Geburtstagsbesuch zeigen sich durch die vorgetragenen Deuteschemata sehr verschiedene Zugangsweisen. Er gilt als Akt sozialer Anerkennung (a) oder persönlicher Zuwendung (b), er gilt als Gelegenheit, Gott ins Gespräch zu bringen (c) oder Krisen zu bewältigen (d), er gilt als das Geschehen, christliche Selbstvergewisserung zu schaffen (e). Ein ganzes Bündel verschiedener Interpretationen läßt sich also wahrnehmen. An dieser Stelle im Verlauf der Arbeit sollen sie nicht kritisiert oder bewertet werden. Sie gehören zur historisch entstandenen Wirklichkeit von Seelsorge mit dazu und brauchen nicht positioneil entschieden zu werden. Ihre Kenntnis ist für uns wichtig, weil diese poimenischen Schemata einen institutionellen Rahmen für die faktischen Geburtstagsbesuche darstellen. Ihre Vielfalt beweist, wie wenig eindeutig der Rahmen ist. Zudem handelt es sich um Schemata, die nur zum Teil auch von den Besuchten geteilt werden dürften, ja bisweilen ihnen sogar absichtlich verschwiegen werden (Werbung). Wo von beiden Seiten im Gespräch nach gegensätzlichen Idealen gehandelt wird, tut sich das Problem des Verhältnisses von Alltag und Rolle auf. Es wird unausweichlich, daß die Gesprächspartner im Gespräch selbst die institutionelle Wirklichkeit des kirchlichen Geburtstagsbesuchs rekonstruieren, und das heißt, sie interaktiv herstellen. So wird also auch im konkreten Verlauf immer darüber entschieden, als wie relevant sich bestimmte Deutemuster von Seelsorge überhaupt erweisen. Im Geburstagsbesuch - nicht nur in ihm, aber hier eben auch - wird darüber mitbestimmt, was Seelsorge unter den Bedingungen der Moderne sein
94 SCHMIDT-ROST 1988, 120. D.ROSSLER, Grundriß der Praktischen Theologie, [1986]; 210: „Seelsorge ist Hilfe zur Lebensgewißheit, sie soll die Lebensgewißheit stärken, fördern, erneuern oder begründen." Allerdings schließt diese Definition bei Rössler neben der pädagogisch-ethischen und der christlich-religiösen Dimension auch die diakonische bewußt ein (208-216). 9 5 SCHMIDT-ROST 1988, 121. 96 SCHMIDT-ROST 1988, 125.
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kann. Deshalb läßt sich die Analyse von Gesprächen anläßlich eines kirchlichen Geburtstagsbesuchs durchaus als Beitrag zur Erforschung der Gestalt kirchlicher Seelsorge überhaupt verstehen. Es ist ein Beitrag, der darüber Aufschluß geben wird, wie auf einem bestimmten Feld die Seelsorgelehre, die dort angewendet wird, sich in Wirklichkeit umgesetzt findet. Das wird auch Konsequenzen für die Seelsorgetheorie haben (vgl. 7.1.; bes. 7.1.1.).
„Noch heute wird die Anwendung einer empirischen Befragungsmethode auf diesem Gebiet weithin als so etwas wie ein Sakrileg empfunden." 9 7
3.2. Erhebungsverfahren, Korpus und Verarbeitung der Daten Eine empirische Untersuchung hat Rechenschaft zu geben über ihre Daten. Wie wurden die empirischen Daten erhoben und welche Möglichkeiten und Einschränkungen ergeben sich daraus? Welche Gestalt hat derjenige ,Korpus' an Daten, der die Grundlage der Analyse bildet, und welche Möglichkeiten und Einschränkungen hat das zur Folge? In welchen Arbeitsschritten wurde bei der Analyse vorangegegangen? In welcher Weise werden die Ergebnisse der Analyse präsentiert? Es ließen sich keine bereits existierenden Tonaufnahmen von Geburtstagsbesuchen ausfindig machen. So war ich gezwungen, selbst für die Erstellung der Daten zu sorgen, die ich für diese Untersuchung benötigte. Ich habe einige Pfarrerinnen und Pfarrer um Mithilfe gebeten. Neben vielen Absagen erhielt ich glücklicherweise doch einige Zusagen. Diese Pfarrerinnen und Pfarrer unternahmen es dann, einen kleinen Kassettenrekorder von der Größe eines Diktiergeräts zu ihren normalen Geburtstagsbesuchen mitzubringen und das Gespräch aufzunehmen. Unter den rund zwei Dritteln der Angefragten, die absagten, befanden sich durchaus auch solche, die in ,Klinischer Seelsorgeausbildung' gut trainiert waren und denen die Protokollierung von Gesprächen vertraut war. Insofern wiederholten sich jetzt bei der Bitte um Tonaufnahmen noch einmal die Erfahrungen, die Scharfenberg bei seinen ersten Arbeiten mit solchen Protokollen gemacht hatte. Häufig fiel den Ablehnenden selbst auf, daß sie mir gar keine guten Gründe für die Ablehnung zu nennen wußten. Uber die Motive der Ablehnung läßt sich daher weitgehend nur spekulieren. Scharfenberg schreibt dazu: „Beichtgeheimnis und seelsorgerliche Schweigepflicht könnten verletzt werden, so heißt es, wenn man die Vertraulichkeit des seelsorgerlichen Zwiegespräches für Fallbesprechungen und Gesprächsanalysen 97 J.SCHARFENBERG, Seelsorge als Gespräch, [1972]; 9.
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öffne, ..,"98 Dazu komme das Argument, daß der „Erfolg" der Seelsorge nicht empirisch meßbar, sondern „kontingentes Geschenk des Geistes" sei, ein - so Scharfenbergs Verdacht - „willkommener Vorwand ... , um sich das heilsame Erschrecken vor dem zu ersparen, was in der kirchlichen Praxis denn tatsächlich unter dem Stichwort Seelsorge seitens der Gemeindeglieder begehrt und seitens der kirchlichen Amtsträger geboten wird." Es kommen außerdem noch als Gründe in Frage: die zusätzliche Arbeit, die Furcht vor ,Überprüfung', die unangenehme Differenz zwischen Anspruch an die Besuche und ihrer Wirklichkeit. Mein Eindruck war, daß gerade die, die eine sehr hohe Meinung von der Seelsorge als vom Alltag radikal unterschiedener Tätigkeit haben, den Vergleich eher scheuten bzw. das Ansinnen einer Aufnahme als völlig unangemessen und unbegründbar erleben mußten. Wer die Differenz kleiner sah, für den war die Selbstüberwindung nicht so groß. Es gelang mir aber auch, Zweifelnde zu überzeugen." Es braucht also nicht befürchtet werden, daß ausnahmslos Pfarrer einer bestimmten Einstellung zur Seelsorge Gespräche ablieferten. 100 Im Vergleich mit den Ablehnungen durch Seelsorgerinnen und Seelsorger k o m m t die Verweigerung einer A u f n a h m e durch Besuchte nur ganz selten v o r (von zwei Fällen wurde mir berichtet). In dieser D i f f e r e n z dürfte sich deren anderes Verständnis v o n den Gesprächen dokumentieren und ebenso die andere Rolle in der Situation, in der von ihnen eine Entscheidung über Ablehnung oder Z u s t i m m u n g zur A u f n a h m e erwartet wird. D i e Aufnahme eines solchen Gesprächs ist offensichtlich vor allem für die pastorale Seite ungewöhnlich. Es gibt beträchtliche Widerstände dagegen. A u c h unter meinen Leserinnen und Lesern rechne ich mit einer gewissen Skepsis. So lassen sich etwa die folgenden Anfragen formulieren. D a r f man überhaupt solche vertraulichen Gespräche aufnehmen? Bleibt es nicht bei Zufallsaufnahmen, die gar nicht aussagekräftig sind? Ist eine A u f n a h m e nur der W o r t e ohne all die visuellen Eindrücke nicht viel zu beschränkt? Stört das A u f n e h m e n das Gespräch nicht viel zu sehr? Ja, kann und darf man das, w o r u m es bei der Seelsorge geht, überhaupt aufnehmen? Diesen Anfragen ist R e c h n u n g zu tragen. Sie lassen sich teils widerlegen, teils müssen sie berücksichtigt werden und schränken in der Tat die Reichweite der aus d e m K o r p u s ableitbaren Aussagen v o n vornherein ein. D a s ist i m einzelnen darzustellen. Zugleich soll dabei die Erhebung der D a t e n durchsichtig und in ihrer Adäquatheit überprüfbar werden. Als sozio-linguistischer Standard gelten mir dafür die verschiedenen Artikel zur Methodenproblematik im umfangreichen Handbuch „Sociolinguistics/Soziolinguistik" von 1987/ 1988.101 98 SCHARFENBERG [1972], 9; ebenso die Zitate im folgenden Satz. 99 Der Pfarrer, der die Gespräche C1 und C2 zu dieser Untersuchung beisteuerte, wurde erst durch einen ausführlichen Besuch überzeugt. Er hat einige Erfahrung in Klinischer Seelsorgeausbildung (siehe 3.2.2.a Anm.118). 1 0 0 Vgl. dazu 3 . 2 . 2 . a . 1 0 1 U . A M M O N / N . D I T T M A R / K.MATTHEIER, eds. 124
„Der Pfarrer ist verpflichtet, das Beichtgeheimnis gegenüber jedermann unverbrüchlich zu wahren. Ebenso hat der Pfarrer über alles, was ihm in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden ist oder bekannt geworden ist, zu schweigen." (aus dem Pfarrergesetz § 41)
3.2.1. Ethische und rechtliche Gesichtspunkte102 Gegenstand dieser Untersuchung sind Aufnahmen von Gesprächen, die privaten Charakter haben. Der Zweck der Gespräche selbst ist gerade nicht deren Veröffentlichung, sondern sie entfalten sich im personalen Gegenüber. Soll der Inhalt von solchen Gesprächen aber einem weiteren Kreis bekannt gemacht werden, dann ist dies ethisch nur verantwortbar, wenn zwei Bedingungen erfüllt werden: 1. Diejenigen, die das Gespräch führen, müssen dem ausdrücklich zustimmen, daß die vorausgesetzte übliche Nichtweitergabe hier eingeschränkt ist. 2. Sie müssen sich darauf verlassen können, daß die weitergeleitete Information dennoch so behandelt wird, daß die Privatheit des Gespächs weitestgehend geschützt bleibt. Solchem Ethos sucht kirchliches und staatliches Recht zu entsprechen. Die relevanten Gesetzesbestimmungen waren zu befolgen. Auch wenn keine Beichte vorliegt, hat nach den hier zunächst anzuwendenden kirchlichen Gesetzen „der Pfarrer über alles, was ihm in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden ist oder bekannt geworden ist, zu schweigen".103 Von der Schweigepflicht kann nur durch die beiderseitige Zustimmung der Beteiligten entbunden werden.104 Dienstlich erworbene Informationen des Pfarrers über andere fallen außerdem unter die Dienstverschwiegenheit.105 Aus dieser Sachlage ergibt sich: Beide Gesprächspartner mußten ihre Zustimmung zur Weitergabe geben. Es ist darum auch nicht zulässig, mittels zusätzlicher Hintergrundinformationen durch die pastorale Seite (also etwa Angaben zur sozialen Situation, Kirchlichkeit usw.) das Wissen anzureichern. Eine Beschränkung allein auf die Gespräche selbst war also unumgänglich. Angesichts der ausgewählten Analysemethode stellt dies aber auch kein Handikap dar. Konversationsanalyse ver-
102 Das ethisch-rechtliche Problem wird in den sozio-linguistischen Forschungsarbeiten leider nur wenig detailliert behandelt. Auch der Artikel zur Forschungsethik im Handbuch „Sociolinguistics" (H.GOEBL, Forschungsethische Probleme, 1988, 855-866) bleibt ganz allgemein. 103 Pfarrergesetz § 41 Abs.2, zit. nach: RECHTSSAMMLUNG der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Stand 11. Januar 1993. 104 „Wird er in Fällen, die nicht zur Beichte und zum Begehren der Absolution führen, von der Schweigepflicht durch denjenigen, der sich ihm anvertraut hat, entbunden, so soll er gleichwohl sorgfältig prüfen, ob und inwieweit er Aussagen oder Mitteilungen verantworten kann" (ebd.). 105 Pfarrergesetz § 42.
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ziehtet ja gerade darauf, außertextuelle Informationen über Psyche, sozialen Status usw. als Beweggründe für Aussagen zum Argument für die Interpretation zu machen. Das Bundesdatenschutzgesetz vom 20. 12. 1990106 sichert den Schutz personenbezogener Daten (§ 3 Abs.l). Deswegen verlangt es schon für die Verarbeitung der Daten, wozu auch bereits deren Speicherung gehört (§ 3 Abs.5), daß eine Einwilligung eingeholt wird (§ 4 Abs.2). Die Anonymisierung (§ 4 Abs.2) der Daten dient dazu, den Personenbezug aufzuheben. 107 Z u allen von mir in dieser Arbeit verwendeten Gesprächen liegt explizite Z u s t i m m u n g der Beteiligten zur A u f n a h m e vor. 1 0 8
„... at least what was on the tape had happened." 109 3.2.2. Der Umfang der Daten und ihre
Vollständigkeit110
Reicht das, was a u f g e n o m m e n wurde, überhaupt aus, u m z u aussagekräftigen Ergebnissen zu gelangen? Diese Frage ist in mehrfacher Hinsicht zu prüfen. a) Datenmenge·. Der Korpus umfaßt insgesamt nur neun Gespräche. Inwiefern können diese repäsentativ für den Geburtstagsbesuch überhaupt sein? Soziolinguistische Forschung, sofern sie situationsspezifisches Verhalten untersucht, kann das Kriterium der Repräsentativität empirischer Daten nicht genauso verwenden, wie dies bei quantitativen Untersuchungen geschieht, die statistisch relevante Variablenbeziehungen innerhalb der Gesamtbevölkerung herausfinden möchten. Eine Zufallsstichprobe aus dem Gesamtbereich möglicher Daten ist für sozio-linguistische Untersuchungen darum ungebräuchlich. 111 Die ausgewählte Probe wird vielmehr dann aussagekräftig, wenn sie einerseits eine genügend
106 Abgedruckt in M.-T.TINNEFELD/ E.EHMANN, Einführung in das Datenschutz-
recht, 1992; 266-298.
107 TINNEFELD/ EHMANN, 85.
108 Die Zustimmung erfolgte schriftlich auf einem von mir mitgesandten Formular. Der Pfarrer der Gespräche C1 und C2 hat stattdessen die Zustimmung unter Veränderung meiner Vorgaben direkt auf dem Tonband dokumentiert. Vom exemplarischen Gespräch C2, das in dieser Arbeit am ausführlichsten zitiert wird, wurde zusätzlich nachträglich auch eine schriftliche Zustimmung eingeholt. 109 H.Sacks (unveröffentlichte Vorlesungen, Herbst 1967, General introduction), zit. nach G.JEFFERSON, An exercise in the transcription and analysis of laughter, 1985, 2 5 - 3 4 ; 26.
110 Neben der Relevanz der dokumentierten Gespräche (vgl. dazu 3.1.) sind nach W.KALLMEYER die Vollständigkeit und die Natürlichkeit (siehe dazu 3.2.3.) die entscheidenden konversationsanalytischen Anforderungen an die Datenerhebung (Konversationsanalytische Beschreibung, 1988, 1095-1108; 1102f.). 111 D.SANKOFF, Problems of representativeness, 1988, 899-903; 900.
126
große Menge an Daten der einzelnen Sprecher enthält112 und andererseits eine genügend große Menge an typischen situativen Konstellationen. Diese werden gängigerweise durch Subgruppen der Population nach Alter, Geschlecht, Bildung, Wohnort konstituiert.113 In unserem Fall haben sechs Seelsorgerinnen und Seelsorger je ein bis drei Gespräche beigesteuert. Damit können im Vergleich sowohl für den individuellen Pfarrer typisches als auch durch eine singuläre Besuchskonstellation atypisches Verhalten abgegrenzt werden.114 Bei Geschlecht der Pfarrer (zwei weiblich, vier männlich), Alter (Berufsbeginn bis kurz vor Berufsende), Verteilung zwischen Großstand, Kleinstadt und Land, Süden und Mitte der Bundesrepublik (alte Länder) wurde auf eine gewisse Streuung geachtet. Es kann damit immerhin der Sachverhalt belegt werden, daß Erscheinungen nicht auf bestimmte gängige Subgruppen begrenzt sind. Man muß auch damit rechnen, daß sich bei der Analyse der Daten noch ganz andere Subsituationen als bedeutsam erweisen, die im voraus gar nicht berücksichtigt und in ihrer Gewichtigkeit abgeschätzt werden können. Sie können eventuell sich als gewichtiger herausstellen als die üblichen Einteilungen. Darum erschien mir eine allgemeine Streuung wichtiger als eine genaue - womöglich statistisch repäsentative - Verteilung der üblichen Differenzgruppen. Der Korpus enthält auch gewisse Unausgewogenheiten. So sind überproportional junge Pfarrerinnen und Pfarrer im Alter von 30-40 Jahren (Gespräche A, B, E, F) berücksichtigt. Unter den Besuchten überwiegt die ältere Generation ab siebzig Jahren etwas (Al, C l , C2, E l , Fl); vor allem findet sich nur ein Mann (El) darunter. Ich bekam auch weitere Aufnahmen mit besuchten Männern zugesandt, aber dort war dann auch die Ehefrau beim Gespräch dabei. In einem Fragebogen bat ich die aufnehmenden Pfarrerinnen und Pfarrer zu notieren, wie sie sich selbst „in der Landschaft der theologischen Positionen" verorten würden. Pfarrerin Ε sagt: „Eine genaue Festlegung fällt mir schwer. Am ehesten ein existentialistischer Ansatz". 115 Pfarrer Α schreibt: „Glaube an Jesus Christus als beste Alternative von Religion im Alltag lebendig werden lassen".116 Für Pfarrer D, der seine „hochkirchlich lutherische Prägung im Jugendalter" erwähnt, „stellen sich die klassischen Positionsstreitigkeiten als museal dar"; er nimmt sich vor, „die Botschaft des sich mir erbarmenden Gottes elementar und ganzheitlich zu vermitteln".117 Pfarrer C schreibt zur Frage nach der Position, daß er „von der ,Seelsorgebewegung' (Dietrich Stollberg, Bethel) der 70er Jahre, von TZI, Gestalttherapie, Psychodrama bis neuerdings von Bibliodrama geprägt" sei. „All die damit verbundenen Erfahrungen haben mir meinen eigenen Weg zur theologischen Erkenntnis geöffnet. Das meiste geht nicht über den Kopf, sondern über den Bauch. Das wirkt sich denn auch auf die Gespräche aus ..." l l s Es hat also den Anschein, als ob auch unter den Aufnehmenden eine gewisse Bandbreite
112 E b d .
113 SANKOFF, 9 0 1 f .
114 Natürlich wäre Entsprechendes auch für die Seite der Besuchten wünschbar. Das hätte aber einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren für die Datenerhebung erforderlich gemacht, der nicht zur Verfügung stand. 115 Schriftl. Mitteilung v. 15.8.92. 116 Schriftl. Mitteilung v. 24.3.92. 117 Schriftl. Mitteilung v. 12.3.92. 118 Schriftl. Mitteilung v. 14.2.92.
127
getroffen ist. Extrem pietistisch oder konfessionell-hochkirchlich geprägte Seelsorgerinnen oder Seelsorger sind nicht darunter; eher scheint sich so etwas wie ein landeskirchlicher Durchschnitt zu zeigen. Nach den Standards der sozio-linguistischen Forschung gilt bei einer Zufallsstichprobe und qualitativ verschiedenen Subgruppen von über 10% der Gesamtmenge eine Stückzahl von 30 Exemplaren immer noch als ausreichend.119 Selbst diese Zahl wird hier nicht erreicht. Darum ist auch ein anderes Vorgehen gewählt: die exemplarische Begrenzung. Ein einzelnes Gespräch (C2) wird ausführlich dokumentiert und analysiert. Die anderen Gespräche haben dann kontrollierende Funktion. Deren Berücksichtigung kann Auskunft darüber geben, wo das exemplarische Gespräch singulare Sachverhalte, wo es häufiger vorkommende und wo typische Sachverhalte enthält. b) Datensatzlänge: Die Stückzahl von neun Gesprächseinheiten liegt im Korpus nur dann vor, solange es um Aussagen über das Gesamtgespräch geht.120 Uns interessieren aber Sequenzen, Ubergänge und Gesprächsabschnitte innerhalb von Gesprächen. Sie können durchaus mehr als einmal bei einem Besuch vorkommen. Wird im Gespräch vieles lokal ausgehandelt, lassen sich einzelne Gesprächssegmente auch als relativ unabhängige Einheiten untersuchen. Dann liegt die Anzahl solcher Datensätze erheblich über der der Gesamtgespräche. Hier wird die Stückzahl von 30 bei weitem überschritten, und repräsentative Aussagen für den Geburtstagsbesuch sind möglich. Die Gesprächsanfänge sind häufig nicht vollständig (Al, A2, A3, Bl, Dl, El), da noch zuerst die Genehmigung zur Aufnahme erfragt wurde. Der Gesamtrahmen des Geburtstagsbesuchsgesprächs ist deshalb nur selten dokumentiert.121 Eine Typologie der Begrüßungen und Verabschiedungen, so interessant sie auch sein mag, kann an diesem Korpus nicht untersucht werden.122 Derartig verstümmelte' Aufnahmen ebenso wie andere Kürzungen (Seitenwechsel des Bandes, Bandende vor Gesprächsende) sind für die Untersuchungen der zeitlich begrenzten Teilnehmerpraktiken innerhalb der Gespräche aber völlig gleichwertig be119
SANKOFF, 9 0 1 .
120 Einen ähnlichen Umfang hat der Datenkorpus bei H.LÖRCHER, Gesprächsanalytische Untersuchung zur Arzt-Patient-Kommunikation, 1983. Ihr lagen 13 Gespräche von insgesamt vier Stunden Länge vor (29f.; bei mir sind es etwas über fünfeinhalb Stunden). 121 Nur bei C1 und C2; häufig fehlt der Schluß, sei es wegen Störung durch weitere Besucher (A2), Tonbandende (Fl) oder Abschalten vor dem letzten Abschied ( A l , A3). Bei Gespräch B l habe ich wegen seiner Uberlänge nur die erste Hälfte der Aufnahme (ca. 45 Minuten) transkribiert und in die Untersuchung einbezogen, bei D l wurden wegen schlechter Tonqualität nur die ersten 30 Minuten berücksichtigt. 122 Die Konversationsanalyse hat gerade die Bedeutsamkeit dessen, wie etwas anfängt und aufhört, vorgeführt (KALLMEYER, 1102, betont denn auch die Bedeutung der Vollständigkeit der Daten). Umso schmerzlicher ist der Verlust, der aber nicht zu umgehen war. Ich habe empfohlen, vorweg anzurufen und das Band auch bei der Unterschrift mitlaufen zu lassen. Meist ist diese Empfehlung nicht befolgt worden. Eine ,Kontaminierung' durch die Erteilung der Genehmigung wäre sowieso der Fall gewesen, aber auch das hätte ja ein interessantes Studienobjekt sein können.
128
nutzbar, solange der interessierende Abschnitt samt U m f e l d erhalten ist. D e facto aber bedeutet das: Der K o r p u s enthält nicht ganze Gespräche, weil deren R ä n der' nicht erhalten sind, sondern nur Gesprächsabschnitte mitsamt deren jeweiligen Rändern. c) Datentypus: Bei einer bloßen Tonaufnahme gehen die visuellen Daten des Gesprächs verloren. Im Verlauf der konversationsanalytischen Forschung hat sich die Bedeutung der nonverbalen K o m m u n i k a t i o n laufend erhöht. F ü r die Mikroforschung, auch für eine erschöpfende Analyse von Interaktionssequenzen mit ein bis zwei Sätzen, ist heutzutage deshalb die Videoaufnahme berechtigter Standard. 1 2 3 Dies hätte nun aber in unserem Falle die Natürlichkeit der Situation radikal eingeschränkt. Es ist ein ganz erheblicher Unterschied, ob irgendwo ein kleiner Kassettenrecorder mitläuft oder der R a u m mit L a m p e n ausgeleuchtet wird und ,das Fernsehen' mit dabei ist. Solange die Analyse sich an größere Gesprächssequenzen hält, wird die Beschränkung auf akustische Daten aber kein Problem sein. Sie ist darüber hinaus in der Konversationsanalyse anerkannt: „Dafür spricht u.a., daß die Organisation des verbalen Verhaltens in vielen Eigenschaften so dominant ist, daß Analysen an T o n d o k u m e n t e n schon wesentliche Strukturen erfassen." 1 2 4 F ü r die längeren und stabileren Veränderungen im Gespräch ist durchaus in Rechnung zu stellen, daß non-verbale Aktionen zeitlich schon früher liegen, doch darf erwartet werden, daß sich diese Sachverhalte dann auch nachträglich verbal niederschlagen. In dieser Arbeit werden nur Gespräche zwischen zwei Personen, nicht zwischen mehreren Beteiligten, analysiert. Bei gößeren Teilnehmerzahlen potenziert sich die Komplexität sowohl der Transkripte selbst als auch deren Interpretation. Basale Gesprächsvorgänge dürften schon im Zweiergespräch vorhanden sein. D a s turn-taking kennt prinzipiell immer nur zwei Gesprächsbeteiligte, die gegenwärtig sprechende Person und den folgenden Sprecher; lediglich bei der Freigabe eines turn mag man unterscheiden, ob dieser an eine oder mehrere Personen freigegeben wird. 1 2 5
Die Beschaffenheit des in dieser Arbeit analysierten Korpus spricht also dafür, nach Ergebnissen im Bereich der zwischen Mikroanalyse und Gesamtgespräch liegenden Sequenzen und Abschnitte zu suchen. Die dabei gewonnenen Ergebnisse werden durchweg als repäsentativ für den pastoralen Geburtstagsbesuch überhaupt gelten können.
123 Vgl. C.GOODWIN, Conversational organisation, 1981; A.STEUBLE, Integrative Konversationsanalyse, 1986; 316. 124 KALLMEYER, 1102. KRECKEL, 1988, weist mittels einer Versuchsreihe nach, daß „message blocks" in Tonreihen strukturiert werden, während die nicht verbalen „features" die Sprache begleiten, anstatt ein konkurrierendes Kommunikationssystem zu bilden (218). 125 SACKS/ SCHEGLOFF/ JEFFERSON, 7 1 2 .
129
„... the most casual language is the most difficult to observe."126
3.2.3. Zur Natürlichkeit der aufgenommenen Gespräche Gewichtiger ist der nächste Einwand. Verändert die Tatsache einer Aufnahme nicht das Gespräch grundlegend? Verhalten sich die Teilnehmenden nicht ganz anders als sonst? Immerhin handelt es sich hier nicht um künstliche Situationen, die erst zum Zweck der Aufnahme herbeigeführt wurden. Der ursprüngliche Anlaß der Besuche (Geburtstag) bleibt erhalten. Es wird keine experimentelle Situation aufgebaut, sondern das begangen, was auch ohne die Aufnahme zu begehen gewesen wäre. Insoweit ist die Natürlichkeit der Situation gewahrt. Freilich, beide Seiten wissen, daß sie aufgenommen, also beobachtet werden. Die eine Seite führt zusätzlich die Aufnahmeleitung durch. Das hat Konsequenzen. Das Problem ist als „Beobachterparadoxon" in der empirischen Forschung bekannt: „... der Beobachter, der wissen will, wie unbeobachtete Interaktion abläuft, zerstört diesen Charakter des Unbeobachtetseins gerade durch seine Beobachtung" 127 . Die Veränderung durch Beobachtung wird „Reaktivität" 128 genannt. Zu erwarten sind in unserem Fall verschiedene reaktive Modifikationen der Situation. a) Verstärkte Selbstkontrolle: Die Besuchten werden eine bestimmte Selektion vornehmen. Nicht alles ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Intime Details, starke Ängste oder Aggressionen werden unterdrückt werden. Wollte die folgende Untersuchung etwa Aussagen darüber machen, wie häufig und auf welche Weise in Geburtstagsgesprächen Lebensprobleme besprochen werden, würde sie Gefahr laufen, ein verzerrtes Bild zu zeichnen. Es ist nicht auszuschließen, daß therapeutische Gesprächsgänge ebenso wie verkündigende (auch Religion als privatisierte Religion ist ein intimes Detail) weniger häufig vorkommen als in unbeobachteten Geburtstagsgesprächen.129 Diese Reduktion verstärkt jedoch nur, was sonst auch der Fall ist. Man wird ja schließlich dem .Herrn Pfarrer' oder der ,Frau Pfarrerin' nicht unbedingt alles sagen. b) Idealisierung: Beide Seiten haben der Aufnahme zugestimmt. Sie wollen eine gute Figur machen. So werden sie ihre Gesprächsführung ihrem Ideal davon anzupassen versuchen, wie sie meinen, daß ein Geburtagsgespräch eigentlich sein
126
STUBBS, 2 2 4 .
127
KALLMEYER, 1 1 0 2 .
128 H.LÜDTKE, Beobachtung, 1988, 911-922; 915. 129 Allerdings sind sich immer wieder zu Beginn des Gesprächs Teilnehmer offensichtlich im Unklaren darüber, daß ja schon - wie besprochen - aufgenommen wird (vgl. Anm.136). Auch eine solche Gesprächsform wie der Klatsch, der auf von außen Zuschauende ganz empfindlich reagiert, läßt sich wiederfinden (5.3.3.).
130
sollte. 130 Doch ist nun damit zu rechnen, daß die Ideale von Seelsorgeseite und besuchter Person durchaus nicht kongruent sind.131 Es tritt wegen der Aufnahme der jeweilige Wirklichkeitsentwurf nur umso deutlicher hervor und muß dann umso mehr mit dem anderen des Gegenübers in Verbindung gebracht werden. Das ,Aushandeln' einer gemeinsamen Wirklichkeit wird also eher noch klarer auftreten als sonst. Hier kann der zusätzliche Faktor der Reaktivität für die Analyse sogar ausgesprochen hilfreich sein. c) Verlassen des Gesprächs durch Thematisierung der Aufnahmesituation: Es kann vorkommen, daß innerhalb des Gesprächs durch die besuchte Person die Tatsache der Aufnahme thematisiert wird: „Sie wollten einen Apparat mitbringen oder wie oder was" ( F l : 180) 132 - oder der Pfarrerin fällt auf, daß sie die Kassette wechseln muß (B 1:871). Diese künstlichen Unterbrechungen aber haben ihrerseits eine Funktion im Gespräch selbst. Auch sonst sind Gesprächsunterbrechungen durch handlungsbegleitende Äußerungen möglich (vgl. 4.1.1.), die sich etwa auf die angebotenen Nahrungsmittel beziehen: „vielleicht greifen Sie hier auch mal rein?" (Al:462f.). Die Tonbandaufnahme bringt also nur eine weitere Möglichkeit hinzu, statt des gerade behandelten Themas sich etwas anderem zuzuwenden; deren Ausnutzung sagt ebenfalls etwas über das Gespräch selbst aus. d) Reaktivität auf der Seelsorgeseite·. Die Pfarrerin bzw. der Pfarrer haben auch während des Gesprächs die Aufnahmeleitung inne; so dürfte bei ihnen die Tatsache, daß aufgenommen wird, präsenter sein und infolgendessen ihre Reaktivität ausgeprägter.133 Freilich, auch bei nicht aufgenommenen Gesprächen wird die 130 Vgl. W.LABOV, Sprache im sozialen Kontext, 1980; 17: „Prinzip der Formalität" als Effekt der Reaktivität. In E l beginnt der Besuchte, der offensichtlich vorher über die Aufnahme informiert ist, mit dem Satz: „schießen Sie los" (3). Im Gespräch F l sagt die Besuchte nach den ersten viereinhalb Minuten: „ja ich weiß gar nicht ob wir das hier überhaupt ha ha ha festhalten [lachend:] dürfen + ist mir noch gar nicht mal klar ahaha" (183. 185. 187). „Was möchten Sie denn [lachend:] gerne+ wissen" (Fl:332). 131 Die beiden Beispiele, die H.HAUSENDORF (Seelsorgebedürftigkeit vs. Sinnstiftung, 1988, 158-214) von der Seelsorgedefinition im Krankenhauskontext vorführt, lassen ähnliches auch in anderen Situationen erwarten. 132 Siehe dazu die Zitate in Anm. 136. 133 Bei meiner schriftlichen Information für die Aufnehmenden bestand die einzige inhaltliche Charakterisierung meiner Untersuchung in dem Satz, daß „mich das Zusammenspiel beider Gesprächspartner/innen beim Gespräch interessiert". Auf einem kleinen Beiblatt konnten sich die Aufnehmenden darüber äußern, was sie „noch überhaupt zu diesen Geburtstagsbesuch-Aufnahmen sagen wollte(n)". Der Pfarrer der Gespräche C1 und C2 schreibt: „...es war kein Problem, das Aufnahmegerät nebenher laufen zu lassen. Eher war es noch für mich eine Herausforderung, mich nicht zu verlieren, sondern ,beim Gesprächspartner' zu bleiben" (schriftl. Mitteilung v. 14.2.92). Der Pfarrer vom Gespräch D l meint: „Ich fand es interessant, den elektronischen Begleiter dabeizuhaben" (schriftl. Mitteilung v. 12.3.92). Der Pfarrer von den Gesprächen A l bis A3 notiert: „weiß nicht" (schriftl. Mitteilung v. 24.3.92). Die Pfarrerin vom Gespräch B1 beurteilt sich selbst nachträglich so: „Bei dem ersten Gespräch, in das ich selbst nur ganz kurz hineinhörte, wirke ich relativ angespannt" (schriftl. Mitteilung v. 15.8.92). 131
Reflexion darüber, wie das Gespräch eigentlich sein sollte, auf der professionellen Seite ausgepägter sein als bei dem besuchten Gegenüber. Jedes Gespräch steht auch immer vor dem Forum der theologischen und berufsethischen Seelsorgeideale. Die Aufnahmesituation stellt diese Ungleichheit in der Reaktivität nicht erst her, sie vergrößert sie nur etwas. Die Reaktivität der Beobachteten ist also zu berücksichtigen, aber sie darf auch nicht überdramatisiert werden. De facto verhalten sie sich im Eifer des Gesprächs dann doch über weite Strecken ziemlich normal. Empirische Untersuchungen haben die Gewöhnung der Handelnden an die Beobachtung gut belegt; reaktive Effekte sind vor allem für die Anfangsphase bedeutsam. 134 Kallmeyer formuliert dazu: „Pragmatisch ist das Problem z.B. dadurch zu lösen, daß die Interaktionsteilnehmer die Tatsache der Aufnahme im Interaktionsverlauf vergessen, weil die sich entfaltende Interaktion ihre Aufmerksamkeit bindet." 135 Dem entsprechen auch Äußerungen der Besuchten in den aufgenommenen Gesprächen. 136 Reaktivität kommt also vor und limitiert die Möglichkeit, quantifizierende Aussagen über die Häufigkeit bestimmter Themen und Gesprächstypen zu machen. Sie ist aber deutlich begrenzt und kann in mehrfacher Hinsicht gerade die Tendenzen, denen das Interesse dieser Untersuchung gilt, verstärken. Die Reaktivität ist für diese Untersuchung, weil es in ihr um die Interaktion geht, bei weitem nicht nur ein Nachteil. Wo sie die interaktiven Konturen noch schärfer hervortreten läßt, wird sie sogar zum Vorteil. Zweifel gegenüber der Beobachtbarkeit dessen, was erforscht werden soll, können auch als theologisches Argument vorgebracht werden. So meint sogar W.Zijlstra, ein Vertreter der Seelsorgebewegung: „Der Haupteinwand ist nicht, daß das Tonbandgerät stört. Psychotherapeutische Gespräche werden oft auf Band aufgenommen, und in der Praxis erweist sich auch, daß die meisten Patienten nicht nur keine Bedenken dazu haben, sondern es auch bestimmt nicht als störend empfinden. Mein Einwand geht tiefer. Ich meine, daß es mit dem Wesen des seelsorgerlichen Gesprächs als einem Gespräch ,vor Gottes Angesicht' im Widerspruch steht." 137 Zerstört die Aufnahme also den theologischen Charakter des Gesprächs oder bekommt sie ihn gar nicht auf das Tonband gebannt, weil er in etwas anderem als den Worten besteht? Untersucht werden kann in der Tat nur der sprachliche Niederschlag dessen, was dort vor Gott abläuft. O b das genug ist, muß offen bleiben. Immerhin aber gibt es gewichtige theologi134
LÜDTKE, 9 1 5 .
135
KALLMEYER, 1 1 0 2 .
136 Bl:164: „Das ist doch noch nicht an nein?" F l : 180: „Sie wollten einen Apparat mitbringen oder wie oder was?" El:876f: „ach das läuft immer noch". Al:596: „sagn Sie mal ist das gelaufen?" 137 W.ZIJLSTRA, Seelsorge-Training, 1971; 38f.
132
sehe Denktraditionen, die betonen, daß nicht das Unsagbare und Unbegreifliche an Gott, sondern das Inkarnierte bzw. das, was sich ins Wort gefaßt hat, der Ort sei, wo die wahre Seite Gottes wahrnehmbar werde.
„Linguists, and social scientist in general, are, with a few exceptions, strangely coy about discussing in print the kind of problems involved in collecting and analysing data."»8 3.2.4. Analyseverfahren und Präsentation der Ergebnisse a) Empirisch wird eine Arbeit nicht schon durch ihre Objekte, sondern erst dadurch, wie sie mit ihnen umgeht. Das Verfahren der Analyse der Gespräche war also so anzulegen, daß eine möglichst große Offenheit gegeben war, Entdeckungen am empirischen Material selbst zu machen und nicht das Material nach schon längst getroffenen Entscheidungen nur zu durchsuchen, bis sich etwas Passendes findet.139 Sobald das Vorhaben der Arbeit, Geburtstagsbesuche zu analysieren, feststand, unternahm ich selber ein erstes Testgespräch ohne besonderen Anlaß mit einer mir bekannten Person in einer Gemeinde, in der ich als Geistlicher tätig gewesen war. Das diente zur subjektiven Überprüfung, ob unter der Bedingung einer Tonbandaufnahme die besuchte Person und ich selber mich anders verhalten würden als im unbeobachteten Gespräch. Ich hatte nicht den Eindruck, daß es so war. Während die (zähen) Bemühungen um Tonbandaufnahmen liefen, wurden die wesentlichen Partien der Grundlegung der Untersuchung (Kap. 1 bis 3.2.3.) erarbeitet. Nach Erhalt der Aufnahmen und einer ersten Hörprobe habe ich zunächst von den ersten dreißig Minuten dreier Gespräche (Al, B l , C l ) Transkripte erstellt. Sie waren unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, daß verschiedene Pfarrerinnen und Pfarrer unterschiedlichen Alters, ebenso auch Besuchte verschiedenen Alters und unterschiedlichen Grades an Bekanntschaft mit dem kirchlichen Gegenüber erfaßt wurden. Bei der Transkription wurden die Aufnahmen anonymisiert, d.h. alle Eigennamen durch Phantasienamen ersetzt, Ortsnamen, Berufsbezeichnungen und ähnliches so weit wie möglich formalisiert („{Α-Ort}", „{Beruf}"). Erst kurz vor Fertigstellung dieser Arbeit erhielten dann auch die besuchten Personen selbst einen Phantasienamen, um die Lesbarkeit des Textes zu verbessern: A l wurde zu Frau Ammer, A2 zu Frau Appel, A3 zu Frau Arndt, B l zu Frau Brix, C l zu Frau Class, C2 zu Frau Cordes, C3 zu 138
STUBBS, 2 1 9 .
139 Zum methodischen Verfahren der Konversationsanalyse vgl. KALLMEYER, 1101— 1105.
133
Frau Cramer, D l zu Frau Diehl, E l zu Herrn Eckert, F l zu Frau Fink. Die Erstellung eines Transkripts ist sehr zeitaufwenig. Für drei Minuten Gespräch waren insgesamt zwei Stunden Arbeit anzusetzen.140 Transkribiert wurden Aufnahmen von zusammen rund fünfeinhalb Stunden Gespräch. An den drei zunächst erstellten Transkripten begann dann die Suche nach Regelmäßigkeiten der Interaktion. So gelangte ich zu einer vorläufigen Strukturierung in drei interaktive Gesprächsebenen (4.1.) und drei darstellende Interaktionsformen (4.2.) und zu einer prospektiven Skizze des Zusammenhangs mit den folgenden beiden Kapiteln (Formen der Interaktion in Kap. 4, Präferenzen der Interaktion in Kap. 5 und Inhalte der Interaktion in Kap. 6). Dann erfolgte eine Uberprüfung so, daß ich mir im Gesamtkorpus ein Gespräch suchte, das bei der Erstellung der vorläufigen Strukturen noch keine Rolle gespielt hatte, um an ihm exemplarisch die Vorannahmen zu bewähren. Dazu wählte ich das Gespräch C2 aus141 (im Anhang dokumentiert). An ihm wurden dann die gefundenen Regelmäßigkeiten unter Verwendung von zusätzlicher theoretischer Literatur vollends ausgearbeitet. Danach, zur Abklärung von Varianten und im Hinblick auf die größeren Analyseeinheiten der Gesprächsfiguren (4.3.; 5.3.; 6.3.), erfolgte die sukzessive Transkription der restlichen Gespräche. Schlußendlich fällte ich die Entscheidung, auch das selbst durchgeführte Vorgespräch in den Korpus zu integrieren, weil es gegenüber den anderen Aufnahmen noch einmal weitere interessante inhaltliche Varianten enthält. b) Eine empirische Arbeit sollte auch in der Darstellung für das lesende Publikum den empirischen Denkweg der Arbeit abbilden und die Uberprüfung der empirisch gewonnen Ergebnisse ermöglichen. Zudem muß sie die Lesbarkeit der Darbietung der Ergebnisse berücksichtigen. Daraus ergab sich, den Fortschritt der Erforschung der Gespräche weitestgehend in der Abfolge der Teile und Kapitel selbst abzubilden und die Niederschrift zum Gang der Forschung parallel zu halten.142 Die Arbeit ist als mit der Leserschaft gemeinsame Gedankenbewegung angelegt und scheut sich deshalb nicht, den Schreibenden mit den Lesenden zum traditionellen akademischen ,wir' zu verbinden. Die Zitierung von Gesprächspassagen erfolgte einerseits relativ ausführlich, um direkte Uberprüfung beim Lesen zu ermöglichen und einen Eindruck von den Gesprächen selbst zu geben, sie mußte andererseits im 140 Die Transkription der Phonetik und Intonation benötigt pro fünf Minuten Aufnahme 25-30 Stunden; auch solch intensive Transkriptionen, die für eine Sekunde Datenmaterial ein bis 100 Stunden Bearbeitungszeit brauchen, sind unternommen w o r d e n (bei STUBBS, 222).
141 Zu den Gründen siehe Anm. 145. 142 Von der Regel bildet dieser Abschnitt 3.2.4., in dem wir uns befinden, die Ausnahme. Er wurde bei Anlage der Arbeit skizziert und an ihrem Ende fertiggestellt.
134
Hinblick auf den Umfang der Arbeit dann aber doch auch eingeschränkt werden. Für die bereits in der Forschung etablierten Gesprächsebenen konnte ich mich auf Einzelfallanalyse beschränken (4.1.1.; 4.1.2.). Ansonsten werden zunächst Einzelformen vorgeführt (4.1.3.; 5.1.; 6.2.), dann erst die größeren Zusammenhänge interpretiert. Je großräumiger die behandelten Gegenstände werden (von den Interaktionsformen über die Interaktionspräferenzen bis hin zu thematischen Inhalten), desto stärker wurden neben dem exemplarischen Gespräch die anderen Gespräche hinzugezogen. Bei den Gesprächsformen institutionalisierter Präferenzen analysiere ich einige wenige Beispiele (5.3.), wobei noch viele weitere therapeutische Varianten auch im Korpus enthalten sind. Bei den religiösen Aussagen (Kap. 6), besonders den kirchlichen, sind nahezu alle einschlägigen Passagen aus dem Korpus berücksichtigt. 3. 3. Ein exemplarisches
Gespräch und die Wahrnehmung defizitäres Verhalten
des Alltäglichen
als
„Die Trivialität geht weniger zu Lasten der Dinge selbst als der einer ärmlichen Wahrnehmung ihrer."143
3.3.1. Das Gesprächstranskript Alltags
als Konfrontation
mit der Trivialität
des
Diese Untersuchung hatte als ihren Gegenstand das Gespräch beim pastoralen Geburtstagsbesuch gewählt, um eine Situation in den Blick zu nehmen, die offen ist für verschiedenste Arten von Gespräch. Dadurch soll möglichst viel von der Bandbreite dessen erfaßt werden, womit es Seelsorge zu tun hat. Indem wir uns die Analyse von Tonaufnahmen als Aufgabe stellten, wollten wir vermeiden, uns auf verschiedene ausgearbeitete gesprächstheoretische Perspektiven (insbesondere das Modell der Seelsorge als Verkündigung und der Seelsorge als Therapie) festzulegen. Vielmehr interessierten uns die alltagsnahen Formen von Gespräch. Blickt man nun mit den gleichsam an den Modellen der Seelsorge als Verkündigung oder Therapie gewöhnten Augen auf die Transkripte von Gesprächen zum Geburtstagsbesuch, so fällt als ein gewichtiger Unterschied zu dem, was die Theorie behandelt, die Trivialität solcher Gespräche auf. Seiten um Seiten füllen sich mit Gesprächsthemen, die in den normativen Vorgaben der Seelsorge als Verkündigung nicht oder nur als unbrauchbar vorkommen und in den Gedächtnisprotokollen der therapeutischen Seelsorge mit einem Satz zusammengefaßt werden. 143 H.TIMM, Zwischenfälle, [1983]; 12.
135
Wenn diese Form von Gegenstandsbetrachtung auch nicht die ist, auf die wir abzielen, so sei doch bei ihr in diesem Kapitel noch verharrt. Wir sistieren also zunächst die von uns beabsichtigten sozio-linguistischen Analysemethoden, um zu zeigen: Der herkömmliche Zugang zu den Seelsorgegesprächen muß entweder diese Gegenstände als defizitär ausscheiden, oder er erweist sich - das wäre die andere Sicht des gleichen Sachverhalts - an ihnen eben als unzureichend. Zugleich soll in die Textgattung des ,Transkripts' eingeführt und ein Uberblick über den Inhalt jenes Gesprächs gegeben werden, an dem die Analyse zumeist erfolgen wird. Die gewöhnliche Erinnerung an ein Gespräch bewahrt von der Trivialität des Alltags nur das Wenige auf, das ,merkwürdig', das interessant oder ungewöhnlich erschien, mithin als nicht-trivial auffiel. Die Darstellungsform des Transkripts hingegen hält die Lesenden bei dem genauen Wortlaut solch trivialer Gespräche fest. Nichts davon ist herausgefiltert oder gekürzt. Da gehören dann zum Gespräch auch solcherart Passagen zwischen Seelsorger (S) und besuchter Person (C 2): 845 847 848 849 850 851 852
857
860 861
C2 = und jetzt in Jugoslawien die hörn mitm Krieg nit auf ne. S furchtbar, furchtbar. C2 = die machen sich selber kaputt, S tja C2 des sind die Serben, Serben ne? S die Serben gegen die ja. |C2 = die Serben sind des ja und das sind au_ das sind nochamal η äh nitamal Islam gegen Christentum sondern die Serben die sind äh orthodox und und die andern [C2 ja ja S die andern sind sind katholisch gell, da da ist ja auch noch a Spannung zwischen m zwischen Christen tc2 chja ja S eine Spannung Frau (C2) also ich lang mir an Kopf! C2 [geflüstert:] ja+
Ein Transkript ist ein Text eigener Art. 144 Auch das Transkript gibt die Wirklichkeit aus einer Perspektive wieder und reduziert ihre Komplexität. Der visuelle Kanal fehlt. Wir erfahren etwa nichts darüber, ob sich der Seelsorger wirklich an den Kopf faßt und in welcher Sitzhaltung die Besuchte zuhört. Doch nicht nur das; durch ein Transkript können auch bei weitem nicht all jene Dimensionen wiedergeben werden, die beim Abhören der Aufnahme präsent sind wie Tonhöhe, Intensität, Dehnung, Vokalfärbung und Konsonantenvariationen sowie das Tempo des Gesag-
144 Eine Erläuterung der Regeln der gewählten Schreibweise findet sich zu Beginn der vollständigen Dokumentation des Gesprächs C2 im Anhang dieses Buches.
136
ten. Diese Größen variieren in der mündlichen Sprache ständig und kommen in verschiedensten Kombinationen und mit fließenden Ubergängen vor. Die zitierte Passage enthält zwar eine Bemerkung über ein geflüstertes Wort und verweist auf besonders betonte Worte durch Unterstreichung. Dennoch wird jede praktikable, also in einem bestimmten Zeitraum herstellbare und noch einigermaßen lesbare Aufzeichnung auch in diesen Hinsichten eine Vergröberung bleiben. Trotz dieser Einschränkungen leistet ein Transkript einiges. Indem es den Wortlaut des Gesprächs aufzeichnet, legt es auch die von der schriftlichen Sprache sich stark unterscheidenden Sprachcharakteristika des mündlichen Gesprächs offen. Der Satzbau ist ein anderer: „das sind au_ das sind nochamal η äh nitamal" (C2:853f.). Eigene Worte der mündlichen Sprache (z.B. gell, hm, ne? etc.) spielen eine wichtige Rolle. Vor allem aber stellt der je neu abzuklärende Sprecherwechsel eine ganz eigene Dimension des Mündlichen dar. Zwei Menschen reden miteinander, ohne daß im voraus festliegt, wann wer und wieviel spricht und wie sein Gegenüber ihn dabei sprachlich begleitet. Die Andersartigkeit solcher Gespräche erstreckt sich also sowohl auf die Details mündlicher Sprache wie den trivial erscheinenden Gesamtinhalt. Darum arbeite ich in dieser Untersuchung nicht nur mit separaten Ausschnitten aus Gesprächen. Eines der Gespräche soll paradigmatisch auch die Gesamtgestalt vor Augen führen. 145 Die Lektüre solcher Transkripte ist freilich recht mühsam, besonders solange es nicht darum geht, Details wahrzunehmen, sondern einen Überblick zu bekommen. So kehren wir noch einmal zu der gewöhnlichen Perspektive zurück und verwenden das ganz konventionelle Verfahren einer inhaltlichen Paraphrase. Ich gebe einen Bericht darüber, welche Themen in dem einen erwähnten Gespräch besprochen wurden und wie sie aufeinander folgten. Damit biete ich zugleich eine vulgäre Interpretation des Gesprächs.146 Sie wird für unsere eigentliche Analyse im zweiten Teil 145 Das Gespräch wurde unter folgenden Gesichtspunkten ausgewählt. Gesucht war eine Aufnahme, die ein Gesamtgespräch ohne Aufnahmelücken enthält, bei der wenig problematisiert ist, daß aufgenommen wird; die besuchte Person sollte sich weder besonders kirchlich noch besonders unkirchlich zeigen; weder besonders traumatische noch besonders spannungslose Gesprächsthemen sollten enthalten sein. Es handelt sich also um ein recht durchschnittliches Gespräch, durchschnittlich wenigstens in bezug auf die mir zur Verfügung stehenden Aufnahmen. Nicht ganz durchschnittlich ist es in zweierlei Hinsichten: Es mag unter den Aufnahmen zu denen gehören, die einen etwas intensiveren Eindruck machen; aber dennoch wird sich auch hier die Trivialität des Alltagsgesprächs zeigen. Außerdem enthält es im Unterschied zu vielen anderen Gesprächen auch die Abklärung von einigen konkreten Bitten um Rat und Information und kann deshalb auch seine Trivialität in dieser Hinsicht vorführen (siehe 3.3.5.). 146 Schon die gewählte Bezeichnung der sprechenden Personen ist niemals neutral: Treffen hier Pfarrer und besuchtes Gemeindeglied aufeinander oder Besucher und 137
dieser Arbeit ohne Bedeutung bleiben. Ihr Zweck ist allein der, einen vorläufigen Uberblick zu vermitteln.
3.3.2. Überblick über das exemplarische Gespräch C2 Der Besuchende, ein Pfarrer, und die besuchte Gastgeberin, wir nennen sie Frau Cordes, begrüßen sich. Der Pfarrer wünscht Gottes Segen und gibt die mitgebrachte Blume ab, über die die Besuchte viel Freude zeigt. Der Pfarrer holt sich die Erlaubnis zur Aufnahme. Während die Gastgeberin für die notwendigen letzten Vorkehrungen zwischen dem Zimmer, in dem das Gespräch stattfindet, und (aller Wahrscheinlichkeit nach) der Küche hin- und herpendelt, unterhält man sich über die Behandlung der mitgebrachten Blumen und den bereitgestellten Schnaps. Dem Besucher wird ein Kalender von der ausländischen Insel, auf der die Tochter der Besuchten arbeitet und lebt, zum Anschauen vorgelegt. Nun sitzt man zusammen. Die Gastgeberin fragt nach dem Urlaub des Pfarrers, der sich daraufhin daran erinnert, ein für die Besuchte mitgebrachtes Urlaubsbild hervorzuholen. Im folgenden ist in mehreren Wiederholungen vom Urlaub des Pfarrers, den Geburtstagsblumen, den Arbeits-und Lebensumständen der Tochter sowie den Urlaubsphotos und Kalenderbildern die Rede. Frau Cordes berichtet von Schwierigkeiten mit dem Gehen bei Winterwetter. Auf die Frage des Besuchers nach dem Geburtstag äußert sie Wehmut darüber, daß die Tochter nur so kurz hier sei; sie überlege sich auch, wieder in die Heimat und zur Stadt der Mutter zurückzukehren. Die geäußerte Hoffnung der Besuchten, der Pfarrer habe vielleicht Beziehungen, um eine Anstellung der Tochter in einer großen Bibliothek der Stadt möglich zu machen, muß dieser enttäuschen. Er ermutigt aber dazu, daß diese bei ihrer Qualifizierung in Fremdsprachen es doch gut versuchen könne, in entsprechenden Filialen ausländischer Firmen ihrer Branche in der Stadt eine Anstellung zu bekommen. Frau Cordes bringt das für einen Stellenwechsel schon relativ hohe Alter als Erschwernis ein. Sie äußert Freude über ein Wiederzurückkommen der Tochter, aber auch Bedenken über zu große Nähe, die der Pfarrer auch teilt. Er fragt danach, wie lange der Ehemann schon gestorben sei, worauf die Gastgeberin die Sterbegeschichte erzählt und resümiert, es sei doch ganz gut gewesen, daß sie dann allein geblieben sei. Der Pfarrer findet dies im Hinblick auf ihre Selbständigkeit ebenfalls positiv. Dann bittet die Gastgeberin den Besucher, noch mehr über das Urlaubsland zu erzählen. Am Bericht über die Straßenkinder, deren Armut, Freundlichkeit und Sauberkeit, zeigt sich Frau Cordes interessiert und
Gastgeberin? Im folgenden habe ich die Bezeichnungen variiert, je nachdem welcher Aspekt gerade in der Gesprächsphase zu überwiegen schien; aber eben auch das ist bereits Interpretation.
138
kontrastiert dies mit ihren Erfahrungen mit der Jugend in Deutschland. Ihre Äußerung zum Bericht von den Straßenkindern, daß man da helfen möchte, nimmt der Pfarrer auf, indem er darstellt, wie die kirchliche Hilfe bei dem von ihm besuchten Projekt aussieht, und versichert, daß das Geld direkt bei den Bedürftigen ankommt. Die Kirchengemeinde werde auch demnächst dafür im Gottesdienst sammeln. Von der Klage über soviel Elend auf der Welt gelangt die Gastgeberin zum Thema des Kriegs in Jugoslawien, bei dem der Pfarrer die Verwerflichkeit des Kämpfens der Christen untereinander herausstellt. Frau Cordes erinnert sich an die Hausmeisterin, die auch Jugoslawin sei und ihre Kinder vorbildlich erziehe, was der Pfarrer als positives Ausländerbild verstärkt. Ein Anruf - das Aufnahmegerät wurde solange ausgeschaltet - unterbricht das Gespräch. Die Gastgeberin berichtet dann vom Arger über die Sanierung der Fenster in der Wohnung und davon, daß nun Tapezierarbeiten nötig seien, die zuerst angeblich von der Verwaltung bezahlt werden sollten und nun doch von ihr privat beglichen werden müßten. Der Besucher hält den entstandenen Tapetenschaden für gering und plädiert für einfaches Uberstreichen, das die zur Zeit noch auf Besuch weilende Tochter doch durchführen könne. Als der Besucher sich noch einen weiteren Schnaps genehmigt, fragt ihn die Gastgeberin, ob er mit dem Auto da sei. Auf seine Auskunft, er sei mit dem Fahrrad gekommen, äußert sie, sie habe Angst um ihn, worüber beide herzlich lachen. Dann spricht Frau Cordes den Wunsch aus, daß der Pfarrer eine kleine Ansprache halte, wenn ihr einmal etwas passieren sollte. Der Pfarrer versichert, er werde die Beerdigung halten. Man spricht darüber, daß der Tod schnell und bei jedem auch plötzlich kommen könne. Der Pfarrer lobt ihre Gesundheit und sie nennt die physischen Einschränkungen, äußert sich aber zufrieden mit ihrem Zustand. Der Pfarrer ergänzt, daß er allerdings nur noch wenige Jahre bis zu seinem eigenen Ruhestand habe, worauf die Besuchte äußert, dann müsse sie sich ja beeilen. Darüber müssen beide lachen. Frau Cordes sagt dem Pfarrer, wie sehr sie ihn schätze, und wünscht sich, daß er noch möglichst lange im Dienst bleibe. Sie erkundigt sich dann nach der Altersgrenze für Berufstätigkeit bei Frauen, was der Pfarrer nicht genau beantworten kann. Sie fragt den Pfarrer, ob es bei seiner Arbeit viel Arger gäbe, was er im wesentlichen verneint, wenn auch viel Belastendes, etwa beim Besuch im Krankenhaus, zu erleben sei. Daraufhin berichtet die Besuchte von einem Arzt, der am liebsten mit Nonnen gearbeitet habe, und äußert Kritik an der Jobeinstellung der gewöhnlichen Schwestern. Der Pfarrer sagt, daß die Gemeinde auch eine Diakoniestation habe, die die Pflege nach einem Krankenhausaufenthalt übernehmen könne. Zweimal im Zusammenhang des Gesprächs über die personelle Ausstattung und den Charakter der Arbeit der Diakoniestation äußert die Besuchte, daß sie gerade danach habe fragen wollen, ob man dort Hilfe bekommen könne. Sie sagt, sie sei froh über diese Möglichkeit. Es interessiert sie, ob es auch genug Personal dort gibt, und sie 139
will sicher sein, daß nicht die männlichen Zivildienstleistenden die Pflege durchführen. Uber die Frage des Pfarrers nach Kontaktmöglichkeiten im Haus kommt das Gespräch auf die gute nahe Einkaufsmöglichkeit, die aber auch teuer ist. Dann berichtet Frau Cordes von der finanziellen Knappheit nach dem frühen Tod des Mannes und daran anschließend vom für die Tochter teuren Leben auf der Insel. Der Seelsorger spricht noch einmal an, daß die Tochter dann ja mit dem Ruhestand sicher zurückkehren möchte. Beide stimmen überein, daß die Lage „schwer" sei und „harte Entscheidungen" anständen. Die Besuchte wiederholt noch einmal den Vorschlag des Nachbarn, ob nicht der Pfarrer über Beziehungen für jene Stelle verfüge, was dieser wieder verneint; statt dessen ermutigt er noch einmal, gerade bei ausländischen Betrieben in der Stadt das Glück zu versuchen. Frau Cordes sagt zweimal, sie zeige sich tapferer als sie in Wirklichkeit sei. Daran schließt sie an, es falle ihr dies auch schwer und es sei ja beinahe eine Lüge eine Spitze, die sie selbst mit einem leichten Lachen kommentiert und vom Pfarrer mit einem geflüsterten „ja" bedacht wird. Dann deutet er an, nun wieder aufbrechen zu wollen. Die Besuchte bedankt sich ausführlich und will der Tochter alles berichten, auch daß sie bei ihm eine „Unterstützung in der Aussprache" habe. Dann folgt noch eine Erinnerung an den (letzten?) Geburtstagsbesuch des Pfarrers vor fünf Jahren. Eine zweite Verabschiedung erfolgt, und der Pfarrer wünscht Gesundheit und daß die Besuchte mit sich gut zurechtkomme, was diese auch hofft; wenn nicht, werde sie den Pfarrer anrufen. Sie fragt nach dessen Telefonnummer. Die telefonische Erreichbarkeit des Pfarrers und sein Wohnsitz werden abgeklärt, und der Pfarrer verweist auf die Adressen im Gemeindebrief. Eine dritte Verabschiedung erfolgt, bei der die Gastgeberin den Wunsch äußert, den Pfarrer nicht so schnell in Anspruch nehmen zu müssen, und noch einmal wiederholt, sie werde zur Beruhigung der Tochter sagen, daß da jemand da sei. Im Hinausgehen rät die Gastgeberin dem Besucher, auch die Mütze aufzusetzen bei der Fahrradfahrt, und äußert noch einmal den Wunsch, daß er nicht so schnell die Ansprache halten müsse. Der Pfarrer bedankt sich noch einmal auch dafür, daß er die Aufnahme habe machen dürfen, was die Gastgeberin mit einem „natürlich" quittiert. Sie zeigt dem Besucher, wie die Aufzugstür am besten zu öffnen sei. Das Gespräch endet mit einem letzten gegenseitigen Aufwiedersehen. Ein ziemlich normales pastorales Geburtstagsbesuchsgespräch wurde hier paraphrasiert mit seiner verwirrenden Vielfalt von Themen und Aspekten. Das Gesprächshandeln beider Seiten läßt sich schwer auf eine Linie bringen. Mißt man dieses Gespräch an den Idealen der therapeutischen' oder ,verkündigenden' Seelsorge147 oder einer effektiven Diakonie, 147 Diese ziemlich verbreiteten Bezeichnungen sind sprachlich unpräzise und verdecken die vielen Gemeinsamkeiten und Beziehungen zwischen den beiden Typen von Seelsorgelehren (siehe dazu 1.2.3.). W i r benutzen sie dennoch, weil de facto in der
140
dann kann solch alltägliche Seelsorge nur als äußerst enttäuschende, mangelhafte Arbeit gelten. Ein Gespräch wie dieses ist defizitäre Therapie, defizitäre Verkündigung und defizitäre zielgerichtete praktische Hilfe. Für das Defizit lassen sich je nach dem eher die Seite des Seelsorgers verantwortlich machen oder auch die institutionellen Vorgaben der Gespächssituation Geburtstagsbesuch oder die Seite der besuchten Person.
„Wie strukturiere ich diese Situation? Denn zweifellos hat sie über die Alltagsroutine des Gesprächs hinaus eine zweite Ebene, ..."148 3.3.3. Defizite an Therapie Wird das Transkript im vorliegenden Gespräch auf Möglichkeiten für Therapie hin gelesen, dann sind Fehler in der Gesprächsführung des Seelsorgers zu verzeichnen. Vor allem dann, wenn der Text in Ruhe und Distanz studiert werden kann, fällt auf, wie die Besuchte wiederholt ihren Konflikt zwischen dem Wunsch nach Tapferkeit und Unabhängigkeit auf der einen Seite und dem Bedürfnis nach Hilfe und Nähe durch Tochter und Pfarrer auf der anderen Seite thematisiert. Dem stellt sich, gemessen an den psychologischen Idealen einer therapeutischen Gesprächsführung, der Pfarrer nicht. Sein Ausweichen vor emotionalen Gehalten dessen, was sein Gegenüber sagt, ist untherapeutisch. Die klientenzentrierte Psychotherapie nach Carl Rogers hat in der kirchlichen Seelsorgeausbildung wohl gerade deshalb so großes Gewicht gewonnen, weil sie, sich auf die konkrete Gesprächsführung konzentrierend, deutliche Mittel an die Hand gibt, um untherapeutische und therapeutische Gesprächsführung voneinander zu unterscheiden. Auch wenn nach anderen psychotherapeutischen Verfahren direktivere Gesprächsführung nicht so verpönt ist - jene Regeln nach Rogers sind es, die das Bild von der therapeutischen Gesprächsführung unter den jüngeren Pfarrern und Pfarrerinnen bestimmen. In der pastoralen Anwendungsliteratur werden klare Vorgaben tradiert: „Verfahre nicht generalisierend, diagnostisch, moralisierend, dogmatisierend, interpretierend, auf der sachlichen Ebene reagierend, drängend. ... Stelle keine Fragen (außer Verständnisfragen). Gib nur das Gefühl (ohne sachliche Begründungen) wieder. Gib keine Ratschläge. Erzähle nicht von ähnlichen Erfahrungen, die D u oder jemand anders ,auch' hatte." 149 Praxis wie Theorie dieses Raster wirksam ist. Mit der Herausarbeitung der Alltagsseelsorge wird es dann weiter relativiert werden. 148 STOLLBERG, 95.
149 So die Zusammenfassung bei M.KROEGER, Themenzentrierte Seelsorge, [1973];
141
Zwar moralisiert und dogmatisiert im Gespräch mit Frau Cordes der Seelsorger nicht; dennoch verletzt er häufig die Regeln. Er weicht vor dem Gefühl seiner Klientin aus und stellt statt dessen eine Informationsfrage: 438
C2
443
S
und dort hat sie ihre gute Stellung und ist ein Risiko und sie möcht halt jetzt_ erstens ist sie a (K-Städterin) und zweitens möchts halt jetzt doch im Alter wie der he_und in erster Linie wegen mir! aber des will ich dieses große Gschenk gar nicht annehmen. hat sie Familie?
Gleiches geschieht im folgenden Beispiel: 451 452
C2 S
°also° das ist schwierig nicht? und ist des a {B-ländischer} {Betrieb}?
Der Seelsorger übergeht die Ambivalenzen in dem, was seine Klientin sagt, und interpretiert statt dessen eine der beiden Seiten: 523
C2
525
C2
533 534
ts C2 S
535
C2
also es ist furchtbar schwer! [2] ich weiß nit was ich ihr raten soll, ich möcht auch dieses große Geschenk was sie mir machen möchte daß sie wegen mir in erster Linie hierherkommt gar nit annehmen! die letzte Phase des Lebens ist oft auch gar nit so erfreulich! und wir sind sehr selbständig ich bin jetzt die ganzen Jahre äh allein gewesen und selbständig allein ja und sie auch! und das ist Ihnen gut bekommen wenn ich Sie so anschaue, meinen Sie!
Der Seelsorger macht sich dann zum Anwalt der Tochter von Frau Cordes und sammelt Argumente, die dagegen sprechen, daß die Tochter zur Mutter zieht. So gerät das Gespräch zur Diskussion. Immer noch ist die Klientin um Darstellung ihrer Ambivalenz bemüht; der Seelsorger jedoch optiert entschieden für eine Seite: 558 560 562
rs C2 [S C2 [S C2 «S
undund so des ist doch auch nötig achja das das ja ist gut daß sie also ich hab für alles Verständnis! hab ich! daß sie da aber allein sein ist das_ aber trotzdem sie hat das Gefühl da ist die Mutter immer da ne? ja jaja doch des
44. Ausführliche Übungen dazu enthält das „Praktikum des seelsorgerlichen Ges p r ä c h s " v o n H . F A B E R / E.VAN DER SCHOOT [1962]; 4 7 - 5 8 . D a s B u c h ist i n z w i s c h e n in
der 7. Auflage der deutschen Ausgabe von 1972 erschienen. 142
568
[C2 S
570
des kann i mir schon schwierig vorstelln. ja ich weiß es nicht. jadoch! ja. [1]
Im Anschluß an diese Passage lenkt der Pfarrer mit einer Informationsfrage auf ein anderes Thema ab: „wie lange ist jetzt ihr Mann tot?" (573). Als die Klientin Angstgefühle äußert, gibt der Seelsorger einen Ratschlag: 1141
C2
1143
S
das müßt eim Angst sein wenn man wenn man krank wird ne, ja. = a Frau {C 2} gell Sie wissen auch daß wir eine Diakoniestation haben.
So gipfelt die untherapeutische Handlung in der folgenden Passage: Der Schlüsselsatz der Besuchten, in dem sie ihren Konflikt auf den Punkt bringt, wird unter therapeutischer Perspektive ganz unangemessen bearbeitet. Der Pfarrer reagiert auf ihn als eine überraschende und deswegen lustige Sentenz. Er lacht und hebt dann die geäußerte Ambivalenz noch einmal auf in diejenige Richtung, die eigenen Hilfsbedürfnisse zugunsten der durch die Tochter repäsentierten Pflicht zur Tapferkeit zu unterdrükken. Als die Besuchte dann solch ein Vorgehen - zu ihrer eigenen Überraschung - als Lüge brandmarkt, bleibt dem Pfarrer nur noch eine unklares Zustimmungssignal. An die nochmalige Selbstbestätigung „so ist das ja" der Besuchten schließt er seinen Willen zum Aufbruch an: 1448
C2
1450
1456 1457 1458
iS C2 C2 S rC2 S C2 S C2
1460 1461 1462
C2 S C2
1464
C2
1452 1453 1454
1466 rC2 S
ja, freilich für mich wärs scho Beruhigung wenns da war s'klar, ich zeige mich tapferer als ich bin. hahahahaha ahh ja das's sehr gut, ja. ha hahahaha hahaha, ha jaja,
m
daß sie sich nicht so auch unter Druck gesetzt fühlt, ich zeige mich ihr gegenüber tapferer als ich in ja Wirklichkeit bin. ja. das fällt mir auch schwer. [3] das ist ja beinah Lüge ne? hahaha, [geflüstert:] ja ha [4] ja? [4] so ist das, ja zum Wohl der letzte Schluck!
143
Nach dem Methodenkanon therapeutischer Gesprächsführung macht sich dieser Therapeut also vieler schwerer Regelverletzungen schuldig. Der hinter den Worten der Klientin vermutete Konflikt wird nicht adäquat, will sagen: nicht therapeutisch, behandelt. N u n scheint aber dies, wenigstens nach dem Wortlaut der Abschiedsszenen, die Besuchte überhaupt nicht zu stören. Sie zeigt sich als hocherfreut über den Besuch. Das ließe sich natürlich seinerseits als uneigentliche Höflichkeit, als Verdrängung des Konflikts interpretieren, die als der eigentliche Sachverhalt hinter den gesprochenen Worten liege. Auch die Situation des Geburtstagsbesuchs mag die Klientin über die mangelnde Therapie hinwegtrösten: Es war ja eine Ehrbezeugung des kirchlichen Vertreters für sie, daß er da war. Es lassen sich zwar an Einzelreaktionen im Gespräch verbale Rückzieher der Klientin feststellen. Die durchaus positive Selbstbeurteilung des Gesprächs durch die Klientin selbst müßte dann aber unter therapeutischer Perspektive als Selbsttäuschung gewertet werden. Der Wortlaut des Gesprächs, das interaktiv zum Ausdruck Gebrachte, erscheint demgegenüber als sekundär. Die Kritik an diesem Alltagsgespräch vom therapeutischen Blickwinkel aus gründet ihre Analyse auf hinter den Worten liegende Sachverhalte. Sie setzt Motive und Konflikte voraus und nimmt als Defizit wahr, daß das eigentlich Gemeinte nicht gesagt werden konnte. Diese Sicht der Dinge gewinnt die therapeutische Perspektive aus dem Rahmen der ihren Gesprächsregeln zugrundeliegenden Theorie. Es wird das Gesagte mittels dieser Theorie in das eigentlich Gemeinte überführt und gerät so in einen Zusammenhang, der erst jenseits des Gesagten sich eröffnet. Innerhalb eines eindeutig therapeutischen Settings wird solch ein Theoriehintergrund über einen Kontrakt der Partner gemeinsam als bedeutsam aufgestellt. Das Gesprächsverhalten auch der Klientin wird unter entsprechende Regeln gestellt. Gerade solch ein Kontrakt (vgl. 5.2.) wird beim Geburtstagsbesuch explizit keinesfalls geschlossen. Inwiefern er implizit vorliegt, d.h. von einer oder beiden Seiten im Gesprächsvollzug aufgestellt und festgehalten wird, wäre erst aus dem Gespräch selbst zu erheben. Solange kein therapeutischer Kontrakt vorliegt, gibt es keinen Grund, dem Theoretiker, der die therapeutische Meßlatte anlegt, oder dem Gesprächstechniker, der nicht-direktive Gesprächsführung aufspürt, die Entscheidung zu überlassen, ob ein Defizit im Gespräch vorliegt oder nicht. Zuerst kommt diese Entscheidung den Gesprächsbeteiligten selbst zu. Die therapeutische Theorie kann den im Alltag miteinander Sprechenden nicht vorschreiben, was sie als unmittelbar Beteiligte als Defizit zu werten haben. Für dererlei alltagsnahe Situationen ist gerade charakteristisch: Welche theoretische Perspektive eingenommen wird, wenn überhaupt, kann nicht von vornherein festgelegt werden. Diese Widerständigkeit des Alltags, die therapeutische Perspektive einzunehmen, erscheint freilich aus der therapeutischen Sicht genau als das 144
große Manko. So wirft die therapeutische Perspektive dem Seelsorger, von dem solche Theoriefertigkeit erwartet werden kann, gerade sein Alltagsverhalten vor. Dessen alltägliche Gesprächsmuster sind es, die das Defizit erst herbeiführen. Daß der Pfarrer sich zu alltäglich verhält, verhindert den therapeutischen Fortschritt. Es wird also im konkreten Gesprächsverhalten zu prüfen sein, wie denn die Beteiligten selbst ihr Gespräch hinsichtlich therapeutischer oder therapienaher Dimensionen definieren, worin diese bestehen könnten und was sie leisten (Kapitel 5).
.Seelsorge hat es immer mit der Begnadigung des Sünders zu tun."150 3.3.4. Defizite an Verkündigung Eine Defizit-Charakterisierung des alltäglichen Geburtstagsbesuchs ergibt sich nicht nur unter therapeutischem Blickwinkel. N o c h auffallender für Theologen mag bei solch kirchlichen Geburtstagsbesuchen die ,Glaubensferne' sein. Dabei ist bei dem hier gewählten exemplarischen Gespräch noch vergleichsweise viel von kirchlichen Größen die Rede. Doch tritt darum der Gegensatz zur theologischen Perspektive nicht weniger deutlich hervor. Kirchliche Bestände werden zwar thematisiert, aber nicht so, daß sich explizite Deutungen des Glaubens finden. Christentum ist in dem exemplarischen Gespräch greifbar in der Kirche als Institution für soziale Dienstleistungen. Der Pflegehilfe durch die Diakoniestation kommt für beide Gesprächspartner große Bedeutung zu. Auch die vom Gemeindeglied erwünschte und vom Pfarrer versprochene „Ansprache" ließe sich als solch eine soziale Leistung der Institution verstehen. Gerade als von der Kirche als solcher sich unterscheidende Größe erscheint für Frau Cordes die persönliche Beziehung zu eben diesem Pfarrer. Sie gilt der Besuchten als Ausnahme von der Regel - eine Einschätzung, die der Pfarrer nicht widerspruchslos hinnehmen will: 1061
C2
1063
rS C2 S C2 S
1065 1066 1067
also wissen Sie Sie sind a Lichtblick in der Kirche! [seufszend:] ach+, ach das gibt noch andere. für mich, für mich. °ach Gott Frau {C2}° ja ja [1]
150 ASMUSSEN, 2 6 .
145
Die persönliche Beziehung zum Pfarrer und die soziale Wirksamkeit der kirchlichen Institution spielen also eine Rolle. Vom Glauben aber und den Begriffen, in denen dieser sich nach theologischer Perspektive expliziert, ist in dem gesamten Gespräch nicht die Rede. Das theologisch bewährte Vokabular der Verkündigung fällt fast völlig aus. Einzig der Begriff „Gott" kommt fünfmal vor. 151 Er erscheint zudem in solchen Zusammenhängen, die die Defizitbeobachtung noch weiter stärken: In allen Fällen wird das Wort im exemplarischen Gespräch allein vom Pfarrer gebraucht, und zwar in feststehenden Redewendungen. Sie sind Teil der - pfarramtlichen - Geburtstagsbegrüßungs- und Abschiedsroutine. Bei der Begrüßung beschränkt sich die Reaktion von Frau Cordes auf ein Zeichen der Wertschätzung dieser Art des Glückwunsches, wird dann aber sofort von ihr und ebenso vom Pfarrer durch die Beschäftigung mit dem mitgebrachten Blumengeschenk ersetzt: 6 7 8 9 10
S C2 S C2
Ο
kl2
Gottes Segen wünsch ich Ihnen, danke, für das Jahr das beginnt, dankeschön, Gott begleit Sie ( ) ja, das kann ich wirklich gut brauchen, ja, und so ein ein schönen ja ich hab den extra zuglassen, weil der nämlich extra noch mit einem Siegel versehen ist daß wir des alles auch sehn, aaaaaaaah,
Die religiöse Verabschiedungsformel des Seelsorgers ergänzt die Besuchte durch den Wunsch, die kirchliche Dienstleistung möglichst lange nicht zu benötigen: 1558
(S C2
Gott behüt Sie ja ( ) und ich hoffe daß ich Sie nicht so schnell in Anspruch nehmen muß.
In diesem einzigen Fall, daß der Pfarrer eine Interpretation der Lebenssituation der Besuchten mit einer umgangssprachlichen Redewendung anbietet, die den Begriff ,Gott' enthält, wird das von der Besuchten akzeptiert, doch ohne daß sie von dort aus das Gespräch weiterführen könnte; vielmehr greift sie noch einmal auf die schon früher angesprochene Frage nach der Zahl der Diakonieschwestern zurück: 1224
rS C2
genau, genau, und und das ist ja auch a gewisse nit ja
151 Nicht mitgezählt sind die völlig konventionalisierten Redewendungen wie ,ach Gott' und ähnliches. Zum Ausdruck .Segen' siehe 4.3.b und vgl. 6.3.1.
146
1226
S
1228
[C2 S
1231
C2
Beruhigung äh: ich bin nicht gleich äh wie sagt man da: von Gott und der Welt verlassen ja, jaja! ja sicher. ja. [1] doch da bin ich sehr froh wenn ich des höre, sind jetzt {Zahl P} Schwestern?
Es ergibt sich also unter theologischer Perspektive, daß dieses exemplarische Gespräch ein Defizit an Verkündigung zeigt. Ein strukturell gleichartiges Ergebnis hatten wir bereits unter therapeutischer Perspektive festgestellt. Die Defizit-Charakterisierung alltäglichen Gesprächs ist also nicht allein ein Pfarrer- und Theologieproblem. Sie ergibt sich analog auch bei einem anderen theoretischen Horizont und anderen Erwartungen theoriegeleiteten Expertentums. Wie im Falle der psychologisch-therapeutischen Deutung kann auch die theologische Wahrnehmung von Gesprächen als Fall für Verkündigung den Weg hinter den Wortlaut des Gesagten wählen. Die hohe Wertschätzung des Pfarrers und sozialer christlicher Institutionen läßt sich als latentes Christentum begreifen, das Handeln des Pfarrers kann als aus Glauben erwachsene Zuwendung zum Nächsten legitimiert und seine gewisse Annahme der Besuchten als ihr nur nicht bewußtes Ereignis von Rechtfertigung gedeutet werden. Wieder allerdings fände diese Deutung am Wortlaut nur durch den diesen transzendierenden theoretischen Rahmen einen Anhalt. Im alltäglichen Reden kommt diese Dimension nicht zum Vorschein. Entsprechend zum therapeutischen Defizit ließe sich auch hier der Pfarrer als derjenige ausmachen, der sich zu alltäglich verhält, zu wenig sein (theologisches) Expertentum anwendet. Der Pfarrer, so lautet dann die Kritik, habe die Gelegenheit zur Verkündigung nicht genügend genützt. Es verschärft sich jedoch im Falle des theologischen Defizits noch der Sachverhalt: Die therapeutische Gesprächstheorie braucht beim Gegenüber zur Expertenseite kein mehr als alltägliches Maß an Kompetenz zur Artikulation von Gefühlen und Konflikten vorauszusetzen. Eine darüber hinausgehende Fähigkeit wird erst im Laufe der Therapie von der Klientin oder dem Klient erarbeitet. Die theologische Perspektive hingegen setzt die besuchte Person - wenn sie denn nicht als reines Objekt der Mission, sondern als Gemeindeglied verstanden wird - schon immer in irgendeiner Weise auch als glaubenden Menschen voraus. Gerade dies aber scheint in den Äußerungen der Besuchten in einem Gespräch wie dem vorgeführten nicht zum Ausdruck zu kommen. Das Defizit, das unter theologischer Perspektive auftritt, ist also fundamental ein Defizit des Gesprächsgegenübers: Die Gemeinde ist nicht christlich genug; die Besuchten, die nur über dies und das plaudern wollen und an einem tiefen Gespräch über den Glauben weder interessiert noch dazu fähig scheinen, lassen, so die Pfarrerklage, einer verkündigenden Gestaltung des Seelsorgegesprächs keine Chance. 147
Die als fehlend markierte christliche Deuteleistung des Gesprächs ist im Alltag objektiv ungemein erschwert. Wenigstens gilt das, wenn das ,Anpredigen' nicht als Ausweg begangen werden kann und darf. Genauso wenig wie der explizite Vortrag einer pastoralen Deutung, die nicht in das gemeinsame Gespräch eingeht, können auch die impliziten Interpretationsleistungen von Seiten der Verkündiger in dieser Perspektive befriedigen. Erst wenn die christliche Deutungsleistung selber als Gespräch aufträte, wäre das Defizit wirklich behoben. Wieder tritt hier wie bei der therapeutischen Perspektive eine doppelte Abständigkeit von trivialem Gesprächsgegenstand und Expertentheorie auf: Auch kirchliche Theologie kann die am Gespräch Teilnehmenden im Alltag nicht zu bestimmtem Verhalten dirigieren. Was die Theorie als Defizit wahrnimmt, findet im Gesprächsverhalten selbst keinen eindeutigen Niederschlag. Die mangelnde Verkündigung im Besuch zwischen kirchlichem Vertreter und Gemeindeglied scheint für die Beteiligten kein Problem zu sein. Zu fragen wäre dann, inwiefern es eigene alltagsnahe Selbstdeutungen der am Gespräch Beteiligten gibt, die an den theoretischen Zusammenhang doch angeschlossen werden können. Dieser Anschluß liefe dann aber darauf hinaus, Ansätze zu einer zweiten, durchaus eigenständigen Art von Theologie, einer theologischen Alltagsreflexion, in den Blick zu bekommen. Was sind die gegenüber der Schrifttheologie der Theologen anderen Charakteristika einer solchen Alltagstheologie im Gesprächsvollzug (Kap. 6)?
„Pastors aid parishoners ... through the guidance skills of setting goals, developing programs, and planning implementation." 152
3.3.5. Defizite an praktischer Hilfe Im Vergleich zu den anderen Gesprächen geht es im exemplarischen Gespräch C2 häufiger um ganz konkrete Handlungsmöglichkeiten, die im Gespräch erwogen werden: Wie kann die Tochter eine Arbeitsstelle in der Stadt finden? Wer wird die Besuchte im Notfall pflegen? Wie wird der Tapetenschaden behoben? Wer wird die Besuchte beerdigen? Wie kann sie den Pfarrer im Notfall erreichen? In alltagsnahen Gesprächen kann es also auch um das Abwägen und Planen von problemlösenden (nicht-sprachlichen) Handlungen gehen. Diese Perspektive findet in der deutschen Seelsorgeliteratur so gut wie keine Berücksichtigung. Ja, der Handlungsbezug von Seelsorge erscheint bei Ni-
152 C.W.TAYLOR, The skilled pastor, 1991; 139.
148
col sogar als dasjenige, was durch das von ihm vorgelegte Gesprächsmodell entscheidend begrenzt werden soll.153 Das wird nicht überall so gesehen. Charles W. Taylor, der Pastoraltheologie in Berkeley/California lehrt, hat eine Anleitung zur Gesprächsführung vorgelegt, die gerade darauf zielt, im Gespräch zu Handlungsplanungen zu kommen. Auch unter einer solchen theoretischen Perspektive erscheint unser exemplarisches Gespräch als defizitär. Als Handlungsproblem identifiziert Taylor immer eine irrationale Verknüpfung von Uberzeugungen mit bestimmten Emotionen. 154 Die Gesprächsbeteiligten bei unserem exemplarischen Gespräch hingegen behandeln die meisten der Handlungsprobleme als Informationsangelegenheiten. Natürlich ließen sich auch die Fragen nach der Diakoniestation, nach dem Tapetenschaden, nach der Beerdigung durch den Pfarrer, nach seiner Erreichbarkeit als Symptome des Gefühls von Hilflosigkeit interpretieren. Doch die Teilnehmenden akzeptieren Lösungen, die sich auf die Information beschränken. Zur Optimierung problemlösender Handlungen sieht Taylor deren Zerlegung in operationalisierbare Schritte und ein der Verstärkung dienendes Rückmeldesystem vor. 155 Auch daran mangelt es dem exemplarischen Gespräch. Der Pfarrer versucht lediglich einmal, die Bewerbungssituation der Tochter vorwegzunehmen in der Art: ,Da würde ich hingehen und folgendes sagen'. Es finden keinerlei Absprachen über einzelne Schritte und Rückmeldungen statt. Rückkoppelung nach der Ausführung erster Handlungsschritte sind auch innerhalb des Rahmens ,Geburtstagsbesuch' nicht möglich. Ein jährlicher Geburtstag oder gar nur alle fünf Jahre erfolgender Besuch156 durch den Pfarrer spannt das Netz natürlich viel zu weitmaschig. So läßt sich also nicht nur die gemeinsame Reduzierung des Problems auf seinen Informationsgehalt durch beide Seiten als Ursache für das Defizit benennen. Vielmehr wirkt sich besonders die Struktur der Situation des Geburtstagsbesuches aus. Sie produziert eine Atmosphäre alltäglicher Unverbindlichkeit und gehört in einen so lockeren Kontaktzusammenhang, daß er sich gegen kontrollierte Verhaltensänderungsplanung und deren Durchführung sträubt. Effektive soziale Hilfe leistet das Gespräch nicht. Offensichtlich ist der alltägliche Umgang mit Problemen wiederum ein anderer, als es die Seelsorgetheorie vorsieht. Wieder läßt sich fragen, ob nicht auch bei der Erörterung bestimmter Handlungsmöglichkeiten der alltagsnahe Umgang damit angemessen sein kann. Wie sähe dann dieser 153
NICOL, 180.
154 TAYLOR, 66-78. Im Hintergrund steht die Rational-Emotive Therapie (Albert Ellis, ab 1955). 155
TAYLOR, 1 2 9 - 1 3 2 .
156 So die Praxis des Pfarrers (schriftl. Mitteilung v. 14.2.92) bis hin zum 80. Geburtstag. In den Jahren dazwischen werden Karten verschickt.
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andere Typ alltagsweltlicher Handlungsplanung, diese Alltagsdiakonie aus?157 Unter den drei vorgeführten theoretischen Perspektiven für ein durch Experten vorgenommenes Seelsorgehandeln erscheint das, was das exemplarische Gespräch bei einem Geburtstagsbesuch vorführt, als ein einziges Defizit. Der Schluß liegt nahe, solche Wirklichkeit aus dem Bestand dessen, wofür sich Seelsorgetheorie (und Seelsorgepraxis) interessiert, auszuschließen, weil diese Wirklichkeit eben nicht in den verwendeten Rahmen paßt. Wir aber werden den anderen Weg wählen und versuchen, mit dem in Kap. 2 erarbeiteten Instrumentarium diese Wirklichkeit in den Blick zu nehmen. Der alltägliche Charakter dieser Gespräche soll in seiner Typik hervortreten. Dann wird seine Eigenart deutlicher werden können und die Frage nach den Zusammenhängen zu anderen Formen von Seelsorge neu gestellt werden können.
157 Diese ebenfalls interessante Frage werde ich in dieser Arbeit nicht behandeln. Ich möchte stattdessen die Aufmerksamkeit auf die kritische Weiterführung der vorher erörterten Perspektiven konzentrieren. Sie haben die größere Verbreitung in der deutschsprachigen Seelsorgetheorie und unter den Seelsorge-Professionellen. Jedenfalls wird hier die Diskrepanz zwischen Seelsorgeanspruch und Seelsorgepraxis als drängender dargestellt und erlebt. In 7.1.1.C habe ich kurz die Ergebnisse der Arbeit auch für das diakonische Verständnis der Seelsorge skizziert.
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ZWEITER TEIL
Gesprächsanalyse pastoraler Geburtstagsbesuche
KAPITEL 4
Geburtstagsbesuch als alltägliches Gespräch „Die alltägliche wie auch die historische Erfahrung zeigen, daß in der Handlungspraxis alltäglicher Lebenswelten nach der paradoxen, aber erfolgreichen Maxime verfahren wird: ,Es gibt zwar keine Regeln, aber wir verhalten uns danach' - und - ,Es gibt zwar Regeln, aber wir verhalten uns nicht danach.'"1
4. 1. Die drei interaktiven Gesprächsebenen Die Orientierung in der Geschichte des seelsorgerlichen Gesprächs und des Geburtstagsbesuchs als Teil der modernen Gesprächskultur und Gegenstand professioneller Reflexionsbemühungen hatte uns immer wieder darauf gestoßen, daß eine detaillierte Beschreibung des Zustands der pastoralen Praxis des Geburtstagsbesuchs möglichst genau die tatsächlichen Gesprächsverläufe in den Blick bekommen muß. Methodisch erwiesen sich dazu sozio-linguistische Verfahrensweisen, inbesondere der ethnomethodologische Zugang, als angemessen. Die Analyse der aufgenommenen Gespräche richtet ihr Augenmerk auf die Oberfläche des Lautbestandes, der gesagt worden ist. Sie will wahrnehmen, was die Sprechenden selbst, weil sie zugleich handelnd involviert sind und andere Interessen haben, so nicht wahrnehmen können. Sie nimmt sich den Lautbestand gewissermaßen unter der vergrößernden .Zeitlupe' vor, vergleicht einzelne Teile miteinander, um im Vergleich Regelmäßigkeiten zu entdecken. Nach den in Kapitel 2 angestellten Erwägungen erschien es als erfolgversprechend, nach interaktiven Mechanismen, die im Gespräch Verwendung finden, zu forschen. Als ich dann die Analyse der Gesprächsaufnahmen durchführte, ergab sich, daß sich auch beim interaktiven Zugang nicht bestimmte Gesprächstypen voneinander abgrenzen lassen (siehe 4.1.3.). Sehr wohl aber zeigten sich unterschiedliche Weisen der Beziehung von
1 H.-G.SOEFFNER, Auslegung des Alltags - Der Alltag der Auslegung, 1989; 148. 153
Sprechen und Handeln. Es bestehen relativ stabile interaktive Muster darin, wie ein Gesprächsbeitrag vom Gegenüber weitergeführt wird in Hinsicht darauf, welches Verhältnis von Sprechen und Handeln in ihm realisiert wird. Diese Muster seien ,Gesprächsebenen' genannt. 1601
C2
°und das geht so automatisch,0 1603 rS das geht ja, das ist ein Griff gell, C2 gell ja. 4.1.1. Handlungsbegleitende Dialoge Ein Gesprächsausschnitt wie der als Motto dieses Abschnitts zitierte ist in sich für uns Lesende unverständlich, obwohl die beiden Sprechenden sich offensichtlich ohne Schwierigkeiten verstehen können. Das liegt nicht unbedingt am fehlenden Kontext. Die zitierte Gesprächssequenz folgt einem Austausch von Bedankungen, an sie schließt ein ,Aufwiedersehen' an. Ich habe freilich den ersten Teil der Aussage von C2 noch ausgelassen. Er lautet: „°jetzt hab i Sie eingesperrt sehn's" (1601). Doch auch dieser Satz gibt uns nicht ausreichende Information. Das Rätsel würde erst visuell eindeutig und leicht zu lösen sein. Wir würden dann nämlich sehen, was die beiden tun. Der Gesprächsausschnitt gehört zu einer Handlung. Welche es ist, läßt sich allein durch die Interpretation des Verbalen nicht mit Sicherheit feststellen. Offensichtlich führt C2 dem Seelsorger etwas vor. Dieses zeigende Vorführen ist die entscheidende Handlung. Die Worte begleiten die Handlung nur. Sie sichern die Aufmerksamkeit für die Handlung, und sie machen die beabsichtigte Intention noch deutlicher. Dieses streng handlungsbegleitende Sprechen2 ließe sich durchaus auch als gar nicht unter die Rubrik ,Gespräch' im engeren Sinne gehörig verstehen. Unter die oben entfalteten Bestimmungen des Begriffs ,Gespräch' 3 jedenfalls wäre es nicht subsumierbar, weil der Fokus hier eben nicht auf der Sprache, sondern dem Handeln liegt. Das handlungsbegleitende Sprechen ist weitgehend durch nonverbale Zeichen ersetzbar.4 Doch wie be2 Das handlungsbegleitende Sprechen entspricht R.MACKELDEYS Dialogtyp „handlungssteuernde Dialoge" (siehe 2.3.a). Hier liegt in der Tat der von Mackeldey für jedes Gespräch vorausgesetzte Fall vor, daß das Sprechen auf einen übergeordneten Handlungszusammenhang bezogen ist und nur durch diesen seine Funktion erhält. Allerdings muß, wie man an obigem Beispiel sieht, nicht unbedingt das Sprechen das Handeln steuern, auch der umgekehrte Fall ist denkbar und alle Stufen der gegenseitigen Beeinflussung dazwischen. Deswegen verwende ich den neutraleren Terminus der Begleitung. 3 Vgl. Kap. 1.3. u. 2. 4 Diese Art ,Gespräch' stellt eine Ubergangsform zwischen Handlung und Gespräch dar. „In ihren primitiven Verwendungsarten fungiert die Sprache als ein Binde-
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handeln die Gesprächsteilnehmer selbst diese Gesprächsebene? Wie verhalten sich ihrer Interaktion nach handlungsbegleitende Dialoge zu anderem Gespräch? Handlungsbegleitende Dialoge finden sich vor allem an Übergangsstellen des Gesprächs im definierten Sinne. Sie bilden so etwas wie einen Gesprächsrand. Besonders häufig treten sie am Anfang oder Schluß eines Gesprächs auf. Handlungsbegleitende Dialoge ergeben sich bei den Geburtstagssbesuchen mit ziemlicher Regelmäßigkeit dann, wenn der Seelsorger wieder nach draußen geleitet werden soll, wie im oben zitierten Beispiel, und ebenso, wenn er auf seinen rechten Platz geführt werden soll5: 57 58 59
C2 ja ab_ bitte nehmen Sie doch Platz, S danke. C2 = auf dem Sofa ist am bequemsten. ^S ja ja gut
Diese Dialoge sind der verbale Niederschlag von Handlungen, die der außersprachlichen Situation des Gesprächs dienen: Ein Ort, der für das Gespräch geeignet ist, wird bestimmt bzw. mit dem Ende des Gesprächs wieder verlassen. Daneben gibt es noch eine weitere häufige Handlung, bei der es sich ähnlich verhält. N u r findet sie sich sehr wohl mitten im Gespräch: 408
411 412 414
C2
ein ein schlimmes Hangen und Bangen _ bitte bedienen Sie sich mit Rum und Zucker und was Sie wollen. ^S ja danke danke ja C2 und auch dieses St_ wartet noch, nicht? rS =au Sie! ich hab ja noch a Mittagessen vor mir. C2 ja C2 jahaha des schmeckt immer noch. ja, jetzt ist des natürlich sehr schwer, jetzt habn unsere Nachbarsleut
Mitten im Gespräch wird eine gesprächsunabhängige Handlung begonnen, das Anbieten und Zureichen von Nahrungsmitteln. 6 Noch mehr als bei den Hilfen zur Orientierung in der Wohnung ist dafür ein sprachliches Präzisieren hilfreich. So kommt es dazu, daß die sprechende Person sich selbst unterbricht. Ist die Handlung durchgeführt, so kann sie zur anderen Gesprächsebene wieder zurückkehren. Mit dem „ja, jetzt" (415) wird dabei
glied konzertierter, einvernehmlicher menschlicher Tätigkeit, als ein Stück menschlichen Verhaltens. Sie ist ein Handlungsmodus, nicht ein Instrument der Reflexion" (B.MALINOWSKI, Das Problem der Bedeutung in primitiven Sprachen [1923], 323-384; 346).
5 Ebenso z.B. auch in Bl:48-51; Fl:14. 6 Ebenso in C2:159; Bl:546f.
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noch einmal ausdrücklich das handlungsbegleitende Sprechen als eine Unterbrechung markiert. Eine kurze handlungsbegleitende Bemerkung wie ein „bitteschön" kann auch einfach in die sonstige Aussage eingeflochten sein. Sie wird, weil sie sich auf der anderen Sprachebene befindet, als für das Gespräch nicht existent behandelt: „aber weil die jetzt bitteschön in {Α-Großstadt} ist" (A3:150f.).7 Die Handlung des Bewirtens (und ebenso die des Sich-bewirten-Lassens) duldet offensichtlich keinen Aufschub. So darf sogar der Gast mit seinem Sich-bedienen-Lassen und dem dies begleitenden Sprechen das Gespräch unterbrechen, während sein Gegenüber noch spricht: 892
[C2 S
also sind ordentliche fleißige Leut-| darf ich mal noch zulangen-l? 8
Es kann aber auch die (gänzlich sprachlose) Handlung das Gespräch verdrängen. Im Gespräch C2 ergeben sich derartige Fälle dadurch, daß sich die Gastgeberin öfters aus dem Raum entfernt, wahrscheinlich um noch Nahrungsmittel und Geschirr herbeizubringen (162-166. 192. 252. 293. 358360). Uberhaupt enthalten diejenigen Gesprächsaufnahmen, bei denen zum Besuch Essen oder Getränke angeboten wurden, häufiger Pausen und längere Pausen (A3, B l , C2, El). 9 Die Möglichkeit, auf handlungsbegleitende Dialoge und auf die pure Handlung ,zurückgreifen' zu können, erweitert die Optionen der Gesprächspartner beträchtlich. Gesprächspausen können durch Handlungen und handlungsbegleitende Dialoge ausgefüllt werden 10 , Gesprächsunterbrechungen sind durch handlungsbegleitendes Sprechen jederzeit möglich. 11 Indem also die Zahl der verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten im Gespräch durch handlungsbegleitendes Sprechen erhöht wird, erleichtert dies die Aufgabe, miteinander ein Gespräch zu führen, ungemein. Darin liegt eine in der Regel kaum bewußt gemachte Bedeutung des Anbietens von Speisen bei pastoralen Geburtstagsbesuchen. Sicherlich geschieht das aus Konvention, es betont die Gastgeberrolle und ehrt den Besucher. Aber es ist mehr als bloße Sitte. Das Zusichnehmen von Speisen und Getränken besitzt darüber hinaus eine die Organisation des Gesprächs selbst fördernde Funktion. Weil es das Repertoire an möglichem Gesprächsverhalten er-
7 Ahnlich auch in Bl:92-95, als ein Gegenstand aus Versehen auf einen Glastisch gefallen sein dürfte. 8 Vgl. C2:976f. 1466f. 9 Handlungsbegleitende Dialoge können auch durch den Eintritt eines Ereignisses von außen ausgelöst werden: Eine Wespe hat sich verfangen (El: 1003); Frau Fink friert es am Knie (Fl:720). 10 Z.B. Dl:376ff. 11 Z.B. Fl:338. 1155.
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höht, .läuft' eben das Gespräch beim Essen viel leichter.12 Mit einem Menschen, der ißt und trinkt, läßt sich viel leichter und viel besser ein Gespräch führen. Wichtiger als, was genau gegessen wird, ist, daß dies geschieht. Weigert sich der Besuch, irgendetwas Kulinarisches zu sich zu nehmen, so erschwert er das Gespräch.13 364 j C 2 es ist so kalt g e w o r d e n gell schade, S ja 366 S ja einmal m u ß der W i n t e r k o m m e n . 367 C 2 ja ja leider.
4.1.2. Small talk Auf der handlungsbegleitenden Gesprächsebene erhält die Handlung einen Vorrang vor dem Sprechen. Er kommt als Erweiterung der Anzahl von Gesprächsebenen dem Gespräch zugute. Damit wird die Situation ,Gespräch führen' erleichtert. Handlungsbegleitend zu sprechen, gerade in den Standardsituationen ,Weg zeigen' und ,Platz/Essen anbieten', gilt darüberhinaus als höflich. Im folgenden Beispiel geben sich beide Seiten dabei auffallend wortreich: 894 896
[C2 = bitteschön gerne!. ich ich ich S ja ich machs ich machs gleich selber, J-C2 schenk's Ihnen ein, ja. S ja machen Sie das ja.
Der Wortreichtum rührt zunächst daher, daß ein Handlungkonflikt (wer soll einschenken?) zu bewältigen ist. Mit der extensiven Inszenierung guter Absicht, die die Passage enthält, bewegt man sich aber schon auf eine andere Gesprächsebene zu: die der höflichen Rede sogar über Kleinigkeiten, dem Small talk.
12 N u r am Rande sei bemerkt: Ein analoges unmittelbar gesprächserleichterndes Handeln ist das Wandern, das zudem noch den Vorteil hat, eine zwanglosere Auswahl von Gesprächspartnern und Beendigung des Gesprächs durch das Handeln (Gehtempo) zu ermöglichen. So ist es denn nicht erstaunlich, daß besonders in der Kur- und Urlaubsseelsorge das Angebot einer Wanderung als zwangloses Angebot zum Gespräch hoch geschätzt wird. 13 Bei H.J.THILO (Beratende Seelsorge, [1971]) wird diese Komponente des Anbietens ebenso wie die der small-talk-typischen Freudebekundigungen in ihrer Funktion für das Gespräch nicht gesehen; stattdessen wird entsprechendes Verhalten sogleich mit einem Pathologieverdikt belegt: „Gerade die häufig spontan geäußerte Freude, die Fülle der angebotenen materiellen Genüsse müssen [sie!] als Abwehrmechanismus gegen diesen Besuch gewertet werden" (65).
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Das Phänomen wurde jüngst in einer Studie eingehend an in Großbritannien aufgenommenen Alltagsgesprächen untersucht. 14 Das dort über den Small talk Erarbeitete kann auf unser Material angewendet werden und ist noch weiterzuführen. Es läßt sich zeigen, daß das, was für den alltäglichen Small talk gilt, auch im pastoralen Gespräch zum Geburtstag vorkommt. Damit will ich nachweisen, daß und wie ein Typus gänzlich alltäglicher Kommunikation normaler Bestandteil des seelsorgerlichen Gesprächs anläßlich von Geburtstagen ist. Handlungsbegleitendes Sprechen und Small talk unterscheiden sich darin, wie Handlung und Sprechen aufeinander bezogen sind. Im handlungsbegleitenden Sprechen ist die Sprache in die durch die (außersprachliche) Handlung hergestellte Situation eingebettet. Small talk hingegen setzt das Sprechen als Handlung ein, die eine bestimmte Situation erzeugen soll, eben die des Miteinandersprechens. Zweck des Sprechens als Sprechen ist dabei, sich gegenseitig soziale Wertschätzung angedeihen zu lassen. Man versichert einander, daß die Absichten gut sind. Worüber geredet wird, spielt eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist, daß geredet wird und nicht geschwiegen, denn ein Schweigen läßt das Gegenüber über die Absichten im Unklaren. 15 Insoweit nicht der Gesprächsgehalt, sondern nur seine soziale Funktion, „Bande der persönlichen Gemeinsamkeit zwischen Menschen herzustellen", im Vordergrund steht, läßt sich mit Malinowski von „phatische[r] Kommunion" sprechen.16 Darum wird solch ein Gespräch besonders am Beginn einer Begegnung wichtig, um - wie man sagt - ,das Eis zu brechen' 17 . Dazu dient zunächst einmal die Begrüßungsroutine: 1 2 3
S CS rS •-C2
G r ü ß G o t t Frau { C 2 ) , Grüß Gott. D a bin ich, ( )' 8 ( ) s c h ö n , ja. das f a n d i c h sehr a u f m e r k s a m d a f r e u i c h m i c h sehr.
Beide Seiten versichern sich dessen, daß sie sich gegenseitig wahrgenommen haben und daß sie dies als positiven Sachverhalt werten. Die Grundvoraussetzung für ein Gespräch (genauer: für die dritte Gesprächsebene, vgl. 4.1.3.) ist damit gegeben. Während des gesamten Gesprächsverlaufs bleibt sie dessen nötige implizite Basis. Deshalb kann auch später Small talk sinnvoll oder notwendig werden, denn er „bahnt nicht nur neue Kommunikationswege an, sondern hält auch alte Wege offen". 19 14 K.SCHNEIDER, Small talk, 1988.
15 MALINOWSKI, 349.
16 MALINOWSKI, 3 5 2 .
17 SCHNEIDER, 2 8 .
18 An dieser Stelle, bei der beide Personen gleichzeitig sprechen, ist das Gesagte für einen Moment leider nicht zu verstehen. 19 S.HAYAKAWA, Sprache im Denken und Handeln, [1939]; 77.
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Die Beschreibung von Small talk als die Funktion, Gemeinsamkeit herzustellen oder zu demonstrieren, reicht aber noch nicht aus. Die Funktion läuft nämlich auch mit bei .richtigen' Gesprächen über wichtige Themen.20 Die sozio-linguistische Pragmatik hat herausgearbeitet (vgl. Kap. 2.3.), daß jedes Gespräch sich in seinen Strategien an der Maxime der Höflichkeit und mithin des sich Nicht-Aufdrängens und des FreundlichSeins orientiert. Für den Small talk ist eine Analyse unter dem Gesichtspunkt der verwendeten Strategie besonders geeignet, denn hier überwiegt ganz die soziale Funktion der Rede. Zu fragen ist dann, inwiefern sich die radikale Prävalenz dieser Funktion auf das Gesprächsverhalten in dieser Gesprächsebene auswirkt. Die Prävalenz der sozialen Funktion ist im Small talk so wichtig, daß deshalb auch banale Themen eine nicht minder große Bedeutung erhalten. Doch wird die referentielle Funktion, d.h., mit dem Gesagten eine inhaltliche Aussage zu machen, nicht völlig verdrängt. Die Begrüßungsformel stellt ja nur die Eröffnung von Small talk dar. Er selbst gruppiert sich dann durchaus um Themen. Dann ist aber abzuklären, inwiefern beim Small talk funktionsbedingte typische Prävalenzen für bestimmte Gesprächsthemen vorliegen (b). Zuvor jedoch soll nach den Interaktionsmitteln gefragt werden, die sich für den strategischen Zweck des Small talk als besonders dienlich erweisen (a). a) Interaktionsmittel helfen dazu, daß die Themen in einer dem Small talk gemäßen Weise bearbeitet werden können. Das Gesprächsverhalten wird bei Small talk durch die Strategie geleitet, Ubereinstimmung zu demonstrieren.21 Die Ubereinstimmung betrifft sowohl die kognitive als auch die emotionale und die situative Dimension. U m Ubereinstimmungen in Sachverhalten deutlich zu machen, wird Zustimmung im Small talk tendentiell stärker ausgedrückt. 22 U m Ubereinstimmungen bezüglich der Bewertung von Sachverhalten deutlich zu machen, erscheinen Wertungen im Small talk immer positiv 23 , und auf vergleichsweise banale Aussagen folgen vergleichsweise emphatische Reaktionen. 24 U m Ubereinstimmungen in Erfahrungen deutlich zu machen, werden Antworten besonders gerne noch einmal bestätigt.25 al) Als Interaktionsmittel des Small talk dient die bevorzugte Verwendung von Wertungssignalen. Sie können in jedem Gespräch vorkommen, aber in den Phasen des Small talk26 finden sie sich besonders gehäuft. Das Gespräch
20
SCHNEIDER, 2 9 .
2 1 SCHNEIDER, 2 8 6 .
22
SCHNEIDER, 1 6 0 .
2 3 SCHNEIDER, 1 7 6 .
24
SCHNEIDER, 1 8 2 .
25 Vgl. SCHNEIDER, 202ff., und siehe dazu Abschnitt a2). 26 Woran läßt sich erkennen, daß Phasen von Small talk vorliegen? Eine völlig eindeutige Abgrenzung ist nicht möglich. Wenn sowohl gehäuft positive Wertungs-
159
C2 enthält eine ganze Fülle davon. Zur ersten Gruppe gehören positiv wertende Vokabeln: Verstärkung eines Ausdrucks durch ein „sehr" (C2:5. 338. 351), häufig ist das „sehr" extra betont (C2:4. 144. 255. 1555. 1563); Verstärkung durch ein „wirklich" (C2:248. 1486); Verstärkung durch ein „ganz" (C2:33. 230. 247); Verstärkung durch ein „so" (C2:245); „schön" (C2:12. 29. 65. 100. 107. 144. 180 [2x]. 181. 338. 390. 392. 393. 1557); „wunderbar" (C2:33. 87. 299. evtl. 1285); „wunderschön" (C2:201. 307 [2x]); „herrlich" (C2:87); „interessant" (C2:186. 205. 225. 230); sich freuen (C2:97. 232. 234. 237. 238. 239. 257. 351); „aufmerksam" (C2:4. 245); „süß" (Bl: 5.10.29).27 Die zweite Gruppe erzielt eine noch stärkere positive Wertung durch Ausdruckshäufungen: „wunderschön, wunderschön" (C2:307); „ausgezeichnet, danke vielmals" (C2:54); »ja gern danke ja" (C2:66); „ja danke, m danke" (C2:115); „ach wie schön wie schön!" (C2:180); „das ist ja ganz fabelhaft interessant" (C2:205); „das freut mich ganz besonders, wirklich" (C2:247f.); „das ist aber sehr nett, das freut mich ungeheuer" (C2:351f.); flüstert: „ist ja toll" (C2:994. 996); „war sehr nett!" (Cl:1412). 28 In den ebengenannten Wendungen trägt neben dem Vokabular auch die sprachliche Durchführung (größere Lautstärke, Flüstern, hervorgehobene Betonung) zur Verstärkung bei. Bei der dritten Gruppe an Wertungssignalen, den Ausrufen, tritt der emphatische Anteil ganz in den Vordergrund: „aaaaaaaah" (C2:16); „ja was ist denn das!" (C2:103); „was!" (C2:141); „ja 3£as!" (C2:143); „nneeün" (C2:302); -au Sie!" (C2:412); „jaLmdl" (C2:339);29 „uii" (El:610). Ganz den semantischen Bereich verläßt die letzte Gruppe positiver Wertungssignale: das Lachen. Es findet sich im Gespräch C2 auch an Stellen, wo kein Small talk geführt wird,30 kommt aber noch häufiger im Small talk vor. Lachen bietet eine weitere Möglichkeit, Ubereinstimmung zu demonstrieren.31 Es wird gerade da verwendet, wo diese unklar ist. signale (siehe al) als auch small-talk-typische Themenbearbeitung (siehe b) vorkommen, dann kann von Small talk gesprochen werden, weil die interaktionale Strategie, Ubereinstimmung herzustellen, sich als dominant über die Inhalte erweist. Das gilt im Gespräch C2 für die folgenden Zeilen: 1-396. 408-413. 976-1002. 1466-1609. 27 Im Gespräch A l begegnen negativ wertende Begriffe, die jedoch im Kontext, weil sie etwas Negatives dezidiert ablehnen, positiven Sinn bekommen: „Unsinn" (Al:552), „verrückt" (Al:644). 28 Außerhalb des Small talk findet sich in C2 die Wendung „scho fabelhaft wirklich" (C2:779). 29 Auffällige Ausrufe außerhalb des Small talk finden sich in den Zeilen C2:1433 und 1435. 30 C2:519. 629. 905. 1033. 1460. 31 Natürlich kann Lachen auch zu anderen Zwecken verwendet werden als denen, die für den Small talk gebraucht werden. Es kann Aggressionen artikulieren (Auslachen), oder es kann sich anstatt auf die Erzählsituation auf die erzählte Situation
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Lachen entlastet.32 Bei einer solchen Situation, die man peinlich oder komisch nennt, könnte das nicht ganz passende Verhalten sehr verschieden gelesen werden. Lachen gibt die Versicherung, sich für die positive Lesart zu entscheiden, ohne daß gesagt werden muß, worin sie denn genau besteht. Man anerkennt, daß das eben im Raum stehende Gesagte unpassend ist, und schließt zugleich mögliche negative Folgen aus. Im Gespräch C2 finden sich dafür folgende Beispiele: Frau Cordes lacht, als ihr gesagt wird, sie solle die Blumen selber auspacken (18). Als sie den Seelsorger auffordert, seine Winter-Überbekleidung abzulegen, mit dem Argument, es sei sonst nachher so kalt (gemeint: ohne zusätzliche Kleidung dann nach draußen zu müssen), muß der Besucher ein wenig lachen (24). Nachdem der Seelsorger (zu sehr) herausgestrichen hat, daß ihn das Lob des Gegenübers für sein Geschenk selber freut, schließt er ein Kurz-Lachen an (34). Lachend beendet die Besucherin ihren Satz, mit dem sie eine schon angeschnittene Torte vom Vortag auf den Tisch bringt (344). Mit Lachen stimmt der Seelsorger der Feststellung der Besuchten zu, daß sie sich (statt auf den Geburtstag) auf den Alltag freue (396). Mit Lachen leitet die Gastgeberin, nachdem der Seelsorger darauf hingewiesen hat, daß er bald zu Mittag essen werde, ihre Aufforderung ein, doch jetzt etwas vom Aufgetischten zu essen (414). Ihre Erklärung, daß sie Angst um den Seelsorger habe, ergänzt sie zweimal durch Lachen (987f.). Als Frau Cordes dem Pfarrer berichtet, sie habe ihn vor ihrer Tochter immer gelobt, hängt er an sein „das freut mich" ein kurzes Lachen an (1484).33 Das Lachen kann auch eine bewußt gewollte komische Situation zelebrieren. Es fungiert hier gewissermaßen als sinnliche Ubereinstimmung. Nichts macht eine emotionale Gemeinsamkeit so deutlich wie das gemeinsame Lachen (C2:264f. 986f.).34 a2) Wertungssignale dienen der Interaktion im Small talk. Sie sind zugleich ein Akt des Reagierens und des Agierens, des Antwortens auf das Gegenbeziehen (Lachen über einen Witz). Auch persönliche Neigungen spielen mit hinein: Der Seelsorger der Gespräche Al bis A3 lacht besonders häufig. 32 E.JASKOLSKI (Humor - Anregung zur Erörterung seiner Funktion in rhetorischem Handeln, 1991, 16-33; 28-30) unterscheidet neun verschiedene „Funktionstypen" kooperativen Humors: „Affektabwehr", „Korrektur einer Fehlleistung", „Normkritik", „Machtkritik", „Reduktion aufs Normalmaß", „Feedback", „Innovation", „Freies Spiel", „Beziehungspflege". Ihnen ordnet er jeweils verschiedene Arten von Entlastung zu, die diejenige Person, die Humor äußert, für das Gegenüber zum Nachvollzug anbietet. 33 Bei dem Lachen in C2:121 u. 244 ist es für mich schwierig, genau anzugeben, worin das Unpassende besteht. Für das Gegenüber besteht aber auch nicht die Notwendigkeit, dies erkennen zu können. Wichtig ist nur, daß eine positive Lesart gilt. 34 Nach JAKOLSKI, 30, wäre es dem Funktionstyp „Beziehungspflege" zuzuordnen. Außerhalb des Small talk findet es sich in C2:963f. 1053f. 1450f.
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über und des Impulse-Setzens für das Gegenüber. Sie sind Teil einer Interaktionssequenz. N u r innerhalb solcher Sequenzen erfüllen sie ihre Funktion. Auch auf die Gestaltung dieser Interaktionssequenzen selbst wirkt sich die funktionale Aufgabe des Small talk aus. Bestimmte Weisen von Interaktionssequenzen eignen sich besonders, um Ubereinstimmung auszudrükken. Sie sind weniger spezifisch für den Small talk als die gehäuften Wertungssignale. Mit ihnen zusammen aber geben sie dem Small talk eine deutlich erkennbare Gestalt. Die eine interaktive Möglichkeit besteht darin, das Ubereinstimmen gemeinsam zeitlich auszudehnen. Nicht nur die Einzelpersonen, sondern beide gemeinsam häufen positive Wertungssignale an. Zwei Beispiele dafür: 88 89 91 64
S C2 fs C2
hab ichs getroffen. so schön habens erwischt ja, ja gut gut Frau {C2) ha wunderbar,
rC2 S
ich hab'e Tasse Tee vorbereitet ist das recht? schön ja gern danke ja. ja? 35
Γ
[
C2
Beide Beispiele zeigen zugleich auch schon die andere Möglichkeit, im Interaktionsverhalten selbst die Übereinstimmung zu demonstrieren: Wird sonst in der Regel gewartet, bis das Gegenüber sein Rederecht abgegeben hat,36 so unterbricht man sich hier durchaus. 37 So schnell wie möglich soll die Ubereinstimmung geäußert werden, auch auf Kosten dessen, was das Gegenüber zu sagen ansetzt. Auf die Inhalte kommt es ja auch wenig an; es geht um die soziale Funktion des Gesagten. Das Lachen stellt nicht nur ein Wertungssignal dar, das innerhalb einer Interaktionssequenz verwendet werden kann. Es kann selber zu einer Interaktionssequenz werden: 1587 1589
C2 und ich hoffe daß Sie nicht so schnell die Ansprache halten müssen. [S ahahaha nein, ich wünsch's Ihnen auch ja, he wirklich C2 haha haha ha
35 Andere Stellen in C2:53-56. 59-63. 180-183. Auch außerhalb des Small talk gibt es Gründe, Übereinstimmungen auszudehnen, nämlich dann, wenn überraschende Informationen oder Wertungen als gemeinsame gesichert werden sollen (424-427. 432-436). 36 Man beachte: in der Regel! Auch außerhalb des Small talk gibt es Gründe, den anderen zu unterbrechen, etwa um sich den turn zu erstreiten (vgl. 4.2.2.). 37 Weitere Beispiele dafür in C2:10-16. 21f. 27-30. 160f. 1468-1473.
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Die Erwartung, die die Besuchte ausdrückt, ist für die soziale Funktion der Übereinstimmung nicht eindeutig. Zur Verabschiedung wünscht sie sich, daß es gerade nicht so bald zu diesem Kontakt (einer Beerdigungsansprache durch den Pfarrer) käme. Dieser Wunsch war schon einmal geäußert und vom Seelsorger kommentiert worden (1559-1561).38 Er bringt thematisch nichts Neues, gerät aber, je mehr der Abschied in die Nähe rückt, in Widerspruch zum erwarteten Wunsch, sich demnächst bald wiederzusehen. Indem der Seelsorger darauf mit Lachen reagiert, akzeptiert er den Wunsch als zugleich in dieser Situation ungewöhnlich und sie durchbrechend und doch dann auch in dieser Situation sagbar. Seine formulierte Antwort bestätigt zusätzlich explizit, daß er diesem Wunsch zustimmt. Sein Lachen lädt ein, diese Aussage einerseits als seltsam piazierte und inhaltlich schwere Aussage (es wird ja verschlüsselt vom Tod geredet) zu behandeln, die andererseits in die augenblickliche Situation integrierbar ist: Sie läßt sich wie jede andere Small-talk-Äußerung als ein Beitrag behandeln, in dem beide Seiten sich in positiver Ubereinstimmung befinden. Indem Frau Cordes nun in sein Lachen einstimmt, ratifiziert sie seine doppelte Anerkennung ihres eigenen Beitrags und schließt sich seiner Behandlung des Beitrags an. Indem beide gemeinsam lachen, vollziehen sie nicht-semantisch das, wozu auch die Worte im Small talk dienen: positive Ubereinstimmung zu demonstrieren. b) Aus bestimmten Wertungssignalen und bestimmten Interaktionssequenzen besteht das Repertoire der Interaktionsmittel des Small talk. Die soziale Funktion des Small talk regiert hier über die verbalen Inhalte. Aber diese fallen nicht einfach aus; sie werden vielmehr ebenfalls der Funktion unterworfen. Small talk enthält Themen. Es werden zum Small talk solche Themen gewählt, die das soziale Band besonders gut knüpfen können. Sie dürfen nicht kontrovers sein und müssen von beiden Seiten thematisiert werden können. A m allerbesten und in nahezu jeder denkbaren Situation erfüllt diese Qualifikation das sicherste und klassische Thema: Wetter.39 Uber das Wetter kann jeder etwas sagen, und über seine Bewertung kann man sich mit jedem, wenn man will, einigen. Im Gespräch E l ist die Situation dadurch, daß die Seelsorgerin sich zuerst die Erlaubnis zur Recorderaufnahme geholt haben dürfte, künstlich unterbrochen. Das Band wird angestellt, und nun soll das Gespräch beginnen. Der Besuchte schiebt der Seelsorgerin die Gesprächsverantwortung zu, indem er sagt: „schießen Sie los" (El:3). Die Pfarrerin akzeptiert diese Zuschreibung („ja ha"; 4) und
38 Die Passage bildet eine Reminiszenz unter Small-talk-Bedingungen an einen zuvor durchgeführten Gesprächsgang, in dem von der Beerdigungsansprache die Rede w a r ( 1 0 0 3 - 1 0 1 4 ; 1 0 4 8 - 1 0 5 5 ; a u s f ü h r l i c h analysiert in 6.3.5.). 39
SCHNEIDER, 2 1 2 - 2 4 0 .
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beginnt nach einer rund einsekündigen Pause mit einer klassischen thematischen Small-talk-Eröffnung: „Sie haben ja immer bei strahlendem Wetter Geburtstag" (6).40 Wer wann welches Thema anschlägt, das ist in der Situation des pastoralen Geburtstagsbesuchs alles andere als zufällig. Die von der sozialen Funktion des Small talk vorgegebenen Bedingungen führen hier zu ganz bestimmten Präferenzen. Bei dem Zusammentreffen von Personen, das durch Small talk entschärft werden soll, hat der .Eindringling' in die Nähe einer anderen Person die schwächere Position. Sein Gegenüber war schon vorher da und hält also das Territorium besetzt, oder es gehört ihm sogar (wie es beim Hausbesuch der Fall ist). Die den Platz innehabende Person hat darum das Recht zu verlangen, daß ihr Gegenüber zuerst Informationen preisgibt.41 So wird die eingedrungene Person vorzugsweise zuerst grüßen und dann auch nach dem Gruß den nächsten Gesprächszug zu eröffnen haben. Sie steht unter Rechtfertigungsdruck. Sie muß ihr Eindringen entschuldigen, es plausibel machen. Die in unserem Gespräch direkt auf die Begrüßung folgende Sequenz war akustisch nicht ganz verstehbar. Deutlich wird aber soviel: Der Seelsorger präsentiert sich als Besucher („da bin ich"; C2:3), und sein Eindringen wird von der Besuchten als legitim, ja erwünscht ratifiziert („das fand ich sehr aufmerksam, da freu ich mich sehr" (4). bl) Mit einem - wie ich es nennen möchte - , Thema zur Erklärung bietet der Eindringling von sich aus Informationen über seine positive Wertschätzung der Situation. Solch ein Thema verfolgt eine defensive Strategie42 und soll dem anderen vermitteln: ,Ich respektiere dich und zeige deshalb meine friedlichen Beweggründe'. In unserem Fall, ganz typisch für den Geburtstagsbesuch, aber ja auch nicht selten bei heikleren Einladungen in die Privatwohnung überhaupt, trägt der Eindringling sein thematisches Angebot sichtbar vor sich her: das mitgebrachte Geschenk. Der Blumenstrauß bietet für die ersten Minuten des Gesprächs ein bereitwillig aufgegriffenes Thema (C2:ll-20. 25-31. 42-44. 68-90. 255-278).43 Der Besucher macht darauf aufmerksam, daß er für das Geschenk Sorgfalt verwendet habe, nämlich daß es sich als versiegelte (13-15) und haltbare Pflanze (31) um ein qualitativ hochwertiges Geschenk handele und er sich Tips zur Pflege habe geben lassen (79-85). Die Besuchte demonstriert ihre Freude über das Geschenk (schon in Zeile 5?), sie lobt seine Qualität (69f. 87) und bestätigt, daß das Geschenk für sie gut paßt (89. 91) - und das alles, obwohl die Wohnung von Blumen überfließt (27. 42)! Wichtiger als die tatsächliche 40 Vgl. auch E l : 6 0 : „ja das ist ja schon η Wahnsinns (-Jahreszeit) heuer." 41
V g l . SCHNEIDER, 4 3 u . 1 9 3 .
42
SCHNEIDER, 4 0 .
43 Das Blumengeschenk ist auch Thema des Small talk in den Gesprächen B l : 7 - 1 0 . 28f. 46-48; C l : 3 - 6 . 25.
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Situation (viel zu viele Blumen) ist, daß das Thema Geschenk die für den Small talk relevante Funktion übernehmen kann. Erst später, nach weiteren Phasen von Small talk, wird dann die Ambivalenz der außerhalb des Gesprächs bestehenden Situation (zu viele Blumen sind auch eine Last; 262ff.) thematisiert. 44 Als Eindringling kommt der besuchenden Person die Verantwortung für die von ihr provozierte Situation des Gesprächs zu. Indem sie dafür sorgt, daß das Gespräch ,in Gange kommt' und dann,läuft', erneuert sie die Demonstration der Friedlichkeit ihres Kommens. Sie rechtfertigt durch den positiven Verlauf des Gesprächs nochmals ihr Eindringen. Mißlingt es, ein Gespräch aufzubauen, so fiele dies überproportional auf die besuchende Person zurück als Scheitern ihres Handelns. Aus der alltäglichen Situation einer Gesprächsaufnahme ergibt sich damit eine Konstellation, die - wie sich später zeigen wird - von den beruflich-institutionellen Zusammenhängen noch verstärkt wird. Schon allein in ihrer Alltagsrolle als Besuchende sind Seelsorger und Seelsorgerin im Small talk überproportional verantwortlich für die Gesprächsführung. N u n wäre es aber eine Ubertreibung zu behaupten, die besuchende Person würde allein die Verantwortung für das Gespräch übernehmen. Der Thematisierung des Geschenks zur Demonstration der friedlichen Absicht des Besuchers entspricht die Thematisierung der Bewirtung zur Demonstration der Akzeptanz dieser friedlichen Absicht auf Seiten der Besuchten. Die angebotenen Nahrungsmittel bilden das zweite typische ,Thema zur Erklärung' (C2:64-67. 102-136. 159-161. 248-251. 280-287). 45 Die Besuchte übernimmt so ihrerseits Verantwortung für die Situation und damit auch Verantwortung für das Gespräch. Der Gastgeberin fällt es zu, dem Gast seinen Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, d.h., auch für ein laufendes Gespräch zu sorgen. Daraus ergibt sich eine alltagsweltliche Verantwortung für das Gespräch, die - wie sich später zeigen wird - die Gastgeberin auch unter den professionalisierten Bedingungen von Seelsorge durchaus im Blick behält. Bezeichnend ist, wer die Initiative bei den ,Themen zur Erklärung' ergreift. Die Gastgeberin äußert sich über die Blumen und gibt damit dem Gast die Gelegenheit, sein Geschenk in das rechte Licht zu rücken (C2:ll. 68. 255). Eine Selbsteinführung des Themas Geschenk hingegen würde den Verdacht offenlassen, das Geschenk sei eher Mittel zu einer verdeckten 44 Es kommt durchaus auch vor, daß die Besuchten sich ihrerseits mit einem Geschenk revanchieren: mit Früchten für die Pfarrersfamilie (Al:559-576; 643-652), mit einem Buch für die Pfarrerin, dessen Autor Herr Eckert ist (El:1245ff.); diese verweist daraufhin auf die Geringfügigkeit ihres Mitbringsels, das Herr Eckert dann prompt lobt (loben muß). 45 Die Bewirtung findet sich als Thema z.B. auch in A3:4-9; Bl:31-35. 172-187. 224-233. 246-260. 546-550. 878-913. 1020-1024. 1112-1117.
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anderen Absicht, deren friedlicher Charakter noch nicht offengelegt ist. Im Gespräch C2 hat der Besuch sogar noch ein weiteres persönliches Geschenk mitgebracht (233-248). Diese Ungewöhnlichkeit erfordert auffallende Erklärungsleistungen seitens des Besuchers. Er muß verbal absichern, daß auch dieses persönliche Geschenk Ausdruck der guten Absicht ist und nicht einen anderen Zweck verfolgt. Das Thema Essen hingegen führt die Gastgeberin selbst ein. Würde sich hierzu der Gast zuerst äußern, wäre nicht so eindeutig der Verdacht abgewiesen, ob nicht etwa das Bewirtetwerden, das zugleich Reduzierung des Besitzes der Besuchten ist, Absicht des Besuches sei. Der Gast aber kann nun seinerseits die Wertschätzung für das Nahrungsangebot der Gastgeberin zum Ausdruck bringen (65f. 115). Auch Ablehnung bestimmter Speisen ist denkbar, solange sie mit einer Wertschätzung des Angebots verbunden ist. Es geht kaum darum, den anderen real vor dem Hunger zu bewahren. Das Nahrungsmittel wird vielmehr als Genußmittel angeboten. Besonders beliebt sind denn dafür auch Süßigkeiten, kleine Knabbereien und vor allem Alkohol. Indem sich beide gesprächsweise auf Genuß einigen, vertieft sich die Gemeinsamkeit. Man verbündet sich gewissermaßen gemeinsam gegen die anderen, die einem den Genuß abstreitig machen wollen: 117
C2
120 121 122
S C2 [S C2
nehm ich gar kein Alkohol, aber: ich hab ihn bekommen und ich find son kleines Schnapserl zum Aufwärmen macht nix gell? macht gar nichts, nein. ah haha nein. bloß das ist erlaubt gell.
Auf diese Passage folgt eine Sequenz, in der der Pfarrer das Angebot noch einmal ratifiziert, jetzt dadurch, daß er zeigt, daß er die Getränkemarke kennt. Die Gastgeberin kann die Situation des gemeinsamen Genusses noch einmal als besondere hervorheben; das Getränk war für spezielle Anlässe aufgespart: „aber ich trinke kein' und ich heb den auf" (135). Die Bedeutsamkeit der Definition des Nahrungsmittel-zu-sich-Nehmens als Genuß und der bevorzugten Sprecher-Reihenfolge wird weiter belegt durch die kleine Störung, die sich ergibt, als der Gast das T h e m a „Getränk" noch einmal anspricht („das ist ein süßer gell", 280). Auf die Äußerung reagiert C 2 so, daß sie die mögliche Gefährdung der Genußsituation benennt („das ist nix für Sie gell,"; 283), worauf der Gast diese Interpretation zurückweist („es schmeckt gut"; 284). D a m i t ist die Situation des gemeinsamen Genießens wiederhergestellt.
Die Bewirtung beim Geburtstagsbesuch ist für das Gespräch also nicht nur insofern relevant, als damit eine Möglichkeit geschaffen wird, das Gespräch reibungsloser zu führen, weil auch die Ebene des handlungsbegleitenden Sprechens offensteht. Es bietet sich darüber hinaus als ideales Gesprächs166
angebot von seiten der besuchten Person für einen Gesprächsgang an, der die Bereitschaft zum Gespräch signalisiert und sie als Gemeinsamkeit mit dem Gegenüber sprachlich etabliert: Wir wollen genießen.46 b2) Damit bekommt die Funktion des Small talk eine andere Ausprägung. Bisher ging es um die - von seiten des Eindringlings aus gesehen - defensive Strategie, die gute Absicht zu etablieren. Hat man die gute Absicht des Eindringenden gemeinsam befestigt, oder war sie von vornherein klar, etwa unter besser miteinander Bekannten, dann ist das Uberwechseln zu einer ,offensiveren Strategie'47 angebracht. Die Themen der Erklärung werden abgelöst durch ,Themen zum Einstieg'. Sie erfragen vom Gegenüber Information. Dabei soll signalisiert werden: ,Ich interessiere mich für dich.' Das ist mißverständlicher als das defensive Entschuldigungs-Thema, denn es könnte ja als eine bedrohliche Neugier ausgelegt werden. Diese Gefahr wird entschärft durch .indirekte Zugangsweise'.48 Solcherart ,indirekte Themen' beziehen sich nicht auf die Person selbst, sondern auf einen Gegenstand, der zur gegenwärtigen gemeinsamen Situation gehört. Mit dem Genußmittel war schon ein erster solcher Gegenstand gegeben. Des weiteren bieten sich beim Geburtstagsbesuch Bemerkungen zum Raum an.49 Einen gewissen Ubergang vom indirekten zum direkten Zugang bildet die Rückfrage nach vergangenen Ereignissen. Seelsorgerinnen und Seelsorger stellen mit Vorliebe die Frage: „wie war der Geburtstag"? (C2:389).50 Die Frage ist sehr allgemein und läßt sich gegenstandsbezogen (wie die Feier ablief) beantworten oder auch persönlich (private Geburtstagserlebnisse und Emotionen). Sie ist small-talk-gemäß. Daß Seelsorgerinnen und Seelsorger sie gerne verwenden für ihre professionellen Gesprächsinteressen,51 daß, wenn der pastorale Besuch sie stellt, sie einen anderen Klang bekommt, steht auf einem anderen Blatt. Es hebt nicht auf, daß diese 46 Das Spiel mit dem Alkohol findet sich auch in Bl:174-187. Es wird dort von der Gastgeberin abgeschlossen mit der Feststellung: „gluck gluck, das dürfen wir auch." In A:3 fragt die Gastgeberin den Pfarrer, ob er „ne Kroatzbeere" trinke (393); dieser schränkt höflich ein und nennt den Grund für seine Zurückhaltung „aber nur ne ganz kleinen ich bin mit dem Auto da" (397). Natürlich muß der Pfarrer dann doch sein „stop" beim Einschenken rufen (401), worauf die Gastgeberin erstaunt fragt „nicht voll machen?" (403) und darüber nun ihre Teilnahme am gemeinsamen Genuß einführt: „na denn trink ich einen mit, denn wir müssen ja anstoßen" (404f.). In A2:43 wird ein Orangensaft angeboten. 47
SCHNEIDER, 4 0 .
48
SCHNEIDER, 3 8 . 4 0 .
49 C2:42; A3:10. 58. 61. In A3:22-56 erfolgt eine ausführlichere Passage zu den im Raum befindlichen Biertischen. In Fl:28ff. spricht der Seelsorger den Gehwagen der Besuchten an. 50 Ähnlich in Al:2. 70; A3:88-99. 100-104; Cl:267; El:6; vgl. außerdem C2:72. 51 Siehe dazu die Abschnitte 5.1.1. u. 5.2.
167
Frage komplett in das alltägliche Gesprächsverhalten paßt. Selbstverständlich kann auch die Gastgeberin entsprechende Themen initiieren: „haben Sie η schönen Urlaub ghabt oder?" (C2:184)52; „wie gehts Ihnen so" (281)." Als über das zweite mitgebrachte Geschenk gesprochen wird, das persönliche Bild des Pfarrers von seiner Auslandsreise, erwirkt die Gastgeberin Informationen von ihrem Gegenüber mit ihrer Frage „wie lange waren Sie drin?" (205f.). .Direktere Themen' zielen auf persönliche Informationen, seien es nun mehr objektive Lebensverhältnisse (Familienstand, Angehörige) 54 oder subjektive Empfindungen. Im Gespräch C2 initiiert die Gastgeberin Informationen über ihre Tochter (137ff.). Diese werden zunächst unter der Funktion von Small talk aufgenommen: als Möglichkeit, Gemeinsamkeiten weiter zu demonstrieren; man tauscht gemeinsame Wertungen über die Insel, auf der die Tochter lebt, aus (140-159); der Besuch darf seine Bewunderung über die Bilder in dem von der Tochter geschenkten Kalender über die Insel ausdrücken (167-181; 294f.; 307f.). Damit wird von der direkteren wieder auf die indirektere Thematik zurückgelenkt. Noch an einer weiteren Stelle, beim Thema der Auslandsreise des Pfarrers, schließt die Gastgeberin Informationen über Auslandstätigkeit ihrer Tochter (217-223) an, die zunächst als Small talk die Funktion haben, weitere Gemeinsamkeiten, jetzt in Sachen Auslandserfahrung, zu etablieren. Das Thema wird mit einer generalisierenden Sequenz 55 abgeschlossen, in der beide die gleiche Einschätzung des ziemlich divergenten Themas (Auslandsbesuch des Pfarrers in Ubersee, Auslandstätigkeit der Tochter in einem anderen westeuropäischen Land) vorführen (C2:227-231). Das Thema ,Tochter im Ausland' rückt später zu einem der zentralen Gegenstände des gesamten Gesprächs auf; zu Beginn des Besuchs jedoch bleibt es in die Funktion des Small talk eingepaßt. Je größer die Bekanntschaft ist, also eine freundliche Intention vorausgesetzt werden kann und ein soziales Band bereits besteht, desto mehr kann sofort direkt gefragt werden. Das läßt sich als ,minimale Entfaltung' von Small talk bezeichnen; das Aufeinandertreffen von Fremden hingegen verlangt nach einer nicht-minimalen Entfaltung: dem direkten thematischen Zugang muß ein indirekter vorausgehen. 56 Im Gespräch C2 definieren sich beide Seiten durch den ausführlichen Small-talk-Weg als einander zunächst relativ Fremde. Professionalität kann hier in dem seelsorgerlichen Verhältnis den Small talk nicht aufheben. Vielmehr verhält es sich genau umge52 Nach dem Urlaub des Besuchten fragt die Seelsorgerin in El:9. 53 Fl:46: „und wie geht's denn Ihnen?" Andere Themen: „daß Sie den Termin gewußt haben" (C2:90); „haben Sie wieder mal gepredigt?" (Fl:17). 54 Frau Appel fragt: „wie geht's Ihrer Familie" (Al:430). 55 Zu der Anwendung von Darstellungsqualifizierern siehe 5.1.3. 5 6 SCHNEIDER, 3 8 f .
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kehrt: Je geringer die Bekanntschaft zwischen beiden Seiten ist, je uneindeutiger auch die institutionelle Beziehung aus gesamtgesellschaftlichen Gründen wird, desto mehr ist es professionell unverzichtbarer Teil der Beziehung, relativ elaborierte Schritte von Small talk durchzuführen. b3) Im Gespräch C2 finden sich zwischen diejenigen Themen, die sich von ihrem Inhalt her als für jede Geburtstagsbesuchssituation besonders geeignet und typisch erwiesen, noch zwei weitere Themen eingestreut. Daß sie von den Gesprächsteilnehmern für notwendig erachtet werden, hängt mit Gegebenheiten zusammen, die außerhalb der alltäglichen Situation des Besuchs liegen. Sie werden aber unter der gleichen funktionalen Perspektive wie der Small talk bearbeitet. Das eine Thema ist die Besonderheit, daß der Seelsorger hier zugleich im Auftrag meines Forschungsvorhabens als Datensammler auftritt. Er muß deshalb die Erlaubnis für die Aufnahme mit dem Recorder sicherstellen. Nicht nur unter rechtlichen Gesichtspunkten ist das nötig. Wenn das Gespräch selbst zunächst die gute Absicht zu etablieren hat, dann muß auch um dieser Funktion willen die mögliche Störung beseitigt werden. So bringt der Pfarrer die Notwendigkeit, dieses Hemmnis aus der Welt zu schaffen, deutlich zum Ausdruck und markiert, daß die andere Seite erklären möge, daß dennoch gute Absicht vorliege: „ich muß Sie noch was um Erlaubnis bitten" (45. 47). Die Antwort gibt dann diese Erlaubnis auch verdoppelt und emphatisch: „ja natürlich!", „ja natürlich" (53. 55). Auch von Seiten der Besuchten liegt ein Hemmnis vor. Sie setzt an, es zu artikulieren: 36 37 38 39 40 42
C2 = ich hab a bissle schlechtes Gewissen! S warum denn. C2 ja weil ich a bissei nachlässig war. bitte schön. S danke schön. r [Knarrender Boden, wohl wegen Hineingehen ins Zimmer] l C2 ich war ein bißchen nachlässig in letzter Zeit mit dem [S = j a aber es fließt über von Blumen tatsächlich. C2 Kommen.
Indem die Gastgeberin anspricht, sie besuche ihrerseits den Besucher zu wenig, eröffnet sie die Möglichkeit, dieses Problem einer mangelnden Ubereinstimmung im Small talk zu überwinden und dies mit Small-talkMitteln zu tun. Small talk inszeniert Reziprozität der Rollen. Man versichert sich gegenseitig des Interesses am Kontakt miteinander. Darum entsteht schon aus Gesprächsgründen das Bedürfnis der besuchten Person, für die Zwecke des Gesprächs zum Ausdruck zu bringen, daß diese Reziprozität gegeben ist. Sie wird dadurch anerkannt, daß der tatsächliche Zustand als gegenüber dem Ideal bestehendes Mißverhältnis erscheint. U m der Durchführung von Gespräch willen kommt es also schon zu dem Praktikern der Seelsorge sattsam bekannten Phänomen, daß sich das besuchte 169
Gegenüber erst einmal entschuldigt, warum es so selten zum Gottesdienst komme, oder von irgend einem Pfarrer, den die besuchte Person kennt, ausführlich erzählt wird. Es ist nicht einfach eine moralische, sondern schon eine gesprächsfunktionale Bedingung, die zu derartigen Themen führt. Das Betroffensein über den mangelnden Kontakt zur Kirche ist nicht einfach ein moralisches oder religiöses Betroffensein, sondern ein Betroffensein über das Gesprächshindernis. Ob die Frau Cordes wirklich lieber kirchlicher wäre, ist für den Small talk irrelevant. Ihre Aussage ist (wenn sie, was häufig der Fall sein dürfte, abgesehen vom augenblicklichen Gespräch eine grundlegende Änderung ihres Kontaktes zur Kirche überhaupt nicht wünscht) dennoch keine Lüge. Die .vorgeschobenen' Argumente dafür, weshalb ein Gottesdienstbesuch so erschwert sei, stellen eine höfliche Bereitstellung von Möglichkeiten dar, das Thema mit Small-talk-Mitteln zu bearbeiten. Gäbe es keine anführbaren Entschuldigungsgründe, so wäre die Demonstration von Ubereinstimmung durch Small talk gefährdet. Wichtig ist nicht, daß sie außerhalb des Gesprächs auch stimmen, sondern daß sie im Gespräch die soziale Funktion des Small talk erfüllen helfen. Mit einer small-talk-gemäßen Ratifizierung der Gründe durch den Besuchenden wird das Ideal der Reziprozität als in der vorliegenden Beziehung genügend verwirklicht anerkannt. In C2 geschieht das zu einem späteren Zeitpunkt. Der Seelsorger nennt dort als Begründung für sein zweites Geschenk, daß die Besuchte regelmäßig auf Geburtstagskarten geantwortet habe (239).57 b4) Die Ebene des Small talk findet im Gespäch C2 ihren Höhepunkt in einer bezeichnenden Sequenz: 346 348
C2 S [ C2
[Stimme entfernt sich] Ihre Zeit wird sehr knapp sein, gell? ja weils scho wieder glei Mittag ist, gell, aber des wollt ich mir doch nicht nehmen lassen bei Ihnen zu sein das ist aber sehr nett, das freut mich ungeheuer.+ [2]
354
C2
356 357
S C2
[Stimme wieder nahe] das freut mich ungeheuer, s'ist ja auch eine große Ehre für mich. ach Frau {C2} ja, [4]
An diesem Ausschnitt läßt sich noch einmal besonders gut aufweisen, wie die Funktion des Small talk, Übereinstimmung zu zeigen, die Maximen der Höflichkeit nach Leech (siehe Kap 2.3.b) befolgt. Hintergrund der Passage 57 Zu anderen expliziten Thematisierungen von Religion siehe 6.2.3.und 6.3.; die gleiche Passage analysieren wir dort in anderer Perspektive noch einmal (6.2.3.bl).
170
ist die mögliche Differenz der Einschätzung des Besuches auf seiten der Besuchten (Freude) und des Besuchers (Last). Frau Cordes bietet dem Gast an, sich mit Hinweis auf die knappe Zeit von zu großen Erwartungen zu entlasten. Das entspricht Leechs Maximen des Takts: »Minimiere Kosten für Gegenüber' und des Mitgefühls: ,Minimiere Nicht-Übereinstimmung'. Der Gast antwortet so, indem er die zeitliche Knappheit als ihm entzogene objektive Gegebenheit (Mittagszeit) darstellt, der er dennoch seinen Besuch entgegenstellt hat (Maxime der Freigiebigkeit: Minimiere Nutzen für Selbst und maximiere Kosten für Selbst). Die Gastgeberin betont zweimal ihre Freude (Maxime der Billigung: Minimiere Tadel für Gegenüber), woraufhin sich der Gast überwältigt gibt (Maxime der Bescheidenheit: Minimiere Lob für Selbst). Eine Kontaktaufnahme, ein Gesprächsangebot, wie es der Geburtstagsbesuch darstellt, erscheint unter den Bedingungen der Funktion des Small talk als „Ehre". Das meint: Um größtmöglicher Übereinstimmung willen wird von seiten der besuchten Person mit diesem Begriff der Besuch dargestellt als einer, der mit einem Maximum an Kosten und Lob für das Gegenüber und einem Minimum an Lob und Nutzen für das Selbst verbunden ist. Achtet man auf die gesprächsfunktionale Verwendung des Begriffs der „Ehre", dann kann er nicht mehr einfach als Symptom für eine Aufhebung der Reziprozität gelesen werden. Er bedeutet nicht automatisch, daß die besuchte Person sich selbst als sozial geringer, weniger kompetent usw. einschätze. „Ehre", das ist nicht einfach identisch mit der traditionellen Vorstellung von der bürgerlich-sozial hervorgehobenen Stellung des Pfarrers. Die „Ehre" präzisiert sich vielmehr als gesprächsbedingte Gestaltung der Sozialität. Der Person, die ein Gespräch aufnimmt, gebührt es, daß das angesprochene Gegenüber ihr „Ehre" erweist, wenn denn dies Gespräch aufrechterhalten werden soll. Gerade damit wird eben die Reziprozität anerkannt. Dem Besucher seinerseits gebührt es, diese Ehrbezeugung seinerseits wieder höflich zu minimieren, um des gleichen Ziels willen: der Demonstration der Reziprozität. Nach dieser Sequenz in C2, die noch einmal die Übereinstimmung deutlichst begeht, könnte der Small talk verlassen werden. Es folgen freilich zunächst noch zwei kurze andere Sequenzen von Small talk. Die Gastgeberin gibt sich die Schuld dafür, nicht perfekt zu sein (leise: „o liebe Leut Kuchengabeln hab ich nicht"; 361), was der Gast natürlich als für ihn völlig problemlos qualifiziert („macht nix, brauch i nit."; 362). Dann folgt die Wetter-Sequenz, die als Motto zu diesem Unterkapitel abgedruckt ist. Sie stellt einen neutralisierenden Puffer dar: Die Gastgeberin hat nun endlich alles auf dem Tisch (vgl. das letzte Geschirrklappern in 360), und das konzentrierte Gespräch soll beginnen, also greift sie das naheliegendste Allerweltsthema kurz auf: „es ist so kalt geworden gell schade" (364). b5) Die bisher behandelten Small-talk-Passagen des Gesprächs C2 werden von der Funktion regiert, Gemeinsamkeit herzustellen. Diese Aufgabe 171
ergibt sich zu Beginn eines Gesprächs; sie wurde in diesem Fall - mitbedingt durch die Unruhe des Bereitstellens der Bewirtung - ziemlich lang ausgedehnt. Neben diesem Small talk der Eingangsphase des Gesprächs tauchen im weiteren Verlauf zunächst einmal ausgeführte Small-talk-Sequenzen nicht mehr auf. Die Gemeinsamkeit wird damit als so stabil definiert, daß auf Small talk nicht wieder zurückgegriffen werden braucht. 58 Erst dann kommt es wieder zu Small talk, als sich das Ende des Gesprächs ankündigt. Hier ist wie am Anfang die Gemeinsamkeit erneut gefährdet. Ebenso wie die Situation des Eindringens bedarf die Situation des Verlassens wieder dieser Gesprächsebene, die die Inhalte der Bearbeitung der Situation unterordnet. Auch hier finden sich typische Themen. Ich differenziere analog zur Situation am Beginn59 zwischen einer defensiven und einer offensiven Gesprächsstrategie samt entsprechenden Themen. Wieder leiten die defensiveren Aussagen die offensiveren ein. Als , Thema zur Erklärung des Rückzugs' wählt der Seelsorger Bemerkungen, die zunächst wie handlungsbegleitende Rede klingen: „und dann reichts, danke" (C2:980), „zum Wohl der letzte Schluck!" (1467). Doch sie sind für die Durchführung der Handlung völlig überflüssig. Sie machen vielmehr darauf aufmerksam, daß der Rückzug bevorsteht. Indem sie nur das Ende des Essen kommentieren, vermeiden sie, den Rückzug selbst als im eigenen Interesse erfolgend darzustellen. Dies würde es erschweren, zum Abschluß noch einmal Ubereinstimmung zu demonstrieren. Das Ende des Gesprächs kündigt sich also hier gleichsam von außen her an. Eine andere typische Möglichkeit ist, plötzlich mit Blick auf die Uhr erstaunt zu bemerken, wie spät es schon sei.60 Eine weitere Möglichkeit ist, ungefragt ein Resümee des Gesprächs zu vollziehen: „jetzt hab ich Ihnen ein Besuch gemacht Frau { C l } jetzt kenn ich Sie" (Cl:1420f.) 61 Spätere Wiederholungen der Rückzugsankündigung können dann expliziter werden: „jetzt verschwind ich wieder Frau { C l } " (Cl:1624). 62 Einen gewissen 58 Small talk mitten im Gespräch findet sich bei Fl:330-383; hier wird u.a. auf das naheliegende Thema der Aufnahmesituation zurückgegriffen. 59 Die Parallelitäten der Abschiedssituation zur Grußsituation hat besonders C.OTTERSTEDT (Abschied im Alltag, 1993) herausgearbeitet. 60 Im Gespräch El:874 läutet die Kuckucksuhr. Daraufhin setzt die Seelsorgerin an: „{Zahl der Uhrzeit} also lang". Die Fortführung des Satzes (etwa im Sinne von 'lang kann ich nicht mehr bleiben') wird durch eine Bemerkung des Gastgebers verdrängt. 61 A3:613f.: „[laut:] joh+ denn wünsch ich Ihnen daß Sie schön feiern mit allen Freundinnen und Freunden". 62 Man beachte aber auch hier, daß die Besuchte direkt angeredet wird, also damit auch trotz des Inhalts der Ankündigung gemeinsame gesprächige Verbindung dokumentiert wird - ein Mittel, daß auch beim Benennen eines Gegensatzes zum Gegenüber verwendet wird (5.1.2.). Ohne diese Modifikation ist die zweite Rückzugsankündigung in A3:630 formuliert: ..ichh werd jetzt gehen".
172
Widerstand gegen die Ankündigung anzusetzen ist für die besuchte Person durchaus angemessen. Würde sie eine Beendigung des Gesprächs eindeutig als ihr eigenes Interesse bekunden, so wäre ebenfalls die Ubereinstimmung möglicherweise erschwert. So wird in C2 zum letzten Gläschen noch angeregt: „aber was dazu essen" (981). Nach der ersten Ankündigung, daß das eingeschenkte Glas das letzte sei, steht das Gesprächsende noch nicht unmittelbar bevor. Im Gespräch C2 liegen dazwischen noch 15 Minuten! So wie die Inszenierung der Ubereinstimmung dem weiteren Gespräch dienen soll, so auch die Ankündigung des Rückzugs. Sie ermöglicht, diesen Rückzug noch für eine Weile auszusetzen und ein wichtiges Thema, das noch behandelt werden sollte, anzusprechen. Im Gespräch C2 gelingt es jetzt der Besuchten, ihre Ambivalenz auf den Punkt zu bringen (1448-1460). Im Gespräch E l thematisiert der Besuchte symbolisch verschlüsselt seine Sterblichkeit (1304-1309). Daneben treten nach der Ankündigung des Rückzugs auch solche Themen, die den Rückzug selbst begehen. Letztere , Themen des Rückzugs' lassen sich ebenfalls wieder unterscheiden in ,indirekte', den Rückzug bearbeitende Themen, die das Bleibende an Gemeinsamkeit zwischen beiden Partnern allgemein zum Ausdruck bringen, und .direkte' Themen, die formulieren, was den Beteiligten vom Besuch selbst bleibt. Zu ersteren gehören Ausblicke in die Vergangenheit oder die Zukunft. Uber gemeinsame Bekannte aus früheren Zeiten wird gesprochen (C2:1497-1503. 1530— 1536)63, an einen früheren Besuch erinnert (1489-1494).64 Auf die ja ebenfalls indirekte erste Ankündigung des Rückzugs durch die Bemerkung über das letzte Glas Alkohol folgt eine Passage, in der die Gastgeberin sich besorgt darüber zeigt, daß der Pfarrer gut und sicher auch nach Abschluß des Besuchs wieder nach Hause kommt (981-998; vgl. auch 1574-1585). Die zweite Ankündigung (drei Minuten vor Ende) markiert dann das Ende schon deutlicher. Auch hier folgen noch zwei indirekte Themen des Rückzugs (neben den beiden Bekannten die Frage nach der Erreichbarkeit des Pfarrers), doch unmittelbar an diese Rückzugsankündigung schließt sich ein direktes Thema des Rückzugs an: 1467 S zum Wohl der letzte Schluck! 1468 [S war gut! C2 ich danke Ihnen! 1470 [S = bedanke mich herzlich, was haben'S mir alles C2 ich d a n k 1472 [S aufgebracht, C2 für Ihren sehr lieben Besuch, es hat mich sehr gefreut, sehr, ich werds meiner Tochter alles berichten,
63 Ebenso A3:634-637. 64 Ebenso E l : 8 9 4 - 9 0 7 ; Al:639-641; an den nächsten Besuch erinnern E l : 1 3 1 6 - 1 3 2 1 und A3:646. In F l ist vom früheren Besuch zu Beginn des Gesprächs die Rede (12f. 15).
173
1475 1476
S C2
[S
1479 1480 1481 1482 1483 1484 1486 1487 1488
gut. u n d w e n n ' a m a l w a s ist na hat sie d a a u c h e i n e , e i n e ΗϊI , wenigstens eine Unterstützung im Aus_
ja C2 in der A u s s p r a c h e , S ja. C2 ne? S = ja,ja. C2 Sie k e n n t Ihren N a m e n , i c h h a b Sie a u c h i m m e r g e l o b t , [hart angestoßen] h m + so i m a das freut m i c h j a a h a h a iS C2 ja C2 ja wirklich! S hm, C2 i c h g l a u b i c h h a b I h n e n des a u c h s c h o n m a l bissl d u r c h b l i c k e n lassen,
Nachdem der Seelsorger durch seinen Dank noch einmal seinen Rückzug deutlich gemacht hat65, versichert man sich gegenseitig der Ubereinstimmung über die Summe des Gesprächs 66 - unter Verwendung vieler positiver Wertungssignale und des small-talk-typischen Interaktionssequenzierungsverhaltens. Man bestätigt sich gegenseitig, die Rolle als Gastgeberin und als Besucher angemessen ausgefüllt zu haben, und versucht zu formulieren, was vom Besuch bleibt. Ganz ähnlich klingt es dann nach der letzten Rückzugsankündigung: 1553
so j e t z t g e h i c h aber, ja ich bin da, ja haha w e n n N o t a m M a n n ist na d a w e i ß i c h b e s c h e i d ge j a jetzt d a n k i c h I h n e n sehr f j a Frau Frau {C2}. S für Ihren l i e b e n Besuch u n d für d i e s c h ö n e n B l u m e n . G o t t b e h ü t Sie ja ( ) Is C2 u n d i c h hoffe d a ß i c h Sie n i c h t so s c h n e l l in A n s p r u c h n e h m e n m u ß . o k a y , das w ü n s c h i c h I h n e n a u c h , auf j e d e n Fall. Is C2 gell d a n k e , i c h d a n k e I h n e n sehr! ja ja, f S gut, C2 das hat m i c h w i r k l i c h sehr gefreut, u n d i c h w e r d ' s a u c h z u r B e r u h i g u n g m e i n e r T o c h t e r sagen. S = j a des J c h g l a u b für Ihre T o c h t e r s c h o n a u c h w i c h t i g d a ß sie äh d a ß sie des w e i ß , d a ß sie d a ß j e m a n d k.2 ja S in d e m H i n t e r g r u n d steht, C2 h-m
ß h
1555 1547 1558
1561 1563 1565 1566 1568
1571 1572
65 Ebenso in Al:550. 66 Summen in anderen Gesprächen Cl:1625; El:878-886.
174
Die letzte Verabschiedung endlich lautet: 1596 1597 1599
C2 S
vielen vielen Dank. auf Wiedersehn Frau {C2}, und schönen Gruß an Ihre Tochter, rC2 = danke, ich danke Ihnen, S ja?
Ganz zum Schluß folgen die ritualisierten Abschiedsformeln: 1606 1607 1608 1609
C2 S C2 S
nochmals Wiedersehn Wiedersehn Frau {C21 Wiederschaun Wiedersehn
Small talk vollzieht Solidaritätsmanagement; dieser Funktion wird das Thematische untergeordnet. Die Unterordnung ist zu Beginn des Gesprächs stärker, beim Rückzug hingegen gestaltet sich der Ubergang von der dritten Gesprächsebene zurück zum Small talk sehr fließend. Eindeutig wird er erst, wenn das Thema ,Summe ziehen' erreicht ist, denn auch die Summe muß positiv ausfallen und in Ubereinstimmung erfolgen, damit ein gelungener Abschluß gewahrt werden kann. Die thematische Auswahl ist nicht so zufällig, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Bestimmte Themen sind für die notwendige Funktion besonders geeignet. Small talk ist für die Seelsorge unvermeidliche Bedingung der Möglichkeit von Seelsorgegesprächen im Alltag. In der Alltagssituation bieten Small talk wie handlungsbegleitende Dialoge eine Hilfe. Sie erleichtern das Miteinandersprechen und die prekäre Situation des Besuchtwerdens, weil sie den Übergang in das ,richtige' Gespräch erleichtern bzw. Alternativen zu diesem bieten. Den professionellen Gesprächsführern sind diese Gesprächsebenen aber auch verdächtig. Sie gelten als mögliche Störquellen oder Abarten des Gesprächs. Ein Gespräch, in dem vorwiegend gegessen wurde oder meistens Small talk abgehalten wurde, sei kein richtiges Gespräch. Wie das beim Geburtstagsbesuch ist, das bleibt zu untersuchen. Dafür müssen wir als nächstes abklären, was denn ein ,richtiges' Gespräch sei, oder genauer gefragt: Welche andere(n) Gesprächsebene(n) gibt es noch außer der der handlungbegleitenden Dialoge und des Small talk?
175
„As in so many other areas of linguistic description, the classes here are fuzzy, and membership in them requires the relative predominance of a property rather than its exclusive presence."67
4.1.3. Darstellendes Gespräch Wie läßt sich das erfassen, was die Gesprächsaufnahmen außer handlungsbegleitenden Dialogen und Small talk enthalten? Zunächst hatte ich für diese Untersuchung beabsichtigt, durch die Suche nach Regelmäßigkeiten im Interaktionsverhalten zu unterscheidbaren Gesprächstypen zu gelangen. Nach den methodischen Vorüberlegungen (Kap. 2) war klar, daß die vielfältigen Versuche, Gesprächstypen nach ihrem Inhalt oder auch dem Sprechakt zu klassifizieren, gescheitert waren. Doch auch mit Hilfe des interaktiven Zugangs erwies sich das Unterfangen als undurchführbar. Mir war es nicht möglich, aus dem vorliegenden Material konstante verschiedene Gesprächstypen, klassifiziert nach unterschiedlichem interaktiven Verhalten, zu erheben. Weder .lockeres' noch ,ernstes' Gespräch, weder .frommes' noch ,weltliches', weder friedliches' noch ,aggressives', .höfliches' oder .tiefsinniges', thematisches' oder .ichbezogenes', weder .erzählendes' noch .betrachtendes' noch .intensives' Gespräch oder das, an was man sonst noch alles denken mag, ließ sich als nur einigermaßen stabiler interaktiver Gesprächstyp abgrenzen. Auch dieser Versuch war letztlich immer noch der Dominanz der literarischen Formen gegenüber den mündlichen Formen verhaftet. Ich suchte im Grunde nach Analogien zu Erscheinungen der geschriebenen Sprache. Aber Gespräche orientieren sich in der Regel nicht an literarischen Typen. Das läßt sich besonders prägnant an jener literarischen Form zeigen, die als ausgesprochen fest verwurzelt in der mündlichen Rede gilt, der Erzählung. Uta M. Quasthoffs Arbeit über das „Erzählen in Gesprächen" versteht sich ausdrücklich als ein „Beitrag zur Zerstörung eines gesellschaftlichen Vorurteils", das sich in der „Defizithypothese" verdichtet, die mündlichen Texte enthielten Schwundstufen literarischer Formen. 68 Dennoch stellt sie ihrerseits für die Erfassung ihres Gegenstandes, der „Diskurseinheit" ,Erzählung', strenge Bedingungen auf: Nur das soll als Erzählung gelten, was als „singuläres Erlebnis, ..., also zeitlich und lokal eindeutig identifizierbar", erzählt wird, „gewisse Minimalbedingungen von Ungewöhnlichkeit" erfüllt, den Erzählenden als Aktanten kennt und als typi-
67 N.NORRICK, Functions of repetition in conversation, 1983, 245-264; 247. 68 U.QUASTHOFF, Erzählen in Gesprächen. Linguistische Untersuchungen zu Strukturen und Funktionen am Beispiel einer Kommunikationsform des Alltags, 1980; 16. Den Terminus „Schwundstufe" verwendet J.BERGMANN, Klatsch, 1987; 45.
176
sehe Ausdrucksmittel „evalutive und expressive Sprachformen", einen ,,hohe[n] Detailliertheitsgrad" und „Atomisierung" des Ereignisablaufs sowie die „Verwendung des szenischen Präsens zumindest in den atomisierten Passagen der Erzählung" enthält.69 Natürlich lassen sich für derartig definierte Diskurseinheiten Beispiele finden, und Quasthoff analysiert sie auch detailliert auf ihre pragmatische Funktion und interaktionelle Durchführung hin. Die für die Zwecke ihres Interesses vertretbare definitorische Einschränkung erweist sich aber ebenfalls als noch dem literarischen Typus analoges Verfahren. Die Gespräche selbst kennen diese definitorischen Grenzen nicht. Auch bei Geburtstagsbesuchen wird viel erzählt, aber neben kompletten ,richtigen Erzählungen' finden sich da ebenso auch Erzählansätze, die nicht in jenes Schema passen wollen: 1116
S
1119 C2 1120 S 1121 C2 1122 S S 1123 [ C2
1128
1133 [C2 S 1135 C2 1138 1139
S C2
[1] es gibt schon bedrückende Dinge so so Besuche jetzt bin ich grad im Krankenhaus gewesen in sagt Ihnen ja in der (O-)Klinik, ja, und wissen'S was ma da so so mitkriegt jetzt äh furchtbar äh ja und was die erzählt_ was man da erzählt kriegt äh des sind schon schlimme Sachen-] des ist ja auch J wenn ma_ also mir wird Angst wenn ich amal ins Krankenhaus muß, weil es sind die Verhältnisse dort ham sich ja auch vielfach geändert, also wir warn mal bekannt gut bekannt durch die Töchter die sind mitnander aufgewachsen, meine Tochter und die Tochter von dem Arzt-Ehepaar, und der hat immer gsagt er hat am liebsten mit Nonnen gearbeitet im {Krankenhausname) war er, h-m, h-m, die warn verläßlich habn kein Rendezvous gehabt und ja kein Termine gehabt in dem Sinn, und und jetzt isses eben alles anders und, die sind auch anders die Schwestern, ja, ja.ja. ja. "ich weiß nicht" [3]
Beide Gesprächspartner haben in diesem Abschnitt etwas zu berichten. Der Seelsorger redet von einem zeitlich begrenzten Ereignis mit sich selbst als Erlebendem, allerdings beschreibt er es kaum im Detail. Die Besuchte weiß ein wörtliches Zitat wiederzugeben, das allerdings mehrfach gesagt worden sein soll; sie selber kommt als Aktant nur in der Weise der Hörerin des Ausspruches vor. Ob beide etwas eher Gewöhnliches oder Ungewöhn-
69
QUASTHOFF, 27f.
177
liches berichten, ist schwierig zu entscheiden. Auch hier wird irgendwie erzählt, und dennoch würde es nach obiger Definition von einer Untersuchung über Erzählen in Gesprächen ausgeschlossen bleiben.70 J. Bergmann, der diese Problemlage deutlich benennt, möchte sich davon absetzen mit seinem Konzept der „rekonstruktiven Gattungen." 71 Auch bei seinem Verfahren steht eine Definition am Anfang. Die Gesprächseinheit Klatsch wird ausgewählt aufgrund von Alltagskompetenz, vermittelt im lexikalisch erhobenen Vorbegriff „Neuigkeiten über persönliche Angelegenheiten anderer". 72 In einem Hin- und Herschreiten zwischen Einzelfallanalyse, Strukturhypothese und Korpuserweiterung lassen sich dann „Regelhaftigkeiten" dieses Kommunikationstyps so weit abgrenzen, bis man bei „kontextunabhängige[n] Gleichförmigkeiten der Klatschkommunikation" anlangt.73 Die konkreten Klatschgespräche, daran läßt Bergmann keinen Zweifel, haben demgegenüber eine große Vielfalt; in ihnen „,kreuzen' sich immer verschiedene kommunikative Linien". So wird im Laufe der empirischen Analyse der inhaltlich-beschreibende Vorbegriff ersetzt durch eine Beschreibung der sozialen Gestalt des Klatsches: Klatsch ist als sprachliche „Sozialform der diskreten Indiskretion" durch die Sozialbeziehung der „Klatschtriade" konstituiert, der bestimmte Sprachformen entsprechen.74 Statt einer Außendefinition durch das literarische System ergibt sich hier also eine aus der Interaktion der Teilnehmer selbst erhobene Innendefinition im Blick auf das soziale System. Die hier vorgelegte Untersuchung will nun nicht wie Bergmann aus verschiedenartigen sozialen Gelegenheiten einen einzelnen Gesprächstyp wie den Klatsch abstrahieren. Sie suchte vielmehr umgekehrt eine bestimmte soziale Gelegenheit (pastoraler Geburtstagsbesuch) auf, um die in ihr enthaltenen Gesprächsformen zu finden. Der definitorisch-begriffliche Vorbegriff des Geburtstagsbesuchs lieferte darum nur Gründe für die Auswahl gerade dieser Situation und half sie genauer zu fassen; für die mögli-
70 Ein weiteres Problem kommt hinzu: Die von QUASTHOFF (146-169) herausgearbeiteten Funktionen von Erzählungen („Entlastung", „Selbstdarstellung", „Information", „Belustigung und Unterhaltung", „Beleg", „Erklärung") sind so allgemein, daß sie für viele außerhalb der Definition der Diskurseinheit sich befindenden Gesprächszüge nicht minder gelten. Die Funktionen von Erzählungen beschreiben weniger die Gesprächsform Erzählung selbst als vielmehr die Zusammenhänge, in denen Erzählungen verwendet werden können. - Im Abschnitt 4.1.2. hatten wir die Funktion des Small talk zwar auch analog zu pragmatischen Maximen des Gesprächs überhaupt herausgearbeitet, aber wir konnten vorführen, daß und wie beim Small talk die Gestaltung durch die Funktion durchgängig bestimmt wird; das jedoch gilt - wie sich zeigen wird - in den Passagen des darstellenden Gesprächs' nicht. 7 1 BERGMANN, 4 5 - 4 7 . 7 2 BERGMANN, 5 3 .
73 BERGMANN, 56; ebenso das folgende Zitat. 74
178
BERGMANN, 6 I f f .
chen gesuchten Gesprächsformen enthielt er keinerlei Vorentscheidung. Damit verfahren wir also noch empirischer als Bergmann. Gesprächstypen sollten hier völlig aus den Gesprächen selbst erhoben werden. Das gelang bislang ohne weitere Probleme für die Gesprächsebenen der handlungsbegleitenden Dialoge und des Small talk. Von den Gesprächspartnern selbst wurden hier Sprechen im Gespräch und Handeln streng funktional aufeinander bezogen. Doch davon hebt sich nun jene andere Gesprächsebene ab, deren Beziehung zur Außenwelt die Gesprächsbeteiligten anders gestalten, nämlich im ungleich lockereren Verweis auf den Kontext der sozialen Situation. Ja, eben an diesem Kennzeichen läßt sich diese Gesprächsweise als Gesamtheit von Small talk und handlungsbegleitenden Dialogen abgrenzen: Es handelt sich um die Gesprächsebene, bei der das Handeln gegenüber dem Sprechen in den Hintergrund tritt. Das Gespräch, mit dem etwas besprochen wird, bildet nun selbst den Horizont der Aussagen. Ich nenne diese Gesprächsebene darstellendes Gespräch'. Die Terminologie erinnert bewußt an Schleiermachers Begrifflichkeit (vgl. 1.2.2.a). Das ,darstellende Gespräch' erhält sein Profil aus dem Gegenüber zum ,wirksamen Gespräch'. Mit dieser dritten Gesprächsebene des darstellenden Gesprächs wagen wir uns von den einfacheren Fällen der stärker sozial determinierten Formen des Gesprächs in das diffus erscheinende Gebiet des vergleichsweise situationsenthobenen Sprechens vor. Was läßt sich über eine Binnengliederung des darstellenden Gesprächs herausfinden? Um der besseren Ubersichtlichkeit willen seien die aus der empirischen Analyse gewonnenen Formen an dieser Stelle schon im Uberblick charakterisiert. Die Binnengliederung des darstellenden Gesprächs kann nicht - um es noch einmal zu wiederholen - als Menge verschiedener stabiler Gesprächstypen beschrieben werden. Dennoch lassen sich einzelne sprachliche Verhaltenskonstellationen ausmachen, beschreiben und unterscheiden. Sie sind viel flüchtiger als Gesprächstypen. Der außersprachliche Kontext bestimmter sozialer Konstellationen ist vergleichsweise stabil. Rollen, Machtverhältnisse und Interessengegensätze verändern sich zumeist nicht im Nu. Im Raum des bloß Gedachten, des Vorgestellten sind Veränderungen hingegen jederzeit problemlos möglich: informieren, belustigen, verärgern, Zeit vertreiben, Emotionen abreagieren - alles dies und noch vieles mehr ist in verschiedensten Gewichtungen und Mischungen im darstellenden Gespräch möglich und sofort veränderbar. Das ist es, was Gespräche so ungemein flexibel und verwirrend vielfältig macht. Die Verhaltenkonstellationen verwirklichen sich als - wie ich es nennen möchte - ,Interaktionsformen'. Es handelt sich hier um erkennbar wiederkehrende formale Gestalten, deren Ausdehnung über die eines turn (und seiner Interaktionsmechanismen) hinausgeht. Diese Interaktionsformen erweisen sich als ,alltagstypisierungennah', d.h.: Will man das beschreiben, was sie tun, so stößt man auf bereits in der Alltagssprache dafür vorliegende 179
Begriffe: ,Bericht', .Diskussion',,Austausch'. Die Interaktionsformen führen Kooperationsmöglichkeiten durch, die auch auf der Mikroebene (beim Blickkontakt, innerhalb eines turn) beobachtbar sind und auf der Makroebene als Einschätzung für ein Gespräch überhaupt begegnen (,einer hat erzählt', ,wir haben diskutiert', ,wir hatten ein gutes Gespräch').75 Sie befinden sich in einem Kontinuum zu diesen kleineren und größeren Kooperationsweisen. Auch die Abgrenzung der verschiedenen Interaktionsformen untereinander ist nur eine relative. Die beiden Extremformen ,Darstellungsgewährung' und ,Darstellungskonkurrenz' lassen sich einigermaßen eindeutig beschreiben. Der Mittelwert des ,Darstellungsaushandelns' hingegen ist äußerst labil und zeigt eine große Streubreite. Eine solcherart relativierte Unterscheidungsleistung der im folgenden vorgeführten Formen mag enttäuschen. Im Vergleich zu dem, was in Logik, Grammatik und Naturwissenschaft, in sozialen Konstellationen und literarischen Gattungen sich erheben läßt, haben diese Formen eine viel geringere Trennschärfe. Zu zeigen ist, daß und wie dies dennoch ausreicht für die am Gespräch Beteiligten. Zu erweisen ist die Leistung der Beschreibung solcher Interaktionsformen für die Erhellung dessen, was im Gespräch passiert.
4.2. Die sprachlichen Interaktionsformen
des darstellenden Gesprächs
651
rS alle im Nu sind sie an eim drangehenkt, und und C2 ja 653 r S und haben uns umarmt und saßen auf dem Schoß C2 des glaaub ich,
4.2.1.
Darstellungsgewährung:,Bericht'
Im Verlauf des Gesprächs C2 berichtet Frau Cordes von einer These, die sie aus der Zeitungslektüre kennt: 491
C2 r L
S
[2] und dann hab ich neulich gelesen in der_ natürlich in der {L-Zeitung} die ist ja nicht maßgebend aber immerhin bringt sie oft Sachen die ganz gut sind ne? m
75 Es besteht insofern eine gewisse Affinität zu einer Typisierung von Großeinheiten nach den Sprechakten sachbezogen/konstativ - wertend/regulativ existenzbezogen/repräsentativ (vgl. 2.2.). Doch enthalten solche .Gesamtsprechakte' dann vielerlei Kombinationen von darstellenden Interaktionsformen. 180
495
C2
498
fe S
mit über {Zahl} hat man keine Chance mehr da geht man ab, gehört man zum alten Eisen heute ja m ja. ja, stimmt. [2]
Was in der Paraphrase oder dem Erinnerungsprotokoll verdeckt bleibt, bringt das Transkript ans Licht: Hier ist nicht nur die berichtende Person tätig. Beide Seiten agieren. Seine Gestalt gewinnt der Gesprächsausschnitt erst aus dem Interaktionsverhalten. In diesem Falle wird es in der am häufigsten vorkommenden Weise vollzogen: Die eine verhält sich als sprechende, der andere als hörende Person. Beide gemeinsam gewähren Raum dafür, daß es zu einer Darstellung kommt. Denn ,Sprecher' und ,Hörer' meint mehr, als daß einer schweigt und eine andere spricht. Ein Sprecher ohne Zuhörerschaft würde Selbstgespräche führen, eine Hörerin ohne Sprecher ,hört Stimmen'. 76 ,Sprecher' und ,Hörer' sind soziale, auf Gegenseitigkeit angewiesene Rollen. Beide Seiten demonstrieren im Gespräch kontinuierlich ihr ,Hörersein' („hearership") und ,Sprechersein' („speakership").77 Üblicherweise wird nur der ,Sprecher' beachtet und die aktive Beteiligung des ,Hörers' unterschlagen. Darum beginne ich umgekehrt bei der Hörerseite, also dessen ,Hörersein'. a) Die Darstellungsgewährung von Seiten der hörenden Person ist nicht stumm. Daß der Hörer aktiv beteiligt ist, schlägt sich in Äußerungen nieder, mit denen er die sprechende Person begleitet („Hörerrückmeldungen"78). Am häufigsten äußert sich diese Begleitung durch Zeichen der Zustimmung. Diese „Fortführungszeichen" 79 müssen durchaus nicht verbal sein (Kopfnicken, Mimik). 80 Aber es ist die Regel und auf Dauer im Gespräch de facto unvermeidlich, daß sie auch verbal gegeben werden. Zugleich legen diese Äußerungen der sprechenden Seite nahe, den turn beizubehalten.81 Fast ausschließlich nur als Hörersignal wird die Äußerung ,m' oder ,h-m' verwendet (übrigens nicht nur im Deutschen). 82 Genauso dafür eingesetzt findet sich auch das ,ja'. Viele weitere Ausdrücke können biswei-
76 E.SCHEGLOFF, Sequencing in conversational openings, 1968, 1075-1095; 1093. 7 7 SCHEGLOFF, ebd.
78 R.HAUBL, Gesprächsverfahrenanalyse, 1982; 81. 79 HAUBL, 81. E.SCHEGLOFF spricht von „continuers" (Discourse as an interactional achievement, 1982, 7 1 - 9 3 ; 81). 8 0 HAUBL, 8 1 . 8 3 - 8 5 .
81 S.STREECK, Die Fokussierung in Kurztherapien, 1989; 103. 82 Aber es gibt auch Ausnahmen: ,m?' als Frage (C2:388. 1038), ganz leise und weich gesprochen als Pausenfüller (C2:489. 571). Im Transkript erscheint ein gedehntes ,m' als ,mm', ein zweisilbiges als ,m-m' oder ,hm-hm' oder ,h-m'.
181
len benutzt werden. Die lautliche Variationsbreite, gerade bei den universellen Ausdrücken ,m' und ,ja', ist ganz beträchtlich. Es lassen sich verschiedene Grade des Ausmaßes und der Intensität der Zustimmung unterscheiden. al) Grade des Ausmaßes an Zustimmung ergeben sich nach Schneider83 aus den denkbaren Bereichen, auf die sich die Zustimmung bezieht. Ein ,hm' oder ,ja' etwa kann bedeuten: - ,Ich höre dich' (Zustimmung zur akustischen Präsenz des Sprechers). - ,Ich höre deine Worte' (Zustimmung zur verbalisierten Präsenz des Sprechers). - ,Ich verstehe, was du sagst' (Zustimmung zum verbalisierten Sachverhalt). - ,Ich sehe ein, was du sagst' (Zustimmung zur verbalisierten Präsenz einer Wertung). - ,Ich stimme zu' (Zustimmung zur Wertung eines Sachverhalts). Im Gespräch wird zunächst vorausgesetzt, daß alle Grade im Zustimmungssignal enthalten sind. Solche Bereiche erweisen sich allerdings im konkreten Gespräch als Abstrakta. Entscheidend ist die interaktive Relevanz der Zustimmung. In obigem Zitat aus C2 fügt im Hinblick auf den Hörer die Sprecherin eine Wertung über die Zeitung ein. O b das Unterstützungssignal ,m' des Seelsorgers auch eine Zustimmung enthält zur Einschätzung von Frau Cordes, daß diese Boulevardzeitung „Sachen die ganz gut sind", „bringt" (493), kann durchaus bezweifelt werden. Schon eher anerkennt sie, daß die Besuchte sich Gedanken zur Qualität dieser Zeitung macht. Was für den Fortgang der Darstellung der Sprecherin notwendig ist, das liefert jenes kurze ,m' durchaus. Es zeigt, daß der Hörer dem Gesagten auf jeden Fall insoweit zustimmt, daß er eine Fortsetzung des Gedankenganges unterstützt. Kurze und/oder leise Zustimmungssignale lassen sich als reduzierte Zustimmung verstehen. Im Gespräch C1 findet sich eine Passage,84 in der sich der Widerspruch des Seelsorgers zu den Aussagen und Wertungen der Besuchten aufbaut. Anstelle seines üblichen ,ja' tritt hier wiederholt beim Seelsorger ein kurzes und leises ,m'. Der hörende Seelsorger meldet zurück, daß er die gesprochenen Worte hört. Auf die Wertungen, die sein Gegenüber ausspricht, selbst auf die Anerkennung dessen, daß hier eine Wertung angemessen sei, erstreckt sich seine Zustimmung nicht. 85
8 3 SCHNEIDER, 1 6 1 .
84 C l : 107-267; siehe dazu 4.2.2.d. 85 Wird ein kurzes und leises ,m' hingegen weich gesprochen, signalisiert dies eine vergrößerte Zustimmung (C2:1337. 1346 ).
182
a2) Als Grade der Intensität der Zustimmung kennt Schneider schwache, neutrale und starke Zustimmung.86 Eine derartige Klassifizierung, die das ,hm' als schwache, das ,ja' als neutrale Zustimmung definiert, orientiert sich allerdings noch zu sehr an der lexikalischen Bedeutung derartiger Zustimmungssignale. Im vorliegenden Material konnten keine Verwendungsunterschiede zwischen derartigen als schwach oder neutral klassifizierten Partikeln erkannt werden. Vielmehr scheint es bei der Wahl zwischen ,ja' und ,hm' und seinen verwandten Ausdrücken einfach persönliche Vorlieben zu geben. Der Seelsorger der C-Gespräche bevorzugt eindeutig das ,ja', die Seelsorgerin aus dem B-Gespräch dagegen das ,hm'.87 Für die interaktive Verwendung der Zustimmungssignale ist eine andere Differenz wichtig, nämlich die von unauffälliger und auffälliger Zustimmung. Die üblichsten Möglichkeiten der unauffälligen Zustimmung bilden das ,ja' und das ,hm' in ihrer üblichen Tonstruktur.88 Auch andere Worte können ziemlich unauffällige Zustimmung ausdrücken: „na" (C2:754), „tja" (849. 872), „ne" (883). Eine weitere Möglichkeit, die ein bißchen auffälliger ist, besteht darin, die Worte des Gegenübers zu wiederholen.89 Auf ein -piko-bello sauber!" des Sprechers folgt das Hörerecho „sauber" (C2:749f.).9C Die Zustimmungssignale erfolgen auch, während der Sprecher spricht; sie können aber ebenso für sich allein stehen und an die Stelle einer eigenen expliziten Antwort treten. Dennoch stellen sie keine isolierten Äußerungen dar. Sie begleiten vielmehr den turn. Gegen das Ende des turn hin erfolgen sie besonders häufig, manchmal schon dann, wenn sein Ende absehbar ist, manchmal in der durch sein Ende entstandenen Pause, manchmal erst, wenn die Darstellung vom Sprecher schon wieder aufgenommen ist. Das Zustimmungssignal unterstützt die sprechende Person dabei, auch den nächsten turn aufzunehmen. Kommt der Hörer damit etwas zu spät und hat also der Sprecher schon längst den nächsten turn aufgenommen,
86
SCHNEIDER, 1 6 1 - 1 6 5 .
87 In den jeweils ersten 600 Zeilen zählte ich für den Seelsorger in C1 127mal ,ja' und 32 mal ,hm', bei der Seelsorgerin in B1 hingegen nur 29 mal ,ja' und dafür 70mal
,hm'.
88 Meist fällt bei ,hm' die Tonhöhe und steigt dann wieder; rein ansteigende Tonhöhe kennzeichnet die Frage (,hm?'); eine gleichbleibende Tonstruktur drückt beginnende Divergenz aus oder kündigt sie an (im Transkript mit dem Zusatz ,[kurz]' versehen). Abfallende Tonhöhe zeigt an, daß die hörende Seite etwas von der sprechenden zur Kenntnis nimmt, aber sich in Divergenz dazu befindet (im Transkript mit dem Zusatz versehen ,[abfallender Ton]'). Vgl. dazu K.EHLICH, Formen und Funktionen von ,HM', 1979, 503-517; 507f; und K.EHLICH, Interjektionen, 1986; 50f. Auch andere Interjektionen (ah, ei, oh, au, oi) kommen in verschiedenen Tönen mit je anderen Bedeutungen vor (EHLICH 1986, 73-92.) 89 Sehr viele Beispiele dafür führt SCHNEIDER (167-175) aus seinem Datenkorpus an. 90 Vgl. C2:634f. 765-667. 1023. In C2:1261f. wird ein ganzer Satz wiederholt.
183
dann gerät das Zustimmungssignal an den Anfang des nächsten turn. Im Gespräch C2 passiert das häufiger, wenn Frau Cordes die Rolle der Hörerin übernimmt. Der Zeitpunkt, zu dem das Zustimmungssignal im turn erscheint, mag also durch persönliche Faktoren mitbedingt sein,91 aber dennoch ist er nicht unabhängig vom Gesagten. Auch durch die genaue Stelle, an der er das Zustimmungssignal innerhalb des turn setzt, kann der Hörer aktiv die sprechende Person beleiten. Er markiert sein Verstehen 92 und trägt damit zur Steuerung der weiteren Darstellung bei.93 Ein Beispiel kann die genannten Verwendungen der Zustimmungssignale illustrieren. Der Seelsorger berichtet hier von einer kirchlichen sozialen Einrichtung in {C-}Land: 786 787 788 789 790 791
796
S die haben Erzieherinnen, C2 ja S die mit denen Schulaufgaben machen, C2 h-m h-m S = die die Probleme mit ihnen bereden, [C2 h-m ja ja ja S die mit ihnen darüber reden warum sie in {Elends vierteln) leben müssen, und auf der Straße sind den ganzen Tag, [C2 ja C2 ja
Zunächst kommt die Zustimmung der Hörenden genau in die Lücke des turn (787. 789). Dann beginnt der Seelsorger in 792 bereits den nächsten turn, als erst die Zustimmung erfolgt („h-m"). Eine weitere Zustimmung wird nachgeschoben, deren Veranlassung nicht genauer zu klären ist (eine zweite Bestätigung des turn-Endes, gewissermaßen als Bestätigung dessen, daß der Sprecher den turn von sich aus wiederaufgenommen hat?). Dem betonten „warum" des Sprechers entspricht die Hörerin mit einem zweifachen „ja" (791). In 795 kommt ihr Zustimmungssignal zum Turn-Ende verspätet, in 796 wieder genau in die turn-Lücke. Der Fall aus dem obigen Zitat, wo an eine besondere Betonung des Sprechers anschließend das Zustimmungssignal zweifach erscheint, ist bereits ein Beispiel für eine auffälligere Zustimmung. Bestimmte Vokabeln sind dazu geeignet wie „tatsächlich" (C2:804) und „klar"' (1178). Das 91 Die Seelsorgerin in D l gibt ihre Zustimmungssignale so langsam, und der Besuchte nimmt so bald den nächsten turn auf, daß das Signal hier extrem häufig an den Anfang des nächsten turn gerät. 92 O b er dies stärker unbewußt tut, also gleichsam nur sich selbst sagt, daß er etwas verstanden habe, oder bewußt, also dem Gegenüber seine Zustimmung z u m Ausdruck bringen will, macht für die interaktive Bedeutung keinen Unterschied. In beiden Fällen erhält so die andere Seite das Zeichen der Zustimmung. 93 Dazu gibt es empirische Untersuchungen, auf die schon J.SCHARFENBERG (Seelsorge als Gespräch, [1972]; 110) hinweist.
184
Zustimmungssignal läßt sich dehnen: „jhaaal" (1162). Es läßt sich wiederholen: „jaja" (C2:515. 665. 1164), „ja ja" (553), „genau, genau." (1224. 1421), „verblüffend, verblüffend" (A2:179). Gerne werden auch mehrere Zustimmungssignale kombiniert: „ja stimmt! stimmt!" (C2:503), „achja" (559), „ja, nein!" (704). Die Zustimmung kann als vollständiger Satz ausgedrückt werden: „das glaub ich" (C2-.640. 811), „ja so ist das" (782), „das stimmt" (1392). Mehrere dieser Möglichkeiten werden in den beiden folgenden Beispielen miteinander verbunden, um die Zustimmung zu betonen. Das macht in der verschrifteten Sprache einen ungewöhnlichen Eindruck, ist hingegen im Gespräch keineswegs etwas Besonderes. Nicht die semantische Bedeutung einer Vokabel steht im Vordergrund, sondern Allerweltsvokabeln werden so verwendet und von beiden Seiten interaktiv verdoppelt, daß eine auffallende und von beiden Seiten her vereindeutigte Darstellungsunterstützung entsteht. 1228 jC2 S
ja, jaja! ja sicher. ja.
1279
jawoll, ja ja jaja. m ja genau. h-m.
jS C2
a3) Die hörende Person beschränkt sich nicht unbedingt auf die Ratifizierung dessen, was die sprechende Person vorgelegt hat. Neben der zustimmenden Unterstützung der Darstellung findet sich auch deren kommentierende Unterstützung. Gerade wenn der Hörer den wertenden Charakter der Aussage des Gegenübers unterstützen will, wird er zu eigenen Vokabeln greifen müssen, die den impliziten Charakter jener Wertung erst explizit machen und zusammenfassen. Der Hörer weiß sich in Ubereinstimmung mit dem Sprecher und unterstützt dessen Darstellung, indem er den angemessenen Kommentar dazu gibt94: Es finden sich Vokabeln der Überraschung und Bewunderung: „ach" (C2: 575. 1363. 1369), „ach so" (1320), „jawas!" (1435), „broooo" (A3:570), „oaahh" (A3:315), „toll" (A3:327), „verblüffend, verblüffend" (A2:179). Ähnlich gelagert sind die Fälle, wo das Gesagte einfach verstärkt wird: „ja ehrlich" (C2:1098), „ja natürlich!" (1242). Interessant ist die Vokabel „nein" (C2:648; vgl. 704), „[gedehnt] nein!" (C2:748). Im Zusammenhang der interaktiven Darstellungsunterstützung bedeutet ,nein' sein genaues semantische Gegenteil: es steht für ein verstärktes Ja! Andere Vokabeln drücken die Zustimmung dazu aus, daß etwas implizit
94 SCHNEIDER spricht von „evaluation" (176-185) und bleibt damit zu sehr semantisch orientiert.
185
als negativ dargestellt wurde: „gfährlich gell." (C2:983), „furchtbar" (1121).95 Eine Vokabel der Pointierung ist das „eben." (C2:1391. 1393). Natürlich sind auch bei der kommentierenden Unterstützung Kombinationen möglich: „achh, ja verrückt." (C2:923); „also unerhört, ja." (1304), „ja eben" (1265). Wie die Zustimmung kann auch die Kommentierung in ganzen Sätzen geschehen: „[geflüstert:] ist ja toll." (C2:996; vgl. 994), „das ist wunderbar!"(1285), „also ses sind doch keine Zustand!" (711). Ebenso wie bei der Zustimmung kann auch bei der emphatischen Kommentierung das Gesagte in enger Abstimmung mit dem Sprecher erfolgen: 1431
1434
's
rC2 l S
die haben mir Blumen überwiesen zu meinem Geburtstag von (B-Iand), ach wie lieb! ja was ja, sehr nett, ja, h-m. jawas! ja
was
b) Nicht nur der Hörer unterstützt die Darstellung. Ihr entsprechen Akte der Darstellungsgewährung von Seiten der redenden Person. Sie geschieht durch Signale, die ich ,Gewährungsinduzierer' nennen möchte. Es handelt sich um an einen turn angehängte Partikel wie „ne" (C2:493. 511. 620 u.ö.), „gell" (983. 1013. 1015), „oder?" (772), „ja?" (1032), „m?" (Bl: 574), „n?" (B 1:562). Sie zeigen formell die Möglichkeit an, daß der turn gewechselt werden könnte. Aber dies geschieht weniger so, daß damit das Rederecht tatsächlich abgeben wird. Vielmehr holt sich auf diese Weise der Sprecher die Erlaubnis vom Hörer (von diesem in der Regel durch ein ,hm' oder ,ja' artikuliert), mit der Darstellung fortfahren zu dürfen. 96 Wie der Hörer durch seine Zustimmungssignale, so bringt der Sprecher durch seine Darstellungs-Gewährungsinduzierer zum Ausdruck, daß die Darstellung ein interaktives Geschehen ist. Die Vokabel ,gell' kann dabei ganz entsprechend wie das ,ja' auch eine Funktion innerhalb des turn wahrnehmen, nämlich als interaktives Betonungssignal (z.B. C2:1074. 1146, 1165 u.ö.). Einzelne Ausdrücke werden
95 Ein analoger ganzer Satz findet sich in C2:711; vgl. Bl:109. 96 H.SACKS/ E.SCHEGLOFF/ G.JEFFERSON ( A s i m p l e s t s y s t e m a t i c s f o r t h e o r g a n i z a -
tion of turn-taking for conversation, 1974, 696-735; 718) haben auf die Bedeutung von „tag questions" wie z.B. „you know" für die Vergabe des Rederechts aufmerksam gemacht. Unter der Perspektive der Verteilung des Rederechts modifiziert die tag question eine Aussage ohne Wahl des Sprechers für den nächsten turn in eine solche, die einen anderen zum nächsten turn auffordert. Diese Aufforderung aber ist weniger zwingend, als sie bei SACKS/ SCHEGLOFF/ JEFFERSON erscheint. Zumindest die im Deutschen üblichen Partikel zeigen eine Präferenz dafür, lediglich Zustimmungssignale und keinen ausführlichen turn zu evozieren. Als „attention attracter" (M.A.ATKINSON/ E.C.CUFF/ J.R.E.LEE, The recommence of a meeting as a member's accomplishment, 1978, 133-155; 136) oder als „Terminierungsstereotypen" (HAUBL, 76) hingegen ist die interaktive Leistung der Partikel noch unterbestimmt.
186
markiert als solche, die für das hörende Gegenüber besonders relevant sind. Auch zu Beginn des turn kann das ,gell' auftauchen, als Entschuldigungssignal dafür, das Rederecht sich genommen zu haben, das auch dem Hörer hätte zugestanden werden können (C2:1019).97 Manchmal kann der Sprecher eine Darstellungsgewährung geradezu erzwingen, und das auch, ohne explizit eine Frage formulieren zu müssen: 84 85 86
S = weil wir üübermoorgenn A3 übermorgen was ist da. S Erntedankfest feiern müssen.
Das besonders betonte Wort lädt ein zur Reaktion der Hörerin. In diesem Fall kann sie nicht sagen, worauf sich ihre Zustimmung beziehen soll, sie gewährt weitere Darstellung so, daß sie um Präzision der Aussage bittet. c) Die Gewährung dessen, daß dargestellt wird, geschieht gemeinsam. In der Regel übernimmt die eine Seite mit der Sprecherrolle die Darstellung und die andere mit der Hörerrolle die Aufgabe, ihr Gegenüber dabei zu unterstützen. Da die Darstellung üblicherweise an die Perspektive der sprechenden Person gebunden ist, bleibt diese Rollenverteilung bei der Interaktion der Darstellungsgewährung relativ stabil. Das schließt aber nicht aus, daß die hörende Seite noch aktiver als in den bisher geschilderten Fällen in die Darstellung eingreift. Sie vollzieht eine eigene Darstellungshilfe. Die Hilfe kann sich auf eine Vervollständigung der Darstellung begrenzen. Gerät die Darstellung ins Stocken, so kann die hörende Person die fehlende Vokabel oder eine eigene Fortführung anbieten. 925
jC1 S
ja wissen Sie Herr D_, Herrr Pfarrer {Nachname von S), {Nachname von S}.
395 396 397
A3 S A3
denn weiß man daß man oder ist man stolz daß man so ne Tochter hat? =ja und das man auch vielleicht in der Erziehung nicht versagt hat, 98
Manchmal kann sogar die Sprecherin um Darstellungsvervollständigung bitten: 271
C1
273
[S C1 S
275
Sie und in der äh dings und im am äh wie heißt der wieder der äh der Ding na, sagn Se's mir schnell was ? bei {Stadtteil}, der [1] {öffentlicher} Garten, ja, ja,"
97 ,Gell?' kann natürlich außerdem auch noch als eigenständige Frage verwendet werden (C2:1273). 98 Weitere Beispiele in Al:129. 297. 296. 305; F l : 5 8 6 . 99 Weitere Beispiele in A l : 166. 198.
187
Die Hilfe bei der Darstellung geht darüber noch hinaus, wenn eine Darstellungshinzufügung vorliegt. Der Hörer fügt seinerseits Aspekte in die Darstellung ein, die er für wichtig hält. Auch dafür seien Beispiele genannt. Sie unterscheiden sich darin, wie die Sprecherseite die Hinzufügung aufnimmt. Im ersten Beispiel wird die Addition unkommentiert akzeptiert: 1352
1356
C2 r S C2
die Insel {Inselname} ist wahnsinnig teuer ne. auch mietemäßig, und sie muß halt die teure Miete zahlen, ja das ist natürlich ne Ferieninsel gell, der Hausbesitzer hat jedes lahr gesteigert'00
Im zweiten Beispiel wird die Hinzufügung integriert: 1372 1373
C2 = und manche finden immer eine Hintertüre [S ja ( ) ja Geld ja C2 nur nur ne es gibt immer Celdleute die soundsoviel bieten
Im dritten Beispiel wird die Addition erst nach anfänglichen Schwierigkeiten von der Sprecherin in ihre Darstellung inkorporiert: 1274 1276 1278 1279 1281
C2 = und ich hab auch unten auch gleich über die Treppe runter den Kaufmann da unten ne, wo der Schulze war voher. rs C2 as ne C2 wo der Schulze war. jawoll, ja ja jaja. m [S C2 ja genau. h-m. C2 das's schade daß der Schulze ja, aber, das natürlich auch a große Sache, daß mer des so nah hat
d) Ist bei der Darstellungshilfe noch die Rollenverteilung zwischen Sprecherin und Hörerin konstant und wird allenfalls für einen kurzen Moment sistiert, so ändert sich dies bei der gemeinsamen Darstellung: Sie kann sich entwickeln, wenn die Perspektive zwischen Sprecher und Hörer sehr ähnlich ist. In Gespräch B1 findet sich solch ein Fall. Gemeinsam reproduzieren beide Beteiligten ein Ereignis, das sie auch zusammen erlebt hatten: 574 575 577
[3] B1 rS B1 rS B1
hoho dä uns_ unser Glück gestern m? m haha ja daran hab ich im Moment hihi m m? auch gedacht [lachend:] hm-hm-hm-m+
100 In C2:967f. entspricht die Hinzufügung von Frau Cordes genau dem, wie der Seelsorger seine Aussage selbst fortführt. Die Hinzufügving setzt in diesem Fall statt vor der Fortführung durch den Seelsorger sogar erst nach ihr an, wohl weil die Besuchte langsamer im Reagieren ist. 188
579 580 581
S
B1 fs
B1 Γ S 587
B1
589
[S
591 592
S
B1 B1
594 [
B1 S
[ß1 599
fs
B1
jetzt hat mein Auto schon einen Klaviertransport hahah ist das nicht doli haha und es ist ihm nichts Böses geschehen weder dem Auto noch dem Klavier haha haha [2] h-m [2] so mitten drin hat ich ja wirklich Angst ( ) jawohl daß wirs nicht schaffen ich auch hohahaha [2] ob ich denn mal was Süßes ( ) ja aber wie wir die erste Treppe gehabt ham da dacht ich mir also jetzt auf dem Absatz bleibt das (und wir steckten [?]) [lachend:] Klavier stehen+ und wir steckten so nicht? so in der Mitte [2]
Frau Brix setzt zu einer Aussage an, korrigiert sich dann und erinnert an ein gemeinsames Erlebnis; die Aussage schließt mit dem Gewährungsinduzierer „m?" (B 1:574). Darauf lacht zuerst die Seelsorgerin, danach auch Frau Brix, und letztere wiederholt den Darstellungsinduzierer (576). Im gleichen Moment hat auch die Pfarrerin zu reden begonnen und zeigt sich als zur angefragten Darstellung kundiges und wohl auch bereites Gegenüber: „daran hab ich im Moment auch gedacht" (575. 577). Jetzt übernimmt sie die Sprecherrolle, und Frau Brix kommentiert durch Lachen 101 (578). Als die Pfarrerin wieder lacht, führt Frau Brix die Darstellung fort (582-584). Daraufhin lacht die Seelsorgerin. Als Frau Brix in zwei Pausen nicht die Rolle der Sprecherin, sondern der Hörerin (,h-m'; 587) übernimmt, setzt die Pfarrerin wieder mit einem turn ein, von Frau Brix kommentiert (589-592). Auch als Frau Brix eine handlungsbegleitende Aussage beginnt (594), übernimmt die Pfarrerin wieder die Rolle der Sprecherin. Frau Brix aber kommt mit einer Hinzufügung zur Hilfe und behält so das letzte Wort. Darstellungsgewährung zeichnet sich durch die genannten Signale und Vokabeln in der oben aufgeführten interaktionalen Verwendung aus. Alle diese Maßnahmen zeigen ein turnharmonisches Verhalten. Damit wird die Präferenz, darstellungsstörende Handlungen zu vermeiden, verwirklicht.
101 Zum Lachen siehe 4.1.2.al. 189
Was hier für die Bereiche von einem oder mehreren turns gezeigt wurde, kann auch längere Passagen im Gespräch charakterisieren. Im Gespräch C2 findet sich das am ausgeprägtesten in jenem Abschnitt, wo der Seelsorger von seinen Erfahrungen aus ,{C-Land}' berichtet (628-841). Die Darstellungsgewährung ist eine interaktive Gesprächsform auf der Ebene des darstellenden Gesprächs, die zur optimalen Mitteilung dient. Sie gewährt Raum zur Entwicklung einer Darstellung und deren Entfaltung und sichert dabei zugleich, daß das Dargestellte auch verstanden wird. Darstellungsgewährung ist ein interaktiver Mechanismus zur maximalen Sicherung für abgeschlossene Darstellungsformen bei gleichzeitiger maximaler Flexibilität für situative Modifikationen. Auch zur Seelsorge gehört es, daß es zu darstellendem Gespräch kommt; es bedarf dazu der Darstellungsgewährung von beiden Seiten her. 768
und die Kinder sauber angezogen, Wasser habn sie ja zum Waschen, 770 rS sauber angezogen! C2 ja aber sie werden ja auch a bissl vorbereitet gewesen sein wenn sie wissen es kommt Besuch ne oder?
4.2.2.
S
Darstellungskonkurrenz:,Diskussion'
Darstellung im Gespräch beruht auf Gegenseitigkeit. Die sprechende Seite demonstriert die Notwendigkeit der Darstellungsunterstützung, die hörende Seite gewährt sie in der Regel. Aber das ist nicht immer so. Es kann auch dazu kommen, daß die Darstellung von der hörenden Seite nicht mehr unterstützt wird. Sie setzt stattdessen eine eigene Darstellung dagegen. Diese konkurrierende Darstellung kann ebenso aus der bloßen Ablehnung der Vorlage bestehen wie aus explizierten eigenen Ausführungen. a) Zur graduellen Klassifizierung lassen sich analog zu Schneiders Graden der Zustimmung bei Darstellungsunterstützung (vgl. 4.2.1.al) Grade der Ablehnung benennen. Die denkbaren Grade an Reichweite der Ablehnung bauen die ihr entsprechende Pyramide an Graden der Zustimmung von oben her wieder ab. Jene setzten ja bei der impliziten basalen Zustimmung zur akustischen Präsenz an und führten bis hin zur expliziten Zustimmung zur Wertung einer Aussage. Der Entzug der Zustimmung beginnt bei der Weitung einer Aussage und kann sich bis zur impliziten basalen Ablehnung vertiefen. Ein ,nein' kann bedeuten: - ,Ich kann dir nicht zustimmen' (Ablehnung der Wertung eines Sachverhaltes). - ,Ich kann deine Darstellung nicht teilen' (Ablehnung der verbalisierten Präsenz einer Wertung). 190
- ,Es ist nicht so' (Ablehnung des verbalisierten Sachverhalts). -,Ich kann nicht akzeptieren, daß du darüber eine Aussage machst' (Ablehnung der verbalisierten Präsenz). - ,Ich kann nicht akzeptieren, daß du redest' (Ablehnung der akustischen Präsenz). Die beiden letzten Grade der Ablehnung sind es, die einem Gespräch überhaupt den Boden zu entziehen drohen. Die anderen bilden jedoch noch nicht das Ende der Diskussion, sondern fachen sie gerade an und nötigen zu mehr Gespräch. Darum ist bei der Durchführung von Darstellungskonkurrenz wichtig, dem Gegenüber zu bedeuten, daß solche grundsätzliche Ablehnung nicht gemeint ist. Auch die Darstellungskonkurrenz, wenn sie denn eine Interaktionsform darstellenden Gesprächs und nicht dessen Scheiterns darstellt, darf die Maxime der Höflichkeit (als sprachlich verwirklichtes Kooperationsprinzip) nicht verletzen. Es gibt sehr wohl eine Reihe von sozialen und taktischen Gründen, die es angeraten erscheinen lassen, die offene Austragung von Interessens- oder Wertungsgegensätzen zu vermeiden. Das Kooperationsprinzip im Gespräch aber verhält sich noch einmal nach eigenen Regeln. Schon um des Miteinander-Sprechens willen ergibt sich die Tendenz, Differenzen zu reduzieren oder zu begrenzen. Und selbst noch im größten verbalen Streit verwenden die Kontrahenten nicht selten die aus dem System der Gesprächshöflichkeit stammenden Vokabeln, allen voran das bekannte ,ja aber', zur (formalen) Konfliktminimierung. 102 b) Die Gegensatzanzeiger103, die auf Darstellungskonkurrenz hinweisen, lassen sich danach klassifizieren, durch welche Mittel sie die Reichweite an Ablehnung begrenzen und Kooperation bewahren. Die Vokabeln der indirekten Ablehnung leiten die Negation mit einem Wort der Zustimmung ein: „ja aber" (C2:771; Dl:663; Fl:1385), „ja schon, aber auch" (C2:634), „jadoch!" (569), „ja und wenn'S" (948), „ja des sind aber" (1250), „klar, aber" (1257), „ja?" (776), „ja des is aber" (1575), „aja gut aber vielleicht" (Dl:671). 104 Die einleitende Zustimmungsvokabel markiert, daß die Darstellung des Gegenübers in ihrem Sachverhalt nicht oder höchstens teilweise bestritten wird. Die Ablehnung bezieht sich damit ausdrücklich nicht auf die tiefen Grade, die verbale und akustische Präsenz des Gegenübers. Die Ablehnung wird also begrenzt und abgeschwächt. So kann auch inhaltlich die Diffe102 Vgl. A.KOERFER, Zur konversationellen Funktion von ja aber. Am Beispiel universitärer Diskurse, 1979, 14-29. 103 HAUBL spricht von „Korrekturzeichen" (83). 104 Vgl. auch: „ja das natürlich ja" (Fl:1396). Die Zustimmung wird in diesem Fall dadurch begrenzt, daß etwas Bestimmtes als selbstverständlich geltend dargestellt wird; der Gegensatz muß noch benannt werden.
191
renz als ganz klein dargestellt werden: „is doch vielleicht η kleen bissl Neid" (Dl:288), oder der mit ,ja aber' begonnene Satz endet mit dem Gewährungsinduzierer ,ne oder?' (C2:771). In einer zweiten Gruppe von Ablehnungen wendet sich der Darstellungskonkurrent direkt an die Sprecherin: „ach Sie" (C2:951), „a Frau {C2}" (1143), „geh Frau {C2}!" (970). Der Gegensatz wird mit einer semantisch uneindeutigen Partikel eingeleitet.105 Daran schließt sich die direkte Zuwendung zur Sprecherin an. Das demonstriert, daß ebenfalls deren akustische oder verbale Präsenz gerade nicht bestritten wird. Die Konkurrenz gibt sich als Akt intensivierter Hinwendung an die Person.106 Solcherart Gegensatzanzeiger könnte man als Ablehnung mit demonstrativer Zuwendung bezeichnen. Bei der dritten Gruppe wird von der hörenden Seite107 der Gegensatz direkt ausgedrückt; dann folgt darauf sogleich die Sachaussage, die präzisiert, worauf sich die Ablehnung bezieht. Hier wird also eine direkte, aber begrenzte Ablehnung vollzogen: „aber was dazu essen" (C2:981), „na brauchend nit Angst ham, nein." (989)10S, „na, das is, das war spontan" (773)109, „ja des sind aber" (1250), „aber da müssen'S noch weiter viel laufen" (1289), „aber Sie kommen zurecht" (1327), „also110 des war schon schwer" (1335), „also des waren schon Kämpfe" (1328), „aber a Mütze würd ich scho aufsetzen" (1577), „geh, das war eine ganze Menge" (Cl:242), „obwohl er so Hilfe kriechte ä wann er sie beantracht" (Dl:660) n i , „bloß ob das stimmt" (Fl:1487), „aber wenn wir es nicht wissen" (Fl:1496). Selbstverständlich kann ein Einwand auch als Frage formuliert werden: „aber halten die [gemeint: neuen Fenster] nicht viel Lärm ab?"(C2:933); „Sie haben aber eine [gemeint: Diakonieschwester], eine gell für die ganze Gemeinde" (C2:1159). Die bislang vorgeführten Gegensatzanzeiger zeigen sogleich an, daß trotz einer vorgenommenen Ablehnung das Gesprächswohlwollen nicht zur Disposition steht. Gefährlicher für den Fortgang ist dagegen das in seiner Reichweite unbestimmte ,nein'. Wo es auftaucht, werden darum eigene interaktive Maßnahmen notwendig, um die durch die Ablehnung 105 Ohne diese Partikel in C2:608. 106 Ahnlich funktionieren auch die Wendungen: „aber gell Frau { C 2 } das müssen'S scho auch bedenken" (C2:1048) und „nein Sie haben recht" (Fl: 1484). 107 Auch die sprechende Seite kann natürlich selber in einem folgenden turn mit ,aber' ihre eigene Aussage modifizieren (C2:397. 668. 691. 935. 1339. 1394. 1437). 108 Das zwei Zeilen später erfolgende leise „°neiennein°" bestätigt das Gesagte nur und führt keine neue Ablehnung ein. 109 Bei der Aussage in C2:1241 ist mir nicht klar, ob ein Gegensatz gemeint ist, und wenn ja, wozu. 110 ,Also - schon' hat hier den kommunikativen Sinn eines ,(ja) aber'. 111 Im Gespräch D l benutzen sowohl der Seelsorger als auch die Besuchte gerne den Gegensatzanzeiger ,obwohl' (siehe Abschnitt d).
192
gefährdete Situation wiederherzustellen. In C2:984 findet sich als absolute Ablehnung ein kurzes „ah". Doch dieses widerspricht lediglich einer kurzen Kommentierung „gfährlich gell". Das gemeinsame Lachen (986f.) festigt dann die Atmosphäre der gegenseitigen Zustimmung wieder. Im Gespräch B1 beklagt die Seelsorgerin ihre Überlastung. Daraufhin bietet Frau Brix die Deutung an: „das ist son bißchen dieses ich kann immer" (415). Dem widerspricht die Seelsorgerin mit einem „nee". Die Besuchte versucht daraufhin eine andere Interpretation mit angehängten DarstellungsGewährungsinduzierer: „gibt Leute die haben besser gelernt mal nein zu sagen ne?" (418), was die Seelsorgerin mit einem „hm" ratifiziert.112 Eine weitere Möglichkeit besteht darin, den Gegensatz gar nicht als Gegensatz auszudrücken, sondern als Ergänzung zu formulieren. Im folgenden Beispiel kann man sehen, wie eine zunächst begonnene Gegensatzformulierung entsprechend korrigiert wird: „ab_ das wär natürlich kein Problem wenn sie hier a Stellung finden würde einigermaßen" (C2:548f.).113 Hier wird dann die Grenze zum Darstellungsaushandeln (4.2.3.) fließend. c) Die Darstellungskonkurrenz schlägt sich im Turnverhalten nieder. Zeichnete sich die Darstellungsunterstützung durch turnharmonisches Verhalten aus, so kann sich Darstellungskonkurrenz auch als Konkurrenz um das Rederecht verwirklichen. Damit wird die Reichweite der Ablehnung nach der Skala von Abschnitt a) erhöht. Wer um das Rederecht kämpft, kann nicht akzeptieren, daß eine akustische Präsenz des Gegenübers besteht. Diese basale Nicht-Akzeptanz aber muß, wenn sie nicht die Fortführung des Gesprächs überhaupt unmöglich machen soll, ebenfalls wieder begrenzt sein. Das gilt zum einen für die zeitliche Erstreckung. Die Konkurrenz um das Rederecht kann nicht über längere Dauer permanent vollzogen werden. Daß zwei gleichzeitig reden, bleibt im Gespräch ein schnell vorübergehender Moment.114 Die Begrenzung ist aber auch inhaltlich: Es müssen Gründe für die Nicht-Akzeptanz dem Gegenüber signalisiert werden. Dabei stellt sich die Lage für Sprecherseite und Hörerseite unterschiedlich dar. Der Sprecherseite geht es um Turnbeibehaltung. Allgemein gilt: Wer zuerst wählt, hat den turn. Was genau gesagt werden wird, ist noch nicht so wichtig - Hauptsache, der turn ist begonnen. Dies führt zu sogenannten „pre-starts".115 Viele Turnanfänge beginnen mit einer Kon112 Die schärfste verbale Ablehnung im gesamten Korpus, die dann auch in einem doppelten ,nein' gipfelt, findet sich in Cl:230-232. Dazu mehr im Abschnitt d. 113 Ebenso auch in Dl:639f.: „obwohl ich will nit _ ich hab hier Verständnis ann mir jemand so was zum Beischpiel erzähle kann ne". 1 1 4 Nach HAUBL ( 8 1 ) dauert simultanes Sprechen in höflichen konfliktfreien Gesprächen höchstens sechs Sekunden an. 115
H . S A C K S / E.SCHEGLOFF/ G.JEFFERSON, 7 1 8 f .
193
junktion (und, oder, aber, also) oder unsemantischen Platzhaltern wie ,äh'.116 Sie sichern das Rederecht. Da der beabsichtigte Redeinhalt noch nicht formuliert ist, kann es danach zu einer kleinen Pause kommen117, oder der Turnanfang muß gedehnt werden wie bei „unnd" (C2:400) und „ond" (Cl:384. 402. 780 u.ö.).118 Allerdings muß sich damit auch dann das Folgende als an das vorher Gesagte anschließend erweisen. Auch andere Mittel sind möglich. Eine Temposteigerung erhöht die Chance, als erster einen turn zu beginnen. Größere Lautstärke erschwert für das Gegenüber Maßnahmen, sich den turn zu erkämpfen. Im folgenden Beispiel nimmt die Besuchte der Seelsorgerin den turn ab; diese holt ihn sich wieder dadurch, daß sie solange laut spricht, bis ihr Rederecht wieder eindeutig etabliert ist.119 Die dies einleitende Konjunktion „weil" demonstriert besonders stark, daß aus inhaltlichen Gründen die Fortführung nötig ist. 139
S
141 142 143
B1 S B1 S
147
[ß1
also ich kann das eigentlich schon verstehen mir ist manchmal auch alles Gute was mir jahh angetan werden soll auch schier zu viel. [kurz]: ja+, und ich weiß [laut]=weil ich ja dann immer das Gefühl hab+ ich müßt irgendwie drauf reagieren, und das istmirzuviel das istzuviel 1 2 0
Bei dem Streit um den turn geht es für die hörende Seite um Turnunterbrechung („second starters" oder „subsequent starters"121). Auch diese werden häufig mit den Mitteln des pre-starts (Konjunktionen) eingeleitet oder können mit hohem Tempo in eine kleine Atemlücke der Sprecherseite ,gequetscht' werden122 oder durch große Lautstärke die Sprecherseite einfach als akustisch nicht mehr präsent erklären. Doch ist der turn so erst einmal erstritten, dann muß, wenn das Gespräch als Ganzes nicht in Gefahr geraten soll, um so mehr dem Gegenüber vorgeführt werden, warum das übliche Repertoire des Turnmanagement verlassen wurde. Turnunterbrechungen müssen erweisen, daß sie deshalb Vorrang haben, weil ohne sie der 116 HAUBL (90f.) spricht von „Pausenfüllung" durch die Sprecherseite. 117 Z.B. in C2:691, wo allerdings der turn nicht erstritten werden mußte. 118 Weitere Formen: „oont" (Cl:500), die Verschleifungen von ,und' und ,äh' zu „unde" (Al:271. 274. 285. 355), „unte" (Cl:316), „onnte" (Cl:828), Wortwiederholungen wie „end end end" (Cl:344), „und und äh äh" (C2:538f.), „ichich ich" (C2:678). 119 Nicht auf die absolute Lautstärke, sondern auf den „erzielten Lautstärkenzuwachs" kommt es an (HAUBL, 80). Nonverbale Mittel wie Blickvermeidung und Gestikulation sind ebenfalls sehr erfolgreich (89). 120 Ähnlich A2:105; Bl:1249. 121
SACKS/ SCHEGLOFF/ JEFFERSON, 7 2 0 .
122 Vgl. C2:699: Hier macht die Hörerin einen - in diesem Fall unterstützenden Einwurf mit pre-start (ja äh) in dem Moment, als der Sprecher eine nichtsemantische Partikel (äh) benutzt. 194
interaktive Gehalt der vorangegangenen Äußerung nicht gesichert war.123 Sie sind durch die inhaltliche Begrenzung auch in der Regel zeitlich sehr begrenzt, erweisen sich also meistens als ein Einwurf in den turn der regulär sprechenden Person, ohne ihn ihr wirklich abzunehmen. Als der Seelsorger den Vorschlag macht, die Tochter von Frau Cordes solle doch, da sie nun in Deutschland sei, sich selber in einem Betrieb für eine Arbeitsstelle vorstellen, unterbricht die Gastgeberin den turn mit ihrer Bemerkung „ist doch nur ein paar Tag da" (C2:474). Der Sprecher akzeptiert die Unterbrechung („ja") und wiederholt dann eines seiner zuletztgenannten Worte, um seinen turn zu beenden. An einer anderen Stelle fügt die bisherige Sprecherin einen Gewährungsinduzierer an ihren turn an („ne?"), als gleichzeitig dazu der bisher Hörende mit einem pre-start seinen turn beginnt, wobei während der ersten Worte erst noch der Gedanke formuliert werden muß: „aber dann ist ist die andern die Jungen die haben" (C2:512). Doch schon da ist dokumentiert („aber dann"), daß das folgende um der von der bisherigen Sprecherin gemachten Aussage willen begonnen wurde. In einem dritten Fall wird die von der Gastgeberin geäußerte „Angst"' um den Hörer sofort von diesem abgewehrt: „na, brauchn'S nit Angst ham, nein" (C2:989). d) Mit Hilfe von Gegensatzanzeigern und Konkurrenz um das Rederecht kommt es zum Argumentationsverhalten: Eine Diskussion entspannt sich. Man steht vor dem gemeinsamen Problem, den aufgebrochenen Gegensatz zu bearbeiten. Natürlich spielt dabei auch eine Rolle, welche Argumente geäußert werden.124 Doch folgt die Argumentation nicht einer reinen Sachoder Bewertungslogik. Vielmehr ist zugleich dabei das Problem zu bewältigen, wie denn nun das Gespräch weitergehen kann. Das Prinzip der Begrenzung des Gegensatzes wird auch hier befolgt. Der Gegensatz läßt sich einerseits aktiv verkleinern, in dem durch Klarstellungen der angesprochene Sachverhalt entsprechend revidiert wird. Damit wird der Einwand in den Rang einer Verbesserung des Dargestellten erhoben. Andererseits kann der Gegensatz auch so revidiert werden, daß er sich durch thematisches Fortschreiten verflüchtigt. An mehreren Beispielen soll gezeigt werden, wie beide Prinzipien ineinandergreifen. Als der Pfarrer von den Möglichkeiten des vorgezogenen Ruhestandes im Hinblick auf die Tochter von Frau Cordes und auf seine eigene Situation spricht, unterbricht die Besuchte seinen turn: 123 SACKS/ SCHEGLOFF/ JEFFERSON, 720, sprechen - etwas z u eng - v o n „ p r o b l e m s of
understanding prior utterance". „In .harten Konfrontationen', in denen Kooperation ständig unterlaufen wird, ... verliert der vokale Mechanismus [Erkämpfung des turn durch Lautstärke, E.H.] mit zunehmender Länge der Auseinandersetzung zugunsten der ,Treffsicherheit' von Argumenten seinen Wert" (HAUBL, 81). 124 Vgl. dazu die Beiträge in M.SCHECKER, ed., Theorie der Argumentation, 1977.
195
1086 1088 1089
1092 1093
1096
rS C2 S [C2
ja vom von den_ aber dann kriegt man weniger Rente ne, gut des spielt_ das weiß i n_ ja kann sein aber h-m ja bin i gar net sicher, weiß i _ hab i mi nit erkundigt, C2 ja, S = aber mir gehts gut, ich bin gsund und ich machs gern kll ja das ( ) C2 = Sie sind überhaupt schaun überhaupt so jung noch aus.
Der Pfarrer reagiert auf den Einwand in zwei Schritten: Er gesteht zu, daß er den erhobenen Einwand noch nicht bedacht habe und ihm die nötigen Informationen fehlen. Insofern wird der Einwand als relevant anerkannt. Diese Darstellung wird von der Hörerseite unauffällig unterstützt („ja"; 1089 u. 1092). Die Relevanz wird dann in einem zweiten Schritt insoweit zurückgenommen („aber"; 1093), als für ihn selbst die Frage des vorgezogenen Ruhestands nur eine rein theoretische ist. Diese Fortführung des Themas akzeptiert Frau Cordes, indem sie sich nun ihrerseits aktiv an der Thematisierung des Gesundheitszustandes des Pfarrers beteiligt. So ist der Gegensatz schnell wieder beseitigt. In einem anderen Gespräch125 unterbricht die Seelsorgerin den turn von Frau Brix, indem sie eine Negation der Bewertung eines Sachverhalts durch ihr Gegenüber als möglich ankündigt: „meinen Sie wirklich?" (Bl:612). Dieser Einwand verlangt nach einer Reformulierung des Sachverhalts einschließlich seiner Bewertung durch das Gegenüber. Frau Brix bleibt jedoch bei ihrer Bewertung: „doch ich tu das [hoher Ton:] nicht+ " (613), schiebt dem eine genauere Erklärung nach (613f.), in die ihrerseits die Seelsorgerin mit einer Erklärung des Sachverhalts einfällt (615f.), beendet durch eine Aufforderung zur Darstellungsratifizierung („oder?"). Frau Brix nimmt die Aufforderung an: „ja er hatte ..." (617), reformuliert das Gesagte aus ihrer Sicht noch einmal und schwächt es in seiner Verbindlichkeit ab: „kann ja sein nicht?" (625). Die Seelsorgerin schließt daran einen anderen Gedanken an (626). Hier wird also das Problem gelöst, indem die den Gegensatz zum Gegenüber hervorrufende Ausgangsthese relativiert wird. Im Gespräch eines anderen Pfarrers mit Frau Diehl findet sich eine Passage, in der über mehrere Gesprächsgänge Gegensatzanzeiger von beiden Seiten aufeinander folgen: S: „obwohl" (639), D l : „obwohl" (646, Turnunterbrechung), D l : „na" (652), S: „obwohl" (660), D l : „ja aber" (663), S: „odder wenn" (665, Turnunterbrechung), „Dl „aja gut aber vielleicht" (671, Turnunterbrechung), S: „oder ich persönlich" (676, Turnunterbrechung). Ausgangspunkt ist eine Darstellung des Pfarrers über begründete und unbegründete Argumente, aus der Kirche auszutreten (639-651). Da125 Die Passage ist zitiert und inhaltlich interpretiert in 6.2.2.c.
196
mit setzt er sich von dem, was Frau Diehl vorher sagte, ab. Diese bringt dann das Beispiel von dem (ausgetretenen) Herrn Kleiber ein, dem nie von der Kirche geholfen worden sein soll (652-658). Daraufhin beteuert der Pfarrer, daß beim Diakonischen Werk Hilfe zu bekommen gewesen wäre (660). Dagegen macht Frau Diehl einen Einwand (663f.), kann ihn aber nicht ausführen, weil der Pfarrer ergänzt, Herr Kleiber hätte auch Hilfe von ihm bekommen (665). Hierauf erfolgt zum erstenmal in dieser Passage ein „ja" (Frau Diehl, 666). Der Pfarrer weitet die Hilfsbereitschaft noch auf seine Vorgänger aus (667-670). N u n bezweifelt aber die Besuchte die Qualität der Hilfe („ob des uff die Dauer dann Hilfe gewese wär" (671f.). Daraufhin erzählt der Pfarrer, er habe jetzt „zum Beispiel" der Schwester (des Herrn Kleiber) geholfen. Das erkennt die Besuchte an (678). Vom allgemeinen Satz bewegt sich die Diskussion zu einem Einzelfall, für dessen angezweifelte Bewertung dann ein weiterer Einzelfall angeführt wird, bis endlich bei diesem Ubereinstimmung erzielt werden kann. Die alltägliche Argumentationsweise, auf eine allgemeine These hin ein Einzelbeispiel begründet anzufügen, hat nicht nur einen gewissen argumentativen Rang (Illustration, Erfahrung, die hinter der gemachten oder angezweifelten Aussage) steht. Sie leistet gesprächstechnisch, daß über etwas, das für das Thema relevant ist, gesprochen werden kann, aber so, daß das eingeführte Beispiel zugleich auch eine neue thematische Basis zur Gesprächsfortführung bieten kann. Auch bei bestehendem Gegensatz kann man sich nun einem neuen Sachverhalt widmen. Das Argumentieren mit Beispielen begegnet uns auch bei einer Diskussion mit Frau Class. Diese beschwert sich ausführlich über die Jugend von heute und beschwört die guten alten Zeiten. Der Seelsorger stimmt dem zuerst neutral zu („ja", „ne", „hm"; Cl:137. 139. 141. 143. 147). Dann wird seine Zustimmung reduzierter: dreimal kurzes „m" (155), zweimal ein hörbares kurzes räusperndes Einatmen (159), nocheinmal ein „ja" (165). Als Frau Class rhetorisch fragt: „und wer hat uns das gebracht?" (163f.), antwortet der Seelsorger mit einem allgemeinen und relativierenden Satz: „das sind Entwicklungen, nicht" (166). Dagegen protestiert Frau Class: „ = ach Entwicklungen" (167) und der Seelsorger markiert noch einmal seinen Gegensatz: „doch" (168). Daraufhin integriert Frau Class formal das Vokabular des Einwandes, um dann selbst eine alternative Antwort auf der Suche nach den Schuldigen anzubieten: „ = d a s sind _ ja Entwicklungen, das sind die Flüchtlinge" (169). Als sie das weiter ausführt, gewährt ihr der Seelsorger noch einmal ein kurzes stimmloses „m" (174) und lenkt dann auf ein anderes Thema über, das nur assoziativ an die Rede über die Flüchtlinge anschließt: „wo sind Sie denn her?" (175).126 Frau Class antwortet darauf. 126 Es mag sich natürlich dahinter auch der Plan verbergen, daß ein eventuelles Flüchtlingserleben von Frau Class sich argumentativ oder ihren Haß auf die Flüchtlinge verringernd verwerten läßt. Doch dazu kommt es nicht.
197
Nach einer Weile ist sie freilich wieder bei ihrem Thema, und eine zweite verschärfte Diskussionsrunde entsteht: 213
C1
215 216
S C1
219 220
S C1
226 227
S [C1 S C1
228 230 231 233
239 241 243 244
S |C1 ^ S
rS t l |5 C1 S C1
250
253
. L S C1
256
fe C1
259 260
S C1
198
meinen'S daß die Kinder einen Anstand habn wie wir gelernt habn, gell [leise und kurz:] m+ anständig sein zu älteren Leute und so vor allen Dingen und Überhaupts nett und gesittet, aber das gibts ja heute nicht, [leise und kurz:] m+ die sind ja heute so frech, und dann diese Ausländer, ach ( ) das ist ein prob_ Problem, aso mich dürftens mal an de Regierung hinlassen, ich tät mit eisernem Besen tät ich's alle rausfegen, von wegen asylberechtigt, und wer wer putzt dann unsere Straßen? ja ich will Ihnen was sagen ja asylberechtigt: die sind zu faul zum Arbeiten weil ihnen da alles geschenkt wird hier in Deutschland, stimmt gar nicht. ach ist ja doch wahr, nein nein ich hab_ weiß ganz genau, die haben in hier in Deutschland gearbeitet gell? dann haben's sich krankgemeldet, und dann sind sie in ihre Heimat, und da hat man ihnen das Geld das Arbeitslosengeld nachgeschickt, und in der Heimat habens wieder gearbeitet. na das sind einzelne Fälle das ist so ja och das ist kein Normalfall. geh das war eine ganze Menge, [mit abgeflachtem Vokal:] ja+ schaun'S da ist zum Beispiel hier also im hier im Haus einer, der hat eine Schwester, der Mann ist ein muß ich sagn Trinker kann man schon nimmer sagn das ist ein Säufer, gell, jahrelang schon, er war schon in de Trinkerheilanstalt aderhat immer wieder, die gehen zum Wohnung_ äm die gehn zum Wohlfahrtsamt, sie kriegen das Zimmer geweist, auf Wohlfahrtsamtkosten h-m und wir haben wirklich arme Leute die dessen bedürftig wären, gell, h-m h-m dann äh verlangt sie ein Schlafzimmer, sie braucht ein neues Schlafzimmer das alte is nix mehr, bekommt sie vom Wohlfahrtsamt, [leise und kurz:] m+ dann hat die Frau die Teppiche gar nicht gwöhnt ist
263
267
hatn schönen großen Teppich neuen Teppich vom Wohlfahrtsamt ge_ge_. Ja sagns Sie mal ist das denn richtig? S [kurz:] m+ a ich kenn die Zusammenhänge nicht, ach erzähln'S mir von Ihnen Frau Frau {C1} L C1 ach ( ) [S wie war denn der Geburtstag? Wie war denn 1 C1 ja meeii
Wieder findet sich hier der Ubergang bei Frau Class von den allgemeinen schlimmen Zeiten zur Anklage gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe. Waren es vorher die Flüchtlinge, die uns „das gebracht" haben, so wird jetzt eine weitere Gruppe assoziativ an die schlimmen Verhältnisse angeschlossen: „und dann diese Ausländer" (220). Der Ausländer-raus-Parole setzt der Seelsorger ein pragmatisches Argument entgegen: „und wer putzt dann unsere Straßen?" (225). Frau Class ignoriert den Sachgehalt der Anfrage und schiebt eine Begründung nach, die ebenfalls das Verhältnis von Arbeit und Ausländern betrifft: Diese seien zu faul, weil ihnen in Deutschland alles geschenkt werde. Der Seelsorger bestreitet den Sachgehalt dieser Aussage: „stimmt gar nicht" (230). Frau Class beharrt dagegen darauf: „ach ist ja doch wahr" (231), während der Seelsorger ein zweifaches „nein" dagegensetzt (232). Es kann keine Einigkeit über den Sachgehalt der Aussage erzielt werden. Zur Begründung greift Frau Class illustrierend auf den Mißbrauch von Sozialleistungen zurück (239). Der Seelsorger bestreitet, daß diese Aussage die Begründungsleitung für die These von den faulen Ausländern sein kann: „na das sind einzelne Fälle" (239). Aber auch über den Begründungsstatus der Aussage läßt sich keine Gemeinsamkeit erzielen. Während der Seelsorger sein Argument wiederholt und noch schärfer faßt („das ist kein Normalfall"; 241), erklärt Frau Class ihre Aussage für weitgehend verallgemeinerungsfähig: „geh das war eine ganze Menge" (241f.). Dann führt sie die Thematik so fort, daß sie ein ihr bekanntes Beispiel erzählt, wo jemand - ihrer Meinung nach - Sozialmißbrauch getrieben hat, während „wir" wirklich Arme hätten, die die Sozialleistungen nötiger bräuchten. Das wird als ungerechter Zustand gewertet, in die rhetorische Frage verpackt: „ja sagns Sie mal ist das denn richtig?" (262). Der Pfarrer verweigert die erwartete Antwort, anerkennt mit seinem kurzen „m" höchstens, die Frage gehört zu haben. Er begründet dann seine Antwortverweigerung unter Hinweis auf seine Unkenntnis des Einzelfalls. Dann leitet er ein neues Thema ein: „ach erzähln'S mir von Ihnen Frau Frau { C l } " (263-265). Frau Class läßt sich darauf ein. Der Seelsorger hat deutlich gemacht, daß er nicht bereit ist, die allgemeine These zu akzeptieren. Bei der ersten Begründung besteht auch über deren argumentativen Status keine Einigkeit. Erst das Beispiel ermöglicht dann eine gewisse Übereinstimmung. Der Seelsorger bestreitet nicht völlig, 199
daß so etwas passiert sein mag, wiewohl er sich als nicht-wissend darstellt. Uber Erfahrung läßt sich bekanntlich nicht streiten. Er setzt sich von der Diskussion ab, indem er sich darstellt als einen, den anderes interessiert, nämlich „was von Ihnen", also etwas Persönliches, von Frau Class zu hören. Er begründet sein Beenden der Diskussion mit seiner professionellen Aufgabe. Die Darstellungskonkurrenz ist eine interaktive Gesprächsform auf der Ebene des darstellenden Gesprächs, die dazu dient, die Beteiligung am Gespräch gegen Widerstände durchzusetzen. Sie sichert Raum zur Einbringung der Abweichungen vom Gegenüber. Sie stellt einen interaktiven Mechanismus dar, ein für nötig erachtetes Maß an Abweichungen so sichtbar zu machen, daß eine Gefährdung des Gesprächs möglichst gering gehalten wird. Auch ein seelsorgerliches Gespräch, in dem es zu Abweichungen von der Darstellung des Gegenübers kommt, wird sich der Mechanismen der Darstellungskonkurrenz bedienen.
„da geht's Ihnen doch genauso wie mir!" (Pfarrer, A 1:324)
4.2.3. Darstellungsaushandeln:^Austausch' Zwischen der Darstellungsunterstützung und der Darstellungskonkurrenz liegt das Feld des Darstellungsaushandelns. Bei dieser Interaktionsform betreffen die möglichen Grade an Reichweite nur die oberen drei Stufen. Für die basalen Stufen der akustischen und verbalen Präsenz ist die Zustimmung vorausgesetzt. Für die höheren Stufen erfolgt allerdings nicht einfach Zustimmung, jedoch auch nicht Ablehnung. Hier bringt sich die Hörerseite in einer Weise ein, die im Mittelbereich zwischen Zustimmung und Ablehnung liegt. Ein eigener Beitrag wird vorgestellt, der sich nun aber weder allein auf die Markierung der eigenen Sicht beschränkt, noch allein das Dargestellte unterstützt. Als was sich dieser eigene Beitrag erweist, ist vielmehr offen; er ist in noch größerem Maße als Darstellungsunterstützung und Darstellungskonkurrenz auf Fortführung durch das Gegenüber angelegt. So treten die jeweiligen Beiträge der am Gespräch Beteiligten auseinander und werden als individuelle erkennbar, und zugleich sind sie in sich besonders unabgeschlossen: Beiträge zum Austausch. Dabei kann in unterschiedlicher Weise das Eigene und das, was das Gegenüber mit seiner Aussage bietet, zur Aushandlung eingebracht werden. Es kann eher reaktiv geschehen, indem die bisherige Hörerseite die eigene Perspektive zum Gesprochenen artikuliert, oder die Sprecherseite bekundet initiativ ihr Interesse für die Perspektive des Gegenübers (a). Aushandlungseinleitungen können auch vergleichend sein, indem entweder 200
die Sprecherseite oder die Hörerseite das Interesse an einer Kombination der Perspektiven beider Seiten vorführt (b). Dieser Austausch, gleich ob reaktiv, initiativ oder vergleichend, kann sich auf die eingangs schon angesprochenen drei Bereiche der Darstellung beziehen. Je nachdem läßt er sich unterschiedlich entschlüsseln: - ,Mein Bericht und/oder dein Bericht bleibt noch zu hören' (Austausch über einen Sachverhalt). - ,Meine Meinung und/oder deine Meinung bleibt noch zu hören' (Austausch über die Präsenz einer Wertung). - ,Meine Meinung und/oder deine Meinung bleibt noch zu klären' (Austausch über die Wertung). a) Als Mittel zur reaktiven und initiativen Einleitung von Darstellungsaushandeln finden Varianten der Markierer von Darstellungsunterstützung und Darstellungskonkurrenz Anwendung. Zunächst zum initiativen Verfahren: Die Darstellungsunterstützung arbeitete nicht zuletzt mittels Gewährungsinduzierern (4.2.l.b). Durch sie bezog sich die Sprecherseite so auf ihr Gegenüber, daß die Präferenz dabei lag, daß das Gegenüber das Gesagte einfach nur unterstützt. Freilich ist es auch dort nicht ausgeschlossen, daß einmal die Hörerseite darauf mit einem eigenen turn einsetzt und ihre Perspektive einbringt.127 Beim Darstellungsaushandeln hingegen ist eine ausgeführte Reaktion auf den Beitrag der bisherigen Sprecherseite die Regel, d.h. es besteht dafür eine Präferenz. Als initiatives Mittel dient die Frage.128 Hier haben unterschiedliche Fragetypen Präferenzen für unterschiedliches Interaktionsverhalten. Alternativfragen lassen sich knapp beantworten: 443 444
S C2
hat sie Familie? nein.
127 Vgl. C2:771f. 128 Wie Gewährungsinduzierer als Initiative zum Darstellungsaushandeln interpretiert werden können, so kann auch umgekehrt eine Frage als Gewährungsinduzierer vom Gegenüber behandelt werden. Wiederum geht es hier um jeweilige Präferenzen; die Interaktion läßt immer auch unwahrscheinlichere Reaktionsmöglichkeiten zu. Die beiden Präferenzsysteme bei Darstellungsunterstützung und Darstellungsaushandeln ließen sich auch in Regeln fassen: Regeln für Gewährungsinduzierer: 1. Wird ein Gewährungsinduzierer gegeben (ne?, gell? usw.), dann wird das Gegenüber mit einer Darstellungsunterstützung reagieren (einfach, als Satz, eventuell auch schweigend). 2. Wird keine Darstellungsunterstützung gewählt, dann ist eine explizite Antwort zu erwarten (als Darstellungskonkurrenz oder Darstellungsaushandeln). Regeln für Fragen: 1. Wird eine Frage formuliert, dann wird das Gegenüber mit einer expliziten Antwort reagieren. 2. Wird die Antwort nicht explizit gegeben, dann kann an ihre Stelle auch ein Darstellungsunterstützungsakt treten (,ja', ,hm' usw.).
201
Das gleiche gilt für Ergänzungsfragen, wenn sie einen eng umgrenzten Bereich erfragen und sich dieser auf der Ebene von Sachverhalten bewegt: 573 574
S C2
wie lange ist jetzt Ihr Mann tot? mein Mann ist {Jahreszahl} gestorben. Herzinfarkt.129
Je offener Fragen formuliert sind und je mehr auch emotionale Gehalte oder Wertungen in ihren Horizont rücken, desto ausführlicher werden sie in der Regel beantwortet.130 Eine solche Antwort wiederum ist offen für Stellungnahmen der anderen Seite. Fragen öffnen also - je nach Art mehr oder weniger - die Möglichkeit für ein ausgedehnteres Darstellungsaushandeln.131 Das reaktive Verfahren zur Einleitung von Darstellungsaushandeln benutzt Mittel, die denen der kommentierenden Unterstützung (vgl. 4.2.1.a3) gleichen. Interjektionen der Überraschung sowie sonstige Modalpartikel einschließlich der Gegensatzanzeiger (vgl. 4.2.2.b) - können auch dazu verwendet werden, den reaktiven Beginn eines Darstellungsaushandelns einzuleiten.132 Beim initiativen Beginn ließ sich noch ein Unterschied in den Präferenzen ausmachen, der bereits durch die andere sprachliche Gestalt von Gewährungsinduziereren einerseits und eigentlichen Fragen andererseits gesetzt war, wiewohl dem Gegenüber offenstand, statt der Präferenzoption auch eine andere zu wählen. Bei der reaktiven Einleitung von Darstellungsaushandeln hingegen ist das alleinige Unterscheidungskriterium der weitere Verlauf der Interaktion. Er allein gibt Aufschluß darüber, ob der reaktive Einwurf zum tatsächlichen Aushandeln wird. b) Bei vergleichenden Einleitungen zum Aushandeln macht schon der einzelne geäußerte Beitrag explizit, daß hier beide Seiten involviert sind. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Subjekte werden eingeführt; vor allem findet sich der Verweis auf sich selbst, den neuen Sprecher:
129 Vgl. C2:443. 452. 477. 536. Auch die rhetorischen Fragen oder Suggestivfragen legen das Gegenüber fest. Besonders Frau Class liebt rhetorische Fragen (Cl:144. 262 u.ö.). Eine Frage kann auch als Argument zum Ausdruck eines Gegensatzes formuliert sein (C2:723. 825. 828). 130 Dazu gehören auch die Impulsfragen (vgl. C2:1096). Die Präferenz für eine ausführliche Beantwortung wird nicht immer ergriffen (C2:1106), und zwar typischerweise dann nicht, wenn eine andere übergeordnete Präferenz wie die Darstellungsreduktion dagegen spricht (vgl. 5.1.2.). 131 Geschlossene Fragen gelten in der therapeutischen Gesprächsführung als kontraproduktiv, die offenen unter den verschiedenen Fragetypen hingegen als „Hauptmittel des seelsorgerlichen Gespräches" (SCHARFENBERG [1972], 104-107; 107). Schon für die alltägliche Interaktionsform des Darstellungsaushandelns gilt das gleiche. 132 C2:516 („gell"), 1296 („ja"), 1383 („ei"), 1440 („ja, und").
202
1294
C2
1296
S
und des is Leben is ja anfürsich heut so unerhört teuer g e w o r d e n ne, das reine Leben. ja, i hab heut drei S e m m e l n kauft heut in der früh,
Ebenso kann aber auf das Gegenüber verwiesen werden: „gell, ja, bei de Pfarrer is anders gell" (C2:516). Man beachte hier auch die Verwendung einer Modalpartikel (gell) zu Beginn und das Auslaufen in eine Fragepartikel (ebenfalls gell).133 Manchmal sind sogar beide Subjekte genannt: „da geht's Ihnen doch genauso wie mir"(Al:324). 134 Die Subjekte müssen aber nicht erwähnt werden. Wenn der Beitrag sich ausdrücklich an das Gesagte anschließt, kennzeichnet er sich damit als Interpretationsrede: „ja, ei das wär ja auch noch a Grund äh zurück nach Deutschland zu kommen" (C2:1383f., Pfarrer). Vorher Gesagtes, auf das mit dem „das" verwiesen ist, wird zum Gegenstand der Reflexion erhoben und von der neu sprechenden Seite als etwas anderes, vorher noch nicht Bedachtes, dargestellt. Hier kann das vergleichende Verhalten in Darstellungsqualifikation übergehen (siehe dazu 5.1.3.). c) Wie ist das Turnverhalten bei Darstellungsaushandeln zu charakterisieren? Die zuletzt genannten Beispiele wiesen sich durch personale oder thematische Rück- bzw. Vorbeziehungen auf das Gegenüber und seine Aussagen aus. Wir finden hier das vor, was nach der Konversationsanalyse die immer implizierte Komplettfassung eines turn ausmacht: Ausrichtung auf Gesagtes, dann Sachaussage und schließlich Ubergabe des turn an den Nächsten. 135 Beim Darstellungsaushandeln findet sich sowohl turnharmonisches als auch turnkämpferisches Verhalten. Typisch ist gerade der Wechsel zwischen beidem, auch das Hin-und Hergehen zwischen Engagiertheit für den eigenen turn und Interessiertheit am turn des Gegenübers. Wie das Turnverhalten im Darstellungsaushandeln sich vollzieht, ist also selbst Gegenstand des Aushandelns. An mehreren Beispielen seien die Kombinationen und Variationen der vorgestellten Mechanismen noch einmal vorgeführt. Dabei wird weiter deutlich, wie flüchtig das Darstellungsaushandeln definitorisch und zeitlich ist. In dem oben bereits zitierten Beispiel aus C2 hatte der Seelsorger an
133 Auch hier wie in 1106f. erfolgt dann doch keine ausführlichere Darstellung von Seiten des Pfarrers. Dafür sind konkurrierende Verhaltensvorgaben zu beachten (siehe 5.1.2.). 134 Häufiger finden sich Sätze nach dem ,Ich-auch-Schema', bei denen im ,auch' der Rückbezug auf den vorherigen Sprecher vollzogen wird (Al:326. 330; Dl:868. 870). 135 H.SACKS/ E.SCHEGLOFF/ G.JEFFERSON, 722: „Turns ... regularly have a threepart structure: one which addresses the relation of a turn to the prior, one involved with what is occupying the turn, and one which addresses the relation of the turn to a succeeding one."
203
Frau Class' Rede vom teuren Leben sein selbst erlebtes Beispiel von den teuren Semmeln angefügt. Er teilt darauf hin auch noch den Preis mit (1298). Das kommentiert die Besuchte in mehreren Gängen: „ja also da greift man sich doch an Kopf!" (1299), „sind Roggensemmeln wahrscheinlich gell dabei," (1301), „also unerhört, ja" (1304). Die Kommentare ließen sich auch als Darstellungsunterstützungen lesen, die Erwägung der Gründe für den teuren Preis hingegen ruft nach einer Ausführung durch das Gegenüber. Diese wird aber vom Seelsorger nur mit einem knappen „ja" realisiert (1302 bzw. 1303). Ausführlicher ist der Redewechsel im folgenden Beispiel. Vorher hat Frau Diehl davon erzählt, wie beeindruckt ein kleines Mädchen von der im Dunkeln angestrahlten Kirche war: 863 865 866
869 870
[D1 S S D1 r S D1 S r D1 r S l
877
880 882 883 884
889 890
D1 D1 r L S [D1 S D1 S iD1 5 r '
S D1
hen Sie des ach scho gemerkt ja ja wann des dann so agstrahlt isch des so richtisch dominant in dem Dorf gell so, ich mag des ach, ja nich also ich guck ach gern von unserm Gäschtezimmer auf die Burg oben hoch, njaisjaauch sehe, is ja auch wunderschön, des wirkt ach ganz toll wenn das so agestrahlt wird, ja und wissens Se w o man so arg schön weiIs ( ) also bei Petzolds im Eßzimmer. h-m ein super Blick dort hi am ( ) hm aso einmalich isch weß nit ob die des noch so sehn hm wie mir w o dann bloß des ab und zu wir genießen des dann ( ) Burg ja ich sach immer „ ach was für ein toller Blick" ja hn wann des dann ach ageleucht isch a des ischt doch was sehe. [2]
Mit der Frage „hen Sie des ach scho gemerkt" (883; ach = hochdeutsch: auch) fordert Frau Diehl den Seelsorger zur Darstellung auf. Dieser kommt dem zunächst nur mit einem zweifachen „ja" (864f.) nach. Als dann Frau Diehl wieder den turn ergreift, unterbricht er sie jedoch mit einer eigenen Ausführung (868) und berichtet von seinem eigenen Erleben mit der schö204
nen Aussicht, allerdings nicht der auf die Kirche, sondern auf die Burg (870f.). Da hinein spricht Frau Diehl wiederum eine relativ ausführliche Darstellungsunterstützung (874f.), in die der Seelsorger noch einmal seine ausgeführte Zustimmung bzw. Fortführung sagt (874). Frau Diehl weiß nun noch von einem weiteren Aussichtspunkt zu berichten und fragt sich, ob andere die Aussicht auch so schätzen (877-884). Der Pfarrer berichtet davon, daß er und die Seinen den Blick aus dem Pfarrhaus genießen (885f.), während Frau Diehl schon während dieser Ausführung noch einmal unterstützend die schöne Aussicht zum Ausdruck bringt (887f.). Darstellungsunterstützung wie Darstellungskonkurrenz, Ubereinstimmungen wie Erweiterungen finden sich hier miteinander verbunden. Uberstimmung wird in der Einleitung dieser Aushandlungspassage erhofft. Sie stellt sich ein und wird im Detail erst jeweils durch das Gegenüber modifiziert und realisiert. Worüber (schöne Kirche/ schöne Burg) geredet wird und wie (unterstützend, ergänzend, unterbrechend) - das alles wird erst im Fortgang des Sprechens selbst ausgehandelt. Noch ein letztes Beispiel: 303
Al
305
S A1
310
S ^A1
313
S . ^A1
319
S
321
A1
325 327 328
. 'S [A1 S A1 S ^A1
wir waren eigentlich die ersten die hier in {E-Ort) überhaupt auftauchten und Urlaub machten und wir haben es darum auch hier festgelegt unser unsere Ferien zu verleben, weil wir wollten von dem großen η Trend von ä Tourismus und so weiter was so überlaufen ist wir wollten ganz woanders hin ja ver_ einsam und verschwiegen hier irgendwo untertauchen. einsam und verschwiegen ja einsam und verschwiegen sind Sie jetzt nicht mehr untergetaucht. nein nein nein nein ahaha, aber ich hab mich eigentlich hier gut eingelebt. [1] ich hab auch den Eindruck wenn ich's immer wieder-höre wenn die Leute sagen „ja die Frau {A1)" ja de mich kennse alle Herr Pfarrer, ich ich kenn bloß die Leute nicht alle beim Namen kann ich ja nicht. selbst_ da geht's Ihnen doch genauso wie mir! ja hahaha mich kenn de Leute auch immer und ich sage immer: ja „ Grüß Gott" aber ich weiß nicht mehr wer's is hihihi ja ja ja mir geht's auch so, also mich sprechen manchmal Leute an und sind mir ganz fremd und wissen Namen alles das genau ja. naja. ahihaha, is nu mal so.
205
333
S
339
rS A1 S A1 S
341 342 343
Ul 348
rS Α
352 353 354 355
S A1 S A1
andererseits ist es ja auch was schönes wenn man jahrelang in einem Ort wohnt noch dazu alleine herkommt fast eigentlich alleine herkommt und dann merkt: man wird doch gut aufgenommen und und und man gehört ja ja des muß ich sagen im Lauf der Jahre dazu wie die anderen ja die schon immer hier gelebt haben, ja und ist dann auch eine [Ε-Ort-]lerin, ich find das eigentlich η schöne Sache Frau {A1} ja doch doch da freu ich mich auch sehr dran unde und ich muß auch sagen Frau Groß, ja die Familie Groß, daß wir die hierher bekommen haben des is mir auch ä sehr willkommen, die ä sind m nette Leute und und haben gewisses Niveau, ja das stimmt ja nicht? da habn Sie Recht ja = unde das ist da freut man sich ja denn auch, ja [2]
Der Seelsorger bringt sich zunächst mit Darstellungsergänzungen (305. 310) ein. Dann wiederholt er das von Frau Ammer Gesagte („einsam und verschwiegen"), um darauf einen genauen Gegensatz zwischen dem berichteten und dem von ihm interpretierten Jetzt-Zustand der Besuchten zu formulieren: „ja einsam und verschwiegen sind Sie jetzt nicht mehr untergetaucht" (313-315). Diese der vorherigen Darstellung konkurrierende Sicht („nicht") wird vom Gegenüber als Korrektur mit einem mehrfachen „nein" angenommen (316). Im Gegensatz zu dem, was vorher Aussageintention war („aber"), ergibt sich daraus eine neue These von Frau Diehl: „ich hab mich hier eigentlich gut eingelebt" (316f.). Das ergänzt der Pfarrer dadurch, daß er die dementsprechende Fremdwahrnehmung durch andere mitteilt (319). Bevor die Aussage zu Ende geführt ist, assoziiert Frau Diehl dazu den Gedanken, daß alle sie kennen, sie selbst aber die Namen der Leute oft nicht wüßte (321-323). In diese Aussage hinein spricht der Pfarrer seine Erfahrung, daß es ihm genauso gehe (324). An seine Schilderung wiederum kann sich auch Frau Diehl anschließen mit Ausführungen über eigene analoge Erfahrungen (330-332). Diese nun kommentiert der Pfarrer wieder, indem er einen Gegensatz markiert: „andererseits" (333). Er qualifiziert das Unbekannt-Herziehen und dann nach einiger Zeit Von-so-vielengekannt-Werden als „eigentlich η schöne Sache" (344). Während dieser elaborierten Darstellung wird er vom Gegenüber unterstützt („ja ja des muß ich sagen", 338). Unmittelbar anschließend an seine Aussage exempli206
fiziert Frau Diehl das Gesagte an der „Familie Groß" (346-351), was vom Pfarrer wiederum explizit ratifiziert wird. Beide Seiten bringen Eigenes ein. Nur durch den Pfarrer wird die Darstellung des Einsam-hergekommen-Seins und des Von-unbekannten-Menschen-umgeben-Seins überführt in die Bewertung des Erlebten als Integration in den Ort. Eigene Erfahrungen des Pfarrers werden dabei auch präsentiert. Für die allgemeine Interpretation des Pfarrers kann erst die Besuchte wieder das konkretisierende Beispiel herbeiführen. Erst gemeinsam also stellt sich so die besprochene Wirklichkeit .Einleben in die Stadt' dar. Wie sie aussieht, das wird gemeinsam ausgehandelt, einander unterbrechend, unterstützend, korrigierend, anfügend, eigene Erfahrungen einbringend. Darstellungsaushandeln ist alltägliches Gesprächsverhalten. Es braucht sich nicht auf innere geistige Sachverhalte zu beziehen oder Emotionen zu berühren, ist aber für diese besonders geeignet. Die Sprachkultur des Aushandelns wird besonders dort gepflegt, wo Emotionen und verschiedene mögliche Bewertungen im Vordergrund stehen, d.h. die subjektive Seite zur Darstellung gelangt. Darstellungsaushandeln ist eine nicht auf die Neuzeit beschränkte, aber für diese besonders typische Interaktionsform. Sie wird von bestimmten Arten professioneller Gesprächsführung bevorzugt (dazu siehe Kap. 5.). Darstellungsunterstützung, Darstellungskonkurrenz, Darstellungsaushandeln - mit diesen drei Interaktionsformen und den für sie typischen Mitteln arbeitet das darstellende Gespräch. Sie bilden dasjenige ,Handwerkszeug', das nötig ist, um Eigenes für das Gegenüber zur Darstellung zu bringen, um Eigenes im Gegensatz zum Gegenüber zur Darstellung zu bringen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede je im Fortgang des Gesprächs einbringen und so bearbeiten zu können, daß sie das Gespräch erhalten. Der Wechsel von der einen zur anderen Interaktionsform kann schleichend oder plötzlich sein. Es dominiert in der Regel das Bemühen, einander in der Darstellung zu unterstützen. Je nach Menge der Passagen mit einer der Interaktionsformen und/oder nach subjektiv erlebter Wichtigkeit bestimmter Passagen dürfte sich bei den am Gespräch Teilnehmenden ein Bild vom Charakter des Gesprächs als Ganzem bilden. ,Wir haben uns etwas erzählt' - das beschreibt die übliche und häufigste Interaktion. Tritt jedoch die Darstellungskonkurrenz subjektiv in den Vordergrund, oder bestimmt sie weite Teile des Gesprächs, dann wird auch in der Gesamtsumme das Gespräch eher als .Diskussion' erscheinen. Wird das Aushandeln als die entscheidende Gesprächsform erlebt, oder bestimmt es weite Teile des Gesprächs, dann erscheint im Rückblick das gesamte Gespräch als ,Austausch' von Erfahrungen und Gedanken; dabei ist jedoch offen, ob sich der Austausch auf Emotionen und persönliche Wertungen bezog, also etwas wie ein existentielles' Gespräch vollzog, oder ob er hinsichtlich gemeinsam Erlebtem oder 207
sonstigen Übereinstimmungen in durchaus alltäglichen Sachverhalten bestand. Auch dann wird es in der Erinnerung der Beteiligten ein ,gutes Gespräch' gewesen sein.
709 710 711 713 714
S A3 S A3 S
ich wünsch Ihnen hm wirklich danke ja auch Gottes Segen
4.3. Gesprächsfiguren des Geburtstagsbesuchs Anläßlich eines Geburtstages erfolgen Besuche. Daß der Seelsorger oder die Seelsorgerin erscheint, ist ein Sonderfall eines üblichen Vorkommens. Und auch wer in seelsorgerlichem Auftrag einen Geburtstagsbesuch macht, hat selber schon viele andere Geburtstagsbesuche als nicht-professioneller Besucher durchgeführt und wurde von Familie, Freunden und Bekannten zum Geburtstag besucht. Geburtstagsbesuche sind ein alltagsweltliches Phänomen. Das Repertoire dessen, was man üblicherweise anläßlich eines Besuchs zum Geburtstag tut, findet auch dann seine Anwendung, wenn es sich um einen pastoralen Besucher handelt. Auch dieser bringt allermeist ein kleines Geschenk mit und wird bewirtet. Nicht nur das außersprachliche, auch das sprachliche Handeln bei solch einem Anlaß gehört in die Alltagswelt. Wie man miteinander spricht, das geschieht nach den Regeln des alltäglichen Gesprächs. Wie wir sahen, finden die alltäglichen Gesprächebenen (das handlungsbegleitende Sprechen, der Small talk und das darstellende Gespräch) Verwendung. Es werden die alltäglichen Interaktionsformen des darstellenden Gesprächs benutzt. N u n unterscheidet sich aber das Gespräch anläßlich eines Geburtstagsbesuchs von anderen Gesprächen an einer Stelle, nämlich dann, wenn ein Geburtstagsglückwunsch ausgesprochen und entgegengenommen wird. Solch ein turn-übergreifender Teil des Gesprächs, der durch institutionelle Zusammenhänge, in diesem Fall der Alltagsinstitution ,Geburtstagsbesuch', geprägt ist, sei als Gesprächsfigur bezeichnet. W i r fragen also nach der für den Geburtstagsbesuch typischen Gesprächsfigur. a) Das Gespräch C 1 beginnt folgendermaßen: 1 2 3 4 5 208
S C1 S C1 S
grüß Gott Frau {C11, grüß Gott Herr Pfarrer, =da schaun's was ich Ihn'n mitgebracht hab. ja =die schönsten Rosen die ich gefunden hab.
6 8 9 11
14 16
C1
Blumen sind Blumen sind immer schön, jaha. grüß Gott Herr Pfarrer. S = Meinen herzlichen Glückwunsch zum {Ordinalzahl) Geburtstag r dankeschön, =jaha C1 s ich sehe wie munter Sie sind, und wie Sie aktiv sind, was Sie unterwegs sind, r muß ich auch sein, [ci muß ich auch sein,
s
L
s
18
rCI
20
r C1
22 23
C1
s s
s
ja
gell alleine hahahaa ja so Sie wissen schon wie das ist, (
) ja das ist schön wenn ich auch allein bin bleibt hier alles zu ja ganz bestimmt tun
ja
[7] [Hineingehen]
Der Pfarrer und die Besuchte vollziehen das beim Anlaß Geburtstag übliche Gesprächsverhalten. Das Vorweisen des Geschenks und Small talk dominieren. Hierin eingebettet findet sich auch die für den Geburtstagsbesuch typische Gesprächsfigur. Sie setzt ein mit dem Glückwunsch. Auch dieser hat die Funktion, das Eindringen zu entschuldigen. Als Glückwünschender bietet der Eindringling ein ,Thema zur Erklärung' (vgl. 4.1.2.bl) und zeigt seine friedlichen Beweggründe. Die Besuchte demonstriert dem Small talk entsprechend sehr deutlich ihre Freude. Hier geschieht das sogar schon, bevor der Glückwunsch überhaupt ganz ausgesprochen ist; so stark ist die Vorschrift, Freude zu zeigen. Geburtstagsglückwünsche unterscheiden sich von Small talk nur in einem: daß sie in dem institutionell festgelegten Rahmen nicht durch ein anderes Thema ersetzbar sind. Man kann also sagen: Die Sequenz der Geburtstagsglückwünsche und der Reaktion darauf ist verpflichtender Small talk. Ob tatsächlich das Beste gewünscht wird, ob die besuchte Person tatsächlich über die Glückwünsche zu diesem Zeitpunkt oder von dieser Person erfreut ist, das steht nicht zur Debatte; vorrangig richtet sich das Gespräch daran aus, die Besuchssituation zu rechtfertigen und zu bewältigen. Freilich tut es das so, daß es die Gesprächsumwelt (Geburtstagsbegehung) rekonstruiert. Das macht ja den Geburtstag aus, daß Geburtstagsglückwünsche überbracht werden. Im Glückwunsch-Uberbringen und Sich-beglückwünschen-Lassen wird der Geburtstag gefeiert. Die Glückwunschfigur kann auch am Schluß des Gesprächs vorkommen: 550
S
so [2] ich glaub ich bedanke mich für das gute Getränk, für die guten zwei Kekse
209
552
556
[A1
[ A1
S
ach Unsinn uund möcht Ihnen noch mal alles Gute fürs nächste Lebensjahr wünschen ja und hoff daß ich nicht erst in einem Jahr wieder vorbeischaue, sondern vorher mal es schaffe vorbeizukommen
Auch hier ist der Geburtstagsglückwunsch Teil des üblichen Small talk, jetzt bei Gesprächsende. Der Dank für die Bewirtung signalisiert den Aufbruch; Frau Ammer minimiert entsprechend dem Höflichkeitsprinzip mit Emphase ihre Leistung als Gastgeberin. Gegenseitig bestätigt man sich so noch einmal die für einen Besuch kennzeichnende Rollenverteilung. Der Besucher schließt an seine erste Aussage sogleich die zweite an, den Glückwunsch für das kommende Lebensjahr. Er leitet so ein typisches ,Thema des Rückzugs' (4.1.2.b5) ein, nämlich den Blick auf die Zukunft.136 Im folgenden Beispiel wird kein Geburtstagsglückwunsch geäußert. Es zeigt aber noch einmal von einer anderen Seite her auf, wie stark die vom Small talk vorgegebene Funktion beim Thema Geburtstag in dieser Phase des Besuchs dominiert. Am Gesprächsende des Besuchs E l thematisiert der Besuchte den Blick in die Zukunft so, daß er auf den Geburtstagsbesuch im nächsten Jahr verweist. Die andere Perspektive der Seelsorgerin (man hatte vorher über eine mögliche Beteiligung des Besuchers mit einem Vortrag an einer demnächst geplanten Gemeindeveranstaltung gesprochen), klingt nur kurz an und wird dann wieder von ihr zugunsten der Geburtstagsperspektive zurückgenommen: 1315 1316 1317
S Ε
[S
E1
1319
[S
1321
[S
1323 1324 1325 1326 1327
E1
E1 E1 S E1 S E1
[1] eine gute Zeit, daß Sie das war's dann, bis zum nächsten Jahr um ja genau hahahahaha ha also ich hoffe daß wir uns früher sehen jaja aber zum Geburtstag ha jaja °h-m° tja gut alles Gute ne dankeschön
b) Der Geburtstagsglückwunsch ordnet sich in die von der Funktion des Small talk gestellten Aufgaben ein. Die dem Geburtstagsbesuch spezifische 136 In A3:613-620 wünscht der Seelsorger zum Abschluß eine schöne Geburtstagsfeier am Abend.
210
Gesprächsfigur ist eine, die sich gemäß den alltäglichen Funktionen von Gespräch verhält. Das ist auch nicht anders, wenn der Seelsorger oder die Seelsorgerin zu Besuch kommen. Nicht selten unterscheidet sich ihr Glückwunschverhalten überhaupt nicht von dem anderer Besucher. Sie benutzen die gewöhnliche Gesprächsfigur des Geburtstagsbesuchs. In anderen Fällen aber verwenden sie eine nicht so alltägliche Vokabel. Sie reden vom Segen. Der damit gesetzte Verweis auf religiöse Thematik (Gott als der implizite oder explizite Autor von Segen) wird uns später beschäftigen, wenn wir nach der Laientheologie und professionellen Theologie im Seelsorgegespräch fragen (6.3.1.). Vorerst geht es nur darum, wie sich die Rede vom Segen als Gesprächsfigur für Geburtstagsbesuche verhält. In unserem exemplarischen Gespräch C2, bei dem ja der gleiche Pfarrer wie in C1 den Besuch macht, lautet die Glückwunschpassage folgendermaßen: 6 S 7 C2 8 S 9 C2 10 [S C2 r S
Gottes Segen wünsch ich Ihnen, danke, für das Jahr das beginnt, dankeschön, Gott begleit Sie ( ) ja, das kann ich wirklich gut brauchen, ja, und so ein ein schönen ja ich hab den extra zuglassen, weil der nämlich extra noch mit einem Siegel versehen ist
Die Vokabel ist eine andere. Ihre Verwendung im Gespräch entspricht aber völlig den vorher behandelten Beispielen. Der Segenswunsch kommt hier als guter Glückwunsch parallel neben den Blumen zu stehen, nur daß diese als konkrete Handlungsobjekte noch mehr Aufmerksamkeit fordern bzw. die auch ergriffene Möglichkeit zum Ubergang auf die handlungsbegleitende Gesprächsebene bieten. Der Segenswunsch begegnet auch als Widmung für das mitgebrachte Buchgeschenk (Al:369f.). In einem anderen Fall erfolgt der Spruch des Seelsorgers „Gottes Segen und viel Kraft fürs neue Jahr" (Al:427) dann, als die Gläser eingeschenkt sind. Nach einer Trinkpause sagt darauf die Jubilarin: „[hustet] der kann kein Ärger machen das ist η Kräuterschnäpschen und er wird_ wie gehts Ihrer Familie" (Al:429f.). Der Segenswunsch wird hier also zum Trinkspruch. Der Segen des Pfarrers ist Small talk; er ist ein guter Glückwunsch, durchgeführt mit religiösem Sondervokabular. Inwiefern dieses religiöse Sondervokabular dann doch etwas anderes in die Gespräche einbringt, das wird - wie gesagt - später zu klären sein. Die religiöse Fassung des Glückwunsches ist labil: 709 710 711 713
S A3 S A3
ich wünsch Ihnen hm wirklich danke ja 211
714 715
718
S [A3 S Us A3
auch Gottes Segen ja ha ja so für die nächsten {Geburtstagszahl} wird nicht reichen wenn (ich) mit noch so viel Segen aber naa na das ist auch nicht nötig haha
Zunächst hebt hier der Pfarrer seinen Wunsch vom üblichen Gerede ab. Was er wünscht, wünscht er „wirklich" (711). Dies allein löst schon den höflichen Dank aus, ganz abgesehen vom erst folgenden Inhalt der Aussage des Pfarrers: „danke ja" (713). Mag die gesteigerte Wirklichkeit sich auf die Intensität des Wunsches oder auf die Art des Wunsches (Gottes Segen) beziehen - in jedem Fall wird dadurch wie durch die Betonung hervorgehoben: um Segen in seinem qualifizierten Sinne, nämlich um den von Gott gewährten Segen geht es. Trotz der Beschwörung der Besonderheit wird sie aber sogleich vom Pfarrer selbst wieder zurückgenommen. Es erscheint der Segen nun nämlich als etwas, das „nicht reichen" wird; selbst „noch so viel Segen" genügt nicht (715f.). Damit ist der Segen aber in den Wunsch auf möglichst langes Leben überführt. Eine Besonderheit hat er gerade nicht; er unterliegt den gleichen Bedingungen wie sonstige gute (irreale) Wünsche: sie reichen nicht, um das Erwünschte herbeizuführen. Auf solch einen Segen/Wunsch der überlangen Lebensdauer kann die Besuchte denn auch verzichten: „das ist auch nicht nötig" (718). Man einigt sich stattdessen auf den Segen/Lebenswunsch „auch für die nächsten Jahre" (722), so der Pfarrer; „{Geburtstagszahl minus zwanzig} könnens schon noch sein" (730), so die Besuchte, oder - wie der Pfarrer meint - : „zwanzig dreißig Jahre" (731). In unserem exemplarischen Gespräch C2 ist es die Besuchte, die die religiöse Fassung des Glückwunsches abdrängt: 1558 1561
jS C2
Gott behüt Sie ja ( ) und ich hoffe daß ich Sie nicht so schnell in Anspruch nehmen muß. [S okay, das wünsch ich Ihnen auch, auf jeden Fall. C2 gell danke,
Die Besuchte will mit dem Segensüberbringer möglichst lange nichts mehr zu tun haben, weil er zugleich der Vollzieher des Todesrituals ist, der auf ihrer Beerdigung die Ansprache halten soll. Auf die Äußerung des Segens hin erfolgt die geradezu apotropäische Aussage, daß der Segensüberbringer möglichst nicht so bald wiederkomme - eine fast komische Situation. Der Pfarrer läßt sich darauf ein und akzeptiert die Korrektur durch die Besuchte - man wünscht sich ja schließlich zum Abschied Gutes. Glückwünsche als verpflichtender Small talk - das ist die spezifische Gesprächsfigur des Geburtstagsbesuchs. Auch wenn Seelsorgerinnen und Seelsorger ihre Besuche machen, bleibt es dabei. Auch deren Glückwünsche sind Small talk. Die Modifikation dieser Figur durch ein Vokabular, das dem religiösen Repertoire zugehört, hebt diesen Sachverhalt nicht auf. 212
Das Gespräch im pastoralen Besuch ist ein Alltagsgespräch. Es erweist sich als Alltagsgespräch darin, daß eine potentielle Gleichheit beider Seiten vorausgesetzt wird. Das realisiert sich nicht nur in unausgesprochenen alltäglichen „Hintergrunderwartungen" 137 . Im Moment zwar ist die eine Seite Gastgeberin und die andere Seite Besucher; während des Gesprächs, in dem die Seelsorgerin auftritt, ist es nun eben der Besuchte, der Geburtstag hat und nicht umgekehrt. Die Mittel jedoch, die wir bislang vorgestellt haben, mit denen ein solches Gespräch zum Geburtstag bewältigt wird, sind Mittel des alltäglichen Gesprächs. Sie verteilen zwar Rollen (die der Sprecher- und der Hörerseite, der Gastgeberin und des Besuchers), aber sie rekonstruieren im Gespräch diese Rollen nur so, daß sie ein bloß situatives Element der Einzelsituation darstellen. Es könnte jederzeit auch anders sein. Wer zuhört und wer spricht, wer wen nach seinem Befinden fragt, wer sich bei wem bedankt, das alles bleibt offen. Insofern ist gerade die flüchtige Form des Darstellungsaushandelns diejenige, die die Gesamtheit des Gesprächs unter den Bedingungen des Alltags am deutlichsten charakterisiert: Gespräch ist Austausch auf Gegenseitigkeit. Wenn der Pfarrer oder die Pfarrerin zu Besuch kommen, trifft man sich von gleich zu gleich - jedenfalls darin, wie gesprächsweise miteinander umgegangen wird. Daß auch unter Christen die Begegnung eine von gleich zu gleich sei, behauptet die These vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen. Das Gesprächsverhalten, das wir erhoben haben, demonstriert die anthropologische Plausibilität der These unter den Bedingungen der gegenwärtigen alltäglichen Gesprächskultur. Wenn sie denn stimmt, die These vom allgemeinen Priestertum, dann müßte sie im Gespräch eine ganz besonders deutliche Bewährung finden. Diese Gemeinsamkeit von theologischer These und alltäglicher Gesprächskultur bedeutet zugleich: Theologisches und professionell gefärbtes Gesprächsverhalten kann auch leicht in die alltägliche Gegenseitigkeit überführt werden, wie bemüht auch immer es sich davon abzusetzen versucht. Das Institut des Geburtstagsbesuchs erweist sich als so fest in der Alltagskultur verankert, daß diese Option verhältnismäßig leicht zu begehen ist. Schon in einem der frühen literarischen Stücke, das die bürgerliche Geburtstagskultur karrikierend darstellt, wird dieser Vorgang in Szene gesetzt. Unter den Besuchern findet sich auch der Vetter der Gefeierten, ein „Kandidat" der Theologie namens „Monsieur Finsterling". Er beginnt folgendermaßen: „Da der gütige Himmel sie heut schon zum neun und zwanzigstenmal ihren Geburtstag erleben läßt; so erinnert mich meine Schuldigkeit ihnen an diesem Jahrstage demüthig zu gratuliren, von Herzen wünschend, daß ihnen der gütige Himmel diesen glorreichen Tag noch unzählbare Jahre erleben lassen, ihnen alles 137 Vgl. W.PATZELT, Grundlagen der Ethnomethodologie, 1987; 56-59.
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dem Leib und der Seele Ersprießliches geben, und endlich nach diesem zeitlichen, den ewigen Frieden verleihen möge: und weil ich in dieser Welt, die ich zu verlassen Willens bin, für nichts thun kann: so werde ich täglich in _ ,,138 In diesem Moment ergreift die Besuchte die ihr offenstehende Möglichkeit und definiert die pastorale Rede als Small talk: „ich danke ihnen mein lieber Vetter! ich weiß, daß sie es gut meynen." 139 An den Segenswünschen zeigt sich, wie prekär die religiöse Modifikation ist. Die Differenzen, die sich hier auftun, sind anderer Art als die alltäglichen Differenzen verschiedener Personen oder Alltagsrollen. Es sind Differenzen, die durch die Anwesenheit einer professionalisierten Seite bedingt sind und dadurch, daß diese professionalisierte Seite der Welt der Religion zugehört. Wie unter den Bedingungen des Alltags und mit welchen Mitteln, die der Alltag bereitstellt, diese Konstellation bearbeitet wird, das sollen die beiden folgenden Kapitel zeigen.
138 F.V. HEUFELD, Der Geburtstag. Ein Lustpiel, 1769; 51. 139 Ebd.
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KAPITEL 5
Geburtstagsbesuch als institutionelles Gespräch
Das Alltagsgespräch geht von der Reziprozität der Gesprächspartner aus. Handlungsbegleitende Dialoge, Small talk und Darstellung stehen beiden Seiten gleichermaßen offen. Beide Seiten können in gleicher Weise einander Darstellung gewähren, die Darstellung des Gegenübers bestreiten oder sie miteinander aushandeln. Die Rollen beider sind zwar in der Situation des Besuchs leicht differenziert, wie sich vor allem zum Eingang und Schluß des Gesprächs zeigt. Aber sie sind potentiell austauschbar. Identität der Rollen besteht hinsichtlich der Interaktionsformen der Darstellung; deren Regeln gelten für beide Seiten absolut gleich. Doch die Geburtstagsbesuche, von denen die Transkripte hergestellt wurden, sind Besuche, die von einer bestimmten Organisation (der Kirche) durch bei dieser Organisation beruflich Tätige (Pfarrerinnen und Pfarrer) durchgeführt werden. Der pastorale Geburtstagsbesuch ist eine institutionelle Veranstaltung. Was dies bedeutet, darüber besteht in den theoretischen Deutungsmustern der Institution selbst schon wenig Einigkeit (siehe 3.1.2.); zudem ist nicht gesagt, ob die Objekte des professionellen Handelns dies nicht noch einmal ganz anders auffassen. Der institutionelle Charakter des Geburtstagsgesprächs soll hier durch Gesprächsanalyse rekonstruiert werden. Inwiefern verhalten sich die Teilnehmer selbst anders als im Alltagsgespräch und stellen damit den institutionell bedingten Rahmen im Gespräch noch einmal in modifizierter Form selbst her? Es wird sich zeigen, daß es trotz identischer Interaktionsformen beim Umgang mit ihnen bestimmte Präferenzen gibt. Unter den Möglichkeiten, die alltäglich gegeben sind, wird in bestimmter Weise ausgewählt. Das institutionelle Gespräch bekommt damit ein typisches Gefälle, in dem es sich von informellen Alltagsgesprächen unterscheidet.
215
5.1. Rollentypische
Interaktionspräferenzen „und wie geht's Ihnen denn so?" (Pfarrerin, Bl:71)
5.1.1. Darstellungsinduzierer Im Gespräch C2 sagt Frau Cordes nach einer kurzen Gesprächspause von zwei Minuten: „jetzt erzähln Sie mir von {C-}-Land η bissl was!" (628). Damit veranlaßt sie, daß ein neuer Gesprächsteil beginnt. Sie gibt einen relativ weit formulierten - Gegenstandsbereich an, der Erfahrungen des Gegenübers betrifft, und fordert den Besucher auf, mit einer Darstellung seiner Erlebnisse zu beginnen. Solcherart Darstellungsinduzierer finden sich in Alltagsgesprächen. Jeder der Gesprächspartner kann sich ihrer bedienen, um das Gespräch in eine bestimmte Richtung zu lenken. In diesem Fall erfolgt eine ausführliche Darstellung der Reise, und die Situation der Armut dort im Gegensatz zum Leben hier wird miteinander besprochen (628-841). Die Frage nach der Urlaubsreise tauchte schon in der Small-talk-Phase zu Beginn des Gesprächs auf: „=haben Sie η schönen Urlaub ghabt oder?" (184; vgl. 205f.). Man kann darüber spekulieren, ob Frau Cordes besonders an Urlaubsschilderungen interessiert sein mag. Sicher ist, daß die Thematik in der Phase des Small talk dessen Funktion erfüllt: Sie demonstriert das positive Interesse der Gastgeberin am Besuch. Wenn die Frage später noch einmal auftaucht, dann regiert diese Funktion nicht mehr so durchschlagend wie beim Small talk. Dennoch bleibt im Horizont: Eine gute Gastgeberin erkundigt sich nach dem Befinden ihres Gastes und wird auch ihm die Gelegenheit geben, von sich zu erzählen. Das gehört zum höflichen Stil alltäglicher Gesprächsführung. Noch ein zweites Thema induziert die Gastgeberin: „haben'S viel Ärger in so intern?" (C2:1106). Es beginnt damit eine Passage, die kurz bei diesem Thema bleibt (1107-1123), dann aber durch einen Bericht von Frau Cordes über eigene Ängste verdrängt wird. Auch dieses Thema hatte die Gastgeberin bereits zu Beginn des Gespächs angesprochen: „haben Sie soviel Arbeit wahrscheinlich immer gell das haben Sie" (289f.). Wieviel Interesse an der Arbeit des Pfarrers die Gastgeberin wirklich hat, mag im Dunkeln bleiben. Deutlich ist auch hier wieder der funktionale Horizont für die Situation des Gesprächs: Mit dem Darstellungsinduzierer erweist sich die Besuchte als kompetente höfliche Gespächspartnerin, gemessen an den Anforderungen eines Alltagsgesprächs. Weitere Darstellungsinduzierer von Seiten der Gastgeberin kommen in diesem Gespräch nicht vor.1 1 In den anderen Gesprächsaufnahmen finden sich immer wieder Darstellungs-
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Das Geburtstagsgespräch ist aber nicht einfach nur ein Gespräch zwischen zwei Personen in der Rolle des Besuchers und der Besuchten. Der Besucher kommt als einer, der in Ausübung seines Berufes das Gespräch sucht. Der Seelsorger bzw. die Seelsorgerin ist da zum Gespräch. Neben die Rolle .Besuch sein' tritt die professionelle Rolle. Was auch immer Besuchte und Besucher über die angemessene Rolle des Seelsorgers für Vorstellungen haben und Ideen darüber, wann Seelsorge vorliege und wann nicht - im Gespräch selbst wird von beiden gemeinsam das hergestellt, was Seelsorger(in)-Sein de facto ist. Die seelsorgerliche Rolle wird darin reproduziert, welche vom Alltagsgespräch abweichenden Phänomene sich im Gespräch zeigen. Im Umgang mit Darstellungsinduzierern treten die ersten institutionellen Besonderheiten als Besonderheiten der Gesprächsführung selbst auf. Die professionelle Gesprächsführung verwendet mit den Gesprächsinduzierern ein Mittel, das aus der Alltagswelt stammt. Jeder kompetente Gesprächspartner wird auch für sein Gegenüber das Interesse so zeigen, daß er bzw. sie Darstellungungsinduzierer anbietet. Das ist zunächst nichts Institutionenspezifisches. Wie die Besuchte nach Arbeit und Urlaub fragt, so fragt der Besucher nach der Geburtstagsfeier und dem Ergehen der Familie. Es gehört sich so und ist Teil der alltäglichen Gewährung von Darstellung und des Darstellungsaushandelns (vgl. 4.2.1.b u. 4.2.3.a). Im exemplarischen Gespräch C2 ist der Pfarrer sehr sparsam mit Darstellungsinduzierern. Einmal, noch in der Phase des Small talk, fragt er: -wie war der Geburtstag" (387). Ein anderes Mal sagt er: „wie lange ist jetzt ihr Mann tot?" (573). Die Besuchte beantwortet die Frage und erzählt die Sterbegeschichte des Mannes, man bespricht dann ihre Situation als Alleinstehende (574-626). So zeigt sich auch in diesem Gespräch die Professionalität des Seelsorgers. Auch hier wird die institutionelle Fassung des Gesprächs reproduziert. Diese These mag als etwas gewagte Interpretation erscheinen. Sie bedarf der Explikation und der Belege. Zunächst will ich sie noch etwas weiter erläutern: Darstellungsinduzierer als professionelles Mittel dienen dazu, die Menge an Darstellung des Gegenübers zu erhöhen, und sie dienen dazu, Darstellungen zu bestimmten Bereichen zu evozieren, also die Gesprächsthematik zu steuern. Zugleich vermindert die sprechende Person damit ihre Chance, eigene Darstellungen zu äußern. Sie zeigt sich sowohl mit dieser geringeren Menge von Darstellung auf ihrer Seite als auch der Thematik zufrieden, über die gesprochen wird. Das Gespräch soll vor allem der Besuchten die Gelegenheit zur Darstellung geben. Daß dies das Ziel ist, wird sich weiter belegen induzierer von selten der besuchten Personen, z.B. Al:430; A2:133-41; besonders häufig bei Frau Fink: Fl:46. 51. 54. 383. 385. 391. 442. 1126. 1128. 1131f. 1168. 1172. 1175. 1184. 1204. 1259f. 1365. 1369-1372. Sie stellt in der Regel sehr enge Informationsfragen.
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lassen, wenn wir auf die professionelle Präferenz für eine Methode stoßen, zu ausführliche eigene Darstellungen aktiv zu verhindern (siehe 5.1.2.). Auch die thematisch steuernde Funktion der Darstellungsinduzierer scheint der Seelsorger in C2 nicht einzusetzen zu brauchen. Derselbe Seelsorger aber macht von ihr in einem anderen Gespräch (Cl) Gebrauch. Nachdem dort die Besuchte über die Flüchtlinge schimpft, benutzt er das mit ,gell' markierte Turn-Ende seines Gegenübers, um die Frage zu stellen: „wo sind Sie denn her?" (Cl:162). Als Frau Class eine Geschichte von jemandem aus dem Hause als Beleg für Sozialhilfemißbrauch erzählt, schließt der Seelsorger ab und lenkt auf ein neues Thema: „m a ich kenn die Zusammenhänge nicht, ach erzähln'S mir von Ihnen Frau Frau { C l } wie war denn der Geburtstag?" (Cl:263-265. 267). Noch an fünf weiteren Stellen lenkt der Seelsorger das Gespräch von allgemeinerem Lamentieren über die schlechten Zeiten und böse Menschen zurück auf die familiäre Situation der Frau. 2 Daß die Besuchte nur möglichst ausführlich zu Wort kommt, reicht also nicht aus; es geht dem Seelsorger auch darum, womit sie zu Wort kommt. Er ist wenig an allgemeinen Zeitanalysen interessiert; sein Gesprächshandeln gilt vielmehr dem Erleben, das auf die Person der Besuchten bezogen ist. Anders stellt sich die Lage beim Gespräch B1 dar. Frau Brix ist ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Gemeinde. Man nimmt ein gemeinsames Abendessen ein. Die Situation ist uneindeutig darin, ob die Besucherin als Seelsorgerin oder als Freundin da ist. Nach einigen kürzeren Gesprächsthemen zu Anfang der Aufnahme und als man gemeinsam am Tisch sitzt, ergreift die Besucherin nach einer längeren Pause, die entstanden ist, die Intiative: 71 72
S B1
74
B1 . ^S B1 S B1 S B1
77 78 79 80 81
[8] und wie geht's Ihnen denn so? danke es geht, es geht [2] hhm ha,ha ( ) haha, fühlt sich natürlich doch pudelwohl, hahaha kann ich nur sagen nicht? muß, oder? [leise:] ach+ [lachend:] h-m+ ne es geht schon, irgendwo zähl ich mir denn auch wieder an den Fingern ab ...
Zunächst antwortet die Besuchte auf den Darstellungsinduzierer mit einem höflichen Allgemeinplatz. 3 Indem die Seelsorgerin einen zweiten Indu-
2 Cl:355. 423. 486. 570. 692. 3 Zu Allgemeinplätzen siehe F.COULMAS, Routinen im Gespräch, 1981; 62-65.
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zierer nachschiebt („muß, oder?"; 78), verhält sie sich im Rahmen der konversationeilen Routine. Ihr Gegenüber beginnt darauf mit einer ausführlichen Darstellung. Auch später steuert die Seelsorgerin immer wieder das Gespräch nach längeren Pausen. Nach einer 17 Sekunden langen (Eß?-) Pause sagt sie: „was tun Sie eigentlich so für sich" (B 1:421). Nach einer 18-Sekunden-Pause setzt die Seelsorgerin so an: 688
690
692
694 695
r
s
B1
[S
B1 S B1 S
ich hab heut mit der Frau Schulze wo ich ja
dieses schöne Blümchen kaufte wieder mal über h-m h-m über die Vergänglich[lachend:]keit geredet wie schnell+ die Zeit vergeht, h-m und daß der Januar schon wieder rum ist und [2]
697 698 699 700
B1 es ist nbissl manchmal zum Erschrecken nicht? S = ja B1 h-m, ja, S und da dacht ich eben auch wie's Ihnen wohl geht, wie lang sind'n Sie jetzt schon pensioniert?
Unter didaktischen und therapeutischen Gesichtspunkten ist diese Darstellungsinduktion schlecht formuliert, weil sie an die offene Frage eine geschlossene anhängt. 4 Dennoch erreicht sie ihr Ziel: Darstellung von Seiten der Besuchten. Die Besuchte nennt kurz den Zeitpunkt ihrer Pension, führt dann aber weiter aus, wie es ihr inzwischen so ergeht (Bl:702ff.). Das Interesse an der Person des Gegenübers ist nicht unbedingt identisch mit dem persönlichen Interesse. Wenigstens gehören bestimmte persönliche Interessen in das professionelle Gespräch ,eigentlich' nicht hinein. Das zeigt sich an einer Stelle, wo der Seelsorger wissen möchte, wie es sich mit den zwei verschiedenen Namen auf den Firmenwagen verhält, die der Mann von Frau Arndt benutzt. Er markiert dieses persönliche Interesse als deutlich aus seiner Rolle herausfallend mit der Bemerkung: „äm nebenbei gefragt ( ) offiziell ist das ja {Name 1}" (A3:550f.). Es gibt demnach einen Bereich, der sich von den persönlichen Interessen unterscheidet: dasjenige, was der Seelsorge an professionellem Einsatz von sich gefordert weiß. Dieser Bereich dominiert und macht das persönliche Interesse zum „nebenbei". Zu Beginn eines anderen Gesprächs hatte die Gastgeberin den Pfarrer nach seiner Arbeit gefragt. Dann sagt dieser plötzlich: „aber ich wollte ja zu Ihnen kommen wegen dem Geburtstagsbesuch, haben Sie schön gefeiert am Sonntag" (Al:69f.). Das „zu Ihnen kommen wegen dem Geburtstagsbesuch", seine professionelle Aufgabe, beinhaltet offensichtlich etwas ande-
4 Anders in B l : 2 8 5 , w o die Seelsorgerin eine offene Frage stellt: „wie haben Sie sich eigentlich das so vorgestellt". A l : 2 6 3 : „Sie wohnen ja schon ewig lang hier".
219
res als das, was sich vorher im Gespräch ereignete. Der Pfarrer grenzt sich dagegen ab („aber") und führt sogleich das aus, was er als seine Aufgabe sieht, nämlich selbst einen Darstellungsinduzierer zu starten, der der Besuchten Gelegenheit gibt, von sich, nämlich ihrem Geburtstag, zu reden. Darstellungsinduzierer sind ein alltägliches Mittel der Gesprächssteuerung, das von beiden Seiten im Gespräch beim Geburtstagsbesuch verwendet werden kann. Es liegt aber eine institutionell bedingte Präferenz für solche Induzierer auf Seiten der Inhaber der professionellen Rolle vor. Sie steuern damit das Ubergewicht an Darstellung durch die besuchte Person und die Thematik der Darstellung in Richtung auf personengebundenes Erleben ihres Gegenübers. 1106 C2 haben'S viel Arger so intern? 1107 S na. 5.1.2.
Darstellungsreduzierer
Daß das Gegenüber ein Ubergewicht an Darstellung erlangt, läßt sich auch durch eine zweite Präferenz erreichen, nämlich die eigene Darstellung zu reduzieren. Auch dies ist eine Handlungsmöglichkeit, die zum Alltagsrepertoire der Gesprächsführung gehört. Im letzten Abschnitt hatten wir es schon mit einem Beispiel zu tun, wo die Besuchte auf den Darstellungsinduzierer zurückhaltend reagiert. Auf die Frage, wie es ihr denn gehe, antwortete Frau Brix „danke es geht, es geht" (Bl:72), man „fühlt sich natürlich doch pudelwohl, kann ich nur sagen nicht?" (75.77).5 Solche summarische Beantwortung von Induzierern findet sich aber vor allem auf der professionellen Seite. Im exemplarischen Gespräch C2 antwortet der Seelsorger auf die Frage nach der vielen Arbeit: „ja es ist es ist randvoll" (291), und damit ist bis auf eine Bestätigung der Antwort durch die Fragestellerin („ja das glaub ich") das Thema und seine Darstellung durch den Seelsorger schon abgeschlossen. Als ziemlich am Anfang des Gesprächs der Seelsorger nach dem Urlaub gefragt wird, antwortet er ebenfalls so allgemein wie nur möglich: „ach ich war in {C-}Land Frau {C2}" (C2:185). Die Fragerin demonstriert Interesse: „das ist ja interessant" (186). Dem Pfarrer fällt aber nun ein, daß er ja noch ein zweites Geschenk für die Gastgeberin dabei hat. Damit ist das Thema wieder verlassen. Auf eine andere Frage der Besucherin nach dem internen Arger antwortet der Seelsorger zunächst ganz kurz. Dann nimmt seine Darstellung aber doch etwas mehr Raum ein: 5 Frau Fink verbindet einmal den Darstellungsreduzierer bezüglich sich selber mit einem Darstellungsinduzierer hinsichtlich ihres Gegenübers: „ja also Herr {S} jetzt hab ich Ihnen (immer erzählt) jetzt möcht ich mal von Ihnen hören" (Fl:1125f.).
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1106 C2 1107 S 1108 [C2 S 1110 [S C2 1112 S 1113 [C2 S 1116 1119 1120 1121 1122 1123
haben'S viel Ärger in so intern? na. nein darf man nichts sagn. nein, nein das läuft gut. nein drum drum gehts mir auch gut weil äh ja soviel Ärger hab ich auch wirklich net. ja, ja. ja [1] S es gibt schon bedrückende Dinge so so Besuche jetzt bin ich grad im Krankenhaus gewesen in sagt Ihnen ja in der {0-}Klinik, C2 ja, S = und wissen'S was ma da so so mitkriegt jetzt äh C2 furchtbar S = äh ja und was die erzählt_ was man da erzählt kriegt rS äh des sind schon schlimme Sachenn C2 des ist ja a u c h J wenn ma_ also mir wird Angst wenn ich amal ins Krankenhaus muß,...
Der Seelsorger versucht zunächst die kürzeste Antwort, die den Arger einfach für nicht existent erklärt; dann holt er doch noch etwas weiter aus. Aber auch hier bleibt seine Darstellung kennzeichnend allgemein („schon schlimme Sachen"; 1123). So bietet er Frau Cordes an, selber nun eigene Konkretionen zu liefern, was sie denn auch tut. Damit liegt das Darstellungsschwergewicht wieder auf Seiten der Besuchten. Bisweilen ignorieren die Seelsorger überhaupt die ihnen gestellte Frage zur Darstellungsinduktion. Frau Brix hat davon berichtet, wie stark doch Überraschungen den Tagesablauf bestimmen können. Dies weitet sie nun so aus, daß damit durchaus die Seelsorgerin angesprochen sein könnte. Doch diese läßt die ihr angebotene Darstellungsmöglichkeit einfach verstreichen: 568 570 571 572
B1 = nicht? ich mein Sie können sich das noch so schön ausgedacht haben dann ruft jemand an, will was, S ja B1 bums ist das anders nicht? S hm hm [3]
Ein paar Minuten davor hatte die Seelsorgerin von sich aus kurz über ihren Streß im Beruf gesprochen und mit dem Satz geendet: „jetzt mach ich das Wochenend erst mal frei: kann überhaupt nicht mehr kucken im Moment, ah das war furchtbar" (Bl:410f. 413). Frau Brix versucht, das Gespräch weiter bei der Thematik der Seelsorgerin zu halten, doch die Seelsorgerin nimmt sich wieder ganz zurück:
221
[4] 415 416 417
B1 S B1
419
S
das ist son bißchen dieses ich kann immer, nee gibt Leute die haben besser gelernt mal nein zu sagen ne? hm [17]
Auch bei der Darstellungsreduktion handelt es sich um ein alltägliches Mittel der Gesprächssteuerung, für das die Professionellen eine rollenspezifische Präferenz zeigen. „ich denk es ist immer genau die die Gradwanderung die jede Beziehung Partnerschaft äh aushalten muß" (Pfarrer, A3:218f.)·
5.1.3. Darstellungsqualifizierer Durch Darstellungsinduzierer erhöht die professionelle Gesprächsführung das Quantum an Gesprächsbeiträgen des Gegenübers. Den gleichen Effekt erzielen die Darstellungsreduzierer, weil sie ein zu hohes Quantum an eigenen Darstellungen vermeiden. Auch für die inhaltliche Steuerung gibt es neben den Darstellungsinduzierern ein weiteres Mittel: die Darstellungsqualifizierer. Diese setzen ebenfalls bei alltagssprachlichen Vorgängen an. Wir hatten schon beim Small talk die emphatische positive Kommentierung kennengelernt (4.1.2.a) und das gegenseitige Aushandeln dessen, was dargestellt wird (4.2.3.). Der Kommentar in Small-talk-Manier demonstriert allerdings bloße Übereinstimmung, und das gegenseitige Aushandeln ist ein Mechanismus, der bei jeder Art von Inhalten angewendet werden kann. Die Darstellungsqualifizierer hingegen stellen sich zu dem Dargestellten in einer spezifischen Weise. Mit ihnen blickt die sprechende Person auf einen dargestellten Vorgang zurück und verhält sich reflexiv zu dem Dargestellten: Ein Sachverhalt wird in einer eigenen Sprachhandlung als etwas qualifiziert, als das sich dieser Sachverhalt noch nicht von vornherein bei seiner Darstellung zeigte. Eine Wahrheit, die in ihm steckt, kommt zum Vorschein. Wie das geschieht, das wird sich an den Beispielen zeigen. Die derartige Qualifikation von Darstellungen ist eine Verhaltensmöglichkeit in alltäglichen Situationen. Sie wird in der bürgerlichen Reflexionskultur kultiviert. Unter den Besuchten zeigt Frau Brix das entsprechende Verhalten besonders ausgesprägt: 235
fS
B1
222
[Stöhnen] [Stöhnen] und manchmal eh m u ß ich mir ganz klar sein, manchmal kommt halt η bißchen viel
lS
240
B1
auf einen Schlag über einen. hm und man hat das nicht gewollt und kann das aber auch gar nicht verhindern nicht?
Ein weiteres Beispiel: 552
B1
554 555 556
S (B1 B1 , LS
mir kommt einfach immer wichtig vor daß man nicht gegen sich arbeitet. °hm genau' ) also nicht sich rennen abverlangt zu einer Tageszeit w o man nicht möchte oder so nicht? hm [2]
560 562
[B1 S B1
566 567
B1 S
aber, das ist auch schon η bißchen Luxus den hm man sich in meiner trostlosen Situation zulassen kann n? man man ist ja doch sehr stark von Überraschungen im Tageslauf [2]
programmiert. hm
Beim dritten Beispiel springt die Seelsorgerin mit einer expliziten Darstellungsunterstützung bei: 209 212
B1 [• S . [ B1
und das ist hier äm immer ein Schwieriges nun, daß man das nicht gern möcht, man möcht den anderen gern so w i e er lieb und ja so w i e er immer war oder w i e er irgendwann mal war. ja
Die subjektive Erfahrung stellt sich der Reflexion als verallgemeinerbar dar. Das, was zuvor dargestellt worden war, erscheint mittels der Darstellungsqualifizierer als etwas, das sich mit anderen Fällen zusammen gruppieren läßt: ,manchmal', .irgendwann' oder ,immer' geschah und geschieht Vergleichbares. Das, was ein Subjekt erlebte, ist etwas, das ,man' erleben kann. Bei Seelsorgegesprächen benutzt eine Seite, nämlich die professionelle, solcherart Qualifizierer häufiger als ihr Gegenüber. Darüber hinaus ist dann das Objekt, über das reflektiert wird, in der Regel nicht die eigene Darstellung, sondern die des Gegenübers. Hier sind einige Beispiele dafür, wie Seelsorgerinnen und Seelsorger Darstellung reflexiv qualifizieren: „ich find's toll wenn man sich da gegenseitig auch insoweit freigeben kann" (A3:211f.); „das ist halt denk ich mir die Frage wie ich dann was ich mit meiner Zeit anfange" (A3:274f.); „a des is schon e schwierige Situation obwohl mer ja oft genug weß dasse auch uff (des End) warten" (Dl:12f.); „ich denk daß es e Stück die Verarbeitung von der Trauer ist" (Dl:307f.); 223
„schaun Sie da ist doch 'n bißchen was von der Schauspielerin dann" (Fl:933f.). Über die Darstellung des Gegenübers wird in einer bestimmten Weise reflektiert. Der verallgemeinernde Vergleich geschieht nicht so, daß der Darstellung des Gegenübers eine eigene unabhängige andere Darstellung entgegengesetzt wird. Auch wird an jene Darstellung des Gegenübers nicht einfach nur etwas kommentierend angefügt. Mit ihrem reflexiven Beitrag greift die qualifizierende Person im Gespräch in das zuvor Dargestellte ein. Sie macht etwas anderes aus dem, was doch zuvor ihrem Gegenüber gehörte. Wird das Gegenüber die Verwandlung mitvollziehen? Wird es seine Darstellung noch in dem wiedererkennen, zu dem es durch die Qualifikation gemacht wurde? Im folgenden Beispiel wird diese Qualifikation sofort vom Gegenüber ratifiziert durch Wortwiederholung und Wechsel zum ,man'; das wird seinerseits vom Seelsorger noch einmal durch einen Vergleich erweitert. Eine gemeinsame Reflexion ist gelungen: 186
S
also das heißt Sie sind auch richtig angebunden find ich. A3 so man ist angebunden, es ist ja so: rS = fast so wie mit Kind sag ich mal, ha A3 jetzt r
189
Ein anderes Beispiel: Die Besuchte hat zuvor ausführlicher davon berichtet, daß ihr Mann und sie je verschiedene Hobbies haben. Darauf nimmt das Gespräch folgende Wendung: 218
S
221
A3 S
224
A3 5 l A3
ich denk es ist immer genau die die Gradwanderung die jede Beziehung Partnerschaft äh aushalten muß: m ja einerseits möglichst viel Freiräume geben zu e dem anderen zu geben und andererseits ha noch ein ein Mindestbestand an gemeinsamen Sachen zu haben. ja ( ) ja damit es eben kein Auseinanderleben wird, das ist dann ja immer die Gefahr natürlich irgendwann auch. ja [2]
229 230
S [hustet] A3 =ja [leise:] ( ) das Gemeinsame das ist schon wichtig daß man das hat, jA3 nein+ S ja
235
S A3
224
[6]
wobei es manchmal dann wieder auch schwer fällt genau zu sagen was das Gemein[lachend:]same ist+ ja
238
S
240
A3
248
A3
[wieder ernst] ja ich denk allein das Zusammengehörn das ist ja auch schon η ganz Wichtiges, daß man einfach: ja ja und vor allem wenn die Kinder noch da sind das ( ) natürlich auch noch, aber wenn die weg sind dann_ hab ich mir auch schon überlegt jetzt in der letzten Zeit wenn die Jüngste jetzt auch aus dem Haus ist, der ganze Tag der: das ist irgendwie man ist den ganzen Tag allein, ob einem da nicht ( ) die Wände auf den Kopf fallen. [2]
, L
252
S A3
es es ist ne Umstellung, wenn der Mann denn abends kommt ist schön aber der hat dann so seine Arbeit hinter sich ist k.o., ja so viel Ansprache ja hat man denn auch nicht,
Das Beispiel zeigt, wie zunächst die verallgemeinernde („immer genau", „jede") Qualifikation durch den Seelsorger von Frau Arndt nur reduziert aufgenommen wird: In Z. 230-232f. spricht die Besuchte auffallend leise; sie bejaht sie nur bedingt („schon wichtig"). Ein Gesprächsfortgang nach der längeren Pause wird vom Seelsorger erreicht, indem er seine Qualifikation noch einmal modifiziert. Daran schließt sich dann die Besuchte so an, daß sie die Darstellung ihrer konkreten Situation in eine Richtung fortführt, die gerade wieder aus der Subsumierung des Seelsorgers herausfällt. Darstellungsqualifizierer, die sich auf die Darstellung des Gegenübers beziehen, sind gesprächstechnisch riskante Vorgänge! Der Seelsorger des Gesprächs C2 verwendet Darstellungsqualifizierer nur ganz selten und sehr vorsichtig. Als die Gastgeberin davon erzählt, daß eine jugoslawische Nachbarin ihre Kinder besser als manche deutsche Mutter erziehen würde, fährt der Seelsorger fort: 879 881 882 883 884 886
S C2 Is C2 S C2
hm, hm, und da gibts Leut, und da gibts Leut die sagen Ausländer raus gell, ja, eben, ja ne des ist wenn ma wenn man Kontakt hat mit solchen ja ja dann äh sieht man des ganz anders,
Hier erfolgt die Verallgemeinerung zunächst so, daß die Darstellung durch ihre Qualifikation ein besonderes Gewicht bekommt, indem sie als immun gegenüber anderen kontrastierenden Verhaltensweisen erscheint. Was andere denken, soll diesmal gerade nicht von Bedeutung sein. Es gilt das Dargestellte vielmehr deshalb, so will der reflexive Gedankengang weiterführen, weil hier wie in anderen Fällen „man" eben mit Ausländern Kontakt hat. Die Besuchte aber verarbeitet das Gesagte nicht auf der 225
reflexiven, sondern der konkreten Ebene. Sie fährt fort: „ich versteh mich gilt mit ihr mit der Frau" (887).' Darstellungsqualifizierer kommen zwar auch in alltäglichen Gesprächen vor. Reflexive Subsumierungsleistungen gehören zum orientierenden Verhalten. Wie diese Subsumierungen geschehen, das allerdings ist sehr variabel. Unter den Besuchten verwenden einige (Frau Brix, Frau Fink) deutlich häufiger elaborierte Darstellungsqualifizierer, andere (Frau Ammer) so gut wie gar nicht. 7 Hier dürften persönliche, schichten- und kulturabhängige Faktoren eine Rolle spielen.8 Bei denen auf der professionellen Seite sind Darstellungsqualifizierer schon aufgrund ihrer bürgerlichen Schichtenzugehörigkeit wahrscheinlicher. Die professionelle Rolle dürfte dies noch weiter verstärken. Dennoch: Sie kommen aber auch bei ihnen durchaus nicht ständig vor. Reflexion verlangt kulturelle, intellektuelle und kommunikative Kompetenzen. Die generalisierende Qualifikation muß erst einen gemeinsamen kulturellen Werte- und Deutehorizont reproduzieren. Solange klar ist, was ,man' tut und was sich gehört und was ,man' glaubt, klappt hier die Kommunikation von selbst. Ist das aber nicht der Fall - und für die Neuzeit ist kennzeichnend, daß dies eben nicht mehr einfach selbstverständlich voraus6 Vgl. eine andere Stelle in diesem Gespräch, wo der Seelsorger einen Sachverhalt als „schwer" (C2:1394) und als „harte Entscheidungen" (1395), an die „man" „dran hin" muß (1397), qualifiziert. Frau Cordes ratifiziert die Aussage zwar formal: „das stimmt" (1398); sie führt diese Ratifizierung aber dann aus, indem sie noch einmal den Vorschlag des Nachbarn wiederholt, den Pfarrer wegen einer Arbeitsstelle für die Tochter zu befragen. Andere Beispiele: A3:329. 402; Bl:119. 447. 7 So kann und/oder will sich die Besuchte im folgenden Beispiel nicht auf die abstrahierende Ebene begeben. Der Seelsorger qualifiziert ein Geschenk der Nachbarin, von dem die Rede war: „s'wieder so ein Zeichen dafür daß Sie doch nach den vielen Jahren wirklich hier dazugehören" (Al:485f.). Frau Ammer sagt darauf: „so isses so isses ja ich habe ä m m eigentlich viel Geschenke bekommen auch, ich bin so reich von Hubers die haben mir η großen Korb mit Ananas mit _ ich weiß nicht was das für ne Frucht ist" (487-490). Die Qualifizierung des Geschenks als Zeichen des Dazugehörens wird formal von Frau Ammer bestätigt. Ihr aber geht es um die vielen Geschenke, insbesondere um ein bestimmtes und um das merkwürdige Obst, das dazugehört. 8 Wie stark diese Faktoren wirken, ist umstritten. In den 60er Jahren wurde in den U S A das Profil des typischen Klienten als Yavis-Person (für young, attractive, verbal, intelligent, successful) herausgearbeitet. Für Unterschichtsangehörige werden dann weniger verbalisierte Therapieformen empfohlen (A.P.GOLDSTEIN, Strukturierte Lerntherapie. Ansätze zu einer Psychotherapie der sozial Benachteiligten, [1975]; 17-26). Diese soziale Typisierung der Gesprächsfähigkeit hält aber den tatsächlichen Sprachfähigkeiten der Unterschicht nicht stand. R.WODAK (Das Wort in der Gruppe, 1981) hat gezeigt, wie Unterschichtsangehörige zwar anderes Sprachverhalten (szenisches Sprechen statt reflexives) zeigen, aber an Lernfähigkeit und Verwendung dieses Verhaltens in therapeutischen Situationen mit positiven Effekten den Mittelschichtsangehörigen nicht nachstehen. Der eher unterschichtstypischen Verwendung des nicht-reflexiven Sprachtyps werden wir in 6.3.5. wiederbegegnen.
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gesetzt werden kann dann wird es zur kommunikativen Aufgabe, im Gespräch selbst Gemeinsamkeiten zu finden oder zu erarbeiten. Insofern die Gemeinsamkeit, wenn auch in einem reduzierten Maße, dennoch Voraussetzung von Gespräch bleibt und im Gespräch ein Ziel darstellen kann, läßt sich danach fragen, wie die kulturellen und intellektuellen Möglichkeiten der Artikulation von Gemeinsamkeiten aussehen. Dies wird uns in Kapitel 6 beschäftigen. Dort werden wir die kulturellen und intellektuellen Möglichkeiten herausarbeiten, religiöse Deutungen vorzunehmen. Objekte, über die man sich verständigt, stehen dann im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ebenso berechtigt und möglich ist es aber auch, nach den Subjekten zu fragen, mithin nach den kommunikativen Bedingungen von Generalisierungsvorgängen. Wie sehen sie unter den Bedingungen der Neuzeit, also der Normenpluralisierung, des Auseinandertretens von Subjekt und Objekt, aus? Wir haben gesehen, wie riskant Darstellungsqualifizierer für das Gespräch sind. Das Gegenüber kann darüber verstummen, oder es ignoriert die Qualifizierer mehr oder minder. Das kommunikative Gelingen der Darstellungsqualifizierung wird darum zu einer eigenen Aufgabe. Es bedarf eigener reflexiver und praktischer Anstrengungen, ein Auseinanderfallen der Deutungen beider Seiten zu verhindern. Generalisierungen sind ein kommunikatives Problem. Daß ein Gegenüber eine Generalisierung akzeptiert, daß eine Generalisierung tatsächlich auch eine Darstellung des Gegenübers adäquat trifft, daß das Deuten nicht sofort wieder konkretisierend neutralisiert wird, das ist nur sicherzustellen mit einer anderen Sprache, einer spezifischen, einer neuen professionellen Sprache. Die psychotherapeutische Gesprächstheorie und Gesprächspraxis handelt von einer solchen Sprache. Dort wird das ,man' und die direkte Verallgemeinerung als Sprachmöglichkeit ersetzt durch die therapeutische Sprache. In ihr finden die Mechanismen der Darstellungsinduktion, -reduktion und -qualifikation in solchem Ausmaß Anwendung, daß die Konventionen des Alltagsgesprächs merklich durchbrochen werden. Dieter Flader hat diesen Sachverhalt in der These zum Ausdruck gebracht, „daß das Spezifische der psychoanalytischen Therapiemethode - formuliert unter dem Blickwinkel der Konversationsanalyse - darin besteht, daß der Analytiker, gemessen an alltäglichen Situationen der Kommunikation, seine Kooperativität in der verbalen Interaktion mit dem Patienten kontrolliert .verlagert': Er reduziert besonders stark das Maß seiner Kooperativität in den Formen, die in alltäglichen Situationen zur Durchführung sozialer Interaktion unerläßlich sind (wie z.B. die Bereitschaft z u m Aufgreifen von Initiativen des Partners z u m Sprecherwechsel, die Bereitschaft z u m angemessenen Zuhören usw.); andererseits verstärkt er seine Kooperativität in den Interaktionen, die der Selbsterforschung des Patienten dienen." 9 9 D.FLADER, Die psychoanalytische Therapie als Gegenstand sprachwissenschaftlicher Forschung, 1982, 16-40; 35f.
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Nicht nur die Aussagen, die durch die für (psychoanalytische) Therapie typische Kommunikationsform ermöglicht werden, bringen den therapeutischen Prozeß voran. Die Spannung zwischen der Kommunikationsform selbst und der alltäglichen Kommunikationsweise wirkt in eben diese Richtung: „Der Patient sucht zu Beginn der Therapie ein archaisches Muster frühester wechselseitiger Befriedigung und die ihm vertraute Konventionsebene verbaler Interaktion. Er findet aber weder das eine noch das andere. Er wird in eine ,postarchaische' präkonventionelle Situation gebracht, in der er seine Wünsche frustriert sieht, aber auch seine gewohnten Kommunikationsmöglichkeiten als z.T. unbrauchbar erlebt. Das muß stark verunsichern und legt die Vermutung nahe, daß es spezifische, auf dieses analytische Setting gerichtete Bewältigungs- und Abwehrversuche geben wird, die (a) situationsspezifisch sind, (b) aber aus dem vorhandenen Arsenal des jeweiligen Patienten stammen, also dessen Erfahrungen mit jener post-archaischen Situation widerspiegeln." 10 „Die Entstehung des sog. , Widerstandes' des Patienten wird so als die Entstehung eines bestimmten Kommunikationskonflikts verständlich." 11
Die Psychoanalyse verschärft auch die Struktur der Darstellungsqualifikation. Wenn von therapeutischer Seite eine Deutung in das Gespräch eingebracht wird, die die erzählte Szene mit der Kindheit der Klientin bzw. des Klienten in Verbindung bringt oder mit der im Gespräch selbst realisierten Beziehung, dann wird eine Antwort gegeben, ohne daß von Klientenseite zuvor eine Frage gestellt worden ist.12 Indem von therapeutischer Seite diese Antwort auf eine selbst-explorative Frage gegeben wird, kommt es zu einer Spannung mit den alltagstypischen Kommunikationsmustern. Verstehen der Klient oder die Klientin sie aber als Antwort auf die alltagstypische Informationsfrage, dann wird sie zur Belehrung über ein Informationsdefizit; verstehen sie sie - in unserer Terminologie - als Darstellungsunterstützung, dann ist ihr Interventionscharakter unbemerkt geblieben.13 Erst in der Differenz zur Alltagskommunikation wird also die psychoanalytische Sprache therapeutisch wirksam. 14 10 D.FLADER/ W.-D.GRODZICKI, Hypothesen zur Wirkungsweise der psychoanalytischen Grundregel, 1982, 41-95; 69. 11 FLADER/ GRODZICKI 1982, 87.
12 D.FLADER/ W.-D.GRODZICKI, Die psychoanalytische Deutung und ihre Beziehung zur Alltagskommunikation, 1987, 39-56; 43. 13 FLADER/ GRODZICKI 1987, 49.
14 Gegen Flader/ Grodzicki hat S.STREECK (Die Fokussierung in Kurzzeittherapien, 1989) in einer empirischen ethnomethodologischen Studie die Gemeinsamkeiten von therapeutischem Gespräch und Alltaggsgespräch betont herausgearbeitet (49. 51. 71. 134f.). Diese umfaßt nicht nur die „vertrauten Prinzipien konversationeller Interaktion" (134), sondern besteht auch in der „eindeutigefn] Orientierung der Beteiligten an der normalen Abwicklung von Gesprächen" (135), bei der „nur partiell Abweichungen von den durch den Gesprächskontext hervorgebrachten besonderen Bedingungen zu
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Wie verhält es sich dann damit in den Gesprächen beim pastoralen Geburtstagsbesuch? Wie findet therapeutische Sprache hier Anwendung? Zunächst ist zur Beantwortung dieser Frage zu klären, wo der institutionelle Ort jener Besuche zwischen Alltag und Psychotherapie liegt.
„Kommunikation in einer Beratung findet im kollektiven Bestand von Alltagswissen statt. Eine Theorie von Beratung kann daher nur innerhalb - nicht gegen - diese Wissensbestände leben."15
5.2. Psychotherapie, Psychokultur und die therapeutischen Episoden in der Alltagsseelsorge Seelsorger und besuchte Person schreiben sich gegenseitig Rollen zu. Dies geschieht dadurch, daß ein Verhalten in der Interaktion selbst realisiert wird. Während die Besuchten dabei alle Formen alltäglichen Gesprächs weiterpflegen, nehmen die professionellen Gesprächspartner Gewichtungen vor. Mit Hilfe von Darstellungsinduzierern und -reduzierern bewirken sie, daß die Objekte ihrer professionellen Tätigkeit ungleich mehr Darstellungen abgeben als sie selbst. Mit Hilfe von Darstellungsqualifizierern verhalten sie sich reflexiv zu diesen Darstellungen und führen dem Gegenüber die Möglichkeit von Reflexionsgängen vor. Seelsorgerinnen und Seelsorger bedienen sich der Mittel bürgerlicher Reflexionskultur. Mit der Verwendung dieser Mittel bringen sie die bürgerliche Reflexionskultur auch selbst hervor. So bekommt das Gespräch Anteil an deren Widersprüchen und an den Interessen, die sich in den Widersprüchen manifestieren. Reflexion sistiert andere Handlungen. Sie kann dies so tun, daß sie gedachte Handlungen und Zustände ordnet, Phänomene einem bestimmten Deutungssystem (etwa einem religiösen) zuweist und die in ihm möglichen Wertungen abklärt (dazu siehe dann Kapitel 6). Reflexion kann ebenso dazu dienen, daß das Subjekt sich den mit sich selbst
beobachten sind" (135). Abweichungen findet Streeck bei der selteneren Formulierang von Fragen durch die Klienten und das andere Umgehen mit den Fragen durch die Therapeutinnen und Therapeuten (ebd.). Die Ergebnisse der Autorin passen genau in das Bild, das wir aus unserem Datenmaterial gewonnen haben. Nicht die Mittel, sondern die Präferenz für deren Anwendung macht die besondere institutionelle Färbung des Gesprächs zum Geburtstagsbesuch aus. Was wir Darstellungsqualifikation nannten, hat S.STREECK in seiner therapeutischen Fassung im Blick, wenn sie die Aktivität der „Fokussierung" beschreibt (136-180). Für die Beschreibung der „Patientenreaktionen auf Fokussierungen" (181-270) greift sie wie wir auf das ethnomethodologische „Konzept der Präferenz bzw. der Präferenzorganisation" (181) zurück. 15 W.MADER, Alltagswissen, Diagnose, Deutung, 1976, 699-714; 701.
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verknüpften Vorgängen widmet, der subjektiven Perspektive einschließlich ihrer emotionalen Grundierung. Gespräch ist dann Selbstdarstellung. Die professionelle Gesprächsführung befördert die Selbstdarstellung des Gegenübers auf Kosten der eigenen. Sie tut dies aber eben nicht aus subjektiven Gründen (etwa um sich am interessanten Gegenüber zu ergötzen), sondern aus professionellen. In der Erfüllung einer institutionell vorgeschriebenen Rolle für Berufsträger verfolgen die professionellen Gesprächsführer ein der Rolle entsprechendes Ziel: daß das Gegenüber durch optimierte Selbstdarstellung eine Verbesserung seines eigenen Zustandes erlangt.16 Die vom professionellen Gesprächspartner angebotenen Reflexionen sollen der biographischen Selbstinterpretation des Gegenübers dienen, damit es dadurch besser mit sich selbst zurecht kommt. Professionelle Gesprächsführung bekommt so helfenden Charakter. Die Theorie- und Praxisanweisungen zum helfenden Gespräch entfalten diese Zielbezogenheit nach dem therapeutischen Modell: Ein wie eine Krankheit sich verhaltender Zustand auf Seiten des zu Behandelnden soll beseitigt werden.17 Dazu steht der behandelnden Person ein bestimmtes Repertoire an Mitteln zur Verfügung. Werden die Mittel sprachlich realisiert, handelt es sich um ein - im weiten Sinne18 - therapeutisches Gespräch. Wird sprachliche Therapie professionell betrieben, dann bedarf sie bestimmter institutioneller Rahmenbedingungen. Sigmund Freud als Begrün-
16 Auch andere professionelle Ziele bei Gesprächen zum Zweck der Selbstdarstellung des Gegenübers sind natürlich denkbar: z.B. für die Öffentlichkeit interessante Details zu erfahren (Journalismus) oder eine Ware optimal anpreisen zu können (Verkaufsgespräch). 17 Zu allen Zeiten ist dieses Modell innerhalb der protestantischen Seelsorgereflexion populär gewesen, von den mit der Heilkräuter-Metapher versehenen Sammlungen seelsorgerlicher Bibelsprüche für alle Lebenslagen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert (vgl. J.STEIGER, Die Geschichts- und Theologie-Vergessenheit der heutigen Seelsorgelehre, 1993, 64-87; 74. 77f.) über das 19. Jahrhundert (siehe R.SCHMIDT-ROST, Seelsorge zwischen Amt und Beruf, 1988, und M.NICOL, Gespräch als Seelsorge, 1990; 1 3 1 - 1 3 3 ) bis i n die G e g e n w a r t h i n .
18 Die begriffliche Abgrenzung zwischen Therapie und Beratung (und Erziehung) ist einerseits selbstverständlich, andererseits unmöglich (vgl. die Zusammenstellung von Argumenten bei L.BREM-GRÄSER, Handbuch der Beratung für helfende Berufe, Bd.2; 5-11). Sie ist plausibel im Hinblick auf die institutionelle Gestalt und den Focus der Tätigkeit: Erziehung bezieht sich auf die Zukunft von Menschen (in der Regel noch nicht erwachsenen) und zielt auf umfassende kognitive, emotionale und pragmatische Fähigkeiten; Beratung bezieht sich auf einen gegenwärtigen Konflikt und zielt auf dessen Behebung; Therapie bezieht sich auf die Symptomen zugrundeliegende Persönlichkeitsstörung und zielt auf einen Neuaufbau der Person. Hinzu kommen unterschiedliche professionelle Ausbildungsgänge der Pädagogen, Berater und Psychotherapeuten. Andererseits finden in allen drei Bereichen dieselben sprachlichen Mittel der Gesprächsführung Anwendung und werden dieselben psychologischen Theorien vorausgesetzt.
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der der ersten streng sprachlichen und zugleich streng therapeutischen wissenschaftlichen Gesprächsmethodik hat die Kriterien dafür entwickelt. Er spricht vom „Prinzip des Vermietens einer bestimmten Stunde". 19 Gegen Geld und regelmäßig (Freud denkt an drei- bis sechsmal wöchentlich) 20 , und zwar über einen Zeitraum hin, der „halbe oder ganze Jahre" 21 umfaßt, findet die Behandlung statt. Ein eigener Sprachraum wird geschaffen. Die übliche Sitzordnung ist verändert (die berühmte Freudsche Couch 22 ) und damit die gewöhnliche visuelle Rückmeldung beim Gespräch unterbunden. Zu Beginn wird die zu behandelnde Person auf ein bestimmtes Gesprächsverhalten, nämlich die „psychoanalytische Grundregel", verpflichtet: frei zu assoziieren einschließlich voller Aufrichtigkeit auch über solche Einfälle, die üblicherweise geheimgehalten werden.23 Kurztherapie sowie körpertherapeutische und verhaltenstherapeutische Verfahren haben jene klassische Behandlungstechnik vielfach variiert; aber auch sie verstehen die Arbeit von therapeutischer Seite her als Dienstleistung, als geldwerte Arbeit, und setzen auf der Seite der Klientel einen Leidensdruck voraus, der eine Behandlung nötig und sinnvoll macht. Es handelt sich um eine professionelle Beziehung, bei der - nach Freud jedenfalls - „freundschaftliche oder gesellschaftliche Beziehungen" vor und außerhalb der Therapie diese verhindern bzw. durch die Therapie die Freundschaft zerstört wird. 24 Aber psychologische Gespächstechniken stehen weder bloß im Arbeitsschrank der Therapeuten noch werden sie nur gegen Rezept ausgegeben. Sie sind frei erhältlich auf dem Büchermarkt und präsent in den Medien. Psychologische Wissensbestände, jedenfalls die dazugehörigen Schlagworte, haben Eingang in die alltäglichen Reflexionen der bürgerlichen Schicht gefunden. Das therapeutische Wissen wurde popularisiert zur „Psychokultur". 25 Bei innerpsychischen Konflikten und Beziehungskonflikten wie etwa Ehekrisen werden populäre therapeutische Wissensbestände von den
19 S.FREUD, Z u r Einleitung der Behandlung, [1913], 181-203; 186.
20 FREUD [1913], 187.
21 FREUD [1913], 189.
22 FREUD [1913], 193.
23 FREUD [1913], 194f.
24 FREUD [1913], 185. 25 Zu der „vermehrten Immission von psychologischen Denkmustern in die Alltagskultur" vgl. H.KEUPP, Riskante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokultur und Selbstorganisation, 1988; 58-70; 59. An dieser Entwicklung haben Psychotherapeuten selbst maßgeblich mitgearbeitet, angefangen etwa schon bei FREUDS sozialpsychologischen Versuchen (Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921], Die Zukunft einer Illusion [1927], D a s U n b e h a g e n in der K u l t u r [1929]). R.TAUSCH/ A.TAUSCH
(Gesprächspsychotherapie. Einfühlsame hilfreiche Gruppen- und Einzelgespräche in Psychotherapie und alltäglichem Leben, 1979; 20) empfehlen die Grundsätze der gesprächspsychotherapeutischen Methode auch für die „alltäglichen Gespräche zwischen Freunden, Lebenspartnern, Arbeitskollegen, ..., zwischen Urlaubern, zwischen Eltern und Jugendlichen, Lehrern und Schülern oder zwischen zufälligen Personen in Verkehrsmitteln oder Gaststätten".
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,Laien' selbst verwendet. Das Therapeutikum mag wirksam eingesetzt werden, ist aber auch im Alltag als machtvolles Instrument für Abwehrvorgänge benutzbar, verschärft dann sogar Konflikte, anstatt sie zu beheben. Das Terrain der therapeutischen Seelsorge befindet sich zwischen der professionellen Therapie einerseits und der populären Psychokultur andererseits. In dem Verhalten der Gesprächsführung selbst lehnt man sich nach der Intention der Literatur therapeutischer Seelsorge und der Ausbildungsgänge in therapeutischer Seelsorge eng an professionelle Maßstäbe an.26 Aber man verwendet die Methoden der Gesprächstherapie in einem institutionell anderen Rahmen. Kostenlos und ohne einen Plan für Behandlungstermine mit Beteiligten, die auch sonst in engerer oder entfernterer Beziehung stehen, und ohne Verpflichtung auf eine Gesprächsregel wird therapeutische Seelsorge getrieben. Manche der therapeutischen Seelsorger streben offensichtlich eine Annäherung an das professionelle Ideal an (mehrere Sitzungen, Gespräch am besten im Behandlungszimmer, eigene therapeutische Spezialausbildung)27; das wurde aber nicht weiter breitenwirksam. Mit ihrer Zwischenstellung ähnelt die Seelsorge insoweit einer Form institutionellen Handelns, die ebenfalls therapeutische Gesprächsmittel verwendet: der Beratung. „Die Beratung findet im Kontext einer anderen Beziehung statt, die sich selbst nicht als Beratung deklariert, und ist daher in der Regel zwangloser und ungezwungener, ,.."28 Es kommt zum Gespräch, das therapeutische Mittel verwendet, innerhalb einer nicht-therapeutischen oder auf jeden Fall nicht allein therapeutisch wirkenden Institution. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit von MißVerständnissen über die eingenommenen Rollen. Brem-Gräser schärft ein, daß Beratung aber „- was sich von selbst versteht - keineswegs mit einem nur vom gesunden Menschenverstand getragenen alltäglichen Plaudern über Probleme verwechselt werden darf"29. Eben diese Selbstverständlichkeit besteht bei der Seelsorge gerade nicht! Es mag dahingestellt sein, ob nicht auch bei Beratungen und Therapien Verwechslungen vorkommen. Denen, die sich informell im Bereich der Seelsorge beraten lassen, scheint genau diese Verwechslung gerne zu unterlaufen. Sie markieren jedenfalls diese Differenz gerade nicht oder kaum. Es dominieren von seiten der Laien als Bezeichnung für diese Bera-
26
V g l . H . F A B E R / E.VAN DER SCHOOT, P r a k t i k u m des s e e l s o r g e r l i c h e n
Gesprächs,
[1962]; 27ff. 109ff. 151ff.; J.SCHARFENBERG, Gespräch als Seelsorge, [1972]; 65ff.; H.-J.THILO, Beratende Seelsorge, [1971]; 40-106; W.BECHER, ed., Seelsorgeausbildung, 1976, bes. dort auch die „Ausbildungsstandards der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie" von 1974 (221-238). 27 Vgl. bes. THILO zum Sprechzimmer (65-71) und sein Beispiel von einem Traugespräch als elaborierter Eheberatung (152-194). 28
BREM-GRÄSER, B d . 2 , 1 5 .
29 Ebd.
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tung Beschreibungen von Alltagsverhalten wie „Unterhaltung" 30 und „Besuch" (C2:1473; 1557).31 In der Seelsorge treffen die Professionalität der Beraterin oder des Beraters und die Laiensicht des Gegenübers zusammen. Die Alltagssituation wird nicht aufgehoben; und dennoch finden sich therapieähnliche Gesprächspassagen. Sie bedürfen der genaueren Untersuchung. Sind sie ein Fremdkörper, der nicht in die Geburtstagssituation paßt? Sind sie nichts anderes als bloße Unterhaltung? Wenn sie weder das eine noch das andere sein sollten, worin bestände dann ihre Differenz zu beidem? Sowohl die Differenz zur Therapie und den Idealen der therapeutischen Seelsorge als auch die vom Alltag abweichenden Charakteristika gilt es herauszuarbeiten. Die Stellung der therapeutischen Gesprächsfiguren' innerhalb des pastoralen Gesprächs beim Geburtstagsbesuch sei im Vorgriff auf die in 5.3. folgende Analyse beschrieben. Es handelt sich um therapeutische Episoden'. Sie finden sich gewissermaßen als ,Inseln' innerhalb eines nichttherapeutischen oder nicht eindeutig therapeutischen Umfelds. Das manifestiert sich auch in den Rollen, die die Gesprächsbeteiligten einnehmen, im Gesprächsverlauf und in der Atmosphäre. Der Therapeut oder die Therapeutin hören nicht auf, Besucherin oder Gratulant zu sein; die besuchte Person bleibt in der gastgebenden Rolle. Sie bleibt auch außerhalb dieses Besuchs mehr oder minder aktives Gemeindeglied. Der pastorale Therapeut mag mit ihr beruflich unter ganz anderen Gesichtspunkten zu tun haben:32 beim nächsten Gemeindebazar, im Weihnachtsgottesdienst, als Objekt von Sozialdiakonie usw. Das therapeutische Element kennzeichnet nur einen Teil der Beziehung. Dieser Sachverhalt bildet sich auch im Gesprächsverlauf selbst ab. Es findet sich nicht nur ein gewissermaßen unvermeidlicher nicht-therapeutischer Gesprächsrand vor, den auch die klassische Therapie kennt, aber möglichst zu reduzieren trachtet.33 Der Therapeut selbst begibt sich mit seinem Geschenk in die Rolle des Gastes; die aufgefahrenen Speisen und Getränke halten diese Situation präsent. Er wird in Anspruch genommen als Erzähler von Urlaubsberichten (C2: 628-840), als Verantwortlicher für eine soziale Einrichtung (C2:1201ff.), als Informant über Kirchliches (C2:1145ff.), als Diskutant (Cl:204ff.), als Klatschpublikum (5.2.3.b), als Gesprächspartnerin für politische Fragen (Bl: 1163-1283) usw. 30 H.HAUSENDORF, Reproduktion von Seelsorgebedürftigkeit vs. Sinnstiftung, 1988, 158-214; 174 u. 206. Siehe auch die Ergebnisse einer Umfrage, zit. in 3.1.2.d. 31 Aber man beachte, daß die Besuchte im Hinblick auf ihre Tochter eine „Unterstützung ... in der Aussprache" (C2:1477. 1479) durch den Seelsorger für möglich hält. 32 Das verletzt zumindest die klassische psychotherapeutische Abstinenz-Regel (vgl. Anm.24). 3 3 V g l . FREUD [ 1 9 1 3 ] , 198.
233
Die Atmosphäre, die therapeutische Gesprächsfiguren erlaubt, ergibt sich aus der ganz alltäglichen Konstellation. Von einer besuchenden Person läßt sich eine erhöhte Zuwendung erwarten. Es handelt sich ja um einen freiwilligen, bewußt gewünschten Kontakt. Wer besucht, wird auch sein Gegenüber zu akzeptieren versuchen, wird auch sich selbst als Person mitbringen - eine angenehme Beziehung soll gepflegt werden. Im Alltag weiß man freilich auch, daß solche Konstellation ein Ideal ist. Es könnte sich auch schnell erweisen, daß diese Atmosphäre doch nicht besteht. Die konkrete Situation bleibt also offen. Analoges gilt für den zusätzlichen Faktor, daß hier der Berufsträger professioneller Seelsorge am Gespräch beteiligt ist. Seelsorgerin und Seelsorger umgibt die Aura einer spezifischen Menschenkenntnis und Menschenliebe. Lebensdeutung ist ihr Beruf. Von daher ergibt sich eine Erwartung auf professionalisierte Akzeptanz und Echtheit. Auch hier lehrt jedoch die Erfahrung, daß das nicht immer so ist. Als besonders falsch und hohl erscheint dann im Negativ-Image der unfähige Seelsorger. Den Maßstab bildet dabei von der Laienseite aus nicht ein Ideal therapeutischer Theorie, sondern das Gefühl, daß das Gespräch irgendwie gut lief und nicht stockend war, daß es ,etwas gebracht hat'. Es ist also zu Beginn des Gesprächs offen, ob die Gesprächsführungskompetenz des Seelsorgers oder der Seelsorgerin zum Tragen kommt und in welcher Art von Gesprächsverhalten sie sich zeigen wird. Die therapeutischen Gesprächsfiguren erweisen sich schließlich auch in ihrer Dauer und ihrem Inhalt nach als Episoden, als kürzere und im Vergleich zur Therapie in der Regel unvollständigere therapeutische Vorgänge. Sie finden sich innerhalb eines Gesamtgesprächs vor, das daneben immer auch nicht-therapeutische Vorgänge enthält, die an die Stelle der therapeutischen Episode zu stehen kommen könnten. In der Alltagsseelsorge sind therapeutische Gesprächsfiguren eine mögliche, aber keineswegs zwingende Option. Dieser Sachverhalt formt die therapeutische Episode selbst und gibt ihr ein gegenüber dem streng therapeutischen Gespräch besonderes Profil. Dies ist genauer herauszuarbeiten. 5.3. Therapeutische Gesprächsfiguren „das ist ja beinah Lüge ne? hahaha" (Frau Cordes, C2:1460)
5.3.1. Ambivalenzdarstellung Im Gespräch C2 war vor Beginn der therapeutischen Episode eine positive Gastgeberin-Besucher-Interaktion etabliert worden. Ausführlicher Small talk hatte sie herbeigeführt. Die atmosphärische Möglichkeit für the234
rapeutisches Gespräch im Alltag ist damit gegeben. Und es erfolgt tatsächlich sogleich der Ubergang in eine therapeutische Gesprächsepisode: 389 390 391 392
S wie war der Geburtstag. C2 schön! S ja C2 = schön! ja, ja. wir haben so mit Verwandtschaft gefeiert und, naja, es war recht schön aber anstrengend.
Der Therapeut setzt einen Darstellungsinduzierer. Die Gastgeberin reagiert darauf, von Unterstützungssignalen des Seelsorgers begleitet, mit einer positiven Darstellung. Die Atmosphäre des Small talk bevorzugt solcherart positive Wertungen (vgl. 4.1.2.a). Doch dann kündigt die Sprecherin eine Revision des von ihr Gesagten an („naja"; 393): Sie beantwortet die Frage nach dem Geburtstag noch einmal, nun genauer, als das Zusammentreffen von Positivem und Negativem, als ambivalente Situation. Die negative Seite der Ambivalenz wird dabei zunächst als ein ,objektiver' Zustand charakterisiert: Es ist anstrengend, verursacht Arbeit, Geburtstag zu feiern. Der Seelsorger setzt in der folgenden Passage mit einer Generalisierung an. Das ist alltagstypisches Verhalten. Es muß gemäß den Regeln der therapeutischen Gesprächsführung (nach Rogers) als gänzlich untherapeutisch bewertet werden (vgl. 3.3.3). Doch während der Seelsorger damit ansetzt, unterbricht ihn die Klientin: 394 396 397
jS C2 S C2
399
S
ja des ist dann immer ich bin froh wenn der Alltag wieder da ist. jah hahahaha, jaja. aber das schönstes Gschenk ist nämlich wenn meine Tochter da ist, ja
Die Besuchte benennt eigene emotionale Anteile an der negativen Seite. Sie tut dies so, daß sie die Freude auf das Ende der negativen Situation beschreibt. So kommt dann doch eine positive Aussage zustande. Vom Seelsorger wird sie als überraschende Aussage rezipiert durch sein spannungslösendes Verhalten: das Lachen. O b diese Überraschung von Seiten des Seelsorgers aus der Komik der Aussage (Freude über den Alltag statt über den Festtag) oder der Wiederbegegnung mit dieser bei älteren Leuten ja gar nicht so seltenen Einstellung herrührt, ist für die Interaktion nicht von Bedeutung, weil auch das Gegenüber dies nicht mit Sicherheit deuten kann. Die Spannungslösung jedenfalls soll auf keinen Fall auf Kosten des Gegenübers geschehen, sondern will vom Seelsorger als Zustimmung zu dessen Schilderung („jaja"; 396) geäußert sein. Die Sprecherin präzisiert sich daraufhin weiter, indem sie noch einmal das positive Element am Geburstag dagegensetzt („aber"): die Gegenwart ihrer Tochter (397f.). Sobald dies ausgesprochen ist, sichert sich Frau Cordes den turn („unnd"), um dann die mit der Gegenwart der Tochter gegebene Ambivalenz zu formulieren: 235
400
C2
404
407 408
S C2
unnd ist natürlich immer bissl wehmütig! sie ist {Beruf} in einer {Betriebsart} dort, also {genauere höhere Berufsbezeichnung}, hat aber jetzt wegen mir sich schon mit dem Gedanken getragen ob sie net wieder her, aber sie ist mittlerweile sie wird {Feiertag} {Zahl}, sie hat dort ihre gute Stelle, jetzt ist des für uns tja ein ein schlimmes Hangen und Bangen _
In der Ambivalenz, so wie sie die Besuchte darstellt, vermischen sich äußere und innere Faktoren. Die äußere Ambivalenz besteht darin, daß die Anwesenheit der Tochter zeitlich begrenzt ist. Dem korrespondieren negativ weitende Beschreibungen von Zuständen (^wehmütig", T.schlimmes Hangen und Bangen"; 400. 408). Wiewohl solche Zustände nur in Verbindung mit Personen bestehen können, wird die Wehmut niemandem direkt zugeschrieben, das schlimme Hangen und Bangen hingegen beiden Beteiligten, der Mutter wie der Tochter („für uns"; 406). Die Ambivalenz konkretisiert sich in zwei Handlungsalternativen, die als Handlungsalternativen der anderen Person (der Tochter) artikuliert sind: Entweder könnte sie ihre Anwesenheit vermehren, indem sie wieder zurückzieht. Diese Möglichkeit ist die, in die sich die Mutter als von der Tochter her direkt involviert sieht („wegen mir"; 402). Dagegen steht („aber"; 404) die andere Seite, die als unpersonale äußere Gegebenheit geschildert wird: „sie hat dort ihre gute Stelle" (405). Wie wird diese komplexe Ambivalenz fortgeführt werden? Zuerst einmal unterbricht sich die Redende selbst durch ein kurzes handlungsbegleitendes Gespräch. Sie bietet dem Gast das aufgestischte Essen an (zitiert in 4.1.1). Dann fährt sie fort: 415
C2
420
426
429 430 432 433
236
ΰ |C2 5 S rC2 S C2 S
ja, jetzt ist des natürlich sehr schwer, jetzt habn unsere Nachbarsleut wir haben sehr nette Nachbarn die habn, sagte der Herr der geht immer in die {Bibliotheksname} gell der ist jetzt auch schon über {Zahl}, unda sagt er da sind gar keine besonders guten Kräfte, ujetzt hat er gedacht wenn sich die Lotte mal bewerben würde, und zwar meint er über die Geistlichkeit gings am besten, Sie haben doch keine Beziehung mit der {Bibliothek}, ach ach null null null ja. [3] ich bin jetzt {Zahl} Jahr hier und war einmal drin, ja ja. undund hab da was kauft ja, ja. also gar keine! na, 'na*.
434 435 436
C2 S C2
des denk ich mir. ja. des denk ich mir. [3]
Zunächst formuliert die Klientin damit einen Anschluß an das vor der handlungsbegleitenden Gesprächspassage Gesagte. Sie faßt es zusammen mit einem sowohl den inneren wie den äußeren Zustand umfassenden negativen Ausdruck: „sehr schwer" (415). Bei der Verfolgung einer Lösungsmöglichkeit entscheidet sie sich für die Seite der äußeren Zustände. Sie blendet die Diskussion ihrer inneren Befindlichkeit (erst einmal) aus. Damit begibt sie sich auf den Weg, der gerade der therapeutischen Intention der ,Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte' entgegenläuft. Zielt ein therapeutisches Gespräch auf die Bearbeitung der inneren Konflikte34, so wählt die Klientin hier die alltagsweltliche Strategie, das Gegenüber als direkte Möglichkeit für eine Lösung anzugehen: Vielleicht kann der Seelsorger ja dazu verhelfen, daß die Tochter am Ort eine gute Stelle bekommt bei einer bestimmten renommierten Bibliothek. Die therapeutische Gesprächstheorie wird solch einen Weg als Verlassen der therapeutischen Situation bewerten. Sie integriert ihn so in die therapeutische Situation, daß sie das Ersuchen um direkten Rat als Symptom deutet. Es zeigt die Unfähigkeit zur reifen Entscheidungsfindung an. Wer meint, daß dies eine Lösung sei, hat das Problem noch nicht begriffen oder geht jedenfalls falsch damit um. Daß ein Klient, eine Klientin sich untherapeutischen Rat erwartet, darin manifestiert sich gerade der Widerstand, der der therapeutischen Auflösung bedarf.35 So schreibt das therapeutische Verhalten vor, auf jedem Fall diesem Ratersuchen nicht nachzukommen. Es zielt vielmehr darauf, die hinter jenem Rat vermuteten emotionalen Gehalte zu erheben. Das mag entweder so geschehen, daß die Therapeutin direkt anspricht, daß eine Problemlösung zur Zeit noch nicht möglich ist, oder es mag der ,Berater' statt seinem Rat einfach noch einmal die letzte Aussage ,spiegeln'.36 Beides enhält eine kalkulierte Verletzung der alltagssprachlichen Präferenz, eine gestellte Frage direkt zu beantworten. Der Seelsorger in der zitierten Passage reagiert nicht therapeutisch, sondern alltagstypisch. Er beantwortet die Frage nach Einwirkungsmöglichkeiten darauf, daß die Tochter von Frau Cordes eine Arbeit bei der Bibliothek findet, direkt: „null" (425). Inhaltlich muß er negieren, daß diese Lösung möglich sei. Damit bestätigt er freilich nur die Bedenken, die die Fragestellerin schon im voraus mitausgedrückt hatte: Sie frage nur auf Rat 34 Auf die äußeren Konflikte konzentriert sich gegebenfalls das verhaltenstherapeutische Modell, das von der therapeutischen Seelsorge aber in der Regel abgelehnt oder übergangen wird (z.B. SCHARFENBERG [1972], 112-115). 35 Vgl. 5.2. Ende. 36 Vgl. dazu SCHARFENBERG [1972], 109.
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eines anderen, der alt sei, und sie erwarte selber, daß diese Möglichkeit gar nicht gegeben sei. Weil die erbetene Hilfe de facto nicht möglich ist, gelangt die von Frau Cordes gewählte alltagstypische Beziehungsstrategie erst einmal an ihr Ende. Man versichert sich gegenseitig ausführlich dessen, daß diese Möglichkeit nicht gegeben sei (426-436). Die alltagstypische Lösung wurde also nicht von vornherein ausgeschlossen und auch nicht vom Seelsorger aktiv verstellt, sondern sie zeigte sich als tatsächlich nicht gangbar. Nachdem dieser erste Weg sich als Sackgasse erwies, ergreift im folgenden nicht der Therapeut das Rederecht. Er läßt ein Schweigen (drei Sekunden) zu und ermöglicht so der Klientin weitere Darstellung. Diese nimmt sich denn auch den turn und beschreibt die Situation noch einmal, jetzt wieder unter ausdrücklichem Einschluß der personenbezogenen Anteile: 438
C2 und dort hat sie ihre gute Stellung und ist ein Risiko und sie möcht halt jetzt_ erstens ist sie a {Kstädterin} und zweitens möchts halt jetzt doch im Alter wieder he_und in erster Linie wegen mir! aber des will ich dieses große Cschenk gar nicht annehmen.
Zunächst setzt die Klientin hier einfach zwei Größen nebeneinander: das eine ist die gute berufliche Stellung, die besteht (die die Tochter » hat"; 438), das andere eine Zustandsveränderung, die negative Komponenten einschließt („Risiko"; 438). Darauf stellt Frau Cordes zum ersten Mal die Ambivalenz als eine zwischen Personen heraus: „sie möcht halt jetzt" ... „aber des will ich ... nicht" (440-442). Es geht nicht einfach um objektive Sachverhalte, sondern um menschliche Beziehungen. Bei der Beschreibung dessen, was die Tochter möchte, geschieht ein Fortschreiten von außen nach innen. Die schon angesetzte Äußerung wird reformuliert mit einem Grund relativ objektiv gegebener Art: Es wäre eine Rückkehr in die Heimat. Dieser Grund, mit „erstens" (439) eingeführt, wird aber dadurch gleich als einer, der nicht allein gilt, relativiert. Zweitens kommt hinzu, daß die Tochter „im Alter" (440) in die Heimat möchte. Doch bevor dieser Gedanke ganz ausgesprochen ist, schiebt sich über ihn der Hauptgrund („in erster Linie"; 441). Vom Wunsch der Tochter stellt die Mutter als am wichtigsten heraus, daß dieser Wunsch von der Beziehung zur Mutter regiert wird („wegen mir!"; 441). Dem setzt sie als ihre eigene Perspektive gegenüber („aber"; 441), daß sie dies nicht wolle. Doch auch dieses Nicht-Wollen ist komplex: Was nicht gewollt wird, ist „dieses große Gschenk" (440), ist etwas, bei dem ein Gegenüber etwas abgibt, um Freude zu bereiten. Die Ambivalenz erscheint, so formuliert, als die Spannung zwischen verschiedenen Auflösungsmöglichkeiten einer Alltagssituation: Ein Geschenk verpflichtet zur Annahme; ein zu großes Geschenk (ein Opfer) verpflichtet zur Ablehnung. In therapeutischer Perspektive wäre es jetzt wichtig zu hören, worin in der Klientin selbst die Gründe zur Verpflichtung zur Annahme einerseits 238
bzw. zur Ablehnung andererseits bestehen. Was bedeutet die ,objektive' Größe des Geschenks, das die Tochter macht - also: was bedeutet deren Rückkehr für die Klientin? Der Seelsorger jedoch fragt alltagstypisch, um mehr Informationen darüber zu erhalten, welches Ausmaß das Geschenk unter Absetzung von der subjektiven Bedeutung für die Klienten hat: 443 444 445 446 447 448 449
S C2 S C2 S C2 S
451 452 453 454
C2 S C2 iS C2
hat sie Familie? nein. allein, sie noch nicht eh sie ist nicht verheiratet, ja, sie ist allein. ja. [3] °also° das ist schwierig nicht? und ist des a {B-ländischer) {Betrieb)? eine {E-Iändische} {E-ländJ das sind halb und halb_ das sind halb {B· und halb {Ε-Länder} dort, fast mehr (B-Länder) sind dort beschäftigt.
Mit seiner Fragestrategie überdeckt der Seelsorger die subjektive Befindlichkeit der Klientin. Er interessiert sich stattdessen für die Perspektive der Tochter.37 Nach der Frage meldet die Klientin sich nach einer Pause wieder mit einem Ausdruck, der nach der Nachfrage und deren Beantwortung sowohl Inneres wie Außeres umfassen kann („°also° das ist schwierig"; 451). Sie sucht eine Darstellungsunterstützung oder Fortführung durch den Seelsorger zu ermöglichen („nicht?"). Der stellt noch eine weitere Informationsfrage. Auf deren Beantwortung reagiert der Pfarrer gänzlich untherapeutisch. Er versucht seinerseits, einen konkreten Handlungsratschlag für die Tochter zu geben: 458
S r l
C2
und daß sie an a {Betrieb} denkt die ä auch eine {Eländische} {Betrieb} hier oder dieser {Betrieb} die in {K-Stadt} ja das habn wir schon gedacht, aber das wär natürlich die Lösung.
37 Therapeutisch geschultem Blick fällt auf, daß sich damit der Seelsorger in die Rolle der Tochter zu begeben beginnt. Im Gespräch selbst wiederholt sich etwas von der Mutter-Tochter-Beziehung. (Diese und folgende entsprechend eingeleitete Hinweise wurden angeregt durch ein Gespräch, das ich mit meiner Schwester Margret Hauschildt, einer praktizierenden Psychotherapeutin, am 26./27.6.93 führte.) Das ist freilich eine Thematik, die sich erst in Beziehung auf die außerhalb des Gesprächs befindende Umwelt auftut und als hinter dem Wortlaut des Gesprächs .eigentlich gemeinter' Sachverhalt erhoben werden müßte. Diese Perspektive wollen wir hier aber nicht verwenden; sie erweist sich als ein anderer Zugang, der unseren Ergebnissen jedoch nicht widerspricht.
239
464 466 467
S rC2 ^ C2 S
des is_ ja wenn sie {E-Iändisch} spricht, ja, perfekt. ja, also bitte! und {B-ländisch} sowieso! ja
Diesen Rat nun kennzeichnet die Klientin in zweierlei Weise. Er sei eigentlich nicht neu („das haben wir schon gedacht"; 461), und davon abgesetzt („aber") beurteilt sie den Vorschlag als gangbare Aufhebung der geäußerten Ambivalenz: „die Lösung" (462). O b das „aber" auch einen Gegensatz bezeichnen soll, etwa in dem Sinne: ,obwohl wir schon dran gedacht haben, erscheint es mir jetzt als Lösung', ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Es markiert in jedem Fall eine Ambivalenz. Erst einmal wird aber die Lösung mit Verweisen auf die Sprachkenntnisse der Tochter von beiden Gesprächspartnern gegenseitig gefestigt. Daraufhin schließt die Mutter noch einen Gedanken an, der über die Sprachkenntnisse hinlenkt zur Situation der Tochter und eine Schwierigkeit in ihrer jetzigen Situation benennt: „die spricht kein deutsches Wort dort. ka_ hat gar keine Gelegenheit." (468f.). Welche Funktion und Bedeutung dieser Satz haben soll, ist schwer genau zu sagen.Offensichtlich kann auch der Seelsorger nichts direkt daran anschließen. Es entsteht eine kleine Pause (zwei Sekunden). Dann ergreift er wieder den turn: 471
475 477 478 479 480 481 482
S
C2 S C2 C2 S C2 S C2 S r
486 487
*C2 C2 S
489
C2
a dann würd ich doch einfach a mal jetzt wenn se_ äh sie ist_ ja sie ist ja jetzt hier da. mal η Anruf genügt doch mal. ist nur noch a paar Tag da. ja mal vorbeischaun da in so a {Betriebsart}! ja ( ) in einer solchen {Betrieb}? ja! ob sich was tut ja und welche? [ermunternder Ton:] jaa! würd ich! würd ich!+ meinen Sie. da hö_ was kann sie erleben, sie kann höchstens sagen nein wir haben kein Bedarf, o.k.? aber probieren kann ses doch! das wär eine Frage. eine Frage ja! [3] 'hm'
[2]
Diese Passage enthält eine sich durchhaltende Konstellation. Der Seelsorger präzisiert seinen Rat immer weiter und wird immer emphatischer. Die Klientin hingegen zeigt Reserviertheit. Sie äußert keinerlei Unterstüt240
zungssignale, sondern nur sehr neutrale Zeichen.38 Sie reduziert so die Unterstützung auf die Ebene des Hörens (vgl. 4.2.1.al). Die vom Seelsorger vorgebrachte Lösung des guten Rates erweist sich damit als eine, die von seinem Gesprächsgegenüber nicht entfaltet und damit nicht ratifiziert wird. Damit stellt sich heraus, daß auch dieser vom Seelsorger nach alltagstypischer Manier begangene Weg keine Lösung bietet. Die Klientin setzt nun neu ein mit einer Erzählung und generalisiert das Thema des Arbeitsplatzwechsels bei fortgeschrittenem Berufsalter: 491
495
C2 lS
498
C2 r S S
500
C2
504
r S S
506 507 508
j
C2 S C2
511
S [C2 S
516
^C2 rC S2
519 520 521
S C2 S
und dann hab ich neulich gelesen in der_ natürlich in der {L-Zeitung) die ist ja nicht maßgebend aber immerhin bringt sie oft Sachen die ganz gut sind ne? m mit über (Zahl) hat man keine Chance mehr da geht man ab, gehört man zum alten Eisen heute ja m ja. ja, stimmt. [2] im Geg_ also Manager sogar werden ab {Zahl} mit_ groß abgefunden werden nur daß sie aufhörn innem gewissen Alter aufhörn. ja stimmt! stimmt! die kriegn noch a Geld mit, die kriegen zahlt dafür daß gehen. is das net_ isse ich finds furchtbar. ja. Leute die ja Erfahrung haben gell und vielleicht besser sind wie die Jungen die's einstelln, ja ja ne? aber dann ist ist die andern die Jungen die haben dann doch noch weniger Erfahrung aber sagt man sind mit den modernen äh Medien und Mitteln mehr vertraut ja jaja! gell, ja, bei de Pfarrer is anders gell h-m [1] haha. ja. ä!
Der Pfarrer springt auf die Generalisierung an und ergänzt die Darstellung mehrfach. Doch als die Besuchte nun die Situation des Pfarrers zum Gegenstand erheben will („bei de Pfarrer is anders gell"; 516), erfolgt keine alltagssprachlich induzierte Darstellung. Der Seelsorger macht diesen 38 D e m psychotherapeutischen Blick fällt auf: Die Klientin will Rat und weist zugleich den Rat zurück. Damit dürfte sie das Beziehungsschema, das sie ihrer Tochter gegenüber zeigt, auf die Seelsorgebeziehung übertragen.
241
Schwenk auf seine Situation nicht mit. Er benutzt Darstellungsreduzierer und befolgt damit die therapeutische Abstinenzregel. Das ermöglicht der Klientin, ihre Situation in den Vordergrund zu stellen. Und in der Tat artikuliert diese erneut die ambivalente Situation: 523
C2
525
C2
530 533
j S C2
[1] also es ist furchtbar schwer! [2] ich weiß nit was ich ihr raten soll, ich möcht auch dieses große Geschenk was sie mir machen möchte daß sie wegen mir in erster Linie hierherkommt gar nit annehmen! die letzte Phase des Lebens ist oft auch gar nit so erfreulich! und wir sind sehr selbständig ich bin jetzt die ganzen Jahre äh allein gewesen und selbständig allein ja und sie auch!
Zuerst bringt die Klientin summarisch die Ambivalenz wieder ins Gespräch (-furchtbar schwer!"; 523). Als der Seelsorger den nächsten turn nicht ergreift, kann sie noch einmal ausführlich ihre Situation darstellen. Sie falsifiziert nun explizit den vorhin ergangenen Rat des Seelsorgers als einen, der keine Lösung bedeutet. Ihre Situation jedenfalls hat sich nicht verändert: „ich weiß nit was ich ihr raten soll" (525). Dann begründet Frau Cordes die subjektive Seite ihrer Ambivalenz zwischen großem Geschenk und Nicht-annehmen-Wollen. Bei Annahme des Geschenks könnte dieses seinen Geschenkcharakter verlieren. Wieder wird zunächst nicht direkt von Personen gesprochen. Der aber von der Seite der Mutter her gegebene objektive Zustand „letzte Phase des Lebens" (528) bewirkt, daß die Situation, die bei Annahme des Geschenks bestehen würde, als „oft auch gar nit so erfreulich!" (528f.) gelten muß. Dabei bleibt noch offen, für wen diese Unerfreulichkeit besteht. Der nächste Satz allerdings beschreibt den Jetzt-Zustand als einen, der für beide Selbständigkeit beinhaltet. Verlust der Selbständigkeit, das ist das „Risiko" (438), das bei Veränderung der gegenwärtigen Situation eintreten kann. Diese Einschätzung der Klientin über sich selbst sucht der Seelsorger zu unterstützen: 534 535 536
S C2 S
und das ist Ihnen gut bekommen wenn ich Sie so anschaue meinen Sie! ja!
Die Stützung 39 wird von der Klientin akzeptiert und vom Seelsorger noch einmal bestätigt. Sie bildet für Frau Cordes aber den Auftakt dazu, - auch
39 Zur stützenden Seelsorge vgl. H.CLINEBELL, Modelle beratender Seelsorge, [1971]; 1 3 3 - 1 5 3 .
242
unter Ignorierung einer eingeworfenen untherapeutischen Informationsfrage des Seelsorgers - die andere Seite der Ambivalenz hervorzuheben: 536
[S C2
541
546
S
darf ich fragen wie lang τ ? und es ist irgend- 1 wie freilich bin ich froh wenn ich Hilfe hab, und und äh äh sie ist mein Leben eigentlich meine Tochter ich freu mich wenn sie da ist das ist mein Leben, aber ich würde verzichten auf dieses große Geschenk weil: wenn man so im Alltag auch in der engen Wohnung sie hat ihre Wohnung dort ich hab meine Wohnung da, da gibts immer kleine Reibereien, und wir haben so ein gutes Verhältnis soll das irgendwie getrübt werden. tja ja das ist schon auch kritisch, ja, da habn Sie recht.
Die Nähe der Tochter hat, so äußert sich die Klientin, ihre guten Seiten: Deren praktische Hilfen könnten wichtig sein, ja eben auch Selbständigkeit erhalten helfen. Die Nähe der Tochter ist gewünscht, weil diese die wichtigste Bezugsperson ist, weil die Qualität dieser Beziehung die Qualität der Befindlichkeit der Mutter bestimmt („mein Lehen"; 538). Das ist also das Dilemma: Die Qualität der Beziehung gebietet Hilfe („Geschenk"; 541) einerseits, wird aber durch die Annahme der Hilfe bedroht: „immer kleine Reibereien", „SÜ ein gutes Verhältnis ... getrübt" (543-545). Der Seelsorger unterstützt auch diese Entfaltung der Ambivalenz und ratifiziert einerseits die Wahrnehmung der Gefahr („ja das ist schon auch kritisch"), andererseits das bestehende Dilemma („ja, da habn Sie recht"; 546f.). Schon in letztere Unterstützung bricht die Klientin ein, indem sie ansetzt, sich zu korrigieren („ab_"), und eine die Ambivalenz aufhebende Idee äußert: 548
^C2
r 554
558 560 562
S S
C2 [S C2 rS C2 rS C2 r S
ab_ das war natürlich kein Problem wenn sie hier a Stellung finden würde einigermaßen entsprechend, und sie hätte dann würde sie sich ihre Wohnung wieder anschaffen eine Wohnung, ne des ist klar! ja ja ja aja und wissen'S auch des Frau (C2) jetzt äh sie möcht ja dann auch mal äh allein sein und äh mal Besuch haben, da kommt au mal a Mann und ja ja undund so des ist doch auch nötig achja daß das ja ist gut daß sie also ich hab für alles Verständnis! hab ich! daß sie da aber allein sein ist das_ aber trotzdem sie hat das Gefühl da ist die Mutter immer da ne? ja jaja doch des
243
568
[C2 S
des kann i mir schon schwierig vorstelln. ja ich weiß es nicht. jadoch! ja.
571
C2
°m°
[1] [2]
Die eingangs geäußerte Idee knüpft noch einmal an „die Lösung" von früher (462) an. Die ,äußere' Lösung einer geeigneten Arbeitsstelle ließe auch die innere Lösung bewahrter Selbständigkeit möglich erscheinen: Die Tochter wohnt in einer eigenen Wohnung. Jetzt aber äußert der Seelsorger Einwände. Die Gesprächssituation wandelt sich zur Diskussion - wieder ein Vorgang, der in der therapeutischen Gesprächsführung als untherapeutisch gilt. 40 D e r Pfarrer betont, daß die Selbständigkeit der Tochter gefährdet sei. Die Einwände (Tochter will mal allein sein und Männerbesuch haben) setzten eigentlich voraus, daß Mutter und Tochter in einer Wohnung wohnen, was ja gerade eben von der Mutter nicht gewollt worden war. Die Mutter betont dagegen, daß sie die Selbständigkeit nicht einschränken wolle („für alles Verständnis!"; 561). O b hier der Seelsorger tatsächlich nicht richtig zugehört hat oder ob er meint, daß auch bei getrennter Wohnung die Selbständigkeit gefährdet wäre, kann aus dem Wortlaut nicht eindeutig erhoben werden. Die Klientin jedenfalls läßt sich auf die geäußerte Perspektive ein; sie korrigiert ihre Aussage („aber"; 563) und beschreibt ihrerseits die Gefährdung der Selbständigkeit der Tochter: „trotzdem sie hat das Gefühl da ist die Mutter immer da" (563f.). Dies wird vom Seelsorger als Gefahr interpretiert und bestätigt: „schon schwierig" (566f.). Daraufhin nimmt sich die Klientin zurück („ich weiß es nicht"; 568), der Seelsorger jedoch wird umso emphatischer („jadoch!"; 569). 41 So gelangt die Klientin wieder bei der Ambivalenz an. Damit findet diese therapeutische Episode vorerst ihr Ende. In ihrem Verlauf hat die Klientin fortschreitend ihre Ambivalenz darstellen können. Handlungslösungen wurden zunächst von beiden Seiten in alltagstypischer (untherapeutischer) Weise erprobt und jeweils mit Hilfe des Gegenübers wieder relativiert. Die beim Seelsorger gleichzeitig immefr wieder auch vorkommende therapeutische Turn-Zurückhaltung ermöglichte diese Relativierung und verhalf dazu, daß die Klientin die Artikulation der Beziehungsambivalenz vertiefte. 4 2 40 Vgl. H.-C.PIPER, Kommunizieren lernen in Seelsorge und Predigt, 1981; 63f. 41 Auch hierin könnte sich nach psychotherapeutischer Perspektive die Beziehung zwischen Mutter und Tochter wiederholen. 42 Das psychotherapeutische Resümee würde lauten: Der Seelsorger versetzt sich in die Perspektive der Tochter; die Klientin verhält sich gegenüber dem Seelsorger ratlos. Der Umgang der Klientin mit dem Ratschlag des Seelsorgers entspricht der Struktur ihres Umgangs mit dem Geschenk der Tochter, wieder in die Heimatstadt zurückzu-
244
Mit seiner nächsten (untherapeutischen, den Focus wechselnden) Informationsfrage („wie lange ist jetzt Ihr Mann tot?"; 573) bleibt der Seelsorger zwar beim Umkreis der Selbständigkeit (in 611 preist er die Klientin explizit als ..selbständig"), führt aber auf ein anderes Setting von Ereignissen hin. Erst viel später kommt man auf das Thema zurück. Als man sich über den verbotenen Wohnungskauf durch Ausländer auf der Insel, auf der die Tochter lebt, unterhält, spricht der Pfarrer noch einmal das Thema des Aufenthaltsortes der Tochter von sich aus an. Daraufhin werden in einer Kurzfassung die meisten Elemente des ersten therapeutischen Gesprächsgangs wiederholt. Es sind dies die Betonung der Schwierigkeit (Ambivalenz) durch die Klientin, die von ihr selbst als nicht vielversprechend qualifizierte Frage an den Seelsorger mit der Bitte um direkte Hilfe, was dem Seelsorger unmöglich ist, und der Ratschlag des Seelsorgers: 1383
S
1385 1386 1387 1388
C2 S C2 S
1391 1393 1394 1395 1397 1400
[C2 rS C2 S C2 rS C2 rS C2 C2
1403 S 1404 C2 1405 S 1406 rC2 1408
C2
ja, ei das war ja auch noch a Grund äh zurück nach Deutschland zu kommen, ja ja! ja, ja = und irgendwann wird Sie auch mal in Ruhestand gehen, und dann will's daher undna möcht's ä möchts wieder da sein da wirds nicht dortbleiben, eben. möchts dasein, ja. eben. aber es ist schwer, also wie gsagt = ja das sind harte Entscheidungen, na aber: also man muß dran hin gell, man muß drum das stimmt die die Nachbarsleute also der Nachbar der sagt immer wieder „ schau in die {Name eine Bibliothek) und schau daß du durch den Pfarrer vielleicht was bekommst" ja ja ja, keine Beziehung. keine Beziehung. na, m. des hab i mir schon gedacht, hab i mir schon gedacht. ja und ich weiß auch nicht äh sagnmer mal wenn man dort η ruhigen Job hat, dann wird ma ja auch viel weniger verdienen oder halbtags ne nein, weiß ja net was die brauchen, das weiß ich nicht dort,
k o m m e n . In der aktuellen Beziehung w i r d die besprochene Beziehung wiederholt. Der Seelsorger verhält sich so, daß anzunehmen ist, daß er diese Gesprächsdynamik nicht durchschaut.
245
1412
S
1425
C1
1427
fS C2
na mit der {E-Iändischen| {Betrieb} da würd ich noch mal anpacken, 1414 C2 daß man hier a paar 1415 S = einfach mal hingehn und sagen „ Grüß Gott die Sache is so 1417 C2 ja hm 1418 S ich bin eine bewährte Kraft" 1419 C2 und a {B-ländischer} {Betrieb} könnts ja genauso sein ts genau, genau. 1422 C2 ja 1423 S hm [2]
sie spricht fast noch mehr {B-ländisch} wie {Eländisch} aber beide Sprachen so gleich perfekt jane ja, wie gsagt da leben keine Deutschen dort, sie sie hat gar kei Gelegenheit Deutsch zu sprechen ne. sie hat sehr nette Bekannte dort
Es folgt darauf eine kurze Passage zu den netten Bekannten der Tochter, die sogar der Klientin Blumen zum Geburtstag geschickt haben (14301435). Dann lenkt die Klientin wieder zum Thema zurück: 1437
C2 r l S 1440 rS 1442 1444
t2
[S C2 S
1446 [C2 S
[3] aber Heimat ist Heimat, es treibt einen wenn man älter ist dann wieder mal zurück ( ) ja ja, und denkens bloß a mal krank zu sein und dann ein ( ) {B-ländisches} Krankenhaus, ja ja, und und wenn Sie so gute Beziehung habn die Mutter nicht in der Na_ in der Nähe haben, ja also, na,
Als die Mutter die Perspektive der Tochter übernimmt („es treibt einen ... wieder mal zurück"; 1437f.), folgt ihr der Seelsorger, der diese Perspektive auch schon am Ende des ersten Gesprächsgangs bevorzugt hatte. Hatte er damals das Bedürfnis der Tochter nach Selbständigkeit artikuliert, so erfolgen hier nun Argumente dafür, die Nähe zur Mutter zu suchen. Von dem allgemeinsten Grund (Heimatliebe), den die Klientin äußert, steigert es sich beim Seelsorger über denkbare Fälle (krank sein im ausländischen Krankenhaus) zur Aussage über das persönliche Verhältnis von Mutter und Tochter („so gute Beziehung"; 1444). Es ist aus dem Wortlaut nicht ablesbar, ob dieses Verhalten des Seelsorgers von einer Identifizierung mit der Tochter oder einem Trösten-Wollen der Klientin gesteuert wird.43 43 Eine psychotherapeutische Deutung würde lauten: Die Mutter schiebt die Tochter nur vor; eigentlich spricht sie von sich selbst; der Pfarrer merkt dies nicht.
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Die Klientin begleitet diese Ausführungen mit unauffälligen Zustimmungssignalen („ja"; vgl. 4.2.1.al). Der ausgemalte Wunsch (der Tochter) nach Nähe steht nun im Raum. Das ist noch einmal etwas Neues im Gespräch. Da wartet auch die Klientin mit einem weiteren neuen Gedanken auf: 1448
C2
1450 rS C2 1452 C2
ja, freilich für mich wärsscho Beruhigung wenns da war s'klar, ich zeige mich tapferer als ich bin. hahahahaha ahh ja das's sehr gut, ja. hahahahaha hahaha, hajaja, m
Die Nähe der Tochter ist, wie mit vorsichtigen Worten zum Ausdruck gebracht wird, etwas, das die Klientin für sich selbst gerne haben möchte („für mich wärs scho Beruhigung"; 1448). Die Ablehnung des großen Geschenks hingegen gilt als ein Akt von Tapferkeit, einer Tapferkeit, die einen Akt der Selbstverleugnung („zeige mich tapferer als ich hin"; 1449) darstellt. Auch die Nicht-Annahme des Geschenks von Seiten der Mutter ist Opfer. Damit wird das Dilemma endlich klar: Die Tochter - so stellt es sich für die Mutter dar - signalisiert einen Wunsch nach Nähe und will zugleich Selbständigkeit: Ein Umzug zur Mutter wäre nicht nur Wunsch nach größerer Nähe, sondern auch Geschenk um der anderen willen, ein Opfer. Sie selber, die Mutter, wünscht Nähe und will zugleich Selbständigkeit: Die Ablehnung des Geschenks wäre nicht nur Wunsch nach bleibender Selbständigkeit, sondern zugleich Verzicht auf Nähe, ein Opfer. Dies ist es, was einerseits die Beziehung belastet und andererseits die anstehende Sachentscheidung erschwert. Das Dilemma der Mutter - ihrer Perspektive nach - besteht darin, „tapfer" sein zu wollen und ebenso auch nicht „tapfer" sein zu wollen; in einem Ausdruck: „tapferer als ich bin". Damit bringt sie ihre Situation auf den Punkt. Der Seelsorger reagiert darauf mit zustimmendem Lachen, in das die Klientin einfällt (145 lf.). Die Ambivalenzdarstellung wird so von beiden gemeinsam akzeptiert. Der Seelsorger versucht, in seinen Worten die Intention der Mutter im Hinblick auf die Tochter zu formulieren: 1453 S 1454 f2 1456 1457 1458
Ls
C2 S C2
1460 1461 1462
C2 S C2
1464
C2
daß sie sich nicht so auch unter Druck gesetzt fühlt, ich zeige mich ihr gegenüber tapferer als ich in ja Wirklichkeit bin. ja. das fällt mir auch schwer. [3] das ist ja beinah Lüge ne? hahaha, [geflüstert:] ja+ ha [4] ja?
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1466
jC2 S
[4]
so ist das, zum W o h l
ja der letzte Schluck!
Formulierte der Seelsorger die Intention der Mutter im Hinblick auf die Tochter, so gibt das der Klientin noch einmal die Gelegenheit, dem Effekt für die eigene Person nachzugehen: Der Verzicht, sich so tapfer zu zeigen, ist ein Verstoß gegen die -Wirklichkeit" (1456). Er ist tatsächlich nicht nur Gutes-Wünschen für die Tochter. Er hat, so kann sich die Klientin nun explizit eingestehen, Opfercharakter: „das fällt mir auch schwer" (1458). Die Option für das Selbstopfer wird so ihrer Höflichkeitsgloriole entkleidet. Uberwog eingangs die Ambivalenz der Angst vor der Nähe (,ich möchte sie nahe haben, aber das geht doch nicht'), so ist jetzt eine Bejahung des eigenen Wunsches nach Nähe erreicht. Hieß es eingangs „will ich dieses große Gschenk gar nicht annehmen" (441f.), so gilt vom Nicht-Annehmen jetzt: „das ist ja beinah Lüge ne?" (1460). Der Umgang mit diesem ambivalenten Opfer hat sich also erheblich verändert. In der Beziehung zwischen Tochter und Mutter steht jetzt nicht mehr - so stellt es sich der Klientin dar - der höfliche Umgang mit Geschenk auf dem Spiel, sondern die Frage von Lüge und Wahrhaftigkeit. „Lüge" - das ist ein starkes Wort, ein - so läßt sich vermuten - für die Sprecherin selbst überraschendes Wort, ein spannungslösendes Wort. Ihm folgt ein kurzes Lachen - der Befreiung?, der Beschämung über den Begriff? Das bleibt offen. Die beiden folgenden Kommunikationssignale der Sprecherin („ha", „ja?") halten das erreichte Ergebnis fest. Ob der Seelsorger es nonverbal ausdrücklich ratifiziert, läßt sich nicht ausmachen. Ein wohl als Abschlußausdruck gedachter Satz der Klientin („so ist das"; 1466) fällt mit der Aufbruchsankündigung des Seelsorgers zusammen. Die therapeutische Episode ist beendet. Was ist erreicht? Die therapeutische Episode gelangte zu einer Vertiefung in der Erkenntnis der Ambivalenzstrukturen. Die Ambivalenz wurde nicht aufgehoben, aber von der Angst vor äußeren Erwartungen schritt die Klientin fort zur Einsicht in ihre Ambivalenz im Annehmen von Nähe. Dies wurde erreicht durch eine Mischung aus therapeutischem und untherapeutischem Verhalten. Letzteres hat teilweise den Fortschritt erschwert, auf Umwege geführt. Erst als die alltagsnahen Lösungsmuster sich als nicht gangbar erwiesen, erfolgte der Ubergang auf die innerpsychische Seite des Problems. Der therapeutischen Zurückhaltung des Seelsorgers ist es zu verdanken, daß das alltagstypische Gesprächsverhalten diese Fortentwicklung nicht verunmöglichte, sondern letztlich beförderte. Es wurde keine Lösung der Ambivalenz, auch keine völlige Neustrukturierung des Problems erreicht, wohl aber eine gewisse Vertiefung. Affekte gelangten zur Darstellung und konnten in gewissem Maße abgebaut werden. Daß hier weniger als im ausschließlich therapeutischen Setting erlangt wurde, braucht nicht zu verwundern, aber auch das streng therapeutische Ge248
sprach benötigt für seine weitergehenderen Ziele dann doch bedeutend mehr Zeit als solch kurze Episoden. In der Alltagsseelsorge findet also Therapeutisches statt, weil der Seelsorger teilweise therapeutisch handelt, vor allem indem er professionell Raum für Selbstdarstellung ermöglicht. Es findet Therapeutisches statt, ohne daß sein teilweise nicht-therapeutisches Verhalten (Informationsfragen und Ratgeben) den therapeutischen Fortschritt verhinderte. Bei sehr tiefsitzenden, therapiebedürftigen Problemen dürfte letzteres Verhalten ungünstig sein, weil es Energien von der Bearbeitung der Konflikte abzieht. Für kleinere alltäglichere Probleme hingegen, bei denen gar nicht vorausgesetzt werden kann, daß ihr Schwerpunkt im innerpsychischen Bereich liegt, die auch gegebenfalls von verschiedenen Seiten her gelöst werden könnten, erweist es sich als angemessen. Solche alltagsnahe Gesprächsweise, die therapeutische Episoden nur bei Bedarf enthält, ist flexibler. Lösungen für noch unklare und unspektakuläre Probleme können auf verschiedenste Weise angepackt werden. Gemeinsam wird darüber entschieden, welcher Weg begangen wird. Dabei ist es durchaus denkbar, daß zunächst die alltagstypischen Problemlösungsstrategien mit den dazugehörenden (untherapeutischen) Gesprächsverfahren ausgetestet werden. Das streng therapeutische Gesprächsverfahren besteht nicht nur einfach aus einem Gesprächsverhalten. Als bewußte Handlung definiert es zugleich ein Problem als therapiewürdig und therapiebedürftig. Genau dies steht in der Alltagsseelsorge noch nicht von vornherein fest. Der Alltag ist mehrliniger als das therapeutische Setting. Wo Alltagsseelsorge dies nachvollzieht, liegt darin keineswegs ein Defizit, sondern es ist ein Zeichen für die Angemessenheit seelsorgerlichen Verhaltens. In der analysierten therapeutischen Episode erweist sich für das Problem der Ambivalenz allerdings ein therapeutisches Klima als allein letztlich förderlich. Das muß nicht immer so sein. Im folgenden seien drei Fälle einer anderen Mischung von therapeutischem und alltagstypischem Verhalten analysiert. Bei ihnen findet sich die Flexibilität der therapeutischen Episoden aufgrund ihrer Kombination von therapeutischen und alltagstypischen Vorgehensweisen in anderen Hinsichten. Auch in der Rollenverteilung kann eine größere Variationsbreite bestehen, so daß es zu Fällen von „Selbsttherapie" kommt (5.3.2.). Bei der Beendigung der therapeutischen Episoden finden sich bisweilen schleichende Übergänge in NichtTherapeutisches. Dies möchte ich untersuchen an einem Fall, bei dem gerade psychologische Begrifflichkeit verwendet wird und dennoch die therapeutische Episode sich gewandelt hat zu einer alltäglichen Gesprächsform, in diesem Fall zum „Psychokiatsch" (5.3.3). Therapie deutlich markiert aufhören zu lassen oder auch gar nicht erst beginnen zu lassen - das kann ebenfalls in der für Alltagsseelsorge kennzeichnenden therapeutischuntherapeutischen Weise vollzogen werden. Diese Fälle will ich unter dem Stichwort „Therapieverweigerung" vorführen (5.3.4.). 249
„aber das ist auch schon η bißchen Luxus den man sich in meiner trostlosen Situation zulassen kann n?" (Frau Brix, Bl: 560. 562)
5.3.2. Selbsttherapie Es wird bereits von psychotherapeutischer Seite darauf hingewiesen, daß die therapeutische Dynamik nicht hinreichend als Behandeln der Klienten durch das therapeutische Heilpersonal beschrieben ist. Das therapeutische Handeln besteht bei genauerer Betrachtung nämlich in einer gezielten Förderung von etwas, das die Klienten selbst wissen und können. Uberspitzt formuliert: Therapie ermöglicht den Klienten, sich selbst zu therapieren. Allerdings benötigen diese dazu die Leitung durch das therapeutische Vorwissen des Therapeuten und sein Achten auf Einhalten von Gesprächsregeln. Sonst wäre es ja überflüssig, sich der Therapie zu unterziehen. Auch in einem zweiten Sinne kennt die Psychotherapie ,Selbsttherapie'. Zwar bedürfen therapeutisch Wirkende einer Therapie, die außerhalb der eigenen therapeutischen Tätigkeit erfolgt; klassisch dafür ist die in der Psychoanalyse vorgeschriebene Lehranalyse vor Beginn therapeutischer Tätigkeit. Bei der therapeutischen Seelsorge dient die Supervision und die Analyse von Protokollen der (therapeutischen) Arbeit an der Persönlichkeit der therapeutisch Tätigen. Dabei wird aber eben die gerade erst vergangene oder nur bis zum nächsten Treffen sistierte Therapiebeziehung selbst zum Thema gemacht. In der Supervision wiederholt sich darüber hinaus manches von der beruflich-therapeutischen Beziehung mit den Klienten. So wird in der Supervision an jener Beziehung gearbeitet. Die therapeutischen Fähigkeiten werden über eine (Supervisions-)Therapie am therapeutisch Tätigen verbessert. Impliziert ist damit: Auch die therapeutische Tätigkeit hat für den Therapeuten selbst indirekt therapeutische Wirkung auf seine eigene Person. Wer therapiert, wird selbst dadurch anders. Wer therapiert, erlebt dabei immer auch etwas von Selbsttherapie. Worauf die Überlegungen aus der therapeutischen Theorie schon hinweisen, das tritt in den alltagsnahen Gesprächen noch deutlicher hervor. Die Möglichkeit zur Selbsttherapie wird hier dadurch verstärkt, daß sich die therapietypische Verteilung der Rollen viel stärker noch verschieben kann. In der Alltagsseelsorge mögen auch einmal Therapeut oder Therapeutin wirklich ganz überflüssig werden oder sich die Rollen zwischen beiden Gesprächspartnern geradezu vertauschen.44 Selbsttherapie der Klientin sowie der Seelsorgerin finden sich besonders 44 In einer anderen Hinsicht ist bei Alltagsseelsorge die Selbsttherapie freilich weniger genau. Der therapeutische Fortschritt ist im Alltag in der Regel geringer und schlechter erkennbar.
250
ausgeprägt im Gespräch Bl. Die Passage, die ich dafür analysieren möchte, beginnt nach einer 17 Sekunden dauernden Pause: 421
S
423 424
B1 S
[einatmen] was tun Sie eigentlich so für sich, also gestern als wir das Klavier da nuntertrugen h-m sagten Sie Sie haben da schon mal irgendwie wohl so Operationen gehabt?
Die Seelsorgerin setzt mit einem Darstellungsinduzierer ein. Er besteht aus zwei Impulsen. Der erste ist von seinem Fragebereich her sehr offen gehalten, lenkt aber den Blick auf die Dimension des Handelns. Vor der Gesprächspause hatte die Klientin unter Verwendung eines Darstellungsqualifizierers samt Gewährungsinduzierer gesagt: „gibt Leute die haben besser gelernt mal nein zu sagen ne?" (417f.). Die Seelsorgerin wendet also diese Fragestellung nach denen, die nein sagen können, ins Positive (wer tut etwas für sich?) und ins Konkrete (was tun Sie?). Letzteres ist unter therapeutischen Gesichtspunkten nicht unproblematisch. Es legt die Klientin stark fest. Sie steht unter der sprachlichen Verpflichtung zu beantworten, was bzw. ob überhaupt sie etwas für sich tut. Die Therapeutin beläßt es nicht bei dieser Frage. Sie schiebt eine weitere Frage nach. Es ist nicht eindeutig zu klären, ob diese eher die erste ersetzen soll oder ob sie eher eine Informationsfrage sein will (,da fällt mir ein, da war doch etwas') oder eine Begründung darstellt (,ich frage nach dem Für-sich-etwas-Tun, weil Sie doch wegen Ihrer Krankheit darauf achten müssen'). Die Klientin ihrererseits verankert nun den Fragekomplex in der Geschichte der Beziehung der beiden miteinander. Sie gehört in den Zusammenhang der Erlebnisse des gestrigen Tages, als beide gemeinsam ein elektrisches Klavier die Treppe hinuntertrugen: 426
429
B1 r l S B1
431
B1
m war das gestern? ah Sie Sie sollten das auch nicht und ich: aber es war halt so weit h-m sodaß wir dann dachten jetzt machen wir weiter nicht? [2]
I S
ja ich bin zweimal schon mit Bandscheibenoperationen ( hm
),
Zunächst definiert die Klientin durch ihre Antwort die Ausgangsfrage der Therapeutin als eine nach dem Widerspruch zwischen dem gestrigen Klaviertransport und ihrem Gesundheitszustand. Die Frage allerdings versteht sie (analog zu ihrem vorherigen Redebeitrag über das Nein-sagen-Lernen) als etwas, das für die Therapeutin genauso gilt. Sie definiert die Gesprächssituation als eine, bei der beide Seiten Gegenstand der (therapeutischen) Aufmerksamkeit sind. Sie formuliert dann die Antwort auf die Frage als eine, die das Verhalten beider Seiten rechtfertigt (,wir beide entschlossen uns zum Weitermachen, als das Klavier schon auf halbem Wege war'). 251
Die Therapeutin reagiert darauf mit therapietypischer Abstinenz: Sie übergeht die an diese Aussage angehängte Unterstützungsaufforderung („nicht?"; 429) und beginnt keinen turn. Die Wir-Antwort der Klientin ratifiziert sie in keinster Weise. Damit bleibt offensichtlich die eingangs gestellte Frage im Raum. Jedenfalls ergreift nun die Klientin wieder den turn und beantwortet die Frage nach der Krankengeschichte. Nun kann die Therapeutin wieder auf ihre erste Frage zurücklenken und sie präzisieren. Wie sieht das Für-sich-etwas-Tun angesichts dieser Krankengeschichte der Bandscheibenoperation aus: „und tun Sie was dafür?" (434). Die Antwort ist knapp und eindeutig: „ne" (435). Sie ist wohl auch überraschend, denn nach einer einsekündigen Pause reagiert die Seelsorgerin mit einem Lacher: „nhaha" (437). Es handelt sich um ein Lachen, das nicht unbedingt Zustimmung signalisieren muß. Die Klientin schiebt eine Begründung nach: „ = das halt ich jetzt für gesund" (438). Sie übernimmt damit selber die Verantwortung für ihr Tun. Dann erzählt Frau Brix, wie es dazu kam. Zunächst werden subjektive Empfindungen geäußert, das Gefühl der Sicherheit nach der Operation und die Freude beim Laufen; daran schließt sie an, wie ihr die Krankengymnastik albern vorkam, die Neurologen hingegen mehr das Sich-nichtUberanstrengen betont hätten (440-475). Dann zieht sie die Summe aus ihrer Antwort, und beim Formulieren der Summe macht die Klientin eine Entdeckung: Sie tut ja doch etwas für sich, weniger speziell bezogen auf den Bandscheibenschaden als auf ihren gesamten Zustand. Damit beantwortet sie nun die weitgestellte Ausgangsfrage, was sie eigentlich so für sich tue: 477
B1
480
B1
ja Sie sehn ich tu nix und brauch nicht_ eins tu ich doch: [4] ich achte drauf daß ich pro Tag zwei Stunden etwa laufe
Die Therapeutin demonstriert daraufhin ihr Interesse für die Aussage mit einem Ausdruck, der Emphase oder Überraschung markiert: „m" (481). Als die Klientin den turn nicht ergreift (drei Sekunden), erfolgt eine emphatische Wiederholung der Kernworte durch die Seelsorgerin: -zwei Stunden" (483).45 Dieser Darstellungseinladung leistet die Klientin denn auch Folge und fährt fort: „das hatt ich mir von vornherein vorgenommen, zwei Stunden laufen und zwei Stunden lesen." (484f.). Ihre Antwort bietet eine historische Herleitung ihrer vorhergehenden Darstellung. Dabei erfolgt eine sachliche Erweiterung mit der Aussage über das Lesen. Hier hakt die Therapeutin noch einmal nach: „und das Lesen schaffen'S 45 Hier kann man den alltagstypischen Zusammenhang zur therapeutischen Methode des ,Spiegeins' sehen: Zwar werden keine emotionalen Gehalte verbalisiert, wie die Gesprächspsychotherapie das für das Spiegeln vorschreibt, sondern Sachverhalte. Dennoch ist der Effekt ebenfalls der einer Darstellungsinduktion.
252
des auch?" Sie testet die gegebene Antwort noch einmal. Daraufhin sagt die Klientin: 487
B1
489
B1
497 498 499
r LS [B1 S B1 S B1
450 451
S B1
495
das schaff ich oft nicht, [3] jetzt nicht aber sonst hab ich's schon immer so gemacht ne? aber das Laufen ich glaub das bekommt mir sehr gut denn ich finde grad laufen ist doch ne vernünftige Sache nicht Jogging sondern gehen nicht? m einfach so mal gehen, und dann fit sein und m Treppengehn und möglichst viel selber gehen nicht? h-m ich merk daß ich damit eigentlich ganz gut zurechtkomm, also [stimmlos:] aus meiner Sicht+ h-m m?
Die Klientin muß zugeben, daß sie den einen Teil des Tests (die Erweiterung um das Lesen) nicht bestanden hat. Die Therapeutin läßt ihr, wie sich im nachhinein erweist, Zeit, diese Aussage selber in das zuvor Behauptete zu integrieren. Das tut die Klientin dann auch. Sie erklärt den Zustand des Nicht-Lesens für einen vorübergehenden im Jetzt, der nicht charakteristisch sei. Dann wendet sie sich dem Laufen zu und preist dessen Gesundheitswert. Unterstützungsinduzierer werden von der Seelsorgerin gewährt; das Ganze wird von der Klientin abschließend selbst als subjektive Erfahrung („aus meiner Sicht"; 499) bezeichnet. Doch die Therapeutin testet Frau Brix weiter und erhält eine weitere Antwort: 503
S
505
tS
B1
r S 511 513 515 517 518 519
[B1 S [B1 S rB1 lS B1 S jB1 S
zwei Stunden da müssen Sie aber [2] ( ) ( ) so schnell, wenn ich so den ganzen Tag zusammenrechne, ich mach fast jeden Weg zu Fuß nicht? ja freilich, Sie haben ja auch kein Auto gell? und ich mach fast jeden Weg zu Fuß, zum m Beispiel zur Vorlesung geh ich zu Fuß nicht? hm und zurück, das sind jeweils mehr als ne m halbe Stunde, und so m das kommt schon ganz gut zusammen wenn man ja aha
253
521
[B1 S
drauf achtet nicht? sicher [8]
Diesen Test gewinnt die Klientin; sie kann deutlich machen, wie sie als Nichtautofahrerin (das hatte die Seelsorgerin nicht bedacht) viel zu Fuß läuft. Die Validität dieser Antwort bestätigt die Therapeutin denn auch ausdrücklich: „sicher" (522). Sie schweigt daraufhin. Sie hat ihr Ziel erreicht. Es ist zur Sprache gekommen, was die Klientin so für sich tut. Daß dies geschah, dazu verwendete die Seelsorgerin manche Mittel therapeutischer Gesprächsführung. Die Ausgangsfrage selbst aber und vor allem dann auch deren faktische Behandlung von beiden Seiten legte die Sache auf äußere Handlungen fest. Nicht die subjektiv erlebte Muße, sondern das durchgeführte Erholungsprogramm steht im Vordergrund. Die Klientin vergißt allerdings nicht, dieses Programm als ein für sie subjektiv befriedigendes zu charakterisieren. In dieser therapeutischen Episode arbeitet die Pfarrerin mit therapeutischen Mitteln. Es kommt allerdings hier weniger zu einem therapeutischen Fortschritt selbst, sondern ein Bericht entsteht darüber, wie die Klientin selbst ihre eigene Therapie betreibt. Er rekapituliert die Selbsttherapie der Klientin und sichert sie damit. N u r an dieser Sicherung des therapeutischen Ergebnisses ist die Therapeutin mitbeteiligt, alles andere vollzog die Klientin selbst. Verfolgen wir den begonnenen Gesprächsausschnitt noch weiter. Die Klientin hatte, wie wir sahen, den Gesprächsgang anders interpretiert als die Therapeutin. Die Klientin hatte die Frage nach dem Für-sich-etwas-Tun durchaus als eine gesehen, die für beide Seiten gilt. Nachdem die Seelsorgerin ihr Ziel erreicht hat, ergreift die Klientin wieder den turn und wendet das Thema auf die Seelsorgerin an: „das's natürlich auch das Glück daß ich Zeit hab, nicht? wer wie Sie im Beruf den Zeitfaktor sehr fest ins Auge fassen muß könnt sich diesen Luxus gar nicht leisten nicht?" (524-527). Frau Brix stellt ihre Handlungsweise (Selbsttherapie) dar als eine, die durch äußere Bedingungen erleichtert ist. Von dort leitet sie über zu den erschwerten Bedingungen für ihr Gegenüber und schließt mit einem Gewährungsinduzierer. Damit ist die Pfarrerin angeredet, doch zum Ausdruck zu bringen, wie sie es mit der Frage nach dem Für-sich-selbst-etwasGutes-Tun hält. Die Frage gibt schon gewisse Deutungen (Luxus, den man sich nicht leisten kann) vor, ohne allerdings darauf festzulegen. Wie wird die Besucherin antworten? 528
S
531 532 533
B1 S B1
254
ja manchmal denk ich schon ich denk mir dann nachher du müßtest halt früher weggehn einfach in die Schule zum Beispiel, h-m könnt ich zwanzig Minuten zu Fuß gehen. hm
534
S
535
fB1
S 537
rB1
s Γ
B1
541 543
fS B1 S
aber denn müssen Sie auch womöglich noch was [kurz gelacht] mitschleppen oder so, und oft m u ß ich dann auch noch was photokopieren vor der Schule muß ich h-m h-m eigentlich noch ins Büro, aber: das ging h-m h-m h-m schon mit ner strengen disziplinierten Einteilung ging's schon, [2]
Die Besucherin versucht, ihren Konflikt zu beschreiben, genauer: die Lösungsstrategie, die sie gedanklich schon mehrmals durchgespielt hat („manchmal denk ich schon"; 528). Doch realisiert wird jene Lösung nicht, sie wird nur post festum bedacht. Ihr stehen Gründe entgegen. Die Formulierung dieser Gegengründe fällt der Besucherin, wie das Lachen zeigt, nicht ganz leicht. Dabei kommt ihr Frau Brix zur Hilfe, woraufhin die Besucherin den ihr wichtigen Gesichtspunkt ergänzt: den Umweg über das Gemeindebüro. Doch die Besucherin räumt den Gegengrund dann selbst aus dem Feld mit einem neuen Argument zugunsten des Etwas-für-sichTuns („aber"; 541). Dieses Argument besteht in einer Erhöhung der Arbeitsanforderung („mit ner strengen disziplinierten Einteilung"); diese befindet sich freilich im irrealis („ging's schon"; 543). Die Seelsorgerin möchte ihren Konflikt also auf der organisatorischen Ebene lösen. Sie schiebt noch stärker als Frau Brix die Frage nach dem Etwas-für-sich-Tun auf die Aktionsebene. Das Für-sich-Tun wird zu einem neuen zusätzlichen Programmpunkt in der Zeiteinteilung, für den sich dann mit strenger Zeitdisziplin vielleicht Platz finden lassen würde. In therapeutischer Perspektive erscheint es fraglich, ob dies ein ausreichendes Ergebnis ist. Die möglichen Gründe und Hemmnisse bleiben unerforscht. Die Besuchte ist es, die nun sich selbst und die Seelsorgerin darüber hinausführt. Sie setzt gerade kurz an („nun muß man sich sehr_"; 546) und unterbricht sich dann aber zugunsten handlungsbegleitenden Sprechens in ihrer Rolle als Gastgeberin, die Essen anbietet (vgl. 4.1.1.). Dann nimmt sie den Faden wieder auf mit einem Darstellungsqualifizierer. Sie formuliert ihre Äußerung als eigene verallgemeinerbare Erfahrung: „Mir kommt einfach immer wichtig vor, daß man nicht gegen sich arbeitet" (552f.). Damit bringt sie einen neuen Gedanken ein: Das Etwas-für-sich-Tun gehört nicht unter den Gesichtspunkt der Pflicht, sondern den der Selbstliebe. Die Seelsorgerin bestätigt ihr diese Interpretation ausdrücklich und sagt leise: „hm genau" (554). Die geringe Lautstärke mag als so etwas wie ein Eingeständnis gedeutet werden. Nach einem auf dem Tonband nicht verstehbaren Moment, in dem wahrscheinlich die Besucherin etwas sagt (555), expliziert Frau Brix ihre These mit Darstellungsqualifizierern: 255
556
B1 , lS
560
[B1 S B1
562
566 567 568 570 571
also nicht sich rennen abverlangt zu einer Tageszeit wo man nicht möchte oder so nicht? hm [2] aber, das ist auch schon η bißchen Luxus den hm man sich in meiner trostlosen Situation zulassen kann n? man man ist ja doch sehr stark von Überraschungen im Tageslauf [2]
B1 programmiert. S hm B1 = nicht? ich mein Sie können sich das noch so schön ausgedacht haben dann ruft jemand an, will was, S ja jB1 bums ist das anders nicht? S hm hm [3]
Das Etwas-Gutes-für-sich-Tun besteht für die Gastgeberin gerade darin, Zeitmangel zu vermeiden, besonders darauf zu achten, wo das Tun nicht mit Lust geschieht. Die These wird von der Seelsorgerin mit einem unauffälligen Unterstützungsmarkierer ratifiziert. Die Entfaltung dieser These unternimmt dann die Gastgeberin selbst. Sie zeigt keine therapeutische Zurückhaltung, sondern spricht von sich selbst. Dennoch hat die Aussage für die Seelsorgerin therapeutischen Wert. Eine andere Erfahrung wird neben die der Seelsorgerin gestellt. Statt unter der Rubrik Disziplin wird hier das Für-sich-etwas-Tun als „schon η bißchen Luxus" (560) begriffen, als etwas, das man „sich ... zulassen kann" (562). Dabei beschreibt die Gastgeberin ihre eigene Lage mit starken Worten: „in meiner trostlosen Situation" (562). Das dürfte sich darauf beziehen, daß die Besuchte regelmäßig mehrere todkranke Patientinnen betreut.46 Die durch diese Situation gegebene Besonderheit, daß man über die eigene Zeit nicht selbstbestimmt verfügen kann, wird von ihr anerkannt. Damit zeigt die Besuchte ein anderes Zeitmanagement als die Seelsorgerin und verknüpft dies mit einem therapeutischen Grundsatz, der statt einer Lehre des Pflichtbewußtseins die Genußfähigkeit betont: nichts gegen sich selbst tun. Die Begegnung mit einer solchen Einstellung hat für die Seelsorgerin therapeutischen Wert. In diesem zweiten Teil der therapeutischen Episode wird also die Seelsorgerin selbst zum Objekt, an dem das Geschehen Therapie übt; und noch mehr: diese Therapie scheint auch etwas zu sein, für das weniger die Seelsorgerin selbst als vielmehr ihr Gegenüber einen wichtigen Faktor darstellt. Die Besuchte - so ließe sich etwas provokant formulieren therapiert die Seelsorgerin. 46 Vgl. Bl:86ff. 187ff. 273ff. Ob damit zugleich auch die eigene Befindlichkeit als „trostlos" bezeichnet werden soll, läßt sich nicht mit Eindeutigkeit feststellen.
256
Eine Episode bleibt dieses Geschehen im Gesamtgespräch. Nur ein kleines Stück ist es, um das die Gastgeberin den Konfliktverarbeitungsprozeß in der Seelsorgerin vorantreiben kann - und zwar so, indem sie ihn bei sich selbst vorantreibt. Doch es macht schon einen Unterschied aus, den Konflikt zwischen Arbeitszeit und Selbstansprüchen nicht nur unter dem Aspekt der Disziplin zu begreifen, wie dies die Seelsorgerin tat, oder unter dem Aspekt des Fitnessprogramms, wie dies die Besuchte zunächst tat, sondern nun unter dem des einem zustehenden Luxus.47 Die Klientin therapiert sich selbst in Absetzung von der Seelsorgerin und therapiert diese noch mit. Vor allem durch die Darstellungsqualifizierer der Klientin, nicht durch deren Reduktion eigener Darstellung, also mit einer durchaus anderen Mischung therapeutischer und alltäglicher Elemente, als sie sich im Beispiel von 5.3.1. fand, kommt es hier zur therapeutischen Episode. „ist bei ihr ja ganz ulkig nicht?" (Frau Brix, Bl:983)
5.3.3. Psychokiatsch Die in 5.3.2. beobachtete Häufung von Darstellungsqualifizierern von Seiten der Klientin Frau Brix kommt nicht von ungefähr. Die Gastgeberin verfügt über ein gewisses Maß an psychologisch-therapeutischem Grundwissen. Das Gespräch mit ihr hat deutlichen Anteil an der Popularisierung von Psychologie. Es reproduziert in sich ein Stück Psychokultur. Doch solcherart Reproduktion macht es nicht zu einem spezifisch therapeutischen Gesamtgespräch. Gerade in jener im folgenden analysierten Passage im Gespräch, in der die Psychokultur am greifbarsten ist, verliert sich der anfängliche therapeutische Charakter der Episode. Zunächst setzt die Gastgeberin mit einer summarischen Qualifikation ein, die sich vage auf zuvor Dargestelltes bezieht: 915
B1
917
S
das ist natürlich etwas, was [1] glaub ich sehr einem zu schaffen macht: die Sorge um die Kraft, nicht? ja [3]
47 Unter psychotherapeutischer Perspektive würde über den Horizont des Gesprächs und den Wortlaut des Gesprächs hinausgegriffen. Man könnte darauf verweisen, daß im Gespräch selbst sich die Beziehungsdynamik der Klientin wiederholt. So, wie sie sonst als Helferin die Nähe der Kranken sucht, vollzieht sie, inhaltlich eine orale genußvolle Zeitbeziehung propagierend, ebenfalls eine helfende Rolle. Eine tendentiell orale Persönlichheit zeigt sich hier (Gespräch mit M.Hauschildt, 26-/27.6.93.).
257
Die gleichzeitig mit Gewährungsinduzierern formulierte und auch als Darstellungsinduzierer hörbare Qualifikation erhält eine neutrale Bejahung. Daraufhin ergreift die Gastgeberin den nächsten turn nicht. Sie spielt damit in therapeutischer Weise ihrem Gegenüber die Möglichkeit zu einer genaueren Entfaltung der Zustimmung zu. Diese erfolgt dann auch: 919
S
922
B1
vor allem wo ich dann auch also bin ich schon seh ich im Zweifel ob [2] äm obs wirk_ ο obs m ja, ob sie mir wirklich fehlt oder ob ich nicht bloß so tu. [ganz leise:] gut+
Die Seelsorgerin ringt offensichtlich um einen adäquaten Ausdruck für die Ambivalenz. Diese stellt sich zum Schluß dann dar als die Frage, ob die Kraft objektiv bei ihr nicht vorhanden sei oder nur subjektiv fehle, genauer: nicht von ihr wahrgenommen wird. Diese errungene Ambivalenzdarstellung („ob ich bloß so tu"; 921) unterstützt die Gastgeberin ausdrücklich. Dann fährt die Besucherin fort: 923
S Γ
926 927 928 930
wissen Sie Frau Hahn die äh tut mir noch immer und das ist [laut:] so was in meinem
B1 ( S Über-Ich auch drin+ nicht gell, B1 m S = ei jetzt aber [2] chaha
)
Die Seelsorgerin konkretisiert ihre vorige Aussage, indem sie eine gemeinsame Bekannte benennt, bei deren Anwesenheit sie den angesprochenen Konflikt besonders erlebt. Sie setzt an zu einem Bericht über diese Frau („sie tut mir noch immer"), doch dann wendet sie den Sachverhalt zu einer Aussage über sich selbst. Dazu benutzt sie einen Fachterminus aus der Psychoanalyse: „Über-Ich" (926).48 Dann übernimmt Frau Brix wieder das Rederecht. Sie assoziiert in untherapeutischer Weise ein eigenes Erlebnis, das sie für vergleichbar hält: 931
B1
j 936
S B1
938
S
oh wissen Sie, da entsinn ich mich natürlich an so Kinderzeit wo das so üblich war: äm daß man sehr danach guckte ob man jetzt nun wirklich krank war oder vielleicht nur faulkrank war nicht? ja jaja genau. und ich brauchte (nicht) krank zu sein, weil ich weil ich gern zur Schule ging. hm
48 Die beiden darauffolgenden Beiträge der Besucherin vermag ich nicht zu klären: „=ei jetzt aber" - [2] - „chaha" (928-930). Wahrscheinlich waren sie durch nonverbale Handlungen im Gespräch vereindeutigt. Jedenfalls unterstreichen sie noch einmal das angesprochene Dilemma samt seiner psychologischen Deutung.
258
939
B1
942
S
aber irgendwo steckt in uns _ jetzt sagt mir eine Dame die wirklich als Lebensbewältigung für ihre Zartheit und so hat sie η ganz starken hysterischen Touch. hm
Daß Kräfte im Menschen abhängig sind von seiner inneren Einstellung zu dem, für das Kräfte eingesetzt werden sollen - so ungefähr dürfte der gedachte Vergleichspunkt bei dem Beispiel der Gastgeberin liegen. Frau Brix setzt dann auch an, eine qualifizierende Summe zu ziehen („aber irgendwo steckt in uns"; 939). Sie unterbricht aber sich selbst durch den Bericht eines weiteren Erlebnisses mit einer Frau. Diese Person wird von ihr mit einem psychologischen Terminus charakterisiert: hysterisch. Die Klientin zeigt sich damit als psychologische Fachfrau. Sie will, wie der folgende Abschnitt zeigt, den Begriff nicht als Schimpfwort verstanden wissen, sondern als analytischen Terminus: 943
B1
946 947 948 949
S B1 S B1
952 953 954 955
S B1 S B1
957
S
ich hab von Ernst Kretschmer gelernt, das ist auch ein Weg, das istn kein kein schlechter oder guter Weg das ist ein Weg, = h m , hm = drum äh bin ich dem gegenüber völlig offen. h-m aber sie sagte „ wissen Sie, meine größte Sorge war bloß ich könnt hysterisch sein" ( ) ja furchtbar ahaha und da muß man natürlich achtgeben daß [lachend:] man dann sein Gesicht+ wahrt. hm
Dieses Fachwissen wird jetzt nicht in den Dienst eines therapeutischen Interesses gestellt; es hat auch nicht den Zweck, Sachinformationen zu vermitteln. Vielmehr verschiebt sich das Interesse auf den Bericht von der Begebenheit selbst. Auch die beschriebene Person kannte und verwendete den Begriff. Sie sprach unbeabsichtigt eine Wahrheit über sich selbst aus, was Frau Brix jedoch durchschaute. Die ahnungslose Treffsicherheit jener Frau in Konfrontation mit dem psychologischen Wissen der Gastgeberin erzeugte eine komische Situation. Die Erinnerung an die Situation, in der „man ... sein Gesicht" (958f.) wahren muß, ist ihrerseits lustig. Die psychologische Kenntnis verhilft so zu einer unterhaltsamen Erinnerung. N u n aber qualifiziert die Klientin von daher auch das eigene Verhalten: 958
B1
960 961
S jB1 S
aber ich muß mich manchmal auch angucken: bin ich nicht zu weit vorgesprescht hasiehe uns gestern also ja durch dieses immer nein nicht hysterisch m
259
963
B1
965 966
S B1
werden, nein nie nein sagen, immer bereit, allzeit bereit. °h-m° find ich auch manchmal da einfach übertrieben. [2]
Das Stichwort „hysterisch" bezeichnet nun die eine Möglichkeit, gegenüber der sich Frau Brix abgrenzen will. Die Gastgeberin dürfte ,hysterisch sein' mit ,Nicht-nein-sagen-Können' parallelisieren wollen, also unter „hysterisch" verstehen, „übertrieben" (966) engagiert zu sein. Ihr Gegenüber, die Besucherin, beschränkt sich auf vage Darstellungsunterstützung. Frau Brix weiß nun von einer weiteren Frau zu erzählen: 968
B1 j
973
S B1
975 976
S B1
980
983
, 5 B1
[lautes Ausatmen] [lachend:] ich mein+ das ist natürlich ich habe mit Frau Meier die natürlich Frau Hahn auch seit vielen Jahrzehnten kennt halt, hm weil sie als zwei {Beruf des MannesJ-Cattinnen ja mitnander zu tun hatten, m ich lieb Frau Meier sehr sie ist η ganz ernster Mensch, und [lachend:] irgendwie kam+ da auch sowas wo ich_ ich denk dann immer äh: sie sie muß manchmal son bißchen übertrieben irgendwas sagen, das ist nun mal so nicht? da darf man sich selbst kein bißchen anziehen gerade die Frage von krank oder gesund 'hm' ist bei ihr ja ganz ulkig nicht?
Lachend wird berichtet von der Übertriebenheit der Frau Meier. Sie zu durchschauen, das ist lustig. Deren ungewöhnliche Verhältnisbeschreibung von krank und gesund gilt der Besuchten als „ulkig" (983). Das Thema insgesamt erzeugt nun Heiterkeit. Mehrfach wieder wird durch Darstellungsinduzierer („nicht?"; 979. 983) die Seelsorgerin zur Beteiligung aufgefordert, bis sie es dann auch tut: 984
S
986
[B1 S ,B1 S
988
991 992
B1 S
ja, das ist so das mit dem Leiden das haben wir ja schon mal festgestellt, [schnell:]=des darf man gar nicht dran denken weil so nicht?+ [mit hartem Anschlag:] öö höchtens Jesus hat ge[lachend:]litten aber+ sonst alle,
ja
also da müßte man dann schon weit gehen ne.
Die Pfarrerin subsumiert die Begebenheit unter das Thema Leiden und erinnert an ein vorangegangenes Gespräch. Dabei ist für uns nicht ganz eindeutig, ob das Gespräch mit der Gastgeberin und/oder Frau Meier stattfand. Die Gastgeberin möchte den turn behalten (986). Sie entfaltet die 260
„Frage von krank oder gesund" (981) als die Aussage, man dürfe gar nicht schon nur dran denken (wahrscheinlich will sie damit jene Frau Meier zitieren, ganz eindeutig ist das aber nicht). Auch die Seelsorgerin führte währenddessen („weil so"; 987) ihre Aussage weiter und scheint ebenfalls die Frau Meier zu zitieren. Die These, höchstens Jesus habe gelitten im Gegensatz zu allen anderen, wird von der besuchenden Erzählerin selbst als abstrus-lustig dargeboten. Damit steigt sie auf das Angebot der Gastgeberin zur unterhaltsamen Rede ein und tut es ihr gleich. Man hat Spaß im Erzählen über andere. Wieder ernsthafter wird die These der Frau Meier noch von der Seelsorgerin zusammenfassend weiter expliziert: „also da müßte man dann schon weit gehen ne" (992).49 N u n formuliert Frau Brix eine Modifikation: 993
B1
j S S
998
1001
B1 r L
1004
S B1
1007
S
allerdings ich glaube sie wenn jemand furchtbar gehauen wird oder schrecklich Hunger hat, das kann sie auch noch anerkennen, aber alles übrige das si_ sind wir selber schuld nicht? | aber ich glaube-1 wenn's vor ihrer Nase war würde sie's auch würde sie auch sagn naja, das ist mir sehr die Frage ob das ob [4] ich glaub sie selber muß sich ständig so kontrollieren, daß sie diese Dinge nicht tja richtig sieht nicht? oder nicht offen sieht, richtig wissen wir vermutlich auch nicht aber nicht offen sieht. hm [5]
Ein kurzer Diskussionsgang entsteht. Seine beiden Beiträge werden durch Gegensatzanzeiger („allerdings", „aber"; vgl. 4.2.2.b) eingeleitet; mit dem letzteren bricht die Besuchte in den noch nicht beendeten turn der Gastgeberin ein. Man ist sich nicht einig, in welchem Fall die Frau Meier doch auch anderen als nur Jesus ein ,Leiden' zuerkennen würde. Beide Gesprächspartnerinnen führen die Diskussion nicht fort. Nach der Pause von vier Sekunden resümiert die Gastgeberin mit einer psychologischen Vermutung: Es ist eine innerpsychische Dynamik, der Zwang zur Kontrolle, der bei Frau Meier eine adäquate Beurteilung verhindert. Die adäquate Beurteilung stellt sich zunächst für die Frau Brix als ,richtige' Beurteilung dar, doch dann korrigiert sie sich: „offen" (1004f.) soll sie sein. Diese Differenz erklärt sich daraus, daß sie von Frau Meier weg auf das
49 Diese Aussage soll wohl ähnlich gemeint sein wie die vorige: Bis etwas als Leiden anerkannt wird, „müßte man dann schon weit gehen".
261
„wir" bezogen wird: Sie, die Gastgeberin und die Besucherin, 50 können zwar auch nicht mit letzter Sicherheit sagen, was richtig ist, sehr wohl aber die Dinge ,offen sehen'. Frau Meier durchschaut nicht, was psychisch in ihr vorgeht. „Wir" hingegen sehen die Dinge offen, wir durchschauen sie. Die Besucherin stimmt dem unspezifisch („hm"; 1007) zu. Dann ergreift niemand den turn. Endlich beginnt in der folgenden Passage noch einmal Frau Brix, knüpft ihre Aussage als Begründung an ihren vorigen Redebeitrag an („denn"). Wieder präsentiert sich das Ganze als ein lustiges Durchschauen jener Person: 1009
B1
1012 1013 1014 1015
S B1 S rB1 L S B1
1017
denn wenn ich sie seh wie sie ihre zarten Fingerchen knotet und zwei [lachend:] Knoten in ihre+ Beinchen macht, hm dann [mit hartem Anlaut:] hm+ nicht? h-m dann ahne ich was da an Schwierigkeiten gibt ja nicht? dann sind mir irgend so so ganz dicke so [lachend:] lässige_+ ja Sie verstehen sicher nicht? [4]
Die Episode endet mit einer Aussage über sympathische Typen. 51 Die Gastgeberin fordert mit wiederholten Gewährungsinduzierern („nicht?"; 1013. 1017) eine deutliche Unterstützung vom Gegenüber ein, ohne sie zu bekommen. Was als Versuch der Auslotung von Ambivalenzen bei sich selbst und dem Gegenüber begann, endet so in der fröhlichen Psychoskizzierung etwas seltsamer Menschen. Vom therapeutischen Ansatz herkommend, verliert sich diese Episode in einer Gesprächsweise, die dem Klatsch nahekommt. Man könnte diesen Gesprächsausschnitt als ein Beispiel milden und gebildeten Psychoklatsches verstehen. U m diese These zu belegen, möchte ich an den von Jörg Bergmann herausgearbeiteten Bedingungen von Klatsch entlanggehen und sie auf die analysierte Passage anwenden, Zum „Klatschobjekt" - hier Frau Meier - kann jemand werden, der abwesend ist, den die Gesprächsteilnehmer kennen und über den es Privates zu berichten gibt.52 In unserem Fall besteht das Private in dem Wissen um ihren hysterisch erscheinenden Charakter, ihr hysterisch erscheinendes Verhalten und den selbstentlarvenden Ausspruch. Ein „Klatschproduzent"
50 Ob im „wir" der Kreis über die beiden Gesprächsbeteiligten hinaus gezogen wird, kann nicht eindeutig entschieden werden. 51 Gemeint sind wohl nach E.KRETSCHMERS Lehre die Pykniker (Körperbau und C h a r a k t e r , [1921]; 3 2 - 3 7 ) .
52 BERGMANN, Kap. 11,2.: „Das Klatschobjekt", 67-76.
262
- hier die Gastgeberin - weiß mehr Privates über das Klatschobjekt als andere, er „dringt... in den Innenraum der sozialen Existenz eines anderen ein und drängt dann ... mit seinem Wissen ... nach außen". 53 Der „Klatschrezipient" - hier die Seelsorgerin - „ist keineswegs nur ein passiver Beteiligter", sondern muß ebenfalls bestimmte Bedingungen erfüllen, eben die Bekanntheit mit dem Klatschjobjekt, und er muß Bereitschaft zum Klatsch zeigen.54 Typisch für den Klatsch ist, daß er „im Handlungsrahmen - man kann auch sagen: unter dem Deckmantel - von gesellschaftlich akzeptierter Geselligkeit" stattfindet; „Klatsch ist nicht das Telos dieser sozialen Zusammenkünfte, sondern ... ein Nebenprodukt, das sich aufgrund der personalen Konstellation von selbst und jedenfalls ungeplant ergibt." 55 Eine therapeutisch beginnende Episode innerhalb eines Gesprächs anläßlich eines Geburtstagsbesuchs veränderte sich in unserem Beispiel in klatschähnliches Verhalten. Ein Klatsch beginnt mit der „Etablierung des Klatschobjektes". 56 Details brauchen, ja dürfen noch nicht preisgegeben werden, zu klären ist nur, daß die Person dem Klatschrezipienten bekannt ist; es wird dabei „die Position von Klatschproduzent und Klatschrezipient lokal ausgehandelt" 57 , also die Rollenverteilung durchgeführt. In unserem Fall erfolgt hier nicht zuerst die übliche kurze Nennung des (Nach)namens 58 , sondern die Gastgeberin führt eine Person anonym ein: „jetzt sagt mir eine Dame" (Bl:939f.). Es ist nicht ganz deutlich, ob die eingeführte Person schon mit der später namentlich genannten Frau Meier identisch ist oder nicht; in ihrer Charakterisierung entspricht sie ihr jedenfalls völlig. Daß der Name (noch) nicht genannt wird, könnte damit erklärt werden, daß im Tonband ein weiterer potentieller Hörer des Gesprächs anwesend ist. Fremde Zuhörer aber verhindern, daß geklatscht wird. 59 Schon kurz vorher hatte die Seelsorgerin von sich aus einfach eine gemeinsame Bekannte namentlich eingeführt: „wissen sie Frau Hahn die äh tut mir noch immer" (923f.) - dann allerdings hatte sie nicht weitererzählt davon, was Frau Hahn sagt, sondern einen Reflexion über sich selbst im Verhältnis zum eigenen Uber-Ich angeschlossen. Immerhin war damit auch von ihrer Seite her akzeptiert: Es darf über andere gesprochen werden. Nicht nur die Rollenverteilung und die Möglichkeit von Klatsch müssen etabliert werden, als weiteres ist dessen Akzeptanz nötig. Bei der „Darbietung des Klatschwissens" 60 muß sie ständig gesichert werden. Aus dieser Aufgabe ergibt sich das „unentbehrliche Instrumentarium der Klatschpro-
5 3 BERGMANN, 9 1 ; K a p . 11,3: „ D e r K l a t s c h p r o d u z e n t " ,
74-91.
5 4 BERGMANN, 9 1 ; K a p . 11,4: „ D e r K l a t s c h r e z i p i e n t " , 9 1 - 9 7 . 5 5 BERGMANN, 1 0 3 .
5 6 BERGMANN, 115.
5 7 BERGMANN, 1 1 9 .
58 So der typische Klatschbeginn nach BERGMANN, 115f. 5 9 V g l . BERGMANN, 9 2 .
6 0 BERGMANN, 1 4 0 - 1 6 6 .
263
duktion". 61 Es hat fünf Merkmale: Mitteilungswürdigkeit, Glaubwürdigkeit, Beteuerung der eigenen moralischen Unschuld, Bewertung des Erzählten, Generalisierung. 62 Sie alle finden sich auch in unserem Beispiel. 1. Daß etwas als mitteilungswürdig gelten muß, ist in unserem Fall dadurch gesichert, daß der Klatsch sich als Beitrag zu einem bereits diskutierten Thema ergibt. Er bringt in dieses Thema aber etwas Neues ein. Er entspricht damit der „in der Klatschkommunikation generell vorherrschende[n] Tendenz, in der Rekonstruktion eines Ereignisses das Außergewöhnliche, das Unerwartete, das Unkonventionelle, das Pikante, das Befremdliche, das Unschickliche, das Unmoralische, das Absonderliche im Verhalten des Klatschobjekts zu betonen". 63 Die Pikanterie liegt in unserem Beispiel im Begriff des Hysterischen. Gesteigert wird das Ganze durch ein im Klatsch beliebtes Mittel, das Zitat. Bei unserem Beispiel kommt es zur Klatschaussage: „aber wie sie sagte ,wissen Sie, meine große Sorge war bloß ich könnte hysterisch sein'" (949f.). Das Zitat „fungiert als entscheidendes stilistisches Mittel der szenischen Dramatisierung". 64 2. Klatsch muß „glaubwürdig" sein und enthält deshalb gerne „Autorisierungsstrategien" 65 . Dazu sind wieder die Zitate geeignet, fungieren sie doch als „Authentizitätsmarkierungen". 66 „Hysterisch"- dieses Urteil ist eines, das die besprochene Person selbst gefällt hat. 3. Klatsch, die Verbreitung intimer Details über gemeinsame Bekannte, ist eine moralisch problematische Angelegenheit. Sooft er auch ausgeübt wird, gilt er als eine gesellschaftlich und noch mehr kirchlich verpönte Angelegenheit. Man soll nicht schlecht übereinander reden. Das wirkt auf das Klatschen selbst ein. Wichtig ist darum zu demonstrieren, daß der Klatschinhalt passiv erworben wurde67, also nicht aus Neugier oder mit dem Ziel des Klatsches erschlichen wurde. Frau Meier selbst verwendete den pikanten Begriff „hysterisch". Wer also mitteilt, sie sei hysterisch, tut nur, was sie von sich selbst sagt. Immerhin, es bleibt eine moralisch pro-
6 1 BERGMANN, 139.
62 BERGMANN, 137-139. BERGMANN führt zusätzlich klatschtypische Eröffnungen vor: Akzeptanz wird entweder von Seiten des Klatschproduzenten durch „Klatscheinladungen" (120-126) oder von Seiten des Klatschrezipienten durch „Klatschangebote" (130-135) eingeholt. In beiden Fällen evoziert die klatschbereite Seite vom Gegenüber die Erlaubnis zum Klatsch. Eine erste Andeutung wird geäußert, die eine interessierte Rückfrage des Gegenübers auslösen soll. Erst dann kann der eigentliche Klatsch beginnen. Dieser Mechanismus findet sich in unserem Beispiel nicht. Er hätte es auch zu deutlich für alle Beteiligten gemacht, daß jetzt Klatsch zu erwarten ist; dazu war aber eben durch den zusätzlichen Hörer (das Tonband) nicht der Raum gegeben. Formal tritt in unserem Beispiel an seine Stelle das Mittel der „präventiven Dementis" (138; vgl. die Ausführungen zum 3. Charakteristikum). 6 3 BERGMANN, 1 3 7 .
6 4 BERGMANN, 1 5 4 .
6 5 BERGMANN, 1 3 7 f .
6 6 BERGMANN, 1 5 5 .
6 7 BERGMANN, 1 3 7 .
264
blematische Angelegenheit, jemand anderen als „hysterisch", also als nahezu verrückt zu erklären. Nun lassen „die Klatschproduzenten in ihren Äußerungen immer wieder erkennen, daß sie den moralisch kontaminierten Charakter ihres "Wissens nicht aus den Augen verloren haben".68 So kommt es zur Absicherung mit „präventiven Dementis".69 Der Begriff „hysterisch" wird von der Klatschproduzentin entschärft, noch bevor das eigentliche Zitat über die Frau Meier erfolgt: 943
946 947 948
B1
ich hab von Ernst Kretschmer gelernt, das ist auch ein Weg, das istn kein kein schlechter oder guter Weg das ist ein Weg, S = hm, hm B1 = drum äh bin ich dem gegenüber völlig offen. S h-m
Erst nachdem der Begriff als nicht böse gemeint etabliert ist und vom Gegenüber die gute Absicht auch ratifiziert ist, kann die eigentlich pikante ,Story' über die Frau, die sich selbst hysterisch nennt, ,zum Besten' gegeben werden.70 4. „Klatschproduzenten präsentieren ihre Klatschinformationen nicht in der distanziert-neutralen Art eines Nachrichtensprechers. Denn für die Klatschakteure ist primär nicht das auf seinen Informationsgehalt reduzierte Klatschwissen von Belang, sondern dessen Kommentierung und Bewertung."71 So gibt denn die Gastgeberin im Anschluß an ihr Zitat auch sogleich eine Wertung ab: „furchtbar" (953). Daraufhin entfährt der Seelsorgerin ein kurzer Lacher („ahaha"; 954). Dann erst entfaltet die Gastgeberin die lustvoll-lustige Komponente des Ereignisses: „und da muß man natürlich achtgeben, daß [lachend:] man dann sein Gesicht + wahrt" (955f.). „Im Klatsch geht es immer um die gleichzeitige Verletzung und Respektierung von Grenzen - von Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, zwischen dem Dezenten und dem Indezenten, zwischen der Moral und der Unmoral und ... auch zwischen der Wahrheit und der Unwahrheit."72 Darin besteht gerade der Lustgewinn. Gerne greift der Klatsch deshalb auch zum Mittel der Übertreibung. „Die Ereignisrekonstruktion im Klatsch ... wird bestimmt vom Formprinzip der Karikatur."73 Die Gastgeberin beschreibt Frau Meier folgendermaßen: „wenn ich sie seh wie sie ihre zarten Fingerchen knotet und zwei [lachend:] Knoten in ihre + Beinchen macht" (1009-1011). 5. Das letzte Merkmal des Klatsches ist die Generalisierung. Es besteht ein Interesse daran, das berichtete Erlebnis einem „soziale[n] Typus" zuzuordnen.74 In unserem Beispiel vertritt Frau Meier den Typ einer Frau, die 68 BERGMANN, 138.
69 BERGMANN, 138.
70 Vgl. auch Bl:976: „ich lieb Frau Meier sehr sie ist η ganz ernster Mensch". 7 1 BERGMANN, 138f. 73 BERGMANN, 164.
7 2 BERGMANN, 163. 74 BERGMANN, 139.
265
in übertriebener Weise nie nein sagen kann und nie Krankheit und Leiden zuläßt. Sie dient als Negativfolie, von der sich Gastgeberin wie Besucherin genüßlich absetzen können. Der Klatsch in unserem Beispiel findet unter erschwerten Bedingungen statt. Das Tonband hört mit. O b dadurch mitbedingt oder nicht - der Klatsch bleibt milde. Der Horizont, aus diesem lustvoll erzählten negativen Beispiel etwas Ernsthaftes zu lernen über das Nie-nein-Sagen (963), das Leiden (984), das Offen-Sehen (1104-1106), schimmert immer wieder durch. Insbesondere erweist sich die Besucherin als keine besonders anregende Klatschrezipientin. Doch auch sie ist beteiligt. Sie verkleinert die Schwelle durch ihre Bereitschaft, über andere zu reden (923f.), sie beteiligt sich am Spekulieren (998f.), und sie gewährt ihrem Gegenüber durch die Unterstützungssignale (vor allem „hm") doch eine gewisse Zustimmung. Andererseits setzt sie durch das Einbringen des Themas Leiden dem klatschartigen Gesprächsverlauf anderes entgegen - ohne Erfolg. Als sich zum Schluß die Gastgeberin in Andeutungen ergeht, kommt keine verbale Rückmeldung von Seiten der Pfarrerin mehr. Nach einer viersekündigen Pause überführt sie das Gespräch in Small talk über das Essen (1009). Wenn es zu solch einer Psychounterhaltung mit Klatschstruktur kommt, nachdem die Episode therapeutisch begonnen hatte zwischen zwei Personen, die wir in Abschnitt 5.3.2. als alltagstherapeutisch interessiert und versiert kennengelernt hatten, dann stellt sich die Frage: Welche für das Gespräch selbst wichtige Beweggründe gibt es, so die Sache in Richtung Klatsch zu verschieben? Das hier gehäufte Lachen zeigt, daß der Klatsch einen Lustgewinn bringt. Gemeinsam empfundene und geteilte und moralisch nicht ungefährliche und dann - in unserem Fall - doch auch wieder abgemilderte Lust erhöht die Gemeinsamkeit. 75 „Wissen über die privaten Dinge eines anderen ist moralisch kontaminiertes Wissen und setzt damit diejenigen, die es zwischen sich austauschen, in ein Verhältnis der Mitwisserschaft. Der Klatschrezipient befindet sich gleichsam in der Situation desjenigen, der eine Gabe annimmt, von der er selbst ebenso wie der Geber weiß, daß sie gestohlen ist. Diese Mitwisserschaft schlingt ein Band der Gemeinsamkeit u m die Klatschakteure und wirkt auf deren Beziehung." 7 6 „Das Recht, über bestimmte Leute zu klatschen, d.h. über ihre persönlichen Angelegenheiten ein - moralisch kontaminiertes - Wissen weiterzugeben oder zu erfahren, ist ein Privileg, das nur auf jene Personen ausgedehnt wird, die sich wechselseitig als Mitglieder in diesem Beziehungsnetzwerk anerkennen." 7 7 „Daß man mit anderen klatscht, ist ... - soziologisch betrachtet - fast ebenso wichtig, wie daß über einen geklatscht wird. ... , N o gossip, no companionship'." 7 8
75 Vgl. das in 4.1.2.bl zum Bereitstellen von Genußmitteln Gesagte. 7 6 BERGMANN, 9 3 . 7 8 BERGMANN, 9 7 .
266
7 7 BERGMANN, 9 6 .
Klatsch realisiert eine für den Alltag wichtige soziale Funktion; daran partizipiert auch das klatschartige Gespräch zwischen Gastgeberin und Besucherin. Da in der Alltagsseelsorge auch außerhalb der Gesprächsinstitution soziale Beziehungen zwischen den beiden beteiligten Personen in mehr oder minder großem Ausmaß bestehen können, ist Klatsch hier überhaupt möglich. In der klassischen Therapie verhindert die Reduktion auf die therapeutische Beziehung schon von vornherein den Klatsch. Intime Mitteilungen über nicht gemeinsame Bekannte bringen einen viel geringeren Lustgewinn. Die Flexibilität und Unabgeschlossenheit der Alltagsseelsorge hingegen bedingt in sich die Möglichkeit, daß aus einer therapeutischen Episode Klatsch werden kann. Unter therapeutischen Gesichtspunkten ist dies problematisch nicht nur im Hinblick auf die therapeutische Beziehung der beiden Partnerinnen; auch läßt sich der Klatsch über andere, die viel schlimmer sind als man selbst, als ein Abwehrmechanismus begreifen, der eigene Ambivalenzen nur auf andere projiziert. Wenn man sich über das Nicht-nein-sagen-Können der Frau Meier ,mokiert', erscheinen die eigenen Probleme damit als verschwindend gering; der Leidensdruck über die eigenen Ambivalenzen wird überführt in den unmittelbaren unterhaltsamen Lustgewinn der Situationskomik. 79 In dieser Perspektive mag es erstaunlich erscheinen, daß seit einigen Jahren in der Öffentlichkeit Klatsch geradezu zum „Alltagstherapeutikum" 80 aufgeweitet wird. Doch ist damit die schon angesprochene und sozial positive Funktion und der Lustgewinn angesprochen. Diese bereits als therapeutisch zu bezeichnen, entspricht nicht unserer Verwendung des Begriffs. Er hätte dann keinerlei abgrenzende Funktion mehr und wäre ebenso auf Small talk, Gastgeschenk, Lachen und Erzählen überhaupt anzuwenden. Klatsch erwies sich uns vielmehr als ein vom Therapeutischen durchaus unterschiedener Gesprächstyp. Dieser zeigte sich als Beispiel dafür, wie die therapeutische Episode wieder in einen Subtyp alltagsgesprächigen Handelns überwechseln kann. Das demonstriert noch einmal den Alltagscharakter der Seelsorge. Sie enthält durchaus Episoden von
79 Eine ganz kurze unterhaltsame Einlage bietet Frau Brix in Bl:215-218. 80 BERGMANN beschreibt diese Tendenz mit einem kritischen Unterton: „Klatsch gilt heute nicht mehr wie selbstverständlich als eine verpönte Praxis, von der man sich distanziert, sondern wird weithin als .Alltagstherapeutikum' entdeckt und unverhohlen als eine Art von Volks-Psychotherapie gefeiert. ,Klatsch - Balsam für die Seele', unter solchen und ähnlichen Überschriften finden sich seit einigen Jahren in Frauenjournalen und anderen Zeitschriften kleine Ratgeberartikel oder Glossen, die öffentlich zu einer Lobpreisung des Klatsches ansetzen" (21 lf.; mit Belegen). Diesem „Prozeß der therapeutischen Nobilitierung" (212) steht Bergmann kritisch gegenüber, weil der Erfolg eines solchen Wandels in der Bewertung des Klatsches ja gerade das aufheben würde, was den Klatsch ausmacht: „nur als etwas Böses kann Klatsch Gutes tun" (ebd.).
267
Klatsch. Insofern ist es übertrieben zu sagen: Seelsorge ist Klatsch, aber sehr wohl berechtigt zu formulieren: Alltagsseelsorge ist auch Klatsch.81
„geh Frau {C2}! des sind doch keine Probleme." (Pfarrer, C2:970. 972)
5.3.4.
Therapieverweigerung
Kehren wir noch einmal zum Gespräch C2 zurück. Hier findet sich eine weitere Kombination von alltäglichen und therapeutischen Elementen: Eine Situation, die offen ist, auch als therapeutisch relevante Situation begriffen zu werden, wird von einer oder beiden Beteiligten als nichttherapeutisch erklärt. Die folgende Episode beginnt damit, daß der Seelsorger nach einer Information aus der Biographie der Klientin fragt und damit einen neuen Aufmerksamkeitsfokus setzt. Dieser Darstellungsinduzierer („wie lange ist jetzt Ihr Mann tot?"; 573) zieht dann den Bericht der Sterbegeschichte des Mannes der Klientin nach sich (578-604). Die Erzählung enthält als Rahmung eine anfangs und abschließend fast identisch formulierte Bewertung der Bedeutung des Ereignisses für die eigene Lebensgeschichte: „ich hätt mir auch noch ein Leben aufbauen können aber:" (602. 604; vgl. 578f. 581). Im folgenden wird dann dieses „aber" ausgeführt: Der Erzählerin ist bewußt, daß ihre eigene Lebensgeschichte hätte anders verlaufen können, doch sie bejaht deren tatsächlichen Verlauf. Darin unterstützt sie der Seelsorger massiv, und sie holt sich diese Untestützung dann intensivierend verlängert ein: 606
C2 Γl S
610 611 612 613
C2 S C2 rl s C2
615
619 620
Ο s C2
es ist ganz gut so alles gegangen, ich bin allein geblieben bin allein geblieben Frau {2} so so wie Sie wie ich Sie erlebe ja so selbständig ja wären Sie nie in diesem Alter-| geworden, nie mehr geworden wer weiß wen man -1 nie mehr! äh wissen Sie mein Mann war so ein guter Mensch für d für alles für die Familie, und dann: wer weiß was man dann eintauschen würde! ja. ja. das wär dann entsetzlich ne.
81 Die analysierte Episode ist kein Einzelfall; eine weitere klatschnahe Passage findet sich in Dl:692ff.
268
621 622 623 624
S C2 S C2
626
C2
ja. lieber allein! ja. sagen Sie auch? [2] °ja° t2]
Das Thema ist damit abgeschlossen (die Besuchte beginnt danach ein anderes Thema). Der Seelsorger weigerte sich, der anklingenden gewissen Ambivalenz nachzugehen; er stützte stattdessen massiv die Annahme der tatsächlich gelebten Option. Aus welchen Gründen er das tut, mag dahingestellt sein. De facto bewirkt er damit, daß die Klientin an der Frage möglicher anderer gewesener biographischer Optionen ihre Ambivalenz nicht zum vollen Ausdruck bringen, geschweige denn verarbeiten kann. Darin liegt der therapeutische Nachteil seines Verhaltens. Die Ambivalenz wird hier nicht akzeptiert. Das wäre für ein streng therapeutisches Gespräch ein grundsätzliches Problem. Ohne volle Akzeptanz gibt es keine gute therapeutische Beziehung. Im alltagsnahen Gespräch hingegen kann die massive Stützung der gelebten Biographie durch den Seelsorger als alltägliche positive Zuwendung verbucht werden: Der Seelsorger reagiert eben wie ein gutmeinender sonstiger Besucher. Auch wenn dies untherapeutisch ist, wirkt es sich nicht störend auf die Beziehung aus. Es verhindert keineswegs, daß die Ambivalenz nicht später auf einem anderen Feld genauer benannt werden kann (wie dies dann auch de facto mit dem Thema ,Mutter-Tochter-Beziehung 2. Teil' geschieht; vgl. 5.3.1.). Ein weiteres Beispiel aus dem gleichen Gespräch: Frau Cordes macht ihrem Ärger über die neuen Fenster Luft: 914
C2
918 919
r LS fS C2
923 924 925 926 927 928 929 930 931
S C2 S C2 S C2 S C2 rC2 LS
ich hab mich sehr geärgert über neue Fenster, und zwar gibts jetzt ein Fensterbrett ich hab grad ge ( ) ich will nur mal nausschauen. tja ahh! ahh! unsere alte Hausmeisterin sagt sie kann mit den Kindern nimmer nausschaun, das Fensterbrett ist so breit geworden. achh. ja verrückt. und dann ist wieder eine Mieterhöhung ja, ja, damit verbunden, ja und ich wollts nicht! ja = ich _ meine Fenster waren tadellos in Ordnung, ich hab die Holzfenster lieber! ja
269
Der Seelsorger läßt sich berichten. Er ergreift dann eine Möglichkeit alltagstypischen Redens und setzt ein Argument für die neuen Fenster dagegen: 933 935
rS C2 rS C2 rC2 S
aber halten die nicht viel Lärm ab? ( ) aber die Straß is nit so laut. ( ) ich bemerk da nit viel Unterschied, nicht viel Unterschied, ja ja ja.
Das Argument des Seelsorgers wird von ihm selbst und der Gastgeberin entkräftet. Diese schiebt nun ihrerseits einen neuen Grund für den Arger nach: 939 940 941
C2 S C2
außerdem sind die Tapeten zerfetzt, ja hier, und muß jetzt irgendwie in Ordnung gebracht werden, und zuerst hat's gheißen: da kommt ein Tapezierer und das ist noch inklusive, das gehört dazu, und jetzt hab ich die Nachricht kriegt daß mans doch auch selber zahlen müssen, den Tapezierer in der ganzen Wohnung. [3]
Auch hier bietet der Seelsorger Widerstand. Er macht im folgenden praktische Vorschläge zur einfachen Beseitigung des Tapetenschadens, danach minimiert er die Bedeutung des Schadens und erklärt damit das Problem für der Bearbeitung nicht bedürftig: 948
S
950
,C2 S C2
952
ja und wenn'S da einfach drüberstreichen das sieht man doch gar nit i hätt jetzt jetzt da gar nix gsehn. hätten'S hahaha ach Sie Frau {C2} des lassen'S wie's ist, ja
Darauf bringt er noch ein paar andere Varianten von Vorschlägen ein: 953
S ^C2
958 960 961 962 963 964 965
270
rS C2 S C2 S rC2 S C2
oder sch_ oder oder irgend a braune Färb drüber wie nach dem Tapetenton gell, ich hätt noch a Stück Tapete von diesen alten aber: i hab no nie tapeziert und es soll ein Tapezierer kommen. und den müssen'S aber aber mir müssn selber zahln. den müssen'S selber zahln. h-m das lassen Sie Ihr Tochter machen. [Lachen] [Lachen] ja, h-m,
Gewisse Widerstände bei der Besuchten bleiben. In bezug auf die Kosten stimmt man dann überein. Der letzte Lösungsvorschlag bewirkt ein spannungslösendes gemeinsames Lachen. Daraufhin erklärt der Seelsorger unter Rückgriff auf vorher genannte Gesichtspunkte das Problem zum Scheinproblem: 966
S [C2
[S 971 972 973
C2 S rC2
975 976
C2 r C2 S
978 979
Ls
s
C2
also i hätt da gar nix gmerkt. ja, weil der Vorhang drüber ist ja ja weil der Vorhang darüber ist, weil der Vorhang drüber ist. und wer schaut'n dahinter, geh Frau {C2J! ja? des sind doch keine Probleme, [leiser:] aber es ist in dem Zimmer und im ja Schlafzimmer und in der Küche,+ ( ) wie Sie wolln. ich bedien mich, noch ein Schnaps, ja, ja.
Auch dagegen, daß der Seelsorger das Problem zum Scheinproblem erklärt, leistet die Gastgeberin zunächst Widerstand. Doch der Seelsorger ist schon auf handlungsbegleitendes Gespräch übergewechselt (977) und legt so sein Gegenüber auf die Rolle der Gastgeberin fest. Damit ist das Thema beendet. Der Seelsorger setzt sich auf diese Weise bei der Diskussion um die Schwere des Problems durch. Er verweigert sich, dem nachzugehen, worin eine mögliche, nicht nur durch objektive Umstände (Geldbetrag der Reparatur, ästhetischer Schaden in den Zimmern), sondern durch subjektives Erleben bedingte Problematik bestehen könnte. Er definiert damit die Aussagen der Besuchten als solche, die nicht therapiebedürftig sind. Aus welchen Gründen er das tut (möchte er gerne schon aufbrechen?), mag dahingestellt sein. Er signalisiert jedenfalls der Besucherin damit: Für dieses Problem ist unser Gespräch nicht zuständig; verschiedene einfache Lösungen (die Tochter zum kurzen Uberstreichen veranlassen oder den Tapetenschaden einfach von den Gardinen verdeckt sein lassen) sind genannt und können begangen werden. Für die offensichtlich noch bestehenden Probleme interessiert sich der Pfarrer nicht; sie sind ja ,objektiv' durch seine Ratschläge beseitigt. Dies ist eine durchaus alltagsgemäße Strategie, Schwierigkeiten zu reduzieren. Was sich einfach lösen läßt, muß nicht weiter hinterfragt werden. In therapeutischer Perspektive mag man auch hier wieder die schon bekannte Ambivalenz bei Frau Cordes zwischen Selbständig-sein-Wollen und Sichhilflos-Fühlen entdecken. Der Seelsorger tut dies nicht. So wird Raum frei, den Konflikt der Klientin an anderer Stelle zu diskutieren, dann nämlich, wenn er offensichtlicher von der Klientin benannt wird. Es ist derselbe 271
Grundsatz, den wir schon in 5.3.1. erarbeitet hatten. Zunächst wird eine alltagsnahe therapielose Lösungsmöglichkeit gesucht. Erst da, wo der Konflikt sich auch dann noch als drängend zeigt, wird er therapeutisch anerkannt. Es begegnet uns damit der aus der Therapie bekannte Grundsatz des Leidensdrucks als Bedingung von Therapie82 in alltagsnaher Form. Zunächst einmal werden die alltäglichen Problemlösungsstrategien ausprobiert. Was für die Psychotherapie und auch die therapeutische Seelsorge außerhalb ihrer selbst seinen Ort hat, nämlich in die ihnen vorgelagerten Gespräche im Alltag gehört, findet hier im professionalisierten Gespräch selbst statt. In den therapeutischen Institutionen sind Personen unterhalb der Leidensdruck-Schwelle nicht präsent und werden auch nicht erreicht werden. In der Alltagsseelsorge ist auch das Gegenüber ohne Leidensdruck präsent. Es bleibt alles für die Weiterführung des Gesprächs offen. Therapeutisch ist bei Therapieverweigerung nichts gewonnen, aber eben auch, weil es sich um eine alltagsnahe Situation handelt, nichts verloren. Therapieverweigerung kann sich ebenso von Seiten der Klienten ergeben. Im Gespräch El kommt es zu keinerlei therapeutischer Episode. In der Alltagsseelsorge können die Darstellungsinduzierer der Seelsorgerin („haben Sie mit dem Fluglärm?" [zu ergänzen: zu tun]; El:62; „Sie singen noch oder?"; 189) als Alltagsfragen beantwortet werden. Der Klient ergreift fast durchgehend die Möglichkeit, auf sie mit Ereignis-Berichten zu reagieren. Emotionale Gehalte läßt er nicht in den Vordergrund treten. Unter therapeutischem Gesichtspunkt ergäbe sich hier ein wirklicher Konflikt: Eine auf Therapie festgelegte Person wäre jetzt überflüssig. Therapie wird nicht realisiert, und doch: gerade weil sie nicht unbedingt realisiert werden muß, bleibt die gute Beziehung erhalten. So könnte es jederzeit, wenn es sich als notwendig erweisen sollte, - gleich ob von Seiten des Klienten oder der Seelsorgerin - zu einer therapeutischen Episode kommen. Alltagsseelsorge besteht nicht aus einem durchgehenden therapeutischen Gespräch. Es können aber in die alltägliche Rede solcher Seelsorge therapeutische Episoden eingesprengt sein. Diese können trotz nur teilweise therapeutischen Verhaltens während ihres Andauerns kleine therapeutische Fortschritte erzielen (5.3.1.); sie mögen sich unabhängig vom Gegenüber oder bei vertauschten Rollen ergeben (5.3.2.); sie mögen sich unmerklich wieder in Alltagskommunikation wie z.B. den Klatsch verlieren (5.3.3.); sie mögen durch das Verhalten von einer der beiden Seiten gänzlich abgewehrt werden (5.3.4.). In allen diesen Fällen erweisen sich die therapeutischen Episoden als etwas, das in eigener Weise in sich selbst Therapeutisches und Alltägliches kombiniert. Die therapeutischen Episoden bilden so eine gegenüber der Therapie eigene Form von institutionell und professionell beeinflußter Alltagskultur.83 82 Vgl. ζ. B. THILO, 67.
83 Hier liegt der Unterschied unserer Ergebnisse zu H.-C.PIPER, Probleme kurzfri-
272
Der Sachverhalt stellt sich von Seiten der Professionellen und der ,Laien' unterschiedlich dar. Die professionell Tätigen befinden sich hier nicht in einem professionellen Sonderraum, sondern im Alltag.84 Ihre therapeutischen Theorien überführen sie dort in ein Handeln, das mehrdeutiger ist als die Theorien. Aber gerade indem sie sich so verhalten, können sie der Situation des Alltags entsprechen. Blieben die Professionellen solche, die nur als therapeutische Experten therapeutisch kommunizieren könnten sie würden scheitern. Die therapeutischen Episoden würden nicht stattfinden können, weil kein Alltagsgespräch zustandekäme. Von seiten der Laien stellt sich die Lage noch einmal anders dar. Sie erleben die Professionellen zunächst als solche, mit denen sie auf ihrer Ebene, der Alltagsebene, kommunzieren wollen und können. Ob Professionelle sich theoriegemäß verhalten oder nicht, entzieht sich ihrer Kenntnis und liegt außerhalb ihres Interesses. Wichtig für sie ist deren Problemlösungsfähigkeit für das ganze Bündel von Problemen, so wie es sich im Alltag stellt: Bedürfnisse nach Unterhaltung, Ehrung, Zuspruch, Ambivalenzdarstellung, kleine Ratschläge, Informationen usw. Für dies alles nehmen sie das Gespräch mit der seelsorgerlich berufstätigen Person beim Geburtstagsbesuch in Anspruch; sie messen deren Fähigkeit daran, inwieweit sie dem Bündel als diffusem Bündel gerecht wird. Die besten Alltagstherapeutinnen und -therapeuten sind die, die nicht nur therapieren können und nicht immer therapieren müssen, aber die doch, wenn es nötig ist, mutig und begrenzt therapieren.
stiger Konfliktberatung im seelsorgerlichen Gespräch, 1976, 404-410. Piper schildert die Unstrukturiertheit der Anliegen von Klienten deutlich und ist „überzeugt davon, daß die weitaus größte Zahl seelsorgerischer Kontakte so oder ähnlich aussieht und ähnlich unbefriedigend verläuft" (406f.). Die „Problematik solcher Kontakte für den Berater/Seelsorger" (407) wird so bearbeitet, daß die therapeutische Aufgabe wäre, „für diesen Augenblick die Möglichkeit einer Entlastung [zu] bieten" (409). Das ist zwar „ein sehr bescheidenes Ziel" (ebd.) für den Seelsorger, aber immer noch eines, das die Gesamtsituation als therapeutische einordnet. 84 So bezeichnet auch ein Seelsorger seinen Geburtstagsbesuch gegenüber der Besuchten als „Grüß Gott sagen" (Al:133).
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KAPITEL 6
Geburtstagsbesuch als alltagstheologisches Gespräch „Mir schiene es dringender, praktisch-theologische Defizite in dem, was man Laien- oder Gemeindetheologie nennen könnte, aufzuholen. Ich frage, ob Theologen und Pfarrer sich nicht - statt die Selbstbespiegelung zu intensivieren eher um die Kenntnis und das Verständnis der Gemeinde und des Laien bemühen sollten. Hier liegt ein weites offenes Feld, das es zu bearbeiten gilt." 1
6.1. Ethik - Religion - Alltagsreligiosität a) Die therapeutische Seelsorge hat sich historisch als Bewegung zur Verbesserung der Seelsorgegesprächsführung entwickelt (1.2.3.c). Sie gibt sich methodisch und wirkt auf den ersten Blick inhaltsoffen: Entscheidend ist, daß von der Klientenseite her alles gesagt werden kann und so dann Heilung eintritt. Welche Inhalte und welche Werte im Gespräch thematisiert werden, scheint zunächst also ebenso zufällig zu sein, wie es unvorhersagbar ist, welche inhaltlichen Ergebnisse oder Werteveränderungen ein Gespräch nach sich ziehen wird. Dennoch: Innerhalb der Therapiediskussion in Theologie und Psychologie ist der Sachverhalt wohlbekannt, daß Inhalte, daß Werte mittransportiert werden.2 Die Setzung einer herrschaftsfreien, Normen sistierenden Atmosphäre ist selbst eine inhaltliche Position. Die therapeutische Gesprächsmethode realisiert bestimmte Werte.3 Sie befindet sich nicht in einem ethikfreien Raum. Gerade jüngst wurde in der protestantischen Seelsorge verstärkt auf diesen Zusammenhang hingewiesen.4 Ethik wird eingefordert als ein unausschließbares Element von Seelsorge5, als diejenige Dimension der Ver1 H.LUTHER, Pfarrer und Gemeinde, 1984, 26-45; 45. 2 V g l . J.SCHARFENBERG, S e e l s o r g e als G e s p r ä c h , [1972]; 1 0 8 - 1 1 1 .
3 Vgl. L.BREM-GRÄSER, Handbuch der Beratung für helfende Berufe, Bd.2, 1993; 32. 4 Man vergleiche die Aufsätze im Themaheft „Seelsorge und Ethik" in: PTh 80 H.l, 1991, 1-103, zum größten Teil von Mitgliedern der interdisziplinären Projektgruppe „Seelsorge und Ethik" der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie verfaßt. 5 F.WINTZER unterscheidet eine religiöse, eine ethische und eine kommunikative/ therapeutische Funktion bzw. Dimension von Seelsorge (Seelsorge zwischen Vergewisserung und Wertorientierung, 1991, 17-26; 18-24).
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mittlungsaufgabe der Seelsorge, die vom Seelsorger repräsentiert wird als die andere Seite der Wirklichkeit neben der Subjektivität des Gegenübers 6 , oder Seelsorge wird als derjenige Spezialfall von Ethik interpretiert, der die Aufgabe hat, die „Überwindung einer Entwicklungshemmung ethischer Kompetenz" zu erreichen.7 In diesen Konzeptionalisierungen wird Ethik, wird der verantwortungsvolle Umgang mit Normen und Werten, als zur Seelsorge konstitutiv dazugehörig erklärt. Sie bringen Ethik interpretativ und definitorisch in die theoretische Beschreibung von Seelsorge ein. Das Unternehmen der Integration von Ethik und Seelsorge bekommt sein Pathos daher, daß dadurch zugleich bestimmte andere Konzeptionen und Praktiken von Seelsorge, die es gibt, abgewiesen werden, damit zu Nicht-Seelsorge oder zu einem nicht adäquaten Begriff von Seelsorge erklärt werden. Ethik in der Seelsorge versteht sich also nicht von selbst; sie muß erst theoretisch in den Begriff von Seelsorge eingebracht werden oder kann in der Praxis - wie auch immer man das beurteilen mag - de facto unterbestimmt werden. Bei der Alltagsseelsorge hingegen liegt die Verknüpfung mit der ethischen Dimension auf der Hand. Es treten jedenfalls die Größen, mit denen es Ethik zu tun hat - Normen und Werte - , offen zutage. Eine Sistierung von inhaltlichen Wertaussagen, wie sie die therapeutische Seelsorge kennt 8 , ist schon dadurch ganz eingeschränkt, daß Alltagstherapie nur episodenhaft auftritt und nicht ganze Gespräche bestimmt. Darüber hinaus findet sich wie wir sahen - selbst innerhalb von therapeutischen Episoden in der Regel nicht-therapeutische Präsenz von Werten und Inhalten (vgl. 5.3.1.). Die dabei verwendeten generalisierenden Darstellungsqualifizierer (5.1.3.) sagen, was „man" „immer" tut. Sie erklären damit etwas zum Normalfall (und anderes zum Nicht-Normalen). Wertungen und damit verallgemeinerte Inhalte gehören zum Alltag dazu. b) Dem Sachverhalt normierender Inhalte von Alltagsseelsorge soll in einer bestimmten Perspektive nachgegangen werden. Im vorigen Kapitel hatte ich von dem in dieser Arbeit gewählten Gegenstand und methodischen
6 H.-M.MÜLLER, Das Ethos im seelsorgerlichen Handeln, 1991, 3-17; 14. 7 E.HERMS, Die ethische Struktur der Seelsorge, 1991, 40-62; 60. 8 K.WINKLER bestreitet die Präsenz des Ethischen nicht mehr, fordert aber von denen, die Seelsorge betreiben, einen therapeutisch verantwortlichen Umgang mit der ethischen Forderung: „Die Art und Weise, sich im Konfliktfall wertend zu verhalten, bedarf einer seelsorgerlichen Differentialdiagnose" (Zum Umgang mit Normen in der Seelsorge, 1991, 26-39; 35). Das Verfahren der Bestimmung des Verhältnisses von Therapie und Ethik setzt Winkler also im Vergleich zu Herms genau von der entgegengesetzten Seite her an: Nicht die Therapie wird ethisch fundiert, sondern die Ethik therapeutisch differenziert. Winkler hält sich damit eine Einklammerung der Ethik offen, Herms hingegen versteht die Therapie als Vorbereitung zur Ethik.
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Zugriff aus einen kritischen Anschluß an die therapeutische Seelsorge vorgenommen. Nun soll ein entsprechender kritischer Anschluß an die verkündigende Seelsorge versucht werden. Diese geht davon aus, daß in der Seelsorge Rede von Gott ergeht. Gottes Handeln soll dann der zentrale Inhalt dessen sein, was sich in der Seelsorge verwirklicht. 9 Gott als Handelnder - das impliziert dreierlei: erstens die Unterscheidung von richtig (gottgemäß) und falsch (sündig)10, zweitens die konsequente Artikulation einer anderen transzendenten Größe jenseits des weltlich Üblichen, an der letztlich alles Handeln hängt 11 , und drittens die Vorstellung einer konkreten Vermittlungs- und Begegnungsinstanz. Dem gängigen Verständnis der verkündigenden Seelsorge nach ist diese Instanz vornehmlich die Bibel, sie umschließt aber auch die kirchliche Institution und ihren Amtsträger. 12 Was die verkündigende Seelsorgelehre fordert, erweist sich nun aber keineswegs als so spezifisch, wie es ihre Autoren gemeint haben mögen. Auch die allgemeine Religionsphilosophie kennt bei der Beschreibung dessen, was mit Religion zu tun hat, eine analoge dreifache Verortung der Religion: funktional bei der Ethik, formal als Transzendenzbewußtsein und material in einer positiven Religion wie dem Christentum. Indem w i r hier ein spezifisches kirchlich-theologisches Interesse13 verfolgen,- einen An9 Zur Illustration mögen dafür die Ausführungen aus dem programmatischen frühen Aufsatz zur Seelsorgelehre der dialektischen Theologie von Eduard THURNEYSEN dienen (Rechtfertigung und Seelsorge, [1928], 73-94). Sorge um Seele darf Seelsorge nur so sein, daß sie Gottes Handeln schon bei der Bestimmung ihres Gegenstands berücksichtigt: „Der von Gott angeredete und dadurch gerechtfertigte Mensch, das ist die Seele ..., um die es einzig gehen kann in der Seelsorge.... Dieses Sehen des Menschen als eines, auf den Gott seine Hand gelegt hat, das ist der primäre Akt aller wirklichen Seelsorge" (85). 10 „Ganz einfach gesagt: rechte Seelsorge führt zur Erkenntnis der Sünde" (THURNEYSEN [ 1 9 2 8 ] , 8 8 ) .
11 „Es darf ... das seelsorgerliche Verhältnis nicht lediglich auslaufen in ein privates Freundschaftsverhältnis zwischen dem Seelsorger und dem von ihm Angesprochenen. Sofern es das auch ist oder wird, ist dies ganz und gar nebensächlich und unwesentlich, wenn es aber nur das ist, dann war die Seelsorge ganz sicher vergeblich" (THURNEYSEN [1928], 92). „Man könnte alles Gesagte zusammenfassend davon reden, daß es sich bei der Seelsorge um ein neues Sehen und Verstehen des Menschen, ein Sehen und Verstehen des Menschen von Gott her handle. ... Eben von einem nicht im Menschen, auch nicht in der geheimsten Tiefe des Menschen Liegenden aus wird hier der Mensch gesehen und verstanden" (93). 12 „Seelsorge ist Verkündigung des Wortes Gottes. ... Es hat sich als notwendig erwiesen, die Verkündigung der Predigt zu ergänzen durch eine Ansprache des Verkündigers an einzelne Menschen" (THURNEYSEN [1928], 86). Der Seelsorger „hat auch in der Seelsorge nichts anders zu tun als seines Amtes zu walten. Er hat also nichts anderes zu tun als das Wort auszurichten, von dem die ganze Gemeinde lebt. Er ist auch als Seelsorger Verkündiger. ... Das zeigt sich praktisch daran, daß auch die Seelsorge wie die Predigt gebunden ist an das Bibelwort" (91). 13 Dazu mehr in 7.2.2. 276
schluß an die verkündigende Seelsorge herzustellen, verfolgen wir durchaus zugleich ein allgemeines wissenschaftliches Interesse. Entsprechend reformuliert lautet die Aufgabe dieses Kapitels dann so: Unter möglichen Inhalten von Alltagsseelsorge sei genauer nach ,Werten' gefragt. Sie enthalten Verweise auf übersituative Normensysteme. Unter den Normensystemen konzentriert sich diese Arbeit aus bestimmten Interessen auf jene, die gängigerweise mit dem Stichwort Religion belegt werden. c) Wie aber sind Normensysteme im Alltag präsent? Genauer: Wie sollen wir Religion fassen und beschreiben? Wenn wir so fragen, dann gehen wir jetzt nicht weiter der Diskussion um das ,Wesen' oder den Begriff der Religion nach. Wir entscheiden hier nicht, ob Religion entweder grundsätzlich als das ganz Andere nur aus sich heraus Bestehende zu verstehen ist oder als Funktion von Gesellschaft und Individuen. Auch wenn Religion als das ganz Andere definiert wird, kommt man jedoch bei der Beschreibung von Religion, bei dem methodischen Zugriff auf Religion nicht ohne Relationierung zu anderen Größen aus. U m konkrete Erscheinungen als religiöse abzugrenzen, wird ihre Beziehung zu Gesellschaft und Individuen, und sei es als deren Eingrenzung oder Aufhebung, benannt werden müssen. Drei gängige Möglichkeiten, dies zu tun, sollen im folgenden im Blick bleiben. Religion ließe sich funktional erfassen als Größe, die entweder Leistungen für die Gesellschaft (Integrationsthese)14 bereitstellt oder so die Religionspsychologie - für das Individuum (Projektionsthese und Kompensationsthese). 15 Systemtheoretisch ließe sich Religion als Teilsystem beschreiben, das sich auf Abwehr der Bedrohung des Gesamtsystems durch Sinnverlust spezialisiert hat (Kontingenzbewältigungsthese). 16 Die Soziologie des Alltags versteht Religion als der Alltagswelt gegenübertretende eigene Sinnprovinz 17 , an deren Gestalt sowohl Subjekte als auch die Gesellschaft interaktiv beteiligt sind. In der forschungsmethodischen Vorgehensweise haben wir uns in dieser Arbeit gegen reine Theorie einerseits und empirisch-quantitative Verfahren andererseits entschieden. Wir verfahren stattdessen qualitativ-empirisch. Die Stärke dieses Verfahrens soll auch für den jetzt gewählten Gegenstand nutzbar gemacht werden. Die These vom interaktionalen Aufbau der religiösen Sinnprovinz setzen wir in Forschungspraxis um: Wir fragen danach, wie sich beide Seiten im Gespräch gemeinsam religiös äußern. Laientheolo-
14 Vgl. E.DURKHEIM, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, [1968]; 560. 15 Vgl. S.FREUD, Totem und Tabu, [1912/13], 287-444; 351-354. 16 Vgl. N.LUHMANN, Funktion der Religion, [1977]; 20f. 50f. 17 Vgl. P.L.BERGER/ T.LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, [1966]; 28.
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gie wollen wir untersuchen als das, was sich im Vollzug der Artikulation des Theologischen im Alltag zeigt.18 Darin lassen sich auch die beiden anderen wissenschaftlichen Zugangsweisen zu religiösen Erscheinungen einholen und für unsere Zwecke pointieren. Das in den Gesprächen der Alltagsseelsorge wahrnehmbare System wird hier zwar nicht als vollständiges System der religiösen Institution behandelt. Aber uns interessiert, wie das religiöse System innerhalb des Systems Gespräch 19 von den daran Beteiligten reproduziert wird. Die in den Gesprächen selbst wahrnehmbare Funktion von Religion wird hier zwar nicht in außerhalb des Gesprächs verorteten gesellschaftlichen Leistungen gesucht. Aber hier soll gefragt werden, welche Leistung die religiösen Äußerungen für das Gespräch selbst haben. Auch die Perspektive der Theorie des Alltags wird durch unser Interesse an der Analyse alltagsnaher Gespräche noch weiter zugespitzt. Wir fragen danach, wie in concreto religiöse Inhalte im alltagsnahen Gespräch gemeinsam zum Ausdruck gebracht werden. Henning Luther hat der Praktischen Theologie die Frage nach der Theologie der Laien aufgegeben und seinerseits kritisch die Theorie des Alltags nach ihrer Bestimmung des Verhältnisses zur Religion durchgearbeitet. Gegenüber der verbreiteten Behandlung von Religion als Stabilisator für den Alltag 20 hat er als andere Seite die „Religion als Unterbrechung des Alltags" 21 geltend gemacht. Gegenüber der Darstellung von Religion als abgeschlossener Sinnprovinz neben anderen möchte er nach Religion als etwas fragen, das sich „an den Schnittstellen" des Lebens ansiedelt, wo verschiedene „Lebenswelten aufeinanderprallen und Differenzerfahrungen erzeugen". 22 18 ,Theologie' meint dann hier nicht die spezifisch wissenschaftliche Beschäftigung mit Religion, sondern jedes Reflexionsverhalten der Religion gegenüber. 19 H.HAUSENDORF, Gespräch als System, 1992. 20 Diese findet H.Luther bei: I.MÖRTH, Lebenswelt und religiöse Sinnstiftung. Ein Beitrag zur Theorie des Alltagslebens, 1986; W.-D.BUKOW, Kritik der Alltagsreligion. Ein Beitrag zu den Regulations- und Legitimationsproblemen des Alltags, 1984a. Weitere Literatur bei: H.LUTHER, Religion und Alltag, 1992; 297 Anm.14. 21 H.LUTHER 1992, 215-217. - Es wiederholt sich auf der beschreibenden Ebene noch einmal das, was bei der Frage, ob Religion als eigenständige oder funktionale Größe zu definieren sei, diskutiert wird. - Kritik an Bukows schon in einer früheren Veröffentlichung enthaltenen funktionalen Analyse der Alltagsreligion übt auch R.PREUL (Religion, Alltagswelt und Ich-Konstitution, 1976, 177-190), aber aus anderen Gründen. Bukow und andere „unterstellen ... offenbar, damit auch schon den sachlogischen Ursprungsort und den ganzen Realitätsgehalt religiöser Kategorien und Symbole benannt zu haben" (189). Vgl. auch T.HENKE, Seelsorge und Lebenswelt, 1994; 268ff. 22 H.LUTHER 1992, 222. H.TIMM: „Wie das Religiöse im Alltäglichen stattfinden kann, soll erläutert werden an dem eminenten Fall von Wirklichkeit, der Zwischenfall genannt wird" (Zwischenfälle. Die religiöse Grundierung des All-Tags, 1986; 12). Timm verweist auf I. Ramsays „Entdeckungssituationen" (13).
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Wir werden also unsere Gespräche daraufhin überprüfen, an welchen Stellen des Alltags dort Religion erscheint und ob sie sich eher als Unterstützung oder eher als Unterbrechung des Alltags erweist. Wir werden damit zugleich darauf achten, ob und wie Religion in funktionale Beziehung zu alltäglichem Handeln tritt und in welchem Maße sie sich als eigenes Sinnsystem zeigt. d) Religion ist ein Abstraktum. Was vorliegt, ist dagegen die Religiosität von Menschen, deren Verwirklichung von Religion. Bei den Geburtstagsbesuchen begegnen wir nicht der Religion, wie sie vielleicht unter Christen sein sollte, sondern der gewöhnlichen Religiosität. Nicht nach dem Maß ihrer Frömmigkeit waren die Gesprächspartner der untersuchten Gespräche ausgewählt, sondern zum Gespräch kam es allein, weil sie Geburtstag hatten, vorausgesetzt, sie waren formell Mitglied der evangelischen Kirche. In das Blickfeld rückt hier also nicht nur Religion im Alltag, sondern auch die ganz alltägliche durchschnittliche Religion, die Alltagsreligion. Der traditionelle Begriff dafür ist der der Volksreligion. Die Wahrnehmung des Phänomens war „eine Entdeckung des 18. Jahrhunderts" 23 , der Begriff „vermutlich ... eine protestantische Wortprägung" 24 . Erschien der Aüfklärung Volksreligion als Inbegriff der ungebildeten, durch Herkommen geprägten Lebensweise, von der es sich zu emanzipieren galt, so wandelte sich in der Romantik die Perspektive zur Suche nach dem vorchristlichen archaischen Volksglauben. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war daraus dann einerseits die ,Religion des Volkes' als nationalideologisches Konstrukt geworden, andererseits der ,Aberglaube' als historisierter, mariginalisierter und exotisierter Gegenstand der wissenschaftlichen Volkskunde. ,Volksfrömmigkeit' bezeichnete dann im 20. Jahrhundert die kirchlich autorisierte Form der Laienreligiosität. 25 Die ab den sechziger Jahren diskutierte civil religion erscheint wiederum als gesellschaftliche Funktion. Während in diesen verschiedenen Beschäftigungen mit der gewöhnlichen Religiosität das Phänomen aus divergenten Erscheinungen zu bestehen scheint, findet sich eine integrierende Perspektive bei Max Weber. Er fragte nach der „Massenreligiosität" im Gegensatz zur „Virtuosenreligiosität". 26
23 W. SCHIEDER, Einleitung: in: W.SCHIEDER, ed., Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte, 1986b, 7-13; 7. Zum folgenden vgl. 7-9. 24 C.DIPPER: Volksreligiosität und Obrigkeit im 18. Jahrhundert, 1986, 73-96; 73. 25 P.DREWS' Programm der religiösen Volkskunde (.Religiöse Volkskunde', eine Aufgabe der Praktischen Theologie, 1901; 1-8) ließ sich bis auf einige Arbeiten in Kirchenkunde nicht verwirklichen und führte neben dem Interesse für die soziale Bedingtheit konkreter religiöser Praxis auch die Traditionen der .Religion des Volkes' und der Erforschung des .Aberglaubens' einfach fort (vgl. Ρ .DREWS, Art. Volkskunde, religiöse, 1 9 1 3 , 1 7 4 6 - 1 7 5 4 ) . 2 6 M.WEBER, W i r t s c h a f t g e s c h i c h t e , [ 1 9 2 3 ] ; 3 1 0 .
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Letztere kann auf erstere höchstens so Einfluß gewinnen, daß sie deren eigenständigen anderen Praktiken entgegenkommt, was zu einer „Veralltäglichung"27 der religiösen Ethik führt. Weber selbst verwendet auch den Begriff der „Alltagsreligiosität''28; er charakterisiert die Religiosität nach ihren durch Standes- und Klassenzugehörigkeit gesetzten Ausprägungen.29 Man mag im historischen Abstand zu Weber die inzwischen erfolgte Nivellierung schichtenspezifischer Merkmale in der Gesellschaft der Gegenwart als durchgreifend oder weniger durchgreifend beurteilen - in jedem Fall muß bei der Untersuchung der Gespräche zum Geburtstagsbesuch der Zugang zur Alltagsreligiosität noch einmal revidiert werden. Die Einzelfälle von Religiosität etwa bei der Sekretärin in der Großstadt (Fl), der Backwarenverkäuferin auf dem Lande (Dl), dem Bildungsbürger in der Kleinstadt (El) und der Witwe eines in leitende Stellung aufgestiegenen Facharbeiters (Cl) werden sich nicht schichtenspezifisch abgrenzen lassen. Wir analysieren Alltagsreligion nicht als Resultat sozialer Herkunft, sondern als zusammen mit der Person des kirchlichen Gegenübers in der Situation (wiederhergestellte Wirklichkeit. Wir fragen: Welche Religiosität wird in diesen Gesprächen miteinander zum Ausdruck gebracht?30 Zunächst soll es darum gehen, einen Uberblick über Gruppen inhaltlicher Aussagen zu bekommen, die im weiteren oder engeren Sinn als religiöse gelten können. Wir setzen bei der durch die Darstellungsqualifizierer gewiesenen Richtung ein und suchen nach Aussagen, in denen auf verallgemeinerte Festlegungen zwischen richtig und falsch rekurriert wird (6.2.1.). Dann fragen wir nach solchen Aussagen, in denen überschreitende Wirklichkeiten, also Transzendenzen, thematisiert sind (6.2.2.) und zuletzt nach solchen, in denen kirchliche Größen Erwähnung finden (6.2.3.). Längere Episoden zum Thema werden dann in 6.3. analysiert.
27 M.WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, Bd.l, [1921]; 284. 2 8 WEBER [ 1 9 2 1 ] , 2 4 5 ; vgl. 2 5 5 f .
29 WEBER [1921], 285-321. 30 Inzwischen hat H.VIERLING (Die Profane Alltagsreligion, 1994) die These vertreten, daß sich auch im Alltag „lückenlose Entsprechungen" zu den Grundmerkmalen religiösen Bewußtseins finden und deshalb „wir es mit einer vollgültigen Religion zu tun haben. Wir nennen sie die Profane Alltagsreligion" (108). So interessant die Vorstellung ist, bedarf doch die von ihm vorgenommene Sammlung und Ordnung der Phänomene und deren Identifizierung zu einer Gesamtreligion der methodischen und argumentativen Überprüfung. Für die vorliegende Analyse jedenfalls kann und darf solche Abgeschlossenheit der Alltagsreligion nicht zur Voraussetzung erhoben werden.
280
6.2.
Darstellungsinhalte „da kann man nix machen" (Frau Class, C 1:709)
6.2.1. Ethische Aussagen In den Gesprächen anläßlich des Geburtstages nimmt wie auch sonst in Alltagsgesprächen die Darstellung subjektiver Empfindungen und Erlebnisse großen Raum ein. Ein äußeres oder inneres Geschehen, oft aus der Vergangenheit der sprechenden Person, wird vor dem Forum des Gegenübers aufgeführt und (wieder-)erlebt. Damit stellt sich die Frage, inwieweit dieses Geschehen anschlußfähig ist an andere längerfristige Empfindungen und allgemeinere Zustandsbeschreibungen. Ist das Dargestellte gültig bzw. in welchem Sinne ist es gültig - diese Unsicherheit muß im Gespräch bearbeitet werden. So bekommt das Gespräch die Aufgabe zu klären, ob subjektive Aussagen im Horizont des Allgemeinen als berechtigt und insofern richtig gelten bzw. inwiefern sich etwas in den Horizont des Allgemeinen als berechtigt und insofern richtig einordnen läßt. Durch Darstellungsqualifizierer wurde, wie wir sahen, Dargestelltes in den Bereich dessen erhoben, was „man" „immer" erfahren kann (5.1.3.). Mit dieser Qualifikation der Darstellung des Gegenübers wurde das Gesagte als gemeinsam Verständliches etabliert. Der Fokus aber lag weiterhin auf der Singularität des Dargestellten. Die Darstellungsqualifizierer bestehen denn auch aus Aussagen, die von einem am Gespräch nicht Beteiligten nur bei Kenntnis ihres Kontextes interpretiert werden könnten. Anders hingegen verhält es sich mit den folgenden ethischen Aussagen. Sie heben sich durch ihre Allgemeinheit vom Kontext ab. Sie geben einen Sinn, der auch eindeutig unabhängig vom Zusammenhang, in dem sie jeweils geäußert werden, besteht. Sie bringen nicht das Allgemeine in das Subjektive hinein, sondern subsumieren das Subjektive unter das Allgemeine. Sie dienen weniger der Eröffnung und Fortführung des dargestellten Subjektiven, sondern eher dessen Abschluß. Dies kann (a) durch Verwendung von Darstellungsklischees während der Darstellung geschehen oder (b) durch deskriptive Einordnung in einen Gesamtzusammenhang oder (c) durch Verortung im normativen System. Abschließend gilt es, nach der religiösen Relevanz der alltagsethischen Aussagen zu fragen (d). a) 114
C1
116 117 118
S C1 S
unsere Mutter immer gesacht ob wie wir genuch Personal hattn gell? aber wir haben alle fest arbeiten müssen °ja° uns ist nichts erspart bliebn, °ja°
281
119
C1
gell, wir haben in allem helfen müssen ja wissen'S wir waren {Zahl über 6} Geschwister. ja aber schön war des.
Die Passage stellt den Beginn einer längeren Erzählung von Frau Class über ihre Kindheit dar. Die Kindheit wird dargestellt als Verwirklichung mehrerer geprägter Sätze („wir haben alle fest arbeiten müssen", „uns ist nichts erspart bliebn"; 115. 117). Diese Formulierungen haben keinen erzählenden Gehalt und spezifizieren keine Einzelereignisse. Sie bilden ein summarisches Bild, ohne daß das, dessen Summe sie ziehen, genannt ist. Die Formulierungen sind stereotyp. Sie charakterisieren eine Zeit, die als „schön" (121) gilt. Die Tugenden des Fleißes und des Sich-stählen-Lassens durch widrige Umstände wurden damals verwirklicht. Darauf folgend werden im Gespräch auch die gemeinschaftlichen bzw. altruistischen Tugenden hinzugefügt: „hat man doch fest zusammengehalten" (129), „man hat eben geholfen" (134f.), „dann hat jeder sein Scherflein dazu beigetan" (135). Das antiquierte bibeldeutsche Vokabular („Scherflein") unterstreicht noch die althergebrachte Würde dieser Werte. Diese Tugenden berichten von der charakterlichen Qualität der Erzählerin. Ihre Erwähnung dient nicht dazu, sich die gewesene Kindheit klarzumachen, sondern baut unter Verweis auf die gute richtige Kindheit einen Kontrast zur bösen falschen Gegenwart auf: „aber das ist doch heute nimmer" (140). Abstoßende Verhaltensweisen in der Gegenwart werden dann ausführlich dargestellt (142-163); das kulminiert in den rhetorischen Fragen: „ist das modern? ist das schön? und wer hat uns das gebracht?" (163f.). Das eigene subjektive Erleben von Frau Class wird so durch seine Verwebung mit Klischees gerechtfertigt und eine andere Wirklichkeit als unethisch disqualifiziert. Durch Verwendung von Klischees legitimiert die Sprecherin die Positivität des von ihr Berichteten. Das Erlebte bekommt Anteil an einer allgemeinen Norm, an der sich dann die ,Menschen von heute' messen lassen müssen. Dem Gesprächsgegenüber wird einzig die Rolle angeboten, die vorgenommene Wertung zu bestätigen. Die rhetorischen Fragen fordern diese Rolle ein. Fleiß, Gemeinschaftsgeist und Altruismus - bei solchen Größen ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit abgewehrt ebenso wie eine Annahme der Gegenwart. Der klischeehafte ethische Horizont dient der Selbstdurchsetzung.31 Der Seelsorger seinerseits hält solch eine Strategie offensichtlich für unerwünscht. Jedenfalls beteiligt er sich nicht daran. Er beurteilt sie wohl selbst als unethisch. Dies bringt er freilich nicht direkt zum Ausdruck. 32 Vielmehr versucht er, das Gespräch auf andere Themen umzulenken. 31 Auch explizit kirchliche Klischees könnten ganz entsprechend verwendet werden: W i r haben früher immer gebetet, wir sind immer zum Gottesdienst gegangen etc. 32 A n einer späteren Stelle aber widerspricht er Frau Class dann doch ausdrücklich. Siehe dazu 4.2.2.d.
282
b) Bei der Einordnung in einen allgemeinen Horizont kann das deskriptive Element überwiegen. Ambivalente Zustände werden dadurch offengehalten. Das Alter ist solch eine Situation: „das geht schneller als man denkt", meint Frau Cordes dazu (C2:1030). Die Struktur der Vergänglichkeit wird (wohl bedauernd) zum Ausdruck gebracht. Welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus ergeben, ist dadurch nicht festgelegt. Weder ist das Handeln ausgeschlossen, noch wird es als erforderlich dargestellt. Wenn Ethik die Attitüde der Deskription annimmt, hat sie nicht den Charakter, einen Sachverhalt abzuschließen. In den folgenden Fällen bildet die verallgemeinernde Sentenz nicht das Ende von Darstellungen, sondern regt zu weiterer Darstellung an. Frau Appel sagt: „ja scho mei so geht's wie d_ die Zeit einfach vergeht e?" (A2:133). Sie schließt daran Gedanken an das an, was im nächsten Jahr sein wird. Weil die ambivalente subjektive Situation auch als allgemeine erscheint, kann man sich ihr noch genauer zuwenden. Frau Class meint: „und so ist das Lebenhalt" (C 1:642), und noch einmal: „so ist das Leben ja" (644). Eine allgemeine Sentenz gibt Freiraum, wieder eigene Erfahrungen neu anzuschließen.33 Hier ist es die Rede vom Alter: „so wird ma alt" (645). „Es gibt so viel Elend auf der Welt", sagt Frau Cordes (C2:842) und findet damit einen Ubergang von der Erzählung des Seelsorgers zu ihrem eigenen folgenden Bericht. Alle diese (stereotypisierten) Deskriptionen leisten eines: Sie heben eine - in der Regel zuvor beschriebene (ambivalente) Einzelsituation - in den Rang des Typischen. Das macht die Situation bedeutsam und legitimiert sie. Inhaltlich ist aber nichts festgelegt. Es bedarf dafür des Rückgangs in die subjektive Situation. c) Aussagen können auch eine Situation normativ einordnen. - Eine erste Gruppe von Aussagen gibt sich als konstativer Sprechakt bzw. als Mitteilung.34 Frau Class kommentiert den Tod ihres Mannes mit „da kann man nix machen gell" (Cl:527); daß es so viel böse junge Leute gibt, wird entsprechend verortet: „da kann man nix machen" (709), und für die These, daß die Frau des Bundeskanzlers Kohl im Gegensatz zu der „Dame" Frau v. Weizsäcker ein Flüchtlingskind sei, gilt wieder das gleiche: „kammer nix machen" (1623). Frau Class schließt dem Bericht darüber, wie sie ihrer Müdigkeit nicht nachgibt, den Satz an: „gell also des nützt mir ja nix" (600). Frau Arndt berichtet von ihrer Tochter, die unterwegs ist und von der sie keine Post bekommt, und kommentiert dies mit einem: „und man hat kann ja nichts machen" (A3:316). Schmerzvolle Situationen werden hier dadurch eingeordnet und legitimiert, daß sie zu der Rubrik jener Vorgänge gehören, die ,Schicksal' sind, die sich den eigenen Handlungsmöglichkeiten entziehen. Damit sind sie als
33 Cl:762: „das ist eben Familie"; vgl. Fl:715-27. 34 Zu diesen Sprechaktbezeichnungen siehe Kap. 2.2.
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solche Zustände erklärt, die keiner weiteren Bearbeitung bedürfen. Wenn man nichts machen kann, dann braucht oder sogar darf man nichts tun. Es wird also trotz der konstativen Form indirekt ein regulativer Sprechakt bzw. ein Nicht-Erlauben vollzogen.35 Er beinhaltet die Normativität des Nicht-Handelns. Vom Gegenüber bedarf es nur der allgemeinen Zustimmung. Sie wird auch in der Tat gerne durch neutrale Zustimmungspartikel gewährt (Cl:528. 601. 710). Explizit normierend geben sich die beiden folgenden Beispiele. Frau Arndt berichtet von ihrer familiären Situation und zieht die Summe: „man muß halt zufrieden sein" (A3:210). Frau Cordes redet von der geringen Rente und sagt dann: „also es gibt Schlimmeres noch, also ich darf auch net jammern" (C2:1339f.). Die Zuweisung des Subjektiven unter das Schicksal, sei es durch implizite oder explizite Regulativa, wehrt eine Vertiefung der ethischen Perspektive ab. Indem etwas als nicht behandelbar erklärt wird, wird Protest ausgeschlossen und ein kreativer Umgang verstellt. Gerade in den Beispielen, bei denen die Normierung als Deskription daherkommt, bilden die Sätze denn auch den Abschluß. In den beiden anderen Fällen ist das nicht so.36 Ob nicht auch andere Handlungsoptionen außer der Ergebung offenstehen, wäre also im Einzelfall immer erst zu prüfen. Die ethische Globalaussage, daß man nichts machen könne, kann nur für die jeweils konkrete Situation verifiziert oder falsifiziert werden. Im Gespräch C2 findet sich folgende Passage: 225 227 229 231
C2
aber es is interessant amal so was zu sehen und zu hören, rS = es richtet einem wirklich die Maßstäbe C2 ja rS wieder zurecht, ja C2 ja ja ganz interessant, S ja.
Der Seelsorger kommentiert seine eigene Darstellung bzw. deren Qualifizierung durch das Gegenüber als „interessant" (225) in einer Weise, die direkt nicht nur eine normierende Aussage macht, sondern in dieser über ethische Normativität („Maßstäbe"; 227) reflektiert. Das gerade Dargestellte - so wird damit gesagt - könnte Anlaß geben, die Normalethik zu revidieren. Die Laiin ist bereit, dem Seelsorger darin zu folgen, insoweit 35 Vgl. 2.2. zu den Regulativa, dem Sprechakt „erlauben" und zum indirekten Sprechakt. 36 Auf A3:210 hin schaltet sich der Seelsorger mit einem Darstellungsqualifizierer ein und leitet so die Fortsetzung der Darstellung durch A 3 ein. Nach C2:1339f. wählt Frau Cordes nach kurzer Pause die Möglichkeit, doch weiter die Situation, wenn auch positiver, darzustellen.
284
jedenfalls, als sie uneingeschränkt die positive Wertung des Dargestellten wiederholt. Hier findet ein kleines Stückchen ethischer Urteilsbildung statt: Aus einer subjektiven Darstellung herkommend wird die Normalethik differenziert. Das gilt es in diesem Gespräch dann später noch zu bewähren (vgl. C2:628-817). In einem Fall findet sich in den Gesprächen die Verwendung eines Sprichworts zur ethischen Beurteilung eines Sachverhalts. Worin dieser besteht, ist wegen schlechter Aufnahmequalität des Gesprächs leider nicht recht auszumachen. Der Seelsorger jedenfalls kommentiert das Gesagte mit der Aussage: „Wohlstand schützt vor _ wie soll ich denn sage Torheit nicht" (Dl:713f.). Eine erzählte Situation wird durch das Sprichwort bewertet: Die Situation ist als ein Fall ausgleichender Gerechtigkeit zu begreifen. Wieder einmal blieb ein Reicher doch nicht vom Unglück verschont. d) Die Gespräche beim Geburtstagsbesuch enthalten keine ausgearbeiteten ethischen Diskurse oder länger andauerndes Nachdenken über Wertebildung. Was sich findet, ist kleinräumige ethische Reflexion. Sie sei Alltagsethik genannt. Bei den alltagsethischen Aussagen lassen sich zwei Muster erkennen. In das erste Muster paßt auch die eben behandelte Verwendung des Sprichworts durch den Seelsorger genau hinein. Ansonsten ergibt sich das Bild aus den Worten der Besuchten. Die aus verschiedenen Gesprächen stammenden Einzelaussagen setzen sich zusammen zu einem Mosaik einer Ethik der kleinen Leute. In ihr gilt: zusammenhalten, arbeiten, aushalten, nichts machen können, sich damit trösten, daß es anderen noch schlechter geht und denen da oben auch nicht immer besser. Der Rückgriff auf solche Alltagsethik der Kleinen wird dann nötig, wenn andere alltägliche Strategien nicht mehr greifen. Wenn man nicht etwas machen kann, sich nicht durchsetzen kann, andere es besser zu haben scheinen - in diesen ambivalenten Situationen tritt Ethikbedarf auf. Die Alltagsethik stabilisiert angesichts von Negativem; sie legitimiert Zustände, indem sie sie als unvermeidlich erklärt. Die Zustände sind zwar berichtete Zustände, die sich außerhalb des Gesprächs befinden; zugleich aber werden sie im Gespräch selbst zur Präsenz gebracht. Alltagsethik stabilisiert das Gespräch selbst, indem sie mit der Präsenz von Ambivalenzen versöhnt. Wo die Darstellung von Alter, Tod und gelebter Biographie widersprüchliche Sinnzusammenhänge in das Gespräch einbringt, wehrt die Ethik des Alltags möglichen Sinnverlust ab, indem sie das Ganze auf einfache Zusammenhänge reduziert: Es war Schicksal, es war ausgleichende Gerechtigkeit. Die Alltagsethik integriert so die Präsenz des Ambivalenten in die Alltäglichkeit eines lockeren Gesprächsverlaufs. Sie kompensiert Negativerfahrungen der einzelnen Gesprächsbeteiligten. Sie bewältigt Kontingenzen des Gesprächs durch ihre Reduktion auf stabile Wertungen. Damit vollzieht die Alltagsethik also etwas Analoges für das Gespräch und seine Beteiligten, was nach der funktionalen bzw. systemtheoretischen Religionstheorie die 285
Religion für Gesellschaft und Individuen leistet (vgl. 6.1.c). Alltagsethik übernimmt hier die religiöse Aufgabe der Bestätigung des Alltags; sie tritt ihm gegenüber als ein stabiles kulturelles Wertearsenal. Man kann nichts machen, das ist dessen Credo. Das Gefühl bzw. Bewußtsein ,schlechthinniger Abhängigkeit' (Schleiermacher) verwirklicht sich im Alltag als erlebte Machtlosigkeit, als Fehlen von Handlungsoptionen. Daneben fanden wir nun aber auch ein zweites anderes alltagsethisches Muster. Es zeigte sich im Zusammenhang mit Aussagen, deren Inhalt sich darauf beschränkte, zum Ausdruck zu bringen: Es ist so, wie es ist. Diese deskriptive Alltagsethik legimiert ebenfalls den Ist-Zustand, aber nur in seiner Faktizität. Ein weiteres Handeln, eine weitere ethische Durchdringung der Situation wird hier nicht ausgeschlossen. Anders als die normative Alltagsethik schreibt die deskriptive Alltagsethik das Subjektive nicht fest. Im Gegenteil, sie eröffnet dem Denken eine kleine Verweilpause im Allgemeinen, ohne daß das Allgemeine schon eine konkret definierende Funktion hätte. Darum kann sich dann das Gespräch der Situation erneut zuwenden. Diese Alltagsethik, so merkwürdig inhaltslos sie erscheint, bewirkt doch eine Unterbrechung der ambivalenten Situation. Sie löst die Ambivalenz nicht auf, sondern kommt ihr zugute. Damit vollzieht diese Ethik für das Gespräch das, was Henning Luther als neben der anderen die ebenso bestehende Beziehung der Religion auf den Alltag benannt hatte (6.1.c). Die deskriptive Alltagsethik erscheint bei Differenzerfahrung so, daß sie deren Ambivalenz offenhält. Beide, die normative wie die deskriptive Alltagsethik gestalten das Gespräch anders als die therapeutischen Episoden. Dabei ist die deskriptive Ethik nur darin relativ anders, daß sie das Subjektive als Unterfall des Allgemeinen begreift und nicht umgekehrt. Aber sie ist mit der therapeutischen Episode durchaus kompatibel, weil sie ja wieder in die ambivalente Situation zurücklenkt, die Gegenstand der therapeutischen Bearbeitung ist, oder sie zumindest offenhält. Die normative Ethik hingegen gestaltet sich als Alternativprogramm zur Therapie. Unter therapeutischen Gesichtspunkten muß sie als Abwehr, als Ausschluß der subjektiven Anteile und Aufhebung der Ambivalenz gelten. Dennoch hat sie ihren Ort im Alltag, bietet sie doch eine Möglichkeit, Ambivalenzen schnell zu beseitigen. Für kleine, für selbstverständliche Ambivalenzen ist das durchaus eine angemessene Strategie. Einiges im Leben als Schicksal einzuordnen, das spart Kräfte für die stärkeren Ambivalenzen, solange nicht chronifiziert alle Ambivalenzen als Schicksal abgewehrt werden. Auf die Variabilität im Gebrauch dieser Ethik kommt es an. Erst dann, wenn diese Alltagsethik nicht mehr variabel ist, beginnt das, was gemeinhin als Spießbürgertum' kritisiert wird.37 37 Man beachte: Ich habe keine Aussage über die ,hohe' Ethik abstrahierender ethischer Urteilsbildung getroffen. Sie kommt in meinen Gesprächen nicht vor. Die
286
Auffallend ist: Die Seelsorger unterstützen die Alltagsethik zwar ein bißchen, zumeist durch Zustimmungsmarkierer. 38 Sie beteiligen sich aber kaum explizit daran. Man kann vermuten, daß dies daran liegt, daß Alltagsethik entweder als ihrer theologischen Rolle nicht gemäßes Verhalten gedeutet wird oder daß sie aus schichtspezifischen Gründen den Pfarrerinnen und Pfarrern weniger zugänglich ist. In nicht weiter problematischen Gesprächszusammenhängen erscheint das Religiöse als Alltagsethik. Für die Bewältigung nicht spektakulärer Ambivalenzen wird auf Alltagsethik rekurriert, für Bewältigung konkreter Ambivalenzen im Subjekt hingegen greift das therapeutische Verfahren. Uber weite Strecken des Alltagsgesprächs sind Transzendenzen überflüssig, wird auf die Vorstellung ,Gott' nicht zurückgegriffen. Wenn Religiöses explizit vorkommt, dann handelt es sich - bei den aufgenommenen Gesprächen zum Geburtstagsbesuch jedenfalls - nicht um den Normalfall des Gesprächs, sondern den Sonderfall. Henning Luther hatte diesen Sachverhalt, den wir hier empirisch belegen, bereits theoretisch postuliert: „Nicht der gesamte Alltag ist religiös grundiert, wohl aber wird der Alltag immer wieder religiös. - Religion wird bei Gelegenheit - immer wieder, aber nicht immer (ständig) - thematisch." 39 - Schauen wir uns nun also die Fälle an, in denen Religion explizit zum Thema erhoben wird.
„er hätt schon das Gefühl gehabt, daß die Schutzengel da schon tun" (Frau Brix, Bl:617)
6.2.2. Transzendenzaussagen a) Hans Rudolf Müller-Schwefe veröffentlichte 1956 ein kleines Büchlein über die „Stunde des Gesprächs". Es ist durchzogen von der Idee des echten Gesprächs als einem Geschehen, in dem man - in unserer Terminologie formuliert - auf Transzendenz aufmerksam wird. Müller-Schwefe schildert Erfahrungen aus dem Krieg, Gespräche, die in Bunkern oder Panzern stattfanden: „... wenn wir mit unserem Latein am Ende waren und unsere glatten Lösungen und Ideen durch die Wirklichkeit Lügen gestraft wurden, dann öffneten sich unsere Herzen und Lippen z u m echten Gespräch. Tastend und stockend begann dann der Austausch, als Frage meist oder als Fluch. Wir sahen uns in Zusammenhänge eingespannt, die uns weit überstiegen. Wir standen dem verhüllten Schick-
Verteilung und Beziehung von normativen und deskriptiven Elementen in der fundamentalethischen Theorie ist ein eigenes Problem, das hier nicht zur Debatte steht. 38
Vgl. 4.2.1.a2.
39 H.LUTHER 1992, 223.
287
sal gegenüber. So faßten wir einander bei der Hand, riefen einander zu, ob wir noch da seien, und begannen zu sprechen. ... Wir fragten nach dem Sinn und lauschten, ob nicht vielleicht aus dem Dunkel eine Antwort uns entgegentöne."40 Müller-Schwefes Begriff vom echten Gespräch nimmt diese Erfahrungen auf. Echtes Gespräch ist da, wo der Transzendenzbezug realisiert wird: „... miteinander zu sprechen ... heißt: Alles, was zwischen den Partnern im Gespräch behandelt wird, in rechter Weise auf das Unbedingte zu beziehen und so vom offenen Horizont aus die Landschaft des Lebens zu deuten." 41 Gerade bei alten Menschen fände sich dafür die Möglichkeit: „Ihnen wird das Zeitliche und Vergängliche transparent für das ewige Licht. Indem sich ihr Lebensinteresse vom Konkreten löst, gewinnt alles Irdische den Charakter eines Vorspiels. Seine Bedeutung ruht nicht in ihm selbst, sondern in seiner Durchsichtigkeit und Bezogenheit auf Gott. So entstehen die weisen Gespräche der Alten." 42 Meistens freilich werde entweder vom vergangenen Leben ,geschwätzt' oder man verstumme vor dem erlebten Leid.43 Voraussetzung des echten Gesprächs ist die Sehnsucht nach Transzendenz: „So wird also in der Erörterung der Voraussetzungen eines rechten Gesprächs offenbar, daß das Gespräch nur dort blüht, wo der Mensch zugibt, daß er nicht ausgefüllt ist mit sich selbst, mit den Mitmenschen und mit der Welt. Die echte Verlegenheit ist die eigentliche Voraussetzung, ist die Unruhe, die unsere Gespräche in Gang setzt und in Bewegung hält."44 „Die eigentliche Voraussetzung zum Gespräch ist der Mut zum offenen Horizont." 45 Der Ubergang hin zu den Voraussetzungen bilde sich dann auch in den Gesprächen selbst ab: „Indem der Mensch die Dinge und Zusammenhänge befragt und zunächst einen reibungslosen Ablauf und eine vollständige Herrschaft über die Sachwelt erstrebt, wird er unversehens selbst als ein Mensch in Frage gestellt. Hinter der Sachwelt taucht die Welt des Menschen, taucht seine Haltung, sein Wesen, seine Einstellung auf und eine Problematik der Sachwelt, die allen Ordnungsmöglichkeiten des Menschen vorausgeht."46 Müller-Schwefe führt Beispiele für solch eine Bewegung im Gespräch an, wobei er die Situation von Gesprächen in der Gruppe vor Augen haben dürfte: „Es geht um die Schwierigkeit der Hausfrauen, genügend Hilfe für den Haushalt zu bekommen. Nachdem die Verlegenheiten beschrieben und einige Aushilfen, wie Technisierung der Küche, genannt sind, wird die Klage erhoben: Kein 40
MÜLLER-SCHWEFE,
41
MÜLLER-SCHWEFE, 1 1 .
42
43
MÜLLER-SCHWEFE, 1 7 .
44
MÜLLER-SCHWEFE, 2 3 .
45
MÜLLER-SCHWEFE, 2 2 .
46
MÜLLER-SCHWEFE, 2 7 .
288
Die Stunde des Gesprächs, 1956; 7. MÜLLER-SCHWEFE, 1 6 .
Mensch will mehr dienen, alles nur verdienen. Mit diesem Hinweis sind die Schleusen geöffnet, und es wird die Frage erörtert, warum denn der Mensch keinen Willen mehr hat, das persönliche Engagement in einem Haushalt, womöglich mit Kindern, einzugehen. - Oder ein zweites Beispiel: Man erörtert die restaurativen Züge der Zeit. Nach einem allgemeinen Gerede darüber werden ein paar wichtige Beobachtungen mitgeteilt und dann wird festgestellt, daß nach großen geschichtlichen Erschütterungen und gar fehlgeschlagenen Experimenten im Menschen das Bedürfnis übermächtig wird, zum Alten zurückzukehren. Damit ist die Gesprächsgemeinschaft in die Erörterung der Voraussetzungen eingetreten."47 Aus der Kriegserfahrung einerseits und von existentialistischen Denkvoraussetzungen her andererseits ergibt sich so die These von der fundierenden Bedeutung der Transzendenzbeziehung für das Wesen des Gesprächs. Damit steht Müller in der Tradition des Gesprächsideals des 19. Jahrhunderts.48 Daß für Müller-Schwefe darüber hinaus dann das Erkennen von Transzendenz nur eine Durchgangsstufe zum Glaubensgespräch darstellt 49 , wollen wir hier nicht weiterverfolgen. Uns interessiert die These vom religiösen Charakter des Gesprächs überhaupt. Explizit religiöse Transzendenzartikulation erst gebe dem Gespräch seine eigentliche Tiefe. Dies erreiche das Gespräch dann, wenn es an die Grenzen des Machbaren stößt und dort auf das Gegenüber zur Welt aufmerksam wird. Religion - so lautet dann die These, ganz übereinstimmend mit dem, was Henning Luther wichtig ist (vgl. 6.1.c) - Religion begegnet als das Transzendente, das den Alltag unterbricht, ihm als ein anderes gegenübertritt. Hier zeigt sich eine breite theologische Denkströmung, die Beziehung von Religion und Alltag so zu beschreiben. 50 Was wir nun noch einmal an Müller-Schwefes Text exemplarisch ausführlich vorgeführt und an das angeschlossen haben, was 47
MÜLLER-SCHWEFE, 2 7 .
48 Vgl. zu dieser im wesentlichen romantischen Tradition 1.1.l.d und M.NICOL, Gespräch als Seelsorge; 1990, 23-53. 49 Hier folgt MÜLLER-SCHWEFE dann weitgehend der Seelsorgelehre Thurneysens bei allerdings größerer Beachtung einer partnerschaftlichen Gesprächsführung: In Transzendenzgesprächen bleibe eine „letzte Fragwürdigkeit". „Sie wird nur selten ausgesprochen. Aber sie bestimmt alle Gespräche, wie und wo und von wem sie auch geführt werden. Nur hat der Mensch von sich aus selten den Mut, sich dieser radikalen Frage zu stellen. Stellt er sich aber oder wird von einem Partner das Tor geöffnet, so verwandelt sich das Gespräch zum Glaubensgespräch" (32). Bei diesem komme es nun aber darauf an, weder Gott als innerweltliche Größe zu behandeln (35), noch sich mit der Rede von Gott dem Gegenüber aufzuzwingen (38f.). Es „kann vielmehr die Wendung im Gespräch nur so gewonnen werden, daß die Teilnehmer begreifen: wir selbst schließen Gott aus, und er läßt sich das von uns gefallen, weil er uns liebt" (38). Dann freilich ist eine andere Stufe erreicht; das Gespräch mündet in Gottesdienst oder Beichte (40). 50 Zu verweisen wäre dafür nicht nur auf die Dialektische Theologie und den Existentialismus, sondern auch bereits auf F.SCHLEIERMACHERS Definition des Gottesdienstes als Unterbrechung des Alltags (Praktische Theologie, 1850; 70).
289
von Η. Luther innerhalb der Alltagstheorie zur Geltung gebracht wurde, dürfte für jenes Gesprächsverständnis stehen, das dem größten Teil der pastoralen Berufsträger als Theorie ziemlich vertraut ist: An den Grenzen der Existenz wird das Gespräch eigentlich, und hier biete sich die Chance zur Religion. U m so wichtiger ist es, empirisch zu überprüfen, ob sich diese These so auch in den Transzendenzaussagen unseres Datenmaterials wiederfindet oder ob sie revidiert bzw. modifiziert werden muß. Gänzlich widerlegt werden kann sie durch unsere schmale Datenbasis natürlich nicht. Es muß ja berücksichtigt werden, daß wegen des Wissens der Beteiligten darum, daß aufgenommen wird, bestimmte Gesprächstiefe vermieden worden sein mag. Was sich aber überprüfen läßt, ist die Frage, ob sich Transzendenzaussagen tatsächlich allein in der skizzierten Weise bemerkbar machen. Sollte das nicht der Fall sein, so ist darzustellen, wie denn diese andere, die alltägliche Art von Transzendenzaussagen im Gespräch erscheint. b) Ich beginne bei einer Passage, die genau zu der oben ausgeführten These von der Transzendenzerfahrung als Grenzerfahrung zu passen scheint. Das Gespräch E l hatte sich über vierzig Minuten lang nur um diverse Aktivitäten des Jubilars gedreht. Es erfüllt damit nicht die Bedingungen jenes ,echten Gesprächs'. Ganz zum Schluß gibt die Seelsorgerin noch „unsere neä bescheidene Geburtstags[lachend:]karte+" (1273f.) ab. Es entwickelt h daraufhin folgendes Gespräch: 1280
E1
1282 1283 1284
S E1 rS E1
1287
rE1 s 1289 s 1290 s r E1 1292 E1 1293 S 1294 E 1 r s 1296 E1 1297 s r E1 1300 1301
290
S E1
[51 da sind die deutschen Eichen angesprochen gell aber schon ein bißchen an_ ja a_ bei ä n'bißchen angealtert. h-m h-m hahaha [2] wie's nicht anders geht, "des is n° Zeichen der Zeit, der Gabentisch ist ja noch relativ leer? ( ) für eben jaa das es (kommen eben) bis jetzt bis jetzt warn die telephonischen genau ä ä Glückwünsche da die auswärtigen und jetzt kommen dann die ( ) vor allem, Ja und ab heut mittag füllt sich's dann Zug um Zug und auf das kommt's ja auch gar net an. na ja, wenn's nach mir ging bräucht ich überhaupt nix das was ich brauch hab ich,
1303
rS L
E1 1305 ,S
E1
1309 1310
E1 S
hm hm und was hat des noch viel Sinn, naja es ist 'n Zeichen der Schätze anzuschaffen die Aufmerksamkeitth. die Motten und Rost fressen jahaha ganz biblisch hahi °aha° [3]
Herr Eckert deutet das Motiv der Geburtstagskarte in einer Weise, bei der die Bildbeschreibung auch offen läßt, ob eine Selbstbeschreibung mitgemeint ist: „schon ein bißchen ... angealtert" (1281. 1283). Das wird von ihm dann in alltagsethischer Weise (vgl. 6.2.l.c) zum legitimierten Schicksal erklärt: „wie's nicht anders geht" (1287). Die Seelsorgerin bietet zunächst eine offene Darstellungsqualifikation an, die das Abstraktum der Vergänglichkeit umschreiben dürfte: „°des is n° Zeichen der Zeit" (1288). Dann lenkt sie aber das Gespräch wieder weg vom Blick auf die Lebenszeit und hin zu einem alltäglichen Sachverhalt: dem Gabentisch. Nach mehreren Gesprächsgängen ist es nun Herr Eckert selbst, der Abstand nimmt von den konkreten Geschenken. Zunächst äußert er den Eindruck, nichts mehr an Geschenken eigentlich zu benötigen: „wenn's nach mir ging bräucht ich überhaupt nix das was ich brauch hab ich" (1301f.). In der nächsten Aussage begegnet dann der Ausdruck „was hat des noch viel Sinn" (1304). Es scheint also hier in der Tat die Bewegung von dem Erkennen der eigenen (Lebens- und damit auch Bedürfnis·) Grenzen zur Sinnfrage zu gehen. Aber diese stellt sich nun eben hier doch nicht in der Ablösung von Alltagsvorgängen. Der ganze Satz des Besuchten lautet: „und was hat des noch viel Sinn, Schätze anzuschaffen die die Motten und Rost fressen" (1304. 1306f. 1309). Es ist auch alltagspraktisch unsinnig, sich noch mit Dingen beschenken zu lassen, die äußere Schätze darstellen. Nicht-Materielles (vorher im Gespräch war mit Begeisterung von den Enkeln die Rede; 529-581) ist wichtiger. Doch meint der Satz auch noch mehr als nur Alltagspraktisches. Er wird ja in metaphorischer Sprache formuliert, die biblischer Herkunft ist (Mt 6,19). Die Seelsorgerin bemerkt das auch mit Freuden: „jaha ganz biblisch" (1310). Herr Eckert stilisiert sich damit zum Weisen, der sich über das Vergängliche erhebt, dem das Vergängliche sinnlos wird. Zugleich vollführt er damit aber auch schlicht und einfach höfliche Zurückhaltung. Entsprechend jedenfalls war die Sentenz von ihm eingeleitet worden: „wenn's nach mir ging" (1301). Der Jubilar erweist sich als einer, der nicht auf Selbstlob 51 aus ist; auf die vielen Leute und Glückwün51 Vgl. die Höflichkeitsmaxime der Bescheidenheit (2.3.b) und die Verwendung von Höflichkeitsmaximen im Small talk (4.1.2.b4).
291
sehe „kommt's ja auch gar net an" (1299). Der Durchbruch in die Transzendenz ist hier also äußerst ,unrein', vermischt mit alltagstypischen Mitfaktoren. Die Seelsorgerin reagiert denn zunächst auch auf die überraschende Wendung in höflicher Weise und minimiert ihrerseits taktvoll 52 die Kritik des Gastgebers an seiner Situation: „na ja es ist n' Zeichen der Aufmerksamkeit" (1305. 1308). Transzendenzrede und Small talk vermischen sich hier miteinander. Das ,echte Gespräch' besteht hier nicht im Ubertritt auf eine tiefere Ebene der Transzendenzrede. Es findet vielmehr so etwas wie ein momenthafter Durchblick statt, ohne daß die Alltagsebene des Gesprächs wirklich verlassen würde und auch ohne daß sie dazu verlassen werden müßte. Eine große Vertiefung des Transzendenzbewußtseins erreicht solche Episode natürlich nicht. Aber sie bringt das Gespräch auf einen abschließenden Höhepunkt. In den Alltag miteingebracht ist die Ahnung von Vergänglichkeit, der Blick auf das Leben als Ganzes, demgegenüber Materielles an Bedeutung verliert. Man beachte auch: Das Christliche erscheint hier nicht als eine noch weitergehende Stufe. Vielmehr begegnet es alltäglich. Zum einen ist es das Geburtstagsmitbringsel einer von der Pfarrerin ausgeteilten besinnlichen Karte, die den Gesprächsgang auslöst. Zum anderen findet sich Christliches als Sprachtradition, die dazu hilft, Transzendenz zu formulieren. O b sich der Sprecher der Herkunft seiner Tradition bewußt ist, läßt sich nicht klären. Aber sie leistet in jedem Fall Hilfe bei der Transzendenzerschließung. Transzendenz begegnet hier nicht pur, sondern in bestimmter, in diesem Fall biblischer Sprachgestalt. In einem anderen Gespräch ist es wiederum das Thema des Alterns, bei dem Abstand vom Alltag genommen wird: 920 921 922
C1 S [C1 S
925 S 928
931 933 935 936
C1
[Γ
ρs s
C1
s
gell, also ich mein: sonst sind alle gesund! ja und Sie scheinen auch gesund zu sein, ja leider. hahaha Siesch_ha! leider das hab ich noch nicht gehört ja wissen Sie Herr D, Herrr Pfarrer {Nachname von S), {Nachname von S). wenn man so den ganzen Tag so hinarbeitet denken Sie sich oft zu was arbeitetst eigentlich, laß es doch stehen, dann denk ich mir ja ne im Dreck mag ich auch nicht sein ja eh gell ja aber: da hat man schon manchmal genug tja
52 Vgl. die Höflichkeitsmaximen des Takts und der Freigiebigkeit (2.3.b).
292
937 939 940 943
jC1 S [C1 S C1 [S C1
949
r S C1
951 952
S C1
und denkt sich na jetzt dürft ma Schluß ja sein hahaha aber: ja ja das glaub ich auch ja. dann sagt meine Tochter immer „ ja Mutti um Gottes Willen, m gell du mußt doch noch dableiben" und und der Tobias schreit immer „ nein Oma das geht nicht du mußt noch bei uns bleiben" hahaha mei ja ja aha ja es war schon so war schon nett, also ich versteh auch die Angelika nicht daß die den Mann geheiratet hat also m? für mich ist so was nichts, fett, saufen tut er,
Frau Class hatte vorher von einigen Geschwistern erzählt, daß diese gestorben seien. Der Stützung des Pfarrers, daß ja sie so schön gesund sei, setzt sie dann ein den Seelsorger überraschendes „ja leider" (922) entgegen. Das bedarf der Erläuterung. Und eine solche gibt die Besuchte dem Seelsorger auch. Ihre Aussage kulminiert in dem Satz: „da hat man schon manchmal genug und denkt sich na jetzt dürft ma Schluß sein hahaha" (935. 937. 939). A m Leben hält die Laiin nach ihrer Darstellung eigentlich nur der Sauberkeitssinn. Auf ihn rekurriert sie zunächst, als sie die Frage stellt: „zu was arbeitest eigentlich, laß es doch stehen" (929f.). Die Arbeit verliert ihren Sinn, Sehnsucht nach dem Tod kommt auf. Plötzlich sieht sich Frau Class für einen Moment ihrem ganzen Leben gegenüber. Die alltagspraktische Ermahnung zur Sauberkeit kann nicht mehr die ganze Bedeutungslast tragen. Die Alternative Tod erscheint als bedenkenswert. Wie beim ersten Beispiel hält der Transzendenzabstand vom Leben insgesamt nur für einen Moment. Das liegt diesmal nicht an dem Seelsorger. Er unterstützt die Todessehnsucht ausdrücklich: „ja ja das glaub ich auch ja" (940). Er gesteht der Laiin uneingeschränkt das Recht zu, auch Abstand von ihrem Leben nehmen zu wollen. Doch dieser Gedanke des Abstand-nehmen-Wollens, so weiß die Besuchte, stößt im Alltag auf Widerstand. Offensichtlich hat sie ihre Überlegungen auch gegenüber ihrer Familie schon geäußert. Diese hat den Wunsch eindeutig abgelehnt. Sie müsse noch dableiben, so fordern Tochter und Enkel - aus welchen Gründen auch immer. Der Besuchten freilich fällt dann ihr Ärger über den Schwiegersohn ein. Das Gespräch geht so über in eine ausführliche Schelte über ihn. In obigem Zitat ist davon nur der Anfang wiedergegeben. Daran schließt sich dann eine Schilderung der eigenen gesunden Eßweise an. Das Fenster der Transzendenz ist schnell wieder geschlossen. Der Abstand vom Leben stellt sich hier nicht als eine abstrakte Frage, sondern befindet sich in der Gemengelage des Alltags, in der sich Erschöpfung bei Hausarbeiten und Aggression gegenüber Familienangehörigen mischen. 293
Später kommt Frau Class noch einmal auf das Thema zurück, als der Seelsorger das Gesprächsende ankündigt: 1409
1413 1414 1417 1420 1422 1423
S b S
C1
1431 1432
gell heja, ahe wenn'S die alte Dame auch kennen ahaha jaa jaa aha C1 = ist schon mehr ne alte Schachtel gell hehehehe [s nanana nanana die schaun anders aus haha f C1 jaha ja allerdings gell
s s α
b rs C1 s C1
1435 s 1436 C1 1437 s 1438 rC1
s
1440
rC1
1442
rC1
s s
b
1446 rC1 1448 1449
s
C1
s
1451
rC1
1453 1454
C1
1456
294
ja
[s
's 1429
[Einatmen] jetzt hab ich Ihnen ein Besuch gemacht Frau {C1) jetzt kenn ich Sie, war sehr nett!
s s
C1
ja
ja
naja man muß η bissl sich zusammennehmen gell, ja ja ach ich wünsch Ihnen daß Sie gute Zeit noch vor sich haben und und ja, bin ich auch froh, und daß Sie na möcht ich mal ganz schön einschlafen,
ja
gell, ich hab mir schon erst mal überlegt ob ich nicht zu dem humanen Sterben geh gell, aber dann hab i mir gedacht, das das gefällt mir nicht, na so wie Sie jetzt dran sind wird das auch nicht ne äh aktuell sein nein°nein° gefällt mir auch gar nicht, gell ne ne ne ich möcht mal ganz ruhig und Sie haben ja auch Freude am Leben noch und (meich) ja allerdings allerdings, solang es noch geht gell, solang es noch ja ja geht aber wenns nimmer geht: ach ich wünscht Ihnen daß'S schon auch so einschlafen können gell das wär ganz schön, ja ja = so ruhig,
ja
[1] das wär schon schön,
1457 1458
S C1
1460
S . l C1 S
1463
kl1 1467 1469 1471
C1 rS l C1 C1
1473 S 1474 jC1 S 1477
C1
h-m aber: (leiser:] mein Gott,+ [lauter:] wünschen könns wirs uns ja-ahahaha+ jaja ich denk mir schon oft daß sich sowas dann auch auch verwirklicht, ja (auch) gell, °jaja° = es ist nur schlimm für die für die Angehörigen wenn dann die die Tochter reinkommt und und Sie sind tot ist es schon ich sag Ihnen in der Wohnung das ist Sie das ist schlimm das ist s c h l i m m - ] , ja furchtbar — 1 also das kann ich niemanden sagen ich werd das nie vergessen, nie. das war für mich also furchtbar, bei dem Tod ihres Mannes furchtbar erschrocken, ja ja ja, des ist auch so plötzlich geschehen. = ja. des war so schlimm, des kann ich gar nicht sagen.
Hier erscheint das Thema in Gestalt der Sorge um ein gutes Sterben. Zuvor hatte die Besuchte ausführlich dargelegt, wie sie jeden Morgen eine Banane esse, weil Bananen Gehirnnahrung seien, das habe ihr Arzt auch gesagt. Aber offensichtlich läßt sich so der Alterungsprozeß doch nicht verhindern. Die Sorge um das gute Sterben wird alltagspraktisch bearbeitet. Die Besuchte ist auf eine Organisation gestoßen, die ihr jene Möglichkeit verspricht: die Gesellschaft für Humanes Sterben. Die Transzendenzfrage wird hier durch Eröffnung einer Handlungsmöglichkeit gelöst, das Abstandnehmen vom Leben so bearbeitet, daß es die Macht zum realen Abstandnehmen durch Suizid einschließt. Der Besuchten freilich erscheint dies nur als eine Denkmöglichkeit, die sie dann doch verwirft: „aber dann hab i mir gedacht, das das gefällt mir nicht" (1433f.). Der Seelsorger unterstützt diese Verwerfung so, daß er die momentane Dringlichkeit solcher Überlegungen bestreitet und deren Notwendigkeit überhaupt reduziert: „na so wie Sie jetzt dran sind wird das auch nicht äh aktuell sein" (1435.1437). Frau Class geht darin mit und wiederholt noch einmal ihre Verwerfung des ,humanen' Sterbens (1436. 1438-1441). Sie setzt dann an, ihren Wunsch (für das Sterben) zu äußern: „ich möcht noch mal ganz ruhig" (1442). Der Seelsorger unterbricht sie, indem er auf ihre „Freude am Leben noch" (1443f.) verweist. Die Besuchte folgt ihm darin, wendet das Thema aber zur Sterbeproblematik zurück: „ja allerdings allerdings, solang es noch geht gell, solang es noch geht aber wenns nimmer geht:" (1445f. 1448). Nun übernimmt der Seelsorger den Wunsch und 295
macht ihn zu seinem eigenen: „ach ich wünscht Ihnen daß'S schon auch so einschlafen können" (1449f.). Frau Class nimmt das ausführlich auf: „war ganz schön" (1451), „so ruhig" (1453), „das wär schon schön" (1556). Doch im Modus des Wünschens gelangt sie dann zur Erkenntnis der Ungesichertheit dieses Zugriffs auf den eigenen Tod: „aber: [leiser:] mein Gott,+ [lauter:] wünschen könns wird uns ja-ahahaha+" (1458). Diese Erkenntnis verunsichert. Die Stimme wird leiser. An der Stelle des Erschreckens kommt es zum Ausruf „mein Gott". Das ist eine Vokabel, die alltäglich für Situationen des Erstauntseins verwendet wird. „Mein Gott" wird gesagt, wenn etwas Ungewohntes, etwas Bewegendes oder Erschütterndes dazwischenkommt.53 Das andere, das Kontingente, das Transzendente bricht ein. Die Sprachkonvention greift in solcher Situation auf eine religiöse Vokabel („mein Gott") zurück, ohne daß der Sprecherin der religiöse Kontext bewußt sein muß. Wieder gefaßter, im Alltag angekommen, wird daraus eine nun auch wieder in der lauteren Normalstimme gesprochene Alltagsmaxime („wünschen könns wir uns ja-hahaha"). Wünschend und diesen Wunsch mit einem Lachen relativierend - so erscheint alltäglich der Zugang zum eigenen schönen Tod. Der Kontingenz des Lebens gegenüber verhält sich das alltägliche Leben im Modus des Hoffens. Der Seelsorger bestärkt sein Gegenüber darin: „jaja ich denk mir schon oft daß sich sowas dann auch verwirklicht, ja" (1460f.). Er stimmt nicht nur dem Wunsch zu, sondern verbürgt auch seine relative verallgemeinerbare Erfüllung („oft"). Das „oft" erscheint zwar als Charakterisierung dessen, was der Seelsorger oft tut. Es dürfte aber auch die Alltagsweisheit durchscheinen: Oft bekommen Menschen den von ihnen gewünschten Tod. Welche theoretische Hintergrundkonstruktion dafür verantwortlich wäre, etwa ob Menschen psychosomatisch ihr Sterben mitbeeinflussen können oder ob eine religiöse Größe (Gott) solches Sterben schenkt, bleibt unausgesprochen. Der Seelsorger macht sich so oder so zum Bürgen dafür, dem Hoffen zu vertrauen. Er erscheint hier als Anwalt von Transzendenz. Für einen Moment ist das so. Dann wechselt er die Perspektive und führt ein Gegenargument gegen den schnellen Tod im Schlaf an: das Erschrecken der Angehörigen. Damit wird per negationem die Möglichkeit, daß jemand doch nicht schnell stirbt, als eine nicht nur nachteilige Möglichkeit angedeutet. Die Fixierung auf den Wunsch soll aufgebrochen werden, der Modus des Hoffens statt des Sicherseins damit festgehalten werden. Zu einer Verfolgung dieses Gedankens kommt es jedoch nicht. Vielmehr löst die Bemerkung bei der Besuchten die Erfahrungen beim plötzlichen Tod ihres Mannes aus. Das Gespräch geht dann - jenseits der zitierten Passage in die ausführliche Erzählung der Sterbegeschichte des Mannes über.
53 Vgl. J.GRIMM/ W.GRIMM, Art. Gott, 1958, Z.1017-1144; 1104.
296
Wieder erscheint hier Transzendenz nur im Moment, wieder vermischt mit alltäglichen Erfahrungen und Wünschen, wieder wird kulturell bedingte religiöse Sprachtradition benutzt, ohne daß das Christliche dadurch ins Bewußtsein käme. Transzendenz ist momentan, mitten im Alltag präsent. So zeigt sich Alltagstranszendenz. c) Christliche oder biblische Sprachtraditionen und Vorstellungskomplexe sind nicht die einzigen, die in der Gegenwartskultur zu Verfügung stehen. Mit der Gesellschaft für Humanes Sterben begegnete uns schon eine andere Institution, die das Transzendenzverhältnis mit betreffen kann. Die westlichen Religionen verstehen Gott als jene Größe, die als hinter dem Eingreifen einer Transzendenz in den Alltag stehend gedacht wird. Daneben finden sich aber in unserem Kulturraum auch noch andere Transzendenzakteure. Zwei von ihnen kommen in dem Gesprächsmaterial vor. Beide Male werden sie übrigens von solchen Besuchten genannt, die der Kirche nahe stehen und sich in christlicher Tradition auskennen. In Gespräch D l begegnet Populärastrologie: 336
S
339 341 342 343 344
rD1 L S S D1 S D1
346 347 348 349 350 351 352 353
S D1 S D1 S D1 S D1
356 357
S D1
360 361
S D1
364 365
S D1
gibt gibt so Leut die so alt wem, ich besuch heut noch e Fra so Gott will die neunzich is. die Brehm Berta. ach die hat heut auch Geburtstag? Berta ( ) ja ja? ja gut. sehn Sie jetzt wollt ich scho wieder sagn is auch η Fisch! ch hi mit Fische hab ich keine Erfahrung. na das sind Fische immer is wohr jaja nachgiebisch ja sind Se? doch ich )eigentlich net so schnell ( ich kann mich dann glei_ ne ich bin net e-e nur: wann mich jemand verärgert hat, ganz schlimm. sind Sie nachtragend, nachtragend eben ich sach ja: nur wann mich jemand sehr verärgert hot daß sich des wiederholt nicht mir des gleiche agetoe hot und dann is m dann is dann muß ich mich dann schon sehr ( ) anstrenge daß man da ( ) kann ne, [4] ich befürcht daß ich nachtragend bin. ja?
297
366
S
368 369 370 371 372
D1 S D1 S D1
hm [2] "(glaub ich net) ( ja aber dann wehr ich mich. "(ja wissen Se)° cha [9]
Frau Diehl redet über einen von ihr geplanten Geburtstagsbesuch. Sie stellt ihren Plan ausdrücklich unter einen Kontingenzvorbehalt: „so Gott will" (337). Wie konventionell hier dessen Gebrauch ist, vielleicht sogar einfach ein Ausdruck für unsichere Pläne geworden ist, oder wie sehr er bewußte Demonstration eines Transzendenzbewußtseins ist, läßt sich nicht klären. Frau Diehl kategorisiert dann die Person, die sie besuchen wird, unter astrologischem Gesichtspunkt: „auch η Fisch!" (345). Jene Person erscheint also als eine, deren Wesen durch die transzendente Größe der Sternenkonstellation mitbeeinflußt ist. Diese Transzendenzdeutung gilt in der Institution Kirche üblicherweise als nicht-christlich. Entsprechend vorsichtig führt die Besuchte denn auch diese abweichende Deutetradition ein: „sehn sie jetzt wollt ich scho wieder sagn" ... (344). N u n begegnet aber hier die Astrologie nicht als Transzendenzentwurf, sondern in ihrer populären Fassung, dem Verdacht, daß für zu ähnlicher Jahreszeit (unter gleichem Sternzeichen) Geborene ähnliche Charaktereigenschaften typisch seien. Auf dieser Ebene, der Alltagsebene also und zwar in ihrer subjektiven Fassung, antwortet denn auch der Seelsorger: „mit Fische hab ich keine Erfahrung" (346). Er erklärt sich damit einerseits als nicht zuständig für einen Gesprächsgang über Fische, andererseits begründet er diese Nichtzuständigkeit weder ideologisch (,daran glaub ich nicht') noch institutionell (,in der Kirche sehen wir das aber anders'), sondern subjektiv mit zufällig mangelnder Erfahrung. Die Laiin bleibt weiter vorsichtig. Sie spricht die astrologisch begründete Charakterisierung nicht aus, sondern deutet sie nur an: „na das sind Fische immer" (347). Der Seelsorger bleibt weiterhin auf Distanz, ohne die Berechtigung grundsätzlich zu bestreiten: „is wohr" (348). Als die Besuchte sich noch einmal hinter ihre These stellt („jaja"; 349), spricht der Seelsorger selbst die astrologische Charakterisierung aus: „nachgiebisch" (350).54 Er bleibt allerdings bei seiner fragenden Haltung: „sind Se?" (352).55 Bei Frau Diehls Darstellung ihrer eigenen Nachgiebigkeit 54 Offensichtlich ist vorher (vgl. 344: „scho wieder") schon einmal die astrologische Charakterisierung des nachsichtigen Fisches angesprochen gewesen. Es dürfte sich um eine Aussage gehandelt haben, die bei der Transkription wegen Unverständlichkeit sich nicht niederschreiben ließ. 55 Das „Se" könnte auch die 3. Person Plural meinen (,sind Fische nachgiebig?'), es wird im folgenden von der Besuchten auf sich selbst bezogen. Deswegen wurde die Aussage als auf 3. Person Singular festlegende Schreibweise transkribiert. 298
kommt nun heraus, daß diese allerdings ihre Grenzen hat. Der Seelsorger bietet zu dessen Deutung eine andere Charakterisierung an: „nachtragend" (356). Dies wird von der Laiin durch Explikationen bestätigt. Damit ist nun mit Hilfe des Seelsorgers im gemeinsamen Gespräch die astrologische Charakterisierung für den Fall der Besuchten selbst falsifiziert worden. Die astrologische Transzendenzthese hat sich alltagspraktisch als (in diesem Fall jedenfalls) nicht haltbar erwiesen. Zur Debatte stand nicht die astrologische Ideologie; sie wird denn auch von dieser Falsifikation nicht berührt. Im Gespräch selbst ist die astrologische These überholt worden. Sie konnte das Gespräch anregen, über Charaktereigenschaften zu reden, ein bißchen Populärtypisierungen zu treiben. Diese entfernen sich von der astrologischen Ausgangsthese und widerlegen sie damit. O b dem Seelsorger dies bewußt ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden; für die Besuchte scheint es keine Bedeutung zu haben; für das Gespräch selbst jedenfalls ist der Widerspruch irrelevant. Alltagstranszendenz kommt hier nicht ohne weltanschauliche Vorstellungskomplexe aus, aber sie geht mit ihnen anders um, als dies auf der Ebene der,hohen' Transzendenztheorie geschieht. Deren theoretische Ausschließlichkeit verhindert nicht, daß im Alltag verschiedenartige Vorstellungskomplexe zur Hilfe genommen werden für alltagsspezifische Zwecke. Ein Scheitern bei der Bearbeitung dieses Zweckes zieht aber ebensowenig eine theoretische Reflexion darüber nach sich. An der Prädisposition dazu, astrologische Charakterisierung zu verwenden, ändert sich durch diese Gesprächspassage nichts. Einige Zeit später im Gespräch heißt es: 778
D1
780
fS L D1
782
rS D1
ich bin doch sehr sehr feinfühlisch das isch das is der Fisch, hm der Fisch, (mög ) ganz schlimm.
Die Besuchte greift hier wieder auf das astrologische Modell zurück - um nun ebenfalls vom „Fisch" einen ganz anderen Charakterzug auszusagen. Es bleibt dabei, daß personale Charakterzüge als transzendent gegeben dargestellt werden, und dafür wird die astrologische Hypothese zur Hilfe genommen. In einem anderen Gespräch begegnen andere Transzendenzakteure: 603
B1
606 607
S [B1
[2] aber ich glaube daß Herr Schulze wirklich das Gefühl hat wir haben einen guten eine gute Tat getan und da wird der liebe Gott mit sämtlichen Schutzengeln dastehen, h-m und das find ich so doli wenn man so stark h-m
299
609 610 611 613
B1 S B1 S B1 tS
617
B1
621
tS B1
623
S
625 626
B1 S
das was vorstellen kann, h-m ich denk ja immer meinen Sie wirklich? doch ich tu das [hoher Ton:] nicht+, ich glaub eben immer dafür gab er uns den Verstand! daß er denkt, er tut ne gute Tat und deswegen gehts gut aus oder? ja er hatte ( ) nö also er hätt schon das Gefühl gehabt daß die Schutzengel da schon tun. ich sach nicht daß das nur sone kleine ach scherzhafte Bemerkung war, er ist manchmal doch so sehr gradlinig naiv nicht? = hm
[5]
kann ja sein nicht? mei und die gute Frau wollte das so gerne loshaben,
Die Schutzengel werden von Frau Brix als Transzendenzakteure dem „liebe^) Gott" (603) untergeordnet. Sie treten also nicht in Konkurrenz zu ihm. Sie sind allerdings - auf der theoretisch-theologischen und kirchlichinstitutionellen Ebene - im Protestantismus nicht gestattet.56 Hier geschieht denn auch die Einführung dieser Transzendenzakteure zunächst indirekt: Ein anderer, der Herr Schulze, habe von Ihnen gesprochen, so sagt die Gastgeberin. Im Verlauf des Gesprächs freilich wird sie zu erkennen geben, daß sie im wesentlichen der gleichen Meinung ist. Die Seelsorgerin hingegen bietet Widerstand und beginnt eine Diskussion. Sie fragt in den turn der Besuchten hinein: „meinen Sie wirklich?" (612). Die Besuchte bleibt bei ihrer Meinung „doch ich tu das [hoher Ton:] nicht+" (613). Sie schließt daran eine Erklärung an: „ich glaub eben immer dafür gab er uns den Verstand!" (613f.). Das „er" bezeichnet die transzendente Größe, also wohl Gott, der als Geber menschlicher Fähigkeiten einwirkt. Diese Transzendenzaussage wird von der Seelsorgerin nicht aufgenommen. Bevor sie überhaupt entfaltet wurde, nämlich als die Besucherin erst bis zum „ich glaub eben immer" gekommen ist, schaltet sie sich mit einer alternativen Fortführung des turn ein: „daß er denkt, er tut ne gute Tat und deswegen gehts gut aus oder?" (615f.). Sie lenkt auf die Ebene zurück, nicht die Meinung der Besuchten selbst, sondern die des Mannes,
56 Für die Dogmatik des 19. Jahrhunderts gilt das auf jeden Fall, wenn auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um des biblischen Befundes willen und als theologisches Demonstrationsobjekt für die wirklichkeitssetzende Kraft Gottes von einigen Vertretern (bes. Paul Althaus und Karl Barth) wieder eine Angelologie entworfen wird (vgl. U.MANN, Art. Engel VI., 1982, 609-612). Im protestantischen Normalgottesdienst kommen Schutzengel nicht vor. 300
über den berichtet wurde, zu besprechen. Die Deutung der Seelsorgerin bietet eine weniger religiöse Fassung des Transzendenzbewußtseins: Er habe seine Aussage gemacht, weil er glaubt, daß eine Tat, die eine gute Tat ist, gelingen muß. Frau Brix freilich wiederholt ihre Bemerkung vom Anfang der Passage und erwähnt jetzt allein die Schutzengel als Transzendenzakteure. Sie folgt aber darin der Seelsorgerin, daß sie ebenfalls auf die Ebene der Aussagen über das, was jener Mann meint, zurückgeht: „nö also er hätt schon das Gefühl gehabt daß die Schutzengel da schon tun" (617f.). Sie minimiert die Differenz zu ihrem Gegenüber und versucht sich in einem Kompromiß. Einerseits versteht sie die Aussage jenes Mannes durchaus als eine, die nicht psychologisch umzudeuten, sondern als Transzendenzaussage festzuhalten ist: „ich sach nicht daß das nur sone kleine scherzhafte Bemerkung war" (619. 621). Andererseits kritisiert sie sein Denken insgesamt doch: „er ist manchmal doch so sehr gradlinig naiv nicht?" (621f.). Die Seelsorgerin verfolgt die Aussage über ein „hm" hinaus nicht mehr weiter. Nach fünf Sekunden Pause faßt die Besuchte ihre Haltung noch einmal anders zusammen: „kann ja sein nicht?" Die Seelsorgerin lenkt dann das Gespräch auf die Handlung, innerhalb derer jene Transzendenzaussage des Mannes fiel, bewegt sich wieder in den Alltagsvorgängen. Darin wird ihr dann auch Frau Brix folgen, und man redet wieder darüber, was alles bei jenem Klaviertransport noch passierte. ,Kann ja sein nicht?' - so stellt sich die Laiin zuletzt zur von der protestantischen institutionellen Theorienorm abweichenden Transzendenzvorstellung. Es kann sein, daß jener Mann naiv ist, es kann ebenso sein, daß er recht hat mit seinen Schutzengeln. Eine solche ambiguose Haltung wird ein,hohes' Transzendenzbewußtsein kaum befriedigen. Eine ordentliche Transzendenztheorie wie etwa die protestantische oder die katholische offizielle Theologie wird die Existenz von Schutzengeln entweder für gegeben bzw. die Rede davon für berechtigt halten oder nicht. Auf der Alltagsebene hingegen ist offensichtlich solch ein offener Umgang mit Transzendenztraditionen möglich, vielleicht gar nicht so ungewöhnlich. ,Es kann ja etwas dran sein', das heißt: Ich behalte mir vor, in bestimmten Situationen jene Transzendenzdeutung ins Kalkül zu ziehen, sie aber auch in anderen Situationen zu übergehen. Die Laiin setzt sich darin gegen die Seelsorgerin durch, daß sie diese Transzendenztradition hier angewendet wissen will, auch wenn es der kirchlichen Theologin nicht paßt. Alltagstranszendenz - so ergibt sich aus den letzten beiden Gesprächsbeispielen - ist nicht nur viel transitorischer als das ,hohe' Transzendenzbewußtsein oder jenes existentialistische Ideal des Existenz-Gesprächs, sie ist auch in der Verwendung ihrer Traditionen inklusiver und in sich widersprüchlicher. Nicht die theoretische Konsistenz, sondern die momentane Praktikabilität steht im Vordergrund. Unter denjenigen Traditionen, die zur Hand sind, werden durchaus auch heterodoxe nicht-christliche oder 301
nicht-protestantische Traditionen gewählt und verwendet. 57 Daß sie Verwendung finden, darin lassen sich in der Alltagsseelsorge die besuchten Laien auch nicht von den Professionellen für christliche Deutung abbringen. Letztere reagieren darauf in doppelter Weise: einerseits ist ihnen der Widerspruch zur christlichen Deutetradition bewußter und sie leisten Widerstand gegen jene heterodoxen Deutungen, andererseits führen sie diesen Widerstand in alltagstypischer Weise mit alltagstypischen Mitteln aus. Sie rekurrieren nicht auf das Theoriesystem, sondern setzen eigene Erfahrungen dagegen oder leiten das Gespräch in andere Richtungen weiter, und das heißt, sie entfernen es von den Transzendenzaussagen. d) Fassen wir zusammen: Transzendenzaussagen sind eher selten in den von mir untersuchten Gesprächen. Sie kommen vor im Kontext von Grenzsituationen, in diesem Fall der Thematisierung des Alterns und Sterbens. Insofern wird auch im Alltag tatsächlich Transzendenz dort thematisch, wo das alltagstypische Machen und Kalkulieren an seine Grenzen stößt; Religion begegnet insoweit als ,das ganz Andere'. Aber anders als beim Ideal der mit dem Existentialismus kompatiblen Existenz-Gespräche erscheint hier die ,Fraglichkeit als solche' nur ganz momentan, wenn überhaupt - für Sekunden gewissermaßen. Stattdessen finden wir eine andere Art von Transzendenzaussagen, die man als ,Alltagstranszendenz' bezeichnen könnte. In ihr mischen sich alltagstypische Rede- und Denkweisen. Die Ablösung vom Alltag wird in keiner Weise auf irgendeine Dauer gestellt; sie erfüllt alltagspraktische Funktionen. Alltagstranszendenz unterscheidet sich von den theoretischen Konstrukten aus ,hohem' Transzendenzbewußtsein außerdem darin, daß die Fraglichkeit des Menschen nicht abstrakt, sondern über bestimmte kulturell vorhandene Transzendenztraditionen vermittelt wird. Eine christliche Karte, ein astrologisches Schema, eine Aussage eines anderen über Schutzengel - das alles kann Transzendenzaussagen auslösen und zur Sprache bringen. Daß die Transzendenzerfahrung de facto nicht ohne TranszendenzTraditionsmaterial auskommt, das gilt nun aber auch doch schon ebenso für die Darstellung bei Müller-Schwefe. Seine Kennzeichnung der Fraglichkeit des Menschen versteht sich zwar als eine, die sich noch vor der Stufe des Glaubensgesprächs befindet. Doch schon „den Mut zum offenen Horizont" illustriert Müller-Schwefe an einer biblischen Gestalt: Hiob. 58 Und so wird bereits auf der Ebene allgemeiner Transzendenz deutlich gemacht: „Dies ist die letzte Voraussetzung für die Gespräche, die wir miteinander
57 P.L.BERGER, [1979], spricht von dem das moderne religiöse Verhalten unter den Bedingungen des Pluralismus kennzeichnenden „Zwang zur Häresie" (so der Titel). 58
302
MÜLLER-SCHWEFE, 2 1 f .
führen: daß wir an Gott festhalten." 59 Vor der Ebene des Glaubensgesprächs bleibt die Transzendenzgröße Gott einerseits eine nur denkbare Möglichkeit 60 , andererseits spricht die Tradition, auf die dabei verwiesen wird, eben nicht nur von Gott im Modus der Möglichkeit, sondern setzt seine Wirklichkeit voraus. Die Alltagstranszendenz-Aussagen zeigen kein Interesse an der Denkbarkeit des Möglichen. Sie greifen auf Traditionsbestände zurück und setzen damit die Wirklichkeit von Transzendenzakteuren als gegeben. Aber diese Gegebenheit akzentuieren sie situativ. Verschiedene Transzendenzakteure können dem Alltag zu verschiedenen Zeiten gegeben sein. Auch kann einmal die Gegebenheit alltagspraktisch in Anspruch genommen werden, und ein andermal kann sie wieder relativiert werden zu einem ,kann ja sein'. Der Denkbarkeit des Möglichen auf der Ebene der Transzendenztheorie und der ,hohen' Transzendenzgespräche entspricht auf der Alltagsebene die Bereitschaft, eine Transzendenz nur situativ zu verwenden und die Frage nach deren übersituativer Gegebenheit unentschieden zu lassen. Gott erscheint nach der Theorie des Existenz-Gesprächs entweder im Modus der Denkhypothese, oder aber, wenn die Ebene des Glaubensgesprächs erreicht ist, dann erscheint er als der unmittelbar im Gespräch Erfahrene. Die Begegnung mit ihm führt zu kirchlichen liturgischen Vollzügen (Gottesdienst und Beichte). Wir werden zu überprüfen haben, ob dies auch für die Alltagsreligion, wie sie sich in unserem Gesprächsmaterial zeigt, so gilt. Damit sind wir nun bei der Beschäftigung mit denjenigen Gesprächspassagen angelangt, in denen Religion in expliziter Beziehung auf Christentum und Kirche zur Sprache kommt.
„°Christuskirche 0 6 1 , da ist ja meine T o c h t e r konfirmiert w o r d e n " (Frau Class, Cl:1085)
6.2.3. Kirchliche Aussagen a) Aussagen, in denen explizit von Kirche, kirchlichen Personen, Veranstaltungen oder kirchlich verwalteten Traditionen die Rede ist, finden sich in den untersuchten Gesprächen nicht ständig. Sie machen nicht die Mehrheit der Gesprächsthemen aus, sondern treten nur sporadisch auf - auch bei denjenigen Gesprächspartnern, die mehr oder minder zur sogenannten
59
MÜLLER-SCHWEFE, 2 2 .
60 „Ist aber alles Gespräch ein Suchen nach dem unsichtbaren Partner, dann könnte in den vielen Gesprächen in unseren Tagen ein Weg mit Gott und ein Weg zu ihm sich ereignen! - Welche Möglichkeit!" (MÜLLER-SCHWEFE, 18). 61 Name gändert.
303
Kerngemeinde zählen (A2, A3, Bl, Dl, Fl). Andererseits: Kirchliche Inhalte begegnen sehr viel häufiger als die abstrakten Transzendenzaussagen auch bei denjenigen, die in der Regel die kirchlichen Veranstaltungen nicht besuchen (Al, C l , C2, El). Bevor wir die Analyse selbst durchführen, ist es hilfreich, bestimmte Erwartungshorizonte abzuklären. Die Analyse bekommt damit die Aufgabe, die Frage zu beantworten, inwieweit diese Vorerwartungen sich erfüllen und inwieweit sie durch die Ergebnisse falsifiziert oder modifiziert werden. Drei verschiedene Vorgaben sind es, die berücksichtigt werden sollen. An erster Stelle nenne ich die durch die Analyse der ethischen und der Transzendenzaussagen gewonnene Perspektive. Alltagsethik-Aussagen und Alltagstranszendenz-Aussagen implizieren, wie sich zeigte, das Religiöse in verschiedener Weise. Alltagsethik stabilisiert in den Gesprächen alltägliche eher unproblematische Divergenzen oder sie unterbricht die Alltagsebene momentan, um an die ethische Verallgemeinerung dann wieder eine genauere Beschäftigung mit dem Alltagsthema anzuschließen. In dieser Weise erfüllt Alltagsethik im Gespräch selbst die Funktion von Religion: einerseits Integration in den Alltag, genauer: in das alltägliche Gespräch, andererseits Unterbrechung zugunsten des Alltags, genauer: zugunsten des alltäglichen Gesprächs (6.2.1.). Die Transzendenzaussagen hingegen ergaben sich in Grenzsituationen, in nicht mehr mit Alltagsmitteln allein bearbeitbaren Ambivalenzen. Transzendenzaussagen vollziehen einen Abstand vom Alltag - für einen kurzen Moment und unter Zuhilfenahme weltanschaulich geprägter Vorstellungen, seien sie kirchlicher oder heterodoxer Art (6.2.2.). Der alltäglich gegebene Gegenstand, bei dessen Diskussion hier Religion thematisch wird, ist in beiden Fällen der vom Subjekt erlebte Alltag. Diesen ordnen und bewerten die ethischen Aussagen, von ihm nehmen die Transzendenzaussagen Abstand. Bei den explizit religiösen Aussagen hingegen gibt es nun auch ein anderes Gegenüber, das das Religiöse konkret repräsentiert. Es handelt sich dabei um die Vermittlungsinstanzen Kirche, Pfarrer, christliche Rituale, Symbole und Begriffe. Sie stellen etwas dem Subjekt Gegenübertretendes dar, lassen sich ihrerseits auch als alltäglich auffassen und behandeln. Das so Gegenübertretende muß allerdings nicht als Alltägliches erscheinen, es könnte sich auch als transzendent erweisen oder als eine Norm auftreten. Es stellt sich dann die Frage, inwieweit sich kirchliche Aussagen anders als ethische Aussagen und Transzendenzaussagen verhalten: Was findet sich bei ihnen an religiöser Funktion der Stabilisierung und der Alltagsunterbrechung? In welchem Verhältnis stehen sie zu Grenzsituationen? Wie ist es mit der Dauer des Religiösen? Wie stehen die kirchlichen Aussagen zu anderen, heterodoxen Traditionen? Ein zweiter Erwartungshorizont wird dadurch vermittelt, wie nach Auffassung der beiden Theorietraditionen der Seelsorgelehre kirchliche 304
Religion in der Seelsorge präsent sei. Nach der verkündigenden Seelsorge ist es unabdingbares Kennzeichen von Seelsorge, daß ihr Gegenstand durch kirchliche Yermittlungsinstanzen gegeben ist: Amt, Kirche Bibel - darin konkretisiert sich das Wort Gottes, das verkündigt werden soll. Dabei werden die Vermittlungsinstanzen erst dann zum Wort Gottes, wenn sie sich als das Nicht-Alltägliche, als das ganz andere, als das Transzendente erweisen, d.h. wo in ihnen Sündenbehaftung und Gnadenvergebung zugesprochen wird. 62 Erst da, wo ein Seelsorgegespräch dies erreicht, ist es gerechtfertigt. Die therapeutische Seelsorge hingegen faßt die Kirchlichkeit weiter. Was zunächst kirchlich erscheinen mag wie z.B. mit religiösem Vokabular vorgetragene Schuldgefühle, kann sich als etwas anderes erweisen, nämlich als Verschlüsselung psychischer Konflikte, die therapeutisch zu behandeln sind.63 Wenn christliche Vermittlungsinstanzen bei den Klienten vorkommen oder auch bei den Therapeuten, so sage das also nichts über den wahrhaft christlichen Charakter aus. Dieser sei durch die Präsenz kirchlicher Aussagen weder gewährleistet, noch durch deren Absenz verunmöglicht. Dann stellt sich allerdings die Frage nach dem Proprium von Seelsorge gegenüber sonstiger Therapie. Sofern dieser Frage nicht durch ein Zweistufenschema ausgewichen wird64, verweist die therapeutische Seelsorge auf die implizite Präsenz des Kirchlichen. Seelsorge ist „Psychotherapie im kirchlichen Kontext" 65 , d.h. sie wird es dadurch, daß Therapeuten als Angestellte der Kirche Therapie treiben oder daß sie selbst sich ihrer kirchlichen Motivation bewußt sind.66 Daß der kirchliche Kontext explizit wird durch kirchliches (bzw. biblisches) Vokabular - dazu darf es nur so kommen, daß in Kongruenz mit der therapeutischen Beziehung christliche Inhalte eingebracht werden. 67 Beide Seelsorgetheorien gehen darin überein, daß sie das Kirchliche auf das Nicht-Alltägliche hin pointieren. Verkündigung besteht in beiden Fällen darin, daß etwas dem Alltag entgegentritt. Dabei ergibt sich jeweils gegenüber der Gegenseite der Verdacht, daß bei ihr de facto das Kirchliche doch zum Alltäglichen verkomme. Für die verkündigende Seelsorge besteht der Eindruck, die therapeutische Seelsorge könne in ihren Gesprä-
62 Siehe 6.1. Anm.9 u. 10. 63 „Wo Menschen von sich aus mit dem Beichtbegehren zum Seelsorger kommen, muß ... zunächst sehr sorgfältig geprüft werden, ob nicht ein krankhafter Prozeß im Hintergrund steht, gegen den der Vollzug der Beichte und der Zuspruch der Vergebung zwangsläufig völlig wirkungslos bleiben muß" (SCHARFENBERG [1972], 22). 64 H.Faber spricht von zwei „Etappen" (H.FABER/ E.v.d.ScHOOT, Praktikum des seelsorgerlichen Gesprächs, [1962]; 65). 65 D.STOLLBERG, Wahrnehmen und Annehmen, 1978; 29. 6 6 V g l . STOLLBERG 1 9 7 8 , 3 1 f . , u n d S c h o o t i n FABER/ SCHOOT, 1 7 2 f . 6 7 V g l . STOLLBERG 1 9 7 8 , 3 2 .
305
chen die kirchliche Dimension nicht festhalten - das Kirchliche verstumme einfach68, auch Verkündigung werde hier Alltag. Die therapeutische Seelsorge verweist darauf, daß in der verkündigenden Seelsorge Kirchliches widertherapeutisch eingesetzt werden könne69, statt Therapie regiere der Alltag. Wir werden bei unserer Analyse also besonders darauf zu achten haben, inwiefern die kirchlichen Aussagen tatsächlich in Differenz zum Alltag stehen oder ob sie Alltags-Charakter haben. Wenn wir nun in der Analyse nach der tatsächlichen Präsenz von Kirchlichkeit fragen und erst einmal diese überhaupt feststellen wollen, so handelt es sich dabei um eine Aufgabenbeschreibung, die auch für solche kirchensoziologischen Untersuchungen gilt, die mit quantitativen Umfragen arbeiten. Deren Ergebnisse ergeben einen dritten Fragehorizont für unsere Analyse. Dort wurde nachgewiesen, daß die Perspektive der Laien in ihrer Mehrheit eine durchaus andere ist als die der Professionellen und der Kerngemeinde. Im Vordergrund der Verbundenheit mit der Kirche stehen bei der Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder in Deutschland weder Bibel noch kirchliche Normen und Deuteschemata noch die regelmäßige Teilnahme an jener Veranstaltung, in der sich Verkündigung am reinsten symbolisiert, dem Sonntagsgottesdienst. Vielmehr werden von den Laien die allgemeine ethische Orientierungsleistung der Kirche geschätzt, die Partizipation an ihren Ritualen, und zwar dann, wenn diese das Individuum und seine Familie im Jahreszyklus oder Lebenszyklus betreffen (Amtshandlungen und Jahresfeste), kirchliche diakonische Leistungen und vor allem der Pfarrer als Repräsentant der Kirche, als Bürge von Sinn.70 Werden diese Art von kirchlichen Themen auch bei den Gesprächen zum Geburtstagsbesuch dominieren? Im Zusammenhang mit diesen Ergebnissen fallen Unstimmigkeiten zwischen Reden und Tun bei eben dieser volkskirchlichen Mehrheit auf. Man gesteht der Kirche Gottesdienst zu, ohne an ihm selbst teilzunehmen. Man erwartet von der Kirche viel häufigere Seelsorgekontakte, ohne sie selbst zu suchen.71 Diese Diskrepanz läßt sich bei den quantitativen Umfragen deshalb nicht auflösen, weil nur die eine Seite der Interagierenden im Blick ist, das sind die Kirchenmitglieder. In der folgenden Analyse hingegen treffen 68 Vgl. H.TACKE, Glaubenshilfe als Lebenshilfe, [1975]; 37-74. 69 Vgl. SCHARFENBERG [1972], 22-24. 70
V g l . J.HANSELMANN/ H.HILD/ E.LOHSE, eds., W a s w i r d aus d e r K i r c h e ? 1 9 8 4 ; 2 6 -
29. 91-94. 105-109. P.KRUSCHE, Der Pfarrer in der Schlüsselrolle, 1975, 161-188; 166. 170. 187f. 71
HANSELMANN/ HILD/ LOHSE, 1 2 7 . 3 5 % d e r K i r c h e n m i t g l i e d e r „ w ü r d e ( n ) es b e -
grüßen", wenn der Pfarrer zu Besuch käme, 31% fänden es „interessant", für 30% wäre es „egal", aber sie würden den Pfarrer nicht wegschicken, und nur 4% stimmen dem Item zu: „Der Pfarrer hat bei mir zuhause nichts zu suchen" (107). 69% sagen, die Kirche sollte sich stärker „um die Sorgen und Nöte der Einzelnen [kümmern]" (122). 62% wurden noch nie vom Pfarrer besucht (203).
306
im Gespräch beide Seiten aufeinander. Wie stellen sich die Laien im Gespräch auf die Erwartungen der Professionellen ein, wie umgekehrt die Professionellen auf die der Laienmehrheit? Und was geschieht dann, wenn hier verschiedene Erwartungen aufeinander treffen? Hier rückt also die Frage in den Vordergrund, wie Laien und Professionelle gemeinsam mit kirchlicher Religion umgehen bzw. jeweils mit der kirchlichen Religion des Gegenübers. b) Wie kommt es überhaupt dazu, daß kirchliche Aussagen in das Gespräch eingeführt werden? bl) Bei bestimmten Themen sind es in der Regel die Laien, die von sich aus kirchliche Aussagen machen. Gut bekannt ist den besuchenden Seelsorgerinnen und Seelsorgern, daß Besuchte, die nicht zur Gottesdienstgemeinde gehören, sich für ihren mangelnden Kirchgang entschuldigen: 36 37 38 39 40 42
C2 = irh hah a hissle schlechtes Gewissen! S warum denn. C2 Ja weil ich a bissei nachlässig war. bitte schön. S danke schön. [Knarrender Boden, wohl wegen Hineingehen ins Zimmer] 'C2 ich war ein bißchen nachlässig in letzter Zeit mit dem [S =ja aber es fließt über von Blumen tatsächlich. C2 Kommen.
Bei diesem Beispiel führt die Laiin schon vor der Nennung ihres Anliegens aus, in welcher emotionalen Gestimmtheit und Beziehung auf den kirchlichen Besucher das Thema erscheint: als Stimme des schlechten Gewissens. Frau Cordes fällt in der Small-talk-Phase des Gesprächs (vgl. 4.1.2.b3) bei Präsenz des kirchlichen Funktionärs ihr seltener Kirchgang als offensichtlicher Ausdruck mangelnden kirchlichen Engagements auf. Sie zeigt an, daß sie die kirchliche Erwartung kennt und stellt sich als eine dar, die dieser auch prinzipiell zustimmt. Kirche ist eine Organisation, die von ihren Mitgliedern Engagement erwartet. Das gilt zwar prinzipiell, muß aber doch im aktuellen Fall modifiziert werden.72 Das Thema wird angesprochen, damit es zur Entschuldigung kommt, d.h. zur gemeinsamen Anerkennung der Tatsache, daß die nicht genügende Befolgung der kirchlichen Erwartung durch äußere Umstände verhindert wird: 72 Vgl. die Charakterisierung der „treuen Kirchenfernen" in: FREMDE HEIMAT KIRCHE, 1993; 21: „Zwar weiß man um den Erwartungskatalog, den die Kirche ihren Mitgliedern entgegenhält, weiß um die geforderten Verbindlichkeiten und Teilnahmenormen, man ist sogar bereit, das daraus sich zusammensetzende .normale' Kirchenbild zu akzeptieren, sein eigenes Verhalten daran zu messen und demgegenüber als abweichend und unzureichend zu erkennen. Dennoch folgt man in der Gestaltung des eigenen Kirchen- und Religionsverhältnisses - wenn auch etwas verlegen und mit ein bißchen .schlechtem Gewissen' - offenbar anderen Mustern und Plausibilitäten."
307
314
C2
manchmal fürcht ich mich den Weg zur Kirche weil am Sonntag es ist so einsam die {H-Straße} so entlang, geht kein Mensch! oder höchstens mal eins, und e_ es wird eim ja immer so angst gmacht
Zur Entschuldigung gehört freilich nicht nur, daß ein Hinderungsgrund vorgebracht wird, sondern auch, daß sie vom Gegenüber akzeptiert wird, daß der kirchliche Funktionär das Mitglied ,entschuldet'. Indem hier Frau Cordes sich mit einem schlechten Gewissen präsentiert, appelliert sie an das Gegenüber, es zu entlasten. Der Seelsorger fragt denn auch, bevor ihm schon gesagt ist, worum es sich handelt: „warum denn" (37). Er akzeptiert die Rolle desjenigen, der sich um das schlechte Gewissen seines Gegenübers kümmert. Frau Cordes präsentiert ihm die Schuld, freilich so, daß sie als eine petitesse erscheint „ein bissei nachlässig" (38). Damit erweist sich, daß schon bei der Einführung des schlechten Gewissens („a bissle schlechtes Gewissen") die Verkleinerungsform weniger als Höflichkeitsdiminutiv fungierte, sondern die Abschwächung der Schuld vorbereitete. Eine weitere gemeinsame Bearbeitung des Themas wird an dieser Stelle des Gesprächs dadurch überdeckt, daß der Seelsorger sich auch verbal der parallelen Handlung (Hineingehen in das Besuchszimmer) widmet. Als die Laiin das Thema noch einmal anspricht, nennt sie eine konkrete Entschuldigung: die Straße ist am Sonntagmorgen so einsam, daß sie sich fürchten muß (314317). Der Seelsorger reagiert darauf folgendermaßen: 318
324
[S C2 .S C2 jC2 S C2
326
S
320 322
jaja gell, es ist da noch no nie da was losgewesen nicht. ja wahrscheinlich, aber die Angst ist halt da. nein noch nie war_ ja ja ja es wird wahrscheinlich noch nie was Josgwesen sein nicht? =ja, ja.
Der Seelsorger zollt der Aussage von Frau Cordes in einem gewissen Umfang Anerkennung („jaja gell"; 318), gibt sich als einer, der ihre subjektive Angst akzeptiert. Doch die Beschreibung des Sachverhalts weist er insoweit zurück, daß er dem entgegenstehende Erfahrungen anführt: „es ist da noch nie was losgewesen wahrscheinlich" (318. 320). Dann aber erkennt er die subjektive Befindlichkeit von Frau Cordes doch ausdrücklich an: „aber die Angst is halt da" (320). Ohne die Entschuldigungsgründe voll zu übernehmen, gewährt er damit letztlich doch Entschuldigung. Die Laiin ihrerseits zeigt sich bereit, sich als überängstlich hinzustellen: „es wird wahrscheinlich noch nie was losgwesen sein nicht?" (324f.). Das Entscheidende bleibt so: die Entschuldigung ist gewährleistet. Die Laiin hat sich damit als eine gezeigt, die das professionelle Interesse des kirchlichen Funktionärs anerkennt. Von sich aus sprach sie es an, übernahm es damit als ihre 308
Aufgabe, für das Gespräch geklärt zu bekommen, daß ihre mangelnde Bereitschaft, dieses Interesse voll zu unterstützen, das Gespräch nicht weiter behindert. Kirche erscheint ihr hier als durch einen Funktionär repräsentierte Organisation mit Interessen an ihren Mitgliedern. Mitglieder von Großorganisationen sind bekanntermaßen in der Mehrheit nicht so aktiv, wie sie sein sollten. Das ist ein alltägliches Problem, und in dem eben vorgeführten Gespräch wird es mit alltäglichen Mitteln gelöst. Natürlich gäbe es neben dem Gottesdienstgang noch viele andere Möglichkeiten, an der kirchlichen Organisation aktiv zu partizipieren. Doch diese Teilnahme am Gottesdienst erscheint als das erste und herausragendste Beispiel für Partizipation. Gerade auch für Kirchenferne ist der Gottesdienst Symbol von Kirche.73 Auch Herr Eckert (El) spricht seine mangelnde kirchliche Beteiligung von sich aus an: 749
S
[9] [Tasse wird abgesetzt]= ich hoffe ja nun_ leider muß ich sagen hab ich da in letzter Zeit wenig Anteil daran genommen: daß die Gemeinde hier nun doch allmählich sich ein bißchen formt
Die Entschuldigung liegt hier schon in der Weise, wie der Hinweis auf mangelnde Kirchlichkeit eingeführt wird. Prinzipiell und ideell nimmt der Besuchte am Ergehen der Gemeinde sehr wohl Anteil. Der faktisch geringe Veranstaltungsbesuch ist deshalb auch von seiner Seite als bedauerlich („leider") zu werten. Die Seelsorgerin reagiert hier anders. Sie knüpft an die gezeigte Bereitschaft für das Wohlergehen der Gemeinde an, indem sie die Chance ergreift, die eigenen kirchlichen Interessen wahrzunehmen. 753
S
jaa, also des hoffen wir auch wir haben für den Herbst η paar Dinge geplant da werden wir auch Sie vielleicht nochmal fragen wenn Sie da sind und ä Zeit und Lust haben wir wollen auch s ä wir haben einen Literaturkreis
Die Seelsorgerin als Sprecherin der Kirchengemeinde („wir") versucht, den Laien zu aktiver Teilnahme zu bewegen. Dieser Aufruf zur Teilnahme wird nicht zu direkt formuliert: „wenn Sie da sind und ä Zeit und Lust haben" (757f.)", „wir wollen ... vielleicht auch so n' Leseabend machen da" (765f.). Nicht sie selbst machte den Vorschlag: „da sagt die Frau Müller der Herr { E l } äm hat doch sicher auch irgendwas auf Lager" (769-771). Damit bringt die Pfarrerin ihr Interesse als ein amtliches Interesse ein, dessen Ablehnung nicht eine Ablehnung gegenüber ihrer Person bedeuten würde.
73 Vgl. K.-H.BIERTTZ, [1983], Gottesdienst; 12f. 309
Die Indirektheit der Anfrage baut also dem vor, daß das Gespräch dadurch gefährdet werden könnte. In der Tat geht im Endeffekt der Besuchte auf die Einladung nicht ein. Er verweist zunächst auf andere: „da kann ja auch der {Ruheständlerverein} hier in {I-Stadt}" (779f.). Dann erzählt er, daß dieser Verein ihn eingeladen habe, doch eine Lesung zu machen, und man meinte, ihm damit die Chance zu einem zusätzlichen Verkauf seiner Bücher zu ermöglichen, doch diese seien ja schon fast vergriffen (782-803). Die Pfarrerin fragt daraufhin nach dem dritten jener Bücher, das sie ja noch gar nicht kenne. Damit ist das Thema der Teilnahme an kirchlichen Aktivitäten wieder vom Tisch. N u n ist es aber nicht so, daß die nicht zur Kerngemeinde gehörenden Mitglieder keinerlei Aktivitäten aufweisen können; sie verweisen denn auch bei Gelegenheit sehr gerne darauf. So wird dann in das Gespräch mehr oder minder ausführlich solch ein Hinweis darauf eingestreut. Diese Erinnerung an Kontakte mit der Kirche stehen relativ unverknüpft mit dem Rest des Gesprächs da. Daran zeigt sich, daß sie die Funktion haben zu demonstrieren: Ich bin jemand, der anerkennt, daß mein Gegenüber als Funktionär kirchliche Interessen wahrnimmt und kirchliche Beteiligung will; ich kann kirchliche Beteiligung vorweisen. Worauf verwiesen werden kann, das sind die typischen volkskirchlichen Teilnahmepunkte: Amtshandlungen und Bekanntschaft mit Pfarrern. U m der Präsenz des Pfarrers willen wird die Erzählung vom Geburtstagsbesuch der Nachbarin mit Enkelin von Frau Ammer um den Hinweis auf den kirchlichen Kontakt erweitert. Hier ist es nur ein Nachbarskind, das kirchlichen Kontakt hat, und doch fällt etwas auf die Besucherin ab: 514
518 519
522
A1 r L S A1 rS A1 A1
mitmal klingelts draußen, isse mit ihrem kleinen Tina mit der kleinen da ja die wird an Ostern getauft weiß ich ich tauf sie ja hahaha na ja da wird ja geht bei Ihnen vor sich nicht und da s kam sie denn und sachte „ Frau {A 1} die Kleine sollte Ihnen das Sträußchen bringen"
Im folgenden Fall hatte der Pfarrer von sich aus berichtet, daß die Kirchengemeinde jetzt gerade zwei Tage vor dem Geburtstag der Besuchten Jubiläum hatte. Das veranlaßt Frau Class zu folgender Aussage: 1084
C1
ο das wenn ich gewußt hätt, h-m, in die Christuskirche bin ich gern gegangen, h-m, "Christuskirche", da ist ja meine Tocher konfirmiert worden.
Der in der Biographie nächste Punkt oder wichtige Punkt mit kirchlichem Engagement wird aufgesucht - in diesem Fall liegt er mehrere Jahrzehnte zurück. Der Pfarrer läßt sich auf den Gedanken ein. Er fragt nach, ob der 310
Konfirmator ein bestimmter Pfarrer namens von Hülsen gewesen sei. Das verneint Frau Class zunächst; nach langem gemeinsamem Rätselraten stellt es sich dann aber doch heraus, daß der entfallene Name des Pfarrers eben der des schon genannten war, wohl von der Besuchten beim ersten Mal nicht richtig gehört (1092-1112). Nachdem das geklärt ist, sagt Frau Class: 1113 1115 1116 1117
rC1 S C1 S C1 r L
1121
S C1
I 1124 1126 1128 1130 1131 1132
S [C1 S jC1 S jC1 S C1 S C1
der war ja nett, das war ja ein netter ja ja Pfarrer, ja wirklich, der hat uns oft besucht, gell, auch w ä h r e n d d e m Krieg, gell, der war sehr nett, der Herr Hülsen, ja ja da hab ich auch immer meine ausgedienten Kleider hingebracht, gell die hat er dann aja immer den Mitgliedern so gegeben gell. ja ja denn ich hab ja keine Lumpen hergegeben gell, ja ja richtig noch gebrauchbares Zeugs, gell m °h-m° nene der war sehr nett, m Pfarrer Hülsen war sehr nett. [3]
Die Laiin hat gezeigt: Sie hat(te) kirchlichen Kontakt: Der Repäsentant der Kirche kannte sie, sie war aktiv und schätzte ihrerseits jenen Repäsentanten der Kirche. Verbundenheit mit der Kirche, so stellt es sich für sie dar, besteht wesentlich in Beziehung zum Pfarrer. Kirchlichkeit zeigt sich als soziales Austauschverhältnis mit dem Pfarrer74: gegenseitige Wertschätzung („der war ja nett", 1113; der hat uns oft besucht"; 1117) und beiderseitige Leistungen (Konfirmation der Tochter - sie brachte Kleider). Die Laiin nimmt ihre Beziehung nach alltagsweltlich vertrauten Mustern der Teilnahme in sozialen Gebilden wahr. In diesen Zusammenhang gehört auch das bisweilen emphatisch geäußerte Lob an der Pfarrerin oder dem Pfarrer durch die Besuchten: „also wissen Sie Sie sind a Lichtblick in der Kirche!" (C2:1061f.), „uns manchmal richtig so ein ein doller Engel" (Bl:862-864). Manchmal haben auch solche, die nicht zur Kerngemeinde gehören, einzelne besondere Bezugspunkte mit der Kirche, die thematisiert werden können. Herr Eckert, der Heimatdichter, spricht an, er habe im letzten
74 F r a u F i n k , die erst mit 17 z u m K o n f i r m a n d e n u n t e r r i c h t ging, w a r Liebling des K o n f i r m a t o r s , w o h l weil sie - so ihre M u t m a ß u n g - vaterlos war. „er b r a u c h t e m i c h , u n d m a n b r a u c h t e i h n " (Fl:286. 288). 311
Gemeindebrief gelesen, daß nach einem Namen für die Kirche gesucht werde. Die Seelsorgerin erinnert sich daraufhin an einen gehaltenen Vortrag des Besuchten über den Namen des Stadtteils. Gemeinsam rekapituliert man manches aus dem Vortrag (646-679). Nachdem man dann auf das Verhältnis des wachsenden Vororts zur Stadt zu sprechen kommt, fragt die Pfarrerin noch einmal nach: „aber Sie ä hätten haben ne Idee für η Namen?" (692). Herr Eckert hat leider noch keine. Die Verwendung des ersten Teils des Namens des Ortsteils zusammen mit dem Wort Nest passe vielleicht für den Kindergarten, aber: „es soll auf der einen Seite schon ein Hinweis darauf sein daß das eine kirchliche Einrichtung ist" (697); andererseits: 719
E1 Γ
722 724 726 727
ls
rS
E1 S E1 E1 S
er soll ja doch irgendwie einen örtlichen Bezug haben. h-m h-m h-m sonst könnt's ja weißgottwo sein. jaja sonst kannt ma ja wasweißich ä ja also ich jaja so wie die viele Kirchen heißen ä Erlöserkirche oder sowas n.
Im Gespräch über den Namen der Kirche findet gemeinsame kirchliche Aktivität statt und Reflexion darüber, für was Kirche steht. Indem nach einem Namen gesucht wird, äußert der Laie Ansichten über grundsätzliche Qualifikationen eines kirchlichen Namens. Er entwirft implizit und ad hoc eine ekklesiologische Vorstellung: Kirche muß einerseits unzweideutig als Kirche erkennbar sein und sich andererseits zugleich als lokale örtliche Größe verstehen. Die Pfarrerin folgt diesem Verständnis und hilft dabei, es mit zu pointieren. In der alltäglichen Aktivität selbst tauchen hier Elemente der theologischen Reflexion auf. Die Bewältigung der Alltagsaufgabe nötigt zum kleinen theologischen Gespräch - freilich ohne daß dies von den Beteiligten als ein Gespräch auf anderer Ebene markiert wird. Kirchliche Theologie des Laien hat hier die Funktion der Alltagsbewältigung, sie wird erforderlich, um die gestellte Alltagssaufgabe zu bearbeiten. b2) In einem anderen Fall erinnert der Pfarrer selbst die Laiin an eine besondere Beziehung, die sie zur Kirche hat: 143 145 147
312
rS A1 S rA1 S
ich freu mich auch immer wenn ich das Bild ja sehe, die beiden Bilder von Ihrem Mann bei uns im Gemeindesaal, im äh m ich find die schön.
Der Pfarrer erkennt die Beteiligung des Mannes von Frau Ammer zugleich als Repräsentant der Kirche („bei uns"; 145) wie auch persönlich („ich find die schön"; 148) an. Damit wird einerseits die Beziehung zwischen Pfarrer und Gemeindeglied als kirchliche anerkannt, andererseits die persönliche Gesprächsbeziehung vertieft. Im weiteren Verlauf des Gesprächs kommt dann zur Aussprache, daß das Geschenk der Gemälde an die Gemeinde von einem Konflikt belastet war; Frau Ammer erzählt über die Gemälde: „die lagen aufn Schrank oben und ä fanden se kein Platz (174f.)". Das entsprach aber nun überhaupt nicht dem, wie sie sich die Bedeutung der Bilder vorgestellt hatte: „ich wollt se so gern in der Apsis unterbracht haben, daß sie die Leute äm auch noch anregen während der Predigt" (175-177). Indem Frau Ammer ihren Wunsch formuliert, beschreibt sie ihre Laientheologie kirchlicher Kunst: diese soll während der Predigt anregen. Christliche Kunst erscheint als das, was ergänzend und weiterführend zur Wortverkündigung hinzutritt. Das Motiv der Bilder ist streng kirchlich (der leidende Christus; 155f.). Diese kleine Theologie der Kunst freilich wird formuliert im Kontext der Durchsetzung eines eigenen Wunsches; sie legitimiert zugleich das eigene Interesse, die Bilder des Mannes öffentlich ausgestellt zu wissen. Ihre kirchliche Aktivität verfolgt eigene Interessen, und die können mit denen der Kirche in Konflikt geraten. Aus der Perspektive der Laiin (das kann den objektiven Verhältnissen entsprechen oder auch nicht) war es der Pfarrer, der Vorgänger des besuchenden Seelsorgers, in dem sich der kirchliche Konflikt darstellte. Die Formulierungshilfe des Seelsorgers („da gab's hier Schwierigkeiten"; 168) wird von Frau Ammer in ihrer Aufnahme entsprechend modifiziert: „da gab's Schwierigkeiten mit ihm und er war auch nicht der [3] na wie soll ich sagen der die Sache richtig genommen hat" (170-174). Der Seelsorger versucht, den Konflikt zu entpersonalisieren. Er geht auf das Vergangene nicht weiter ein, sondern verweist hinsichtlich des Wunsches nach der Ausstellung des Bildes durch die Kirche an das zuständige Gremium, den Kirchenvorstand. Der habe inzwischen ja eine Lösung gefunden, nämlich die Bilder im Gemeindesaal aufzuhängen (179-182). Neben der Beschlußlage der kirchlichen Organisation taucht noch ein zweites Argument auf, das der Seelsorger als seine eigene Begründung anfügt. Es erscheint zunächst als ästhetischer Einwand, als die Frage, ob es „von der Optik her geht in dieser kahlen Apsis" (184-186), wird dann aber auf objektivere Gehalte (die Größe und Erkennbarkeit der Bilder) verschoben. Dann spricht der Pfarrer das (vermutete) Interesse an; die Lösung erscheint als gute Lösung, denn „man sieht's immer wieder" (195) - die Bilder sind öffentlich ausgestellt. In der darauffolgenden Passage stimmt Frau Ammer dieser Lösung zu: „bin ich schon zufrieden daß se nun da η Platz gefunden haben" (199f. 202). Doch dann lenkt sie noch einmal auf den Konflikt zurück. Das, was „der Meier" tat, - „mich hat das doch η bißchen sehr verletzt" (209. 211). Die 313
Laiin kann diesmal also deutlicher die Verletzung aussprechen, die der Konflikt bei ihr auslöste. Das „n bißchen" und ein stimmloses Lachen nach der Feststellung (313) demonstrieren das Bemühen um bleibende Höflichkeit und das Bewußtsein, daß die Situation peinlich ist. Der Pfarrer anerkennt ihre Verletzung: „das denk ich das denk ich" (212). Dann versucht er, Verständnis für den Vorgänger zu erwecken, ohne freilich ihn selbst zu nennen. „Manchmal" bei Geschenken „traut mer sich eben nicht gleich einem lieben Menschen offen die Meinung zu" sagen (220f. 223). Damit interpretiert der Pfarrer seinerseits den Konflikt als einen, der auf die Persönlichkeit des Pfarrer zurückzuführen ist, auf eine Konfliktschwäche, die jedem höflichen Menschen vertraut sei. In der verallgemeinernden Darstellung taucht dann der wohl eigentliche Konflikt auf: „weil's nicht zum eigenen Stil paßt" (227) - der künstlerische Geschmack jenes Pfarrers und des Herrn Ammer war gegensätzlich. Darauf folgend bietet der Seelsorger noch einmal seine persönliche Meinung dar. Seinem Stilempfinden nach passen die Bilder in den Gemeinderaum; hinsichtlich eines Platzes in der Kirche gibt er sich formal bereit („das müßt ich mir selber noch mal überlegen"; 234f.), im Urteil aber doch höflich ablehnend: „ich könnts mer ni_ vorne nicht so gut vorstellen" (235f.). Anschließend erzählt der Pfarrer noch, daß im Fasching die Bilder abgehängt gewesen waren. Das versteht Frau Ammer: „macht kein Eindruck nein da gehörn se auch nicht hin" (244-246). Dann summiert die Besuchte das Thema: 251
A1
256
£ A1
ja , die Aufmerksamkeit und die äm das Vorhaben bei einer Faschingsvorstellung ä das find ich sehr nett daß Sie da hahahihihi doch ne Korrektur unternehmen.
In dieser Aussage erscheint auch der jetzige Pfarrer wieder als der, der das kirchliche Handeln bestimmt. Die Laiin weiß sich in diesem Fall in Ubereinstimmung mit seiner Einschätzung und seinem Handeln: „sehr nett" (254) ist das, was sie gerade im Gespräch erlebt hat. Für den Pfarrer stellt sich die Sache professioneller dar: Es ist auch lustig, wie die Besuchte emphatisch auch die Bilder nicht beim Fasching haben will (schon während dieser Äußerung der Besuchten erfolgte ein erstes Lachen). Für ihn, der tagtäglich Interessenkonflikte zwischen Kirche und Laien zu bearbeiten hat, ist der angesprochene Konflikt einer neben vielen; für die Laiin hingegen wiegt das einzelne Ereignis schwerer. Die Korrektur ist darum für sie eine wichtige Korrektur. Je weniger einzelne Kontakte mit Kirche bestehen, um so bedeutsamer wird der jeweilige Kontakt, obwohl seine Qualität ja viel zufälliger ist, als dies bei einer Summe von Kontakten wäre. Bislang war nur die Rede von solchen Besuchten, die eine eher volkskirchliche Beziehung zur Kirche haben. In Einzelfällen, wohl nicht zufälligerweise bei Bildungsbürgern, ergab sich die Beziehung über eine kul314
turelle Tätigkeit, ansonsten sind es Kasualien und Beziehungen zum Pfarrer als Person, evtl. Soziales, die das Bild prägen. b3) Die Art und Weise der Besuchten, eigene Kontakte mit der Kirche in das Gespräch einzuführen, ist nicht nur für Kirchenfernere typisch. Sie haben zwar weniger, worauf sie verweisen könnten, ihr „schlechtes Gewissen" kann deshalb größer sein. Doch die Struktur bleibt auch bei den aktiven Gemeindegliedern ähnlich. Auch sie verweisen auf gemeinsame Aktivitäten und personale Beziehungen. Auch hier kann solch ein Verweis ohne weitere thematische Funktion in das sonstige Gespräch eingebettet werden: 465
A3
dreiundvierzig Adressen habn wir angeschrieben, aber ob sie ( ) an das war ja ihr ihr Religionslehrer gell, hat sie auch Abitur gemacht in dem Fach Religion, und also das war Mordsarbeit und, von dreiundvierzig ist praktisch dies übrig geblieben und noch ein Heim ein Zweibettzimmer, die zwei Sachen.
Religionsunterricht und Religionslehrer werden hier also ebenfalls dem kirchlichen Bereich zugeordnet. Auch sie, so das Verhalten der Laiin, sind für den Pfarrer relevant; auch der Verweis darauf demonstriert kirchlichen Kontakt. Bei den Kirchennäheren allerdings können die angesprochenen Kontaktthemen weniger stereotyp sein. Sie veranlassen dann den Pfarrer eher zu eigenen Darstellungen. Bei Frau Appel findet sich die übliche große Gewichtung des Pfarrers als Person, hier auf dessen Tochter ausgeweitet. Von einem allgemeineren Satz darüber, wie die Zeit vergeht, kommt sie auf die Tochter des Pfarrers zu sprechen: „sehn Se ja mit der {Renate} wie sie wie schnell die aufwächst, das geht so schnell also ich seh's noch wie's so putzig war" (137-139). Der Pfarrer erzählt darauf begeistert von seiner Tochter (142-188), bevor dann die Laiin an den Termin des Geburtstags der Pfarrerstochter anknüpfend auf ihre eigene Tochter überlenkt, die auch gerade Geburtstag gehabt habe. Besonders gegen Ende von Gesprächen können die Kirchennäheren auf Aktivitäten verweisen, für die ein gemeinsames Interesse besteht. Frau Appel bringt ihre Fahrt nach Thüringen ein, bei der die Wartburg besucht wurde (A2:254). Frau Arndt fragt nach den Anmeldungen für die Kirchenvorsteherfreizeit (A3:686). Im folgenden Gespräch begegnen uns die meisten der herausgearbeiteten Charakteristika noch einmal wieder und werden variiert. Frau Fink, die ehemals den Gottesdienst jede Woche besuchte, weil sie eine ständige Aufgabe bei dessen Durchführung versah, spricht zweimal das typische Thema Kirchgang an, sowohl ihren aktuellen (Fl:100) als auch die Kirchgangspraxis der Mutter mit der Tochter (245-248). In beiden Fällen weicht aber ihre Bewertung von dem üblichen Schema ab. Sie kritisiert die volks315
kirchliche Kirchgangssitte der Mutter als mangelhaft: „und damit war's auch aus" (248). Damit zeigt sie nicht nur, daß sie weiß, daß kirchliche Funktionäre eigentlich anderes erwarten, sondern sie selbst übernimmt diese Erwartung, wendet sie in eine bestimmte Richtung. Was daran fehlte, war nicht so sehr der häufigere Kirchgang sondern: an „Gespräch nach der Richtung kann ich mich überhaupt nicht entsinnen ... daß meine Mutter die geführt hätte" (250f. 253). So bedauert sie denn auch überhaupt nicht, daß ihre in der Tat große Gebrechlichkeit (Gehwagen für die Wohnung, Rollstuhl für außerhalb) sie am Gottesdienstbesuch hindert: 104
110
jF1 S ,F1 lS ,S LF1 S
112
F1
106 108
r
117 119 121 122 124 125 126 129 131 132 135
S
rF1 s F1 Is s
naja also Herr {S} ich entbehre es auch nicht mehr. ja verstehn Sie wie ich das meine. ja n_ nich ganz müssen Sie mir erklären ja wie Sie das ( ) meinen. [2] ja, ich möcht das so sagen ich bin in meinem also ohne mich da in in besonders ä in Vorteil zu bringen oder wie, ich bin in meinem Glauben so stark daß ich die Kirche nicht mehr unbedingt brauche, h-m verstehn Sie h-m ich kann mich hier genau bereden, h-m
ja wie unten vielleicht noch anders, besser, inniger, TF1 [s ja ja ja Fl konzentrierter, S = ja F1 als unten in der Kirche, wo ich immer gucken mußte ob auch alles in Ordn_ ts wo Sie immer arbeiten mußten hahahaha jah haha il F 1 s gleichzeitig ja a °j a ° F1 S das ham Se auch verdient daß Se jetzt nicht mehr, ahe daß also na ( ) hab ich das vielleicht verdient Herr Gott h das ham Se nicht verdient, S haha das hat keiner verdient [F1 ja sicher hab ich's verdient,
Hier entwickelt die Laiin auf Nachfrage des Pfarrers hin eine kleine kirchenkritische theologische Laientheorie des Verhältnisses von Glauben und Kirchgang. Glaube besteht nicht im (äußerlichen) Kirchgang, sondern in der Selbstreflexion (,sich bereden'; 119). Kirchgang hat die Funktion, 316
dabei behilflich zu sein. Ist diese Hilfe nicht nötig, wenn die Fähigkeit zur Selbstreflexion stark genug entwickelt ist, dann wird auch der Kirchgang überflüssig. Ja, Kirchgang kann sogar hinderlich sein, wenn die Selbstreflexion an anderen Orten „besser, inniger, konzentrierter" (124) vonstatten gehen kann. Der Seelsorger reagiert auf diese Theologie des Kirchgangs so, daß er sie mit einem alltagspragmatischen Grund versorgt: Ihre Arbeit während des Gottesdienstes habe behindert, daß der Gottesdienst herausragender Ort der Selbstreflexion sein konnte. Damit tut er einerseits das, was auch sonst passiert: er ratifiziert die Entschuldigung der Laiin. Diese hatte aber gerade nicht pragmatisch, sondern theologisch argumentiert. Darauf läßt sich der Theologe nicht ein. Er hält vielmehr fest an seiner Uberlastungsthese und entschuldigt von daher weiter. Frau Fink habe jetzt die Ruhe verdient. Das wird von ihr mißverstanden, als sei gemeint, sie habe die Behinderung verdient. Die nach dem zitierten Text folgende mühsame Ausräumung dieses Mißverständnisses tritt dann an die Stelle der Thematisierung des Kirchgangs. Ich fasse die bisherigen Beobachtungen zusammen: Volkskirchliche wie kerngemeindliche Laien thematisieren gerne Kirchgangsentschuldigungen, Kasualien, Kontakte und Beziehungen zum Pfarrer oder der Pfarrerin als Menschen, die mit ihrer Person die Kirche repäsentieren. Die Laien reproduzieren in den Gesprächen dasjenige Profil, das nach den kirchensoziologischen Umfragen typisch für die Mehrheit der Mitglieder ist. Darüber hinaus werden andere Kontakte, wenn sie bestehen, auch gerne eingeführt. In allen Fällen handelt es sich um alltagsartige Begegnungen mit Kirche. Kirche erscheint als soziale Größe, repräsentiert durch den Pfarrer, und wird im Gegensatz zum Ideal der verkündigenden Seelsorge von beiden Seiten, nicht nur den Laien, sondern auch den kirchlichen Professionellen, mit Alltagsmitteln behandelt. Bisweilen entwickeln die Laien zu legitimatorischen Zwecken ihres Alltagshandelns ,kleine Theologien'. Diese können institutionennah oder institutionenkritisch sein und werden entsprechend vom kirchlich-professionellen Gegenüber unterstützt oder eher abgeblockt - mit Alltagsmitteln. Die Laien zeigen ein Interesse an Kontakt. Theologie ist im Gespräch Funktion dieses Kontaktes und dieser dient dem guten Ablauf des Gesprächs. Die Professionellen unterstützen den Kontakt so, daß er dem Gespräch nützt. In den bislang vorgeführten Fällen stabilisiert also das Religiöse das Gespräch. c) Bei dem zuletzt besprochenen Beispiel stellte sich der Seelsorger mit alltagsweltlichen Mitteln gegen eine institutionenkritische Legitimation. Er zeigte sich damit als Vertreter der Interessen der kirchlichen Institution. Nicht nur reaktiv bringen die kirchlichen Funktionäre ihre eigene Version kirchlicher Aussagen in das Gespräch ein. Auch aktiv beziehen sich die 317
kirchlichen Funktionäre in ihren Gesprächen mit Laien auf kirchliche Größen, und zwar in dreierlei Weise. Die erste ist: Die kirchlichen Vertreter bringen den Laien ein Geschenk mit. Das können kirchenunspezifische Geschenke wie Blumen sein. Diese eignen sich genauso wie kirchliche Geschenke für Small talk, ja sie haben gegenüber den kirchlichen den Vorteil, daß sie vom Laiengegenüber unabhängig von dessen Kirchlichkeit zum Gesprächsgegenstand erhoben werden können. Daß dennoch spezifisch kirchliche Gegenstände mitgebracht werden, mag verschiedene Gründe haben.75 Für das Gespräch selbst jedenfalls hat es den Effekt, daß hier die Professionellen kirchliche Aussagen einführen können und so kirchliche Antworten vom Gegenüber initiieren können. Wir hatten schon uns das Beispiel angeschaut, wo es über die mitgebrachte Spruchkarte beim Laien zu einer Transzendenzäußerung kommt (El; siehe 6.2.2.b). Auch in zwei anderen Fällen ergibt sich so, daß das Gespräch Kirchliches thematisiert. Frau Diehl sagt: „na und ich bedank mich auch recht h ne der Herr is ... mir wird nichts mangeln der hat a wunderschöne Predigt gehalte der Pfarrer in {C-Ort}" (Dl:378f. 390. 392. 394. 396f.). Das mitgebrachte Buch löst also aus, daß die Laiin typische kirchliche Verbindungslinien (biblische Sprachtradition, Kasualie, Pfarrer) aktualisiert. Bei der Kirchvorsteherin Appel nutzt der Pfarrer die Möglichkeit, sein Geschenk so anzupreisen („das ist nämlich ein sehr schönes Buch"; A2:73f.), daß er ausführlich über eine kirchliche Gruppe zu informiert, die das Buch herausgab. Es enthält „Gebete quer durch den Gemüsegarten" (79. 81). In seiner weiteren Information steckt eine kleine Theologie der Ökumene: ,wirkliche' Ökumene gibt es in „kleine(n) Zellen" (105), die „versuchen die Ökumene auf Gesprächsebene zu machen" (107f.). Die kleine Theologie der Ökumene ergibt sich beim Anpreisen des eigenen Geschenks als Geschenkerklärung und Legitimation, gerade dieses Geschenk ausgewählt zu haben. Wieder erscheint hier, also auch beim Professionellen, das Theologische in die alltägliche Funktion eingebettet. Die Laiin verhält sich alltagsgemäß. Sie spricht in die alltagstheologischen Ausführungen ihr Danke hinein; sie konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Merkmal: „gut ist der Titel, schön" (117). Eine zweite Weise, mit der sich die kirchlichen Vertreter auf Laien beziehen, ist die des Geburtstagssegens. Wir hatten ihn bereits behandelt (4.3.b). Es zeigte sich dort, wie der Geburtstagssegen als kirchliche Variante des allgemeinen Glückwunsches im Small-talk-Bereich des Gesprächs seinen Sitz hat. Von den Laien wurde er auch so rezipiert, also als alltagsartige Aussage interpretiert.
75 Druckerzeugnisse sind zumeist billiger und verwelken nicht; sie transportieren kirchliche Inhalte und machen ihre Überbringer zu Vertretern der Kirche.
318
Gerne verweisen Pfarrer auch - das wäre die dritte Möglichkeit, die in den Gesprächen die Professionellen nutzen, um Kirchliches anzusprechen - auf die diakonische Arbeit. Gerade für alte Menschen ist die Information über die pflegenden Tätigkeiten der Diakoniestation wichtig. Im Gespräch mit Frau Class führt sie der Pfarrer als Lösungsmöglichkeit für ein geäußertes Problem ein: „a Frau { C 2} gell Sie wissen auch daß wir eine Diakoniestation haben" (1143f.). Es schließt sich daran ein längerer Gesprächsgang an, in dem der Pfarrer die Arbeit dieser kirchlichen Organisation beschreibt und versucht, Fehlinformationen der Besuchten aus dem Weg zu räumen (1149-1268). A m Ende des ersten Teils dieses Gesprächsgangs formuliert der Pfarrer den Satz: 1224 rS C2 1226 S 1228
r C2 l
S
und und das ist ja auch a gewisse nit ja Beruhigung äh: ich bin nicht gleich äh wie sagt man da: von Gott und der Welt verlassen ja, jaja! ja sicher. ja.
Er hebt damit sein Alltagsengagement für die kirchliche Diakonie auf eine höhere Reflexionsebene. Rekurrierend auf ein Sprichwort bringt er das Versorgtsein durch kirchliche Fürsorge in den Zusammenhang eines Gefühls, weder von Gott noch von den Menschen verlassen zu sein. In welchem Verhältnis die menschliche und die göttliche Seite dabei stehen, bleibt unausgeführt. Fest steht: beide gehören dazu, um Verlassensein aufzuheben. Eine kleine Theologie des Vertrauens wird hier geäußert. Sie stößt zunächst auf emphatische Zustimmung der Besuchten. Das hindert sie freilich nicht daran, noch mal genauer nach der Zahl der Schwestern zu fragen und sicherzustellen, daß sie nicht von einem Mann gepflegt werden würde (1250-1262). Das Vertrauen in ein Nicht-Verlassensein schließt für sie offensichtlich nicht aus, die genauen Hilfemöglichkeiten abzuklären. Diese stehen schnell wieder im Vordergrund. In seinem Anpreisen der Diakoniestation präsentiert sich der Pfarrer selbst als einer, der engen Kontakt mit der kirchlichen Sozialorganisation hält. S 1180
1183
C2 S r
C2 S
1186 C2
ja, i bin jetzt mit_ äh hab jetzt a paar photographiert so unterwegs, und hab d'a paar ja begleitet, äh da wir habn so a {Werbeaktivität) gemacht grade, und da war ich unmittelbar h-m dabei, gell also, und hab mit den_ ich rede mit denen auch, und und äh so wie's Ihnen geht, ja ja
319
Man kennt sich gegenseitig und man hilft sich gegenseitig, man redet miteinander. Ahnlich klingt das Lob der Diakoniestation, das von einem anderen Pfarrer sich in einer Erzählung eingestreut findet: „ich bin dankbar daß ich a gutes Verhältnis zu unseren Schwestern hab, die ( ) die rufen mich an. [2] wann's gewünscht werd" (D 1:76-81). Hier wird ein Idealbild innerkirchlicher Kommunikation entworfen, das ganz dem der Laien entspricht: persönlicher Kontakt zwischen Laien und Pfarrern. Von sich aus verhalten sich die kirchlichen Funktionäre also analog zu den Laien. Sie bringen die ihnen eigene Form von Kirchlichkeit in das Gespräch ein, bei der ebenfalls die alltagstypischen Umgangsweisen bestimmend sind. Sie begeben sich in den Alltagstausch von Angeboten an kirchlichem Kontakt - so jedenfalls werden auch die religiösen Sinnangebote kirchlicher Traktatliteratur und der kirchliche Vollzug pastoralen Segens von den Laien aufgenommen. Miteinander geht man alltäglich um. Ein Ausgleich der unterschiedlichen Interessen findet statt bei grundsätzlichem Wohlwollen für die Interessen der Gegenseite. So können auch die kirchlichen Aussagen dem Gespräch als Gespräch dienen; sie tragen zu seiner Fortführung bei. Die kirchlichen Themen und Aussagen verhalten sich insoweit gar nicht spezifisch religiös in einer Differenz zum Alltag. Sie geben sich als Alltagsthemen und werden mit alltäglichen Mitteln bearbeitet. N u r darin eingestreut finden sich dann auch einzelne Stücke von Theologie. Solche Theologie, die als in das Alltägliche eingebundene momentane Reflexion auftritt, sei Alltagstheologie genannt. d) N u n finden sich in den Gesprächen zum Geburtstagsbesuch auch Artikulationen des Kirchlichen, in denen der Pfarrer oder die Pfarrerin von sich selbst und ihrer Arbeit erzählen. Die funktionale Einbindung in das Gespräch ist da lockerer; es könnte viel Raum entstehen, um Theologisches zu entfalten. Diese Möglichkeit wird aber erstaunlich wenig genutzt. 76 Daran zeigt sich, wie stark der Alltagszusammenhang wirkt. Die Laien lassen es zu, daß die Professionellen von sich und ihrer Arbeit reden; fragen zum Teil nach. Es gehört sich, jeden auch von seinem Eigenen erzählen zu lassen. Besonders der Pfarrer Α-Gespräche erzählt öfters von sich und seiner Arbeit. Im Gespräch mit Frau Ammer beschreibt er gleich anfangs, wie es war, als er sie nicht an ihrem Geburtstag selbst besuchte: 11
S
13
A1 rS A1 S
16
und bei dem herrlichen Wetter war ich nämlich nicht da. aha nach dem Gottesdienst hab ich mich gleich naja also aus dem Staub gemacht und bin zu einem Grundstück gefahren und hab Pause gemacht,
76 Im Gespräch mit Frau Diehl hingegen ergreift der Pfarrer diese Möglichkeit (siehe 6.3.2.).
320
18
f A1
S
ja aber ich hab an Sie gedacht,
Der Pfarrer zeigt sich hier als einer, der berufliche Anforderungen und persönliche Interessen miteinander verbindet. Er gibt Einblick in sich nicht nur als Berufsträger, sondern auch als Mensch. Auch von der Schwierigkeit, den besten Zeitpunkt für den Geburtstagsbesuch zu finden, berichtet er mehrfach (Al: 131-134; A2:20-27). Der Pfarrer gibt sich als ein vielbeschäftigter und auch dadurch belasteter Mensch: „[stöhnend:] ah. ich hab gerade Religionsunterricht gegebn in {Α-Ort}" (Al:29f.), „s'gehört ja auch mit dazu" (34). Die Laiin reagiert darauf so, daß sie nach einer möglichen gemeinsamen Bekannten, einer Religionslehrerin, fragt. Es stellt sich heraus, daß es sich um eine katholische Religionslehrerin handelt (37-58). Die Besuchte anerkennt den vielbeschäftigten Pfarrer: „aber Ihnen fällt das jetzt auch noch zu das Amt" (60f.). Seine Ablehnung gegenüber Frau Arndt, noch mehr zu essen, begründet der Pfarrer wieder mit seinem Zeitplan; das Mittagessen steht noch aus: 347
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'A3 S
354 355
A3 S
äm ich hab's bloß nicht jeschafft vorher weil ich jetzt schnell noch ein Wohnmobil abholen mußte eben mit dem wir jetzt am Wochende fahren und da ist und heut ja h-m Nachmittag ist noch Altenheimgottesdienst und danach düsen wir gleich los. aja h-m da wollt ich aber wenigstens zum {Ordinalzahl} vorbeischauen ja.
Bei der Verabschiedung von Frau Appel kommt der Pfarrer über die Thematisierung des nächsten Wiedersehens, das am folgenden Sonntag nicht möglich ist, auf eine andere berufliche Pflicht zu sprechen, die ihn davon abhält, daß man sich dort wiedersieht (A2:655-660). Auch die Laiin thematisiert daraufhin das, was sie für die Kirche tun wird, wenn eine Woche später zum Erntedankfest der Pfarrer wieder da ist (669-682). Eine lobende Bemerkung des Pfarrers über schöne Briefmarken, provoziert die Frage, ob er denn Briefmarken sammle (334f.). Die erste Antwort lautet: ,.neinnein" (336), die zweite: „aso prinzipell sammeln wir doch im Pfarramt" (338), und zwar für die von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel; davon berichtet er dann ausführlicher und wie er das seiner kleinen Tochter erklärt (338-341. 356-382). Bei seinem Besuch bei Frau Cordes erzählt der Pfarrer auf Anfrage ausführlich von seiner Reise nach Lateinamerika, die halb kirchlich, halb privat war (C2-.628-840).77 77 In B l : 1219-1259 fragt die Seelsorgerin die Laiin nach ihrer Meinung zu den Urteilen in den Mauerschützen-Prozessen gegen NVA-Angehörige, um dann von ihren Überlegungen dazu bei der Anfertigung eines „Wortes zum Tag" zu berichten.
321
Frau Fink fragt den Seelsorger geradezu aus: Zuerst erkundigt sie sich, wann er gepredigt habe (Fl:17), dann fragt sie nach der Arbeit an der Universität (54), will wissen, ob ihm die Arbeit an der anderen Arbeitstelle, die der Seelsorger innehat, oder der Beruf als Pfarrer lieber wäre (76), ob er glücklich sei im Beruf (383f.). Sie fragt nach den Eltern (1172), der Schulzeit (1184. 1186), den Geschwistern (1204), dem Studium (1259f.). Der Seelsorger gibt Auskunft. Die Auskunft über die eigene Biographie zwischen Person und Beruf gestaltet sich als Erzählung von dem, was passierte Deutungen eingeschlossen: Auf die Frage nach der Tätigkeit an der anderen Arbeitsstätte antwortend, stellt er heraus, daß im Gegensatz zur Vielfalt des Pfarramtes dort die Menschen „langweiliger", weil gleichartiger wären (65). Die Alternative zwischen jenem Beruf und Pfarramt stellt er so dar, daß sie sich pragmatisch löste über den möglichen besseren Verlaß auf berechenbare Arbeitszeiten, die er für die angespannte Situation in der eigenen Familie benötige (87-97). Die Frage nach dem Glück im Beruf bejaht er (384. 388). Frau Fink will daraufhin biographisch deuten: Er habe das ja „vom Elternhaus mitgekriegt" (391). Das lehnt der Seelsorger tendentiell ab: Bei den Ärzten sei es noch häufiger, daß Kinder den Beruf des Vaters ergriffen; außerdem hätte er sich auch vorstellen können, etwas „in Richtung Natur" zu machen (408). Die Laiin liefert für diese Aussage einen Transzendenzhorizont: 411 412
F1 rS F1
416
rS F1 S F1
418 419 420
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die Natur is all hat alles miteinander zu tun. ja ja ja nicht das ist nichts was was nicht damit zu tun hätte ne? wenn man eine Pflanze ansieht und nicht dabei an den Schöpfer denkt m h-m h-m man hat da nichts davon finde ich! h-m nicht oder wenn ich ein Tier sehe, ja? ja ja ( ) verbind ich immer mit dem Gedanken: es muß ja geschöpft sein irgendwie nicht? ja
rS L F1 S
das ist _ Natur ist was was wunderschönes, daß es ja es die gibt ne
rS
F1 [
[2]
425 427
Hier ist es der professionelle Theologe, der die Transzendenzthese vom Schöpfungsbeweis wieder in Alltagsästhetik überführt: Natur ist etwas Wunderschönes. Die Informationen nach seiner Biographie beantwortet er nicht sehr breit, bis er dann bei der Darstellung des Studiums sogar auch anekdotische Erlebnisse zum besten gibt (1261-1368). Der Seelsorger wird zum Unterhalter. Teils mit Hilfe der Laien, aber ebenso auch, wenn der Pfarrer es selbst 322
initiiert, entsteht ein Bild vom Pfarrer, bei dem sich die berufliche und die persönliche Seite miteinander verbinden. Dieses Interesse an der Person des Berufsträgers ist ein laientypisches Interesse. Als Menschen sind die Professionellen (Arzt, Politikerin) spannend.78 Auch wenn die Pfarrerinnen und Pfarrer von ihrer kirchlichen Arbeit reden, nehmen sie die von den Laien bevorzugte Perspektive ein. e) Kirchlich sich auf sich selbst beziehen, das gelingt nur wenigen Laien in den aufgenommenen Gesprächen. Pfarrerinnen und Pfarrer haben es da einfacher, und doch tun sie es vorwiegend alltagstypisch. In den analysierten Gesprächen gelingt es den Laien dann, wenn (kirchliche) Religion in der eigenen Biographie eine Rolle spielte, wie das bei Frau Diehl und Frau Fink der Fall ist (Dl; F l ) . Mit kirchlicher Sprachtradition wird die Biographie strukturiert (el); das Beten erscheint als wichtiges Moment der religiösen Selbstbetrachtung (e2). Hier kommt es dann zu einer entfalteteren und stabileren Form von Laientheologie. el) Den kirchlichen Sprachtraditionen waren wir schon bei den Transzendenzaussagen begegnet. Auch hier treten mit ihrer Hilfe Laien ihrer Biographie als ganzer gegenüber: „in guten und schlechten Zeiten" (Fl 723) - das ist so etwas wie die Uberschrift für den „Roman" (717), als der sich für Frau Fink ihr Leben darstellt. Auch Einzelereignisse werden eingeordnet wie das Treffen auf eine Zeitungsannonce, das Unsicherheiten beendete und zu einem Umzug in eine andere Stadt in eine Wohnung gemeinsam mit der Schwester führte: „aber der liebe Gott läßt einen ja nie ratlos bleiben" (841). Solcherart Schemata sind freilich nur schwer diskutierbar. Sie strukturieren die eigene Lebensgeschichte, sind genauso subjektiv wie deren Konstruktion. Sie fügen in die (religiöse) Ordnung ein (Kontingenzreduktion), sind aber nur unter der Bedingung kommunikabel, daß das Gegenüber die religiöse Ordnung ähnlich sieht. Sie erweisen sich als ein Grunddatum, das dem Gespräch schon vorangeht. Frau Fink hat sich eine eigene religiöse Biographie überlegt, die ihr Lebensschicksal nach den verschiedenen Phasen im Verhältnis zur Religion unterteilt: 209
S
212
F1
Gott sei gedankt daß ich's so weit gebracht habe Herr (S), Gott sei gedankt ja ja ja ich hätte nicht, ich ich will mal sagen daß ich vielleicht zwanzig dreißig Jahre früher hätte sterben müssen und (lege ) zur Ruh, innerlich reif
78 Vgl. E.HAUSCHILDT, „Der Pfarrer ist immer im Dienst", 1993, 275-279; 279.
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L
217
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F1
[ l
220 221 222 224 225
S F1 S
[F1
S S F1
Γ 228 229 230
S F1 S F1
gewesen verstehen Sie wie ich das meine, h-m h-m h-m also die letzten dreißig Jahre habe mir gut getan nach den ( ), vorher die vielen Jahre, ja ja ja waren mehr Jahre des Berufes, ja nicht wahr und ä naja und des Suchens, ja ja nicht wahr, und auf der Suche natürlich, wer sucht der findet nach der alten Norm ja nicht? ja also man findet immer mehr.
Die Berufszeit erscheint Frau Fink in dieser Perspektive als Zeit des Suchens, die nachberufliche Zeit als Zeit des Findens; die Lebensgeschichte präsentiert sich als Verkörperung des biblischen (Mt 7,7) „wer sucht der findet" (225f.). Daß diese „alte Norm" (226) auf die Bibel zurückgeht, scheint dabei der Besuchten nicht bewußt zu sein. Der Pfarrer übersetzt die Aussagen zur Biographie als Prozeß der Selbstfindung, die Besuchte hingegen fragt nach der Herkunft ihres biographischen Weges: 231
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235 237
. Ψ1 [F1 S F1
240 241
S F1
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r S F1
so so sodaß Sie sagen eigentlich hab ich erst in den letzten zwanzig dreißig Jahren zu mir selbst oder noch mal anders, naja also ich will mal sagen ja also ja ich will mal sagen irgendwie hab ich zu mir selbst gefunden. ja ich möchte sagen väterlicherseits (schienmal) vielleicht mitgekriegt eine gewisse Glaubens- ä sehnsucht. h-m aber ich ich kann des nicht genau sagen denn ich war ja {Zahl) Jahre alt als er er starb also da hab ich ganz wenig Erinnerungen von meiner Mutter h-m h-m hab ich's nicht mitbekommen,
Die eigene Lebensgeschichte wird von der Laiin als religiöser Entwicklungsprozeß beschrieben, in dem verschiedene Einflüsse wirksam sind. Suchen und finden benennen deren aktive, von Menschen etwas mitbekommen haben und von Gott geführt werden deren passive Komponenten. Letztere Komponente, die der göttlichen Bestimmung des Lebens, hatte die Laiin bereits vorher im Gespräch angesprochen: Vom Lebensschicksal gilt: 324
151
F1
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ts F1
156 157 158 159 160 161
S F1 S F1 S F1
ja das ist bei mir gar keine Fragezeichen warum, ja sondern bei ist de ja es ist eben so ja das muß so sein, Gott hat des bestimmt, h-m also muß ich's hinnehmen, ja so gut ich es kann, ja nicht?
Gott ist der, der das Schicksal lenkt. Deshalb ist die Warum-Frage gelöst. Die Laiin vertritt eine gradlinige Theorie der Allmacht Gottes. Aber diese Theorie hat ihren Preis. Den benennt Frau Fink auch: 161 163 165
rF1 LS jF1 S F1
166 167 168 169 170 172
S F1 S F1
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nicht? daß ich manchmal natürlich stöhne ja bei jedem Schritt den ich tue und so hier: ja ob das der liebe Gott hört das [lachend:] glaube ich nicht+ ahjaja haha ja ja [2] och warum warum soll er das n_ meinen Sie? ich find doch irgendwie: hört er wohl doch. naja ä hören wird er hören wird er das hat ja gar ja hja hja nichts zu sagen dabei, ja ich will mal sagen: er er weiß es, er er er ist eben da nicht wahr h-m ja ja [4]
Wenn Gott in der Weise allmächtig ist, daß er alles bestimmt hat, dann findet nach Ansicht der Laiin das Stöhnen keinen Ort, an den es sich richten kann: Gott hört das Stöhnen nicht. Dieser Theologie widerspricht der professionelle Theologe und setzt seine Erfahrung dagegen: „ich find doch irgendwie: hört er wohl doch" (172f.). Die Laiin gesteht zu, daß der allmächtige Gott natürlich auch hören kann, sein Zuwendungsmodus wird aber von ihr anders zugespitzt: Er ist der, der alles weiß. Ein entpersonalisierterer Gottesbegriff ist das im Vergleich mit dem, den der Seelsorger vertritt. Hier stoßen verschiedene Theologien aufeinander. Was aus dem akademischen Bereich bekannt ist, zeigt sich auch hier: Die Diskussion über religiöse Grundprämissen und Erfahrungen ist sehr schwierig. Unter therapeutischer Perspektive könnte die These von der Allmacht Gottes als 325
,in Wirklichkeit' eine Frage der psychischen Befindlichkeit interpretiert werden und müßte dann also therapeutisch angegangen werden. Aber Frau Fink jedenfalls lenkt entschieden zum Wissen zurück. U m das Gewußte, das bei beiden in je verschiedenen Erfahrungskontexten realisiert wird, geht es. Wir werden die Konstellation in Kap. 6.3.3. weiterverfolgen. e2) Das zweite Thema, mit dem Laien sich selbst in religiöser Hinsicht thematisieren, ist das Gebet: Wieder begegnen wir Frau Fink: 300 302 303 305 307 309 310 312 314 315 317
F1 S
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rF 1 LS rF1 S F1 rS T1 [S F1 F1 S
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F1 r S rF1 lS F1
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ich kann mich nicht entsinnen daß ich jemals abends zu Bett gegangen bin ohne zu beten. h-m aber natürlich nicht so wie ich's heute tue aber h-m ich glaube nicht daß ich das irgendwie ausgelassen habe h-m h-m ohne mir nun große Gedanken darüber zu machen. ja ja wissen Sie? haben Sie das von der Kinderzeit übernommen oder ja seit der Konf_ ja ja meine Mutter hat mir's nicht beigebracht. bestimmt nicht. ja [1] u und mein Vater hättes uns wahrscheinlich beigebracht wenn er nicht so früh gestorben wäre nicht er ist ja ja ja schon {Jahr) gestorben also: ja bevor die ( )gingen also: wir waren zu dritt meine Mutter meine Schwester und ich in allem vielem alleine nicht? in (B-Großstadt) also da ham wir allerhand durchgemacht nicht? ( ) ja ja [3]
Gebet sichert Kontinuität; wieder steht hier der Vater im Hintergrund. Als Kind war Frau Fink „in allem vielem alleine" (323f.) - und ihr Vater im Himmel. 79 Auch Frau Diehl kommt auf das Gebet zu sprechen. Hier ist es nicht die Lebensgeschichte als ganze, in deren Horizont das Gebet erwähnt wird, sondern es liegen Normenprobleme vor. Was ist zu tun? 79 Unter psychotherapeutischer Perspektive könnte vermutet werden, daß eine Fusion von himmlischem und gestorbenem irdischem Vater vorlag.
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718 720 721 722 723
D1
soll mer net und ich bin: ja bevor ich große ( ) mach dann bet ich mal wieder vorher ne? S = hm D1 isch des is immer mein Gebetsanliegen. S = hm D1 de ich ich persönlich isch ich glab da ach fescht dra daß des mehr werde die
(
)
Welches Problem es ist, dessentwegen die Laiin betet und wozu genau ihr das Beten hilft, das läßt sich leider wegen der schlechten Tonqualität der Passage vor und nach dem zitierten Text nicht ermitteln. Doch die Struktur ist deutlich: Das Gebet hilft zur Besinnung über unklare Entscheidungen und legitimiert sie dann auch. Wir haben gesehen: Bei kirchlichen Aussagen überwiegt Alltägliches und alltäglicher Umgang mit ihnen. Manchmal finden sich Episoden kleiner Alltägstheologien ad hoc, besonders bei den Laien; nur in seltenen Fällen kommt es zur Entfaltung einer festumrissenen Biographie-Theologie. Dezidiert kirchliche Aussagen, also die Stellen, an der Verkündigung explizit werden könnte, begegnen in den analysierten Gesprächen in sehr alltäglicher Weise: funktional auf das Gespräch bezogen, eigene Interessen realisierend oder als eigene Deutewelt, bei der die Kommunikation mit dem Gegenüber darüber Schwierigkeiten machte. Um der Verkündigung weiter auf die Spur zu kommen, werden wir nun die meisten noch verbliebenen Passagen aus dem Gesprächskorpus analysieren, in denen großräumiger explizit auf Kirchliches zurückgegriffen wird.
6.3. Verkündigende Gesprächsfiguren „war so schön daß Sie so richtig gesprochen haben als wie immer andere von Gott und des" (Frau Class, Cl:1653f.)
6.3.1. Im Interesse der Laien: Gespräch und Segen a) Die folgende Passage aus dem Gespräch mit Frau Class beendet den ungefähr eine Stunde dauernden Besuch. Sie spielt sich ab, als die Gastgeberin den Pfarrer hinausbegleitet: 1653
C1
1656 jS C1
[2; Geräusche Hinausgehen] und war so schön daß Sie so richtig gesprochen haben als wie immer andere von Gott und des und ha das haß ich so weil das nicht ehrlich ist. aha aha ne, wissen'S das ist nicht ehrlich, wenn die immer so daher reden,
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5 t l
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S C1
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1668 1669 1670 1671 1672 1674 1675 1677 1679 1680 1681 1682 1684 1685 1686 1688 1690 1691 1692
S C1 S C1 S [C1 S C1 rS L C1 jC1 S C1 S C1 |S t l C1 S rC1 S rS C1 S C1 S
ja und deshalb haben wir auch bei de Beerdigung keinen Pfarrer gefunden achja = weil des immer noch _ und und der Gott das tut der Gott und so weiter, hab mir oft gedacht mein Gott bloß E_des Essen müssen wir uns selber besorgen hehe hahahaha ja haha ja so = und das war schön und ( ) gut. "das freut mich" ganz wunderbar und so sollte ein Pfarrer wirklich sein, phhh = gell und nicht immer °ja° [1,5; Geste(?)] gell, ahahaha = nein das bin ich auch nicht das ist klar ne ist auch nicht schön, ja ja η jDaßt auch gar nicht zu Ihnen. ja zu mir schon gar nit. neein neein gaar nicht auf Wiedersehen aber trotzdem: Gott behüt Sie. Wiedersehn danke ja das schon, das ist was anders, ja-aha gut o.k. also Wiedersehn Wiedersehn Frau {C1} alles Gute, danke vielmals ja, Wiedersehen.
Frau Class setzt an zu einem Dank für den Besuch. Sie knüpft damit an den vorherigen Gesprächsgang an, bei dem sie und der Pfarrer sich gegenseitig alles Gute gewünscht hatten, dann der Pfarrer ein gutes gesundes Jahr gewünscht und sie sich bedankt hatte. Mit ihrer Aussage entfaltet und begründet die Laiin ihren Dank; sie zieht die Summe des Gesprächs. Die Gesprächspassage gehört damit in den Kontext des Small talk zum Abschied (vgl. 4.1.2.b5). Nun geht aber diese Passage über Small talk hinaus. Der Versicherung der Ubereinstimmung und gegenseitigen Wertschätzung („war so schön daß Sie so richtig gesprochen haben"; 1653) wird eine Begründung nachgeschickt. Diese besteht in einem kontrastierenden Vergleich. Es war so schön, was der Pfarrer gesagt hat, weil es in wohltuendem Gegensatz zu dem stand, was die Laiin sonst kennt („immer andere", 1654). Das „richtig gesprochen" dieses Besuchs hebt sich ab von der Masse kirchlicher Kon328
takte. Jene anderen Begebenheiten, wo falsch gesprochen wird, charakterisiert die Laiin mit „von Gott und des" (1654). Das falsche Sprechen lokalisiert sie da, wo der Begriff Gott oft und/oder unangemessen verwendet wird. Was dies bei ihr auslöst, nennt Frau Class sogleich: „das haß ich so" (1654). Jetzt, am Ende des Gesprächs, kann die Laiin ihre Aggression gegenüber der Kirche zum Ausdruck bringen, nachdem sie sich ausführlich über die böse Jugend von heute, die schlimmen Ausländer und allgemein die schlechte Zeit ausgelassen hatte. Sie kann ihr problematisches Verhältnis zur Kirche ansprechen, gerade weil es sich im Besuch selbst so nicht wiederholte. Zugleich hält sie damit die vom Small talk geforderte Demonstration positiver Wertschätzung ein. Die Small-talk-Situation erleichtert es, die Aggression gegenüber der Kirche auszudrücken; denn je größer der Kontrast sich darstellt, desto mehr wird dadurch der Besuch gelobt. Als Begründung für ihren Haß nennt die Besuchte eine moralische Disqualifizierung der „anderen" kirchlichen Vertreter. Das „von Gott und des" ist hassenwert, „weil das nicht ehrlich ist" (1655). Der Zusammenhang wird dem Pfarrer gleich noch einmal erläutert: „wissens'S das ist nicht ehrlich, wenn die immer so daher reden" (1657f.). Das Von-Gott-Reden der üblichen Kirche bzw. ihrer Pfarrer stellt sich für die Besuchte als ein „immer so daher reden" dar - als leere und inhaltslose Worte. Es tritt aber mit dem Anspruch auf, letzte Wahrheiten zu sagen. Diese Diskrepanz erlebt die Besuchte als „nicht ehrlich". Sie löst die Diskrepanz also so - daß sie der Person auf der anderen Seite die moralische Qualität abspricht. Dieser Umgang mit der Diskrepanz zwischen volkskirchlicher Religiosität und kirchlich-institutionellem Anspruch ist nicht ungewöhnlich. Er findet sich nicht nur als ein relativ stabiles Deutemuster bei Laien80, sondern hat ebenso unter den Professionellen große Plausibilität. Nur sind hier die Rollen vertauscht. Für die Professionellen stellt sich dies, daß Laien um kirchliche Weihe bei familiären oder öffentlichen herausragenden Anlässen nachsuchen, als ,nicht ehrlich' dar. Auch hier wird die Diskrepanz zweier verschiedener Erwartungshorizonte so gelöst, daß dem Gegenüber moralische Disqualifizierung vorgeworfen wird: Sie bitten um Verkündigung und wollen sie doch in Wirklichkeit gar nicht hören.81 Auch auf
80 Frau Diehl berichtet von einem entprechenden Vorwurf, den ein anderer ihr gegenüber macht: Die Menschen in der „Kerch, die henn bloß über die Leut zu läschtre und die Leut auszumache" (Dl:617f.). 81 Vgl. R.BOHREN, Unsere Kasualpraxis - eine missionarische Gelegenheit? [I960]; 18: „Verlangt wird im Normalfall nicht das Wort des Evangeliums, sondern die Handlung. Dem Pastor aber geht es um die Ausrichtung des Evangeliums. Weil das Reden des Pfarrers zur Handlung gehört, läßt man ihn reden. Was er sagt, ist sowieso mehr oder weniger seine Privatsache. Unter Umständen ist man bereit, pro forma auf die Ansichten des Pfarrers einzugehen. Weil man die Handlung des Pfarrers will, nimmt man vieles, was der Pfarrer sagt, gutmütig in Kauf."
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Geburtstagsbesuche ließe sich das anwenden: Sie wollen besucht werden, aber haben mit Gott nichts im Sinn oder nur scheinbar etwas im Sinn. 82 Professionelle und Laien machen die Diskrepanzerfahrungen miteinander an den Orten typisch volkskirchlichen Teilnahmeverhaltens. Auch Frau Class kommt nun in der Tat auf einen solchen Ort zu sprechen, nämlich eine Beerdigung. Sie sagt nicht, welche Beerdigung sie meint; am wahrscheinlichsten dürfte wohl sein, daß es um die Beerdigung ihres Mannes geht. Von seinem Sterben war vorher auch im Gespräch die Rede (14711500). Als diese Beerdigung anstand, wurde aus der ,Unehrlichkeit' der Institution Kirche die Konsequenz gezogen. Es kam zu keiner kirchlichen Ansprache. Daß diese nicht erfolgte, stellt die Besuchte als Mangel an richtigem Angebot dar: „wir haben auch bei de Beerdigung keinen Pfarrer gefunden" (1660f.). Im Fall der Beerdigung erwies sich die Suche nach einem ehrlichen Pfarrer als erfolglos. Man mag darüber spekulieren, welches Geschehen sich damals ereignete. Angesichts der Pflicht zur Durchführung von Amtshandlungen an Gemeindegliedern ist es wohl am wahrscheinlichsten, daß der Mann bzw. die zu beerdigende Person aus der Kirche ausgetreten war, vielleicht auch ein Pfarrer die Beerdigung verweigerte und deshalb kein kirchlicher Vertreter für die Beerdigung „gefunden" werden konnte. Wenn die Besuchte den Sachverhalt so darstellt, daß sich niemand finden ließ, so vermeidet sie gegebenenfalls, explizit den Kirchenaustritt ihres Mannes zu erwähnen. Dennoch spricht sie von sich aus die Störung des Verhältnisses zur Kirche an. Sie versucht es insoweit selber mit Ehrlichkeit. Wir hatten früher ein Beispiel kennengelernt, wo zu Beginn des Besuchs mit einer Entschuldigung über den mangelnden Kirchenbesuch das gegenseitige Verhältnis von volkskirchlichem Teilnahmeverhalten und institutionellen Erwartungen abgeklärt wird (6.2.3.bl). Hier geschieht das zum Schluß des Gesprächs. Für mangelnden Kirchgang könnte sich diese Teilnehmerin allerdings gar nicht entschuldigen, weil im Gottesdienst ihrer Sicht nach ja Unehrliches geschieht.83 Nun, am Schluß des Gesprächs,
82 A.ALBRECHT (Wider die Unsitte der klerikalen Geburtstagsbesuche, 1991, 21) wehrt die volkskirchliche Alltagsszene durch Übersteigerung ab und stellt dem in Identifikation mit biblischer autoritativer Rede seinen eigenen Anspruch entgegen: „Frankfurter Kranz, ein Täßchen Schonkaffee, Lobe den Herrn, noch ein Stückchen Schwarzwälder, Psalm 103, Quarksahne und noch ein Täßchen, Jesu geh voran, ein Schnäpschen, Alte Wurst, ja, selbstgeschlachtet, der Segen, doch doch, nehmen Sie, Ihre Frau freut sich sicher auch mal über ein Stück Torte ... Ich aber sage Euch: Geburtstagsbesuche sind eine Plage. Sie gehören nicht zum Auftrag der Pfarrerinnen, und sie schaden der Kirche. ... Soli Deo Gloria. Werde ich eingeladen, eine Andacht zum Lobe Gottes zu halten, so gehe auch ich auf Geburtstagsfeiern - denn das ist unser A m t . ... W e r wollte behaupten, Jesus sandte seine Jünger besonders an die Tortentische der .Geburtstagskinder'?" 83 Man denke an den auch zu diesem Erlebniskomplex gehörenden moralischen
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wird aber das Verhältnis zur Kirche geklärt. Die Laiin definiert sich als eine, die in Abstand zur üblichen Kirche steht. Dies will sie und kann sie gerade angesichts des positiven Verlaufs des Gesprächs dem kirchlichen Vertreter deutlich sagen. Die Information, man habe bei der Beerdigung keinen Pfarrer gefunden, beinhaltet noch ein weiteres. Die Laiin charakterisiert damit, daß das Verhältnis zur Institution Kirche sich ihr als eines darstellt, das von ihrer Seite her hergestellt wird.84 Wie auch sonst bei professionellen Dienstleistungen ist es Aufgabe des Kunden, einen entsprechenden Anbieter zu suchen und zu finden. Woraus der Abstand zur Kirche sich für Frau Class ergibt, das wird in einer weiteren Begründung nachgeschoben: „das tut der Gott und so weiter, hab mir oft gedacht mein Gott bloß E_ des Essen müssen wir uns selber besorgen" (1663-66). Damit entfaltet die Laiin die schon eingeschlagene Linie weiter. Der kirchliche Verweis auf den Transzendenzakteur Gott erscheint ihr deshalb unsinnig, weil er für sie widersprüchlich ist. Alles mögliche soll Gott tun, aber beim naheliegenden alltäglichen Leben erweist sich diese Rede als leer. Die Besuchte exemplifiziert sich das am SichKümmern um das Essen: hier spiele dann doch der Transzendenzakteur de facto keine Rolle. Damit beklagt die Laiin eine solche Rede von Gott, die sich für den Alltag als irrelevant erweist. Ihre negative Laientheologie besteht darin aufzuzeigen, daß eine Gottesrede, die sich im Alltag als sinnlos erweist, zu kritisieren ist. Sie legitimiert damit, daß es nicht zu einer kirchlichen Beerdigung kam. Ganz anders hingegen sieht ihre Erfahrung mit dem anwesenden Vertreter der Kirche aus: „und das war schön und ( ) gut" (1668), „ganz wunderbar und so sollte ein Pfarrer wirklich sein" (1670). Im Gespräch verwirklichte sich etwas von dem, was sich für den Alltag der Laiin als angenehm und nützlich 85 , als sinnvoll erwies, obwohl dieses Gespräch mit
Vorwurf an die regelmäßigen Gottesdienstbesucher: Wer trotzdem zum Gottesdienst geht, ist ein frommer Heuchler (vgl. Anm.80). 84 In der Seelsorgetheorie hatte Schleiermacher dieses Verständnis als erster klar zur Geltung gebracht (1.2.2.a). 85 Die Frage nach der Nützlichkeit ist auch R.HOBURG („Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn ...", 1993, 73-76) aufgefallen, als er als Vikar seinen ersten Geburtstagsbesuch in großer Runde machte. Er wurde von den Anwesenden gefragt: ,„Was bringt mir eigentlich der Glaube an Gott?"' HOBURG gibt sich folgendermaßen Rechenschaft: „ J a was bringt mir der Glaube?' Diese Art des praktischen Nachdenkens über den Glauben hatte mir auf der Uni kein Professor beigebracht. Kein theologisches Buch, das ich bisher gelesen hatte, hatte so unverblümt die Frage gestellt: Was bringt der Glaube eigentlich? Und ich muß auch gestehen: So deutlich hatte ich bisher darüber noch nicht nachgedacht. Ich empfand die Frage nach der Nützlichkeit, die im Zeitalter der Werbung so nahe liegt, als versteckte Suche nach einer Theologie, die sich wie alles was gut und teuer ist, im täglichen Leben zu bewähren hat; wie jener vielgepriesene Allesreiniger, der die alltäglichen Ratlosigkeiten beiseite wischt. Eine Religion, die man
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einem kirchlichen Vertreter stattfand. Hier war die Diskrepanz nicht da; hier wurde „ehrlich" geredet; hier fand das statt, was sich in der Kritik an positiven Erwartungen verbarg. Noch einmal wird diese Erfahrung mit dem Abgelehnten kontrastiert. D a die jetzt gemeinte Negativerfahrung allein durch eine Geste bezeichnet wird, läßt sich der genaue Kontrast nicht eruieren. Er symbolisiert sich offensichtlich auch nonverbal. Was an Kirche „unehrlich" ist, verdichtet sich nicht nur in der Sprache, sondern auch in Gesten bzw., was an Kirche unehrlich ist, läßt sich manchmal in Gesten noch besser ausdrücken als in Worten. Hochmut, Geldsucht, frommer Blick - das alles wäre denkbar als solche Geste, in der sich der Kontrast abbildet. Der Pfarrer ist von dem Gang des Gesprächs ziemlich überrascht. Zunächst beschränkt sich seine Reaktion auf ein „aha aha" (1656) und ein „achja" (1662). Dann beginnt er, dem Gesagten zuzustimmen. Die Zuspitzung des Gegensatzes von Transzendenzrede und immanenter Sorge um das Essen kommentiert die Besuchte mit einem Lachen. Mag das Lachen die Zuspitzung wieder zurücknehmen, ihren Unterhaltungswert anzeigen oder auch eine Selbstüberraschung andeuten - der Seelsorger jedenfalls begleitet sie dabei mit seinem Lachen (1667), das seinerseits wieder vielfach interpretierbar ist, in jedem Fall aber ein bestimmtes Maß an Ubereinstimmung demonstriert. Das darauf erfolgende Lob des Seelsorgers als idealen Vertreter seiner Zunft, bei dem es „ganz wunderbar" ist, kann dieser nur mit einem nonlexikalen Ausdruck des Erstaunens und der höflichen Lobabweisung beantworten: „phhh" (1671). Bei der Geste über die anderen unehrlichen Pfarrer, die Frau Class macht, stimmt er ihr ausdrücklich zu: „nein das bin ich auch nicht das ist klar" (1675). Er ratifiziert damit die Aussage der Laiin. Er will in der Tat nicht so sein, wie die anderen Pfarrer für Frau Class erscheinen. Der Pfarrer läßt sich also von der Sicht der Dinge, die sein Gegenüber äußert, insoweit überzeugen, daß er der Kirchenkritik - zumindest als sachrelevantem Gesprächsbeitrag - zustimmt.
eben benutzen oder gebrauchen kann wie ein altbewährtes Hausrezept, einen Staubsauger oder Müllschlucker. Der Gedanke machte mir Spaß. Mir wurde mit einem Mal klar, daß in der Kirche zu selten so über den Glauben nachgedacht wird. Viel zu selbstverständlich ist uns der sichere Rückzug in die gewohnten Sätze geworden: Daß wir an Jesus Christus glauben, an seinen Tod und seine Auferstehung. Aber was sagt das wirklich aus? ... Die Frage konfrontierte mich unvermittelt mit den Problemen meiner eigenen christlichen Identität und mit meinem theologischen Selbstverständnis, das ich im Studium gefunden zu haben glaubte. ,Was bringt mir der Glaube an Gott? - Wenn ich von mir reden darf, so kann ich nur sagen, er hilft mir beim Leben.' U n d als ob das Wort,Leben' so etwas wie einen Signalton gegeben hätte, erzählten jetzt die vorher der Kirche so kritisch gegenüber eingestellten Pensionäre und Steuerbeamten von den sagen wir ruhig - Glaubenserfahrungen in ihrem Leben" (74f.).
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Die Laiin nimmt seine Zustimmung an und personalisiert sie: „paßt auch gar nicht zu Ihnen" (1679). Wie die Diskrepanz zwischen kirchlichem Vertreter und eigenem Erleben als Unehrlichkeit der Kirchenvertreter erlebt wird, so erscheint auch jetzt die Aufhebung der Diskrepanz als etwas, das der Person des kirchlichen Vertreters zuzuschreiben, das seinem Charakter gemäß ist. Ihm entspricht eine solche Unehrlichkeit nicht. Der Pfarrer ist ein moralisch guter Mensch, der nicht in so sinnlos-unehrlicher Weise von Gott redet. Auch dieser personalisierten Deutung schließt sich der Pfarrer an: „ja zu mir schon gar nit" (1680) paßt das abgelehnte Verhalten. Er versteht sich selbst als einer, der solch diskrepante Rede gerade nicht will. Die Besuchte bestätigt ihm das noch einmal emphatisch: „neiein neein gaar nicht" (1681). Daß ein Pfarrer „so schön richtig" dann spricht, wenn er nicht von Gott redet, dürfte nun für den Pfarrer aber ein Problem bilden. Kann und will er sich tatsächlich so definieren, wie sein Gegenüber ihn definiert? Der Pfarrer tut es nicht. Er bringt seine eigenen Interessen und sein Rollenverständnis ein. Er selbst kann und will nicht darauf verzichten, das, was er tut, auf den Transzendenzakteur Gott zurückzuführen. Er will nicht das aufgeben, was er als seine kirchliche Aufgabe sieht: von Gottes Handeln zu reden. Der Pfarrer tut dies nun aber nicht so, daß er seine eigene professionelle Theologie gegenüber der Laientheologie seiner Gastgeberin aufbietet. Er versucht nicht, ihr nachzuweisen, daß und wie ihre Theologie von falschen Voraussetzungen ausgeht und deshalb objektiv nicht stimmt. Das argumentative Einbringen des Gottesbegriffs würde, auch wenn dieser ein anderer wäre, das Erleben der Unehrlichkeit auf Seiten der Besuchten kaum aufheben. Dieses Erleben ist es, das im Vordergrund steht; die Laientheologie ist als Legitimation nur funktional darauf bezogen. Der Pfarrer vermeidet es auch, die möglicherweise von ihm wahrgenommene Unehrlichkeit dieser Beschreibung zum Thema zu erheben, also den Diskurs auf die Ebene der gegenseitigen moralischen Bewertung zu ziehen. Er spricht die zwischen beiden Seiten bestehende Diskrepanz vielmehr so an, daß er sie in die Situation selbst einbringt, so wie sie durch den Kontext des Small talk und den bereits eingeleiteten Abschied bestimmt ist. So sagt er: „auf Wiedersehen aber trotzdem: Gott behüt Sie" (1682). Er zeigt damit: Er will dennoch von Gott reden und sieht darin eine Differenz zu dem, was die Besuchte wünscht („aber trotzdem"). Er redet von Gott dabei so, daß er ihn als den einführt, der hinter der guten Beziehung zwischen ihm, dem Pfarrer, und der Laiin steht. Was er im Verabschiedungs-Small-talk zum Ausdruck zu bringen hat und will - die positive Zuwendung für die Zukunft - , das will auch Gott. Wenigstens möchte ihr der Pfarrer das zusprechen. Gottes positive Zuwendung für die Zukunft soll gelten. Kirchlicherseits wird diese positive Zuwendung Gottes als Segen bezeichnet. Diesen Begriff benutzt der Pfarrer nicht, aber er benennt das, was der Segen kirchlichem Verständnis nach tut, und verwendet dafür einen kirchlich-traditionellen Begriff, der 333
zugleich in der Alltagssprache die Eltern-Kind-Relation beschreibt: behüten. Der Pfarrer spricht nicht vom Segen, aber er spricht Segen zu. Nun erfolgt etwas, was wiederum den Pfarrer überrascht. Er kommentiert es jedenfalls mit einem „ja-aha" (1687). Die kirchenkritische Laiin antwortet auf seinen Segen: „das schon, das ist was anders" (1686). Die Segensrede des Pfarres bewertet sie damit als nicht „unehrlich", als für ihren Alltag nicht sinnlos. Gott als segnenden Gott, die Zuwendung des Pfarrers als Zuwendung Gottes zu deuten, das erscheint ihr als nicht unangemessen. Das Gespräch zwischen ihr und dem Pfarrer in diesen Transzendenzhorizont zu stellen, das „ist was anders" (1686) als „von Gott des" (1654) „immer so daher reden" (1657f.). Damit wird noch deutlicher: In ihrer laientheologischen Kirchenkritik verbirgt sich die Ahnung davon, wie ehrliche religiöse Rede sein könnte - nämlich so wie die gerade erlebte: zugewandt, persönlich, im Gottesbegriff vorsichtig, aber doch dann diesen nutzbringend verwenden. Kirchliche Theologie wird so etwas für zu wenig halten. Angesichts der Geschichte dieser Frau, ihrem Erfahrungshorizont und ihrem laientheologischen Ausgangspunkt, ist das Erreichte aber sehr wohl etwas: die elementare Erfahrung von kirchlicher Zuwendung als Gottes liebender Zuwendung. Im Gutes zusagenden Wort Gott erfahren, an sich selbst Versprechen und Verheißung erleben - das passiert hier mit der Besuchten. Damit wird etwas davon ablesbar, was in kirchlicher Terminologie Verheißung, Gnade, Evangelium heißt. Die Herkunft des Evangeliums bleibt allerdings diffus. Von der Christusgeschichte ist nicht die Rede. Man bewegt sich eher im Horizont einer funktionalen allgemeinen Religiosität. Gott erscheint als Stabilisator der Glückswünsche. Dennoch, darin daß es hier der Pfarrer ist, bei dem diese funktionale Religiosität erfahren wird, ergibt sich doch ein Zusammenhang zum kirchlichen Ort. Er gibt der funktionalen Religiosität Ausdruck und Form und eröffnet die Möglichkeit zum Anschluß an inhaltlich gefüllte, an christliche Religion. Diese Möglichkeit befindet sich auch in diesem Fall nicht nur im reinen potentialis. Jedenfalls vollzieht sich hier mehr als nur einfache Stabilisierung des Bestehenden. Diese Stabilisierung, wie sie im Gespräch mit dem Pfarrer vollzogen wird, durchbricht durchaus die Normalerfahrung der Besuchten von sinnlos-falscher Gottesrede. Sie lockert das standardisierte kirchenkritische Muster auf. Gott rückt hier ein in die Funktion des Stabilisators für die Unwägbarkeiten der Zukunft. Andererseits ergibt sich die Verkündigung dieses Gottes als Unterbrechung des sinnlosen-falschen Gotteserlebnisses. Dem standardisierten kirchenkritischen Muster tritt eine Kontrasterfahrung entgegen. Sie dürfte in den Erinnerungsfundus eingehen und neben jene Erfahrung der Besuchten von vor einigen Jahrzehnten eingeordnet werden, wo es schon einmal einen ganz netten Pfarrer gab, der sie besuchte und dem sie Kleider brachte. Innerhalb des Alltagsrahmens, der Möglichkeiten, die von 334
der Situation her bei dieser Frau gegeben sind, ist das eine durchaus sinnvolle, begrenzte Leistung von Verkündigung - eben Alltagsverkündigung. 86 Machen wir uns Gemeinsamkeiten und Differenzen der Alltagsverkündigung zu dem am Muster der Predigt orientierten sonstigen Begriff der Verkündigung klar. Gehen wir von den Gemeinsamkeiten aus: Auch in diesem Gespräch taucht Verkündigung auf als etwas, das als das andere der Situation gegenübertritt. Auch hier ist es der ,Verkündiger', der etwas anderes, Eigenes, Kirchliches einbringt. Zur Verkündigung kommt es hier nicht einfach von sich heraus. Die Verkündigung hat eine monologische Seite: Selbst-, Welt- und Gottesentwürfe sind involviert. Die Laiin hat ein Verständnis, das der Verkündigung bedarf. Ihr Monolog ist an entscheidender Stelle zu durchkreuzen. Dies geschieht so, indem ein Gegenmonolog dagegen gesetzt wird. Andere Erfahrungen sind bei dem, was der Pfarrer sagt, vorausgesetzt, und von daher wird ein Gegenmodell entworfen und umgesetzt. Aber eine solche Beschreibung von Verkündigung reicht nicht aus jedenfalls nach der Diskussionslage in der gegenwärtigen Homiletik. Verkündigung ist situativ. Sie besteht nicht in der Abbildung von Theologie, sondern deren Ubersetzung in Rede, die auf Erfahrungen verweist bzw. sie sogar machen läßt. 87 Predigt ist eine Station innerhalb eines weiteren und zeitlich erstreckteren dialogischen Prozesses. 88 Karl-Fritz Daiber hat be-
86 In kirchlicher Terminologie kann dies zu Recht als ein Vorgang begriffen werden, der etwas von der Qualität der Befreiung von Gesetz in sich hat. Die Befreiung wird nicht konzeptionalisiert, aber sie wird erlebt - für einen Moment. Daß diese Erfahrungen die chronifizierte Kirchenkritik und das simplifizierte Gottesbild grundsätzlich verändert, ist unwahrscheinlich. Auch die gute Erfahrung mit jenem anderen Pfarrer Hülsen (1117-1132; vgl. 6.2.3.bl) einige Jahrzehnte früher hat das kirchenkritische Muster nicht verhindert. Man meine aber nicht, daß die einzelne Verkündigung in einer Predigt dies besser leisten könne. Einstellungsänderung ist auch da ganz unwahrscheinlich - dazu bedarf es immer längerer Prozesse (vgl. K.-F.DAIBER u.a., Predigen und Hören, 1983; 31-33). Diese müssen auf jeden Fall nicht nur kognitive Elemente enthalten. Die sind bekanntlich zuerst vergessen, während die emotionale Einbettung länger und stabiler im Gedächtnis bleibt. Das ist gerade der Vorteil der Verkündigung in der Seelsorge. Ebenso ist die psychische Konstellation für die Aufnahme von Verkündigung bedeutsam. Auch dieser Komplex kann in Alltagsseelsorge flexibler miteinbezogen werden (vgl. die therapeutische Dimension der Alltagsseelsorge Kap. 5.). 87 Vgl. z.B. K.-F.DAIBER, Predigt als religiöse Rede, 1991; 273-432: „Inhalte der Predigt: Erfahrungen aus Glauben". 88 Bereits E.LANGE (Chancen des Alltags, 1965) nennt in seinem Abschnitt über die „Predigt aus dem Gespräch" (193-195) die Rede auf der Kanzel „eine Phase im Gespräch der Glaubenden" (195). G.OTTO, Predigt als Rede, 1976; 23: „These 2: Tendentiell will die Predigt einen Dialog eröffnen." DAIBER 1991, 103: „Die dialogische Struktur der Predigt realisiert sich ... in ihrer Funktion der Dialogeröffnung. Sie kann darüber hinaus auch einen in der Gemeinde gefunden Konsens formulieren, also den Dialog 335
tont, daß es durchaus sogar in der Predigt legitim sei, sich auf einen Schritt im Prozeß zu beschränken, der das Christliche noch nicht explizit aussagt.89 Ob man will oder nicht, genau diese Begrenzung auf kleine Schritte findet in der Alltagsverkündigung der Seelsorge statt. Was bei der Predigtlehre noch als Sonderfall für Kasualien und massenmediale Predigt erscheinen mag, ist in der Alltagsseelsorge Strukturmerkmal. Die Reichweite alltagsseelsorgerlicher Verkündigung ist begrenzt. Gute Wünsche von einem Gott, der irgendwie mit einem kirchlichen Vertreter zusammenhängt, - mehr an Verkündigung passiert in dem analysierten Gespräch nicht. Der dialogische Charakter ist in der Alltagsverkündigung unausweichlich. Was sich von der Wirklichkeit hörbar abbildet, zeigt sich als der Ablauf aufeinander reagierender Redebeiträge zweier Personen. Die durch die Gesprächsform bedingte Möglichkeit, dies ständig und kleinräumig zu tun, erweist sich als um so nötiger, je mehr Diskrepanzen zwischen beiden Seiten bestehen und je unerwartbarer diese Diskrepanzen sind. In einer monologisierten Begegnungsform wie einer Predigt wäre die in diesem Gespräch erfolgte Verkündigung so gut wie ausgeschlossen gewesen. Hier wird deutlich, warum sich bei der Mehrheit der Laien das Gewicht von der Teilnahme an Predigten auf das Gespräch verschiebt. Die Kirchenferneren wollen mehr Gespräch, weil hier für sie mehr Verkündigung stattfindet. Nicht einfach ein Ausweichen vor der Verkündigung liegt vor (so sehr sich dies von kerngemeindlicher Sicht so darstellt, also ohne Beachtung der besonderen Rezeptionsbedingungen bei Kirchenferneren), sondern es besteht hier sehr wohl der Wunsch nach Verkündigung, nämlich danach, daß überhaupt solche Begegnung stattfindet. Die Laiin ist es, die im analysierten Gespräch von sich aus das gesamte Gespräch unter den Gesichtspunkt des richtigen Sprechens eines Pfarrers stellt. Hier geht es um das, was sie sonst immer bei der Institution, die für Transzendenz zuständig ist, vermißt.
abschließen. Sie kann Dialogposition in einem laufenden Prozeß der Suche nach dem heute notwendigen Zeugnis sein. Möglicherweise ist das ihre Normalform: Wort eines einzelnen im Dialog der Gemeinde." 89 DAIBER 1991, 169f., und zur diakonischen Aufgabe der Predigt: 271f.
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„Sie werden lache ich hab's bis heut non_ mon {Bländische} Opa der is mit {Zahl} gschtorbe halt... und wann ich heut alte Männer seh ne also die sein Johrgang sind die noch leben, also da hab ich inzwische kein Zorn mehr ne, aber e tiefe Traurischkeit dadrübber daß mein Opa des nit is." (Pfarrer, Dl:310-317)
6.3.2. Im Pfarrerinteresse: über den Beruf aufklären In dem in 6.3.1. analysierten Beispiel redet der Pfarrer nur sehr wenig. Seine Verkündigung besteht im wesentlichen in einem Satz. Die Laiin ist es, die von sich berichtet, die das Gespräch vorantreibt und dominiert. Das ist nicht immer so. Im folgenden Gespräch bestimmt für fast zehn Minuten zu Beginn der Aufnahme der Pfarrer die Thematik, und er erzählt von sich selbst, seiner Arbeit und seiner Berufstheorie. Dadurch, daß der Pfarrer die .Führung' in diesem Gespräch hat, wird es jedoch nicht schon Verkündigung im Sinne der Dialektischen Theologie. Auch hier handelt es sich um eine Form der Alltagsverkündigung. Als die Aufnahme einsetzt, sind beide Seiten schon in ein Gespräch über das Besuchemachen vertieft. Es ist wohl anzunehmen, daß das Thema dadurch entstand, daß der Pfarrer um Erlaubnis für die Tonbandaufnahme zu bitten hatte. Der Pfarrer meint: „ich geh auch gern zu alte Leut muß ich sagen" (3). Frau Diehl kann sich so etwas für sich nicht vorstellen: „a des is schon e schwierige Situation obwohl mer ja oft genug weß dasse uff (des End) warten" (12f.) und „noch schlimmer is find ich zum Sterbe zu gehn" (18). Zwei unterschiedliche Erfahrungen stehen nebeneinander; sie sind beide als subjektive Vorlieben gekennzeichnet. Der Pfarrer geht nun daran, seine Erfahrung durchsichtiger zu machen: 27
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ich weß nit des klingt vielleicht jetzt auch komisch: aber ich geh _ wie soll ich denn jetzt sagen daß mer des nit mißversteht, [3] des is so ähnlich ich hab Ihnen doch ma e Theorie erzählt von meine Trauunge von meine Beerdichunge daß ich lieber ne Beerdichung hab wie ne Trauung? ne ich geh auch lieber zu Sterbende eigentlich, ja als irgend son_ es gibt auch so Art Geburtstache ( ) ne, wanns eine honorige Person fünfundsiebzisch werd, oder: gut ich war schon mal bei eim neunzigschte wo dann immer Trara gemacht wird, a na gut da erscheint ma halt, werd so oigereiht wie n' wie son son Zinnbecher ne uff der Aricht, jaja
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und denn guckt mer sich a ( ) gekocht ne also wenn ich wirklich zu jemandem Sterbenden gerufen werde und man hat da das Gefühl do werd mer gebraucht und des ist sinnvoll, ( ) sicher und natürlisch: ich möcht des gar net verschweige so daß des was mit Heldetum zu tun hett des was man sich als vorstellt warum man Dornevögel im Fernsehen gesehn hat oder irgendeine ahh! ja ja und eigentlich passiert so was ganz selten, daß mer wirklich so in so extreme Seelsorgefälle gerufe wird. ja passiert das passiert das nit? h-m also ich kann mich viele Leut bilden sich des ein das des so die Hauptsache war, aber in unserm täglichen Geschäft a des nit ja aber früher isses eher die Ausnahme.
Der Pfarrer ordnet seine Vorliebe für Besuche bei Sterbenden ein in seine Berufs-„Theorie" (31), „daß ich lieber ne Beerdichung hab wie ne Trauung" (32f.). Anders als erwartet kann er aber nicht an ein vorhergegangenes Gespräch mit Frau Diehl darüber anknüpfen. So schaltet er anstelle der Berufstheorie auf die Schilderung einer Erfahrung um. Warum der Besuch bei Sterbenden ihm lieber ist, soll sich nun aus dem Kontrast zu den üblichen geselligen Geburtstagsbesuchen ergeben. Dort erlebt sich der Pfarrer als „eingereiht", man hat sich für das Essen zu interessieren (41f. 43). Anders ist das beim Besuch bei einem Sterbenden: „man hat da das Gefühl do werd mer gebraucht und das ist sinnvoll" (46f.). Diese (nicht untypische) Berufserfahrung wird hier so dargeboten, daß sie auch für Laien einsichtig ist. Die Formalität der großen Geburtstage einerseits und der Wunsch danach, daß das eigene Tun gebraucht wird, sind ihnen genauso vertraut. Die Spezifität seines Berufs bringt der Seelsorger in einer populären und selbstkritischen Weise ein: er als Pfarrer wünsche sich, gebraucht zu werden wegen des „Heldentum[s]" (50), der Bestätigung in einer Sonderrolle, wie sie als Sonderrolle des Priesters aus der Populärliteratur und dem Fernsehen bekannt ist („Dornevögel"; 51). Noch fragwürdiger wird ihm diese Roilenzuschreibung, wenn man sie mit den tatsächlichen Berufstätigkeiten vergleicht. In dieser Rolle befindet sich der Pfarrer nur „ganz selten" (54); „extreme Seelsorgefälle" (55) sind „eher die Ausnahme" (62) „in unserm täglichen Geschäft" (59f.). Indem der Pfarrer seine eigene Berufswirklichkeit mit dem Vokabular und Vorstellungshorizont allgemein zugänglicher Phänomene schildert und die inneren und äußeren Widersprüche zur Sprache bringt, gibt er der Besuchten viele Möglichkeiten, sich anzuschließen. Diese wählt daraus aus, daran zu erinnern, „wie mein Opa dann geschtorbe ischt" (64); „da war des 338
... noch „(67), während es heute anders sei. Der Pfarrer bietet eine Erklärung an: „also: ich denk daß viel Leut die ganze Sterberei so verdränge ach die Angehörige ne, die wollet sich nit damit belaschten die wollen angeblich den Patienten nit belaschte, und sie rufen denn meischtens zu spät" (70-73). Die Diakonieschwestern helfen den Angehörigen dabei, daß der Pfarrer geholt wird (76-86). Die Laiin bleibt bei ihrer anderen Erfahrung: „also ich persönlisch ging lieber ging zu a freundliche Eig _ Ereignissen hin" (87-89). Der Pfarrer schildert dagegen seine Perspektive „nur müßt man sich halt immer froge was erwarten die die Leut bei de erfreulichen Ereignisse von mi" (91f.). Die Antwort von Frau Diehl lautet: „der Pfarrer wert immer erwartet" (93f.). Das kommentiert der Pfarrer mit einem „is wohr?" (94). Aber die Besuchte weiß auch die andere Seite zu berichten, daß die Leute sagen „,oh der Herr Pfarrer und jetzt gemmer'" (96f.). Zwar wird pastorale Präsenz erwartet, doch diese verändert die Situation dann so, daß das Vorherige beendet ist, auch andere Geburtstagsbesucher sich neu definieren müssen und gegebenfalls sich der Neudefinition entziehen aus welchen Gründen auch immer (z.B. weil es unangenehm ist oder weil sich eine Möglichkeit zum Abschied auftut). Die darauf folgenden Aussagen von Frau Diehl dürften sich auf einen bestimmten Besuch beziehen. Genaues wird wegen mancher unverständlicher Passagen nicht klar. Es scheint ihr nicht ganz sicher, ob ein Besuch des Pfarrers am Geburtstag gewünscht wird oder nicht: „ich weß also ich werde fragen" (103). Man unterhält sich über diese Person oder über eine weitere gemeinsame Bekannte. Sie wird von Frau Diehl regelmäßig betreut. Für den Pfarrer ist diese Person „auch η dankbarer Gesprächspartner ich geh gern zu ihr" (112). Die Laiin hingegen ist es jetzt, die sich ihren Besuch aufspart: „ich geh wenn nicht so viel andre Verwandte" (120) da sind, aber auch für sie gilt, obwohl sie nur durch zweifache Anheiratung mit der Person verwandt ist: „ich hab sie SÜ gern" (133). Zwar - so Frau Diehl - „erzählt sie mir immer des gleiche, aber: machen wir manchmal auch nicht?" (148. 150f.). Der Pfarrer stimmt ihr zu: „wobei ich des als' auch genieß: dies wie soll ich 'n sagen Gesprächsritual wenn alte Leut mir immer wieder dasselbe verzähln, und ich sag mir immer wieder: wenn mer sich nit ebbs zwemal ahöre kennt na da dürfts ja kein Schallplatte gebe" (154-158). Mit seiner Beschreibung erhöht der Pfarrer die positive Bewertung des wiederholten Erzählens. Man kann es genießen und - wie die geprägte Wendung verallgemeinert - : auch sonst (Schallplatte) braucht das Leben Wiederholungen (Rituale). Die Laiin stimmt zu: „genau des" und fügt, auch wenn sie Wiederholungen nicht gerade genießen kann, noch einen anderen Grund für eine Wertschätzung hinzu: „mir macht des gar nix aus, gar nix, und ich merk, [Räuspern] daß sie des ebbe immer bewegt" (159f.). Dann nennt sie als Beispiel, daß jene alte Frau immer wieder vom Sparen redet, und sie stellt fest: „ich denk der Tante Gisela gehts dodrum daß ich überhaupt komm" (180f.), „die erwartet mich" (183). Auch dieses 339
Erwarten wird noch genauer geschildert und, wie die Besuche bei der alten Frau meistens ablaufen (185-199). Vier Grundsätze der Beziehung zum Besuch sind hier gemeinsam zum Ausdruck gebracht worden: Liebe zu der besuchten Person, Genuß des Gesprächs, die gewisse Langeweile der Wiederholungen im Gespräch werden gerechtfertigt; als viertes kommt hinzu, daß das Besuchen Erwartungen des Gegenübers erfüllt. Die Prinzipien gelten allesamt für professionelle kirchliche Besuche wie für alltägliche der Laiin. Der Pfarrer geht über das Erreichte hinaus: 200
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hm. aber wissen Se des is zum Beispiel auch nocha anneres Problem bei dere ganze Hausbesucherei, aso ich mach's gern, [2] des is ach wischtisch, aber mer kann's net abhaken, mer kann net sage isch nehm mer da fünf Besuche auf η Nachmittag vor nenenenene und schnei da nei und schüttla Hond nenene und und spring wieder fort ne? no ne =des ischa de isch a net rischtisch aso find ich da ghört mehr dazu. =und wissen Se: und wemmer's besser mache will braucht mer zum erschtens mal die inner Eisteilung dazu, die hot mer nit immer, und wemma se hot, verbraucht mer soviel Zeit ne, daß mer de a net flächedeckend schaffe kann, unne es die Leut sechisch ( ) anderweil sich immer froge „warum seh ich den Pfarrer nit (bei mir)", ( ).
Der Pfarrer nennt „nocha anneres Problem bei de ganze Hausbesucherei" (200f.). Das Problem liege nicht in der Motivation („aso ich mach's gern"; 20 lf.) oder in der Anerkennung der Bedeutung der Aufgabe („des is ach wischtisch"; 204). Schwierigkeiten macht hingegen, daß die Aufgabe sich einer rationellen Bewältigung entzieht. Fünf Besuche hintereinander zu absolvieren, das bleibt ungenügend kurz: Hände schütteln und wieder fortspringen (208. 210); „und wemmer's besser mache will" (214), verschärfen sich die Probleme. Sowohl den motivationalen Anforderungen kann man dann nicht mehr gerecht werden („die inner Eisteilung dazu, die hot mer nit immer"; 215f.), als auch die Außenanforderungen nach möglichst vielen Besuchen bleiben unerfüllt. Ein Dilemma ist also da, wenn im pastoralen Beruf die vorher aufgestellten Prinzipien des Genusses und der Liebe auf der einen und der Erfüllung von Erwartungen auf der anderen Seite in konkretes Handeln umgesetzt werden sollen. Frau Diehl, die schon die fünf kurzen Besuche für eine Uberforderung hielt, entwickelt nun ihre These: 340
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ja, und ich find, da soll man ach ganz ehrlich zu sisch sein, es liegt eim ach net jeder. hm = ich geh jetzt von mir aus wann ich jetzt ja gesacht krieg „ du gehscht heim zu demm und zu demm und zu demm besuchscht nette mol" ) ob ich jetzt zu demm geh" hm was was hab ich demm zu sage, na ne? und dann soll mer so ehrlich zu sisch sei und sage also des ä_ meinSe net daß des dann gegen die geheuchelt isch wenn ich ( ) ( ) was ich mich schon wie a [lachend:] (Feuerwehr+) daß ich den besuche (tät)?
Für die Laiin gilt: Besuche müssen ehrlich von der besuchenden Person gewollt sein und dürfen nicht nur aus Pflichtbewußtsein kurz abgehakt werden. Der Pfarrer wendet sich gegen die Pflichtbesuche: „nagut des muß mer ja net so mache ne. mer kanns ja auch einer inneren Stimmung entspreschend den Besuch mache" (237f.). Damit schließt er sich an das erste Argument von Frau Diehl an. Doch diese setzt nun ihren Einwand dagegen: „ja dann isch der aber gar nit erfreut oder?" (239). Besuche müssen auch für die Laiin die Lage der besuchten Person ins Kalkül ziehen. Diese doppelte Beziehung der Besuche auf das, was für das Gegenüber gut ist, und auf das, was für einen selbst gut ist, versucht der Pfarrer nun zu beschreiben als das Nebeneinander zweier Einstellungen. Die am Gegenüber orientierte entfaltet er zuerst: 240
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ja ich mein: ich muß gstehe daß ich scho zwee Einstellunge dazu hab, ich sach mir monchmol: mich intressiert wann ich inne Bäckerei geh_ aso Sie schaffe inna Bäckerei gell, ia ja und weiter weiter weiter aso weil ich weil ich zum Beispiel mhahahahaha inna Bäckerei geh und Sie hätten jetzt Knas mit Ihrm Mann ghat oder enen Kater ne, ja aso das intressiert mich als Kunde net ich erwart daß Sie misch höflisch und ja genau des könnt ich konzentriert Ja und zuverlässisch bedienen und daß tät ich jawoll Sie nich den Muffelkopp hischieben, 341
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ja bloß weil's Ihne schlescht gange ist und: des denk ich ach ghört zu meim Job als', also ich kann net pausenlos de Leut auf die Nase binne „ ich hab geschtern Krach mit meiner Fra ghabt und hab vorgeschtern zuviel gesoffe ä ich bin nit gut druff", ja Reschpekt d_ des is de een Sach de anner Sach is natürlich die daß es in unserm Beruf Ebene gibt womer sich nit verstelle kann, hm und so muß mer eenfach sein Weg finne.
Die Orientierung am Gegenüber will der Pfarrer erläutern am Beispiel der geschäftsmäßigen Einstellung im Bäckergeschäft, als ihm einfällt, daß ja Frau Diehl in eben einem solchen Betrieb arbeitet. Uber diesen Fauxpas belustigt, ermutigt diese ihn, seinen Gedanken fortzuführen, was der Pfarrer auch tut. Er schildert die Sache so, wie sie sich nach seiner Perspektive für sein Gesprächsgegenüber darstellen müßte: Den Kunden interessiert die subjektive Befindlichkeit der Person, mit der er ein Geschäft tätigt, nicht, und das gelte ebenso für seinen „Job" (261) als Pfarrer. Sowohl in bezug auf die Geschäftsfrau in der Bäckerei als auch auf sich selbst schildert er die abgewehrte Subjektivität in drastischen volkstümlichen Worten: „Knas mit Ihrm Mann", „enen Kater" (258), „nich den Muffelkopp hinschieben" (258), „net pausenlos de Leut auf die Nase binne ,ich hab geschtern Krach mit meiner Fra ghabt und hab vorgeschtern zuviel gesoffe ä ich bin nit gut druff'" (261-264). Diese geschäftsmäßige Einstellung ratifiziert die Frau mit geschäftsmäßiger Anerkennung: „ja Reschpekt" (265). Die Erwartungen ins Kalkül zu ziehen ist ein berechtigtes Anliegen professionellen Umgangs mit Menschen - im Beruf der Verkäuferin genauso wie als Pfarrer. Die andere zweite Einstellung zum Besuchemachen spricht der Seelsorger zunächst nur summarisch als die „Ebene... womer sich nit verstelle kann" (267f.) an. Wenn man zwischen diesen beiden Einstellungen „eenfach sein Weg finne" (270) muß, dann ist damit zunächst nur markiert, daß es sich um eine echte Ambivalenz handelt. Dann drängt es den Seelsorger aber doch, diese zweite bisher noch nicht entfaltete Seite zur Sprache zu bringen: 270
S
ich sach Ihne ganz ehrlich seit der Erkrankung meiner Mutter, fallen mir Hausbesuche sehr schwer.
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fallt's mir sehr schwer zum alte Mensch zu gehen ja das kenn ich der isch wegen fünfundachzich Jahr gworde is und wenn ich sach u wie geht's Ihnen sach der „ ach Gott ich kann bloß noch fünf Stücke Küche essen
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( ) ne odder odder ( )" ich krieg ( ) akomisch Gfühl. "( ) so ähnlisch, "sag also was willscht dann du eigentlich bisch fünfeachzich Johr mei Mutter isch noch kei {Zahl) und isch krank! ja ich mein isch tu des denne nit neiden ne, aber irgendwie macht mer's trotzdem weh da hock ich do und
Nachdem die Erwartungen an die Professionalität zur Sprache gekommen waren, orientiert sich der Pfarrer nun wieder an der nötigen subjektiven Zuwendung zur besuchten Person. Er schildert dazu eine persönliche Erfahrung: Die Klage über kleine Wehwehchen lösen angesichts der Erkrankung seiner noch jüngeren Mutter Gefühle bei ihm aus. Die Besucherin kann sich mit diesen Gefühlen identifizieren und interpretiert sie als aggressives Verhalten: „was willscht dann du eigentlich" (283f.). Der Pfarrer hingegen sieht sie als Trauer („macht mer's trotzdem weh"; 287) und sucht sie vom ,Neid' abzugrenzen. Damit erregt er den Widerspruch der Laiin: „is doch vielleicht η kleen bissl Neid" (288). Dieser Widerspruch steht im Zusammenhang mit einem Erlebnis, als sie mit ihrem „Mann so diskutiert" (291) hat. Da brachte der das Argument: „,was will da der der isch {Zahl} Johr alt und kann noch schaffe und ma Vadder der lebt scho lang nimmer'" (297-300). Ihre Diagnose „,du neidescht dem des'" (302) wurde von ihm nicht akzeptiert: „,nein ich neid des net aber'" (302f.). Der Pfarrer ergänzt seine Perspektive in das Zitat vom Ehemann hinein: „das macht's eim weh, irgendwo macht's eim weh" (304). Die Laiin läßt daraufhin für ihren Mann beide Diagnosen gelten: „isser ganz traurisch dadrübber, traurisch und zugleich zornisch" (305f.). Der Seelsorger bietet eine (psychologisch begründete) Zuordnung der beiden Gefühle an: „ich denk daß es e Stück die Verarbeitung von der Trauer is wemmer do so zornisch is" (307f.). Er exemplifiziert die Sache wieder an sich selber: 310
S
315
318 319
D1 S
323
rD1 S
noch son Zeischen, Sie werden lache ich hab's bis heut non_ mon {B-ländische) Opa der is mit (Zahl) gschtorbe halt ( ). und das war son Kerl der immer geschafft hat a Johr lang so ( ), und wann ich heut alte Männer seh ne also die sein Johrgang sind die noch leben, also da hab ich inzwische kein Zorn mehr ne, aber e tiefe Traurischkeit dadrübber daß mein Opa des nit is. ja aso ich hab inzwische keen Zorn mehr dadrübber ganz ehrlich ne, aber a ganz tiefe Traurichkeit, und e Stück weit is halt jeder Besuch bei som alte Mann Besuch bei meim Opa. ja ich glaub schon doch ich denk daß ich's darum auch gerne mach. 343
325 326
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[D1
h-m also ich hab da ich spür dann wie ich dann viel Geduld oder auch innere Zuneigung richtich hab vor dem ( ), wo man des kennt ( ) ich denk denn auch in so Kategorie ne oder ich hock dann do und bild mer ei „ aja der is jetzt der Johrgong wo ( ). [1] hm °is mit {Zahl} gestorbe" gut der war jetzt ach_ ja. ja die werde achzich viereachzich gibt gibt so Leut die so alt wem, ich besuch heut noch e Fra so Gott will die neunzich is. die Brehm Berta.
Nicht Aggression, aber Trauer über den Tod seines geliebten Opas findet der Pfarrer bei sich immer noch vor, wenn er alten Männern begegnet, auch bei Hausbesuchen. Die Übertragung wirkt aber auch in die Gegenrichtung: Darum sind Besuche bei alten Männern auch zugleich Besuche bei seinem Opa. „Geduld" und „innere Zuneigung" (326) werden davon genährt. Damit kann nun die Ambivalenz des Gerne-Besuche-Machens und die Aggression gegenüber oberflächlichen Besuchen überführt werden in einen konsistenten Zusammenhang90: die Wut oder zumindest Trauer über den Verlust der (Groß-)Vaterfigur speist sich aus der gleichen Erfahrung wie die Sehnsucht danach, etwas vom Großvater dort zu erleben. Der Pfarrer berichtet ausführlich von sich selbst und seinem Beruf. Im Gespräch mit der Laiin und unter deren Mithilfe konnten einerseits die Erwartungen von außen an den Berufsträger professionell abgeklärt werden, andererseits die ambivalente Gefühlslage der subjektiven Befindlichkeit beim Besuch als zwei Seiten der einen Trauerarbeit ineinander integriert werden. Der Pfarrer übte bei der Erreichung dieses Ergebnisses seine professionelle Reflexivität aus. Soziologische Kenntnisse über die Struktur professioneller Beziehung zum ,Kunden' wie psychologische Kenntnisse über das Phänomen der Übertragung hat er aktiviert und in Gesprächsverhalten umgesetzt. Die an den eigenen Erfahrungen und der des Gegenübers orientierte Einbringung dieser Kenntnisse91 macht es der Laiin leicht mitzugehen. Es wird so zugleich etwas verhandelt, was sie selbst auch kennt, und es wird vom Pfarrer alltagssoziologisch und alltagspsychologisch so dargeboten, daß es sich mit ihrer Erfahrung vergleichen läßt. Die Bearbeitung der Ambivalenzen von äußeren Erwartungen und inne90 In dieser Passage geschieht also zugleich Therapeutisches. Sie ließe sich auch als Alltags-Selbsttherapie interpretieren (vgl. 5.3.2.). 91 Ob der Pfarrer die Überführung des Wissens in Darstellung von Erfahrung bewußt vornimmt oder ob sich ihm die Kenntnisse schon sogleich nur als Hintergrund von Erfahrungen darbieten, kann nicht entschieden werden. 344
rer Neigung sowie innerhalb der inneren Neigungen sind nun erhellt. Da geht das Gespräch auf anderes über: Der Geburtstag von Berta Brehm, einer weiteren gemeinsamen Bekannten, wird interessant. Durchwegs hat der Pfarrer von sich und seiner beruflichen Arbeit geredet, immer wieder zu ihr hingelenkt. Sein Beruf erscheint dabei als etwas anderen Lebensproblemen Vergleichbares. Der Pfarrer zeigt sich von seiner allgemeinmenschlichen Seite auch da, wo es um seinen Beruf geht. Sein Amt verwirklicht sich personal und professionell. Eine solche Darstellung des Amtes geht nicht auf Kosten der Besuchten. Hier ist auch wieder ein Pfarrer, der nicht „so von Gott" redet, wie es Frau Class gefordert hatte. Frau Diehl allerdings, mit der sich dieser Pfarrer im Gespräch befindet, ist eine Laiin, die sehr wohl von Gott reden kann und mag. So kann in theologischer Perspektive geurteilt werden: Im Zusammenhang dieses Gesprächs wird, wenn so vom kirchlichen Amt geredet wird, indirekt damit von der Menschlichkeit Gottes gesprochen. Das liegt im Interesse des Pfarrers, Person und Beruf in das ihm aufgetragene Amt zu integrieren. Eine solch doppelt indirekte Verkündigung von der Weltlichkeit des Pfarramtes mag als wenig erscheinen. Dennoch wird damit Wichtiges geleistet in einer Zeit, wo die Relevanz des pastoralen Berufs nicht klar ist. Der Pfarrerberuf erweist sich so als ein Beruf, dessen weltliche Struktur der Durchführung des Amtes nicht widerspricht. - So indirekt nur von Gott zu reden, das wird freilich Frau Diehl nicht genügen. Wir werden ihr in 6.3.4. wiederbegegnen.
„und zwar ist die Antwort daß ich mir sage wir leben nicht unsere Seele lebt nicht einmal sondern viele Male, und unsre Seele die wenn eben solche Belastungen sind, hat sich schwer belastet, und muß in einer neuen Inkarnation das abtragen [2] denn sonst wüßt ich keine Erklärung für Ba_ die Barmherzigkeit und Liebe Gottes, Gott will ja die Menschen durch Leid immer mehr an sich heranziehen" (Frau Fink, Fl:1472-1480)
6.3.3. Heterodoxie diskutieren In den beiden bisher analysierten verkündigenden Gesprächsfiguren erfolgte die Verkündigung indirekt. Den Interessen der Laiin gemäß wurde ein Gespräch geführt, ohne von Gott zu reden, und dann unter den Bedingungen kirchlicher Abschiedsroutine göttlicher Segen zugesprochen. Den Interessen des Pfarrers gemäß konnte dieser sein von Gott übertragenes Amt als die Kombination von Beruf und Person zum Ausdruck bringen. In den beiden nächsten Gesprächsfiguren wird von Gott direkt die Rede sein. 345
Der in diesem Abschnitt behandelte Gesprächsteil beginnt damit, daß Frau Fink ein theologisches Thema zur Diskussion stellt: 1369
F1
L
1374
S F1
Is 1377
F1
und was denken Sie jetzt darüber, daß es Menschen gibt die also mit diesen Fehlern und Schwächen und Krankheiten in diese Welt kommen, und oder sie ja auch äh erra_ erreichen oder erleben oder wie, ja und andere die kommen tatsächlich durch diese Welt gesund und glücklich und C )a
wie stellen Sie sich von Ihrer Sicht jetzt die Liebe und Gerechtigkeit Gottes vor.
Die Laiin stellt die Theodizeefrage: Wie verhält sich das kontingente individuelle Leiden von Menschen zu den christlichen Attributen Gottes, der Liebe und der Gerechtigkeit? Sie äußert die Frage, nachdem der Seelsorger, den sie nach seinem Studium gefragt hatte, von seinen Erfahrungen in Bethel berichtet hatte und zum Schluß auch seine Anekdote darüber losgeworden war, wie er einmal einen Theologieprofessor für einen Epilepsiepatienten gehalten habe. Frau Fink selbst ist schwer gehbehindert und hat sich mehrfach nach der chronisch schwerkranken Ehefrau des Seelsorgers erkundigt. Die Frage steht also nicht im erfahrungsleeren Raum. Sie wird von der Besuchten aber als theoretische Frage formuliert. Dabei deutet sie an, daß unterschiedliche Perspektiven denkbar sind („von Ihrer Sicht jetzt"; 1377). Es bleibt offen, ob der Erfahrungshintergrund und/oder ein theoretischer, der christlich-theologische Hintergrund des Seelsorgers gemeint ist. Der Seelsorger ist von der Frage überrascht - er braucht einen Moment, bis er zu einer Antwort findet. 1380
S
1382
S
r F1 1386 rS F1 1388 S
1 1393
346
S
[3] also: [3] ich kann _ mir fällt keine g_ Begründung ein sozusagen daß ich sagen kann „ aus dem und dem Grund muß das so sein", daß _ weiß ich keinen. ja aber hat alles einen Grund. ja ich weiß kein_ was ich bloß hat alles einen Grund was ich bloß sagen kann, oder ich bezieh's mal ganz auf die Erfahrung jetzt so wie ich se auch zuhaus erlebe mit meiner Frau, das ist jetzt nicht von Geburt an aber das ist ja so und nja also ( ) em und was ich sehe ist daß jemand trotzdem auch wenn er stark behindert ist sei's körperlich oder sei's auch geistig trotzdem ein Mensch ist, und ein Mensch bleibt
Endlich einmal wird hier ein Seelsorger als Theologe gefragt. Als Fachmann, dem man solche kniffligen Probleme vorlegen kann, wird er in Anspruch genommen. Bezeichnenderweise ist es die religiöse Frage schlechthin, die gestellt wird, und zwar in ihrer neuzeitlichen Fassung als Theodizeefrage. 92 In ihr ballen sich sowohl die logischen Probleme einer konsistenten Gotteskonzeption als auch die existentiellen Probleme erfahrenen Leides zusammen. Die Frage könnte die rationalisierte Fassung eines erlebten psychischen Konflikts sein (,ich will nicht leiden') und wäre dann therapeutisch zu behandeln. Sie kann eher ethisch (,welche Werte gelten?'), eher existentiell (,meine Endlichkeit'), eher allgemein religiös (,vom Sinn des Schicksals') oder eher spezifisch christlich (,wie kann der christliche Gott so sein') akzentuiert sein. Welche Dimension in der gestellten Frage überwiegt, daß läßt sich - typisch für Alltagssituationen - nicht mit Sicherheit sagen. Auch besteht wegen der Alltagsnähe des seelsorgerlichen Gesprächs keine bestimmte Präferenz dafür, einen bestimmten der Wege auszuwählen und damit die Situation zu definieren. Im Sinne einer theoretischen Abklärung wäre es angebracht, wenn in solch einer Situation eine Differentialdiagnose vorgenommen werden könnte: Welche der Fragen liegt eigentlich vor? Der Seelsorger verhält sich aber alltagstypisch, wenn er die Frage seinerseits nicht in Frage stellt, sondern eine Beantwortungsmöglichkeit ergreift. Er probiert aus, was gemeint ist. Dazu wählt er einen Ansatz, der theologisch und therapeutisch üblich ist.93 Er beginnt damit, daß er die implizierte Frage nach einer einheitlich logischen Gotteskonzeption abwehrt: ,Ich weiß keinen Grund.' Damit erregt er den Widerspruch der Fragestellerin: „ja aber hat alles einen Grund" (1385). Die Theodizeefrage muß nach Ansicht der Laiin logisch lösbar sein, weil der Kosmos so geordnet ist, daß Kausalbeziehungen aufgedeckt werden können. Wie sich vom Geschöpf auf den Schöpfer schließen läßt (42lf.: „es muß ja geschöpft sein irgendwie nicht?"), so muß auch das Vorhandensein von Leiden kausal verstehbar sein. Der Pfarrer übergeht ihren Einwurf. Die Antwort, die er zu geben ansetzte, ist noch nicht zu Ende. Die Theodizeefrage kann er deshalb der 92 Vgl. den Abschnitt „Theodizee als neuzeitliches Problem" bei H.-G.JANßEN, Gott - Freiheit - Leid, 1989; 1-16; siehe auch 184-191. 93 Vgl. die Pfarrerin F.DETHLOFF-SCHIMMER (Ich glaube den lebendigen Gott, 24-30; 27) im Zusammenhang eines Berichts über eigene Leiderfahrungen und über die Begleitung anderer Leidender: „Auf die Frage, warum Gott Leid zuläßt, gibt es keine Antwort. Sicher, viel später läßt sich da ein Weg sehen, kann ich Spuren erkennen." „Personalisieren statt diskutieren" - mit dieser Devise überschreibt H.v.D.GEEST (Unter vier Augen, [1981]; 163-165) einen Unterabschnitt seiner Besprechung eines Seelsorgegesprächs zur Warum-Frage. „Vernunftantworten auf das Leiden - und eine scheinbar eindeutige rationale Theodizee vermögen nicht zu überzeugen" (H.KREß, Menschliches Leiden zwischen technischer Weltbewältigung und theologischer Deutung, 1993, 12-31; 29).
347
logischen Beantwortung entziehen, weil sie sich für ihn in der Erfahrung anders stellt. Er personalisiert die Frage, und zwar in alltagstypischer Weise, indem er sie auf sich selbst bezieht. Als Beispiel („so wie", 1389) nennt er sein eigenes Erleben mit seiner schwerkranken Frau: Diese ist und bleibt „trotzdem ein Mensch" (1395). So argumentierend definiert er die Theodizeefrage als eine, in der es um den Wert von Leben im Leid geht, also als eine ethische Frage. Die Frage nach dem Wert von durch Leiden entstelltem Leben beantwortet er mit einem Ja. Wenn die Frage so definiert ist, dann muß auch die Fragestellerin der Aussage des Pfarrers zustimmen: 1395
rS F1
1398
S
1401
jS F1 S F1 S [F1 S rFI l S [F1 S j-F 1 S jS F1 r S F1
geistig trotzdem ein M e n s c h ist, und ein M e n s c h bleibt ja das natürlich ja, und daß der trotzdem jemand ist auch der einem andern was geben kann. [2]
1403 1404 1405 1406 1408 1410 1412 1414
1418
also auch ja d a z u sind w i r ja eigentlich gradezu angehalten, ja grade diesen äh den Bedürftigen, ja das hab ich ja in m e i n e m Leben versäumt denn ich hatte ja meinen meinen Beruf ging da ja nichts anderes und ja ich hätte es auch gar nicht gekonnt, ja ja war mir u n m ö g l i c h gewesen, ja [Einatmen] ja aber d a z u sind w i r ja angehalten ( ) M e n s c h e n mit besonderer Liebe und Fürsorge ja ja entgegenzukommen.
Noch bevor der Pfarrer seine Antwort beendet hatte, stimmt ihm Frau Fink zu: „ja das natürlich ja" (1396). Wenn sich dieser Gedanke aber selbstverständlich versteht, dann hätte ja die Laiin die Theodizeefrage nicht stellen müssen. Als der Pfarrer dann noch einmal ansetzen will, seine Antwort zu erweitern, beginnt Frau Fink darzustellen, in welchen Horizont für sie ihre Zustimmung gehört. Es geht für sie nicht wie für den Pfarrer um die Frage des Werts von angeblich ,lebensunwertem' Leben, sondern darum, daß Zuwendung zu Leidenden für sie moralisch geboten ist. Damit verschiebt sie nun ihrerseits die Antwort des Pfarrers. Die Sinnfrage ist überführt in eine Sollensfrage. Angesichts dieses Sollens bringt nun die Fragestellerin ihren Erfahrungshintergrund ein. Im Rückblick auf ihr Leben stellt sie fest, sie habe die 348
Erfüllung dieser Forderung „in meinem Leben versäumt" (1406), und fügt objektive Umstände und eigene Unfähigkeit entschuldigend hinzu: „gibt da ja nichts anderes" (1409), „hätte es auch gar nicht gekonnt" (1410), „war mir unmöglich gewesen" (1412). Damit klingt nun ein ganz anderes Motiv an. Während vorher im Gespräch Frau Fink ausführlich ihre Lebengeschichte erzählt und die schönen Zeiten hervorgehoben hatte (444-1050), erscheint jetzt alles als ein Leben der Versäumnisse. Dieser Zusammenhang war bei der Besuchten schon einmal an anderer Stelle ziemlich zu Beginn des Gesprächs angesprochen worden. Wir wollen uns das genauer anschauen. Das Stichwort des Pfarrers, die Besuchte habe es sich als gottesdienstliche Mitarbeiterin „verdient", jetzt nicht mehr arbeiten zu müssen, wurde dort von ihr in (den hier schon implizit vorausgesetzten Reinkarnations-) Zusammenhang der verdienten Lebenssituation gebracht: 132 135 138
S Ψ1 S . Ψ1 F1 rS F1
144 145
S F1
147
S r
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j 154
F1
fS
F1
S F1
das ham Se auch verdient daß Se jetzt nicht mehr, ahe daß also na ( ) hab ich das vielleicht verdient Herr Gott das harn Se nicht verdient. haha das hat keiner verdient ja sicher hab ich's verdient, ne ( )_ weiß nur nicht wodurch ich mein, ahe ws_ nicht nicht in_ ich möcht gar nicht sagen daß ich's in diesem Leben verdient habe Herr {S), ich kann's vielleicht anderswann, [gedehnt] ja auf anderer Ebene verdient haben ich weiß es nicht. [1,5] man denkt des ja ich kenn des auch oder von meiner Frau auch nicht? also daß man sagt warum warum grade ich ja ham Sie auch den Gedanken. oder so nicht? wieso trifft mich das jetzt warum ja ja das ist bei mir gar keine Fragezeichen warum, ja sondern bei ist de ja es ist eben so ja das muß so sein, Gott hat des bestimmt,
Daß die Laiin sich fragt, ob sie ihren Zustand religiös verdient habe, wird vom Seelsorger kategorisch abgewiesen: Sie habe sich nicht ihren Zustand und niemand habe sich seinen (Gesundheits-)Zustand verdient. Die Besuchte ignoriert dies: Wenn sie auch auf keine Gründe aus ihrem gelebten Leben dafür verweisen will, so könne ja „auf anderer Ebene" der jetzige Zustand verdient worden sein - „vielleicht", „ich weiß es nicht" (143. 145). Der Pfarrer übergeht auch hier die kognitive Dimension (der anklingenden Reinkarnationsvorstellung) und wendet sich dem Erfahrungszusammen349
hang zu. Er kenne die Frage von sich und seiner Frau als die Warum-Frage. Zunächst erkennt die Laiin das als ihre Frage an: „ja ham Sie auch den Gedanken" (149). Dann aber erklärt sie die Warum-Frage für gelöst: „Gott hat des bestimmt" (155). Das „vielleicht" und „ich weiß es nicht" meint also nicht eine Unsicherheit darüber, ob die Reinkarnationslehre gilt, sondern nur darüber, was aus früherem Leben gewußt werden kann (das wird Frau Fink später noch explizit ausführen). Von dieser schon früher im Gespräch erfolgten Passage her erweist sich, daß die Reinkarnationsvorstellungen ein durchgehendes Motiv für Frau Fink darstellen. Die mittlerweile auch im Bereich des Christentums ziemlich verbreitete Reinkarnationslehre 94 hebt die Warum-Frage auf. Die Frage, die zu beantworten bleibt, ist die, ob ein Mensch etwas durch sein gegenwärtiges oder früheres Leben verschuldet hat und wie er es durch das gegenwärtige und spätere Leben wieder ausgleichen kann. Wir sollen den Leidenden helfen - das ist der Grundsatz, von dem sich für die Laiin die Frage nach dem Wert eines leidenden Lebens praktisch beantworten läßt. Bei dem Seelsorger - wir kehren zu der späteren Passage im Gespräch zurück - steht noch sein ursprünglicher Redeplan aus. Seine Aussage über den Wert auch leidender Menschen war ihm vom Gegenüber als moralische Verpflichtung, ihnen zu helfen, ausgelegt worden. Dieser Auslegung muß er ergänzend widersprechen: „ = aber das das das Erstaunliche ist ja daß wenn man jemandem begegnet daß man auf einmal feststellt daß sich das auch umkehrt, also man hilft jemandem, und stellt fest: der hilft einem" (1419-1421. 1423). Der Wert auch des leidenden Menschen wird für ihn gerade darin manifest, daß die Beziehung zu Leidenden keine einseitige Hilferelation darstellt. Die Laiin stimmt dem zu („ja auf jeden Fall") und bringt den Ausdruck der „Wechselwirkung" in das Gespräch ein (1424). Der Seelsorger verweist auf die Bedeutung von behinderten Kindern für die Eltern. An einem Praktikum von Konfirmanden unter geistig behinderten Jugendlichen konkretisiert er noch, daß letztere einen Vorsprung darin haben, Gefühle zu zeigen. Die Relation zu Leidenden ist eine, wo dem Helfenden die Hilfe „was gebracht" (1459) hat, wo man sagen kann: „ich hab was gelernt" (1459.1461). Die Besuchte akzeptiert die Ausführungen, allerdings ohne sich an ihnen aktiver zu beteiligen. Als der Seelsorger seine Summe zieht, öffnet sich für die Laiin wieder das T o r für die Ausgangskonstellation der Beantwortung der Theodizeefrage:
94 Nach einer Emnid-Umfrage glaubten bereits 1979 26% in der Bundesrepublik an die „Wiedergeburt" (wobei kaum der biblische Gebrauch des Wortes gemeint gewesen sein dürfte), unter denen mit Abitur oder Hochschulabschluß sogar 30% (bei K.F.DAIBER, Reinkarnationsglaube als Ausdruck individueller Sinnsuche, 1987, 207-227; 209f.).
350
1463
S ,
S
1469 1470 1471 1472
S F1 S F1
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F1 [S
1483
F1
und das finde ich was Wichtiges das ist keine Antwort, warum sind die da und wie wie wie müssen mers haben Sie keine Antwort dafür, nein ich [tief:] ich weiß keine Antwort.+ [2] wissen Sie eine? ja ich weiß eine. Sie wissen eine: = und zwar ist die Antwort daß ich mir sage wir leben nicht unsre Seele lebt nicht einmal sondern viele Male, und unsre Seele die wenn eben solche Belastungen sind hat sich schwer belastet, und muß in einem in einer neuen Inkarnation das abtragen. [2] denn sonst wüßt ich keine Erklärung für Ba die Barmherzigkeit und Liebe Gottes, Gott will ja die Menschen durch Leid immer mehr an sich heranführen, hm [1] also sonst wüßt ich keine Erklärung.
Für den Pfarrer bleibt das von ihm Gesagte Antwort auf die Theodizeefrage: Erfahrungen lassen Wert trotz Leiden erkennen, während eine logische Lösung nicht möglich ist. Genau aber das bestreitet die Fragestellerin. Sie versteht die Theodizeefrage typischerweise als Frage nach der logischen Lösung des Problems 95 : „haben Sie keine Antwort dafür" (1466). Definiert man die Theodizeefrage so, dann muß der theologische Experte gestehen, die ihm gestellte Aufgabe nicht lösen zu können: „nein ich [tief:] ich weiß keine A n t w o r t + " (1467). Der theologische Diskurs ist an einen kritischen Punkt gekommen. Wenn die Fragestellerin die Definierung der Frage durch den Experten nicht mitmacht, dann erweist sich der Experte als hilflos. Die Fragestellerin hingegen hatte die These vertreten, alles habe einen Grund. Nach einer kurzen Pause wechselt der Experte die Rolle und wird zum Fragesteller: „wissen Sie eine?" (1469). Er akzeptiert das Anliegen Frau Finks, die Theodizeefrage als rationale zu behandeln. Die Laiin nimmt die Expertenrolle ein: „ja ich weiß eine" (1470). Sie trägt als ihre Antwort die Lehre der Seelenwanderung vor. Eine dreifache Leistung enthält diese Lehre für Frau Fink. Zum einen läßt sich dann das Leiden als Erziehungsleiden verstehen: „Gott will ja die Menschen durch Leid immer mehr an sich heranziehen" (1479), bzw. es kann diese These aufrechterhalten werden. Zum anderen ist diese Lehre kompatibel mit der Einschätzung von 95 Nach M.WEBER (Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, [1915-19], 237-275) hat die „sekundäre Erlösungsreligiosität der Massen unterhalb der offiziellen Lehre" (245) das „rationale Bedürfnis nach der Theodizee des Leidens" (247). 351
Versäumnissen im eigenen Leben („wenn eben solche Belastungen sind"; 1474) und ermöglicht, das Versäumte nachzuholen. Zum dritten lassen sich so die christlichen Attribute der Barmherzigkeit und der Liebe Gottes beibehalten. Das zweifache „sonst wüßt ich keine Erklärung" (1478. 1483) spitzt das noch zu: Nur diese Lehre leistet eine befriedigende logische Lösung der drei Fragen.96 Sie ist allerdings eine Lehre, die dem christlichen Dogma widerspricht und von der kirchlichen Theologie verworfen wird. Wie wird der kirchliche Professionelle darauf reagieren? 1484
S Γ
1487
1491 1492 1494
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F1
S
nein Sie haben recht also das ist eine Erklärung, eine Art und Weise oe_ wie man das erklären kann, ja ja bloß ob das stimmt, und daß wir daß wir nicht wissen was wir vorher wo unsre Seele vorher war in welchen Körpern, hm h-m h-m das hat Gott als_ in seiner Weisheit abgedeckt wir sollen das nicht wissen wir sollen von vorne anfangen. hm h-m [2]
Die logische Erklärungsleistung der heterodoxen Lehre erkennt der Pfarrer an. Insoweit kann er Ubereinstimmung demonstrieren. Die Lehre ist eine mögliche Erklärung für die Wirklichkeit. Die kirchliche Lehre, die er vertritt, erreicht diese Erklärungsleistung nicht. Er äußert aber Zweifel, ob die Reinkarnationslehre die Wirklichkeit adäquat wiedergibt. Der Einwand „bloß ob das stimmt" (1487) läßt nicht erkennen, in welcher Hinsicht die Wirklichkeit nach Ansicht des Pfarrers womöglich von der Lehre nicht getroffen wird. Er demonstriert aber, daß der kirchliche Professionelle dieser Lehre letztlich nicht zustimmen will. Die Laiin scheint auf Gegenargumente vorbereitet. Schon bevor der Pfarrer seinen Einwand inhaltlich formuliert hat, sichert sie ihre Lehre gegen mögliche Kritik ab. Für das faktische Nichtwissen um das frühere Leben wird eine Erklärung nachgeschoben: Dies ist aus erzieherischen Gründen sinnvoll von Gott so eingerichtet, der einen Neuanfang ermöglichen will. Der Pfarrer versucht einen weiteren Einwand: 1496
S
1499 jF1 S
aber wenn wir es nicht wissen dann wie soll ich sagen dann nützt es uns ja auch nichts ne? [2]
nein des wiss_ nützt schon was oder also
96 Vgl. WEBERS Urteil: „Die formal vollkommenste Lösung des Problems der Theodizee ist die spezifische Leistung der indischen ,Karman'-Lehre, des sog. Seelenwanderungsglaubens" ([1921], 318).
352
1501
F1
1503 1504 1505 1506
S F1 S F1
nein es gibt ja Leute, äh also der (das Moment mal leben) die die so übersinnliche Kräfte haben, h-m die äh sind dann sehr neugierig, ja und und wollen
Die bezweifelte Wirklichkeitsadäquatheit fixiert der Pfarrer nun in der Handlungsrelevanz der Lehre: Wenn ein Nichtwissen um frühere Inkarnationen vorliegt, dann kann das Nichtgewußte aus sich auch keine Konsequenzen für die Lebensführung heraussetzen. Was ich nicht weiß, kann auch mein Handeln nicht verändern, „dann nützt es uns ja auch nichts ne?" (1497).97 Der Einwand wird von der Laiin mit einer weiteren Zusatzerklärung pariert: Es gebe einzelne religiöse Virtuosen, die doch darüber Wissen erlangt hätten. Leider bricht hier die Aufnahme wegen Ende des Tonbands nach rund 45 Minuten Gespräch ab. Wir können also nicht mehr nach vollziehen, wie dieser Gesprächsgang weitergeführt und beendet wurde. Wir erfahren nicht mehr, wer diese Diskussion um eine heterodoxe Lehre ,gewinnt'. In jedem Fall wird irgendwann das Gespräch wieder in Alltagsthemen überführt werden. Das geschieht vielleicht, nachdem noch mehr Gemeinsamkeiten erreicht sind oder nachdem eine Seite sich argumentativ durchgesetzt hat oder die Verschiedenheit der Standpunkte geklärt wurde. In jedem Fall ganz anders als bei der Verkündigung in der Predigt ist: der Ausgang der Diskussion bleibt vorweg ungewiß. Der institutionelle Vorsprung der Person in anderen Kleidern auf der Kanzel ist dahin; vorher wohlüberlegte Rede hilft nichts; dem Verkündiger wird widersprochen; die Rollen zwischen Fragender und Antwortendem können vertauscht werden. Ob etwas in der Bibel steht oder nicht, spielt hier keine Rolle. Heterodoxie kommt im Gespräch auf die gleiche Stufe mit Orthodoxie zu stehen. Verkündigung geschieht hier als Streit um die richtige Deutung der Wirklichkeit. Die Schwierigkeit der Diskussion besteht darin, daß über das Referenzsystem selbst keine Einigkeit besteht. Es werden unterschiedliche Meinungen nicht nur in der Lehre vertreten, sondern auch darin, welche Anforderungen an solche Deutung gestellt werden müssen. Wie schon Frau Class (vgl. 6.3.1.), so bevorzugt auch Frau Fink ein logisch klar einleuchtendes Erklärungsmuster für die Gottesfrage. Die (gegebenenfalls theologisch reflektierte) Durchbrechung dieser Logik, so berechtigt sie sein mag, scheint nur schwer vermittelbar zu sein, solange der Professionelle einfach in sein eigenes Referenzsystem überwechselt und dort verharrt. Die Erfahrung solch unlösbarer Meinungsverschiedenheiten freilich ist 97 Auch der Pfarrer argumentiert hier ganz alltagstypisch mit dem Hinweis auf die Nützlichkeit der religiösen Vorstellung (vgl. 6.3.1. Anm.85).
353
eine alltägliche Erfahrung. Sollen sie das Gesamtgespräch nicht bedrohen, so wird man nach einer Weile die Diskussion beenden. Deren Reichweite wird alltagspragmatisch begrenzt. Heterodoxie - aus kirchlicher Sicht so genannt - ist Teil der Selbstdeutung von Frau Fink; sie findet sich neben einer christlichen Sozialisation und Jahren an kirchlicher Mitarbeit. Weder hat Heterodoxie dies verhindert, noch hat die kirchliche Mitarbeit die Heterodoxie beendet. Im Alltag stellt sich die Frage nach der rechten Lehre bedeutend pragmatischer als in der theologischen Lehre oder im Kanzelvortrag. Aber die Frage stellt sich; Entscheidungen und Einstellungsveränderungen jedoch sind langandauernde Prozesse. Das Beispiel zeigt, daß der Seelsorger auf das Sich-Einlassen auf solche Alltagsdisputation relativ schlecht vorbereitet ist. Man mag dafür seine geringe Berufserfahrung oder individuelle Umstände als Faktoren in Rechnung stellen. Darüber hinaus dürfte sich hier jedoch ein strukturelles Problem zeigen. Bestimmte Heterodoxietraditionen werden in der theologischen Theoriediskussion nicht beachtet. „Das Thema der Wiedergeburt oder Seelenwanderung zu diskutieren, ist in der christlichen Theologie nicht üblich." 98 Wenn es in der Theologie diskutiert wird, dann in einer Weise, die die alltagstheologische Auseinandersetzung nicht trifft. Drei Beispiele: 1. Gisbert Greshake gibt sich damit zufrieden herauszuarbeiten, daß die Reinkarnationslehre ein unbiblisches Zeit- und Geschichtsverständnis sowie eine unchristliche Leib-Seele-Verhältnisbestimmung hat und dem „.Prinzip Gnade'" widerspricht." Aus diesem Gegensatz ergibt sich der „Streit der Hoffnungen", bei dem zwar „auch mit Argumenten" gearbeitet wird, der aber „letztlich ... mindestens ebensosehr in der Tragfähigkeit und Überzeugungskraft von Hoffnungspraxis" ausgetragen wird. „Christliche Hoffnungspraxis ist ... das entscheidende Argument für Auferstehung contra Seelenwanderung."100 Es werden de facto nicht Argumente ausgetauscht, sondern existentielle Befindlichkeiten bekräftigt. 2. Michael von Brück nimmt hingegen die Argumentationen der Reinkarnationslehre ernst. Deren kritische Integration in die christliche Theorie orientiert sich jedoch an der „vedäntischen Theorie" 101 und schließt die „Populartheorie" als in sich widersprüchliches Konzept, das auch der vedäntischen Theorie widerspricht, vom Diskurs aus.102 So sehr das für die ,hohe' Theologie möglich und sinnvoll sein mag, gerade diese populäre Fassung der Reinkarnationslehre ist Gegenstand der alltagstheologischen Diskussion und kann dort nicht wegen formallogischer Widersprüchlichkeit abgewiesen werden.103 98 So M.V.BRÜCKS kritisch gemeinte Zustands-Charakterisierung (Einheit der W i r k l i c h k e i t , [1986]; 308).
99 G.GRESHAKE, Gottes Heil - Glück des Menschen, 1983, 230-244; Zitat: 244.
100 GRESHAKE, 2 4 4 .
101 V.BRÜCK, 3 2 1 - 3 3 0 ; vgl. 3 3 0 - 3 3 7 .
102 V.BRÜCK, 316-321. 103 Für den theoretischen Diskurs ist in der Tat das folgende Argument ziemlich durchschlagend: Auch die Reinkarnationslehre verschiebt den Ursprung von Leid nur 354
3. Die apologetische Literatur orientiert sich zwar eher an populären Fassungen der Reinkarnationslehre, mißt sie aber wiederum an den Ansprüchen der hohen christlichen Theorie. Die Reinkarnationslehre kommt vor allem unter dem Vorzeichen in den Blick, daß sie anderes sagt als das christliche Dogma. Das Problemlösungspotential der Reinkarnationslehre für die Theodizeefrage wird sogleich moralisch disqualifiziert. 104 Wenn aber schon bei der Darstellung faktischer Reinkarnationslehren dann doch entsprechende Verdächtigungen wieder zurückgenommen werden müssen105, dann wird in der Alltagsdiskussion um so weniger der Vorwurf der ,Selbstmächtigkeit' an jene Vertreterin der Reinkarnationslehre, der der Seelsorger beim Hausbesuch begegnet, sinnvolles Argument sein können. Entwickelt w e r d e n müssen neben der K u l t u r des Alltagsgesprächs einschließlich einer Diskussionskultur auch A r g u m e n t e f ü r alltagstheologische Diskussionen. Dabei scheint das ja auch im obigen Beispiel verwendete Verweisen auf andere subjektive Erfahrungen schon besser ausgearbeitet zu sein als die Entfaltung alltagsrationaler Argumentationsschemata. In letztere Richtung geht im obigen Beispiel die Frage, was denn die Reinkarnationslehre nütze, w e n n ich doch nicht wisse, was ich im letzten Leben falsch gemacht habe. 106 Ein anderes typisch alltagsrationales A r g u m e n t
zeitlich immer auf ein früheres Leben; mit dem ingressus ad infinitum kann auch sie die Frage nach dem Ursprung von Leid nicht lösen (vgl. V.BRÜCK, 3 1 9 , der auf John Hick verweist). Die Reinkarnationslehre kann also das Theodizeeproblem, das sie auf den ersten Blick so elegant zu bewältigen scheint, doch nicht formallogisch befriedigend bearbeiten. Aber im Alltag besteht das Interesse ja vor allem darin, ein konkretes Leiden zu erklären, weniger die Erklärbarkeit an sich zu sichern. Für die Zwecke der Alltagslogik reicht deshalb die Theodizee der Reinkarnationslehre aus. 104 Neben anderen viel ausführlicher diskutierten Aspekten für die Reinkarnationslehre erscheint dann auch noch das „Bedürfnis nach Kontingenzbewältigung..., das heißt nach Einordnung des Unberechenbaren und Unvorhersehbaren in einsehbare Gesetzmäßigkeiten. Solch eine Einordnung läßt den Menschen weniger als ohnmächtigen Spielball überlegener Mächte, sondern als Herrn des eigenen Schicksals erscheinen" (R.HUMMEL, R e i n k a r n a t i o n , 1988; 33).
105 Bei HÜMMELS Darstellung der westlich-neuzeitlichen populären Reinkarnationslehre nach Alan Kardec heißt es: „Die Sehnsucht nach gerechter Vergeltung kommt zu ihrem Recht, wird aber durch die Forderung der Nächstenliebe ... in Grenzen gehalten. Armut, Elend und Krankheit lassen sich leichter ertragen im Glauben, daß sie dem Abtragen karmischer Lasten und der Läuterung auf dem Weg in eine bessere Welt dienen. Und schließlich ist die Aussicht, daß jeder Fehltritt gesühnt werden muß, ein kräftiger Antrieb zu moralischem Handeln" (84). Ja, selbst hinsichtlich des Vorwurfs des ,,promethische[n] Selbstbewußtsein[s]" wird zusammenfassend von HUMMEL gesagt: „Einschränkend muß freilich hinzugefügt werden, daß der Karma-Glaube, auch in seiner modernen Gestalt, der menschlichen Selbstherrlichkeit, jedenfalls für die gegenwärtige Zeit, Grenzen setzt und Ohnmachtserfahrungen deuten hilft" (101). 106 Nicht in der alltagspragmatischen Fassung, sondern seiner theoretischen Relevanz begegnet das Argument auch bei V.BRÜCK (333f.). 355
gegen die Reinkarnationslehre nannte mir eine Pfarrerin. Bei Diskussionen habe sich immer als durchschlagender Satz die Aussage bewährt: „Ich möchte nicht als Schwein wiedergeboren werden." 107 Der Ausspruch legt offen, daß eine Lehre der Verbesserung durch moralische Bewährung ebenso die Verschlechterung einkalkulieren muß; er appelliert an das Bedürfnis nach liebender Gottesbeziehung anstelle mechanistischem Karma. Das Argument widerlegt natürlich nicht die Reinkarnationslehre als solche, schon gar nicht deren hohe theoretische Versionen, es fordert aber vom Gegenüber im Alltagsdiskurs Modifikationen heraus. Je mehr die Pfarrerinnen und Pfarrer sich auf die Alltagsdiskussion mit Heterodoxie einlassen, desto größer wird die Kompetenz darin werden, auch unter den Bedingungen des Alltags offensiv und populär die kirchliche Lehre zu vertreten. Das schließt aber ein, daß diese sich dabei auch verändert. Die Entfaltung einer Alltagstheologie steht erst am Anfang, nicht so sehr praktisch, als ob diese noch nirgendwo geübt werde, aber theoretisch beginnt erst deren Wahrnehmung und Aufarbeitung.
„und ich sach mir dann immer wieder isch kann _ wie kann ich annerscht zeige das ich Christ bin denne Mc^fchriste" (Frau Diehl, D l : 592-594)
6.3.4. Kirchliche Laienidentität bewähren Frau Diehl ist kirchlich sozialisiert. Sie spricht das von sich aus an: „mei Vadder is ach im Presbyterium" (392) und: „ich komm komm eigentlich aus m sehr christlichen Elternhaus" (196f.), „das muß ich immer wieder sage" (199). Ihre Kirchlichkeit war zunächst unhinterfragt: „also man tut des _ ä Sache die ich erseht vielleicht wie ich ma verheirat war und so bissl sagn wir mal jetzt in Anführungszeichen naus in die Welt komme bin, mir Gedanke gemacht ä gehabt, dahem war des selbstverständlich" (407. 409411. 413f.). Erklärungsbedarf ergibt sich für sie aus der Begegnung mit anderen Menschen, die nicht so kirchlich sind wie sie: „wie zum Beispiel jetzt des beschäfticht mich schon seit am Sonntag der Hans Grau" (416418). Man saß zusammen in größerer Runde, ein Biologe war auch dabei, und redete davon, daß technisch aus allem Möglichen Wein gemacht werden kann, „und hat de der Hans Grau gsagt ,tja unsern große' was weß ich ,Prophet Jesus hat ja ja ach aus Wasser Wei gemacht er hat das ja a gewißt, und dem henn s'es net verböte' net und dann so_ mich tut des dann immer so_ ich kann des gar net sage wie mich des berührt" (435-437. 439-441). Die Laiin fragt sich: Muß solch spaßiger Vergleich des Weinwunders zu
107 Gespräch mit Regine Sabrowski aus Eutin am 23.8.93.
356
Kana mit der modernen Alkoholgewinnung nicht negativ bewertet werden? 443
D1 'S
448
jD1 S r D1
453 454 455
S D1 S
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D1
464 465
r LS D1 S
ich ich ich weß es net wie'i des jetzt ausdrücke soll denk ich. hat mer des Recht eigentlich des zu sage odder so gell? also Ihne fallt dann von ganz tief inne so des zweite Gebot ein wieder. ja „ du sollst den Namen deines Herrn nicht mißbrauchen" ja ich find des ich find des a ganz einfach als, so wie er des gebrocht hat als Lästerung. nja? ja also ich hab da e weiteres Herz [lachend:]ich+weiß au net, oder e niedrigere Hemmschwelle, [3] isch des is irgendwie ich st_ ich persönlich de tat mir dann halt gar net do ä _ gut ich hab ich da weß des ja ach anders aus Wasser Wei gemacht worde ischt aber daß ich des so ins Lächerliche tät des würd isch net mache m da bin ich zu ehrfürchtich. hm
Was die Laiin zunächst als diffuses Unbehagen erlebt („ich weß es net wie'i des jetzt ausdrücke soll"; 443) und dann als Frage der Berechtigung zu solcher Rede anspricht, wird vom Pfarrer als Normenkonflikt mit dem zweiten Gebot geklärt. Frau Diehl stimmt dem zu. Ihr ist dies eine „Lästerung" (452). Der Pfarrer reagiert erstaunt („nja?"; 453), woraufhin die Besuchte ihre Aussage noch einmal bestätigt: „ja" (454). Der Pfarrer begründet seine andere Haltung subjektiv („weiteres Herz", „niedrigere Hemmschwelle") und schränkt auch diese Deutung noch weiter ein: „ich weiß au net" (455f.). Frau Diehl versucht daraufhin noch einmal, ihre Wahrnehmung zu formulieren. Nicht der Gehalt der Aussage ist es, den sie als so problematisch empfindet, sondern das, was sie als deren Funktion wahrnimmt, nämlich Heiterkeit zu erzeugen: „daß ich des so ins Lächerliche tät des würd isch net mache" (460-462). Sie bleibt dabei, daß für sie selbst ein solches Verhalten keine Handlungsoption ist, und begründet das mit einem Verweis auf einen moralisch-religiösen Charakterzug: „da bin ich zu ehrfürchtich" (464). Der Pfarrer stellt dann auch noch einmal Frau Diehls Wahrnehmung der Funktion jener Rede in Frage: „ich weß nit meen er hots werklich (in dem Sinn erzählt)?" (466f.). Die Laiin bleibt dabei: „ha ja" (468), verschiebt aber dann das Thema auf die Person dessen, der jene Rede führte. Der Pfarrer assistiert dabei: 357
471
rD1 S
der isch zwar jetzt evangelisch aber is zwar in unser Kersch nei neigeritscht
Die Motive für die offensichtlich erst vor einer Weile erworbene Kirchenmitgliedschaft des ,Lästerers' sind für beide Gesprächsteilnehmer unklar (Pfarrer: „und warum isser beigetrete"; 479; Besuchte: „ja des weß ich net"; 481). Die Besuchte bewegt die Frage, wie gerade gewählte Kirchenmitgliedschaft und Lästerung zu bewerten sind: „ich tu mir do sehr viel Gedanke machen" (488), der Seelsorger hingegen sagt: „also ich bin nit wählerisch" (483). Er entfaltet seine Haltung zu den Konversionen und Wiedereintritten, indem er sich mit anderen Pfarrern vergleicht: „da gibts Kolleche die mache do erschtmol eine Unterweisung ne und wollen e Gespräch führe und machen so bissl Gewissenserkundung, [2] und ich denk mir machmal is des jetzt so e ( ) bei dir bei dir müssen sie bloß unterschreibe und gebscht ihn'e Handschlag und ( ) mit denen und sachscht ,mei jetzt sind die wieder bei uns drin'" (497-503. 505f.). Für sein von einer anderen in der Kirche praktizierten Möglichkeit abweichendes praktisches Handeln nennt der Pfarrer Gründe: „uff de anner Seit frog ich mich wer es nich ügerecht wenn ma jetzt bei denne Leut die jetzt eintreten ne, plötzlich so η hohen Maßstab errischt" (508-510). Er verlange vom Rest seiner Gemeindeglieder diesen Maßstab ja auch nicht. Bei seinen Konfirmanden dieses Jahrgangs habe er aber ein „ganz beschissenes Gefühl" (518): „die warn nicht dabei und ich hab's mit allen Mitteln probiert die mir zu Verfügung standen" (524-526), „ich hab bei denne nix erreischt!" (529). Die Laiin pflichtet ihm in bezug auf die Konfirmanden bei: „sehr schwer" (528), „sehr sehr schwer" (530). Obwohl der Pfarrer im konkreten Fall der .Lästerung' ein milderes Urteil hat, sieht er sich doch im gleichen Dilemma wie die Laiin, wie ernst er die Kirchenmitgliedschaft nehmen soll. Frau Diehl erwähnt nun einen anderen Pfarrer, der die Grenzen zu hoch aufrichtet. Gewährsperson für diese Einschätzung ist ihre Mutter: 535
D1
540
^S D1 r l
550
S rD1 L S D1 ^S rD1 L S D1
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S
544 546 548
358
mei mei Mudder isch also mei Mudder isch a sehr fromme Fra aber ach eine sehr sogar derre is es zuviel. = sehr gütiche Fra also die isch wirklich ich sach immer wann jemand des Christetum richtich verkörpert isch des mei Mudder, hm also net weil's mei Mudder is sondern weil hm se _ se isch wir_ sach ach unser {Name} ach hm ( ) nit so viele die da davon wisse will hm leider, und sacht aso „ die Omi verkörpert des wirklisch" und die sach halt a er macht das zu ( ), hm
Was ganz genau der Vorwurf ist, läßt sich aufgrund der unverständlichen Teile der Aufnahme und einer eventuellen Geste (551) nicht sicher sagen. Man beachte, wie wichtig die Mutter als christliches Vorbild (der ganzen Familie) ist. Daß sie den möglichen Einwand, diese Aussage sei durch die Verwandtschaftsbeziehung bedingt, vorsorglich ablehnt, bestätigt nur den für Frau Diehl universalisierbaren Vorbildcharakter der Frömmigkeit der Mutter. Dann schildert sie ein Beispiel für die Einstellung jenes Pfarrers. Als ihre Familie sich dazu gemeldet hatte, ein Kind aus Tschernobyl aufzunehmen, habe das Kind des Pfarrers zu ihrem Mann gesagt: „so was würd ich ach mache ne, aber: und sein Papa hot nix übrich für Rußland weil ken Christe sind" (556f. 559f.). Von dem Inhalt dieser Erzählung distanzieren sich beide Gesprächspartner vorsichtig. Der Seelsorger reagiert darauf mit einem relativ wertungsoffenen langgezogenen „aaah" (562), das gleichwohl das außerordentlich Ungewöhnliche solcher Argumentation jenes Pfarrers anzeigt. Die Besuchte erklärt sich zunächst für nicht kompetent im Urteil: „ich weß es nit ob des richtich isch, ich kann mer so wie gesacht nicht immer do dann ken Urteil erlaube" (563-566), „aber ich zumindest ich weß es nit" (567). Es werden Vorbehalte ausführlich demonstriert, einem Pfarrer in seiner Beurteilung zu widersprechen. Das gehört sich offensichtlich nicht, obwohl der Redegang einschließlich des Berichts über das Urteil, das die vorbildlich christliche Mutter schon gefällt hat, bereits klargestellt hat, daß ein Urteil beabsichtigt ist. Dann aber wird der Widerspruch der Laiin auch argumentativ: „sind doch ach unsre Nächste, was die getan habn einmal °( )°" (569f.). Die Frage der Hilfe für andere kann nicht mit der Frage nach dem Christsein von Menschen gleichgesetzt werden. Die Hilfe für Kinder aus Tschernobyl gehört - so lautet das theologische Urteil der Laiin - unter die Rubrik der gebotenen Nächstenliebe. Ist aber die Nächstenliebe christliches Gebot, dann wird die Frage der Gotteskindschaft komplizierter. Die Konzentration auf ein exklusives Christentum bei jenem Pfarrer ist deshalb überhaupt problematisch: „er ä tut des dann betonenen ,meine (Christen)'"(572). Frau Diehl legt die Konsequenz solcher These offen: „sind gar nit Gottes Brüder oder Jesus Brüder wann die nix glaube" (574f.). Der Pfarrer unterstützt dieses Urteil und ordnet es in einen weiteren Zusammenhang ein: 576
S
580
. Ό1 S
aso erschtens emal is das ja schwierisch von hier aus feschtzu_ festzuschtelle wer Christ ist und wer nicht ist. genau also unabhängich von der Diskussion ob unsere Liebestätichkeit ne nit über die religiöse Schranke hinweg reichen sollte w o ich men ja!
359
583
jD1 S
587
jD1 S
ich men ach ja.
ja aber unabhängich mal do davo find ich des e A n m a ß u n g zu behaupten me (Kirsche) wer ken Christen. nja, und ich sag immer aber ich kenn so Einstellung auch bei de Kindertaufe, auch habn se Angst vor de Kindertaufe,
Der professionelle Theologe unterscheidet die beiden von der Laiin aneinandergereihten Komplexe explizit. Die Frage nach der Hilfe an die Kinder von Tschernobyl gehört in die „Diskussion ob unsere Liebestätichkeit ne nit über die religiösen Schranken hinweg reichen sollte" (580-582). Hier sei seine Meinung ein Ja; dem schließt sich die Laiin sofort an. Die zweite Frage benennt der Seelsorger nicht mehr als Diskussionsthema, sondern er verhält sich gleich dazu wertend: es sei eine „Anmaßung" (585) zu behaupten, in der Kirche bzw. in seiner Kirche seien keine Christen; er kenne das Problem auch von der Frage, ob Kinder überhaupt getauft werden wollen. Solch eine Einstellung zur Kindertaufe scheint der Laiin völlig abwegig: „nene nein gar nicht" (591).108 Sie startet vielmehr nach einem ersten Versuch (587) den zweiten, um auszudrücken, wie sie ihr Christsein gegenüber den Nichtchristen versteht: 592
D1
595 596
S jD1 S D1
598
602 604
,D1 S DI
und ich sach mir dann immer wieder: isch kann _ w i e kann ich annerscht zeige das ich Christ bin denne Nichtchriste. hm indem ich ä ihnen mit Liebe begegne und und hm des sache daß die sache hör mal an derre isch was anneres, do muß was sei w o w o irgendwas _ ne? das muß was dahinner sei. U n d ich _ grad die w o net glaube denne mit mit H a ß mit Zorn mit mit abweisenden ( ) oder mit Arroganz ach und was isch des dann an ( )
In ihrer kirchlichen Sozialisation versteht sich diese Laiin wie selbstverständlich aus einer Differenz zu stärker säkularisierten Menschen in der Gesellschaft, die ihr als Nichtchristen gelten. Insoweit mag sie auch der Perspektive des exklusiv argumentierenden Pfarrers zustimmen. Doch für die Art und Weise der Begegnung mit den Nichtchristen entwirft sie ein anderes Programm - das des vorbildlichen Christen. Die Qualität seiner Nächstenliebe weckt bei den anderen die Aufmerksamkeit für seine Christ108 Eventuell versteht sie die Aussage auch fälschlicherweise als Frage, ob sie selbst solch eine Einstellung zur Kindertaufe habe.
360
lichkeit.109 Bei „Haß" oder „Zorn" (601) oder - wie der Seelsorger ergänzt „Arroganz" gegenüber den Ungläubigen würde sich der Christ selbst widersprechen. So formuliert die Laiin ein kleines theologisches Programm christlicher Identität im Umgang mit solchen Menschen, die diese christliche Identität nicht haben: Nächstenliebe statt Aggression weisen auf das Christliche am besten hin. Sofort an diese Formulierung anschließend geht sie auf einen weiteren Fall der Frage nach dem Christsein über: 604
607
D1 r L S D1
609
S
und und daher weil wir jetzt mal grad schon hm dabei sind, darum isch der Jens aus der Kerche ausgetreten. hm
Die dann folgende Diskussion über Motive des Kirchaustritts jener Person (ein naher Verwandter?), aber auch anderer und über die Bewertung von Kirchenaustritten setzt wohl zwischen den Gesprächsteilnehmern gemeinsam bekannte Informationen voraus. Deshalb und noch mehr wegen der lückenhaften Transkription aufgrund schlechter Aufnahmequalität ist es kaum möglich, die Details nachzuvollziehen. Die Laiin teilt Vorwürfe wohl jenes Ausgetretenen namens Jens über die Kirche mit: „katholisch evangelisch alles gleich ne? sagt er 'daß du da nich ( ) Kerch, die henn bloß über die Leut zu läschtre und und Leut auszumache" (619). Kirchenkritik äußert sich als Nivellierung der konfessionellen Unterschiede und moralisches Urteil über die Mitglieder. Die Laiin bemüht sich trotzdem, auf einen Wiedereintritt hinzuwirken: „und ich versuch's ganz langsam, so ab und zu mu_ tu ich dann" (625). Dabei scheinen die Argumente der Teilnahme an den Kasualien und der dörflichen Kohäsion eine Rolle zu spielen: „sag ich als zu ihm so_ soll er auswannern, der Leich der wolln heiratn oder wann er Kinner kriegt und die? ne?" (627-629). Er habe auch geäußert: „aja isch ja nit gesacht daß ich net wieder in die Kerch eintrett" (632). Das sei „no schun e ganz anerrer Satz" (634. 636). Der Pfarrer setzt darauf seine Erfahrung dagegen: „obwohl ich will nit _ ich hab hier Verständnis ann mir jemand so was zum Beischpiel erzähle kann ne und das ernscht meint" (639-641). Es sieht so aus, als sind in dem konkreten Fall Konflikte mit der Kirche oder Kirchenmitgliedern dem Austritt vorausgegangen (Pfarrer 624; „verletzend das"). Allerdings seien solche Geschichten auch nicht immer ganz ernst zu nehmen, manches sei auch „irgendwo kalter Kaffee" (645). Anders sieht er die folgende Konstellation: „aber: erschreckend find ich die Kaltblütischkeit wenn dann die Leut austreten und dann so selbstverständlich sagen ,aja ( )'. das will 109
Vgl. Mt 7,16-20.
361
mir nit irgendwo in den Kopf" (647-651). Die Laiin trägt dazu bei, was sie „auch irgenwo gehört" habe: „,und da bezahl ich a Haufe Kerchensteuer bei ebbes wo ich überhaupt net hab, im Gegetel: ich wer no ausgemacht, i c h _ daß die mo gesacht wie sieht η aus Herr Kleiber wir helfen eucha mol oder kennte mer wohl was helfe'" (654-658). Kirchensteuer einerseits und mangelnde Solidarität andererseits - das ist der Vorwurf, dem sich die kirchliche Laiin gegenüber sieht. Letzteren Vorwurf versucht der Pfarrer zu entkräften: 659
S
663
D1
666 667
^S D1 S
671
r D1
obwohl er so Hilfe kriechte ä wann er sie beantracht hett zum Beispiel ja wer er mal aufs Diakonische Werk gangen wir hätten niemand nausgeschmisse. ja aber es isch doch so, ich hab mich doch selbst schon odder wenn er zu mir komme wär oder ach ja ich unterstelle nur zu meine Vorgänger, und hätt ihm _ und hätt denne sei Leid geklacht glaub isch schon daß keiner ihn nausgeschmisse hätt. aja gut aber vielleicht: ob des uff die Dauer dann Hilfe gewese wär,
Soziale Hilfe sei in der Kirche immer möglich, betont der Pfarrer. Die Laiin sieht das nicht ganz so. De facto sei doch nicht Hilfe da oder sie reiche dann nicht aus. Der Pfarrer berichtet über sich selbst („ich persönlich hab jetzt zum Beispiel"; 676) von einer Hilfsaktion (Inhalt ist nicht verständlich), die auch mit „sei Schwester" (677), also der Schwester jenes Mannes, zu tun habe. Daraufhin geht das Gespräch in eine Unterhaltung über die gesamte Familie über. Die Laiin bringt ein, daß deren Mutter jetzt gestorben sei und daß nun auch die Geschwister ausbezahlt werden müßten (692ff.). U m die Prinzipien des Christseins unter den drei Faktoren familiäre Christlichkeit, hohe Kirchlichkeit und Kirchenkritik geht es in diesem Gespräch. Frau Diehl unternimmt den Versuch, ihre eigene kirchliche Identität zu finden. Es gelingt der Laiin unter Mitarbeit des Seelsorgers, selber für sich ihr Glaubenbekenntnis zu formulieren: Nächstenliebe aus christlicher Motivation, die für die anderen erkennbar ist. Innen- und Außenbereiche christlicher Existenz lassen sich so einander zuordnen. Wie bei Therapie die Selbsttherapie (vgl. 5.3.2.a), so gibt es bei den verkündigenden Gesprächsfiguren den Fall von Selbstverkündigung: Selbstvergewisserung im Unverzichtbaren des Christlichen trotz der Vorwürfe, eine Selbstvergewisserung, die der Zuwendung zur Welt dient. Dies ergibt sich hier mit Hilfe der großen Sprach- und Traditionsvertrautheit der Laiin. Ihre Lösung genügt nicht dem Anspruch christlicher Lehrdogmatik, sie stellt vielmehr deren vereinfachte laientheologische Version dar, die offen ist 362
gegenüber der ethisch geprägten Definition des Christlichen durch die Mehrheit der Kirchenmitglieder.110
„ich werde Sie beerdigen Frau {C2}" (Pfarrer, C2:1005)
6.3.5. Volkskirchlich handeln In den bislang bearbeiteten Verkündigungs-Gesprächsfiguren waren immer - wenn auch oft nur kurze - theologische Reflexionsgänge auszumachen. Laientheologie bzw. Alltagstheologie begegnete uns zumeist als funktional auf die alltägliche Situation bezogen, aber doch als eigener Schritt ihr gegenüber. Im folgenden Beispiel aus unserem exemplarischen Gespräch mit Frau Cordes ist solch eine Differenzierung zwischen reflexiven theologisierenden und agierenden Aussagen nicht mehr möglich. 1003
C2
1005 1006 1007 1008 1009
S C2 S C2
1013
rs C2 r [S [S C2
[2]
wenn mir mal was passieren sollte 11.51 dann werden Sie amal eine Ansprache halten eine kleine. ich werde Sie beerdigen Frau (C2). gell Sie machen das. ja. und man muß in meinem Alter daran denken. aber sicher des muß man auch in meinem Alter des kann ma einfach nit so wegschieben. in jedem Alter. gell, ja
Frau Cordes wendet sich direkt an ihr Gegenüber und nimmt es als einen, der als Pfarrer handelt, in Anspruch. Der Pfarrer soll als Pfarrer etwas tun. Bedingung dieses Inanspruchnehmens ist ein bestimmter Punkt ihrer Biographie, das Einbrechen eines kontingenten Ereignisses: „wenn mir mal was passieren sollte" (1003). Dieses Ereignis erscheint in der Formulierung als nicht berechenbar, ja nicht einmal unausweichlich, aber doch als eine denkbare, wenn auch zur Zeit nicht wahrscheinliche Möglichkeit („sollte"). Daß es sich dabei um den Tod handelt, wird nicht ausgesprochen. Unklar ist das Eintreffen des Todes, und ebenso unklar wird von ihm in
110 Nach den empirischen Befragungen versteht die Mehrheit der Kirchenmitglieder das Christentum als den Ort, wo es um „die unabdingbaren Grundsätze, christliche Moral und Sitte" geht; zugleich wird aber eine sich in den Einzelergebnissen eindeutig manifestierende „Verselbständigung gegenüber vorgegebenen, engen Normen und institutionellen Anforderungen" in Anspruch genommen (HANSELMANN/ HILD/ LOHSE, 92).
363
diesem Vordersatz der Besuchten geredet, seine Unausweichlichkeit umspielt. Dem kontrastiert der klare Nachsatz: „dann werden Sie amal eine Ansprache halten eine kleine" (1003f.). Ein Ereignis „Ansprache" wird sich in der Zukunft ereignen. „Ansprache" aber setzt einen Todesfall voraus. Die Kontinuität zwischen dem Jetzt und jenem Todesfall liegt in dem Pfarrer. Er, der jetzt mit ihr redet, wird auch dann reden. Er wird so reden, wie es sich bei solchen Anlässen gehört: „eine Ansprache halten eine kleine". Der Kontingenz des Todes tritt das Ritual gegenüber. So ungeordnet und unberechenbar der Tod auch ist, so geordnet und berechenbar wird das andere sein: eine kirchliche Beerdigung. Dabei zielt nun die Perspektive der Besuchten auf den rituellen Vollzug in einer spezifischen Weise. Nicht der Ablauf einer formalisierten Handlung allein ist im Blick, sondern innerhalb dieses Ablaufs interessiert jener Teil, der die Formalität des Rituals mit der Subjektivität und Einzigartigkeit des spezifischen Kasus verbindet. Bei der „Ansprache" ist zu erwarten, daß nicht allein der Tod allgemein zum Ausdruck gebracht wird, sondern der Tod dieser einen bestimmten Person. Damit der Tod dieser einen bestimmten Person bestmöglich zum Ausdruck gebracht wird, ist es aber nicht egal, wer dann reden wird. Erst daß nicht Kirche an sich, sondern Kirche in Gestalt dieses Pfarrers reden wird, erfüllt die Erwartungen der Frau. Die Kontingenzbewältigung geschieht hier also durch ein personalisiertes Muster. Wir sehen hier, wie die ritualisierte und die personalisierte Seite volkskirchlichen Teilnahmeverhaltens zusammengehören.111 Was hier vorliegt, ist zunächst nichts anderes als alltagstypische Handlungsplanung. Für den Fall der Fälle wird vorgesorgt - auch in religiösen Dingen. In der Art der Vorsorge aber verwirklicht sich eine bestimmte Logik. Und diese Logik des personalisierten Rituals ist nun keineswegs auf das volkskirchliche Teilnahmeverhalten beschränkt. Die Pfarrerbindung gilt ähnlich auch für die Kirchentreuen, und noch mehr: Personalisierung der Glaubensbeziehung ist ein Charakterzug christlicher Religion, der bei der Historisierung der Religion im Judentum beginnt, über die Personalisierung der Heilsvermittlung in der Christologie sich fortsetzt und in der neuzeitlichen Privatisierung des Gottesverhältnisses weiter verschärft wird. Die Logik des alltagstypischen Umgangs mit Kirche bei dieser Frau ist eine durchaus theologische Logik. Sie umfaßt aber nicht das Ganze: Für welche Inhalte der Pfarrer steht, bleibt unbestimmt, doch die Laiin richtet ihre Handlungserwartung an das institutionell verwaltete Christentum, also an die Kirche. Der Pfarrer geht auf die Handlungsvorsorge der Laiin und deren Logik
111 Vgl. W.STECK, Transformation der Sinnlichkeit: Die Bedeutung der rituellen Erfahrung für die neuzeitliche Frömmigkeit, 1987a, 262-280.
364
ein: „ich werde sie beerdigen Frau { C 2 } " (1005). Er spricht die gemeinte rituelle Handlung direkt aus und vereindeutigt damit auch den Kontingenzfall, der sie nötig macht: „beerdigen". Darüber hinaus folgt er der Personalisierung des Rituals. Nicht einfach eine Beerdigung an sich sagt er zu, sondern daß er selbst es sein wird, der das Ritual veranstaltet. Diese Dimension der Antwort ist es denn auch, derer sich die Besuchte noch einmal versichert: „gelLSie machen das" (1006). Die Antwort des Pfarrers lautet: „ja" (1007). Damit gibt der Pfarrer freilich eine Versicherung, die über das hinausgeht, was alltagsgemäß mit Sicherheit gesagt werden kann. W e r weiß denn, ob er zum Zeitpunkt des Todes der Besuchten nicht zufällig im Urlaub sein wird oder anders dringend verhindert, ob er dann noch in der Gemeinde sein wird? Dadurch, daß diese Fälle ausgeblendet werden, bekommt seine Versicherung eine andere als nur die Alltagsfunktion. Sie proklamiert die Verläßlichkeit selbst für den Todesfall. Sie symbolisiert das andere, das bleibt. Genauer: er, dieser eine Pfarrer, symbolisiert für diese Besuchte das andere, das bleibt. Angesichts der symbolischen Präsenz der Verläßlichkeit kann nun die Besuchte beginnen, den Kontingenzcharakter ihres Lebens zu reflektieren: „man muß in meinem Alter daran denken" (1008). Die Vergänglichkeit ihres Lebens wird thematisch und der Pfarrer erweitert das um den Blick auf die Vergänglichkeit des Lebens überhaupt: „auch in meinem Alter" (1009), „in jedem Alter" (1012). Verallgemeinernd interpretiere ich: Das personalisierte Symbol als Beantwortung alltagsweltlicher Sorge löst Transzendenzbewußtsein aus. O b es dies immer tut, ob es die Artikulation von Transzendenzbewußtsein erleichtert oder gar in bestimmten Hinsichten erst ermöglicht, das muß offen bleiben. In diesem Fall wenigstens schließt es sich an die Realisierung des personalisierten Symbols an. N u n schafft aber die Bearbeitung von Alltagsproblemen durch symbolische Repräsentation auch Schwierigkeiten. Alltag und Symbol verhalten sich nach anderen Regeln. Das bedeutet in unserem Fall: Die Sicherheit des personalisierten Symbols ist de facto nicht gegeben. Das spricht der Pfarrer denn auch an. Nachdem das Gespräch sich zur Besprechung des Gesundheitszustandes der Frau verwandelt hatte und dann sich eine kurze handlungsbegleitende Passage über das Nachschenken von Getränken ergeben hatte, sagt der Pfarrer: 1048
S
1052 C2 1053 rS C2
aber gell Frau {C2) das müssens scho auch bedenken, wenn i des jetzt dazu sagen darf: ich bin jetzt {Zahl} Jahr an der (N-)kirch und dann geh ich in Ruhestand, da bin ich {Zahlt bitte gell, ja da muß ich mich ja schicken! jah [Klatschen auf Beine] [lautes Lachen] [lautes Lachen] [2]
365
Alltagspragmatisch ist die symbolische Versicherung nicht gegeben, darauf macht der Pfarrer sein Gegenüber nun aufmerksam. Wenn auch das Symbolische stimmt, es muß doch ebenso noch jenes andere Alltagspragmatische - wie der Pfarrer es formuliert - „dazu" (1049) gesagt werden. Wie reagiert nun die Besuchte auf diese Differenz von symbolischer Ebene und Alltagsebene? Sie wählt eine Möglichkeit, in der weder die eine noch die andere Ebene negiert wird - die humorvolle Absurdität: „ja da muß ich mich ja schicken!" (1052). Daß die Besuchte sich mit dem Sterben beeilt, um garantiert von diesem Pfarrer auch beerdigt zu werden, ist eine Möglichkeit, die nicht ernsthaft ins Kalkül gezogen werden kann. Aber indem sie als ,beste', obwohl absurde Möglichkeit erscheint, wird zum Ausdruck gebracht: Sterben und dessen personal-kirchliche Bearbeitung gehören für die Laiin zusammen, Alltagssorge um die Zukunft ist bezogen auf die Versicherung, die in dem kirchlichen Akt steckt - in seiner personalisierten Form. Der unlogische Satz über die unlogische Möglichkeit, sich mit dem Sterben zu beeilen, bewahrt die theologische Logik des in alltagstypischer Weise geäußerten Anliegens, von diesem Pfarrer beerdigt zu werden als symbolische Verwirklichung der transzendenten Kontinuität Gottes. Der unlogische Humor ist in diesem Sinne am logischsten. Das gemeinsame Lachen markiert die überraschende, ungehörige und deshalb auch lustige Aussage. Beide akzeptieren diese Aussage damit als eine adäquate Lösung - nicht als adäquate Lösung der Frage, wer beerdigen wird, aber als adäquate Lösung der gesprächsweise diese Frage bearbeitenden Situation, als eine adäquate Lösung für die jetzige Phase des Gesprächs. Verkündigung kommt in diesem Fall ganz ohne spezifisch reflexive Aussagen aus. Sie ist aber dennoch mehr als eine liebevolle Atmosphäre. Sie besteht in der alltagssprachlichen Versicherung, die symbolischen Charakter bekommt; sie verwirklicht sich im Situationshumor. Wenn Alltagstheologie und Laientheologie sprachlich in Seelsorgegesprächen nicht präsent sind, so können sie dennoch in der Logik des Alltagsgesprächs vorhanden sein. Das, was alltagstheologische Reflexion leisten soll, läßt sich auch mit den Mitteln dieses Alltagsgesprächs sinnvoll erreichen, solange Selbstverständlichkeit besteht. Ist dies nicht mehr der Fall, dann werden Reflexionen nötig. Auf der Seite der Laien liegt häufiger Selbstverständlichkeit des Alltags vor als bei den Professionellen. Wenn die Perspektive der Theologen der alltäglichen Selbstverständlichkeit der Laien widerspricht, dann bedarf es der Reflexion, nicht nur, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Es bedarf der Reflexion der Widerspruchssituation als solcher, der Reflexion über die Selbstverständlichkeit der Laien; es bedarf also einer erneuerten Theorie. Ebenso nötig ist die Übung, mitsamt der Reflexion zu einem neuen Handeln zu finden, das sich selbstverständlicher auf die Selbstverständlichkeit der Laien bezieht. Die alltäglichen Vollzüge pastoralen Handelns brauchen die Aufmerksamkeit der Theorie und Praxis.
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DRITTER TEIL
Ergebnisse und Konsequenzen
KAPITEL 7
Seelsorgetheorie und Seelsorgepraxis ... praktische Theologie ist nicht die Praxis, sondern die Theorie der Praxis." 1
Praktische Theologie hat es mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis zu tun. Dies kann sehr unterschiedlich bestimmt werden. Über alle der vier grammatikalisch sich ergebenden Beziehungsverhältnisse sollte Praktische Theologie sich Rechenschaft ablegen: Theorie der Theorie, Theorie der Praxis, Praxis der Theorie, Praxis der Praxis. 2 Gerade bei der Beschreibung von Konsequenzen und Ergebnissen ist die Versuchung groß, die Verhältnisbeziehung von der Theorie zur Praxis unreflektiert direkt auszulegen, so daß die Theorie die praktische Verwirklichung ihres theoretischen Konstrukts fordert. So stilisiert mögen die Ergebnisse der Theorie dann auf den ersten Blick besonders imposant und die Konsequenzen extrem weitreichend, weil besonders praktisch, erscheinen. Auf den zweiten Blick wird es dann aber um so mühsamer abzuschätzen, was mit einer wissenschaftlichen Arbeit für Theorie und Praxis wirklich neu erreicht worden ist: Wurde die Forderung nach Änderung wirklich erst durch die Arbeit entdeckt, oder bestand sie doch schon vor deren Beginn? Ist ersteres der Fall, wie soll sich dann aus dem wissenschaftlich erkannten Sein das Sollen ergeben? Ist letzteres der Fall, inwiefern ist dann das wissenschaftliche Arbeiten mehr als nachträgliche Legitimation einer praktisch schon festgelegten Option? Sind derlei Zusammenhänge unabgeklärt, dann erschwert dies, daß andere Arbeiten auf die Ergebnisse aufbauen, sie modifizieren und korrigieren können. Wissenschaftliche Arbeit sollte sich aber gerade dadurch auszeichnen, daß sie intersubjektiv verwendbar ist. Darum will ich versuchen,
1 F.SCHLEIERMACHER, Praktische Theologie, 1850; 12. 2 Vgl. dazu W.STECKS Exegese der Theorie-Praxis-Relation bei Schleiermacher (Friedrich Schleiermacher am Reißbrett: „Die Praktische Theologie ist nicht die Praxis, sondern die Theorie", 1992a, 223-249). Stecks Aufsatz impliziert jene vier Verhältnisbestimmungen, ohne daß er sie explizit so nebeneinander stellt. Einerseits geht er über dieses grobe Raster noch hinaus („Theorie der Praxis der Theorie" und „Praxis der Theorie der Praxis"; 228), andererseits verfolgt er vor allem die Intention, die Differenz von Theorie und Praxis herauszuarbeiten.
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möglichst präzise anzugeben, welche Ergebnisse und Konsequenzen sich aus der vorgelegten Analyse für jene angesprochenen vier Bereiche ergeben. Als wissenschaftliche Theorie muß Praktische Theologie nicht nur Theorie betreiben, sondern auch ihre eigenen theoretischen Grundbegriffe kritisch reflektieren und gegebenenfalls revidieren. Eine Theorie der Theorie ist vonnöten. Das bedeutet in unserem Fall: Zu klären ist, welcher Beitrag durch diese Arbeit zu jenem theoretischen Grundbegriff der Praktischen Theologie geleistet wird, der ,Seelsorge' heißt; das schließt auch die Frage ein, mit welchem Vorgehen dieser Grundbegriff überhaupt festgelegt werden sollte (7.1.1.). Im Kreis der theologischen Wissenschaften ist es die besondere Aufgabe der Praktischen Theologie, eine Theorie der gegenwärtigen Christentumspraxis zu erarbeiten. Ergebnisse und Konsequenzen für die Theorie der Praxis zu formulieren - das heißt dann in unserem Falle: Zu klären ist, wie nun präziser die Seelsorgepraxis theoretisch gefaßt werden kann. Das soll so geschehen, daß wir eine Theorie der in seelsorgerlicher Praxis involvierten alltäglichen und professionellen Kompetenzen entwerfen (7.1.2.). Wie jede wissenschaftliche Theorie hat auch Praktische Theologie ihre eigene Wissenschaftspraxis. Auch Theorie bedarf des praktischen Handelns, der Abwägung verschiedener Forschungsmöglichkeiten gegeneinander, der methodischen Durchführung usw. Ergebnisse und Konsequenzen hinsichtlich der Praxis der Theorie zu formulieren - das bedeutet in unserem Fall: Zu klären ist, welche Fragen nach Abschluß der vorgelegten Analyse entstehen oder offenbleiben und welche Forschungsprojekte sich an diese Arbeit sinnvollerweise anschließen könnten und müßten (7.2.1.). Praktische Theologie ist wie jede Wissenschaft Teil der Lebenspraxis von Individuen, die sie betreiben, weil sie sich dafür interessieren; sie geschieht in Institutionen, die Teil der Gesellschaft und der in ihr wirksamen Machtverhältnisse sind. Als Theologie befindet sie sich in stärkerer Weise als andere Wissenschaften im Kontext des Christentums, nämlich im Kontext der kirchlichen Ausprägung des Christentums. Die involvierten Interessen sind offenzulegen. Der Forscher, der die vorliegende Untersuchung erarbeitet hat, steht im kirchlichen Christentum; seine Arbeit soll letztlich auch kirchlichem Christentum zugute kommen. Wird dies offengelegt, so leistet das zweierlei. Die heimliche Regentschaft anderer Systeme als des wissenschaftlichen Systems, die die Wissenschaftlichkeit von Arbeiten, insbesondere von theologischen, bedroht, wird reduziert, weil sie abschätzbar und das heißt kritisierbar und begrenzbar wird. Zum anderen wird aber das, was sich in der Attitüde wissenschaftlicher Interessenfreiheit präsentiert, denjenigen, die zu Recht ein praktisches Interesse an den Ergebnissen der Wissenschaft haben, als eine sie betreffende Angelegenheit vermittelt. Das praktische Interesse für die Praxis, das mit dieser Arbeit verbunden ist, will ich so offenlegen, daß ich mein Interesse an einer 370
Bewährung und Stärkung der evangelischen Option für ein allgemeines Priestertum' artikuliere (7.2.2.).
7.1. Zur Theorie der Seelsorgetheorie und der Seelsorgepraxis die moderne Seelsorge ist nach allen Seiten hin offen, nicht nur nach rechts und links, nach vorn und hinten, sondern auch nach oben und unten. Wollte man hier Grenzen setzen, würde man ihr Gewalt antun."3 7.1.1. Der Begriff der Seelsorge zwischen Verkündigung> Therapie, und Alltag
Diakonie
Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Ergebnissen dieser Arbeit für die gegenwärtige Seelsorgelehre? Kann und darf man wirklich mit einer offenen Seelsorgepraxis auch den Begriff der Seelsorge nach dem Motto dieses Abschnitts, einmal von dem schwer visualisierbaren gewählten Bild abgesehen, in alle Richtungen hin offen halten? Wie soll im Spannungsfeld der Begriffe,Verkündigung',,Therapie',,Diakonie' und .Alltag' ein Begriff der ,Seelsorge' verortet werden? Die jüngste Literatur zum Thema hat mit dieser Arbeit deutliche Gemeinsamkeiten. Fast alle ausgearbeiteteren Darstellungen zur Seelsorge aus den letzten Jahren suchen einen Weg zwischen verkündigender und therapeutischer Seelsorge. In nicht wenigen dokumentiert sich ein gewisses Interesse am Alltag. Unsere Arbeit hat nun gezeigt, wie eine Erfassung von Alltagsseelsorge doch, wenn auch kritisch, auf die Perspektiven der verkündigenden und der therapeutischen Seelsorge zurückgreifen konnte. So erscheint es auch angemessen, bei der Diskussion der gegenwärtigen Theorieentwürfe die Beziehung auf diese beiden Theorietraditionen sich nutzbar zu machen. Dabei wird sich auch einiges von der Problematik, die jene herkömmlichen Theorien enthielten, in den gegenwärtigen Entwürfen wiederfinden. a) Seelsorge als Verkündigung - dieses Programm schien Seelsorge zu vereindeutigen, weil es im Begriff der Verkündigung die Praxis des Predigens totalisierte. Alles pastorale Handeln, eben auch die Seelsorge, ließ sich als Verkündigung begreifen. De facto aber wurde durch diese Totalisierung die Seelsorgepraxis nur noch partikulär erfaßt. Der Preis für die theologische Totalisierung war ein Ausschluß nicht-verkündigender Elemente in der Seelsorgepraxis aus der Theorie der Seelsorge (vgl. 1.2.3.b).
11.
3 H.WULF, Wege zur Seelsorge. Theorie und Praxis einer offenen Disziplin, 1970;
371
Christian Möllers Fassung der Seelsorge will es gerade vermeiden, „Predigt zum kerygmatischen Maßstab des seelsorglichen Gesprächs zu machen". 4 Die Größen Predigt, Seelsorge und Gemeinde sollen vielmehr einander gleichwertig zugeordnet werden. Diese Zuordnung geschieht dadurch, daß alle drei versammelt werden unter das „Geschehen von Paraklese ... , in dem Predigt, Seelsorge und Gemeinde zusammengehören und ein Wort sich ereignet, das,meines Herzens Freude und Trost' ist, wie es in den Konfessionen Jeremias ... heißt". 5 Zu fragen ist dann, wie diese gemeinsame fundierende Größe genauer entfaltet wird. Daß der Titel des Buches „Seelsorglich predigen" die Darstellung dann doch unter die Homiletik subsumiert, mag eine Äußerlichkeit sein. Wenn der Teil über die Seelsorge mit einem ersten Kapitel über das seelsorgliche Predigen beginnt und mit einem vierten Kapitel, das aus dem Abdruck einer seelsorglichen Liedpredigt besteht, abschließt6, so ist das allerdings schon ein deutliches Indiz dafür, daß von einer Parallelität von Seelsorge und Predigt doch nicht geredet werden kann. 7 Zur Paraklese als fundierendem Begriff tritt im Teil über die Seelsorge dann der Begriff des Alltags. Bei der Seelsorge geht es um „alltägliche Seelsorge in gegenseitiger ,oikodome'": „Die Weite und die Alltäglichkeit des biblischen Begriffs ,Seele' erlaubt ..., alles als Seelsorge zu betrachten, was den Leib Christi in seinen Gliedern zum Atmen bringt, indem es ihn im Namen Jesu lobend in Gottes Atem einstimmen läßt. Das mag durch ein Gespräch über den Gartenzaun ebenso geschehen wie durch ein Beichtgespräch in der Sakristei, bei einem Geburtstagsbesuch ebenso wie bei einem Besuch am Krankenbett, durch ein Lied im Gottesdienst ebenso wie durch einen scheinbar spröden Verwaltungsvorgang, durch ein Gebet am Sterbebett ebenso wie dadurch, daß ein Seelsorger einfach in der Gemeinde da ist, auch wenn man ihn eine Zeitlang nicht in Anspruch nimmt. Das eine ist nicht eigentlicher als das andere." 8
Anders als Nicol 9 verabschiedet sich Möller vom „Bann einer auf das ,Eigentliche' konzentrierten Seelsorge". 10 Sein Begriff der Seelsorge, der alltäglichen Seelsorge, ist weit; er ist so weit, daß auch ein Verwaltungsvorgang und die bloße Präsenz eines Pfarrers als Seelsorge bezeichnet werden sollen. Der Begriff unterscheidet dann nicht mehr sichtbare Vorgänge voneinander. Alles in der Gemeinde ist Seelsorge. In welcher Hinsicht alles 4 C.MÖLLER, Seelsorglich predigen. Die parakletische Dimension von Predigt, Seelsorge und Gemeinde, [1983]; 11. 5 C.MÖLLER, 9.
6 C.MÖLLER, 6 9 - 9 0 . 122-126.
7 Der Teil über das Predigen beginnt mit der Frage nach der Bedeutung des Textes für die Predigt (15-29) und endet mit einer Predigt (63-67), der Teil zum Thema Gemeinde beginnt mit einem Kapitel zur „Entdeckung der Ortsgemeinde als charismatische Gemeinde" (127-139) und endet mit einer Predigt (166-170). 8 C.MÖLLER, 114. 9 Dazu siehe weiter unten. 10 C.MÖLLER, 113.
372
Seelsorge ist, das benennt Möller dann aber genau. Dazu dienen die beiden anderen Größen: Seelsorge ist alles das, was letztlich aus Predigt herkommt und der Gemeinde Christi dient.11 Damit bleibt die Struktur der Seelsorgetheorie der verkündigenden Seelsorge erhalten. Eine theologisch gewonnene Eindeutigkeit gibt sich als Verkündigung, als Auslegung der Bibel zur Verbreitung in der Gemeinde; sie strukturiert den Begriff der Seelsorge so, daß an ihm die Differenz zwischen dem Eigentlichen und dem, was nicht Seelsorge ist, auftritt. Bei aller Emphase für den Alltag wird dann die Diffusität der Praxis, die Heterodoxität von Laientheologie aus dem Begriff der Seelsorge ausgeschlossen. Seelsorge ist eine spezifisch christliche Angelegenheit. Der Begriff der Seelsorge fungiert so als theologischer Begriff, daß seine Reichweite innergemeindlich und innerkirchlich-theologisch beschränkt wird. Dem entspricht eine eindeutige Rollenverteilung. Seelsorge ist da, wo einer dem anderen zum christlichen „Hirten" wird. 12 Die Metapher sichert de facto die Asymmetrie-Verhältnisse im hier vertretenen Seelsorgebegriff. Gerade solch eine Asymmetrie war jedoch, wie wir in der Analyse sahen, fast gänzlich aufgehoben, war allein noch als gegenseitig gewährte Präferenz im Interaktionsverhalten stabil. Wer wem und wie zum Hirten wird und ob er/sie dies überhaupt wird, ist dort offen. So wiederholt sich auch bei Möller dasjenige Theorieproblem, das sich bei der verkündigenden Seelsorge ergab: Die Subsumierung der Seelsorge unter die Totalität eines streng theologischen Begriffs führt de facto zu einer ρ artikular isierenden Beschreibung des Phänomens der Alltagsseelsorge. Martin Nicol hält zwar einerseits auch an einem Seelsorgebegriff fest, der nur das kirchliche Gespräch umfaßt, begreift es aber zugleich als „Sonderfall des existentiellen Gesprächs". 13 Seine Ausführungen sollen „auf dem weiten Hintergrund von Gesprächskultur" und „in der Perspektive auf jenen Hintergrund" verstanden werden.14 Die verkündigende (und therapeutische) Seelsorge bekommen in dieser Perspektive einen sekundären Rang. Als „austeilende Seelsorge" 15 stellen sie „wohl immer auch eine ... Dimension" dar; „zum konzeptionellen Ausgangspunkt erheben" will Nicol jedoch die andere Dimension der „wahrnehmenden Seelsorge", die die existentielle Seite im Gespräch beinhaltet.16 Christliche Deuteinhalte in existentieller
11 „ ..., so m u ß man der Weite dieses Seelsorgeverständnisses ihre Bestimmtheit geben, damit sie davor bewahrt bleibt, alles und nichts mehr Seelsorge sein zu lassen. Es kann keine andere Bestimmtheit sein als die, die dem Leib Christi zu eigen ist" (C.MÖLLER, 114). Seelsorge ist - daran schließt sich Möller an die Seelsorgelehre von W.Trillhaas aus dem Jahre 1950 an - „,Besorgung des Leibes Christi in seinen Gliedern'" (113f.). 12 C.MÖLLER, 120f. 13 M.NICOL, Gespräch als Seelsorge, 1990; 13. 14 NICOL, 14. 15 NICOL, 179.
16 NICOL, 181.
373
Fassung charakterisieren dann den Begriff der Seelsorge. Doch auch durch diese Doppelbestimmung lassen sich die Probleme nicht bewältigen. Die christlichen Deuteinhalte funktionieren doch wieder so, daß sie die Totalität des Christlichen sichern sollen, und stehen daher vor dem gleichen Dilemma wie die Bestimmungen der traditionellen verkündigenden Seelsorge.17 Der ,konzeptionelle Ausgangspunkt' beim existentiellen Gespräch erreicht eine größere Weite nur so, daß er (abgesehen von den asymmetrischen Gesprächsformen der austeilenden Seelsorge') nicht-existentielle Anteile aus dem Begriff der Seelsorge ausgrenzt. Nicols Blick auf die Kultur des Gesprächs als Kultur der existentiellen Begegnung geht an der Alltagsseelsorge vorbei. In unserer Arbeit fanden wir das, was traditionellerweise Verkündigung genannt wird, nun in Alltagsformen, die sich vom strengen theologischen Begriff und auch von dessen existentialistisch erweiterter Variante unterscheiden: Verkündigung zeigte sich hier als mit volkskirchlichen und Pfarrerinteressen verquickt (6.3.1. und 6.3.2.), sie erschien als Disputation mit ungewissem Ausgang (6.3.3.), als das Aushalten von Ambivalenzen über das, was Christsein und Kirche sei (6.3.4.), als ein Handeln, das ohne theologisch-theoretische Begriffe auskommen kann (6.3.5.). Daß dies so ist, darin liegen die Besonderheiten der alltagsnahen Verkündigung. Sie ist eine andere Art von Verkündigung als die am Sonntag. Verkündigung als Alltagsverkündigung in der Seelsorge zeigte sich als ein spezifisch neuzeitlicher Zugang zur Verkündigung. In der Moderne, wo die Umrisse von christlicher Gemeinde schon soziologisch und erst recht theologisch alles andere als selbstverständlich sind, leistet die Alltagsverkündigung viel. Die volkskirchlich und sogar antikirchlich eingestellten Individuen erleben hier Verkündigung so, wie sie für sie faßbar ist und wie sie auch von den Kirchennahen geschätzt wird: personal und dialogisch (vgl. 6.3.1.) und subjektiviert. Hier kommt dann der hermeneutische Charakter von Verkündigung, auch der Alltagsverkündigung in der Seelsorge, zum Vorschein. Alltagsverkündigung ist die Interpretation des Zusammenhangs von Subjekt und Kirche. Reinhard Schmidt-Rost hat für die Seelsorge diesen „Vorgang individuellen Verstehens im alltäglichen Leben" 18 herausgearbeitet und zu der Definition verdichtet: „Seelsorge ist von empfangenem, empfundenem Heil erfüllt, ist Sorge, es könnten die, die das Heil in der Taufe schon empfangen haben, es doch noch verfehlen, ihr Leben lang nichts davon merken, es nicht selbständig ergreifen." 19 Eine solche Fassung des Seelsorgebegriffs verrät aber auch zugleich, daß trotz der intendierten „Praxis wechselseitiger Verantwortung" 20 der Begriff ganz perspektivisch entworfen ist, nämlich 17 D a z u siehe 1.2.3.d. 18 R.SCHMIDT-ROST, S e e l s o r g e z w i s c h e n A m t u n d B e r u f , 1988; 121. 19
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SCHMIDT-ROST 1 9 8 8 , 1 2 5 f .
2 0 SCHMIDT-ROST 1 9 8 8 , 1 2 1 .
von der Seite der Seelsorge übenden Person her. Wenn die Tendenz, Seelsorge als funktionale Behandlung zu konstruieren 21 , in der Seelsorgetheorie kritisch überholt werden soll, dann muß die interpretative Entfaltung des Verkündigungsbegriffs das Dialogische in sich aufnehmen. Nimmt sie das Dialogische in sich auf, dann erhöht sich aber auch wieder ihre Intersubjektivität. Die Definition von Seelsorge braucht und darf dann nicht zum bloß subjektiven Beitrag22 im wissenschaftlichen Diskurs werden. Aus der Subjektivierung der Verkündigung folgt noch nicht die Privatisierung deren Begriffs. Begreift man die Alltagsverkündigung, wie sie sich in der Alltagsseelsorge findet, als die personal und dialogisch zugespitzte Form von Verkündigung, dann wird plausibel, daß die ,Sonntagsverkündigung', daß Predigt Eigenes leistet und durch die Alltagsverkündigung nicht ersetzt werden kann. Fehlt hingegen ein Begriff der Alltagsverkündigung, dann vermag die Seelsorgelehre gerade nicht mehr deutlich zu machen, worin die spezifische Leistung der Predigt liegt. Wenn nach Nicols Konzept der „wahrnehmenden Seelsorge" in der Seelsorge ein „deutendes Sprechen" stattfindet, „in dem das Erleben als Erfahrung zur Sprache gebracht wird" 23 , wobei unter Erfahrung die spezifisch christlich gedeutete Erfahrung zu verstehen ist24, dann wird nicht mehr aussagbar, wieso Predigt Eigenes leistet. Sie versucht ja das Gleiche, nur erscheint sie bei der Bewältigung der Aufgabe unter geringerer Erfahrungsnähe zu leiden. Möller behandelt explizit beides, Predigt und Seelsorge, um die Gemeinsamkeiten herauszustellen. Wenn beides Paraklese ist, dann wird es jedoch umso nötiger zu benennen, worin die Paraklese bei Seelsorge sich strukturell von der Predigt unterscheidet und weshalb seelsorgerliche Predigt Bestimmtes kann, was alltägliche Seelsorge nicht kann. Unterscheidet man hingegen Alltagsverkündigung und die Verkündigung bei der Predigt, dann kann die theologische Theorie wieder deutlicher machen, daß das, was die Predigt leistet, der Alltagsverkündigung fehlt: Die Verkündigung bei einer Predigt kann sich über eine gewisse Dauer geplant entfalten; sie kann öffentlich eine bestimmte Perspektive, nämlich die kirchliche und theologische, gesicherter ausbreiten; sie hat Muße, theoretische (und zwar theologische) Lösungen zu bedenken; sie ist dem Handlungsdruck stärker als das Gespräch entnommen. 25 21 SCHMIDT-ROST 1988 spricht von der ,,sozialwissenschaftlich-konstniktive[n] Seelsorgelehre der Gegenwart" (117; vgl. zu deren Entwicklung: 77-116). 22 Anders kann ich die paradoxe Formulierung von SCHMIDT-ROST nicht verstehen: „Die Besonderheit evangelischer Seelsorge, ihr Verzicht auf institutionelle Absicherung, läßt auch den Entwurf einer Seelsorgelehre zu einem ganz individuellen Versuch und Vorschlag werden, der indessen in der Niederschrift einen Allgemeinheitsanspruch gleichwohl erhebt" (126). 23 NICOL, 182.
24 NICOL, 176.
25 Vgl. dazu auch die Überlegungen bei K.-F.DAIBER (Predigt als religiöse Rede, 1991; 201-207) zur Leistung des monologischen Charakters der Predigt. - Die ,hohe'
375
Indem wir eine spezielle Alltagsverkündigung als eigenen Begriff einführten, partikularisierten wir, genauer: differenzierten wir zunächst den Verkündigungsbegriff. Gerade dadurch erreichten wir letztlich eine wirkliche Universalisierung der Perspektive der Verkündigung. Verkündigung findet in der Tat in Predigt wie in Alltagsseelsorge statt, aber in einer benennbar je anderen Weise. b) Auch die therapeutische Seelsorge hat einen totalisierenden Effekt. Indem sie alles unter die Perspektive der therapeutischen Behebung eines Defizits am einzelnen brachte, wurde sie de facto dennoch partikulär. Sie erwies sich als „theoretische Konstruktion einer reduzierten Realität"26. Auch sie konnte die alltäglichen Formen von Seelsorge nicht erschließen, mußte sie als uneigentliche Vorformen ausgrenzen.27 Verkündigung mußte sie als unreflektiert betriebene Therapie weginterpretieren.28 Jüngere Entwürfe versuchen, dieses Manko zu korrigieren. Gerade durch die Weiterentwicklung des Symbolbegriffs ist die Tradition therapeutischer Seelsorge offener geworden. So stoßen nach Joachims Scharfenbergs „Einführung in die Pastoralpsychologie" von 1985 in der kirchlichen Seelsorge die privaten Symbolisierungen aus innerpsychischen Verarbeitungen und die kollektiven Symbolisierungen der Kirche aufeinander. Er schlägt vor, „Kommunikation in der Kirche als zwei gegenläufige symbolisch vermittelte Kommunikationsprozesse zu verstehen, die sich im Idealfall treffen sollten, die das faktisch aber nicht mehr, oder wenigstens nur sehr selten tun".29 Die pastoralpsychologische Arbeit dient der Verbesserung dieser Kommunikation von beiden Seiten her. Sie hat die Aufgabe, „die Korrelation zwischen menschlichen Grundkonflikten und Symbolen der Uberlieferung"30 herauszuarbeiten. Scharfenberg hält es darum für „wünschenswert, wenn wir es lernen könnten, mit größerer Bewußtheit mit den Schätzen umzugehen, die wir in den Symbolen der Liturgie und des biblischen Uberlieferungsgutes haben".31 Der Grundsatz der möglichst weitgehenden Unerkennbarkeit des Therapeuten im nicht-kirchlichen Bereich gilt für die Pastoralpsychologie nicht. Scharfenberg fordert, daß „an ihrem Beginn eine möglichst weite Erkenn-
Verkündigung bei der Seelsorge, die es ja neben der Alltagsverkündigung auch geben dürfte, wäre dann eine Zwischenform zwischen Alltagsverkündigung und Predigt, was sich ja auch an ihrer Nähe zu den liturgischen Handlungen (Beichte, Gebet) zeigt. 26 SCHMIDT-ROST 1988, 114. 27 Siehe 3.1.2.d. 2 8 Biographisch prägend war für J.SCHARFENBERG die Erfahrung eines pathologischen Wiederholungszwangs zur Beichte bei einer Klientin (Seelsorge als Gespräch, [ 1 9 7 2 ] ; 2 2 ) . Verkündigung in traditioneller Fassung erscheint als Behandlung durch Suggestion (24). 29 J.SCHARFENBERG, Einführung in die Pastoralpsychologie, 1985; 64. 30
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Ebd.
31
SCHARFENBERG 1 9 8 5 , 6 6 .
barkeit des Pastoralpsychologen als eine ,religiöse Figur' stehen muß". 32 Scharfenbergs jüngster Entwurf betreibt also eine möglichst große Identifizierung der therapeutischen und der religiösen Sphäre. Das Religiöse wirkt therapeutisch, und dies ist psychologisch aufzudecken und zu bearbeiten; darum soll es als Religiöses bewahrt werden. Der Grund für die religiöse Stilisierung des Seelsorgers ist jedoch ein therapeutischer: „nur dann vermag sein Gegenüber sich ungehemmt mittels der religiös symbolisierten Übertragungsbeziehung auszudrücken und darzustellen". 33 Auch der Seelsorger kann mit biblischen Symbolen die Beziehungsstruktur bei sich selbst und seinem Gegenüber weiterbearbeiten. 34 Trotz der Erweiterungen um die religiöse Symbolik bleibt hier für die Seelsorge die therapeutische Perspektive die ausschlaggebende und umfassendere. Weiter noch in der Begrenzung der therapeutischen Perspektive geht Gert Hartmann: „Symbole geben Gefühlen Raum, aber sie legen nicht auf Gefühle fest." 35 Weil Seelsorge es mit Symbolen zu tun hat, die sowohl Gefühle artikulieren wie Wirklichkeiten benennen, dürfen sie nicht unilateral behandelt werden, so daß es zu „unangemessene[r] Psychologisierung von spiritueller Erfahrung" 36 kommt. Bei Symbolen der Schuld etwa ist zwischen realistischem und unrealistischem Schuldbewußtsein zu unterscheiden.37 N u r letzteres ist Gegenstand der therapeutischen Korrektur. „Inzwischen ist es keinem solide arbeitenden Therapeuten mehr zweifelhaft, daß Schuld und Schuldfähigkeit Merkmale einer gesunden Persönlichkeit sind. Theologen aber reagieren unbefangener, wenn sie unrealistische Schuldgefühle vermuten können." 38 Diese Doppelseitigkeit der Symbole findet Hartmann schon im Alltag angelegt, jenem Ort, an dem das auftritt, womit Seelsorge zu tun hat. So wählt er als Zugang zu seiner Seelsorgelehre eine Erzählung über „[e]ine leicht gestörte Geburtstagsfeier". 39 Im Rundgespräch an der feierlichen Tafel kommen verschiedene die Fröhlichkeit irritierende Themen auf. Zunächst identifiziert Hartmann sie anhand der Bitten des Vaterunsers, dann anhand des Eriksonschen Schemas der psychischen Identitätsentwicklung. 40 Beide Seiten, die kirchliche wie die psychologische, korrelieren. Auch Hartmann greift auf die hermeneutische Akzentuierung von Seelsorge zurück und wendet sie auf den Alltag an: „Seelsorge als Lebensdeutung. Das bedeutet, sich für die Alltäglichkeiten genauso zu interessieren wie für Höhe- und Tiefpunkte, für Erfolg und Glück ebenso wie für Niederlagen und Konflikte. Es bedeutet, der Tatsache Rechnung zu tragen und sich für sie zu interessieren, daß alle Erlebnisse eine spirituelle Dimension 3 2 SCHARFENBERG 1 9 8 5 , 114.
3 3 SCHARFENBERG 1 9 8 5 , 117.
3 4 SCHARFENBERG 1 9 8 5 , 1 9 3 - 1 9 5 . 35
G.HARTMANN: L e b e n s d e u t u n g . T h e o l o g i e f ü r die Seelsorge, 1993; 67.
36 E b d .
3 7 V g l . HARTMANN, 1 0 2 f f .
38 HARTMANN, 11 Of.
3 9 HARTMANN, 13.
4 0 HARTMANN, 1 6 f f u . 3 6 f f .
377
haben, und daß wir uns unserer Identität versichern, wenn wir diese Erlebnisse als Erfahrung von geschöpflicher Abhängigkeit, von Bewährung und Schuld, oder von Verführbarkeit wahrnehmen. Die einseitige Orientierung an den Schattenseiten des Lebens führt zu einer Abspaltung. Die zeigt sich z.B., wenn jemand ein Gespräch rückblickend beurteilt: ,Es war nur small talk. Ich bin nicht an die Probleme der Leute herangekommen'. Nun, vielleicht hatten sie keine akuten Probleme. Ist deshalb ihr Leben weniger interessant? Man stelle sich vor, ein guter Schriftsteller würde einen beliebigen Lebensausschnitt dieser Leute beschreiben. Da gäbe es viel zu entdecken. Vielleicht war es diesmal wirklich nur ,small talk', weil der Vikar oder die Pfarrerin die Alltäglichkeiten keiner Rede wert fand."41 Die seelsorgerliche Hermeneutik des Alltags, die Hartmann entwirft, bekommt denn auch Wirklichkeiten in den Blick, die in sonstigen Seelsorgelehren als positiv schätzbare Phänomene unbehandelt bleiben, wie Technik, Hobby, Fernsehen, Haus, Auto, Schmuck und die orgiastischen Anteile der Sexualität. 42 Seelsorge gilt ihm als „Beitrag zur Kultivierung des alltäglichen Lebens". 43 Mit Hartmann stimmen unsere Ergebnisse darin überein, daß die Alltagsseelsorge nur dargestellt werden kann, wenn man eine Entmonopolisierung des therapeutischen Zugangs vornimmt, ohne daß damit die therapeutischen Anteile an Seelsorge oder die Bedeutung von therapeutischer Theorie aufgegeben werden müßten.44 Bei Hartmann läßt sich nun aber auch ablesen, daß sich mit der Aufhebung des Totalitätsanspruchs von Therapie eine EntSpezifizierung der Therapie verbindet. In dieser Fassung, so scheint es, ist dann Seelsorge samt ihren therapeutischen Anteilen für den gesamten Alltag zuständig. Zur Lebensdeutung mit therapeutischen Anteilen geworden, würde sie dann Teil der Psychologisierung der Gesellschaft. Damit wäre der Begriff der Therapie entwertet. Deshalb ist es wichtig, die Differenzierung zwischen Alltagstherapie und ,hoher' Therapie vorzunehmen. Alltagstherapeutische Episoden sind in ihrer Reichweite und Dauer deutlich begrenzt. Für den Begriff der Seelsorge ist es aber wichtig, daß nicht die ,hohe' Therapie durch die Alltagstherapie ersetzt wird. Beide Formen in ihrer Unterscheidung sind vonnöten. Erst dann wird deutlich, worin die besondere Leistung von professioneller Therapie, sei sie nun im kirchlichen Kontext ausgeübt oder nicht, besteht: Sie schafft einen Raum, in dem nicht-therapeutische Auswege verstellt sind, in dem therapeutische Prozesse sich über Dauer entwickeln können, in dem die
41
HARTMANN, 50.
42 HARTMANN, 178-182, 198-201, 267-285. 43
H A R T M A N N , 15.
44 Letzteres tut C.MÖLLER, wenn ihm „der bewußte Verzicht auf eine humanwissenschaftliche Spezialausbildung" (121) als Vorteil erscheint. Dies kritisiert auch SCHMIDT-ROST 1 9 8 8 , 1 2 1 A n m . 1 0 .
378
therapeutische Rollenverteilung eindeutig ist und fixiert bleibt. Erst so können stärkere und chronifizierte Konflikte aufgelöst werden. Der Begriff der Alltagstherapie als besonderer Form von Therapie führt also nicht zu einer Entwertung des Begriffs der Therapie, obwohl dessen Totalitätsanspruch reduziert wird, sondern macht die unverzichtbare Bedeutung gerade des strengen therapeutischen Settings nur um so deutlicher.45 c) A m naheliegendsten dürfte es sein, die Alltagsseelsorge mit der Diakonie zu verknüpfen. Wie diese dient sie ja alltäglichen Verläufen der Biographie. Schmidt-Rost hat denn die Entwicklung der letzten Jahrzehnte auch als Entwicklung „zur Seelsorge als diakonischer Spezialaufgabe" gekennzeichnet.46 Dietrich Rösslers enzyklopädische Ordnung der Praktischen Theologie begreift Seelsorge überhaupt als Spezifizierung der diakonischen Aufgabe, mit der sich die Christentumspraxis dem einzelnen zuwendet. 47 Gerade in der Alltagsdiakonie der Alltagsseelsorge tritt die Zusammengehörigkeit von Diakonie und Seelsorge hervor. In jüngster Zeit ist eine Tendenz weg von der spezialisierten institutionellen Diakonie zurück zur dezentralisierten Diakonie vor Ort und von den Professionellen zu den Selbsthilfegruppen und der Partizipation der Laien überhaupt bemerkbar. 48 In alltagsnaher Fassung scheint auch Diakonie optimaler, weil flexibler, zu werden. Wenn wir aber analog zu den Begriffen Verkündigung und Seelsorge auch bei der Diakonie zwischen Formen der Alltagsdiakonie und der spezialisierten Diakonie unterscheiden, dann wird zweierlei deutlich: Zum einen sollte die Verortung der Seelsorge innerhalb der Diakonie nicht totalisierend durchgeführt werden. Gerade in der Alltagsseelsorge machen die diakonischen Anteile nur einen Teil der Wirklichkeit aus.49 Hier ist eine Zuordnung zur Diakonie nicht plausibler als zur Verkündigung oder zur Therapie. Zum anderen: Auch hier würde die Differenzierung von Alltagsdiakonie und spezialisierter Diakonie Wichtiges leisten. Es würde deutlich, daß die spezialisierte Diakonie eine nötige Differenzierungsform darstellt, die ein Maß und eine Berechenbarkeit an sozialer Hilfe bereitstellt, das die Alltagsdiakonie nicht kennt.
45 Diejenige pastorale Praxis, die die therapeutische Seelsorge intendiert, also eine Kurztherapie oder Fokaltherapie mit einem Professionellen, der auch sonstige Beziehungen z u m Gemeindeglied haben wird, dürfte ungefähr in der Mitte zwischen Alltagstherapie und der ,hohen' Therapie liegen. 46
SCHMIDT-ROST 1 9 8 8 , 7 7 .
47
D.RÖSSLER, G r u n d r i ß der P r a k t i s c h e n T h e o l o g i e , [1986];
158-160.
48 K.DÖRNER, Aufgaben diakonischer Ethik. Die Wende v o n der Professionalität zur K o m p e t e n z aller Betroffenen, 1991, 39-51. H.SEIBERT, Perspektiven der Diakonie, 1986, 409-427. 49 Ich habe die Alltagsdiakonie nicht eigens ausführlich dargestellt, u m den U m f a n g dieser Arbeit nicht noch weiter zu erhöhen. Vgl. aber dazu 3.4.5.
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d) Wir haben Kritik geübt, wo die Begriffe Verkündigung, Therapie und Diakonie Totalisierungen darstellten, die de facto die Wirklichkeit nur partikular erschließen. Wir meinten, zeigen zu können, daß deren in der Tat universalisierende Erschließungskraft, ihr Integrationspotential nur durch Differenzierung zu halten bzw. zu erreichen ist. Innerhalb dieser Begriffe sind die entsprechenden Alltagsformen, nämlich Alltagstherapie, Alltagsverkündigung und Alltagsseelsorge als beschreibbare eigene Formen geltend zu machen. Wenn dies stimmt, dann wird es auch wahrscheinlich, daß sich der Begriff der Alltagsseelsorge und die in ihm liegende Differenz zur ,hohen' Seelsorge für den Begriff der Seelsorge fruchtbar machen läßt. Wolfgang Stecks These vom „Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt" war es gewesen, die diese Untersuchung angeregt hatte (vgl. Einleitung). Indem wir mit unseren Ergebnissen die dort geäußerten Thesen nun noch einmal kritisch überprüfen, gelangen wir weiter auf dem Weg zur theoretischen Legitimierung unserer Verwendung des Begriffs der Alltagsseelsorge. Inwiefern beschreibt Stecks Phänomenologie der Bedeutung des Alltags für die Seelsorge auch jene Wirklichkeit, die wir als Alltagsseelsorge erhoben haben? Schon bei einem ersten Uberblick über das Gesprächs C2 (3.4.2.) bestätigte sich Stecks These, daß die „Themen des Seelsorgegesprächs ... in der Regel nichts anderes als alltäglicher Gesprächsstoff" 50 sind; es gilt ebenso für alle anderen unserer Aufnahmen. „Die Themen der Seelsorge lassen sich nicht jenseits der alltäglichen Lebenserfahrung formulieren und bearbeiten", sie sind „selbst Elemente der alltäglichen Welt, Ausdruck einer spezifischen, in der Alltagswelt gewonnenen Lebenserfahrung". „Die Alltagswelt stellt die Themen des professionellen Seelsorgegesprächs" - das bestätigte sich nicht nur für die Menge der Themen, sondern auch für solche Themen, in denen es um Religion geht.51 Daß „die alltagsweltlichen Gesprächsthemen den Partnern des Seelsorgegesprächs in einer schon deutlich bearbeiteten Fassung" vorliegen, konnte durch die vorgelegte Analyse der Untersuchung nicht weiter verifiziert werden. Sie beschränkte sich ja auf das eine Gespräch der besuchten Person, das diese mit dem Pfarrer oder der Pfarrerin führte. Es fand sich aber durchaus, daß bestimmte Themen mehrfach innerhalb eines Gesprächs eingeführt wurden. 52 Das spricht für eine gewisse Konstanz von Themen, die auch über das Gespräch hinausgehen dürfte. Außerdem fin-
50 W.STECK, Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt, 1987b, 175-183; 176. Dort auch die folgenden Zitate. 51 Allerdings ergab sich nun doch auch eine bestimmte thematische Färbung im Zusammenhang mit dem pastoralen Gegenüber, doch dazu später. 52 Z.B. in C2 das Verhältnis zur Tochter (5.3.1.) oder in E l die Reinkarnationslehre (6.3.3.) 380
den sich geprägte Wendungen und Erzählungen 53 , die kaum ad hoc gebildet sein können, auch wenn sie ad hoc modifiziert werden. Die Darstellungsqualifizierer (5.1.3.) und die Darstellungsinhalte ,ethische Aussagen' (6.2.1.) belegen: „Seelsorge ist eine Form von Weisheitstradition." 54 Steck geht von einer strengen chronologischen Aufschichtung der Gespräche aus, die bei solchen mit den primären Bezugspersonen der Alltagswelt beginnt und an deren Ende erst das Gespräch mit dem professionellen Gegenüber steht. Daß jenes Gegenüber „[n]ur unter der Bedingung, dass die Gespräche mit verschiedenen Vertrauten gescheitert sind" 55 , gewählt werde, gilt jedoch höchstens, wenn die Seelsorge bekommende Person von sich aus das Gespräch sucht. Bei anderen Gesprächen wie bei denen zum Geburtstagsbesuch kann deshalb - entgegen Steck - nicht gesagt werden, daß die „verschiedenen Gesprächsgänge", bis es zum Seelsorgegespräch mit dem Pfarrer oder der Pfarrerin kommt, „in genauer logischer Ordnung aufeinander bezogen und miteinander verwoben" sind. Das hat dann - wie später noch zu zeigen sein wird - auch Folgen für die thematische Färbung des Gesprächs durch die Präsenz des pastoralen Gegenübers. Der „ständigen Widerrufbarkeit des für die Seelsorge charakteristischen Gesprächsmilieus" 56 begegneten wir in der Tat immer wieder. Die seelsorgetypischen Interaktionspräferenzen (5.1.) ebenso wie die therapeutischen Episoden (5.3.), die religiösen Darstellungsinhalte ebenso wie deren Bearbeitung durch kleine ethische, religiöse oder theologische Theorien (6.2.) erwiesen sich allesamt als nicht stabile, sondern äußert labile Vorgänge. Der „Ubergang auf eine andere Gesprächsebene und damit auch auf ein anderes Niveau ihrer gegenseitigen Beziehung" war bei den Gesprächsteilnehmern immer möglich und ließ sich in bezug auf die Gesprächsebene des handlungsbegleitenden Gesprächs (4.1.1.) und des Small talk (4.1.2.) auch gut darstellen. Bei ihnen handelt es sich um deutlich „andere Formen alltäglicher Konversation". Steck charakterisiert die seelsorgerliche Gesprächsebene als kontrastierend mit der „Ebene weniger verbindlicher Gesprächsformen" und findet bei Seelsorge eine „charakteristische Intensität der persönlichen Teilnahme". Solche Beschreibung vertraut auf intuitive Plausibilität für die Leserinnen und Leser. Mit Hilfe der vorgenommenen Analyse können wir nun diese Intensität der persönlichen Teilnahme sprachlich objektivierbarer fassen. Sie zeigt sich in der rollentypischen Präferenz auf Seiten der Seelsorge gewährenden Person zugunsten der Verwendung von Darstellungsinduzierern für Darstellungen des Gegenübers (5.1.1.), von Darstellungsreduzierern hinsichtlich der eigenen Darstellungen (5.1.2.) und von Darstel53 Z.B. die Sterbegeschichten des Ehemanns in Cl:1471-1500 und C2:573-627. 54 STECK 1987b, 176.
55 STECK 1987b, 177. Dort auch die folgenden Zitate. 56 STECK 1987b, 178. Dort auch die folgenden Zitate.
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lungsqualifizierern, die die Darstellung des Gegenübers bearbeiten (5.1.3.). Es dürften noch weitere nicht-semantische Dimensionen an der seelsorgerlichen Intensität beteiligt sein (Mimik und Haltung, Stimmklang), die jedoch mit den gewählten Methoden nicht untersucht werden konnten. Daß der Übergang von der Alltagskonversation zum Seelsorgegespräch sich nicht von selbst ergibt, konnte insoweit bestätigt werden, als deutliche Verhaltensänderungen diesen Übergang kennzeichnen, und zwar auf beiden Seiten. Die Seelsorge suchende Person beteiligt sich so daran, daß ihre rollentypische Präferenz darin besteht, Darstellungsinduzierer für Darstellungen des Gegenübers zu vermeiden und für die eigene Darstellung Darstellungsreduzierer nicht zu benutzen. 57 Steck geht jedoch darüber hinaus, wenn er sagt: „Zu den situativen Voraussetzungen alltäglicher Seelsorgegespräche gehört es ..., dass sie bewusst herbeigeführt, bewusst aufrechterhalten und schliesslich bewusst zu Ende gebracht werden." 58 Dafür ließen sich bei der Analyse jedenfalls unseres Materials keine sprachlichen Indizien finden. Die Tatsache, daß seelsorgeartiges Verhalten sich nur in Präferenzregeln fixieren ließ und daß therapeutische oder verkündigende Gesprächsfiguren in fließenden Übergängen in Small talk, Klatsch und Sonstiges diffundieren konnten, macht es ziemlich wahrscheinlich, daß hier die Bewußtheit durchaus eingeschränkt ist. Daß die „Verweigerung der Rolle ... ganz absichtlos erfolgen" kann, sagt auch Steck. Die zwar nicht absolute, aber doch im Vergleich mit dem Gegenüber größere Konstanz in der Verwendung der rollenspezifischen Interaktionspräferenzen spricht auch dafür, daß der Grad an Bewußtheit auf der professionellen Seite höher ist als auf der anderen. Bestätigt fanden wir die Aussage, daß „sich die in die Gesprächsszene hereingeholte Lebensszene besonders eng mit dem einen Partner verbindet, während der andere nur mittelbar durch das Gespräch und die darin aufgehobene Intensität des mitgeteilten und dann auch geteilten Erlebens mit der besprochenen Szene verbunden ist." 59 Dies herzustellen, dazu dienen die Induzierer, Reduzierer und Qualifizierer der Interaktion. Nach Steck befaßt sich professionelle Seelsorge mit den konstitutiven Institutionen des Gesprächs. Das sind: Ehe, Eltern-Kind-Beziehung und „[i]n einem weiteren Sinne ... die kontinuierlichen Gesprächsprozesse ..., die in dauerhaften Lebensbeziehungen, in Freundschaften, im Kollegenkreis und ähnlichen Formen der alltäglichen Vergesellschaftung beheimatet sind". 60 In den Seelsorgegesprächen anläßlich von Kasualien wird „präzise jenes Netzwerk sozialer Beziehungen, innerhalb dessen alltägliche Seelsorge ausgeübt wird", thematisiert. Das professionelle Seelsorgegespräch er57 5.1. passim. 58 STECK 1987b, 179. Dort auch die folgenden Zitate. 59 STECK 1987b, 180.
60 STECK 1987b, 182. Dort auch das folgende Zitat.
382
weist sich dann seinerseits als institutionalisierte „Initiation" von künftigen Ehegesprächen (Traugespräch), von Gesprächen über das Verhältnis von Eltern und Kindern (Taufgespräch) und von Gesprächen zur Sinnlogik einer Lebensgeschichte (Beerdigungsgespräch).61 In diesem Zusammenhang sind die Gespräche beim pastoralen Geburtstagsbesuch sicherlich am stärksten bei den Gesprächen zur Sinnlogik einer Lebensgeschichte zu verorten. Diese Thematik kommt in ihnen immer wieder vor 62 , aber sie dürften deutlich weniger darauf festgelegt sein als das Beerdigungsgespräch; auch die Eltern-Kind-Thematik etwa wird gerne bearbeitet.63 In Stecks Aufsatz spielt eine weitere soziale (Gesprächs-)Institution, die ebenfalls Gegenstand des Gesprächs werden kann, keine Rolle: die Kirche. Kontakte und Gespräche mit anderen Pfarrern sowie Kasualienerlebnisse oder auch Gesprächsscheitern mit der Kirche wird von denen, die Seelsorge erhalten, thematisiert (6.2.3.b u. 6.3.1.). Die eigene Rolle innerhalb der Institution Kirche kann der Klärung bedürfen (6.3.4.). Auch mancher Seelsorger behandelt im Gespräch seine eigenen kirchlichen Gesprächserfahrungen mit ihrer Spannung zwischen seiner Professionalität und dem Laiengegenüber (6.3.2.). Solcherart kirchliche Themen weichen von der Charakterisierung der sonstigen Themen bei Steck in bestimmter Hinsicht ab. Sie stellen nämlich auch nicht in diesem Ausmaß eine einfache Fortführung schon im Alltag institutionalisierter Gespräche dar. Sie sind nicht durch eine bestimmte Abfolge anderer geführter Gespräche vorstrukturiert, obwohl auch in anderen Gesprächen hin und wieder über die Kirche geredet werden mag. In viel stärkerem Maß als die anderen Themen der Beziehungen und Identität werden sie durch das Gegenüber ausgelöst (6.2.3.b). Wenn man einen Pfarrer oder eine Pfarrerin trifft, dann fällt einem alles Mögliche so ein, was man schon immer mal sagen wollte; dann ergreift man die Gelegenheit, manches abzuklären, das abzuklären man sonst nicht für nötig gehalten hätte. Auch Kasualgespräche dürften deshalb noch einen anderen Charakter bekommen, als ihn Steck benennt. In die Thematisierung der Primärinstitutionen (Ehe, Eltern-Kinder und Sinnlogik des Lebens) findet sich die Thematisierung der Institution Kirche eingemischt, und zwar nicht nur, weil die professionelle Seite auf christliche Lebensführung aus wäre. Seelsorgegespräche mit dem Pfarrer oder der Pfarrerin sind also in diesem Sinne kirchlicher als andere Gespräche. Allerdings werden sie dadurch nicht weniger alltäglich; auch kommt in ihnen sehr wohl die Differenz zu von der kirchlichen Seite vertretenen Positionen zum Ausdruck. Die Laienseite nimmt eindeutig die eigenen Interessen an der Kirche wahr, so wie sie sich vom Alltag her ergeben. Es kann auch sein, daß es im Gespräch
61 STECK 1987b, 182f. 62 Vgl. die Zitate in 6.2.2.b. 63 Außer in C 2 in A3:240-334; Fl:237-255. 312-325; Al:189-252.
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zur Diskussion von Weltanschauungen kommt, freilich nach alltagstypischer Manier (vgl. 6.3.3.). Es kann auch dazu kommen, daß etwas nur als Handlungsplanung verhandelt wird, ohne daß die implizite seelsorgerliche Thematik explizit gemacht wird (6.3.5.). Stecks phänomenologische Beschreibung der Alltagsbeziehung der Seelsorge orientiert sich an dem Bild, das sich die Erinnerung von durch Seelsorgesuchende aktiv erbetenen Gesprächen macht und ordnet sie in den Zusammenhang alltäglicher Kultur des selbstreflexiven Gesprächs ein. Dies dient als Modellfall von Seelsorge, wobei die Kasualgespräche schon eine Modifikation darstellen. Kirchlicherseits hergestellte Gespräche (Geburtstagsbesuch, Konfirmandenelternbesuch) spielen keine Rolle. Wendet man Stecks Beschreibung auf tatsächliche Gesprächsverläufe an, so wie sie sich bei Geburtstagsbesuchen zeigen, dann ergibt sich: Die Alltagsorientierung der Seelsorge wird bestätigt. Nur mit einer solchen Theorie läßt sich überhaupt erklären, wie es zu so etwas wie Alltagsseelsorge kommen kann. Dabei erweist sich die Beziehung der Seelsorge auf den Alltag als noch enger als von Steck angenommen. Die von ihm eingeschlagene Richtung muß darum auch theoretisch noch weiter gegangen werden. Kirchliche Themen oder Religiosität in der Seelsorge widersprechen diesem Alltagscharakter nicht. Sie sind in der pastoralen Seelsorge stärker präsent, als das bei Steck den Anschein hat, aber eben in alltäglicher Fassung. Das bedeutet, daß trotz erhöhter Kirchlichkeit keine Rückkehr zu den partikularistischen Theorien, die über die Kirchlichkeit die Differenz von Seelsorge zu anderen Gesprächen aufbauen, möglich ist. Vielmehr stellen unsere Ergebnisse selbst gegenüber Steck noch eine weitere Entschränkung dar. Diese Arbeit verhielt sich im Vorgriff so, daß sie das, was sie Alltagsseelsorge nennt, als zur Seelsorge mit dazugehörend behandelte. Bei der empirischen Analyse erwies sich der Vorbegriff von Alltagsseelsorge als brauchbares heuristisches Instrument zur Beschreibung von Wirklichkeit. In der Diskussion der seelsorgerlichen Theoriekonstrukte machte sich das Fehlen eines Begriffs für die Alltagsformen der jeweiligen poimenischen Grundbegriffe als Hindernis bemerkbar, mit ihnen die Wirklichkeit zu erschließen. Eine eng kerygmatische oder therapeutische Theorie der Seelsorge umfaßt offensichtlich nicht die pastorale Wirklichkeit. Daraus erklären sich die theoretischen und praktischen Widerstände gegen sie. Auch gegenüber Stecks Idealtypus von Seelsorge erweist sich die Praxis der Alltagsseelsorge als widerständig. Seine These vom Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt grenzte Gespräche der Alltagsseelsorge aus, in denen selbst nach Möllers streng theologischem Begriff der Seelsorge wenigstens teilweise Seelsorge vorkommen sollte. Zwei Sachverhalte zeigten sich erst bei der detaillierten Analyse des Wortlauts von Gesprächen zum Geburtstagsbesuch: einmal, daß hier Seelsorge permanent in das Alltagsgespräch diffundiert, und zum anderen, daß nichts dafür spricht, daß diese Ubergänge bewußt begangen werden. Nicht nur bei Geburtstagsbesuchen, auch etwa 384
bei Kasualgesprächen dürfte sich diese Widerständigkeit der Alltagsseelsorge bemerkbar machen. Die von Steck intendierte Beziehung der Seelsorge auf die Alltagswelt wird dadurch noch enger. Alltagsseelsorge muß als eigene Form der Seelsorge von den Hochformen der Seelsorge abgegrenzt, aber in den Begriff der Seelsorge integriert werden. Auch Steck orientiert sich noch an der ,hohen' Gesprächskultur. Die Gesprächskultur insgesamt, einschließlich in den Gesprächsinstitutionen wie eben auch der pastoralen Seelsorge, ist aber zumeist viel alltäglicher. Steck beschreibt, wenn er von der Beziehung von Seelsorge und Alltag redet, den statistischen Ausnahmefall pastoraler Seelsorge, wo ein Gemeindeglied gezielt mit einem Problem zum Pfarrer kommt, weil es dies alleine nicht mehr bewältigen kann. Wir sind hingegen den alltäglichen häufigen Fällen von Seelsorge nachgegangen. Das macht die Theorie noch einmal komplizierter. e) Die Integration der Alltagsseelsorge in den Begriff der Seelsorge läßt deren Abgrenzung von Nichtseelsorge diffuser werden. Sie wird weder durch eine bestimmte Thematik (wie bei der verkündigenden Seelsorge) noch durch eine kontrollierte Methodik (wie bei der therapeutischen Seelsorge) möglich sein. Aber auch über die bewußte Herstellung von Intensität im Verhältnis beider Seiten kann sie nicht mehr geschehen. Ist Alltagsseelsorge nichts anderes als Alltagssorge? Henning Luther hat sich dem Anliegen einer „Angst um eine Banalisierung der Seelsorge" 64 gestellt und unternahm es, das Verhältnis von Seelsorge und Alltagssorge zu beschreiben. Hier begegnet uns die Diskussion um die stabilisierende oder kritische Funktion der Religion noch einmal auf der Ebene der Alltagsseelsorge. Nach H.Luther verwirklicht sich in der Alltagssorge die Heideggersche Verfallenheit an das Man oder - soziologisch gesprochen die reflexionsfreie Routine des Alltags. 65 In letzterer Perspektive erscheint alles andere als Störung, die durch den einzelnen entsteht; deren Behebung stellt sich als Rückführung des einzelnen in die kollektiven Selbstverständlichkeiten des Alltags dar. Davon hebt sich nach H.Luther die Seelsorge ab: „Seelsorge ist immer kritische Seelsorge, kritisch gegen Konventionen des Alltags, gegen vorgegebene soziale und religiöse Normen und Rollen ... Alltagssorge zielt auf Wiedereingliederung, Realitätsertüchtigung und Anpassung. Seelsorge schafft Freiheit." 66 So sympathisch auch das Pathos für die Freiheit schaffende kritische Seelsorge sein mag, die Wirklichkeit, wie wir sie in der Alltagsseelsorge vorfinden, erweist sich als komplexer. Reflexionsgänge waren erkennbar, aber viel begrenztere, als dies eine solche Gegenübersetzung suggeriert.
64 H.LUTHER, Religion und Alltag, 1992; 226. 65 H.LUTHER 1992, 227f.
66 H.LUTHER 1992, 231.
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Dann aber wird jene Verknüpfung von Alltagssorge und Seelsorge wichtiger, auf die auch H.Luther verweist, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen: Reflexion „erweitert die Immanenz der Realitätstüchtigkeit, indem sie Möglichkeitssinn freilegt und für die daraus sich ergebenden kritisch-transzendierenden Perspektiven offen macht. Seelsorge nimmt den Möglichkeitssinn bewußt wahr und hat teil an der Hoffnungs- und Möglichkeitsperspektive der Sorge." 67 Nur dann, wenn der Begriff der Alltagssorge so bestimmt ist, daß solcher Möglichkeitssinn von Sorge in ihr per definitionem verworfen wird, leuchtet der absolute Gegensatz von Alltagssorge und Seelsorge ein. In der Alltagssee/sorge aber findet sich nun genau dies andere: Im Alltag taucht der Möglichkeitssinn von Sorge momentan auf, wird in kurzen Reflexionsgängen bearbeitet, um dann wieder in den Alltag einzugehen - oder in ihm unterzugehen. In der Alltagsseelsorge findet sich die Kritik am Vorfindlichen nur partiell und nicht rein unter Absehung bestimmter Interessen oder Aufnahme bestimmter Konventionen. Jenes Kennzeichen der Seelsorgedefinition H.Luthers, daß „sich die seelsorgerliche Beziehung prinzipiell nur in der Einstellung der Solidarität vollziehen" 68 läßt, zeigt sich in der Alltagsseelsorge erkennbar deutlicher als in der asymmetrischen Deutestruktur der verkündigenden Seelsorge oder der asymmetrischen Gesprächsführung der therapeutischen Seelsorge. Doch die Solidarität ist nicht immer eine Solidarität in der „Infragestellung der Normalität unserer Alltagswelt" 69 , sondern ebenso eine alltägliche Solidarität der Konvention. Alltagsseelsorge stellt den Raum bereit, wo der Ubergang vom Alltag zur seelsorgerlichen Abstandnahme vom Alltag und umgekehrt andauernd ausgehandelt werden kann, wo er manchmal gelingt, manchmal mißlingt. 70 Die begriffliche Abgrenzung der Alltagsseelsorge zu dem, was nicht mehr Seelsorge genannt werden sollte, ergibt sich dann über operationale Bestimmungen - und zwar in dreierlei Hinsicht: einmal, was die wissenschaftliche Beobachtung angeht, sodann, was die eine und die andere Seite der Gesprächsbeteiligten betrifft.
67 H.LUTHER 1992, 228. 68 H.Luther 1992, 234. 69 H.LUTHER 1992, 253. 70 Darin ist Alltagsseelsorge paradigmatisch. Bei H.Luthers gewähltem Beispiel der Sterbebegleitung leuchtet zunächst unmittelbar ein, daß hier eine Solidarität im Abstandnehmen vom Alltag vonnöten ist und es zynisch wird, die sterbende Person zum Problemfall zu erklären, der normalisiert werden muß, ohne zu begreifen, daß die Überlebenden als Repräsentanten der Gesellschaft der Problemfall für die Situation des Sterbens sind (vgl. H.Luther 1992, 233). Dennoch enthält auch die seelsorgerliche Sterbebegleitung Momente der Konventionalität; die gemeinsame Aufrechterhaltung des Alltags ist nicht einfach nur Flucht vor dem Sterben, sondern kann ebenso auch angemessene Solidarität in der Sterbebegleitung sein. Auf die Flexibilität in beide Richtungen, zur Solidarität in der Konvention wie im Abstandnehmen vom Alltag, kommt es an.
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Erstens: Auch in jenem Geflecht von Alltag und Seelsorge, das die Alltagsseelsorge darstellt, liegen - wir wiesen wiederholt darauf hin relativ stabile Interaktionspräferenzen für bestimmtes Gesprächsverhalten (5.1.) und relativ gehäufte (im weiten Sinne) religiöse Darstellungsinhalte (6.2.) vor. An diesen läßt sich wissenschaftlich die Differenz zu dem Gespräch, das nicht Seelsorge, auch nicht Alltagsseelsorge ist, graduell objektivierend ablesen. Zweitens: Von seiten der Laien, für Alltagszwecke, reicht es aus festzulegen, daß Seelsorge dann möglich ist, wenn man mit einem Pfarrer oder einer Pfarrerin spricht, und zwar, wenn es ein ,gutes' oder ein ,intensives' Gespräch war. Stecks phänomenologische Umschreibung von Seelsorge als Gespräch mit charakteristischer Intensität ist eigentlich die Definition der Laien. Gespräche mit anderen als kirchlichen Professionellen würden allerdings in der Alltagssprache höchstens metaphorisch als Seelsorge bezeichnet werden. 71 Sie bleiben aber auch dort doch als auffallend besondere, eben intensive' oder ,gute' Gespräche in Erinnerung. Drittens: Von der Seite der professionell Seelsorge ausübenden Person ergibt sich noch einmal eine andere Weise, Alltagsseelsorge in Abgrenzung zum Alltag zu definieren. Seelsorge ist dann, wenn ein kirchlich Professioneller charakteristisch intensive Gespräche führt als Teil seiner Berufsarbeit. Auf den Punkt gebracht: Seelsorge sind diejenigen intensiven Gespräche, bei denen die Professionellen sich sagen können: Ich werde dafür bezahlt. Der Begriff der Alltagsseelsorge hat sich nun als ein solcher theoretischer Begriff erwiesen, der nicht rein innerhalb des theoretischen Systems sich entfaltet, sondern Praxis zu erschließen sucht, also Praxis beschreibt. Die Involviertheit der an konkreter Alltagsseelsorge Beteiligten am operationalen theoretischen Begriff der Alltagsseelsorge macht es nötig, deren je eigenes Handeln in die Theorie der Alltagsseelsorge aufzunehmen. Handlungsfähigkeit und Handlungsmöglichkeiten der Akteure diskutiert die 71 Die Taxifahrerin E.MACHER („Wie geht's?, 1991, 38): „fast wie im Beichtstuhl"; ein Gastwirt: „Man ist also hier n' halber Beichtvater" (bei F.NESTMANN, Der schönste Platz ist immer an der Theke - Gastwirte und Gastwirtinnen als alltägliche psychosoziale Helfer, 1985, 333-350; 342). Der Theologe und Taxifahrer G.KNÖRZER schreibt über den „Taxifahrer als Seelsorger" so, daß er von seinen eigenen Erfahrungen berichtet (Der Taxifahrer als Seelsorger, 1993, 41-49). Er fragt sich: „könnte man dann nicht jeden Kontakt von Menschen untereinander, sobald er nicht rein instrumenteil geschieht, unter den Begriff der ,Seelsorge' fassen? Und: Zu was taugt dann ein solchermaßen aufgeblähter Begriff der Seelsorge?" (48). Seine vorläufige Antwort besteht darin, daß er, obwohl in seinen Beispielen ,,[k]ein einziges Mal ... ein Gespräch eine religiöse Wendung [bekam]", „einen sehr feinen Riß in der Wirklichkeit" (48) wahrnimmt, in dem Annahme von Person zu Person geschieht (49). Diese Deutung ist aber keine Selbstdeutung der Laien. So nimmt der theologisch versierte Professionelle sein Taxifahrerhandeln und gegebenfalls auch das seiner Kolleginnen und Kollegen wahr.
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Theorie im Begriff der Kompetenz. Worin, so fragen wir, bestehen in der faktisch stattfindenden Seelsorge Laienkompetenzen und professionelle Kompetenzen, und wie verhalten sie sich zueinander? Damit wechseln wir von der Theorie der Theorie zur Theorie der Praxis. Zuvor seien noch die bisher erreichten Ergebnisse für den theoretischen Begriff der Seelsorge zusammengefaßt: Seelsorge ist fundiert im Alltag. Diese Fundierung realisiert sich in einer selbstverständlichen F o r m von Seelsorge, der Alltagsseelsorge. Durch momentane Reflexion findet eine Steigerung (Abstandnahme und/oder Bestätigung) des Alltags statt. Alle Seelsorge ist ein offenes hermeneutisches Verfahren. In den professionalisierten,hohen' Formen der Seelsorge wird der hermeneutische Rahmen auf ein Teilssystem hin spezialisiert. In der Seelsorge als ,hoher' Verkündigung ist dies das System der religiösen Deuteinstitution, präsent durch das kirchliche Amt derjenigen Person, die Seelsorge ausübt. In der Seelsorge als ,hoher' Therapie bzw. Diakonie ist es das personale System (Identität) bzw. das soziale System in seiner Wirkung auf einzelne (Sozialität), präsent durch die Hilfebedürftigkeit der Seelsorge suchenden Person. Alltagsseelsorge jedoch stellt auf dem Gebiet der Seelsorge die selbstverständliche F o r m der Integration der Teilsysteme bereit. Darin liegt ihre unverzichtbare Bedeutung.
„Ich würde auch den Begriff Seelsorge nicht so eng fassen. Ich weiß gar nicht immer, ob das Seelsorge ist was ich mache, oder nicht." (Votum eines Pfarrers in einer Diskussion über Hausbesuche)72 7.1.2. Professionelle Kompetenz und Alltagskompetenz a) Als sich Professionalität und Alltag differenzierten und als andere Professionen mit dem Zweck der Hilfe durch Gespräch aufkamen, sah sich die Theorie der Seelsorge dazu genötigt, das Verhältnis von professioneller Kompetenz und Laienkompetenz einerseits sowie den spezifischen Charakter der seelsorgerlichen Kompetenz gegenüber anderen Professionen andererseits zu beschreiben (vgl. 1.2.3.a). Die verkündigende wie die therapeutische Seelsorge versuchten die Aufgabe so zu bewältigen, daß sie die Professionalität der Seelsorge genauer zu fassen suchten, sei es als theologische Definitionskompetenz oder als therapeutische Gesprächsführungskompetenz (vgl. 1.2.3.b u. c). Unsere Analyse hat nun erwiesen, daß in der Praxis von Seelsorge, wie sie sich bei Geburtstagsbesuchen ergibt, diese Kompetenzen ungleich seltener Verwendung finden, als dies die Theorie
72 Bei H.-C.PIPER, Der Hausbesuch des Pfarrers, 1988; 20.
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fordert. Genauer: Verkündigung und Therapie liegen hier in einer eigenen Fassung vor, nämlich der alltagsnahen, die sich von den ,hohen' Formen der Verkündigung und Therapie, von denen die Theorien handeln, signifikant unterscheidet. Die Alltagsnähe des pastoralen Handelns, das wir bei der Analyse fanden, könnte dazu verleiten, die Professionalität von Alltagsseelsorge überhaupt zu bestreiten. In der Seelsorgetheorie hat die Abwehr professionalisierten Handelns eine lange Tradition und findet sich bis in die jüngsten Entwürfe hinein.73 Auf die dabei verwendeten verschiedenen Argumente soll im folgenden eingegangen werden und danach gefragt werden, was von den Ergebnissen unserer Analyse her dazu zu sagen ist. Die vorneuzeitliche Form der Professionalität ist das Amt. Traditionell überkommenes Regelwissen und soziales Ansehen waren die Basis, von der her in Gesprächen vorneuzeitlicher Seelsorge kirchliche Normen und Problemlösungen dem einzelnen zugeteilt werden konnten (vgl. 1.2.1a.). In der neuzeitlichen protestantischen Seelsorge wird, wenn man vom Predigtamt absieht, kaum auf das Amt als Gegenkonzept zur Professionalität zurückgegriffen. An den analysierten Gesprächen zeigt sich auch, daß der Hinweis auf das bloße Amt nicht die Erklärungslast für das faktische Verhalten in der Alltagsseelsorge tragen kann. Hier verschwindet dessen Vorsprung. In der Alltagsverkündigung und Alltagstherapie sind Persönlichkeit und kommunikative Fähigkeiten unabdingbare Faktoren. Erst in Kombination mit diesen läßt sich dann bestimmen, welche Rolle das Amt des Pfarrers in der Seelsorge hat, etwa als symbolische Repräsentation von Sinn74 bzw. - in der traditionellen theologischen Sicht - als Verkündigung an einzelne.75 Nicht selten wird die methodische Professionalität der Seelsorge bestritten. Seelsorge lasse sich nicht in Regeln fassen. Dieses Argument findet sich im 19. Jahrhundert 76 , verstärkt dann im Umkreis der Dialektischen Theologie 77 und bis heute hin, gerade in der Abgrenzung von der therapeutischen Seelsorge.78 Das Argument wird durch unsere Beobachtungen an 73 A.CAMPBELL (Professionalism and pastoral care, 1985) beklagt die „professional captivity of pastoral care" (43-57). Der Autor betont eingangs: „I find the idea that pastoral care should be regarded as a professional activity both attractive and unacceptable" (9). Zu seinem Vorschlag einer „escape from captivity" (54) siehe Anm.84. 74 6.2.3.a. und 3.1.2.a. 75 Siehe 3.I.2.C. 76 Z . B . M.SCHIAN (1.2.3.a).
77 Ein Beispiel: „Man hat Grund, gerade hier, da so sehr auf Regeln gewartet wird, keine zu suchen, sondern sie zu fürchten. U n d wenn überhaupt generelle Erfahrung sich hier aussprechen kann, so wäre es diese: 'Handelst D u in der Seelsorge nach Regeln, so wird es keine Begegnung. War es eine Begegnung, so ging's nicht nach Regeln' (M.MEZGER, Die Amtshandlungen der Kirche, 1957; 127). 78 „Für den Pfarrer käme es nun darauf an, statt mit der .geliehenen Identität' eines Therapeuten zu kokettieren, sich an die Seite von so alltäglichen .Seelsorgern' in seiner
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der Alltagsseelsorge insoweit gestärkt, als sich dort eine konsequente therapeutische Gesprächsführungsmethode in der Tat nicht findet. Insofern also ,Methode' die technizistische Durchsetzung eines Handlungsmusters unabhängig vom Gegenüber meint, ist der Kritik recht zu geben. Es zeigte sich aber in unseren Gesprächen, daß sehr wohl bestimmte Interaktionspräferenzen stabil bleiben (5.1.). Die Professionalität schlägt sich gesprächsmethodisch nieder - mag es sich um eher alltägliche, therapeutische oder verkündigende Gesprächsphasen handeln. In der therapeutischen Seelsorgetheorie wiederum erscheint die theologische Professionalität als eine, die sich im Gespräch selbst nicht eigenständig auswirkt, sondern höchstens eine mögliche subjektive Füllung inhaltlicher Art des erlaubten therapeutischen Verhaltens darstellt.79 Hier zeigte die Analyse der Alltagsseelsorge, wie kirchliche Aussagen und Alltagstheologie sehr wohl die Gespräche durchziehen - auch bei denen, die der Kirche als Institution fernstehen. Unter den Bestreitungen der Professionalität von Seelsorge findet sich schließlich auch die These, die Differenz zwischen denen, die beruflich Seelsorge ausüben, und den anderen könne überhaupt eingeebnet werden. Seelsorgerin und Seelsorger erscheinen dann als Freundin/ Freund oder Nachbarin/ Nachbar, einfach als guter Christ.80 Ernst Langes Schlagwort vom „professionelle[n] Nachbar[n]" scheint dieselbe Auffassung zu vertreten.81 Mag der Seelsorger auch sein Amt haben, theologisch und therapeutisch gebildet sein, zuletzt begleite er doch die Seinen einfach als Person im Alltag.82 Seelsorge ist dann immer Alltag und der ganze Alltag ist Seelsorge. Der beste Christ ist der beste Seelsorger. Gemeinde zu stellen, wie sie sich zuweilen hinter Postboten, Friseuren, Wirtsleuten verbergen können" (C.MÖLLER, 110). „Es geht um die Frage, inwieweit sich elementare Vorgänge und Erfahrungen unseres alltäglichen Lebens überhaupt verwissenschaftlichen lassen" (111). 79 Vgl. 7.1.l.b. 80 Vgl. 3.1.2.b. 81 „Der Pfarrer wird immer wieder so etwas wie ein professioneller Nachbar, dessen ganze Unentbehrlichkeit in der einen Tatsache sich zusammenzieht, daß Menschen Nachbarn brauchen" (E.LANGE, Die Schwierigkeit, Pfarrer zu sein, 1973, 14-33; 32). Lange argumentiert freilich komplexer. R.SCHMIDT-ROST (Der Pfarrer als Seelsorger - Fachmann oder Nachbar? 1979, 284-296) hat dann den Gedanken in seiner Bedeutung für die Seelsorge herausgestellt und kritisch gegen die Professionalisierungstendenzen durch Gesprächsführungsausbildung gewendet. Auch Schmidt-Rost argumentiert nicht allein vom Pfarrer als Nachbarn aus, aber sein Aufsatz hat seine bewußt gewollte Spitze im Bild vom Pfarrer als nachbarlichem „Vorbild" (296). Noch kritischer gegen die Professionalisierung äußert sich SCHMIDT-ROST 1989 (Probleme der Professionalisierung der Seelsorge, 31-42).
82 C.MÖLLER macht die Gegenüberstellung auf: „Charisma" statt „Expertokratie" (11). Die hervorgehobene Stellung des professionellen Seelsorgers ergebe sich allein aus seiner ,,allgemeine[n] Zuständigkeit": „Jeder kann in der christlichen Gemeinde auf seine alltägliche Weise zum Hirten und Hüter des Nächsten werden. Der Pastor ist nur 390
Dagegen spricht schon, wie wir bereits festgestellt haben, daß theologische und therapeutische Kompetenz doch gefragt sind - auch in der Alltagsseelsorge. Sie machen einen Unterschied aus. Ohne sie bliebe der therapeutisch mögliche Effekt - so begrenzt er auch ist - ziemlich zufällig. Ohne sie bliebe der Effekt an Begegnung mit der Institution Kirche und dem Glauben - so begrenzt er auch ist - ziemlich zufällig.83 Die genaue Beschreibung der Professionalität in Alltagsseelsorge allerdings macht ein präzisiertes theoretisches Konzept von der Praxis seelsorgerlicher Professionalität notwendig.84 „Gebraucht wird eine solche Professionalität, die nicht als Herrschaftsinstrument in der Hand von Experten die Gemeindepraxis dominiert, ..." 85 Die Krise des Expertentums beschränkt sich dabei keineswegs auf die kirchlichen Experten. Professionalitätstheorie hat sich überhaupt in den letzten Jahren als immer nötiger erwiesen. Neue Konzeptionalisierungen sind entworfen worden. Unter Mitbenutzung zweier von ihnen, einer allgemeineren aus den USA 86 und einer auf die sozialpädagogischen Berufe in Deutschland bezogenen87, will ich das Verhältnis von professioneller Kompetenz und allgemeiner Kompetenz bei Alltagsseelsorge genauer klären. b) Drei Formen des Handlungswissens hinsichtlich des Alltags sind zu unterscheiden: erstens das Wissen über den Alltag, zweitens das Wissen im Alltag und drittens das alltägliche Wissen.88
derjenige Hirte, der öffentlich zur Seelsorge ,gesetzt' ist. Je deutlicher er seinen Hirtendienst in Solidarität mit den alltäglichen privaten Hirten seiner Gemeinde versteht und ausübt, desto mehr wird das einer Seelsorge zugute kommen, die sich an der Alltäglichkeit des Lebens orientiert" (121). 83 Ein unvorhersehbareres Maß an therapeutischer Wirkung im weiten Sinne bzw. kirchlicher Wirkung im weiten Sinne haben natürlich auch die unprofessionellen Gespräche der Laien untereinander (siehe dazu Anm.95). 84 CAMPBELL greift zwar für seine Kritik am Professionalismus auf Professionalitätstheorien zurück, sein „alternative professionalism" (59) jedoch besteht darin, Liebe und professio als „quite specific, practical, and consistent ways of activity" (64) einzufordern. „ ... pastoral care may find its own professionalism" (77). Das muß allerdings eine Professionalität in Anführungszeichen bleiben (63. 67), die nicht mehr an Professionalitätstheorien angeschlossen werden kann. 85 C.BÄUMLER/ N.METTE, Christliche Gemeindepraxis, 1987, 9-38; 29. 86 D.SCHÖN, The reflective practitioner. How professionals think in action, 1983. D.SCHÖN, Educating the reflective practitioner, 1987. 87 B.DEWE u.a., Professionelles soziales Handeln, 1993. 88 W.STECK unterscheidet die aus der Praxis des Christentums erwachsene Reflexionskultur, die wissenschaftliche Reflexionskultur und deren pastorale Vermittlung, die „im Zuge einer dritten Form theologischer Reflexion, einer gegenüber der universitären und der christlichen Theoriebildung eigenständigen kreativen Theorieproduktion erfolgt" (Kreativität ist Theologenpflicht. Plädoyer für eine vitale Reflexionskultur, 1992b, 261-264; 264).
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In der Alltagsseelsorge verfügen beide Seiten über alltägliches H a n d l u n g s wissen. M e h r habituell als bewußt wissen sie, wie m a n ein G e s p r ä c h miteinander führt. Sie k e n n e n sich d a m i t aus, sich auf den drei G e s p r ä c h s e b e n e n des handlungsbegleitenden D i a l o g s , des Small talk u n d des darstellenden G e s p r ä c h s (vgl. 4.1.) z u bewegen. Sie k ö n n e n zwischen Darstellungsgewährung, D a r s t e l l u n g s k o n k u r r e n z u n d Darstellungsaushandeln hin- u n d herwechseln (4.2.). Sie haben es gelernt, wie m a n anläßlich eines G e b u r t s t a g s miteinander spricht (4.3.). Sie kennen u n d v e r w e n d e n Darstellungsinduzierer, Darstellungsreduzierer, Darstellungsqualifizierer (5.1.). Sie k ö n n e n - in der Regel - auch die ethische, die religiöse u n d die kirchliche D i m e n s i o n v o n Wirklichkeit ansprechen (6.2.1.-6.2.3.). Insoweit sind in der T a t Pfarrerinnen u n d Pfarrer nichts anderes als irgendwelche P e r s o n e n , m i t denen sich gerade ein G e s p r ä c h ergibt. Dieses H a n d l u n g s w i s s e n ist in der Regel in den H a n d l u n g e n selbst verborgen, kann bei P r o b l e m e n aber auch z u kleinen Erklärungs- u n d Legitimationstheorien (.kleine P s y c h o l o g i e ' 8 9 , , k l e i n e Theologie' 9 0 ) aktiviert werden. 9 1 E s bildet die Alltagshermeneutik selbstverständlichen Verstehens. Auch alltägliche Helfer machen sich Überlegungen zu ihrem Tun. Diejenigen, die in ihrer beruflichen Situation (Frisiersalon, Massagepraxis, Kneipe, Taxi) häufig in Gespräche helfenden Charakters verwickelt werden 92 , entwickeln Theorien und Verhaltensweisen, um einerseits ihrer Berufsausübung nicht zu schaden, andererseits sich in Distanz zu halten: Eine interviewte Taxifahrerin sagt: „Normalerweise hör' ich mir den Schmarrn an und sag' ab und zu ja. Je nachdem, ob ein Fahrgast mir sympathisch ist, spreche ich auch mit ihm oder nicht. Aber die Leute wollen überhaupt nicht wissen, was ich persönlich von etwas halte." Ein Beispiel aus ihrer letzten Nachtschicht: „Ein Herr mittleren Alters, angetrunken, konnte sich nicht entscheiden zwischen seiner Frau und seiner Sekretärin - das alte Dreiecksproblem. Er fragte, was ich tun würde, wenn ich seine Frau wäre und davon erfahren würde. Da habe ich gesagt, daß ich ihn nicht für einen so tollen Hecht halte und er gleich gehen könnte, worauf er ziemlich angefressen war. Aber das ist mir egal." 93 89 Vgl. 5.3.3.b. 90 Vgl. 6.2.3. 91 Vom „knowing-in-action" gilt: „We reveal it by our spontaneous, skillfull execution of the performance; and we are characteristically unable to make it verbally explicit" (SCHÖN 1987, 25). Hingegen tritt „reflection-in-action" bei einer Störung ein, um diese zu beheben (26). 92 Vgl. F.NESTMANN, Die alltäglichen Helfer, 1988. Die Taxifahrererin E.MACHER wird „pro Nacht sicher zwei-, dreimal um Rat gefragt" (38). Nach NESTMANNS Erhebung unter den entsprechenden Berufstätigen werden mindestens einmal oder häufiger pro Arbeitstag Problemgespräche geführt bei 75% der Masseure/ Masseurinnen, bei 41% der Gastwirte und -wirtinnen, bei 34% der Friseusen/ Friseure, bei 15% der Taxifahrer und -fahrerinnen (172). Diese „Inanspruchnahme" wird „bewußt erfahren und sogar unter Kollegen thematisiert" (ebd.). 93 E.MACHER, 38. Vgl. auch KNÖRZER: „Das Gespräch ist wie in jedem Beruf der Dienstleistungsbranche ... impliziter Bestandteil der ,Ware'. Daneben stellt es auch den 392
Anders als bei dem alltäglichen Handlungswissen verfügen die Professionellen eindeutig über mehr Handlungswissen über den Alltag als die Laien, genauer: sie verfügen über ein anderes Handlungswissen über den Alltag. Die Theorien der verkündigenden und der therapeutischen Seelsorge enthalten in sich ein Wissen über den Alltag, das Auskunft darüber gibt, wie das, was im Alltag vorkommt, zu typisieren sei (ζ. B. - um die einfachsten Schemata zu nehmen - diejenigen, die Seelsorge bekommen, als verstockte bzw. unbewußt Glauben suchende Sünder und/oder Mitchristen oder als an einem Konflikt erkrankte Klienten). Sie enthalten in sich ein Wissen, das nahelegt, welches Handeln zu unternehmen sei (z.B. Brechung des Sündenwillens und Zusage der Gnade Gottes oder Diagnose des Konflikts und Therapie durch non-direktive Gesprächsführung). Verkündigende und therapeutische Seelsorge definieren dabei in einem hohen Maße von ihrer Theorie her diejenigen Situationen, auf die die Theorie überhaupt zutreffen soll. Sie begrenzen den Alltag, der Gegenstand professionellen Handelns sein soll, auf bestimmte Handlungen und schließen das Phänomen, das wir als Alltagsseelsorge erhoben haben, weitgehend aus. Die hier vorgelegte Arbeit versteht sich als Beitrag dazu, das Handlungswissen über den Alltag des Pfarrers und der Pfarrerin zu erweitern. Sie schärft den Blick für das Phänomen der Alltagsseelsorge. Sie entwickelt ebenfalls Typisierungen über das, was im Alltag vorkommt, und beschreibt theoretisch in sich konsistent, was im Alltag an Handeln möglich ist. Ihr Wissen über den Alltag unterscheidet sich aber von jenem der verkündigenden und der therapeutischen Seelsorge dadurch, daß es in einer Weise erworben ist und präsentiert wird, bei der diejenigen, auf die sich die Handlungen beziehen, ein größeres Gewicht bekommen (Analyse von Interaktionen, Analyse des von den Seelsorgerezipienten tatsächlich Gesagten).94 Es geht um ein theoretisches Verstehen der anderen, die an der Seelsorge beteiligt sind.95
wirksamsten Schutz vor Repressalien von Seiten des Fahrgastes dar" (42). „Das Kommunikationsangebot von Seiten des Taxifahrers wird in der Regel zwei- bis dreimal gemacht. Erfolgt dann keine wirkliche Antwort von Seiten des Fahrgastes, wird nicht weiter nachgehakt. Der Fahrgast möchte in Ruhe gelassen werden. Ich würde diesen Anteil an Fahrgästen allerdings nicht höher als zwanzig Prozent einschätzen." Das „Weiterreden nach Entrichtung des Fahrpreises schafft für den Taxifahrer eine schwierige Situation. Denn er ist ja, um Geld zu verdienen, auf den nächsten zahlenden Fahrgast angewiesen ..." (43). Vgl. auch den Abschnitt über ,,[d]ie emotionale und kognitive Verarbeitung der alltäglichen Hilfeerfahrungen" bei NESTMANN 1988, 290303 (siehe außerdem NESTMANN 1985, 343-346).
94 D.SCHÖN über „research on the process of reflection-in-action" (1983, 320-323): „In order to study reflection-in-action, we must observe someone engaged in action" (322). 95 Das Wissen der Professionellen unterscheidet sich in seinem Erwerb und Charakter grundsätzlich von dem Gesprächswissen, daß sich Friseusen, Gastwirte usw. beschaffen. Jene nicht-professionellen Gesprächsführer erwerben sich ihr Wissen im
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Wissen über den Alltag bezieht sich auf diesen kognitiv (die Alltagsseelsorge kennenlernen). Die Bekanntschaft mit Wissensinhalten hat aber auch eine motivationale Dimension. Was ich kenne, das kann ich dann auch schätzen (oder nicht schätzen). Durch die Analyse der Gespräche wird vor Augen geführt: daß und wie es möglich ist, in der Alltagsseelsorge äußerst flexibel zu sein; daß auch bei Abrücken von den .hohen' Formen der Seelsorge und Therapie sinnvoll interpretierbare Gespräche entstehen; daß auch dann ein solches Gespräch entsteht, wenn von beiden Seiten Interessen eingebracht werden (6.3.1. u. 6.3.2.); daß Heterodoxie nicht nur bei Kirchenferneren, sondern auch bei Kirchennahen vorkommt und der Pfarrer auch einmal eine Diskussion verlieren kann (6.3.3.); daß im gemeinsamen Handeln theologisches Wissen enthalten sein kann, ohne daß dies explizit wird (6.3.5). In der Art und Weise, wie wir die theoretische Kompetenz zur Seelsorge als Kompetenz für Alltagsseelsorge fassen, bildet das in dieser Arbeit vorgelegte Wissen über den Alltag schon etwas davon ab, daß Wissenserwerb und Handeln aus Wissen in kommunikativ vermittelter Weise auf Situationen bezogen sind. Für das Handlungswissen im Alltag gilt dies nun in ganz ausgezeichnetem Maße. Der Theorie-Praxis-Schock, über den in allen Wissenschaften, deren dazugehörige Profession direkt mit Menschen handelt, geklagt wird, betrifft bekanntlich auch die Praktische Theologie und ebenso die Seelsorge. Handlungswissen über den Alltag, selbst wenn es in Wissen über dessen Alltagscharakter (Theorie der Alltagsseelsorge) besteht,
Alltag. Sie lernen „Vorsicht, ein abgewogenes oder ausbalanciertes Handeln, die Taxierung von Beziehungen und das Austarieren von Engagement" (NESTMANN 1988, 300). „.Fingerspitzengefühl' für das Registrieren der Problembetroffenheit" der Kunden, das „Zuhören ... können" und eine verbale, aber sich auch emotional distanzierende „Zurückhaltung" (301) - darin mag also der erfahrene Kneipenwirt der jungen Vikarin weitaus überlegen sein und deshalb auch de facto ein Gespräch nicht selten hilfreicher führen können als sie - sein Wissen aber geht über alltägliche Typisierungen nicht hinaus. Es wird nicht durch eine zusammenhängende Theorie wissenschaftlich geordnet, sondern strukturiert sich als Kasuistik. Etwa die Hälfte jener alltäglichen Helfer zeigt Interesse für professionelle Anleitung in geeigneten Hilfe- und Reaktionsstrategien; die andere Hälfte lehnt dies ab, oft auch mit dem Hinweis, es handele sich ja nur um eine Nebenerscheinung ihres Berufes (NESTMANN, 303). - Wenn hingegen „Laien" etwa zu einem kirchlichen Besuchsdienst herangezogen werden, dann verläßt man sich nicht auf derart alltägliches Wissen, sondern unternimmt eine Schulung, die sich an den theologischen und/oder therapeutischen Maßstäben des professionellen Wissens orientiert, auch wenn es sie nicht erreicht (vgl. D.K.SWITZER, Laien als Seelsorger, 1977, 297-304; J.APPELKAMP u.a., Türen öffnen. Handbuch für Besuchsdienste, 1979). Damit ist nicht gesagt, daß professionelle Hilfe prinzipiell effektiver sei als nichtprofessionelle; Effektivität läßt sich selbst etwa innerhalb der psychotherapeutischen Schulen schlecht gegeneinander abmessen (NESTMANN 1988, 311). Die Gespräche der Pfarrerinnen und Pfarrer helfen nicht in jedem Fall besser als die der Laien, sie helfen anders. Es kommt auf den Maßstab an. 394
ist nicht identisch mit dem Handeln im Alltag selbst. Aus kognitiver Kompetenz samt motivationalen Elementen resultiert nicht schon automatisch pragmatische Kompetenz. Regelwissen, selbst wenn es um das Wissen über interaktionale Regeln geht, sichert noch nicht die Benutzung von Regelwissen im Gegenüber mit anderen Menschen. Kombinationsleistungen müssen dazutreten. Erst wenn die wissenschaftlichen Regeln zusammen mit der konkret durch das Gegenüber sich ergebenden Situation und unter Benutzung von alltäglichem Handlungswissen sinnvoll verwendet werden, entsteht eine eigene Art von Kompetenz, die praktische Kompetenz oder Berufskompetenz. 96 Die „Transformation des Wissens im Handeln ist eine spezifische Leistung des Professionellen, ,..". 97 Sie ist eine hermeneutische Fähigkeit und eine „Fähigkeit, Bedingungen für die Möglichkeit für die Subjektwerdung der Gemeindeglieder hinsichtlich einer kommunikativen Gemeindepraxis zu schaffen". 98 Für die Ausbildung der pastoralen Professionellen ist das Vikariat als besonderer Ort des Lernens von Handlungswissen im Alltag eingerichtet worden. Alltägliches Wissen steht allen offen und ist auch notwendig bei der Ausübung professionellen Handelns. Insofern haben beide, Seelsorger bzw. Seelsorgerin und Gemeindeglied, die gleiche Alltagskompetenz. Zur Alltagsseelsorge gehört jedoch auch die professionelle Kompetenz des Seelsorgers oder der Seelsorgerin, deren professionelles Handlungswissen über den Alltag und deren professionelles Handlungswissen im Alltag. Wie aber kann Handlungswissen im Alltag, wie kann also die praktische Berufskompetenz erworben werden? Durch die Lektüre einer Arbeit, die Handlungswissen über den Alltag enthält, geschieht das noch nicht. Eine Arbeit, die eine Theorie der Alltagsseelsorge entwirft, schafft dadurch noch nicht deren Praxis. Die Ubersetzung in die Praxis ist ihrerseits eine Angelegenheit der Praxis. Man erwarte von dieser Arbeit also kein Programm der Ausbildung in Alltagsseelsorge. Allerdings kann von den theoretischen
96 Es „zeichnet sich professionelles Handeln ... durch ein Fallverstehen (aus), für das wissenschaftliches Wissen ein notwendiges Element darstellt, das durch Erfahrungswissen und hermeneutische Sensibilität für den Fall ergänzt wird. So gesehen werden wissenschaftlich begründete Regeln nicht befolgt, sondern ausgenutzt. Man muß sehen, wofür sie taugen, muß ihre Gültigkeit und vor allem deren Grenzen abschätzen können" (DEWE u.a., 13f.). 97
DEWE u . a . , 12.
98 BÄUMLER/ METTE, 27. S.DREHER (Geburtstagsbesuche bei Jubilaren, 1982, 158-170) entfaltet diese Kompetenz als den professionellen Umgang mit pastoralen Zielen beim Geburtstagsbesuch. E r plädiert dafür, daß der Pfarrer unter den möglichen Zielen, die den Bedürfnissen der Besuchten entsprechen, bewußt auswählt, und: „Ich muß flexibel sein, meine Zielsetzung kurzfristig zu ändern. Das ist aber etwas anderes, als wenn ich ziellos in eine Situation hineinstolpere und mich dann wundere, daß ich unzufrieden wieder herauskomme" (167). Dabei sei besonders auf die „Kongruenz von Besuchszeit/ -situation und Zielsetzung" zu achten (168f.).
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Prämissen her doch ein Umriß davon gegeben werden, unter welchen formalen Voraussetzungen sich solch eine Verbesserung vollziehen könnte. Zum einen geschieht sie indirekt durch habituelle Bildung. Die häufige kontinuierliche Übung in bestimmten Vollzügen schafft habitualisierbare Kompetenzen. Auch die beiden Theorien der Seelsorge, von denen ich mich abgesetzt habe, haben dies gesehen und einen ganzheitlichen Vollzug der Professionalität angeraten und dann in je spezifischer Weise akzentuiert. Für Seelsorge als Verkündigung ist theologische Bildung nötig. Eine Person, die als Theologin bzw. Theologe existiert, diese Existenz in Beziehung mit Schrift, Gebet und Gottesdienst lebt", die habitualisiert ihre Professionalität so, daß sie diese als Handlungswissen im Alltag leben kann. Für Seelsorge als Therapie ist psychologische Bildung nötig. Wer Psychologie betreibt, und zwar so, daß er sich selbst in seiner psychischen Fassung kennt und annimmt 100 , der habitualisiert seine Professionalität so, daß er sie als Handlungswissen im Alltag leben kann. Für Alltagsseelsorge rückt die alltagstheologische Bildung an die entsprechende Stelle. Die zugleich theoretisch reflektierte wie ganzheitlich gelebte Teilnahme in alltagstheologischen Kontexten schafft entsprechende habitualisierte Professionalität. Hier ergibt sich freilich die Schwierigkeit, daß Alltagstheologie ein viel diffuseres Phänomen ist als das theologische Wissen samt der kirchlichen Religiosität oder das psychologische Wissen samt der Psychokultur. Wir stehen noch ziemlich am Anfang einer Erfassung der Theologie der Laien. 101 Der praktische Ort der Alltagstheologie freilich ist eindeutig der eigene Alltag und der der anderen. Die ältere pastoraltheologische Literatur hat schon immer geraten, man solle die Menschen seiner Gemeinde möglichst gut kennenlernen. Wenn da der
99 Vgl. dazu z.B. C.MÖLLERS Abschnitte „Die seelsorgerliche Kraft der Liturgie" und „Das Gebet sensibilisiert zum 'doppelten Hören'" (115-117.117-119). 100 Vgl. dazu z.B. J.SCHARFENBERGS Abschnitt „Selbsterfahrung als Voraussetzung pastoralpsychologischen Lernens" (1985,
157-168).
101 Dafür ist zum einen die Beachtung sozialwissenschaftlicher Erforschungen religiöser Praktiken in den modernen Gesellschaften nötig wie etwa: W.-D.BUKOW: Magie und fremdes Denken. Bemerkungen zum Stand der neueren Magieforschung seit Evans-Pritchard, 1994, 61-104; H.STENGER, Die soziale Konstruktion okkulter Wirklichkeit, 1993; W.-D.BUKOW, Ritual und Fetisch in fortgeschrittenen Industriegesellschaften, 1984b; T.HAUSCHILD, Der böse Blick, 1982. Es gibt auch bereits manche theologische Arbeiten, die kritisch Möglichkeiten und Grenzen von Religion in typischen nicht-kirchlichen sozialen Orten der Gegenwart - Medien, Familie, Jugendkultur - aufsuchen: H.ALBRECHT, Die Religion der Massenmedien, 1993; U.SCHWAB, Familienreligiosität. Religiöse Traditionen im Prozeß der Generationen, 1995; H.STEIB, Entzauberung der Okkultfaszination. Magisches Denken und Handeln in der Adoleszens als Herausforderung an die Praktische Theologie, 1995. Vgl. auch P.ZIMMERMANNS Analyse von im Radio gesendeten Erinnerungen von Hörern und Hörerinnen an Weihnachten (Das Wunder jener Nacht, 1992).
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Begriff der Gemeinde nicht zu eng gefaßt ist, dann stimmt das für die Alltagsseelsorge genauso. Geburtstagsbesuche sind dafür nicht die schlechteste Möglichkeit. Die Habitualisierung der Professionalität ist nicht die einzige Weise, Berufskompetenz zu erwerben. Daneben tritt der direkte Erwerb in der Laborsituation. Die der Predigtanalyse und der Protokollanalyse analoge Art und Weise bei der Alltagsseelsorge ist die Analyse von Tonbandaufnahmen. Dabei wäre es nun unpraktisch und unangemessen, eine Verdoppelung der Analysen, wie ich sie hier mit großem Aufwand durchgeführt habe, vorzunehmen. Vielmehr legt sich nahe, wenn denn die interaktionale Struktur für den Alltag kennzeichnend ist, zu fragen, ob auch diese Struktur nicht in die Weise der Analyse selbst eingehen müßte. Wie beteiligen wir die andere Seite an der Analyse? Es wäre also auszuprobieren, wie Analyse von Alltagsseelsorge-Gesprächen auch durch (Labor-) gespräche mit Laien über Gesprächsaufnahmen stattfinden könnte. 102 Wie dies im einzelnen aussieht, das kann nur gemeinsam mit Laien sowie den Alltagsseelsorge Lernenden und den Alltagsseelsorge Lehrenden praktisch entwikkelt werden. Verstehen üben muß man mit denen, die verstanden werden sollen. Eine wissenschaftliche Untersuchung wie die vorgelegte, die das Handlungswissen über Alltagsseelsorge vermehren will, muß sich ihrer Grenzen bewußt bleiben. Sie darf nicht vorgeben mehr zu leisten, als sie leisten kann. Sonst würde sie den Seelsorgealltag, dem sie doch dienen will, erschweren, anstatt ihm Raum zu geben. Selbstbegrenzung auf das, was in der konkreten Situation bei den gegebenen Mitteln möglich ist, das ist etwas, was sich von der Alltagsseelsorge lernen läßt. Praktische Theologie bleibt eine Theorie.
102 Für die praktische Ausbildungsphase im ärztlichen Beruf wird das Verfahren der Rückkoppelung mit den Laien bereits angewendet (R.FRANKEL/ H.BECKMANN, Impact: An interaction-based method for preserving and analyzing clinical transactions, 1982, 71-85).
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7.2. Zur Praxis der Seelsorgetheorie und des Seelsorgetheoretikers „... und sehn betroffen Den Vorhang zu und alle Fragen offen" (B.Brecht, Der gute Mensch von Sezuan).
7.2.1. Weitere Forschungen über Alltagsseelsorge Diese Arbeit versteht sich als ein Teil der Forschungsbemühungen um Laientheologie im Alltag. 103 Dabei sollte klar sein, daß Laientheologie nicht mehr einfach als Theologie für die Laien, gemacht von Professionellen, entworfen werden kann. Laientheologie ist anderes als die Popularisierung der Theologie für die Laien. 104 Sie ist Erforschung derjenigen Theologie, die sich unter den Laien findet. Geht das Programm einer Laientheologie dabei von einem Gegensatz zwischen Laientheologie und professioneller Theologie aus, dann ist Laientheologie die ganz andere Theologie, an der die Professionellen keinen Anteil haben. Vielleicht wollen sie dann keinen Anteil daran haben, weil die Laientheologie nicht kritisch genug ist.105 Oder es wird propagiert, sie könnten ihn höchstens bekommen, wenn sie ihre Professionalität ablegen.106 Unsere Überlegungen zur Beziehung von Laienkompetenz und professioneller Kompetenz haben nun aber gezeigt, daß die Differenz zwischen Professionellem und Alltag sich nicht nur außerhalb der Berufsträger findet, sondern ebenso auch bei ihnen selbst. Wenn die zunächst so ganz anders scheinende Laientheologie zum Gegenstand erhoben wird, werden die Professionellen sich ihrer selbst ansichtig.107 Damit ergibt sich ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn. Darum muß das Programm einer Erforschung der Laientheologie erweitert werden zur Erforschung der Alltagstheologie. Die möglichen Daten solcher Forschungen sind vielfältig. Deren Bogen spannt sich von Strukturen und nonverbalen Zeichen alltäglicher Kultur über schriftliche Alltagstexte und mündliche Alltagsrede bis hin zu den Alltagsgesprächen. Die
103 Vgl. die in 7.1.1. diskutierte Literatur sowie 7.1.2. Anm.101. 104 Das ist natürlich auch eine mögliche - freilich praktische - Aufgabe. Sie wurde zu Anfang dieses Jahrhunderts besonders betrieben (vgl. das Unternehmen der „Religionsgeschichtlichen Volksbücher") und steht hinter vielen Gemeindebildungsprogrammen. Solange dabei die Vorstellung ist, den Laien kirchliche Theologie zu geben, regiert dabei immer die professionelle Dominanz über die Laien und wird davon ausgegangen, daß Theorie direkt die Praxis bestimmen könnte. 105 Auf dieses Problem scheint mir H.LUTHERS Ansatz letztlich zu stoßen. 106
So C.MÖLLER, 1 2 1 .
107 In einer entsprechenden Perspektive haben J.GERSTENMAIER/ F.NESTMANN nach „Alltagstheorien von Beratung" (1984) unter den professionellen Beratern und Beraterinnen gefragt.
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Erforschung der Alltagsseelsorge, die wir uns zur Aufgabe gemacht hatten, leistet dazu ihren Beitrag. Sie hat die eher selbstverständlichen Hintergrunderwartungen denn bewußten Strategien, so wie sie sich sprachlich niederschlagen, sichtbar gemacht unter Rückgriff auf bestimmte sozio-linguistische Arbeitsverfahren. 108 So konnten inbesondere interaktive und insoweit situative Anteile an der Alltagstheologie in den Blick kommen. Das verändert, wie wir sahen, auch den Begriff der Seelsorge überhaupt (7.1.1.) und die Beschreibung der professionellen Seelsorgekompetenz (7.1.2.). Dabei tun sich neue Fragen auf, die die noch nicht genügend geklärte Wirklichkeit zum Gegenstand haben und von denen auch Konsequenzen für die Theorie der Alltagsseelsorge zu erwarten sind: Das Raster ,Pfarrer - Laie' ist ein sehr grobes Raster. In der Alltagsseelsorge selbst kommen feinere Abstufungen vor. Wie sieht es aus mit der Differenz im Alltagsseelsorge-Verhalten zwischen solchen institutionell bestimmten Personen, die Seelsorge gewähren und Laien sind, und den professionellen Seelsorgern? Wo stehen etwa die angelernten kirchlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger (Besuchsdienstkreis) zwischen Laien und Professionellen? Das Raster ,Pfarrer - Laie' ist auch darin zu grob, daß es die nicht-kirchlichen professionellen Geburtstagsbesucherinnen und -besucher ebensowenig erfaßt wie sonstige Gratulanten: Wie verhalten sich die Gespräche beim Geburtstagsbesuch, die etwa von der Bürgermeisterin oder dem Vereinsvorsitzenden gehalten werden und die von herbeigereisten Familienmitgliedern und höflichen Nachbarn geführt werden, zu denen der Pfarrerinnen und Pfarrer? Eine empirische Arbeit über Laienseelsorge als Seelsorge ohne Beteiligung der pastoralen Seite muß erst noch geschrieben werden. Interessant wäre auch zu überprüfen, in welchem Ausmaß Professionelle verschiedener theologischer Schulen deutlich unterschiedliche Alltagsseelsorge betreiben. Eine analog zu der vorgelegten Arbeit verfahrende Untersuchung von Kasualgesprächen könnte erhellen, wie groß oder klein der relative Abstand zwischen Alltagsseelsorge und solchen auf ein kirchliches Ritual bezogenen Seelsorgeanlässen ist. Es läßt sich auch das methodische Verfahren variieren, und man könnte versuchen, mit quantifizierbareren Gegenständen zu arbeiten. Diese Arbeit konnte mit ihrer Analyse einer nur ganz geringen Zahl von neun Gesprächen (wiewohl es sich dabei um 216 Seiten transkribierten Texts handelt) nur zeigen, daß und wie bestimmte Interaktionspräferenzen vorliegen und Einzelfälle von Inhalten vorkommen. Es wäre aber auch interessant zu wissen, wie häufig ein bestimmter Interaktionstyp in der Alltagsseelsorge vorkommt und wie er realisiert wird.
108 Auch als Beitrag zur Sozio-Linguistik und zur allgemeinen Erforschung des Alltagslebens kann diese Arbeit natürlich gelesen werden.
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Sind in Gesprächen der Alltagsseelsorge interaktive Typisierungen von Kirchlichkeit meßbar? Wie genau steht es um die Präsenz des Heterodoxen in den Gesprächen der Alltagsseelsorge und in welchen Varianten wird damit von den Beteiligten umgegangen? Alle solche Forschungvorhaben wären natürlich auf ihre methodische Durchführbarkeit und auf ihre Aussagekräftigkeit zu überprüfen. Es kommen also - wie könnte es auch anders sein - mit der Lösung einer Aufgabe neue weitere Aufgaben zum Vorschein. Mehr Fragen tun sich auf, als schon beantwortet sind. Von weiteren Forschungen ist eine Präzisierung der vorgelegten Untersuchung zu hoffen, wobei - ich wiederhole die zu Beginn dieser Arbeit mit Blick auf W.Stecks Ergebnisse geäußerte Formulierung - neben Bestätigungen Korrekturen eher zu erwarten als auszuschließen sind. „Dan der glaub muß allis thun. ... darumb seyn all Christen man pfaffen, alle weyber pffeffyn, es sey junck oder alt, herr oder knecht, fraw oder magd, geleret oder leye." 109 7.2.2. ,A llgemeines
Priestertum'
Jedes Stück Theorie gehört in die Lebenspraxis der sie Betreibenden hinein. Diese Praxis offenzulegen erhöht die wissenschaftliche Klarheit und macht für andere in der geteilten Lebenspraxis deutlicher, was die Theorie für sie bedeuten könnte. Ich will deshalb darstellen, (a) wie die mir eigene Praxis der in dieser Arbeit vorgelegten Theorie vorangeht und (b) wie umgekehrt die in dieser Arbeit vorgelegte Theorie Anschluß bekommt an meine Praxis. Dabei ist zu berücksichtigen: Unausgelegte Praxis, das pure Erleben gibt es nicht. Es findet sich schon immer als Erfahrung vor, also als solche Praxis, in die kollektive und private Theoriekonstrukte eingegangen sind. Zu jedem Stück Praxis gehört also auch schon eine Theorie, in der sie sich ausgelegt wiederfindet. 110 a) Ich habe an dieser Arbeit verschiedene Interessen. Daß sie meiner wissenschaftlichen Qualifizierung und meiner theologischen Fortbildung dient, sei jetzt nur erwähnt. Ebenso will ich nicht darauf eingehen, daß sie als Arbeitsaufgabe den mir wohltuenden Wechsel von Arbeitsleben und Pri109 M.LUTHER, Ein Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen M e s s e [1520], 3 4 9 - 3 7 8 ; 370 Z . 2 4 - 2 7 .
110 Die Differenz von Theorie und Praxis selber ist Akt reflexiver Auslegung einerseits wie praktische Handlungsoption (soll ich mich in einem bestimmten Moment auf das Denken oder Tun konzentrieren) andererseits.
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vatieben mitstrukturiert hat. Ich lenke stattdessen die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Sachverhalt: Die Arbeit verdankt sich auch einem kirchlichen Interesse. Als Gemeindemitglied interessiert mich, wie in meiner Gemeinde das Christliche zur Sprache kommt. Als ordinierter Pfarrer interessiert mich, wie Pfarrerinnen und Pfarrer ihre professionellen Geburtstagsbesuche verstehen und gestalten. Als evangelischer Theologe wünsche ich, daß sich in der Seelsorge die befreiende Wirksamkeit Gottes in Christus als Freiheit der Christenmenschen verwirklicht. Als sich manchmal fromm und manchmal unfromm fühlender Mensch suche ich nach besserem religiösen Ausdruck. Das alles verdichtet sich für mich in Martin Luthers These vom ,allgemeinen Priestertum der Gläubigen'. 111 Wenn denn diese These stimmt, dann darf sie in der Kirche nicht nur eine These für theologische Sonntagsreden sein, aber im Alltag de facto immer ausgehöhlt werden. Wenn sie Wesentliches darüber aussagt, wie ein (evangelischer, lutherischer) Christ sich selbst verstehen kann, dann stellt sich die Frage, wo ich etwas davon finde, wie ich selber daran teilhabe und dazu beitragen kann. Die vorgelegte Untersuchung bearbeitet diese Frage innerhalb desjenigen Rahmens, den das wissenschaftliche System (einer empirischen Arbeit) setzt. Priestertum aller Gläubigen - das ist ein theologisches Urteil, kein einfach empirisches. Es spricht einer Wirklichkeit, aus der dies so nicht ohne weiteres ablesbar ist, etwas anderes zu. Es findet dort die Wahrheit Gottes vor. Ich werde also gar nicht empirisch nachweisen können, daß es das Priestertum aller Gläubigen tatsächlich gibt. Aber mich interessiert herauszufinden, welchen Anhalt diese These finden kann an Vorgängen, deren wissenschaftliche Darstellung nicht an die Befolgung eines bestimmten theologischen Urteils gebunden ist. So habe ich danach gefragt, wie in der pastoralen Seelsorge, und zwar an Stellen, wo die nicht-professionelle Seite in einer möglichst starken Position ist, sich die Laien gegenüber den Professionellen (und die Professionellen gegenüber den Laien) verhalten. Aus theologischen Gründen erschien mir solch eine Aufgabenstellung wichtiger, als etwa zu untersuchen, mit welchen Mitteln eine möglichst optimale Durchsetzung einer bestimmten kirchlichen Theologie gewährleistet werden kann. Mein theologisches Interesse trug so mit der Durchführung dieser Arbeit zu einem wissenschaftlich begründbaren Wirklichkeitsgewinn bei. Auch in den Verlauf der Arbeit flöß mein Interesse ein, aber so, daß es in eine allgemeinwissenschaftlich mögliche und sinnvolle Fragestellung umformuliert wurde. Mich interessierte, dem nachzugehen, wie sich reli-
111 Vom „allgemeinen Priestertum der Getauften" spricht C.BÄUMLER, Kommunikative Gemeindepraxis, 1984; 30), vom ,,allgemeine[n] Priestertum aller Glaubenden" H.-M.BARTH, Einander Priester sein, 1990; 16.
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giöse Faktoren in der Geschichte des Gesprächs bemerkbar machen, und ich führte das wissenschaftlich so durch, daß damit zugleich die Vorstellung widerlegt wird, als gäbe es eine eigene, vom sonstigen Gespräch unabhängige Geschichte der Seelsorge (Kap. 1). Ich beachtete die poimenischen Schemata, weil sie bei pastoralen Geburtstagsbesuchen wenigstens auf seiten der Professionellen wirksam sein dürften (3.2.). A m stärksten machte sich mein theologischer Hintergrund in Kapitel 6 der Arbeit bemerkbar. Wäre die sozio-linguistische Untersuchung des kirchlichen Geburtstagsbesuchs nicht aus kirchlichem Interesse verfaßt worden, so wäre hier wohl kaum so verfahren worden. Ich suchte nämlich Anschluß zu gewinnen an jene Darstellung des Gesprächs, die ja gerade den Zugriff auf Seelsorge durch ein spezifisch kirchliches Theoriekonstrukt nimmt: Verkündigung. Dieser Anschluß wurde dann aber so gesucht, daß dieses Theoriekonstrukt in einen allgemein wissenschaftlich einsehbaren Gehalt umformuliert wurde (6.1.). Das seinerseits schlug auf die Ergebnisse durch. „Verkündigende Gesprächsfiguren" wandelten sich bei derart empirischem Zugriff in die Darstellung von bestimmten Gesprächsinhalten, zu denen auch kirchliche Inhalte zählen. Das wissenschaftliche Ergebnis bestand dann in der Aufdeckung der Wirksamkeit der Einbringung von Interessen beider Seiten in das Gespräch (6.3.1. und 6.3.2.), der alltagstheologischen Streitkultur (6.3.3.), der Identitätsproblematik (6.3.4.), der handelnd-rituell vollzogenen Kommunikation des Christlichen (6.3.5.), wobei ich bisweilen durch den Verweis auf kirchliche Terminologie die Ubergänge zur theologischen Argumentation markierte. Ist das, was dort beschrieben wird, denn noch Verkündigung? - so mag dann die theologische Frage lauten, die von der kirchlichen Praxis motiviert ist. Darauf gebe ich die Antwort: Ich muß das Ergebnis erst wieder in theologische Zusammenhänge transformieren, um sichtbar zu machen, worin der theologische Erkenntnisgewinn besteht. Damit gelangen wir zur zweiten Perspektive, nämlich zu sagen, was nun die Ergebnisse für mein kirchliches Interesse bedeuten. b) Welchen religiösen Status haben die Ergebnisse dieser Arbeit? Meine theologische Antwort darauf lautet: Sie haben nur einen indirekt religiösen Status, denjenigen nämlich, den die theologische Tradition mit dem Begriff ,Gesetz' beschreibt. Wir werden hier dessen ansichtig, unter welchen Bedingungen sich das allgemeine Priestertum entfaltet. Es steht unter dem Gesetz des Unterschiedes von professioneller Kompetenz und Laienkompetenz, es steht unter dem Gesetz der gemeinsamen Laienkompetenz, an der alle teilhaben. Diese Kompetenz ist eine Kompetenz zur relativen Abstandnahme vom Alltag ebenso wie zur Negierung dieser Abstandnahme durch den Alltag; es ist eine Kompetenz zur eigenständigen Verarbeitung (Interpretation) der kirchlichen Tradition, die diese verändert, sei es zum Guten oder zum Schlechten. Das Gesetz, genauer der Umgang mit ihm, ist ambivalent. 402
Wie verhalten sich nun diese Bedingungen zu dem, was christlicher Glaube als die befreiende Kraft und Wahrheit Gottes bekennt? Es wäre theologisch alles verloren, würden nun diese Bedingungen zur normativen Vorgabe erklärt, d.h. würde Laienkompetenz im wissenschaftlichen Sinn einfach mit dem allgemeinen Priestertum identifiziert. Damit wäre die Besonderheit Gottes nivelliert. Das Interesse, daß es dazu nicht kommt, scheint mir das Movens hinter all denjenigen Versuchen zu sein, die im Begriff der Seelsorge selbst eine Sicherung vor dieser Gefahr einbauen wollen, indem sie ihn so definieren, daß das spezifisch Theologische dort gewahrt bleibt, von C.Möllers Seelsorge unter der Kautele der Oikodome bis zu H.Luthers Begriff der Seelsorge unter der Kautele des Alltagskritischen. So zu verfahren scheint mir aber nur nötig zu sein, wenn man denn Gesetz behandelt, als wäre es diejenige Größe, die direkt die Christlichkeit ausmacht. Lutherische Tradition fragt hier danach, ob das dann nicht ,gesetzlich' werde. Wird, wenn man diese Sicherungen in eine allgemeine Theorie einzuarbeiten versucht, vorausgesetzt, daß der Vollzug von Seelsorge schon die Seligkeit erreiche, daß die Verwirklichung von allgemeinem Priestertum schon das Ziel erreicht habe? Dem stände aber das - um es analog zu formulieren - ,allgemeine Sündertum aller Gläubigen' (vgl. simul iustus et peccator) entgegen. So sehr,Gesetz' auf die formalen Bedingungen aufmerksam machen kann, unter denen sich Seligkeit, sich Evangelium vollzieht, so wenig führt es diese schon selbst herbei. Evangelium entscheidet sich erst im Rezeptionsprozeß. Genauer: erst im Rezeptionsprozeß treten Gesetz und Evangelium wahrhaft auseinander.112 Diese theologische Weisheit leuchtet nach den interaktionistischen Erkenntnissen um so mehr ein. Nicht also ist durch Ergebnisse dieser wissenschaftlichen empirischen Untersuchung festgelegt, was sie bedeuten, sondern in deren Rezeption entscheidet sich erst, ob sie mehr sind als bloße Beschreibung des Faktischen. Die Rezeption wissenschaftlicher Ergebnisse für die Theologie muß selber - wenn man so will - Gesprächscharakter haben. Sie legt weder die theologische Wahrnehmung noch die kirchliche Praxis fest, aber diese dürfen sich auch nicht an den Ergebnissen ,vorbeimogeln'. U m es konkret zu machen: Das Ergebnis dieser Arbeit bedeutet nicht: Jetzt müssen genauso und überall Geburtstagsbesuche weitergeführt werden.113 Es sagt auch nicht: Erst wenn die Theologie eine ordentliche Alltagstheologie zustande gebracht hat, kann die kirchliche Praxis richtig werden. Aber die Arbeit führt im Detail vor, unter welchen geschichtlichen Bedingungen heute 112 Dazu über Luther siehe E.HAUSCHILDT, ,Gesetz und Evangelium' - eine homiletische Kategorie?, 1991, 262-287; 264f. 113 Wichtige Vorschläge zur Durchführung der Geburtstagsbesuche finden sich bei S.DREHER, G e b u r t s t a g s b e s u c h e bei J u b i l a r e n , 1 9 8 2 , 1 5 8 - 1 7 0 .
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Evangelium erklingen kann: Da treten neben die vertrauten Bedingungen der gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen die modernen Bedingungen des Dialogischen und des Personalen und deshalb auch: des Heterodoxen, ja sogar des Häretischen. Jetzt entsteht dann die Frage für mich als Theologen: Was bedeutet dies dann für meine Theologie? Wie soll ich jetzt mein Interesse für das allgemeine Priestertum verstehen? Ich will die theologisch-kirchlichen Konsequenzen in zwei Richtungen hin andeuten: Das Konzept des allgemeinem Priestertums erweist sich erstens nun deutlicher als eines, das keinen ontologischen Status zuspricht, sondern heuristisch zu verwenden ist: Wo und wie werden Christen bzw. Menschen überhaupt einander unter den Bedingungen von Laienkompetenz zum Priester? Hier, in der Laienkompetenz selbst, und nicht im Lehrbuch darüber, wie Laien sein sollten, will ich das aufsuchen. Diese allgemeinen Kompetenzen sind unverzichtbar, wenn es zur Seelsorge kommen soll; ohne die Fähigkeit zu Alltagstherapie, ohne Anforderung von Alltagsverkündigung, ohne (auch heterodoxe) Alltagstheologie gäbe es keine Seelsorge (und keine Verkündigung und keine Diakonie). Doch es kommt auf deren Rezeption an: Die Abstandnahme vom Alltag, welche Folgen hat sie? Das Eingehen in den Alltag, welche Folgen hat es? Woran läßt sich erkennen, ob die Folgen Evangelium sind? Auch dafür gibt es ein alltägliches kirchliches Muster: Wenn durch Seelsorge eine Situation kirchlicher wird, dann kann sie als gelungen gelten. Dieses Muster aber ist problematisch, und zwar dann - hier kommt jetzt die zweite Konsequenz aus den wissenschaftlich erhobenen Bedingungen, unter denen Seelsorge stattfindet -, wenn es Personalität und Dialogizität übergeht, wenn es die Situation unbedingt von Heterodoxie und Häretik freihalten will. Wird dies, daß die Situation durch Seelsorge kirchlicher werden soll, mit einem engen Begriff von Kirche gefaßt, dann rückt wieder das Gesetz in die theologische Bestimmung ein und gelangt an einen Ort, der ihm nicht zukommt. Der theologische Begriff von Kirche muß weniger ausgrenzend sein, dafür aber andererseits sehr wohl auf das Zentrum christlichen Glaubens hin durchsichtig.114 Solcherart dialogische, personale und potentiell heterodox-häretische Seelsorge erscheint dann als eine Verunsicherungssituation. Kirche kann in der Seelsorge ihren gesetzlichen Charakter verlieren. Zeigt sich in solcherart Seelsorge eine typisch christliche (soll ich sagen: evangelische, soll ich sagen: lutherische, dürfte ich sagen: religiöse) Fassung menschlicher Exi-
114 Ein entsprechender Zusammenhang bildet sich in der Merkwürdigkeit ab, daß die Formel v o m allgemeinen Priestertum' den traditionell exkluduierenden Begriff des Priesters einerseits kritisiert und aufhebt, zugleich aber christlicher Alltag in Verbindung gebracht wird mit dem Dienst am Allerheiligsten.
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Stenz? Jedenfalls erscheint Seelsorge als eine Stelle, in der nicht nur von den Themen, sondern auch von der Situation ihrer Bearbeitung her Kontingenzbewältigung ansteht. Ja, sie erscheint als ein Ort, in dem ein hoher Grad an Kontingenzfähigkeit verlangt und geübt wird. Christen brauchen solch einen Ort. Menschen brauchen solch einen Ort. Das Christentum beruft sich auf eine Religion, die an der Bewältigung von kollektiven Kontingenzerfahrungen (Untergang Israels, Tod Jesu) entstand. Die moderne Fassung der Seelsorge als ,Gespräch' symbolisiert diesen Sachverhalt. Was im Gespräch zum Geburtstag mit Seelsorgerinnen und Seelsorgern sich ereignet, nennen Laien einen „Lichtblick" (vgl. C2:1062), und „was anders" (C 1:1686) im Verhältnis von Kirche und Laien. Bei kirchlicher Predigt und religiösem Unterricht in der Schule dürfte das nicht so deutlich sein, auch nicht bei der massenmedialen Präsentation von Kirche, so sehr auch diese ihre je eigene Bedeutung haben. Schon jetzt ist es so, daß hier in der Seelsorge ein ausgezeichneter Ort besteht. Das kann noch mehr so werden. Daß dies schon so ist und noch mehr werden kann, gerade nicht nur in ,hohen' Formen der Seelsorge, sondern eben auch in der Alltagsseelsorge, das bedeutet auch eine Entlastung für Pfarrerinnen und Pfarrer vom schlechten Gewissen, ihre Seelsorge sei nicht kirchlich oder nicht professionell (therapeutisch) genug. Nicht nur, weil die Praxis de facto anders ist, und weil für eine Theorie der Seelsorge der Begriff der Alltagsseelsorge vonnöten ist, auch aus theologischer Perspektive erscheint nun das alltagsnahe Verhalten der Pfarrerinnen und Pfarrer in den Gesprächen mit Menschen in eigener Würde. Es muß wegen seiner Alltagsnähe dadurch nicht unprofessionell oder unkirchlich werden. Es ist der Ort, um spezifische Möglichkeiten zu nutzen, etwa Alltagstheologie (und Alltagstherapie) zu üben, Heterodoxie und Häresie an sich heranzulassen und zu bearbeiten, Identitätsverlust und -gewinn auszubalancieren. Allgemeines Priestertum - das heißt: die Augen offen halten für das, was an Christlichem im Alltag geschieht. Die gegenüber Ausländern, der Welt von heute und der Institution Kirche mit Ressentiments erfüllte Frau Class erhält in der Begegnung mit dem ihr so fremden Seelsorger doch den Segen. Hat das nicht etwas von der Szene am Jabbok, dem Ringen mit dem unbegreiflichen und doch segnenden Fremden? Das Lachen von Frau Cordes darüber, sich sputen zu müssen, um rechtzeitig zu sterben für die Beerdigung durch den Seelsorger - hat das nicht etwas vom Lachen der Befreiten gegen den Tod? Die gegenseitige (therapeutische) Aufmerksamkeit von Frau Brix und der Seelsorgerin füreinander, auch wenn sie bisweilen in Klatsch abgleiten kann - enthält sie nicht etwas vom ,mutuo colloquio et consolatione sororum'? Die Diskussion über die Reinkarnationslehre zwischen Frau Fink und dem Seelsorger - geschieht sie nicht doch als Streit in Liebe um die Wahrheit? Das gegenseitige Sich-Offnen zwischen Frau Diehl und dem Seelsorger dafür, was am eigenen Handeln und Sich405
Verstehen christlich sein soll - vollzieht es nicht etwas vom Eros der Theologie? Die Selbststilisierung des Herrn Eckert mit Hilfe der Seelsorgerin zum biblischen Weisen, so klein sie auch ist - spricht nicht aus ihr die Herzensbildung durch das biblische Wort? An der Alltagsseelsorge lassen sich nicht nur die Bedingungen des Alltags studieren, an ihr kann sich einem - Gott sei Dank - auch der Blick auf Gottes Wahrheit und Güte in der Wirklichkeit auftun. So beende ich diese Arbeit. Der Alltag hat mich wieder. Gespräche mit vielen Menschen warten - und mit ihnen die Welt und Gott.
406
.When there are few accepted procedures of analysis, as in research on spoken interaction, it is particularly important to keep the reader in clear view of precisely what data the analysis has been based on."1
ANHANG
Transkript des Gesprächs C2 Transkriptionsregeln2 Es ist einerseits Präzision in der Wiedergabe hörbarer Nuancen angestrebt, andererseits soll die Lesbarkeit nicht zu stark beeinträchtigt werden. Substantive und substantivierte Worte sind großgeschrieben. Satzanfänge, die in der gesprochenen Sprache wenig eindeutig sind, werden dagegen nicht großgeschrieben. Stärkere Abweichungen vom Schriftlautbestand werden nachgezeichnet, z.B.: „stümmt nich" oder „nenene". Verkürzungen im Lautbestand werden teils mit, teils ohne Apostroph notiert, z.B.: „haben'S gemerkt", „ich seh η Haus". soo mm
Um das Doppelte des Üblichen gedehnte Laute; noch stärkere Dehnungen erhalten entsprechend mehr Buchstaben.
stimmt nicht
Unterstreichungen heben Betonungen
°ja°
Gradzeichen erscheinen vor und hinter leiser oder weicher als normal Gesprochenem.
m_ und überha_ und dann_
hervor.
Verkürzte oder abgebrochene Wortteile, abgebrochene Worte oder Satzteile
1 M.STUBBS, Discourse analysis, 1980; 220. 2 Im wesentlichen stimmen die Transkriptionsregeln mit den von Gail Jefferson entwickelten Zeichen (vgl. D . B O D E N / R.ZIMMERMANN, eds., Talk and social structure, 1991; 278-282) überein, ähnlich arbeiten auch H.HAUSENDORF (Reproduktion von Seelsorgebedürftigkeit vs. Sinnstiftung, 1988) und andere mehr. - Zu weiteren Informationen über den Datenkorpus siehe Kap. 3.2., über die Genauigkeit der Transkription siehe 3.3.1.
407
gefallene Sprachmelodie, nicht unbedingt am Ende eines grammatikalischen Satzes leicht gesenkte Sprachmelodie, nicht unbedingt am Ende eines grammatikalischen Satzteils angestiegene Sprachmelodie, nicht unbedingt am Ende einer grammatikalischen Frage leicht erhöhte Sprachmelodie, die die Grenze zu einer nachfolgenden Aussage markiert emphatische Sprachmelodie, nicht unbedingt am Ende eines grammatikalischen Ausrufs nicht mit Sicherheit vom Transkribenten korrekt Abgehörtes
Ga) (
akustisch
)
[ganz leise] [geht weg] [Telefon klingelt]
Unverständliches
vom Transkribenten notierte Beschreibungen des Gesprochenen oder einer hörbaren Handlung bzw. eines akustischen Ereignisses
[lachend:] ja ja+
Das Ende des Geltungsbereiches, auf den sich ein Kommentar bezieht, wird durch ein Pluszeichen angegeben.
[5]
in Sekunden angegebene Länge einer Gesprächspause
{A-Stadt} {Zahl} Jahre
zum Zweck der Anonymisierung verallgemeinerte Bezeichnungen
Frau Meier
Alle Eigennamen sind zum Zweck der Anonymisierung durch andere ersetzt worden. Seelsorger/Seelsorgerin
A l , A2, X I etc.
Gesprächspartner/in und Bezeichnung des Gesprächs
Die Gleichzeitigkeit beider Gesprächspartner wird angegeben durch eine zwei Zeilen übergreifende eckige Klammer ganz links; was gleichzeitig gesprochen wird, steht untereinander: jX1 S
nein, das stimmt nicht ja
Läßt sich das gleichzeitig Gesprochene nicht graphisch untereinander anordnen geben halbierte Klammern an, an welcher Stelle die Gleichzeitigkeit auftritt bzw. endet: jX1 nein, ,-das stimmte nicht S [ausatmend:]achh was - 1 + 408
Wenn ein Gesprächsbeitrag unmittelbar an den anderen anschließt, wird dies mit einem „ = " angezeigt: S nein, das stimmt nicht X1 = ja aber wieso nicht
Transkript des Gesprächs (Gesprächsdauer: 45 Minuten)
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S Grüß Gott Frau {C2), C2 Grüß Gott. da bin ich, ( ) rs C2 ( ) schön, ja. das fand ich sehr aufmerksam da freu ich mich sehr. S Gottes Segen wünsch ich Ihnen, C2 danke, S für das Jahr das beginnt, C2 dankeschön, Gott begleit Sie ( ) ja, iS C2 das kann ich wirklich gut brauchen, ja, und so ein ein schönen ja ich hab den extra zuglassen, weil der nämlich "s extra noch mit einem Siegel versehen ist daß wir des alles auch sehn, [ aaaaaaaah, C2 und am am besten ist Sie machen des selber auf. S i C2 ahahahaha rC2 ich mach des aauf. S ja ha rC2 und bitte legen Sie doch (n bißchen) ab, S danke, danke, ja. rC2 =sonst ist's so kalt hernach nicht S ja haha ha. C2 Ich weiß gar nicht ob ich überhaupt noch eine Vase hab. S was! so viel Blumen haben Sie gekriegt! i C2 jaa! ich bin verwöhnt worden, ja! ach wie schön, Γ ts Ihr {Zahl} Geburtstag das ist eben was. C2 und das ist etwas was sich hält! [energisch und kurz] ja! richtig!+ S i C2 find ich ja ganz wunderbar. S das (Sätzchen) freut mich, [lachend] aha C2 ja. C2 =ich hab a bissle schlechtes Gewissen! S warum denn. 409
38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61
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ja weil ich a bissei nachlässig war. bitte schön, danke schön. [Knarrender Boden, wohl wegen Hineingehen ins Zimmer] ich war ein bißchen nachlässig in letzter Zeit mit dem =ja aber es fließt über von Blumen tatsächlich. Kommen, es ist viel es ist noch mehr da. so Frau {C2} ich muß Sie noch was bitte nehmens do_ um Erlaubnis bitten, ja ich kenn jemand, ein Pfarrer auch, der möchte gern äh: der möchte gern schauen wie das ist wenn ein Pfarrer m Besuch macht zum Geburtstag und darf ich des einfach da neben herlegen, ja natürlich! ausgezeichnet, danke vielmals, ja natürlich. gut so ha ja, ja ab_ bitte nehmen Sie doch Platz, danke. =auf dem Sofa ist am bequemsten. ja ja gut ja. gut. ich hab'e Tasse Tee vorbereitet ist das recht? schön ja gern danke ja. ja? jetzt muß ich schaun ob ich noch was finde, ist ja ein herrlicher Strauß! ist ja ein wunderbarer Strauß. das ist jetzt_ das ist jetzt wie heißt's der letzte gell? oder kommen noch welche? nein, nein das ist der letzte, des ist der letzte, des ist der letzte, gut, gut. ja. =Sie die Blumenhändlerin hat mir noch gesagt ich s_ Sie sollen des in ein lauwarmes Wasser hineintun, in ein lauwarmes ja, die hat das aufgeschnitten also wenn Sie des so befeuchten und des so schneiden immer ja dann hält sichs ewig fast meinte sie. ja also ich hab_ ja das hält ja wunderbar, und ist eine herrliche Farbe. hab ichs getroffen.
89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111
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so schön habens erwischt ja, ja ganz gut gut Frau (C2) ha wunderbar, ich hab mich schon so gewundert daß Sie den Termin gewußt haben. aber ia Frau {C2} Jahr für Jahr, bloß gestern gings
(
)
halt nicht gell, aber jetzt bin ich heut da das freut mich, hab Sie dafür allem, ja haha haha das ist aber schön ha, [3] was ich da serviert habe, ja was ist denn das! das hab ich_ [Geräusch] bitteschön von mir und des schmeckt sehr gut und da können Sie einstweilen sich laben. ja wie schön! darf ich Sie jetzt (a Schnapserl) geben, wer au nit schlecht ja, wer auch nicht schlecht bei dem Wetter, gut Frau (C2) =packmers, (in den Ärmel brauchn mer da,) ( ) ja ja haha ja und bedienen Sie sich wie Sie wollen, ja danke, m danke, [7] nehm ich gar kein Alkohol, aber: ich hab ihn bekommen und ich find son kleines Schnapserl zum Aufwärmen macht nix gell? macht gar nichts, nein, ah haha nein. bloß das ist erlaubt gell. und zwar hab ich den_ unse Hausmeister sind (A-Länder) ah {Name}! des ist ja, des ist ein: ein ein {Name} wie heißt des so: {falscher Name} {Name} also ich weiß nje was das für ein Schnaps ist. =also ich kenn die sie hat mir nämlich schonamal die Firma kenn ich {Name} die ist bekannt die da nehm ich auchimmer was mit. ja sie hat mir nämlich schonamal äh etwas gegeben, aber ich trinke kein' und ich heb den auf danke wenn mei Tochter kommt und die ist zur Zeit da, nur hat Termin ghabt und hat wegmüssen leider, die ist_ die lebt auf der Insel 411
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{Inselname), was! C2 {geographische Oberbezeichnung} S ja was! C2 =sehr schön, ja. =ja des is so des ist die rs C2 aber leider so weit weg. {B-Land-Adjektiv} {Küstenname} gell sowas rs C2 des ist_ ja genau. genau. r [s ja sowas ähnliches. rC2 =ach Sie wissen Bescheid s eine Sonneninsel ja Γ lC2 ja eine Sonnenin_ na ja es ist scho stürmisch auch oft, da wird mehr Reklame gemacht auch, Γ [s °ja° ja sicher, sicher, C2 aber: besser schon wie bei uns. ja, jah. rs C2 des auf alle F_ prosit, auf ihr Wohl Frau {C2} ja rs C2 danke, danke Ihnen. [3] C2 [weiter entfernt und Gehgeräusche] muß ich Ihnen gleich noch was zeigen+ S ja rs
C2
iS C2 r [s s ο s C2 S C2 S C2 S C2 S rs C2
[6]
[wieder näherkommend und gehend] hat sie mir einen Kalender gebracht, damit sie ihn nicht schicken muß, und da kann man sich a Bild machen von der lnsel+ ist natürlich auch bissl geschwindelt dabei, ja ho ja gar so sonnig und schön ist es auch wieder nicht, und das ist die Insel {Inselname}, ja. {Inselname} =für 1992 gleich. das ist gut. ja sie hat mirs schon gebracht daß sie's nicht schicken muß, ja m ach wie schön wie schön! ja des ist scho schön. [2] wunderschön. =haben Sie η schönen Urlaub ghabtoder? ach ich war in {C-Landl Frau {C2} das ist ja interessant. ja etzt muß ich aber Moment ich muß Ihnen noch was auch noch was mitbringen. ja
190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240
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C2 S C2 S C2 S tC2 S C2 S C2 C2 S C2 S C2 S C2 S C2 S C2 S C2 S C2 S f C2 ^S rC2 S S [ C2
wissen'S des hat auch was mit [Stimme entfernt sich] Ihnen zu tun+ [5] [währenddessen Knarren des Fußbodens] [Stimme wieder in der Nähe] Sie gehören mit zu den ganz Wenigen, die mir jedes lahr ein Dankeschön schreiben für meinen Gruß. ja. und da hab ich mir gedacht solln Sie dieses Jahr auch nicht leer ausgehen, ich möchte Ihnen dann wenigstens das Bild das heute drauf ist, Sie freuen sich so über meine Bilder, das Bild mitbringen, das ist ja wunderschön. das hab ich in {C-Land) aufgenommen. das ist aber a_ =ja das ist ja ganz fabelhaft interessant, wie lange waren Sie drin? ich (Zahl) Wochen, miter Gruppe von von jungen Leuten jungen Erwachsenen, ja ja die mit denen war ich (Zahl) und dann war ich noch noch {Zahl) Wochen so selber dazu. ja, ja. ist ja tolle Sache gewesen. =in einer Gruppe mit mit {Zahl} da spricht man {D-Sprache] gell? (D-Sprache). ja ja, ja. h-m, meine Tochter spricht (Ε-Sprache), also die war in {F-Land( drei Jahre, [leise gehaucht] ach ach+ und äh gearbeitet dort auch, gell hm große _ im großen Konzern, und die's dann wieder zurück Gottseidank ne, ja ja aber es is interessant amal so was zu sehen und zu hören, =es richtet einem wirklich die Maßstäbe ja wieder zurecht, ja ja ja ganz interessant, ja. =ja. a das freut mich aber! ja hab ich jetzt grad noch daran gedacht, das freut mich! ja di ha jedes Jahr haben Sie sich so über meine Sprüche ja hab ich hab ich mich gefreut und über meine meine Bilder äh gefreut, und das habn Sie mir immer geschrieben und das freut ja ja 413
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mich wieder und da hab ich gesagt dann sollen Sie auch nicht in diesem Jahr leer ausgehen, das Bild für ich heuer sollen Sie auch kriegen, hahaha hi das ist aber so aufmerksam, hahaha das ist aber_ das freut mich ganz besonders, wirklich, jetzt bring ich Ihn' a Glas Tee, gut ja. Tasse Tee, ja [2] [C2 spricht von weiter entfernt] ich hab ne Frage, ja da werd ich sehr lang was davon haben.+ ja freu ich mich und Sie haben offenbar auch einen_ eine Hand für für Blumen, ja also ich glaub's schon, ich glaube schon daß mir des gelingt manchmal aber da haben Sie jetzt viel zu tun mit all diesen vielen Blumen, ja gell ha hahaha hat eine alte Dame mir erzählt sie hat zu ihrem sechzigsten Geburtstag, also sie ist inzwischen {Zahl}, ja da hat sie Vasen kaufen müssen weil es soo viel Blumen bekommen hat, des hat nimmer gereicht ihre Vasen haben nimmer gereicht ja, ach so ja ach was ja. Sie müssen des noch a bissl anschneiden gell, ja freilich, des kommt jetzt dran, ja ja. da hab i jetzt gar nit dran gedacht. [2] das ist ein das ist ein süßer gell wie gehts Ihnen so_ das ist η Likör, ja doch doch das ist nix für Sie gell, es schmeckt gut, ja, ahaha danke, ha. [3] haben Sie soviel Arbeit wahrscheinlich immer gell das haben Sie ja es ist es ist randvoll.
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C2 S C2 S C2 S C2 S C2 S C2 C2 S rC2 S C2
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^C2 r C2 L S C2 S C2 rC2 S
S rC2 S C2 S t r L S
[Stimme entfernt sich] ja das glaub ich,+ [15] also wissen'S das hätt mir auch Spaß gemacht! das zu photographieren. gell? ja. da muß man ja auch a Auge dafür haben [Geschirrklappern während der nächsten 10 Zeilen] Sie haben sicher wunderbare Photos mitgebracht. och ja, so so mehrere hundert nneeiln und die dann alle aussortiert werden, ja! gell. das's eine Arbeit gell. ja. [4] wunderschön, wunderschön, der Strand hier! ja es ist schön also_ =warn Sie dort? ich war schon zweimal dort, ja h-m, ja ja. aber jetzt das Umsteigen in (G-Stadt) und so weiter, also des ist mir alles zu beschwerlich, zu beschwerlich, manchmal fürcht ich mich den Weg zur Kirche weil am Sonntag es ist so einsam die {H-Straße} so entlang, geht kein Mensch! oder höchstens mal eins, und e_ es wird eim ja immer so angst gmacht jaja gell, es ist da noch no nie da was losgewesen nicht. ja wahrscheinlich, aber die Angst ist halt da. nein noch nie war ja ja ja es wird wahrscheinlich noch nie was losgwesen sein nicht? =ja, ja. Sie können sich ja einschenken wenns Ihnen schmeckt gell also hahaha ja gern ich ich nehm noch gern ein, ja danke. [33] [währenddessen geht C2 fort (in die Küche) und kommt wieder zurück] da sind ja noch Postkarten hintendrin. ja, das ist zum ersten Mal gell, di könnens doch trennen also aus = ich krieg den Kalender immer aber das ist zum ersten Mal. alles mit Bildern ausm Kalender, sehr schön. und das ja! meii! die kleine Torte ist angeschnitten wir sind nämlich gestern eingeladen gewesen mei!
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und drum hab ich selber gar nit e Verwendung ghabt für die Tor[lachend]te hahaha+ ja "ich seh's ja° danke. [Stimme entfernt sich] Ihre Zeit wird sehr knapp sein, gell? ja weils scho wieder glei Mittag ist, gell, aber des wollt ich mir doch nicht nehmen lassen bei Ihnen zu sein das ist aber sehr nett, das freut mich ungeheuer. + [2] [Stimme wieder nahe] das freut mich ungeheuer, s'ist ja auch eine große Ehre für mich. ach Frau {C2} ja, [4] so [3] [Geschirrklappern] °o liebe Leut Kuchengabeln hab ich nicht." macht nix. brauch i nit. [1] es ist so kalt geworden gell schade, ja ja einmal muß der Winter kommen. ja ja leider. danke, danke. leider, dann trau ich mir so schlecht raus wenn's rutschig ist, ah, ich geh sehr unsicher, ich hatte vor ix Jahren mal ein ganz blöden Bruch, und zwar ein Sturz von einem Pferdeschlitten, da's meine Tochter und ich mir sind eingeladen worden zu einer Fahrt und des eine Bauerstochter und die hat geschmissen umgeworfen, und ich habe einen so schweren {Knochenbruch} gehabt ganz schlimm (Gelenk), "ja ja" und war {Zahl} Monate in {I-Ort} im Krankenhaus, "ach Gott" und seitdem is immer noch nix! ja s'is immer noch nit s'richtige. der ist da aber auch nicht so richtig behandelt worden, [3] C2 entfernt sich] wie war der Geburtstag. [wieder nahe] m? wie war der Geburtstag. schön! ja =schön! ja, ja. wir haben so mit Verwandtschaft gefeiert und, naja, es war recht schön aber anstrengend.
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jS ja des ist dann immer C2 ich bin froh wenn der Alltag wieder da ist. S jah hahahaha, jaja. C2 aber das schönstes Gschenk ist nämlich wenn meine Tochter da ist, S ja C2 unnd ist natürlich immer bissl wehmütig! sie ist (Beruf) in einer (Betriebsart) dort, also (genauere höhere Berufsbezeichnung), hat aber jetzt wegen mir sich schon mit dem Gedanken getragen ob sie net wieder her, aber sie ist mittlerweile sie wird (Feiertag) (Zahl), sie hat dort ihre gute Stelle, jetzt ist des für uns S tja C2 ein ein schlimmes Hangen und Bangen _ bitte bedienen r Sie sich mit Rum und Zucker und was Sie wollen. S ja danke danke ja C2 und auch dieses St_ wartet noch, nicht? rS =au Sie! ich hab ja noch a Mittagessen vor mir, C2 ja C2 jahaha des schmeckt immer noch. ja, jetzt ist des natürlich sehr schwer, jetzt habn unsere Nachbarsleut wir haben sehr nette Nachbarn die habn, sagte der Herr der geht immer in die {Bibliotheksname) gell der ist jetzt auch schon über (Zahl), unda sagt er da sind gar keine besonders guten Kräfte, ujetzt hat er gedacht wenn sich die Lotte mal bewerben würde, und zwar meint er über die Geistlichkeit gings am besten, [C2 Sie haben doch keine Beziehung mit der (Bibliothek), S ach ach null C2 null S null ja. [3] S ich bin jetzt (Zahl) Jahr hier und war einmal drin, rC2 ja ja. L S undund hab da was kauft ja, ja. C2 also gar keine! S na, °na°. C2 des denk ich mir. S ja. C2 des denk ich mir, [3] C2 und dort hat sie ihre gute Stellung und ist ein Risiko und sie möcht halt jetzt_ erstens ist sie a (KStädterin) und zweitens möchts halt jetzt doch im Alter wieder he_und in erster Linie wegen mir! aber des will ich dieses große Gschenk gar nicht annehmen. S hat sie Familie? C2 nein. 417
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allein, sie ist noch nicht eh sie ist nicht verheiratet, ja, sie ist allein. ja[3] also" das ist schwierig nicht? und ist des a {B-ländischer) {Betrieb}? eine {E-Iändische} {E-ländJ das sind halb und halb_ das sind halb {B-Länderl und halb {Ε-Länder) dort, fast mehr {B-Länder) sind dort beschäftigt. und daß sie an a {Betrieb) denkt die ä auch eine {Eländische) (Betrieb) hier oder dieser {Betrieb) die in {K-Stadt) ja das habn wir schon gedacht, aber das wär natürlich die Lösung. des is_ ja wenn sie (E-Iändisch) spricht, ja, perfekt. ja, also bitte! und {B-ländisch) sowieso!
S rC2 S C2 S ja C2 die spricht kein deutsches Wort dort. ka_ hat gar keine Gelegenheit. [2] S a dann würd ich doch einfach a mal jetzt wenn se_ äh sie ist_ ja sie ist ja jetzt hier da. mal η Anruf genügt doch mal, Γ l C2 ist nur noch a paar Tag da. ja mal vorbeischaun da in so a {Betriebsart)! s r C2 ja ( ) C2 in einer solchen {Betrieb)? S ja! C2 ob sich was tut ja und welche? [ermunternder Ton:] jaa! würd ich! würd ich!+ S C2 meinen Sie. S da hö_ was kann sie erleben, sie kann höchstens sagen nein wir haben kein Bedarf, o.k.? aber probieren kann ses doch! Γ l das wär eine Frage, C2 C2 eine Frage S ja! [3] C2 °hm° [2]
C2 und dann hab ich neulich gelesen in der_ natürlich in der {L-Zeitung} die ist ja nicht maßgebend aber immerhin bringt sie oft Sachen die ganz gut sind ne? r m s
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C2 mit über {Zahl} hat man keine Chance mehr r da geht man ab, gehört man zum alten Eisen heute l S ja m S ja. ja, stimmt. [2] C2 im Geg_ also Manager sogar werden ab {Zahl) mit_ groß abgefunden werden nur daß sie aufhörn innem gewissen Alter aufhörn. r S ja stimmt! stimmt! S die kriegn noch a Geld mit, die kriegen zahlt dafür daß gehen. C2 is das net_ isse ich find's furchtbar. S ja. C2 Leute die ja Erfahrung haben gell und vielleicht besser sind wie die Jungen die's einstelln, [ S ja ja [C2 ne? S aber dann ist ist die andern die Jungen die haben dann doch noch weniger Erfahrung aber sagt man sind mit den modernen äh Medien und Mitteln mehr vertraut [ C2 ja jaja! rC2 gell, ja, bei de Pfarrer is anders gell L S h-m [1] S haha. C2 ja. S ä! [1] C2 also es ist furchtbar schwer! [2] C2 ich weiß nit was ich ihr raten soll, ich möcht auch dieses große Geschenk was sie mir machen möchte daß sie wegen mir in erster Linie hierherkommt gar nit annehmen! die letzte Phase des Lebens ist oft auch gar nit so erfreulich! und wir sind sehr selbständig ich bin jetzt die ganzen r Jahre äh allein gewesen und selbständig S allein ja C2 und sie auch! S und das ist Ihnen gut bekommen wenn ich Sie so anschaue C2 meinen Sie! rS ja! darf ich fragen wie lang-] ? C2 und es ist irgend-· wie freilich bin ich froh wenn ich Hilfe hab, und und äh äh sie ist mein Leben eigentlich meine Tochter ich freu mich wenn sie da ist das ist mein Leben, aber ich würde verzichten auf dieses große Geschenk weil: wenn man so im Alltag auch in der engen Wohnung sie hat ihre Wohnung dort ich hab meine Wohnung da, da gibts immer kleine Reibereien, und wir haben so ein gutes Verhältnis soll das irgendwie getrübt werden. 419
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C2 S C2 S C2 S C2 [S C2
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tja ja das ist schon auch kritisch, ja, da habn Sie recht. ab_ das war natürlich kein Problem wenn sie hier a Stellung finden würde einigermaßen entsprechend, und sie hätte dann würde sie sich ihre Wohnung wieder anschaffen eine Wohnung, ne des ist klar! ja ja ja aja und wissen'S auch des Frau (C2) jetzt äh sie möcht ja dann auch mal äh allein sein und äh mal Besuch haben, da kommt au mal a Mann und ja ja undund so des ist doch auch nötig achja daß das Ja ist gut daß sie also ich hab für alles Verständnis! hab ich! daß sie da aber allein sein ist das_ aber trotzdem sie hat das Gefühl da ist die Mutter immer da ne? ja jaja doch des des kann i mir schon schwierig vorstelln. ja ich weiß es nicht. jadoch! ja. [1] °m° [2] wie lange ist jetzt Ihr Mann tot? mein Mann ist [Jahreszahl) gestorben. Herzinfarkt. ach schon so lang sind Sie Witwe! ja, ja. °ach° ich war {Zahl} Jahr, ich hätt mir ja auch noch η Leben aufbauen können, ( ) ja aber zuerst war der Schmerz so wild und all_ es war (Todesursache), es war großer Bau, ein {Firmennamen}Bau, mein Mann hat die Arbeit getan, alles war getan, mein Mann war {Berufbezeichnung} in einer Firma und hat noch ein {Adjektiv der Fachrichtung}-Büro gehabt. hm und jetzt _ warn eigentlich zwei Berufe, und des war zu viel er wollte sowieso eins abschaffen, und sich ganz selbständig machen, und es war in in {M-Stadt( ein großer {Firmennamen)-Bau und die Arbeit war getan und er k_ er kriegt einen ausstrahlenden fürchterlichen Schmerz, und wurde der Arzt geholt und der gibt ihm eine Spritze und dann war's aus. [2] so war das. es war so erschreckend, es war der {Firmenposition} vom {Firma) dabei, der Herr Sailer und
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noch a_ noch ein {Berufsposition}, und die haben mir dann die Nachricht überbracht, und für uns ist eine Welt zusammengebrochen, mein Mann war sehr sorgsam, und nur für die Familie, und na steht man da,
[2]
und ich hätt mir auch noch ein Leben aufbauen haben Sie können aber: [1,5] es ist ganz gut so alles gegangen, ich bin allein geblieben bin allein geblieben Frau {2) so so wie Sie wie ich Sie erlebe ja so selbständig ja wären Sie nie in diesem Alter—| geworden, nie mehr geworden wer weiß wen man-J nie mehr! äh wissen Sie mein Mann war so ein guter Mensch für d_ für alles für die Familie, und dann: wer weiß was man dann eintauschen würde! ja. ja. das war dann entsetzlich ne. ja. lieber allein! ja. sagen Sie auch? [2] ja" [2] jetzt erzählen Sie mir von {C-Land} η bissl was! [lachend:] ah ha+ [2] bei uns äh äh isses ein interessantes Leben, ein schönes Leben und viel heiterer wie bei uns. ja schon, aber auch eine erbärmliche Armut. Armut ja. ja. wir waren auf der niedersten auf der untersten das gibts in {D-Land} ( ) Ebene, äh das glaub ich. deswegen simmer wir rüber um um {verwahrloste Kinder) zu be_ besuchen, ja,ja! und da ist ein Projekt das das sich um {verwahrloste Kinder) kümmert, und das haben wir besucht, und haben mit denen wie habmer wie sag ich jetzt immer: wir haben mit ihnen „ gegessen gespielt geschmust"
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C2 auch die Menschen glaub ich manchmal dort, wir nehmen alles so schwer und so ernst und so. r [ S ja C2 und die sind heiterer, vielleicht macht des des Klima oder was weiß ich a andre Mentalität, ne? l S ja C2 isses. S ja glaubi schon. C2 aber [1] bei uns ist des manchmal auch niederdrückend alles, ne? und es ist auch etwas aussichtslos 'S ja und es ist f C2 im Moment, S es spielt auch unserer Reichtum mit eine Rolle gell, was wir alles haben was unsere Kinder alles müssen C2 ia
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nein ja ja. alle im Nu sind die an eim drangehenkt, und und ja haben uns umarmt und saßen auf dem Schoß, des glaaub ich, also bei irgend einem, und und haben gespielt mit uns, ja ja also es war so eine Innigkeit. ja denn was man so von den {verwahrlosten Kindern) liest: schreckliche Dinge die dieja die ja rauben und und und ja ja machen die da hat da allerhand ( ) unglaubliche Dinge machen, also man wundert sich garnet daß da jaja jaja so a Stimmung dagegen ist, =ja aber wenn man die sieht das sind wirklich liebesdürftige ja und liebe dolle Kinder! arme Kinder! ja liebevolle Kinder. ja auch untereinander wie die sich in den Arm nehmen wie die sich helfen ja die großen Geschwister die kleinen das ist ja das findst nämlich, ichich ich trau mir sogar sagen: diese Kinder so wie wir sie dort erlebt haben sind äh sind äh glücklicher, äh ja in gewissem Sinn glücklicher als unsere. [2]
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und äh von vorn und hinten, ja äh das ist ja verheerend! ja ja alles reingeschlozt ina Kind, ja und äh das macht a Kind aunet bsonders glücklich. ja, nein! a. von einer Schulfreundin der {Verwandte), ja der hat jetzt sein Abitur gemacht unnd er sagt da gibts Klassenkameraden die haben fürs Abitur _ der eine fährt {eine teure Automarke) jetzt! [klatscht sich auf SchenkeK?)] also ses sind doch keine Zustand! ja die kriegns _ aber da sind ja die Eltern schuld! [1 ] da sind doch die Eltern schuld. ja [1] ja. [2] und des kann ich schon gar nicht mehr hören wenns heißt: die Eltern können nichts mehr machen. [2] die Eltern können nichts mehr machen, die müssen das alles mittun die ge_ wolln. ja, [23.33] [1] ja so ist das. und was ist es wenn's Arme sind? [2] dieses Projekt in dem wir waren das war also direkt angrenzend an {ein Elendsviertel). ja. den Begriff kennen Sie, das ist so so ja was ähnlich wie {andres Wort für Elendsviertel). jaja. so so mit solchen Buden, in denen die drin wohnen h-m =und die haben uns_äh so haben wir also unmittelbaren Kontakt mit den {Elendsvierteln) bekommen, die haben uns eingeführt in ihre Häuser, ja die waren stolz drauf uns ihre {Hütten) zu zeigen. [geflüstert] ja+ ja, [1 ] und äh gell also was mich am meistens noch be[leicht lachend:] eindruckt+ hat, äh die sauberen Kochtöpfe! die sind alles so billiges Material aus aus Aluminium, ja äh also ich hab in mehrere Hütten die Kochtöpfe gesehen, die haben silberhell geglänzt wie diese [Klopfen] wie diese Kanne. [gedehnt] nein!
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piko-bello sauber! sauber, äm Gas wäre darf man gar nix sagen daß die schlampig sind oder irgendwie, was verlottern, na na ja ja so guts halt geht unter diesen Bedingungen das jaja halt mit gestampftem mit mit äh zum Teil Boden der jaja ja nicht äh zum Teil ist es schon Steinboden, ja zum Teil aber auch gestampfter Lehm, ja und man hat zum Beispiel überschwemmt danach, aha da kommt die Kloake dann in die in die Hütten rein ne, äh arme Hütten, ja. aber unter den Bedingungen_ und die Kinder sauber angezogen, Wasser habn sie ja zum Waschen, sauber angezogen! ja aber sie werden ja auch a bissl vorbereitet gewesen sein wenn sie wissen es kommt Besuch ne oder? na, das is das war spontan, die Kinder haben uns m ja einfach hingebracht. ja? ja. [3] also s'scho fabelhaft wirklich. ja. ja =und man möchte helfen! ja helfen. und wir helfen damit daß wir daß wir eine Erzieherin finanzieren, die haben Erzieherinnen, ja die mit denen Schulaufgaben machen, h-mh-m =die die Probleme mit ihnen bereden, h-m ja ja ja die mit ihnen darüber reden warum sie in {Elendsvierteln} leben müssen, und auf der Straße sind den ganzen Tag, ja ja die also ihnen auch ein gewisses Bewußtsein geben. ja, ja.
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und dafür es sind mehrere so fünf oder sechs Erzieherinnen da, h-m h-m es is auch a Schreinermeister da da kann man a Schreinerlehre machen, tatsächlich =für a paar, ja und die Pine_ die die Erzieherinnen die finanzieren wir. ja und dafür sammeln wir jetzt dann am {Sonntag im Kirchenjahr}. das glaub ich. ja ja und das ist ein guter Zweck. ja das ist ein guter Zweck. =ja. °m° "mein Gott"
[2]
Sie haben sich da an Ort und Stelle es ( ) richtig orientiert gell, ja ja ja. und Sie wissen auch daßes an richtige Quellen kommt und das ganze ja es ist ja und da eben hammer wir Wissens wir sehen Sie wissens ja wir haben auch den Haushaltsplan gesehen, ja wie wir eingebaut sind und wo die woanders her ja noch Geld bekommen und wie das verwendet wird ja was da reingeht,
ja das ist alles tip top. ja. und deswegn warn wir dort daß mir des also genau uns anschaun. [5] es gibt so viel Elend auf der Welt,
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ja =und jetzt in Jugoslawien die hörn mitm Krieg nit auf ne. furchtbar, furchtbar. =die machen sich selber kaputt, tja
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C2 des sind die Serben, Serben ne? S die Serben gegen die rC2 =die Serben sind des ja. S ja und das sind au_ das sind nochamal η äh nitamal Islam gegen Christentum sondern die Serben die sind äh orthodox und und die andern tC2 ja ja S die andern sind sind katholisch gell, da da ist ja auch noch a Spannung zwischen m zwischen Christen l C2 chja ja S eine Spannung Frau {C2} also ich lang mir an Kopf! C2 [geflüstert:] ja+ [3] S än man könnt manchmal grad so dreinfahren gell. S ja, ja. ,C2 aber das nützt nix. S =und das wär dann grad's Verkehrte, ahaha ha. C2 "das nützt nix° [2] C2 ja unsere Hausmeisterin die sind Jugoslawen, die sind sehr sehr nette und ordentliche Leut, erziehen ihre Kinder besser wie manche deutsche Mutter. S tja C2 haben drei Kinder, [1] hab ich beobachtet, es ist wirklich wahr, die hält sie zur Arbeit an, sie müssen auch abissl helfen hier und da, a ds also: kein Vergleich mehr mit unsern oft. S ja rC2 ja (warum nicht) S hm, hm, und da gibts Leut, und da gibts Leut die sagen Ausländer raus gell, C2 ja, eben, S ja C2 ne des ist wenn ma wenn man Kontakt hat mit solchen fS C2 ja ja S dann äh sieht man des ganz anders. rC2 ich versteh mich gut mit ihr mit der Frau L S ja, C2 und der Mann ist auch hilfsbereit, arbeitet irgendwo r in (Firma) glaub ich oder so ne, L S ja f C2 also sind ordentliche fleißige Leut^S darf ich mal noch zulangen J ? jC2 =bitteschön gerne!. ich ich ich S ja ich machs ich machs gleich selber, [C2 schenk's Ihnen ein, ja. S ja machen Sie das ja. [2] rC2 so viel Sie wollen ist die ganze Kanne ist daha S ja das isses das ist
901 genug. 902 C2 so Tee ist ganz gut nicht. 903 [Telefonklingeln] 904 S da schauen'S: Geburtstag ist immer noch 905 C2 hahahaha 906 ^S Telefon klingelt, danke aha 907 f C2 =entschuldigen_ Sie bedienen sich selbst, gell 908 S ja gerne. 909 C2 mit allem. 910 S h-m 911 [während des Telefongesprächs keine Aufnahme] 912 C2 wieder eine Gratulantin, 913 S schau an, 914 C2 ich hab mich sehr geärgert über neue Fenster, und zwar 915 gibts jetzt ein Fensterbrett ich hab grad 916 ge ( ) ich will nur mal nausschauen. 917 ts tja 918 fS ahh! ahh! 919 C2 unsere alte Hausmeisterin sagt 920 sie kann mit den Kindern nimmer 921 nausschaun, das Fensterbrett ist so breit 922 geworden. 923 S achh, ja verrückt. 924 C2 und dann ist wieder eine Mieterhöhung 925 S ja, ja, 926 C2 damit verbunden, 927 S ja 928 C2 und ich woNts nicht! 929 S ja 930 C2 =ich _ meine Fenster waren tadellos in Ordnung, 931 rC2 ich hab die Holzfenster lieber! 932 S ja 933 S aber halten die nicht viel Lärm ab? 934 Κ12 ( ) 935 S aber die Straß is nit so laut. 936 rC2 ( ) ich bemerk da nit viel 937 rC2 Unterschied, nicht viel Unterschied, 938 S ja ja ja. 939 C2 außerdem sind die Tapeten zerfetzt, 940 S ja 941 C2 hier, und muß jetzt irgendwie in Ordnung gebracht 942 werden, und zuerst hat's gheißen: da kommt ein 943 Tapezierer und das ist noch inklusive, das gehört dazu. 944 und jetzt hab ich die Nachricht kriegt daß mans doch 945 auch selber zahlen müssen, den Tapezierer in der 946 ganzen Wohnung. 947 [3] 948 S ja und wenn'S da einfach drüberstreichen das sieht man 949 doch gar nit i hätt jetzt jetzt da gar nix gsehn. 950 rC2 hätten'S hahaha 951 S ach Sie Frau {C2} des lassen'S wie's ist, 427
952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002
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ja oder sch_ oder oder irgend a braune Färb drüber wie nach dem Tapetenton gell, ich hätt noch a Stück Tapete von diesen alten aber: i hab no nie tapeziert und es soll ein Tapezierer kommen, und den müssen'S aber aber mir müssn selber zahln. den müssen'S selber zahln. h-m das lassen Sie Ihr Tochter machen. [Lachen] [Lachen] ja, h-m, also i hätt da gar nix gmerkt. ja, weil der Vorhang drüber ist ja ja weil der Vorhang darüber ist, weil der Vorhang drüber ist. und wer schaut'n dahinter, geh Frau {C2J! ja? des sind doch keine Probleme, [leiser:] aber es ist in dem Zimmer und im ja Schlafzimmer und in der Küche,+ ( ) wie Sie wolln. ich bedien mich, noch ein Schnaps, ja, ja. und dann reichts, danke. aber was dazu essen_ sind Sie w_ sind Sie mitm Auto da? mitm Fahrrad, wie immer, gfährlich gell, [kurz:] ah+ hab i jetzt Angst um Sie! ah ha danke, danke, ahahaha jahaha ich hab Angst um Sie, nhahaha, na brauchn'S nit Angst ham, nein, das ja nix passiert, "neinnein". und Sie sind so tüchtig und fahrn da hin und her, ja, und jetzt ( ) [geflüstert:] is ja toll s' geht am schnellsten, [geflüstert:] ist ja toll. =[leise:]ja [ganz leise:] geht am schnellsten.+ [1] ahahahaha. m [2]
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C2 S C2 S C2 rS C2 ts S [ C2 rS C2 ,S C2 rS C2 rC2 S C2 S C2 fS C2
S C2 rS C2 S rC2 S S C2 C2 S rC2 S S
C2
wpnn mir mal was passieren sollte [1.51 dann werden Sie amal eine Ansprache halten eine kleine. ich werde Sie beerdigen Frau {C2}. gell Sie machen das. ja. und man muß in meinem Alter daran denken. aber sicher des muß man auch in meinem Alter_ des kann ma einfach nit so wegschieben. in jedem Alter. gell, ja was ich so erleb im Krankenhaus und so, gell, ja ja und was ich was was ich zu beerdigen habe, ja gell das ist wirklich so. das kann morgen sein, das kann übermorgen sein das ist überhaupt da spielt das Alter schier keine Rolle. =keine Rolle. =ja =ja. ja ich muß mich selber wundern daß ich so alt gworden bin ich hab nit gedacht daß ich das erreiche, aber naja jetzt isses soweit, das geht schneller als man denkt. ja ja, und wie ich Sie so anschau: gesund sans, gesund sans! ja? =haha ja ja ma_ mal so mal so ma spürt amal des uns ( ), und mitm Gehen hapert's sehr, und naja. mit dem Knie m? mit dem Fuß jajaja. mit dem mitm Fu_ ach ja ja ja. [2] es stellt sich schon allerhand ein net aber, darf immer noch zufrieden sein. °m ja° "darf man Ihnen noch was (einschenken)+ [sehr leise:] ( )+ aber gell Frau {C2} das müssen'S scho auch bedenken, wenn i des jetzt dazu sagen darf: ich bin jetzt {Zahl) Jahr an der {N-}kirch und dann geh ich in Ruhestand, da bin ich IZahil bitte gell, ja da muß ich mich ja schicken!
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jah [Klatschen auf Beine] [lautes Lachen] [lautes Lachen] [2]
ja ja_ =ach Frau {C2} das gibt Sachen die gibts gar net, das gibts doch net! Frau {C2J während ich ( ) also wissen Sie Sie sind a Lichtblick in der Kirche! [seufzend:] ach+, ach das gibt noch andere. für mich, für mich. °ach Gott Frau {C2}° ja ja [1] das tät mir ja aufrichtig leid! [2] wenigstens [Zahl] Jahr wenn'S gsagt hätten, i muß i muß ich werde jetzt im vielleicht [gleiche Zahl] noch, gell, im Dez_ na im Dezember werd ich [Zahl], und mit [Zahl] muß i gehn. [1] wie isn jetzt überhaupt die Altergrenze bei Frauen? als_ des weiß i nit. äh also ich versteh des nit weil also es gibt ja auch η vorgezogenen Ruhestand, ich könnte an sich {Zeitraum) ja schon gehen. ja, ja vom von den_ aber dann kriegt man weniger Rente ne, gut des spielt_ das weiß i n_ ja kann sein aber h-m ja bin i gar net sicher, weiß i _ hab i mi nit erkundigt, ja, =aber mir gehts gut, ich bin gsund und ich machs gern ja das ( ) =Sie sind überhaupt schaun überhaupt so jung noch aus. =ach mir gehts ja gut Frau (C2). ja ehrlich! ja mir gehts gut ( ) also des des des tät mir so leid, [2]
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ich schau schon immer wann Sie predigen also des das tät mir ehrlich leid [2] haben'S viel Ärger in so intern? na. nein darf man nichts sagn. nein, nein das läuft gut, nein drum drum gehts mir auch gut weil äh
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soviel Ärger hab ich auch wirklich net. ja, ja. ja [1] es gibt schon bedrückende Dinge so so Besuche jetzt bin ich grad im Krankenhaus gewesen in sagt Ihnen ja in der {O-lKlinik, ja, =und wissen'S was ma da so so mitkriegt jetzt äh furchtbar =äh ja und was die erzählt_ was man da erzählt kriegt äh des sind schon schlimme Sachern des ist ja auchJ wenn ma_ also mir wird Angst wenn ich amal ins Krankenhaus muß, weil es sind die Verhältnisse dort ham sich ja auch vielfach geändert, also wir warn mal bekannt gut bekannt durch die Töchter die sind mitnander aufgewachsen, meine Tochter und die Tochter von dem Arzt-Ehepaar, und der hat immer gsagt er hat am liebsten mit Nonnen gearbeitet im {Krankenhausname} war er, h-m, h-m, die warn verläßlich habn kein Rendezvous gehabt und ja kein Termine gehabt in dem Sinn, und und jetzt isses eben alles anders und, die sind auch anders die Schwestern, ja, ja.ja. ja. "ich weiß nicht" [3] das müßt eim Angst sein wenn man wenn man krank wird ne, ja. = a Frau {C2} gell Sie wissen auch daß wir eine Diakoniestation haben. =wollt ich fragen! gell, ja wir haben eine Diakoniestation, ja ja wenn des also so mal is, ja daß Sie inne inne Krankenhaus müßten. und wenn Sie dann zurückkommen, daß Sie des zeitig besprechen, daß dann vielleicht die ersten äh W o c h e n äh jemand kommt,
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KZ2 C2 S C2 S . ΚΖ2 jC2 S C2 S h S ^C2 .S C2 C2 jS C2 r [S
C2 S r C2 S r
K12 S r C2 S
[
C2 S C2 [S C2 , S C2 C2 S
Ihnen einkauft oder oder äh mal auch was richtet, ja η Handgriff macht, ja, =wir haben immer äh Zivildienstleistende, die da mitkommen, = Sie haben aber eine, eine gell für die ganze Gemeinde. nananana das sind {Zahl}, (Zahl) oder {plus 1}. jaja. ja des ist also a gro_ also schon ne umfangreiche ja, jhaaa! hat sich des jetzt vergrößert das war doch da jaja. sehr Not am Mann gell? =ja, ja, des is auch immer wiedr weil die auch a mal eins krank ist und dann die vielen die zu ja betreuen sind, die müssen nachher von von einem weniger das merkt man machher schon gell, und Urlaub ja ja habens auch gell, klar des is ihr Anspruch, ja ja ja äh aber sonst läuft des äh bestens und die sind alle nett und hilfsbereit, klar, alle in Ordnung. ja, i bin jetzt mit_ äh hab jetzt a paar photographiert so unterwegs, und hab d'a paar ja begleitet, äh da wir habn so a {Werbeaktivität) gemacht grade, und da war ich unmittelbar h-m dabei, gell also, und hab mit den_ ich rede mit denen auch, und und äh so wie's Ihnen geht, ja ja wenn nu jemand den Sie jahrelang betreut haben stirbt! ja
jaja das das geht denen fei nahe! ja des glaub ich! ja des ist auch nix Selbstverständliches. ja wenn's nette Menschen gwesen sind gell. ja, ja, ja [1] doch, doch man weiß es nie da wollt ich Sie sogar fragen. ja
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=ob ma da eine Hilfe bekommen könnte. ja müßtens bloß dort anrufen und äh oder wenn man noch nicht krankenhausreif ist, und hat ( ) wenn Sie mal krank und amal äh ja, dann nur zeitig anrufen, weil die das ja einplanen müssen, h-m ja, ja das ist klar. ja, daß auch mal äh längere Zeit äh Krankheit ist, und )a =also da wär ich sehr dankbar und froh wenn amal_ ja der Gedanke bloß, ma is ja froh wenn man niemand braucht. ja das ist_ genau, genau, und und das ist ja auch a gewisse nit ja Beruhigung äh: ich bin nicht gleich äh wie sagt man da: von Gott und der Welt verlassen ja, jaja! ja sicher, ja. [1] doch da bin ich sehr froh wenn ich des höre, sind jetzt {Zahl P) Schwestern? jah-m {Zahl Ρ minus 1) {Zahl P} und {Zahl} Zivis, so im ja {Zahl} Zivildienstleistende, also {Zahl} die zur Verfügung stehen. ja {Zahl} die zur Verfügung stehen, ja sind die_ a, na des kost ja scho was, na! ja natürlich! dja, die müssen ja auch von was leben und äh äh ja ja, ja die Zivildienst leisten also d_ äh äh können die auch was und sind's gewillt und ja ja ja die_ ja ja ja des sind aber Männer dann, die den =also so zum Beispiel zum Einkaufen, wenns jetzt also um Pflege ging, na ha_ äh natürlich kommt jaja. jaja. 433
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a Frau, jaja klar, aber wenn wenns bloß um des geht, um mal nach dem Rechten schauen, und oder was Einkaufen und so ja und gschwind was richten, dann springen die ein. dann springen die mit ein. ja man is ja froh wenn man niemand hat zum Einkaufen, ja eben =und des Schnee und Eis is ja so gfährlich, ja ja gell, und ja da is man sehr froh. [einatmend:]ja+, aber Sie haben doch auch äh Sie wohnen ja schon ewig hier und haben doch auch Kontakt zu den Leuten hier im Haus, =ich hab_ ja, gell? =und ich hab auch unten auch gleich über die Treppe runter den Kaufmann da unten ne, wo der Schulze war voher. as ne wo der Schulze war. jawoll, ja ja jaja. m ja genau. h-m. das's schade daß der Schulze ja, aber, das natürlich auch a große Sache, daß mer des so nah hat ne ja das ist wunderbar! ja i mein i geh auch und schau wo's billiger auch ist schau ich schon so im {Ladenkette}, aber da müssen'S noch weiter viel laufen zum {Ladenkette) oder zum {andere Ladenkette} ne, daß man ja na ich hab viele Einkaufsmöglichkeiten ne. ja. und des is Leben is ja anfürsich heut so unerhört teuer geworden ne, das reine Leben. ja, i hab heut drei Semmeln kauft heut in der früh, und ja die haben {Preis} gekostet, ja also greift man sich doch an Kopf! ja sind Roggensemmeln wahrscheinlich gell dabei, ja ja also unerhört, ja. [1,5]
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ich mach jeden Abend eine Abrechnung und denk mir des gibts ja nicht also daß d'jetzt wieder so viel, das maßlos ne, ma wird mit allem so bescheiden wenn man Schuh braucht und so weiter, weil das Leben zu teuer ist, ne, [2] muß man ja bescheiden werden mit andern Sachen, ja ja ja ne [2] und meine Rente war ja sehr gering weil mein Mann doch so jung gestorben war, ach so mein Mann war ja {Zahl} Jahre, [1] obwohl er so a gute Position gehabt hat der war {Zahl) =jaja er war sehr sehr tüchtig, sehr tüchtig, [1] ja, {Zahl} Jahr. aber Sie kommen zurecht, ja, also des waren schon Kämpfe. ( ) des kriegt ham was es was'S brauchen ja. waren schon finanziell, finanziell, ja. =ja ja wie gsagt die Rente war eben zu gering ne, ja. [4] also des war war schon schwer, [1] [kurz/leise/weich:] m+ [2] aber es gibt Schlimmeres noch, also ich darf auch net jammern. [2] mir habn uns durchgebissen und da war ja auch mein Tochter noch da, und ich hab ihr auch geholfen und sie's mir zur Seite gestanden wo's ging ne, und auch heut möcht's mich noch verwöhnen und alles Mögliche. [Kurz/leise/weich:] m+ [2] mei sie verdient nicht schlecht aber das Leben dort ist zumindest so teuer dort wie bei uns wenn nicht noch teurer. ja die Insel {Inselname} ist wahnsinnig teuer ne. auch mietemäßig, und sie muß halt die teure Miete zahlen, ja das ist natürlich ne Ferieninsel gell, der Hausbesitzer hat jedes lahr gesteigert und jetzt
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S C2 C2 ,S C2 S C2 rS C2 . lS C2 C2 C2 S C2 C2 S [S C2 ,S C2 S C2 rS C2 rS C2 C2
S C2 S [C2 S
möcht er noch mehr, sie sagt sie weiß nit ob sie die Wohnung dann noch behalten darf, und ist sehr schwer, und kaufen kann ma dort gar nichts, also des wir könnten's ja sowieso nicht, aber man_ da muß man glaub ich (Zahl) Jahre dort sein daß man eventuell a kleine Eigentumswohnung kaufen könnte. ach =(Zahl) Jahr, die machen's richtig anendfürsich. die Insel würde überlaufen. [2] es dürfen auch Fremde nicht bauen, oder Fremde Villen kaufen =achh oder soweiter, es gibt immer Ausnahmen, ja =und manche finden immer eine Hintertüre ja ( ) ja Geld ja nur nur ne es gibt immer Geldleute die soundsoviel bieten und denn lassen die sich vielleicht auch erweichen ne ja aber im allgemeinen ist alles verboten. [2] weder kaufen noch mieten oder sonst, ja. [3] ja jetzt die Insel muß sich irgendwie schützen. ja, ei das wär ja auch noch a Grund äh zurück nach Deutschland zu kommen, jaja!
ja,
ja =und irgendwann wird Sie auch mal in Ruhestand gehen, und dann will's daher undna möcht's ä möchts wieder da sein da wirds nicht dortbleiben, eben. möchts dasein, ja. eben. aber es ist schwer, also wie gsagt =ja das sind harte Entscheidungen, na aber: also man muß dran hin gell, man muß drum das stimmt die die Nachbarsleute also der Nachbar der sagt immer wieder „ schau in die {Name eine Bibliothek) und schau daß du durch den Pfarrer vielleicht was bekommst" ja ja ja, keine Beziehung. keine Beziehung. na, m. des hab i mir schon gedacht, hab i mir schon gedacht. ja
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und ich weiß auch nicht äh sagnmer mal wenn man dort η ruhigen Job hat, dann wird ma ja auch viel weniger verdienen oder halbtags ne nein, weiß ja net was die brauchen, das weiß ich nicht dort, na mit der {E-Iändischen) {Betrieb} da würd ich noch mal anpacken. daß man hier a paar =einfach mal hingehn und sagen „ Grüß Gott die Sache is so ja hm ich bin eine bewährte Kraft" und a {B-ländischer} {Betrieb} könnts ja genauso sein genau, genau. ja hm [2] sie spricht fast noch mehr {B-ländisch} wie {Eländisch} aber beide Sprachen so gleich perfekt J3'
ne ja, wie gsagt da leben keine Deutschen dort, sie sie hat gar kei Gelegenheit Deutsch zu sprechen ne. sie hat sehr nette Bekannte dort die ich auch zum Teil ich kennengelernt hab, die haben mir Blumen überwiesen zu meinem Geburtstag von {B-Iand}, ach wie lieb! ja was was ja, sehr nett, ja, h-m. jawas! ja [3] aber Heimat ist Heimat, es treibt einen wenn man älter ist dann wieder mal zurück ( ) ja ja, und denkens bloß a mal krank zu sein und dann ein
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{B-ländisches} Krankenhaus, ja ja, und und wenn Sie so gute Beziehung habn die Mutter nicht in der Na_ in der Nähe haben, ja also, na, ja, freilich für mich wärs scho Beruhigung wenns da wär s'klar, ich zeige mich tapferer als ich bin. hahahahaha ahh ja das's sehr gut, ja. ha hahahaha hahaha, ha jaja, m daß sie sich nicht so auch unter Druck gesetzt fühlt, ich zeige mich ihr gegenüber tapferer als ich in ja Wirklichkeit bin. ja. das fällt mir auch schwer.
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C2 S C2 C2 jC2 S [S C2 rS C2 .S kl2
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S C2 S C2 S C2 rS C2 C2 S C2
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jC2 S rC2 S C2 r S rS C2 C2 S C2 rS C2 S
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das ist ja beinah Lüge ne? hahaha, [geflüstert:] ja ha [4] ja? [4] so ist das, ja zum Wohl der letzte Schluck! war gut! ich danke Ihnen! =bedanke mich herzlich, was haben'S mir alles ich dank_ aufgebracht, für Ihren sehr lieben Besuch, es hat mich sehr gefreut, sehr, ich werds meiner Tochter alles berichten, gut. und wenn'a mal was ist na hat sie da auch eine, eine Hil_, wenigstens eine Unterstützung im Aus_ ja in der Aussprache. ja. ne? =ja, ja. Sie kennt Ihren Namen, ich hab Sie auch immer gelobt, [hart angestoßen:] hm+ so im a das freut mich ja ahaha ja ja wirklich! hm, ich glaub ich hab Ihnen des auch schon mal bissl durchblicken lassen, ich weiß es nicht, Sie warn amal vor Jahren ( ) das war zum {Zahl fünf Jahre vorher} dann, warn Sie da, ja, ja hm, ja? und da war noch eine Dame die in (R-Land) damals war und s/Sie ( ) ein Kontakt das kann sein, jawoll! ja das stimmt, ja ja. haben Sie damals gehabt ne, ja h-m. das ist eine weitgereiste sehr nette Dame Bekannte ja. jaja, Ich wünsch Ihnen daß Sie gsund bleiben, danke ich wünsch Ihnen daß ich nicht zu schnell daß es mit Ihnen daß Sie mit sich gut zurechtkommen,
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ja des hoff ich auch, komm ich mal gar nit zurecht na ruf ich an. ja tun Sie das, tun Sie das. ja ich bin da, ja, =unter welcher Nummer sind Sie denn? =Pfarramt einfach Pfarramt und die sagn dann schon weiter oder leiten_ verbinden jaja jaja also ( ) jaja ich hab nocha andere Nummer aber äh die steht im Telefonbuch auch drin, ich sags Ihnen jetzt nicht, ja das finden'S leicht, ja? unter Ihrem Namen? oder wir haben ja, h-m und Sie kriegen ja unsere {Name des Gemeindebriefs), is das? ähja. ja, da stehts drin das sind ja freilich die krieg ich. eben da sind in der Mitte so {Farbadjektiv} Seiten ja die Frau Hahn hat jetzt a kei Zeit äh die kann nicht mehr austragen, ja ja, nei die kann nimmer nein, ja, die hat's gebracht ach die hat's Ihnen immer bracht Frau Hahn, ja, Frau Hahn hm, jaja und da sind so innen drin so äh {Farbadjektiv) ja Seiten und da ist auf einer Seite sind die ganzen äh h-m Pfarrer äh sind da verzeichnet mit Adresse Name jaja jaja ja, =Telefonnummer ja, ja ich war immer bissl im Ding ob Sie noch zu einer andern Addresse zu erreichen sind, =nein! ich dacht immer {Straßenname}, ja ja das stimmt, also ich wohn in der {S-Straße} hm halt in dem Komplex drin das ist ja kein Problem jaja jaja h-m so jetzt geh ich aber, ja ich bin da, ja haha wenn Not am Mann ist na da weiß ich bescheid ge ja jetzt dank ich Ihnen sehr ja Frau Frau {C2}. für Ihren lieben Besuch und für die schönen Blumen. Gott behüt Sie ja ( ) und ich hoffe daß ich Sie nicht so schnell 439
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in Anspruch nehmen muß. okay, das wünsch ich Ihnen auch, auf jeden Fall. gell danke, ich danke Ihnen sehr! ja ja, gut, das hat mich wirklich sehr gefreut, und ich werd's auch zur Beruhigung meiner Tochter sagen. =ja des _ich glaub für Ihre Tochter schon auch wichtig daß sie äh daß sie des weiß, daß sie daß jemand ja in dem Hintergrund steht, h-m [5; Hinausgehen aus Wohnung] und jetzt müssens Sie mit dem Rad wieder heimfahren. ja des is aber kein Problem, [3] aber a Mütze würd ich scho aufsetzen heut nachmittag stehen noch s'ist kalt, hab i ja, hier! haben'S ja. hab ich ( ) ja und Handschuh hab ich mir auch geleistet, ja h-m [3] und ich hoffe daß Sie nicht so schnell die Ansprache halten müssen. ahahaha nein, ich wünsch's Ihnen auch ja, he wirklich haha haha ha [räuspernd] hehehe [2]
so, das wär's, und dankschön daß ich mit diesem Ding auch kommen konnte, ja natürlich, vielen vielen Dank. auf Wiedersehn Frau (C2), und schönen Gruß an Ihre Tochter, =danke, ich danke Ihnen, ja? "jetzt hab i Sie eingesperrt sehn's, und das geht so automatisch," das geht ja, das ist ein Griff gell, gell ja. [2]
nochmals Wiedersehn Wiedersehn Frau (C2) Wiederschaun Wiedersehn
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24 Jan Hermelink Die homiletische Situation Zur jüngeren Geschichte eines Predigtproblems. 1992. 311 Seiten, kartoniert. ISBN 3-525-62331-3 25 Johann Anselm Steiger Bibel-Sprache, Welt und Jüngster Tag bei Johann Peter Hebel Erziehung zum Glauben zwischen Überlieferung und Aufklärung. 1994. 380 Seiten, kartoniert. ISBN 3-525-62334-8 26 Franz-Heinrich Beyer Theologiestudium und Gemeinde Zum Praxisbezug der theologischen Ausbildung im Kontext der DDR. 1994. 200 Seiten, kartoniert. ISBN 3-525-62335-6 27 Irmhild Liebau Alleinstehende Probleme - Chancen - Seelsorgerliche Begleitung. 1994. 325 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, kartoniert. ISBN 3-525-62344-5 28 Martina Plieth Die Seele wahrnehmen Zur Geistesgeschichte des Verhältnisses von Seelsorge und Psychologie. 1994. 278 Seiten, kartoniert. ISBN 3-525-62345-3
V&R
Vandenhoeck Ruprecht
Seelsorge in Geschichte und Praxis Mit Band 3 wird diese ökumenisch orientierte „Geschichte der Seelsorge" abgeschlossen. Die Darstellung anhand von Einzelporträts erschließt Geschichte anschaulich und wirkungsvoll; denn Seelsorge hat es mit einem auf Personen konzentrierten Geschehen zu tun. Jeder Beitrag stellt zunächst die Biographie und das seelsorgerliche Wirken der Person heraus; in einem zweiten Teil folgen exemplarische Texte, in denen Seelsorge in Theorie und Praxis zur Sprache kommt. Schließlich wird jeweils eine Vergegenwärtigung für heutige Seelsorge versucht.
Christian Möller (Hg.)
„Die Porträts sind daher eine Bereicherung, sie bedeuten einen Gewinn für die eigene Erfahrung und geben eine unverzichtbare Orientierungshilfe. Hier wurden Schätze wieder ans Licht gebracht, die allzu lange unbeachtet waren. Aus dem Reichtum der Geschichte schöpfen heißt zugleich, notwendige Reformen anpacken zu können und einen gangbaren Weg in die Zukunft zu gehen." Katholische Nachrichtenagentur Ökumenische Information (zu Band 1)
Hans-Christoph Piper Der Hausbesuch des Pfarrers
Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts Band 1: Von Hiob bis Thomas von Kempen 1994. 359 Seiten mit 18 Abbildungen, Leinen. ISBN 3-525-62338-0 kartoniert. ISBN 3-525-62339-9 Band 2: Von Martin Luther bis Matthias Claudius 1995. 430 Seiten mit 22 Abbildungen, Leinen. ISBN 3-525-62340-2 kartoniert. ISBN 3-525-62341-0 Band 3: Von Friedrich Schleiermacher bis Karl Rahner 1996. 398 Seiten mit 23 Abbildungen. Leinen. ISBN 3-525-62342-9 kartoniert. ISBN 3-525-62343-7
Hilfen für die Praxis. Mit einem Beitrag von Eleonore Olszowi. 2., erw. Auflage 1988.169 Seiten, kartoniert. ISBN 3-525-62315-1 „Ein Buch, das hilfreich ist und praktisch, das ermutigt und anregt, das zum Lernen reizt und zur Reflexion anleitet, das nicht theoretisiert und das seelsorgerlich auch mit dem Leser umgeht: Eine wirkliche Hilfe für die Praxis!" Deutsches Pfarrerblatt
V&R
Vandenhoeck Ruprecht